Klaus-Detlef Haas, Dieter Wolf (Hrsg.) Sozialistische Filmkunst Eine Dokumentation Sozialistische Filmkunst

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Rosa-Luxemburg-Stiftung Manuskripte 90 MS 90_KINO_D1 05.04.2011 9:45 Uhr Seite 2 MS 90_KINO_D1 05.04.2011 9:45 Uhr Seite 3

Rosa-Luxemburg-Stiftung

KLAUS-DETLEF HAAS, DIETER WOLF (HRSG.)

Sozialistische Filmkunst Eine Dokumentation

Karl Dietz Verlag MS 90_KINO_D1 05.04.2011 9:45 Uhr Seite 4

Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe: Manuskripte, 90

ISBN 978-3-320-02257-0

Karl Dietz Verlag Berlin GmbH 2011 Satz: Elke Jakubowski Druck und Verarbeitung: Mediaservice GmbH Druck und Kommunikation Printed in MS 90_KINO_D1 05.04.2011 9:45 Uhr Seite 5

Inhalt

Vorwort 11

2005 | Jahresprogramm 13

Günter Reisch: Erinnern an an seinem 80. Geburtstag 15

Mama, ich lebe Einführung | Programmzettel 17

Sterne Einführung | Programmzettel 22

Busch singt Teil 3. 1935 oder Das Faß der Pandora Teil 5. Ein Toter auf Urlaub Programmzettel 27

Solo Sunny Programmzettel 29

Der nackte Mann auf dem Sportplatz Programmzettel 30

Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis Einführung | Programmzettel 32

Ich war neunzehn Programmzettel 38

Professor Mamlock Programmzettel 40

Der geteilte Himmel Einführung | Programmzettel 42

Addio, piccola mio Programmzettel 47

Leute mit Flügeln Programmzettel 49 MS 90_KINO_D1 05.04.2011 9:45 Uhr Seite 6

2006 | Jahresprogramm 51

Sonnensucher Programmzettel 53

Lissy Programmzettel 55

Genesung Programmzettel 57

Einmal ist keinmal Programmzettel 59

Die Zeit die bleibt Programmzettel 60

Der Fall Gleiwitz Einführung | Programmzettel 62

Rezension Rosemarie Rehahn 66

Einer trage des anderen Last Einführung | Programmzettel 68

Die Kraniche ziehen Einführung | Programmzettel 74

Leuchte, mein Stern, leuchte Einführung | Programmzettel 79

2007 | Jahresprogramm 81

Egon Günther – Biographie und Filmographie 83

Abschied Einführung | Programmzettel 86

Wenn Du groß bist, lieber Adam Einführung | Programmzettel 94

Der Dritte Einführung | Programmzettel 99

Lotte in Einführung | Programmzettel 105 MS 90_KINO_D1 05.04.2011 9:45 Uhr Seite 7

Die Schlüssel Einführung | Programmzettel 111

Die Braut Programmzettel 115

Günter Reisch – Biographie und Filmographie 117

Junges Gemüse Programmzettel 121

Unterwegs zu Lenin Einführung | Programmzettel 123

Anton der Zauberer Programmzettel 129

Ein Lord am Alexanderplatz Programmzettel 131

Ach, du fröhliche Programmzettel 133

2008 | Jahresprogramm 135

Wolz. Leben und Verklärung eines deutschen Anarchisten Einführung | Programmzettel 137

Der Schriftsteller und Regisseur Günther Rücker 141

Die besten Jahre Programmzettel 144

KLK an PTX Programmzettel 146

Der verlorene Engel Einführung | Programmzettel 150

Der Regisseur Ralf Kirsten 154

Der Aufenthalt Programmzettel 157

Berlin – Ecke Schönhauser Einführung | Programmzettel 159 MS 90_KINO_D1 05.04.2011 9:45 Uhr Seite 8

Beethoven – Tage aus einem Leben Einführung | Programmzettel 165

Klarer Himmel Einführung | Programmzettel 172

Blonder Tango Einführung | Programmzettel 176

Das Kaninchen bin ich Programmzettel 181

Beschreibung eines Sommers Einführung | Programmzettel 183

Mutter Courage und ihre Kinder Einführung | Programmzettel 188

2009 | Jahresprogramm 191

Rotation Einführung | Programmzettel 193

Oskar Lafontaine über 198

Schlösser und Katen 1. Teil: Der krumme Anton 2. Teil: Annegrets Heimkehr Programmzettel 200

Ware für Katalonien Programmzettel 202

Der Regisseur 203

Wir Wunderkinder Programmzettel 205

For eyes only Programmzettel 207 For Eyes Only – Ein und seine Geschichte 208

Der Regisseur Gunther Scholz 209 MS 90_KINO_D1 05.04.2011 9:45 Uhr Seite 9

Karbid und Sauerampfer Programmzettel 210

Erwin Geschonneck: Meine unruhigen Jahre 211

Geschichten jener Nacht Einführung | Programmzettel 213

Jakob der Lügner Einführung | Programmzettel 222

Über die Historie hinaus. Gespräch mit Jurek Becker 227

Bis daß der Tod euch scheidet Einführung | Programmzettel 229

Ein Sonderfall von Liebe oder der streitbarste DEFA-Film 237

Die Beunruhigung Einführung | Programmzettel 238

… und morgen war Krieg Programmzettel 245

Der Bruch Einführung | Programmzettel 247

Zeit, so hell wie dunkel (Rezension Klaus Wischnewski) 253

2010 | Jahresprogramm 255

Affaire Blum Einführung | Programmzettel 257

Die blauen Schwerter Einführung | Programmzettel 263

Das Beil von Wandsbek Einführung | Programmzettel 269

Der Untertan Einführung | Programmzettel 275

Das Fräulein von Scuderi Einführung | Programmzettel 280 MS 90_KINO_D1 05.04.2011 9:45 Uhr Seite 10

Mir nach, Canaillen Einführung | Programmzettel 285

Chronik eines Mordes Einführung | Programmzettel 289

Der Regisseur Gerhard Klein 296

Leichensache Zernik Programmzettel 298

Der Mann, der nach der Oma kam Einführung | Programmzettel 301

Liebesfallen Einführung | Programmzettel 303

Und nächstes Jahr am Balaton Einführung | Programmzettel 309

Die Beteiligten Einführung | Programmzettel 313

Über die Autoren 318

Alphabetisches Verzeichnis 319 MS 90_KINO_D1 05.04.2011 9:45 Uhr Seite 11

Vorwort

Die vorliegende Schrift soll Filmfreunde, also Sie, sehr geehrte Leserin, geehrter Leser, mit der Reihe »Kino der Wünsche – Weltkino in einer Filmreihe zu Gast bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung« vertraut machen, die bereits auf sechs erfolg- reiche Jahre zurückblicken kann. Für die Aufnahme dieses Kulturprojekts in das Angebot der Rosa-Luxemburg- Stiftung gab es mehrere Gründe. Nach wie vor sind viele großartige Werke der DEFA, aber auch der sowje- tischen Filmkunst, der öffentlichen Wahrnehmung und Würdigung weitgehend entzogen. Nicht kulturell-geistige, sondern marktwirtschaftliche Orientierung bestimmt die Praxis der Verleiher und Lichtspieltheater, selbst die der wenigen Repertoire-Kinos und ihre Präsentation stilprägender Arbeiten aus der Film- geschichte. Wer im Fernsehen, auch im öffentlich-rechtlichen, eine Wiederbegegnung mit diesem Teil des kulturellen Erbes sucht, wird meist auf das Spätabend- oder Nachtprogramm verwiesen. Für die meisten westdeutschen und die jüngeren ost- deutschen Zuschauer ist damit ein erster Rückblick auf einen wichtigen Teil der Kunst- und Lebenswirklichkeit der jüngeren Vergangenheit versperrt. Manche DEFA-Filme und ihre Urheber sind aus ideologischen Gründen sehr zu Unrecht verunglimpft und dem Vergessen anheimgestellt oder noch immer öffentlich den Vorurteilen durch Ignoranten ausgeliefert, selbst durch solche, die es besser wissen könnten, wie Volker Schlöndorff. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung fügt mit dieser Kino-Reihe ihrem Bildungsauf- trag eine wichtige Facette hinzu und beseitigt damit ein bedenkliches Defizit öf- fentlicher Wahrnehmung und erlaubt so einem interessierten Publikum das eigene Urteil. Die Broschüre gibt einen Überblick über die bisher gezeigten Filme und liefert damit zugleich ein interessantes Nachschlagewerk über die beteiligten Filmschaf- fenden und Schauspieler, auch mit wichtigen Auskünften über die zeitgenössische Wertung und Kritik. Seit langem/längerer Zeit wird die Reihe von Dr. Dieter Wolf durch kenntnis- reiche Einführungen begleitet, die nun in der Broschüre zusammengefaßt sind. Als Dramaturg der DEFA, sechsundzwanzig Jahre auch Leiter der Gruppe Ba- belsberg, ist er ein inzwischen seltener Zeitzeuge. Er vermittelt wertvolle persön- liche Einblicke in die Studiopraxis, in die Entstehungs- und Werkgeschichte vieler Filme und die zeitgeschichtlichen Hintergründe mit all ihren administrativen Be- dingungen und tagespolitischen Einflüssen. Sie, liebe Lesende, finden in der vorliegenden Schrift Material über Konrad Wolf, Günter Reisch, Egon Günther und andere Regisseure. Es ist als Information

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für die Besucher erarbeitet worden, da die Idee zur Kino-Reihe aus Anlaß des 80. Geburtstages von Konrad Wolf im Jahr 2005 entstand. Reisch und Günther begingen 2007 ihren »80.«; so gab es Grund genug, auch diesen beiden Regisseu- ren besondere Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Sie werden sich fragen, warum Sie in diesem Buch nicht für alle Filme eine Einführung finden. Zum einen ist die Zusammenarbeit mit Dr. Dieter Wolf erst allmählich zustande gekommen, und er hat zunächst nur zu diesem oder jenem Film einleitende Worte vorgetragen. Zum anderen haben wir auf eine Einleitung verzichtet, wenn – vor oder nach der Filmvorführung – Gäste zu einem Publi- kumsgespräch eingeladen waren. Für »Die Beteiligten« erarbeitete Dieter Römm- ler Material über den dem Film zugrundeliegenden Kriminalfall aus dem Jahr 1964 und trug es als Einleitung vor; auch das wollen wir Ihnen hier zur Kenntnis bringen. Der Herausgeber dankt auch im Namen der Zuschauer der Leitung der Rosa- Luxemburg-Stiftung, Dr. Angelika Haas für die akribische Vorbereitung und Begleitung der Filmreihe, nicht zuletzt für die sorgsame Erarbeitung des umfang- reichen Begleitmaterials, Angela Müller für die zuverlässige Organisation und Si- cherung der Vorführungen sowie dem Progress-Filmverleih für die großzügige und operative Unterstützung. Diese Schrift bietet den langjährigen treuen Besuchern eine bleibende Erinne- rung an gemeinschaftliche interessante Filmerlebnisse. Vielleicht regt ihr reiches Material auch neue und jüngere Zuschauer zum Besuch unserer künftigen Veran- staltungen an.

Klaus-Detlef Haas

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2005

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Überblick zu Terminen und Filmen

21. April* Mama, ich lebe von 1976 19. Mai Sterne von 1958/1959 9. Juni Busch singt. Teil 3. 1935 oder Das Faß der Pandora und Teil 5. Ein Toter auf Urlaub von 1981/1982 18. August Der gewöhnliche Faschismus Regie: Michail Romm, Lehrer von Konrad Wolf 15. September* von 1978/1980 6. Oktober Der nackte Mann auf dem Sportplatz von 1973 13. Oktober Goya/Goja von 1970/1971 20. Oktober* Ich war neunzehn von 1967/1968 27. Oktober von 1960/1961 17. November* Der geteilte Himmel von 1963/1964 24. November Addio, piccola mio von 1977/78 Regie: Lothar Warneke 15. Dezember Leute mit Flügeln von 1959/1960 26. Januar 2006 Sonnensucher von 1957/1958 23. Februar 2006 Lissy von 1956/1957 16. März 2006 von 1955 13. April 2006 Einmal ist keinmal von 1954/1955 oder Der kleine Prinz von 1966 18. Mai 2006* Die Zeit die bleibt Film über Konrad Wolf von 1985 Regie: Lew Hohmann Drehbuch:

Zeit und Ort: jeweils 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Saal, 1. Etage

*An diesen Tagen gibt es nach den Filmen Gesprächsrunden, zu denen Mitwirkende an den Wolfschen Arbeiten, Weggefährten, Kolleginnen und die Familie Konrad Wolfs eingeladen sind. (z.B. am 20. Oktober: Jaecki Schwarz, Wladimir Gall und Wolfgang Kohlhaase)

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Erinnern an Konrad Wolf an seinem 80. Geburtstag

Am Grab von Konrad Wolf auf dem Friedhof Friedrichsfelde trafen sich Freunde

Ansprache mit Zuspruch statt eines Nachrufes an Konrad Wolf – von seinem Freund und Kollegen Günter Reisch an seinem Grab, am 20. Oktober 2005

Lieber Koni, hier stehen Deine Freunde – und die Familie der Wölfe – Deine Genossen und die Kenner Deiner Filme. Wir hatten alle Gewinn von Deinem Denken, Deiner Herzlichkeit, dem oft tiefen Inhalt Deines Schweigens und der Prägnanz Deiner Reden, Deiner unauffälligen Hilfsbereitschaft und dem weiten Blick Deiner hinter der Brille versteckten Augen, an Deiner Freundschaft und Deiner sich mitteilenden Festigkeit im Wissen, daß an dieser Welt von allen Men- schen noch viel zu ändern sei … Wir alle sind Dir wieder näher gekommen, das heißt: Du entfernst Dich nicht! Gestern abend müssen Dir die Ohren geklungen haben. Du warst unter uns – entschuldige den biblischen Ausdruck – als Deine Worte aufklangen, von Freun- den gelesen, die sensiblen Gedanken eines Achtzehnjährigen, der Rußland als seine Heimat sah, selbst noch weit entfernt von diesem Deutschland. Deine ganze Persönlichkeit sprach aus den ruppigen und zärtlichen Zeilen Deines Fronttagebu- ches. Es war ein Abend des Nachdenkens und Mitdenkens. Bis hin zu den Zeug- nissen schwieriger Kontakte, die Du als Akademiepräsident geschaffen und bewahrt hast, und auch zu Deinem Protest gegen Mißachtung und dogmatische Verdammung von Kunstwerken. Dir, Koni, und denen Deines Denkens konnte niemand den Antifaschismus als zentrales Thema unserer Zeit »verordnen«. Für Dich war undenkbar, daß Antifa- schismus und Antikommunismus brüderlich an einem Tische sitzen könnten. Und Deine und unsere Geschichte neu bewerteten. Mit Deinen Filmen erfahren wir jetzt, wie sie nach Jahrzehnten ein fruchtbares neues Leben gewinnen. Drei Retrospektiven beweisen es gegenwärtig in unserem Umkreis, und Deine Gestalten betreten am Abend viele Wohnungen. Vermitteln wahrhaftige und kritische Abbilder unserer Geschichte, fördern aber auch An- näherung an Kunst. Mit Kemmel, dem Bildhauer aus Deinem Film, sind wir aufgefordert, Geistes- kultur auch als Forderung an uns anzunehmen, wie Goya, sein klassischer Bruder, es verlangte, wie Rita, die ein Leben in Verantwortung sucht. An uns wenden sich die Uransucher im Schacht wie die sich selbst suchende Sonny.

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Sie alle und alle ungenannten Figuren Deiner Autoren und Deiner Filme haben etwas in unser aller Leben gebracht, was – wie Kemmel bescheiden erklärt – viel- leicht erst beim dritten Hinsehen seinen Sinn erschließt, dann aber unvergessen bleibt. Dein menschliches Suchen bleibt in Deinen Filmen aufgehoben – und wir kön- nen Dir im Namen vieler bestätigen – Du wirst immer ansehbarer! und im Dop- pelsinne: angesehener. Damit schaffst Du vielen Hoffnung. Du hast über die Kunst in wenigen Sätzen gesagt, was vor tausend Jahren gel- ten konnte und in den hundert nächsten: »Die Kunst ist eine der edelsten Gesten des Vertrauens zwischen Menschen … kann sie doch Zuversicht in die humanisti- schen Möglichkeiten befestigen … Und sie kann eine strenge Warnerin sein … Die Zukunft benötigt Kunst, die das Mit- und Füreinander der Menschen kulti- viert.« Das sagtest Du, Koni, auf dem Parteitag 1981 – auf welchem Parteitag macht man sich darüber heute Gedanken?? Der Abend gestern endete, als Du in Gitta Nickels Film mit Deinen Mitarbei- tern das Lied von Tschapajew anstimmst – mit dem einmal in einem Moskauer Kino Dein »filmisches Leben« begann. Hier ist eine Flasche »Stolitschnaja« – nimm »sto gramm« auf Deine Blumen als Vorgeschmack dessen, was wir heute noch auf Deinen, den Wolfschen, Geist trinken werden. Do konza! Koni!

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Mama, ich lebe

1974 hatte Konrad Wolfs Gegenwartsfilm Der nackte Mann auf dem Sportplatz trotz des zugkräftigen Titels die Massen leider nicht ins Kino gelockt. Man muß es so sagen. Es war ein richtiger Zuschauer-Flop, wie ihn Wolfgang Kohlhaase und Wolf weder gekannt noch vorausgeahnt hatten. Auch das war ein Grund dafür, daß beide gemeinsam zu Wolfs Lebensthema zurückkehrten – der Beziehung deutscher und sowjetischer Menschen. Nach den Erfahrungen mit Sonnensucher war die Suche nach einem konfliktreichen Gegen- wartsstoff nicht gerade aussichtsreich. Beide hatten gerade eine Erzählung von Daniil Granin für den Film bearbeitet. Doch im Drehbuchstadium hielten sie den Versuch für gescheitert, ohne daß eine engstirnige Zensurinstanz, wie man heute gern vermuten würde, den Rotstift angesetzt hätte. Aber da gab es nun das im Doppelsinn ausgezeichnete und stark beachtete Hörspiel von Wolfgang Kohlhaase Fragen an ein Foto: Die Geschichte von vier jungen Deutschen, die in sowjetischer Gefangenschaft in extreme Entscheidungs- situationen geraten, als sie sich entschlossen haben, an der Front wenigstens pro- pagandistisch zur Beendigung des Krieges beizutragen. Sie ahnen nicht, daß sie bald vor der Frage stehen werden, möglicherweise wieder schießen zu müssen – diesmal auf Deutsche, die eben noch ihre Kameraden waren. Von den eigenen Leuten als Verräter beschimpft und bedroht, ihrer eigenen Entscheidung noch unsicher, sind sie in doppelter Hinsicht unterwegs. Doch auch manchem Sowjetsoldaten fällt es schwer, in den Feinden von gestern zuverlässige Gefährten zu sehen im Kampf auf Leben und Tod. Zu den emotionalsten Szenen gehört die Konfrontation in einer Banja, der russischen Sauna, die ein empörter Offizier nicht mit diesen nackten »Fritzen« teilen will. Diese und manch andere Szene der Filmerzählung kamen mir bekannt vor. Sie erinnerten mich an eindrucksvolle Schilderungen von Günter Klein, dem späteren Filmminister. Der ehemalige Offizier der Nazi-Luftwaffe, der über Kriegsgefan- genschaft und Antifa-Lager zum Nationalkomitee Freies Deutschland stieß, hatte 1957 vor den Mitgliedern der FDJ-Kulturdelegation gesprochen, um uns auf die Teilnahme an den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Moskau vorzube- reiten. Sein ungeschönter Bericht wurde dankbar aufgenommen, denn alle hatten die bekannten agitatorischen Gemeinplätze erwartet. Nun, 15 Jahre später, wurde dieser temperamentvolle Zeitzeuge unser wichtigster Fachberater für die Dreh- bucharbeit. Für ein historisch getreues Milieubild waren wir zunächst einmal auf das Wohlwollen und die Mitwirkung der Sowjetarmee angewiesen. Die erste Amts- handlung des Dramaturgen noch vor Beginn der Drehbucharbeit war deshalb ein Brief von Babelsberg nach Wünsdorf. Oberst Bassistow, Leiter der Politischen

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Verwaltung der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, wurde von mir gebeten, unseren Filmplan auch politisch bei der 7. Verwaltung der Armee- führung in Moskau zu unterstützen. Unverzichtbar war darüber hinaus die künstlerische Mitwirkung der sowjeti- schen Seite. Vor allem ging es dabei um eine hochrangige Besetzung aller sowje- tischen Rollen. Konrad Wolf wollte aber auch die Außenaufnahmen unbedingt an russischen Schauplätzen drehen, um so ein unverwechselbares landschaftliches, soziales und ethnisches Ambiente in historischer Treue zu sichern. Also sandten wir das bei uns abgesegnete Szenarium, ins Russische übersetzt, an das Staatliche Filmkomitee des Großen Bruders. So ein Projekt mußte dort aus inhaltlichen und politischen Gründen nicht nur bekanntgemacht, auch der guten Ordnung halber zur Koproduktion angeboten werden. Mit entsprechendem Zeitverzug ging es dann zu dritt nach Moskau. Günter Klein, als stellvertretender Kulturminister und Filmchef gerade abgelöst, war als Fachmann und politisch vertrauter Zeitzeuge dort noch immer gern gesehen. Im Nachtzug lud Koni zum kleinen Umtrunk in sein Schlafwagenabteil. Wir spra- chen über einige politisch heikle Szenen, deren Diskussion mit Sicherheit zu er- warten war. Insgeheim hofften wir auf die Zustimmung für eine Alleinproduktion mit Dienstleistungen des Studios Mosfilm. Bei einer Koproduktion mit ihren dop- pelten Abnahmeprozeduren hätte man mit ständiger administrativer Einfluß- nahme rechnen müssen. Die Fachsimpelei im Nachtzug hatte kaum begonnen, da fielen Konrad Wolf und Günter Klein unvermittelt ins Russische und in den Gesang sowjetischer Kriegslieder. Die waren nicht im Repertoire meines Oberschulchores enthalten. Obwohl nur sieben Jahre jünger als meine Reisegefährten, fühlte ich mich ein we- nig fremd in dieser überraschenden Generationsgemeinschaft zweier Genossen, deren Jugend noch von tödlicher Feindschaft bestimmt war. Im Filmkomitee trafen der gut russisch sprechende deutsche Funktionär Gjun- ter Klejn und der »halbe Russe« und Akademiepräsident Konrad Friedrichowitsch auf alte Bekannte und hilfsbereite Partner. Die gemeinsame Mission jedenfalls war erfolgreich. Es gab Grünes Licht für die Alleinproduktion der DEFA mit allen nötigen sowjetischen Dienstleistungen. Mich war durch den fertigen Film stark berührt, hatte ich doch als Halbwüchsi- ger den Systemwechsel und Wertewandel seiner vier Filmhelden 1945 selbst er- lebt. Doch so vorbehaltlos und lobend dieser starke Film auch abgenommen und öffentlich aufgenommen wurde, seine Resonanz im Kino schien 1977 nicht mehr so sicher wie die von Ich war neunzehn. Die Sorge war nicht unbegründet. Mama, ich lebe – wen erreichte die Bot- schaft? Unter diesem Titel habe ich in der Wochenzeitung Sonntag meine Erfahrungen aus unzähligen Begegnungen mit dem Publikum an der Seite oder als Ersatzmann von Konrad Wolf beschrieben. Wir diskutierten in Studenten- und Filmklubs, an

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den Hochschulen der Parteien, der Gewerkschaft und FDJ, aber auch mit den Zu- schauern nach ganz normalen Kinovorstellungen. Da gab es natürlich eine große Zustimmung zum Thema, aber auch viele kriti- sche Nachfragen. Die stille Erzählweise enttäuschte manche Erwartung nicht nur jüngerer Zuschauer auf mehr äußere Spannung und Dramatik. Manch einer war irritiert vom merkwürdigen psychologischen Schwebezustand der Helden und ihrer weltanschaulichen Unsicherheit. Das bekannte Schema einer geradlinigen Entwicklung vom Nazi oder Mitläu- fer zum bewußten Antifaschisten war hier nicht bedient. Aber wir wurden auch konfrontiert mit einer gewissen Antifa- und Kriegsfilmüdigkeit des jungen Publi- kums. Konrad Wolf müssen einige dieser Signale überrascht haben. Er sprach darüber auf dem III. Verbandskongreß der Film- und Fernsehleute 1977. »Ich habe noch nie Einheit, Wechselwirkung, dialektischen Widerspruch zwischen Gestaltung des Vergangenen und Heutigen so glücklich und schmerzvoll zugleich empfunden wie in diesen Wochen«, sagte er. Und er zitierte aus Briefen, die ihn erreicht hatten. So von einem alten KPD/ SED-Genossen mit neunjähriger Zuchthaus- und Auschwitz-Erfahrung, geschrie- ben offenbar nach einer Voraufführung für erhoffte Film-Agitatoren. »Dein Name bürgte mir bisher für Qualität und Deine Filme begeisterten mich. Aber mit Deinem neuen Film komme ich nicht klar. (...) Soll er eine Ehrenrettung für die Soldaten der faschistischen sein, die in sowjetische Gefangen- schaft gerieten? Leider werde ich vielleicht der einzige sein, der Dir so offen schreibt, obwohl ich von den zweihundert Genossen und FDJ-Funktionären nicht eine positive Meinung hörte. Die Jugendfunktionäre waren in ihren Meinungen noch viel härter.« Trotz der erwarteten positiven Presse prophezeite der ent- täuschte Genosse ein Kino-Desaster. Der Brief eines Leipziger Studenten schien diese Voraussage zu bestätigen: Er schrieb: »Filmtheater der Freundschaft für etwa 400 Besucher, 27 Anwesende am Sonntag, 6. März, 20 Uhr, zu einer Zeit, zu der bei Dutzendfilmen das Kino fast ausverkauft ist. Ich will sagen, was ich dazu denke; dreißig Jahre und länger gibt es Filme über den Krieg. Unsere Bevölkerung hat sie satt, (...) einer gleicht dem anderen (...) Wir haben uns dieses wichtige Sujet vergeben und die Mehrheit der Menschen durch kollektive Freiwilligkeit (die Vorstellungen werktags werden mit Schulklassen gefüllt) und durch Fernsehprogramme entmündigt.« Mit einem Lob für die »blutvollen Charaktere und glaubwürdigen Dialoge« verband der Student seine Hoffnung, es gehe »aufwärts im DEFA-Schaffen«. Konrad Wolf zitierte auch aus einer Umfrage unter Schülern der 10. und 11. Klas- sen zu ihrem Wunschfilm. »Machen Sie doch mal einen Film über das Heute, ge- nau so wirklichkeitstreu und ehrlich. Filme, die die Verhältnisse in unserem Staat nicht beschönigen (...) über Widersprüche des sozialistischen Aufbaus, zum Bei- spiel: Schwarzhandel, Schmiergelder, Disharmonie in der Planung (...) wo echte

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Probleme von Jugendlichen meines Alters dargestellt werden. Über Probleme der Arbeiterklasse, wie sie wirklich sind, geht das?« Das jedenfalls ging wohl so nicht. Aber Wolfgang Kohlhaase und Konrad Wolf nahmen diese Meinungen sehr ernst. Drei Jahre später bewiesen sie mit Solo Sunny, daß Wirklichkeitstreue und Ehrlichkeit auf der Leinwand möglich sind und volle Kinos auch – allerdings in einem anderen Lebensbereich als dem der etwas weniger filmogenen Sphäre der materiellen Produktion. Mama, ich lebe, dieser leise Film aus einer lauten Zeit bleibt ein wichtiges Werk in Wolfs Filmographie. Seine antifaschistische Botschaft, da bin ich sicher, hat uns auch heute noch viel zu sagen.

Mama ich lebe

ID 11144 Originaltitel/Archivtitel Mama, ich lebe Englischer Titel Mama, I’m Alive Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Filmart Spielfilm (S) Filmformat: 35 mm, Länge: 2820 m, Farbe: F HerstJ/Freigabe von 1976 Premierendatum 24. Februar 1977, Anlaufdatum: 25. Februar 1977 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme Verleih PROGRESS Film-Verleih Auszeichnungen Das Kollektiv – Konrad Wolf, Wolfgang Kohlhaase, Werner Bergmann – erhielt 1977 den Kunstpreis des FDGB. Quellen Filmobibliografischer Jahresbericht 1976, S. 23 Filmtext: Mama, ich lebe. Ein Drehbuch von Wolfgang Kohlhaase. In Film und Fernsehen 1977/5. (Das zweite Leben ..., Berlin 1994) Bemerkungen Der Film entstand mit Unterstützung von Sovinfilm und Lenfilm/UdSSR. Russische Dialogpassagen mit deutschen Untertiteln. Voraufführung am 23. Februar 1977 in Bernau, »Filmpalast« sowie »Kulturhaus der sowjetischen Armee«.

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Regie / Drehbuch Konrad Wolf Regieassistenz/Co-Regie: Doris Borkmann Dramaturg Wolfgang Beck, Günter Klein, Klaus Wischnewski, Dieter Wolf Kamera Werner Bergman DEFA-Fotograf: Michael Göthe Szenenbild Alfred Hirschmeier Kostüm Werner Bergemann Maske Lothar Stäglich, Rosemarie Stäglich Schnitt Evelyn Carow Darstellende Banionis, Donatas (Mauris) Bejschenalijew, Bolot (Kirgisischer Oberst) Gieß, Detlef (Kuschke); Itscherenski, Blagoi (Setzer) Jegoschin, Sergej (Popyschkin) Kindinow, Jewgeni (Glunski) Kirchberg, Eberhard (Koralewski) Krjutschkowa, Swetlana (Teemädchen) Lapikow, Iwan (General); Prager, Peter (Becker) Schutow, Jewgeni (Sauna-Offizier) Sholtikow, Sergej (Bandonionspieler) Terechowa, Margarita (Swetlana) Wasskow, Michail (Kolja); Zerbe, Uwe (Pankonin) Sprecher: Klaus Piontek Beratung Wolfgang Beck, Günter Klein, Klaus Wischnewski, Dieter Wolf Musik Rainer Böhm

Zum Inhalt Ein Kriegsgefangenenlager in der Sowjetunion. Vier junge Deutsche tauschen ihre Uni- form, um an der Seite des ehemaligen Feindes für eine schnellere Beendigung des Krieges zu kämpfen. In sowjetischer Uniform fahren sie mit ihrem Betreuer im Zug an die Front. Den Mitreisenden bleibt nicht lange verborgen, daß sie Deutsche sind. Für sie ist es nicht einfach, mit der neuen Identität fertigzuwerden. Im Lager wurden sie von einigen Kamera- den als Verräter bezeichnet. Das Verhalten der sowjetischen Soldaten ihnen gegenüber ist unterschiedlich. Einige sind unsicher, andere betrachten sie als Gleiche. An der Front an- gekommen, müssen sie sich entscheiden, ob sie einen Auftrag hinter den deutschen Linien übernehmen. Einer bleibt zurück. Die anderen gehen in den Wald, um sich auf den Partisa- nenkampf einzustellen, und begegnen plötzlich abgeschossenen deutschen Fliegern. Sie sind nicht fähig, auf die Deutschen zu schießen; ihren Betreuer Kolja kostet dies das Le- ben. Sein Tod löst große Betroffenheit bei ihnen aus. In der Zwischenzeit haben sich der zurückgebliebene Deutsche und die sowjetische Funkerin Swetlana ineinander verliebt. Sie hält zu ihn, obwohl er von einigen Russen kritisiert wird. Schließlich entscheidet auch er sich für den Einsatz.

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Sterne

»Wer die Sonne sucht, wird Sterne sehen«, so hatte der meist sehr ernst wirkende Konrad Wolf mit seltener Ironie gespöttelt, als er nach dem Verbot von Sonnensu- cher die Mischung seines fünften DEFA-Spielfilms mit einem Glas Sekt für been- det erklärte – nämlich die Produktion von Sterne. Es sollte sein bis dahin größter künstlerischer und internationaler Erfolg werden. Zum Inhalt des muß nichts gesagt werden. Wohl aber zu seiner Entstehung und seiner Wirkungs- geschichte. In einem letzten Interview für das letzte Jahrbuch 2005 der DEFA-Stiftung hat der bulgarische Autor Angel Wagenstein Wichtiges und bisher öffentlich Unbe- kanntes über sich und den Beginn seiner Zusammenarbeit mit der DEFA und Konrad Wolf erzählt. Manches davon wird Sie ebenso überraschen wie es bei mir der Fall war, obwohl ich Angel Wagenstein schon seit fünf Jahrzehnten kenne. Eines wußten wir schon lange: Wagenstein, Jahrgang 1922, und Wolf, drei Jahre jünger, begegneten sich zum ersten Mal am Moskauer Allunionsinstitut für Kinematographie WGIK 1949/50. Doch das geschah eher am Rande, denn beide studierten in verschiedenen Fachrichtungen, in verschiedenen Meisterklassen. Wagenstein errang mit seinem ersten Spielfilm, Alarm, bereits 1951 einen Preis auf dem Filmfestival in Karlovy Vary. In der Zeit absolvierte Konrad Wolf gerade sein erstes Regie-Praktikum in einem Dokumentarfilm von Joris Ivens in der DDR. Sechs Jahre später, 1957, besuchte eine DEFA-Delegation Bulgarien. Der Dra- maturg Dr. Walter Schmidt ermunterte Wagenstein, der DEFA einen Filmvor- schlag für eine Koproduktion zu unterbreiten. Der ausführliche Entwurf wurde in Babelsberg zustimmend aufgenommen und der Autor sogleich eingeladen. Doch der vom Studio vorgeschlagene berühmte Regisseur lehnte ab. Ihm gefiel die Geschichte nicht, und er dachte, das Publikum sei für das jüdische Thema im Kino nicht mehr zu erwärmen. Zu seiner Entschuldigung muß man sa- gen, daß er wohl auch glaubte, seinen frühen DEFA-Film Ehe im Schatten kaum übertreffen zu können. Dramaturg Willi Brückner schlug daraufhin Konrad Wolf vor, mit dem er bereits bei den Filmen Genesung und Sonnensucher zusammenge- arbeitet hatte. Und Wolf war von Wagensteins Entwurf sofort angetan. Wagenstein erzählt: »Bei der Arbeit an diesem Film wurden wir Freunde. Un- sere gemeinsame Arbeit war so gut, wie es in Bulgarien, wahrscheinlich über- haupt, selten ist. Konrad Wolf war der einzige Regisseur, mit dem ich zusammen- gearbeitet habe, der das Wort Wir kannte, der von unseren Gedanken sprach. Das Szenarium entstand in nur sieben Tagen. Es gab nur einen Wunsch vom damaligen Studiodirektor, und der betraf die Szene am Schluß. Die Deutschen sollten auch ein bißchen als Retter dargestellt werden und daß es aktive Kämpfer

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gegen den Faschismus gegeben hatte, als deren Heimat sich die DDR sah. Diese Wahrheit ist aber nicht typisch dafür, was damals wirklich geschah und für das Verhalten der Deutschen. Walter (eine Filmfigur – D. W.) sagt dann in dieser Szene: ›Du hast mir gesagt, ihr braucht Waffen.‹ Alles andere blieb so, wie ich es geschrieben hatte.« Daß Wagenstein für eine Koproduktion das Thema der Judenverfolgung auf- griff, hatte neben der notwendigen Erinnerung an den Nazi-Völkermord an den Juden Europas sehr persönliche Gründe. Er selbst ist Jude und hat sich immer offen zu seinem Judentum bekannt, ebenso aber zu seinem Atheismus. Er ent- stammt einer Familie kleiner Handwerker aus der Vielvölker-Stadt Plowdiw, wo Bulgaren, Juden, Türken, Armenier, Zigeuner, Albaner, Tataren eng beieinander lebten. Trotzdem gab es auch dort Antisemitismus. Schon vor dem Faschismus, aber bis dahin keine Verfolgung. Doch weil der Vater Kommunist war und mehr- fach verhaftet wurde, mußte die Familie 1928 nach Frankreich emigrieren und konnte erst sechs Jahre später nach Bulgarien zurückkehren. Wagenstein erinnert sich: »Gewohnt haben wir auf einem Dachboden, zu essen gab es wenig. Ein Stempel im Paß meines Vaters verbot jedem Franzosen, ihm Ar- beit zu geben. Das Vaterland der Revolution und der Menschenrechte war damals nicht so menschlich gegenüber linken Emigranten aus Osteuropa.« Einziger Ge- winn aber für Angel: Er spricht bis heute fließend französisch. Am 3. März 1941 wurde Bulgarien auch offiziell von deutschen Truppen be- setzt und trat dem Dreierbündnis Japan-Deutschland-Italien bei. Die Kommuni- stische Partei hatte beschlossen, den bewaffneten Aufstand vorzubereiten. Im Februar 1942, so Wagenstein, »gründeten wir eine Gruppe junger Widerstands- kämpfer. Wir steckten ein großes deutsches Lager mit Winterbekleidung für die Soldaten der Ostfront in Brand. Ich befand mich bereits in einem Arbeitslager für Juden. Nach der Wannseekonferenz 1942 wurden alle männlichen Juden vom 18. bis zum 60. Lebensjahr in Lagern interniert. Während einer Aktion in Sofia, bei der einer meiner Freund erschossen wurde, versteckte ich mich bei meiner Fa- milie. Ein Mann, übrigens ein Jude, verriet mich, ich wurde von der ver- haftet. Mein Prozeß zog sich in dem Durcheinander lange hin. Die Amerikaner hatten begonnen, Sofia zu bombardieren. Auch unser Gefängnis wurde getroffen und mußte evakuiert werden. So kam ich nach Sliven, einer Stadt in Ostbulgarien, wo meine Frau bereits zwei Jahre inhaftiert war. Sie war zu fünfzehn Jahren ver- urteilt worden. Als ich im Mai 1944 zum Tode verurteilt wurde, war die Lage in Bulgarien schon völlig unklar. Überall standen deutsche Truppen. In den Bergen gingen die harten Kämpfe weiter. Am 9. September 1944, als Bulgarien Deutsch- land den Krieg erklärte, konnten wir beide fliehen. Wir meldeten uns sofort zum Fronteinsatz und waren an den Kämpfen um Sofia beteiligt.« Als ein Fronttheater organisiert werden sollte, war der kunstinteressierte Angel sofort dabei. Bereits damals entstand die Idee einer nationalen bulgarischen Kine- matographie. Bald nach der Befreiung durch die Rote Armee wurden 50 junge

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Leute zum Filmstudium nach Moskau, L~odz, Prag und Paris geschickt. So also kam Wagenstein nach Moskau, und es verwundert nicht, daß er sich in seinen ersten Filmen ausschließlich mit der politischen Geschichte seines Landes ausein- andersetzte. Die Geschichte, die im Film Sterne erzählt wird, geht auf ein persönliches Er- lebnis von Wagenstein zurück. Hitler hatte dem zwangsverbündeten Bulgarien ein Stück von Griechenland »geschenkt«, das Bulgarien nach dem ersten Weltkrieg verloren hatte. Um solche griechischen Juden handelt es sich bei dem Transport, der im Film in einer kleinen bulgarischen Stadt Station macht. Genau solch einen Transport hatte Wagenstein selbst erlebt, als er, interniert im Judenlager, als Bautechniker im Eisenbahnbau, Zwangsarbeit leisten mußte. Sterne, so sagt er, »ist aus meinen Erlebnissen und Erinnerungen geschrieben. Der Junge mit dem Ranzen, der Arznei aus dem deutschen Militärlager besorgt hat, der bin ich. Nur, daß ich nicht verhaftet wurde, wie der Junge im Film.« Daß der Autor trotzdem die Geschichte aus der Sicht der beiden Deutschen er- zählt und nicht aus der Perspektive der bulgarischen Partisanen und Kommuni- sten, die den Juden helfen, wurde ihm zu Hause schwer angekreidet. Es war die Zeit der kämpferischen Partisanenfilme. Mitten im Kalten Krieg bevölkerten nur grausame Deutsche die Leinwand. Hier aber agierten keine Kommunisten und keine tiefbraunen Nazis. Als Koproduktion mußte der Film auch in Bulgarien abgenommen werden. DEFA-Direktor Albert Wilkening, Dramaturg Willi Brückner, Autor und Regis- seur wurden vom Künstlerischen Rat nach Sofia eingeladen. »Man eröffnete uns im Anschluß an die Vorführung, daß der Rat beschlossen habe, den Film in Bulga- rien nicht zu zeigen. Der Grund wäre der abstrakte Humanismus des Films, er be- säße keinen kämpferischen Geist.« Als die DDR 1959 Sterne für die Internationalen Filmfestspiele in Cannes vor- schlug, intervenierte der Interministerielle Ausschuß in Bonn, der über die Zulas- sung jedes DEFA-Films für eine öffentliche Vorführung zu entscheiden hatte. Im Vollzug der Hallstein-Doktrin und ihrer Anwendung nicht nur auf diplomati- schem, auch auf kulturellem Gebiet wurde der absurde Alleinvertretungsanspruch des anderen deutschen Staates exekutiert. Die DEFA und damit die DDR sollten international nicht präsent sein. Dagegen aber half nun der Status der Koproduktion. Und so lief der in Bulga- rien verbotene Film Sterne an der Côte d’Azur als bulgarische Produktion und eroberte nicht nur das Publikum, sondern auch einen Hauptpreis. Die bulgarische Administration aber verhinderte die Auszeichnung des Autors mit dem Nationalpreis 1959, den also nur Regisseur und Kameramann entgegen- nehmen durften. »Schließlich lud der Minister für Kultur eine Gruppe von ZK-Mitgliedern ein, die den Film noch einmal ansehen sollten. Er sagte, der Film sei nicht schädlich, man könne ihn ruhig zeigen. Zu mir gewandt: Genosse Wagenstein, Sie haben die

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parteiliche Klassenposition total verlassen. Man versteht nicht, wer bei den Juden Bourgeois ist, wer Proletarier, wer Kommunist, wer nicht.« Da erinnerte ihn Wagenstein daran, daß die Krematorien in Auschwitz einen solchen Unterschied nicht kannten. In diesem Gespräch empörte sich der Minister auch über Das Tagebuch der Anne Frank. »Was soll das? Eine Jüdin, die sich irgendwo versteckt, anstatt eine Waffe zu nehmen. Statt gegen den Faschismus zu kämpfen, schreibt sie Tagebücher.« So erinnert sich Wagenstein. »Lange danach, als Sterne bereits viele internationale Preise bekommen hatte (u. a. in Edinburgh, Wien, Sidney und Melbourne), lud der bulgarische Kulturmi- nister Sascha Kruscharska, die Ruth im Film, José Sanchez und mich zum Kaffee ein. Ich bekam ein Bild, die Schauspielerin drei Meter Stoff für ein Kleid und der Szenenbildner einen kleinen folkloristischen Wandteppich. Man darf so etwas nicht vergessen.« Auch etwas anderes sollte man nicht vergessen. Der Film fand schließlich doch noch einen westdeutschen Verleiher. Der aber griff zur Schere und änderte den Schluß: Walter, der geläuterte Deutsche, durfte nicht im Kontakt mit der Partisa- nenbewegung gezeigt werden. Kein Wunder, galt doch in der Adenauer-Ära der kommunistische Widerstand als Vaterlandsverrat, waren Wehrmachtsüberläufer oder die verfolgten Wehrdienstverweigerer noch immer politisch, juristisch und moralisch diskreditiert. Sterne, der Film zweier großer Filmleute mit jüdischem Hintergrund, erinnert daran, daß der Antifaschismus der DDR aber auch nicht das Geringste mit Anti- semitismus zu tun hat, wie das heute gern behauptet wird.

1 Sterne

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Premierendatum 27. März 1959 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme/ Studio für Spielfilme Sofia/Bulgarien Verleih PROGRESS Film-Verleih Auszeichnungen Der Film erhielt auf dem Filmfestival in Cannes 1959 einen Sonderpreis. Bemerkungen Der Film war die erste Koproduktion zwischen der DDR und der VR Bulgarien.

1 Der bulgarische Originaltitel ist »Zwesdy«.

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Regie Konrad Wolf Regie-Beratung: Rangel Wyltschanow Regie-Assistenz: Issak Cheskia, Michael Englberger Drehbuch Angel Wagenstein Dramaturgie Willi Brückner Kamera Werner Bergmann Kameraführung: Hans Heinrich Kamera-Assistenz: Manfred Damm DEFA-Fotograf: Lotte Michailowa Szenenbild José Sancha Bau-Ausführung: Maria Iwanowa, Alfred Drosdek Kostüm Albert Seidler, Albert Seidner Licht Werner Teichmann, Ilja Kyrilow Maske Otto Banse Schnitt Christa Wernicke Ton Erich Schmidt Requisite Kyrill Lambrew Außenrequisite: Siegfried Wittke, Kyrill Lambrew Musik Simeon Pirenkow; Mordechaj Gebirtik (jüdisches Lied »Es brennt«) Gesang: Gerry Wolff (jüdische Lieder) Produktionsleitung Siegfried Nürnberger, Wyltscho Draganow Aufnahmeleitung Hans-Joachim Funk, Bojan Marintschew, Metodi Kowatschew Darstellende Ruth: Sasha Krusharska Unteroffizier Walter: Jürgen Frohriep Bai Petko: Stefan Pejtchev Kurt: Erik S. Klein, Blashe: Georgi Naumow Ruths Vater: Iwan Kondow Partisanin: Milka Tujkowa, »Doktor«: Stiljan Kunew Polizeichef: Naitscha Petrow Alte Jüdin: Elena Chranowa Albert Zahn, Hannjo Hasse, Hans Fiebrandt, Waltraut Kramm, Trifon Djonew, Leo Konforti, Gani Staikow, Avram Pinkas, Sonka Miteva, Luna Davidowa, Peter Wassilew, Milka Mandril, Marin Toschew, Bella Eschkenazy, Jari Jakowlew Kyntscho Boschnakow, Georgi Bantschew

Dreharbeiten in Sofias Umgebung im Januar 1958

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Zum Inhalt 1943 auf dem Transport nach Auschwitz gibt es für griechische Juden einen Aufenthalt in einer von deutschen Truppen besetzten bulgarischen Stadt. Ruth, eine der Gefangenen, bittet einen deutschen Unteroffizier, einen früheren Kunststudenten, um Hilfe für eine nie- derkommende Mitgefangene. Er hilft, so gut er kann, und verliebt sich in Ruth. In dieser veränderten Situation beginnt er über seine Situation, über militärische Pflichterfüllung und eigenverantwortliches Handeln nachzudenken und gerät in Konflikt mit seinem Vorge- setzten. Er kann sich auch nicht dazu durchringen, bulgarischen Widerstandskämpfern zu helfen, will nur Ruth vor dem Transport nach Auschwitz retten, was ihm nicht gelingt. Erst da ist er bereit, wirklich Widerstand zu leisten.

Busch singt – Sechs Filme über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hier Teil 3: »1935 oder Das Faß der Pandora« und Teil 5: »Ein Toter auf Urlaub«

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Premierendatum 28. November,1. Dezember, 5. Dezember, 8. Dezember, 12. Dezember, 15. Dezember 1982 im Fernsehen der DDR Teil 3: 1935 oder Das Faß der Pandora am 25. November 1982 in Produzent DEFA, Gruppe »67« für das Fernsehen und die Akademie der Künste der DDR Verleih Deutsches Rundfunkarchiv Länge 325 Minuten (alle sechs Teile) Regie Konrad Wolf andere Teile: Reiner Bredemeyer, Erwin Burkert, Ludwig Hoffmann, Peter Voigt Regie-Assistenz: Peter Vatter (auch Recherchen), Carmen Bärwald (auch Recherchen) Assistenz-Regie: Doris Borkmann Kamera Lothar Keil (für Teil 3) andere Teile: Ernst Oeltze, Hans-Eberhard Leupold, Eberhard Geick Bauten Hans Moser (Trickgestaltung) Thomas Rosié (Trickgestaltung) Rainer Menschik (Typografie)

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Schnitt Evelyn Carow, Monika Klein, Ulla Kalisch Ton Harry Hapke, Bernd Runge Mischung: Werner Klein Musik Reiner Bredemeyer Produktionsleitung: Peter Schwartzkopff Produzent: Hans-Joachim Funk Aufnahmeleitung Jürgen Draheim, Reinhard Schrade

Ernst Busch

Der deutsche Schauspieler, Sänger und Kabarettist, wurde am 22. Januar 1900 in Kiel ge- boren und starb am 8. Juni 1980 in Berlin (DDR). Als Interpret der Lieder Kurt Tucholskys und in Kabaretts wird er bekannt. 1928 spielte er in der Dreigroschenoper von und sowohl in der Bühnen- als auch einer Filmfassung von 1931 unter der Regie von Georg Pabst. Als Kommunist muß der »Barrikadentauber« aus Deutschland fliehen, als es faschistisch ist: Holland, Belgien, Zürich, Paris, Wien und schließlich die Sowjetunion sind Stationen der Emigration. Er kämpft in Spanien mit den Internationalen Brigaden und singt die Lie- der des spanischen Freiheitskampfes. Im Mai 1940, als die deutsche Wehrmacht in die Niederlande und Belgien einmarschiert, wird er interniert. Bei einem Fluchtversuch verhaftet, wird er der Gestapo ausgeliefert und ins Berliner Gefängnis Moabit gebracht. Für die Anklage »Vorbereitung zum Hochverrat«, droht ihm die Todesstrafe. Durch Intervention von Gründgens wurde es »nur« 1943 eine vierjährige Zuchthausstrafe, von der ihn im April 1945 die Rote Armee aus dem Zuchthaus befreit. Busch lebte in der DDR, er arbeitet als Schauspieler und Regisseur am Deutschen Theater Berlin und ab 1950 in Brechts . In seinem eigenen Plattenverlag »AURORA« editierte er eine Sammlung seiner Kampflieder und Songs.

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Solo Sunny

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik1 Premierendatum 17. Januar 1980 im Kino »International« in Berlin (DDR) Produzent DEFA-Studio für Spielfilme -Babelsberg (»Gruppe Babelsberg«) Verleih PROGRESS Film-Verleih Auszeichnungen »Berlinale« 1980: Kritikerpreis der FIPRESCI, Preis für die beste weibliche Darstellung; 1. Preis für Drehbuch beim Int. Filmfestival Chicago 1980; Nationales Spielfilmfestival Karl-Marx-Stadt 1980: Preis für Regie, Kamera, Musik, Szenenbild, Schnitt, Schauspielpreis an Renate Krößner, für weibliche Nebenrolle an Heide Kipp, für männliche an Dieter Montag ... Regie Konrad Wolf Regieassistenz: Doris Borkmann Buch und Co-Regie Wolfgang Kohlhaase Dramaturgie Dieter Wolf Kamera Eberhard Geick Filmfotograf: Dieter Lück Bauten Alfred Hirschmeier Kostüm Rita Bieler Maske Jürgen Holzapfel, Irmela Holzapfel, Christa Eifler Schnitt Evelyn Carow Beratung Jutta Voigt Ton Konrad Walle Musik / Ausführung Günther Fischer, Günther-Fischer-Quintett Gesang: Regine Dobberschütz Darstellende Ingrid Sommer: Renate Krößner Mann bei Sunny: Michael Christian Benno Bohne: Harald Warmbrunn Frau Pfeiffer: Ursula Braun Hubert: Hansjürgen Hürrig, Harry: Dieter Montag Huberts Frau: Karin Beewen Grafikerin: Irmtraud Anschütz Volkspolizist: Thomas Neumann Ernesto: Rolf Pfannenstein, Detlef: Bernd Stegemann

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Darstellende Popel: Hans-Joachim Wiesner Duo Gradini: Lawrence und Lu Leistungssportler: Detlef Gieß Leistungssportler: Peter Jahoda Christine: Heide Kipp, die Neue: Johanna Schall Arzt: Fred Düren, Meister: Uwe Zerbe Monika: Regine Doreen, Udo: Olaf Mierau Neffe: Eckhard Becker, Zapfer: Lothar Warneke Bernd: Klaus Händel, Norbert: Klaus Brasch Blickende: Christine Reinhardt Grafiker: Ulrich Anschütz, Ralph: Alexander Lang Molly Sisters: Simone und Silvia Lange Mädchen in der Fabrik: Evelyn Fuchs Mädchen bei Ralph: Jacqueline Pöggel Mann mit Brille: Rolf Staude Essender: Roland Kuchenbuch Mädchen bei Norbert: Elke Behrends

Zum Inhalt Die DDR, Ende der siebziger Jahre. Die Sängerin Solo Sunny tingelt mit ihrer Band durch die Provinz. Trotz aller beruflichen und privaten Rückschläge sowie der Schwierigkeiten, ihre Träume mit den Lebensrealitäten in der DDR in Einklang zu bringen, versucht Sunny, die Hoffnung nicht aufzugeben.

Der nackte Mann auf dem Sportplatz

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Premierendatum 4. April 1974, Filmtheater International, Berlin Produzent DEFA-Studio für Spielfilme Potsdam-Babelsberg (»Gruppe Babelsberg«) Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie / Drehbuch Konrad Wolf Regieassistenz: Doris Borkmann Dramaturgie Gerhard Wolf Kamera Werner Bergmann Kamera-Assistenz: Alexander Kühn, Wolfgang Bangemann

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Bauten Alfred Hirschmeier Bauausführung: Willi Schäfer Außenrequisite: Jürgen Janitz Kostüm Rita Bieler Maske Jürgen Holzapfel, Irmela Holzapfel Schnitt Evelyn Thieme Ton Werner Klein Musik-Beratung Karl-Ernst Sasse Musik-Ausführung Max Dolsdorf (Sologitarre), Otto Rühlemann (Panflöte) Darstellende Kemmel: Kurt Böwe, Gisi: Ursula Karusseit Hannes: Martin Trettau LPG-Vorsitzende: Else Grube-Deister Referentin: Marga Legal, Regine: Ute Lubosch Fräulein Fritze: Vera Oelschlegel Frau des Soldaten: Angela: Ursula Werner Tante Marie: Erika Pelikowsky Michael: Andreas Schmid Pfarrer: Christian-Ulrich Baugatz Igor Klippfisch: Reimar-Johannes Baur Wilhelm: Gerhard Bienert Besichtiger: Rudolph Christoph SG-Vorsitzender: Dieter Franke Taxifahrer: Klaus Gehrke, Soldat: Matti Geschonneck Professor Hanke: Wolfgang Heinze Fußballfanatiker: Hermann Hiesgen Tautz: , Kollege: Thomas Langhoff SG-Kassierer: Walter Lendrich Genossenschaftsbauer: Klaus Manchen Kollege: Dieter Mann Vertrauensmann: Dieter Montag Verbandsangestellter: Willi Nocke Leipziger: Günter Rüger, Maurer: Günter Schubert Fiete: Jaeckie Schwarz sowie: Werner Stötzer (Darsteller; und seine Hände sind die von Kemmel), Helmut Straßburger, Johannes Wieke, Evelyn Cron, Robert Hirschmann, Ruth Glöß, Bodo Schmidt, Wilhelm Werner, Siegfried koch, Herbert Röder, Regine Albrecht, Ursula Langschweiger, Heinz Mrowka, Angelika Dietsch, Sonja Werner, Christian Fischer, Peter Krüger, Jürgen Klaus, Hans-Joachim Wolle, Henn Haas, Sonja Voigt, Elfi Zitzmann, Karola Jacobs, Beate Gutzeit

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Zum Inhalt Ein Film über den eigensinnigen Bildhauer Kemmel, seine Auffassung von Kunst und das Kunstverständnis der Betrachter. Ein Relief für ein Dorf war in einer Scheune gelandet, da niemand etwas damit anfangen konnte. Zwischen einem Arbeiter, der ihm nach viel Zu- reden für eine Porträtplastik Modell sitzt, und Kemmel entwickelt sich während der langen Sitzungen nach und nach eine eher spröde Beziehung, doch mit der Zeit versteht jeder etwas mehr von der anfangs sehr fremden Welt des anderen. Der Auftrag, eine Skulptur für einen Sportplatz in seinem Heimatdorf zu gestalten, schafft erneut Probleme. Kemmel ge- staltet einen nackten Läufer, während das Dorf sich einen – natürlich bekleideten – Fuß- baller vorgestellt hatte.

Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis

Friedrich Wolf, selbst auch Filmautor, hatte in den 50er Jahren den Chef des Auf- bau Verlages Walter Janka auf die filmischen Qualitäten des Romans aufmerksam gemacht. Sein Sohn und Regisseur Konrad bekannte später freimütig, »ich hatte nicht die Absicht, Feuchtwanger zu verfilmen. Um die Wahrheit zu sagen, zu- nächst habe ich mich sogar dagegen gewehrt.« Janka, Ende1960 aus vierjähriger politischer Haft im Zuchthaus Bautzen entlassen, wollte 1962 mit dieser Verfil- mungsidee seinen dramaturgischen Einstand geben. Er gewann Konis Freund An- gel Wagenstein für die Filmbearbeitung. Dank Jankas freundschaftlicher Bezie- hungen zu Feuchtwanger und seiner Frau Marta noch aus der Zeit als Verleger im mexikanischen Exil und später des Aufbau-Verlags gelang ihm 1963 der für undenkbar gehaltene Erwerb der Weltverfilmungsrechte zu sehr bescheidenen DDR-Bedingungen. Die hatten Frau Feuchtwangers Anwalt sehr irritiert. In den Vertragsverhandlungen berief er sich ausdrücklich auf ihre Instruktionen, »insbe- sondere auf die finanziellen Vorschläge (der DEFA) einzugehen, da ihr mehr an der künstlerischen Herstellung eines ihres Mannes würdigen Filmes liegt als an hohen Honoraren«. Die Filmrechte waren bereits mehrfach an US-Firmen ver- kauft worden, doch stets war die Produktion am Widerstand des Franco-Regimes und den Nachfahren der Herzogin Alba gescheitert. Aus politischen Gründen wa- ren also auch für uns Außenaufnahmen in Spanien ausgeschlossen. In der Euphorie der frühen 60er Jahre suchte man im Studio nach Welt-, also Westwirkung, wie sie vielleicht nur mit einem solchen epochalen Stoff zu erhof- fen war. Für die Hauptrolle etwa war an Anthony Quinn, Marlon Brando oder Jean-Louis Trintignant gedacht, für die Alba an Jeanne Moreau, für die Königin war Anna Magnani im Gespräch. Der interessierte Koproduzent Artur Brauner be-

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nannte umgehend einen Co-Autor, der das Szenarium von Angel Wagenstein so- gleich zerpflückte. Der scheute sich nicht, seinen Eindruck offen auszusprechen, wonach »ich als Schriftsteller wie ein Kaufmann spreche. Aber wir müssen leider ans Geld denken, an den Verleih, an den Verkauf in andere Länder.« Als Gegenlei- stung für seinen Produktionsanteil und die Gagen einiger internationaler Stars erwartete Brauner von der DEFA die Produktion eines kompletten historischen Films, und zwar Die Nibelungen. Solch ein Geschäft wurde nicht erst mit dem 11. Plenum indiskutabel. Damit war das Projekt für lange Zeit gestorben. Schon im ersten Briefwechsel hatte Marta Feuchtwanger die Idee einer Ge- meinschaftsproduktion ins Spiel gebracht: »Ich habe herrliche russische Filme gesehen, und ich würde es sehr begrüßen, wenn sich da die Möglichkeit einer Zusammenarbeit böte ...« So begannen 1966 in der Gruppe Babelsberg unsere Wiederbelebungsversuche mit dem Vorschlag für eine Koproduktion mit der Sowjetunion. Meine ausführliche kulturpolitische Argumentation mit Eckdaten der Realisierung und Finanzierung genügte in Berlin nicht. Ohne eine ideolo- gisch-künstlerische Konzeption des Regisseurs fände keine Beratung beim Lei- ter der Hauptverwaltung Film statt. Diese Aufforderung war an den Gruppenlei- ter adressiert. Konrad Wolf ließ nun über seinen Namensvetter verlauten, er identifiziere sich mit dem Papier der Gruppe. Er denke an eine Regiekonzeption allein »als Erläuterungen und Ergänzungen zum Regiedrehbuch, das nur ge- meinsam von Autor, Regisseur, Szenenbildner und Kameramann ausgearbeitet werden kann«. Das war gleichsam die Forderung nach einem Produktionsbe- schluß. Lange Pause. Da kam ein Gipfeltreffen gerade recht. Konrad Wolf wurde im Dezember 1967 mit Ich war neunzehn ins Sekretariat des Zentralkomitees gebeten. Er nutzte die günstige Gelegenheit und die gute Stimmung nach der Filmvorführung, um mit einem von uns ausgearbeiteten Grundsatzpapier, Vorlage genannt, für sein neues Projekt zu werben. Parallel dazu mußten wir Kulturminister Gysi und den Stell- vertreter des Vorsitzenden des Ministerrates, Alexander Abusch, informieren, da- mit sie sich nicht von einer Basis-Initiative übergangen fühlten. All das war nötig, um neben dem Parteiweg die staatliche Kulturschiene Berlin-Moskau wenigstens als zweites Gleis zu nutzen. Vier Monate später wurde ich gebeten, ein Dankschreiben zu entwerfen für die Zusage der Koproduktion, immerhin erstmalig unter deutscher Allein-Regie. Darin sollte Filmminister Wagner sein Vis-à-vis im Staatlichen Komitee für Kine- matographie der UdSSR um die Nominierung eines Partnerstudios bitten und um Verhandlung über einen verbindlichen Vorvertrag. Im Juli 1968 endlich war es so weit. Mit Konrad Wolf und Produktionsleiter Herbert Ehler, begleitet von einem hohen Funktionär der Hauptverwaltung Film, konnten wir nach Moskau aufbrechen. Der Stellvertreter des Vorsitzenden des Komitees, Arshanski, delegierte unser Angebot wunschgemäß an das nicht eben autarke, doch etwas Moskau-fernere große Lenfilm-Studio in Leningrad.

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Dort trafen wir ihn zu unserer Überraschung wenig später als Produktionschef und konstruktiven Verhandlungspartner. Als Berater für die sowjetische Seite hat- ten wir den Literatur-Professor Alexander Dymschitz ins Gespräch gebracht. Der hoch angesehene, ja legendäre Kulturoffizier im Berlin der Nachkriegszeit, galt noch immer als unumstrittene kulturpolitische Autorität. Er wurde zum einflußrei- chen Fürsprecher des Projekts in der sowjetischen Filmhierarchie. Walter Janka akzeptierte gern, daß wir ihm im Filmabspann für seine Mittlerrolle den Status ei- nes Co-Dramaturgen zuschrieben. Die Erinnerung an mehrere anregende Begeg- nungen in Moskau, Berlin und Kleinmachnow sind unvergessen. Wolf und Wagenstein beorderten erst einmal mich zur Diskussion der letzten Szenarienfassung mit der Studioleitung nach Leningrad. Dort traf ich auf eine kleine, vielseitig gebildete, recht energische Chefdramaturgin. Ihre Buchanalyse war erwartungsgemäß von ganz ähnlichen ideologischen Bedenklichkeiten be- stimmt, denen wir schon zu Hause begegnet waren. Sie warnte vor der »Gefahr falscher Aktualisierung, gefährlicher Analogien in der Gestaltung des Verhältnis- ses von Künstler und Gesellschaft, von Geist und Macht, Politik und Kunst«. Goyas Beziehung zur Herzogin Alba müsse als sozialer Konflikt gestaltet wer- den und dürfe »nicht als Idylle, als Brücke zwischen den Klassen« erscheinen. Auch das Bild der spanischen Liberalen, denen Goya wichtige Denkanstöße ver- dankte, über die er aber hinausgegangen sei, solle verdeutlicht werden. Vor allem aber sei die Rolle des spanischen Volkes für die Entwicklung des prominenten Hofmalers stärker ins Blickfeld zu rücken. Nicht nur Goyas Konflikt mit der absolutistischen Macht und katholischen In- quisition schien anspielungsverdächtig, auch seine hartnäckige Weigerung, seine Kunst ganz direkt in den Dienst der bürgerlich-liberalen Parteipolitik zu stellen. Gerade das aber fordert der von den Mächtigen verfolgte Politiker Jovellanos, der Goya seine Rückkehr aus dem Exil verdankt. In einem mehrstündigen Gespräch hatten wir gewonnen, lange nach Ende seiner Theaterkarriere und trotz seiner kriegsbedingten Gesichtslähmung erstmalig eine DEFA-Rolle zu übernehmen. Die nachdenklich vorgetragenen Einwände von Lenfilm waren offenbar mehr als Warnschilder gedacht, weniger als verbindliche Änderungsauflagen. So wagte man auch nicht, wie sonst üblich, einen sowjetischen Mitautor für die Drehbuch- arbeit ins Gespräch zu bringen. Man war zufrieden mit unserem Versprechen, dies alles zu bedenken und nach Möglichkeit im Regiebuch zu berücksichtigen. Wir wollten mit der wichtigsten Bezugsfigur, Goyas kritischem Malerfreund und Gehilfen Esteve, die Stimme des Volkes stark zur Geltung bringen. Älter als im Roman, gewann die Figur in der Gestaltung durch Fred Düren tatsächlich mehr Einfluß auf die politische und künstlerische Position des arrivierten Hofma- lers. So wird Goya zum Herausforderer der Inquisition, zum künstlerischen Re- präsentanten der revolutionären Bewegung, gipfelnd in seinem aufrührerischen Gemälde der Erschießung der Aufständischen.

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Im früheren Filmchef Anton Ackermann gewannen wir einen kulturpolitischen Anwalt für unser schon einmal totgesagtes Projekt. Ende 1968 fügten wir seine Stellungnahme zum Drehbuch unserem Antrag auf Produktionsfreigabe bei. Mit genauem Gespür für die ideologischen »Bedenkenträger« lobte er die Weiter- führung des Films über Feuchtwangers Roman hinaus bis zur Volkserhebung in der bürgerlich-demokratischen Revolution und ihrem Widerschein in Goyas Gra- phik-Zyklus Schrecken des Krieges. Er unterstrich die Bedeutung der wenigen Szenen, in denen das Volk Gestalt gewinnt und lobte die Darstellung von Goyas konfliktreichem Weg mit all seinen menschlichen Schwächen. In diesem Kunst- werk werde echte fromme Gottgläubigkeit respektvoll gegen die Inquisition und reaktionäre volksfeindliche Politik des hohen Klerus verteidigt, ohne die Gefühle ehrlicher Gläubiger zu verletzen. Ackermann betonte sein größtes Vertrauen in die Fähigkeiten und die geschmackvolle künstlerische Gestaltung des Regisseurs. Marta Feuchtwanger begutachtete alle Stadien der Bucharbeit. Ihren Ehren- doktor-Titel im Briefkopf hatte sie sich längst verdient. Nun lernten wir ihre punktgenaue Lektüre und ihre klugen kritischen Rückfragen und Vorschläge auch zum Regiebuch schätzen. Erst auf ihr Anraten hin wurde eine der stärksten Sze- nen zwischen Goya und der Alba aus dem Roman übernommen – die Szene, in der Cayetana zum schlafenden Goya spricht. Doch nicht nur das. »Ihre Dialog- Striche waren so gut, daß wir sie widerspruchslos übernommen haben.« 1971 folgte sie Konrad Wolfs Einladung, sich den Film in Berlin anzusehen, bevor er in die Öffentlichkeit kommen sollte. Ihr frühes Urteil war ihm wichtiger als ihre repräsentative Teilnahme an der Berliner Premiere. So hatte man endlich Gelegenheit, die rüstige alte Dame persönlich kennenzulernen. Man konnte sie trotz ihres hohen Alters getrost eine exotische Schönheit nennen. Die Regierung bedankte sich für ihr großes und uneigennütziges Engagement für den Film und die Pflege des Feuchtwanger-Werks mit dem Orden Stern der Völkerfreundschaft in Gold, der höchsten Auszeichnung, die ausländischen Bürgern vorbehalten war. Goya, in zwei verschiedenen Filmformaten gedreht, wurde Konrad Wolfs schwierigste und langwierigste Filmarbeit. Die Atelieraufnahmen fanden in Le- ningrad und Babelsberg statt, die Außenaufnahmen in Bulgarien und auf der Krim. Der Kameramann und Bundesbürger Peter Hellmich konnte einige Doku- mentaraufnahmen in Spanien drehen. Für die großen Prozessionen lieferte uns das südliche Ambiente des kroatischen Dubrovnik einen glaubwürdigen historischen Hintergrund. Um den immensen Aufwand an Dekorationen, historischen Kostü- men und Requisiten zu minimieren, wurden in monatelanger Vorarbeit von Regis- seur, Szenenbildner und den Kameramännern die Anforderungen an jede einzelne Aufnahme verabredet. Szenenbildner Alfred Hirschmeier hielt das Ergebnis in hunderten von Einstellungsskizzen in einem kompletten optischen Drehbuch fest. Auf 1 300 handschriftlichen Seiten dokumentierte die Assistenzregisseurin alle künstlerischen und technischen Details der künftigen Realisierung, die den Um- fang eines normalen Regiedrehbuchs für Stab und Schauspieler gesprengt hätten.

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Die Berliner Premiere der 70-mm-Version im Kinotheater Kosmos 1971 wurde zum großen kulturpolitischen Ereignis, geadelt durch den Nationalpreis I. Klasse für Au- tor, Regisseur, Szenenbildner und beide Kameramänner. Einziger Wermutstropfen im Freudenbecher: Nur der Initiator und unermüdliche Betreiber des Vorhabens, Dramaturg Walter Janka, war aus unserer Vorschlagsliste gestrichen worden.

Goya oder Der arge Weg der Erkenntnis nach dem Roman von Lion Feuchtwanger

Produktionsländer Deutsche Demokratische Republik/Sowjetunion Premierendatum 16. September 1971 (Voraufführung am 19. Juli im Berliner Kino »Kosmos« in Anwesenheit von Marta Feuchtwanger und Mitgliedern der Akademie der Künste der DDR) Produzenten DEFA-Studio für Spielfilme Potsdam-Babelsberg, Gruppe »Babelsberg«/Studio Lenfilm, Leningrad Verleih PROGRESS Film-Verleih 70-mm-Film Auszeichnungen VII. Internationale Filmfestspiele Moskau 1971, Spezialpreis der Jury; Das Kollektiv – Konrad Wolf, Angel Wagenstein, Konstantin Ryshow, Alfred Hirschmeier, Werner Bergmann – erhielt 1971 den Nationalpreis I. Klasse; das Kollektiv – Fred Düren, Rolf Hoppe, Donatas Banionis – erhielt 1971 den Kunstpreis der DDR; Prädikat »Besonders wertvoll« Buch Angel Wagenstein Regie Konrad Wolf Assistenz-Regie: Doris Borkmann, Wladimir Stepanow Regieassistenz: Ludmila Galba, Iris Gusner, Jürgen Klauß, Wladimir Sinilo, Emilija Suchorukowa Dramaturgie Alexander Dymschitz, Walter Janka Kamera Werner Bergmann und Konstantin Ryshow Bauten Alfred Hirschmeier und Waleri Jurkewitsch Kostüm Ludmila Schildknecht und Joachim Dittrich Maske Günter Hermstein, Ursula Funk, Jürgen Holzapfel, Inge Merten und Galina Wassiljewa plastische Maske: Eduard Fischer

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Schnitt Alexandra Borowskaja Ton Eduard Wanunz, Garri Bjelenki und Jefim Judin Beratung Dr. Karl-Heinz Barck, Dr. Hansjoachim Felber, Prof. Irina Lewina und Prof. Dawid Prizker Musik Faradsh und Kara Karajew, Paco Ibanez (Lieder der Rosario), Ausführung: Leningrader Staatliche Philharmonie, Dirigent: Rauf Abdulajew Gitarrensolo: Juri Smirnow Produktionsleitung Herbert Ehler und Genrich Chochlow Darstellende deutsche Stimme Goya: Donatas Banionis Kurt Böwe Esteve: Fred Düren Herzogin Alba: Olivera Vuco Annemone Haase Karl IV.: Rolf Hoppe Königin Maria Luisa: Tatjana Lolowa Ursula Braun Jovellanos: Ernst Busch Otero: Martin Flörchinger Quintana: Arno Wyzniewski Maria Rosario: Carmen Herold Bermudez: Gustaw Holoubek Guillemardet: Michail Kasakow Klaus Piontek Godoy: Wolfgang Kieling Dona Lucia: Irén Sütö Abate: Andrzej Szalawski Großinquisitor: Mieczyslaw Voit Pepa: Ljudmila Tschurssina, Gil: Peter Slabakov Goyas Mutter: Veriko Andshaparidse Josepha: Ariadna Schengelaja Eufemia: Nunuta Hodos, Padilla: Georgij Pawlow San Adrian: Igor Wasiljew, Ortiz: Günter Schubert Velasco: Kurt Radeke Bote der Inquisition: Walter Bechstein in weiteren Rollen/als Stimmen: Gerry Wolff, Wolfgang Lohse, Hans-Dieter Leinhos, Natascha Nesowiz, Fredy Barten, Michael Gerber, Slobodan Dimitrijeviç, Aurora Pan, Igor Dimitrijew, Friedrich Richter, Erhard John, Petar Spaic, Djoko Rosic, Harald Moszdorf, Peter Grünstein, René Kasch, Maria Lenk, Herbert Pfister, Regine Kühn, Hans-Jochim Felber, Ralf Haufe, Elke Boßmann, Anton Nalis, Shana Jeremejewa, Frank Raschke, Gerit Kling, Georgi Teich, Alexej Sokolowitsch, Karl-Heinz Weiß, Predrag Milinkoviç

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Zum Inhalt

Goya ist Erster Hofmaler Karls IV. geworden. Seine Bilder zieren die Schlösser des Königs und der Granden. Aber er ist vor allem Spanier. In leidenschaftlicher Liebe fühlt er sich zu Herzogin Alba hingezogen, gleichzeitig haßt er die hochnäsige Aristokratin in ihr, die ihn nach Belieben wie einen Lakaien behandelt. Diese Widersprüche beeinflussen seine Kunst. Durch Freund Esteve erfährt er von der revolutionären Bewegung seines Volkes, begegnet der Sängerin Maria Rosario, die von der Inquisition verurteilt wird, und wird schließlich selbst Opfer der Inquisition.

Ich war neunzehn

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Premierendatum 1. Februar 1968 im Kino »International« in Berlin (DDR) Produzent DEFA-Studio für Spielfilme Potsdam-Babelsberg (»Gruppe Babelsberg 67«) Verleih PROGRESS Film-Verleih Auszeichnungen Prädikat »Besonders wertvoll« Regie Konrad Wolf Assistenz-Regie: Doris Borkmann, Rainer Simon Buch Wolfgang Kohlhaase, Konrad Wolf Dramaturgie Gerhard Wolf Kamera Werner Bergmann Filmfotografen: Wolfgang Ebert, Bernd Sperberg Bauten Alfred Hirschmeier Requisite Rudolf Borchardt Kostüm Werner Bergemann Maske Günter Hermstein, Inge Merten Schnitt Evelyn Carow Ton Konrad Walle Produktionsleitung Herbert Ehler Aufnahmeleitung Hans Berek, Horst Schmidt, Karlheinz Haarnagell

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Beratung Anton Ackermann, Nikolai Surkow Gesang Ernst Busch: im Lied »Am Rio Jarama, Februar 1937« Darstellende Gregor Hecker: Jaecki Schwarz Wadim: Wassili Liwanow Dsingis: Kalmursa Rachmanow Sascha: Alexej Ejboschenko Starschina: Anatoli Solowjow sowjetisches Mädchen: Galina Polskich deutsches Mädchen: Jenny Gröllmann General: Michail Glusskij, Sturmbannführer: Kurt Böwe Etappenmajor: Rolf Hoppe, Adjutant: Jürgen Hentsch blinder Soldat: Klaus Manchen Landschaftsgestalter: Wolfgang Greese Festungskommandant: Johannes Wieke befreiter Häftling: Werner Wenzel befreiter Häftling: Walter Bechstein befreiter Häftling: Hermann Beyer Obersergeant: Afanasij Kotschetkow Unterleutnant: Boris Tokarev Unteroffizier: Dieter Mann Major im Jeep: Viktor Wolkow Adjutant: Tscheslaw Moissejew Oberleutnant am Kontrollpunkt: Wladimir Rjabow Fallschirmjäger: Wolfgang Winkler Frau des Bürgermeisters: Susanne Düllmann Bürgermeister / Pfarrer: Otto Lang Drucker: Hermann Wagemann Gefangener in Oranienburg: Martin Trettau Offizier in Spandau: Wilhelm Burmeier Offizier in Spandau: Curt W. Franke Offizier in Spandau: Martin Angermann Offizier in Spandau: Lutz Günzel Offizier in Spandau: Peter Ensikat Offizier in Spandau: Dirk Jungnickel Offizier in Spandau: Siegfried Göhler betrunkener Offizier: Gerhard Vogt Hitlerjunge: Wolfgang Altus Fähnrich: Detlef Heintze, Feldwebel: Fritz Mohr Marineoffizier: Achim Schmidtchen Bäuerin: Else Bugatz, Bauer: Richard Degen verwundeter Hitlerjunge: Waldemar Wieser Mädchen von 14 Jahren: Ellen Wokittel Junge von 10 Jahren: Dietmar Wenzel Mädchen von 5 Jahren: Ingrid Böck in weiteren Rollen: Anatoli Miloradow, Werner Wenzel, Michail Podrjes

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Der Film entstand mit Unterstützung der Sowjetarmee und der Nationalen Volksarmee der DDR. Die Dreharbeiten fanden in der Mark Brandenburg (u. a. in Bernau und im Schloß Sanssouci) statt.

Zum Inhalt Gregor Hecker war als Achtjähriger mit seinen Eltern in die Sowjetunion emigriert. Als 19jähriger kehrt er mit einer Aufklärungseinheit der Roten Armee im April 1945 nach Deutschland zurück. Es fällt ihm schwer, die Deutschen, die zum Teil noch erbittert gegen die Russen kämpfen, als seine Landsleute zu betrachten und er schämt sich vor den sowje- tischen Genossen für das Verhalten der Deutschen. Nur langsam reift die Erkenntnis, dass nicht alle Deutschen schuldig waren und dass man nur mit ihnen gemeinsam ein fried- liches Deutschland aufbauen kann. Mit diesem Film erzählt Konrad Wolf ein Stück Auto- biographie.

Professor Mamlock nach der literarischen Vorlage des gleichnamigen Dramas von

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Premierendatum 17. Mai 1961 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih Auszeichnungen II. Internationales Filmfestival Moskau 1961: Goldmedaille; II. Internationales Filmfestival Neu Delhi 1961: Silberne Lotosblume Regie Konrad Wolf Regie-Assistenz: Michael Englberger Drehbuch Karl Georg Egel, Konrad Wolf Dramaturgie Willi Brückner Kamera Werner Bergmann Kameraführung: Günter Ost Kamera-Assistenz: Manfred Damm DEFA-Fotograf: Walter Ruge Bauten Harald Horn Bau-Ausführung: Walter Colani Kostüm Werner Bergemann

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Licht Werner Teichmann Maske Otto Banse Schnitt Christa Wernicke Ton Gerhard Wiek Beratung Dr. Walter Pollatschek, Dr Ursula Voigt-Figuth (Außen)Requisite Ferdinand Schwarzer Musik Hans-Dieter Hosalla Verwendung von Motiven aus der IX. Sinfonie von Produktionsleitung Hans-Joachim Funk Aufnahmeleitung Irene Ikker Darstellende Professor Hans Mamlock: Ellen Mamlock, seine Frau: Ursula Burg Rolf Mamlock, beider Sohn: Hilmar Thate Ruth Mamlock, beider Tochter: Doris Abeßer Ernst: Ulrich Thein, Dr. Inge Ruoff: Lissy Tempelhof Dr. Hellpach: Harald Halgardt, Dr. Hirsch: Peter Sturm Oberarzt Dr. Carlsen: Herwart Grosse Dr. Werner Seidel: Franz Kutschera Bankier Schneider: Kurt Jung-Alsen Kurt Walter: Günter Naumann Schwester Hedwig: Agnes Kraus Simon, Krankenwärter: Günter Grabbert SA-Sturmbannführer: in weiteren Rollen: Hans Flössel, Hans Teuscher, Johannes Maus, Bruno Carstens, Marianne Daudert, Greti Emmer, Sonja Voigt-Haas, Horst Giesen, Ellen Weber, Wilhelm Besendahl, Wolf Thiessen, Wolfgang Schmittke, Dieter Kores, Jürgen Henschke, Johannes Curth, Norbert Moedebeck, Margrit Tippmann, Walter E. Fuss, Gisela Graupner, Heide Kipp, Karl-Helge Hofstadt

Zum Inhalt

Professor Mamlock ist Chefarzt einer chirurgischen Klinik. Nach der Machtergreifung Hit- lers verändert sich für den jüdischen Arzt und seine Familie das Leben spürbar, auch wenn er es zunächst nicht wahrhaben will. Seinem Sohn, der den Vater warnt und im Widerstand engagiert ist, weist er die Tür. Dass seine Tochter vom Gymnasium verwiesen wird, will er nicht glauben. Zunächst kann er in seiner Klinik noch arbeiten, muss aber unter Druck selbst die Entlassungspapiere anderer jüdischer Kollegen unterschreiben. Als der Nazi Dr. Hellpach kommissarischer Leiter wird, man ihn quasi nur noch duldet, begreift Mamlock, wie richtig die Einschätzung seines Sohnes war. Er sieht als Ausweg für sich nur noch den Freitod.

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Der geteilte Himmel

Zunächst einige wenige Worte zur Entstehungszeit und dem filmgeschichtlichen Hintergrund des Films. Konrad und Christa Wolf hatten bereits einige Zeit vor dem Geteilten Himmel zusammengefunden. Ihr literarisches Debüt 1961 Mos- kauer Novelle hatte sie gemeinsam mit Gerhard Wolf zum Drehbuch entwickelt. Doch die Verfilmung scheiterte am kritischen Urteil des Sowjetischen Filmkomi- tees über die russische Hauptfigur, den sowjetischen Leutnant Pawel Kokoschkin. Der entsprach nicht ganz dem Heldentypus eines sowjetischen Befreiers der Jahre 45/46, wie ihn sich die Moskauer Filmfunktionäre wünschten. Der nächste gemeinsame Plan der Wölfe hieß Heimkehr, und der wiederum mißfiel Hans Rodenberg, dem für Film zuständigen stellvertretenden Kulturmini- ster. Es war die Geschichte eines sehr spät aus Moskau heimkehrenden Emigran- ten in ein ihm fremdes Land. Der Minister wollte die aufstrebende DDR nicht mit dem kritischen Blick eines Mannes entdeckt sehen, der von draußen kommt. In meinem Buch Gruppe Babelsberg. Unsere nichtgedrehten Filme habe ich darüber geschrieben, daß selbst eine politische und künstlerische Autorität wie Konrad Wolf nicht vor diesen und anderen Rückschlägen verschont blieb. Zum Glück für uns alle hat er, beginnend mit Ich war neunzehn bis zu Solo Sunny, fünf der bedeutendsten DEFA-Filme in der Gruppe Babelsberg realisieren können. Trotz dieser wenig ermutigenden Erfahrungen mit Ideen von Christa Wolf begann Anfang 1963 die Drehbucharbeit am Geteilten Himmel noch während des Vorab- drucks der Erzählung in der Studentenzeitung forum in einem ungewöhnlich großen Kollektiv. Ich sehe noch den Assistenzregisseur Kurt Barthel bei einer Vorauswahl mit der Papierschere, um Schlüsselszenen für die Drehbucharbeit auszuschneiden. Eine neue, verjüngte Studioleitung erlaubte, allen Planungsgrundsätzen zuwider, die gleichzeitige kostenintensive Produktionsvorbereitung: Schauspielerbesetzung, Pro- beaufnahmen und Motivsuche für die Außenaufnahmen. Und das war gut so. Denn bald nach der Buchveröffentlichung gab es warnende, ja bedrohliche Einwände. Der Beginn der 60er Jahre war die Zeit mutiger literarischer Entdeckungen von Alltagsproblematik wie auch in Spur der Steine, Ole Bienkopp, Beschreibung ei- nes Sommers. Christa und Gerhard Wolf hatten ihren Wohnsitz von Berlin nach verlegt, »in den geballten Rauch aus hundert Fabrikschornsteinen«, so steht es im Buch. Sie folgten der Forderung, die Literatur möge sich mehr dem Leben der Arbeiterklasse zuwenden. Im engen Kontakt mit einer Tischlerei-Brigade des nahegelegenen VEB Waggonbau Ammendorf stießen sie auf Widersprüche, mit denen sich Arbeiter, Ingenieure und Leiter tagtäglich herumzuschlagen hatten – reiches Material für den sozialen Hintergrund der tragisch endenden Liebesge- schichte. Noch sahen sich Autoren und Filmleute ermutigt, reale Lebensprozesse in scharfen Konflikten zu gestalten. Im Schutz der Mauer, so dachte man, sei ein

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neuer Freiraum entstanden für die öffentliche und kritische Debatte der weiteren Entwicklung des Sozialismus im zweiten deutschen Staat. In Arbeit waren auch andere Gegenwartsgeschichten mit bisher tabuisierten Problemen, hier aber erst- malig die tragische Dimension des geteilten Landes im Scheitern einer Liebe. Vor allem diese Sicht auf die nationale Problematik rief die politischen Tugend- wächter auf den Plan. Inspiriert von Horst Sindermann, gerade erst als Kandidat des Politbüros und 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung gewählt, fragte sein Hallenser Parteiorgan Freiheit in einem ganzseitigen Grundsatzartikel »nach dem Standpunkt der Autorin«, weil sie die Spaltung Deutschlands als ein Unglück betrachte. »Ist das ein Unglück?« So die rhetorische Frage. Vielmehr gehe es darum, »daß sich ein je- der des Glückes bewußt wird: Es gibt die DDR. Sie hat die westdeutschen Militari- sten eingemauert.« Auch in der angeblich falschen Heldenwahl entdeckten die Kri- tiker »die dekadente Lebensauffassung von Christa Wolf«. Die Auszeichnung mit dem Nationalpreis 1964 beendete diese »sektiererischen« Attacken. Im Studio war die inhaltliche Substanz der Erzählung unumstritten. Trotz einer großen DEFA-Tradition erfolgreicher Romanverfilmungen stellte die Erzählung die Filmleute aber vor neue Anforderungen. Keine epische Vorlage bisher war so stark von einer subjektiven Figurenperspektive mit innerem Monolog bestimmt wie hier, alles also aus der Sicht der Rita zu erzählen. Da lag der verbreitete Vor- wurf des Subjektivismus geradezu in der Luft. Im Film wählte man dafür die Ge- dankenstimme der Hauptfigur, die man hört, ohne sie sprechen zu sehen. Das war im DEFA-Film noch kaum geübt. Noch vertrackter war die Erzählstruktur. Rita erinnert sich im Prozeß ihrer Genesung – quasi in Rückblenden – an vorausgegangene Erlebnisse in verschiedenen sozialen und lokalen Bereichen: Da sind die Liebe zu Manfred und die Erfahrung mit seinem bürgerlichen Elternhaus, die Begegnungen mit der Brigade Meternagel im Betriebspraktikum, und es gibt die Auseinandersetzungen im Lehrerbildungsinstitut. Vergeblich versuchte das fünfköpfige Drehbuchteam die Erzählung in die übli- che Chronologie der Folgehandlung zu übertragen, um dem Zuschauer die Orien- tierung zu erleichtern. Man wählte schließlich die Rückblendenstruktur. Konrad Wolf erinnerte in einer späteren Akademiedebatte an Einwände, die es im Studio noch vor der Produktion gab: »Der von uns beabsichtigte Stil, die zeitlichen und Ortsebenen ineinander zu verschieben – das wären Merkmale des Surrealismus, also der bürgerlich-dekadenten Kunst.« Die Formsprache dieses DEFA- Films, vor allem die Rückblenden-Montage, traf allerdings auch auf ein weitgehend unvorbereitetes Publikum. Selbst freundli- che Besucher und Kritiker hatten da ihre Mühe. Rosemarie Rehahn schrieb in der Wochenpost vom »geteilten Publikum«. Und so wurde Wolfs beiläufige Äuße- rung, er habe »einen intelligenten Film für intelligente Zuschauer« machen wol- len, selbst im Studio als arrogant beschimpft. Erstaunlicherweise blieb der Film Ende 1964 mehr als das Buch vom Vorwurf des Modernismus verschont. Das war wohl auch einer positiven Rezension im

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Neuen Deutschland zu danken. Horst Knietzsch hatte schon zwei Monate vor der Premiere in einer ungewohnt frühen Pressevorführung eine »Glücksstunde der Filmkunst« erlebt. Doch gemessen am Bestseller-Erfolg des Buches blieb der Film- besuch hinter unseren hohen Erwartungen zurück. Schwer zu sagen, ob das auch der nicht-naturalistischen Bildsprache geschuldet war, die sich vom gängigen DEFA- Stil, aber auch von dokumentarer Alltagsbeobachtung unterschied. Das war nicht zuletzt ein Verdienst des Szenenbildners Alfred Hirschmeier. Er hatte in einem opti- schen Drehbuch viele Filmeinstellungen im Wortsinn vorgezeichnet oder in Fotos der Originalschauplätze hineinskizziert und so nach filmischen, zuweilen metapho- rischen Entsprechungen für den literarischen Ausdruck gesucht. Von da an hat Hir- schmeier alle Filme von Konrad Wolf szenenbildnerisch mitgestaltet. Die Kamera von Werner Bergmann und die Entscheidung für die stark graphischen Wirkungen des Schwarz-weiß-Materials folgten dieser stilistischen Intention. Die inhaltliche und formale Innovation des Films blieb – jedenfalls im Kino – lange Zeit folgenlos. Erst mit und nach dem 11. Plenum 1965 hatten wir alle ver- standen, was Walter Ulbricht im Sinne hatte, als er auf der 2. Bitterfelder Konferenz 1964 über die neuen Widersprüche zwischen der »Linie von oben« und der Praxis unten an der Basis sprach: »Ein Künstler, der die Wahrheit und das Ganze im Auge hat, kann nicht vom Blickpunkt eines empirischen Beobachters schaffen. Er braucht unbedingt den Blickwinkel des Planers und Leiters.« Da meinte die Parteiführung letztlich wohl ihre eigene Sicht. Der Regisseur Frank Vogel wollte auf der Fahrt zur Konferenz über der Straße die aktuelle Losung gelesen haben: »Erstürmt die lichten Höhen der Kultur!« da- neben die kleinere Brückenmarkierung: »Lichte Höhe 4,48 m«. Kein Wunder, daß es nach dem 11. Plenum im Film keine parteihörigen Dog- matiker wie Mangold, keine opportunistischen Mitläufer wie Herrfurth senior und lange Zeit kaum solche, wie es nun hieß, gebrochenen Biographien wie Meter- nagel mit einer »rückläufigen Kaderentwicklung« mehr gab. Der Frühling braucht Zeit – so der prophetische Titel eines Gegenwartsfilms, der im November ‘65, nur ein Jahr nach dem Geteilten Himmel, noch zur Aufführung kam. Es war der erste von elf weiteren Gegenwartsfilmen, die verboten oder deren Produktion abgebrochen wurde. So auch der lange Zeit weithin unbekannte Film Fräulein Schmetterling, von Christa und Gerhard Wolf geschrieben, Regie Kurt Barthel, Mitautor des Drehbuchs und Assistenzregisseur des Geteilten Himmel. Der Kreis schließt sich 1976. Da trat Otto Gotsche, langjähriger Sekretär und Redenschreiber Walter Ulbrichts, noch einmal nach. »Die DDR ist aus unserem Schweiß, dem Schweiß der Arbeiter und Bauern entstanden. Liedermacher, die sich aushalten ließen, haben daran keinen Anteil. Leute, die unter einem geteilten Himmel leben, auch nicht (...) in diesem Staat wird der reale Sozialismus errich- tet, trotz der Heuchelei einiger Leute, die glauben, der Beifall des Klassenfeindes sei notwendig, um Lieder zu machen und Bücher zu schreiben.«

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Der geteilte Himmel nach dem gleichnamigen Roman von Christa Wolf

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Premierendatum 3. September 1964 im Kino »International« in Berlin (DDR) Produzent DEFA-Studio für Spielfilme Potsdam-Babelsberg (»Gruppe Heinrich Greif«) Verleih PROGRESS Film-Verleih Auszeichnungen Prädikat »Besonders wertvoll« Regie Konrad Wolf Regie-Assistenz: Kurt Barthel Buch Christa Wolf, Gerhard Wolf, Konrad Wolf, Willi Brückner, Kurt Barthel Dramaturgie Willi Brückner Kamera Werner Bergmann Kameraassistenz: Peter Süring, Peter Schlaak Bauten Alfred Hirschmeier Bauausführung: Willi Schäfer Außenrequisite Fritz Stemmer Kostüm Dorit Gründel Maske Otto Banse Schnitt Helga Krause Ton Konrad Walle Licht Hans-Herbert Ikker Produktionsleitung Hans-Joachim Funk Aufnahmeleitung Irene Ikker, Erwin Rose, Lothar Erdmann Musik Hans-Dieter Hosalla Darstellende Rita Seidel: Renate Blume Manfred Herrfurth: Eberhard Esche Herr Herrfurth: Martin Flörchinger Frau Herrfurth: Erika Pelikowsky Liebentrau: Christoph Engel, Melcher: Paul Berndt Schwarzenbach: Günther Grabbert Kuhl: Hans-Joachim Hanisch Rolf Meternagel: Hans Hardt-Hardtloff Frau Meternagel: Agnes Kraus

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Darstellende Martin Jung: Horst Jonischkan Sigrid: Petra Kelling, Hänschen: Jürgen Kern Karßuweit: Frank Michelis Ernst Wendland: Hilmar Thate Ermisch: Horst Weinheimer Mangold: Uwe-Detlev Jessen Schwabe: Erik Veldre, Professor: Otto Lang Frau Professor: Geseta von Etzel Dr. Seiffert: Lothar Bellag, Dr. Müller: Siegfried Menzel 1. Assistent auf Professorenparty: Gerhard Hänsel 2. Assistent auf Professorenparty: Michael Deyak 3. Assistent auf Professorenparty: Gerd Müller 1. Partygast: Carla Thomalla 2. Partygast: Eva-Marie Fröhlich Kellner auf der Party: Gerhard Büch Ritas Mutter: Dorothea Volk, Ritas Tante: Maria Sänger Frau Seiffert: Hildegard Röder Frau Schwarzenbach: Waltraut Kramm Dr. Müllers Verlobte: Angela Brunner Manfreds Tante: Karin Seybert, Arzt: Heinz Hellmich Wendlands Sohn: Uwe Germann Mädchen mit Luftballon: Sylvia Nechanitzky singendes Mädchen: Tinka Wolf Reisebegleiter: Peter Herden 1. Kellner auf Waggonbauer-Ball: Willi Liebner 2. Kellner auf Waggonbauer-Ball: Herbert Krüger 3. Kellner auf Waggonbauer-Ball: Alfred Baier Dozent: Detlef Witte, Burgführer: Willy Jänsch Kneipenwirt: Fredy Barten Frau am S-Bahnschalter: Rita Hempel Blumenverkäufer: Arthur Gutschwager Nachrichtenüberbringer: Hilmar Baumann außerdem: Michael Dejak Sprecher »Stimme«: Lissy Tempelhof, RIAS-Nachrichten- sprecher: Werner Schmidt-Wieland, Gagarins Stimme: Werner Eberlein Dreharbeiten Halle (Saale), VEB-Waggonbau Ammendorf: 1. Januar 1963

Zum Inhalt Nach einer tiefen seelischen Krise kehrt Rita Seidel in ihr kleines Dorf zurück und läßt die zurückliegenden Jahre Revue passieren. Ihre Beziehung zu Manfred Herrfurth, einem zehn Jahre älteren Chemiker, der ihr einst Selbstvertrauen gegeben und sie zum Lehrerstudium ermutigt hatte, krankt zum einen an der Spießigkeit seiner Eltern. Aber auch Manfred war verbittert geworden, da sein Betrieb das von ihm entwickelte chemische Verfahren ablehnt. Die einzige Alternative scheint für ihn die Übersiedlung nach Westberlin zu sein. Rita be- sucht ihn dort, kann sich jedoch nicht entscheiden, seinen Schritt mitzuvollziehen.

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Addio, piccola mia

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Premierendatum 18. Januar 1979 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih Auszeichnungen Prädikat »Besonders wertvoll« Regie Lothar Warneke, Co-Regie : Eleonore Dressel Regie-Assistenz: Wolf-Dieter Bölke Szenarium Helga Schütz Dramaturgie Christel Gräf Kamera Claus Neumann, Kameraassistenz: Frank Bredow Standfotos: Klaus Goldmann Bauten Alfred Hirschmeier Bauausführung: Gisela Schulze, Helfried Winzer, Lothar Bunge Requisite Kurt Pentzien Kostüm Christiane Dorst Maske Frank Zucholowsky, Brigitte Welzel, Karin Kirbst Schnitt Erika Lehmphul Musik Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Gerhard Rosenfeld Musikalische Leitung: Gerhard Rosenfeld Musik-Ausführung: Prof. Ekkehard Tietze (Orgel) Rolf-Dieter Arens (Klavier) Ton Günther Witt, Mischung: Gerhard Ribbeck Produktionsleitung Herbert Ehler Aufnahmeleitung Werner Teichmann, Peter Gärtner Darstellende Georg Büchner: Hilmar Eichhorn Redner: Wolfgang Arnst, Nivergelter: Klaus Brasch Oma Zeuner: Trude Bechmann Bauer: Hans Bergermann, Tante Jules: Lydia Billiet Vater N.: Ralph Borgwardt, Glaser: Peter Brang Türmersfrau: Carola Braunbock Dame; Ilona Brömmer, Böckel: Justus Carrier Simon: Carl-Heinz Choynski Dr. Ernst Büchner: Horst Drinda

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Darstellende Gendarm W.: Christoph Engel Musiklehrer: Jörg Foth, Gendarm M.: Joachim Giering Student: Detlef Gieß, Wärter: Jörg Gillner Bauer: Gerhard Gläser, Arbeitgeber: Gotthold Gloger Onkel Reuss: Werner Godemann Studiosus: Manfred Gorr, Auktionator: Klaus Grau Dienstmädchen: Gabriele Grauer Pfarrer Jaeglé: Gerd Müller, Schütz: Karl-Ernst Horbol Frau Weidig: Karin Gregorek Herr: Lothar Großmann, Herr: Thomas Gumpert Großherzog: Gert Gütschow, Färberin: Christine Krüger Ludwig Weidig: Michael Gwisdek Frau B.: Annemone Haase, Du Thil: Harald Halgardt Sänger: Ezard Haußmann, Gendarm: Jürgen Heßler Elisabeth: Birgit Hubatschek Familienvater: Heinz Hupfer, Minnigerode: Lars Jung Prinz: Friedrich-Wilhelm Junge Livrierter: Peter Kalisch, Seifensieder: Uwe Karpa Köchin: Thea Keune, Verzweifelte: Heide Kipp Richter Georgi: Dietrich Körner Wärter: Roland Kuchenbuch Babette: Marina Kuschel, Verwalter: Heinz Laggies Zeuner: Maximilian Löser, Tante Reuss: Christa Löser Louise Jaeglé: Ute Lubosch, Clemm: Jürgen Mai Kuhl: Rainer Müller, Wärter: Kurt Meißner Arbeiter: Willi Neuenhahn, Postillon: Otto Rosemeier Gendarm M.: Joachim Pape Reisender: Albert R. Pasch, Mann: Peter Pauli Hausdiener: Wolfgang Penz Becker: Hans-Otto Reintsch Vater Minnigerode: Dieter Knaup Pole: Rüdiger Schaar, Torschließer: Erich Schäfer von Wittgenstein: Frank Schenk Blonder: Udo Schenk, Berittener: Carlo Schmidt Caroline Schulz: Christine Schorn Reisende: Heike Schroetter, Färber: Peter Sodann Pedell: Hannes Stelzer, Hygienedoktor: Gerd Staiger Präuninger: Harald Warmbrunn Dr. Schönlein: Dieter Weise, Guillaume: Lutz Wesolek Reisender: Karl-Heinz Welzel Zimmermädchen: Theresia Wider Dienerin: Helga Ziaja, Älterer: Horst Ziethen Baader: Walter Ruge, Wirt: Bodo Schmidt Soldat: Rudolf Woschik, Schuldiener: Emil Fuhrmann Bauer: Hans-Peter Körner, Marktfrau: Ute Krüger Schiffsoffizier: Rudolf Schindler Mutter Minnigerode:Antje Ruge Kinder: Roland Lomas, Lutz Weiding, Marko Gierisch, Mathias Arrlt, Mandy Geisendorf

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Darstellende Sabine Pohl, Steffen Thomas Die Regisseure Hörer: Konrad Wolf, Hörer: Heiner Carow Hörer: Kurt Maetzig, Hörer: Günter Reisch Hörer: Konrad Petzold, Hörer: Gottfried Kolditz Hörer: Ralf Kirsten, Hörer: János Veiczi Hörer: Lothar Warneke, Hörer: Roland Oehme Hörer: Siegfried Kühn, Hörer: Joachim Hasler Hörer: Hermann Zschoche, Hörerin: Helga Schütz Hörer: Erwin Stranka, Hörer: Horst E. Brandt Hörer: Claus Dobberke

Zum Inhalt Die letzten Jahre des Vormärz-Dichters Georg Büchner. Als er 1833 seine Geliebte in Straßburg zurückläßt, ahnt er nicht, was ihn in Hessen erwartet: spontane politische Aktio- nen einerseits und angstvolle Unwissenheit der Massen andererseits. Er schließt sich mit Gleichgesinnten zusammen, schreibt den »Hessischen Landboten«, muß fliehen. 1837 stirbt er im Alter von 23 Jahren an Typhus.

Leute mit Flügeln

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Filmart Spielfilm (S) Premierendatum 8. Mai1960, Filmtheater Babylon, Berlin Produzent DEFA-Studio für Spielfilme Produktionsleitung Siegfried Nürnberger Verleih PROGRESS Film-Verleih Auszeichnungen XII. Internationales Filmfestival Karlovy Vary 1960, Preis für die beste männliche schauspielerische Lei stung an . Regie Konrad Wolf Regieassistenz: Michael Engelberger, Gitta Nickel, Werner Beck Drehbuch Karl Georg Egel, Paul Wiens Dramaturg Willi Brückner Kameraführung Hans Heinrich Kameraassistenz: Manfred Damm

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Photographie Werner Bergmann Standphotograph: Herbert Kroiss Spezialaufnahmen: Ernst Kunstmann, Vera Futterlieb Bauten Gerhard Helwig Ausführung: Hermann Asmus, Gerhard Conradi Szenenbild Gerhard Helwig Kostüm Werner Bergemann, Gerhard Kaddatz Masken Otto Banse, Liddi Beyer Aufnahmeleitung Hans Joachim Funk, Paul Lasinski, Erwin Rose Außenrequisiteur Herbert Rother Oberbeleuchter Werner Teichmann Ton Günter Witt Schnitt Christa Wernicke Musik Hans-Dieter Hosalla Darstellende René: Gert Andreae, Kneipack: Norbert Christian Mutter Friedrich: Dr. Klinger: Otto Dierichs, Ines: Rosita Fernandez Bartuscheck: Erwin Geschonneck Max: Georg Gudzent, Aljoscha: Angetrunkener Soldat: Erik S. Klein Dr. Lampert: Wilhelm Koch-Hooge Betty Bartuscheck: Brigitte Krause Dr. Dehringer: Franz Kutschera Friedrich: Fred Mahr, Henne: Hilmar Thate Braut des Soldaten: Sabine Thalbach Juri: Jochen Diestelmann, SS-Offizier: Hannjo Hasse Fritz: Dietrich Körner, Dave: Manfred Krug Pedro: Willi Neuenhahn Unteroffizier Meier: Gerhard Vogt Zum Inhalt Die Geschichte des Funkers und Kommunisten Ludwig Bartuscheck aus dem Lied der Matrosen nimmt hier ihre Fortsetzung. Am Ende der Weimarer Republik ist er Mechaniker in den Sperber-Flugzeugwerken, geachtet von den Arbeitern wie von Generaldirektor Dehrin- ger. Der bietet ihm eine Ausbildung zum Flugzeugkonstrukteur an und Schutz vor den neuen faschistischen Machthabern, wenn er seiner politischen Überzeugung als Kommunist ab- schwört. Bartuscheck lehnt ab und geht in die Illegalität. Seine Frau wird verhaftet, Sohn Henne vom Kollegen Otto Friedrich aufgenommen. Nach langem Widerstandskampf gegen Naziregime und Krieg wird Ludwig 1944, als französischer Fremdarbeiter getarnt, von der Roten Armee über Gördeberg, nahe der Sperber-Werke, mit dem Fallschirm abgesetzt. Er soll die dortige Widerstandsbewegung organisieren, wird aber gefaßt und ins KZ gebracht. Nach der Befreiung trifft er Henne wieder. Beide wollen das Werk wieder aufbauen, aber erst gibt es wichtigere Aufgaben im zerstörten Land. Nach Jahren steht auf einem Rollfeld ein neuer Flugzeugtyp, konstruiert und gebaut in der jungen DDR, zum Probestart bereit.

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2006 Sonnensucher

Mit diesem Kulturprojekt erfüllt die Rosa-Luxemburg-Stiftung zugleich einen Bildungsauftrag: Filmkunstwerke bedeutender Regietalente, Filme mit humanistischem Anliegen, die durchaus Filmgeschichte geschrieben haben, aus der gegenwärtig in der veröffentlichten Rezeption aber ausgeblendet sind, sollen besonders für die jüngere Generation einer Begegnung oder einer Wiederbegegnung mit ihrem Publikum zugänglich gemacht werden. Im Jahr 2006 gruppieren sich die gewünschten Filme um das Jubi- läum des großen deutschen Filmregisseurs Konrad Wolf. Er studierte an der Moskauer Filmhochschule, arbeitete danach als Regisseur bei der DEFA und drehte vor allem anspruchsvolle und kritische Gegen- wartsfilme. Seine Kriegserlebnisse beschrieb er später in dem beein- druckenden Film »Ich war neunzehn«. Das Verhältnis zwischen Deut- schen und Russen beschäftigte ihn Zeit seines Lebens. Wolf war von 1965 bis 1982 Präsident der Akademie der Künste der DDR.

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Überblick zu Terminen und Filmen

26. Januar Sonnensucher Regie: Konrad Wolf, DEFA, 1957/1958

23. Februar Lissy Regie: Konrad Wolf, DEFA, 1956/195

16. März Genesung Regie: Konrad Wolf, DEFA, 1955

13. April Einmal ist keinmal Regie: Konrad Wolf, DEFA, 1954/1955

18. Mai Die Zeit die bleibt Film über Konrad Wolf Regie: Lew Hohmann, Drehbuch: Wolfgang Kohlhase DEFA, 1985

7. September Der Fall Gleiwitz Regie: Gerhard Klein, DEFA 1960/61

19. Oktober Einer trage des anderen Last Regie: Lothar Warneke, DEFA, 1988

9. November Die Kraniche ziehen Regie: Michail Kalatosischwili, Sowjetunion, 1957

14. Dezember Klarer Himmel Regie: Grigorij Schuchrai, Sowjetunion 1961

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Sonnensucher

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Produktionszeit 1957/1958 Produktionsleitung Hans-Joachim Schoeppe Aufnahmeleitung Hans-Joachim Funk Voraufführung 20. Juli 1971, SDAG Wismut Uraufführung 27. März 1972 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Konrad Wolf Regieassistenz: Michael Englberger Assistenzregie: Heinz Thiel Drehbuch Karl-Georg Egel, Paul Wiens Dramaturgie Willi Brückner Kamera Werner Bergmann Kameraführung: Hans Heinrich Kameraassistenz: Manfred Damm Optische Spezielaeffekte: Ernst Kunstmann Standfotos: Herbert Kroiss Bauten Karl Schneider Bauausführung: Alfred Drosdek Licht Viktor Höhn Requisite Kurt Pentzien Außenrequisite: Alfred Rehausen Kostüm Elli-Charlotte Löffler Maske Otto Banse Schnitt Christa Wernicke Ton Werner Klein Musik Joachim Werzlau, Hans-Dieter Hosalla (»Lieder vom starken Mann«) Musikausführung: Adolf Fritz Guhl, Klaus Meissner (Trompetensolo) Gesang: Lissy Tempelhof Darstellende Lotte Lutz: Ulrike Germer Franz Beier: Günther Simon Jupp König: Erwin Geschonneck

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Darstellende Emmi Jahnke: Hans Bergermann Tante Jules: Manja Behrens Sergej Melnikow: Viktor Avdjusˇko Günter Hollek: Willi Schrade Weihrauch: Erich Franz Josef Stein: Norbert Christian Hagere Frau: Agnes Kraus Berta Mattusche: Brigitte Krause Wenzel: Horst Kube Wera: Rimma Sˇorochova Oberst Fedossjew: Vladimir Emel’janov sowie: Peter-Paul Goes, Marga Legal, Werner Lierck, Willi Neuenhahn, Hans Schäffer, Albert Zahn, Kurt Rust, Bernd Köhler, Hildegard Küthe, V. J. Minin, Werner Senftleben, Paul Funk, Ludwig Sachs, Christine Lindemer, Willi Wietfeldt, Erich von Dahlen, Georg Helge, Hans Schwenke, Willi Linke, Oswald Foederer, Anneliese Reppel, Wolfgang Kalweit, Fritz Schlegel, Gertrud Brendler, Isolde Thümmler, Susanne Vikarski, Rosemarie Schuldt, Ursula Weiß, Augustin Kovacz, Gerda Müller, Peinette Voigt, Joachim Gläser, Hans Sievers

Zum Inhalt Der Uranbergbau der Wismut AG führt 1950 die verschiedensten Menschen zueinander, teils sind es zur Arbeit Zwangsverpflichtete, teils Abenteuersuchende. Das Mädchen Lotte Lutz, das sich früh verwaist in der Nachkriegszeit prostituiert hatte, verliebt sich in den gutherzigen, aber wenig sensiblen Günter. Die Beziehung endet bald mit einer Enttäu- schung für sie. Stattdessen werben der Obersteiger Beier und der sowjetische Ingenieur Sergej, dessen Frau im Krieg von Deutschen ermordet wurde, um sie. Die beiden Männer sind Rivalen, müssen sich aber im Interesse der gemeinsamen Aufgabe miteinander arran- gieren. Lotte entscheidet sich für Beier, der sie als Frau achtet und ihr Geborgenheit gibt. Doch spürt sie, daß ihre wahre Liebe Sergej gehört.

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Lissy nach dem Roman von F. C. Weißkopf

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Premiere 30. Mai 1957, Filmtheater Babylon, Berlin Produzent DEFA-Studio für Spielfilme Produktionsleitung Eduard Kubat Aufnahmeleitung Gerhard Freudel, Horst Lockau, Erwin Rose Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Konrad Wolf Regieassistenz: Frank Winterstein, Michael Englberger Drehbuch Alex Wedding, Konrad Wolf Dramaturgie Dr. Hans-Joachim Wallstein Kamera Werner Bergmann Kameraführung: Hans Heinrich Kameraassistenz: Günther Sahr Standphotograph: Rudolf Meisters Spezialaufnahmen: Ernst Kunstmann Bauten Gerhard Helwig Ausführung: Hermann Asmus, Horst-Dieter Adam Außenrequisiteur: Adolf Kilian Kostüm Elli-Charlotte Löffler Maske Otto Banse, Vera Schlawin Ton Werner Klein Schnitt Lena Neumann Musik Joachim Werzlau Musikalische Vorlage: J. Petersburski (Tango »Oh, Donna Clara«, 1930) Musikausführung: Adolf Fritz Guhl Liedtexte: Beda Darstellende Lissy: Sonja Sutter Fromeyer: Horst Drinda Paul Schröder: Hans-Peter Minetti Kaczmierzik: Kurt Oligmüller Vater Schröder: Gerhard Bienert Mutter Schröder: Else Wolz Max Franke: Raimund Schelcher Toni Franke: Christa Gottschalk Sprecherin: Mathilde Danegger

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Darstellende Warnke: Horst Friedrich Frau Kaluweil: Annemone Haase Direktor Hoppe: Otto Eduard Stübler Kassierer Gold: Willi Schwabe Staudinger: Gerd-Michael Henneberg Frau: Else Korén Hausmeisterin: Hela Gruel Hausmeisterin Engelmann: Christiane von Trimbach Lissys Nachbarin: Käte Alving Verkäuferin: Edith Klatt Dr. Danzinger: Georg Feicht Pauls Freund: Klaus Erforth Mixer: Walter E. Fuß Fromeyers Hauswirt: Axel Triebel Geschäftsführer: Wilhelm Gröhl Führer der SA-Staffel: Karl-Heinz Weiß Scharführer: Augustin Kovacz Polizeioffizier: Hans Waldemar Anders Junger SA-Mann: Gerhard Rachold Frankes Nachbar: Erich Nadler RFB-Mann: Rolf Bergmann Fromeyers Kollege: Rolf Ripperger Kellner im »Bierpalast«: Siegfried Weil Schupo vor Bahnhof: Willi Dehnert Schupo: Hans Schwenke Lissys Nachbarin: Marga Haschker Ober im Gartenlokal: Willi Linke Rausschmeißer: Erich Braun

Zum Inhalt 1932. Lissy, die Tochter eines sozialdemokratischen Arbeiters und alten Gewerkschaftlers, will heraus aus dem dumpfen Berliner Hinterhausmilieu. Alfred Fromeyer, gut aussehend, verspricht ihr eine gesicherte Existenz als Angestellten-Gattin. Aber zu schnell ist das erste Kind da und Fromeyer verliert seine Stellung. Er lässt sich von Naziparolen verführen und wird SA-Sturmführer. Auch Lissys Bruder Paul, früher bei der Roten Jungfront, trägt die SA-Uniform. Paul jedoch wird den Nazis mit seiner kommunistischen Vergangenheit ver- dächtig und eines Tages hinterrücks erschossen. Dieses Ereignis öffnet Lissy die Augen. Sie kann nicht länger Fromeyers Frau bleiben.

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Genesung nach dem gleichnamigen Hörspiel von Karl-Georg Egel und Paul Wiens

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Premierendatum 1. Februar 1956 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih Auszeichnungen Filmfestival zur III. Internationalen Messe Damaskus1956: Bronzemedaille Regie Konrad Wolf Regie-Assistenz: Hans-Joachim Kasprzik, Frank Vogel Drehbuch Karl Georg Egel und Paul Wiens Dramaturgie Willi Brückner Kamera Werner Bergmann Kamera-Assistenz: Hans Heinrich 2. Kamera: Peter Sbrzesny Bauten Willy Schiller Bau-Ausführung: Walter Colani Kostüm Elli-Charlotte Löffler Licht Werner Teichmann Maske Kurt Jerzynski, Werner Noack Schnitt Friedel Welsandt Musik Joachim Werzlau Gesang: Adolf Fritz Guhl Produktionsleitung Eduard Kubat Aufnahmeleitung Rudolf Kobosil, Gerhard Freudel Ton Werner Klein Darstellende Irene Schorn: Karla Runkehl Friedel Walter: Wolfgang Kieling Max Kerster: Wilhelm Koch-Hooge Ernst Mehling: Prof. Beheim: Eduard von Winterstein Oberschwester: Erika Dunkelmann Schwester Hilde: Angela Brunner Staatsanwalt: Harry Hindemith Der Bezechte: Erich Franz Direktor Spulke: Rudolf Fleck

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Darstellende Dozent Beseler: Gerry Wolff Junge Eisenbahnerin: Barbara Adolph Dr. Müller: Gerd Beinemann Verwundeter: Manfred Borges Angestellter i. Einwohnermeldeamt: Hans Fiebrandt Richterin: Charlotte Küter, Ausrufer: Siegfried Weil Streifenfeldwebel: Werner Segtrop Deutscher Schreiber: Kurt Sperling KV-Feldwebel: Hermann Wagemann Bibliothekar: Willi Wietfeld Feldgendarm: Erwin Wittmer Britischer Sergeant: Rudolf Ulrich Deutscher Major: Axel Triebel Athletischer Matrose: Werner Tinius Junger Fähnrich: Wilhelm Tielmann in weiteren Rollen: Ellinor Saul, Annemarie Schlaebitz, Siegfried Puhl, Gerda Müller, Irma Münch, Erwin Luck, Kurt Jaenecke, Georg Helge, Hans-Olaf Hanko, Charlotte Haase, Gislea Graupner, Georg Dücker

Zum Inhalt Friedel Walter konnte sein Medizinstudium wegen Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht beenden. In den Wirren der Nachkriegszeit arbeitet er lange unerkannt unter dem Namen des im Krieg gefallenen Dr. Müller als Arzt. Die Sache fliegt auf, als er im Kran- kenhaus in der Ehefrau seines Patienten Kerster, eines invaliden Antifaschisten, seine Freundin Irene aus Kriegszeiten, erkennt. Sie hatte ihn, den damaligen Sanitäter, um Hilfe für den geflüchteten KZ-Häftling Ernst Mehlin gebeten. Walter Friedel stellt sich der Poli- zei. Für den Staatsanwalt ist es ein klarer Fall von Hochstapelei. Der Ratsvorsitzende ist aber jener Mehlin, dem Walter einmal geholfen hatte. Er sieht in Walter ein Opfer der Zeit- läufte. Es ergeht ein mildes Urteil. Walter kann nun endlich sein Medizinstudium beenden.

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Einmal ist keinmal nach der literarischen Vorlage des gleichnamigen Dramas von Friedrich Wolf

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Premierendatum 25. März 1955 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Konrad Wolf Regie-Assistenz: Ursula Pohle, Werner Hartmann Drehbuch Paul Wiens Dramaturgie Karl Georg Egel Kamera Werner Bergmann 2. Kamera: Peter Sbrzesny Kamera-Assistenz: Hans Heinrich, Roland Dressel Optische Spezialeffekte: Ernst Kunstmann Bauten Alfred Tolle Bau-Ausführung: Hans-Jörg Mirr, Jochen Keller Kostüm Helga Scherff Licht Werner Teichmann DEFA-Fotograf: Herbert Kroiss Maske Hans Wosnick, Charlotte Stritzke, Paul Albert Lange Schnitt Friedel Welsandt Ton Werner Klein Beratung Dr. Walter Pollatschek, Dr Ursula Voigt-Figuth Musik Günter Kochan Produktionsleitung Alexander Lösche Aufnahmeleitung Fritz Brix Darstellende Peter Weselin: Horst Drinda Anna Hunzele: Brigitte Krause Edeltanne: Paul Schulz-Wernburg Elvira: Annemone Haase, Hunzele: Friedrich Gnaß Düdelit-Düdelat: Georg Niemann Muhme: Lotte Loebinger Buhlemann: Hilmar Thate, Fibrament: Fritz Decho Gack: Horst Gentzen, Gwirz: Edgar Engelmann Kranz: Erich Brauer, Frau Kranz: Johanna Bucher Dr. Scherb: Johannes Siegert Marie Alvert: Inge Huber, Arzt: Johannes Arpe

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Darstellende Haushälterin: Gertrud Paulun Pinco: Norbert Christian Wadenwärmer: Gustav Müller Luise: Liska Merbach, Fahrer: Paul Pfingst Rothaarige Dame: Jutta Beetz Beerenfrau: Maika Joseph, Beerenfrau: Lotte Meyer Briefträger: Rolf Bartholsen Akkordeonsolistin: Jutta Zoff

Zum Inhalt Eigentlich möchte der Düsseldorfer Musiker und Komponist Peter Weselin einfach nur ei- nen beschaulichen Urlaub bei seinem Onkel im vogtländischen Klingenthal verbringen. Doch in der Stadt des Instrumentenbaus stehen die jährlichen Musiktage vor der Tür. Dafür erbittet das Akkordeonwerk von Peter eine große Komposition für das Sinfonie- orchester, außerdem soll er auf Bitten der hübschen Anna einen Schlager für ihre Jugend- tanzkapelle schreiben – die Ruhe ist also schnell dahin. Dann verliebt sich Peter auch noch in die anfangs sehr launenhafte Anna. Und in Sachen Liebe gilt es auch Onkel Edeltanne beizustehen, der ein Auge auf Annas Freundin Elvira geworfen hat.

Die Zeit die bleibt Ein Film über Konrad Wolf

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Uraufführung im DDR-Fernsehen am 20.Oktober 1985 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme Potsdam-Babelsberg (»Gruppe Babelsberg«) Verleih PROGRESS Film-Verleih Auszeichnungen »Berlinale« 1980: Kritikerpreis der FIPRESCI, Preis für die beste weibliche Darstellung; 1. Preis für Drehbuch beim Intern. Filmfestival Chicago 1980; Nationales Spielfilmfestival Karl-Marx-Stadt 1980: Preis für Regie, Kamera, Musik, Szenenbild, Schnitt, Schauspielpreis an Renate Krößner, für weibliche Nebenrolle an Heide Kipp, für männliche an Dieter Montag ...

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Regie Lew Hohmann Co-Regie: Wolfgang Kohlhaase Drehbuch Wolfgang Kohlhaase, Lew Hohmann Mitautorinnen: Christiane Mückenberger, Regine Sylvester Redaktionelle Mitarbeit: Gabriele Wojtiniak Kamera Christian Lehmann Kamera-Assistenz: Herbert Hannapp, Michael Loewenberg Schnittassistenz Heide Hans Mischung Peter Dienst Ton Eberhard Pfaff Produktionsleitung Charlotte Galow Produzent Hans-Joachim Funk, Klaus-Dieter Dörrer Aufnahmeleitung Juri Arewjew, Jürgen Draheim Musik Günther Fischer Sprecher Alexander Lang, Klaus Piontek Mitwirkende Werner Bergmann, Kurt Böwe, Grete Dreibholz, George Fischer, Victor Fischer, Wieland Förster, Wladimir Gall, Susan Heuman, Selvia Selvinskaja K. Tavrisian, Angel Wagenstein, Konrad Wolf Markus Wolf

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Der Fall Gleiwitz

Hitler erklärt am 22. August 1939 vor seinen Oberbefehlshabern zum bevorste- henden Kriegsbeginn mit dem Ziel der Vernichtung Polens: »Ich werde propagan- distischen Anlaß zur Auslösung des Krieges geben, gleichgültig ob glaubhaft. Der Sieger wird später nicht danach gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht.« Diese Methode hat in der Geschichte weiter Schule gemacht bis in die Gegenwart. Aber nach der Wahrheit muß und wird immer wieder gefragt werden – auch mit den Mitteln der Kunst. Autor Günther Rücker, in den 50er Jahren überwiegend mit Dokumentarfilmen befaßt, hatte die Idee, den von SS und SD fingierten Überfall polnischer Freischär- ler auf den deutschen Grenzlandsender Gleiwitz am Vorabend des Angriffs zum Ge- genstand eines Spielfilms zu machen. Er hatte dafür nicht nur die geheime Vorberei- tung und den martialischen Verlauf der Aktion recherchiert, sondern auch die Biographie ihres Kommandeurs. Er muß sich der Authentizität seiner Nachfor- schungen sicher gewesen sein, denn er nannte die Filmfigur bei ihrem wahren Na- men, Alfred Naujocks, und dokumentierte Stationen seiner Karriere öffentlich noch einmal 1992 in der Wochenpost. Nach Bewährung in den Feme-Trupps der Freikorps findet Naujocks Ende der 20er Jahre folgerichtig zur SS. Zwar mißglückt ihm ein Mordkomplott am frühen Hitler-Kumpan und späteren -Rivalen Gregor Strasser im Prager Exil, doch dessen Funkingenieur Formis, der aus einem Hotel in Böhmen Strasser-Parolen ins Reich sendet, entging ihm nicht. »Er tötete Formis, verätzte dessen Gesicht mit Säure, setzte erst den Toten, dann das Zimmer in Brand, und weil es Winter war und sich die Löschmannschaft verspätete, brannte das Hotel bis auf die Grundmauern nieder.« Kein Wunder, daß SD-Chef Heydrich im SS-Sturmbannführer den besten Gewährs- mann für den Erfolg der neuen, hoch geheimen »Kommandosache« sah. Und der hat seine Auftraggeber nicht enttäuscht. Auf sein Konto geht der erste Tote des Zweiten Weltkriegs, der über 50 Mill. Menschen das Leben kostete. Dank seiner Untat konnte Hitler am Morgen des Überfalls auf Polen behaupten, nun werde zurückgeschossen. Mehr muß zum Inhalt des Films nicht gesagt werden. Zur Entstehungsge- schichte und Stilfindung nur so viel: Mit dem authentischen Vorgang jedenfalls traf Günther Rücker auf das Interesse von Autor Wolfgang Kohlhaase und Regis- seur Gerhard Klein. Das war so selbstverständlich nicht. Die zwei hatten zusam- men die drei sogenannten Berlin-Filme gemacht: Alarm im Zirkus, Berliner Ro- manze, Berlin Ecke Schönhauser, allesamt Gegenwartsgeschichten über junge Leute, die ihren Platz in der geteilten Stadt erst noch finden müssen. Der aktuelle, realistische Zugriff, den beide am konsequentesten im letzten Streifen praktiziert hatten, war zwar beim jungen Publikum auf große Zustimmung gestoßen, hatte aber die Wächter sozialistisch-realistischer Tugenden alarmiert.

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Alexander Abusch, Erster Stellvertreter des Minister für Kultur, kritisierte auf der Filmkonferenz 1958 »zu große Konzessionen an die Betrachtungs- und Ge- staltungsweise des italienischen Neorealismus.« Das war nun wahrlich keine Er- munterung, der unmittelbaren Gegenwart und dem ungeschönten Leben auf der Spur zu bleiben. Kohlhaase und Klein aber fürchteten selbst, sie könnten sich in Thema und Machart wiederholen. Zu dieser Zeit stießen sie im tschechischen Film Die weiße Taube auf einen extrem anderen stilistischen Impuls, »alles ganz anders, als wir dachten, daß man es machen muß: auffällig statische Bilder, be- merkbare Schnitte, lang stehende Einstellungen, gebaute, beinahe graphische Hintergründe. Seitdem denke ich, daß man sich der Wahrheit auf sehr verschie- dene Weise nähern kann«, so Wolfgang Kohlhaase zur Erklärung, wie es zu dieser einmaligen Zusammenarbeit mit Rücker kam. Als wichtigster Mitgestalter wurde Jan Curik gewonnen, jener Kameramann aus Prag, der Die weiße Taube fotografiert, für das Szenenbild Gerhard Hellwig, der sich im Dekorationsbau profiliert hatte. Wer nun für das dokumentarische Sujet eine schein-dokumentare Stilistik erwartet hatte, mußte überrascht sein. Die nüchterne Do- kumentation, die minutiöse Vorgangsbeschreibung als »Anatomie eines Verbre- chens«, so Kritiker Fred Gehler, war bis ins Detail vorbedacht und strukturiert. Die Schwarz-weiß-Fotografie arbeitete mit scharfen Licht-Schatten-Effekten, mit graphi- schen, schattenrißartigen Wirkungen im Gegenlicht. Akzentuierende Großaufnahmen kontrastierten mit sorgfältig ausgewählten oder markant gebauten Totalen. Noch be- vor die szenische Dokumentation mit der Ermittlung von Peter Weiss und Rolf Hoch- huths Stellvertreter die Bühne eroberte, wurde das Genre für die Leinwand erprobt. Die neue, zunächst befremdliche Form traf nicht nur auf ein unvorbereitetes Publikum, auch im Studio waren die Urteile kontrovers. Der sachliche Berichtstil, der sparsame Umgang mit dem erläuternden, kommentierenden Wort schien selbst unter Kollegen fragwürdig, war man doch gewöhnt, dem Zuschauer vieles verbal zu verdeutlichen, was ihm Fabel und Szene längst entdeckten. Vor allem aber der Verzicht auf einen aktiven »positiven Helden« schien manchem geradezu verdächtig. Eine negative Gestalt als Hauptfigur – da mußte man mit dem Vor - wurf des Objektivismus, mangelnder Parteilichkeit, rechnen. Doch die Abnahme in der Hauptverwaltung Film im Frühsommer 1961 verlief anerkennend und achtungsvoll. Die Nominierung für das bevorstehende Interna- tionale Filmfestival in Moskau aber wurde Stunden später widerrufen. Die Film- leute sahen ihr Werk dort in der Informationsschau versteckt. Die Berliner Premiere am 24. August ‘61 schien günstig terminiert. Schließlich wurde der Mauerbau gerade mit der Gefahr friedensgefährdender Grenzprovoka- tionen begründet. Da erschien eine vernichtende Kritik im Neuen Deutschland mit dem Vorwurf des Formalismus und führte sogleich zu einem gebremsten Kinoeinsatz. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Eine Aussprache in der Kulturkommission des Politbüros unter Leitung von Alfred Kurella beschreibt Günther Rücker so: » Man sagte uns, die SS-Traditions-

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verbände würden uns Dankestelegramme senden, der Nazi-Regisseur Veit Harlan hätte diesen Film nicht besser drehen können. Man warf uns Affereien vor, die drehende Kamera im Augenblick des Todes scheußlicher Naturalismus.« Aus dieser Debatte stammt wohl das Kurella zugeschriebene Diktum, die Au- genhöhe sei die einzig menschliche Perspektive der sozialistisch-realistischen Ka- mera. Wolfgang Kohlhaase reflektierte es so: »Kurella fehlte das Positive. Wo ist der Widerstand? Das war der alte Hut. Völlig unvermutet traf uns der Verdacht, wir könnten den Faschismus ästhetisiert haben. Der Riefenstahl-Vorwurf. Ich meine aber, daß der Film eine Gegenposition aufbaut und daß er die kalte Mecha- nik nicht verklärt, sondern darstellt.« Über diese Problematik des Films lohnt die Diskussion auch heute noch.Die Wogen dieser aufgeregten Debatte verebbten glücklicherweise rascher als manche politischen Entrüstungsstürme danach. Der Film fand im Ausland große Beach- tung und erwies über das Fernsehen, selbst später noch einmal im Kino, seine Qualität. Rücker spricht gar von einer Million Besucher im Laufe der Jahre. Ein strenger Kritiker und Kulturpolitiker wie Hilmar Hoffmann würdigt den Fall Gleiwitz in seinem Buch »100 Jahre Film« im Kapitel »DEFA-Regisseure retten das Ansehen des deutschen Films 1958-1965«. Zu den Einladungen ins Ausland zählte man 1963 auch eine solche nach Ham- burg. Hier der Text der Einladungskarte: »Der Filmclub e. V. zeigt in seiner turnusmäßigen Septemberveranstaltung am Montag, dem 16., 20 Uhr in der Handelsschule Schlankreye 1 in Hamburger Erstaufführung einen zeitgeschicht- lich überaus wichtigen und ungewöhnlichen Film, der ein politisch und historisch bedeutsames Ereignis schildert: ›Der Fall Gleiwitz‹. Der Leiter dieses Sonder- kommandos, Herr Alfred Helmut Naujocks, lebt in Hamburg und hat sich freund- licherweise bereit erklärt, eine kurze Einführung zu geben und in der anschließen- den Aussprache über den historischen Ablauf der Aktion zu berichten.« Und so erinnert sich Günther Rücker: »Der Leiter des Filmclubs freute sich, uns mitteilen zu können, daß die Veranstaltung ausverkauft sei. Er erklärte das da- mit, daß die Einladungskarte, die er uns mit einem gewissen Stolz vorlegte, ihre Wirkung nicht verfehlt habe. Der Herr Naujocks wohne gleich hinter der Reeper- bahn und verdiene sein Geld als Vertreter einer Großfirma für Fleischgerät, das seit der Neueinrichtung der Kasernenküchen der Bundeswehr gut verkaufbar sei, denn Herr Naujocks hätte ja gute Beziehungen. Der Saal war überfüllt, SS-Tradi- tionsverbände und Fallschirmjäger, kaum Frauen, kaum Jugendliche. Vor dem Film stieg ein Vertreter der Hamburger Staatsanwaltschaft auf die Bühne und gab bekannt, daß er den Leiter des Gleiwitzer Sonderkommandos festnehmen werde, falls er das Wort ergriffe. Als sich nach dem Film Herr Alfred Helmut Naujocks nicht zu Wort meldete, verließen SS und Fallschirmjäger den Saal.« So weit Günther Rücker. Andere Gelegenheiten zu Naujocks’ Festnahme muß es offensichtlich weder vorher noch nachher gegeben haben ...

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Der Fall Gleiwitz

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Premierendatum 24. August 1961 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Gerhard Klein Regie-Assistenz: Erwin Stranka, Ilse Goydke Drehbuch Günther Rücker, Wolfgang Kohlhaase Dramaturgie Klaus Wischnewski Kamera Jan Cˇurˇik Kameraführung: Jan Nemecek Kameraassistenz: Milosˇ Sauer, Roland Dressel Standfotos: Kurt Schütt Szenenbild/Bauten Gerhard Helwig Bauausführung: Hermann Asmus Requisite Herbert Rother Kostüme Gerhard Kaddatz Maske Klaus Becker, Eva Nendel Schnitt Evelyn Carow Ton Peter Sonntag, Karl Tramburg Licht Hans-Herbert Ikker Produktionsleitung Erich Albrecht Musik Kurt Schwaen Darstellende Helmut Naujocks: Hannjo Hasse Gestapochef Müller: Herwart Grosse KZ-Häftling: Hilmar Thate Volksdeutscher Wyczorek: Georg Leopold Volksdeutscher Kraweit: Wolfgang Kalweit Volksdeutscher Bieratzki: Rolf Ripperger Volksdeutscher Sitte: Christoph Beyertt Volksdeutscher Tutzauer: Rudolf Woschik Volksdeutscher Kühnel: Manfred Günther SS-Arzt: Rolf Ludwig Jüdischer Professor: Friedrich Richter SS-Mann in Uniform: Günter Naumann SD-Chef Gleiwitz: Paul-Dolf Neis SD-Chef Oppeln: Heinz Schröder

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Darstellende Schloßbesitzerin: Margarete Taudte Schloßbesitzer: Georg Gudzent Sendeingenieur: Heinz Isterheil Leiter der Fechtschule: Heinz Kögel Bunkerscharführer Z: Martin Angermann 1. SS-Mann in Zivil: Dieter Wallrabe 2. SS-Mann in Zivil: Siegfried Göhler in weiteren Rollen: Achim Wolff, Jochen Diestelmann, Fritz-Ernst Fechner, Werner Dissel, Hans Bussenius, Axel Triebel; Kurt Mühlhardt, Horst Giesen Wolfgang Borkenhagen, Marianne Christina Schilling, Harry Küster, Horst Friedrich, Harry Neumann Theresia Wider, Horst Gill, Herbert Manz, Heinz Behrens, Hubert Hoelzke, Rudolf Seiß, Johannes Martin, Helga Kühnert, Rotraut Conrad, Ingrid Barkmann, Karl-Helge Hofstadt, Walter E. Fuss, Heinz Dhein, Dieter Schindelbauer

Zum Inhalt Im oberschlesischen Gleiwitz nahe der polnischen Grenze wird von den Nazis in der Nacht vom 31. August zum 1. September 1939 der Überfall auf den deutschen Rundfunksender inszeniert, um vor der Weltöffentlichkeit den Überfall auf Polen zu rechtfertigen. Beauf- tragt damit ist SS-Hauptsturmführer Naujocks. Polnisch sprechende Volksdeutsche aus der SS-Fechtschule spielen die polnischen Angreifer. Ein deutscher KZ-Häftling, in polnische Uniform gekleidet, wird erschossen am Sender zurückgelassen.

»Der Fall Gleiwitz« – ein faszinierender DEFA-Film Rosemarie Rehahn, Wochenpost, Berlin/DDR, 16. 9. 1961

Anderthalb Stunden, 2 500 Filmmeter lang, hätte man eine Stecknadel zu Boden fallen hören können. So still war es. Eine angespannte Stille, wie man sie selten im Kino erlebt. Das spricht für den Film, natürlich. Doch in diesem Falle im gleichen Maße fürs Publikum. »Der Fall Gleiwitz« verlangt den denkenden, den mitdenkenden Zuschauer. Daß er ihn findet, mag nicht zuletzt am Zeitpunkt liegen. Mancher hat in den letzten Wochen angefangen nachzudenken über Wahrheit und Lüge, über Schein und Sein – über Krieg und Frieden. Ein Film, der nachweist, wie der Welt- krieg Nr. 2 provoziert wurde, findet heute, wo wir an den Grenzen der DDR die Provokation für Nr. 3 in Schach halten, ein in besonderer Weise aufgeschlossenes Publikum.

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Im Herbst 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Programmgemäß. Polnische Freischärler hatten angeblich den damaligen »Reichssender« Gleiwitz überfallen. (…) Die Autoren des Films, Wolfgang Kohlhaase und Günther Rücker, der Regis- seur Gerhard Klein entschieden sich dafür, das Ganze um einer höchstmöglichen Wahrhaftigkeit willen dokumentarisch streng zu erzählen. Der Film legt den Me- chanismus bloß, vom ersten Druck auf den Klingelknopf bis zu jenem Toten am Eingang des Gleiwitzer Senders, der der erste Tote des Zweiten Weltkrieges ist – der erste von 43 000 000. Eine Anatomie des Völkermordes gewissermaßen. (…) Der Film ist von selten erlebter künstlerischer Dichte, von einer inneren Gespanntheit vom ersten bis zum letzten Bild. Wobei man das Wort Bild oder, genauer, den Namen des tschechoslowakischen Kameramannes – Jan Curik ge- sperrt drucken muß. Ein Höhepunkt filmischer Gestaltung ist der singende Mi- litärzug, dessen frenetisches »Jowijowidihahaha« in ein unheilvolles Keuchen der Räder übergeht und schließlich wie Todesröcheln verklingt. Und vor der Bahn- schranke das andere Deutschland: Gefesselt, die Augen verbunden, der unbe- kannte Antifaschist, dessen Name schon auf der Lagerliste in Sachsenhausen aus- gelöscht ist, noch, bevor sie sein Leben in Gleiwitz auslöschen werden. Ein Wittern des Kopfes, die gefesselten Hände ballen sich. Hinter der schwarzen Augenbinde sieht der Mann, was die Sorglosigkeit, die Bequemlichkeit, die Feig- heit im Land ringsumher nicht sehen will: Krieg. Eine erschütternde, kraftvolle Darstellung von Hilmar Thate, stumm durch den ganzen Film und dennoch ein Alarmschrei, ähnlich der stummen Kathrin bei Brecht. Eine schauspielerische Spitzenleistung Hannjo Hasses Naujocks: genau jene beklemmende Mischung aus blonder Bestie und geltungsbedürftigem Kleinbür- ger, wie sie z. B. wieder vor den Berliner Sektorengrenzen randaliert. Daneben Herwart Grosse, ein SS-Oberbonze vom Glitzern des Machtrausches im Auge bis zur unvollkommen einstudierten Feldherrngeste – Präzisionsarbeit. Geniale Präzi- sionsarbeit, Energieleistung sondergleichen die Regie Gerhard Kleins, vom win- zigen filmischen Detail bis zum Spannungsbogen des Ganzen. Gemeinsam mit »Professor Mamlock« wurde »Der Fall Gleiwitz« beim Mos- kauer Festival zu einem glänzenden Sieg unserer Filmkunst. Beide Filmwerke errangen jetzt bei den Festspielen in Edinburgh einen neuen überragenden Erfolg. (…)

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Einer trage des anderen Last

Sie sehen heute den Film mit der wohl längsten Werkgeschichte in der 45jährigen Existenz der DEFA. Zum 20. Jahrestag der DDR 1969 hatten wir mit großem Er- folg Zeit zu leben gestartet. So ermutigt und vom Nationalpreis angespornt, regte der Weimarer Autor Wolfgang Held an, endlich einmal vom konfliktreichen Mit- einander von Christen und Kommunisten in unserem Land zu erzählen. Dabei hatte ihn ein wenig wohl auch der Welterfolg von Don Camillo und Peppone in- spiriert. Nach einem Besuch im katholisch dominierten Eichsfeld schrieb er ein erstes Exposé über die Beziehung zwischen einem jungen Dorfbürgermeister und dem gleichaltrigen Pater, über eine Freundschaft, die im gemeinsamen Kranken- zimmer eines Tbc-Sanatoriums ihren Anfang nimmt. Als Dramaturg suchte man möglichst früh einen Regisseur, um dem Autor zeit- raubende Umwege und Überarbeitungen zu ersparen. Für die Zusammenarbeit bot sich Iris Gusner an. Sie war sogleich in beide Figuren verliebt. Nach dem Regiestu- dium in Moskau hatte sie Konrad Wolf beim Goya-Film assistiert und danach mit mir ihr Regie-Debüt Die Taube auf dem Dach vorbereitet, der gerade in die Endfer- tigung ging. Im ersten Arbeitsgespräch in Weimar schlug sie vor, die Exposition zur Haupt- handlung auszubauen, denn Held hatte für die Klinikepisode genug dramatischen Stoff mit starken tragischen und komischen Möglichkeiten skizziert und wußte sie als blendender Erzähler im Gespräch glänzend auszuschmücken. Hier fiel die Ent- scheidung, den Pater durch einen evangelischen Vikar zu ersetzen, dem eher eine ju- gendgemäße Verlobte erlaubt war. Damit aber endete bereits diese Zusammenarbeit. Iris Gusners Film-Erstling Die Taube auf dem Dach erblickte das Licht der Leinwand nicht, wurde vom Studio nicht einmal zur Staatlichen Abnahme vorge- schlagen. Nach so problematischem Start wollte die Leitung die Regiekandidatin nicht auf die schwierigere Strecke eines bis dahin tabuisierten Themas schicken. Mit Regisseur Lothar Warneke, der ihr als Mentor hatte zur Seite stehen wollen, mußten wir erleben, daß Helds Drehbuch in der Hauptverwaltung Film keine Pro- duktionsfreigabe erhielt. Aber das hatte keine künstlerischen Gründe. Die Kirchenpolitik von Partei und Staat war ja immer schon ein eigen Ding, vor allem aber raschen Veränderungen der Linie unterworfen. Deshalb hatten wir noch vor Beginn der Szenarienarbeit um freundliche Beratung der Meinungsführer gebeten und im Staatssekretariat für Kirchenfragen große Ermunterung erfahren. Selbst in der Fachabteilung des Zen- tralkomitees waren einstweilen keine Warnschilder aufgestellt worden. Nun aber hatte das »Große Haus« am Werderschen Markt den Film-Genossen gleich um die Ecke in der Otto-Nuschke-Straße, früher und heute wieder Jägerstraße, geraten, das Projekt zu stoppen. Die lobten zwar den originellen Einfall, aber...

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Nicht das Buch, allein die erwartete oder befürchtete gegenwärtige Wirkung sei zu heikel und unberechenbar. In der gerade wieder einmal »verschärften ideo- logischen Auseinandersetzung« gebe es »Prioritäten, atheistische Propaganda« gehöre nicht dazu, ja, es bestehe die »Gefahr, religiöse Gefühle zu verletzen«. Die weltanschauliche Situation unter der Jugend spreche dagegen, das real existie- rende Nebeneinander von Atheismus und Religion öffentlich zur Diskussion zu stellen. Das war doch mal eine plausible Begründung für ein Tabu! Ein anderer Gut- achter wurde politisch deutlicher. »Der ideologische Gegensatz von Kirche, Reli- gion und uns ist unüberwindbar. Eine Auseinandersetzung zwischen Materialis- mus und Idealismus findet im Buch nicht statt, statt dessen wird ein politischer Modus vivendi gepredigt. Unsere gemeinsamen Interessen sind zeitweiliger Na- tur, die Gegensätze aber absolut und unaufhebbar.« Der Genosse hatte wohl noch nichts von der Theologie der Befreiung gehört, geschweige denn die Bergpredigt der Bibel über Frieden und Gerechtigkeit gelesen oder jedenfalls verstanden. Wir aber wußten nun, was nicht die Kirchen-, wohl aber die Alarmglocken der Partei geschlagen hatten. Die mehrstündige Sitzung war so kontrovers und überflüssig wie viele andere. Auf die erbetene schriftliche Stellungnahme warteten wir im Studio vergeblich. Erst in der zweiten Hälfte der 80er Jahre konnte man schon mal ungestraft daran erinnern, daß die sozialistische DDR kein »atheistischer Staat«, sondern der »Staat aller Bürger« ist oder wenigstens sein sollte. Nach Honeckers Treffen mit Kirchenführern sprachen wir wieder mehr von Bündnispolitik und die anderen von der Kirche im Sozialismus. Im Oktober 1984 schickte mir Wolfgang Held die Kulturseite der Berliner Zei- tung. Der Titel: »Verstreute Tagebuchaufzeichnungen zu einer Probe aufs Exem- pel (aus dem Tbc-Sanatorium Tanneneck/Harz)«. Endlich wurde damit die frühe Prüfung zweier anscheinend unversöhnlicher junger Patienten auf friedliche Bett- nachbarschaft öffentlich gemacht. War das Exempel vielleicht doch noch kino- reif? Nach unseren Erfahrungen war Skepsis geboten und die Suche nach Verbün- deten. Am Ende einer Konsultation zum Thema christlicher Widerstand im Staats- sekretriat für Kirchenfragen unter der neuen Leitung von Klaus Gysi erinnerte ich an unser altes Wunschprojekt. Mein Gesprächspartner Dr. Horst Dohle, Fachmann für Kirchengeschichte, war sofort brennend interessiert. »Gerade jetzt« sei das Thema der »Bündnisfähigkeit von Christen und Sozialisten« aktueller denn je. So ermuntert, schrieb Wolfgang Held einen neuen Entwurf, und der sonst so wählerische Lothar Warneke war sogleich zur engsten Zusammenarbeit mit dem Autor entschlossen. Das war ein Glücksfall. Hier paarte sich die Lebenserfahrung des einstigen Volkspolizeioffiziers Held mit der geistigen Welt des diplomierten Theologen Warneke, der die Gefühle und Gedanken des jungen Vikars auch in die richtigen Worte zu fassen verstand.

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Nun ging die Arbeit zügig voran. Unser Schutzpatron Dr. Dohle erhielt unsere Konzeption, später das Szenarium zur Begutachtung. Weder gab es Einwände, noch schienen besondere Ratschläge nötig. Endlich waren wir uns darin einig, daß beide weltanschaulichen Positionen bei aller Gegensätzlichkeit im Film gleichberechtigt nebeneinander stehen müssen, daß dieses Thema keinen positi- ven und keinen negativen Helden verträgt. Nun stand der Regisseur vor der schwierigen Aufgabe, diese Figuren-Parität mit sehr jungen Schauspielern künstlerisch überzeugend und emotional nachvoll- ziehbar zu entwickeln und die im Buch vorgeschriebene Balance zwischen Ernst, Komik und Tragik zu halten. Nach vielen Probeaufnahmen für den Polizisten Josef Heiliger fiel die Wahl auf Jörg Pose. Der hatte eigentlich Lehrer werden wollen und fand über das Laienspiel zur Theaterhochschule Leipzig auf die Büh- nen von und /Oder. Nach seinem erfolgreichen Filmdebüt ent- schwand er auf den Spuren einer großen Liebe nach Holland. Für den jungen Vikar fiel die Entscheidung auf Manfred Möck, der im Film dem Christus über seinem Krankenbett durchaus ähnelt. Der gelernte BMSR-Techniker brauchte kein Abi- tur, um sein Talent an der Rostocker Schauspielschule zu beweisen. Ihn spürten wir am Theater in Greifswald auf. Wenigstens ihm konnte man auch nach der Wende immer einmal in größeren und kleineren Fernsehrollen wieder begegnen, leider nicht auf der Kinoleinwand. Selbst für die kleineren Rollen gewann der Regisseur bekannte Berliner Theaterschauspieler: Heinz Dieter Knaup als Chef- arzt, Karin Gregorek als Oberin, Doris Thalmer als Altschwester, Johanna Clas als neugierige Mitpatientin, um nur einige zu nennen. Der engere Filmstab wurde durch den jungen Kameramann Peter Ziesche kom- plettiert und den prominentesten Filmszenenbildner des Studios, Alfred Hirsch- meier. Er fand das herrliche Außenmotiv für das abseits gelegene schloßähnliche Sanatorium – unseren Zauberberg – in der Nähe von Neubrandenburg und schuf einprägsame Innenräume für die Choreographie des Speisesaals oder die drei- schiffige Patienten-Mansarde, die unaufdringlich an eine Klosterzelle erinnern mag. Diesmal wurde die Staatliche Abnahme in der Hauptverwaltung Film nicht wie so oft zum Alp- vielmehr zum Wunschtraum der Filmleute. Überschwenglich be- dankte sich der Stellvertreter des Kulturministers, Horst Pehnert, für die Arbeit und versprach die seltene Zahl von 50 Kopien und die fremdsprachige Untertite- lung für den Auslandseinsatz. Die Premiere am 28. Januar 1988 wurde ein wirkliches, nicht nur behauptetes gesellschaftliches Ereignis. In der ersten Reihe des Kinos International saß Polit- büromitglied und Sekretär des ZK Kurt Hager neben Altbischof Albrecht Schön- herr. Beim anschließenden kleinen Empfang sah man beide im angeregten Ge- spräch. Unser Schutzengel im Staatssekretariat für Kirchenfragen hatte seine guten Beziehungen zu Vertretern der Kirchenleitung und namhaften Theologen wie Prof. Dr. Heinrich Fink ganz in unserem Sinne genutzt.

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In seinen Erinnerungen schreibt Hager: »Wir waren uns einig, daß diese Ver- ständigung von Kommunisten und Christen notwendig ist im Interesse des Frie- dens und einer gerechten sozialen Entwicklung.« Daß erst unser Film Anlaß zu solcher Begegnung und Einsicht bot, spricht leider nicht für den Chefideologen, dem es noch 1996 wortwörtlich »nicht leicht fällt, einzugestehen, daß die Mög- lichkeit zur Verständigung und gemeinsamen Lösung der gesellschaftlichen Pro- bleme zu kommen, nicht wahrgenommen wurde.« Offenkundig gab es in der Parteiführung selbst zu dieser späten Stunde sehr an- dere Auffassungen zur Bündnispolitik, auch wenn sich das glücklicherweise nicht in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung zum Film niederschlug. Die Spannungen zwischen Staat und kirchlich gedeckten Aktivitäten von Umweltakti- visten und Reformkräften waren eskaliert, als die Staatsanwaltschaft im Novem- ber 1987 gegen die evangelische Zionskirch-Gemeinde vorging und im Januar Mitglieder von Friedens- und Menschenrechtsgruppen festgenommen wurden, die am Rande der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration »Freiheit für Anders- denkende« forderten. Das alles war kein gutes Omen für einen souveränen Um- gang mit unserem Film in der Öffentlichkeit. Unsere Sorgen waren nur allzu berechtigt. Gegen Ende der DDR sah sich ZK- Abteilungsleiter Eberhard Fensch gemeinsam mit Fernsehchef Heinz Adameck den Haßtiraden seines Vorgesetzten, Politbüromitglied und ZK-Sekretär für Agi- tation Joachim Hermann, ausgeliefert, der die für den 7. Oktober 1989 vorgese- hene Ausstrahlung des DEFA-Films Einer trage des anderen Last als konterrevo- lutionär empfand. Daß der Film nicht schon nach einem Jahr, wie üblich, im Fernsehen gelaufen war, hatte uns bereits stutzig gemacht. Die Einladung unseres Films in den Wettbewerb der Westberliner Internationa- len Filmfestspiele erfüllte uns mit großem Stolz und gewisser Sorge zugleich. Und richtig, am Tag der Aufführung verteilte eine »Initiative Freiheit für Anders- denkende« vor dem Zoo-Palast ein Flugblatt mit dem moderaten Wunsch, »daß in der DDR die Freiheit der Kunst, der Wissenschaft und des öffentlichen Lebens zur Selbstverständlichkeit wird« und mit der Anklage, daß »die DDR-Organe kri- tische Künstler und für Frieden, Umweltschutz und Menschenrechte Engagierte diskriminiert, verhaftet und zum Teil in den Westen abgeschoben hat.« Der Appell richte sich nicht, so wurde beteuert, gegen unseren Film. Festivalchef Moritz de Hadeln schien sich da nicht so sicher. Er bat die DDR-Delegation zum Gespräch, bat um Verständnis für die hier übliche Form der Meinungsäußerung und versi- cherte, Vorsorge zu treffen, daß die Aufführung im ausverkauften großen Saal un- gestört verlaufen werde. Und so war es auch. Doch wie würde das Publikum auf ganz bestimmte Szenen reagieren, die nicht ins Bild der hier verbreiteten Meinung paßten? Herzklopfen also beim DDR-Bür- ger gleich am Anfang des Films mit den dokumentar stilisierten Aufnahmen vom Tod eines DDR-Grenzpolizisten, den eine Kugel aus dem Westen traf. Nicht ein- mal an dieser Stelle gab es Unmutsbekundungen im Saal. Großes Gelächter be-

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gleitete auch hier den Sängerkrieg der Streithähne, wenn bei morgendlicher Rasur der eine die Völker zum letzten Gefecht – erst summend, dann schmetternd – auf- ruft und der andere ihn zu übertönen sucht: »Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen.« Auch andere Reaktionen unterschieden sich kaum von denen in der Heimat – 1 000 m Luftlinie vom Zoo-Palast entfernt. Der lebhafte Beifall am Ende war sicherlich nicht ungeteilt, für die beiden Hauptdarsteller aber mehr als nur freundlich. Die Jury verlieh unseren Filmde- bütanten ex aequo den Silbernen Bären für die beste Schauspielerleistung, und so wurden sie bei der Preisverleihung noch einmal groß gefeiert. Allein die Fach-Jury des 5. Internationalen Filmfestivals in Karl-Marx-Stadt war da kritischer und würdigte die Arbeit nur mit einem Trostpreis: Für die beste Nebenrolle wurde Karin Gregorek geehrt. Dafür zeichnete die Publikumsjury Lothar Warneke mit dem Großen Steiger für den »wirkungsvollsten Film« aus. Die Jury der Filmklubs verlieh ihm ihren Findling, einen schön geschliffenen Na- turstein. Eine Leserumfrage des Filmspiegel und die ausländischen Gäste des Festivals setzten unseren Film auf den ersten Platz. Wenn dem Film auch letzte Nationalpreisehre versagt blieb, die Gewerkschaft bedankte sich beim Kollektiv mit dem FDGB-Kunstpreis. Seltener Glücksfall, daß eine Filmidee über fünfzehn Jahre ihre Frische be- wahrte und damit noch einmal ihren Wert beweisen konnte. Doch da war es für solche Ideen eigentlich schon wieder zu spät ... Lothar Warneke hat nach Wende und Beitritt keinen Spielfilm mehr drehen können. Er starb nach schwerer Krank- heit 2005 mit noch nicht einmal siebzig Jahren.

Einer trage des anderen Last

Produktionsland DDR, 1987/1988 Produktionsfirma DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) (Künstlerische Arbeitsgruppe »Babelsberg«) Erstverleih Progreß-Filmverleih, Berlin Uraufführung 28. Januar 1988, Berlin Kino International Produktionsleitung Horst Hartwig Aufnahmeleitung Wolfgang Lange, Dietmar Steinkühler Regie / Drehbuch Lothar Warneke Regieassistenz: Doris Borkmann Szenarium Wolfgang Held

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Dramaturgie Dieter Wolf Kamera Peter Ziesche Kamera-Assistenz: Frank Bredow Standfotos: Norbert Kuhröber Licht Horst Bochow (Komplexbrigade) Bauten Alfred Hirschmeier Bauausführung: Gisela Schultze, Siegfried Stallner, Dieter Tillak Requisite Georg Wüstenberg Kostüme Christiane Dorst Maske Frank May, Franziska Berger Schnitt Erika Lehmphuhl Ton Klaus Tolstorf Mischung: Gerhard Ribbeck Musik Günter Fischer Darstellende Josef Heiliger: Jörg Pose Hubertus Koschenz: Manfred Möck Oberschwester Walburga: Karin Gregorek Dr. Stülpmann: Hans-Dieter Knaup Sonja Kubanek: Susanne Lüning Frau Grottenbast: Johanna Glas Schwester Inka: Doris Thalmer, Sibius: Hermann Stövesand, Truvelknecht: Peter Hölzel Dr. Sabrocki: Gert Gütschow Heiligers Mutter: Monika Lennartz Jochen: Hans-Jochen Röhrig Sittichs Freundin: Ute Lubosch Sittich: Wilfried Pucher, Alte Dame: Ellis Heiden Truvelknechts Tischdame: Sina Fiedler Hubertus’ Braut: Annett Kruschke Alte Dame: Ellis Heiden, Älterer Genosse: Detlef Witte; Genosse: Klaus Tilsner, Genosse: Uwe Karpa Musikant: Norbert Lange, Stephan Baumecker, Alexander Höchst, Marc Hetterle, Matthias Wien Zum Inhalt Ein privates Lungensanatorium um 1950 in der DDR. Ein junger Volkspolizist und ein jun- ger Vikar teilen sich ein Krankenzimmer. Der eine trällert seine Kampflieder und liest im Kommunistischen Manifest, der andere bereitet sich laut auf eine Predigt vor. Über den Betten hängen Stalinbild bzw. Christus mit der Dornenkrone. Die vielen kontroversen Dis- kussionen fördern schließlich viel gemeinsames humanistisches Gedankengut zutage. Josef, dem Polizisten, geht es immer schlechter, die Medikamente schlagen nicht an. Hubert hingegen erholt sich zusehends. Er verzichtet für Josef auf die über die Kirche besorgten wirksameren Medikamente aus dem Westen.

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Die Kraniche ziehen

Um heute die künstlerische Bedeutung des Films richtig zu würdigen, muß an den historischen Hintergrund erinnert werden, vor dem er 1956/57 entstand. Zu allen Zeiten berief sich die Partei auf Lenins Diktum von der »Filmkunst als der wich- tigsten der Künste« – allein wegen der möglichen Massenwirksamkeit bewegter Bilder. Nun hatte sich Stalin höchstpersönlich, man mag es kaum glauben, schon seit langem das letzte Urteil über alle Drehbücher von politischem Belang vorbe- halten. So auch im Fall der beiden Filme über Lenin von Michail Romm. Der Regisseur wußte von handschriftlichen Anmerkungen des obersten Zensors im Script zu berichten. Stalin hatte u.a. auch seinen Rollennamen im Drehbuch durch das kleine Adjektiv »der große« ergänzt. Solche Erfahrungen und die letzte parteiamtliche Warnung am Beginn der 50er Jahre vor »Krittelei und Schwarzmalerei der sozialistischen Wirklichkeit« in der Kunst und die ihr folgende Konfliktlosigkeit führten zum qualitativen und quanti- tativen Kollaps auch der Kinematographie. 1951 kamen gerade mal sechs Neu- produktionen in die sowjetischen Kinos. 1953 starb Stalin. Doch es dauerte noch drei Jahre, bis der neue Erste Sekretär des ZK der KPdSU, Nikita Chruschtschow, auf dem XX. Parteitag 1956 mit sei- nem Referat in nicht-öffentlicher Sitzung »Über den Personenkult und seine Fol- gen« die Stalin-Ära auch politisch beendete. Zwar war die Produktion inzwischen sprunghaft auf etwa 100 Spielfilme im Jahr gewachsen, doch der große künstleri- sche Durchbruch stand mit dem Jahr 1957 erst noch bevor. Die Kraniche ziehen wirkte dafür wie ein Signal. Und das wurde in der westlichen Hemisphäre schnel- ler verstanden, als es manchen Funktionären im Sowjetlande und nicht nur dort lieb war. Im Mai 1958 erhielt der Film in Cannes den Grand Prix, die Goldene Palme, und gleich noch zwei Sonderdiplome – für die Kameraarbeit von Sergej Urus- sewski und für Tatjana Samoilowa in der weiblichen Hauptrolle. Nach einer langen Periode der Leinwand-Heroisierung des Großen Vaterländi- schen Krieges wurde dieser Film einer der besten. Er kreierte zugleich internatio- nal eine neue von Anti-Kriegsfilm und darf diesen Rang bis heute behaupten. Es fehlten die bekannten großen Schlachten-Panoramen mit ihren namenlosen Opfern, vor allem der anderen Seite. Der Krieg diente nicht mehr der Glorifizie- rung massenhafter Bewährung oder übermenschlich heldenhafter Einzelkämpfer, sondern erschien in seinem zerstörerischen Einfluß auf das Leben und die Ge- schicke einfacher Menschen. Das tragische individuelle Schicksal rückte ins Zen- trum der Bilderzählung. Der Krieg beendet abrupt die glückliche Jugend des Mädchens Veronika, als der geliebte Boris freiwillig an die Front geht. »Und ich? Was wird aus mir?«

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fragt sie und bleibt verlassen zurück. Als er, tödlich verwundet, im Birkenwald die Herrschaft über seinen Körper verliert, erscheint ihm das schöne Trugbild seiner erträumten Hochzeit mit Veronika, die er nicht mehr erleben wird. Sie aber, bald schon elternlos, erliegt der Werbung des Bruders ihres verschollenen Freundes. Sie heiratet Mark, wird aber mit ihm nicht glücklich. Sie glaubt die Nachricht vom Tod des Freundes nicht – bis zum Tag des Sieges, den sie einsam inmitten glückstrahlender Menschen erlebt. Die Fabel, aufs Banale verkürzt, hätte auch das alte Schema mit positivem und negativem Helden-Typus bedienen können. In der zweibändigen Kurzen Ge- schichte des sowjetischen Kinos wurde zu Beginn der 70er Jahre die Figur des Mädchens noch oder schon wieder ganz im Stil der alten ästhetischen Dogmatik als »schwach« und »egoistisch« gedeutet. Ihre ratlose Frage beim Abschied: »Was wird aus mir?« wird als »Verrat an den Idealen« interpretiert, »für die Boris lebt«. Tatjana Samoilowa aber hätte in dieser Rolle keine so weltweite starke emotionale Wirkung entfalten können, hätte sie die Gestalt nicht anrührend hilf- los, sondern distanziert und schuldbeladen als Verräterin am Geliebten charakteri- siert. Mit dieser, ihrer zweiten Hauptrolle spielte sich die 23jährige in die erste Reihe der sowjetischen Darstellerinnen. Als der Film 1958 in die Kinos der DDR kam, bildeten sich zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder Schlangen vor den Kinokassen. Und das für einen Rus- senfilm, der beim breiten Publikum nach den ersten großen Filmentdeckungen im Nachkriegsjahrfünft keinen guten Ruf mehr hatte. Während der Arbeit am Film Sonnensucher 1957/58 berief sich Konrad Wolf in der Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen auch auf das sowjetische Beispiel Die Kraniche ziehen. Doch die DDR-Kulturpolitik war gerade jetzt mit dem Kampf gegen verschiedene »revisionistische Abweichungen« befaßt, wie sie schon in Polen und vor allem in Ungarn beargwöhnte und nun also auch vom »Großen Bruder«. Sonnensucher landete für zweieinhalb Jahrzehnte im Keller. Als Wolfs nächster Film Leute mit Flügeln die Kontinuität und Konsequenz einer kom- munistischen Antifa-Biographie ausgerechnet am Beispiel der bald darauf einge- stellten DDR-Flugzeugindustrie exemplifizierte, geriet er im Diskussions-forum der Freien Tribüne des Filmfestivals von Karlovy Vary 1960 in eine aussichtslose Posi- tion. Sein DEFA-Film wurde den neuen sowjetischen Werken Die Kraniche ziehen, Ein Menschenschicksal, Ballade vom Soldaten gnadenlos gegenübergestellt, ja, ge- gen seine eigenen Arbeit, Sterne (1958/59), ausgespielt. Wolf blieb nur die Flucht nach vorn: »Daß die Filme der Richtung Die Kraniche ziehen mit Recht die großen Erfolgsfilme sind, verpflichtet uns geradezu, auch Filme des unmittelbaren revolu- tionär-historischen Themas und des Gegenwartsthemas mit derselben, wenn nicht gar mit noch größerer künstlerischer Überzeugungskraft zu meistern.« (Chefdrama- turg Klaus Wischnewski, DEFA-Blende vom 4. 10. 1960) Ein Jahr später präsentierte Wolf seinen Film Professor Mamlock auf dem Moskauer Festival und kam auf die neue Orientierung zurück, die die sozialisti-

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sche Filmkunst, »beginnend mit Die Kraniche ziehen, erfahren hat. Der Mensch rückt in den Mittelpunkt mit einer enormen Wucht der künstlerischen Gestal- tung.« (Sonntag, 23. 7. 1961) Wer aber war jener Michail Kalatosow, der diese Entwicklung so beispielge- bend in Gang gesetzt hatte? Da trat kein Jungfilmer auf den Plan, wie man das aus manch einer anderen Neuen Welle kannte, vielmehr ein gestandener Profi, Jahr- gang 1903, dessen wenig aufsehenerregendes Debüt bereits zweieinhalb Jahr- zehnte zurücklag. In Grusinien hatte er 1930 Das Salz von Swanetien produziert. Bekannt aber wurde er mit seinem Film über den legendären Helden der frühen sowjetischen Luftfahrt, Waleri Tschkalow, der im 64-Stunden-Erst- und Non-Stop-Flug über den Nordpol Berühmtheit gewann und bei seiner Rückkehr nach Moskau massen- hafte Begeisterung auslöste. Im Jahr 1940 durfte freilich die obligate Stalin-Szene nicht fehlen. Der große Führer war schließlich nicht nur der erste Gratulant des Rekordhalters, sondern selbstverständlich auch der eigentliche Inspirator aller so- wjetischen Erfolge und Großtaten ... 1943 brachte Kalatosow gemeinsam mit Sergej Gerassimow Die Unbesiegba- ren auf die Leinwand. Der Spielfilm war eher ein bestaunenswerter Bericht über das aufopferungsvolle Ringen der Arbeiter einer Leningrader Panzerfabrik um termingerechte Waffenlieferung für die gefährdete Front. Die Handlung spielte nicht nur während der Blockade, das Team drehte sie auch unter den tödlichen Bedingungen der fast vollständigen Abtrennung der Millionenstadt vom Hinter- land. Die Endfertigung mußte dann in den ausgelagerten Produktionsstätten von Taschkent und Alma-Ata erfolgen. Mit dem Titel Verschwörung der Verdammten zollte Kalatosow 1950 seinen Tribut dem eskalierenden Kalten Krieg der Supermächte und wurde dafür mit dem Stalin-Preis belohnt. Das Propagandastück handelte von US-imperialisti- schen Machenschaften in den volksdemokratischen Ländern CˇSR, Rumänien, Po- len und Ungarn. Als negative Helden figurieren neben US-Botschaftern Mitglie- der des Klerus und reaktionärer politischer Parteien. Doch die Anschläge auf Führer demokratischer Gruppierungen mißlingen. Das gute Filmende wurde von einem sowjetischen Lebensmitteltransport in ein ausgedachtes Freundesland ge- krönt. 1953/54 aber nahm Kalatosow Abschied vom politischen Thema und verließ die lang gepflegte Typologie des sozialistischen Realismus. Ein Jahr nach Stalins Tod präsentierte er im Genre einer leisen Komödie eine Reise mit Hindernissen über drei alte Freunde, die einen gemeinsamen Urlaub unternehmen planen. Zwei von ihnen, ein Chirurg und ein Tierzüchter, wollen noch einmal ihrer Jugend- romantik frönen. Nur mit einem Trick locken sie den dritten auf ein primitives Floß, denn der, Architekt und Akademiemitglied, ist an Komfort und Repräsenta- tion gewöhnt. Das urwüchsige Erlebnis der Natur in der Gesellschaft seiner le- benslustigen, realitätsnahen Freunde und die ernüchternde Begegnung mit seinem

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alter ego, einem bürokratischen Bauleiter, werden zum Impuls der Selbstbesin- nung. Zum ersten Mal bestimmten nicht politische Parolen ein Gegenwartssujet, traten differenzierte Charakterstudien an die Stelle sozialer Klischees. Auf dem Festival in Karlovy Vary 1954 bekam der Film den Großen Preis aus geschliffe- nem Karlsbader Kristallglas. Drei Jahre später kam der Welterfolg Die Kraniche ziehen, auch dank einer er- neuerten Filmsprache, die auf Rhetorik und sujetfremde Dialoge und Kommen- tare verzichtete. Regie- und Kameraarbeit waren nicht voneinander zu trennen. Die auf die Psychologie der Charaktere konzentrierte Führung der Schauspieler durch Kalatosow wurde vom Kameramann Sergej Urussewskis phantasievollen und einprägsam unterstützt. Urussewski hatte bereits mit Altmeistern wie Mark Donskoi, Wsewolod Pudow- kin und Juli Raisman gearbeitet und Kalatosow 1955 auch beim weniger glückli- chen Ausflug in die Thematik der von Chruschtschow inspirierten Neulandgewin- nung begleitet: Der erste Zug. Doch seine größte künstlerische Ausdruckskraft gewann er erst mit den Kranichen. Nun sprach man wieder von der entfesselten Kamera, sah man Stilmittel, die der Formalismus-Kampagne des Parteiideologen Andrej Shdanow geopfert worden waren. Im Rückblick auf 100 Jahre Film schrieb Hilmar Hoffmann vom »visuell furio- sen Requiem auf den sterbenden Boris«. Kurt Maetzig war tief beeindruckt von der »Bildmontage mit jagenden Einstellungen, kurzen Schnitten und starken Bild- kontrasten.« Von ihm wissen wir, daß die hier erreichte Perfektion nicht zuletzt großzügigen ökonomischen und technischen Produktionsbedingungen und einem ganzen Jahr Drehzeit zu danken war. So mag Maetzig auch mit seiner frühen Empfehlung aus dem DEFA-Augen- zeugen zur Wiederbegegnung mit diesem Film einladen: »Sie sehen selbst, sie hören selbst, urteilen sie selbst!«

Die Kraniche ziehen

Produktionsland UdSSR Premierendaten 1957 Produzent Mosfilm, UdSSR, Moskau Produktionsleitung Igor Wakar Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Michail Kalatosow

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Drehbuch Wiktor Rossow Kamera Sergei Urussewski Schnitt Marija Timofejowa Musik Moissei Wainberg Deutsche Bearbeitung VEB DEFA-Studio für Synchronisation Dialog der deutschen Fassung Wito Eichel Regie Helmut Brandis Schnitt Hildegard Gierke Ton Max Galinski, Fritz Klenke Darstellende Weronika: Tatjana Samoilowa (Eva-Maria Hagen) Boris Borosdin: Alexei Batalow (Horst Schön) Fjodor I. Borosdin: Wasili Merkurjew (Hans Wehrl) Mark Borosdin: Alexander Schworin (Reinhard Brandt) Irina Borosdina: Swetlana Charitonowa (E. M.-Fürstenau) Stepan: Walentin Subkow (Helmut Müller-Lankow) Wolodja: Konstantin Nikitin (Manfred Borges) Großmutter Warwarowa: Antonina Bogdanowa (Maria Hofen) Tschernow: Boris Kokowkin (Karl Eugen Lehnkering) Anna Michailowa: Jewgenja Kuprjanowa (Marga Legal) Satschkow: Leonid Knjasew Ingenieur: Georgi Kulikow Weronikas Mutter: Galina Stepanowa Weronikas Vater: Georgi Schamschurin Antonina Monastyrskaja: Irina Preis

Zum Inhalt Boris und Weronika sind ein Liebespaar, sie läßt sich von ihm »Eichhörnchen« nennen und die beiden beobachten den Zug der Kraniche über der Stadt 1941. Nach dem Ausbruch des Krieges meldet sich Boris freiwillig zur Front und wird am Tag vor Weronikas Geburtstag eingezogen. Ihr gelingt es nicht, sich von ihm zu verabschieden, und Boris kann ihr nur sein Geburtstagsgeschenk, ein Spielzeug-Eichhörnchen, hinterlassen. Sein Bruder Mark, der Pianist, war schon immer in Weronika verliebt und nutzt die Abwesenheit von Boris, um Weronika während eines Bombenangriffs zu verführen. Sie willigt ein, ihn zu heiraten. Währenddessen fällt Boris an der Front, nachdem er seinen verwundeten Kameraden Wolodja gerettet hat. Weronika erfährt aber nichts von seinem Tod und hält ihn weiterhin für vermißt. Erst als Weronika bei der Siegesparade nach dem Krieg Boris’ Freund und Frontkameraden Stepan wiedertrifft, kann sie Boris’ Tod akzeptieren. Die für Boris mit- gebrachten Blumen verteilt sie an zurückgekehrte Soldaten.

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Leuchte, mein Stern, leuchte Originaltitel: Gori, gori, moja zvesda

Produktionsland UdSSR / Premiere 1969 DDR-Erstaufführung 4. Februar 1972 BRD-Erstaufführung als Erstausstrahlung: 12. September 1975, ARD BRD-Kinostart 18. Januar 2001 Produzent Mosfilm Regie Alexander Mitta Buch Juli Dunski, Valerij Frid, Alexander Mitta Kamera Juij Sokol, A. Senjan Schnitt N. Vesselowskaja Musik Boris Tschaikowski Darstellende Iskremas: Oleg Tabakow Fjodor (Fedja): Oleg Jefremow Filmvorführer Pascha: Jewgenij Leonow Bauernmädchen Kryssja: Jelena Proklowa sowie: Leonid Djatschkow, Leonid Kurawljow, Wladimir Naumow Deutsche Sprecher Cornelia Schlottke, Erhard Köster, Rolf Römer, Horst Manz, Brigitte Lindenberg Dialog der deutschen Fassung Wolfgang Woizik Regie Margot Seltmann Schnitt Brigitte Hein Ton H. U. Amtsmann, F. Klenke Deutsche Produktion DEFA Studio für Synchronisation

Zum Inhalt 1920, drei Jahre nach der Oktoberrevolution und mitten im Bürgerkrieg, zieht der Komö- diant Wolodja von Dorf zu Dorf. Seine Liebe gilt dem Theater und der Revolution, weshalb er sich den Künstlernamen Iskremas zugelegt hat – eine Abkürzung von iskustwo revoluzii massam (die Kunst der Revolution den Massen). Seine Wanderbühne ist ein einfacher Pfer- dekarren, von dem herunter er Shakespeare unter das Volk bringen will, um es so für die Revolution zu begeistern und zu gewinnen. In einem Städtchen haben – wechselnd – Rot- gardisten, Weißgardisten oder anarchistische Banditen die Macht… Iskremas, der Maler Fedja und der unter jedem Regime aufs Geschäft bedachte Filmvorführer sowie das Bau- ernmädchen Kryssja sind die Protagonisten dieser Tragikomödie.

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Überblick zu Terminen und Filmen

4. Januar Abschied Regie: Egon Günther, DEFA, 1967/68 22. Februar Wenn Du groß bist, lieber Adam Regie: Egon Günther, DEFA 1965 29. März Der Dritte Regie: Egon Günther, DEFA, 1971 26. April Lotte in Weimar Regie: Egon Günther, DEFA 1974/75 anschließend Filmgespräch in Anwesenheit von Egon Günther 24. Mai Stein Regie: Egon Günther, DEFA 1990/91 14. Juni Die Braut Regie: Egon Günther, 1998/99 5. Juli Junges Gemüse Regie: Günter Reisch, DEFA 1955/56 30. August Unterwegs zu Lenin Regie: Günter Reisch, DEFA 1969/70 20. September Anton, der Zauberer Drehbuch, Regie: Günter Reisch, DEFA 1977/78 25. Oktober Ein Lord am Alexanderplatz Regie: Günter Reisch, DEFA 1966/67 29. November Die Verlobte Drehbuch, Szenarium, Regie: Günter Reisch/Günther Rücker, DEFA 1979/80 13. Dezember Ach, du fröhliche Regie: Günter Reisch, DEFA 1961/62 anschließend Filmgespräch in Anwesenheit von Günter Reisch 17. Januar 2008 Wolz. Leben und Verklärung eines deutschen Anarchisten Regie: Günter Reisch, DEFA 1973

Zeit und Ort: jeweils 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Konferenzsaal 1. Etage Teilnahmegebühr: 4/2 Euro

Zu den Filmen geben DEFA-Angehörige/an den Filmen Beteiligte jeweils kurze Einführungen, zu einigen Filmen wird es im eine Filmdiskussion mit den Regisseuren und Mitwirkenden geben.

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Egon Günther – Biographie und Filmographie

Egon Günther wird am 30. März 1927 in Schneeberg (Erzgebirge) als Sohn eines Arbeiters geboren. Er erlernt das Schlosserhandwerk und arbeitet anschließend als technischer Zeichner in einem Konstruktionsbüro für Maschinenbau. 1944/45 ist er kurze Zeit Soldat, gerät in Holland in Kriegsgefangenschaft, aus der er ent- flieht. Nach einem Neulehrerkursus studiert er 1948 – 51 an der Karl-Marx-Uni- versität Leipzig Pädagogik, Germanistik und Philosophie (u. a. bei Ernst Bloch). Er arbeitet zunächst als Lehrer, dann als Verlagslektor in Halle/Saale. Er veröffent- licht Gedichte (Die Zukunft sitzt am Tisch; 1955), zwei Romane (Flandrisches Finale, 1955; Der kretische Krieg, 1957) und eine Erzählung (Dem Erdboden gleich, 1958), ehe er 1958 als Dramaturg und Drehbuchautor an das DEFA-Studio für Spielfilme nach Potsdam-Babelsberg geht. Der Literatur bleibt Günther auch weiterhin treu. 1971 erscheint sein Roman »Rückkehr aus großer Entfernung« – ein Eichmann-Stoff: die Jagd eines ehemali- gen KZ-Häftlings nach einem Kriegsverbrecher. (Der authentische Fall Eichmann tauchte bereits als Motiv in seinem Roman »Die schwarze Limousine« auf, nach dem er das Drehbuch zu dem Film »Jetzt und in der Stunde meines Todes« ver- faßte.) Der Roman »Einmal Karthago und zurück« (1974) spielt, stark autobiogra- fisch beeinflußt, im Filmmilieu der DDR und blendet auch zurück in die Vergangen- heit der Hauptfigur, des Regisseurs Ernst Waldenburg. Der Roman »Reitschule« (1981) reflektiert ebenfalls eigene, in diesem Fall familiäre, Erfahrungen: Es ist die Geschichte eines behinderten Mädchens. »Meinen Büchern merkt man an, daß der Autor Filme macht; und in meine Filme versuche ich Stilmittel zu übernehmen, die der Roman hervorgebracht hat.« (Günther, 1976). 1964/65 beginnt er mit Lots Weib, seine Drehbücher, die oft nach Szenarien seiner damaligen Frau Helga Schütz entstehen, selbst zu inszenieren. Sein zweiter Film Wenn du groß bist, lieber Adam wird in Folge des 11. Plenums des ZK der SED nicht aufgeführt. Er dreht neben Gegenwartsstoffen (Anlauf, Der Dritte, Die Schlüssel) für das Kino oder Fernsehen eine Reihe von Literaturverfilmungen (nach Johannes R. Becher und Arnold Zweig), die die Zeit um den Ersten Welt- krieg reflektieren. Mitte der 1970er Jahre beginnt eine Art Zyklus, der sich um die Person J. W. Goethes dreht (Lotte in Weimar nach Thomas Mann; Die Leiden des jungen Werthers; der Dokumentarfilm Weimar, du Wunderbare; das Fernsehspiel Euch darf ich’s wohl gestehen). Trotz des internationalen Erfolgs seines Films Der Dritte, erlebt Günther einen Rückschlag mit Die Schlüssel: Der Film ist beim Publikum ein Mißerfolg und darf, nach Protest polnischer Stellen, außerhalb der DDR nicht gezeigt werden. Die darauf folgende Beschäftigung mit Literaturverfilmungen bedeutet für ihn eine Art formalen Rückzugs, wie er aus Anlaß der Leiden des jungen Werthers be-

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tont: »Zwar stand mein Sinn wirklich mehr nach einem Gegenwartsfilm, aber es ist für mich im Moment etwas schwierig, meine Vorstellungen von einem Gegen- wartsfilm zu realisieren. Deshalb konnte mich dieser interessante historische Stoff ganz gefangennehmen«. (Sonntag, Nr. 34, 1976). Im Sommer 1977 tritt Günther aus dem Verband der Film- und Fernsehschaf- fenden der DDR aus, dessen Präsidium er angehörte. Nach ersten Fernseharbeiten im Westen (Ursula als TV-Co-Produktion Schweiz/DDR; Weimar, du Wunderbare für den Saarländischen Rundfunk) dreht Günther seit Ende der 1970er Jahre aus- schließlich im Westen, so 1979/80 die 7-teilige TV-Reihe Exil, nach dem Roman von Lion Feuchtwanger, mit dem er historisch an seine Zweig-Filme anknüpft. 1983 entsteht nach einem Gegenwartsstoff von Klaus Poche Hanna von acht bis acht. Mit Morenga, folgt eine 3-teilige TV-Produktion für den WDR über die deutschen Kolonien nach dem Roman von Uwe Timm. Große Publikumsresonanz hat 1987 der Dreiteiler »Heimatmuseum« nach dem Bestseller von Siegfried Lenz. Dagegen scheitert Günther damit, mit Rosamunde ei- ner Entführungsgeschichte aus dem Jahr 1931, auch im Kino wieder Erfolg zu ha- ben. Mit Stein, der eindrucksvoll inszenierten Schlüsselgeschichte um einen in der DDR isolierten Künstler (Rolf Ludwig) dreht Günther 1990/91 nach einem Szena- rium von Helga Schütz einen der letzten DEFA-Filme, der allerdings in den Nach- wende-Wirren kein Publikum findet. Danach wendet sich Günther wieder literarischen Stoffen zu: Lenz. Ich aber werde dunkel sein ist ein essayistischer Spielfilm über das Leben des Sturm-und-Drang-Dichters und sein Verhältnis zu Goethe. Dessen Eheleben mit Christiane Vulpius steht im Zentrum von Die Braut, Günthers Beitrag zum Goethejahr. Egon Günther, der 1999 den Deutschen Filmpreis für sein Gesamtwerk erhält, lebt in Groß-Glienicke bei Berlin.

Filmographie

1998/1999 Die Braut (Drehbuch, Regie) 1998/1999 Else – Geschichte einer leidenschaftlichen Frau (Drehbuch, Regie) 1997 Das 7. Jahr – Ansichten zur Lage der Nation (Regie) 1994/1995 Der Kontrolleur (Dramaturgie) 1992 Lenz (Drehbuch, Regie) 1990/1991 Stein (Drehbuch, Regie) 1988 Rosamunde (Drehbuch, Regie) 1986/1987 Heimatmuseum (Drehbuch, Regie) 1986/1987 Heimatmuseum – Ein Roman wird Film (Mitwirkung) 1984/1985 Die letzte Rolle (Regie) 1984 Mamas Geburtstag (Regie) 1983 Hanna von acht bis acht (Regie)

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1983 – 1985 Morenga (Darsteller, Regie, Drehbuch) 1981 Euch darf ich’s wohl gestehen (Darsteller, Regie, Drehbuch) 1979/1980 Exil (Drehbuch, Regie) 1978/1979 Blauvogel (Darsteller) 1978 Weimar, du Wunderbare (Drehbuch, Regie, Mitwirkung) 1976 Die Leiden des jungen Werthers (Darsteller, Drehbuch, Regie) 1974/1975 Lotte in Weimar (Drehbuch, Regie, Szenarium) 1973 Erziehung vor Verdun. Der große Krieg der weißen Männer (Darsteller, Drehbuch, Regie, Szenarium) 1972/1973 Die Schlüssel (Drehbuch, Regie, Szenarium) 1971 Der Dritte (Drehbuch, Regie) 1967/1968 Abschied (Drehbuch, Regie) 1965 Wenn du groß bist, lieber Adam (Drehbuch, Regie) 1964 Alaskafüchse (Drehbuch) 1964/1965 Lots Weib (Drehbuch, Regie) 1963 Jetzt und in der Stunde meines Todes (Drehbuch) 1961 Das Kleid (Drehbuch, Regie). 1960 Begegnung im Zwielicht (Dramaturgie) 1960 Der Fremde (Drehbuch) 1960 Ärzte (Drehbuch) 1959/1960 Mutter Courage und ihre Kinder (Dramaturgie)

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Abschied

Dieses ehrgeizigste Projekt der 1964 von mir gegründeten Gruppe Babelsberg war neben Ich war neunzehn die Adaption von Johannes R. Bechers autobiogra- phischem Roman über den Bruch eines jungen Bürgersohnes mit seinem Eltern- haus und seiner Klasse zwischen der Jahrhundertwende und dem Beginn des Ersten Weltkriegs. Im November 1968 stand der zehnte Todestag Bechers bevor und ließ große öffentliche Aufmerksamkeit erwarten. Das konnte der Breitenwir- kung eines anspruchsvollen DEFA-Films nur dienlich sein. Im Januar 1966 gab die Studioleitung »grünes Licht« für meine erste Begeg- nung mit Lilly Becher. Die Witwe hütete das künstlerische Erbe und die Urheber- rechte des ersten DDR-Kulturministers, den Walter Ulbricht postum zum »größ- ten deutschen Dichter der neuesten Zeit« gekürt hatte. In einem langen Gespräch überraschte sie mich durch ihre fast lückenlose Kenntnis der Babelsberger Pro- duktion, mehr noch durch ihr kritisches Urteil über ihren Standard. Sie interes- sierte sich allein für die Kontrolle der künstlerischen Qualität der Bearbeitung erst einmal bis zum Drehbuch. Zwei wissenschaftliche Mitarbeiter des Becher- Archivs der Akademie der Künste, Ernst Stein und Ilse Siebert, sollten uns bera- ten und für sie den Fortgang der Arbeit beobachten. Wochen nach dieser freundlichen Übereinkunft teilte uns der Deutsche Fern- sehfunk mit, daß ihm der Aufbau-Verlag bereits vor Jahren das »ausschließliche Recht zur Bearbeitung des Stoffes als Fernsehfilm« übertragen habe. Man wolle ihn so produzieren, daß er »auch in den Lichtspielhäusern laufen kann«. Doch unser Konkurrent hatte dafür noch nichts getan und Lilly Becher inzwischen so viel Vertrauen zu uns, daß sie den Verlag zur Vertragsänderung veranlaßte. Der versprach, den Kinostart mit einer preiswerten Taschenbuch-Ausgabe, Auflage 50 000, zu begleiten. Und so geschah es später auch. Trotz harscher Kritik der Parteioberen an Günter Kunert, auf dem 11. Plenum im Dezember 1965 gerade erst erneuert, empfahl sich der Lyriker auch dank sei- ner Erfahrung als Filmszenarist. Mit einer Filmerzählung wollten wir uns der Kino-Adaption nähern. Schwieriger war die Regiefrage. Der Vorschlag der Studioleitung, Kurt Maet- zig mit der Regie zu betrauen, stieß bei Lilly Becher auf Zurückhaltung. Es gehe um das Bild sehr junger Leute auch für ein sehr junges Publikum. Die Ausrede war offenkundig, als sie statt Maetzig den fünf Jahre älteren Wolfgang Staudte ins Gespräch brachte. Doch der hatte das Studio erst kürzlich wissen lassen, daß er sich als Bundesbürger aus politischen Gründen keine neue DEFA-Verpflichtung leisten könne, ohne seine Existenzgrundlage im Westen zu gefährden, abgesehen von seiner Honorarerwartung von 150 000 DM. Lilly Becher hoffte nun auf Kon- rad Wolf, aber er gestand ihr unter vier Augen, daß ihm dieser Jugendstoff aus einer sehr fernen deutschen Vergangenheit fremd sei.

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Die erste Hürde auf dem Weg zum Filmbuch war mit Günter Kunerts Treat- ment nicht genommen. Weder die Gruppe Babelsberg samt Erstleser Herrmann Zschoche, noch Lilly Bechers Gewährsleute fanden das Gesellschaftspanorama und die wichtigsten Charaktere tief genug erfaßt. Die skizzierte Filmhandlung folgte der Chronologie des Romans, ihre Ausschmückung tendiere eher zum Fernseh-Mehrteiler. Da kam uns der Zufall zu Hilfe. Für die dramaturgische Betreuung des Presti- geprojekts hatte ich Prof. Dr. Konrad Schwalbe gewonnen, Ex-Chefdramaturg und nun Rektor der Filmhochschule. Er traf in der Kantine Egon Günther und empfahl ihm die Lektüre des Romans und der Filmerzählung. Günthers leiden- schaftliches Interesse war sogleich geweckt. Für ihn sprach sein schönes Regiede- büt Lots Weib. Doch seine zweite Inszenierung Wenn du groß bist, lieber Adam, ein komödisch-ironisches Gegenwartssujet, war noch vor Abschluß der Drehar- beiten in die politischen Turbulenzen des 11. Plenums geraten und im Filmkeller gelandet. Daß sich Günter Kunert und Lilly Becher, aber auch die neue Studiolei- tung sehr rasch mit dieser Regie-Perspektive befreundeten, lag nicht allein am En- thusiasmus des unerwarteten Bewerbers. Dank seiner Erfahrung als Dramaturg und Szenarist versprach er auch einen Ausweg aus der Sackgasse, in die der erste Bearbeitungsschritt geführt hatte. Und Kunert akzeptierte sogleich die von uns vorgeschlagene Mitautorschaft des Regisseurs. Egon Günthers Filmidee war so respektlos wie vielversprechend. Zum Glück formulierte er sie so provokatorisch nur im Gespräch mit Lilly Becher. »Man muß Bechers Romanstruktur zerbrechen, um sie für den Film neu zu konstruieren.« In keiner Dramturgenkonzeption wäre solch eine Blasphemie geduldet worden und hätte schon den Plan vereitelt. Die Autoren durchbrachen also die Chronologie der Handlung und verknüpften die Episoden durch die Gedankenstimme des jun- gen Bürgersohnes Hans Gastl, der seine Entwicklung rückschauend mit seinem inneren Monolog kommentiert. Das neue Erzählprinzip erlaubte einen freien Umgang mit dem Stoff und zu- gleich eine heiter-überlegene, ironisch-distanzierende Sicht auf die konfliktreiche Entwicklung des jungen Helden. Wir versprachen uns davon auch einen leichte- ren Zugang des jungen Publikums zum historischen Gegenstand. Mit wenigen Detailwünschen empfahl die Gruppe Babelsberg im Mai 1967 die Abnahme des Szenariums und die Produktionsplanung für die Premiere im Okto- ber 1968. Der neue Chefdramaturg Günter Schröder bemängelte lediglich die schwache Repräsentanz »der Kräfte, die der Bourgeoisie entgegenstehen«. Doch die waren schon im Roman nur durch das Dienstmädchen Christine, den Offi- ziersburschen Xaverl und den Klassenkameraden Hartinger vertreten, auch der kein lupenreiner Proletarier, sondern Sohn eines sozialdemokratisch orientierten Schneiders. Aber es gab auch den Gymnasiasten Löwenstein, Sohn eines Ban- kiers, das Jüdlein, mit seiner rein intellektuellen Schwärmerei für die Revolution oder was er dafür hielt. Gekürzt werden sollte das kleinbürgerlich-anarchistische

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Bohème des Café Stefanie, Bechers Anspielung auf das bekannte Münchener Café Größenwahn, obschon die Entwicklung des jungen Mannes zum künftigen Dichter hier entscheidende Impulse bekommt. Allein die Warnung vor zu vielen Zeitsprüngen im Exposé lag auch im Publikumsinteresse. Ganz im Sinne der neuen Leitungspraxis nannte der Chefdramaturg seine Empfehlungen abschließend »Auflagen für die Weiterarbeit«. Zwiespältige Gefühle löste seine Absicht aus, Alexander Abusch um Konsulta- tion zu bitten. Der Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrats der DDR war die ranghöchste kulturelle Regierungsinstanz, doch nur bei gutem Ausgang eine prächtige Rückversicherung. Die Filmleute aber kannten das ZK-Mitglied, den Ex-Kulturminister, als intelligenten, doch ungewöhnlich strengen kunstpoliti- schen Interpreten der jeweiligen Linie der Parteiführung. Er empfing die kleine DEFA-Abordnung, Chefdramaturg, Regisseur und Grup- penleiter, in seinem riesigen Arbeitszimmer im repräsentativen Sitz des Minister- präsidenten, dem Alten Stadthaus Am Molkenmarkt. Der kleine Mann mit der hohen Intelligenzlerstirn pries die Bedeutung des Romans und lobte die Verfil- mungsabsicht, ohne sich auf Details des filmliterarischen Entwurfs einzulassen. Interessant war seine lebendige Schilderung der psycho-sozialen und politischen Situation rebellischer Bürgersöhne in Süddeutschland und ihrer drei geistig-kultu- rellen Repräsentanten, »der Becher in München, der Brecht in Augsburg und ich in « ..., so in größter Bescheidenheit Abuschs Aufzählung. Nach diesem Wink aus dem Olymp war die Produktionsfreigabe durch die HV Film sicher. Sie war mit der Mahnung versehen, die sozialen Gegenkräfte stärker ins Spiel zu bringen, einschließlich Liebknechts Verweigerung der Kriegskredite. Dafür sollte dem erotischen Ausflug des jungen Gastl ins Milieu der Edelnutte Fanny samt Todesvision mit der Geliebten weniger Raum gegeben werden. Urteilen Sie selbst, ob Sie den erhobenen Zeigefinger irgendwo im Film entdecken. Die Arbeit am Drehbuch und die Inszenierung blieben frei von jedweder Einmi- schung. Im Januar 1968 wurden die Dreharbeiten begonnen und im Mai beendet. Zu einer Nachaufnahme allerdings ließ sich Egon Günther herbei. Lilly Becher kritisierte nach einer Mustervorführung die Besetzung der Rolle der Großmutter Gastl. Ilse Voigt, schwergewichtiger Oma-Typ von eher proletarischer Statur und Ausstrahlung, wurde durch Mathilde Danegger ersetzt, die in Gestalt, sozialem Gestus und süddeutscher Sprachfärbung der Romanfigur ideal entsprach. Lilly Becher war vom fertigen Film begeistert. Ihre Sorge galt nur noch dem Kinoein- satz. Der Film müsse ins Ausland gebracht werden und dürfe nicht etwa nur in die Filmklubs kommen. Wie prophetisch! Trotz der für die DEFA kühnen, ja gewagten formalen Mittel künstlerischer Stilisierung gab es keine Abnahmehürden. Selbst Progreß Verleih und DEFA- Außenhandel waren des Lobes voll. HV-Chef Siegfried Wagner sprach »sehr be- eindruckt von der modernen künstlerischen Gestaltung, von einem großartigen künstlerischen Dokument, von dem trotz hoher Ansprüche an das Publikum starke

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internationale Wirkung zu erwarten ist«. Und er kündigte bereits die »glanzvolle Premiere als würdigen Beitrag nach dem Festakt des Präsidialrats des Kulturbun- des zum 10. Todestag Bechers« an. Eine solche Filmabnahme hatten wir noch nicht erlebt, und so beantragten wir vorab die Zuerkennung des Staatlichen Prädikats Besonders wertvoll. Die nächste Überraschung folgte auf dem Fuße. Der Antrag wurde, nachdem Abusch den Film gesehen hatte, positiv beschieden, mehr noch, erstmalig in der DEFA-Geschichte durfte die Nachricht von dieser Auszeichnung die Plakatwerbung zieren. Aller- dings auch letztmalig. Während alle Beteiligten der Premiere entgegenfieberten, mündete der Prager Frühling in den heißen August der militärischen Beendigung der tschechoslowa- kischen Sozialismusreform. Kein Wunder, daß die repräsentative Becher-Ehrung am 10. Oktober 1968 im Kino International mit dem Gesang des Erich-Weinert- Ensembles der NVA einem Feingeist wie Günter Kunert geradezu martialisch erscheinen mußte. Nicht weniger die heftigen Attacken des Festredners Abusch gegen die »freiwilligen und unfreiwilligen Helfer der psychologischen Krieg- führung der Imperalisten«, die im Nachbarland »einen ›neuen Sozialismus mit ei- nem menschlichen Gesicht‹ propagierten, aber gleichzeitig durch ihre provinzielle Nachäffung der spätbürgerlich westlichen Dekadenz in Filmen und Theater- stücken das Gesicht des Menschen ihres sozialistischen Vaterlandes verunstalte- ten und deformierten«. Um so erstaunlicher Abuschs kühnes Kompliment, »daß unsere DEFA mit der Ur- aufführung des Films Abschied den Dichter ehrt und zugleich damit die Lebenswirk- samkeit seines Werkes für den heutigen Tag bezeugt.« Mutiger noch das Bekenntnis des Festredners: »Ohne die Meinung der Zuschauer vorwegnehmen zu wollen, meine ich als langjähriger Freund Bechers und seines Werkes, daß die Schöpfer die- ses Films sich mit hohen Qualitäten bemüht haben, ihn in der politisch-poetischen 1 Durchdringung des Themas ebenbürtig an die Seite des Romans zu stellen.« Der angemessene Beifall für die lange Rede war kaum verklungen, da erhoben sich in der ersten Reihe zwei, um den Saal am Seitenausgang zu verlassen, Walter Ulbricht, Parteichef und Vorsitzender des Staatsrats der DDR, dicht gefolgt von seiner kleinen Frau Lotte. Nun befürchteten manche schon das Schlimmste. Der Beifall der geladenen Gäste für den nun folgenden Film war freundlich. Eine Vorstellung der Künstler auf der Bühne war vom Protokoll nicht vorgesehen. Dafür feierten am selben Abend die zahlenden Besucher der öffentlichen Kino-Premiere im 1 000-Plätze- Theater Kosmos die Filmleute mit frenetischem Applaus. Am nächsten Tag erschien Abuschs Rede ungekürzt im »Zentralorgan« und schien alle Unkenrufe über ein mögliches Verbot zu widerlegen. Zwei Tage später brachte Neues Deutschland Rainer Kerndls ausführliche Rezension mit genauer

1 Neues Deutschland v. 11.10.1968

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2 Beschreibung der Konzeption und ihrer Realisierung. So machte sich die Filmcrew ohne Arg auf den Weg zu mehreren Bezirksfilmpremieren und Sonder- 3 veranstaltungen. In lud SED-Bezirkskulturfürst Rudolf Herzog danach zum Abendimbiß in kleiner Runde. Der, so hörte man, habe als erster die Alarmglocken geläutet, weil er manche seiner dunklen Vermutungen während der Vorführung in allzu freimütigen Äußerungen von Regisseur und jugendlichem Hauptdarsteller be- stätigt fand: Da wollten wohl respektlose Filmrevoluzzer den Dichter der Nation vom Sockel stoßen. Unmut unter der NVA-Generalität hatte es schon in Straus- berg ausgelöst, als Bechers alter ego, Jan Spitzer, zur feierlichen Veranstaltung im Haus der Offiziere in den verpönten Blue Jeans auf die Bühne sprang und die üppig dekorierten Militärs und ihre festlich gekleideten Damen mit seinem sub- versiven West-Import provozierte. Der Film hatte trotz mancher Sorge um die »Volkstümlichkeit« seiner Film- sprache einen phantastischen Kino-Anlauf mit ausverkauften Vorstellungen in den großen Häusern. Die ersten Statistiken ließen Besucherrekorde erhoffen. So glaubten wir uns schon über den Berg. Doch mit der 9. Tagung des ZK im November 1968 drehte sich der Wind. Walter Ulbricht hatte im Referat über die »weitere Gestaltung des gesellschaftlichen Systems des Sozialismus« einen Sei- tenhieb auf die Kunst parat. »Das humanistische Erbe ist für uns weder museales 4 Bildungsgut noch Tummelplatz sujektivistischer Auslegungen.« Deutlicher wurde der Kandidat des ZK Hans-Dieter Mäde, Generalintendant der Staatstheater . Er polemisierte in der Diskussion gegen alle möglichen ideologischen Ab- weichungen im Kunstbetrieb und befand, »daß der Abschied-Film die Höhe des Be- cherschen Geschichts- und Menschenbildes nicht erreicht.« Er war Walter Ulbricht schon einmal in einer abstrusen Formen-Diskussion gegen schlanke, zylinder- förmige Vasen beigesprungen und entdeckte nun »wieder (...) Konzessionen an sogenannte moderne Mittel, die dazu führen, daß der Vorgang der Fabel und die Be- chersche historische Vorgabe in impressionistische Einzelelemente aufgelöst wird.« Ihm fehlte weitgehend Bechers Intention, »wie im Neinsagen zugleich die Keime einer echten neuen Bewußtheit wachsen.« Das war eine deutliche Kritik an Alexan- der Absuch, der vom Helden gesagt hatte: »Noch weiß er erst ahnend und ungenau, wohin er gehört; aber er weiß schon genau, wohin er nicht mehr gehört.« Und Mäde monierte, »daß die Seite des Alten so satirisch zugespitzt, so komödiantisch, mit neuen Mitteln dargestellt wird. Aber wenn ich den Gegner durch sogenannte komö- diantische Mittel zu sehr verkleinere, verkleinere ich im selben Moment auch die Leistung dessen, der den Gegner überwindet. Auch diese Dialektik scheint mir in 5 vielem gestört.« 2 Neues Deutschland v. 14.10.1968 3 11.10. , 12. Erfurt/, 13. Sangerhausen, 14. Buna, 15. Leipzig, 16. Wünsdorf GSSD; 17. Leuna- Werke Bitterfeld; 18. ; 19./20.10. Karl-Marx-Stadt 4 Neues Deutschland v. 25.10.1968 5 Neues Deutschland v. 26.10.1968

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Mädes Polemik im höchsten Parteiforum lag wohl ganz im Sinne von Ulbrichts Becher-Bild und dessen Filmverständnis, denn prompt danach initiierte Neues Deutschland Leser-Zuschriften unter der rhetorischen Frage »Ist das noch Bechers Weltsicht?« mit Zwischentiteln wie »Tief enttäuscht« oder »Reizt zum Lachen, aber nicht zum Denken«. Horst Knietzsch verharmloste den organisierten Verriß durch Volkes Stimme als »wesentliche Seite unserer kulturellen Entwicklung, des produktiven Gesprächs zwischen dem Künstler und seinem Publikum.« Am 21. 11. 1968, nach nur sieben Wochen Laufzeit, ordnete der vor kurzem noch so begeisterte Film-Chef auf Hinweis von Kulturminister Klaus Gysi den Rückruf al- ler Kopien aus den Kinos binnen einer Woche an. Die Filmleute erfuhren es von ent- täuschten und ratlosen Theaterleitern, denen keine Erklärung gegeben worden war. Lilly Becher war vom Vorgang wohl weniger überrascht, doch ebenso schockiert. Sie intervenierte vergeblich im Kulturministerium und suchte aus dem Hinter- grund nach Verbündeten. Doch ausgerechnet Franz Fühmann unterzog den Film in einer Präsidialratsdebatte des Kulturbundes einer vernichtenden Kritik. Vergeb- lich war ihre Intervention im Kulturministerium, schlimmer noch die Reaktion auf ihren Brief an das Zentralkomitee. Der erboste Walter Ulbricht schrieb am 21. Januar 1969 an Erich Honecker: »Schon der Beschluß, anläßlich des Todesta- ges den Film ›Der Abschied‹ zu zeigen, zeugt von dem Versuch, Johannes R. Be- cher in seinem jugendlichen Gährungsprozeß zu zeigen. Wir wollen ihn jedoch ehren für seine geschichtliche Leistung, sein dichterisches Schaffen in der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. (…) Leider hat Genosse Abusch die Sache auch nicht verstanden, sonst hätte er nicht solch eine wider- spruchsvolle Rede zum 10. Jahrestag gehalten. Bei Lilli Becher ist das Schwan- ken der Normalzustand. Sie muß eine richtige Abreibung bekommen, aber nicht offiziell. Ich würde das den Leiter der Kulturabteilung im ZK machen lassen. (…) Oder Abusch soll mit ihr sprechen und dabei seine eigenen Fehler in Ordnung bringen.« Von diesen Vorgängen auf Königsebene wußten wir damals nichts. Auf energi- sche Rückfrage erfuhr man, der Film sei nicht verboten, er werde nur zur Zeit nicht mehr gespielt, es habe im Kino falsche Reaktionen gegeben. Jugendliche hätten im dunklen Saal in das Deutschland-Lied eingestimmt, das die chauvinisti- sche Massenszene um die Mobilmachung 1914 begleitet. Ein Augen- oder Ohren- zeuge für diesen Vorwand ließ sich nicht finden. Lange Zeit später kam die Kunde, der Film könne auf Anforderung von Film- klubs, an Filmkunsttagen und in kleinen Filmkunsttheatern durchaus gezeigt wer- den. Ein Echo dieser Großzügigkeit war im Studio nicht zu hören. Die Statistik stagnierte bei 607 000 Besuchern nach nur sechswöchigem Einsatz, ein Traum- ergebnis für manchen der folgenden DEFA-Filme nach einem Jahr ... Stolz meldete der DEFA-Außenhandel die Lizenzvergabe an Ungarn, Bulga- rien, Polen, CˇSSR und vor allem an die Sowjetunion und die Festivalteilnahme in Locarno 1969.

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Lilly Becher blieb ihren Verbündeten in der DEFA treu. Sie schrieb mir: »Ich werde mich immer mit großer Freude an die leider nur kurze Zeit unserer Zusam- menarbeit erinnern und kann nur hoffen, daß der Film, mit dem wir uns doch beide neben den Künstlern aufs beste bemüht haben, einmal die verdiente Aufer- stehung findet.«

Abschied nach dem Roman von Johannes R. Becher

Produktionsland DDR, 1967/1968 Produktionsfirma DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg/DDR) (Künstlerische Arbeitsgruppe »Babelsberg«) Erstverleih Progreß-Filmverleih, Berlin Uraufführung 10. Oktober 1968, Berlin Produktionsleitung Herbert Ehler Aufnahmeleitung Horst Schmidt, Karlheinz Haarnagell Regie Egon Günther Regieassistenz: Bodo Schmidt Drehbuch Egon Günther, Günter Kunert Dramaturgie Konrad Schwalbe Kamera Günter Marczinkowsky Standfotos: Peter Dietrich, Wolfgang Ebert Bauten Harald Horn (Szenenbild) Bauausführung: Heike Bauersfeld Außenrequisite: Sigrid Weißhaas Kostüme Werner Bergemann Maske Otto Banse, Christa Eifler Schnitt Rita Hiller Ton Max Sandler Musik (aus einem Requiem) Darstellende Vater Gastl: Rolf Ludwig Mutter Gastl: Katharina Lind Hans Gastl: Jan Spitzer Großmutter: Mathilde Danegger Christine: Doris Thalmer, Fanny: Heidemarie Wenzel

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Darstellende Löwenstein: Hecke, Hartinger: Jürgen Heinrich Feck: Bodo Krämer, Freyschlag: Wilfried Mattukat Magda: Annekathrin Bürger Kreibich: Carl-Heinz Choynski Sack: Manfred Krug, Hoch: Rolf Römer Hartinger als Kind: Ralf Herrmann Feck als Kind: Jörg Jaenicke Hans Gastl als Kind: Andreas Kaden Freyschlag als Kind: Holger Paeck Xaver: Fred Delmare, Bonnet: Martin Flörchinger Förtsch: Arthur Jopp, Herr Neubert: Hans Klering Waldvogel: Wolfgang Greese Arnold: Wilhelm Gröhl, Lehrer Goll: Hans Knötzsch Kunik: Helmut Schreiber, Wirtin: Karin Frau Neubert: Hanna Donner Mutter Hartinger: Brigitte Lindenberg Spion: Eckhard Bilz, Spießer: Herbert Dirmoser Wachtmeister: Heinz Laggis, Richter: Friedrich Links Vater Hartinger: Erich Mirek, Dame: Renate Heymer Student: Ernst-Georg Schwill Schuldirektor: Werner Wieland Tuchmann: Kurt Höhne, Lehrer: Werner Kamenik König von Bayern: Heinz Kögel Fechtmeister: Hans-Eberhard Gäbel Harmoniumspieler: Friedrich Neubert Beleuchter: Walter Schüppel Manipulator: Gerd Thiemann Kellnerin: Hilmar Bodendiek Polizist: Axel Triebel, Anrufer: Otto Krieg-Helbig Dicker: Willi Neuenhahn, Lehrer: Fritz Moor Dame: Rosa Lotze, 2. Dame: Renate Prütz-Thiede Klavierspielender Knabe: Wolfgang Dietzel Klärchen: Sylvia Hafemann, Lebemann: Bodo Schmidt Bildhauer: Günter Kunert, Fritz Bogdon, Ilse Voigt Curt W. Franke, Karl-Ernst Sasse, Gert Wien, Jochen Diestelmann Sprecher: Reimar J. Baur

Zum Inhalt Hans Gastl, Sohn eines Staatsanwaltes, wächst im München vor dem Ersten Weltkrieg in saturierten Verhältnissen auf. Die Strenge des Vaters und dessen Scheinmoral – Amüse- ment mit »leichten Mädchen« – verstricken ihn in Widersprüche mit sich selbst und seinem Elternhaus. Er sucht Zuflucht bei einer Prostituierten, die zwar noch Kraft für echte Ge- fühle hat, aber nicht die Kraft, sich aus ihrem Milieu zu lösen. Gastl findet neue Freunde unter Künstlern. Doch der Krieg macht aus einigen von ihnen – einst expressive Kriegs- gegner – fanatische Kriegsbejaher. Der Künstler Sack, ein Dichter, bleibt sein einziger Gefährte. Hans Gastl trennt sich schließlich von Kindheit, Jugend, Eltern und Freunden, um seinen eigenen Weg zu suchen.

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Wenn du groß bist, lieber Adam

Es erwartet Sie ein Unikat der Kinogeschichte: Ein Film-Torso aus Szenen in Ori- ginalton, unsynchronisiert, dazu Schrift-Einblendungen von Dialogen und fehlen- den Handlungselementen. Im Wende-Winter 1989/90 wagte Egon Günther das Experiment, seine zweite Regiearbeit wenigstens so vorführbar zu rekonstruieren. Die Produktion wurde Ende 1966 noch während der Dreharbeiten auf höhere Weisung abgebrochen. Um das absurde Verbot der kleinen märchenhaften Gegenwartskomödie heute nachzuvollziehen, erscheint ein kurzer Rückblick auf die historische und kultur- politische Situation der frühen 60er Jahre angebracht. Die Abriegelung Westberlins im August 1961 brachte dem Studio durch den Verlust der S-Bahn-Anbindung Griebnitzsee manche Erschwernisse. Prominente Westberliner Künstler, die der DEFA trotz westlicher Anfeindungen die Treue ge- halten hatten, ihren Wohnsitz aber nicht aufgeben wollten, mußten die DEFA ver- lassen: Kameramänner, Szenen-, Kostüm- und Maskenbildner. Trotzdem traf die zunehmend unpopuläre Abschottung zunächst auch auf Verständnis. Die vom Währungsgefälle und der Westpropaganda angestachelte Übersiedlung Tausender und die Wirtschaftswanderung der »Grenzgänger« waren wenig beliebt bei denen, die bleiben wollten oder mußten. So war es gewiß kein tagespolitischer Opportu- nismus, daß namhafte und kritische Filmleute den Bau der Mauer im Sinne der Partei thematisierten. Manfred Krug schrieb sich die Rolle eines Kampfgruppen- mannes selbst auf den Leib für den Film Der Kinnhaken. Armin Müller-Stahl spielte die Hauptrolle solch eines Uniformierten in einem weiteren Streifen, der die Berliner Ereignisse dokumentarisch einbezog: ...und deine Liebe auch. Der folgende kurzzeitige Wirtschaftsaufschwung schien mindestens die ökono- mische Notwendigkeit der Mauer zu bestätigen. Ulbricht gedachte mit dem Neuen ökonomischen System der Planung und Leitung den zentralistischen Dirigismus zu- gunsten ökonomischer Regularien zurückzudrängen. Materielle Interessiertheit der Betriebe und Arbeitskollektive, Gewinnbeteiligung für Investitionen und Prämien sollten anstelle höherer Planauflagen die Arbeitsproduktivität steigern. Nach Chruschtschows neuerlicher scharfer Kritik an Stalin auf dem XII. Par- teitag der KPdSU im Oktober 1961 verschwanden endlich auch in der DDR die letzten Insignien des Stalin-Kults – acht Jahre nach seinem Tod. Damit waren manche Hoffnungen verbunden. Stalin sollte nicht nur aus den Straßenverzeich- nissen verschwinden. Der täglich von außen in seiner Existenz befehdete und in Frage gestellte Staat suchte zunächst eine stärkere Solidarisierung im Innern zu fördern. Das Politbüro bildete eine Jugendkommission und verabschiedete 1963 ein Jugendkommuniqué unter der Losung »Der Jugend Vertrauen und Verantwortung«. Im Schutze der Mauer blühte so die Illusion auch unter den Filmleuten, nun könne man endlich

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über die eigenen, systeminternen Probleme der sozialistischen Gesellschaft und ihre weitere Entwicklung offen und öffentlich sprechen. Heiße Eisen wurden angepackt, Tabus gebrochen. Die Justiz geriet gleich mehrfach ins Blickfeld, heikle Entwicklungen unter der Jugend wurden themati- siert, zweifelhafte Leitungspraktiken in Frage gestellt. Eine verjüngte Studio-Leitung – vom neuen Direktor Jochen Mückenberger über die Hauptverwaltung Film (Dr. Günter Witt) bis zum Kulturminister (Hans Bentzien) – solidarisierte sich mit den Forderungen der Basis nach mehr Eigenverantwortung und Abbau zentralistischer Einflußnahme und Lenkung. Überraschend machte sich Walter Ulbricht selbst eine öffentliche Kritik Frank Beyers zu eigen und forderte auf der II. Bitterfelder Konferenz 1964, »die Zahl der Instanzen um die Hälfte (zu) ver- kleinern, den Apparat (zu) vereinfachen, Schluß zu machen mit dem Hin- und Her- schieben der Verantwortung«. Die seit 1958 nach ungarischem und polnischem Vorbild entstandenen Künstlerischen Arbeitsgruppen bildeten kleine Dramaturgen- kollektive und entschieden zunehmend eigenverantwortlich über alle Phasen der Stoffentwicklung bis zum produktionsreifen Drehbuch. Die Produktionsentschei- dung lag nun im Studio, nicht mehr bei der Hauptverwaltung Film, deren Leiter be- hielt sich lediglich ein Vetorecht vor und die Staatliche Abnahme des fertigen Films. In diesem Klima entstand die erste Komödie über die unmittelbare Nachkriegs- zeit und die kleinen Händel mit der bislang öffentlich nur heroisierten sowjeti- schen Besatzungsmacht: Frank Beyers Karbid und Sauerampfer. Beschreibung ei- nes Sommers von Ralf Kirsten und Karl-Heinz Jakobs erzählte von einer in der Parteiorganisation heftig umstrittenen Baustellenliebe und wurde zum Kino-Hit. Zum Kassenknüller brachte es sogar ein Polit-Krimi: For eyes only offenbarte erstmals den Einsatz eines Top-Agenten in einer amerikanischen Geheimdienst- zentrale in der Bundesrepublik. Konrad Wolf begann die Adaption des bald befehdeten Romans Der geteilte Himmel noch während des Vorabdrucks in der Studentenzeitung forum. Er igno- rierte den Vorwurf, da werde die deutsche Teilung auf ihren tragischen Aspekte hin reflektiert. Und Der Fall Gleiwitz bereicherte die Tradition des antifaschisti- schen Films durch eine andere Sicht und neue stilistische Gestalt. Am 25. Novemver 1965 hatte ein geradezu prophetischer Titel Premiere: Der Frühling braucht Zeit von Günter Stahnke. Nur drei Wochen später nämlich sollte eine neuerliche ideologische Eiszeit die Kulturlandschaft überziehen. Im Film er- mittelt nach einer winterlichen Betriebshavarie der Staatsanwalt gegen einen lei- tenden Ingenieur wegen Fahrlässigkeit oder gar Sabotage. In Wahrheit aber geht es um die Folgen falsch verstandener Termintreue und Plandisziplin, die ein ehr- geiziger Werkdirektor gegen technische Bedenken des Fachmannes durchsetzt, angespornt von der übergeordneten Leitung, toleriert von einem unterwürfigen Gewerkschaftsfunktionär. Die Brisanz des Stoffes war offensichtlich, doch noch sahen wir uns in voller Übereinstimmung mit der Bitterfelder Konferenz und Wal- ter Ulbricht: »Große Konflikte in der Literatur und Kunst können nicht nur priva-

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ter Natur sein, ihnen liegen echte gesellschaftliche Widersprüche zugrunde (...) Von den bedeutenden Schwierigkeiten, die im Prozeß der Arbeit auftreten, werden die Werktätigen jedoch nicht ›erdrückt‹, vielmehr wachsen sie in ihrer Bewälti- gung zu vielseitig gebildeten Persönlichkeiten, wächst die Gemeinschaft, das so- zialistische Kollektiv.« Und schließlich hatte unsere Story einen optimistischen, positiven Schluß: Der zunächst recht forsche Ankläger sorgt zum guten Ende für Entlastung und Entlassung des Unschuldigen aus der U-Haft. Nach einem Roman von Manfred Bieler, der keine Druckerlaubnis erhalten hatte, drehte Kurt Maetzig den Film Das Kaninchen bin ich. Hier erscheint der Richter in weniger freundlichem Licht. Das war die erste und letzte kritische Aus- einandersetzung mit der Bevormundung der Justiz durch wechselnde parteipoliti- sche Doktrinen am Beispiel eines negativen Helden – eines willfährigen opportu- nistischen Richters. Der Film Denk bloß nicht, ich heule der jungen Autoren Manfred Freitag und Jochen Nestler, Regie Frank Vogel, folgte der Aufforderung des Jugendkommuni- qués, die realen Probleme und Widersprüche ernst zu nehmen, die es in der Ent- wicklung und Erziehung der Nachkriegsgeneration zu jungen Sozialisten zuneh- mend gab. Auch hier stand im Mittelpunkt ein sogenannter gebrochener Held, ein wegen politischer Aufmüpfigkeit relegierter Oberschüler, der im Grunde nur ge- gen Doppelzüngigkeit und opportunistische Heuchelei in der Schule aufbegehrt. Die beiden Filme waren noch nicht veröffentlicht, noch nicht einmal staatlich zugelassen, da trat am 16. Dezember 1965 das ZK der SED zu seiner 11. Tagung zusammen. In Moskau hatte Leonid Breshnew inzwischen Chruschtschow ab- gelöst. Moskauer Kritik am DDR-Wirtschaftskurs und ein langfristiges Handels- abkommen drohten die ökonomischen Probleme der DDR weiter zu verschärfen, von der westlichen Embargo-Politik kräftig befördert. Einen Tag vor der Unter- zeichnung der Verträge beging der Wirtschaftsexperte im Politbüro, der Planungs- und stellvertretende Regierungschef Erich Apel Selbstmord. So wurde das angekündigte Wirtschaftsplenum zum Kunst- und Kulturtribunal umfunktioniert. Mit dem Bericht Erich Honeckers begann ein Rundumschlag gegen Kunst, Publizistik und Jugendkultur. Darin wurden »Modernismus«, »Skeptizis- mus«, »Nihilismus«, »moralzersetzende Philosophien«, »Pornographie« und andere Formen der »amerikanischen Lebensweise« entdeckt. Der Leipziger SED-Bezirk- schef Paul Fröhlich geißelte »widerwärtige dekadente Lebensformen«, etwa »in Gestalt der Beatles«. Er forderte vom Finanzminister Sanktionen gegen die DEFA. Kurt Hager suchte die tiefere Ursache unserer ideologischen Verirrungen vor allem in der »Entfremdungstheorie«, der »Nachahmung Kafkas« in solchen Filmen wie Der Frühling braucht Zeit und Das Kaninchen bin ich. »Wenn in den Beziehungen zwischen dem einzelnen und dem sozialistischen Staat und seinen Organen eine ausgesprochene Kälte vorherrscht, wenn ein feindseliger Kontrast des Individuums zu Leitern, Funktionären, Eltern, Lehrern konstruiert wird, so haben die betreffen- den Autoren ein ›gebrochenes Verhältnis‹ zu unserem Staat.«

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Zur Demonstration unserer moralischen und ideologischen Verfehlungen wur- den dem Plenum die genannten Filme von Vogel und Maetzig vorgeführt. Weitere Buch- und Filmtitel wurden samt ihren Schöpfern und Leitern einer geradezu in- quisitorischen Stimmung im Saal ausgeliefert. Eine einzige, verlorene Stimme wagte Widerspruch, mahnte Mäßigung im Umgang mit Kunst und Künstlern an – die von Christa Wolf, Kandidatin der ZK. Das war sie danach nicht mehr lang. Und sie ahnte wohl bereits, daß auch ihr neuer Film Fräulein Schmetterling (Drehbuch mit Gerhard Wolf, Regie Kurt Bar- thel) in den Strudel weiterer Verdikte hineingerissen würde bis zum Verbot von Frank Beyers Spur der Steine nach kurzer Laufzeit Anfang Juli 1966. Eine externe Kommission nahm inzwischen alle in Arbeit befindlichen Filme und Bücher ins Visier und schickte eine halbe Jahresproduktion in den Keller. Selbst zeitgeschichtliche Titel blieben nicht verschont: Die Russen kommen von Claus Küchenmeister und Heiner Carow, ein Barlach-Film von Ralf Kirsten – Der verlorene Engel. In der Mehrzahl aber traf es Gegenwartsgeschichten: Jahrgang 45 von Jürgen Böttcher, Karla von und Herrmann Zschoche, Berlin um die Ecke von Wolfgang Kohlhaase und Gerhard Klein, selbst eine harmlose Kriminalkomödie, Hände hoch oder ich schieße!, von Rudi Strahl und Hans-Joachim Kasprzick mußte dran glauben. Sie alle hatten wohl Walter Ulbrichts ernste Mahnung auf der Bitterfelder Kon- ferenz nicht richtig verstanden oder überhören wollen: »Ein Künstler, der die Wahr- heit und das Ganze im Auge hat, kann nicht vom Blickpunkt eines empirischen Be- obachters schaffen. Er braucht unbedingt den Blickwinkel des Planers und Leiters«. Wessen Blickwinkel war da wohl gemeint? Letztlich wohl der der Parteiführung. Vielleicht entdecken Sie heute, warum dem kleinen Adam mit seiner Zauber- lampe damals der »Blickpunkt des Planers und Leiters« abgesprochen wurde. Die Dramaturgin des Films, Traudl Kühn, und ihr Mann, Dr. Werner Kühn, damals Parteisekretär im DEFA-Spielfilmstudio, können in der Diskussion danach helfen, das Geheimnis zu lüften.

Wenn Du groß bist, lieber Adam

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Premierendatum 6. Februar 1990/18. Oktober 1990 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Egon Günther Regie-Assistenz: Lothar Warneke

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Drehbuch Helga Schütz und Egon Günther Dramaturgie Gertraude Kühn Kamera Helmut Grewald Kamera-Assistenz: Klaus Groch 2. Kamera: Hans-Jürgen Reinicke Standfotos Kurt Schütt Bauten Alfred Hirschmeier Kostüm Rita Bieler Maske Lothar Stäglich, Christa Grewald Schnitt Monika Schindler Musik Wilhelm Neef Produktionsleitung Martin Sonnabend Aufnahmeleitung Oskar Ludmann, Heinz Schwoch Ton Bernd Gerwien Darstellende Adam: Stephan Jahnke, Tember: Gerry Wolff Konstantin: Manfred Krug, Caroline: Daisy Granados Erasmus: Rolf Römer Eisenreich: Hanns Anselm Perten Direktor: Wolfgang Greese, Minister: Günther Simon Frau Sonnenberg: Mathilde Danegger Regisseur: Fred Delmare Regie-Assistent: Günter Junghans Frau Tember: Christel Bodenstein Dr. Müller: Gerd Beinemann Gärtner Leopold: Walter E. Fuß Journalist vom »Frauenorgan«: Arthur Jopp Konstantins Freundin: Marita Böhme, Jutta Hoffmann

Zum Inhalt Der kleine Adam lebt mit seinem Vater allein, da seine Mutter auswärts studiert. Adam ist schlau und gewitzt, dank der vielen Bücher, die ihm Onkel Konstantin, ein Pfarrer, zu lesen gibt. Eines Tages bezahlt er in der Straßenbahn für einen schwarzfahrenden weißen Schwan das Fahrgeld. Der schenkt ihm dafür eine Taschenlampe, die die Eigenschaft be- sitzt, jeden, der lügt, in ihrem Schein schweben zu lassen. Adam möchte zusammen mit sei- nem Vater viele solche Lampen herstellen, aber keiner interessiert sich dafür.

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Der Dritte

Zur gleichen Stunde wie unsere Veranstaltung beginnt im Filmmuseum Potsdam eine Filmnacht, die Egon Günther in sein 81. Lebensjahr hinein begleitet. So sei es erlaubt, seinem sechsten Kinofilm ein paar filmbiographische Informationen voranzuschicken. Günthers anheimelnder Tonfall verrät noch nach sechs Jahr- zehnten seine erzgebirgische Herkunft und Kindheit in Schneeberg. Der Arbeiter- sohn lernte Schlosser und Konstruktionszeichner. Dann wurde auch er noch Sol- dat. Die Erfahrung in einer Fallschirmtruppe auf Kreta reflektierte er in seinem zweiten Roman. Der Kretische Krieg erzählt von der verlustreichen faschistischen Eroberung der Insel im Kampf gegen das griechisch-englische Expeditionskorps und vom einheimischen Widerstand gegen die Besetzung bis zur Befreiung im Mai 1945. Das Kriegserlebnis und die Sozialisation im Osten prägten Günthers weitere Biographie und seine spätere künstlerische Arbeit. Hier konnte er nach kurzer Kriegsgefangenschaft Neulehrer werden und 1948 – 51 an der Karl-Marx-Univer- sität in Leipzig Germanistik, Pädagogik und Philosophie studieren. Es folgte die Arbeit als Lehrer und Verlagslektor, schließlich ein kurzes Volontariat am Berliner Ensemble. Der junge Mann hatte frühe literarische Neigungen bereits mit Laienspielen und Dramen erprobt. Ein Gedichtband gemeinsam mit Reiner Kunze trug noch den optimistischen Titel Die Zukunft sitzt am Tische. Mit solchen literarischen Ta- lentbeweisen empfahl sich Egon Günther 1958 der DEFA in Babelsberg als Dra- maturg und Autor. In vier Jahren entstanden fünf Filme nach seinen Szenarien: 1960 Der Fremde und Ärzte, 1963 Jetzt und in der Stunde meines Todes, 1964 Alaskafüchse. Unter dem Titel Das Kleid hatte Konrad Petzold im Herbst 1961 Egon Günthers Version von Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider gerade abgedreht, geschnitten und vorgemischt, als die Grenze zu Westberlin dicht- gemacht war. Der eben neu ernannte Studiodirektor Jochen Mückenberger bean- tragte gar nicht erst die Staatliche Abnahme. »Vierzig Prozent«, so erinnerte er sich später, »spielten sich vor, auf oder hinter einer Stadtmauer ab… Jeder Satz dort hatte eine Beziehung zur Gegenwart und der Situation, die gerade eingetreten war.« So wurde Egon Günther lange vor dem 11. Plenum mit seinem ersten Film- verbot konfrontiert. Es darf sehr bezweifelt werden, ob die Parabel vom nackten Kaiser, den das Volk verlacht, das ihn eben noch bejubelte, die Abnahmehürde selbst ohne diese unvorhersehbaren Mauer-Analogien genommen hätte. Zunehmend unzufrieden mit der Inszenierung seiner Szenarien, war der so erfahrene Filmautor Egon Günther längst für die eigene Regie prädestiniert. Zusammen mit seiner Frau Helga Schütz schrieb sich Egon Günther 1964 sein Regie-Debüt: Lots Weib. Das war eine kleine Gegenwartsgeschichte, von eher

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unüblicher DEFA-Art: Eine emanzipierte Frau, Sportlehrerin und Mutter zweier Kinder, möchte ihre in Routine erstarrte Ehe beenden, doch ihrem Mann, Offizier der Volksmarine, genügt die funktionierende Wochenendbeziehung. Er verweigert die Scheidung, die sein Ansehen als vorbildlicher Genosse zu beschädigen droht. Nur mit der List eines kleinen Kaufhausdiebstahls samt den erwarteten und man- chen überraschenden Reaktionen der Umwelt bis zum Gericht erzwingt die junge Frau die gewünschte Trennung. Dem provokanten Fabel-Plot entsprach ein heite- rer, zuweilen ironischer Grundton der Inszenierung, der menschliche Schwächen und fragwürdige gesellschaftliche Verhaltensmuster kritisch beleuchtete, ohne sie schwergewichtig zu problematisieren. Da war ein neuer, frischer Ton im DEFA- Gegenwartsfilm angeschlagen, der ganz und gar Günthers Arbeitsdevise ent- sprach: »Ich will versuchen, Filme zu machen, die auffallen. Die sollen ruhig Feh- ler haben, aber nicht unaufrichtig, lau oder mittelmäßig sein.« Um Ernstes auf komödiantische Weise zu vermitteln, hatte er noch während der Arbeit am Adam an einem erhofften Anschlußprojekt mitgeschrieben, einer Filmfassung von Helmut Baierls Schauspiel Frau Flinz. In dialektischer Umkehr der Mutter-Courage-Konzeption, wiederum für erfunden, stand das nationalpreisgekrönte Stück noch immer auf dem Spielplan. Die Titelheldin, Landarbeiterfrau aus dem Böhmischen, hat ihre Heimat und ihren Mann an den Krieg verloren, nun verliert sie ihre listig geretteten fünf Söhne an den neuen Staat, den sie beargwöhnt wie den alten. Ihr Gegenspieler, der Parteifunktionär Fritz Weiler, bekam in der Filmfassung mehr Gewicht und gab ihrer Wandlung bis zur Vorsitzenden einer frühen LPG stärker als im Stück die wichtigsten Impulse. Doch gerade diese Beziehung zwischen Partei und Volk führte zum Streit und Produktionsverbot für die inzwischen dritte Drehbuch- fassung, ausgerechnet am 6. Oktober 1966: »Nach nochmaliger Überprüfung möchten wir die am 1. 7. 1966 erfolgte Freigabe durch die HV Film zurückziehen. Obwohl im Drehbuch die für die Weiterentwicklung des Szenariums gegebenen Hinweise im wesentlichen berücksichtigt wurden, erscheint aufgrund zurücklie- gender Erfahrungen die Verfilmung nicht geeignet. Mit freundlichem Gruß i.V. Schauer.« Dem spärlichen Schriftsatz war eine heftige Debatte mit den Vertretern der HV Film im Studio vorangegangen. Die sahen im Gegensatz zur Handlungszeit der 50er Jahre inzwischen »die Landwirtschaft in großem Aufschwung begriffen« und »die Dialektik der Beziehung von Partei, Klasse, Führung und Masse nicht erfaßt«. »In der gegenwärtigen Etappe übernimmt die Kunst eine prinzipiell neue Aufgabe als Planer und Leiter gesellschaftlicher Prozesse. Es geht um die Unter- ordnung unter die Führung der Partei als einzig möglichem Weg der weiteren Ent- wicklung. Gefährliche Experimente um die Frage Spontaneität und Bewußtheit dürfen nicht gemacht werden.« Da tönte noch einmal das 11. Plenum, und es drohte der nächste, der VII. Parteitag »zu einer Zeit, in der die führende Rolle der Partei immer mehr verstärkt wird«, so die Prophezeiung.

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Zum Glück konnten wir gerade in dieser Zeit die Bucharbeit für die Becher- Adaption Abschied beginnen, so daß für den Mitautor Günther keine lähmende Arbeitspause entstand. Nach dem Verbot des kleinen Adam und der Katastrophe der Kino-Sperre für die zunächst hoch gelobte Becher-Verfilmung lockte Adlershof den Regisseur mit einem interessanten Fernseh-Angebot. Da eigene Intentionen für Gegenwarts- geschichten im Studio wiederum auf Ablehnung und Skepsis stießen, man kann es in meinen Erinnerungen nachlesen, kehrte Günther gern in die Geschichte und zum Kriegsthema zurück. Für den Bildschirm inszenierte er die zweiteilige Roman-Adaption Junge Frau von 1914 nach Arnold Zweig. Merkwürdiger Zufall: Der Fernsehfilm beginnt, wo Abschied endet – mit dem Kriegsanfang 1914, den die wiederum jungen Protago- nisten in München erleben. Auch diesmal ist das Thema die Absage der Jungen an die bürgerliche Gesellschaft. Drei Jahre später folgte in Günthers Regie die drei- teilige Fernsehversion Erziehung vor Verdun, wieder nach Zweig. Auch dies ein packender Antikriegsfilm und ein bestechend vielschichtiges Gesellschaftspan- orama. Zugleich nutzte Günther das historische Sujet für ein ästhetisches Experi- ment. Für unterschiedliche thematische Sequenzen wählte er verschiedene Farb- tönungen der Kopie, für das bürgerliche Ambiente der Titelfigur gelb-bräunlich, das kältere Grünlich-gelb für die Kriegsbilder sowie das Dokumentarfilmmaterial aus DDR- und französischen Archiven. Dem Regisseur galt die Nachinszenierung von Kampfszenen à la Hollywood oder Babelsberg als realitätsfeindlich. Den Ge- genwartsbezug verstärkte er durch eine quasi-dokumentare Ebene: Man sieht den Hauptdarsteller Klaus Piontek am Anfang und am Ende im zeitgenössischen Frankreich, so auch im Beinhaus von Douaumont, einem Beispiel fragwürdiger Geschichtsvermarktung. Per Zufall geriet ihm dort auch noch eine martialische Abschiedsparade für einen General vor die Kamera, neben anderen Stilmitteln der Verfremdung ein Versuch, das Sujet zu enthistorisieren. Zu unser aller Überraschung inszenierte Egon Günther zwischen den histori- schen Panoramen ein Gegenwartsstück für Adlershof, freilich nach eigenem Drehbuch. Der öffentlich hoch gelobte Szenarist Benito Wogatzki, das Produk- tionsthema und der symbolträchtige Titel Anlauf ließen eine weitere zeitgenös- sische Bildschirmpropagierung der wissenschaftlich-technischen Revolution in einem Betrieb des Apparatebaus befürchten. Doch Günther ging es nur vorder- gründig um den schwierigen Anlauf der Serienfertigung elektronischer Aggre- gate. Ins Zentrum rückte er die Liebesgeschichte zwischen einer jungen, emanzi- pierten Arbeiterin und einem Forschungsingenieur. Durch eine für Adlershof überraschend unkonventionelle, ja untypisch zu nen- nende Besetzung der Hauptrollen mit Jutta Hoffmann und Eberhard Esche wurde diese Arbeit zum Bildschirmereignis in der Gegenwartsdramatik. Egon Günther erprobte einen wiederum gänzlich unorthodoxen Inszenierungsstil. Er nutzte be- argwöhnte Mittel des Cinema verité, aber auch Verfremdungstechniken. Die Dar-

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steller treten zuweilen aus ihrer Rolle heraus, sprechen den Zuschauer durch das Spiel in die Kamera direkt an oder leisten sich mit Regie-Duldung szenische Im- provisationen. Das alles war im gängigen Realismus-Verständnis bis dahin tabu, jedenfalls außerhalb der komischen Genres oder der reinen Unterhaltungsformate. Mit dem Film Der Dritte kehrte Egon Günther endlich zum DEFA-Spielfilm zurück. Er hatte Babelsberg im Grunde nie verlassen. Alle seine Fernseharbeiten entstanden im Rahmen der staatlich geplanten DEFA-Dienstleistungen für Adlers- hof mit den vom Regisseur gewünschten künstlerischen Partnern für Kamera, Szenen- und Kostümbild oder Schnitt, mitsamt künstlerisch-technischem Arbeits- stab und den vertrauten großen Ateliers aus Ufa-Zeiten. Ganz kurz nur zum Film Der Dritte. Er markiert in der reichen Tradition des DEFA-Frauenfilms einen wichtigen Einschnitt. Mit dem Ende der Ulbricht-Ära und dem Amtsantritt Honeckers verbanden sich manche Hoffnungen auf eine wirklich- keitsbewußtere Politik der maßvoll verjüngten Führung und einen freieren, öffentli- chen Umgang mit den Problemen und Widersprüchen im gesellschaftlichen und pri- vaten Lebensraum. Eberhard Panitz hatte die Protagonistin der Titelfigur Margit Fließer bei Recherchen im Erdöl-Kombinat Schwedt gefunden und in einer Erzäh- lung gestaltet. Aus Material und Motiven der ursprünglichen Reportage entwickelte Günther Rücker bereits 1967/68 ein Szenarium, das erst in der Umbruchzeit des neuen Jahrzehnts in Günthers Hände geriet. Jutta Hoffmann hat nach der Wende ihren Eindruck vom Manuskript als »dröge« beschrieben und vom Regisseur, der ihr wiederum die Hauptrolle antrug, »einen ganz anderen Drive« gefordert. Wie sie sehen werden, hat der Regisseur dieser Erwartung mit seinem Dreh- buch und in der Arbeit mit großartigen Darstellern und vielfältigen stilistischen, auch komödiantischen Mitteln erfüllt. Kein Wunder, daß die sehr unkonventio- nelle Sicht auf Emanzipation und DDR-Sozialisierung dem Publikum unten mehr gefiel als manchem Genossen mit Führungsblick. Jutta Hoffmann erinnert sich an den Unmut Kurt Hagers, ihres Platznachbarn im Präsidium des II. Film-Verbands- kongresses. Der monierte den respektlosen filmischen Umgang mit geheiligten Traditionen. Auch Inge Lange soll im Namen des DFD die Beziehung der beiden jungen Frauen im Film scharf gerügt haben. Und Egon Günther hörte von Werner Lamberz, man habe oben »lange über den Dritten beraten«. Erst der Große Preis in Karlovy Vary habe die Kulturfunktionäre versöhnlicher gestimmt. Dort wurde Egon Günther Zeuge eines Gesprächs zwischen Kulturmi- nister Hoffmann und seiner Frau. Zitat Günther: »Weißt du noch, Joachim, als es so weit war, daß wir wußten, ob wir ihn herausbringen oder nicht. Und jetzt sind wir doch froh, daß wir ihn herausbringen.« Egon Günthers Vermutung aber, die Journalisten hätten Weisung gehabt, den Preis zu würdigen, »den Günther aber links liegen(zu)lassen!« mag eher dem Blick zurück im Zorn geschuldet sein. Ein halbes Jahr nach der Premiere erhielt der Regisseur, hochverdient, den National- preis …

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Der Dritte

Regie Egon Günther Regie-Assistenz: Elke Niebelschütz Drehbuch Egon Günther Szenarium Günther Rücker Dramaturgie Werner Beck Kamera Erich Gusko Kamera-Assistenz: Ingo Raatzke; Heinz Wenzel Licht Werner Baatz Bauten Harald Horn Bau-Ausführung: Franz F. Fürst; Erich Kulicke Außenrequisite: Siegfried Wittke Kostüme Christiane Dorst Maske Horst Schulze; Margot Friedrichs Schnitt Rita Hiller Ton Werner Blass Darstellende Margit: Jutta Hoffmann Lucie: Barbara Dittus Hrdlitschka: Rolf Ludwig Blinder: Armin Mueller-Stahl Bachmann: Peter Köhncke Oberin: Erika Pelikowsky Junge Frau: Christine Schorn Junger Mann: Jaecki Schwarz Lucies Freund: Klaus Manchen Vorsitzender: Walter Lendrich Hrdlitschkas Mutter: Ruth Kommerell Mann mit Sessel: Fred Delmare Geistlicher: Christoph Beyertt weiter: Ute Garnitz, Tamara Doege, Hans-Edgar Stecher, Klaus Fiedler, Armin Mechsner, Klaus-Jürgen Tews, Kurt Heinicke, Rita Hempel, Ute Lubosch, Gerda Biok, Sabine Oehl, Hannelore Freudenberger, Willi Schrade, Hildegard Friese, Joachim Raschka, Detlef Witte, Dorothea Meissner, Sylvia Neef, Gudrun Jochmann, Wolfgang Pampel, Victor Keune, Hans Flössel, Matthias Molter, Hans Feldner, Cornelius Köhntges, Anita Noack Produktionsfirma DEFA-Studio für Spielfilme, KAG »Berlin« (Potsdam-Babelsberg)

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Produktionsleitung Heinz Mentel

Aufnahmeleitung Paul Lasinski; Karl-Heinz Rüsike; Kurt Brandenburg Länge 3036 m, 111 min Format 35mm Bild/Ton Farbe Aufführung Uraufführung (dd): 16. März 1972, Berlin, International

Zum Inhalt Margit ist 36 Jahre, war zweimal verheiratet, hat aus jeder Ehe ein Kind. Sie hat studiert und arbeitet als Mathematikerin. So kann sie gut für sich und ihre beiden Kinder sorgen. Was ihr fehlt, ist – trotz zweier gescheiterter Beziehungen – ein Partner. In Rückblenden wird ihre Lebensgeschichte noch einmal erzählt: Diakonissenschule, Arbeiter- und Bau- ern-Fakultät, Liebesverhältnis zu ihrem Dozenten, erste Schwangerschaft, gescheiterte Be- ziehung. Ihr zweiter Mann, ist ein blinder Musiker, der mit sich selbst nicht zurecht kommt, auch nicht mit nun zwei Kindern. Margit entdeckt schließlich einen Dritten, Hrdlitschka, der sie aber nicht bemerkt. Da beschließt Margit, offensiv zu werden und, gegen alle Kon- vention, Hrdlitschka anzusprechen und nicht mehr loszulassen.

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Lotte in Weimar

Dramaturg Walter Janka hatte Lotte in Weimar schon sehr früh ins Gespräch ge- bracht, als Film-Hommage zum 100. Geburtstag Thomas Manns im Juni 1975. Nach unseren vergeblichen Bemühungen um drei Gegenwartsstoffe Egon Günthers, 1 ich habe sie in meinem Buch beschrieben, wollten wir dem Regisseur damit end- lich eine anspruchsvolle Produktionsperspektive sichern. Doch da stand die delikate Frage der Verfilmungsrechte im Raum. Ein DDR- konformes finanzielles Arrangement war nur noch zu Lebzeiten von Katia Mann zu erhoffen. Mit ihr und Tochter Erika stand Walter Janka in engem Kontakt. Als Leiter des Aufbau-Verlags hatte er die erste zwölfbändige Gesamtausgabe des Zauberers herausgebracht, und die Familie Mann hatte es ihm nach seiner Inhaf- tierung 1957 durch Bittschriften bis zu seiner vorzeitigen Entlassung aus Bautzen Weihnachten 1960 entgolten. Fünf Jahre vor dem Jubiläum übermittelte ich dem Leiter der HV Film, Günter Klein, unseren Vorschlag mit amtsfreundlicher kulturpolitischer Argumentation. Wir baten um Information des Kulturministers und die Vollmacht, Katia Mann eine kleine Erlösbeteiligung aus eventuellem Verkauf ins westliche Ausland anzu- bieten – wie schon Marta Feuchtwanger beim Goya-Film. So hofften wir, unge- achtet anderer Preise im Westen, die DDR-Fix-Summe von 25 000 DM auch für den weltweit bekannten Roman des Literatur-Nobel-Preisträgers durchzubringen. Für den Filmminister wurde zunächst einmal eine Stellungnahme des Aufbau- Verlags angefordert und die Beratung durch Cheflektor Peter Goldammer. Walter Janka verweigerte ein Gespräch mit ihm, Goldammer, in der Französischen Straße. Er fühlte sich vom Verlag verraten und noch immer diskriminiert. Die unsinnige Verlagsvormundschaft konnte abgewendet werden. Sie hätte das Projekt unwei- gerlich blockiert. Im August 1970 durfte Janka das DEFA-Interesse endlich auch offiziell bestätigen und vertragliche Lösungen wie mit Marta Feuchtwanger zusi- chern. Um die heikle Offenlegung der Verkaufserlöse zu vermeiden, wurde im Mai 1971 eine etwas höhere Devisenzahlung in drei Jahresraten vereinbart. Für die Dreharbeiten warben wir um das Wohlwollen der Gedenkstätten der deutschen Klassik in Weimar. Der Stab brauchte Zugang zum Goethe-Haus und die Erlaubnis, dem Interhotel Elephant seine historisch verbürgte äußere Gestalt trickreich zurückzugeben. Mit einem Beratervertrag stimmten wir den Generaldi- rektor der Gedenkstätten Helmut Holzhauer freundlich. Als Vorsitzenden der einst gefürchteten Staatlichen Kunstkommission nannten ihn die von ihm oft geschol- tenen Künstler gern »Professor Holzhammer«.

1 Gruppe Babelsberg Unsere nicht gedrehten Filme, Das Neue Berlin 2000

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Jankas Besuch mit Egon Günther bei »Frau Thomas Mann« in Kilchberg am Zürichsee war dank seiner langjährigen guten Beziehungen zur Familie erfolg- reich. Er kam mit dem unterschriebenen Vertrag zurück. Die DEFA sorgte immer- hin dafür, daß der Dramaturg mit seiner Frau 1973 der Einladung Katia Manns zu ihrem 90. Geburtstag folgen konnte. Das Szenarium lag Ende 1973 vor und ging postwendend zur Begutachtung durch Katia und Golo Mann nach Zürich, Erika war da schon tot. Berlin nahm das Projekt nicht weniger wichtig. Günter Klein, assistiert von zwei Gelehrten, dem kurzzeitigen ersten und letzten Chefdramaturgen der HV Film, Prof. Bernd Bittighöfer und dem Literaturwissenschaftler Heinz Plavius, bestand auf persönlichem Vortrag der Regiekonzeption. Amtlich erwünscht war die »kulturgeschichtliche Vertiefung der Dialektik von Auf- und Abbau des Klas- sikbildes in Gestalt des Goethe-Sohnes August«. Das konnte Egon Günther mit dem Hinweis abwehren, daß das Szenarium bereits um ein Drittel, also ganze 1 000 Meter zu lang sei. Allein bei der Besetzung kam es in der Hauptverwaltung zum Dissens, doch ausnahmsweise nicht mit ihr. Der Regisseur, in seinen Intentionen allseits ermutigt, hatte zunächst kühne Vorstellungen von einer prominenten internationalen Besetzung der heimlichen Hauptrolle des Romans, des alten Goethe, nämlich mit dem Weltstar Max von Sy- dow, dem vielmaligen Hauptdarsteller Ingmar Bergmans. Ungeachtet aller Zwei- fel, ob sich denn diese so gar nicht porträtähnliche Wahl allein schon aus finan- ziellen Gründen realisieren ließe, wußte ich den ausgefallenen Dienstreiseantrag mit den schönsten Hoffnungen zu begründen. Unsere Verfilmung werde an internationaler, vor allem Festival-Reputation mit einem solchen Namen sehr gewinnen und die Verkaufschancen über den deutsch- sprachigen Raum hinaus erheblich verbessern. Der DEFA-Außenhandel, nicht nur dem Kultur-, sondern auch dem Außenhandelsministerium unterstellt, sah solche Besetzungswünsche ungern. Man fürchtete, später für etwaige Valutaforderungen in Anspruch genommen zu werden. Immerhin, Egon Günther konnte die Offerte in Stockholm persönlich überbringen. Die Antwort des vielbeschäftigten Schauspielers wäre auf dem Postweg billi- ger zu haben gewesen. Von Sydow zeigte sich vom DEFA-Regisseur und dem Rollenangebot geehrt, doch andere Filmaufgaben und feste Theaterverpflichtun- gen standen seinem Interesse entgegen. Nun dachte der Regisseur an Wolf Kaiser. Der einstige Star des Berliner En- semble, inzwischen fast eine Art Serien-Held des Fernsehens in öffentlich hoch gelobten, unter Kollegen recht umstrittenen Gegenwartsfilmen, neigte kräftig zum Chargieren. Ihn wollte Walter Janka als Goethe um keinen Preis akzeptieren. Günter Klein beendete die Debatte mit der sehr überraschenden Auskunft, die HV mische sich in künstlerische Fragen nicht ein. Das war allerdings neu. Prof. Albert Wilkening, nach dem 11. Plenum nur noch Produktionschef, schlug vor, Martin Hellberg für die Goethe-Rolle zu gewinnen. Er sah sich dabei

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auch in der moralischen Pflicht, dem langjährigen, nicht immer glücklichen DEFA-Regisseur und großartigen Darsteller eine ihm gemäße Aufgabe zu über- tragen. Hellberg, zuletzt Generalintendant des Staatstheaters , war vom Rat des Bezirks auf skandalöse Weise fristlos gekündigt und in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden. Der Weltfriedens- und mehrfache Nationalpreisträger lebte mit seiner neuen jungen Familie inzwischen in der Thüringer Provinz. Er hatte zwar schon einen Platz in Günthers Besetzungsliste, aber nur in einer eher bescheidenen Charge, neben anderen an Goethes Tafel zum »kleinen« Empfang zu Ehren der von weit her gereisten alternden Jugendliebe Lotte, alias Charlotte Kestner, geb. Buff, die einst dem Dichter Modell stand für den Werther-Roman. Hellberg bekannte, er habe aus Ehrfurcht vor der Goethe-Gestalt zunächst ein- mal gezögert. Doch er mußte nicht lange überredet werden und sah in dieser Auf- gabe bald schon die ihm gebührende Rolle seines weiteren Lebens. Als er seinen jungen Regiekollegen allerdings mit einer eigenen Drehbuch-Version für seinen Part konfrontierte, war es um Egon Günthers Fassung und sprichwörtliche Lie- benswürdigkeit geschehen. Doch nach einem recht prinzipiellen Gespräch, mode- riert vom erfahrenen Produktionsleiter Erich Albrecht, war fortan die wünschens- werte Harmonie im Atelier gesichert, die Rollenverteilung am »Set« definitiv geklärt. Die Verwandlung des vitalen Mimen in den altehrwürdigen Dichter, Denker und Staatsmann gelang überzeugend. Hellberg hatte das imposante Kostüm von Christiane Dorst und das glaubwürdige Maskenbild Günther Hermsteins durch braune Haftschalen komplettiert und war so naturnah in die Haut des Idols ge- schlüpft. Später erwarb er das Kostüm, um noch lange danach Goethe-Lesungen im Originalgewand zu zelebrieren. Eine frühe Autogramm-Postkarte im ordenge- schmückten schwarzen Rock des Staatsministers trägt das Datum vom 11. Juli 1975 und die altväterliche Widmung »Meinem immer zu lebendigem Ringen an- regenden Dieter Wolf sein alter ›Goethe‹ alias Prof. Martin Hellberg – Dein Mar- tin «. Na, wenn das nichts ist ... Die Probeaufnahmen hatten noch gar nicht recht begonnen, die Besetzung der Lotte-Darstellerin jedenfalls war noch nicht spruchreif, auch wenn schon mal die »Oma vom Dienst«, Mathilde Danegger, genannt wurde. Da kam es zu dem ein- maligen Vorgang in der Produktionsgeschichte der DEFA. Lilli Palmer bekundete dem Studio über ihre Agentur und Egon Günther per Telefon persönlich ihr drin- gendes Interesse. Dieses Angebot, so erzählt der Regisseur, sei auf heftigen Wi- derstand gestoßen. Nicht nur der DDR-Aktricen, die die Hauptrolle für sich er- hofften. Das habe ihn auf die Idee gebracht, den Ex-England-Emigranten Kurt Hager höchstselbst um die Genehmigung zu bitten, »die englische Staatsan- gehörige und große Schauspielerin« zu besetzen. Der Erfolg ist bekannt. Die Zusammenarbeit mit dem Weltstar erwies sich ungeachtet mancher Skep- sis als konfliktfrei. Sie wunderte sich allein über das im Westen unvorstellbare Privileg ihrer mitfilmenden Kollegen der Berliner Theater, die zuweilen erst ver-

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spätet von ihren morgendlichen Proben kamen oder wegen der Abendvorstellung den Drehort verfrüht verließen. In der Zeit ihres DDR-Aufenthalts jedenfalls wa- ren von ihr keinerlei Beanstandungen zu hören. Im Gegenteil. Sie lobte in Kennt- nis anderer Praktiken die moderaten Tagespensen und die ruhige, kreative Atmo- sphäre im Atelier. Als sie einmal von Zensur und davon klagen hörte, daß es »hinter den Kulissen« zuweilen heiß hergehe, wußte sie Trost. Das Politbüro sei doch weit und selten zu vernehmen, im Westbetrieb stehe der Produzent täglich hinter der Kamera ... Mit so verständnisinnigen Urteilen war es bald nach der Welturaufführung im Mai 1975 in Cannes vorbei. Hier präsentierte sie noch ihren Film in schönster Harmonie gemeinsam mit Egon Günther, Jutta Hoffmann und Martin Hellberg. Zur Berliner Premiere am 6. Juni aber wollte sie nicht erscheinen, weil ihr Wunsch nach einer »gesamtdeutschen Premiere in Lübeck«, nicht erfüllt wurde. Selbst wenn solch ein Ereignis dort am Geburtstag Thomas Manns organisierbar gewe- sen wäre, die DDR war zu Beginn neuer West-Ost-Beziehungen an einer Demon- stration für die drüben gepredigte »einheitliche deutsche Kulturnation« nicht interessiert. Das von Berlin geforderte Kulturabkommen zwischen beiden deut- schen Staaten war noch in weiter Ferne, und das lag keineswegs an der DDR. Selbstverständlich wollte man eine repräsentative Delegation gern in die Bundes- republik entsenden, sobald sich ein Verleiher gefunden hätte ... Das Berliner Premierenpublikum jedenfalls feierte die Beteiligten mit langem Applaus, der sicherlich auch der abwesenden Frau Palmer galt. Sie aber glaubte wohl, einer hämisch-giftigen Öffentlichkeit im Westen eine Art Rechtfertigung für ihre Mitarbeit an einem DEFA-Film zu schulden, als sie neugierigen Journali- sten nur noch Abfälliges über ihren Ausflug in den Osten zu berichten wußte. Drei Jahre nach dem Ausscheiden aus der Festanstellung endete mit Lotte in Weimar Walter Jankas so erfolgreiche Arbeit als Dramaturg, die er nach seinem kämpferischen Lebensweg und seiner so verdienstvollen Verlegertätigkeit in sei- nen Memoiren nur noch als sinnvollen Broterwerb betrachten wollte. Ein gutes Jahrzehnt verspätet erhielt er den Heinrich-Greif-Preis, den wir für ihn schon nach der Premiere des Goya-Films beantragt hatten ...

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Lotte in Weimar

Produktionsland DDR, 1974/1975 Produktionsfirma DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) (Künstlerische Arbeitsgruppe »Babelsberg«) Produktionsleitung Erich Albrecht Aufnahmeleitung Dieter Krüger, Karl-Heinz Rüsike, Theo Scheibler Erstverleih Progreß-Filmverleih, Berlin Uraufführung 15. Mai 1975, Berlin Kino International Regie Egon Günther Regieassistenz: Elke Niebelschütz Drehbuch / Szenarium Egon Günther Dramaturgie Walter Janka Kamera Erich Gusko Kamera-Aissistenz: Ingo Raatzke Standfotos: Wolfgang Ebert Licht Horst Döring Bauten Harald Horn Bauausführung: Erich Kulicke, Franz F. Fürst, Wolfgang Kiehl Kunstmaler: Alfred Born Requisite Wolfgang Wintz (Bühnenmeister) Außenrequisite: Werner Gießler Kostüme Christiane Dorst Maske Günter Hermstein, Ursula Funk, Inge Merten, Monika Mörke, Eberhard Neufink Schnitt Rita Hiller Ton Wolfgang Höfer Mischung: Gerhard Ribbeck Musik Gustav Mahler (6. Sinfonie a-Moll) Musik-Ausführung: Václav Neumann Darstellende Lotte: Lilli Palmer Goethe: Martin Hellberg Kellner Mager: Rolf Ludwig Goethes Sohn August: Hilmar Baumann Adele Schopenhauer: Jutta Hoffmann Ottilie von Pogwisch: Johanna Glas Lottes Tochter: Monika Lennartz Prof. Meyer: Norbert Christian

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Darstellende Dr. Riemer: Hans-Joachim Hegewald Landkammerrat Ridel: Walter Lendrich Diener Carl: Dieter Mann Zofe Klärchen: Angelika Ritter Amalie Ridel: Annemone Hase Frau Riemer: Gisela Stoll Frau Meyer: Christa Lehmann Frau Kirms: Linde Sommer Frau Coudray: Sonja Hörbing Stephan Schütze: Viktor Deiß Hofkammerrat Kirms: Hans-Dieter Schlegel Oberbaurat Coudray: Peter Köhnke Bergrat Werner: Wilhelm Gröhl Bauer: Fred Delmare Rühring: Wolfgang Greese Ferdinand Heinke: Thomas Neumann Frau Elmenreich: Barbara Brecht-Schall Miss Cuzzle: Ute Hübner Hausdiener: Axel Triebel Junge Lotte: Martina Wilke Junger Goethe: Hilmar Eichhorn Junger Kestner: Thomas Thieme in weitereren Rollen: Hans-Gerd Schäfer, Detlef Heintze, Berko Acker, Rainer Etzenberg, Kurt Götz, Paul Arenkens, Gertrud Adam, Thomas Schäfer, Klaus Powollik-Ronay, Hannes Stelzer, Horst Giesen, Horst Graeve, Irene Freymann, Frank Wuttig, John Peet, Hans-Peter Körner, Melchior Vulpius, Heinz Laggies, Matthias Molter, Joachim Uhlitzsch, Katharina Zschoche, Friedrich Teitge, Werner Kanitz, Gerd Zimmermann, Jörg Gillner, Jochen Diestelmann, Beatrice Brandenburg

Zum Inhalt Goethes Jugendliebe Charlotte Kestner (Werthers Lotte) kommt nach 40 Jahren auf die Idee, den Jugendfreund und Staatsminister in Weimar zu besuchen. Goethe will sie auf kei- nen Fall allein empfangen. Der Besuch gerät zu einer Enttäuschung. Es gibt nicht mehr als einen Anstandsbesuch im Rahmen eines Mittagessens mit der Weimarer Hofgesellschaft und ein Billet für Goethes Theaterloge. Es bleibt offen, ob ein letztes Gespräch nach dem Theater in Goethes Kutsche zwischen Lotte und dem Dichterfürsten wirklich stattgefunden hat.

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Die Schlüssel

Egon Günthers vierter Kinospielfilm entstand 1972. Er schrieb den literarischen Entwurf gemeinsam mit seiner Frau Helga Schütz. Wie er selbst sagt, existierte ein Drehbuch »nur in groben Zügen. Was mir eigentlich als Plan vorschwebte, war natürlich das Ausbrechen aus einer landläufigen und immer wieder neu pro- duzierten Art und Weise, Kino zu machen und mit einem Minimum an Verabre- dung auszukommen.« Das richtete sich expressis verbis gegen die Hollywood- Klischees, unausgesprochen aber auch gegen alle Muster und Konventionen der DEFA-Produktion und DDR-Leitungspraxis. Die Einordnung des Films in die kulturpolitisch geforderte thematische Pla- nung erwies sich genauso schwierig wie eine klare Genre-Ankündigung. In Babels- berg artikulierte sich gerade eine neue Regie-Generation in einer stärker doku- mentaren contra fiktionalen Stilrichtung, wie sie Horst Seemann mit Zeit zu leben repräsentierte. Man wollte näher an das wirkliche Leben heran. Gewöhnliche Leute, so ein Filmtitel, und der ganz normale Alltag rückten ins Zentrum der Ge- staltung, weg vom Heldentypus der Vorbildfiguren, Absage auch an die Illustra- tion von Bewährungs- und Entwicklungsgeschichten. Laien und noch unbekannte Darsteller agierten vor der Kamera, so als kämen sie direkt von der Straße. Der Ori- ginalschauplatz wurde der Atelierdekoration vorgezogen. Vorreiter dieser Orientie- rung kündigten das Genre des Porträtfilms bereits im Titel an: Lothar Warneke mit Dr. med. Sommer II, Leben mit Uwe, Die unverbesserliche Barbara, und Ro- land Gräf mit Mein lieber Robinson oder Bankett für Achilles. Trotz mancher dokumentarer, ja reportagehafter Sequenzen entziehen sich Die Schlüsssel solcher Zuordnung. Egon Günther berief sich gern auf ein Apercu von Slatan Dudow: »Wenn ich das Atelier eines Kollegen betrete, weiß ich, daß er es falsch macht«. Das war nicht ignorant gemeint, vielmehr als Selbstermunterung zum eigenen, unverwechselbaren Anliegen und Stil. Der Film, den wir heute se- hen, ist – mindestens im Gegenwartssujet – das konsequenteste und zugleich um- strittenste Beispiel für Günthers Experimentierfreude. Zwei locker liierte junge Leute, Klaus und Ric, der Maschinenbaustudent, sie eine sogenannte einfache Arbeiterin, brechen zu einer Reise nach Polen auf. Schon die Exposition weist gleichnishaft über das Alltägliche des weiteren Vor- gangs hinaus. Die Zufallsbekanntschaft mit einem nach Paris reisenden polni- schen Ehepaar schenkt den beiden die Schlüssel ihrer Krakauer Wohnung und da- mit ein unerwartetes Urlaubsdomizil. Dieser außergewöhnliche Vertrauensbeweis gewinnt vor dem Hintergrund deutsch-polnischer Geschichte besonderes Gewicht. Vielfältige, überraschende Eindrücke und Begegnungen begleiten und kontrastie- ren die fragile Beziehung des jungen Paares und ihre Selbstbefragung. Diese Prüfung und die latente Frage nach der Perspektive ihres künftigen Zusam- menlebens wird abrupt beendet durch den schicksalhaft zufälligen Unfalltod des

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Mädchens. Die tragische Wendung der Geschichte geschieht ohne kunstvolle Vor- bereitung. Der Schock des jungen Mannes, seine seelische Betroffenheit wird gegen alle dramaturgischen Regeln szenisch weniger ausgebreitet als die trivialen Schwie- rigkeiten und Umstände, die tote Freundin auf den Weg nach Hause zu bringen. Die Autoren verzichten bewußt auf eine Fabelführung im klassischen Sinne in Form einer logisch aufgebauten kausalen Folgehandlung. Obwohl viele Bilder und Szenen lange im Gedächtnis bleiben, fiele es schwer, den Film nachzuer- zählen. Doch auch die DEFA-übliche thematische Eindeutigkeit in der Entfaltung des Sujets ist hier vermieden. Die unterschiedliche Mentalität der Partner, die auch sozial determinierte untergründige Spannung zwischen ihnen entlädt sich nicht in dramatischen Kollisionen. Günther nutzt ein einsames langes Selbstgespräch des Mädchens in einer Straßenbahn, vielleicht an einer Endhaltestelle, um die geistige Dimension der Fi- gur zu entfalten. Das geschieht nicht wie üblich in Form der Gedankenstimme. Wir sehen Jutta Hoffmann als Ric sprechen, so als rede sie – wie nie zuvor und nicht mehr danach – mit ihrem Klaus endlich einmal schonungslos offen über ihre Gefühle und Befindlichkeiten. Doch schnell stellt sich heraus, daß Jaecki Schwarz als Klaus in der Szene gar nicht präsent ist. Nur so ist vielleicht die unverblümte Selbstdarstellung der Figur erklärlich und nachvollziehbar. »Dieser lange Monolog«, so der Regisseur, »stand nicht im Buch oder wurde erst in einer sehr späten Phase konzipiert, aus der Erfahrung des Drehens heraus.« Vor allem diese Szene, aber nicht nur sie, charakterisiert Egon Günthers eigenwilli- ges Verständnis von der Rolle des Schauspielers nicht nur in diesem seiner Filme. Es ging ihm gerade nicht darum, »daß sie vergessen machen, daß sie eigentlich Schauspieler sind, im Gegenteil.« Er lobt Jutta Hoffmann eben für »dieses Wech- selspiel – einzutauchen in die Rolle und wieder herauszukommen ... Sie hat das Spiel immer wieder gern gebrochen, indem sie mal in die Kamera lachte oder weiterspielte nach dem ›Aus‹. Sie wollte damit sagen: Ich bin aber ich, Jutta Hoff- mann.« Die damit verbundenen Momente der Spontaneität, ja der Improvisation, gehörten zum Regie-Konzept, »Schauspieler vollkommen in die Freiheit zu ent- lassen, das zu tun, was ihnen im Moment richtig erscheint.« Rückblickend hat Jaecki Schwarz diese schöpferische Freiheit des Darstellers geradezu emphatisch gelobt: »Da wurde ich das erste und einzige Mal als Künst- ler gefordert. Aus Film wurde Filmkunst. Es wurde nicht nachgeplappert, was sich ein anderer ausgedacht hatte, oder was nachgespielt, was sich ein Regisseur vorstellte.« Egon Günther dürfte freilich seine Rolle im Zusammenspiel aller Mit- wirkenden damit kaum getroffen sehen. Sein Film war und blieb eine absolute Ausnahmeerscheinung in der DEFA-Ge- schichte. Frage also: Wie konnte er unter den Bedingungen staatlich finanzierter Spielfilmproduktion und zentralistischer Leitung überhaupt entstehen? Mit dem Staffettenwechsel von Ulbricht zu Honecker, dem VIII. Parteitag und dem 6., dem sogenannten Kulturplenum des ZK der SED 1972, waren an der

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Basis manche Hoffnungen auf eine weniger dogmatische Medienpolitik ver- bunden. Von »Weite und Vielfalt« in der Kunst, vom »Reichtum der Handschriften und Ausdrucksweisen« war die Rede und dem Ende der Tabus. Konrad Wolfs einge- bunkerter Film Sonnensucher aus dem Jahr 1958 erlebte seine Fernsehpremiere und kam danach ins Kino, allerdings um Aktualität, Brisanz und entsprechende Wirkung betrogen. Nicht nur Künstler, auch die Leiter aller Ebenen suchten auf ihre Weise, diese vorsichtigen Signale zu deuten und für die Praxis zu nutzen. Die freimütige, kriti- sche Atmosphäre auf dem II. Kongreß des Verbands der Film- und Fernsehschaf- fenden galt manchem als klare Ermutigung. So entstanden 1972 gleich drei tatsächlich herausragende Gegenwartsfilme. Neben Egon Günther inszenierte Heiner Carow Plenzdorfs Publikumshit Die Le- gende von Paul und Paula, Siegfried Kühn drehte nach Helmut Baierls Buch eine der wenigen echten Gegenwartskomödien Das zweite Leben des Georg Friedrich Wilhelm Platow. Als Die Schlüssel abgedreht waren, hatte sich der Wind bereits wieder gedreht, um mit zu sprechen. Nun erinnerte man sich an Kurt Hagers frühzei- tige Warnung vor jedem »bürgerlichen Modernismus«. Zunächst aber ging es um Einwände von polnischer Seite, so verlautete im Studio. Wessen Demarche und auf welchem Wege aus kritisch beobachtetem Freundesland nach Babelsberg kam, war unklar. Anstoß erregte etwa die Schilderung der körperlich schweren, schlecht bezahlten Arbeit einer älteren kleinen Frau am Hochofen von Nova Huta. Entfernt wurde eine Szene, in der drei Polen den Deutschen vor eine Gedenktafel für die Nazi-Opfer ziehen und Partisanenlieder singen. Einer per Zufall dokumen- tierten katholischen Prozession mußte die kirchliche Spitze genommen werden – nämlich der ihr voranschreitende Kardinal Wischinsky. Warum dem DDR-Zu- schauer das Bild des politisch recht eindeutig beleumundeten Kirchenführers erspart werden sollte, ist schwer erklärlich. Nachdem Studiochef Albert Wilkening Ende 1973 die Schnitte ins Filmfleisch nach Berlin gemeldet hatte, verfügte der HV-Leiter Günter Klein die Staatliche Zulassung, aber auch ein Export-Verbot. Mit der Premiere im Februar 1974 aber waren die Auseinandersetzungen um den Film keineswegs beendet. Der in jeder Hinsicht unkonventionelle Streifen irritierte nicht nur die Kritiker, auch das Publikum, das mit der ungewöhnlichen Formensprache wenig anzufangen wußte. Das veranlaßte die Spielplangestalter der Bezirksfilmdirektionen, den Film recht schnell aus dem Programm zu nehmen und in Filmclubveranstaltungen zu verstecken.

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Die Schlüssel

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik Premierendatum 21. Februar 1974 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Egon Günther Regie-Assistenz: Elke Niebelschütz Drehbuch Egon Günther und Helga Schütz Dramaturgie Werner Beck Kamera Erich Gusko Kamera-Assistenz: Norbert Kuhröber Standfotos Klaus Goldmann Licht Werner Baatz Bauten Harald Horn Bauausführung: Franz F. Fürst Kostüm Christiane Dorst Maske Horst Schulze; Margot Friedrichs Schnitt Rita Hiller Außenrequisite Kurt Dombrowski Musik Czesl~aw Niemen Produktionsleitung Hans Mahlich Aufnahmeleitung Heinz Fröhlich, Wolfgang Lange Ton Edgar Nitzsche Mischung: Gerhard Ribbeck Darstellende Ric: Jutta Hoffmann Klaus: Jaecki Schwarz Helena: Magda Zawadzka Frantisek: Jerzy Jogalla Großmutter: Jadwiga Chojnacka Pawlik: Leon Niemczyk Hanka: Anna Dziadyk DDR-Botschaftsvertreter: Wolfgang Greese Die Aufnahmen in Kraków entstanden mit Unterstützung der Filmgruppe »Illuzjon«, Warschau.

Zum Inhalt Ric und Klaus, sie ist Arbeiterin, er Student, reisen im Urlaub nach Kraków. Auf dem Flug- platz gibt ihnen ein freundlicher Pole den Schlüssel zu seiner Wohnung. Beide sind erwar-

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tungsvoll, erleben unbeschwerte Tage. Ric gibt sich in ihrer unkomplizierten Weise den Entdeckungen hin, dem Leben im Nachbarland, den Begegnungen. Geschichte wird für sie fühlbar. In dieser fremden Umgebung sieht sie plötzlich ihre Beziehung zu Klaus in einem neuen Licht, sie spürt, wie anders er auf alles reagiert, fühlt sich verletzt und durch seine Maßregelungen, seine überlegene Art. Die Kompliziertheit ihrer Beziehung wird ihr deut- lich. Intellektuell wird sie ihm nie gewachsen sein. Er wird seinen Weg machen, während sie immer Arbeiterin bleiben wird, wozu sie sich bekennt. Dieses Bekenntnis aber läßt sie um den Bestand ihrer Liebe fürchten. Sie gerät in Panik, als sie Klaus nicht findet, stürzt blindlings auf die Straße, um ihn zu suchen, und dabei in eine Straßenbahn. Ihr Tod ist für Klaus ein Schock. Die Größe des Verlusts empfindet er langsam – während der Begegnung mit Anteil nehmenden Menschen und bei der Abwicklung der Überführungsformalitäten. (aus: Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg – DEFA-Spielfilme 1946 – 1992 Hrsg.: Filmmuseum Potsdam - Berlin: Henschel, 1994, S. 457 f.)

Die Braut

Produktionsland Deutschland Premierendatum 21. Februar 1974, Erstaufführung (TV) 26. November 1999; Deutschland, Frankreich (Arte) Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Egon Günther Regie-Assistenz: Christian Riss Drehbuch Egon Günther Idee Albrecht Börner Kamera Peter Brand Kamera-Assistenz: Ingo Raatzke Standfotos: Klaus Goldmann Licht Herbert Buchberger Ausstattung Martin Schreiber Production Design: Harald Horn Kostüm Christiane Dorst; Riccarda Merten-Eicher (Assistenz) Maske Iris Kettner; Gerlinde Kunz; Klaus Petzold; Uta Spikermann (ungenannt) Schnitt Monika Schindler Requisite Lothar Karbe; Oliver Kuhlmann Musik Joseph Haydn

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Produktionsleitung Hans Mahlich Aufnahmeleitung Heinz Fröhlich, Wolfgang Lange Ton Edgar Nitzsche Mischung: Gerhard Ribbeck Darstellende Johann Wolfgang von Goethe: Herbert Knaup Christiane Vulpius: Veronica Ferres Charlotte von Stein: Sibylle Canonica Charlotte Lengefeld-Schiller: Franziska Herold Herzog Carl August: Christoph Waltz Christoph Martin Wieland: Friedrich Wilhelm Junge Hans-Heinrich Meyer: Rüdiger Vogler Tante Juliane: Maria Happel Ernestine: Fritzi Haberlandt Goethes Diener: Jörg Schüttauf Friedrich Wilhelm Riemer: Ulrich Anschütz Fritz von Stein: August Diehl Bettina von Arnim: Julia Filimonow August Goethe: Baki Davrak Marschall Michel Ney: Anatole Taubman Christian August Vulpius: Christian Hockenbrink Herzogin Luise: Nicole Max Achim von Arnim: Michael Goldberg Karoline Herder: Gundula Köster Lakai des Herzogs: Jürgen Hartmann Dorothea Wieland: Anette Felber Dienerin im Salon Stein: Katka Kurze Friedrich Justin Bertuch: Klaus Manchen Singendes Mädchen: Franziska Giess Schreiende Frau: Mandy Büchner Elsässer: Serge Wolf, Köchin: Karin Oehme 1. Kind: Armin Förster, 2. Kind: Steven Milcke 3. Kind: Gilles Gavois, 4. Kind: Paula Fürstenberg 5. Kind: Nicki Milcke, Arzt: Christian Doermer in weiteren Rollen: Dominique Horwitz, Udo Samel Die Aufnahmen in Kraków entstanden mit Unterstützung der Filmgruppe »Illuzjon«, Warschau.

Zum Inhalt

Der Schriftsteller und Regisseur Egon Günther setzt sich nach »Lotte in Weimar« und »Die Leiden des jungen Werther« ein drittes Mal mit dem berühmtesten deutschen Dichter aus- einander. Im Mittelpunkt stehen dabei nicht Goethe und seine Arbeit, sondern seine Ge- liebte, die 23jährige Christiane Vulpius. Ihre »plebejische« Herkunft im Gegensatz zum »Patrizier« Goethe und ihre schiere körperliche Präsenz geraten zur Provokation für die Weimarer Gesellschaft.

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Günter Reisch – Biographie und Filmographie

Als Günter Julius Hermann Reisch wird er am 24. November 1927 in Berlin ge- boren, Sohn des Bäckermeisters Julius Reisch und seiner Frau, der kaufmänni- schen Angestellten Erna Reisch, geb. Queißer. Nach dem Tod des Vaters zieht die Familie 1934 nach Potsdam, wo Reisch die Oberrealschule bis zur 10. Klasse be- sucht. Als 16jähriger kurz vor Kriegsende eingezogen, gerät er mit der »Armee Wenck« bei Tangermünde in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Im Herbst 1945 übernimmt er Aufbau und Leitung des Theaterensembles im Antifa-Jugend- ausschuß und in der FDJ in Potsdam. Nach dem Abitur Schauspielunterricht bei Werner Kepich. 1947 Aufnahme in den ersten Jahrgang am Nachwuchsstudio der DEFA; sein erster Lehrer ist Ilja Trauberg. Ab 1948 Regie-Assistent bei Gerhard Lamprecht, Georg Wildhagen (Vorbereitung für Figaros Hochzeit, 1949), Martin Hellberg und acht Jahre lang bei Kurt Maetzig (u. a. Thälmann). Seit 1955 ist er Regisseur beim DEFA-Studio für Spielfilme. 1958 inszeniert er am Volkstheater Rostock die Bühnenfassung von Lew Tolstojs Krieg und Frieden. Reisch dreht – beginnend mit Junges Gemüse, das Motive von Gogols Revisor in die DDR-Gegenwart transponiert – eine Reihe von Lustspielen und Komödien, in denen er Opportunismus, Duckmäusertum, selbstgerechte Überheblichkeit und andere kleinbürgerliche Schwächen im DDR-Alltag mit Spott, Ironie, Humor und Phantasie behandelt. Maibowle (1959) und Silvesterpunsch (1960) verfolgen das Schicksal einer Familie Lehmann. In die Kriminalsatire Der Dieb von San Marengo (1962/63) und in die »freie Nacherzählung« (Buch: Jurek Becker) von Kleists Der zerbrochene Krug, Jungfer, sie gefällt mir (1968), versucht Reisch zudem Stilelemente des Musicals einzuflechten. Ach, du fröhliche ... (1961/62) – Drehbuch nach der Bühnen- komödie Und das am Heiligabend von Vratislav Blazek – zeigt ironisch-heiter, welche Probleme dem Genossen Lorke, Direktor für Kader (Erwin Geschonneck) einen Weihnachtsabend zu verderben drohen, weil Ansichten und Lebensweise der heranwachsenden Kinder und der Nachbarn nicht unbedingt seinen Vorstel- lungen von sozialistischer Moral entsprechen. Fünfundzwanzig Jahre später – aus Anlaß von Geschonnecks 80. Geburtstag – nimmt Reisch Thema und Personen (überwiegend von denselben Schauspielern verkörpert) in Wie die Alten sungen … wieder auf und versucht – auch durch Konfrontation mit Szenen aus dem alten Film, die Entwicklung in der DDR humorig zu beleuchten. Ein Lord am Alexanderplatz (1966/67) zeigt, wie ein auf den Traum von klein- bürgerlicher Familienidylle orientiertes Gaunerpaar – der Heiratsschwind- ler Ewald Honig (Geschonneck) und seine auf ältere Herren spezialisierte Toch- ter Ina (Angelica Domröse) – auch im Sozialismus Erfolg haben kann. Eben- falls satirisch akzentuiert ist Nelken in Aspik (1975/76) über die freiwillig-unfrei-

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willige Karriere eines Werbezeichners (Armin Mueller-Stahl) zum Generaldi- rektor. Zu den wenigen gelungenen Filmkomödien der DEFA zählt Anton der Zaube- rer (1977), nach einem Szenarium von Karl Georg Egel, in deren differenzierter Schilderung des genialen Organisators Anton (Ulrich Thein) sich die frühen Jahre der DDR spiegeln. »Anton Grubske erhält 1945 den Auftrag, seinen Staat in die eigenen Hände zu nehmen – als Arbeiter. Er wirtschaftet aber in die eigene Tasche und schafft sich dafür Gründe, die komischerweise wieder gesellschaftlicher Na- tur sind. Er will die Ausbeuter – beispielsweise die Großbauern – ausbeuten. Aber die komischen Widersprüche, die hier sein Verhältnis zur Arbeit bestimmen, legen auch eine gewisse tragische Entwicklungsmöglichkeit des Charakters frei.« (Reisch zu Haucke, 1979). Reischs langjähriges und unermüdliches Bemühen um Unterhaltung im DEFA- Film charakterisiert sein Freund und Kollege Günther Rücker: »Er versucht sich immer und immer wieder an Komödien und Lustspielen und Schwänken, er trieb das Spiel hoch bis zur Farce, und er hat seine schönsten Leistungen, sein Bleiben- des (denke ich), in tiefernsten, tragischen Sujets abgeliefert. Wie oft versuchten seine Freunde, ihn vor Illusionen zu bewahren. Er lächelte: Trotz alledem!« (Rücker, 1987). Der 1958 gemeinsam mit Kurt Maetzig realisierte Film Das Lied der Matrosen bestimmt thematisch den bedeutendsten Teil von Reischs Werken: die Darstellung wichtiger Abschnitte aus der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung. Bei der Schilderung des Matrosenaufstands 1918 in Kiel »ist ein liedhafter, balla- denhafter Ton gewählt und die damit verbundene poetische Überhöhung des Ganzen, weil man den politischen Gesamtzusammenhang in aller Differenziert- heit in einem einzigen Film anders wohl nicht in den Griff bekam.« (K. Maetzig, Filmarbeit, 1987). Mit zwei Figuren der ideologisch gefächerten revolutionären Matrosengruppe schlagen die Autoren Karl-Georg Egel und Paul Wiens einen Traditionsbogen bis in die DDR: der anarchistisch eingestellte Matrose Jupp Kö- nig (Stefan Lisewski) – Reischs Lieblingsgestalt – taucht in Konrad Wolfs Son- nensucher (1957/58) wieder auf, Bartuschek (Hilmar Thate) in Wolfs Leute mit Flügeln (1960), beide von Erwin Geschonneck dargestellt. Reisch gibt in seinen nächsten historischen Filmen das Konzept des »kollekti- ven Helden« wieder auf und behandelt in Zusammenarbeit mit dem Autor Michael Tschesno-Hell eine Zentralfigur der Arbeiterbewegung: Solange Leben in mir ist (1964/65) schildert Karl Liebknechts (Horst Schulze) pazifistischen Kampf als Reichstagsabgeordneter im Ersten Weltkrieg; Trotz alledem! (1971) umfaßt die Zeit der Novemberrevolution 1918 bis zu Liebknechts Ermordung am 15.1.1919. »Die historisch-biografischen Filme Reischs (...) verraten eine gewisse Unsicher- heit bei der Behandlung des Zusammenwirkens gesellschaftlich-politischer und privater Momente im Leben der Helden. Das uralte, viel diskutierte Problem der Ästhetik, das Bild des historischen Helden, blieb meist ungelöst: Die Scheu vor

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seiner Verniedlichung durch ‚allgemeinmenschliche’ Zugaben auf der einen Seite und die Furcht vor einer zu starken Heroisierung auf der anderen prägten es.« (Hanisch, 1972). 1970 entsteht in Co-Produktion mit dem Mosfilm-Studio Unterwegs zu Lenin nach den Erinnerungen Alfred Kurellas, »ein Film des großen Abschieds von der schwärmerischen Begeisterung und Verklärung der proletarischen Revolution zu- gunsten nüchterner Alltagsarbeit.« (Haucke, 1981). Mit Günther Rücker als Autor dreht Reisch 1974 Wolz – Leben und Verklärung eines deutschen Anarchisten, angelehnt an die Kämpfe des Anarchisten Holz in der Weimarer Republik. Der Film verwendet neben realistischen Mitteln auch die der Poetisierung, der Metapher und der symbolischen Verfremdung zu einer ge- lungenen, differenzierten künstlerischen Darstellung, bei der – wie wiederholt in seinen Filmen – Reischs anarchisches Träumen deutlich wird, das sich allerdings dann immer wieder der Partei-Disziplin unterwirft. »Wie da einer die Revolution als Abenteuer nimmt, welchen Spaß er daran hat, verkehrte Verhältnisse sofort und aus dem Handgelenk zu berichtigen, das teilt sich dem Betrachter als eine große romantische Sehnsucht mit. Gerade weil aber schmerzlich deutlich wird, daß diese Sehnsucht keine Erfüllung finden kann, bleibt das Leuchten über Wolz, gewinnt er Größe.« (Funke, 1984). Zu Reischs größten Erfolgen zählen zwei Werke, in denen er sich mit dem Fa- schismus auseinandersetzt. 1961 inszeniert er mit Hans-Joachim Kasprzik den fünfteiligen Fernsehroman Gewissen in Aufruhr. Basierend auf dem autobiografi- schen Bericht von Rudolf Petershagen, schildert die Serie das Schicksal eines Obersten der Nazi-Wehrmacht, den »Retter von Greifswald«, der sich gegen die Befehle und für die Menschen entscheidet, sowie seinen Kampf gegen die Wie- deraufrüstung in der BRD. 1979 entsteht – nach einem autobiografischen Roman von Eva Lippold – ge- meinsam mit Günther Rücker Die Verlobte über das Schicksal einer klassenbe- wußten Kommunistin (Jutta Wachowiak) in den Gefängnissen der Nazis. »Der be- sondere Stellenwert dieses Films liegt darin, daß er seine Heldin in menschliche Grund- und Grenzsituationen führt, in denen die physische und psychische Kraft eines Menschen dem eigentlich nicht mehr Ertragbaren, Sagbaren, Darstellbaren ausgesetzt werden. (...) Selten wurde so genau erfaßt, wie die ›normale‹, bürgerli- che Lebensform von einer faschistischen Diktatur umfunktioniert und verein- nahmt, wie normale Lebensansprüche barbarisiert werden können. Und da führt der Film aus dem historisch und national Konkreten wiederum hinaus, assoziiert die faschistoiden Tendenzen unserer Zeit.« (K. Wischnewski, Film und Fernse- hen, Nr. 10,1980). Während der Dreharbeiten an Die Verlobte erkrankt Reisch schwer und muß sich mehreren Operationen unterziehen; Günther Rücker führt den Film zu Ende. Günter Reisch ist 1967 – 88 Vizepräsident des Verbandes der Film- und Fern- sehschaffenden der DDR. 1983 wird er als ordentliches Mitglied in die Akademie

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der Künste der DDR gewählt Er ist Mitglied des Künstlerischen Rats der DEFA und Mentor an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg. Nach der Wende nimmt er zusätzlich noch Lehraufträge an der Münchener Filmhochschule sowie der Deutschen Film- und Fernseh-Akademie und der Aka- demie der Künste in Berlin an. Von 1997 bis 2002 unterrichtet er als Lehrbeauf- tragter an der Fakultät Film der Bauhaus-Universität Weimar, Anfang 2003 wird er dort zum Honorarprofessor für »Filmgestaltung in den neuen Medien« er- nannt. Günter Reisch lebt in Berlin.

(nach: CineGraph Lexikon zum deutschsprachigen Film, © 1984 ff. edition text+kritik im RICHARD BOORBERG VERLAG, München)

Filmographie

2004/2005 Mozartbrot – ein zu kurzes Märchen (Dramaturgie) 1994 – 1996 Land am Rand (Beratung) 1991 – 1993 Der olympische Sommer (Beratung) 1991/1992 Stilles Land (Künstlerische Oberleitung) 1985/1986 Wie die Alten sungen ... (Regie, Szenarium) 1979/1980 Die Verlobte (Drehbuch, Regie, Szenarium) 1977/1978 Addio, piccola mia (Darsteller) 1977/1978 Anton der Zauberer (Darsteller, Drehbuch, Regie) 1975/1976 Nelken in Aspik (Darsteller, Szenarium, Drehbuch, Regie) 1973 Wolz. Leben und Verklärung eines deutschen Anarchisten (Regie) 1971 Trotz alledem! (Regie) 1969/1970 Unterwegs zu Lenin (Drehbuch-Mitarbeit, Regie) 1968 Jungfer, Sie gefällt mir (Drehbuch, Regie) 1966/1967 Ein Lord am Alexanderplatz (Drehbuch, Regie) 1964/1965 Solange Leben in mir ist (Drehbuch, Regie) 1962/1963 Der Dieb von San Marengo (Drehbuch, Regie) 1961/1962 Ach, du fröhliche ... (Regie) 1961 Gewissen in Aufruhr (Drehbuch, Regie) 1960 Silvesterpunsch (Regie) 1959/1960 Der schweigende Stern (Drehbuch) 1959 Maibowle (Drehbuch, Regie) 1958 Das Lied der Matrosen (Regie) 1957 Spur in die Nacht (Drehbuch, Regie) 1955/1956 Junges Gemüse (Regie) 1954/1955 Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse (Regie-Assistenz)

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1953/1954 Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse (Regie-Assistenz) 1951/1952 Freundschaft siegt (Regie) 1951/1952 Roman einer jungen Ehe (Regie-Assistenz) 1950/1951 Blaue Fahnen nach Berlin (Regie) 1950 Familie Benthin (Regie-Assistenz) 1950 Immer bereit (Regie-Assistenz) 1949/1950 Der Rat der Götter (Regie-Assistenz) 1948/1949 Quartett zu fünft (Regie-Assistenz)

Junges Gemüse

Produktionsland DDR Premierendatum 29. März 1956 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Günter Reisch Regie-Assistenz: Bernd Braun Drehbuch Günther Rücker, Kurt Bortfeldt Dramaturgie Gerhard Neumann Kamera Horst E. Brandt Kamera-Assistenz: Richard Günther Standfotos: Siegmar Holstein Licht Herbert Buchberger Bauten Alfred Hirschmeier Kostüm Luise Schmidt Maske Franz Richter, Herbert Kiepurning Schnitt Lena Neumann Musik Peter Fischer Produktionsleitung Richard Brandt Aufnahmeleitung Erich Kühne, Heinz Fröhlich Ton Erich Schmidt Darstellende Amann: Herbert Richter, Gritt Liebig: Angela Brunner Hans Brauer: Christoph Engel

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Darstellende Hoppedietz: Paul Heidemann Nickel: Rudi Schiemann, Traktorist: Georg Thies Frau Amann: Marianne Rudolph Frau Kunze: Anna-Maria Besendahl Willi: Arthur Reppert, Jupp: Jupp Willi Neuenhahn Kalle : Dieter Perlwitz, Renate: Margret Homeyer Dramaturg: Norbert Christian, Manni: Horst Jung Traktorist: Walter E. Fuß, Traktorist: Albert Zahn Brandmeister Dirksen: Maximilian Larsen Volkspolizist: Paul Pfingst, Köchin: Trude Lehmann Tankwart: Jean Brahn, Sekretärin: Judith Harms ältere Arbeiterin: Trude Brentina in weiteren Rollen Margret Stange, Horst Mendel- sohn, Walter Schramm, Gerti Zillmer, Fritz Decho, Peter A. Stiege, Julius Benne, Elfie Stahl, Frank Michaelis, Hans Fiege, Brigitte Hermann, Andrea Link

Zum Inhalt

Junges Gemüse ist der Debütfilm von Günter Reisch als Regisseur, nachdem er 1955 beim DEFA-Studio für Spielfilme angestellt worden war. Der Film entstand nach Motiven von Nikolai Gogols Komödie »Der Revisor«, die in die DDR-Gegenwart transponiert werden. Der Aufforderung der Hauptverwaltung Film, einige satirisch zugespitzte Dialoge zu ent- schärfen, verweigerte sich Reisch. Der Film, der zugleich eine langjährige Zusammen- arbeit mit dem Szenaristen Günther Rücker begründete, steht am Anfang einer Reihe von Komödien, in denen Opportunismus, Duckmäusertum, selbstgerechte Überheblichkeit und andere »kleinbürgerliche« Schwächen im DDR-Alltag mit Spott, Ironie, Humor und Fanta- sie behandelt werden.

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Unterwegs zu Lenin

1968 schlug der Dramatiker Helmut Baierl dem Studio vor, das gerade erschie- nene autobiographische Erinnerungsbuch von Alfred Kurella zu verfilmen. Das kam überraschend. Knapp zwei Jahre zuvor hatte Baierl das Studio zornrot und türschlagend verlassen. Nach dem 11. Plenum war seine mehrjährige Arbeit zu- sammen mit Egon Günther an einer Filmfassung seines Bühnenerfolgs Frau Flinz gestoppt worden. Die Hauptverwaltung Film hatte die bereits erteilte Produkti- onsfreigabe annulliert. Nun wollte es der Autor noch einmal mit der DEFA versuchen. Der neue Vor- schlag war aussichtsreicher. Für 1970 stand ein großes Lenin-Jubiläum im Polit- und Kulturkalender. Sein 100. Geburtstag am 22. April war der Führung Anlaß ge- nug, ein ganzes »Lenin-Jahr« auszurufen. Da kam der DEFA die Stoffanregung höchst gelegen. Sie konnte mit einem Spielfilm im zentralen Kulturarbeitsplan glän- zen und höchste staatliche Förderung erwarten. Und es war eine willkommene Ge- legenheit für eine weitere Koproduktion mit der Sowjetunion in eigener Regie. Die konspirative, abenteuerliche Reise des jungen intellektuellen Kommuni- sten bürgerlicher Herkunft, ins Land der ersten proletarischen Revolution 1919 mit chiffrierter Post für Lenin im Gepäck schien auch für ein junges Publikum in- teressant. In Moskau erlebt er den nüchternen Alltag der ersehnten sozialen und politischen Umwälzung. Mit Aktivisten der Kommunistischen Jugendorganisa- tion Komsomol erarbeitet er die Gründungsdokumente für eine Kommunistische Jugendinternationale. Als es zur zweiten Begegnung mit Lenin kommt, sind die Ungarische und die Bayerische Räterepublik bereits zerschlagen. Lenin warnt den jungen Deutschen vor romantischen Träumen von einer bevorstehenden Weltre- volution und sagt einen langen, opferreichen Weg zum Sozialismus voraus. Dem Ich-Erzähler des Berichts ging es weniger um die äußeren Begebenheiten, vielmehr um die Entdeckungsreise in die geistige Welt Lenins, der sich durch den unvorhersehbaren Gang der politischen Ereignisse immer neuen theoretischen und praktischen Herausforderungen gegenüber sieht. Wie aber war dieses gedankliche Sujet in eine packende Filmhandlung zu ver- wandeln? Wie sollten aus den Dialogpartnern politischer Gespräche lebendige Charaktere entstehen? Für Alfred Kurella waren diese dramaturgischen Fragen kein Thema. Aber über die ideelle politische Substanz des entstehenden Films wollte er sich als ehemaliger Sekretär der Kommunistischen Jugendinternationale die eigene Kontrolle bis in die Endfertigung hinein unbedingt sichern. So ge- währte er uns nur eine »Option auf die Verfilmungsrechte«. Mit jedem Veto drohte so der Arbeitsstillstand, wenn nicht gar das Scheitern des Projekts. Dem langjährigen Leiter der Ideologischen bzw. Kulturkommission beim Politbüro der SED konnte das Studio eine solche rechtliche Position kaum verweigern. Doch das sollte noch Folgen haben.

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Wir aber vertrauten der Autorität und Erfahrung des Regisseurs Günter Reisch. Er hatte bereits Übung im konfliktreichen Umgang mit einer gleich schwierigen Autoren-Autorität wie Michael Tschesno-Hell beim Film über So lange Leben in mir ist. Nicht nur die Titelgestalt Lenins, auch die Vielzahl russischer Schauplätze und Gestalten erforderten zwingend die Koproduktion mit der SU. Sie mußte auf Minis- terebene beschlossen werden und war für uns mit doppelten Abnahmeprozeduren für Buch und Realisierung verbunden. Von der Zusammenarbeit mit den sowjetischen Kollegen aber versprachen wir uns neue künstlerische Impulse. Der sowjetische Film der 60er Jahre hatte gerade im historischen Sujet für weltweite Anerkennung gesorgt. Klarer Himmel, Iwans Kindheit und Ballade vom Soldaten signalisierten ei- nen unpathetischen Blick auf die Vergangenheit in einer unorthodoxen Filmsprache. Mit dem Szenarium für Lenin in Polen hatte Jewgeni Gabrilowitsch neue Maßstäbe auch für die historisch-biographische Charakterstudie gesetzt. So reisten wir im April 1969 unter Leitung von Filmminister Günter Klein mit dem ersten literarischen Entwurf Helmut Baierls und großen, doch auch bangen Erwartungen nach Moskau. Das Staatliche Komitee für Kinematographie der UdSSR hatte das Studio Mosfilm in Moskau als Koproduktionspartner bestimmt. Dort erwartete uns Regisseur Lew Arnschtam, seit seiner Koproduktion Fünf Tage, fünf Nächte 1961 ein guter DEFA-Freund und -kenner, nun als Leiter der Künstlerischen Arbeitsgruppe Lutsch – der Strahl. Schon die erste Begegnung mit Gabrilowitsch, unserem Wunschkandidaten für die Buchmitarbeit, machte auf uns einen starken Eindruck. Der sehr kleine Mann, mit dem durchgeistigten Gesicht eines altersweisen Juden, war einer der ganz Großen der alten Garde sowjetischer Filmszenaristen. Er hatte für die berühmtesten russischen Regisseure Michail Romm, Friedrich Ermler und Juli Raisman geschrie- ben. Doch auch ein Exponent der jungen Generation, Gleb Panfilow, verdankte ihm das Buch für einen der schönsten und modernsten Gegenwartsfilme – Der Anfang. Einigermaßen befangen saßen wir also vor dem unscheinbaren Siebzigjährigen mit dem unvergleichlichen Lebenswerk. Seine bedächtigen Fragen und kritischen Anmerkungen waren frei von Selbstgewißheit. Er hatte mehrere Angebote des Komitees und sowjetischer Studios zur Teilnahme an Prestigeprojekten abgelehnt. Hier aber vertraute er dem Filmentwurf und einer echten Gemeinschaftsarbeit im kleinen Team. Er forderte starke emotionale Wirkungen statt langer Reden. Einig war man sich über einen lakonischen, auch komödiantisch-anekdotischen Stil mancher Episoden. Die konzeptionelle Übereinstimmung war erstaunlich rasch herbeigeführt. Für die vielwöchige praktische Zusammenarbeit, teils in Moskau, teils in Berlin, muß- ten nun die Reiseformalitäten bewältigt, Aufenthalts- und Arbeitsmöglichkeiten organisiert, bindende Verabredungen getroffen, Verträge geschlossen werden. Der sowjetische Autor wünschte sich aus gutem Grund die DEFA als alleinigen Ver- tragspartner.

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Die Arbeit am Rohdrehbuch verlief erstaunlich konfliktfrei. Besuch unterbrach eine der lebhaften Debatten in der Hochhauswohnung von Gabrilowitsch. Ein jun- ger Mann mit schwerem Koffer wurde freudig begrüßt, sofort in die Küche geführt, um auszupacken. Anteilnehmend wollten wir wissen, ob wir stören, weil vielleicht der Sohn aus weiter Ferne zurückgekehrt sei. Doch Jewgeni Josifowitsch beruhigte uns. Nein, nein, nicht der Sohn, nur der Spekulant sei turnusmäßig vorbeigekom- men, der private Beschaffer rarer Lebensmitel und Leckereien zu Extrapreisen ... Mitten in diese schöne Harmonie platzte im Juli 1969 ein Telegramm aus Ober- hof, Haus Waldesrand 290. Es war glücklicherweise nicht an mich gerichtet, son- dern drohend sogleich an »chefdramaturg g. schroeder. Neueste fassung moskauer teil leninfilm völlig unmöglich. Nicht besprochene änderungen verfälschen inhalt politisch. Für handlung überflüssige historisch unzutreffende milieudetails hinzu- gefügt. Einziger auftritt lenins ganz am schluss mit völlig unmöglichem text. Ur- sache vermutlich nachgeben gegenüber gabrilowitsch, der politisches gewicht und bedeutung für uns nicht versteht. Verlange einhaltung getroffener vereinba- rungen, andernfalls ziehe option zurück.« Antwort erwartete der empörte Leser im Kurort »morgens bis 9.00, mittags 12- 14, abends nach 18 Uhr« und schloß ohne freundlichen oder auch nur sozialisti- schen Gruß: »Kurella« Da läuteten alle Alarmglocken. Gabrilowitsch, gerade in Berlin, drohte schon mit Abreise. Allein Günter Klein gelang dank optimistischer Moderation, das per- sönliche Gespräch zwischen den Parteien wieder in Gang zu bringen. Es kam schließlich zu künstlerischen Lösungen, mit denen beide Seiten leben konnten. Mit der neuen, nunmehr von Kurella abgesegneten Fassung traf man sich erneut in Arnschtams Gruppe. Sein irritierender Zwischenbescheid über zu erwartende schwere Einwände erledigte sich glücklicherweise bei der Begrüßung in Moskau. Verantwortlich war die platte russische Übersetzung der Dialoge in Berlin. Sie war inzwischen redaktionell korrigiert worden. Im Abnahmegespräch kritisierte der Ju- gendfunktionär des Komsomol die mangelnde Entwicklung des jungen Mannes zum Berufsrevolutionär. Auch Baierls schöne Erfindung, die Figur des kleinen Sol- daten im Zug der heimkehrenden Kriegsgefangenen, entsprach nicht seinen Wunschvorstellungen vom proletarischen deutschen Landser, der, in Rußland be- kehrt, die Ideen der Revolution nach Deutschland zu tragen habe. Der Ernst der De- batte veranlaßte Günter Reisch zur Erinnerung, daß ein heiterer Blick auf die Ge- schichte aus der »Sicht« – wie konnte es anders sein – »der Sieger« beabsichtigt sei. Danach kam es rasch zur Produktionsfreigabe und zum Koproduktionsvertrag. In meiner Erinnerung bleiben die freundschaftlichen Begegnungen mit Jew- geni Gabrilowitsch, besonders herzliche mit Lew Oskarewitsch Arnschtam, Jahr- gang 1905. Als Absolvent des Leningrader Konservatoriums hatte er zunächst als Musiker am berühmten Meyerhold- gearbeitet, bevor seine Filmkarriere begann. Als Autor und Komponist des Films Soja erhielt er auf dem 1. Internatio- nalen Filmfestival in Cannes den Preis für das beste Szenarium. Er beeindruckte

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seine junge Kleinmachnower Gastgeberin mit geradezu französischer Noblesse und Galanterie. Der stattliche alte Herr ließ es sich nicht nehmen, mit ihr eine flotte Sohle aufs Hochglanzparkett zu legen... In einem langen Brief wandte er sich nach dem Rohschnitt noch einmal per- sönlich an »dorogoi diter«, um seine sehr präzisen Beobachtungen mitzuteilen und kleine Korrekturen für Montage und Synchronisation vorzuschlagen. Er schloß mit »Grüßen an alle Freunde in herzlicher und wahrer Freundschaft Ihr L. Arnschtam.« Ein Zeitzeugnis darf nicht fehlen. Der junge Münchener Laiendarsteller des Martin schrieb in unser Gästebuch: »Ein gelungener Abschluß der langen Monate, die ich im etablierten Sozialismus verbringen durfte, war das Sit-in bei Wolfs. Aber beim Tischtennis habt ihr mich maßlos geschlagen. In der Hoffnung, daß eure Genossen bei den olymp. Spielen in München genau so abschneiden ein drei- fach-kräftiges Rotfront – Helmut Habel«. Die hiesige Abnahme war wie selten problemlos. Die Staatliche Zulassung vollzog Günter Klein protokollwidrig gleich im Studio. In Moskau aber gab es noch einmal ein kleines dramatisches Intermezzo. Als im Staatlichen Filmkomitee ein Redakteur dieser höchsten Behörde anhub, auch noch die Szenen mit Lenin auf ihren Realitätsgehalt hin zu befragen, wurde er, be- vor noch seine Rede ins Deutsche übersetzt war, vom zunehmend erregten Alfred Kurella mit der kurzen rhetorischen Frage gestoppt: »Ha-ha-habe ich mit mit Le- lenin gesprochen o-oder Sie?« Nach der Nationalpreisehrung baten Günter Reisch und seine Frau Beate die engere deutsche Crew samt Anhang zur familiären Nachfeier ins kleine Reihen- haus in Berlin-Baumschulenweg. Eine schöne Geste, die man von anderen Preis- trägern nicht kannte. Da war Spaß und Tanz in allen Räumen angesagt. Und der Regisseur schenkte seinem sehr verdienstvollen producer Manfred Renger ein Tonbandgerät. Der großformatige schwergewichtige Kasten trug den anmutigen Namen Smaragd.

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Na puti k Leninu Unterwegs zu Lenin /

Produktionsland DDR/UdSSR Premierendatum 16. April 1970, Berlin: Kosmos und International Auszeichnungen Prädikat »besonders wertvoll«; XVII. Internationale Filmfestspiele Karlovy Vary 1970, Spezialpreis der Jury; das Kollektiv – Helmut Baierl, Günter Reisch, Herbert Fischer, Jewgeni Gabrilowitsch, Jürgen Brauer – erhielt 1970 den Nationalpreis III. Klasse Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Luh Gruppe »Babelsberg«/Mosfilm (Gruppe ) Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Günter Reisch/Lucia Ochrimenko Regie-Assistenz: Erika Schulze, Renata Nagornaja, Assistenz-Regie: Eleonore Dressel Drehbuch Helmut Baierl, Jewgeni Gabrilowitsch; Mitarbeit: Günter Reisch, Herbert Fischer Vorlage Alfred Kurella (Motive des Erinnerungsbuches) Dramaturgie Herbert Fischer; Boris Kremnjow. Kamera Jürgen Brauer, Waleri Wladimirow Kamera-Assistenz: Peter Bernhardt Standfotos: Rudolf Meister Licht Max Sperling, Michail Kudelin Bauten Alfred Thomalla und Jewgeni Serganow Bauausführung: Senta Ochs, Jewgeni Korabljow, Walter Vargel Requisite Werner Kirschstein, Alexandra Kudelina, Dieter Lebek Bühne Richard Lüscher (Bühnenmeister) Kostüm Edith Probst-Mai; Irina Belakowa Maske Frank Zucholowsky, Wladimir Jakowlew, Karin Kirbst Schnitt Monika Schindler Musik Karl-Ernst Sasse Produktionsleitung Manfred Renger, Alexander Aschkinasi Aufnahmeleitung Karl-Heinz Marzahn, Juri Nossikow, Lutz Pinnow Ton Konrad Walle, Lija Benewolskaja

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Darstellende Viktor Kleist: Gottfried Richter Wladimir Iljitsch Lenin: Michail Uljanow Martin: Helmut Habel, George: Lew Krugli Lore: Heidemarie Wenzel Frau von Roettger: Frau Kleist: Helga Göring Georges Mutter: Erika Pelikowsky Untersuchungsrichter: Norbert Christian Harry Motsch: Jörg Gillner Rolf Rosenow: Telefonistin: Anna Prucnal Leutnant Vogel: Hans-Joachim Hanisch Erich, junger Arbeiter: Dieter Mann Genosse Wolf: Horst Hiemer Alter Mann auf der Treppe: Hans Klering Kleiner Soldat: Hans-Peter Reinicke Der Kommissar: Gleb Strychenow Der Oberleutnant: Wolfgang Borkenhagen Major: Kurt Müller-Reitzner Alte Frau: Jekaterina Werezowa Bauer: Feliksas Einas, Wirt: Anatoli Aso Seine Frau: Danguoli Baukaité Sekretär des Kreiskomitees: Anatoli Kusnezow Pilot: Gennadi Juchtin Hoteldiensthabende: Walentina Wladimirowa Lasar Schatzkin: Jewgeni Gontscharow Rimma: Lusjena Owtschinnikowa Oskar Riwkin: Wladimir Kusnezow Schwarkin: Michail Metjolkin, Fedja: Pjotr Makowski in weiteren Rollen: Margret Stange, Horst Mendelsohn, Walter Schramm, Gerti Zillmer, Fritz Decho, Peter A. Stiege, Julius Benne, Elfie Stahl, Frank Michaelis, Hans Fiege, Brigitte Hermann, Andrea Link

Zum Inhalt

Der junge deutsche Kommunist Viktor Kleist ist im Frühjahr 1919 unterwegs nach Moskau. Er soll Lenin treffen und ihm über die Münchner Räterepublik berichten. Doch während der langen und abenteuerlichen Reise wird der revolutionäre Versuch in Süddeutschland zerschlagen. Kleist erlebt die Wirren im frühen Sowjetrußland und nimmt in Moskau an einem internationalen Kongreß der Jungkommunisten teil. Er trifft tatsächlich mit Lenin zusammen, der ihm erklärt, wie notwendig Geduld für einen Kommunisten und Revolutionär ist.

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Anton, der Zauberer

Produktionsland DDR (1977) Premierendatum Premiere anläßlich der VI. Tage des sozialistischen Films vom 19. – 25. September 1978 im Bezirk Rostock – Kinostart: 22. September 1978 Auszeichnungen Das Kollektiv – Karl Georg Egel, Günter Reisch, Ulrich Thein – erhielt 1979 den Heinrich-Greif-Preis I. Klasse; Kritikerumfrage der Sektion Theorie und Kritik des Verbandes der Film- und Fernsehschaffen- den der DDR 1979 – bester DEFA-Film des Jahres 1978; bester DEFA-Film im komischen Genre 1978. Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Günter Reisch Regie-Assistenz/Co-Regie:Maxim Dessau, Ulrich Kanakowski Drehbuch Karl-Georg Egel, Günter Reisch Drehbuch- u. Szenarium-Mitarbeit: Fritz Joachim Burmeister Dramaturg Willi Brückner Kamera Günter Haubold Kamera-Assistenz: Eckhart Hartkopf Standfotos: Dieter Lück Licht Günther Müller, Norbert Lude Bauten Hans-Jörg Mirr Bauausführung: Elke Busz, Udo Scharnowski Requisite Rudolf Borchardt Bühne Dieter Tillak (Bühnenmeister) Kostüm Christiane Dorst Maske Lothar Stäglich, Margrit Neufink, Rosemarie Stäglich Schnitt Bärbel Weigel Ton Horst Mathuschek Mischung: Gerhard Ribbeck Musik Wolfram Heicking Produktionsleitung Manfred Renger Aufnahmeleitung Karl-Heinz Marzahn, Walter Hunger Sprecher Klaus Piontek

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Darstellende Anton: Ulrich Thein, Liesel: Anna Dymna Vater Grubske: Erwin Geschonneck Sabine: Barbara Dittus, Ille: Marina Krogull Schröder: Erik S. Klein, Bürgermeisterin: Jessy Rameik Rechtsanwältin: Marianne Wünscher Leiter der Haftanstalt: Ralph Borgwardt Oberwachtmeister: Gerry Wolff Franz Rostig: Werner Godemann, Istvan: Deszö Garas Sergeant: Grigori Grigoriu, Pfarrer: Karl Georg Egel Max Kettler: Leon Niemczyk Bankmensch: Alfred Struwe Frau Schmiedert: Gertrud Brendler Neue Wirtin: Angela Brunner, Häftling: Harry Merkel Paul: Günther Drescher, Miers: Gerd Ehlers Untersetzter Großbauer: Pedro Hebenstreit 1. Bauer: Peter Kalisch, Schmiedert: Hans Klering Ungarische Ärztin: Irene Mahlich der junge Merten: Manfred Merten Direktor des volkseigenen Gutes: Willi Neuenhahn Der Unscheinbare: Günter Reisch VP-Offizier: Gottfried Richter Polizist/Grenze: Carlo Schmidt in weiteren Rollen: Helmut Schreiber, Sa Aun Khemmara, Wolfgang Sasse, Hans-Joachim Hanisch, István Bucsi, Mezei Lajos, Besztercey P’al, Karl-Heinz Weiß, Roland Kuchenbuch, Denys Seiler Anne Wollner, Wilhelm Gröhl, Helmut Schulze Albert John, Hans-Günter Schmidt, Gunther Karstedt, Uwe Schmidt, Friedewald Berg, Karli Schwarz, Ilse Schmidt-Peterling, Klaus Ebeling, Werner Geis, Werner Pfeifer, Peter Pauli, Roman-Eckhard Gallonska, Klaus Tilsner, Alfred Lux, Sonja Hörbing, Renate Usko, Eva Schäfer, Ilona Ringer, Klaus Grau, Günther Müller, Hans-Gotthilf Brown, Horst Giese, Rolf Staude, Siegfried Fiebig, Zuzsa Puchard, Szigefi András, Lencz György, Elli Straube, Joachim Pape, Rainer Kottwitz, Frank Lehmann, Holger Eckert, Karl Maschwitz, Karl-Heinz Kruse, Joachim Dietzel, Brigitte Riemann, Hannes Stelzer Eckhard Becker, Sabine Pohl

Zum Inhalt Der Automechaniker Anton Grubske ist ein pfiffiger Bursche. 1945 entgeht er der Kriegs- gefangenschaft, entzieht sich den Fängen der Gastwirtswitwe Sabine und kehrt in sein Hei- matdorf zurück. Dort heiratet er die Tochter seines Chefs, macht die Werkstatt zu einem florierenden Unternehmen, indem er mit aufgemöbelten Autowracks den ganzen Kreis motorisiert. Er schröpft die Großbauern weidlich und deponiert das Geld bei seiner alten Freundin Sabine, die ihn auch noch in Schiebereien verwickelt, so daß Anton bald Mil-

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lionär ist. Seine Umtriebe bringen ihm vier Jahre Gefängnis ein, wo er sich ebenfalls als Organisationstalent bewährt hat und als Aktivist entlassen wird. Seine Million ist aller- dings dahin, Sabine hat sich mit dem Geld in die Schweiz abgesetzt. Aber Anton macht wei- ter Karriere, als Ersatzteilbeschaffer eines Traktorenwerkes. Sein Ruf hat inzwischen RGW-Dimensionen erlangt, als er von Sabine, die verunglückt ist, die hohe Lebensversi- cherung und einen Straßenkreuzer erbt. Das Geld schenkt er der Stadt, den Straßenkreuzer schickt er in die Schrottpresse, und ob dieser großartigen Tat betrinkt er sich so fürchter- lich, daß sein Herz versagt.

Ein Lord am Alexanderplatz

Produktionsland DDR (1967) Premierendatum 3. März 1967 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) Ein Film der Gruppe »Johannisthal« Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Günter Reisch Assistenz-Regie: Heinz Mentel Regieassistenz: Christoph Prochnow Drehbuch Kurt Belicke, Günter Reisch Szenarium Kurt Belicke Dramaturg Maurycy Janowski Kamera Jürgen Brauer Filmfotograf: Erhard Schweda Standfotograf: Hein Wenzel Szenenbild Alfred Thomalla Oberbeleuchter Felix Kusche Bauausführung Marlene Willmann, Manfred Böhme Außenrequisiteurin Sigrid Weidhaas Kostüm Dorit Gründel Maske Ursula Funk, Irmgard Lippmann, Alois Strasser ^ Schnitt Monika Schindler

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Ton Gottfried Sobczyk Musik Gerd Natschinski Produktionsleitung Fried Eichel Aufnahmeleitung Kurt Lichterfeld, Werner Pfeifer Sprecher Rolf Ripperger Darstellende Ewald Honig: Erwin Geschonneck Ina: Angelica Domröse Johanna Farkas: Monika Gabriel Sabine: Barbara Dittus, Schröder: Erik S. Klein Dr. Achim Engelhardt: Armin Mueller-Stahl Frau Müller: Marianne Wünscher Frau Schlosser: Erika Dunkelmann Frau Holzmeyer: Carola Braunbock Hauptmann Pahl: Friedo Solter Koffer-Ede: Willi Narloch Dr. Schießer: Hannes Fischer Leutnant Liebrecht: Joachim Bober Günti Schwalbe: Ivan Malré Pisurschke: Edwin Marian, Wolfgang: Jürgen Reuter Dr. Härtel: Willi Schwabe, Kollege Lenz: Herbert Köfer Tankwart: Hans Hardt-Hardtloff Kfz-Mechaniker: Heinz Scholz, Ernst-Georg Schwill Fotograf: Gerd E. Schäfer, Richter: Ralph Borgwardt Anna Vogel: Bertrud Brendler Frau Schwalbe: Thea Elster Frau Härtel: Dorothea Volk Sprechstundenhilfe: Barbara Dittus Verwandter: Joachim Tomaschewsky Frau: Miriam Sello-Christian Volkspolizisten: Hans-Edgar Stecher, Otmar Richter und Rudi Kirchhoff Der Musiktitel »Pußta-Beat« wurde auf AMIGA-Schallplatte produziert.

Zum Inhalt Ex-Heiratsschwindler Ewald Honig kommt aus Westdeutschland zu seiner Tochter Ina nach Ostberlin, um hier einen geruhsamen Lebensabend zu verbringen. Er ist bereits über die Fünfzig. Ina, ganz die Tochter ihres Vaters, versucht, sich mit Hilfe graumelierter Her- ren finanziell zu sanieren. Während er seine Tochter davon abzubringen sucht, indem er die Ehe ihrer »Opfer« kittet, machen es einige Damen fortgeschrittenen Alters Ewald schwer, der eigenen Versuchung zu widerstehen. Indes ist die ungarische Kriminalistin Johanna Farkas auf der Suche nach Ewald und der Kriminalpsychologe Dr. Achim Engel- hardt auf der Suche nach Ina. In eigener Sache sozusagen. Da sich beide nicht kennen, hält Achim Johanna für die Gesuchte. So kommt es zu einem Liebes-Verwechslungsspiel mit Happy-End.

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Ach, du fröhliche nach der literarischen Vorlage »Und das am Heiligabend …« von Vratislav Blazˇek

Produktionsland DDR Premierendatum 7. Oktober 1962 Potsdam-Babelsberg, Thalia Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg, Künstlerische Arbeitsgruppe »Roter Kreis« Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Günter Reisch Regie-Assistenz: Rolf Losansky Drehbuch Hermann Kant, Vratislav BlaÏek Dramaturgie Gerhard Hartwig Kamera Horst E. Brandt Kamera-Assistenz: Peter Süring Standfotos: Josef Borst Licht Herbert Buchberger Bauten Alfred Hirschmeier Bauausführung: Willi Schäfer, Georg Kranz Kostüme Walter Schulze-Mittendorff Maske Kurt Tauchmann, Ruth Kwiatkowski Schnitt Lena Neumann Musik Helmut Nier Produktionsleitung Hans Mahlich Aufnahmeleitung Oskar Ludmann, Gerrit List Ton Bernd Gerwien Darstellende Walter Lörke: Erwin Geschonneck Großmutter: Mathilde Danegger Anne Lörke: Karin Schröder Thomas Ostermann: Arno Wyzniewski Karl Lörke: Günter Junghans Peggy: Rosemarie Schelenz Herr Ostermann: Herwart Grosse Frau Klinkenhöfer: Marianne Wünscher Herr Klinkenhöfer: Walter Jupé Frau Siebkorn: Karla Runkehl

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Darstellende Betrunkener Fleischer: Gerd Ehlers Studentenvertreter: Erik Veldre Seine Frau: Jutta Wachowiak Prof. Flimmrich: Walter E. Fuß Taxifahrer: Fred Delmare Abschnittsbevollmächtigter: Siegfried Kilian Gefreiter Nasprzik: Horst Jonischkan Mann aus dem Büro: Günter Rüger Junger Arbeiter: Klaus Gehrke Filmvorführer: Hans Bussenius Frau mit Hunden: Yvonne Merin 1. Druckereiarbeiter: Johannes Frenzel 2. Druckereiarbeiter: Erich Weber Giese: Horst Giese, Dicker Mann: Rudolf Mühle Direktor: Gerhard Scholz, Serviererin: Ingrid Schnell Betrunkener: Hans Hardt-Hardtloff Kellnerin: Ingeborg Krabbe Mann am Haustelefon: Wolfgang Roeder Direktor: Dieter Pröhl 1. Gast bei Siebkorn: Paul Berndt 2. Gast bei Siebkorn: Ursula Blank 3. Gast bei Siebkorn: Arthur W. Neubert 4. Gast bei Siebkorn: Hermann Kant

Zum Inhalt Weihnachten 1961. Der Arbeitsdirektor des VEB »13. August«, Walter Lörke, wünscht sei- nen Kollegen ein geruhsames Fest, wie er es selbst auch im Kreis seiner Lieben zu verbrin- gen gedenkt. Doch Tochter Anne hat eine Überraschung parat – in Gestalt des zukünftigen Familienmitglieds Thomas Ostermann. Daß sie Thomas zu heiraten gedenkt, irritiert Vater Lörke, daß sie ihm ihre Schwangerschaft verheimlicht hat, empört ihn, und daß sich Tho- mas auch noch als entschiedener Kritiker des Arbeiter- und Bauernstaates zu erkennen gibt, bringt ihn vollends in Rage. Die friedliche Weihnacht ist dahin, doch Vater Lörke, der in der ersten Wut das Haus ver- läßt, besinnt sich. Plötzlich erscheint ihm der junge Mann ganz akzeptabel, und er versucht herauszufinden, was Thomas zu dieser negativen Haltung dem Staat gegenüber gebracht haben könnte. Lörke stimmt der Hochzeit zu.

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2008

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Überblick zu Terminen und Filmen

17. Januar Wolz. Leben und Verklärung eines deutschen Anarchisten Regie: Günter Reisch, DEFA 1973 Filmgespräch mit Günter Reisch 7. Februar Die besten Jahre Regie: Günther Rücker, DEFA 1965 Filmgespräch mit Ernst Machacek 13. März KLK an PTX – Die Rote Kapelle Regie: Horst E. Brandt, DEFA 1970 Filmgespräch mit Horst E. Brandt 17. April Der verlorene Engel Regie: Ralf Kirsten, DEFA 1970 15. Mai Der Aufenthalt Regie: Frank Beyer, DEFA 1982, Filmgespräch mit Hermann Kant und Wolfgang Kohlhaase 12. Juni Berlin, Ecke Schönhauser Regie: Gerhard Klein, DEFA 1957 3. Juli Beethoven. Tage aus einem Leben Regie: Horst Seemann, DEFA 1975/76 Filmgespräch mit Renate Richter 28. August Klarer Himmel Regie: Grigorij Schuchrai, Sowjetunion 1961 11. Sept. Blonder Tango Regie: Lothar Warnecke, DEFA 1985 9. Oktober Das Kaninchen bin ich Regie: Kurt Maetzig, DEFA 1965 6. November Beschreibung eines Sommers Regie: Ralf Kirsten, DEFA 1962 11. Dezember Mutter Courage und ihre Kinder Regie: Palitzsch/Wekwerth, DEFA 1960 Filmgespräch mit

Zeit und Ort: jeweils 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Saal 1. Etage Teilnahmegebühr: 4/2 Euro Kontakt: Angela Müller, Tel. 030 44310-126

Die Reihe wird auch in diesem Jahr begleitet von Dr. Dieter Wolf, Hauptdramaturg und Leiter der Gruppe »Babelsberg« der DEFA. Und mit weiteren »Überraschungsgästen« darf auch gerechnet werden ...

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Wolz. Leben und Verklärung eines deutschen Anarchisten

Mit einigen wenigen Vorbemerkungen zur Entstehungsgeschichte möchte ich vor allem den Autor Günther Rücker zu Wort kommen lassen, der nicht bei uns sein kann. Der Wolz-Film eröffnete am 31. Januar das DEFA-Kinojahr 1974 im größten Berliner Filmtheater Kosmos. Verleih und Lichtspielwesen gewährten diesen Startplatz stets nur in Erwartung eines massenhaften Andrangs. Diese Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Das Studio wurde nach sowjetischem Beispiel schon in frühen DEFA-Zeiten auf das Genre des historisch-biographischen Films orientiert. Da dachte man vor allem an die Führer der Arbeiterklasse. 1953 setzte es Parteischelte sogar für den schönen Film Die Unbesiegbaren. In der anrührenden Geschichte einer sozial- demokratischen Arbeiterfamilie in der Zeit des Bismarckschen Sozialistengeset- zes traten nämlich die Altvorderen August Bebel und Wilhelm Liebknecht nur in Episodenrollen auf, in porträtgetreuer Maske dargestellt von Karl Paryla und Erwin Geschonneck. Nach zwei Filmen über Ernst Thälmann und dem zweiten über Karl Liebknecht gab es Überlegungen, Stefan Heyms Lassalle-Roman zu adaptieren. Doch das stieß sogleich auf die maliziöse Frage: Und das vor einem Karl-Marx-Film? Oder der etwa in einer Nebenrolle? Günther Rücker trug sich schon länger mit der Absicht, einen Film über Max Hoelz zu schreiben. Doch die schillernde historische Figur, sein dramatisches Schicksal in der Zeit des mitteldeutschen Arbeiteraufstands, seine Verfolgung und jahrelange Zuchthaushaft sicherten ihm noch keinen Platz im thematischen Pro- duktionsplan des Studios. Schon gar nicht sein fragwürdiges, jedenfalls tragisches Ende 1930 im Alter von nur 44 Jahren in Stalins Sowjetunion. So fehlte dem Autor zunächst der gesellschaftliche Impuls, ausgerechnet diese in der Parteigeschichte umstrittene, im Mansfeldischen aber geradezu sagenum- wobene Gestalt zum zentralen Helden zu wählen. Und da stand noch ein anderes Warnschild im Wege: Die heikle, öffentlich eher schamhaft verkürzte Geschichte der von Fraktions- und Führungskämpfen gezeichneten Kommunistischen Partei. Doch der Stoff ließ Rücker nicht los. Die weniger frostigen frühen 70er Jahre schienen dem Projekt gewogen. Ganz parteiamtlich hieß es jetzt: »Wir können weder auf die Entdeckungen der Wissen- schaften noch auf die Entdeckungen der Künste verzichten«. Kurt Hager ermun- terte die Künstler als »Entdecker neuer Wirklichkeiten« ausdrücklich, zu »neuen Stoffen vorzudringen«. Auch das Dogma vom »positiven Helden« war inzwischen aus der Kunstpro- duktion verschwunden, weitgehend sogar aus der Programmatik, wenigstens ex- pressis verbis.

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Trotzdem entschied sich Günther Rücker früh und endgültig für einen freien li- terarischen Umgang mit der Historie, für die bloße Anlehnung an den authenti- schen Lebensbericht. Das befreite ihn vom Zwang exakter zeitgeschichtlicher Re- konstruktion zugunsten einer eher parabelhaften literarischen Gestaltung. Er wollte eine Legende erzählen. Also: Leben und Verklärung eines deutschen Anar- chisten. So schützte er den Film auch vor den Erwartungen und dem Urteil allzu akribischer Parteihistoriker. Geschichte interessierte Günther Rücker aber stets nur in bezug auf die Gegenwart und ihre geistigen Herausforderungen. Nach sol- chem Anlaß befragt, sagte er: »Mitte der 60er Jahre belebten sich linker Radika- lismus, Maoismus und Anarchismus. Ich hielt es für an der Zeit, einen Film zu schreiben, der besonders der Jugend sagt, ›Liebe Leute, was ihr da hört, ist so neu nun wiederum nicht, es hat seine Unfähigkeit in der Geschichte bewiesen‹.« Ein so fast didaktisch anmutendes Anliegen war Rückers künstlerisches Credo eigent- lich nicht. Ohne es auszusprechen, mag der Autor dabei auch an die heimlichen Sympa- thien gedacht haben, die es im Lande durchaus für Che Guevaras Guerillakampf in Bolivien gab, obwohl sich die Partei längst von jedem »Export der Revolution« losgesagt hatte. Stärkere und offiziell beargwöhnte jugendliche Anteilnahme aber galt der westdeutschen Studentenrevolte, ja, selbst den fragwürdigen Aktionen der RAF und ihrem individuellen Terror gegen Repräsentanten des verhaßten restau- rativen gesellschaftlichen Systems. Im Juni 1972 wurde Ulrike Meinhof verhaftet. »Nicht umsonst«, so Rücker im Interview, »ist der Max Hoelz bis heute (....) eine ganz große, fast legendäre Figur, obwohl es (...) eine wohlformulierte Kritik an seiner Haltung gibt. Wir denken an ihn mit Zorn, mit Ärger und zugleich auch mit Trauer.« Ein Helden-Typus mit solch ambivalenter ideeller, ästhetischer und emotiona- ler Wertung und Wirkung war im DEFA-Historienfilm neu und blieb singulär bis zum Film über den Dichter von Roland Gräf 1988. Nach seinem Regiedebüt in Babelsberg und dem Achtungserfolg für Die be- sten Jahre hätte Günther Rücker jederzeit auch die Regie des Wolz übernehmen können. An Erfahrung mangelte es ihm wahrlich nicht nach der Inszenierung sei- ner zahlreichen Hörspiele. Er kannte nicht nur alle Darsteller der Berliner Büh- nen. Mit vielen hatte er intensiv zusammengearbeitet, mit nicht wenigen war er befreundet. Zwei Gründe nannte er selbst für seine Abneigung, in den Regiestuhl zurück- zukehren. »Ich war nach so langer Zeit – das erste Szenarium wurde vor acht Jahren ge- schrieben – etwas müde geworden. Ich hätte die große Kraft für die Vorbereitung des Films, die sehr kompliziert war, nicht mehr aufgebracht. Mir schien es not- wendig, daß ein Neuer hinzukam mit vollem Einsatz und voller Kritikfähigkeit. Und da kam Günter Reisch.« Mit ihm hatte er 1955/56 seine Spielfilmarbeit be- gonnen – Junges Gemüse.

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Doch er hatte noch einen allgemeineren Beweggrund, es bei der Bucharbeit zu belassen. »Filmregie ist ein Beruf, und ich habe ihn nicht gelernt, ein harter, im Detail nicht sehr leicht erlernbarer Beruf, den man ununterbrochen ausüben muß, wenn man es zur souveränen Beherrschung der Mittel bringen will.« Und an anderer Stelle sprach er über die recht profanen Umstände des Alltags dieser Profession, die so freundlich verharmlosend auch als »Spielleitung« be- zeichnet wird. »Ein Dreivierteljahr Arbeit! Kampf gegen Plan, Materie, Zufälle. Die Momente, in denen du mit dem Schauspieler die Figur baust, sind die wenigsten, Sekunden unter Tagen und Wochen von Wust.« »Muß ich denn meine Tage damit zubringen, auf Sonne zu warten oder auf den Schauspieler?« Letzteres allerdings war eine sehr DDR-typische und DEFA- eigene Malaise, die das Studio an die Gunst der Intendanten und jeweiligen Büh- nen-Regisseure auslieferte. Drehplan und Tagesdispositionen mußten nicht nur den Abendspielplan der Theater berücksichtigen. Oft wartete man am Drehort, weil sich kurzfristig angesetzte morgendliche Stückproben verzögerten. Dazu ka- men die Unwägbarkeiten einer mindestens einstündigen Anfahrt aus der Haupt- stadt der DDR südlich um Westberlin herum zum Studio in Babelsberg oder noch länger zu einem Außenschauplatz. Von diesen und anderen Bedingungen und Beschwernissen der Realisierung dieses anspruchsvollen zeitgeschichtlichen Films kann Günter Reisch ihnen nun die kompetenteste Auskunft geben, vor allem zur internationalen Besetzung gleich zweier Hauptrollen und der beeindruckenden Wahl der Motive und Schau- plätze.

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Wolz. Leben und Verklärung eines deutschen Anarchisten

Produktionsland DDR, 1964/1965 Produktionsfirma DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) (Künstlerische Arbeitsgruppe »Berlin«) Produktionsleitung Manfred Renger Erstverleih Progreß-Filmverleih, Berlin Uraufführung 31. Januar 1974, Filmtheater Kosmos, Berlin Regie Günter Reisch Drehbuch Werner Beck Scenarium Günther Rücker Kamera Jürgen Brauer Bauten Dieter Adam Kostüme Ewald Forchner Schnitt Bärbel Weigel Musik Karl-Ernst Sasse Darstellende Ignaz Wolz: Regimantas Adomaitis Agnes: Heidemarie Wenzel Ludwig: Stanislav Lubsˇin Morgner, Wolz’ Begleiter: Jörg Panknin Kassierer: Peter Hölzel Rudi: Rainer Kleinstück Arthur: Günter Wolf Gustav: Herwart Grosse Geiger: Václav Kotva in weiteren Rollen: Helga Göring, Helmut Schreiber Stanislav Lyubshin, Astrid Bless

Zum Inhalt Der Soldat Ignaz Wolz entwickelt nach dem Ersten Weltkrieg unbändigen Haß auf die kapi- talistischen Kriegsgewinnler und startet 1919 seine eigene Revolution: Mit einigen Anhän- gern enteignet er Grund- und Fabrikbesitzer und verteilt die Reichtümer in der armen Be- völkerung. Aus dem organisierten Klassenkampf hält er sich aber heraus und kann sich mit einem ehemaligen Kameraden, dem Kommunisten Ludwig, nicht auf eine Zusammenarbeit einigen. Nach weiteren Einzelaktionen landet er im Zuchthaus. Sieben Jahre später wird er aufgrund von Massenprotesten freigelassen, kann sich aber nun erst recht in keine Struktu- ren mehr einfügen. Er trennt sich von ehemaligen Weggenossen und verläßt schließlich Deutschland, da niemand mehr seinen anarchistischen Ideen folgen will.

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Der Schriftsteller und Regisseur Günther Rücker

Fünf Tage nach Günther Rückers 84. Geburtstag möchte ich, bevor wir seinen Film sehen, vom Autor sprechen und vor allem ihn zu Wort kommen lassen. Sein Weg zur DEFA war nicht eben der kürzeste, und die Arbeit für das Medium nicht die leichteste. Theaterabende vor dem Heidelberger Schloß hatten den Schüler 1939, kurz vor Kriegsbeginn, lebensbestimmend fasziniert. Der Krieg aber bescherte ihm und seinem Jahrgang erst einmal die Rache der frühen Geburt. Da war an eine künstle- rische Zukunft nicht zu denken. Doch 1948 hatte Rücker, inzwischen Assistent am Leipziger Schauspielhaus, eine sozusagen wegweisende Wiederbegegnung mit dem damaligen technischen Leiter der Schloßfestspiele von . »Der«, so Rücker, »riet mir: Geh zur DEFA, die suchen junge Regisseure. Er machte für mich einen Termin, und ich fuhr im Sonntagsanzug, mit Hut und Ak- tentasche, als besserer Herr verkleidet, nach Berlin. Aber der erste Künstlerische Leiter der DEFA, , suchte ›fertige Regisseure‹, Assistenten haben wir genug. Die Bürgerlichen werden eines Tages hier weggehen, und dann seid ihr gefordert. Lerne also, und wenn du dich stark genug fühlst, komm wieder. Ich suchte die DEFA-Dramaturgie auf. Ein Filmvorschlag war nicht beantwor- tet worden. Es ging um die Fremdenlegion. Man empfahl mir Themen aus dem Verkehrswesen der DDR. Oder Kohle. Wenn möglich Steinkohle. Der Chefdra- maturg (damals gab es noch keine Künstlerischen Arbeitsgruppen – D. W.) ließ sich meine Geschichte vor den versammelten Dramaturgen noch mal erzählen. Ich sah die verkniffen und verbissen grinsenden Gesichter. Der Abschied war für lange. (...) Das einzige, was zu erzählen ich in der Lage gewesen wäre, waren die Jahre vor der Okkupation der Sudentengebiete. (...) ,es war nicht die Zeit dafür. 40 Jahre später habe ich eine der Geschichten von damals als Film konzipiert – Hilde, das Dienstmädchen – und bin nicht sehr glücklich damit geworden. Die zweite Gene- ration sitzt als Publikum im Kino und weiß mit dem, was damals unser Leben zer- störte oder stark gemacht hat, nichts mehr anzufangen. Aus gutem Grund bin ich diesem Thema 30 Jahre lang ausgewichen. Es bleibt eine Randgeschichte, ein Minderheitenproblem. (...) Als Deutsche waren wir damals (Rücker stammt aus Liberec/Reichenberg – D. W.) eine Minderheit im Vielvölkerstaat der ersten Tschechoslowakischen Republik. Unter den Deutschen waren die Linken in einer verschwindenden Minderheit.« Eine Idee: Damals zu früh – und nun zu spät. Also widmete sich Rücker erst einmal ganz dem auditiven Medium. Und so seine Erinnerung: »Jeden Morgen um acht betrat ich das Haus, stieg zum 3. Stock hinauf, legte Mantel und Aktentasche ab – es waren die Jahre, in denen ein Mann

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von Bedeutung nicht ohne Aktentasche ging – und klopfte an eine Tür, auf der in lateinischer Schrift ein russischer Name nebst Dienstgrad zu lesen war. Ich war Redakteur des Schulfunks bei Radio Leipzig. Der Offizier hinter dem Schreib- tisch war vielleicht fünf oder sechs Jahre älter als ich. Er sprach ein vollkomme- nes Deutsch (...). Er holte das Sendemanuskript, das ich einige Tage vorher abge- geben hatte, hervor und teilte mir mit, ob es genehmigt sei oder ob er einige Fragen beantwortet haben möchte. Ich war immer in Eile, denn Schauspieler und Sprecher warteten schon vor den Mikrofonen. Ich war Mitte 20, arbeitete die in der Schule erworbenen Abiturientenweisheiten und die im Krieg gewonnenen Er- fahrungen meiner Generation in die Sendungen ein und versuchte die vorge- schriebenen Termine zu halten. Unterm Dach, in einem verschlossenen Raum, saß ein Mann, die geänderten Manuskripte vor sich, und las Wort für Wort mit. Wenn sich der Text, der über den Sender ging, vom Text unterschied, der vor ihm lag, drückte der Mann auf einen Knopf, und der Sender fiel so lange aus, bis er in seinem Exemplar den gelesenen Text wiederfand. Da nahm er seinen Finger vom Drücker. Danach gab es lang- wierige, nie bis zu Ende klärbare Feststellungen und Berichte. Meist aber ging es ohne Ausfall.« So weit der Autor. Heute muß man vorsorglich dazu anmerken, daß es sich hierbei nicht um frühe Abhörpraktiken der handelte. So begannen Günther Rückers Vorübungen für ein grandioses Hörspiel-Œvre mit mehr als 20 Titeln. »Als ihr Regisseur habe ich den Prix Italia bekommen. Das brachte Ehre, einige Schweizer Franken und eine Gastinszenierung in Paris. Ich denke mit unguten Gefühlen an die Zeit, in der ich zu meinem ersten Spiel- film ansetzte (...) als man mich in der Annahme bestätigte, neue Themen, neue Zeiten brauchten neue Filmgesetze. Niemand scherte sich um die Erfahrungen, die das Genre abverlangte. Wir waren alle Debütanten, alle. Wissen konnte uns nicht beschweren. (...) Ich sehe noch heute das müde, ver- ärgerte Gesicht Anton Ackermanns, Vorsitzender des Staatlichen Filmkomitees, als der Lustspielfilm (Junges Gemüse – D. W.) fertig war. Wie mußte er uns se- hen? Junge Leute, ›junges Gemüse‹, das an allem, was seine Generation unter Blut und Schweiß errungen hatte, etwas zu mäkeln fand. Genossen wie er hatten unter Einsatz ihres Lebens und unter blutigen Verlusten, Positionen erkämpft, die sie Leuten weitergeben wollten. Und nun diese Spaßmacher! Und welche Späße! Ich bin Anton Ackermann später mit dem höchsten Respekt und mit Verehrung begegnet. Wir lächelten über diese ersten Filmjahre, aber es war viel Schmerz im Lächeln. Was für Mißverständnisse auf beiden Seiten! Danach schrieb ich mit Günter Reisch einen zweiten Spielfilm, wieder ein Lustspiel. Es handelte von Studenten, die, um in China studieren zu dürfen, ver- heiratet sein mußten. Als wir fertig waren, 1957, verschwand das Manuskript. Der Film wurde nie gedreht. Niemand hat auch nur ein Wort über die Gründe mit uns gesprochen. Es war die Zeit des »Großen Sprungs«. Politisch hätten wir alle Ent- scheidungen sehr gut verstanden, aber man zog das Administrieren vor. Die Idee

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schenkten wir Hermann Kant für seinen Roman Die Aula. So fand manches einen späten, milden Abschluß. Die Lustspielzeit war damit für mich zu Ende. Um diese Zeit (Mitte der 50er Jahre – D. W.) fragte mich Andrew Thorndike, ob ich den Text zum Film Du und mancher Kamerad mitschreiben möchte. Zum ersten Mal erlebte ich die Gewalt des Dokuments. Ich bin davon nie losgekommen.« Hier muß ich Günther ins Wort fallen: Die dokumentarischen Bilder dieses ersten großen, sehr erfolgreichen DEFA-Archiv-Films zeichneten ein Bild tragi- scher deutscher Geschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik. Die im Buch von Karl Eduard v. Schnitzler, die in der Materialauswahl und Montage der Thorndikes angelegte polemische Didaktik wurde erst dank Rückers unverwechselbarer persönlicher Diktion vom puren Lehrstück zum emotionalen Erlebnis. Mit den Thornikes entstanden auch die Dokumentarfilme Urlaub auf Sylt über den SS-Mörder von Warschau und Insel-Bürgermeister Heinz Reinefahrth und Unternehmen Teutonenschwert über den Nazi- und Nato-General Hans Speidel sowie Das russischeWunder. Rücker hat aber auch mit anderen Dokumentaristen zusammengearbeitet, stellvertretend seien nur Karl Gass und Winfried Junge ge- nannt. Diese erste dokumentar-authentische Begegnung mit Zeitgeschichte fällt in die Jahre des zweiten Spielfilmanlaufs: »Als der 20. Jahrestag des Kriegsausbruchs herankam, begann ich mit Wolfgang Kohlhaase einen Film zu konzipieren, der die letzte Nacht des Friedens, soweit es noch einer war, erzählen sollte, die Tech- nik einer Provokation, die Manipulation nationaler Gefühle zum finstersten Zweck. Je länger wir darüber nachdachten, desto unerbittlicher kam die Frage auf uns zu: Erzählen wir die Deutschen als Opfer oder als Täter? Wie ist das zu tren- nen? Wo stehen die Erzähler? Wo steht die Kamera? Wie heiß, wie kühl sehen wir zu? Wie nah, in welcher Distanz? Am Ende kam eine uns alle verblüffende Strenge und Disziplin in den Film. Das Publikum schwieg, als die letzte Einstellung vorbei war, stand auf und war emotional unbefriedigt. Trotzdem besuchten den Film bis Mitte der 80er Jahre ohne Werbung, ohne kinopolitische Unterstützung mehr als eine Million Zu- schauer. Es kam in der Presse (und nicht nur dort) zu scharfen Auseinandersetzun- gen, man lobte und man warnte. Sollen das die Filme der Zukunft sein? Man sprach von ›Blutvergiftung des DEFA-Films›. Wir lernten: Unbehagen des Publi- kums kann die verschiedensten Ursachen haben. Als wir in den Dreharbeiten standen, traf ich einen Jugendfreund wieder, den ich anderthalb Jahrzehnte nicht mehr gesehen hatte. Der Krieg hatte uns ausein- ander gebracht. Und nun erzählte er mir sein Leben als Lehrer und sprach über die Fragen, die vor ihm standen. Ich schrieb danach Die besten Jahre. Als der Film lief, acht Wochen vor dem 11. Plenum des ZK, war das Publikumsecho freundlich, aber einige Leiter sagten mir sehr deutlich, daß die Entwicklung des DEFA-Films nicht mit diesem, sondern mit anderen Filmen weitergehen würde.

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Kein Kritiker und kein Leiter kann mit meinem Film so streng umgehen wie ich als Autor oder Regisseur. Ich vertrat immer die Meinung, die erste Hälfte des Films sei gut, weil richtiger Film, die zweite sei nicht gut, weil ich, von Proble- men der Pädagogik überrannt, nichts tat, als diese Probleme zu benennen, ohne eine wirkliche Handlung gefunden zu haben. Als der Film in einer Retrospektive vor Lehrern und Schülern 1985 gezeigt wurde, sagte ich dies vorweg als Ent- schuldigung. Nachher sagten die mir, für sie sei es andersherum interessant gewesen. Der Anfang sei wie üblich, aber die zweite Hälfte benenne Probleme, die auch heute noch nicht gelöst sind. Einerseits freute mich diese Meinung, andererseits führe ich sie auf ein Mißverständnis zurück, das nach wie vor nicht ausgeräumt ist. Es kann nicht darum gehen, in einer Spielhandlung Themen zu benennen und abzu- handeln, die eigentlich in öffentlichen Rundtischgesprächen vor Fernsehkameras behandelt werden müßten. Das wäre effektiver und billiger.« Mal sehen, wie es Ihnen heute mit dem Film ergeht, der nun Geschichte ist und nicht nur Filmgeschichte. Über seine Entstehung und die pädagogischen Probleme damals und aus heutiger Sicht wird Ihnen der kompetenteste Zeitzeuge und Mitar- beiter, Günther Rückers Freund Auskunft geben: Prof. Dr. Ernst Machacek.

Die besten Jahre

Produktionsland DDR, 1964/1965 Produktionsfirma DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) (Künstlerische Arbeitsgruppe »Berlin«) Produktionsleitung Fried Eichel Aufnahmeleitung Manfred Renger, Waldemar Döring Erstverleih Progreß-Filmverleih, Berlin Uraufführung 1. Oktober 1965 Regie Günther Rücker Regieassistenz: Hanna Georgi Drehbuch Günther Rücker, Peter Krause Dramaturgie Klaus Wischnewski Kamera Peter Krause Kameraführung: Hans-Jürgen Reinicke Kamera-Assistenz: Klaus Zähler Standfotos: Franz-Eberhard Daßdorf

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Licht Werner Teichmann Bauten Gerhard Helwig Bauausführung: Norbert Günther, Arthur Stenzel Requisite Willi Krause (Bühnenmeister) Außenrequisite: Herbert Rother Kostüme Luise Schmidt Maske Gerhard Petri, Gisela Thrum, Paul Michaelis Schnitt Hildegard Conrad Ton Günther Witt Musik Reiner Bredemeyer Darstellende Ernst Machner: Horst Drinda Hilde Tamm: Lissy Tempelhof Meister: Harry Hindemith Schmeller: Herwart Grosse Bettina: Helga Labudda Mitschüler: Klaus Piontek Lehrer Klein: Rolf Hoppe Parteisekretär: Bruno Carstens Karin: Karin Ensslen Heizer: Hans Hardt-Hardtloff Volksschullehrer: Hans-Joachim Büttner Dozentin: Elfriede Florin Stellvertreter: Günter Wolf Mathematiker: Peter Herden Biologielehrer: Lothar Förster Englischlehrerin: Brigitte Lindenberg Lehrer: Peter Kalisch Ansager: Horst Papke Harmoniumspieler: Karl Köther Frau Schneller: Ellinor Vogel Sekretärin: Genia Lapuhs Dicker. Horst Lommatzsch Werkleiter: Günther Polensen Mädchen auf dem Fahrrad: Annemone Hase Lehrer: Christoph Beyertt Lehrer: Otto Krieg-Helbig Lehrer: Alwin Brosch Schüler: Frank Schenk Schüler: Stefan Schütze Schüler: Burghard Rademacher Schüler: Axel Dietrich Schülerin: Sabine Lorenz Schülerin: Georgia Kalla Junger Mann: Franz-Eberhard Daßdorf Lehrer: Hans-Gotthilf Brown

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Darstellende Lehrer: Mario Talaga Lehrerin: Ilona Ringer Lehrerin: Herta Belkow Lehrerin: Rosemarie Herzog Lehrerin: Ingeborg Stier-Gerhard Kleiner Mann: Erwin Riedel Dicke: Rita Hempel Junge Frau: Rita Lotze Aspirantin: Hannelore Fischer Mitglied der Prüfungskommission: Günther Drescher Schuldiener: Waldemar Döring

Zum Inhalt Der aus dem Krieg heimgekehrte Ernst Machner findet bei der Neulehrerin und früheren Textilarbeiterin Hilde Tamm eine erste Bleibe. Sie ermutigt ihn, sich ebenfalls zum Lehrer ausbilden zu lassen. Noch vor Abschluß des Kurses wird er zum Leiter einer Dorfschule verpflichtet, obwohl er sich einer solchen Aufgabe nicht gewachsen fühlt. Als er gerade das Gefühl hat, die Probleme in den Griff zu bekommen, beruft man ihn zum Direktor der tra- ditionsreichen Lehrstätte Schulpforta. Der den alten Traditionen verhaftete Lehrkörper auf der einen Seite und Machners Wissenslücken andererseits werden für ihn zu einer Kraft- probe, so daß für Freundin Hilde keine Zeit mehr bleibt. Als er sie nach Jahren wiedertrifft, ist sie die Frau eines anderen geworden.

KLK an PTX – Die Rote Kapelle

Produktionsland DDR (1970/71) Premierendatum 25. März 1971, Berlin, im Kino Kosmos Auszeichnungen Das Kollektiv – Wera und Claus Küchenmeister, Horst E. Brandt, Günter Haubold, Anne Pfeuffer, Horst Drinda, Irma Münch, Klaus Piontek, Jutta Wachowiak, Horst Schulze, Barbara Adolph, Manfred Karge, Ursula Karusseit, Eberhard Esche, Harry Pietzsch, Günther Simon – erhielt den Kunstpreis des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) 1971; das Kollektiv – Wera Küchenmeister, Claus Küchenmeister, Horst E. Brandt, Günter Haubold – erhielt 1971 den Nationalpreis I. Klasse – der Film das Prädikat »Besonders wertvoll«.

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Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg, (KAG »Berlin«) Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Horst E. Brandt Regie-Assistenz/Co-Regie: Bodo Schmidt, Rosalinde Schwarzer, Jochen Diestelmann Drehbuch Wera Küchenmeister, Claus Küchenmeister, Horst E. Brandt Szenarium: Wera und Claus Küchenmeister Dramaturgie Werner Beck (Hauptdramaturg), Anne Pfeuffer Kamera Günter Haubold, Werner Heydn (Spezial-Kamera) Kamera-Assistenz: Dieter Maurer, Jürgen Kagermann Standfotos: Jörg Erkens Licht Günther Müller, Norbert Lude Bauten Dieter Adam (Szenenbild) Bauausführung: Udo Scharnowski, Marlene Willmann, Paul Haak Kunstmaler Alfred Born, Herbert Patzelt, Wolfram Baumgardt Requisite Gerhard Rotzoll, Jürgen Rietschel, Elisabeth Stenzel (Außenrequisite) Bühne Manfred Grimm (Bühnenmeister) Garderobe Walter Klose, Fides Joppien, Lieselotte Seiffert, Uwe Bornemann Maske Horst Schulze, Irmela Holzapfel, Wolfgang Möwis, Margot Friedrichs Schnitt Erika Lehmphul Schnittassistenz: Karin Kusche Ton Wolfgang Höfer Mischung: Georg Gutschmidt Synchronton: Christfried Sobczyk Musik Helmut Nier Musik-Ausführung: Manfred Rosenberg, Helmut Nier, Rolf Markert (Klavier) Produktionsleitung Heinz Herrmann, Wolfgang Rennebarth Aufnahmeleitung Treuholz Vieth-Peter, Karl-Heinz Rüsike, Werner Pfeifer Darstellende Dr. jur. Dr. phil. : Horst Drinda Dr. phil. .: Irma Münch Dr. phil. : Horst Schulze Greta Kuckhoff: Barbara Adolph

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Darstellende Harro Schulze-Boysen: Klaus Piontek Libertas Schulze-Boysen: Jutta Wachowiak Walter Küchenmeister: Harry Pietzsch Dr. med. : : Marylou Poolman Kurt Schumacher: Eberhard Esche Oda Schottmüller: Katharina Lind : Günter Simon, Sophie Sieg: Jessy Rameik : Ursula Karusseit : Manfred Karge, Hanna: Manuela Marx Papa Schulze: Johannes Wieke Franz Gauss: Rudolf Ulrich von Pannitz: Wolfgang Greese Ina Schreier: Heidemarie Wenzel Hans Werner: Peter Sindermann Karl Winkler: Hans-Peter Reinicke Willi: Alexander Wikarski, Schnabel: Herbert Köfer Mr. Sulivan: Gerhard Rachold General Münch: Wilhelm Koch-Hooge Vincente Douglas: Leon Niemczyk Canaris: Siegfried Weiß, Frau Fingerhut: Use Rainer Wolfgang Langhoff: Alfred Müller Fähnrich Thierbach: Eckhard Bilz Major Krüger: Karl Sturm, Erdberg: Siegfried Mahler Oberleutnant Schlief: Heinz Behrens Sekretärin von Wildberg: Liane Düsterhöft Hauptmann Udet: Joe Schorn Hauptmann Hartwig: Rolf Ripperger Butler/Nachrichtensprecher: Christoph Beyertt 1. Deutscher: Hannjo Hasse 2. Deutscher: Kurt Kachlicki Verleger: Hans-Joachim Büttner von Sommer: Ivan Malré, Bellini: Alfred Struwe Herr: Friedrich Richter, Herr: Günther Feuerhahn Herr: Kurt Schmengler, Herr: Detlef Witte Herr: Manfred Bendik, Herr: Rolf Staude Ansagerin: Traute Sense, Alex Bibo: Erik Veldre Feuerwehrmann: Frank Michaelis Oberst von Haase: Harald Halgardt Sekretärin von Canaris: Erika Stiska Frau beim Plakatekleben: Ursula Braun Dieter: Siegfried Fiedler, Gisela: Ute Boeden Zigarettenladenbesitzer: Erich Brauer Jean-Pierre: Roger Zerath, Ober: Günther Polensen Nix B.: Walter Lendrich, Jacob: Harald Moszdorf Kollo: Volkmar Kleinert, Liebe: Heinz Kögel Kommissar Heinzge: Wolfgang Thal Kommissar Karl: Gert Wien, Liedke: Fred Ludwig Knabe: Marianne Behrens, Ledwig: Günther Drescher

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Darstellende Stöcker: Veit von Krottnaurer, Prenzlau: Heinz Laggies Kolbe/Hitler: Matthias Molter, Berner: Horst Quednow Mark: Hans Sievers, Prange: Peter Marx Frau mit Flugblättern: Gisela Graupner Schuster: Werner Senftleben Herr Schröder: Horst Giese, Directrice: Karin Beewen Oberregierungsrat: Hans Knötzsch General Wildberg: Peter Herden Frau Wildberg: Sylva Schüler Übungsleiterin: Sonja Hörbing Fürstin: Erika Müller-Fürstenau Mann mit Bart: Gerd Staiger Mutter Schreier: Brigitte Lindenberg Herr Lewinson: Hans-Joachim Hegewald Herr Krapotschkin: Peter Sturm Zeitungsvorleser: Reinhard Michalke Setzer: Werner Kamenik, Junger Mann: Berko Acker Mitarbeiter: Helmut Wenzlau Erster Zwischenrufer: Willi Schrade Edeltraud: Dagmar-Konstanze Bauer Französischer Diplomat: Ralph Boettner Passantin: Trude Brentina Dr. Frenzel: Hans Bussenius Verleger: Hansjoachim Büttner Sicherungsposten: Otto Dierichs

Zum Inhalt Nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion hält der Jurist und Wirtschaftsexperte Arvid Harnack Ende 1932 in Berlin einen Vortrag über seine Erfahrungen und wie diese für eine Erneuerung Deutschlands genutzt werden könnten. Als wenige Monate später Hitler die Macht in Deutschland übernimmt, bildet Harnack gemeinsam mit Gleichgesinnten die Widerstandsgruppe »Rote Kapelle«, die einer der bedeutendsten Gegner des Nazi-Regimes wird. Neben Harnack gehören der Gruppe unter anderen auch der Luftfahrt-Offizier Schulze-Boysen, der Dichter Adam Kuckhoff, der kommunistische Redakteur John Sieg, der Arbeiter Schulze und die Dreher Hans Coppi und Walter Küchenmeister an. Es gelingt der Bewegung, die nach den Beschlüssen der KPD agiert, wichtige Informationen über Nazi-Deutschland per Funk ins Ausland zu übermitteln. Schließlich aber kommt die Ge- stapo den Männern auf die Spur – viele von ihnen werden verhaftet und bezahlen ihren Mut zum Widerstand mit dem Leben.

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Der verlorene Engel

Mit unserer Veranstaltung erinnern wir an den Regisseur Ralf Kirsten, der im Januar vor zehn Jahren 67jährig verstarb. Und wir ehren schon heute Fred Düren, der noch in diesem Jahr 80 wird. Als 37jähriger spielte er den 67jährigen Barlach, und ich wage die Prophezeiung: Sie werden diese Gestalt und dieses Gesicht nicht wieder vergessen, auch dank der großartigen maskenbildnerischen Leistung des jungen Günter Hermstein, der schon lange nicht mehr lebt. Und sie erleben die Welt Bar- lachs, geführt vom Kameraauge des jungen Claus Neumann, im meisterlichen Sze- nenbild von Hans Poppe. Die von ihm für den Film nachgeschaffene Titel-Figur zeugt von der geistigen Verwandtschaft zweier großer bildender Künstler des vori- gen Jahrhunderts: Nicht von ungefähr gab Ernst Barlach seinem schwebenden En- gel Züge aus dem Antlitz der von ihm hoch verehrten Käthe Kollwitz. Hier eine kurze Rückblende in die Werk- und Filmgeschichte: Die kulturpolitische Keule des 11. Plenums vom Dezember 1965 traf zunächst elf Gegenwartsfilme, kaum daß Günter Stahnkes prophetischer Titel kurz zuvor noch in die Kinos gekommen war: Der Frühling braucht Zeit. Wie wahr. Doch mit dem historischen Sujet und der antifaschistischen Thematik des Barlach- Films glaubten wir uns im Studio zunächst noch auf der sicheren Seite. Ein fataler Irrtum. Ralf Kirsten hatte sein Projekt nach Franz Fühmanns Erzählung Das schlimme Jahr oder Barlach in Güstrow1964/65 noch mit Chefdramaturg Klaus Wischne- wski in dessen Gruppe Heinrich Greif entwickelt und realisiert. Der Film war von der Gruppe und der neu installierten Studioleitung abgenommen. Die Staatliche Zulassung wurde am 18. Juli 1966 beantragt, also vier Wochen nach dem Kino- Skandal und Verbot von Spur der Steine. Inzwischen aber war Klaus Wischne- wski fristlos entlassen, die Gruppe aufgelöst, die Konrad Wolf 1959 gegründet hatte. Im Kulturministerium und seiner Hauptverwaltung Film waren nicht nur die Chefstühle neu besetzt. Mit Minister Hans Bentzien war auch sein Stellvertre- ter für das Filmwesen Dr. Günter Witt abgelöst worden. »Politische Wachsam- keit« wurde zum alleinigen Kriterium für Kunsturteile und – Entscheidungen. Ralf Kirsten kam mit seinem neuen Film Frau Venus und ihr Teufel in unsere Gruppe Babelsberg. Mitten in den Dreharbeiten zu dieser Komödie mit Manfred Krug und Inge Keller erreichte uns Ende September 1966 die schriftliche »Stel- lungnahme« der neu formierten Abteilung Filmproduktion der Hauptverwaltung, wonach der Film Der verlorene Engel »staatlich nicht abgenommen« sei. Darin hieß es nun: »Die von der ehemaligen Künstlerischen Arbeitsgruppe Heinrich Greif gegebene Einschätzung (...) beurteilt sowohl die ideologische Aus- sage als auch die politische Wirksamkeit des Films falsch.« Dann folgten die schlimmsten Totschlagargumente: »keine klare Parteinahme«, »mystische Züge«,

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»Züge der philosophischen Deutung etwa im Sinne des Existenzialismus«, »auf das Prinzip der Volkstümlichkeit (wurde) völlig verzichtet«. Das erinnerte fatal an die überwunden geglaubte Formalismus-Diskussion der 50er Jahre und die vernichtende Kritik einer Barlach-Ausstellung der Akademie der Künste, Barlach sei mit seinen Skulpturen im »Sumpf des Mystizismus ver- sunken.« Im Kern aber ging es jetzt um die befürchtete aktuelle Wirkung des Films ge- rade nach dem Scherbengericht, das die Partei eben veranstaltet hatte. So hieß es weiter: »Der Film klagt ganz allgemein den Gegensatz zwischen Kunst und Dik- tatur (Totalitarismus) an. Er kann demzufolge auch als Anklage gegen die staatli- che Macht allgemein (also auch die sozialistische Staatsmacht) aufgefaßt werden. (...) Die erzieherische Wirkung des Films ist negativ und zutiefst unsozialistisch.« Eine Diskussion darüber mit den Schöpfern hatte es bis dahin weder in Berlin noch in Babelsberg gegeben, und sie war offensichtlich auch nicht vorgesehen, nicht einmal in der Parteiorganisation. Der neue Studiodirektor, zuletzt Sekretär für Agitation der SED-Bezirksleitung Halle, wußte sich zu helfen. Da gab es schließlich einen für Kirsten nun zuständigen Gruppenleiter – Dieter Wolf. Und so erhielt ich den Auftrag, das nachzuholen. Der nächste drehfreie Tag wurde genutzt, um Regisseur, Kameramann, Szenenbildner, Produktionsleiter und zwei Vertreter der Dreh-Brigade über die Entscheidung zu informieren und um Verständnis für eine »staatliche Maßnahme« zu werben. Eine Aktennotiz für den Künstlerischen Direktor Wito Eichel und den Studi- odirektor Franz Bruk hielt das kümmerliche Ergebnis fest, »daß außer dem Regis- seur keiner der Anwesenden die letzte Fassung des Films gesehen hatte (...) Die Beteiligten nahmen zu den aufgeworfenen inhaltlichen und politischen Fragen nicht oder nur beiläufig Stellung, da besonders der Vorwurf nicht verstanden wird, daß der Film den Widerspruch zwischen Kunst und Staat frei assoziierbar auch für unsere Verhältnisse behandelt. Ralf Kirsten hatte mich vor der Zusammenkunft davon informiert, daß er in der Diskussion nicht Stellung nehmen werde, da er einerseits die gegen den Film vor- gebrachten Argumente nicht anerkennt und andererseits besonders vor parteilosen Kollegen nicht gegen die vorgenommene Einschätzung polemisieren wolle.« Als Mitglied der Parteileitung – wie Ralf Kirsten auch – konnte ich mir solche Zurückhaltung schwerlich leisten. Ich suchte die Schwäche des Films darin, daß er sich zu wenig kritisch mit der Haltung Barlachs auseinandersetzt (seinem Rückzug in die »innere Emigration«) und auf einige soziale und politische Ak- zente aus der literarischen Vorlage verzichtete, die der Orientierung des Publi- kums gedient hätten, etwa im Verhältnis zwischen Barlach und einem Kutscher, der den kranken Mann ein Stück mitnimmt. Fühmann beschreibt eine Straßen- sezne vor 1933, die mir im Film zu fehlen schien. Da steht ein Rot-Front-Mann Barlach gegen pöbelnde und aggressive SA-Leute bei und rettet ihn aus unmittel- barer physischer Bedrängnis.

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Kirstens Intention aber war eine ganze andere. Er hatte sich vorgenommen, Fühmanns Gedankenprosa in einen Film der Bilder und Stimmungen zu überset- zen, auf jede neuerliche Illustration bekannter sozialer und politischer Zustände zu verzichten. Der vereinsamte Barlach, schon immer von den Rechten geschmäht, von den Nazis als »jüdisch-russischer Bolschewik und Kulturschänder« denunziert und in der NS- Propaganda-Schau »Entartete Kunst« an den Pranger gestellt, nun auch noch von Armut bedroht, erfährt vom Raub seines Engels aus dem Güstrower Dom in einer Nacht-und Nebel-Aktion am 24. August 1937. Auf einem langen Gang durch seine Umgebung, seine Heimat, Deutschland, mit einem langen Blick in den geschändeten Dom gibt er sich Rechenschaft über sein Leben und sein Werk, will Abschied nehmen und verwirft schließlich den Gedanken an Suizid. Er will den Nazis solchen Triumph nicht lassen, ihr Geschäft auch noch selbst zu besorgen und kehrt in sein Atelier zurück. Er überlebt noch ein Jahr. Ralf Kirsten hat das Barlach-Verbot von 1966 unter den für einen treuen Ge- nossen geradezu verleumderischen Vorwürfen tief verletzt. Die Stimmung im Stu- dio war nach der vorangegangenen Versammlungskampagne mit Kurt Hager, Klaus Gysi und Siegfried Wagner um die bereits vorher verbotenen Filme explo- siv aufgeladen. In den Arbeiterbereichen, etwa Bühne und Beleuchtung, und der Verwaltung grassierte die Angst um den Verlust der Jahresendprämie. Einbußen gab es bereits durch verlorene Überstunden und Spesen bei mehreren abgebroche- nen Produktionen. Im Studio suchte Volkes Stimme die Verantwortung für dieses Debakel erst einmal bei den gescholtenen, hoch bezahlten Filmemachern. Die von uns geforderte Vorführung und Diskussion des Barlach-Films »in einem größeren Kreis« kam nicht zustande, doch hinter den Kulissen war man um Schadensbegrenzung bemüht. Konrad Wolf, vor dem Plenum und der folgenden Parteistrafe zum Präsidenten der Akademie der Künste gewählt, weilte zur Vorbereitung einer Barlach-Ausstel- lung in Moskau und machte dort auf den DEFA-Film aufmerksam. Die offizielle Anfrage des berühmten Bildkünstlers Nikolai Tomski, korrespondierendes Mit- glied der DDR-Akademie, traf in der HV Film auf die neu berufene Leiterin der Hauptabteilung Künstlerische Produktion Wera Küchenmeister. Sie gab eine Be- arbeitung des Films durch die Szenaristen Manfred Freitag und Jochen Nestler und die Schnittmeisterin Evelyn Carow frei, die vom Regisseur mehr toleriert als beraten wurde. Die stark eingekürzte, ein wenig nachsynchronisierte Fassung kam im April 1971 im Filmtheater Colosseum in der Schönhauser Allee zur Aufführung, vom Neuen Deutschland geflissentlich übersehen. Danach stand der kaum populari- sierte Film auf Anforderung von Filmklubs und für den Einsatz in Filmkunstthea- tern zur Verfügung – breite Wirkung vorsorglich ausgeschlossen, sie wäre aber auch im großen Kino sehr unwahrscheinlich gewesen. Ein Vergleich der heute verfügbaren Fassung mit der ursprünglichen Intention und Realsierung war und ist schon aus technischen Gründen nicht mehr möglich.

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Die Aufführung des Films war auch als Signal gedacht, daß sich die neue Leitung nicht der alten Methoden und Schlagworte bedienen und ein konstruktiveres Ver- hältnis zu den Künstlern wieder herstellen wollte. Doch es ging auch um eine Planposition, die erheblichen Produktionskosten nämlich vor der endgültigen Ausbuchung als Verlust zu retten. Ich wünsche Ihnen eine interessante Neu- oder Wiederbegegnung mit einem sehr unorthodoxen Künstlerfilm der DEFA, wie ihn nur Ralf Kirsten drehen konnte. Ihn hat die Liebe zur Bildenden Kunst zwei Jahrzehnte später zu seinem letzten DEFA-Film geführt: Käthe Kollwitz – Bilder eines Lebens.

Der verlorene Engel nach der Novelle von Franz Fühmann »Das schlimme Jahr«

Produktionsland DDR (1971) Premierendatum 22. April 1971 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Ralf Kirsten Regie-Assistenz: Ree von Dahlen, Rainer Simon Drehbuch Ralf Kirsten Drehbuchmitarbeit: Jochen Nestler, Manfred Freitag Dramaturgie Klaus Wischnewski Kamera Claus Neumann Kamera-Assistenz: Richard Günther, Peter Dierichs Standfotos: Herbert Kroiss Bauten Hans Poppe Bauausführung: Jochen Keller Kostüme Elli-Charlotte Löffler Maske Günter Hermstein, Ursula Funk Schnitt Hildegard Conrad (?) oder Evelyn Carow, Ursula Zweig (?) Ton Günther Witt Mischung: Georg Gutschmidt Musik André Asriel

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Produktionsleitung Werner Liebscher Aufnahmeleitung Heinz Bullerjahn Darstellende Ernst Barlach: Fred Düren Frau Barlach: Erika Pelikowsky Dr. phil. Adam Kuckhoff: Horst Schulze Kutscher: Erik S. Klein Taxifahrer: Walter Lendrich Alte Frau: Agnes Kraus, Braut: Heidemarie Wenzel Bräutigam: Frank Schenk, Mädchen: Carola Schirmer Freund des Mädchens: Berko Acker Pfarrer: Gerd Alverdes, Kantor: Theodor Klubsch Organistin: Christa Michaelsen, Hirte: Karl Paustian Junge von Barlach: Uwe Leonhardt Trommlerjunge: Gerd Unger 1. SA-Mann: Gerhard Hubert 2. SA-Mann: Gerd Jurgons

Zum Inhalt Im Film wird ein Tag im Leben Ernst Barlachs, der 24. August 1937 beschrieben, ein Tag der Selbstverständigung, kritischer Selbstanalyse. In der Nacht vorher raubten Unbe- kannte aus dem Dom zu Güstrow eine der ausdrucksstärksten Kunstschöpfungen Barlachs, den »Schwebenden Engel«, der seit jener Nacht verschwunden bleibt. »Wissen meine Figuren mehr als ich?« fragt Barlach in einer Szene des Films. Man hatte ihn zum freiwilligen Austritt aus der Akademie der Künste gedrängt und selbst seine Ehren- male für die Opfer des Weltkrieges beschlagnahmt oder vernichtet. Vereinsamt und isoliert steht dieser große Künstler vor dem Ende seiner Tage, ahnend, daß seine künstlerische Heimat links war.

Der Regisseur Ralf Kirsten

Ralf Kirsten, geboren am 30. Mai 1930 in Leipzig, war der Sohn eines Volksschul- lehrers. Nach dem Abitur absolvierte er 1948 bis 1950 eine Lehre als Elektro- Installateur bei der Energieversorgung-Ost in Leipzig-Markkleeberg, wo er die FDJ-Grundorganisation gründet. Anschließend beginnt er ein Studium der Germanistik und Theaterwissen- schaft an der Humboldt-Universität in Berlin, wechselt 1951 an das Theaterinsti- tut in Weimar und wird 1952 nach Prag an die Filmhochschule FAMU delegiert, wo er ein Regie-Studium absolviert. 1956 wird seine DEFA-Produktion Bären- burger Schnurre als Diplomfilm angenommen. Nach seinem Kinderfilm Ski- meister von morgen erhält er von der DEFA nicht sofort einen neuen Vertrag und geht ein Jahr auf Honorarbasis zum Fernsehen, »das gerade aufgebaut wurde, um

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da unterschiedliche Gattungen und Genres kennenzulernen, um mich auch auf dem Gebiet des Dokumentarischen zu üben« (Kirsten, 1986). Er arbeitet dort im Jugendfernsehen und im Bereich »Dramatische Kunst«. 1958 holt ihn Slatan Dudow als 1. Regie-Assistenten für Verwirrung der Liebe zur DEFA zurück. Kirsten assistiert außerdem Carl Balhaus und ist 1960 Co-Regis- seur von Wanda Jakubowska bei der polnischen Co-Produktion Begegnung im Zwielicht. Seit 1960 ist er als Regisseur am DEFA-Studio für Spielfilme angestellt. In Steinzeitballade, den er als seinen »ersten ernsthaften Filmversuch« be- zeichnet, versucht er, an Brecht orientierte Stilelemente wie kommentierende Songs auf der Leinwand anzuwenden. Er erzählt, nach dem Roman Anna Lubitzke von Ludwig Turek, die Geschichte einer Gruppe von Trümmerfrauen, die sich so- lidarisch gegen ihren Chef durchsetzen. Der Film wird als ungewöhnliches Expe- riment anerkannt, stößt wegen seiner kühlen Stilisierung aber auf Ablehnung. Ein großer Publikumserfolg wird 1961 Auf der Sonnenseite, den Kirsten eben- falls mit Heinz Kahlau als Autor erarbeitet. Der Film – mit komischen und musi- kalischen Episoden aufgelockert – schildert den Aufstieg eines Stahlarbeiters zum Schauspieler. Er orientiert sich frei an der Biographie des Hauptdarstellers Man- fred Krug, den Kirsten in den nächsten Jahren in fast allen seinen Filmen einsetzt. Bei dem historischen Abenteuerfilm Mir nach Canaillen! (in Totalvision und Farbe) sowie 1966/67 in Frau Venus und ihr Teufel, einer Liebes-/Minne-Ge- schichte in Gegenwart und Mittelalter, dient er seinem Star als Regisseur für maß- geschneiderte Kino-Unterhaltung. Beschreibung eines Sommers ist 1962 Kirstens erster Film, der sich mit Proble- men des Alltags in der DDR auseinandersetzt. Nach dem Roman von Karl-Heinz Ja- kobs geht es, erstmals nach den eher prüden 50er Jahren, offen um Liebesbeziehun- gen zwischen einer jungen Ehefrau und Genossin (Christel Bodenstein) und einem im Beruf anerkannten Ingenieur (Krug), dessen Privatleben jedoch mit der herr- schenden »sozialistischen Moral« kollidiert. Die Alltags-Thematik greift Kirsten 1969 mit Netzwerk wieder auf, zu dem er mit Eberhard Panitz das Buch schreibt. Eng an die damals aktuelle gesellschaftspolitische Diskussion um die »wissenschaftlich- technische Revolution« und die Einführung der Kybernetik gebunden, geht es um die Probleme eines erfahrenen älteren Meisters (Fred Düren) bei der Einführung neuer Produktionsmethoden in seinem Chemiewerk. Wiederum nach einer Erzählung von Karl-Heinz Jakobs entsteht 1974/75 Eine Pyramide für mich. Anhand der Figur des arrivierten Wissenschaftlers Paul Satie (Justus Fritzsche), der sich an seine Zeit als Aktivist in der Gründerzeit der DDR erinnert, werden Probleme der Aufbau-Genera- tion reflektiert. »Saties Auseinandersetzung mit sich und unsere mit ihm ist gerade deshalb produktiv, weil seine Handlungen untersucht und befragt, nicht aber in Frage gestellt werden. Der Prozeß wird an uns delegiert, von uns weitergeführt.« (Klaus Wischnewski, Film und Fernsehen, Nr. 1, 1976). Dazwischen liegt – fünf Jahre Entstehungszeit umspannend – Kirstens viel- leicht bedeutendster Film. 1965/66 beginnt er mit den Dreharbeiten zum Barlach-

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Film Der verlorene Engel, nach der Novelle Das schlimme Jahr von Franz Füh- mann. Der Film kommt in Folge der Diskussionen nach dem 11. Plenum der SED nicht heraus und kann erst nach einer zweiten Drehphase 1970 fertiggestellt wer- den. Das Abhängen seines Bronzeengels im Dom von Güstrow 1937 durch die Nazis veranlaßt Ernst Barlach (Fred Düren), über seine Arbeit und seine politi- sche Haltung zu reflektieren. Nach dem zweiteiligen TV-Film Zwei Briefe an Pospischiel, nach dem Roman von Max von der Grün, adaptiert er gemeinsam mit Brigitte Kirsten mit wenig Er- folg E. T. A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels und Theodor Fontanes Unterm Birnbaum. In Ich zwing dich zu leben, nach der Erzählung Gambit von Karl Sewart, greift Kirsten auf die Erfahrungen seiner Generation mit der Nazi-Zeit zurück. »Die Ge- schichte des Films ist gegen Ende des Zweiten Weltkrieges angesiedelt. Irgendwo in einem Erzgebirgsdorf versucht ein schließlich von den Nazis entsetzter Lehrer seinen 15jährigen Sohn daran zu hindern, in letzter Sekunde zum ›Heldentod‹ verurteilt zu werden. Dabei muß er feststellen, daß der eigene Sohn nach wie vor die jahrelang vom Vater mitvermittelte Nazi-Ideologie voll akzeptiert und nun sei- nen ganzen Haß auf diesen ›Vaterlandsverräter‹ von Vater lenkt. Der Sohn hat das Mensch-Sein nie gelernt.« (Kirsten zu Sobe, 1978). Lachtauben weinen nicht, nach dem Bühnenstück Lachtaube von Helmut Bai- erl, ist der Versuch, ein Thema aus dem bei der DEFA zu dem Zeitpunkt wenig be- handelten Produktionsmilieu aufzugreifen, wobei das Problem der Mitsprache der Arbeiter bei der Umgestaltung und Modernisierung ihres Arbeitsplatzes im Mit- telpunkt steht. Kirstens Plan, Max Walter Schulz’ Erzählung Die Fliegerin oder Die Aufhebung einer stummen Legende zu verfilmen, scheitert 1982. Dafür dreht er mit großem Aufwand die historische Lektion Wo andere schweigen über zehn Tage im Leben der Kommunistin , die mit 75 Jahren, schwer krank, aus einem Moskauer Sanatorium nach Berlin fährt, um 1932 mit einer Rede als Alterpräsidentin des Reichstags zum Widerstand gegen den drohenden Faschis- mus aufzurufen. Mit Käthe Kollwitz – Bilder eines Lebens versucht Kirsten an seinen Barlach- Film anzuknüpfen. Episoden aus dreißig Jahren werden strukturiert durch Szenen, in denen die Hauptdarstellerin Jutta Wachowiak über ihre Annäherung an Rolle und Person der Malerin reflektiert. Ralf Kirsten, der auch als Regie-Dozent an der Hochschule für Film und Fern- sehen lehrte, starb am 23. Januar 1998 in Berlin.

nach: CineGraph – Lexikon zum deutschsprachigen Film, 1984, München.

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Der Aufenthalt

Produktionsland DDR (1982) Premierendatum 20. Januar 1983 Auszeichnungen Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase, Regisseur Frank Beyer und Hauptdarsteller Sylvester Groth erhielten als Kollektiv 1984 den Heinrich-Greif-Preis. Außerdem gewann der Film 1983 den Kritikerpreis der Sektion Theorie und Kritik des Verbandes der Film- und Fernsehschaffenden als bester DEFA- Film. Sylvester Groth erhielt den Preis außerdem als bester Darsteller. Beim 3. Nationalen Spielfilmfestival der DDR 1984 in Karl-Marx-Stadt gewann »Der Aufenthalt« Preise für Regie (Frank Beyer), Drehbuch (Wolfgang Kohlhaase), Schnitt (Rita Mül- ler), Kamera (Eberhard Geick) und den Preis für den besten Nachwuchsdarsteller (Sylvester Groth) Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Frank Beyer Regie-Assistenz: Irene Weigel Drehbuch Wolfgang Kohlhaase Dramaturgie Dieter Wolf Kamera Eberhard Geick Kamera-Assistenz: Eckhart Hartkopf, Dieter Lück Standfotos: Dieter Lück Licht Günther Müller, Norbert Lude Bauten Alfred Hirschmeier Bauausführung: Gisela Schultze; Hans Quappe Requisite Peter Röh Bühne Manfred Grimm (Bühnenmeister) Kostüme Joachim Dittrich Maske Lothar Stäglich, Rosemarie Stäglich, Monika Mörke Schnitt Rita Hiller Ton Konrad Walle Mischung: Konrad Walle Musik Günther Fischer Produktionsleitung Herbert Ehler

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Aufnahmeleitung Ralph Retzlaff, Harald Jahn Darstellende Mark Niebuhr: Sylvester Groth General Eisensteck: Fred Düren Hauptsturmführer: Matthias Günther Major Lundenbroich: Klaus Piontek Obergefreiter Fenske: Hans-Uwe Bauer Jan Beveren: Alexander van Heteren Gasmann: Horst Hiemer, Chef: Krzysztof Chamiec Gestapokommissar Rodloff: Günter Junghans Szybko: Gustav Lutkiewicz Ohnehals: Roman Wilhelmi Amtsarzt: Andrzej Krasicki Eugeniusz: Zygmunt Maciejewski Leutnant: Andrzej Pieczynski Aufnahmebeamter: Leonard Andrzejewski Hauptmann Schulski: Michael Gerber Oberleutnant Müller: Eberhard Kirchberg 1. Mädchen: Danuta Kowalska 2. Mädchen: Nadja Wendland in weiteren Rollen: Erhard Marggraf, Mathis Schrader, Tomasz Stockinger, Henrik Talar, Frantiszek Trzeciak, Marcin Trónski, Reiner Heise, Fred Ludwig, Günter Falkenau, Michal Juszcza- kiewicz, Henryk Bista, Tadeusz Jastrzebowski, Rudolf Woschik, Wolfgang Nestler, Rudolf Goßing, Wolfgang Kühne, Jochen Diestelmann, Karl Sturm, Roland Kuchenbuch, Hannes Stelzer, Horst Giese, Eberhardt Wintzen

Zum Inhalt Der junge deutsche Kriegsgefangene Mark Niebuhr, ehemaliger Grenadier eines Infante- riebataillons, kommt mit einem Transport im Oktober 1945 auf dem Warschauer Güter- bahnhof an. Eine Polin glaubt, in ihm einen SS-Mann wiederzuerkennen, der ihre Tochter ermordet hat. Er wird von der Gruppe isoliert, nicht wissend, warum, kommt in Einzelhaft, ist allein mit seiner Angst. Die Untersuchung führt ein ebenso junger polnischer Leutnant. Nach vier Monaten kommt Mark in eine Zelle mit polnischen Gefangenen, die ihm haß- erfüllt gegenübertreten. Beim Arbeitseinsatz in der Warschauer Trümmerlandschaft muß er die höchsten gefährlichen Mauern abtragen. Er rettet ein Kind, bricht sich dabei den Arm, kommt ins Krankenhaus und erfährt dort, daß die Untersuchung gegen ihn wegen Mordes läuft. Nach dem Krankenhausaufenthalt gerät er in eine Zelle mit deutschen Gefangenen. Hier herrschen die alte Hierarchie und der alte faschistische Geist, mit General Eisensteck und Major Lundenbroich an der Spitze. Der sich unschuldig fühlende Niebuhr wird von den wirklichen Verbrechern als einer der ihren aufgenommen. Er durchschaut sie langsam, isoliert sich, wehrt sich, begreift aber auch etwas von der Schuld, in die er mitverstrickt ist. Nach 8 Monaten ist seine Unschuld an dem Mord erwiesen. Er wird entlassen.

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Berlin – Ecke Schönhauser

Das erste Produktionspraktikum im DEFA-Spielfilm führte mich 1956 in einen Produktionsstab, der wie die anderen nach seinem Leiter benannt war, zur Alb- recht-Produktion. Mit Erich Albrecht als producer hatte Gerhard Klein schon im Dokumentarfilmstudio zusammengearbeitet. Nach den gemeinsam gedrehten Fil- men Alarm im Zirkus und Eine Berliner Romanze waren sie eben dabei, den drit- ten »Berlin«-Film vorzubereiten: Berlin – Ecke Schönhauser. Das Projekt lief noch unter dem Arbeitstitel des Szenariums von Wolfgang Kohlhaase Wo wir nicht sind ... Die drei Pünktchen standen für die Ergänzung einer landläufigen Lo- sung »sind die anderen«, und das wir meinte uns, die Kommunisten. Als ich die kleine Baracke inmitten des Studiogeländes betrat, war mir beklom- men zumute. Der neue Chef war unbekannt, und ich wußte nicht, was mich erwar- tete. Der sorgsam gekleidete Mann empfing mich hinter seinem penibel aufge- räumten Schreibtisch, die Ablagen auf Kante, ein ansehnliches Stiftsortiment nach Größe geordnet. Der quicklebendige, auch schnell aufbrausende Gerhard Klein wird ihn bald einmal im kleinen Meinungsstreit um irgend eine Organisations- frage geradezu tätlich beleidigen, wenn er statt weiterer Widerworte diese peinli- che Ordnung mutwillig zerstört, die wenigen greifbaren Schriftstücke und Bunt- stifte durcheinanderbringt. Der schon berühmte Regisseur, Nationalpreisträger, bald auch Abgeordneter der Fraktion des Kulturbundes in der Volkskammer, war mir sofort sympathisch, das Gegenteil der Meister, die man von der Hochschule oder als Beobachter am Drehort kannte. Ihm waren die Chef-Allüren eines Artur Pohl, der Genie-Gestus des großen Mimen Martin Hellberg fremd. Ihn umgab nicht Kurt Maetzigs eher distanzierende Aura intellektueller Überlegenheit oder Dudows Aura des proleta- rischen Altmeisters noch aus der Zeit der frühen 30er Jahre. Klein, Jahrgang 1920, war ein richtiger Kumpel, Arbeiterkind. Daß er Mitglied des Jung-Spartakus-Bundes war und zweimal verhaftet, erfuhr man erst nach sei- nem Tod. Er behandelte jeden seiner Mitarbeiter nicht als Untergebenen, sondern als Mitverschworenen einer einmaligen Unternehmung, als Kollegen, nicht schul- terklopfend, doch mit selbstverständlicher Autorität. Mit vielen war er per du, doch die Vertraulichkeit wurde nur nach Leistung gewährt. Gerhard Klein wollte seine proletarische, mehr noch seine Berliner Herkunft nicht verleugnen. Klein und drahtig, die Schultern ein wenig nach vorn genommen wie ein Boxer in Ab- wehrhaltung, uneitel in der Garderobe wie im Gebaren, dachte er gar nicht daran, seine geringe Körpergröße zu kaschieren. Ich sollte ihn zur Motivsuche in Berlin begleiten, um seine Entscheidungen mit ihren Konsequenzen für die Produktionsvorbereitung und die Sicherung der Dreh- arbeiten festzuhalten. Klein hatte das Szenarium im Kopf und suchte nun die

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Außenschauplätze bis zu stilprägenden Kamerastandpunkten. Er suchte sich von den Handlungsorten erst einmal ohne den Szenenbildner Oskar Pietsch und seinen Westberliner Kameramann Wolf Göthe ein Bild zu machen. Ohne den le- bendigen Eindruck vom jeweiligen Spielort wollte Klein kein Regiedrehbuch schreiben. Er hätte die heute übliche location-Praxis niemals akzeptiert, wo ein Beauftragter des Produzenten die preiswertesten Schauplätze ausmacht. Lediglich das zentrale Motiv galt zwischen Autor und Regisseur als verabredet: Dimitroff/ Ecke Schönhauser Allee, das erst später die Titel-Idee inspirierte, Treffpunkt der Jugendclique des Films unter der Hochbahn. Für die mobile Ortsrecherche verzichtete Klein auf den reservierten Produk- tionswagen, einen stattlichen schwarzen BMW, und entschied sich für mein Mo- torrad. Statt des klassischen Sozius’ bot die modische neue Sitzbank der kleinen tschechischen 150er Jawa gerade zwei schlanken Leuten Platz. Das war doch schon mal ein Vertrauensbeweis, denn mit langer Fahrpraxis im Großstadtverkehr konnte ich nicht gerade aufwarten. So kurvten wir durch den Prenzlauer Berg, und als Student aus Thüringen ent- deckte ich mit den Augen und Kommentaren eines Ur-Berliners, wie verschieden ein Hinterhof oder ein Hausflur hier aussehen konnte und warum sich Klein für den sechsten oder siebenten Treppenaufgang entschied, nachdem er ihn vorsichts- halber noch einmal mit dem ersten verglichen hatte. Den kleinen Motivsucher mit verschiedenen Optiken stets griffbereit am Halsband, erprobte der Regisseur schon mal die Wirkung unterschiedlicher Brennweiten. So sehr sich Gerhard Klein, in einer Laubenkolonie geboren und in aufgewachsen, im Berliner Osten heimisch fühlte, so selbstverständlich lebte er inzwischen in seiner Villa in Kleinmachnow am Rande von Westberlin. Er hatte sie erst kurz zuvor bezogen. »Das Henselmann-Haus, Anfang der 30er Jahre ge- baut«, erschien selbst Kohlhaase »wahnsinnig nobel. Es ging ihm nicht um Privi- legien, aber er hätte es als kränkend empfunden, wenn man ihm etwas verweigert hätte, was andere auch hatten.« Klein bevorzugte für die ruhige, kreative Vorbereitungszeit die häusliche At- mosphäre und bat seine Partner und Helfer zu Arbeitsgeprächen oft nach Hause. Sicher war da auch Stolz im Spiel, ohne jede prahlerische Attitüde. Er wollte zei- gen, was er hatte: Ein Domizil im Bauhaus-Stil, den Blick durch die Glasfront im Mitteltrakt ins Grüne, vom großen Dachgarten in die schönen Kiefernwipfel ringsum. Bei solcher Gelegenheit wurde ich Zeuge einer beeindruckenden Szene. Klein hatte gerade die erste Drittelrate seiner Regie-Prämie bekommen. Die ließ er sich nicht etwa überweisen, sondern in druckfrischen großen Scheinen an der Gagen- kasse des Studios vorzählen. Zu Hause öffnete ihm seine schon hoch betagte Mut- ter. Noch in der Tür zog er zu ihrem und meinem nicht geringen Erstaunen ein dickes Geldbündel aus seiner abgetragenen Lederjacke und hielt es ihr in der Hand entgegen: »Kiek ma, det erste Jeld für den neuen Film, nimm dir, wat de

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brauchst.« Obwohl sie offenbar wußte, daß das ernst gemeint war, zögerte sie, sich so einfach zu bedienen. Doch ihr Sohn ließ nicht locker, bis sie sich wenig- stens einen der 50-Mark-Scheine genommen hatte. »Wenn de nich mehr willst, nu isset zu spät«, beendete Klein sein Anerbieten. Ehrlich unzufrieden über ihre Be- scheidenheit, knickte er das Bündel und schob es wieder lose in die Tasche zurück. Mein Praktikum endete im Atelier mit den ersten Probeaufnahmen. Kohlhaase und Klein hatten den Film sehr auf Detailtreue und einen größtmöglichen Wirk- lichkeitsnähe hin konzipiert. Das eben kreidete ihnen später Alexander Abusch prompt als unzulässige Anleihe beim italienischen Neorealismus an. Doch Klein frönte keinem platten Dokumentarismus oder dem Naturalismus der Augenblick- serfindung. So dachte er für die Besetzung der jugendlichen Helden aus dem Kiez keinswegs zuerst an Laien, wenn es um die Gestaltung von Charakteren ging. Einer seiner Wunschkandidaten für die Rolle des Kohle stand mit Ernst-Georg Schwill frühzeitig fest, doch der war ja schon fast ein Profi: Klein hatte den Vier- zehnjährigen 1953 als boxsportbesessenen Max für Alarm im Zirkus entdeckt und in der Berliner Romanze wieder besetzt. In die neue Aufgabe eines Halbstarken mit gestörtem Elternhaus war der frühverwaiste Schwill nun geradezu hineinge- wachsen. Die Suche nach dem Hauptdarsteller führte Gerhard Klein zur Überraschung, ja Skepsis seiner Mitarbeiter zuerst ins Brecht-Theater, zu Ekkehard Schall. Der junge Star des Berliner Ensemble hatte dort gerade unter der Regie von Bertolt Brecht, , Manfred Wekwerth und seinen eigenen theatralischen Stil gefunden und eine unverwechselbare artifizielle Sprechweise kultiviert. Kein Wunder, daß er sich, wie er selbst bekannte, nicht für einen Halbstarken-Darsteller hielt und auch keiner sein wollte. Schall erinnerte sich später: »Klein stellte mich vor die Entscheidung, das alles zu vergessen, um das Bühnengemäße dem Filmischen anzunähern, also anders zu spielen, als ich es ge- wohnt war. Wir konnten uns beide nicht überzeugen, und jetzt setzte ein merk- würdiger Krieg ein: Ich kämpfte mit den Machtmitteln des Schauspielers und spielte meine Konzeption der Szene, und er als Regisseur ließ sie vielleicht dreißig Mal wiederholen und sagte: ›Du wirst schon müde werden und es dann so falsch machen, daß es für mich richtig ist.‹ Das gelang ihm auch irgendwann, aber es kam zu einem großen Ärger zwischen uns, fast zum Abbruch der Dreharbei- ten.« Dem Produktionsleiter Albrecht dankte der Darsteller danach für die fach- liche und menschliche Fähigkeit, zwischen beiden zu vermitteln: »Unsere danach entstandene Freundschaft resultierte, wenn man so will, aus einem Streit, aus einem Schlagabtausch«, so Schall. Dieser Konflikt kündigte sich schon während der Probeaufnahmen an, doch Klein hütete sich, ihn schon jetzt auf die Spitze zu treiben. Er vertraute darauf, daß er Schall im Verlauf der Dreharbeiten in einen »natürlichen Ton« und einen filmischen Gestus zwingen würde.

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Die Probeaufnahmen mit komplettem Drehstab fanden in eigens dafür impro- visierten Dekorationen statt. Sie dienten neben der Besetzung auch der Verab- redung über den angestrebten Bildstil. Für eine Probe mit Ekkehard Schall als Cliquen-Chef Dieter mit einem FDJler war ein Kandidat nicht erschienen. So kam Klein auf die Idee, den Part nicht wie üblich vom Assistenten hinter der Kamera in die Szene hineinsprechen zu lassen, sondern mich auf den Stuhl des Agitators zu setzen. »Dietrich, du machst jetzt mal den Sekretär!« Der Double-Debütant bekam die Bildzeugnisse seiner Mitwirkung nie zu Ge- sicht. Heiner Carow, neben Dudow der dritte Mann in der sich eben formierenden Gruppe Berlin, erinnerte sich noch viele Jahre später an den großen Lacherfolg über die unfreiwillige Satire auf einen FDJ-nik und dessen sattsam bekannten pädagogischen und im Berliner Raum vielfach höhnisch imitierten sächsischen Tonfall. Gerhard Klein fragte mich ernstlich, ob ich mir den winzigen Part zu- traue, den ich doch im wirklichen Leben hinreichend hatte studieren und prakti- zieren dürfen. Doch mir fehlte neben dem Talent auch jegliche Neigung, »etwas darzustellen«. Klein drang nicht weiter in mich und entschied sich glücklicher- weise für die weniger komische, sondern ernsthafte künstlerische Interpretation der Rolle durch . Als Dramaturg traf ich zehn Jahre später noch einmal mit Gerhard Klein zu- sammen. Das war bei einer kurzen, doch sehr intensiven Drehbucharbeit für Der große und der kleine Willi im Episodenfilm Geschichten jener Nacht. Da war der Regisseur bereits schwer erkrankt und operiert, doch voller Tatkraft. Sein letzter Spielfilm blieb unvollendet. Gerhard Klein starb 1970, gerade erst 50 Jahre alt.

Berlin – Ecke Schönhauser Wo wir nicht sind ... (Arbeitstitel)

Produktionsland DDR (1957) Premierendatum 30.08.1957, Berlin, Kino Babylon Auszeichnungen ausgewählt von Filmhistorikern und -journalisten im Verbund Deutscher Kinematheken als einer der 100 wichtigsten deutschen Filme aller Zeiten ausgewählt vom Museum of Modern Art New York 2005: DEFA-Retrospektive »Rebels with a cause« Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg Verleih PROGRESS Film-Verleih

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Regie Gerhard Klein Drehbuch Wolfgang Kohlhaase Dramaturgie Gerhard Hartwig Regie-Assistenz Otto Roland Kamera Wolf Göthe Kamera-Assistenz: Manfred Damm Optische Spezialeffekte: Ernst Kunstmann Standfotos: Hannes Schneider, Siegmar Holstein Licht Hans Helmstädt Bauten Oskar Pietsch Außenrequisite Fritz Stemmer Bühne Manfred Grimm (Bühnenmeister) Kostüme Lydia Fiege Maske Bernhard Kalisch, Inge Roloff Schnitt Evelyn Carow Ton Erich Schmidt Musik Günter Klück Produktionsleitung Erich Albrecht Aufnahmeleitung Horst Dau, Heinz Walter Darstellende Dieter: Ekkehard Schall, Angela: Ilse Pagé Karl-Heinz: Harry Engel, Kohle: Ernst-Georg Schwill Kohles Mutter: Erika Dunkelmann Kohles Schwester: Brigitte Stroh Angelas Mutter: Helga Göring, FDJler: Hartmut Reck Kohles Stiefvater: Maximilian Larsen Karl-Heinz’ Mutter: Ingeborg Beeske Karl-Heinz’ Vater: Siegfried Weiß Dieters Bruder: Manfred Borges Kommissar der Volkspolizei: Raimund Schelcher 1. Geldwechsler: Jürgen Holtz 2. Geldwechsler: Gerhard Soor Schläger: Gerhard Rachold, Sekretärin: Hella Jansen FDJ-Sekretärin: Adi Tischmeier 1. Lagerleiter: Heinz Schröder 2. Lagerleiter: Peter Kiwitt Amerikaner: Gerd-Michael Henneberg Korpulenter Mann: Horst Friedrich Chef des Funkwagens: Horst Ripperger Dieters Zimmerwirtin: Dorothea Thiesing

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Darstellende Arbeiter: Albert Zahn, Sekretärin: Ursula Mundt Junge Schwester der Bahnhofsmission: Barbara Brecht-Schall (Barbara Berg) Arzt im Flüchtlingslager: Dr. Bahlke Kriminalkommissar: Rudolf Christoph Älterer Mann: Kurt Getke, Ober: Willi Korrik Freund von Angelas Mutter: Anselm Glücksmann Mädchen von Karl-Heinz: Brigitte Rauchfleisch Älteres Fräulein: Hilde Sonntag, Passant: Carlo Kluge Alte Frau: Liesel Eckhardt Zeitungsverkäufer: Hans Beck Lkw-Beifahrer: Rudolf Meurer Baggerfahrer: Walter Lendrich Älterer Arbeitskollege: Paul Streckfuss Jüngerer Arbeitskollege: Rolf Beuckert in weiteren Rollen: Gert Heinrich, Ursula Keßler, Paul Knopf, Grete Carlsohn, Arthur W. Neubert Gertrud von Bastineller

Zum Inhalt Dieser Jugendfilmklassiker ist die anschauliche Darstellung einer Stadt, deren wirtschaft- liche und politische Teilung alle Bereiche des Lebens beeinflußt. Berlin, Prenzlauer Berg. Unter dem U-Bahnbogen an der Ecke Schönhauser Allee trifft sich täglich das junge Deutschland. Die Erwachsenen stören sich an der Gruppe Jugendlicher, den Halbstarken, ohne zu fragen, warum sie auf der Straße ihre Freiheit suchen. Da ist »Kohle«, dessen Stiefvater versucht, ihm mit Schlägen Anstand beizubringen. Angela macht stundenweise Platz für den Liebhaber der Mutter, einer Kriegswitwe, die die Einsamkeit nicht mehr aus- hält. Dieter liebt Angela und ist ein anständiger Kerl, der sich aber von niemandem etwas sagen läßt und deshalb überall aneckt. Einzig und allein Karl-Heinz, ein Junge aus behüte- tem Elternhaus, ist auf die schiefe Bahn geraten. Am Bahnhof Zoo versucht er, das schnelle Geld zu machen. Als er seine Freunde Dieter und »Kohle« mit in die Sache hineinzieht, müssen die beiden vor der Polizei in den Westsektor der Stadt fliehen. Im Auffanglager kommt »Kohle« tragisch ums Leben und Dieter muß erneut um seine innere Freiheit kämp- fen. Am Ende kehrt er zu Angela zurück – denn nun weiß er, was er tut.

Der dritte gemeinsame Berlin-Film von Gerhard Klein und Wolfgang Kohlhaase ist im Stil des italienischen Neorealismus gedreht.

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Beethoven – Tage aus einem Leben

Ein biographischer Film über den Komponisten gehörte zu den frühesten Plänen der Gruppe Babelsberg schon in den 60er Jahren, angeregt noch von der Musik- dramaturgin Lotti Schawohl. Wir lenkten unsere ersten Schritte zum renommierten Beethoven-Forscher Professor Harry Goldschmidt. Er versprach eine Filmerzäh- lung um Josephine von Brunsvik, die er als Beethovens »unsterbliche Geliebte« identifiziert zu haben glaubte. Renate Richter, die wir in dieser Rolle sogleich er- leben werden, hätte es sicherlich gern gesehen, wenn ihr Part mehr als eine Rück- blende eingenommen hätte. Doch Goldschmidts Aufzeichnung weitete sich unter der Hand zum vielseitigen Roman aus. Eine Filmstruktur war nicht zu erkennen und selbst lesewillige Regisseure waren nicht für eine erste Lektüre zu gewinnen. Der junge Pychologe und psychoanalytische Beethoven-Forscher Stefan Wolf orientierte uns später auf einen anderen, sehr dramatischen biographischen Vor- gang: nämlich Beethovens gescheiterte Bemühung, seine Beziehungskrisen in ei- ner Vaterrolle für seinen halbwaisen Neffen zu kompensieren. Das gipfelte im Suizidversuch des Adoptivsohnes. Beide Ansätze schienen uns bei aller gewünsch- ten Dramatisierung das Beethoven-Bild allzu sehr zu verengen. Walter Janka brachte als Szenaristen Günter Kunert ins Gespräch, der in seinen Erinnerungen 1997 freimütig preisgab, »unmusikalisch (zu) sein« und vor Beginn seiner intensiven Studien »von Beethoven nur den Song of Joy zu kennen, sonst 1 nichts«. Kunert hatte mit Egon Günther in unserer Gruppe Johannes R. Bechers autobiographischen Roman Abschied filmisch genial adaptiert. Und wir schätzten ihn als Hörspiel-Autor biographischer Novellen um Albrecht Dürer, und . Aus mehrfacher Zusammenarbeit mit Horst Seemann wußten wir von seinem Regieinteresse an einem großen biographischen Film. Den leidenschaftlichen Klavierspieler, auch von Beethoven-Stücken, bewegte der komplexe Lebensstoff des »compositeur«. So auch sein erster Titelvorschlag. Nach dem Film Zeit zu leben, 1969 mit einem Nationalpreis gekrönt, und drei weiteren im Kino recht er- folgreichen, doch künstlerisch sehr umstrittenen Gegenwartsfilmen, schien seine anspruchsvolle Themenwahl der Leitung und manchem Kollegen problematisch. Doch wir vertrauten seinem Talent, das mit seiner bisherigen Filmographie nicht erschöpft schien. Horst Seemanns buntes Œuvre und politisches Renommee schien den kritischen Zeitgenossen und unorthodoxen Autor Kunert nicht im mindesten zu irritieren. Mehr noch mag verwundern, daß er widerspruchslos auch den Dramaturgen akzeptierte, den Horst Seemann in der Hauptverwaltung Film gefunden hatte. Das

1 Günter Kunert, Erinnerungen, 1999, S. 367 f.

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war eine taktisch kluge Idee. Eben dieser Dr. Franz Jahrow war einer der eifrig- sten Argument-Erfinder für die Filmverbote nach dem 11. Plenum. Seine böswil- ligen Mißdeutungen des Barlach-Films begründeten 1966 die Verweigerung der Filmzulassung. Nun also war er eingebunden in ein frühzeitig erkennbares non- konformistisches Konzept sowohl in thematischer wie künstlerisch-stilistischer Hinsicht. Von Günter Kunert war kein bürgerlicher Genie-Kult, kein sozialistisch etiket- tiertes tragisches Heldenepos zu gewärtigen. Aber auch kein braver historisieren- der Lebensbericht nach Schulbuchmuster. Dramaturg und Gruppenchef empfahlen der Leitung sein Szenarium als »... im positiven Sinne eigenwillig«. »Aus zunächst scheinbar zusammenhanglosen Epi- soden (Kapiteln) entsteht ein in sich geschlossenes Persönlichkeitsbild, das auf ei- ner materialistisch-dialektischen Charakteranalyse aufbaut, innere psychische Wesensmerkmale und Konflikte und äußere gesellschaftliche Umstände und Ein- 2 flüsse in sich einschließt und in ihrer Wechselwirkung deutlich werden läßt.« So also unsere Argumentationshilfe für die Entscheidungsträger. Wir bekannten uns demonstrativ zur episodischen Dramaturgie, trennten uns vom historisierenden »compositeur« und ergänzten Kunerts schlichten Namens-Titel. Nun hieß der Film nach seiner Struktur: Beethoven – Tage aus einem Leben. Kunert konzentrierte die Charakterstudie auf die Zeit zwischen 1813 und 1819, beginnend im Doppelsinn mit dem Paukenschlag der spektakulären Aufführung der Schlachtensinfonie bis zur Zeit der fortschreitenden Ertaubung und den ersten Intentionen zur 9. Sinfonie. Dabei verfolgte er keine strenge Chronologie. Die schwierigen Lebensumstände, der Kampf ums liebe Geld, die ständigen Wohnungswechsel, der Ärger mit dem Personal, die vormundschaftliche Sorge um den Neffen, das heikle Verhältnis zu beiden Brüdern wie zur Schwägerin wur- den von Kunert nuancenreich beschrieben. Es herrschte schon im Buch eine schöne Balance zwischen Tragik und Komik, berührender Nähe und freundlicher Distanz. Thematisch kreisen die Episoden zuweilen mit stark gegenwärtigem Bezug um existenzielle Probleme: die Abhängigkeit des Künstlers vom Auftraggeber und den Konsumenten, die »Freiheit der Kunst« unter absolutistischen Verhältnissen oder erste Begleiterscheinungen der Kommerzialisierung der Musikproduktion und Musikverbreitung. Diese offensichtlich ewigen Fragen sind provozierend aktuell ins anachronisti- sche Schlußbild gebracht: Beethovens letzter Umzug führt ihn 1976 per Pferde- fuhrwerk über die Karl-Marx-Allee. 30 Jahre später will der Autor so die damals prophetisch anmutende Frage provoziert haben: »Geht er von uns fort, oder kommt er zu uns!?«

2 Peter Ahrens, Weltbühne Nr. 44/1976.

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Der ehemalige Chefdramaturg Klaus Wischnewski deutete als Weltbühnen- Kritiker Peter Ahrens diesen Schluß anders: »Nicht Gag, nicht Apotheose, son- dern leise drängende Frage ›Was wäre, wenn‹. Das soziale Klima, die Problem- solidarität der Leute in der DDR machte diesen Schluß möglich, sinnfällig und tragfähig. Der Beethoven-Film ist einer der bedeutenden Filme der DEFA, der be- ste des Regisseurs Horst Seemann, ein bleibendes künstlerisches Dokument der 2 geistigen und moralischen Befindlichkeit in der Zeit.« Und Günter Kunerts Anteil daran wollen wir nicht geringschätzen. Konrad Wolfs Goya-Interpret, Donatas Banionis, kehrte als Beethoven zur DEFA zurück. Um ihn herum versammelte Seemann ein exzellentes Darsteller- Ensemble, voran als Beethovens Bruder Karl Hans Teuscher, der dem Titelhelden auch seine prägende Synchronstimme lieh. Alle ausnahmslos episodischen Rollen sind mit großartigen Individualisten und Komödianten besetzt, Stefan Lisewski als Bruder Johann, Wolfgang Greese als Dr. Malfatti, Fred Delmare als Musik- automatenbauer Mälzel, Eberhard Esche, Gerry Wolff und Rolf Hoppe als nähere Freunde oder Erika Pelikowsky, Katja Paryla und Anne-Else Paetzold als kurz- zeitige Haushälterinnen. Auch die emotional genau berechnete Musikauswahl traf Horst Seemann selbst. Die Studioabnahme und die Staatliche Zulassung gingen mit viel Lob gänzlich problemlos über die Bühne. So unterstützte der Studiodirektor unseren Antrag auf das Staatliche Prädikat »Besonders wertvoll« noch vor dem Kinoeinsatz. Nur Autor Kunert wußte sich 1990 im Interview für die Zeitschrift Film und 3 Fernsehen an »gewisse Schwierigkeiten« des Films in der »Zeit der Schurken« zu erinnern. Merkwürdig. Dieselbe Zeitschrift hatte den Literaturwissenschaftler und Filmkritiker Dieter Schiller im Oktoberheft 1976 mit einer großen Würdi- gung zu Wort kommen lassen, immerhin unter der Überschrift »Etwas über Frei- heit und Kunst«. Politbüromitglied Werner Lamberz, zuständig für Agitation und Propaganda, war überraschend zur Premiere am 14. Oktober 1976 erschienen und nahm am kleinen Sektumtrunk im Foyer des Kino International teil. Horst Seemann hatte ihn von der Bühne herab ganz unprotokollarisch namentlich und wie mit einem Hilferuf begrüßt und eingeladen: »Wir haben diese Aufmerksamkeit sehr nötig«, rief er in den Saal. Im Gespräch mit Kunert lobte Lamberz den Film als »Meister- werk und wunderbar«. Kunerts gewendetes Gedächtnis sah den Film nach der Premiere in »kleinere Kinos verbannt«, nach einer Woche sogar »aus dem Programm« genommen. In seinen Erinnerungen 1997 verlegte er die Premiere aus der nun anrüchigen DDR- Geburtstags-Nähe im Oktober in den »trüben November« der Biermann-Kontro- verse, doch nicht nur das, sondern auch gleich noch aus der Karl-Marx-Allee und

2 Peter Ahrens, Weltbühne Nr. 44/1976. 3 Sonntag Nr. 36/1990.

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dem Kino International in die »Schönhauser Allee, kaum die beste Premieren- 4 adresse«. Die Kritiker kürten Beethoven zum »besten Film des Jahres« 1976. Eine Nomi- nierung für ein internationales A-Festival scheint dem Film aber nicht vergönnt gewesen. Da allerdings wollen wir einen Zusammenhang mit Kunerts Rolle im bald ausbrechenden Streit um Biermanns Ausbürgerung nicht völlig ausschließen. Immerhin erhielt der Film die Auszeichnung als »beste musikalische Auf- führung« auf der 3. Internationalen Musikfilmwoche im nordspanischen Santan- der. Horst Seemann aber mußte noch bis 1982 auf den erhofften zweiten National- preis warten, den er schließlich unter Hervorhebung eines Fernsehfilms für sein Gesamtwerk erhielt. Er hat danach noch großartige Kino- und Fernsehfilme ge- dreht, denken Sie nur an Lewins Mühle oder Hotel Polan und seine Gäste. Das Ende der DEFA markiert zugleich das Ende von Seemanns Filmographie. Sein Drehbuch über ging trotz des Engagements von Katha- rina Trebitsch vom Studio Hamburg für eine letzte Koproduktion mit der DEFA nicht mehr in Produktion. Das ZDF verweigerte die Mitfinanzierung. Es war einer der bedauerlichsten Fälle unter den »nicht gedrehten Filmen« der Gruppe Babels- berg. Vielleicht hätte Horst Seemann mit dieser Arbeit den Einstieg in die markt- wirtschaftliche Filmpraxis geschafft. Eberhard Esche erinnerte sich in einer Veranstaltung der Akademie der Künste an ein schmerzliches Erlebnis. Nach einer Lesung in München fragte ihn eine Dame aus dem Publikum, ob er etwa einen »gewissen Herrn Seemann« kenne, der arbeite bei ihr als Gärtner und behaupte, Filmregisseur gewesen zu sein. Horst Seemann starb bereits im Jahr 2000, mit erst 63 Jahren. Wir freuen uns über die Wiederbegegnung mit einem seiner besten Filme.

4 Günter Kunert, Erinnerungen, a. a. O. S. 373.

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Beethoven –Tage aus einem Leben

Produktionsland DDR (1975/76) Premierendatum 14. Oktober 1976, Berlin, im Kino International Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg, (KAG »Babelsberg«) Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Horst Seemann Regie-Assistenz: Ulrich Kanakowski, Peter Bohnenstengel Drehbuch Horst Seemann Drehbuchmitarbeit: Günter Kunert Dramaturgie Franz Jahrow Beratung Karl-Heinz Köhler Kamera Otto Hanisch Kamera-Assistenz: Detlef Hertelt Standfotos: Waltraud Pathenheimer Licht Klaus Nietsch Bauten Hans Poppe Bauausführung: Günter Kriewitz, Regina Fritsche Kunstmaler Alfred Born, Herbert Patzelt, Wolfram Baumgardt Requisite Herbert Rother, Kurt Schenke Bühne Hans Pohl Kostüme Ingeborg Kistner Maske Frank Zucholowsky, Brigitte Welzel, Horst Schulze Schnitt Bärbel Weigel Ton Klaus Wolter Mischung: Gerhard Ribbeck Musik Ludwig van Beethoven (Zitate), Musik-Auswahl: Horst Seemann Produktionsleitung Manfred Renger Aufnahmeleitung Karl-Heinz Marzahn, Walter Hunger Darstellende Ludwig van Beethoven: Donatas Banionis Johann van Beethoven: Stefan Lisewski Karl van Beethoven: Hans Teuscher Josephine Brunswiek: Renate Richter

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Darstellende Beethovens Sekretär: Eberhard Esche Mälzel: Fred Delmare, Geheimer: Günter Wolf Beethovens Haushälterin Johanna: Katja Paryla Rasumowski: Leon Niemczyk Haushälterin: Erika Pelikowsky Notenstecher: Günter Rüger, Breuning: Gerry Wolff Kralovetz: Herwart Grosse, Schirmdinger: Gerd Ehlers Konzertsängerin S.: Marita Böhme Schuppanzig: Rolf Hoppe, Lichnowski: Hannjo Hasse Dr. Malfatti: Wolfgang Greese Mutter des Neffen: Christa Gottschalk Moscheles: Hanns-Jörn Weber Johanns Frau: Eva Jirousková Grisslinger: Werner Dissel, Metternich: Wolf Sabo Henriette von Asberg: Angela Brunner Journalist Josef: Jürgen Frohriep Hausbewohnerin Anna: Anna Vanková Zmeskall: Willi Schrade, Haushälterin: Helga Rücker Polizeioffizier: Peter Köhncke, Fred Mahr: Fred Mahr Hausbewohner mit Brille: Axel Triebel Hausbewohner mit Nachtmütze/Kerze: Peter Pauli Neffe Karl: Dirk Nawrocki, Leidinger: Horst Papke verwundeter Engländer: Ulrich Anschütz verwundeter Franzose: Roland Kuchenbuch Dame mit Praline: Sina Fiedler Haushälterin: Anne-Else Paetzold wilder Bursche: Vitézslav Jandák Dame mit Hut: Lenka Fis´erová einsamer Gast: Jan Skopécek, Bettler: Ladislav Czela Dollinger: Willi Neuenhahn, Kutscher: Václav Kotva Dirigent Waigel:Gustav Heverle Hausbewohnerin: Jarmila Kalovská Wellington: Joachim Pape, Herr: Miroslav Homola Hausbewohnerin Eisl: Ludmilla Roubikova Mann mit Album: Ulrich Kanakowski Lavendelfrau: Jirina Bila-Strechová Junge Dame am Wasserfall: Sona Stenová Hübsche Dame: Ellen Rappus Dienstmädchen: Evelyn Otto Totes Dienstmädchen: Marina Krogull Harfenspieler: Berol Kaiser-Reka Bulliger Bursche: Ralf Böhmke Arzt: Hans-Gotthilf Brown, Wirt: Josef Hlinomaz Lakai: Gerhard Moebius, Magd: Ilona Ringer Junge Damen: Jutta Werner, Beate Pammler, Renate Lülsdorf Junge Männner: Hans D. Damm, Jürgen Müller Mannequins: Elke Kunsch Susanne Schering, Dagmar Henkel, Dressman: Oskar Daum

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Darstellende Huren: Liane Kanitz, Hannelore Appe, Carmen Steinert, Ilona Ulrich, Brigitte Riemann, Clarissa Freistedt, Erika Bethke, Rita Wenzel Kind: Silke Schwarze, außerdem: Raoul Schránil

Zum Inhalt Die Episoden aus dem Leben und Schaffen des auf der Höhe seines Ruhmes stehenden Komponisten umfassen die Jahre 1813 bis 1819 in Wien. Beethovens sinfonisches Werk »Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria« wird vom Publikum begeistert aufge- nommen. Seine Lebensverhältnisse aber sind eher bescheiden und bedrückend. Ständiger Geldmangel, Streit mit der Haushälterin, Bevormundung durch die beiden Brüder Johann und Karl, Bespitzelung wegen seiner demokratischen Gesinnung, zunehmende Taubheit. Seine Vereinsamung wird immer größer, er erinnert sich seiner »unsterblichen Geliebten«. Dennoch ist seine Schaffenskraft nicht gebrochen. Er trägt sich mit dem Gedanken zu seiner »Neunten Sinfonie«, unter deren Klängen er im Schlußbild in die Gegenwart schreitet.

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Klarer Himmel

Als im vorigen Jahr des »Kinos der Wünsche« wochenlange Bemühungen ver- geblich waren, eine deutschsprachige Version des Films aufzuspüren, konnte man schon an eine späte Rache Walter Ulbrichts glauben. »Wozu«, so fragte er 1961 seinen Chefdolmetscher Werner Eberlein, »müssen wir hier das Schicksal sowje- tischer Kriegsgefangener in der Sowjetunion zeigen?« Der war als Sekretär einer eigens bestellten Parteikommission zum Ankauf neuer sowjetischer Filme nach Moskau geschickt worden und hatte unter anderen Titeln Klarer Himmel und Der Vorsitzende ausgewählt. Mit kritischen Aspekten des realen Sozialismus, sei es beim »Großen Bruder« oder zu Hause, hatte unsere Parteiführung zu allen Zeiten ihre Schwierigkeiten. Doch dazu später mehr. Mitte der 50er Jahre trat eine neue Generation sowjetischer Filmschaffender auf den Plan, allesamt Absolventen des Moskauer Allunionsinstituts für Kinemato- graphie (WGIK). Aus der Meisterklasse von Sergej Jutkewitsch und Michail Romm kamen auch Grigori Tschuchrai und Konrad Wolf. Regisseur Grigori Tschuchrai gehörte schon bald zu den erfolgreichsten. Schon mit seinem Debüt erregte er internationale Aufmerksamkeit. Der letzte Schuß/ Der Einundvierzigste erhielt auf den Filmfestspielen in Cannes 1956 einen Son- derpreis für das Szenarium. Mitten im Kalten Krieg war das eine erstaunliche Würdigung für die künstlerische Gestaltung eines heiklen Themas. Es geht um eine Liebe mitten im unerbittlichen Bürgerkrieg zwischen Roten und Weißen, die auf tragische Weise tödlich endet. Auf ganz neue Art erzählte Tschuchrai 1959 im Film Ballade vom Soldaten von einem Menschenschicksal im Großen Vaterländischen Krieg. Es ist die Ge- schichte des blutjungen Soldaten Aljoscha, der an der Front in panischer Angst davonläuft und im letzten Augenblick zwei feindliche Panzer abschießt, ein Akt eher der Notwehr und Verzweiflung denn aus sattsam bekanntem Heldenmut. Mit dem Verzicht auf das übliche Pathos und den vielfach strapazierten Heroismus wurde das Werk zum Beispiel einer sehr anderen Art von Kriegsfilm überhaupt. Nur so erklären sich seine starke internationale Wirkung und seine unglaubliche Resonanz in der Sowjetunion. Der Film erhielt die höchste staatliche Auszeich- nung, den Lenin-Preis. 1961 also folgte Klarer Himmel. Nun endlich ein Gegenwartsfilm. Und das mit dem bis dahin streng tabuisierten Problem des unmenschlichen Umgangs mit Op- fern des Krieges, jenen Sowjetsoldaten, die massenhaft in die gefürchtete deut- sche Gefangenschaft gerieten. Wer die glücklich überlebte, fand sich meist im »Gulag« oder in der Verbannung wieder. Erzählt wird das am Schicksal eines Fliegers, Alexej Astachow, gespielt von Jewgeni Urbanski. Der mutige und ausgezeichnete Pilot wird schwer verwundet,

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gerät so in Gefangenschaft und nach seiner Rückkehr allein deshalb in Mißkredit. Verachtung und Mißtrauen seiner Umgebung stürzen ihn nun erst richtig ins Un- glück. Er wird arbeitslos, verfällt dem Trunk, steht vor dem Freitod. Allein seine Frau Sascha hält zu ihm, weil sie unbeirrt an Gerechtigkeit glaubt, die wenigstens im Film siegt: Astachow wird »Held der Sowjetunion« und darf wieder fliegen: am Klaren Himmel. Das vorweggenommene Happy-End erlaubte dem Zuschauer, die Tragödie des Mannes in der Gewißheit einer wenigstens wünschenswerten, wenn schon nicht üblichen Konfliktlösung zu erleben. Das war die bis dahin schärfste Abrechnung mit Stalins Politik. Er hatte von seinen Soldaten eher den Selbsttod als die Gefangennahme gefordert und war per- sönlich verantwortlich für die Massenrepressalien nach dem Krieg. Der Diktator wohnt im kleinen Funktionärszimmer als überlebensgroße Gipsfigur den Ver- hören bei. Die Schneeschmelze symbolisiert nach Stalins Tod in Anlehnung an Ilja Ehren- burgs Roman Tauwetter das Ende der stalinistischen Eiszeit. Das war zugleich eine Reverenz an die frühe sowjetische Filmkunst und ihre an Metaphern reiche Bildsprache, wie sie Pudowkin in seiner Gorki-Verfilmung Die Mutter mit dem Wetterleuchten der Solidarität praktiziert hatte. Analogien zur Natur wurden nicht nur als Montageprinzip genutzt, sondern auch, um die Selbstfindung des Helden ins Bild zu bringen. Die zeitgenössische Kritik entdeckte allerdings in dieser außergewöhnlichen Filmgestalt auch vordergründige Symbolismen und überflüs- sige Rückblenden. Die befreiende gesellschaftliche Wirkung des Films in der Sowjetunion hat ein Zeitzeuge dokumentiert. Hilmar Hoffmann, bekannter progressiver Kulturpoliti- ker und Filmkritiker von Rang, erlebte die Moskauer Uraufführung. »Als im Flüsterton der Satz ›Stalin ist tot‹ von der Leinwand kommt, antwor- ten in der sicheren Anonymität der Dunkelheit sechstausend Zuschauer mit frene- tischem Beifall. Ich habe nie wieder ein derart emotionalisiertes Kinopublikum erlebt wie damals im Rossija.« Der Hauptpreis des Moskauer Filmfestivals ging danach zu gleichen Teilen an Klarer Himmel und den japanischen Beitrag Die nackte Insel von Kaneto Shindo. Offenbar befürchteten die politischen Tugendwächter in Berlin auch hierzu- lande eine ähnlich ansteckende Euphorie des Anti-Stalinismus. Ulbrichts Verdikt muß sich schnell herumgesprochen haben oder wurde »durchgestellt«, wie es da- mals hieß. Jedenfalls war an der Basis bald klar, daß kein Klarer Himmel auf un- seren sauberen Leinwänden leuchten sollte. Mein DEFA-Kollege Walter Ruge, Polit-Emigrant in Moskau, zehn Jahre im Gulag mit anschließender Verbannung bis 1953, erlebte den Film als regelmäßi- ger Gast im sowjetischen Haus der Offiziere in Potsdam. Er mahnte in einem Brief an das Zentralkomitee eine rasche DDR-Veröffentli- chung an und wurde daraufhin zu einer eineinhalbstündigen, freilich erfolglosen Belehrung in die Kulturabteilung des »Großen Hauses« bestellt.

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Vielleicht hatte Konrad Wolfs Wort mehr Gewicht. Der Vorsitzende der Ge- werkschaft Kunst berichtete im September 1961 in der gewerkschaftseigenen Zei- tung Tribüne über das Moskauer Festival, von dem er mit einer Goldmedaille für seinen Film Professor Mamlock zurückgekehrt war. Diplomatisch umschrieb er das wichtige Thema und hob die künstlerische Bedeutung des Tchuchrai-Films hervor. Die Erwähnung der »starken Resonanz beim sowjetischen und internatio- nalen Publikum« verband er mit der mutigen Mahnung, »der Film wird bei uns – so hoffe ich – bald zu sehen sein.« Und so war es dann auch. Im gleichen Interview sprach Wolf vom Zeitverzug, in den unsere eigene Film- produktion künstlerisch geraten war, gemessen an der internationalen und auch sowjetischen Entwicklung. »Die Moskauer Filmfestspiele haben gezeigt, daß die Gestaltungsmöglichkeiten, die Formelemente des Films gewaltig sind, daß ihnen praktisch keine Grenzen gesetzt sind.« Das war nach den Formalismus-Warnun- gen der Filmkonferenz von 1958 eine mutige These. Wolfs nächster Film, Der geteilte Himmel, widerspiegelte – nicht nur im pro- vozierend gewählten Titel – deutlich den künstlerischen Einfluß dieser internatio- nalen Entwicklungstendenzen in der Erneuerung der Filmsprache: die Verflech- tung verschiedener Zeitebenen in der Montage, eine nicht-naturalistische Bildgestaltung durch die Szenographie und Kameraführung auch zur Darstellung der inneren Welt der Helden. Auch Frank Beyers formbewußter Film aus dieser Zeit, Königskinder, reflektiert diese formale Innovation. Konrad Wolf hielt auch später engen Kontakt zu seinen sowjetischen Studien- und Regie-Kollegen. Mit Grigori Tschuchrai beriet er sich über die Besetzung des Goya-Films. Sein Mitstudent Waldimir Bassow drehte während seiner eigenen Arbeit am Film Schlacht unterwegs die Probeaufnahmen mit den empfohlenen russischen Kandidaten. Zu Tschuchrais Schauspielentdeckungen und -empfehlun- gen gehörten auch Galina Polskich (als junge Soldatin Regulirowtschiza) in der Bernau-Episode von Ich war neunzehn oder Shanna Bolotowa, die Günter Reisch im Film Unterwegs zu Lenin besetzte. Grigori Tschuchrai wurde ähnlich wie die sowjetischen Altmeister der Frühzeit zu einem wichtigen Impulsgeber für die nächst jüngere Regie-Generation, sei es durch seine Arbeiten oder als Leiter einer »Künstlerischen Experimentalgruppe« im Studio Mosfilm.

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Klarer Himmel

Produktionsland UdSSR, 1961 Premierendaten Juli 1961 Produzent Mosfilm, UdSSR, Moskau Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Grigori Tschuchrai Drehbuch Daniil Chrabrowizki Kamera Sergei Polujanow Schnitt Marija Timofejowa Musik Michail Siw Darstellende Sascha Lwowa: Nina Drobyschewa (deutsche Synchronstimme) (Doris Abesser) Alexej Astachow: Jewgeni Urbanski (Eberhard Mellies) Ljussja: N. Kusmina (Barbara Adolph) Petja: W. Konjajew (Klaus Urban) Mitja: G. Kulikow (Wolfgang Thal) Nikolai Awdejewitsch: G. Georgiu (Wolf Kaiser) Sergei: Oleg Tabakow (Klaus Reusse)

Zum Inhalt Held des Films ist der sowjetische Fliegeroffizier Alexej Astachow, der während des Krie- ges im Luftkampf abgeschossen wird. Die Rote Armee erhebt den vermeintlich Gefallenen zum »Helden der Sowjetunion«. In Wirklichkeit ist Astachow schwer verwundet in faschi- stische Gefangenschaft geraten. Als er 1945, ausgezehrt und mit vernarbtem Gesicht, in die Sowjetunion zurückkehrt, werden seine Hoffnungen grausam enttäuscht. Er gerät in den schweren Verdacht, dem nach dem Sieg viele der aus der Gefangenschaft Befreiten ausgesetzt waren. Nach Verzweiflung, Alkoholismus und nachdem er den Kampf gegen Ver- dächtigungen und um Anerkennung seiner Leistungen über- und bestanden hatte, konnte er wieder fliegen – als Testpilot. All die Jahre stand seine Frau Sascha zu ihm.

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Blonder Tango

Lothar Warneke verdankt seine bemerkenswerte schöpferische Kontinuität in den er- sten 80er Jahren unserer Dramaturgin Erika Richter. Sie sorgte für drei szenaristische Debüts. Sie gewann die schreibende Psychologin Helga Schubert gleich nach ihrem ersten Erzählungsband für die Filmarbeit. So entstand 1981 Die Beunruhigung. Angeregt von der Erzählung eines unbekannten sowjetischen Autors entwickelte sie mit dem Dramaturgieabsolventen der Babelsberger Filmhochschule Wolfram Witt das Script für Eine sonderbare Liebe, produziert 1983/84. Noch in der Zeit die- ser Endfertigung gewann sie den Regisseur für die Lektüre ihrer jüngsten literari- schen Entdeckung: Es war der Roman des Exil-Chilenen Omar Saavedra Santis Blonder Tango. Der DEFA-Studiobetrieb führte mit Hilfe seiner künstlerischen Arbeitsgruppen die verschiedenen Professionen von Idee über Projektentwicklung und Produktion bis zum fertigen Film zusammen und förderte so die Entstehung von Filmographien wie die von Konrad Wolf, Frank Beyer oder eben auch von Lothar Warneke. Der war nicht unbedingt ein Mann der schnellsten Entschlüsse, aber vom Stoff, der ihm da offeriert wurde, sofort fasziniert, obwohl die Struktur des Werkes dem visuellen Medium nicht von vornherein entgegenkam. Die Handlung wird in einer einzigen großen Rückblende vom Ich-Erzähler be- richtet und das nicht eben dialogarm. Zwei Fabelstränge bestimmen die Geschichte einer fünfjährigen großen Einsamkeit des Polit-Emigranten in durchaus freundli- cher, ja anteilnehmender DDR-Umgebung. Das ist die unglückliche Liebe des nicht gerade hünenhaften schwarzhaarigen Chilenen und angelernten Bühnen-Beleucht- ers Rogelio zur großen blonden Soubrette Cornelia, während er die tiefe Zuneigung der ein wenig unscheinbaren, kurzsichtigen Regieassistentin Luise nicht zu erwi- dern vermag. Eine zweite Fabellinie besteht in einem Briefwechsel. Rogelio möchte seine im Lande des Generals Pinochet verbliebene Mutter trösten mit Berichten von vollendetem Glück in der Fremde, und so verstrickt er sich immer mehr in ein Lü- gengespinst. Sie wiederum versucht ihrem Sohn mit herzzerreißenden mütterlichen Ratschlägen Mut zu machen und verharmlost, um ihn zu schonen, ihre eigene be- drohliche Situation. Am Ende gar fingieren besorgte Verwandte ihre Botschaften, um den fernen Sohn nicht mit dem Tod der Mutter zu belasten. Mehr als die sparsame äußere Handlung aber bewegte Lothar Warneke der so- ziale und mentale Kontext dieser tragik-komischen Konstellation. Doch warum kann dieser politisch Vertriebene in seiner Wahlheimat nicht recht heimisch werden? Er verzweifelt, als er von der unwiderruflichen Verweigerung der Rückkehrmöglichkeit durch die Militärjunta erfährt. Eine anscheinend belanglose Roman-Szene zwischen dem Beleuchtungsmeister und Rogelio verhalf dem Regisseur zum Aha-Erlebnis: Der todtraurige Exilant flieht

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den merkwürdigen norddeutschen Theaterfaschingstrubel und legt eine Schallplatte auf: Ein Lied geht um die Welt, gesungen vom legendären Tenor und Nazi-Opfer Jo- sef Schmidt, das so sehr seiner Stimmungslage entspricht. Der DDR-Kollege will ihn auf seine durchaus deutsche Art trösten: »Heute Fasching. Heute nicht sprechen von Arbeit, heute Freude.« »Von diesem Augenblick an«, so Warneke, »war der Film für mich lebendig. Ich glaube, daß in ihm etwas vorhanden ist, was ich immer gemocht, aber noch nicht fertig gebracht habe: nämlich größere Spannweiten von Plus zu Mi- nus, von heiß zu kalt, von hell zu dunkel, von Tragik zu Komik.« Nach gefaßtem Entschluß schrieb er selbst, beraten vom Autor, in enger Anleh- nung an die Romanstruktur das Szenarium für seinen vielleicht außergewöhnlich- sten Film. Der Romancier vertraute dem Filmprofi, und so verlief die literarische Vorarbeit konfliktfrei und zügig wie selten. Im Januar 1985 lag das gemeinsam verantwortete Szenarium vor, wenig später das Drehbuch. Planmäßig am 2. Mai fiel die erste Klappe, begleitet allein von Ratschlägen, drohender Überlänge ent- gegenzuwirken. Die versprochenen Kürzungen waren dann am Ende wieder drin. Doch der Regisseur wußte die zweistündige Vorführzeit als das wahrscheinlich gerade noch zumutbare Maß vehement zu verteidigen. Die Fabel hätte auch zur kräftigen Komödie mit tragischen Nuancen getaugt, Lothar Warneke aber realisierte sie in der ihm eigenen schönen Balance zwischen zwingendem Ernst, hintergründiger Ironie und leisem Humor. Das entsprach ganz seiner ethisch begründeten Neigung zur Harmonie. Er wollte stets Konflikte nicht dramatisch zuspitzen, sondern im Sinne ihrer gesellschaftlichen und individuellen Lösbarkeit erzählen, Lebenshilfe geben. In seiner Verfilmung von Brigitte Rei- manns Roman Franziska Linkerhand z. B. wurde ihm das weniger von der zeit- genössischen Kritik als von seinen Kollegen als blanke Schönfärberei angekreidet. Blonder Tango war im DEFA-Gegenwarts-Fokus endlich einmal ein zutiefst in- ternationalistischer Film. Die Filmleute machten sich den fremden, fragenden Blick auf unser Land und seine Leute zueigen, der das Sujet und alle Szenen durchdringt. Sensibel, doch unübersehbar ist Warnekes leise Mahnung, den Fremden im Lande des zentral organisierten monatlichen »Soli«-Beitrags mit mehr Aufmerk- samkeit und Verständnis zu begegnen. Sie als Bereicherung der immer wieder geforderten eigenen Weltanschauung zu verstehen wird selbst im Dialog themati- siert. Da ist von der DDR als Provinz die Rede, in der »womöglich einige glau- ben, daß hier schon die Welt ist, und wir ihr Nabel«. Die »größte DDR der Welt« lebte bereits in einer Anekdote so: Kommt ein Mann in die Buchhandlung und sucht nach DDR-Anschauungsmaterial. Verschie- dene Landkartenformate sind ihm zu klein, selbst die angebotene Schulwandkarte verfehlt seine Erwartungen. Der Verkäufer ist ratlos. »Wie haben Sie sich die DDR denn vorgestellt?«– »Na, mehr global!« Öffentlich wurde die Situation der Ausländer hierzulande bis dahin kaum reflektiert, schon gar nicht aus ihrer eigenen Erlebniswelt und Sicht. Einzige Aus- nahme im Spielfilm war 1979 der Film von Gunther Scholz Ein April hat dreißig

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Tage über die zur Kurzzeit verurteilte Liebe zwischen einer DDR-Frau und einem Politemigranten aus Bolivien. Ein Filmprojekt unseres ungarischen Regisseurs Janos Veiczi dagegen wurde nicht realisiert. Der Paprikaturm erzählte vom schwierigen Miteinander einer Gruppe junger ungarischer Facharbeiterlehrlinge mit ihren DDR-Arbeitskollegen und Freizeitrivalen um die Gunst der wenigen internatsnahen deutschen Mädchen. Die Schärfe der Konflikte war nicht nur dem DDR-Außenministerium zu heikel für die öffentliche Erörterung auf der Kino- leinwand. Wieder einmal siegte das Harmoniebedürfnis über Realitätssinn und Mut zur freien Debatte. Die deutlichste polemische Spitze gegen nationale Arroganz und Selbstzufrie- denheit richtet sich in unserem Film, wie konnte es damals anders sein, an die westdeutsche Adresse. Rogelio sucht in Westberlin das Konsulat der Honorablen Militärjunta von Chile auf. Dort muß er »feierlich schwören, an keiner politischen Aktivität teilzunehmen, Anordnungen über den Ausnahmezustand nicht zu verlet- zen«, falls denn sein Heimkehrantrag etwa genehmigt werden sollte. Am Bahnhof Zoo begegnet er drei mit Kriegs- und Nazisymbolen geschmück- ten Jungs und kann es sich nicht verkneifen, sie an Auschwitz zu erinnern. Die halten ihn für einen Türken und schlagen ihn, umstanden von Neugierigen, kur- zerhand zusammen, bis die Polizei eingreift. Der Vernehmende auf der Wache sieht in ihm den Provokateur und erweist sich rasch als biederer Beamter, der eher Verständnis für die deutschen Schläger hat als für den Politemigranten aus der »Zone«, der sich anmaßt, über Deutsche und deutsche Geschichte zu urteilen. Nach einem freundlichen Gespräch bei Kaffee und Zigarette entläßt er ihn durchaus wohlwollend, nicht ohne auch ihm ein kleines Ordnungsgeld abzuver- langen, »wie bei Straßenkrawallen üblich«. Unsere eigenen Versäumnisse in der viel beschworenen internationalistischen Erziehung wurden uns zu spät und allzu schmerzlich bewußt, als nach der Wende, ausgerechnet in der Provinz unseres Rostocker Spielortes die ausländerfeindli- chen Exzesse weder von der Bevölkerung noch von der verunsicherten Polizei verhindert wurden. So sehen wir den Blonden Tango heute vielleicht noch einmal mit anderen Augen, doch gewiß nicht mit weniger Sympathie. Lothar Warneke hatte 1988 mit seinem letzten DEFA-Film Einer trage des an- deren Last einen sensationellen Erfolg beim Publikum, in der Presse und auf der Berlinale. 1990, wie alle künstlerischen Mitarbeiter aus der Festanstellung entlas- sen, war er am wenigsten auf die neuen Bedingungen der Vereinzelung und des Kampfes ums Geld in der nun gesamtdeutsch privatisierten Filmwirtschaft vorbe- reitet. Kein Volker Schlöndorff, jetzt Geschäftsführer des nunmehr französischen Atelierbetriebs in Babelsberg, kein anderer Produzent oder Fernsehredakteur dachte an diesen stillen Arbeiter, der nicht gelernt hatte, Klinken zu putzen. Der studierte Theologe und Vikar, angelernter Baumwollspinner, Regieabsolvent der Babelsberger Filmhochschule und zuletzt ihr Gastprofessor, starb 68jährig nach schwerer Krankheit 2005.

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Blonder Tango nach dem Roman »Blonder Tango« von Omar Saavedra Santis

Produktionsland DDR (1985) Premierendatum 10. April 1986, Berlin, Kino International Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Lothar Warneke Regie-Assistenz: Doris Borkmann Drehbuch Lothar Warneke Szenarium Omar Saavedra Santis Kamera Thomas Plenert Kamera-Assistenz: Frank Bredow, Dietrich Fabienke Standfotos: Waltraud Pathenheimer, Dieter Lück Licht Peter Meister Bauten Georg Wratsch Bauausführung: Norbert Günther, Klaus Schackner Requisite Rainer Matschke Bühnenmeister: Klaus Schackner Kostüme Lilo Sbrzesny Maske Frank May, Brigitte Welzel Schnitt Erika Lehmphul Ton Edgar Nitzsche Mischung: Gerhard Ribbeck Musik Gerhard Rosenfeld, Roberto Rivera Produktionsleitung Volkmar Leweck Aufnahmeleitung Paul Lasinski, Rolf Hanke Darstellende Rogelio: Alejandro Quintana Contreras Hiller: Gerhard Meyer, Cornelia: Karin Düwel Luise: Johanna Schall, Rogelios Mutter: Steffie Spira Frau Hube: Trude Brentina, Ojopi: Patricio Soto Onkel Alfonso: Hernán Garate Eugenio: Victor Abujatum, Sandor: Francisc Nagy Constanze: Christine Schorn, Hornist: Christian Steyer Polizeibeamter: Christoph Engel Reisling: Helmut Straßburger, Konsul: Julio Fuentes Anwalt: Sergio Villegas, Josefina: Ines Palacios Hafenarbeiter: Victor Flores Morales

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Darstellende Mercedes: Maria Antonia Gonzáles Fresia: Ilia Pinto Reyes Feuerwehrmann: Hans-Jochen Röhrig Kantinenwirt: Wilfried Pucher Wirt Mäkelbörger: Fritz Barthold 1. Jugendlicher: Uwe Lach, Osmin: Volker Hintze 2. Jugendlicher: Henrik Lauerwald 3. Jugendlicher: Dirk Schülke Opernschauspieler: Helmut G. Fritzsch ai-Sekretärin: Walfriede Schmitt Blonde Nachbarin: Christine Harbort Hildegard: Sina Fiedler, de Ploen: Peter Hartmann Intendant: Ernst Steiner, Joachim Schönitz Kürassier: Klaus Stahnke, Kerstin: Katrin Steinke Babette: Sabine Glüher, Pfarrer: Lothar Warneke für Hernán Garate: Kurt Böwe als Synchronsprecher in weiteren Rollen: Leonardo Calderon, Meta Hyka Mario Fuéntes, Ulrike Stanelle, Peter Sodann, Ernst Crantzler, Heinz Leiter, Harry Buchholz Wilfried Loll, Jürgen Hölzel, Torsten Bauer, Peter Berg, Todor Todorow, Roberto Rivera

Zum Inhalt Der chilenische Emigrant Rogelio lebt seit fünf Jahren in der DDR und hat nach dem Putsch gegen Allende keine Aussicht, in seine Heimat zurückzukehren. Er findet zwar Arbeit als Beleuchter an einem Theater, fühlt sich aber einsam und unglücklich, nicht zuletzt, da er vergeblich die Sängerin Cornelia liebt. In den Briefen an seine Mutter da- gegen zeichnet er, um sie nicht zu beunruhigen, ein ganz anderes Bild. Seine Wünsche wer- den darin Wirklichkeit; sogar von einer Hochzeit und einem Kind mit Cornelia berichtet er. Als ihn die Nachricht von einer schweren Krankheit der Mutter erreicht, erträgt er seine Lebenslüge nicht mehr und vertraut sich einem Freund an. Zurück in Chile findet er heraus, dass auch er getäuscht worden ist: Seine Mutter ist schon längst gestorben – ihre Briefe haben Angehörige fingiert, um Rogelio in seinem Exil den Schmerz zu ersparen.

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Das Kaninchen bin ich nach dem Roman »Maria Morzeck oder Das Kaninchen bin ich« von Manfred Bieler

Produktionsland DDR (1965) Premierendatum 13. Dezember 1989, Berlin, Akademie der Künste der DDR Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Kurt Maetzig Regie-Assistenz: Hanna Georgi, Siegbert Fischer Drehbuch Manfred Bieler und Kurt Maetzig Dramaturgie Christa Gräf Kamera Erich Gustko Kamera-Assistenz: Wolfgang Ebert Standfotos: Jörg Erkens, Wenzel Licht Ernst Deckow Szenenbild Alfred Thomalla Requisite Alfred Schütz Kostüme Rita Bieler Maske Rosemarie Stäglich, Lothar Stäglich Schnitt Helga Krause Ton Konrad Walle Musik Reiner Bredemeyer, Gerhard Rosenfeld Produktionsleitung Martin Sonnabend Aufnahmeleitung Dieter Anders, Oskar Ludmann Darstellende Maria Morzeck: Angelika Waller Paul Deister: Alfred Müller Dieter Morzeck: Wolfgang Winkler Tante Hete: Ilse Voigt, Gabriele Deister: Irma Münch Grambow: Rudolf Ulrich, Edith: Annemarie Esper Bürgermeister: Helmut Schellhardt Sportlehrer Ulli: Willi Schrade Kriminalist: Bernd Bartoczewski Kellner Oskar: Willi Narloch, Richter: Peter Borgelt Polizeibeamter: Christoph Engel Wirtin: Anna-Maria Besendahl Major Hellmich: Christoph Engel

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Darstellende Fischereigenossenschaftsvorsitz.: Hans Hardt-Hartloff Sekretärin: Rosemarie Herzog Schuldirektor: Walter Jupé, Beetz: Erhard Köster Älterer Strafgefangener: Hans Klering Dr. Merker: Werner Wieland, Barfrau: Renate Pohl Mann um die 40: Harald Moszdorf Straßenbahner: Walter E. Fuß Frau des 1. Strafgefangenen: Ruth Komerell Serviererin: Ingrid Evers, Hella: Ursula Schön Junger Mann: Lothar Warneke 1. Tänzer: Armin Mechsner 2. Tänzer: Roland Kuchenbuch 3. Tänzer: Rolf Mey-Dahl, Polizist: Günther Drescher Protokollantin: Anneliese Grummt Beisitzer: Gustav Stähnisch, Sekretärin: Dorothea Volk Verteidiger: Günther Polensen Küchenfrau: Rita Hempel, Josef: Frank Michaelis Kleiner Wachmeister im Gericht: Walter Lendrich Staatsanwalt Hoppe: Dieter Wien Araber: Harkishan Singh, Helmut: Fred Ludwig Frau des 2. Strafgefangenen: Else Wolz Schülerin: Carmen Maja Antoni 2. Wachtmeister : Albert Zahn Straßenpassanten: Otto Busse, Friedrich Teitge in weiteren Rollen: Willi Neuenhahn, Max Klingberg Gerd Scheibel, Rosa Becker

Zum Inhalt Die Kellnerin Maria Morzeck darf nicht studieren, weil ihr Bruder wegen »staatsgefähr- dender Hetze« zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Sie verliebt sich in den wesent- lich älteren Paul Deister. Als sie erfährt, daß er der Richter ist, der ihren Bruder verurteilt hat, gerät sie in seelische Konflikte, möchte aber die Situation ihres Bruders und ihre Liebe zu Paul auseinander halten. Das kann nicht gelingen. Allmählich wird ihr klar, daß Paul ein eiskalter Karrierist ist, der auch sie nur zu seinem Vergnügen benutzt. Ihr Bruder – vor- zeitig entlassen – erfährt von ihrer Liaison mit seinem Richter und schlägt sie zusammen. Maria kämpft weiter um ihre Zulassung zum Studium.

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Beschreibung eines Sommers

Die Zahl der bekannten antifaschistischen DEFA-Filme ist Legion. Schwerer fällt es schon, sich der wichtigsten Gegenwartsfilme zu erinnern, die in Babelsberg entstanden. Zu den interessantesten und erfolgreichsten aus der Frühzeit gehört Beschreibung eines Sommers. Da trafen zu Beginn der 60er Jahre gleich mehrere glückliche Umstände zu- sammen. Das Studio hatte es in den 50er Jahren mit einer extrem zentralistischen Berliner Administration zu tun. Da gab es zunächst eine von der Parteispitze ein- gesetzte DEFA-Kommission hochrangiger Funktionäre. Dem folgte das Staat- liche Komitee für Filmwesen unter Anton Ackermann, dann die Doppelherrschaft einer Hauptverwaltung Film. Über ihr thronte nämlich Hans Rodenberg als stell- vertretender Kulturminister für den Filmbereich. Nun aber kam es zu einer frei- lich nur kurzen Phase größerer Entscheidungsfreiräume an der Basis. Das Studio bekam eine verjüngte Leitungsspitze, drei Männer, fast gleichaltrig, die sich bereits aus gemeinsamer kulturpolitischer Zusammenarbeit kannten und verstanden: als Chefdramaturg Klaus Wischnewski, als Parteisekretär, eben pro- moviert, Werner Kühn und als Generaldirektor Jochen Mückenberger. Alle drei wurden schon fünf Jahre später, nach dem Desaster des 11. Plenums, mehr oder weniger sanft aus dem Studio entfernt. Erst einmal aber hatte der Studiochef die volle Verantwortung für die Produktion, Hauptverwaltung und Kulturministerium wollten sich mit Anleitung und Kontrolle begnügen. Mückenberger erinnert sich so: »Bei Beschreibung eines Sommers bekam ich, als ich das Buch abgenommen hatte, einen Brief von Hans Rodenberg, meinem vorgesetzten Minister. In dem stand, daß er das Drehbuch und das ganze Vorha- ben als parteifeindlich einschätze. Eine stärkere Kritik konnte man gar nicht äußern. Er begründete das auch. Aber der letzte Satz war: ›Da im Politbürobe- schluß du als Verantwortlicher eingesetzt worden bist, hast du zu entscheiden, nun entscheide.‹(...) Wir drehten den Film (...) Wir sagten, das ist unser Beitrag zum nächsten Parteitag. Er ist dann in der Rede von Walter Ulbricht (es war der Tag der Premiere) gelobt worden – obwohl er ihn bis dahin gar nicht gesehen hatte.« So weit Mückenberger. Vorsorglich hatten die Berliner Filmverantwortlichen die Premiere erst einmal in das Kulturhaus des Kombinats in Schwedt ausgelagert und den Berlin-Einsatz nicht etwa im Kino Kosmos, sondern im etwas abseits ge- legenen Colosseum gestartet. Der Mut der Babelsberger Filmleute und Leitung aber atmete einen weit verbreiteten Zeitgeist. So kam es zu einem Kinoerfolg, der sich nicht wiederholen sollte: An die drei Millionen Zuschauer nach einem Jahr Laufzeit. Entscheidend aber war ein anderes Zusammentreffen: Das von Autor und Re- gisseur. Beide um die dreißig, schrieben, von der Dramaturgie ermuntert, das

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Drehbuch sogleich gemeinsam bald nach Erscheinen von Karl-Heinz Jakobs’ Romanerstling. Das ersparte ihnen die üblichen literarischen Vorstufen mit all ihren Debatten und Abnahmeprozeduren. Die Entschlußfreude der Leitung trug dazu bei, daß Kirsten unmittelbar nach seinem viel gelobten Gegenwartsfilm Auf der Sonnenseite unbeschwert in die Produktionsvorbereitung und Dreharbeit einsteigen konnte. Dieser für die DEFA-Praxis ungewöhnlich kurze Weg von der literarischen Vorlage zur Filmadaption und ins Kino bewahrte dem Lebensmaterial die Frische und beflügelte die Diskussion auch um den Roman, der inzwischen in vierter Auf- lage auf dem Markt war. Jakobs führte den Erfolg auf die Verbindung der Liebesgeschichte mit der ganz besonderen, durchaus abenteuerlichen Aufbau-Situation der Großbaustelle des Erdölverarbeitungswerks Schwedt Ende der 50er Jahre zurück. Seine gesell- schaftliche Brisanz aber bekam – zumal der Film – durch die für die DEFA neue, gänzlich unverklemmt erzählte Liebe der verheirateten Genossin und FDJ-Funk- tionärin Grit zum zupackenden Bauingenieur Tom, der sich politischer Verantwor- tung oder gar Unterordnung zu entziehen sucht. Gerade weil die erotische Bezie- hung nicht als Dreiecksgeschichte erzählt wird, der Ehepartner Grits tritt im Film nicht in Erscheinung, provozierte das viele Fragen der Zuschauer, aber auch der Kritiker. Horst Knietzsch stellte im Neuen Deutschland schon im Titel seiner Kri- tik die polemische Frage: »Liebe für einen Sommer?« Der offene Schluß ließ solch eine Vermutung immerhin zu, auch wenn die letzte Szene zwischen den Lie- benden eher Grits Trennung vom Ehepartner nahelegt. Das heftigste öffentliche Für und Wider aber war mit der Frage verbunden, ob die intime Beziehung zweier Menschen, ob Liebe und Partnerschaft die ganz und gar private Angelegenheit der Betroffenen sei oder ob nicht vielmehr das Kollek- tiv, letztlich »die Partei« – gerade auf einer »Großbaustelle des Sozialismus« – das Recht, ja, die Pflicht habe, für ein moralisch untadeliges Miteinander eines je- den Paares zu sorgen. Obwohl der Film eben diese recht zeitbedingte Botschaft aussandte, wenn auch nicht doktrinär und agitatorisch, trug das seiner Wirkung keinen Abbruch. Im Gegenteil, es reizte auch zum Widerspruch, mindestens zur Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Haltungen der Filmfiguren. Daß die »Rolle der Partei« im Film weniger als im Buch in Erscheinung tritt, hatte ja Hans Rodenberg gerade zu seinem negativen Urteil veranlaßt. Gerade dieser Ver- zicht wurde zu einer Voraussetzung breiter Kinoresonanz. Aber auch etwas anderes ist bemerkenswert. Die heute geradezu naiv anmu- tende Zukunftsgewißheit seiner Protagonisten, durchaus auch die von Autor und Regisseur, traf offenbar auf eine massenhafte Stimmung im Lande. Und das knapp zwei Jahre nach dem heute so verteufelten Mauerbau. Im Filmt träumen die jungen Sozialisten davon, den ganzen afrikanischen Kon- tinent zu bewässern, ja selbst vom weltweiten Sieg des Kommunismus. Im Ro- man machte Jakobs eine Figur noch zum Propheten für die baldige Vollendung

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des Kommunismus in der DDR. Darauf wurde im Film wohlweislich verzichtet. Schon wenige Jahre später machte auch bei uns die Anfrage an Radio Jerewan die Runde: »Wann wird Kommunismus sein?« – Salomonisch die Antwort: »Der Kommunismus ist schon am Horizont sichtbar.« Zusatzfrage: »Was ist Hori- zont?« »Horizont ist eine gedachte Linie, die sich bei Annäherung nach hinten verschiebt.« Das erste Jahrfünft der 60er Jahre jedenfalls war noch sehr von Aufbruchelan und Optimismus bestimmt. Das hatte sich schon im Titel von Ralf Kirstens eben vorangegangenem Gegenwartsfilm in neuer Leichtigkeit und Lockerheit ausge- prägt: Auf der Sonnenseite. Und da sind wir schon bei der letzten und sicherlich wichtigsten Voraussetzung für den unglaublichen Publikumserfolg des Films, der nicht allein mit der Popula- rität des Buches erklärt werden kann. Das sind die Besetzung der Hauptrollen mit Christel Bodenstein und Manfred Krug und die Art, wie sich die beiden in Kir- stens Regie entfalten durften. Manfred Krug war seit 1957 nach vielen kleinen Rollen und einer größeren 1960 erst mit dem Kirsten-Film Auf der Sonnenseite zum Publikumsliebling ge- worden. Hier konnte er zum ersten Mal seine ganz eigene Darstellungsweise ent- wickeln. Diese Mischung aus unverstellter Authentizität, ja, dokumentarer Direkt- heit und ironisch-heiterer Distanz im Spiel mit der Kamera fand ihre ideale Entsprechung in der Story-Anleihe bei seiner eigenen, ganz und gar unheldischen Lebensgeschichte. Jakobs Figur des in jeder Hinsicht zupackenden Bauingenieurs nun schien ge- radezu wie für Krug geschrieben. Das Pathos dieser Zeit und ihrer kämpferischen Losungen ist diesem Tom Breitsprecher fremd. Mit der Autorität des Fachmannes behauptet er seine anarchisch anmutende politische Ungebundenheit, seine Ver- weigerung jeglicher Anpassung oder »Unterordnung unter das Kollektiv«. Mit diesem freundlich-frechen Individualisten, der zugleich ein unnachgiebiger Leiter und unverzichtbarer Garant für Qualitätsarbeit ist, mit diesem harten Hund mit dem weichen Herzen konnten sich viele im Publikum identifizieren. Heute er- scheint uns die Figur fast wie eine Vorläufergestalt des Brigadiers Balla in Spur der Steine. Nun aber kommen wir endlich zur nicht weniger wichtigen Erfolgsgarantie unseres Films. Das war – Sie werden es ahnen – die Besetzung der weiblichen Hauptrolle mit Christel Bodenstein. Sie war noch vor Manfred Krug ein Publi- kumsschwarm, gewiß der einzige weibliche DEFA-Filmstar dieser Zeit. Von Kurt Maetzig eher zufällig entdeckt und doch nicht besetzt, spielte sie 1956 in Slatan Dudows Gesellschaftssatire Der Hauptmann von Köln eine kleine, aber wichtige Rolle. Danach verzauberte sie das junge Publikum gleich zweimal als Prinzessin im Tapferen Schneiderlein und mit größerem Spielraum und märchenhaftem Cha- rakterwandel im Singenden klingenden Bäumchen. Die diplomierte Tänzerin spielte noch während des Schauspielstudiums an der Babelsberger Filmhoch-

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schule und sogleich danach eine Hauptrolle nach der anderen. So auch bei Günter Reisch in Maibowle und Silvesterpunsch, dort als singende Primaballerina auf dem Eis. Und Martin Hellberg gab ihr die Rolle der Franziska in seiner Lessing- Verfilmung Minna von Barnhelm. Mit solch einem Rollen-Spektrum und einer beispiellosen Leinwand-Präsenz ausgestattet, mußte die neue Aufgabe, zumal an der Seite von Manfred Krug, eben zur Traumrolle werden. Und Christel Bodenstein nutzte diese Chance. Die Lie- besgeschichte zwischen dieser so geradlinigen, pflicht- und zielbewußten Jugend- funktionärin und dem rauhbeinigen, sarkastischen Skeptiker wurde von ihr und ihrem Partner mit DEFA-unüblicher Offenherzigkeit gespielt und von Kirsten und seinem Kameramann Hans Heinrich als anrührende und dramatische Wild-Ost- Story mit Aufbau-Verve ins Bild gesetzt. Der Bundesbürger Karl-Heinz Jakobs des Jahres 1986 wurde während einer USA-Reise von seinen professoralen Gastgebern mit einer Aufführung dieses Films überrascht. Er fürchtete schon das Schlimmste an Reaktionen auf sein sozialistisches Frühwerk während der Aufführung oder danach in der Diskussion. Doch nichts von dem geschah. Im Gegenteil, die Amerikaner waren vom Film durchaus angetan. Mit den Mustern mancher Wild-West-Filme vertraut, war ihnen hier trotz geographischer, sozialer und politischer Ferne des Spielorts viel Ver- gleichbares entgegengekommen. Mal sehen, wie es uns beim Wiedersehen heute damit ergeht. Auf jeden Fall freuen wir uns, noch einmal der jungen Christel Bodenstein zu begegnen und das in ihrer vielleicht beeindruckendsten filmischen Gestalt. Die Wiederaufführung in diesem Kreis ist nicht zuletzt unsere kleine nachträgliche Gratulation zu ihrem run- den Geburtstag, den man ihr dank ihrer noch immer jugendlichen Statur und ihrem vitalen Temperament kaum glauben mag. Herzlichen Glückwunsch, Christel.

Beschreibung eines Sommers nach der Vorlage des Romans von Karl-Heinz Jakobs

Produktionsland DDR, 1962/1963 Produktionsfirma DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) (Künstlerische Arbeitsgruppe »60«) Erstverleih Progreß-Filmverleih, Berlin Uraufführung 17. Januar 1963, Berlin, Kino Colosseum Produktionsleitung Werner Liebscher Aufnahmeleitung Otto Ziesenitz

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Regie Ralf Kirsten Regieassistenz: Hanna Georgi Drehbuch Karl-Heinz Jakobs, Ralf Kirsten Dramaturgie Klaus Wischnewski Kamera Hans Heinrich Kamera-Assistenz: Hans-Joachim Zillmer Standfotos:Max Teschner Licht Hans Helmstädt Bauten Hans Poppe, Jochen Keller Außenrequisite: Günter Zaleike Kostüme Helga Scherff Maske Günter Hermstein, Ursula Funk Schnitt Christel Röhl Ton Günther Witt Musik Wolfgang Lesser Darstellende Tom: Manfred Krug Grit: Christel Bodenstein Schibulla: Günther Grabbert Lilo: Johanna Clas Regine: Marita Böhme Dschik: Peter Reusse Grell: Horst Jonischkan Kamernus: Erik Veldre Tenser: Hans-Peter Reinecke Wirtin: Liska Merbach Mädchen in der Bar: Helga von Wangenheim 1. Jugendlicher: Ernst Forstreuter 2. Jugendlicher: Achim Wenk 3. Jugendlicher: Heinz Herbert Lyschik

Zum Inhalt Auf der Großbaustelle Schwedt an der Oder, wo ein neuer Industriekomplex entsteht, tref- fen der Ingenieur Tom Breitsprecher und die FDJ-Sekretärin Grit aufeinander. Tom ist ein guter Fachmann, den Politik nicht interessiert. Nachlässigkeit und Unvermögen der bunt zusammengewürfelten Jugendbrigade regen ihn auf. Grit hat sich vor ihrer in die Krise geratenen Ehe auf die Großbaustelle geflüchtet. Sie lässt sich auf einen zunächst unver- bindlichen Flirt mit Tom ein, dem der Ruf vorauseilt, ein Frauenheld zu sein. Bald entsteht zwischen beiden echte Zuneigung. Grit gerät in Konflikte, da die Moralvorstellungen der 50er Jahre noch recht eng sind und das Kollektiv von ihr vorbildliches Verhalten auch in privater Hinsicht erwartet. Doch Grit steht zu ihrer Liebe und schafft klare Verhältnisse.

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Mutter Courage und ihre Kinder nach der Vorlage des Bühnenstücks von Bertolt Brecht

Produktionsland DDR Premierendatum 10. Februar 1961, Berlin Produktionsfirma DEFA-Studio für Spielfilme Verleih PROGRESS Film-Verleih Produktionsleitung Alexander Lösche Aufnahmeleitung Heinz Ullrich, Bruno Schlicht Regie Peter Palitzsch, Manfred Wekwerth Regie-Assistenz: Isot Kilian, Hans-Georg Simmgen, Guy de Chambure Drehbuch Peter Palitzsch, Manfred Wekwerth Dramaturgie Egon Günther Kamera Harry Bremer Kamera-Assistenz: Manfred Damm, Peter Süring, Detlef Hertelt Standfotos: Hannes Schneider Bauten Heinrich Kilger, Erich Kulicke, Theo Otto (Modell) Requisite Felix Essmann Kostüm Heinrich Kilger Maske Ruth Stein, Hans Wosnik Schnitt Ella Ensink Musik Paul Dessau Ton Erich Schmidt Darstellende Mutter Courage: Helene Weigel Eilif: Ekkehard Schall Schweizerkas: Heinz Schubert Kattrin: Angelika Hurwicz Werber: Willi Schwabe Feldwebel: Gerhard Bienert Koch: Ernst Busch Feldhauptmann: Norbert Christian Feldprediger: Wolf Kaiser Zeugmeister: Harry Gillmann Yvette Pottier: Regine Lutz Einäugiger: Peter Kalisch Feldwebel: Erik S. Klein Obrist:Wolf Beneckendorff

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Darstellende Schreiber: Ralf Bregazzi Älterer Soldat: Wladimir Marfiak Junger Soldat: Gerd E. Schäfer 1. Soldat: Axel Triebel 2. Soldat: Edgar Schrade Bäuerin: Eva Brumby Bauer: Siegmund Linden Alte Frau: Bella Waldritter Junger Bauer: Hans-Georg Simmgen Diener der Yvette: Johannes Conrad 3. Soldat: Wolfgang Lohse Fähnrich: Stefan Lisewski 4. Soldat: Hans W. Hamacher 5. Soldat: Horst Kube Bäuerin: Carola Braunbock Bauer: Josef Kamper Junger Bauer: Fritz Hollenbeck Chronist: Hilmar Thate in weiteren Rollen: Nico Turoff, Hans Schmidt, Conrad Pfennig, Werner Riemann, Erich Braun, Carlo Formigoni, Günter Voigt, Gerhard Moebius, Bruno Schlicht

Zum Inhalt Die Marketenderin Anna Fierling zieht während des 30jährigen Krieges mit ihrem Karren und ihren drei Kindern durchs Land. Die Gefahren und das Unrecht des Krieges macht sie sich nicht bewußt. Sie gerät unvermeidlich zwischen die Fronten und muß erleben, wie nacheinander ihre Kinder zu Opfern des Krieges werden. Schweizerkas, selbst ein Lands- knecht, ist nicht bereit, die Regimentskasse an den Feind zu übergeben und wird erschos- sen. Eilif hat während des mörderischen Krieges jegliches Empfinden für Recht und Ord- nung verloren und wird für seine Taten zum Tode verurteilt. Als die stumme Katrin mit einer Trommel die Hallenser Bürger vor den anrückenden Truppen warnt, muß auch sie sterben. Unverdrossen spannt sich Mutter Courage allein vor ihren Karren und zieht wei- ter mit dem Krieg.

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Rotation

Der für heute ins Auge gefaßte DEFA-Film von Wolfgang Staudte spricht so sehr für sich, daß man über ihn nicht viele Worte machen muß. Interessanter sind viel- leicht ein paar Auskünfte von ihm selbst und über diesen Mann, der – fast auf den Tag (am 19. Januar) vor 15 Jahren starb, mit 77 an Herzversagen, aber sozusagen im Regiestuhl – nämlich während der Außenaufnahmen in Slowenien, zu einem fünfteiligen Fernsehfilm Der eiserne Weg. Ein Filmoholic. Doch dieses Metier war ihm eigentlich gar nicht in die Wiege gelegt. Wolfgang Staudte, Jahrgang 1906, besucht die Oberrealschule in Berlin-, und ob- wohl Vater Fritz wie auch seine Mutter Schauspieler waren, sieht er seine Zukunft zunächst auf technischem Terrain. Er versucht sich als Motorradrennfahrer und beginnt ein Ingenieurstudium mit Praktikum bei Mercedes. Den Zwanzigjährigen findet man überraschenderweise dann doch als Schau- spieler, nur kurz am Theater in Schneidemühl, dann aber in Berlin. Und gleich an der Volksbühne unter und Erwin Piscator und auch – wen wun- dert’s – in der linken Theatergruppe seines Vaters. Seine Filmkarriere beginnt 1931 mit kleinen Rollen, neben Ernst Busch sieht und hört man ihn als Bänkelsänger im Film Gassenhauer. So geht das mit Neben- rollen bis 1933. Da wird ihm – keinen wundert’s – die Bühnenauftrittserlaubnis entzogen. In den nächsten Jahren schlägt er sich als Rundfunk- und Synchron- sprecher durch, spielt kleine Rollen im Film und dreht 100 Sujets für die inzwi- schen prosperierende Kinowerbung. In dieser Zeit kehrt er noch einmal zu seiner frühen Leidenschaft zurück. Er dreht zwei abendfüllende Dokumentarfilme über den jetzt sehr populären Autorennsport: Zwischen Sahara und Nürburgring und 1937 Deutsche Siege in drei Erdteilen. Da waren es noch friedlich erkämpfte... Den Krieg überlebt Staudte erstaunlicherweise als Filmdarsteller in kleinen Rollen, der Preis – die Mitwirkung auch in üblen Propagandafilmen: Legion Con- dor, Jüd Süß oder ... reitet für Deutschland. 1942 endlich überträgt ihm die Film- gesellschaft Tobis die Regie für seinen ersten abendfüllenden Spielfilm nach eige- nem Drehbuch Akrobat schö-ö-ön mit Clown Charlie Rivel. 1944 wird seine Bürokratie-Groteske Der Mann, dem man den Namen stahl verboten, und Staudte verliert die »halbe Lebensversicherung« – nämlich die amt- liche Bestätigung seiner zivilen Unabkömmlichkeit (»UK-Stellung«). Der einflußreiche Heinrich George, Staatsschauspieler und Generalintendant, bewahrt Staudte vor dem Kriegseinsatz in letzter Stunde. Er beginnt mit der Bucharbeit für seinen ersten Nachkriegsfilm noch während in Berlin die letzten Häuserkämpfe toben. »Inmitten des Grauens der letzten Kriegstage«, so Staudte später, »war es ein Akt der Selbstverständigung, der eigenen geistigen Abrechnung mit dem Faschis-

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mus und seiner Ideologie. Es erschien mir damals unmöglich, mit den Mördern unter uns zu leben. Ich bin naheliegenderweise, da ich im britischen Sektor wohnte, mit meinem Exposé zu den Engländern, den Amerikanern, zu den Fran- zosen gegangen. Peter van Eyck war bei den Amerikanern verantwortlicher Film- offizier und hat mir also in gebrochenem Deutsch, dafür aber in einer ungeheuer gut sitzenden Uniform erzählt, daß in den nächsten zwanzig Jahren für uns Deut- sche an Film gar nicht zu denken sei.« So meldet sich Staudte mit seinem Projekt Anfang Oktober 1945 bei Herbert Volkmann, dem Abteilungsleiter Kunst und Literatur der gerade erst installierten Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung. Am 22. November 1945 gehört er zu den wenigen prominenten Filmleuten, die sich im unzerstörten Seitenflügel des Hotels Adlon treffen, um über einen »Neubeginn der Filmkunst in Deutschland« zu beraten. Schon im Dezember 1945 erteilt die Sowjetische Militäradministra- tion einem kleinen Filmaktiv die Erlaubnis, mit der Vorbereitung einer eigenen Filmproduktion zu beginnen. Zunächst dreht Staudte Dokumentaraufnahmen in U-Bahn-Tunneln in der Frie- drichstraße, die in den letzten Kriegstagen ohne Rücksicht auf die dort schutz- suchenden Zivilisten geflutet worden waren. Sie sind für ein Filmprojekt von Friedrich Wolf gedacht, das nicht realisiert wurde. Die SMAD, Sowjetische Mi- litäradministration in Deutschland, vergibt an die Deutschen erste Filmaufträge. Da kommen ihm seine frühen Synchronerfahrungen zugute. Am 10. August 1945 erlebt der erste deutschsprachige »Russenfilm«, wie es allgemein heißt, seine Ber- liner Premiere, und gleich ein berühmter: Sergej Eisensteins Iwan der Schreckli- che, Synchronregie: Wolfgang Staudte. Vor der Produktionsfreigabe seines ersten Spielfilms aber tritt die »kommuni- stische Zensur« in Gestalt eines kleinen Majors auf den Plan, Alexander Dym- schitz. Staudte erlebt das so: »Ich erinnere mich noch genau, eines Nachts wurde ich zum Kulturoffizier in die Jägerstraße bestellt, es gab keinen Strom, und wir verhandelten bei Kerzenlicht. Er gratulierte mir und kannte jede Stelle des Dreh- buchs auswendig. Der sowjetische Offizier war vom Stoff begeistert. Nur einen Einwand hatte er: ich sollte den Schluß ändern. Er lehnte diese Art von Selbst- justiz ab und malte mir die Folgen aus, die aus der Wirkung des Films entstehen könnten, wenn jeder hinging und jeden erschoß, so selbstverständlich der Wunsch auch sein mochte. Diese Menschen mußten ordentlichen Gerichten übergeben werden. Ich hatte lange Schwierigkeiten, diesen Einwand einzusehen, bis dann der ganze Umfang der Naziverbrechen klar wurde und mir zeigte, was für ein re- lativ ›kleiner‹ Mörder dieser Ferdinand Brückner war.« So weit Staudte. Damit war auch die frühere Titel-Idee obsolet: Der Mann, den ich töten werde. Und so kam es also zum neuen, paradigmatischen Titel: Die Mörder sind unter uns, der eine große antifaschistische Traditionslinie begründen sollte. Als mit der Lizenzübergabe der SMAD am 17. Mai 1946 die DEFA, die Deut- sche Film A. G., im Babelsberger Althoff-Studio gegründet wird, lädt man die

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Gäste anschließend ins Nachbaratelier. Dort dreht Staudte bereits in der zweiten Woche die Innenaufnahmen. Nach geradezu sensationell kurzer Produktionszeit hat der erste deutsche Nachkriegsfilm am 15. Oktober 1946 seine Premiere im Admiralspalast. Es wird ein überwältigender und auch international lang nachwir- kender Erfolg. »Nach diesem Film«, so Staudte, »drängte sich mir die Frage förmlich auf – wie wurden die Deutschen schuldig? Ich wollte am Beispiel eines einfachen deut- schen Arbeiters den politischen und weltanschaulichen Kampf seiner Zeit zeigen (...) an die Erlebnisse von Millionen indifferenter Deutscher anknüpfen (...) und schließlich den Wandlungsprozeß von einer passiven zur aktiven kämpferischen Lebenshaltung gestalten. Die Filme, Rotation und Die Mörder sind unter uns gehören zusammen, sie waren beide notwendig zur inneren Auseinandersetzung mit der Hitlerzeit.« Nun aber, im Jahr 1949, gerät Staudte mit seiner Warnung vor rotierender Wie- derholung von Unbelehrbarkeit und Fehlverhalten in ganz andere, aktuelle Aus- einandersetzungen. Und er hat es mit sehr anderen Partnern zu tun. Der neue, filmfremde DEFA-Direktor Sepp Schwab ist Journalist und Parteifunktionär, während des Krieges zuständig für die deutschen Sendungen des Moskauer Rund- funks, zuletzt Chefredakteur des Neuen Deutschland. Zu seinen ersten Amtshand- lungen gehört die Ansicht von Rotation. Er verlangt nicht nur das Nachdrehen der Schlußszene mit dem jungen Paar, sondern verfügt danach noch einen rigorosen Schnitt. Daraufhin reist Staudte ab und kündigt seine Zusammenarbeit mit der DEFA auf. 1969, im Abstand von 20 Jahren, urteilt er über die Kontroverse weniger aufge- regt: »Aus meiner damaligen Einstellung heraus war ich ein leidenschaftlicher Pa- zifist. (...) Ich habe heute diese Meinung korrigiert, aber damals stand ich natur- gemäß unter dem Eindruck des Hitlerkrieges. In der ersten Fassung des Films verbrennt Behnke zum Schluß die Uniform seines Sohnes symbolisch mit den Worten: ›Das war die letzte Uniform, die du je getragen hast.‹ Ich habe einige Zeit gebraucht, die Richtigkeit der Einwände einzusehen, daß es nur darauf ankommt, welche Uniform man trägt. (...) Ich hoffe, damals meinen bescheidenen Beitrag geleistet zu haben, (...) das Gewissen aufzurütteln, daß jeder Einzelne dafür sor- gen muß, daß ähnliche Verhältnisse nicht mehr geschehen können, daß jeder Ein- zelne mitverantwortlich für die Erhaltung des Friedens ist.« Rascher als gedacht, war seinerzeit Staudtes Zorn auf die Berliner Administra- tion verflogen. Er kehrte bald nach Babelsberg zurück und drehte dort als näch- sten seiner drei DEFA Filme seinen bedeutendsten – Der Untertan. Nun hat er Grund, seiner Wohnheimat zu zürnen. Der Film wird in der Bun- desrepublik verboten, und der Spiegel liefert dem Interministeriellen Ausschuß die Zensurgründe gegen das »Paradebeispiel ostzonaler Filmpolitik: Man läßt ei- nen politischen Kindskopf wie den verwirrten Pazifisten Staudte einen scheinbar unpolitischen Film drehen, der aber geeignet ist, in der westlichen Welt Stim-

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mung gegen Deutschland und damit gegen die Aufrüstung der Bundesrepublik zu machen. Der Film läßt vollständig außer acht, daß es in der ganzen preußi- schen Geschichte keinen Untertan gegeben hat, der so unfrei gewesen wäre wie die volkseigenen Menschen unter Stalins Gesinnungspolizei es samt und sonders sind.« So kommt der Film in der BRD erst 1957 mit entstellenden Schnitten und um elf Minuten gekürzt ins Kino. Nach seiner scharfen Zeitsatire Rosen für den Staatsanwalt, der Ablehnung des Bundesfilmpreises dafür, nach den zwei eben- falls gesellschaftskritischen Filmen Kirmes und Herrenpartie wird Staudte in der veröffentlichten Meinung zum Nestbeschmutzer gestempelt. Der Nonkonformist scheitert mit dem Versuch, sich mit einer eigenen Produktionsfirma größere Un- abhängigkeit zu sichern und unterwirft sich dem Diktat der Auftragsarbeit für das Fernsehen, zeitweise in Krimi- und anderen Genre-Fernsehreihen, geradezu pau- senlos beschäftigt bis zum erwähnten Ende. Staudtes frühes Fazit dieser Schaffensbedingungen eines »öffentlichen Ruhe- störers« (so Wolfram Schütte im Nachruf der Frankfurter Rundschau): »Es ist schwer, die Welt verbessern zu wollen mit dem Gelde von Leuten, die die Welt in Ordnung finden.«

Rotation

Produktionsland Deutschland, Sowjetische Besatzungszone (1948/49) Dreharbeiten: 29. September bis November 1948 in Potsdam und Berlin Premierendaten Uraufführung (DDR): 16. September 1949, Berlin, Babylon, Defa-Filmtheater Kastanienallee TV-Erstsendung (DDR): 30. April 1954, DFF TV-Erstsendung (BRD): 13. Mai 1958, ARD Produzent DEFA Deutsche Film-Aktiengesellschaft (Berlin/Ost) Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Wolfgang Staudte Regie-Assistenz: Hans Heinrich Drehbuch Wolfgang Staudte, Erwin Klein (manchmal auch noch: Fritz Staudte) Idee: Wolfgang Staudte Dramaturgie Georg Schaafs (George Schaaffs)

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Kamera Bruno Mondi Kamera-Assistenz: Dieter Maurer, Jürgen Kagermann Standfotos: Rudolf Brix Licht Günther Müller, Norbert Lude Bauten Willy Schiller Bauausführung: Willi Eplinius, Artur Schwarz, Franz F. Fürst Kunstmaler Alfred Born, Herbert Patzelt, Wolfram Baumgardt Requisite Gerhard Rotzoll, Jürgen Rietschel, Elisabeth Stenzel (Außenrequisite) Bühne Manfred Grimm (Bühnenmeister) Kostüme Georg Schott Maske Horst Schulze, Irmela Holzapfel, Wolfgang Möwis, Margot Friedrichs Schnitt Lilian Seng Ton Karl Tramburg Musik H. W. Wiemann Produktionsleitung Herbert Uhlich Aufnahmeleitung Willi Teichmann Produktionsassistenz Peter-Klaus Niemetz Darstellende Hans Behnke: Paul Esser, Lotte Behnke: Irene Korb Kurt Blank: Reinhold Bernt Helmuth Behnke: Karl-Heinz Deickert Inge, Helmut Behnkes Freundin: Brigitte Krause Rudi Wille: Reinhard Kolldehoff Udo Schulze: Werner Peters »VB«-Personalchef: Albert Johannes 1. SD-Mann: Theodor Vogeler 2. SD-Mann: Walter Tarrach Hebamme: Valeska Stock, Hauswirt: Alfred Maack Frau Salomon: Ellen Thenn-Weinig Herr Salomon: Klemens Herzberg Besucher: Hans-Erich Korbschmitt Wirtin: Maria Loja, Schauspieler: Wolfgang Kühne 1. Arbeiter im Rotationssaal: Eduard Matzig Vorarbeiterin in der Weberei: Margit Rocky 2. Arbeiter im Rotationssaal: Peter Marx SS-Mann: Siegfried Andrich, Ordonnanz: Carlo Kluge SS-Offizier in Moabit: Hugo Kalthoff Luftschutzhelfer: Helmut Hein SD-Mann: Georg August Koch Flüchtlingsfrau: Kitty Franke, Adjutant: Gerd Ewert

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Darstellende SS-Mann im Gefängnishof: Herbert Mahlsbender MG-Schütze: Rudi Beil Arbeiter am Fabriktor: Albert Venohr 2. Arbeiter am Fabriktor: Hans Emons 3. Arbeiter am Fabriktor: Helmuth Bautzmann 4. Arbeiter am Fabriktor: Walter Diehl 1. Arbeiter im Rotationssaal: Eduard Maetzig 2. Arbeiter im Rotationssaal: Johannes Knittel 3. Arbeiter im Rotationssaal: Hans Schille 4. Arbeiter im Rotationssaal: Gerd Robat 5. Arbeiter im Rotationssaal: Friedrich Teitge

Zum Inhalt Berlin von 1932 bis 1946: Der Maschinenmeister Hans Behnke ist tüchtig, und Politik in- teressiert ihn nicht. Bis er eines Tages von seinem Schwager gebeten wird, eine Druckma- schine zu reparieren, auf der antifaschistische Flugblätter hergestellt werden. Von seinem eigenen Sohn Helmuth veraten, der in der Hitlerjugend zu einem fanatischen Nazi erzogen wurde, kommt Behnke ins Zuchthaus. Nach Kriegsende stehen sich der befreite Vater und der aus der Gefangenschaft heimkeh- rende Sohn gegenüber. Helmuth hat kaum Hoffnung, daß ihn der Vater aufnehmen wird, doch der schließt ihn in seine Arme. Gemeinsam wollen sie ein neues Leben aufbauen.

Oskar Lafontaine über Wolfgang Staudte

Jene kritische westdeutsche Nachkriegsgeneration, die in den sechziger Jahren anfing, politisch zu denken und zu handeln, fand im eigenen Land nur wenige Per- sönlichkeiten, die ihr etwas zu sagen hatten: da waren die aus dem Exil zurückge- kehrten antifaschistischen Politiker; da waren die Schriftsteller, Philosophen, Theologen und Wissenschaftler, die sich dem Naziregime verweigert hatten; da war ein Filmregisseur, der mit diesem Regime abrechnete – Wolfgang Staudte. Die Konzentration aller Kräfte auf den Wiederaufbau half den Älteren die unse- lige Vergangenheit zu verdrängen. Dieser Verdrängungsmechanismus erleichtere den Prozeß der politischen und personellen Restauration, an dem die Jungen An- stoß nahmen. Die junge Generation mußte weitgehend alleine damit fertig werden, daß ihre Eltern den Nationalsozialismus zugelassen hatten. Ihr Protest war nicht zuletzt das Ergebnis ihrer Aufarbeitung des Nationalsozialismus und seiner man- gelnden Bewältigung durch die bundesrepublikanische Gesellschaft der Adenauer- zeit. Deshalb war ihr politisches Engagement stark moralisch motiviert. Auch der Regisseur Staudte war ein politischer Moralist, auch seine politischen Filme »Rotation«, »Die Mörder sind unter uns«, »Rosen für den Staatsanwalt«, »Kirmes«, oder »Herrenpartie« setzten sich mit der faschistischen deutschen Ver-

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gangenheit auseinander. Darüber hinaus war ihm mit der Verfilmung des Romans »Der Untertan« von Heinrich Mann eine meisterhafte, zeitlose Karikatur des kleinbürgerlich-deutschen Mitläufers gelungen. Kein Wunder also, daß diese Filme während den sechziger Jahren vorwiegend in den auf ein kritisches junges Publikum ausgerichteten Kunst- und Studentenkinos großen Anklang fanden. Als einziger westdeutscher Regisseur schwamm Staudte in der Adenauer-Ära gegen den Strom der allgemeinen Geschichtsverdrängung und verstörte die heile Welt des Heimatfilms. Dadurch erregte er Mißfallen. Selbst der Kassenerfolg von »Rosen für den Staatsanwalt« änderte nichts an der Tatsache, daß es für ihn im- mer schwerer wurde, einen Produzenten zu finden. Als endlich in den späten sechziger Jahren die Bewältigung der faschistischen Vergangenheit von der auf- müpfigen Jugend und den kritischen Intellektuellen auf die Tagesordnung der bundesdeutschen Kulturszenerie gesetzt worden war, hatte Staudte längst auf die Gattung des handwerklich gediegenen Unterhaltungsfilms umgesattelt. Mitte der siebziger Jahre beschritt die Stadt Saarbrücken neue Wege der Kul- turpolitik. Unter anderem sollte auch die Filmkunst, die bis dahin eher als eine Exzentrikerliebhaberei im Schatten der kommerziellen Kinos geduldet war, auf- gewertet werden. Aus dem ersten Schritt eines programmanteiligen Engagements der Stadt bei dem privaten »Studio für Filmkunst« Camera entwickelte sich in wenigen Jahren das gleichnamige »Saarbrücker Stadtkino«, das mit gezielten An- geboten für alle Alters- und Interessengruppen ein breites Publikum fand. Diesem erfreulichen Trend sollten noch besondere Lichter aufgesteckt werden. Man prüfte, welche bedeutenden Namen des Filmschaffens in einem konkreten Bezug zu Saarbrücken standen. Nach der Einrichtung des Max Ophüls-Wettbewerbs wurde auch Wolfgang Staudte angesprochen, ob er bei einer umfassenden Retrospektive seines Werks in Saarbrücken mitwirken wolle. Die Retrospektive kam nicht zu- stande. Wolfgang Staudte hatte zu seiner eher zufälligen Geburtsstadt – auch seine Eltern lebten hier nur etwa anderthalb Jahre – kaum Beziehungen knüpfen kön- nen. Aus dem Eintrag ins Geburtenregister konnte er nichts Verbindliches ablei- ten. Da er gegen den falschen Schein war, wurde er kein »Vorzeige-Saarbrücker«. Als ich, damals Oberbürgermeister von Saarbrücken, wegen meines Kampfes gegen die Nachrüstung angegriffen wurde, meldete er sich persönlich aus Sylt: »Seien Sie sicher – schrieb er – es gibt viele, die auf Ihrer Seite stehen und einer davon ist, wie Sie, in Saarbrücken zur Welt gekommen«. Im Jahr 1960, als sich die antisemitischen Ausschreitungen häuften, schrieb Staudte einen offenen Brief an alle Tageszeitungen »Eine Demokratie lebt vom Anstand und dem Mut der Bürger, Feigheit macht jede Staatsform zur Diktatur. Indem wir die Schuld der Vergangenheit von uns zu wälzen versuchen, machen wir uns erneut schuldig.« Kein Satz kann den politischen Moralisten Staudte tref- fender charakterisieren. Kein Satz ist heute aktueller.

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Schlösser und Katen Teil 1: Der krumme Anton / Teil 2: Annegrets Heimkehr

Produktionsland Deutsche Demokratische Republik, 1956/1957 Uraufführung 8. Februar 1957, Filmtheater Babylon, Berlin Produktionsfirma DEFA-Gruppe 67, DDR-Fernsehen, Akademie der Künste der DDR Produktionsleitung Hans Mahlich Aufnahmeleitung Heinz Walter, Heinz Fröhlich Regie Kurt Maetzig Regie-Assistenz: Bernd Braun, Frank Beyer Assistenzregie: Doris Borkmann Drehbuch Kurt Maetzig, Kurt Barthel Dramaturgie Willi Brückner Kamera Otto Merz Kamera-Assistenz: Helmut Borkmann Optische Spezialeffekte: Ernst Kunstmann Standfotos: Eduard Neufeld Licht Felix Kusche Bauten Alfred Hirschmeier Bau-Ausführung: Heinz Leuendorf, Willi Schäfer Reqisite Theo Görgens Kostüme Marianne Schmidt Maske Gerhard Zeising, Erna Hallas Schnitt Ruth Moegelin Ton Gerhard Klein Musik Wilhelm Neef Darstellende Krummer Anton: Raimund Schelcher Marthe: Erika Dunkelmann, Annegret: Karla Runkehl Bröker: Erwin Geschonneck, Kalle: Harry Hindemith Jens Voss: Wilhelm Puchert, Hede: Angelika Hurwicz Klimm: Dieter Perlwitz, Christel Sikura: Helga Göring Der alte Sikura: Hans Finohr Wittig: Kurt Dunkelmann, Ekkehart: Ekkehard Schall Die alte Sikura: Lotte Loebinger Paderski: Otto Saltzmann, Palm: Otto Krone Mann mit Lederjacke: Erich Franz Elisabeth Bröker: Marga Legal Gräfin von Holzendorf: Traute Sende

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Darstellende Frau Wittig: Martha Beschort-Diez Ute Wittig: Barbara Brecht-Schall Helene Klimm: Maria Wendt Graf von Holzendorf: Heinz Kögel Frau Palm: Annelise Matschulat Pastor Popp: Paul R. Henker Bräuning: Hans Klering Bräunings Schwager: Hans W. Hamacher Betrunkener Bursche: Horst Kube Alter Bauer: Ludwig Sachs, Karsten: Albert Zahn Agronom: Ulrich Thein, Bauer Kanne: Karl Brenk Bauer Mallmann: Karl Kendzia Bauer Weigant: Hermann Wagemann Bauer Einsiedel: Herbert Rüdiger Frau Paderski: Gertrud Brendler Frau Fritsching: Ditha Cullmann in weiteren Rollen: Ingeborg Chrobock, Paul Pfingst, Alexander Papendiek, Gustav Püttjer, Ursula Weiß, Anna-Maria Besendahl, Walter Stickahn, Elfriede Florin, Jean Brahn, Ursula Mundt, Heinz Jennerjahn, Jochen Thomas, Leonhard Ritter, Paul Lipinski, Willi Rother, Ellen Plessow, Gertrud von Bastineller, Liska Merbach, Gertruf Hiller, Harry Steinbeck, Heinz Isterheil, Werner Senftleben, Erwin Behling, Karl-Heinz Weiß, Frank Michaelis, Käthe Alving, Else Sanden, Peter A. Stiege, Dora Thomszeck, Erhard Markgraf, Einar List, Irene Hett, Ilona Ringer, Lieselotte Fiebig, Wanda Bräuniger, Ursula Blank, Alfhild Deleuil, Ursula Röschmann, Waltraut Kramm, Grete Carlsohn, Hela Gruel, Elke Radtke, Hannelore Schmidt, Brigitte Schmidt

Zum Inhalt Annegret ist eine uneheliche Tochter des Grafen in einem mecklenburgischen Dorf. Der Kutscher Anton hatte ihre Mutter geheiratet und war ihr ein guter Vater geworden. Der Graf versprach mit Brief und Siegel, Annegret einst eine gute Mitgift zu geben. Doch nach 1945 haben sich die Verhältnisse geändert. Der Graf ist enteignet. Annegret, die nichts von ihrer Herkunft weiß, verliebt sich in den aus dem Krieg heimgekehrten Maschinenschlosser Heinz. Durch Klatsch und Intrigen erfährt sie die Wahrheit über ihre Eltern und verlässt das Dorf. Jahre später kehrt sie als diplomierte Zootechnikerin und mit einem Sohn zurück und möchte die Bauern von effektiveren Methoden der Vieh- zucht überzeugen. Der ehemalige Gutsinspektor macht Stimmung gegen die »Grafentoch- ter«. Dieses Spiel macht der »krumme Anton« nicht mit. Heinz und Annegret können end- lich heiraten.

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Ware für Katalonien

Produktionsland DDR, 1958/1959 Produktionsfirma DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) Produktionsleitung Willi Teichmann Erstverleih Progreß-Filmverleih, Berlin Uraufführung 6. März 1959, Filmtheater Capitol, Leipzig Regie Richard Groschopp Drehbuch Lothar Creutz, Carl Andrießen, Richard Groschopp Dramaturgie Willi Brückner Kamera Eugen Klagemann Kameraführung: Karl Drömmer Standfotos: Waltraud Pathenheimer Bauten Erich Zander Kostüme Helga Scherff Schnitt Helga Emmrich Musik Hans Hendrik Wehding Darstellende Marion Stöckel: Eva-Maria Hagen Sabine Falk: Hanna Rimkus Unterleutnant Schellenberg: Hartmut Reck Bob Georgi: Ivan Malré Hasso Teschendorf: Wilfried Ortmann Hauptmann Polland: Herwart Grosse Angestellte bei Polland: Gerlind Ahnert Hauptmann Germer: Fritz Dietz Nappo: Jean Brahn, Zement-Otto: Gerhard Frei Charlotte Gansauge: Carola Braunbock Bachmann: Albert Garbe, Sigi: Norbert Christian Johanna Stöckel: Loni Michelis Junger Optikschmuggler: Manfred Krug Portier: Werner Dissel, Prokurist: Friedrich Teitge in weiteren Rollen: Peter Sturm, Marga Legal, Marianne Wünscher, Werner Lierck, Walter Jupé, Gerd Biewer

Zum Inhalt Basierend auf einer wahren Begebenheit: Ende der 1950er Jahre hat die Optik-Herstellung in der DDR eine Spitzenqualität erreicht, die auch im Westen Begehrlichkeiten weckt. Als es im Inland plötzlich zu einer wachsenden Nachfrage kommt, während gleichzeitig der Export nach Südamerika stark abnimmt, wird die Volkspolizei aufmerksam. Zwei scheinbar unzusammenhängende Fälle dienen Unterleutnant Schellenberg vom Dezernat für Op-

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tikverschiebung als Ausgangspunkt für seine Ermittlungen: eine alte Frau, die in der Berli- ner S-Bahn festgenommen wird, weil sie ein Fernglas nach Westberlin schmuggeln wollte, und ein Toter in einer Laubenkolonie, der einen undurchsichtigen Handel mit optischen Geräten betrieben hat. Die Spuren führen die Kriminalisten schließlich in die »Kant- Klause«, die sich als Treffpunkt einer Bande entpuppt, die wertvolle Geräte aus der DDR über Westberlin nach Spanien schmuggelt. Als Kopf der Bande wird der skrupellose Hasso Teschendorf ausgemacht, genannt »der Spanier«, der auch bereit scheint, für seine Ziele zu morden. Während Teschendorf nicht zu fassen ist, geht der Polizei immerhin der Schmugg- ler Bob Georgi ins Netz, der sich mit der ahnungslosen Ostberlinerin Marion verlobt hat. Und auch privat kann Schellenberg einen Fang verbuchen: Er kommt mit der hilfreichen Optik-Verkäuferin Sabine zusammen.

Der Regisseur Kurt Hoffmann

Die heitere Harmlosigkeit, die wir uns für diesen Abend gewünscht haben, ent- stand vor einem halben Jahrhundert. Als der Film 1959 in die DDR-Kinos kam, geadelt mit einem Großen Preis des Internationalen Filmfestivals in Moskau für die beste Komödie, galt uns Regisseur Kurt Hoffmann bereits als Garant für unbe- schwerte Unterhaltung. Den Ruf brachte er schon aus der Nazi-Zeit mit. Damals hatte er sich tapfer und ehrenhaft jeder vordergründigen politischen Vereinnahmung entzogen und mit Heinz Rühmann als Quax, der Bruchpilot seinen größten Publikumserfolg ge- feiert. Anders als seine propagandistisch weniger enthaltsamen Regie-Kollegen war er in Goebbels’ Filmbetrieb nicht UK-gestellt. So befand man ihn als »abkömm- lich« für einen späten Kriegsdienst. Den mußte er auch noch mit Gefangenschaft büßen. Nach Synchronarbeit und wenigen Versuchen im Problem- und Kriminalfilm besann sich Hoffmann seiner langjährigen Erfahrung in anderen Genres. Mit Be- ginn der 50er Jahre kehrte er dauerhaft ins Lustspiel- und Komödienfeld zurück. Seinen ersten Preis eroberte der friedfertige Mann 1954 für Moselfahrt aus Lie- beskummer. Das war allerdings nur der bis dahin unbekannte und danach jeden- falls in der Filmgeschichte nie mehr verzeichnete »Deutsche Weinkulturpreis«. Schon zuvor hatte Hoffmann die unerschütterliche Frohnatur und Lachnudel Liselotte Pulver für die Doppelrolle seiner Verwechslungskomödie Klettermaxe entdeckt. Mit ihr als Piroschka feierte er nicht nur Zuschauerrekorde, sondern auch erste Film- und Kritikerpreise. Noch fünfmal verhalf er ihr zu attraktiven Hauptrollen.

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Auch in der DDR sah man die Pulver schon bald wieder. Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull aber waren vor allem reich an Abenteuern und Amouren für den eher burlesken als feinsinnig komödiantischen Jung-Star Horst Buchholz, jedoch arm im Vergleich mit Thomas Manns ironisch-hintergründigem Gesell- schaftsbefund. In der weniger anspruchsvollen bundesdeutschen Filmlandschaft waren sie immerhin einen Golden Globe wert. Bald darauf strömten auch hierzulande die lachlustigen Massen zum Wirtshaus im Spessart, das ihnen wenigstens im Kino offenstand. 1958 schließlich Wir Wunderkinder. Schon die Titelpersiflage auf das inzwi- schen im Bundesland bereits arg strapazierte Fahnenwort vom »Wirtschaftswun- der« versprach einen dort seltenen, uns aber durchaus bestätigenden heiter-kriti- schen Umgang mit den Verhältnissen im benachbarten Staat. Und wir, die wir uns über unsere eigene Wirtschaft ja zu wundern gewöhnt waren, wurden nicht ent- täuscht. Vielleicht auch gerade deshalb, weil wir mit selbstkritischer, frech- frivoler künstlerischer Spiegelung unserer Zeitgenossen nicht gerade verwöhnt wurden. Hoffmann erzählt die 40jährige Geschichte zweier Kleinbürger mit sehr unter- schiedlicher Biographie vor wechselnder Zeitkulisse in verschiedenen Genre- tönen. So ragt die Arbeit inhaltlich und stilistisch aus der Massenproduktion zeitloser Allerweltskomik und dem Kitsch der Heimatfilme heraus, die der Ade- nauer-Parole treu folgten: Keine Experimente! Vorsorglich wurde dem DDR-Publikum von 1959 zum besseren Verständnis und zur kritischen Wertung eines Produkts der kapitalistischen Unterhaltungsin- dustrie ein Progreß-Filmprogramm von Karl-Eduard von Schnitzler in die Hand gegeben. »Weil der Roman- und Drehbuchautor den Ausweg nicht kennt und sei- nen negativen Helden Bruno Tiches letztlich in einen Fahrstuhlschacht stürzen läßt«, lieferte der Chefkommentator des Rundfunks den wißbegierigen, doch für begriffsstutzig gehaltenen Zuschauern die richtige Erkenntnis nach: »Die Tiches stürzen in Bonn nicht in Fahrstuhlschächte, sondern steigen zum Minister auf, zum Wirtschaftsführer, zum Fördernden Mitglied des Vereins ›Rettet die Frei- heit‹.« Allein Schnitzlers folgende Prophezeiung entbehrte nicht einer gewissen Ko- mik. Er sagte voraus: »Die Tiches alias Strauß und Schröder werden durch die fortschrittlichen Kräfte gestürzt, die die Wahrheit erkennen und sich ihrer Kraft bewußt werden ...« Nun aber wollen wir mal sehen, ob das Vergnügen an den Wunderkindern, das wir von damals in Erinnerung haben, sich wiederholt oder sich heute auf ganz neue Weise herstellt.

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Wir Wunderkinder nach der Romanvorlage von Hugo Hartung

Produktionsland BRD, 1958 Produktionsfirma Filmaufbau GmbH, Göttingen Produzent Hans Albich, Herstellungsleitung Hans Albich Produktionsleitung Eberhard Krause Aufnahmeleitung Frank Roell, Kurt Zeimert Geschäftsführung Herbert Ledwoch Erstverleih Constantin Film Verleih GmbH, München Uraufführung 28. Oktober 1958, München, Sendlinger Tor-Lichtspiele Regie Kurt Hoffmann Regieassistenz: Wolfgang Kühnlenz, Manfred Kercher Drehbuch Heinz Pauck, Günter Neumann Kamera Richard Angst Kamera-Assistenz: Alfred Westphal, Kurt Pfändler Standfotos: Ferdinand Rotzinger Bauten Franz Bi, Max Seefelder Außenrequisite: Waldemar Hinrichs Innenrequisite: Rolf Taute Kostüme Elisabeth Urbancic, Vera Otto (Assistenz) Garderobe: Josef Dorrer, Josefine Kronawitter Maske Georg Jauss, Gertrud Weinz, Klara Krafft Schnitt Hilwa von Boro Schnitt-Assistenz: Sophie Weber, Anneliese Nagel Ton Walter Rühland Musik Franz Grothe Liedtexte: Günter Neumann Darstellende Hans Boeckel: Hansjörg Felmy Bruno Tiches: Robert Graf Kirsten Hansen: Johanna von Koczian Vera von Lieven: Wera Frydtberg Frau Meisegeier: Elisabeth Flickenschildt Doddy Meisegeier: Ingrid Pan Evelyne Meisegeier-Tiches: Ingrid van Bergen

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Darstellende Schalle Meisegeier: Jürgen Goslar Frau Häflingen: Tatjana Sais Frau Roselieb: Liesl Karlstadt Herr Roselieb: Michl Lang Erklärer: Wolfgang Neuss Hog: Wolfgang Müller Chefredakteur Vogel: Peter Lühr Herr Lüttjensee: Hans Leibelt Bäuerin Vette: Lina Carstens Siegfried Stein: Pinkas Braun Dr. Sinsberg: Ernst Schlott Toilettenmann: Ralf Wolter Lehrer Schindler: Obsthändler: Franz Fröhlich Alter Herr: Schmidt-Wildy Obmann Wehackel: Karl Lieffen Dr. Engler: Otto Brüggemann Baron von Lieven: Helmut Rudolph Frau Hansen: Karin Marie Löwert Herr Hansen: Emil Hass-Christensen 1. Studentenkabarettist: Michael Burk 2. Studentenkabarettist: Rainer Penkert 3. Studentenkabarettist: Fritz Korn, Lisa Helwig Herr Untermüller – geschnitten: Helmut Brasch

Zum Inhalt Kurt Hoffmanns Satire auf die Entwicklung Deutschlands während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erzählt die Geschichte der beiden Schulkameraden Hans und Bruno. Die beiden könnten unterschiedlicher kaum sein: Während der strebsame Hans stets hart für seine Karriere arbeiten muß, scheinen dem lebenslustigen Bruno die glücklichen Zufälle nur so zuzufliegen. In den 20er Jahren etwa kommt Bruno durch Aktiengeschäfte zu schnellem Geld; Hans muß sich derweil sein Studium durch den Verkauf von Zeitungen verdienen. Als die Nazis die Macht in Deutschland übernehmen macht Bruno politische Karriere und profitiert von der Enteignung der jüdischen Bevölkerung. Und nach dem Ende des Dritten Reiches entdeckt der findige Bruno die diversen Schwarzmärkte als lukrative Geldquelle, während Hans seine Familie kaum ernähren kann. Im Deutschland der Wirtschaftswunderjahre steigt Bruno schließlich zu einem wohlhabenden Geschäfts- mann auf. Als der Journalist Hans jedoch einen aufschlußreichen Artikel über die Karriere seines Schulfreundes veröffentlicht, ist Bruno erbost über diesen Angriff auf seine Ehre. Er sucht Hans in der Redaktion auf, um ihn einzuschüchtern.

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For eyes only

Produktionsland DDR (1962/63) Premierendatum 19. Juli 1963, Berlin, Kino »Kosmos« Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) Künstlerische Arbeitsgruppe »Solidarität« Auszeichnungen Nationalpreis III. Klasse (1964): Harry Thürk Nationalpreis III. Klasse (1964): János Veiczi Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie János Veiczi Regieassistenz: Eleonore Dressel Szenarium Harry Thürk nach einer Idee von Hans Lucke Drehbuch Harry Thürk, János Veiczi Dramaturgie Heinz Hafke Kamera Karl Plintzner Kamera-Assistenz: Günter Heimann Standfotos: Jörg Erkens, Wenzel Szenenbild / Bauten Alfred Drosdek Kostüme Gerhard Kaddatz Schnitt Christel Ehrlich Musik Günter Hauk Aufnahmeleitung Manfred Peetz Produktionsleitung Siegfried Kabitzke Darstellende Hansen: Alfred Müller, Frantisˇek: Ivan Palec MID-Major Collins: Helmut Schreiber MID-Colonel Rock: Hans Lucke Schuck: Werner Lierck, Hartmann: Peter Marx Oberst im MfS: Martin Flörchinger Peggy: Eva-Maria Hagen, Max: Rolf Herricht Charly: Gerd E. Schäfer, Hella: Christine Laszar Major im MfS: Horst Schönemann Liz: Ingrid Ohlenschläger, Gisela: Renate Geißler Adelheid: Marion Van de Kamp MID-General: Georg Gudzent MID-Beobachter: Fred Ludwig in weiteren Rollen: Dieter Knust, Eberhard Esche, Hans Hardt-Hardtloff, Ingolf Gorges, Victor Grosman, Perry Friedmann, Hans-Dieter Schlegel, Horst Rienitz, Peter Friedrich, Norbert Flohr,

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in weiteren Rollen Hans Köcke, Fredy Barten, Maximilian Larsen, Achim Schmidtchen u. a. Sprecher: Gerry Wolff

Zum Inhalt Die Würzburger »Concordia«-Handelsgesellschaft ist eine getarnte Dienststelle des MID, Geheimdienst der US-Army. Seit Jahren wird von hier aus mit allen Mitteln der Spionage, Sabotage und Diversion versucht, den sozialistischen deutschen Staat zu untergraben. Ei- nen günstigen Zeitpunkt für einen militärischen Schlag sieht man in unmittelbarer Nähe. Die Pläne dafür befinden sich im Safe von Major Collins. Hansen arbeitet seit Jahren für ihn – und den Staatssicherheitsdienst der DDR. Daß es eine undichte Stelle gibt, weiß auch Sicherheitschef Colonel Rock, aber Hansen hat bisher jeder Überprüfung standgehalten. Sein Auftrag lautet jetzt: Beschaffung der Pläne, damit sie öffentlich gemacht werden kön- nen. Es gelingt Hansen, sie aus dem Safe zu holen und mit ihnen in einer atemberaubenden Flucht in die DDR zu gelangen.

For Eyes Only – Ein Film und seine Geschichte Eine Dokumentation der DEFA-Stiftung | Gunther Scholz Filmproduktion

Produktionsland BRD (2008) Premierendatum 14. Mai 2009 Konzept und Realisierung Gunther Scholz Kamera David Schmidt, Axel Brandt Ton Michael Weigand Sprecher Christian Steyer Musik Robert Papst, Hugo Siegmeth Tonmischung Christian Wilmes Schnitt Christian Zschammer Farbkorrektur ufuk genc, cine chromatix Recherche und Produktion Matthias Remmert Postproduktion Die Kosmonauten Cine Impuls Berlin mit freundlicher Unterstützung -spektrum, Progress Film-Verleih, Chronos-Film Berlin Rechtekontakt defa-spektrum GmbH

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Der Autor und Regisseur Gunther Scholz

Geboren am 9. Oktober 1944 in Görlitz. Abitur, Schriftsetzer, angefangenes Stu- dium der Theaterwissenschaft. Nach dem Militärdienst Filmstudium an der Film- hochschule Babelsberg, 1971 Regie-Diplom. Ab 1973 Regieassistent, ab 1978 Regisseur im DEFA-Studio für Spielfilme. Seit Januar 1991 freischaffend als Au- tor und Regisseur im Bereich TV-Spiel und -Serie, zuletzt hauptsächlich doku- mentarisch tätig. Lebt in Berlin.

Quelle: 58. Internationale Filmfestspiele Berlin (Katalog), nach: www.filmportal.d

Filmographie

2007/2008 Sag mir, wo die Schönen sind ... (Co-Produzent, Drehbuch, Regie) 2006 Wenn plötzlich alles anders ist ... Diagnose: gelähmt (Drehbuch, Regie, Produzent) 2002 Alles schon Geschichte (Drehbuch, Regie) 2001 Die neue Bescheidenheit (Regie) 1998 Einschub in den Bericht des Politbüros (Drehbuch, Regie) 1995 Verbrechen, die Geschichte machten (Regie) 1994/1995 Imken, Anna und Maria (Regie) 1989/1990 Das Licht der Liebe (Regie) 1988 Freitag, der 13. (Drehbuch, Regie) 1987 Es war einmal ein Mittwoch (Regie) 1986/1987 Vernehmung der Zeugen (Regie) 1985/1986 Ab heute erwachsen (Drehbuch, Regie) 1985 Hermann Henselmann, Architekt (Drehbuch, Regie) 1983 Der dicke Lipinski (Drehbuch, Regie) 1982/1983 Verzeihung, sehen Sie Fußball? (Drehbuch, Regie) 1980 Nicki (Drehbuch, Regie) 1978/1979 Ein April hat 30 Tage (Regie, Szenarium) 1973 Fischzüge (Regie-Assistenz) 1969 Zu jung für Memoiren (Drehbuch, Regie)

Quelle: www.filmportal.de

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Karbid und Sauerampfer

Produktionsland DDR (1963) Premierendatum 27. Dezember 1963, Berlin, Kino Kosmos Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) Künstlerische Arbeitsgruppe »Roter Kreis« Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Frank Beyer Regieassistenz: Helmut Dziuba, Sigrid Meyer Szenarium Hans Oliva Drehbuch Frank Beyer Dramaturgie Christel Gräf Kamera Günter Marczinkowsky 2. Kamera: Hans-Jürgen Sasse Kamera-Assistenz: Jörg Erkens Standfotos: Heinz Wenzel Bauten Alfred Hirschmeier Bau-Ausführung: Willi Schäfer, Bruno Möller Licht Günther Müller Requisite Theo Görgens Kostüme Helga Scherff Maske Lothar Stäglich, Rosemarie Stäglich Schnitt Hildegard Conrad Musik Joachim Werzlau Ton Bernd Gerwien Aufnahmeleitung Oskar Ludmann, Gert Klisch Produktionsleitung Martin Sonnabend Darstellende Kalle: Erwin Geschonneck, Karla: Marita Böhme Clara: Manja Behrens, Karin: Margot Busse Sänger: Rudolf Asmus, Kutscher: Fred Delmare Amerikaner: Hans-Dieter Schlegel Polizeikommissar: Bruno Carstens Sowjetischer Kommandant: A. M. Presnezow Wirtschaftsoffizier: Leonid P. Swetlow Peter: Werner Möhring, Paul: Peter Dommisch Mann mit Marmeladeneimer: Günter Rüger 1. Arbeiter: Fritz Diez, Ganove: Fred Ludwig 1. Lkw-Fahrer: Jochen Thomas

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Darstellende 1. Frau im Sägewerk: Else Grube-Deister 2. Frau im Sägewerk: Gina Presgott Alter Mann: Otto Saltzmann 2. Lkw-Fahrer: Albert Zahn Beifahrer: Wolfram Handel Fleischer: Gerd Ehlers Kommissar: Hans Hardt-Hardtloff 1. Frau auf dem Friedhof: Agnes Kraus 2. Frau auf dem Friedhof: Sabine Thalbach Mann mit Hut: Peter Kalisch in weiteren Rollen: Anita Drechsler, Hanna Rieger, Jochen Diestelmann, Harald Moszdorf, Horst Giese, Werner Pfeifer, Eberhard Schneider, Gisela Graupner, Ilona Rüger, Hans Schmidt Sprecher 3. Frau auf dem Friedhof: Else Korén 4. Frau auf dem Friedhof: Anna-Maria Besendahl 5. Frau auf dem Friedhof: Gertrud Brendler 2. Arbeiter: Frank Michaelis 3. Arbeiter: Hermann Eckhardt 4. Arbeiter: Georg Helge

Zum Inhalt: Eine Nachkriegsgeschichte aus dem kleineren und ärmeren Teil Deutschlands: Kalle, der Nichtraucher und Vegetarier, soll zur Reparatur der Produktionsmaschinen im zerstör- ten Zigarettenwerk Karbid (Schweißen!) besorgen. Per Anhalter mit sieben Fässern vol- ler Karbid durch die Besatzungszonen. Das ist so aufregend wie urkomisch. Und so wird es auch erzählt: ein sehr schöner Film ohne Beschönigung!

Aus: Erwin Geschonneck »Meine unruhigen Jahre« Hrsg. v. Günter Agde, Berlin/DDR, Dietz 1984

(…) Und so kam zum anderen. Auch die Musik von Joachim Werzlau spielte eine gewisse Rolle: Kalles beschwerlichen Weg untermalte Werzlau mit dem be- kannten Volkslied »Das Wandern ist des Müllers Lust«, sehr witzig variiert und instrumentiert. In diese Variationen, die genau den Situationen angepaßt waren, hatte er außerdem bekannte russische und amerikanische Melodien, zum Beispiel »Kalinka«, eingearbeitet. Ich fand, das war eine sehr passende Filmmusik, weil sie das Komische des Films weiterführte. Besonders lustig war die ziemlich große Szene, in der Kalle in einem Motor- boot zwischen sowjetischer und amerikanischer Besatzungsmacht auf der Elbe entlangfährt, immer vorschriftsmäßig nach beiden Seiten grüßend. Ich kenne mich mit Motorbooten nicht gut aus, aber die Techniker der DEFA halfen mir

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bestens. In »Asta, mein Engelchen« haben wir diese Szene zitiert: Kalle weiß bei seiner Bootsfahrt manchmal nicht, auf welcher Seite er ist. Wenn ich in »Asta« als Pförtner-Schauspieler frage: »Bin ich hier in der sowjetischen Besatzungszone?«, so ist das ein Zitat aus »Karbid und Sauerampfer«. Im Unterschied zur Original- figur »verlor« unser Kalle auf seinem Weg fünf Fässer. Dabei ging es mitunter nicht immer nach klassischem Recht und Gesetz zu. Aber die Stationen zeigten insgesamt heitere Seiten, komische Begebenheiten einer ernsten Zeit. Und über allem glänzte der unverwüstliche Optimismus dieses Kalle. Natürlich haben wir auch Kalles Mutterwitz ordentlich ausgenutzt. Und schließlich: Kalle ist ein Arbeiter reinsten Wassers! Er unternahm das alles nicht für seine eigene Tasche, sondern für seine Kollegen und für seinen Betrieb. Dabei fehlte es ihm nicht an Anfechtungen. Unterwegs sagt ihm einer: »Verkauf das Zeug, du bist ein gemachter Mann!« Oder: »Wozu schindest du dich für andere ab?« Aber Kalle erfüllt treu und ordentlich seine Aufgabe. Hans Oliva hatte diverse Abenteuer dieses Kalle auf seiner »Reise mit Hinder- nissen und mit Karbid« notiert. Nun saßen wir oft mit Frank Beyer zusammen, tauschten unsere Gedanken aus, wie man diese hübsche, eigentlich ganz einfache, sehr komische Geschichte ausbauen und zu einem Film machen konnte. Aus- gangspunkt war und blieb für uns, daß in einer verworrenen Zeit ein Arbeiter sich auf den Weg macht, um Karbid zu »organisieren«. Dann haben wir alles mögliche hinzufabuliert, zum Beispiel, daß dieser Kalle so unheimlich viel Glück bei Frauen hat, daß er, ein eingefleischter Nichtraucher, ausgerechnet in einer Ziga- rettenfabrik arbeitet, daß Kalle von seinen Kollegen losgeschickt wird, weil er Vegetarier ist, denn da hat er in diesen Hungerzeiten unterwegs keine Ernährungs- probleme. Daß Kalle Vegetarier ist, stammt von mir, weil ich selber einmal Vegetarier war. Bloß: Komisch wirkt ein Vegetarier natürlich erst in einer Zeit, in der es so- wieso kein Fleisch gibt und die Leute hungern. Das verfremdet und wirkt dadurch komisch. Dazu ist dieser Kalle, der sich von Sauerampfer und Kresse ernährt, noch ein sehr kräftiger Mensch, der auch noch viel Kraft bei Frauen hat! Das ist vielleicht ein bißchen übertrieben, aber es ist natürlich auch etwas Wahres daran. Man muß ja nicht immer Fleisch essen. Ich bin ja damals, in den zwanziger Jah- ren, Vegetarier geworden aus Not, und in den vegetarischen Restaurants gab es billiges, gutes, schmackhaftes Essen, hervorragenden Spinat und Eier, Kartoffel- brei oder süße Grießspeisen.

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Geschichten jener Nacht

Das 11. Plenum des ZK Ende 1965 hatte für das Studio fatale Folgen. Den ersten drei Verbotsfilmen folgten bald weitere und mehrere Produktionsabbrüche. Eine externe Kommission kontrollierte alle drehreifen Bücher. Das Ergebnis war eine klaffende Produktionslücke. Dem Studio drohte der Entzug staatlicher Subventio- nen zugunsten des Fernsehens. Für jeden Verantwortlichen waren die ökonomi- schen Folgen so bedrückend wie die politische Verunsicherung. Dies alles neun Monate vor dem VII. Parteitag der SED. Die zügige Verfilmung eines belobigten Theaterstücks wie seinerzeit Die Fest- stellung von Helmut Baierl, »zu Ehren des V. Parteitags der SED« 1958, bot sich nicht noch einmal an. Produktionschef Albert Wilkening hatte jetzt eine film- freundlichere Idee. Um das Studio politisch zu rehabilitieren, sollten wir einen Episodenfilm dre- hen. Nur so war eine rasche Stoffentwicklung mit mehreren Autoren und die gleichzeitige Realisierung in drei bis vier Produktionen denkbar, um die Urauf- führung noch im April 1967 zu gewährleisten. Am Rande einer Präsidialratstagung des Kulturbundes hatte er dem Kandida- ten des Politbüros Horst Sindermann davon erzählt. Und der hatte ihm spontan das propagandistisch wünschenswerte Thema suggeriert – die Betriebskampf- gruppen der Arbeiterklasse und ihr Einsatz am 13. August 1961 zur Schließung der noch nicht mauerbewehrten Grenze zu Westberlin. »Sindermann macht’s möglich«, so hörte man zuweilen die kühne Abwandlung eines westlichen Werbeslogans. Manche Veränderung im größten industriellen Ballungsraum der DDR wurde ihm zugeschrieben, nachdem er 1963 SED-Be- zirkschef in Halle geworden war. Seine Kulturpolitik war höchst widersprüchlich. Da gab es die heftigen Attacken seiner Parteizeitung Freiheit gegen Buch und Film Der geteilte Himmel, von der Berliner Zentrale toleriert, doch nicht zur »Li- nie« geadelt. Wenig später lockte Spur der Steine noch viele Filmtouristen nach Halle, als ihn der Leipziger Nachbarregent Paul Fröhlich bereits aus den Kinos verbannt hatte. Sindermann hatte Gerhard Wolfram als Intendant und Horst Schö- nemann als Oberspielleiter aus Berlin an sein Landestheater geholt, das bald dar- auf mit Bühnenfassungen von Hermann Kants Aula und Ulrich Plenzdorfs nicht realisiertem Filmstoff Die neuen Leiden des jungen W. Furore machte. Auf dem 11. Plenum aber hatte Sindermann die »Kaninchen-Filme«, wie er sagte, auf fehlerhafte Theorien und Elite-Anmaßungen »arroganter Intellektuel- ler« wie Stefan Heym und »kulturloser Reimer« wie zurückge- führt. Biermann rächte sich an ihm 1976 in Köln mit dem Schmäh »Sindermann, du blinder Mann«. An einem Septemberabend lud dieser neue DEFA-Schutzpatron den Chefdra- maturgen Günter Schröder und mich in sein bescheidenes Einfamilienhaus am

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Hallenser Stadtrand. Sindermann kam gleich zur Sache. Er wolle gern beratend zur Seite stehen, als Genosse, nicht als Funktionär, Kontrolleur oder Zensor. Kon- mit ihm halte der junge Mann, der vor uns gekommen war, Karlheinz Carpen- tier, Nachwuchsregisseur im Zweigstudio Halle des Fernsehens. Von ihm stamme nämlich die Idee, Bruchstücke aus seiner, Sindermanns, Biographie zu nutzen. Was für einen abendfüllenden Spielfilm personenkultverdächtig sei, möge für eine Episode, namentlich verfremdet, vielleicht angehen. Mit allen politischen und organisatorischen Fragen oder Hilfeersuchen solle sich die DEFA also zunächst an Carpentier wenden. Sindermann, Jahrgang 1915, wurde als Gymnasiast Mitglied des Kommunisti- schen Jugendverbandes, als Funktionär schon 1934 verhaftet und zunächst im Zuchthaus Waldheim, später in den KZ Sachsenhausen und Mauthausen bis 1945 inhaftiert. Er gehörte zur Gruppe der »Roten Bergsteiger«, die nach dem Macht- antritt der Nazis bedrohte Antifaschisten illegal über die erzgebirgische Grenze in die Tschechoslowakei retteten und lange Zeit den Kurierdienst zwischen Prag und Berlin aufrechthielten. Carpentier wollte mit der Gegenwartsstory Phönix an die Kämpfe erinnern, als die Antifaschisten ihren Gegnern noch waffen- und machtlos unterlegen waren. Sinder- mann schlug vor, die Episode durch eine Auseinandersetzung zwischen einem kämp- ferischen kommunistischen Maler und einem verzweifelten, pessimistischen Dichter zu aktualisieren. Damit waren zusätzliche dramaturgische Sorgen programmiert. Wir brachten als Autor Helmut Baierl ins Gespräch, der sich thematisch bereits mit seinen Szenen vom 13. empfohlen hatte. Sindermann aber wünschte die Mitarbeit weiterer Autoren seines Bezirks. Er dachte an Erik Neutsch und Hans Jürgen Steinmann, er- staunlicherweise auch an Werner Bräunig, der nach dem Vorabdruck seines unvoll- endeten Wismut-Romans Rummelplatz gerade politisch scharf attackiert wurde. Auch für die Hauptrollen ermunterte Sindermann ausdrücklich zur Besetzung von Darstellern aus den verbotenen Filmen. Man müsse jedem Gerücht um »schwarze Listen« entgegenwirken. So konnte man bald Hans Hardt-Hardtloff (aus Denk bloß nicht, ich heule; Karla; Berlin um die Ecke), Erwin Geschonneck und Dieter Mann (Berlin um die Ecke), Eberhard Esche und Johannes Wieke (Spur der Steine), Inge Keller (Karla) und Angelika Waller (Das Kaninchen bin ich) im Parteitagsfilm versammelt sehen. Vom später so oft erwähnten »Beset- zungsboykott« oder »Berufsverbot« konnte keine Rede sein. Unduldsam war Sindermanns Urteil allein über seinen Genossen und ZK-Kandidaten Hans-Peter Minetti, dem er die realitätsnahe Gestaltung des dogmatischen Parteisekretärs Bleibtreu in Spur der Steine nicht verzeihen wollte. Zum 7. Oktober 1966 wurden die zur Mitarbeit bereiten Autoren und Regis- seure ins Hallenser Gästehaus der Partei zu einer »Spinnstunde« eingeladen, heute »brain-storming« genannt, um sich über ihre Ideen für den Novellenkranz auszutauschen. Ich nutzte die nächste Parteiversammlung des künstlerischen Be- reichs, um Mitstreiter zu gewinnen. Regisseur Gerhard Klein war sofort an einer

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komödischen Idee Helmut Baierls interessiert, und Frank Vogel wollte einen beste- henden Kontakt zu Werner Bräunig nutzen. Erik Neutsch, von den Turbulenzen der Romanverfilmung eher unberührt, brachte seine Fernsehbekanntschaft Ulrich Thein als Regiepartner mit. Die Zusammenkunft so unterschiedlicher persönlicher und künstlerischer Biographien ließ sofort erkennen, daß trotz politischer Übereinstim- mung an ein Kollektivwerk im früher einmal propagierten Sinne nicht gedacht wer- den konnte. Carpentiers Vorstellung, seine Story als eine Art Rahmen anzulegen, in das sich die Episoden der anderen einzupassen hätten, wurde gar nicht erst disku- tiert. Alle wollten ganz rasch ihre Idee in einem Exposé niederlegen. Nur zur Ver- meidung von Doppelungen sollte ein Manuskriptaustausch erfolgen. Nach Zustimmung des Studios mußten die Episoden ohne weitere Zwischen- stufen möglichst als Regiedrehbuch in engster Zusammenarbeit von Autor, Dra- maturg und Regisseur entwickelt werden. Zeitliche Sorge bereitete trotz solchen Mäzenatentums die hohe Hürde der Drehbuchabnahme und Produktionsfreigabe durch die HV Film. Und es drohte die auch von Sindermann für nötig gehaltene Konsultation der Abteilung Sicherheit des Zentralkomitees. Ohne deren Zustim- mung und Weisung war keine einzige Kampfgruppeneinheit für die Aufnahmen zu mobilisieren, an welchem Drehort auch immer. Die Zeitnot erzwang die sofortige Zusammenarbeit der Autoren und Regis- seure. Thein machte seinen Kameramann Hartwig Strobel zum Mitautor für Neutschs dramatische Fluchtgeschichte Die Prüfung. Bräunig entwarf mit Frank Vogel das epische Filmporträt einer typischen Arbeitergestalt: Materna. Die weitgehend stumme Bilderzählung, begleitet von einem inneren Monolog, den wir »Gedankenstimme« nannten, galt als künstleri- sches Experiment. Kummer bereitete die Alleinarbeit von Carpentier, die sich be- reits im Buch zu halb abendfüllender Länge auszubreiten drohte, durch mehrfache Rückblenden zusätzlich erschwert. Meine größten künstlerischen Hoffnungen richteten sich auf die Zusammenar- beit des Bühnenautors Helmut Baierl mit dem Filmfanatiker Gerhard Klein an der für Erwin Geschonneck konzipierten Komödienidee Der kleine und der große Willi. Diese zwei schönen Generations- und Charakterstudien versprachen einen publikumswirksamen, ironisch-heiteren Umgang mit dem politisch aufgeladenen und konfliktträchtigen Gegenstand. Nachdem die Drehbücher alle Abnahmeinstanzen passiert hatten, war die Ernüchterung maßlos, als gerade diese Geschichte auf totale Ablehnung stieß. Die Idee sei absolut unbrauchbar, politisch falsch und in der Darstellung unrealistisch. So ließ es uns die Sicherheitsabteilung des ZK über die HV Film wissen. Man solle auf diese Episode verzichten. Hatten diese Genossen etwas anderes gelesen als alle, die bereits »grünes Licht« gegeben hatten – vom Chefdramaturgen über die Hauptverwaltung bis zum Politbüro-Mann in Halle? Was hatte die höchsten Wächter über die Kampf- gruppenehre so in Harnisch gebracht?

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»Mangelnde militärische und politische Wachsamkeit in der Alarmnacht gegenüber einem Feind«, wie hier erzählt, gab es nicht und durfte es auch im Film nicht geben. Die »Würde der Kampfgruppenzugehörigkeit« dürfe einem potenziellen »Grenz- verletzer«, wenn überhaupt, dann höchstens nach jahrelangem Umerziehungspro- zeß zuteil werden. Neben Verstößen gegen das halbmilitärische Reglement und diverse Dienstvorschriften hatte die Auguren die vermeintliche Doppelmoral unseres positiven Helden aufgebracht: Westberliner suchen die uniformierten Maurer nicht allein durch Zurufe zu provozieren, nein, sogar mit einer Schachtel amerikanischer Zigaretten. Der große Willi fängt sie auf und mauert sie zur merk- lichen Enttäuschung der Spender in die Grenzbefestigung ein. Doch nur die leere Schachtel sollte im Zement begraben sein. Insgeheim verteilt er die geschickt ge- retteten Glimmstengel an seine Genossen. Solch apolitische Produktanbetung wollte man weder der Kunstfigur noch den offenbar ideologisch anfälligen Künst- lern durchgehen lassen. Der Hilferuf des Dramaturgen traf einen überraschten Sindermann. Nein, der Abteilungsleiter im ZK hatte nicht mit ihm gesprochen. Er könne mangels Zu- ständigkeit da nichts machen. Die letzte Kompetenz für Sicherheitsfragen liege beim ZK-Sekretär Erich Honecker. Doch den könne man damit wirklich nicht behelligen, schon gar nicht als Schiedsrichter zwischen politisch-militärischen Fachleuten und Künstlern. Immerhin ließ sich der zuständige ZK-Abteilungsleiter vom Politbüro-Genos- sen wenigstens zu einem »Meinungsaustausch« mit Helmut Baierl und seinem Dramaturgen überreden. Nach landläufiger Interpretation des viel strapazierten Begriffs ging er davon aus, daß die Filmleute mit ihrer Meinung zu ihm kommen, um mit seiner wieder zu gehen. Für manches militärische Detail zeichneten sich im kollegial geführten Streit- gespräch Lösungen ab. Allein Baierls Argument, ein Arbeiter vernichte kein Ge- nußmittel, stamme es selbst aus kapitalistischer Produktion, durfte in der »siegrei- chen Klassenschlacht« des Jahres 1961 nicht gelten. Immerhin wurde unser Versprechen akzeptiert, uns um andere Lösungen zu bemühen. Die Skepsis aber blieb. Die Entscheidung über Produktionsfreigabe und Zulassung eines Films liege ja ohnehin nebenan bei der HV Film. Doch dort würde man sich, wie schon beim Drehbuch, doch wieder hierorts rückversichern... Gerhard Klein, nach Operation mitten in der Rekonvaleszenz, ließ sich von solchem Verdikt weniger schrecken als sein eher folgsamer Dichter-Genosse. Der erfand für die überraschende Wandlung des aufmüpfigen kleinen Willi zum vertrauenswürdigen Kämpfer eine komische Rahmensituation mit freundlich- ironischem Bezug. Trotz der Vorbehalte der Sicherheitsfanatiker wurden die Dreharbeiten in letz- ter Minute freigegeben. Alle hofften, daß der überzeugende Gesamteindruck die Bedenken zum nicht-naturalistischen Detail beschwichtigen werde.

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»Verletzungen der militärischen Regeln werden durch die menschlich warme und optimistische Ausstrahlung dieser Episode und des positiven Helden glück- lich überspielt, so daß eine negative politische Wirkung nicht zu befürchten ist.« So kämpfte ich noch in unserer Abnahmeempfehlung um die kleinen künstleri- schen Freiheiten, die wir den Zensoren zugemutet hatten. Nur mit organisatorischer Präzision und ökonomischer Disziplin aller Dreh- stäbe war der geplante Uraufführungstermin zu halten. Alle August-Aufnahmen mußten zwischen Januar und März realisiert werden. Autor Carpentier hatte es sich als Regisseur durch eine Vielzahl von Außenaufnahmen mit großem militäri- schem Aufwand und den höchsten Kosten besonders schwer gemacht. Er been- dete die Dreharbeiten als Letzter Mitte März. Zu allem Unglück fiel ein Teil die- ses Aufwands am Ende der Schere zum Opfer, weil die Länge der Geschichte ihre Tragfähigkeit überforderte. Buchstäblich in letzter Minute stand wenigstens eine Kinokopie zur Verfügung. Die festliche Uraufführung der Geschichten jener Nacht, meine Titelerfindung, fand im Filmtheater International am 17. April vor einer großen Gruppe ins Kino gesandter Delegierter des VII. Parteitags statt. Männer aus der Parteiführung wa- ren nicht darunter, denn es war der Eröffnungstag mit einem Abendempfang für die ausländischen Gäste. Die Aufmerksamkeit der vom Rede-Marathon stark in Anspruch genommenen Konferenzteilnehmer war erstaunlich. Die komödische Themenvariante am Ende erwies sich als wirkungsvoll und in ihren heiteren Nuancen treffsicher. Der Beifall war freundlich anerkennend. Doch an »stürmischen Applaus«, wie von diesem Publikum geübt und am ehesten erwartet, weiß ich mich nicht zu erin- nern. Traurig aber stimmte, daß Gerhard Klein weder die Erstaufführung noch die offizielle Premiere im Juni miterleben konnte. Der Gruß der Versammelten wurde ihm von mir in die Klinik in Berlin-Buch überbracht, wo ihn eine neuerliche, die letzte Operation erwartete ... Nur seine und Frank Vogels Episode erhielten das Prädikat »wertvoll«. Es war Kleins letzte abgeschlossene Arbeit. Er starb am 21. Mai 1970 an seinem Krebsleiden. Im Urteil der Geschichte über die Geschichten ist Klaus Wischnewski zuzu- stimmen: »Der Film ist von bekannten Künstlern mit Sorgfalt gearbeitet.(...) Nur eine der vier Episoden hat die ästhetische Dimension des geschichtlichen Stoffes, gesehen und gewertet aus einer bestimmten Position«. Die sah er in der damals kräftig belachten Dialogpointe des großen Willi: »Ein Gespenst geht um in Europa, und das sind zur Zeit wir«. Rückblickend fragte der Kritiker mit Recht nach dem tragischen Aspekt im Episodenkranz. »Der historische Moment fand

keine ästhetische1 Entsprechung. Man verharrte im provinziellen Selbstverständnis der Geschichte.« Der Dramaturg konnte und kann diesem Urteil nur zustimmen.

1 Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg, Berlin 1994, S. 219 f.

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Geschichten jener Nacht

Produktionsland DDR (1966/67) Premierendaten Voraufführung: 17. April1967, Berlin/DDR (Aufführung vor Delegierten des VII. Parteitags der SED), Voraufführung: 14. Mai 1967, Karl-Marx- Stadt, Luxorpalast, aus Anlaß des VIII. Parlaments und des Pfingsttreffens der FDJ, Uraufführung: 8. Juni 1967, Berlin/DDR, International, TV-Erstsendung: 13. August 1968, DFF 1 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) Künstlerische Arbeitsgruppe »Babelsberg 67« Auszeichnungen Prädikat: »Wertvoll« für die Episoden »Materna« und »Der große und der kleine Willi« (1967) Verleih PROGRESS Film-Verleih

Episode 1: Phönix Regie Karlheinz Carpentier Regieassistenz: Eleonore Dressel Drehbuch Karlheinz Carpentier Dramaturgie Dieter Wolf Kamera Hans-Jürgen Sasse Standfotos: Roland Dressel, Alexander Schnittko, Ferdinand Teubner, Heinz Wenzel Szenenbild/Bauten Alfred Drosdek Kostüme Babette Koplowitz Maske Frank Zucholowsky, Günter Hermstein Schnitt Susanne Carpentier Musik Georg Katzer Ton Klaus Wolter Aufnahmeleitung Paul Lasinski Produktionsleitung Dieter Dormeier Choreographie Isolde Pötzsch technische Beratung Fritz Fliegauf, W. Kreft Darstellende Kommandeur: Hans Hardt-Hardtloff Junger Karl: Peter Reusse Bräutigam von 1933: Peter Sindermann

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Darstellende Braut von 1933: Renate Bahn Fremder: Gerry Wolff, Maler: Raimund Schelcher Uniformierter: Werner Lierck Fahrer: Jochen Zimmermann Bräutigam von 1961: Dietmar Obst Braut von 1961: Jutta Peters, General: Erich Mirek 2. Kommandeur: Hans H. Neubert Skiläufer mit Leuchtpistole: Walter Kühn Flugzeugführer: Walter Schmeier Bordmechaniker: Dieter Neureuther 1. Tänzerin: Isolde Pötzsch, 2. Tänzerin: Karin Vetter 3. Tänzerin: Kriemhild Backmann-Eufe 4. Tänzerin: Petra Rogge-Kühn 1. Tänzer: Bernd Schürmann 2. Tänzer: Herbert Hentschel 3. Tänzer: Hans-Dieter Scheibel 4. Tänzer: Dimiter Bolger

Episode 2: Die Prüfung Regie Ulrich Thein Drehbuch Ulrich Thein, Erik Neutsch, Hartwig Strobel Dramaturgie Dieter Wolf Kamera Hartwig Strobel Standfotos: Roland Dressel, Alexander Schnittko, Ferdinand Teubner, Heinz Wenzel Szenenbild/Bauten Alfred Hirschmeier Kostüme Günther Schmidt Maske Klaus Becker, Monika Mörke Schnitt Lotti Mehnert Musik Günter Hauk Ton Konrad Walle Aufnahmeleitung Kurt Lichterfeld, Katja Saeger Produktionsleitung Dieter Dormeier Darstellende Robert Wagner: Dieter Mann Heinrich Huth: Horst Schulze Jutta Huth: Jenny Gröllmann Margitta Huth: Inge Keller Dr. Ernest Huth: Eberhard Esche Gisela: Regina Beyer, Barfuß: Norbert Speer Helmut: Otmar Richter, Professor: Martin Flörchinger Direktor: Wolfgang Luderer, Lehrer: Willi Wenghöfer Lehrerin: Luise Ziehm

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Episode 3: Materna Regie Frank Vogel Drehbuch Werner Bräunig, Frank Vogel Dramaturgie Dieter Wolf Kamera Claus Neumann Standfotos: Roland Dressel, Alexander Schnittko, Ferdinand Teubner, Heinz Wenzel Szenenbild/Bauten Harald Horn Kostüme Helga Scherff Maske Klaus Becker, Monika Mörke Schnitt Brigitte Krex Musik Wolfgang Pietsch Ton Klaus Wolter, Gerhard Ribbeck Aufnahmeleitung Jürgen Kussatz Produktionsleitung Dieter Dormeier Darstellende Materna: Ulrich Thein, Hanna: Angelika Waller Wiczorek: Johannes Wieke, Kilian: Werner Dissel Ulli: Frank Reckslack, Maurer: Werner Kanitz Maurer: Winfried Glatzeder

Episode 4: Der große und der kleine Willi Regie Gerhard Klein Drehbuch Helmut Baierl, Gerhard Klein Dramaturgie Dieter Wolf Kamera Peter Krause Standfotos: Roland Dressel, Alexander Schnittko, Ferdinand Teubner, Heinz Wenzel Szenenbild/Bauten Alfred Drosdek Kostüme Gerold Winkler Maske Margarete Walther, Wolfgang Möwis Schnitt Evelyn Carow Musik Wilhelm Neef Ton Hans-Joachim Kreinbrink Aufnahmeleitung Hans Berek Produktionsleitung Dieter Dormeier

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Darstellende Willi Lenz: Erwin Geschonneck Wilfried Zank: Jaecki Schwarz Kämpfer mit Brille: Christoph Engel Karl: Rudolf Ulrich, Melder: Ernst-Georg Schwill Müder Kämpfer: Otto Stark Mann mit Kostgeld: Albert Zahn Frau: Marianne Wünscher, Frau: Ingeborg Naß Posten mit Frauen: Peter Kalisch Flüchtling: Willi Schrade, Freund: Peter Hill Westjunge: Eberhard Schaletzki Freund (Frend?): Roman-Eckhard Gallonska

Zum Inhalt Vier Episoden, die unterschiedliche Menschen in Entscheidungssituationen zeigen – in der Nacht vom 12. zum 13. August 1961. In »Phönix« entschließt sich ein Kampfgrup- penkommandeur, seinen jungen Genossen in jener Nacht zu Hause zu lassen, denn der feiert gerade Hochzeit. 1933 hatte er eine ähnliche Situation erlebt. Damals kam der Genosse dennoch – wie der junge Mann heute. In »Die Prüfung« entscheidet sich ein 18jähriges Mädchen, ihren republikflüchtligen Eltern nicht in den Westen zu folgen. Der Maurer »Materna« hatte sich 1945 geschworen, nie wieder ein Gewehr in die Hand zu nehmen. Die Ereignisse des 17. Juni 1953 veränderten seine Haltung, und auch in dieser Nacht steht er mit dem Gewehr Posten. »Der große und der kleine Willi« – der kleine versucht, in einer geklauten Kampfgruppenuniform nach Westberlin zu kommen, der große hält ihn auf. Bei einem brutalen Angriff anderer Flüchtlinge schlägt sich der kleine Willi auf die Seite des großen, der ihm durch sein verständnisvolles Verhalten Achtung abgerungen hatte.

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Jakob der Lügner

Nur die wichtigsten Umstände der Entstehung des Films möchte ich ihnen hier mitteilen. Frank Beyer hat uns glücklicherweise in seiner Autobiographie, wie er 1 schreibt, »Die wahre Geschichte von Jakob dem Lügner« überliefert. »Sie beginnt damit, daß Vater Becker seinem Sohn Jurek, Philosophiestudent und angehender Schriftsteller, eine Geschichte aus dem Getto L~ódz erzählt. Ein Mann dort besaß ein Radio. Das war streng verboten und mit der Todesstrafe bedroht. Dieser Mann versorgte das Getto mit Nachrichten (...) besonders von den vorrückenden Rus- sen. Mit der Roten Armee verbanden die Gettobewohner ihre Hoffnung auf Be- freiung. Dieser Mann war ein Held, und seine Geschichte solltest du aufschreiben, meinte Vater Becker.« Sohn Jurek glaubte, Geschichten dieser Art schon bei anderen gelesen zu ha- ben. Doch Vaters Erzählung ließ ihn nicht los. Erst mit einer überraschenden Idee wurde aus dem Vorgang, aus dem Stoff, die unverwechselbare künstlerische Ge- stalt, die einzigartige Story. Statt eines weiteren Helden-Epos schrieb der Autor die berührendste Tragik-Komödie der DEFA-Geschichte. Frank Beyer lernte das Szenarium im Frühjahr 1964 kennen, mitten in der Vor- bereitung auf Spur der Steine. Noch während dessen Endfertigung im Herbst 1965 schrieb er mit Becker das Drehbuch und lieferte es am 15. Dezember ab. Es war der Vorabend des 11. Plenums. Doch trotz hitziger Debatten um Spur der Steine gab die neu eingesetzte Studioleitung die Produktionsvorbereitung frei. Nach der Abnahme von Spur der Steine durch den Beirat der HV Film reisten Beyer und Becker in Begleitung eines polnischen Produktionsleiters zehn Tage durch Ost- und Südpolen zu den Orten, in denen die Faschisten jüdische Bürger in Gettos zusammengepfercht hatten. In Krakau fanden sie im sehr alten, ehemals jüdisch besiedelten Stadtbezirk einen idealen Außenschauplatz für ihren künftigen Film. Die Recherche hatte jedoch auch ein ernüchterndes Ergebnis. Die Sowjetar- mee hatte wohl Auschwitz, aber kein einziges Getto befreien können, weil die SS die Bewohner vorher ermordet, deportiert oder in westlicher Richtung fortgetrie- ben hatte. Dieser Umstand sollte für den Film eine weitere tragische Zuspitzung erlauben. Nachdem die polnischen Filmbehörden das Drehbuch kannten, erklärten sie ihr Desinteresse an einer Koproduktion, auch baldige Dienstleistungen für die Außenaufnahmen und die Mitwirkung polnischer Schauspieler und Kleindarstel- ler wurden ausgeschlossen. Frank Beyer versprach der Leitung, eine andere Reali- sierungsmöglichkeit zu suchen.

1 Wenn der Wind sich dreht. Meine Filme, mein Leben, München 2001, S. 180 ff.

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Doch inzwischen war Spur der Steine verboten. Schlimmer noch, höheren Orts hatte man beschlossen, den uneinsichtigen Regisseur zur »Bewährung« wenn schon nicht »in die Produktion«, dann wenigstens weg vom Studio Babelsberg ans Theater nach Dresden zu schicken. In der Westpresse kursierten nun wilde Spekulationen, von Frank Beyer kompetent dementiert: Der Spiegel wollte wis- sen, Becker sei mit seinem Buch in Babelsberg durchgefallen. Und Die Welt kannte gar die Gründe, »der kleinbürgerliche Pufferbäcker Jakob« habe nicht ins DEFA-Schema des positiven Helden und Widerstandskämpfers gepaßt.« Bemühungen des Studios und der HV Film, den Regisseur in die Festanstel- lung zurückzuholen, wurden von einflußreicheren Stellen blockiert. So kam es, daß Beyer erstmals 1971 mit dem Mehrteiler Rottenknechte wenigstens wieder auf dem Bildschirm präsent sein durfte. Es folgte ein vierteiliger Gegenwartsfilm mit seiner Frau Renate Blume in der Hauptrolle, Die sieben Affären der Dona Juanita. Die Theaterarbeit hatte sie in Dresden zusammengeführt. Jurek Becker war während der langen Liegekur seines Drehbuchs im Babels- berger Dramaturgiearchiv produktiv. Er machte es ebenso wie sein nicht weniger enttäuschter Schriftsteller-Kollege Bruno Apitz mit der Filmidee für Nackt unter Wölfen. Auch Becker entwickelte Jakobs Geschichte erst einmal zum großartigen Roman. Die Resonanz im In- und Ausland gab dem fast vergessenen Filmplan neuen Impuls. Das ZDF wollte die Verfilmungsrechte erwerben, weil Heinz Rühmann von der Lektüre so fasziniert war, daß er sich um die Hauptrolle bewarb. Es ist Jurek Becker hoch anzurechnen, daß er sich noch immer mit Frank Beyer im Wort fühlte und nicht sofort das auch finanziell verlockende Angebot annahm. Beyer, nun in Adlershof zwar fest angestellt, doch nie wirklich künstlerisch beheimatet wie in Babelsberg, schlug dem Fernsehintendanten Heinz Adameck eine Kopro- duktion mit der DEFA vor. So konnte der altgediente DEFA-Regisseur nach acht Jahren endlich seine Ar- beit im Studio wieder aufnehmen, wo sie 1966 unterbrochen worden war. Schon damals wollte Beyer die Hauptrolle mit Vlastimil Brodsk´ybesetzen, ei- nem alten Freund noch aus Prager Studientagen. Nun gab es aber das Angebot von Heinz Rühmann, auch in einem DEFA-Film zu spielen. »Aber die Entschei- dung zwischen dem populären Rühmann und dem in Deutschland wenig bekann- ten Brodsk´y wurde mir abgenommen. (...) Es klingt absurd, aber tatsächlich hatte Erich Honecker das letzte Wort in dieser Besetzungsfrage. Er ließ ausrichten, wir möchten doch bitte ›zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf eine solche Besetzung ver- zichten‹. Es sollte alles vermieden werden, was auf eine einheitliche deutsche Kulturnation hinweisen könnte.« 2001 spricht Beyer von der Besetzung mit Brodsk´y als von einem »Glücksfall« und das dank einem Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden, der »auch noch Zeit fand, als oberster Castingchef für Film und Fernsehen zu arbeiten.«

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Nun schrieben Regisseur und Autor das Drehbuch neu. Die ursprüngliche Schwarz-weiß-Version wurde aufgegeben zugunsten einer dramaturgisch durch- dachten Farbgestaltung, die Beyer in seinem Buch ausführlich begründet. Kurzer Vorgriff: Daß das Fernsehen der DDR den Farbfilm lange vor der Kinopremiere im Weihnachtsprogramm 1974 schwarz-weiß in den Äther schoß, mußte alle Beteilig- ten wie den Babelsberger Koproduzenten allerdings grämen. Normalerweise gilt auch für Koproduktionen eine längere Kinoschonfrist vor der TV-Ausstrahlung. Frühere Vorbehalte Beyers gegen Rückblenden werden fallen gelassen. Aus dem Roman wurden, anders als im ersten Entwurf, Elemente aus Jakobs Erinne- rungen für kontrastierende Reminiszenzen genutzt. Das befreundete Polen schien dem Regisseur nach den früheren Erfahrungen für die Außenschauplätze wenig einladend. So wurde das Stadtzentrum der bereits für den Kohle-Abriß bestimm- ten, schon entvölkerten und verwahrlosten nordböhmischen Kleinstadt Most von Szenenbildner Alfred Hirschmeier in das Film-Getto verwandelt. Allein mit der Besetzung hatte Beyer erst einmal Probleme. Erwin Geschon- neck wollte unbedingt die Hauptrolle spielen, die Brodsk´y versprochen war, der übrigens durch unzählige Filmrollen auch dem Kino- und vor allem dem DDR- Fernsehpublikum bestens bekannt war. Trotzdem bedurfte es langer Überzeu- gungsarbeit, den DEFA- und Fernsehstar für die wichtigste erwachsene Partner- figur, den Friseur Kowalski, zu gewinnen. Ein neuer Schluß mit dem tragischen Tod nicht des schmalen, zerbrechlichen Jakob, sondern des kräftigen, anschei- nend unerschütterlichen Kowalski durch Suizid gab der Gestalt noch mehr Ge- wicht. Trotzdem folgte Geschonneck schließlich wohl mehr dem Machtwort als den künstlerischen Argumenten des Regisseurs. Die erste intime Probenbegeg- nung der beiden, von Frank Beyer gedolmetscht, verlief denn auch nicht eben glücklich. Der beschreibt die Folgen so: »Nach Probenschluß wollten beide mich getrennt sprechen. Vlastimil war ziemlich deprimiert, er war sich wohl bewußt, daß ihn Erwin ›an die Wand gespielt‹ hatte. ›Herr Geschonneck ist ja ein hervorra- gender Schauspieler. Ich habe ihn in mehreren Filmen gesehen und bewundere ihn. Aber willst du wirklich gestatten, daß er in deinem Film auf diese entsetzliche Weise outriert? Wie soll ich mich denn gegen diesen Hanswurst wehren?‹ Ich bat Vlastimil, nicht ungeduldig zu sein; wir würden uns schon im Lauf der nächsten Proben über den schauspielerischen Stil verständigen. Dann kam Erwin. ›Herr Brodsk´y soll ja ein hervorragender Schauspieler sein. Ich habe ihn zwar noch in keinem Film gesehen, aber er hat diesen Ruf. Aber willst du wirklich gestatten, daß er in deinem Film überhaupt nicht spielt? Warum spielt er eigentlich auf der Probe gar nicht? Ist er überhaupt ein Schauspieler?‹ Ich bat Erwin, nicht ungedul- dig zu sein; wir würden uns schon im Lauf der nächsten Proben ...« usw. Die bei- den haben sich während der Dreharbeiten sehr gut verstanden (...) der stille, intro- vertierte Jakob und der aufgedrehte, extrovertierte Kowalski.« Beide Darsteller gehörten denn auch zum Nationalpreis-Kollektiv 1975, nach- dem Brodsky bereits mit einem Silbernen Bären der Westberliner Filmfestspiele

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geehrt worden war. Jakob der Lügner erhielt als einziger DEFA-Film eine Oscar- Nominierung als bester ausländischer Film. Beyer beschreibt anrührend genau die Verleihungszeremonie als aufregend und ... enttäuschend, »wenn der Moment kommt, in dem von der Bühne aus verkündet wird ›The winner is ...‹ (richtig: »and the Oscar goes…« – der Herausg.) und man hat den Hintern schon halb aus dem Sessel und ist es dann doch nicht. Ich würde mich einer solchen Prozedur nicht mehr aussetzen wollen. Auf dem Flugplatz in New York, kurz vor der Heim- reise sagte Erwin Geschonneck nachdenklich zu mir: ›Weißt du, wenn ich die Hauptrolle gespielt hätte, hätten wir vielleicht doch den Oscar bekommen ...‹«. Ich meine, wir können dem Regisseur dafür dankbar sein, wie uns die beiden großartigen Mimen im Film noch einmal begegnen werden.

Jakob, der Lügner nach dem gleichnamigen Roman von Jurek Becker

Produktionsland DDR Premierendaten Uraufführung: 22. Dezember 1974 im Fernsehen der DDR, Kinostart: 17. April 1975, Berlin, Kino Kosmos Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg/ DDR, Künstlerische Arbeitsgruppe »Johannisthal«) mit dem Fernsehen der DDR und dem Filmstudio Barrandov, CˇSSR Auszeichnungen XXV. Internationale Filmfestspiele Westberlin, Berlinale 1975: Preis für besten Darsteller (Vlastimil Brodsky), Nominierung für den Oscar (1975), Nationalpreis II. Klasse (1975) für Erwin Geschonneck, Nationalpreis II. Klasse (1975) für Günter Marczinkowsky, Nationalpreis II. Klasse (1975) für Gerd Gericke, Nationalpreis II. Klasse (1975) für Frank Beyer, Nationalpreis II. Klasse (1975) für Vlastimil Brodsk´y, Nationalpreis II. Klasse(1975) für Jurek Becker Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Frank Beyer Regie- Assistenz: Günter Hoffmann Assistenz- Regie: Harald Fischer

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Drehbuch Frank Beyer Szenarium Jurek Becker Dramaturgie Gerd Gericke Kamera Günter Marczinkowsky Kamera-Assistenz: Dietram Kleist Standfotos: Herbert Kroiss Licht Dieter Tillak, Dietrich Tillac (??) Bauten Alfred Hirschmeier Bauausführung: Gisela Schultze, Willi Schäfer. Requisite Kurt Pentzien Kostüme Joachim Dittrich Maske Günter Hermstein, Inge Merten (Assistenz), Monika Mörke (Assistenz) Schnitt Rita Hiller Ton Horst Mathuschek Mischung: Gerhard Ribbeck Musik Joachim Werzlau Solo-Violine: Siegfried Krause Produktionsleitung Herbert Ehler Aufnahmeleitung Werner Teichmann, Gerd Zimmermann Produktionsassistenz Peter-Klaus Niemetz Darstellende Jakob: Vlastimil Brodsk´y/Norbert Christian Kowalski: Erwin Geschonneck Lina: Manuela Simon, Mischa: Henry Hübchen Rosa: Blanche Kommerell Herr Frankfurter: Dezsö Garas/Wolfgang Dehler Frau Frankfurter: Zsuzsa Gordon/Ruth Kommerell Prof. Kirschbaum: Friedrich Richter Josefa Litwin: Margit Bara/Gerda-Luise Thiele Herschel Schtamm: Reimar-Johannes Baur Roman Schtamm: Armin Mueller-Stahl Wachhabender: Hermann Beyer Najdorf: Klaus Brasch Schwocj (Schwoch?): Jürgen Hilbrecht Horowitz: Paul Lewitt, Fajngold: Friedrich Links Abraham: Edwin Marian, Schmidt: Peter Sturm Soldat vor Latrine: Hans-Peter Reinecke Eisenbahner: Helmut Schellhardt Zivilist im Revier: Klausjürgen Steinmann Chaim Balabusne: Erich Petraschk Awron Minsch: Fred Ludwig

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Darstellende Mischas Nachbarin: Jarmila Karlovská Schlittenkutscher: Wilfried Zander Larissa: Gabriele Gysi, Polizist: Harry Lehnert 1. Mann in Kowalskis Zimmer: Josef Englicki 2. Mann in Kowalskis Zimmer: Julius Kornstreicher 1. Arbeiter: Peter Pauli, 2. Arbeiter: Alfred Lux Alter Mann im Kaftan: Josef Koci Turmposten: Harald Fischer Soldat im Giebelfenster: Eckhard Bilz Unteroffizier: Rudolf Schindler 1. Soldat: Joachim Lukas, 2. Soldat: Henry Zschoge 3. Soldat: Peter Bausch, 4. Soldat: Harald Henke Torposten: Bernhard Schauder 1. Sowjetischer General: Otto Horstmann 2. Sowjetischer General: Wilhelm Jordan 3. Sowjetischer General: Gerhard Brieger Rafael: Pavel Vancura, Siegfried: Karel Kalita Sprecher/Nachrichtensprecher: Horst Preusker

Zum Inhalt Ein osteuropäisches Ghetto im Jahre 1944. Jakob Heym wird wegen angeblicher Über- schreitung der Ausgangssperre von einem Posten zum Gestapo-Revier geschickt. Durch Zufall kommt er mit dem Leben davon, und zufällig hat er dort im Radio eine Meldung über den Vormarsch der Roten Armee gehört. Er möchte die Nachricht an seine Leidensgefähr- ten weitergeben, um ihnen Hoffnung zu machen, hat aber Angst, man würde ihn wegen sei- ner »Verbindung« zur Gestapo für einen Spitzel halten. So greift er zu einer Lüge, gibt vor, ein Radio versteckt zu haben. Die Menschen im Ghetto schöpfen neuen Lebensmut, es gibt keine Selbstmorde mehr, und man möchte von Jakob immer neue Informationen über den Vormarsch. Er muß weiterlügen, damit die Hoffnung bleibt. Sein Freund Kowalski hilft, die Nachrichten zu verbreiten, läßt sich sogar von einem Wachposten zusammenschlagen, um Jakob zu schützen, als der auf der Toilette aus Zeitungsfetzen der Nazis wahre Nachrichten zu finden sucht. Ein kleines Mädchen entdeckt kurz vor der De- portation, daß Jakob kein Radio hat, aber seine Lüge und mit ihr die Hoffnung erweisen sich stärker als die Realität.

Über die Historie hinaus. Gespräch mit Jurek Becker

Wie würden Sie das Genre Ihres Films »Jakob der Lügner« bezeichnen? Beabsichtigt war, eine tragische Komödie zu machen. Ich hoffe sehr, daß es nicht beim Vorhaben geblieben und daß die Absicht am fertigen Film ablesbar ist.

Den äußeren Rahmen der Handlung bildet ein jüdisches Ghetto während des zweiten Weltkrieges. Glauben Sie, daß eine komödienhafte Erzählweise der Dar- stellung solcher Fakten und Vorgänge wie Judenverfolgung, Erniedrigung von Menschen oder gar ihre physische Vernichtung angemessen ist?

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Ja. Ich behaupte gewiß nicht, daß es sich hierbei um die einzig adäquate Erzähl- weise handelt, aber doch um eine denk- und vertretbare. Es gibt keinen Gegen- stand, keinen Bereich des Lebens, vermute ich, für den die Komödie sich von vornherein als Erzählmöglichkeit verbietet. Dies hat nichts mit Verharmlosung zu tun, ebensowenig mit Pietätlosigkeit. Ein Irrtum wäre es, zu glauben, die Lebensumstände, die einer komödienhaften Geschichte zugrunde liegen, müßten von sich aus spaßig sein, sozusagen ihrem Wesen nach. Bei einem Ghetto beantwortet sich diese Frage ja von selbst. Dem- nach wird die Komödie nicht durch die gesellschaftliche oder historische Situa- tion von Völkern ermöglicht, sondern durch die Situation von Individuen, durch ihr Verhältnis zu anderen Gestalten der Geschichte.

Entsprach die Umsetzung des Drehbuchs durch Regisseur Frank Beyer in jedem Punkt Ihren Vorstellungen und Erwartungen? Auf keinen Fall. Wenn es so wäre, wenn ein Regisseur also nichts anderes tun würde, als dem Erwartungsstandard eines Autors zu entsprechen, dann wäre er im Grunde eine überflüssige Erscheinung. Dann sähe ich keinen vernünftigen Grund, warum der Autor sich seinen Film nicht selber drehen sollte. Selbstverständlich hat Frank Beyer in erster Linie seine Vorstellungen von ei- ner Geschichte und von Film realisiert, nicht meine. Andererseits kannten wir uns schon vorher und waren einigermaßen darüber informiert, wo unsere Vorstellun- gen übereinstimmten und wo sie voneinander abwichen. Wir hielten das Maß an Übereinstimmung für so ermutigend, daß wir Lust auf eine gemeinsame Arbeit hatten. Dennoch kann von einer restlosen Kongruenz unserer Absichten keine Rede sein, und das ist nicht bedauerlich, sondern ganz in Ordnung.

Gab es auch während der Dreharbeiten Konsultationen zwischen Ihnen? O ja, recht viele sogar. In der Regel hat Frank Beyer diese Konsultationen dazu genutzt, seine eigenen Auffassungen auf demokratische Art und Weise durchzu- setzen. Glauben Sie aber bitte nicht, daß ich mich darüber beklage. Denn ich be- fürworte durchaus die Arbeitsteilung, wonach ein Buch in erster Linie die Angele- genheit eines Autors ist und die Regie in erster Linie Sache des Regisseurs. (…)

Aus: , Berlin/DDR, 20. 12. 1974.

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Bis daß der Tod euch scheidet

Heiner Carows Film hatte am 17. Mai 1979, dem 33. Jahrestag der DEFA-Grün- dung, im kleinen Kino International seine Berliner Premiere. Kaum ein anderer Gegenwartsfilm hatte je eine so lange, kontrovers diskutierte Buchentwicklung mit immer wieder verschobenem Produktionsstart. Rücker stieß schon 1972 in einer Rostocker Zeitung auf einen Gerichtsreport 1 der ihn nicht loslassen wollte. Angeklagt war eine junge Frau des Tötungsversuchs an ihrem Mann, ausge- rechnet einem Volkspolizisten. Obwohl schuldig, offenbarte der Prozeß, daß nicht er, sondern sie das wahre Opfer in einer schrecklichen Familientragödie war. Ihr Mann hatte sie lange erniedrigt und schwer mißhandelt, bevor sie zum »Rache- engel« wurde. Ein Exposé lag bereits im Oktober 1972 vor. Rücker schrieb das Szenarium 1975 aber erst, als sich Heiner Carow für den Plot zu interessieren begann und nachdem die Idee geboren war, der tragischen Heldin eine Freundin als Dialog- partner und Bezugsfigur zur Seite zu stellen. Carow war nach dem überwältigen- den Erfolg der Legende von Paul und Paula vom schwachen Zuspruch für Ikarus schwer enttäuscht und sah mit Recht in diesem Ehedrama eine Chance für ein großes Kino-Ereignis. Im Mai 1976 (!) bestätigte mir der Künstlerische Direktor die Produktionsreife des Szenariums. Heiner Carow nahm nun die Federführung in die Hand und be- gann parallel zur Drehbucharbeit mit der Befragung junger Leute und Ehepaare. Autor und Regisseur wollten aus dem authentischen Vorgang keinen Krimi und keinen Prozeßfilm machen. Ihnen ging es um die exemplarische große Liebe zweier sehr junger Leute, die trotz idealer gesellschaftlicher Voraussetzungen in die Krise kommt und in einer Katastrophe endet. Daß aus dem Volkspolizisten ein Bauarbeiter wurde, seine junge Frau Verkäuferin, lag ganz im Sinne der wün- schenswerten Verallgemeinerbarkeit der Story. Die Konflikte und ihre Eskalation sollten nicht aus dem Charakter-Defizit eines Beteiligten, gar des Mannes allein, erwachsen, sondern aus den geradezu idealen Vorstellungen beider von Liebe und harmonischer Familienbeziehung. Es ging um das Paradigma einer wirklichen Tragödie, ein Genre, das unter sozialistischen Bedingungen und auf der Grund- lage nicht-antagonistischer Widersprüche angeblich zum Verschwinden verurteilt war. Im Frühjahr 1976 hoffte Carow, Studiodirektor Albert Wilkening mit einer er- sten, dann zweiten Drehbuchfassung im Mai endlich zur Produktionsfreigabe zu bewegen. Mit »Erläuterungen zum Drehbuch« vom Juli versuchte er seine Lesart 1 Die Anregung kam möglicherweise von Gisela Steineckert, denn auf Rückers Rat hin erhielt sie das Exposé mit der Bitte um Stellungnahme.

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und Regiekonzeption als Entscheidungshilfe nachzureichen: »Das ist kein Film über die Brutalität eines Menschen, der trinkt. Das ist kein Film über sexuelle Hörigkeit (...) Das ist ein Film über die Liebe. (...), in dem die Liebe siegt, der die Zuschauer überzeugt, daß dieses Ideal in unserem Leben möglich ist, daß Geduld, Ausdauer, Kampf und Leiden dazugehören, unser Ideal von Menschlichkeit zu verwirklichen (...) ein Beitrag im Sinne der Beschlüsse des IX. Parteitags. Es geht um den unersetzlichen Wert menschlicher Beziehungen in Ehe und Familie. (...) Unser Film soll jungen Leuten Mut machen, für ihre Ideale zu kämpfen. Wir pole- misieren mit Ingmar Bergmans Szenen einer Ehe. Das Anliegen unseres Films ist genau das Gegenteil.« Die Beteuerungen wurden gehört, doch die Zweifel blieben. Prof. Wilkenings Produktionsfreigabe wurde von der HV Film widerrufen. Sicherlich wußte der ge- rade erst ins Amt berufene Chef Horst Pehnert um den bevorstehenden Amtsan- tritt Hans-Dieter Mädes als DEFA-Generaldirektor und wollte dessen Entschei- dung nicht vorgreifen. Der neue Studiochef rief schon in seiner ersten Arbeitswoche 1977 Günther Rücker, Heiner Carow und mich zum vertraulichen Gespräch, zur »Information über die Vorgeschichte der Projektentwicklung«. Vorsorglich machte er uns darauf aufmerksam, daß es jetzt endlich eine einheitliche kulturpolitische Lei- tungslinie vom Politbüro (Kurt Hager) via Kultur-Ministerium (Hans-Joachim Hoffmann) und HV Film (Horst Pehnert) über den Generaldirektor bis zu den Künstlern gebe. Dies sei die wichtigste Voraussetzung für eine sichere und ruhige Arbeit im Studio. Während Carow nur kurz seine Konzeption erläuterte, gab Günther Rücker be- reits eigene Überlegungen zur weiteren Akzentuierung der Story und Entwicklung der Charaktere preis. Sogleich zeigte sich, daß der neue Chef das Buch nicht nur gelesen, sondern bis ins kleinste Detail studiert und analysiert hatte. Das Anliegen, diese tragische Geschichte zu erzählen, fand seine Sympathie. Ja, Freundschaft, Liebe und Tod seien große Themen auch für unsere Kunst. Aber ... Da gebe es denn doch meh- rere große Fragenkomplexe, die der weiteren Erörterung bedürften. Vor allem gehe es um die gesellschaftliche Umwelt und ihre Einwirkung auf das Geschick des jungen Paares. Menschliche Selbstverwirklichung geschehe hierzulande unter qualitativ günstigeren Bedingungen als im kapitalistischen Alltag. Jens’ subjek- tive Sicht und seine Erfahrungen müßten durch den Autorenstandpunkt relativiert werden. Seine traumatischen Ängste erschienen nur berechtigt, weil es um ihn herum keine intakte Liebes- und Ehebeziehung gebe. Aber auch das moralische Wertesystem sei zu überprüfen. Was sei Liebe? Von Liebe könne doch erst gesprochen werden, wenn bewußt oder unbewußt Verant- wortung für den anderen übernommen werde, ohne Selbstaufgabe dem anderen zu dienen. Jens einziges Motiv sei verletzte Eigenliebe. In der DDR genüge be- kanntlich eine Ohrfeige als Scheidungsgrund, hier komme es zu Gewalttätigkei-

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ten mit blutigen Folgen. Das dürfe mit »Liebe« nicht erklärt oder gar entschuldigt werden. Hier sei die Würde der Frau zu schützen. Fast schon in der freundlichen Verabschiedung und wie nebenbei noch eine kleine Frage: »Muß es denn unbedingt ein Bauarbeiter sein?« Da sprach nun nicht mehr der klarsichtige Dramaturg und scharfzüngige Kulturtheoretiker, sondern der Kandidat des Zentralkomitees, der Parteisoldat, der den Film schon im Blick- winkel seines Generalsekretärs sah. Der hatte sein innenpolitisches Ansehen mit der »Lösung des Wohnungsproblems als soziales« verknüpft und einem Propa- gandaaufwand ohnegleichen zum »strategischen Kampfziel« erkoren. Unser klei- ner General wußte wohl sehr genau, daß ihm seine DEFA-Truppe bei solchen tak- tischen Manövern nicht folgen würde. Und so beließ er es bei der Frage. In der Hoffnung, daß er wenigstens bei Günther Rücker ein offenes Ohr für seine Be- sorgnisse fände, schrieb er dem Autor einen sechsseitigen vertraulichen Brief, be- vor Heiner Carow unbeeinflußbar zur Regie-Tat schritt. Anfang Juni 1977 dann die nächste Generalstabsrunde mit kaum veränderter Fragestellung. In einem langen, überraschend rational argumentierenden State- ment des eher emotional veranlagten Carow, antwortete der Drehbuchautor nun schon als Regisseur. Übereinstimmung bestehe in allen Anforderungen an den künftigen Film. Widerspruch gebe es vor allem im Urteil über die zu erwartenden Wirkungen auf den Zuschauer. Hier müsse die Inszenierung Charme und Fröh- lichkeit haben. Naturalismen seien auszuschließen, die letzte Handgreiflichkeit entfalle. Die Helden dürften die Liebe des Zuschauers nicht verlieren. Der Film polemisiere gegen das rasche Auseinanderlaufen, gegen die modisch hohe Schei- dungsquote. Alle führten den Kampf um den Bestand dieser Liebe. Ihre und seine versuchte Qualifizierung werde nicht als entfremdeter gesellschaftlicher Zwang gestaltet. Jens’Arbeitssphäre werde konkretisiert. Die endgültige Lösung für den Schluß sei noch nicht gefunden. Beabsichtigt sei ein großes optimistisches Bild. Der Generaldirektor schien vom Echo auf seine Warnungen befriedigt. Es gehe nicht um ästhetische Fragen oder um deklarative Antworten, etwa im Dialog, viel- mehr um die Sicht auf die problematischen Vorgänge. Gerade in der Gestaltung solcher Katastrophen gehe es um das Gesetz von Ursache und Wirkung. Die Hilfsangebote der Gesellschaft müßten für den Zuschauer ernst gemeint und von ihm ernst genommen werden, auch wenn sie von den Figuren individuell nicht ge- nutzt werden könnten. Aber nach diesem Gespräch sei ein gelasseneres Urteil über die Perspektive der Arbeit möglich. Und doch sollte noch ein ganzes Jahr ins Land gehen, ehe Carow endlich zum Schuß kam. An Debatten während der Zeit der Dreharbeiten kann ich mich nicht erinnern. Carow hatte die heiklen Szenen sehr spät disponiert oder auch in den ge- legentlichen Mustervorführungen für die Gruppe und den Generaldirektor als noch ungeschnitten unterschlagen. Als für den 8. November 1978 die offizielle Rohschnittabnahme durch den Ge- neraldirektor anberaumt wurde, war das im Grunde schon der fertige, freilich

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mehrstreifige, also noch leicht veränderbare Film. Zum ersten Mal erschien HV- Chef Horst Pehnert zu solchem Anlaß im Studio und nahm als zweiter das Wort, um sogleich »mit persönlicher Erleichterung festzustellen, daß der Film »die Ver- sprechungen und Absichten von Heiner Carow bestätigt«. Nach einigen kritischen Bemerkungen zum Augenmaß in den »sexuellen Szenen« und zum Schluß fand er: »Das ist ein richtiger, wichtiger Film, für den wir dankbar sein können.« Günther Rücker betonte zum Mißfallen Carows den Rohschnittcharakter der Fassung, sprach von »Irritation durch die Wirkung mancher Dinge«, viel sei zum Guten gefügt, nur die Bettszene mit der Fast-Vergewaltigung wirke auf ihn »ana- tomisch statt poetisch«. Hier sprach nicht mehr der Autor, sondern der Regie- Kollege. Von mehr als 35 DEFA-Regisseuren war allein Günter Reisch zur Diskussion erschienen. Gelobt wurde die Entdeckung und Führung der Filmdebütantin Katrin Saß. Nur Martin Seiferts Rolleninterpretation als sehr unkonventioneller Bauar- beiter-Typus wurde kritisch befragt. Mäde, von der insgesamt positiven Resonanz sichtlich beeindruckt, fiel die »Freigabe der nächsten Arbeitsetappe(!) leicht«. Ihm ging es nur noch um die Länge mancher Szenen von Sex und Gewalt, man dürfe sich »keine Diskussion über ästhetische Mittel der Darstellung von Gewalt aufzwingen lassen«, nachdem man in allen kulturpolitisch relevanten Fragen zusammengefunden habe. Zu welchen minimalen Korrekturen sich Carow in der Nachsynchronisation und Montage tatsächlich noch durchgerungen hat, könnte nur seine geduldige Frau und Schnittmeisterin Evelin sagen. Erleichtert und selbstbewußt erlebte man den Regisseur bei der Studioabnahme. »Ich bin glücklich über die Reaktion der 2 Leute und den vollen DEFA-Kino-Saal. Ich weiß es nicht besser als die Millio- nen, mit denen wir ins Gespräch kommen wollen über ihre Lebenserfahrung.« Mäde begrüßte zu Beginn seines langen Statements Carows Haltung und lobte sein bedeutendes Talent. Er bedauerte »daß nicht alle Träume der Draufsicht auf die Normalität des Lebens aufgegangen sind«. Nicht völlig vermieden sei der Ein- druck der »Unausweichlichkeit, des Schicksalhaften«. »Kernfrage der Freiheit aber ist die Meisterungsmöglichkeit, die Überzeugung zu vermitteln, daß letzten Endes im geschichtlichen Prozeß der Mensch in der Lage ist, mit diesen Dingen fertig zu werden.« Er bat Carow, Kürzungsauflagen der HV Film nicht abzuwar- ten und »noch einmal das richtige Maß weniger im Bereich der erotischen als vielmehr der Gewaltszenen« zu überprüfen. Die Staatliche Filmzulassung war nach all diesen Prozeduren ein kurzer förm- licher Akt mit knapper Stellungnahme der HV Film. Wenig überzeugend, aber schutzbewußt wurde das Jugendprädikat P 18 festgesetzt, statt wie vom Studio be- antragt P 14 oder wie von Progreß vorgeschlagen P 16. Begründet wurde das nicht

2 DEFA-Premiere nannte sich die studio-offene 16-Uhr-Vorführung im DEFA-70-Kino mit rund 400 Plätzen und Mischpult für den Prozeß der Endfertigung. Ihr folgte die Abnahmediskussion beim Generaldirektor im kleinen Kreis.

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etwa mit den erotischen Szenen, sondern mit dem exessiven Alkoholmißbrauch der Hauptfigur. Der DEFA-Außenhandel befürchtete schmerzliche Ankaufsver- weigerungen der Sowjetunion, von Bulgarien und Rumänien. Horst Pehnert blieb beim besucherunfreundlichen Jugendprädikat P 18. Er lobte, wie übrigens überra- schend Heiner Carow auch, den respektvollen Umgang miteinander im Arbeits- prozeß, sagte Zuspruch und Widerspruch voraus und versprach mutig, »wir wer- den dazu stehen, daß der Film gemacht wurde und in die Öffentlichkeit kommt.« Horst Knietzsch brauchte nach der Premiere zwölf Tage, um seine Kritik ab- segnen zu lassen. Die schweren ideologischen Vorbehalte waren in maßvolle For- mulierungen gekleidet, die ein Kunsturteil vortäuschen sollten. »Ein Einzelfall wird in grellen Farben ausgeleuchtet, nicht frei von Lichtern einer sozialen Kol- portage.« Sogar Altvater Marx wurde aufgeboten: »›Aus dem Verhältnis des Man- nes zum Weibe kann man also die ganze Bildungsstufe des Menschen beurteilen.‹ Im Lichte dieser unbestreitbaren Wahrheit«, so Knietzsch, »scheint mir der Sinn für künstlerische und gesellschaftliche Realität in diesem Film zu niedrig ange- 3 setzt. (...)« In Dutzenden von Filmgesprächen lernte ich das ganze Spektrum erwarteter und überraschender Publikumsreaktionen kennen. Wie von uns erhofft, gingen die gestalteten Konflikte unter die Haut, fühlten sich die Menschen im Kino persön- lich tief betroffen. Die von einem Rezensenten skeptische Frage: »Ist es diese Wirklichkeit wert, in den Rang von Kunst erhoben zu werden?« wurde jedenfalls eindeutig und vielstimmig bejaht. Auf dem 1. Nationalen Spielfilmfestival in Karl-Marx-Stadt 1980 lief der Film in Konkurrenz zu Solo Sunny und erhielt nur den Drehbuchpreis (Günther Rücker) und den für Schnitt (Evelyn Carow). Heiner Carow war nur mit Mühe davon ab- zubringen, den jungfräulichen Festivalort vorzeitig zu verlassen. Einen gewissen Trost spendete das Ergebnis einer Umfrage des Jugendmaga- zins Neues Leben, herausgegeben vom Zentralrat der FDJ, dessen Leser Carows Streifen zum Besten aller rund 120 Kinofilme des Jahres 1980 wählten. Mäde wußte wohl, was er an diesem unbequemen Mann hatte, denn er sorgte dafür, daß Carow für sein bisheriges Schaffen 1980 den Nationalpreis II. Klasse erhielt. Unsere Kino-Erwartungen, durch die Legende von Paul und Paula allzu opti- mistisch gestimmt, wurden mit 755 000 Besuchern nach einem Jahr doch ein we- nig enttäuscht. Die Ankaufsdelegationen der sozialistischen Länder hatten den Film als zu lautes Melodram kritisiert, doch immerhin für Polen, CˇSSR, Ungarn, Kuba, Jugoslawien, Mocambique und das bulgarische Fernsehen übernommen. Ein bundesdeutsches Kinoverleihinteresse gab es nicht. Doch auch das Interesse und vor allem das Geld des gegnerischen Mediums ZDF war intern hoch ge- schätzt. Das Schweizer Fernsehen entschloß sich sogar zu einer kleinen Retro- spektive mit Paul und Paula, Ikarus und diesem jüngsten Carow-Film.

3 Neues Deutschland vom 29. 5. 1979.

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Die Vorwürfe unserer Oberen schienen durch manche Zuschauerreaktion nach der Fernsehausstrahlung im Juli 1981 bestätigt. Adlershof schickte ein Bündel Briefe nach Babelsberg. Es waren ausnahmlos empörte Zuschauerzuschriften, so daß man fast glauben konnte, hier sei eine hämische Auswahl für den medialen Konkurrenten getroffen worden. Eine junge Frau, 12 Jahre verheiratet, der Mann Schichtarbeiter, schrieb an die »lieben Leute vom Film« offenbar gleich nach dem Bildschirmerlebnis »in Wut und auf dem Schoß, da ich auf dem Sofa liege: (...) so viel Blödheit, Dummheit und Naivität (...) habe ich noch nie gesehen. (...) Wie kann man so was drehen, ein Mann der heult, der jammert wie ein Lappen, so eine hirnlose Kuh, die da weich wird. (...) Das wäre das erstemal, daß ich mich von einem oder meinem Mann schlagen ließe. Der flöge raus in hohem Bogen.« »Wir älteren Leute des Veteranenklub Gera (...) sind empört, so etwas scham- loses zu zeigen. (...) Was man im Westen schön findet, braucht doch unsere DDR nicht nach zu machen. Das Unverständnis des Mannes, der die Frau schlägt, weil sie arbeiten will, dann diese frivolen Leidenschafts-Ausbrüche und dazu immer fast nackt stößt uns ab. Wir hörten auch von jungen Leuten, daß sie an so etwas kein Interesse haben und unsere Meinung vertreten.« »Wie schätzt man denn das Denken unserer Menschen ein, die heute allseitig gebildet und aufgekärt sind?« 4 Nach dem vorangegangenen »schönen Montagsfilm konnte einem das Grauen kommen. Was hat dieser Mann bei den Thälmannn-Pionieren gelernt? Was be- rechtigt eigentlich einen Produzenten oder Regisseur eines VEB, eine solch per- verse abnorme Darstellung herzustellen und wer gibt das Geld, das unsere Bürger bezahlen?« Ein Professor mit seiner Frau befand: »Eine endlose Folge vorgespielter Orgas- men sind eine Beleidigung des guten Geschmacks. Wir sind nicht prüde. Aber, das ist ein widerlicher Kniefall vor der aus westlicher Richtung anrollenden Porno- welle«. Erstaunlich viele Kritiker beließen es nicht beim Urteil über den Film, sondern forderten Strafmaßnahmen gegen das Studio und die Filmleute: »Man sollte sol- che Filme gar nicht erst drehen und lieber das Geld an den Staatshaushalt ab- führen, der damit mehr Wohnungen und Krippenplätze für ordentliche, soziali- stisch erzogene Bürger bauen könnte. In Halle warten allein 2 000 arbeitswillige Frauen auf ihr in der Verfassung verbürgtes Recht auf Arbeit und bis zu drei Jahre auf einen Krippenplatz.« Eine Dresdener Hausgemeinschaft hatte einen »schönen Liebesfilm wie in Willi Schwabes Rumpelkammer« erwartet und wollte es nicht fassen: »Wir verstehen diese Schauspieler nicht, die sich dafür hergeben – der höheren Gage wegen?«

4 An fast jedem Montag strahlte das DDR-Fernsehen in der Hauptsendezeit einen Ufa-Unterhaltungsfilm aus.

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So fehlte es nicht an Rat, »Autoren und Regisseure sollten sich vorerst anders betätigen« oder aber, »diesen Film sollte man vernichten und Herr Rücker und Herr Carow auf eine politische Schule delegieren.« Ein anderer Zuschauer riet, die Filmschöpfer in den Straßenbau zu schicken. Wer hatte da nun zu antworten? Natürlich der Dramaturg. Ich tat es mit einem Standdardbrief, ohne auf die Beschimpfung der Filmemacher einzugehen. »Kriti- sche Meinungen zu unseren Filmfiguren und ihrem Verhalten liegen ganz und gar in der Wirkungsabsicht der Filmemacher, denn auch in der Auseinandersetzung damit bilden und festigen sich die eigenen Wertvorstellungen des Zuschauers. Was die Machart des Films betrifft, so ist selbstverständlich immer mit den sub- jektiven Erwartungen und Empfindungen des jeweiligen Betrachters zu rechnen. Deshalb respektieren wir die persönlich und sachlich begründete Ablehnung ebenso, wie wir die vielfach bewiesene öffentliche Resonanz und zustimmende Meinungen zur Kenntnis nehmen. Mit diesem Vorschlag zur gegenseitigen Ach- tung recht unterschiedlicher Auffassungen über die Kunst und einzelne Werke grüßt Sie ...«

Bis daß der Tod Euch scheidet

Produktionsland DDR Premierendaten Uraufführung: 17. Mai 1979 im Kino International Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) Auszeichnungen I. Internationales Spielfilmfestival der DDR Karl-Marx-Stadt 1980: Preis für Drehbuch an Günther Rücker, für Schnitt an Evelyn Carow Filmpreis des Jugendmagazins »Neues Leben« (1980): für das Jahr 1979 Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Heiner Carow Regie-Assistenz: Jörg Andrees, Thomas Heise Drehbuch Heiner Carow Szenarium Günther Rücker Dramaturgie Barbara Rogall, Dieter Wolf Kamera Jürgen Brauer Kamera-Assistenz: Dietram Kleist

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Standfotos: Waltraud Pathenheimer Bauten Harry Leupold Bauausführung: Siegfried Stallner Requisite Kurt Pentzien Kostüme Horst Rosette, Renate Herrmann Maske Inge Merten, Monika Mörke, Eberhard Neufink Schnitt Evelyn Carow Ton Konrad Walle Musik Peter Gotthardt Musikalische Vorlage: Antonin Dvorák (Thema) Produktionsleitung Erich Albrecht Aufnahmeleitung Dieter Krüger, Karl-Heinz Rüsike, Theo Scheibler Darstellende Sonja: Katrin Saß, Jens: Martin Seifert Jens’ Schwester: Angelica Domröse Tilli: Renate Krößner, Sonjas Mutter: Henny Müller Verkaufsstellenleiter: Horst Schulze Brigadier: Werner Godemann Jens’ Schwager: Alfred Struwe, Erik: Berko Acker Conny: Peter Zimmermann Volkspolizist: Carl-Heinz Choynski Connys Freundin: Michèle Marian Eriks Mutter: Irmgard Kuhlmey Eriks Vater: Joachim Lukas Oma: Lina Patermann (oder: Petermann) in weiteren Rollen: Elisabeth Andrees, Angela Fensch Roland Günther, Oskar Daum, Ullrich Bartel Silvia Schwabe, Anneliese Thünert, Annemarie Latzel, Jutta Röhl, Mathias Schmidt, Elvira Buth, Sabine Hentschel, Renate Römer, Sabine Altmann, Elke Bannier, Axel Mösges, Jürgen Kaschula, Lutz Gransee, Christian Wolter, Axel Dieme, Raik Schiller, Gerda Freund, Lieselotte Kühn Josef Englicki, Gruppe »City« (?)

Zum Inhalt Jens und Sonja sind Anfang 20. In ihrer Verliebtheit heiraten sie überstürzt, ohne für die Ehe wirklich reif zu sein. Die Probleme beginnen, als ihr erstes Kind geboren wird. Jens, der als Bauarbeiter einen ausreichenden Verdienst hat, möchte, zumal er als Kind familiäre Geborgenheit vermißt hat, daß Sonja sich nur noch dem Kind widmet. Doch sie hat andere Vorstellungen. Heimlich macht sie die Facharbeiterprüfung. Jens ist empört und schlägt im Affekt zu. Als er aus einer Seltersflasche trinkt, die aber Putzmittel enthält, – Sonja weiß das und hindert ihn nicht – kommen beide zur Besinnung. Sie wollen sich eine zweite Chance geben.

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Ein Sonderfall von Liebe oder Der streitbarste DEFA-Film

Dieser Film ist streitbar, und er soll es – nach dem Willen seiner Schöpfer – sein. Diese Streitbarkeit, die manchmal schon zur Streitlust wird, zwingt jeden Zu- schauer, sich zu stellen, und entläßt keinen ohne Selbst-Prüfung und -Befragung, Nachdenken und Betroffensein. Von all den gelungenen DEFA-Filmen der letzten Jahre, die Lebensfragen unserer Zeitgenossen zu Gegenstand und Botschaft nah- men, ist dieser der rigoroseste, am meisten schmerzende und am meisten zu- packende, der leidenschaftlichste. Er erhebt eine Alltags-Liebes- und Ehegeschichte zwischen zwei jungen Leu- ten zum Sonderfall und spitzt den Konflikt extrem zu, sozusagen um jeden Preis. Gegenseitige Liebe und gemeinsames Leben wird an die Grenze von Leben und Tod getrieben. Damit gewinnt die Geschichte Größe, die zugleich den Boden für die Leidenschaftlichkeit von Anliegen und Vortrag bildet. Ein legitimer, wenn auch nicht eben häufiger Vorgang in der Kunst. Die sich liebenden, miteinander verheirateten und gemeinsam lebenden Sonja und Jens, Verkäuferin und Bauarbeiter, Anfang 20 und bald Eltern eines gesunden Jungen, nehmen fundamentale Ideale unserer Wirklichkeit beim Wort. Sie erleben Schlimmes miteinander und aneinander, aber sie scheitern nicht, gehen auch nicht kaputt. Ist das vielleicht ein Teil jenes Prozesses, den wir häufig nett verharmlosend Reifen nennen? Jene Ideale wirken nicht automatisch oder weil man sie sich zur ei- genen Maxime nimmt. Es muß jeder wohl kräftig sein Eigenes zur Verwirklichung einbringen. Was ist das – charakterliche Substanz oder fester Willen oder was? Und woher kommt es, – vererbt von den Eltern, anerzogen von Jugend an, vermittelt durch die Umwelt? Und wie noch? Oder vertragen die Ideale (noch) nicht die Probe auf die Praxis? So viele Fragen … Dem zurechtgeschnittenen Sonderfall werden flankierende, kontrastierende und mobilisierende Fabel-Elemente zugefügt. (…) Der Versuch, wichtige Fabelmomente und ihre Wertigkeit für den Sonderfall sowie ihre in unserer Gesellschaft zu findende Untermauerung, Begründung und Begrenzung zu skizzieren, muß unvollkommen bleiben. Aus Platzgründen so- wieso. Aber auch, weil Günther Rücker und Heiner Carow – bei allen Besonder- heiten ihrer Geschichte – vor allem beschreiben, darstellen, vorführen, demon- strieren und zu wenig analysieren und also zu wenig begründen. Ich wiederhole: Es ist eminent wichtig, daß sie solch Anliegen gestalten und derart zuspitzen. Aber manche (verminderte oder auch ausgesparte) Motivation könnte – denke ich – den Zugang zum vollen Verständnis merklich erleichtern. (…) Schließlich: Weithin ist das richtiger Film, großes Kino, was da auf der Lein- wand geschieht, schwer beschreibbar und richtig nur erlebbar im vollbesetzten Zuschauerraum. Da finden sich Szenarist und Regisseur, Moralist und Eiferer zu Szenen von großer Schönheit, Bewegung und Rhythmus zusammen und steigern sich gegenseitig, im besten Bunde mit den Schauspielern und der Kamera (Jürgen Brauer).

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Die Beunruhigung

1964, zwei Jahre nach dem »Manifest von Oberhausen« junger westdeutscher Filmemacher, schrieb Lothar Warneke, Regiestudent der Deutschen Hochschule für Filmkunst in Postdam-Babelsberg, seine Diplomarbeit »Der dokumentare Spielfilm«. Die von ihm geforderte Synthese »stellt eine neue Qualität des Films dar und verwirklicht die Prinzipien des Realismus von allen augenblicklichen 1 Kunstformen am besten.« Der theoretische Vorreiter einer der wenigen ausgeprägten stilistischen Wellen im DEFA-Spielfilm vermied wohlweislich den Schlachtruf der Jung-Filmer von 2 drüben »DER ALTE FILM ist tot. Wir glauben an den neuen«. Doch die Unbe- dingtheit, mit der Warneke künstlerische Wahrheit an sein ideelles und stilisti- sches Credo knüpfte, war davon nicht so weit entfernt. Die Filmpraxis aber nahm einstweilen von diesen kühnen Reformgedanken kaum Notiz. Erst als mit Beginn der 70er Jahre die »Jungen« hierzulande, Rainer Simon, Roland Gräf und Lothar Warneke, damit ernst machten, kam es angesichts einer zumeist bedenklich schwachen Publikumsresonanz zwischen 250 und 500 000 Besuchern zur kontrovers geführten Gegenüberstellung von »dokumentar« oder »fiktiv«, »episch« oder »dramatisch«, von »Sujet«- oder »Fabel«-Film Der ent- schiedenste Exponent der fiktionalen Spielart war neben alten DEFA-Film-Hasen ausgerechnet Warnekes Generationsgefährte – Horst Seemann. Doch Lothar Warneke erwies sich in der Praxis nicht als Purist einer einmal definierten künstlerisch-stilistischen Zielbestimmung. »Ich möchte sagen, daß ich beim Filmemachen nicht von einer Kunsttheorie ausgegangen bin«, sagte er spä- 3 ter selbst. Was also bewog ihn, am Beginn der 80er Jahre, noch einmal und so entschieden wie kaum zuvor zu seinem frühen Credo zurückzukehren? 4 Angetan vom kleinen Erzählungsbändchen Lauter Leben hatte die Dramatur- gin Erika Richter die Diplompsychologin und Hobby-Autorin Helga Schubert zur ersten Filmarbeit ermuntert. Für seine Gegenwartsfilme mit Originalstoffen griff Warneke gern auf die Arbeit »junger« Autoren zurück, wenn sie ihm einen neuen, 5 unverstellten frischen Blick auf die Wirklichkeit versprachen. Die Dramaturgin erklärte seine rasche Entscheidung so: »Zuerst die Geschichte, die die Möglich- keit bot, anhand eines Extremfalles, der aber kein Ausnahmefall ist und viele be- treffen könnte, die Sinnhaftigkeit alltäglichen Lebens zu überprüfen. Zugleich

1 In: Filmwissenschaftl. Mitteilungen, Sonderheft 1964, S. 238 f. 2 S.: Pflaum/Prinzler, Film in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1992, S. 9. 3 Film und Fernsehen, H. 1/1974, S. 19. 4 Edition Neue Texte, Aufbau Verlag Berlin 1975. 5 Bis dahin: Hannes Hüttner, Siegfried Pitschmann, Peter Wuss, später Wolfram Witt und Omar Saavedra Santis.

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geht es (...) um die Bilanz einer Generation, der sich Warneke noch selbst zurech- nen kann. Ebenso wichtig, daß die von Helga Schubert gefundene Geschichte von ihrer Struktur her einerseits einen festen Rahmen bot, andererseits einen weiten Spielraum für Improvisation, Beobachtungen, Unvorhergesehenes, ja Zufälliges. (...) Zugleich ist das Motiv der Krankheit, der existentiellen Bedrohung so stark, daß es den Zuschauer zwingen kann, den Alltag anders zu sehen, schärfer (...). 6 Der vertraute Alltag konnte genau beschrieben und dennoch verfremdet werden.« Gerade deshalb stieß weniger das Szenarium, mehr aber die Regiekonzeption im Studio auf einige Skepsis. Sie betraf nicht nur die unsicheren Kinochancen des dokumentaren Kammerspiels eines kleinen Schwarzweißfilms in einer inzwi- schen durchweg bunten Medienlandschaft. Im tradierten volkseigenen Studiobetrieb, organisatorisch fest eingespielt und durchnormiert, war vor allem die künstlerische Technologie suspekt, die der be- sonderen Ästhetik entsprach. Das begann bereits mit der Produktionsvorberei- tung. Warneke lehnte die Verfertigung eines bisher strikt geforderten »optischen Drehbuchs« mit genau fixierter Einstellungsfolge, Kamerabewegungen, Einstel- lungsgrößen und exakt berechneter Länge kategorisch ab. Sein Plan, den Film in einem Prozeß kollektiver Probenarbeit zu entwickeln, ohne verbindliche Regiekonzeption für die szenische und optische Auflösung, mit großen Freiheiten für die schauspielerische Improvisation bis zur Dialoggestal- tung, war nicht nur mit organisatorischen Erschwernissen, sondern auch mit inhaltlich-künstlerischen, also kulturpolitischen Risiken verbunden. Auf den nor- malerweise verbindlichen Drehbuchtext konnten sich die Beteiligten, Urheber wie Leiter, im späteren Streitfall immerhin berufen. Auch für die recht selbst- bewußte Autorin verstand sich die Zustimmung zu solch freiem Umgang mit ihrem abgenommenen Szenarium durchaus nicht von selbst. Als Kompromiß, mehr für die Leitung als für den Drehstab, entstand ein »Roh- drehbuch«, das die 31 Bilder des Szenariums übernahm, obwohl sich diese dra- maturgischen Komplexe regelwidrig zumeist auf mehrere Schauplätze verteilten. Die Bilder waren zuweilen sogar mit einem Wechsel von innen nach außen ver- bunden, was für die Planung, Organisation und Finanzierung der Dreharbeiten enorme Konsequenzen hat. Der Regisseur ließ sich schließlich dazu herbei, diesen Bildern summarisch eine geschätzte Zahl von Einstellungen zuzuordnen und dafür eine Längenpro- gnose vorzunehmen. Doch auch daran hielt er sich im Drehprozeß nicht. Aus 257 geplanten wurden 390 Einstellungen im Schnitt, der Film wurde um 430 Meter, das heißt 16 Minuten länger als versprochen. Der erwartete »kleine Film« über- zog mit 100 Minuten Vorführzeit die vor allem aus ökonomischen Gründen er- wünschte Länge. Es gab auch Zweifel, ob der Gegenstand das rechtfertigt und das Publikum es respektiert.

6 s. Nachwort zum Filmszenarium, Berlin 1982, S. 87 ff..

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Eine technisch so ungenaue Arbeitsvorgabe verlangte vom ganzen Stab, beson- ders aber der Aufnahme- und Produktionsleitung zusätzliche operative Anstren- gungen und hohe Flexibilität. Das war nur mit einer auf Inhalt und Methode abso- lut eingeschworenen kleinen Mannschaft unter der Leitung von Horst Hartwig realisierbar. Lothar Warneke wollte die Intimität der Inszenierung auch durch einen sehr kleinen Drehstab unterstützen und möglichst ohne viel Kunstlicht arbeiten. Dies alles aber war im Studio keineswegs willkommen. Kein einziges der neun Ateliers wurde in Anspruch genommen, denn alle Aufnahmen wurden an Original- schauplätzen gedreht. Das wiederum war mit erhöhten Transportleistungen ver- bunden, und zu dieser Zeit herrschte ein rigides Sparregime mit projektgebundener 7 Benzinrationierung. Besonders solche Abteilungen wie Bühne und Beleuchtung waren an einer hohen Auslastung ihrer reichen technischen und personellen Kapa- zitäten interessiert. Auf deutliches Mißbehagen der Leitung stieß auch die Verpflichtung von Tho- mas Plenert, einem jungen Kameramann aus dem Dokumentarfilmstudio. Immer- hin gab es im eigenen Haus neben dreißig festangestellten Kameramännern mehrere junge diplomierte Anwärter auf eine selbständige Aufgabe. Diese Kollegen, orga- nisiert in einem »Zentrum der Kameramänner«, und die Experten im (Muster-) Kopierwerk des Studios beobachteten fortan mit aufmerksamer Skepsis die Arbeit des Quereinsteigers, auf dem Warneke so sehr bestanden hatte. Wenige Tage nach Drehbeginn läuteten denn auch zum ersten Mal die Alarm- glocken. Kontrolleure des Kopierwerks hatten Einstellungen aus technischen Gründen gesperrt, die Regisseur und Kameramann für künstlerisch gut und tech- nisch brauchbar hielten. Meinungsverschiedenheiten gab es vor allem über exakte Schärfe und sicheren Bildstand. Plenerts Vorliebe für halbtotale und totale Einstellungsgrößen, die die Gestal- ten in ihrem sozialen Umfeld zeigen sollten, statt sie in Großaufnahmen zu isolie- ren, sein Faible für die frei getragene Handkamera mit wechselnder, auch einmal vernachlässigter Tiefenschärfe verstießen gegen tradierte, zuweilen in technische Normen gefaßte Gewohnheiten und Regularien. Die Filmemacher verteidigten die beanstandete Bildqualität vehement als Aus- druck beabsichtigter dokumentarer Authentizität, während sich die Techniker als Sachwalter des sogenannten normalen Zuschauers ins Zeug legten. Ihre nicht un- berechtigte Sorge galt der technischen Güte-Minderung im Kopierprozeß und da- 8 nach zu den Massenkopien . Und sie kannten den zum Teil schlechten Zustand der Vorführgeräte und Leinwände in den etwa 800 stationären oder ambulanten Spiel-

7 Nach einer Erdöl-Export-Reduzierung der SU kam es zu immer drastischeren Energiesparauflagen, die aus politischen Gründen allein der Industrie aufgebürdet wurden, für das Studio z.B. mit einem Jahres-Benzin- Kontingent, dessen Einhaltung der Generaldirektor unter Androhung fianzieller Sanktionen zu verantworten hatte. 8 Dort wurden nach dem geschnittenen Negativ für den Kinoeinsatz und die Archivierung zwischen 20 und 50 »Massen«-Kopien hergestellt.

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stätten des Landes. Manche Probleme schienen auch dem inzwischen fehlenden praktischen Umgang mit dem Schwarzweiß-Material geschuldet. Die Techniker wollten eine Farbversion erzwingen, von der man sich weniger Mühe und bessere Einsatzchancen im In- und Ausland versprach. Doch sie konn- ten sich in diesem Meinungsstreit nicht durchsetzen. Trotz massiver Bedenken vertraute die Studioleitung schließlich der Autorität und Kompetenz des Regis- seurs, der schon für sein Debüt den Heinrich-Greif-Preis und inzwischen für sein noch schmales Gesamtwerk den Kunstpreis der DDR sowie 1977 den National- preis erhalten hatte. Im übrigen lag das Experiment mit einem Budget von nur 800 000 Mark sensationell weit unter den Durchschnittskosten der Jahresproduk- tion von rund 2 Millionen. Das Team meisterte nicht nur die ungewöhnliche und ungeübte Technologie. Der stets frohgemute, durch keine noch so überraschende Situation und Anforde- rung aus der Pykniker-Ruhe zu bringende producer »Kocko« Hartwig verstand es, über die ganze Drehzeit hinweg ein kameradschaftliches, um nicht zu sagen fami- liäres Arbeitsklima zu schaffen. Diese Intimität zog rasch auch die mitarbeitenden Laien ins Vertrauen und ließ sie alle Hemmungen vor der wie zufällig anwesen- den Kamera vergessen. Die gute Laune des Aufnahmeleiters Wolfgang Langer, ei- nes schwarzgelockten, cleveren Naturburschen, trug das Ihre zum sicherlich zwar nicht reibungslosen, doch konfliktfreien Produktionsverlauf bei. Das Vertrauen der Leitung in diese Mannschaft wurde belohnt. Auf dem 2. Na- tionalen Spielfilmfestival der DDR 1982 wurden die Filmleute mit einem wahren Preisregen bedacht: Helga Schubert für das Szenarium, Lothar Warneke für Re- gie, Christine Schorn für die Haupt-, Walfriede Schmitt für die beste Nebenrolle (die der Richterin Katharina), Thomas Plenert für Kamera und Erika Lehmphul für Schnitt. Sie hatte das Wunder vollbracht, ihrem Regisseur aus der Überfülle gedrehten Materials eine dem Sujet und seiner ideengebundenen Handlungszeit von nur einem Tag eine gerade noch vertretbare Gesamtlänge abzutrotzen. Die vielleicht überraschendste Entscheidung aber kam von der Publikumsjury, die den Film zum wirkungsvollsten (!) der letzten zwei Jahre erklärte. Als Preis- insignie gab es dafür übrigens einen »Großen Steiger«, eine kleine erzgebirgische Holzplastik. Die Beunruhigung erhielt eine für uns höchst seltenen Einladungen nach Vene- dig. Die Autorin erfuhr es zuletzt und eroberte sich mit energischer Demarche im Ministerium in letzter Minute doch noch einen Platz in der kleinen DDR-Delega- tion. Ein Jahr später singnierte sie ihr nun gedrucktes Szenarium mit freundlicher Widmung »Für Rosemarie + Dieter Wolf mit herzlichem Dank für Verständnis + Rückenstärkung von Helga Schubert«. Die Aufnahme in der DDR-Presse war überwiegend positiv. Der Meinungsfüh- rer der Parteipresse, Horst Knietzsch, titelte vorsichtig: »Versuch einer tieferen Einsicht in den Sinn des eigenen Lebens«. Er meinte damit wohl nicht nur die Selbstbefragung der Hauptfigur angesichts der Krebs-Diagnose. Doch die drei-

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spaltige differenzierte Besprechung von Inhalt und Gestalt mit durchaus werben- dem Charakter konnte nicht auf »zwei, drei kritische Anmerkungen« im Stil kul- turpolitischer Orientierung verzichten: »Nicht immer ist Textverständlichkeit ge- geben. Ursachen dafür mögen im Technischen liegen, aber auch darin, daß während der Aufnahmen Dialoge improvisiert wurden (...) naturalistische Ele- mente, die den geistigen Anspruch des Zuschauers nicht bedienen (...) Im künst- lerischen Film muß jeder Satz von Bedeutung sein (...) Vertiefung hätte auch das soziale Profil der Heldin erfahren müssen (...) Der Satz von Marx, daß die Gesell- schaft die Summe der Beziehungen und Verhältnisse ausdrückt, worin Individuen 9 zueinander stehen, ist für jeden Szenaristen bedenkenswert.« Der Kritiker der Jungen Welt wurde da schon deutlicher. »Es soll eben alles so echt wie möglich sein. Und darum wird der konkrete Alltag der Hauptfigur minutiös mit allen Belanglosigkeiten beobachtet. (...) Aber wäre es dagegen nicht interessan- ter und zwingender gewesen (...) zu erleben, wie diese Inge Herold ihre große Le- bensvariante versucht, Verantwortung für sich und die Gesellschaft übernimmt? Eine solche aktive Lebenshaltung zu verbreiten, führt zudem sicher weiter, als 10 sich fast ausschließlich auf das persönliche Umfeld zu beschränken.« Der an- maßende, besserwisserische Ton des Kritikers, der lieber einen ganz anderen Film gesehen hätte, kündigte bereits die Attacke seines Dienstherren Hartmut König an, Kultursekretär des Zentralrats der FDJ, der bald darauf auf einer eigenen Kul- 11 turkonferenz der Jugendorganisation in der Attitüde eines Kulturministers auf- trat, um den Künstlern aller Gattungen Zensuren zu erteilen. Trotz dieser kulturpolitischen Fingerzeige gab es beim Filmeinsatz keine zen- tral gelenkten oder territorialfürstlich verordneten Einschränkungen. Die Presse öffnete ihre Leserbriefspalten gern für überwiegend zustimmende Zuschauermei- nungen. Dennoch blieb der Film mit etwas mehr als 400 000 Besuchern und ei- nem mittleren Platz in der Statistik der 80er Jahre hinter unseren optimistischen Erwartungen zurück. Wenig tröstlich, daß auch ein dramatischer Gegenwartsfilm wie Bürgschaft für ein Jahr des erfolgverwöhnten Herrmann Zschoche nur wenig mehr, die meisten anderen DEFA-Filme noch weniger Besucher hatten. Nur das Musical-Lustspiel mit dem populären amerikanischen Folk- und Schlagersänger Dean Reed, Sing, Cowboy, sing und die Hochhuth-Verfilmung Ärztinnen von Horst Seemann konnten in diesem Jahrfünft noch eine nicht organisierte Zuschau- ergemeinde von eineinhalb Millionen bzw. einer Million auf sich vereinen.

9 Neues Deutschland v. 25.2.1982. 10 Raymund Stolze, Junge Welt Febr. 1982. 11 21./22.10.1982 in Leipzig.

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Die Beunruhigung

Produktionsland DDR Premierendaten Uraufführung: 18. Februar 1981 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) Verleih PROGRESS Film-Verleih Auszeichnungen beim Nationalen Filmfestival 1982: »Großer Steiger« der Publikumsjury für den wirkungsvollsten Film; Preis für Szenarium (Helga Schubert); Preis für Kamera (Thomas Plenert); für Regie (Lothar Warneke); Preis für Schnitt (Erika Lehmphul); Schauspielpreis für weibliche Hauptrolle (Christine Schorn); Preis für eine weibliche Nebenrollle (Walfriede Schmitt) Regie / Drehbuch Lothar Warneke Regie-Assistenz: Christiane Plöger Szenarium Helga Schubert Dramaturgie Erika Richter Kamera Thomas Plenert Kamera-Assistenz: Dieter Lück, Norbert Kuhröber DEFA-Fotograf: Norbert Kuhröber Licht Peter Meister, Peter Göhr Bauten Georg Kranz Requisite Hans-Joachim Bauer Bühne Manfred Grimm (Bühnenmeister) Kostüme Christiane Dorst, Ruth Leitzmann, Herbert Hentschel Maske Heinz Bernhardt, Karin Wacker Schnitt Erika Lehmphul Ton Bernd-Dieter Hennig Mischung: Gerhard Ribbeck Musik César Franck Produktionsleitung Horst Hartwig Produktionsassistenz: Peter-Klaus Niemetz Aufnahmeleitung Wolfgang Lange, Egon Schlarmann, Rosalinde Schwarzer Darstellende Inge Herold: Christine Schorn Dieter Schramm: Hermann Beyer Mann in Beratungsstelle: Christoph Engel

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Ehepaar in Beratungsstelle: Sina Fiedler Brigitte: Cox Habbema Fürsorger: Jörg Herrmann Ältere Frau: Jarmila Karlovská Ältere Frau in Beratungsstelle: Ostara Körner Lutz: Mike Lepke Junge Frau: Bärbel Loeper Joachim: Wilfried Pucher Arzt in Geschwulstklinik: Horst Röseler Inges Muter: Traute Sense Psychiater: Dr. Helmut Schlegel Richterin Katharina: Walfriede Schmitt Ältere Dame im Café: Steffi Spira Inges Sekretärin: Ilka Wendel in weiteren Rollen: Lydia Billiet, Susanne Funk, Andreas Pietsch, Thomas Brunke, Thomas Warneke, Ines Golze, Claudia Soyke, Dagmar Ebbeke

Zum Inhalt Die Psychologin Inge Herold ist Mitte Dreißig, geschieden, hat einen 15jährigen Sohn und ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann. Plötzlich erfährt sie, daß sie eine bösartige Geschwulst haben könnte und am nächsten Tag zur Operation muß. Diese Mitteilung ver- anlaßt sie, über ihr bisheriges Leben nachzudenken. Zur Angst vor der Diagnose kommt die Angst, ihr Leben vielleicht vertan zu haben. 24 Stunden unter enormer psychischer An- spannung lassen sie die Dinge deutlicher sehen, auch sich selbst. Sie trennt sich von dem verheirateten Joachim und ihrer Ausrede, unabhängig sein zu wollen. In ihrem Sohn findet sie einen mitfühlenden Partner, der ihr Mut macht. Und sie bringt die Kraft zu einem Neu- beginn auf – trotz ständiger Beunruhigung durch die Krankheit.

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… und morgen war Krieg

Der Film ist Sergej Apollinarowitsch Gerasssimow gewidmet.

Produktionsland UdSSR 1986 Premierendaten Uraufführung: DDR: 4. November 1988, BRD: 25. 5. 1989, DFF 1: 9. 5. 1991 Produzent Gorki Studio für Spielfilme Dritte künstlerische Arbeitsgruppe Auszeichnungen Hauptpreis »Großer Jantar« beim Internationalen Filmfestival 1987 in Koszalin (VR Polen), Spezial- preis der Jury des Internationalen Filmfestivals 1987 in Mannheim, Grand Prix »Goldener Koloß« (?) beim Internationalen Filmfestival 1987 in Valdolido (?)(Spanien), Grand Prix »Kinotreffen in Dunkerque 88« (Frankreich), Goldmedaille »Alexandr Dowshenko erhielten der Regisseur Juri Kara, der Szenarist Boris Wassiljew, die Schauspieler Sergej Nikonenko und Nina Ruslanowa, Preis der Kinoakademie »Nika-87« für die Schauspielerin Nina Ruslanowa für die Filme »Und morgen war Krieg«, »Das Zeichen des Unglücks«, »Kurze Begegnungen« Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Juri Viktorowitsch Kara Szenarium Boris Wassiljew Kamera Wadim Semjonowych Bauten Anatoli Kotschurow Ton Leonid Wejtkow, Igor Strokanow Musik Kompositionen von Antonio Vivaldi und Originalaufzeichnungen aus den 30er Jahren Deutsche Fassung Dialog Heinz Nitzsche Regie Michael Englberger Ton Karlheinz Otto Schnitt Ilka Thal Darstellende Iskra Poljakowa: Irina Tscheritschenko (Syvia Mißbach) Vika Ljuberezkaja: Julia Tarchowa (Juana Schneidenbach)

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Darstellende Der Direktor: Sergej Nikonenko (Klaus Piontek) Landys: Radij Owtschinnikow (Michael Pan) Stameskin: Gennadi Frolow (Gunnar Helm) Ostaptschuk: Wladislaw Demtschenko (Asad Schwarz) Ljuberezki: Wladimir Samanski (Otto Mellies) Sina: Natalja Negoda (Rahel Ohm) Iskras Mutter, Genossin Poljakowa: Nina Ruslanowa (Katharina Lind) Artjom Schefer: Sergej Stoljarow (Holm Gärtner) Valentina Andrejewna Valendra: Vera Alentowa (Irmelin Krause) in weiteren Rollen: T. Gilinowa, W. Maslakow, A. Gawrilow, A. Alexandrow, M. Anisimow, E. Potanowa, K. Staroskolzew, W. Ataman, Lina Gurina, Mischa Nikolajew, Jekaterina Woronina

Zum Inhalt Die Schule in einer russischen Provinzstadt bekommt 1940 einen neuen Direktor. Er wird rasch beliebt unter den Schülern, die er so gern zum munteren Gesang revolutionärer Lie- der vereint. Argwöhnisch beobachtet die Klassenlehrerin der 9b, Valentina Andronowa, die Tatsache, daß er in den Mädchenwaschräumen Spiegel anbringen läßt, eine ideologische Fehlentscheidung. Darum schwärzt sie den Direktor an. Nicht nur Iskra, die Komsomol- sekretärin, weiß, daß im selbstlosen Einsatz für die Gesellschaft, in der begeisterten Hin- gabe an den Fortschritt der Sinn des Lebens liegt. Doch: Wo bleibt der Mensch? Auf einer Geburtstagsparty hören die jungen Leute zum ersten Mal Verse von Jessenin. Vika rezitiert diese Verse. Wenig später wird ihr Vater, ein angesehener Flugzeugkonstrukteur, verhaftet. Dem Mädchen droht der Ausschluß aus dem Komsomol. In ihrer Verzweiflung nimmt sie sich das Leben. An ihrem Grab veranstaltet die 9b eine Gedenkfeier; der Direktor hält eine Rede, obwohl er damit seine Stellung riskiert. Damit gibt er den Schülern ein Beispiel, das vielleicht bestimmend wird für ihr Leben. Wenig später ist Krieg.

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Der Bruch

... war sicherlich die beste Kriminalkomödie aus Babelsberg, und sie wurde mit dem Kinostart am 19. Januar 1989 der letzte große Hit der DEFA-Geschichte. Doch das konnte keiner von uns voraussehen, nicht einmal der weitsichtige Wolf- gang Kohlhaase. Sechs volle Jahre waren seit seiner letzten Zusammenarbeit mit Frank Beyer vergangen. Der frustrierende Rückzug des Films Der Aufenthalt aus dem Wettbe- werbsprogramm der Berlinale nach der Demarche einer neuen Zensurinstanz, der polnischen Botschaft in Berlin, ermunterte den Autor nicht so sehr, gleich wieder über den nächsten Spielfilm nachzudenken. So schrieb er erst einmal das Buch für einen langen Dokumentarfilm über seinen 1982 viel zu früh verstorbenen Freund Konrad Wolf und übernahm auch die Künstlerische Leitung: Die Zeit die bleibt (1984/85). 1986 endlich war bei einem Kaffee in Kleimachnow mit dem Autor über Neues zu reden. Seine schöne Idee für eine Gegenwartskomödie Onkel, hast du Feuer? kreiste um die Malaisen einer kuriosen Medienpraxis im Umgang mit kritikwürdi- gen Alltagserscheinungen und die absurden Argumentations-Rituale ideologischer Abnahmeprozeduren. Doch der Konflikt eines Journalisten zwischen Wahrheits- liebe und medialer Manipulation, der in jeder Hinsicht seine Potenz beschädigt, schien uns von zu vielen Tabus bedroht. Da erinnerte sich Kohlhaase einer lang zurückliegenden Lektüre. Strafsache Pannewitz, Mikulka u. a. – so hieß die Ermittlungsakte, die ihm die inzwischen verstorbene Dramaturgin Anne Pfeuffer vor vielen Jahren zugänglich gemacht hatte. Tipgeber war offenbar ihr Mann, Offizier im Kriminal-Ressort des Innen- ministeriums. Der spektakulärste Banküberfall der Nachkriegszeit im geteilten Berlin erschien als Stoff immer noch attraktiv und war Kohlhaase schon allein vom Schauplatz her sofort sympathisch. Doch sein Credo galt auch hier: »Man kann nur über das schreiben, was man sehr genau kennt, und was einem fehlt, das muß man sich besorgen.« Die Presseabteilung des MdI, die auch über den Zugriff aufs Kripo-Archiv der frühen Jahre zu befinden hatte, erklärte die Akten erstaunlicherweise für verschol- len. Vielleicht hatte aber auch ein anhaltender Meinungsstreit der Ordnungshüter mit dem Studio den Nachforschungseifer der Genossen gebremst. Da ging es um strafrechtlich relevante Konflikte in Gegenwartsfilmen Der radlose Mann von Rudi Strahl und Roland Oehme und aktuell um Verbotene Liebe von Helmut Dzuiba. Behördlichen Mißmut gab es auch über den »DEFA«-Autor Karl-Heinz Jakobs und sein Projekt Laufend in der Unterwelt. Glücklicherweise hatte ich einen heißen Draht zur Pressestelle beim General- staatsanwalt der DDR. Dort hatte man offenbar mehr Ordnung im Bestand der

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Gerichtsakten. Und so konnten wenig später Autor und Regisseur die kompletten Ermittlungs- und Prozeßprotokolle studieren. Sie verständigten sich sehr schnell auf einen freien literarischen Umgang mit dem Einbruch in die noch Gesamtberli- ner Eisenbahnverkehrskasse, Charlottenstraße 44, in der Nacht vor einer Lohn- auszahlung. Kohlhaase verlegte die Handlungszeit von 1951 zurück ins Jahr 1946, in die merkwürdige Umbruchsituation, als die Vier-Sektoren-Stadt noch nicht vom Wi- derstreit der Weltsysteme zerrissen war. Er sah im trocknen Krimi-Material sogleich die komödiantischen Chancen: den Widerspruch zwischen der provinzi- ellen Dimension der Gang und ihrer Mittel im Verhältnis zum materiellen Ziel ihrer Unternehmung, aber auch in der Rollenverteilung zwischen einschlägig er- fahrenen Gangstern und einem sich neu formierenden Kriminalistenteam, in dem ein pfiffiger Berliner trotz oder gerade wegen seiner geringen professionellen Er- fahrung politisch den Ton angibt. Und Kohlhaase erfand eine zauberhafte Dreiecksgeschichte von Siebzehnjähri- gen, die auf unterschiedlicher Seite und auf verzwickte Weise in den Krimi-Vor- gang verwickelt werden. Zu den schönsten Erfindungen zählt nicht zuletzt der schwule Transvestit in der Tanzbar mit einem herrlich ironisch-anzüglichen Chan- sontext. Es wurde eine Paraderolle für den Sänger Jürgen Walter und eine herr- liche Liedtextvorlage für den Komponisten Günther Fischer. Autor und Regisseur wollten den Stoff nicht in einer semidokumentaren Stili- stik gestalten mit peinlich genauer Rekonstruktion von Spielzeit und Milieu. Aber Buch und Inszenierung im Genre der Kriminalkomödie hielten trotzdem den Rea- litätsbezug immer präsent. Die zeitgeschichtliche Wochenschau-Einblendung, teils original, teils zeittypisch nachinszeniert, exponiert gleich zu Beginn die iro- nisch-komische Sicht und Wertung. In den Figuren und ihrer originellen Biographie ist die große Chance der Zeit und ihrer Protagonisten angelegt, sich für diesen oder jenen Weg zu entscheiden. Das gilt für die persönlichen Bindungen ebenso wie für die beruflichen Lebens- wege und die politischen Orientierungen. Die vom Autor kräftig gezeichneten Genre-Typen forderten eine Star-Beset- zung geradezu heraus. Beyer hatte am Theater in Dresden Rolf Hoppe schätzen gelernt und ihm schon damals eine Hauptrolle in einem künftigen Film verspro- chen. Nun hatte er für ihn das richtige Angebot eines alten, gewaltabstinenten, einschlägig erfahrenen Tresorknackers, der inzwischen allerdings ein wenig zu dick geworden ist. Für die Besetzung der zwei anderen Ganoven kam Beyer bei »grenzüberschreitenden Überlegungen« auf Otto Sander und Götz George. Das stieß nach dem endlich abgeschlossenen Kulturabkommen zwischen der DDR und der BRD nicht mehr auf so unüberwindliche politische Vorbehalte wie einst bei Jakob der Lügner. Aber da gab es die hohe Hürde der heimischen Valutanot. Doch Mitte der 80er Jahre hatte sich im Filmbereich manches bewegt, was zu- vor politisch noch undenkbar war. Filmchef Pehnert hatte sich mit dem Repräsen-

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tanten des ideologischen Gegners, dem ZDF-Intendanten Stolte, getroffen. Gene- raldirektor Mäde hatte die Verbindung zu großen westdeutschen und Westberliner Produzenten aufgenommen, die im Auftrag und mit dem Geld von ZDF und WDR zur Zusammenarbeit zum beiderseitigen Nutzen bereit waren, ohne daß zunächst von einer öffentlich schwer vermittelbaren Koproduktion mit dem »Klassenfeind« die Rede sein mußte. Die DEFA stellte Schauspieler zur Verfü- gung und lieferte preiswerte künstlerische und technische Dienstleistungen mit Atelier- und Außenaufnahmen – und kassierte dafür die begehrten Devisen für den klammen Staatshaushalt. Für unseren Film war der WDR an den Senderech- ten interessiert und sicherte so über die Westberliner Allianz-FILM das Engage- ment der beiden Darsteller. Erst als die Mitwirkung von George feststand, fand sich ausnahmsweise auch ein Kino-Verleiher (der Jugendfilm-Verleih von Jürgen Wohlrabe). Frank Beyer beschreibt in seinen Erinnerungen sehr aufschlußreich, wie sich durch die Besetzung auch dramaturgische Fragen und psychologische Figuren- beziehungen noch einmal ganz neu stellten. Die im Buch 17jährige Tina wurde mit Ulrike Krumbiegel vom Deutschen Theater zu einer Mittzwanzigerin, ihre Verehrer Julian und Bubi sind eigentlich zu jung für sie, der Ex-Seemann und Weiberheld Graf aber zu alt. Gerade das erschien dem Regisseur nun reizvoll für die zeittypische »Situation zahlreicher junger Frauen 1946 in Deutschland, deren gleichaltrige oder wenig ältere Partner im Krieg gefallen oder noch in Gefangen- schaft waren.« Allein Kohlhaases schöne Dialogpointe nach der ersten Intimität mit Graf macht sie zu einem späten Mädchen. Für die beiden Maurerlehrlinge hatte die Assistenzregisseurin Doris Borkmann zwei talentierte Schauspielschüler in Leipzig entdeckt, Volker Ranisch und Tho- mas Rudnick, die die Probeaufnahmen auf Anhieb bestanden. Zum ersten Mal spielte nun auch Hermann Beyer in einem Film seines Bruders, nämlich den alt- gedienten Kripobeamten aus der Weimarer Zeit, den die Nazis kaltgestellt hatten. Nach Klärung der schwierigen Besetzungsfragen sind mir aus der Zeit der Vor- bereitung und Dreharbeiten keine Probleme erinnerlich. Die Produktion im DEFA- Kollektiv und im erstmals gesamtdeutschen Darsteller-Team lief konfliktfrei. Und der Regisseur wußte die Großaufnahme-Eitelkeiten seiner wichtigsten Protagoni- sten im Sinne der Komödie trefflich zu nutzen. Offenbar auf Georges Wunsch kam, für die DEFA-Praxis ganz unüblich, gegen Ende der Dreharbeiten eine PR-Gang »von drüben« mit Film- und Videokamera nach Babelsberg. Nach einem Besuch im Atelier stand im Versammlungsraum des Direktionsgebäudes neben den Akteuren auch ein Vertreter des volkseigenen Pro- duzenten für Anfragen bereit. Die wurden natürlich vor allem zur Westbesetzung erwartet und prompt auch gestellt. Ich begründete die Wahl der West-Stars – »blauäugig« – allein mit dramaturgisch-typologischen Erwägungen und dem künstlerischen Rang der beiden Gäste im komödiantischen Zusammenspiel mit Rolf Hoppe und Hermann Beyer in noch großberlinischer Vorzeit.

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George wollte mir, einem Studiofunktionär, im Direktionsgebäude nicht direkt widersprechen und beorderte das PR-Team aus dem Westen zu einer Solo-Auf- nahme ins Freie, um die Journalisten aufzuklären. George: »Die haben natürlich allein auf meine Popularität geschielt, um den Film auch im Westen verkaufen zu können«, so seine offenbar für nötig gehaltene Korrektur. Auf der Berlinale 1989 lief Der Bruch in einer ausverkauften und bejubelten Sonderveranstaltung und kam danach sogleich dank dem renommierten Verleih mit 30 Kopien ins große Kinoprogramm auch des Westens. Doch laut Frank Beyer wurde er außer in West-Berlin dort zum Flop. Das war wohl vor allem einer falschen Werbestrategie um den Schimanski-Serien-Interpreten George geschul- det, den seine West-Fans nicht in einer komischen Partnerrolle und vor allem nicht als Verlierer sehen wollten – wie nun im Ost-Film. Für mich wurde Der Bruch die dritte und letzte Zusammenarbeit mit Frank Beyer. Als Mitglied des Filmförderungsausschusses des Bundesministers des Innern nutzte ich 1991 mein Vorschlagsrecht für Beyers Auszeichnung mit dem Deutschen Filmpreis Filmband in Gold für sein Gesamtwerk. Ob meine Initiative den Ausschlag für die tatsächlich dann erste und letzte Würdigung des Lebenswerks eines DDR-Filmemachers aus der Hand eines Bundes-Innenministers gegeben hat, steht dahin. Meine damalige Begründung aber hat auch heute noch Bestand: Frank Beyer hat mit zwölf Kino-Spielfilmen zum professionellen und künstle- rischen Ansehen des deutschen Films im In- und Ausland einen moralisch wie ästhetisch unumstrittenen individuellen Beitrag geleistet. Seine Filme mit antifaschistischer Thematik Fünf Patronenhülsen, Königskinder, Nackt unter Wöl- fen, Jakob der Lügner und Der Aufenthalt (sowie der mehrteilige Fernsehfilm Rottenknechte) haben zu verschiedenen Zeiten die künstlerische Reflektion wi- derspruchsvoller deutscher Vergangenheit und Zeitgeschichte bereichert. Als Regisseur der zweiten Generation hat er mit seinen Arbeiten das Problem- und Geschichtsbewußtsein einer neuen, großen, verjüngten Zuschauergemeinde geschärft und in der Öffentlichkeit den Dialog der Generationen angeregt. Beyers Wirken hat in künstlerischer Hinsicht dem DEFA-Schaffen vielfach neue Impulse gegeben, filmisches Erzählen durch neue stilistische und Genre- Vorstöße vor der latenten Gefahr von Uniformität bewahrt. Dies wurde auch inter- national mit mehrfachen Festivalauszeichnungen und einer Oscar-Nominierung für die Tragikomödie Jakob der Lügner gewürdigt. Frank Beyer hat seine künstlerische Arbeit nie einer Parteidoktrin unterworfen und sich trotz schmerzhafter Auseinandersetzungen und Restriktionen kulturpoli- tisch nicht disziplinieren lassen. Das Verbot seines Films Spur der Steine und der mehrjährige Ausschluß von jeder Film- und Fernseharbeit haben tief in seine künstlerische Biographie eingegriffen. Durch den Wiedereintritt in die Medien- arbeit hat er mit großer Konsequenz und Kreativität sein ideelles und ästhetisches Credo weiterverfolgt und neue Widersprüche und Kämpfe dabei nicht gescheut – wie etwa beim Fernsehfilm Geschlossene Gesellschaft.

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Früher als andere Kollegen konnte Frank Beyer die Freiräume der bundesdeut- schen Medienarbeit nutzen, als dies in seiner künstlerischen Heimat zwar gedul- det, doch keineswegs erwünscht war. Seine Fernsehfilme Der König und sein Narr und Die zweite Haut wurden Beginn der 80er Jahre zu wichtigen künstleri- schen Beiträgen einer frühen gesamtdeutschen Kulturinitiative. Frank Beyers Auszeichnung gerade zum jetzigen Zeitpunkt wäre nicht nur eine gerechte Würdigung aller dieser Verdienste. Sie würde sicher auch als Signal der Hoffnung, als Ermutigung für eine wirkliche kulturelle Einheit und gemeinsame Zukunft der Filmemacher und der Filmkultur im Lande verstanden. Der späte große Kinoerfolg von Spur der Steine in Ost und West nach 24 Jah- ren hat zu diesem Prozeß eines tieferen Verständnisses füreinander bereits man- ches beigesteuert und wäre ein Grund mehr für die breite gesellschaftliche Akzep- tanz und Anerkennung der vorgeschlagenen Würdigung.

Der Bruch

Produktionsland DDR Premierendaten Uraufführung: 19. Februar 1989 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg/DDR) Zusammenarbeit (WDR) Köln Allianz Film Produktion GmbH Berlin Auszeichnungen Staatliches Prädikat »Wertvoll« (1989), Kunstpreis des FDGB für das Drehbuch (Wolfgang Kohlhaase) Prädikat »Besonders wertvoll« der Filmbewertungs- stelle , »Ernst-Lubitsch Preis« 1990 des Clubs der Filmjournalisten Berlin (West): für Frank Beyer und Wolfgang Kohlhaase Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Frank Beyer Regie-Assistenz: Doris Borkmann Drehbuch Wolfgang Kohlhaase Script Sylvia Bolzendahl Dramaturgie Dieter Wolf Kamera Peter Ziesche Kamera-Assistenz: Frank Bredow, Waltraud Pathenheimer

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Standfotos: Waltraud Pathenheimer Bauten Dieter Adam Bauausführung: Helfried Winzer, Dieter Döhl, Frank Abraham, Angela Rienäcker Requisite Klaus Selignow Bühne Dietrich Tillack Kostüme Christiane Dorst Maske Lothar Stäglich, Rosemarie Stäglich, Annette Klockau Schnitt Rita Hiller Schnittassistenz: Ingeborg Sohr Ton Hans-HennigThölert Ton-Assistenz: Roland Winke Mischung: Konrad Walle Musik Günther Fischer, Gesang: Jürgen Walter Liedtexte: Wolfgang Kohlhaase (Tango-Text) Produktionsleitung Gerrit List, Dieter Albrecht Aufnahmeleitung Dieter Anders, Dieter Albrecht Produktionsassistenz Peter-Klaus Niemetz Beratung: Kurt Großkopf, Oberstleutnant d. K. a. D. Darstellende Graf: Götz George, Bruno Markward: Rolf Hoppe Lubowitz: Otto Sander, Tina: Ulrike Krumbiegel Biegel: Jens-Uwe Bogadtke, Julian: Volker Ranisch Bubi: Thomas Rudnick, Lotz: Gerhard Hähndel Kollmorgen: Hermann Beyer, Pinske: Reiner Heise Müller: Jürgen Walter, Anita: Angelika Waller Frau Markward: Franziska Troegner Tinas Wirtin: Hildegard Alex Escheritz: Hans-Dieter Kanup Dombrowski: Klaus Manchen Notar: Peter Mohrdieck, Pförtner: Günther Rüger Großer Polizist: Axel Werner, Dame: Ute Loeck Tierpfleger: Hans Bergermann Rotarmist: Magne Harvard Brekke in weiteren Rollen: Peter Loeck, Peter Pauli, Hans-Jochen Röhrig, Joachim Schönfeld, Elke Schuhrk, Hannes Stelzer, Günther Drescher, Christel Peters, Mirko Haninger, Peter Berger, Werner Möhring, Stephan Baumecker, Matthias Wien, Gerit Kling, Antje Bemm, Karl Maschwitz, Wolfgang Lippoldt, Wolf Enders, Dietrich Stüve, Brigitte Gerhardt, Barbara Henze, Ursula Fischer-Maschwitz, Gerlinde Specht,

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Darstellende Ramona Gierth, Brunhilde Lautenbach-Seifert, Klaus Sehmisch, Andreas Herrmann, Karl-Heinz Kruse, Peter Obermann, Mona Stein, Andrea Fischer, Frank Matthus und Gunda Ebert

Zum Inhalt Berlin 1946. Drei Männer – ein Profi-Ganove, ein zwielichtiger Kellner und ein Tresor- Spezialist – planen, die Lohngelder aus dem Reichsbahntresor zu rauben. Dafür brauchen sie einen Helfer, der die Decke aufstemmt. Der Maurerlehrling Bubi, der Geld braucht, um seiner Freundin zu imponieren, ist dazu bereit. Die Aktion verläuft erfolgreich, aber sofort ist die Polizei auf dem Plan: Neu-Kommissar Lotz weiß wenig, er ist Kommunist und saß im Nazi-Zuchthaus. Sein 1933 abgehalfterter SPD-Kollege hat wenigstens Ahnung. Als die Einbrecher dingfest gemacht sind, gibt es ein unerwartetes Wiedersehen zwischen Tresor- Profi Bruno und Kommissar Lotz, die beide im gleichen Nazi-Knast saßen.

Zeit, so hell wie dunkel

Klaus Wischnewski, Film und Fernsehen, Berlin/DDR, Nr. 4, 1989

Autor und Regisseur, obwohl beileibe keine »alten Männer«, gehören zu den Se- nioren der Babelsberger Filmemacher. Es gibt nur noch wenige, die Mitte der fün- fziger Jahre mit der Filmarbeit begonnen haben. So erscheint es nur natürlich, daß Wolfgang Kohlhaase und Frank Beyer nach ihrer so erfolgreichen Partnerschaft bei der Verfilmung von Hermann Kants »Der Aufenthalt« wieder nach einem ge- meinsamen Stoff suchten und ihn in diesem, von Kohlhaase bewahrten, Berliner Nachkriegs-Kriminalfall fanden. Allerdings: Seit »Aufenthalt« sind Jahre vergan- gen. Die Gefahr der Zeitverluste ist unübersehbar. Die Impulse, aufzuarbeiten und abzuliefern, erscheinen zu schwach, gemessen an den Zeitbedürfnissen und geisti- gen Prozessen hier und anderswo. (…) Beyer und Kohlhaase verweisen im Gespräch (vgl. Film und Fernsehen, Heft 1/89) darauf, daß der Fall als aktionsbetonter Kriminalfilm anders hätte erzählt werden müssen, daß es nicht primär auf Berlin als Ort und nicht auf das Krimi- Genre ankam, auch nicht etwa auf eine weitere Information zur jüngeren Zeit- geschichte. Wohl aber auf Begegnung von Charakteren, menschliche Motivatio- nen und Befindlichkeiten, auf Zeitklima und – wichtiges Stichwort – »Beschrei- bung eines Lebensgefühls«. Mir scheint, eine dem DEFA-Film oft vorgeworfene Monotonie und Didaktik der Strukturen hat mit einem Mangel gerade dieses »Lebensgefühls« zu tun, das den Autoren hier so wichtig war. Wirkung – wichtiger Orientierungs- und Bezugsfaktor: spielerischer Umgang mit Kinomustern und -konstellationen. So etwas wird des öfteren betont und mit

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jener lauten Lustigkeit betrieben, die im Atelier mehr lachen macht als im Parkett. Das ist hier anders: Der Zuschauer wird angeregt und aufgefordert, zu entdecken und doppelten Spaß zu haben, den an der eigenen Entdeckung und Assoziation und den an der Sache selbst, dem zitierten Klischee oder Typ oder Situationsmu- ster. Günther Fischers Musik ist gerade unter diesem Aspekt brillant zu nennen; da wird zitiert, parodiert, Zeitklima über den Hörsinn beschworen, ist, ohne je aufdringlich oder billig zu werden: Substanz, Spaß und Genuß … Dabei die Be- stätigung und auch Neuentdeckung eines längst durchgesetzten Sängers und Inter- preten: Jürgen Walter, ohne Sentimentalität, als Dame-fatale mit rauchiger Alt- stimme auf der Bühne, als anrührend-komischer, anhänglich-hilfsbereiter Partner im Hinterzimmer mit Vorkriegs-Opel … Auch hier genau gesetzter Witz, Selbst- ironie und Takt. Die Bildwelt des Films ist nüchtern-real, aber nicht um dokumentarische Re- konstruktion bemüht. Das ist dem Szenenbild (Dieter Adam) wie der Kostüm- gestaltung (Christiane Dorst) ebenso zu danken wie Peter Ziesches Kameraarbeit: Ich werde als Zeitgenosse immer an Selbstgesehenes lebhaft erinnert, und den- noch bin ich mir ständig der Kunstebene von Bild und Szene bewußt; was nie bemühte Überhöhung oder Distanz bedeutet, sondern Teil des Genusses – des im wahren Wortsinn Unterhaltungswertes – ist. Dies ist natürlich ein Schauspieler- Film. Am wertvollsten ist seine Ausgewogenheit. Die jungen Debütanten Volker Ranisch und Thomas Rudnick (als die auf verschiedene Weise und konträren Sei- ten in den Fall verwickelten Jungen) und die vergleichsweise noch wenig bekann- ten Schauspieler Jens-Uwe Bogadtke und Gerhard Hähndel (als neugebackene Kriminalisten) bestehen voll neben und mit den Stars der Besetzung: Götz George, Rolf Hoppe und Otto Sander als Gaunertrio (…)

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Affaire Blum

Wir eröffnen das Kino ihrer Wünsche mit dem 14. Spielfilm der erst zwei Jahre zuvor gegründeten DEFA. Affaire Blum hatte am 3. Dezember 1948 im Kinotheater Babylon Premiere. Nur zwei Monate später, am 1. Februar 1949, untersagte die im Rathaus Schöne- berg tagende Stadtverordnetenversammlung West jede Werbung für DEFA-Filme im öffentlichen Raum der Westsektoren und in der ihr unterstellten U-Bahn. Das Verbot galt nicht nur der kommunistischen Propaganda aus Babelsberg, sondern auch für die Ostberliner Theater und sowjetische Kulturveranstaltungen. Nach Wolfgang Staudtes Die Mörder sind unter uns und Ehe im Schatten von Kurt Maetzig wurde Affaire Blum von Erich Engel die bedeutendste künstlerische Leistung und der größte Publikumserfolg der ersten Jahre. Lassen Sie uns ein paar filmobiografische Voraussetzungen für diese erstaunliche Leistung näher be- trachten. Erfahrene Filmautoren und Regisseure standen nach Kriegsende im Osten nicht auf der Matte. Hier waren bekanntermaßen nur jene willkommen, die sich nicht als geistige Urheber von Nazi- und Kriegsfilmen diskreditiert hatten. Kameramännern und Schauspielern mochte man die Mitwirkung an der Goeb- bels-Propaganda eher nachsehen. Viele von ihnen hatten das Kriegsende in Berlin nicht abgewartet und waren westwärts entschwunden. Mit Ausnahme des inhaf- tierten Staatsschauspielers Heinrich George suchten die sowjetische Administra- tion und ihre antifaschistischen deutschen Gewährsleute weitherzig, namhafte künstlerische Kräfte für den demokratischen kulturellen Neuanfang zu gewinnen. Paul Wegener etwa, der gerade noch wie Heinrich George im Durchhaltefilm Kol- berg mitgewirkt hatte, wurde Präsident der Kammer der Kunstschaffenden und bereits am 4. Juli 1945 Gründungsmitglied des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Auf dem 1. Deutschen Filmautoren-Kongreß im Juni 1947 forderte Kurt Maet- zig die schreibenden Kollegen auf, nicht auf Richtlinien von oben zu warten. »Dem Künstler, der innerlich frei ist, der die Vergangenheit überwunden hat, sind heute keine Schranken in seinem künstlerischen Schaffen gesetzt.« In der Gründungsphase verzichtete die Dramaturgie auf den bald schon gefor- derten thematischen Plan und eine von ihm inspirierte Auftragserteilung. Buch- entwicklung und Produktionsentscheidung folgten dem Ideen- und Projektange- bot von Szenaristen und Regisseuren. Daß sich ein Regisseur wie Staudte mit einem fertigen Drehbuch für Die Mörder sind unter uns um Lizenz und Budget bemühte, zunächst übrigens erfolglos bei den Westalliierten, war und blieb aller- dings die Ausnahme.

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Produktionschef Dr. Albert Wilkening bestätigt der ersten Zeit eine verhältnis- mäßig unbürokratische Leitungspraxis: »Wir dachten weniger an ein ausgewoge- nes Programm als an die Möglichkeit, einen interessanten Film zu machen.« Der kurzzeitige DEFA-Direktor Walter Janka erinnert sich so: »Wenn z. B. Stemmle ein Drehbuch geschrieben hatte, kam er zu mir und sagte: ›Na, Herr Janka, wollen wir uns mal einen schönen Abend machen, an dem ich die ersten fünfzig Seiten vorlese?‹ Ich fand das toll und lud dazu Erich Engel, Staudte und noch zwei, drei andere ein. ...Wir diskutierten bei uns bis in die tiefe Nacht hinein. Sie kamen alle gern zu uns, weil ich natürlich auch dafür sorgte, daß etwas auf den Tisch kam.« Dies also mag die in jeder Hinsicht erquickliche Geburtsstunde des ersten DEFA-Films von Robert A. Stemmle gewesen sein. Der 1903 in ge- borene Autor griff auf einen recht banalen Kriminalfall zurück. Der mündete je- doch 1926/27 in seiner Heimatstadt in einen deutschlandweit aufsehenerregenden Prozeß und Justizskandal. Damals arbeitete Stemmle noch als Lehrer an der Karl-Marx-Schule in Magde- burg-Buckau, begann aber schon zu schreiben. Einen fortan fleißigeren Menschen kann man sich kaum vorstellen. Er erprobt das Handwerk mit Puppenspielen, um als Mittzwanziger noch ein Studium aufzunehmen – Germanistik, Theater- und Literaturwissenschaft. Zeitgleich entstehen mehrere Theaterstücke, Sketche für das von ihm mit gegründete Kabarett Die Katakombe. Am Beginn der 30er Jahre arbeitet er beim Rundfunk, am Theater und in der Filmbranche als Chefdramaturg der Tobis. Er schreibt für in- und ausländische Zeitungen, publiziert Anekdoten- und Balladensammlungen, veröffentlicht einen Roman. Stemmles erstaunliche Filmlaufbahn als Autor und Regisseur begann 1936 bei der Ufa als Mitarbeiter beim Film Der Rebell mit Luis Trenker. Das Werkverzeich- nis umfaßt bis zum Kriegsende vierunddreißig Titel, sehr viele in Personalunion als Autor und Spielleiter, wie es in großdeutscher Terminologie zu heißen hatte. Es hat den Anschein, daß ihn allein diese unglaubliche Kontinuität eigener An- gebote im Komödien- und Abenteuergenre vor zwielichtigen politischen Aufträ- gen von Goebbels und seinem Reichsfilmdramaturgen schützte. Seine größten Erfolge feierte er mit Charleys Tante, Der Mann der Sherlock Holmes war und Quax der Bruchpilot. Als Stemmle seine Nachkriegskarriere in der DEFA startet, kehrt er nicht nur stofflich in seine frühen Magdeburger Jahre zurück. Hier sind seine sozial- und gesellschaftskritischen Intentionen von damals gefragt. Nach Affaire Blum wirkt er noch an zwei weiteren DEFA-Filmen mit, dem heiteren Gegenwartsstück Die Kuckucks und an Erich Engels attraktiver Hauptmann-Verfilmung Der Biberpelz. Während Erich Engel 1958 seinen letzten DEFA-Film über die verdeckte ameri- kanische Unterstützung des französischen Kolonialkriegs in Vietnam inszeniert, Geschwader Fledermaus, hat sich Stemmle längst wieder ganz dem vordergrün- dig kommerziell orientierten Kinogeschäft des Westens verschrieben.

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1962 wendet er sich voll dem neuen Massenmedium, dem Fernsehen, zu. Als erstes schreibt und inszeniert er ein TV-Remake seines großen Kino-Erfolgs: Af- färe Blum. Danach adaptiert er für seinen ehemaligen DEFA-Kollegen Regisseur Falk Harnack den antifaschistischen Fallada-Roman Jeder stirbt für sich allein. Bis zu seinem Tod 1974 arbeitet er bevorzugt im Krimi-Genre und Gerichtsmi- lieu und bringt es auf weitere 30 Titel. Folgt man Jankas Erzählung, so hat er wohl an jenem Abend in seinem Babels- berger Heim mit Gartenausgang nach Westberlin Stemmles Partnerschaft mit Erich Engel gestiftet. Obwohl der Autor bis dahin für die bekanntesten deutschen Filmregisseure geschrieben hatte, fanden die beiden erst jetzt und in der DEFA zu gemeinsamer Arbeit. Auch wenn Erich Engel da bereits auf ein stattliches Film-Werk zurück blicken konnte, war sein künstlerisches Renommee stärker von seiner innovativen und er- folgreichen Theaterpraxis geprägt. Der Bürgersohn hatte die Schauspielschule von Leopold Jessner in Hamburg besucht und 1917 dort am Schauspielhaus als Drama- turg begonnen, danach an den Kammerspielen auch als Regisseur gearbeitet. Die Übersiedlung nach München 1922 führte ihn mit Bertolt Brecht zusam- men. Seine Inszenierung Im Dickicht wurde mit Fritz Kortner in der Hauptrolle auch in Berlin ein großes Theaterereignis. 1928 begann mit der Uraufführung der Dreigroschenoper im Theater am Schiffbauerdamm unter Engels’ Regie, Brechts Siegeszug über die Bühnen der Welt. Brecht nannte diesen Perfektionisten und Fanatiker der Präzision einen Regisseur des wissenschaftlichen Zeitalters. Mit seinen stilprägenden Berliner Shakespeare-Inszenierungen am Deutschen Theater schrieb Engel Theatergeschichte. Nach einem wenig bekannten frühen Filmversuch gemeinsam mit Brecht und Karl Valentin Die Mysterien eines Frisiersalons 1923 fand Engel am Beginn der 30er Jahre zum Kino, erst als die Bilder sprechen lernten, die Helden auch dank der Sprache vielseitiger charakterisiert werden konnten. Engel näherte sich dem neuen Medium zunächst mit der Dialogregie für eine Dostojewski-Verfilmung Der Mörder Dimitri Karamasow. Kameramann war übrigens der im Stummfilm erfahrene Friedl Behn-Grund. Mit ihm wird Engel erst wieder in der DEFA drehen. Neben der Theaterarbeit inszenierte Engel bis 1944/45 23 Kinofilme, überwie- gend Komödien, elf davon mit Jenny Jugo in der Hauptrolle. Nach Kriegsende war er Intendant der Münchener Kammerspiele. 1948 aber kehrte er für immer nach Berlin zurück, um die Arbeit mit Brecht zunächst am Deutschen Theater wieder aufzunehmen. Dem 1949 gegründeten Berliner Ensemble blieb er über Brechts Tod hinaus treu. Engel mißtraute der sehr frühen DEFA-Idee einer Verfilmung von Mutter Cou- rage. Er kannte Brechts bühnennahes Filmverständnis und fürchtete die Urheber- Macht des Autors, die wenig später zum Produktionsabbruch des Courage-Films von Wolfgang Staudte führte. Erich Engel aber war in beiden Medien zu Hause und drehte parallel zur Probenarbeit mit Brecht an Mutter Courage in Babelsberg

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Affaire Blum. Mit großartigen Bühnendarstellern schuf er eine unverwechselbare, nicht-theatralische Film-Realität. Regie- und Schauspiel-Stil, auch die Kamera- arbeit waren freilich noch stark von der Ufa-Tradition beeinflußt. Engel gab Hans-Christian Blech in der negativen Hauptrolle die Chance für ein bestechend eindrucksvolles Leinwand-Debüt, Beginn einer unglaublich facetten- reichen Film- und Fernsehkarriere des Darstellers. Sie führte ihn 1991 noch ein- mal nach Babelsberg. Da sah man ihn in einer Hauptrolle einer WDR Fernsehpro- duktion nach Wolfgang Kohlhaases Erzählung und Drehbuch Rückkehr einer Gräfin. Wir kehren noch einmal zu Walter Jankas Erinnerungen zurück. Erst die Staat- liche Abnahme konfrontierte die Filmleute mit Einwänden der Bedenkenträger. Das waren Parteifunktionäre der DEFA-Kommission, des politischen Aufsichts- rats der inzwischen zur Deutsch-sowjetischen Aktiengesellschaft verwandelten Filmfirma: »Die Partei war gegen den Schluß. Engel mahnte: ›Leute, seht euch vor, diese Sauereien sind noch nicht Geschichte, die können jeden Tag wieder passieren.‹ Das wollte aber die SED nicht. Vielmehr mußte deutlich gesagt wer- den: Diese Verbrecher sind weg, und ihr habt das Glück, unter unserem Dach Schutz zu finden. Das wollte Engel natürlich nicht mitmachen. Da flüsterte ich ihm ins Ohr: ›Sag jetzt einfach, daß du die letzte Sequenz wegläßt.‹ Und das machte er dann auch.«

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Affaire Blum

Produktionsland Ostdeutschland/Sowjetische Besatzungszone Premierendaten Uraufführung: 3. Dezember 1948, Berlin, Kino Babylon Produzent DEFA Deutsche Film-Aktiengesellschaft (Berlin/Ost) (Herstellungsgruppe Herbert Uhlich) Verleih PROGRESS Film-Verleih Auszeichnung Nationalpreis für den Regisseur des Films Erich Engel, Ausgewählt vom Museum of Modern Art New York 1975 Regie Erich Engel Regie-Assistenz: Zlata Mehlers, Ludwig Lober Drehbuch Robert A. Stemmle nach seinem gleichnamigen Roman Dramaturgie Dieter Wolf Kamera Friedl Behn-Grund, Karl Plintzner Standfotos: Rudolf Brix Bauten Emil Hasler Bauausführung: Emil Hasler, Walter Kutz Kostüme Brigitte Götting (Beratung) Maske Kurt Aust, Charlotte Kersten Schnitt Lilian Seng Ton Erich Schmidt Musik Herbert Trantow Produktionsleitung Herbert Uhlich Produktionsassistenz: Peter-Klaus Niemetz Aufnahmeleitung Fritz Brix, William Neugebauer Darstellende Dr. Jacob Blum: Kurt Ehrhardt Sabine Blum: Karin Evans Karlheinz Gabler: Hans-Christian Blech Christina Naumann: Gisela Trowe Wilschinsky: Helmut Rudolph Kriminalkommissar Otto Bonte: Landgerichtsdirektor Hecht: Herbert Hübner Konrad: Paul Bildt, Schwerdtfeger: Ernst Waldow Lorenz: Hugo Kalthoff, Wilhelm Platzer: Arno Paulsen Anna Platzer: Maly Delschaft

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Darstellende Lucie Schmerschneider: Blandine Ebinger Rechtsanwalt Dr. Wormser: Friedrich Maurer Karl Bremer: Gerhardt Bienert Frau Bremer: Renée Stobrawa Egon Konrad: Werner Peters Hans Fischer: Klaus Becker, Therese: Emmy Burg Alma: Hildegard Adophi, Zahnarzt: Richard Drosten Waffenhändler: Albert Venohr Merkel: Jean Brahn, Hinkeldey: Arthur Schröder Tischbein: Reinhard Kolldehoff Redakteur: Herbert Malsbender Reporter: Otto Matthies, Patientin: Lilli Schoenborn Dienstmädchen bei Blum: Gertrud Boll Dienstmädchen bei Konrad: Anita Hinzmann Sekretärin bei Wilschinsky: Eva Bodden sowie Margarete Salbach

Zum Inhalt Magdeburg, zur Zeit der Weimarer Republik. Der jüdische Unternehmer Jacob Blum wird beschuldigt, seinen Buchhalter ermordet zu haben. Der ehemalige Freikorpsmann Gabler, gegen den ebenfalls ermittelt wird, hat Blum schwer belastet. Für den Untersuchungsrich- ter steht von vornherein fest, der Jude ist schuldig. Weder Entlastungsmaterial noch die eindeutig zu Gabler führende Spur können die antise- mitisch eingestellten Ermittler von ihrer Meinung abbringen. Schließlich gelingt es Blums Freunden, aus Berlin Kommissar Bonte hinzuzuziehen, der den wahren Täter überführen kann. Die Justiz schweigt den Fall offiziell tot.

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Die blauen Schwerter

Erst einmal ein Geständnis. Der Titel geriet in die Auswahlliste ohne eine aktuelle Wiederbegegnung mit dem Film. Ich folgte allein meiner Erinnerung an einen sehr einprägsamen frühen Kinobesuch und dem unvergeßlichen Eindruck, den zwei Schauspieler hinterlassen hatten – deren Gesichter und Gestalten unter- schiedlicher nicht hätten sein können: Da war der schwergewichtige Willy A. Kleinau als sächsischer König und als August der Starke hier in jeder Hinsicht eher zu fürchten als zu bewundern. Und da war sein Gefangener, der alchimistisch orientierter Apothekergehilfe und Preußen-Flüchtling Johann Friedrich Böttger in Gestalt des geradezu zerbrechlich und durchgeistigt wirkenden Hans Quest, der dem robusten Machtmenschen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Die Fabel folgte parabelhaft einem alten Märchenmotiv: Allein auf sich gestellt soll das Op- fer unter Zeitnot und Todesandrohung eine schier unerfüllbare Leistung vollbrin- gen. Spannung also im historischen Kostüm inklusive. Die blauen Schwerter stehen am Beginn einer neuen, DEFA-eigenen Tradition des historisch-biografischen Films im deutschen Kino. Das hieß ideelle und ästhe- tische Abkehr vom deutsch-nationalistischen Genie-Kult wie ihn der Nazi-Regis- seur Hans Steinhoff prototypisch im Robert Koch-Porträt auf die Leinwand ge- bracht hatte. Es mußte endlich Schluß sein mit der Verherrlichung des militanten Preußentums und der Anbetung historischer Potentaten im Sinne des Führerprin- zips. Erinnert sei nur an Titel wie Der alte und der junge König wiederum von Steinhoff, Der große König von Veit Harlan oder zwei Bismarck-Filme von Wolf- gang Liebeneiner. Auch vom biographischen Film wurde nun ein realistischer, kritischer Blick auf die politischen und sozialen Verhältnisse der jeweiligen Zeit erwartet, noch bevor das Studio vorrangig auf die »Geschichte und Helden der deutschen Arbei- terbewegung« orientiert wurde, so jedenfalls Hermann Axen als Vorsitzender der DEFA-Kommission auf der Filmkonferenz des ZK im September 1952. Erstaunlich aber, daß die DEFA 1948 trotz größten materiellen Mangels auf allen Gebieten ein Projekt in die Planung aufnahm und 1949 realisierte, das einen hohen dekorativen Bau- und Ausstattungsaufwand erforderte. Das konnte nur mit künstlerisch erprobten, technisch und ökonomisch erfahrenen Fachleuten gelin- gen. Vom Buch angefangen, über Regie, Kamera, Szenen- und Kostümbild waren Profis gefragt. Die meisten von ihnen wohnten noch in Westberlin. Die DEFA aber produzierte in Babelsberg und Johannisthal unter den Bedin- gungen des sich anbahnenden Kalten Krieges. Die NATO-Gründung hatte das brüchige Anti-Nazi-Bündnis der vier Alliierten beendet. Berlin war schon vor Gründung der Bundesrepublik eine politisch geteilte Stadt, zementiert durch die Einführung der D-Mark im Juni ‘48 auch in Westberlin.

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Viele Westberliner Filmleute und Schauspieler waren urplötzlich von ihrer Ba- belsberger Arbeitsstätte durch eine Zollgrenze geschieden, die sie täglich zweimal passieren mußten. Diese Umstände und Voraussetzungen wollen wir mitdenken, wenn wir uns ins Milieu des 17./18.Jahrhunderts zurück versetzen lassen, das nur drei Jahre nach Kriegsende in Babelsberg glaubhaft rekonstruiert werden mußte. Schauen wir mal, wie die wichtigsten Beteiligten damit zu Rande kamen. Erstaunlicherweise gab es offenbar in der Buchentwicklung- und bestätigung keine Probleme, die sonst immer aktenkundig wurden. Die ungewöhnlich rasche Entscheidung für die aufwendige Produktion erklärt sich vor allem wohl mit der vertrauenswürdigen Regiekandidatur von Wolfgang Schleif. Seine Filmobiogra- phie ist charakteristisch für diese Zeitenwende und die frühen DEFA-Jahre. Er hatte die Filmarbeit von der Pike auf gelernt, schon in der Ufa als Schnitt- meister und Regieassistent u. a. bei Veit Harlan gearbeitet. Er war Kurt Maetzigs unverzichtbare rechte Hand und wohl mehr als nur ein bloßer Assistent bei dessen Spielfilmdebüt Ehe im Schatten. Seine eigene Regiekarriere konnte er daraufhin (gemeinsam mit Erich Freund) schon 47/48 mit Grube Morgenrot starten. Das war ein hoch willkommener erster DEFA-Film über eine Gruppe von Arbeitern, die, historisch verbürgt, in den 30er Jahren vergeblich versuchen, eine Kohlen- grube, die stillgelegt werden soll, in Eigenregie vor dem wirtschaftlichen Aus zu retten. Der Autor Joachim Barckhausen hatte zunächst Slatan Dudow von dieser seiner alten Filmidee erzählt, die wegen ihrer antikapitalistischen Tendenz von der Ufa abgelehnt worden war. Dudow war mit seinem eigenen Projekt Unser täglich Brot beschäftigt und so kam Wolfgang Schleif zum Zuge. Schon ein dreiviertel Jahr nach Grube Morgenrot hatte sein Jugendfilm ... und wenn’s nur einer wär Premiere und noch im selben Jahr, am 30. Dezember ‘49, Die Blauen Schwerter, Beispiel einer ganz ungewöhnlichen Produktivität und Qualität. Damit wurde das Genre des historisch-biographischen Films fester Bestandteil der thematischen Planung. Doch mit Ausnahme des bald folgenden Films über den Frauenarzt und Geburtshelfer Ignaz Philipp Semmelweis, den Retter der Müt- ter, scheiterten andere Portät-Pläne überwiegend bereits an ideologischen Beden- ken: Carl v. Ossietzky und Berta von Suttner wegen pazifistischer Tendenzen. Die Selbsthelfer Michael Kohlhaas und Claus Störtebeker waren als Anarchisten ver- dächtig. Der freche Franzose Francois Villon aber wurde ein Opfer der zeitgenös- sischen Prüderie. Zurück zu den Blauen Schwertern. Dem Regisseur stand auch bei seinem drit- ten Film der erfahrene Kameramann E. W. Fiedler zur Seite und zwei im histori- schen Milieu erprobte Szenen- und Kostümbildner sorgten für ein stimmiges Am- biente. Noch während der Endfertigung seines Films bat die Direktion Schleif um un- eigennützige Hilfe für einen in die Krise geratenen Gegenwartsfilm – Bürgermei- ster Anna nach einem Buch des berühmten Friedrich Wolf. Obwohl der Autor, zu

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dieser Zeit Botschafter der DDR in Polen, Qualität statt Eile anmahnte, wurde das Drehbuch in drei Wochen erstellt. Das Studio brauchte die Ablieferung des Films zum Jahresende. Ohne namentlich genannt zu werden, wurde Schleif zum Mitre- gisseur berufen. Hans Müller drehte tagsüber, Wolfgang Schleif mit einem zwei- ten Team des Nachts. Allein der Regieassistent Joachim Kunert sorgte dafür, daß wenigstens die Anschlüsse stimmten. Aus jahreszeitlichen Gründen mußte der sommerliche Außenschauplatz im kleinen Johannisthaler Atelier gedreht werden . Kein Wunder, daß Friedrich Wolf enttäuscht davon sprach, dieses Dorf rieche nach Pappe. Immerhin, mit der Mischung in der Nacht zu Silvester konnte das Studio die Planerfüllung melden. Die ungeheure Anstrengung wurde nicht belohnt. Der fertige Film erfuhr eine schonungslose politische Kritik. Wolfgang Schleif aber hatte sich erneut als richti- ger Profi und selbstloser Kollege erwiesen. Sein nächstes Projekt scheint eher eine Verlegenheits- und Auftragsarbeit und hieß Saure Wochen – frohe Feste. Das zeitgenössische Lustspiel handelte vom Wettstreit zweier Laienspielgruppen, der auf dem Betriebfest ihres Kraftwerks ausgetragen wird. Dabei siegt schließlich das kabarettistische Programm junger Leute über ein kitschig-konventionelles Singspiel aus der Mottenkiste der Alten. Allein in den »sauren Wochen«, die dem Fest vorangehen, bewähren sich Jung und Alt bei einer Havarie als feste Gemeinschaft. Nun aber folgten »saure Wo- chen« erst einmal für den Regisseur. Schleif arbeitete an einer Filmversion der Erzählung Leinwandmesser von Leo Tolstoi, leider vergeblich. Das ungeschönte Bild des Dorfes im zaristischen Ruß- land, so wurde befürchtet, könne »bei einem Teil des deutschen Filmpublikums an reaktionäre Vorstellungen über die Sowjetunion« anknüpfen. Der rastlose Mann sah seine Kreativität und kontinuierliche Produktion behin- dert. Sein Engagement für die Nachwuchsausbildung von Schauspielern und Re- gisseuren in der frühen DEFA-Akademie konnten ihm den Regiestuhl nicht erset- zen. 1952/53 drehte Schleif seinen letzten DEFA-Film Die Störenfriede nach einem Buch von Hermann Werner Kubsch und erstmals Wolfgang Kohlhaase. Als die Premiere am 26. Juni 1953 im DEFA-Filmtheater Kastanienallee stattfand, nahm der Regisseur schon nicht mehr daran teil. Doch die Trennung vom Studio hatte sich schon länger angekündigt. Die Ar- beitsbedingungen hatten sich durch zu viele und zu lange Debatten um Bücher und Drehgenehmigungen deutlich verschlechtert. Die Produktion war von Jahr zu Jahr geschrumpft. Mehr und mehr beeinflußte auch die politische Entwicklung die persönlichen Entscheidungen von Künstlern, die ihren Wohnsitz in Westberlin hatten und behalten wollten. Der D-Mark-Anteil am Honorar erschien mit wachsenden Preisen im Westen als zu gering. Unser Geld war in den Westberliner Wechselstuben nur ein Siebtel wert. Die Westberliner DEFA-Leute aber brauchten für den Osteinkauf einen per- sonengebundenen Einkaufsbescheinigung, und den gab es nur entweder für den

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Gehaltsempfänger oder nach vielen Beschwerden auch für die Frau und dann nur für sie. Nun aber könne er selbst, so Schleif in einem Brief an die Leitung, »als Regisseur der DEFA, einer Weltfirma, im demokratischen Sektor von Berlin nicht einmal eine Schachtel Streichhölzer einkaufen ... Ja, ich muß damit rechnen, daß mir Dinge, die ich zur Arbeit brauche, beschlagnahmt werden, weil ich keine Ein- kaufsbescheinigung vorweisen kann.« Und er klagte über würdelose Zoll-Proze- duren »beinahe bei jeder S- oder U-Bahnfahrt am Grenzbahnhof (...) Tag für Tag oder gar mehrmals am Tag ...«. Nach folgenloser Vorsprache beim höchsten DEFA-Chef in Berlin legte er am 9. April 1953 im Hinblick auf die wochenlangen Außenaufnahmen in Thüringen und zu geringe Spesen bei zu hohen Unkosten die verabredete Regie für den Film Hexen nieder. Er nahm unbezahlten Urlaub, und das Studio sperrte die nächste Gehaltszahlung. Erst nachdem auch andere Westberliner die DEFA verlassen hat- ten, wurde das Bezugsscheinregime liberalisiert, ein Spezialgeschäft für ihre Ein- käufe in Ostberlin eröffnet. Zu spät für Schleif. Schon ab 1954 drehte er im Westen und schnell hintereinander: Ännchen von Tharau; Die Mädels vom Immenhof; Freddy, die Gitarre und das Meer, leider aber auch Rommel ruft Kairo pünktlich zu Adenauers Bemühungen um die Wie- deraufrüstung. Wolfgang Schleif kommentierte später seinen politischen und künstlerischen Systemwechsel so: »Bei der DEFA habe ich mich mit klugen politischen Köpfen herumgeschlagen, hier schlage ich mich mit Zigarettenhändlern herum, die das Geld haben«. Ich kehre zu meiner kleinen Entschuldigung vom Anfang zurück. Mal sehen, ob mir beim Vorschlag und ihnen bei der Wahl der Blauen Schwerter die gute Er- innerung einen Streich gespielt hat oder ob das Werk, sicher auch ein Dokument der filmischen Stil- und Zeitgeschichte, unsere Erwartungen heute enttäuscht. Dann trösten wir uns eben damit, daß wir an Böttgers Erfindung des Weißen Goldes gerade jetzt erinnern, wo alle Welt den 300. Jahrestag der Meißener Por- zellanmanufaktur würdigt, die hoch verdient und doch erstaunlicherweise die Kehrtwende in die Marktwirtschaft gemeißenert, nein, gemeistert hat.

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Die blauen Schwerter

Produktionsland DDR Premierendaten Uraufführung: 30. Dezember 1949, Berlin, Kino Babylon Produzent DEFA Deutsche Film-Aktiengesellschaft Prüfung/Zensur Alliierte Militärzensur (DE): 14. Dezember 1949 Verleih PROGRESS Film-Verleih Auszeichnung Nationalpreis 3. Klasse für den Kameramann Erich W. Fiedler (1951) Regie Wolfgang Schleif Regie-Assistenz: Hans-Joachim Kunert Drehbuch Alfred R. Böttcher Dramaturgie Marieluise Steinhauer Kamera Erich Wilhelm Fiedler Standfotos: Erich Kilian Bauten Erich Zander, Karl Schneider Kostüme Walter Schulze-Mittendorff, Hans Kieselbach Maske Kurt Aust, Lotte Schmidt, Schnitt: Hermann Ludwig, Ton Kurt Witte, Musik: Walter Sieber Produktionsleitung Robert Leistenschneider Produktionsassistenz: Fritz Pamme Aufnahmeleitung Fritz Brix, Erwin Dräger Darstellende Böttger: Hans Quest Frau von Tschirnhausen: Ilse Steppat von Tschirnhausen: Alexander Engel Nehmitz: Herbert Hübner August der Starke: Willy A. Kleinau Katharina: Marianne Prenzel König Friedrich I.: Paul Wagner Dr. Bartolomäi: Wolfgang Kühne Kreisamtmann von Wittenberg: Werner Pledath Laskari: Klaus Miedel, Wildenstein: Hans Emons Köhler: Siegfried Dornbusch Schubert: Walter Weinacht Wirt im »König von Portugal«: Alfred Maack Leutnant Menzel: Rolf Weih Fürst von Fürstenberg: Alexander Schäffer Apotheker Zorn: Martin Rosen Bedienerin bei Zorn: Inge van der Straaten

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Darstellende Bergrat Kunkel: Robert Taube Graf Wartenberg: Otto Stöckel Kommandant der Bastei: Werner Segtrop Spion Dünnbrot: Werner Marx Gehilfe von Dünnbrot: Hans Fiebrandt Provisor der Apotheke: Otto Matthies Leutnant von Kittwitz: Erik von Loewis Finanzminister: Albert Bessler Baumeister des Königs: Heinz Lingen Kavalier am Dresdner Hof: Gustav Lücke Apothekerlehrling: Henning Schlüter Maitresse: Sonja Hardtke, Oberst Klesch: Axel Triebel Herbergswirt: Franz Lichtenauer Diener von Laskari: Friedrich Teitge Student in Wittenberg: Hannes Fischer Königlicher Münzmeister: Hans Sanden Hausknecht im »König von Portugal«: Harry Gillmann Kleiner Mohr: Aite Folli in weiteren Rollen: Alfred Walter, Hans Jöckel, Alois Krüger, Bruno Lopinski, Hans Meng, Perzy Werner, Erich Gürtler, Walter Schramm, Alfred Stein, Max Paetz, Johannes Bergfeldt, Günter Glaser, Irene Medding, Edmund Pouch, Franz-Willy Markiewicz, Nico Turoff, Ulrich Busch Paul Singer, Friedrich Berger, Wilhelm Kaiser-Heyl, Otto Köppen, Kurt Muskate, Franz Musetti Anna Sablotzki, Willi Narloch, Emil Seefeld

Zum Inhalt Berlin, 1701. Der junge Johann Friedrich Böttger ist ein unruhiger, aber kluger Geist. Allerdings trifft er mit seinen Forschungen beim Lehrmeister Zorn der königlich preußisch privilegierten Apotheke auf großes Unverständnis. Friedrich Zorn sieht darin nur Teufels Werk. Mehr Unterstützung erhält er vom zwielichti- gen Mönch Monsieur Laskari, der nicht nur dem europäischen Adel vorgaukelt, er verstehe das Goldmachen. Wie ein Instrument benutzt er Böttger, um die Kommission des preußi- schen Königs von seiner Erfindung zu überzeugen. Der Adel hofft, damit ein geeignetes Mittel gefunden zu haben, um die eigenen kostspieligen Ausgaben zu finanzieren. Erst als Laskari reich belohnt abreist, wird sich der junge Wissenschaftler der Gefahr be- wußt, der er nun ausgesetzt ist. Mit Hilfe von Katharina, die ihm in Liebe zugetan ist, kann er den Häschern von König Friedrich I. entkommen und nach Wittenberg in Kursachsen fliehen. Doch der auf ihn angesetzte preußische Spion Dünnbrot macht den Studiosus aus- findig und verlangt seine Auslieferung. So wird August der Starke auf Böttger aufmerksam und läßt ihn in einer geheimen Aktion auf der Jungfernbastei an der Elbe festsetzen. Dort soll Böttger Gold für den König von Sachsen und Polen produzieren. Aber Böttger hat längst ein anderes Ziel vor Augen: Er will das Geheimnis des »Weißen Goldes«, des chine- sischen Porzellans, lüften. Ein spannender, biografischer Film um die historische Figur des Porzellanentdeckers und Alchimisten Johann Friedrich Böttger (1682 – 1719) in der Zeit des Absolutismus.

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Das Beil von Wandsbek

In die Filmgeschichtsschreibung der Nachwende ist Das Beil von Wandsbek als der erste Verbotsfilm der DEFA eingegangen. Vorab dazu die knappen Fakten: Das Regie-Debüt von Falk Harnack hatte am 11. Mai 1951 Premiere im Kino Babylon bei gleichzeitigem Start im DEFA-Kino- theater Kastanienallee. In den folgenden fünf Wochen erreichte der Film, begleitet von einer breiten, übereinstimmend positiven, ja überschwänglichen Presse, be- reits 800 000 Besucher. Da zog ihn die DEFA als Teilhaber von Progress Film- Vertrieb aus den Kinos zurück. Erst zehn Jahre später wurde eine um 20 Minuten gekürzte Fassung für den Inlandeinsatz und Export freigegeben und zum 75. Ge- burtstag von Arnold Zweig am 9. November 1962 aufgeführt. Die erste Wiederaufführung des Originals fand im Januar 1982 in der Akade- mie der Künste zum 75. Geburtstag von Erwin Geschonneck statt. Horst Pehnert, Stellvertreter des Kulturministers und Leiter der HV Film, hatte die Neuzulassung ohne politische Rückversicherung verfügt. Vorführungen blieben jedoch weitge- hend auf Filmkunsttheater und Filmklubveranstaltungen begrenzt. Das DDR- Fernsehen zeigte den Film am 24. Januar 1983. Nun aber zurück in die Werkgeschichte. Die Auseinandersetzungen um den Film 1951/52 läuteten Falk Harnacks Ab- schied von Babelsberg ein. Unter den frühen künstlerischen Verlusten der DEFA war dies der schwerste und schmerzlichste, denn es war nicht der Regisseur und Genosse, der den Bruch vollzog. Und so lohnt ein Blick auf das Leben eines Man- nes, der als »kleinbürgerliches, zurückgebliebenes und zurückbleibendes Ele- ment« im August 1952 vertrieben wurde. Harnack, Jahrgang 1913, entstammte einer kunstnahen Familie, der Vater war Literaturhistoriker und Goethe-Forscher, die Mutter Malerin. Er studierte Germa- nistik, Theater-, Zeitungs- und Volkswirtschaft und promovierte bereits zu einem dramaturgischen Thema. So war die Theaterlaufbahn programmiert. Sie begann in Berlin und München und führte ihn als Regisseur, Schauspieler und Dramaturg ans Nationaltheater Weimar und ans Staatliche Landestheater , bis auch ihn der Krieg 1941 in den Militärdienst zwang. Schon als 20jähriger wurde er Mitglied der KPD. Er war aktiv bei einer Münchener Flugblattaktion 1934 und 1942 auch im Kontakt mit der Weißen Rose. Als er im Februar ‘43 an der Ge- dächtniskirche vergeblich auf Hans Scholl wartete, ahnte er nicht, daß der inzwi- schen verurteilt und hingerichtet war wie auch seine Schwester Sophie. Das glei- che Schicksal hatte da bereits seinen Bruder Arvid und seine Schwägerin Mildred getroffen. Sie waren mit Harro Schulze-Boysen führende Köpfe der weitver- zweigten Widerstandsgruppe, die die Gestapo als Rote Kapelle verfolgte und unters Schafott brachte.

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1943 kam es zur Verhaftung weiterer Sympathisanten der Weißen Rose, nun auch von Falk Harnack. Dank mangelnder Beweise konnte er aus der Haft zu seiner Truppe nach Griechenland zurückkehren. Als ein unheildrohender Geheim- befehl Himmlers ihn nach Berlin beorderte, gelang ihm die Flucht zu den Partisa- nen. Dem Gründer und Leiter eines Antifaschistischen Komitees deutscher Solda- ten blieb eine längere britische Gefangenschaft erspart. Zurück in München arbeitete er am Bayerischen Staatstheater, bis ihn 1947 In- tendant Wolfgang Langhoff als seinen Stellvertreter ans Deutsche Theater rief. Hier inszenierte er Die russische Frage von Konstantin Simonow, Stücke von Carl Sternheim (Die Kassette) und Julius Hay (Haben), Lessings Emilia Galotti. Als im Frühjahr 1949 der Künstlerischer Leiter der DEFA, Kurt Maetzig, end- gültig in den Regiestuhl wechselte, wurde ein Nachfolger gesucht. In der sowje- tisch-deutschen DEFA-Spitze konnte das nur ein Genosse sein, eine künstlerische Kapazität mit Leitungserfahrung. Mit solchem Profil gab es nicht viele. Die DEFA-Kommission des Zentralsekretariats der SED stimmte der Berufung von Harnack zu. Er setzte nun für zwei kurze Jahre die produktive Arbeit von Maetzig und Janka fort. Die vielfarbige Palette umfaßte an die zwanzig Filme, die unter seiner Leitung vollendet, verabschiedet oder auf den Weg gebracht wurden. Nach seinem Ausscheiden brach diese Kontinuität dramatisch ab. 1952 und ‘53 kamen nur noch je sechs DEFA-Filme ins Kino. 1950 erstritt sich Harnack die Regie der bereits beschlossenen Zweig-Verfilmung und im März 51 auch seine Befreiung vom Leiteramt. Die Rechte am Roman hatte er dem Studio sofort nach der Lektüre eines Vorabdrucks in der NBI vertraglich ge- sichert. Nun schrieb er das Drehbuch mit dem Dramaturgen Bortfeldt und griff da- bei auf die szenaristische Vorarbeit von Wolfgang Staudte zurück, der inzwischen in Hamburg drehte. Während die Zusammenarbeit im Produktionsteam, vor allem mit dem erfahrenen Kameramann Robert Baberske, harmonisch verlief, gab es offenbar nach der Musteransicht einzelner Szenen kritische Reaktionen aus der Vorstandse- tage. Einwände von Arnold Zweig veranlaßten Harnack zu Nachaufnahmen. Aber erst mit dem Rohschnitt im März 1951 kam es zum ernsthaften Konflikt. Da allein der sowjetische Berater Igor Tschekin den Film für »kühn, klar, aber ge- fährlich« hielt, konnte Harnack die Endfertigung mit Montage, Synchronisation, Musikaufnahmen und Mischung abschließen. Zwei Monate später wurde der Film von der hochrangig besetzten DEFA- Kommission nicht abgenommen. Tschekin hielt die politische Aussage für untrag- bar und hatte sogar die Sowjetische Kontrollkommission alarmiert. Er forderte die Absetzung des Films vom Spielplan. Gerhart Eisler, Leiter des Amtes für Infor- mation beim Ministerpräsidenten, teilte die Befürchtung offenbar nicht, der Film erwecke Mitleid mit dem Henker. Er verbreite vielmehr die Warnung, »wer sich mit dem Faschismus einläßt, der geht zugrunde«. Eisler konnte sich aber auch darauf berufen, daß die Verfilmungsabsicht in der Kommission nicht beraten wurde.

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So kam es zur Anrufung der letzten Instanz, des Politbüros, und zur Vorführung vor Wilhelm Pieck, Hermann Axen, Paul Verner, Rudolf Herrnstadt und Gerhart Eisler. Er war wiederum der Einzige, der dem Rückzug des Films widersprach, den Tschekin noch einmal als »schädlich« qualifiziert hatte, weil nicht das Schicksal der Widerstandskämpfer, sondern die Tragik des Henkers und seiner Frau im Zentrum stünde. Peinlich nur, daß der Film bereits mit großer Resonanz in den Kinos angelaufen war. Pieck wollte Arnold Zweig schonen und schlug vor, die Öffentlichkeit mit kri- tischen Zuschauerstimmen auf die Absetzung des Films vorzubereiten. So kam es zu einem förmlichen Beschluß des Politbüros und des Sekretariats des ZK. Nun wurden also die Leserbriefe bestellt, um die beschlossene Sanktion mit Volkes Stimme zu rechtfertigen. Die Attacke eröffnete die Berliner Zeitung unter der Titel-Anklage »Mitleid mit dem Henker« und der Behauptung, die Auf- führung sei verwirrend und gefährlich. Der Dresdener Sächsischen Zeitung fehlte »der Haß gegen den Faschismus, die Kampfbereitschaft gegen den sich ent- wickelnden Neofaschismus in den USA und Westdeutschland«. Die Leipziger Volkszeitung druckte den ungeheuerlichen Vorwurf, »der Mörder und seine Fami- lie werden idealisiert«. Wenige Tage später folgte aus Dresden Anklage und Schuldspruch: »Wir lassen uns das Bewußtsein unseres Volkes nicht durch schlechte Filme, die den Interessen der Kriegstreiber dienen, vergiften. Es wird Zeit, daß dieser Film zurückgezogen wird.« Dem folgte alsbald, was längst beschlossen war. Arnold Zweig, Präsident der Akademie der Künste, vermied den Eklat und wandte sich an die am wenigsten zuständige Adresse. Sein förmlicher Widerspruch bei der DEFA blieb folgenlos. Eine in Aussicht genommene Debatte über »Schritte, den Film künstlerisch und politisch zu retten«, fand weder im Vorstand, noch im Beirat oder der DEFA- Kommission statt. Ein Brief der zeitweiligen Parteigruppe des Films, voran Harnack und Geschonneck, an die Kulturabteilung des ZK, blieb unbeantwortet. Nun veranlaßte Zweig eine Vorführung und Diskussion in der Akademie, der sich jedoch der eingeladene DEFA-Vorstand verweigerte. Auf Änderungsvor- schläge konnte man sich nicht verständigen. Selbst Brecht, der sich für den Film jetzt und auch später sehr einsetzte, befand kategorisch: »Es darf durch das see- lenvolle Auge eines guten Schauspielers kein Mitleid erweckt werden. Ist dies der Fall, dann ist der Film von dieser Stelle an untragbar.« Eine »Filmresolution des Politbüros« vom Juli 1952 erstickte jeden weiteren Gedanken an eine Rettung. Da hieß es u. a.: »Noch krasser offenbaren sich die Fehler des kritischen Realismus in dem Film Das Beil von Wandsbek, der nicht die Kämpfer der deutschen Arbeiterklasse zu den Haupthelden macht, sondern ihre Henker. Die Verfilmung des Stoffes war ein ernster Fehler der DEFA-Kom- mission und des DEFA-Vorstandes.« Vom Regisseur war nicht die Rede. Doch in der DEFA ging man danach weni- ger rücksichtsvoll mit Harnack um. Die von ihm angeregte Verfilmung der Kleist-

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Novelle Michael Kohlhaas wurde wegen des individualistischen Selbsthelfers nicht weiter verfolgt. Eine freie Bearbeitung des historischen Stoffes, die den Hel- den mit dem deutschen Bauernkrieg verband, reifte dagegen dank prominenter Autoren (Alexander Graf Stenbock-Fermor, Joachim Barckhausen) immerhin bis zum Szenarium. Der Drehbuchauftrag wurde erteilt, Harnacks nächste Regie schien gesichert. Das Politbüro aber hatte inzwischen andere Schwerpunkte gesetzt, nämlich »Filme und Ereignisse im Kampf um den Aufbau des Sozialismus (...) und solche (...), die hervorragendende Persönlichkeiten der Geschichte unseres Volkes in ihrem Schaffen darstellen.« Ein konkreter Maßnahmeplan forderte die »Überprüfung des Produktionsplanes der DEFA vom Standpunkt der Beschlüsse der II. Parteikonfe- renz« über den Aufbau der Grundlagen des Sozialismus. Diesem Auftrag folgten bald die Filme über Ernst Thälmann und Thomas Müntzer. Zu den ersten Opfern dieser Plankorrektur gehörte der längst ungeliebte Kohl- haas. Stattdessen sollte »Genosse Harnack« nun einen Film über die kämpfende westdeutsche Arbeiterklasse drehen. Ein Hafenarbeiterstreik, so die Fabel – welch’ treffender Doppelsinn – verhin- dert die Entladung eines Schiffes mit Gefährlicher Fracht, so auch der spätere Ti- tel. Der Waffentransporter muß unverrichteter Dinge abziehen. Die Aktion mün- det in eine große Friedens-Demonstration. Harnack hatte schon anhand einer frühen Textfassung die Typisierung der Fi- guren und den Schematismus der Szenen bemängelt. Seine Recherche in Ham- burg bestätigte ihm nun auch noch die politische Unglaubwürdigkeit der Story. Er nannte die Fiktion Selbsttäuschung und politischen Romantizismus. Das wurde ihm nun zum Verhängnis. Das Politbüro hatte die Parteiorganisation des Studios zu schonungsloser Kritik und Selbstkritik verpflichtet und die Partei- leitung exekutierte sie nun zuerst einmal an Harnack. Der Vorstandsvorsitzende Sepp Schwab, der Harnack schon lange mißtraute, warf ihm vor, »keine Ahnung von der revolutionmären Arbeiterbewegung in Westdeutschland zu haben«, »keine Stoffe mit 100%iger Stellungnahme für uns und 100%iger Absage gegen- über dem Westen« zu akzeptieren. Ein Regiekollege widersprach einer Bewäh- rungsfrist und forderte, daß sich »Genosse Harnack sofort entscheidet in der Frage des Umzugs in den demokratischen Sektor und seiner Beteiligung am Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus«. Beschwörende Vermittlungsversuche, unter anderem von Kurt Maetzig, fanden kein Gehör. Die Parteileitung schlug vor, Harnack »auf Grund der Resolution des Politbüros als kleinbürgerliches, zurück- gebliebenes und zurückbleibendes Element aus den Reihen der Partei auszu- schließen«. Harnacks Versuch, seine Position der Einheit von Kunst und Politik zu vertei- digen, blieb ungehört: »Schließt mich aus, daß ich Marxist und Sozialist auch weiterhin bleibe, kann mir niemand verwehren.« Er gab sein Parteidokument ab und erklärte seinen Austritt. Doch die die Mitgliederversammlung statuierte ein

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Exempel, denn, so das Protokoll, »hier stand die Frage, sich zu entscheiden für ei- nes der beiden Lager, die es im Weltmaßstab gibt. Harnack hat sich für das Lager des Krieges entschieden.« Mit der Drohung, »wer noch für Harnack ist, ist kein Genosse«, war der einstimmige Beschluß gesichert. Vierzehn Tage später endete Harnacks Arbeit in der DEFA, denn Schwab hatte ihm vorsorglich den üblichen Einzelvertrag mit fester DEFA-Bindung vorenthalten. Der von den Nazis verfolgte Jude Artur Brauner nahm Harnack für zwei Jahre als künstlerischen Berater seiner CCCF-Film-Studios in Dienst. 1955 drehte er ei- nen der ersten westdeutschen Filme über den Widerstand Der 20. Juli und erhielt dafür ein Filmband in Silber. Für das Fernsehen entstand 1962 Jeder stirbt für sich allein nach dem Roman von Hans Fallada. Es folgten bis 1976 noch mehr als zwanzig Fernsehfilme. Sein Biograf Schoenberner bezeugte dem toten Freund 1991: »Weder die le- bensgefährliche Bedrohung vor noch der sanfte Anpassungsdruck nach 1945 konnten ihn von seinem Weg abbringen.«

Das Beil von Wandsbek

Produktionsland DDR Premierendaten Uraufführung: 11. Mai 1951, Berlin, Kino Babylon Produzent DEFA Deutsche Film-Aktiengesellschaft Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Falk Harnack Regie-Assistenz: Otto Meyer Drehbuch Hans Robert Bortfeldt, Falk Harnack, Wolfgang Staudte (Manuskript), Werner Jörg Lüddecke (Manuskript) Dramaturgie Marieluise Steinhauer Kamera Robert Baberske Standfotos: Erich Kilian Bauten Erich Zander, Karl Schneider Kostüme Walter Schulze-Mittendorff Maske Herbert Zensch, Gerda Stombrowski Schnitt Hilde Tegener

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Ton Adolf Jansen Musik Walter Sieber Produktionsleitung Kurt Hahne Produktionsassistenz: Heinz Berg Aufnahmeleitung Gustav Lorenz Darstellende Albert Teetjen: Erwin Geschonneck Stiene Teetjen: Käthe Braun Dr. Käthe Neumeier: Gefion Hans Peter Footh: Willy A. Kleinau Dr. Koldewey: Arthur Schröder Annette Koldewey: Ursula Meißner Oberst Lintze: Helmuth Hinzelmann Aga Lintze: Blandine Ebinger Anneliese Blüthe: Hilde Sessak SA-Sturmführer Trowe: Claus Holm Lene Prestow: Erika Dannhoff Siegfried Mengers, Verurteilter: Fritz Wisten Otto Merzenich, Verurteilter: Albert Garbe Friedrich Timme, Verurteilter: Hermann Stövesand Willi Schröter, Verurteilter: Gert Schaefer Otto Lehmke: Friedrich Honna Frau Lehmke: Maly Delschaft Dörte Lehmke: Gina Presgott Geesche Barfey: Charlotte Küter Tom Barfey: Claus Peter Lüttgen Karl Prestow: Raimund Schelcher Arbeiterfrau: Gisela May, Schneider: Klaus Miedel Gehilfe von Dünnbrot: Hans Fiebrandt Straßenbahner: Albert Venohr Frau Schmermund: Annemarie Hase Kostümverleiher: Kurt Mikulski SA-Mann Fiete: Harry Riebauer Schuhmacher: Gustav Püttjer Frau Michalke: Helene Riechers Hauptwachtmeister: Herbert Richter Dienstmädchen: Elfriede Dugall Gehilfe im Kostümverleih: Egon Vogel Sekretärin Fräulein Willmann: Gerda von Rohde 1. Müllkastenträger: Nico Turoff 2. Müllkastenträger: Wladimir Marfiak in weiteren Rollen: Otto Eduard Stübler, Thea Achenwall, Artur Malkowsky, Kurt Mühlhardt, Herbert Kiper, Ilva Günten, Georg Kröning George Lannan, Hugo Kalthoff, Georg Helge, Bruno Lopinski, Käte Alving, Gertrud Paulun, Marga Becker, Erich Gühne, Werner Segtrop, Otto Stoeckel

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Zum Inhalt Falk Harnacks DEFA-Film beruht auf dem gleichnamigen Roman von Arnold Zweig: Nachdem der Hamburger Fleischermeister Albert Teetjen die Konkurrenz eines Warenhau- ses schmerzhaft zu spüren bekommen hat, wird er Mitglied der NSDAP. Und tatsächlich wird ihm bald eine neue Arbeit angeboten. SS-Standartenführer Footh schlägt dem Flei- scher vor, die Rolle des erkrankten Scharfrichters zu übernehmen. Teetjen geht darauf ein, doch er und seine Frau Stiene werden an der Aufgabe zerbrechen.

Der Untertan

Schaut man auf Wolfgang Staudtes furiosen DEFA-Start mit zwei politisch-dra- matischen Filmen Die Mörder sind unter uns und Rotation, so erscheint seine Sympathie für das anscheinend heitere Genre nicht so selbstverständlich. Schließ- lich waren auch seine Erfahrungen auf diesem Feld nicht gerade die besten. Sein zweiter Spielfilm nach Akrobat schööön, die Bürokratie-Groteske Der Mann, dem man den Namen stahl, wurde 1944 verboten. Zwar konnte er Teile des Films in seine zweite DEFA-Produktion Die seltsamen Abenteuer des Herrn Fridolin B. einschneiden, doch trotz prominenter Besetzung mit Axel von Ambesser, Paul Henckels, Aribert Wäscher und Ernst Legal wollte sich weder das Publikum noch die Kritik für den »seltsamen Film« und die »Satire im luftleeren Raum« erwär- men, so jedenfalls die Schlagzeilen. Rascher als gedacht, war Staudtes Zorn auf DEFA-Chef Sepp Schwab und seine Zensurschnitte im Film Rotation verflogen. Nach kurzem Ausflug nach Hamburg kehrte er zur DEFA zurück. Heinrich Manns Roman lieferte ihm den richtigen Stoff zur rechten Zeit. Er schuf eine großartige Filmsatire, die in Gehalt und Gestalt in der deutsch-deutschen Filmgeschichte beispiellos ist. Wie es dazu kam, erzählt Staudte selbst: »Ich fuhr zur Premiere Die Mörder sind unter uns nach London und ein englischer Kritiker (...) sagte hinterher zu mir: ›Dieser Arno Paulsen (der Darsteller des Mörders in Uniform – D. W.) ist ja eine unheimliche Gestalt, mit dem müßten Sie den Untertan machen.‹ Damals kannte ich den Roman überhaupt nicht. Als ich zurück nach Berlin kam, habe ich leichtsinnigerweise zu den DEFA-Leuten gesagt: ›Den Untertan müßte man ma- chen, ein unheimlich guter Stoff, mit Paulsen.‹ Und da sprangen sie voll darauf an, aber die Rechte lagen in Amerika, und ich habe das erst mal aus den Augen verloren. Eines Tages hieß es, wir haben die Rechte erworben, Staudte macht als nächstes den Untertan. Da habe ich schnell erst mal das Buch gelesen.« Nicht alle waren von dieser Stoffwahl so überzeugt. Ideologie-Chef Anton Ackermann kritisierte am Drehbuch »die völlige Perspektivenlosigkeit, das ganze

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Volk besteht nur aus Untertanen«. Und das in der Zeit von Karl Liebknecht. Es müsse wenigstens ein Arbeiter eine kämpferische Figur darstellen. Und: »Die alte Ufa-Erotik sollte endlich aus unseren Filmen verschwinden. Die Szene im Lumpen- saal mit dem jungen Arbeiter und seiner künftigen Frau (...) läßt völlig falsche Schlußfolgerungen für unsere Arbeiter heute zu. (...) Dies ist ein schlechtes Beispiel für Arbeitsmoral. Wobei der Unterschied zwischen einem kapitalistischen und ei- nem VEB-Betrieb im Film nicht klargestellt werden kann.« Hier aber bewährte sich die autoritäre Entscheidungsfreude desselben DEFA-Chefs, Sepp Schwab nämlich, der die Dreharbeiten für unaufschiebbar erklärte. Da Arno Paulsen für die Haupt- rolle nicht zur Verfügung stand, entschied sich Staudte glücklicherweise für den jungen Werner Peters, der seine Begabung für satirische Nuancen schon in einer kleinen Nebenrolle in Erich Engels Affäre Blum unter Beweis stellen konnte. Die anspruchsvollen Dreharbeiten verliefen offenbar problemlos. Günter Reisch beschreibt aus eigener Anschauung Staudte als Regisseur der »lockeren Hand, der im Atelier Atmosphäre erzeugte. Er drehte gerade den Untertan und Maetzig Roman einer jungen Ehe. Beide arbeiteten Atelier an Atelier. Während Maetzig nachdachte, wie er den Schauspielern die komplizierten Anforderungen der Szene allgemeinverständlich nahebringen könnte, vergnügte sich Staudte mit Werner Peters nebenan im Ateliergang beim Tischtennisspielen. Inzwischen rich- tete Kameramann Baberske das Licht ein, und ein Aufnahmeleiter bemühte sich, die beiden in die Dekoration zurückzubekommen. Und ich lief zu ihnen hinüber und guckte, was die so locker machten und wie sie es taten – direkt von der Tisch- tennisplatte mitten in die Szene hinein.« Diese mentale Lockerheit stand offenbar aller geistigen Präzision nicht im Wege. Im Gegenteil. Staudte nutzte die Romanvorlage zur schärfsten filmkünstle- rischen Auseinandersetzung mit preußisch-deutscher Autoritätsgläubigkeit, Un- tertanengeist, Herrenmoral und militantem Nationalismus. Das Werk fand trotz der Ufa-fernen und wenig DEFA-üblichen Stilistik eine selten einmütige Aufnahme und Resonanz bei Zuschauern, Kritikern und politi- schen Auguren. Regisseur und Hauptdarsteller erhielten den Nationalpreis. Das war so selbstverständlich nicht. Noch während der Dreharbeiten hatte das ZK zum »Kampf gegen Formalismus in Kunst und Literatur« aufgerufen. Doch Staudte ließ sich in seiner Konzeption nicht beirren. Mit seinem Kameramann suchte er zugespitzte charakterisierende Bildperspektiven, ungewöhnliche Blick- winkel, provozierende Bild- und Tonmontagen. Eine Szene des Drehbuchs spielte in Rom. Diederich Heßling wird Zeuge von Kaiser Wilhelms Staatsbesuch und huldigt überschwänglich seinem angebeteten Idol. Der Schauplatz-Ferne gehor- chend, inszenierte Staudte die Nahaufnahme einer kaiserlichen Kutschfahrt, die der katzbuckelnde Heßling hutschwenkend und jubelnd begleitet. Staudte wollte das Zeitbild des wilhelminischen Imperialismus als sehr aktu- elle Mahnung verstanden wissen und erfand dafür eine einprägsame filmische Metapher. Die Handlung endet mit der Einweihung des Kaiser-Denkmals. Über

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die pompöse Feier bricht ein Unwetter-Gewitter herein und das Bild überblendet in die zerbombte Trümmerwüste der Kleinstadt Netzig. Der bald in aller Welt berühmte Film wurde in Adenauers restaurativer Bundes- republik verboten. Der Spiegel lieferte dem Interministeriellen Ausschuß der Regie- rung die Zensurgründe gegen das »Paradebeispiel ostzonaler Filmpolitik: Man läßt einen politischen Kindskopf wie den verwirrten Pazifisten Staudte einen scheinbar unpolitischen Film drehen, der aber geeignet ist, in der westlichen Welt Stimmung gegen Deutschland und damit gegen die Aufrüstung der Bundesrepublik zu machen. Der Film läßt vollständig außer acht, daß es in der ganzen preußischen Geschichte keinen Untertan gegeben hat, der so unfrei gewesen wäre wie die volkseigenen Menschen unter Stalins Gesinnungspolizei es samt und sonders sind.« So kommt der Film in der BRD erst 1957 mit einem peinlich belehrenden Vor- spann, entstellenden Schnitten und um elf Minuten gekürzt ins Kino. Auch das Schluß-Menetekel fehlt. Staudte inszenierte in den 50er Jahren in der DEFA nach seinem meisterlichen Märchenfilm Die Geschichte vom kleinen Muck noch die Koproduktion mit Schweden Leuchtfeuer, während seine Version von Mutter Courage und ihre Kinder aus den schon bekannten Gründen unvollendet blieb. Nach seiner scharfen Zeitsatire Rosen für den Staatsanwalt (1959), der Ableh- nung des Bundesfilmpreises dafür, nach den zwei ebenfalls gesellschaftskriti- schen Filmen Kirmes und Herrenpartie wurde Staudte in der veröffentlichten Meinung endgültig zum Nestbeschmutzer gestempelt. Als Lilly Becher für die Verfilmung von Abschied Mitte der 60er Jahre Wolf- gang Staudte noch einmal ins Gespräch brachte, winkte Studiodirektor Professor Wilkening sogleich ab. Erst kürzlich habe der ihn wissen lassen, daß er sich aus politischen Gründen seiner Existenz im Westen keine neue DEFA-Verpflichtung leisten könne, es sei denn in einer regulären Koproduktion. Im übrigen erwarte er ohne Buchmitarbeit ein Regiehonorar von 150 000 DM, und er wisse wohl, daß sich das nun wieder die DEFA nicht leisten könne.

Der Untertan nach dem gleichnamigen Roman von Heinrich Mann

Produktionsland DDR Premierendaten Uraufführung: 31. 8. 1951, Berlin, Kino Babylon, Defa-Filmtheater Kastanienallee; TV-Erstsendung: 2. 9. 1954, DFF, BRD-Erstaufführung: 8. 3. 1957, München, Sendlinger Tor-Lichtspiele, Rathaus-Licht- spiele; TV-Erstsendung: 27. 7. 1961, ARD

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Produzent DEFA Deutsche Film-Aktiengesellschaft Verleih PROGRESS Film-Verleih Auszeichnungen 1951: Nationalpreis II. Klasse für Wolfgang Staudte, 1951: Nationalpreis III. Klasse für Werner Peters, 1951: »Preis für den Kampf um den sozialen Fortschritt« des VI. Internationalen Filmfestivals Karlovy Vary, 1956: Ehrendiplom in Helsinki auf einer Festveranstaltung anläßlich des 60. Jahres- tages der Erfindung des Films Regie Wolfgang Staudte Regie-Assistenz: Hanna Bark, Werner Reinhold Drehbuch Wolfgang Staudte, Fritz Staudte Dramaturgie Hans Robert Bortfeldt Kamera Robert Baberske Kameraassistenz: Günter Marczinkowsky Standfotos: Eduard Neufeld Bauten Erich Zander, Karl Schneider Kostüme Walter Schulze-Mittendorff Maske Alois Strasser, Willy Roloff Schnitt Johanna Rosinski Ton Erich Schmidt Musik Horst Hanns Sieber Produktionsleitung Willi Teichmann Produktionsassistenz: Heinz Berg Aufnahmeleitung Fritz Brix, William Neugebauer Dreharbeiten 1. 3. 1951 bis 22. 6. 1951: Außengelände der Studios in Potsdam-Babelsberg Darstellende Diederich Heßling: Werner Peters Regierungspräsident von Wulkow: Paul Esser Frau von Wulkow: Blandine Ebinger Vater Heßling: Erich Nadler Mutter Heßling: Gertrud Bergmann Emmi Heßling: Carola Braunbock Magda Heßling: Emmy Burg Guste Daimchen: Renate Fischer Fabrikant Göpel: Friedrich Maurer Frau Göpel: Friedel Nowack Agnes Göpel: Sabine Thalbach Mahlmann: Hannsgeorg Laubenthal Vater Buck: Eduard von Winterstein Dr. Wolfgang Buck: Raimund Schelcher

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Darstellende Dr. Heuteuffel: Paul Mederow Fabrikbesitzer Lauer: Friedrich Richter Warenhausbesitzer Neumann: Richard Landeck Amtsgerichtsrat Kühlemann: Fritz Staudte Landgerichtsrat Fritzsche: Oskar Höcker Pastor Zillich: Ernst Legal, Major Kunze: Axel Triebel Dr. Mennicke: Wolfgang Kühne Leutnant von Brietzen: Wolfgang Heise Landgerichtsdirektor: Arthur Schröder Napoleon Fischer: Friedrich Gnaß Sötbier: Ernst Wehlau Junger Arbeiter: Kurt-Otto Fritsch Junge Arbeiterin: Viola Recklies Geheimer Medizinalrat: Georg August Koch Hornung: Heinz Keuneke, Wiebel: Peter Peters Jungfrau von Orleans: Antje Ruge in weiteren Rollen: Albert Venohr, Hans Rose, Anna-Maria Besendahl, Hilma Schlüter, Steffie Spira, Käthe Scharf, Harry Riebauer, Egon Brosig, Musy Haffner, Edgar Pauli, Franz Lichtenauer, Charles-Hans Vogt, Hans Schiller, Günther Ballier, Lutz Götz, Fredy Barten, Christine Traute-Wiere, Hans Olaf Moser, Egon Vogel, Walter Strasen, Walter B. Schulz, Günther Polensen, Ludwig Sachs, Johannes Maus, Bella Waldritter, Dorothea Bracks, Elka Hedrich, Hans Sanden, Werner Kunkel, Hannjo Hasse, Horst Schönemann, Edgar Pauly, Georg Helge, Willi Wietfeldt, Friedrich Schrader Carlo Kluge, Kurt Wilde, Reginald Iwinski, Friedrich Teitge, Arthur Schilsky, Günter Polsensen, Gerd Wolfrum, Martin Rickelt

Zum Inhalt Eine gelungene Satire nach Heinrich Manns Roman über den kleinbürgerlichen Aufsteiger Diederich Heßling im wilhelminischen Deutschland. Er hat gelernt, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten. Er knüpft Beziehungen zu einflußreichen Leuten, die ihm nützen können, für seinen geschäftlichen Erfolg, unter solchen Erwägungen wählt er auch seine nicht sonderlich attraktive, aber reiche Ehefrau aus. Und er nutzt seine Beziehungen zum Regierungspräsidenten von Wulkow, um einen unliebsamen Konkurrenten auszuschalten. Sein größtes Erlebnis ist es, den Kaiser aus der Nähe gesehen zu haben. Eifrig sammelt er für ein Kaiserdenkmal in seiner Stadt. Doch die Einweihung geht in einem tosenden Gewit- ter unter.

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Das Fräulein von Scuderie

Der historische Krimi nach geradezu klassischer Novelle von E. T. A. Hoffmann läßt unsere kleine filmhistorische Einführung zur überraschenden Hommage gera- ten. An Henny Porten nämlich. Vor 120 Jahren geboren, jährt sich ihr 50. Todestag im Oktober. Wir Dramaturgie-Praktikanten aus dem germanistischen Filmseminar der Jenaer Universität hörten im Sommer 1953 in Babelsberg von Produktionschef Dr. Albert Wilkening vom bevorstehenden DEFA-Gastspiel der berühmten Diva der Stummfilm-Ära. Die eher amüsierende Nachricht schien uns kein so überwäl- tigendes Signal für den sozialistischen Aufbruch unserer jungen DDR-Kinemato- grafie. Daß da neben fragwürdiger Publikumserwartung auch die große Politik im Spiele war, blieb uns erst einmal verschlossen. Eines allerdings stimmte versöhnlich: Die westdeutsche restaurative, rein kom- merziell orientierte Unterhaltungsindustrie hatte den Star trotz des zugkräftigen Namens merkwürdigerweise in der Versenkung der holsteinischen Provinz belas- sen. So schien es wenigstens ein Akt künstlerischer Solidarität, ihr zu einer wir- kungsvollen Wiederkehr zunächst einmal in unseren Kinos zu verhelfen. Die Filmkarriere der Henny Porten war tatsächlich beispiellos. 17jährig begann sie 1907 mit ihrer Schwester Rosa in sogenannten »Tonbildern« in der Regie ihres Schauspiel-Vaters, der zuvor Opernsänger war. In der Rolle eines Schäfers spielte Henny im »Gesangsfilm« mit dem Vers »Fassen sie mich recht behutsam an, ich bin hergestellt aus Meißner Porzellan!« Und das war dann auch der Titel ihres De- büts: Meißner-Porzellan. Nach vielen kleinen Rollen wurde sie 1911 mit dem Liebesglück der Blinden als »germanische Venus« zur ersten populären deutschen Filmschauspielerin, ne- ben dem Star aus Dänemark – Asta Nielsen. Die rührselige Geschichte aus der Feder ihrer Schwester bewies sogleich ihre Stärke für ein bestimmtes Rollenfach – sie wurde eine, wie es damals hieß, »Erste Sentimentale«. Vor allem das Melo- dram wurde nun ihr Grenre. Da ging es immer wieder um Liebe, Treue, Aufop- ferung, Verzicht. Und so tönten auch bereits die Titel: Schuld und Sühne; Im Glück vergessen; Geächtet; Einer Mutter Opfer; Kämpfende Herzen; Wankender Glaube; Erloschenes Licht; Märtyrerin der Liebe. An die achtzig Titel allein bis 1921. Endlich engagiert sie eine Kapazität wie Leopold Jeßner für seinen expressio- nistischen Film Hintertreppe, und das gemeinsam mit Fritz Kortner und Wilhelm Dieterle. Der Regisseur Georg Wilhelm Pabst gibt ihr die Titelrolle in einer Komödie als Gräfin Donelli. In der Regie von Ernst Lubitsch sieht man sie an der Seite von Emil Jannings in Anna Boleyn und dank einer verblüffenden Einspiege- lungs-Tricktechnik in einer Doppelrolle als Kohlhiesels Töchter.

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1924 gründet sie mit Carl Froelich eine eigene Filmproduktion. Er war schon der Kameramann aller ihrer frühen Filme und wird nun bis 1931 ihr Regisseur für durchaus differenzierte Charakterrollen – so etwa in der Komödie Das Aben- teuer der Sibylle Brant. Die meisten der fünfzehn Titel sind heute vergessen. Un- ter Froelich liefert sie als Luise, Königin von Preußen ihren Beitrag zur populären nationalistischen Preußen-Gloriole. Danach geht Froelich auch als Produzent wieder eigene Wege. Sein politischer führt ihn schon 1933 zu den Nazis und seine Firma in enge Ufa-Bindung. Dem Regime dient er weniger mit seinen Unterhaltungsfilmen, mehr aber in der her- ausgehobenen politischen Funktion eines Präsidenten der einflußreichen Reichs- filmkammer. In den zwölf Nazijahren ist man an der weiteren Popularisierung der Porten weniger interessiert, sie wird kaum noch besetzt. Neben der Konkurrenz jüngerer Damen gibt es dafür einen politischen Grund: Sie trennt sich nicht, wie geraten und später massiv gedrängt, von ihrem jüdischen Ehegatten Wilhelm v. Kauf- mann. Er wird zusammen mit einem Freund der Porten vom Filmproduzenten Erich Mehl in Berlin und Königs Wusterhausen versteckt und so vor Deportation und drohender Ermordung bewahrt. Henny Porten verdankt Carl Froelich noch während des Krieges die selten gewordene Hauptrolle in zwei Filmen: Familie Buchholz und Neigungsehe. Nach dem Krieg bekommt sie im Westen nur noch eine einzige Chance: 1949/50 in Absender unbekannt. Möglicherweise ist es Freund Erich Mehl, der selbst die Beziehungen zur DEFA sucht und pflegt, der Henny nun ermuntert, sich mit ei- nem Filmvorschlag an die DEFA zu wenden. Dafür wählt sie auch gleich die höchste Adresse – den großen Vorsitzenden der DEFA-Kommission Sepp Schwab und Studiodirektor Hans Rodenberg, der ihr als Schauspieler der berühmten Ber- liner Piscator-Bühne der Vornazi-Zeit bekannt gewesen sein dürfte. Die erste Begegnung ist ausgerechnet in den heißen Juni-Tagen 1953 termi- niert. »Um die große alte Dame des deutschen Films unbehelligt von West- nach Ostberlin zu bringen, erwirkt die DEFA beim sowjetischen Stadtkommandanten eine Durchfahrtgenehmigung durchs Brandenburger Tor, das eigentlich gesperrt ist. Doch der Westberliner Taxifahrer stoppt, aus Angst vor den russischen Pan- zern, bereits an der Siegessäule. Die Porten muß mit ihren Koffern zu Fuß über die Sektorengrenze: »Im DEFA-Haus war schon alles versammelt, alles wartete auf mich, und mit einem großen Jubel wurde ich dann dort empfangen, und der Vorsitzende des Staatlichen Filmkomitees nahm mich in die Arme und sagte dann nur leise: ›Liebste Henny Porten, seien Sie willkommen bei uns und wir alle sa- gen Ihnen nur eines: Wir sind stolz auf Sie!‹« So hat nach einigen Buchumwegen noch im Dezember 1954 ihr DEFA-Ein- stand Premiere: Carola Lamberti – Eine vom Zirkus. In einem Interview für die Berliner Zeitung im Juli 1954 erzählt sie: »Ich habe in Babelsberg alte Bekannte wiedergetroffen, Bühnenarbeiter, Beleuchter, Aufnahmeleiter. Es war ein herz-

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liches Wiedersehen, und ich bin sehr froh, wieder arbeiten zu können. Jeder Tag, an dem ich im Atelier stehe, ist für mich immer noch ein Feiertag.« Joachim Barckhausen, Co-Autor für Das Fräulein von Scuderi, fühlt sich bei dieser Wiederbegegnung an Billy Wilders Sunset Boulevard erinnert, in der Gloria Swanson die Tragik eines gealterten, längst vergessenen Filmstars verkörpert, der man den Ruhm wie eine Droge entzogen hat. »An diesen Film mußten wir denken, als wir Henny Porten näher kennen lernten. Stets trug sie einen kleinen Koffer mit sich herum, der mit vergilbten Kritiken und alten Fotos gefüllt war, den Stationen ihres Ruhms. Tränen des Glücks konnten ihr in die Augen steigen, wenn wir auf Spaziergängen einem alten Bauern begegneten, der plötzlich wie angewurzelt stehen blieb und ausrief: ›Das ist doch die Porten!‹« Der lauthals verkündete »Neue Kurs« von Partei und Regierung vom Juni 1953 und das im Januar 1954 gegründete Ministerium für Kultur orientierten wieder verstärkt auf die Einheit Deutschlands. Es wird die große DEFA-Zeit von namhaf- ten Darstellern, die in Westberlin und Westdeutschland wohnhaft sind. Und es war offenbar eine letzte glückliche Stunde für Henny Portens Zirkus- Story. Die Dramaturgin Marieluise Steinhauer weiß es für die Entscheidungsgre- mien leicht faßlich zu begründen: »Es siegt nämlich am Schluß keine Generation, weder die Söhne, noch die Mutter, sondern es siegt die Gemeinschaftsaufgabe, die alle auseinanderstrebenden Individualitäten immer wieder zusammenhält.« Kaum früher, noch weniger aber kurze Zeit später wäre solch ein Appell an die alles ver- söhnende familiäre Eintracht ideologisch kaum akzeptiert worden. Die Ungarn- Ereignisse 1957 veranlassen den nächsten Kurswechsel, und die hoch angebundene Filmkonferenz von 1958 läutet das Ende der deutsch-deutschen Filmbemühungen nun auch von unserer Seite ein. Für Henny Portens zweites DEFA-Gastspiel 1954/55 aber zeigen die Signale im Osten noch auf Grün. Koproduzent Erich Mehl muß allein mit Rücksicht auf Bonner Behörden-Macht seine Zusammenarbeit mit der DEFA als Gemein- schaftsproduktion mit Schweden tarnen und über die Pandora-Film Stockholm abwickeln, um die Mitwirkung von Angelika Hauff und anderen West-Schauspie- lern zu ermöglichen. Das Fräulein von Scuderi und drei weitere DEFA-Kopro- duktionen Leuchtfeuer, Spielbank-Affäre und Die Schönste werden in Schweden nie gezeigt. Wie mutig Henny Porten tatsächlich war, als sie im Juni 1953 das Brandenbur- ger Tor in östlicher Richtung durchschritt, sollte sich erst nach ihrer Rückkehr vom glamourösen Come-back in geradezu existenzieller Weise bewahrheiten. Das Klima des Kalten Krieges hatte sich im Westen weiter verschärft. Schnell zer- schlug sich ihre Hoffnung auf neue Filmarbeit. Doch nicht nur das. »Ihr Ratzebur- ger Hauswirt drängt sie aus der Wohnung, ihr Mann verliert seine Arztpraxis. Für ihre Memoiren, die sie ab 1958 auf Tonband spricht, findet sich kein Verleger. Henny Porten stirbt am 15. Oktober 1960 in Berlin, nachdem ihr der Senat mit ei- nem Ehrensold über finanzielle Engpässe hinweggeholfen hat.«

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Das Fräulein von Scuderi nach der gleichnamigen Novelle von E. T. A. Hoffmann

Produktionsland DDR / Verleih: PROGRESS Film-Verleih Premierendaten 29. 7. 1955, Berlin, Babylon, Defa-Filmtheater Kastanienallee Produzenten DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg/ DDR) und A. B. Pandora Film (Stockholm) Regie Eugen York Regie-Assistenz: Rita Arendt, Willi Urbanek Drehbuch Joachim Barckhausen, Alexander Graf Stenbock-Fermor Dramaturgie Marieluise Steinhauer Kamera Eugen Klagemann Kameraassistenz: Gerhard Wandrey Optische Spezialeffekte: Ernst Kunstmann Standfotos: Eduard Neufeld Bauten Erich Zander Bauausführung: Hans Poppe Kostüme Walter Schulze-Mittendorff, Vera Mügge Maske Herbert Zensch, Gerda Behrendt, Erich Haase Schnitt Hilde Tegener Ton Gerhard Wiek Musik Walter Sieber Choreographie Jens Keith Produktionsleitung Werner Dau Produktionsassistenz: Heinz Berg Aufnahmeleitung Erwin Dräger, Erich Christian Urban, Paul Schimanski Darstellende Fräulein von Scuderi: Henny Porten Cardillac: Willy A. Kleinau, St. Croix: Angelika Hauff Madelon: Anne Vernon, Olivier: Roland Alexandre Miossens: Richard Häußler Louis XIV.: Mathieu Ahlersmeyer La Regnie: Alexander Engel Degrais: Hans-Peter Thielen, Louvois: Johannes Arpe La Martiniere: Barbro Hiort af Ornäss 1. Hofdame: Pat Svenson, 2. Hofdame: Ruth Arnim 3. Hofdame: Charlotte Brummerhoff 4. Hofdame: Karin Lüsebrink 5. Hofdame: Eva Lochmeier

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Darstellende Theaterdirektor: Alf Östlund De la Fare: Gerd Frickhöffer Ganove: Karl Block, Nanette: Käte Alving Haushofmeister: Egon Brosig Bruder Menardus: Hans-Joachim Büttner Der Mickrige: Wolf Beneckendorff Beamter: Willi Endtresse 1. Dame: Ingeborg Haverkamp 2. Dame: Hella Jansen, 3. Dame: Gisela Kugland Denise: Inge Kanzler, Zofe Suzette: Hannelore Lottis Tenor Colani: Mario Lerch, Dame: Gerda Müller Diener Miossens: Martin Rosen Clochard: Kurt Rackelmann Prostituierte: Eva Sanden-Mandel Canton: Elisabeth Süßenguth Bürger am Fenster: Paul Streckfuß Prostituierte: Ruth Scheerbarth Baptiste: Rudolf Schröder, 1. Hofherr: Axel Triebel 2. Hofherr: Georg Soboleff, 3. Hofherr: Ulrich Wenzel 4. Hofherr: Lutz Brunner, Steuerpächter: Rolf Weih Polizeiarzt: Hans Wehrl, Mutter: Maria Wendt Häftling: Heinz Keuneke, 1. Polizist: Georg Helge 2. Polizist: Heinz Kammer, Dirigent: Hermann Kirstein 3. Polizist: Erdmann Rafalsky, 4. Polizist: Kurt Rust 5. Polizist: Günter Klostermann, Wirt: Wilhelm Richter Bürgerin: Christel Fischer, Ehemann: Jean Brahn Frau am Fenster: Hilma Schlüter, Dame: Ursula Budin Kutscher: Bruno Atlas-Eising sowie: Fritz Löffler, Friedrich Teitge, Erich Richter, Heinz Appel, Siegfried Weil, Kurt Pfeiffer, Walter E. Fuß, Gerhard Einert, Edith Volkmann, Erich von Dahlen, Horst Kube, Günther Haack, Hans Schwenke, Carlo Kluge, Willi Linke, Renate Küster, Arthur Reppert, Wolfgang Erich Parge

Zum Inhalt Paris im 17. Jahrhundert. Die Stadt wird von einer furchtbaren Mordserie in Angst und Schrecken versetzt. Auf kostbaren Schmuck hat es der Mörder abgesehen, und keiner, der solchen auf nächtlicher Straße trägt, wird verschont. Der Leiter des Sondergerichtshofes verhängt eine nächtliche Ausgangssperre, damit gleichzeitig den aufsässigen Adel unter Kontrolle bringend. Das Fräulein von Scuderi, eine bei Hofe geschätzte Dichterin, bringt die Polizeischikane jedoch mit Spottversen zu Fall – und erhält aus Dankbarkeit vom Mör- der einen wertvollen Schmuck. Ihr vertraut sich der Geselle Olivier an, der den Mörder in seinem Meister entdeckt hat, dem berühmten Hofgoldschmied Cardillac. Aus besessener Liebe zu seinen Kunstschöpfungen ist er zum Mörder geworden – um die Schmuckstücke zurückzubekommen. Mit Hilfe der Scuderi kann der Fall aufgeklärt werden, doch um einen Skandal bei Hofe zu vermeiden, müssen Olivier und Madelon, die Tochter Cardillacs, die Stadt verlassen.

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Mir nach, Canaillen!

Sie erwarten zum heiteren, kurzweiligen Film ihrer Wünsche gewiß keine lang- atmige, tiefgründige Vorrede. Also belassen wir es heute bei einigen Informatio- nen zum filmbiografischen Hintergrund dieser Arbeit. Ralf Kirsten, 1930 geboren, gehört vielleicht nicht zu den bekanntesten, wohl aber zu den interessantesten Regisseuren der zweiten DEFA-Generation. Er wollte nach dem Abitur erst einmal etwas Richtiges lernen, um später Atomphysik zu studieren. Als er mit 60 Jahren arbeitslos wurde, konnte er die industriellen Zeugen seiner frühen Träume, den Forschungsreaktor Rheinsberg und das KKW Nord nur noch auf dem Abrißplan finden. Seine 16 Spielfilme immerhin haben ihn überlebt. Am 30. Mai wäre Ralf Kirsten 80 geworden. Zurück ins Jahr 1950. Der gelernte Elektro-Installateur gründete in der Energie- versorgung Leipzig-Markkleeberg die erste FDJ-Gruppe und wurde so zum Wand- zeitungsredakteur. Seine intensive Lektüre der Exil- und Gegenwartsliteratur, vor allem aber prägende Erlebnisse im Leipziger Theater änderten den Lebensplan. Noch während des nunmehr unvermeidlichen Studiums der Germanistik- und Theaterwissenschaft in Berlin und Weimar wurde er 1952 an die Filmfakultät der Akademie der Musischen Künste in Prag delegiert. Als Diplomarbeit inszenierte Kirsten 1956 in Babelsberg den Kinderfilm Bärenburger Schnurre. Doch auch seine zweite Arbeit Skimeister von morgen sicherte ihm noch keine Regie-Zukunft in der DEFA. Und so ging er zunächst zum Fernsehen. Dort bot sich ihm im Auf- baustadium von Adlershof ein vielseitiges Betätigungsfeld. Sein Ziel aber blieb der Kino-Spielfilm. 1957/58 war er sich nicht zu schade, dafür noch einmal bei älteren Meistern – Carl Balhaus und Slatan Dudow – für Ver- wirrung der Liebe zu assistieren. Das Urteil Dudows, der auch Vorsitzender des Künstlerischen Rates war, stellte die Weichen für eine eben vakante Co- Regie. Mit der berühmten polnischen Kollegin Wanda Jakubowska inszenierte Kir- sten 1960 die Koproduktion Begegnung im Zwielicht über das Schicksal einer polni- schen Fremdarbeiterin. Ihr Wiedersehen mit alten deutschen Bekannten konfrontiert sie mit der politischen Restauration und Wiederaufrüstung in der Bundesrepublik. Die 60er und 70er Jahre wurden für Kirsten eine Zeit beispielloser kreativer Kontinuität. Es entstanden zwölf Kino- und drei Fernsehfilme, zwei satirische Kurzfilme und ein Fernsehspiel. Kirsten nutzte dafür die günstigen Arbeitsbedingungen der DEFA-Werkstatt mit ihrem täglichen Beieinander aller künstlerischen Sparten. Hier begegneten sich über die aktuelle Produktion hinaus, sozusagen mindestens täglich in der Kantine, fest angestellte Dramaturgen, Szenen- und Kostümbildner, Kameramän- ner und Schauspieler, auch Szenaristen. Das gab Gelegenheit zum schnellen Aus- tausch über Pläne und Projekte.

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Seine Festanstellung garantierte vor allem auch die wiederholte Zusammenar- beit im Künstlerstab. Es entstanden stilprägende Partnerschaften vor allem von Regisseuren und Kameramännern, folglich auch mit Kostüm- und Szenenbild- nern. Ähnlich stabile produktive Stabbildung ist unter marktwirtschaftlichen Pro- duktionsbedingungen kaum zu finden. Das ist vor allem der ausschließlich freibe- ruflichen Tätigkeit aller künstlerischen und künstlerisch-technischen Filmleute geschuldet. So konnte Ralf Kirsten seine nächsten drei Filme mit Kameramann Hans Hein- rich realisieren, insgesamt zehn entstanden in engster Zusammenarbeit mit dem Szenenbildner Hans Poppe, gerade auch die baulich besonders aufwendigen hi- storischen Sujets mit großem dekorativem Ausstattungsaufwand, wie wir auch heute sehen können. Kirsten ließ sich nie auf ein Thema oder ein Genrefach festlegen und wollte nach dem eher glücklosen Kinderfilm-Einstand lieber mit Schauspielern als mit Laien Filme für das erwachsene Publikum drehen. Seinem Loblied auf die Trüm- merfrauen der Nachkriegszeit, Steinzeitballade, aber folgte das ersehnte große Pu- blikum nicht. Nach einem Roman von Ludwig Turek war mit dem Lyriker Heinz Kahlau als Mitautor ein an Brecht erinnerndes, im gängigen Kino unbekanntes Formexperiment entstanden, das nicht einmal von der Kritik freundlich aufgenom- men wurde. Ein teurer, aber vielleicht notwendiger Irrtum, der immerhin bewies, daß sich dieser junge Regisseur nicht auf ausgetretenen Pfaden bewegen wollte. Zunächst von der Leitung und manchem Kollegen skeptisch beäugt, begann danach eine Erfolgsgeschichte. Mit den drei nun aufeinander folgenden Filmen Auf der Sonnenseite, Beschreibung eines Sommers und Mir nach, Canaillen! wurde unter seiner Regie Manfred Krug zum DEFA-Star. Das war ein später Be- ginn für eine beispiellose DDR-Karriere. Vergeblich hatte die Berliner Schau- spielschule versucht, den gelernten Stahlschmelzer mit der tiefen Kneipennarbe auf der Stirn zu disziplinieren. Er wurde Eleve im Berliner Ensemble. So bestand er die Bühnenreifeprüfung und spielte eine Rolle in Bechers Winterschlacht. Sei- nen größten Bühnenerfolg hatte er 1970 und danach über vier Jahre hinweg an der Komischen Oper in der Rolle des Sporting Life in Porgy und Bess, dem Musical von George Gershwin. Als Chanson- und Jazz-Sänger hatte er schon vorher sein eigenes Publikum ge- funden mit mehreren Langspielplatten und auf Tourneen in der DDR, in Polen und der CˇSSR. Daneben sah man den freien Schauspieler in vielen kleinen Rollen in DEFA- Filmen und Fernsehproduktionen, bevor ihm Frank Beyer 1959 einen tragenden Part anvertraute – im Spanien-Epos Fünf Patronenhülsen. So war Krug bereits in zwölf DEFA-Filmen präsent, als die Autoren Heinz Kahlau und Gisela Steineckert mit Ralf Kirsten auf die Idee kamen, diesem Multi- talent eine Hauptrolle als singendem Schauspieler und schauspielendem Sänger auf den Leib zu schreiben. Sie griffen dafür auf originelle Begebenheiten aus

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Krugs Biographie zurück, und die Inszenierung nutzte seine unverwechselbaren stimmlichen, mimischen und gestischen Eigenheiten für eine der schönsten Ge- genwartskomödien der DEFA: Auf der Sonnenseite. Die Endfertigung fiel in die Zeit des Mauerbaus. Gemeinsam mit dem Autor Horst Bastian entwarf Krug spornstreichs eine echt zeitgenössische Hauptrolle für sich selbst. Die eines Kampfgruppenmannes mit Dienst an der noch wenig befestigten Mauer. Der ver- liebt sich ausgerechnet in eine Ex-Grenzgängerin mit dubioser westberliner Bar- Vergangenheit. Ihrem erpresserischen westberliner Zuhälter verpaßt der schlag- fertige Genosse einen Kinnhaken. Und das war dann auch der Titel des eher burschikosen Berlin-Films in der Regie von Heinz Thiel. Kirsten aber adaptierte in dieser Zeit mit Karl-Heinz Jakobs dessen Roman- Bestseller Beschreibung eines Sommers. Damit machte er Manfred Krug und Christel Bodenstein im erfolgreichsten Gegenwartsfilm des Jahrzehnts zu den Pu- blikumslieblingen der DEFA überhaupt. Kirsten konnte an diesen Erfolg sogleich anknüpfen. Da gab es ein Szenarium von Ulrich Plenzdorf und Joachim Kupsch nach dessen heiterem Roman Eine Sommerabenddreistigkeit. Gemeinsam mit Manfred Krug schrieb er das Dreh- buch. Nach einer zügigen Produktion des aufwändigen Projekts startete der Film im Juli 1964 auf der Freilichtbühne an der Regattestrecke in Berlin-Grünau seinen massenwirksamen Kino-Lauf unter dem heldengemäßen und darstellergerechten Titel Mir nach, Canaillen!

Mir nach, Canaillen! nach dem Roman »Eine Sommerabendreistigkeit« von Joachim Kupsch

Produktionsland DDR Premierendaten Uraufführung: 25. 7.1964, Berlin, Freilichtbühne Regattastrecke Grünau Produzenten DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Ralf Kirsten Regie-Assistenz: Roland Oehme, Bärbel Tzscharnke Szenarium Ulrich Plenzdorf, Joachim Kupsch Dramaturgie Werner Beck Kamera Hans Heinrich Kameraassistenz: Dieter Jaeger, Horst Blümel Defa-Fotograf: Horst Blümel

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Bauten Hans Poppe, Jochen Keller Bauausführung: Hans Poppe Kostüme Ingeborg Wilfert Maske Günter Hermstein, Ursula Funk, Inge Merten Schnitt Christel Röhl Ton Horst Mathuschek Musik André Asriel Produktionsleitung Werner Liebscher Produktionsassistenz: Heinz Berg Aufnahmeleitung Otto Ziesenitz, Dieter Krüger Darstellende Alexander: Manfred Krug Ulrike: Monika Woytowicz August der Starke: Erik S. Klein Leutnant Lübbenau: Fred Düren Baronin Lübbenau: Carola Braunbock Gerichtsherr: Norbert Christian Denhoff: Marion Van de Kamp Kronenberg: Harald Halgardt Freiin von Lübbenau: Helga Göring Wäscherin: Marianne Wünscher Finanzminister: Helmut Schreiber Sekretarius: Walter Lendrich Sekretär: Fritz Decho Pape: Helmut Bruchhausen Notarius: Heinz Scholz Korporal: Horst Papke Mätresse: Jutta Wachowiak Fischer: Friedrich Links Soldat in Pulverkammer: Hans Hardt-Hardtloff 1. Bauer: Otto Erich Edenharter 2. Bauer: Gerhard Vogt Kutscher: Axel Triebel 1. Überlandkutscher: Willi Neuenhagen 2. Überlandkutscher: Joachim Bober Gerichtsbüttel: Peter Dommisch Page: Edwin Marian Diener: Friedrich Teitge Bauernmädchen: Lilo Grahn sowie: Hans-Eberhard Gäbel, Klaus-Jürgen Tews, Hartmuth Bier, Mario Lerch, Bernd Bartoczewski, Rolf Naumann, Hans Krause, Hans Ulrich, Remo Borst, Karl-Heinz Labutsch, Lothar Gunnel Horst Franzelius, Helmut Probst, Ute Gerrasch, Heidi Lehmann, Franziska Fels, Harald Engelmann, Hans-Dieter Scheibel, Hans-Werner Schmidt,

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Darstellende Jürgen Schneider, Roland Giertz, Harry Peukert, Christel Braubach, Irmgard Thieme, Irene Zeise, Siegfried Wende, Sigrid Schnapha, Anita Klier, Jutta Gorks, Manfred Schnelle, Hans-Joachim Theiß, Frank Bey, Günter Guschke, Inge Holtfreter, Karin Münch, Dieter Kraatz, Dieter Schlegel, Harald Wendthe, Ingrid Buckram, Roland Gawlik, Siegfried Götz, Monika Klug, Jürgen Kowalczyk, Monika Manzeit

Zum Inhalt Preußen 1730. Der Leutnant von Lübbenau macht sich auf ins Hannoversche, um Rekruten für seinen König zu pressen. Der Hirt Alexander scheint ihm geeignet, doch der setzt den Leutnant fest. – Dank einer Weiberlist kann er sich vor dem Galgen retten: Er übernimmt die Vaterschaft für Alexander. Dieser reist sofort nach Preußen, um sein »Erbe« in Augen- schein zu nehmen, verliebt sich in seine »Schwester« Ulrike, muß aber dem herbeieilenden Leutnant entfliehen. So kommt er ins Sächsische, an den Hof Augusts des Starken, wo er die Gunst des Königs durch Aufdeckung eines Betruges des Finanzministers erringt. Ulrike wurde indes von ihrem Vater wegen ihrer schändlichen Affäre mit Alexander aus Lübbenau verbannt – an Augusts Hof. Die beiden finden wieder zusammen, doch der König erhebt Anspruch auf Ulrike – und seine Freundin, Gräfin Denhoff, auf Alexander. Nach einem kühnen Gefecht und einer abenteuerlichen Flucht gelangen Alexander und Ulrike schließ- lich ins Hannoversche, wo sie endlich Zeit füreinander finden.

Chronik eines Mordes

Dieser Film macht Sie erstmals mit einem schon zu DDR-Zeiten im Grunde un- terschätzten DEFA-Künstler bekannt, der sich selber kaum als einen solchen be- zeichnet hätte. Eher hätte er sich einen Filmfachmann genannt. Der Regisseur von zwölf und Kameramann von 20 Kinofilmen wurde 1929 geboren. Er lernte das Metier, wie es so schön heißt, von der Pike auf. Diese ungewöhnliche DEFA-Bio- grafie führt zunächst in die letzten Kriegsjahre zurück. Seine erste Lehrstelle fand der Schulabgänger in der kleinen Kopieranstalt von Robert Maetzig, deem Vater seines künftigen Regie-Kollegen. Das Kriegsende in Berlin scheint zunächst auch alle Filmträume zu beenden. Hasler packt Kisten für den Versand in Richtung Osten. Es sind die noch nicht westwärts ausgelagerten Überreste von Kopierwerkstechnik der Firmen Geyer,

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Siewert und Afifa. Allein die Babelsberger Bestände bleiben von den Reparati- onsforderungen weitgehend verschont. Das gesamte Gelände dort ist bereits von der sowjetischen Besatzungsmacht übernommen, bevor die Immobilie mitsamt verbliebenem Inventar in den Besitz der Sowjetisch-deutschen Aktiengesellschaft LINSA/DEFA übergeht. Im DEFA-Musterkopierwerk beendet Hasler seine Lehre als Kopierer, arbeitet als Vorführer und bald schon spezialisiert als Lichtbestimmer. Magische Anzie- hungskraft aber haben die Filmaufnahmen in den nahen Ateliers. Und so geht bald sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung. Er wird Assistent bei Ufa-erfahrenen Mei- stern – Robert Baberske, Friedel Behn-Grund und Bruno Mondi. Kameraassistent Hasler ist gerade mal zweiundzwanzig Jahre alt, als sein Chef Nationalpreisträger Karl Plintzner bald nach Beginn der Dreharbeiten mit Martin Hellberg erkrankt. Regisseur und Studioleitung vertrauen der soliden Ausbildung und dem Talent des jungen Mannes und übertragen ihm die volle Verantwortung für die Bildgestaltung des politischen Prestige-Projekts Das verurteilte Dorf. Hasler, nun hinter der Kamera, bestritt allein 80 Prozent der Aufnahmen. Für das hochaktuelle Werk gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik erhielt Hellberg 1952 den Stalin-Friedenspreis, auch den Nationalpreis 1. Klasse und mit ihm der rechtzeitig genesene Kameramann Karl Plintzner. Auch nach seiner nächsten bildprägenden Arbeit für Die Unbesiegbaren in der Regie des allein spielleitenden Artur Pohl geht der junge Mann bei der Preisver- gabe leer aus. Die Geschichte einer Arbeiterfamilie in der Zeit des Sozialistenge- setzes imponierte auch durch prägnante Porträts der sozialdemokratischen Führer August Bebel und Wilhelm Liebknecht, gespielt von Karl Paryla und Erwin Ge- schonneck. Wir Erststudenten eines Filmseminars der Germanistik in wagten uns an eine kollektive Analyse des hoch gelobten Werkes. Sie wurde alsbald von der ein- zigen Fachzeitschrift Deutsche Filmkunst veröffentlicht. Die Rezension begann mit dem bescheidenen Vor-Satz, »den Filmschaffenden besser als in der Vergan- genheit bei der Überwindung von Schwierigkeiten zu helfen, die sie bei der Ent- wicklung ihrer künstlerischen Schaffensmethode vom kritischen zum sozialisti- schen Realismus hemmen ...« Mehr als die soziologisch-historischen Einwände mögen den klugen Auto- didakten und theorie-abstinenten Praktiker Hasler manche schulmeisterlichen An- merkungen zur Bildarbeit gefuchst haben. Er konnte nicht ahnen, daß gerade sie von jenem Jüngling stammten, der sich als Praktikant bald darauf hinter seine Ka- mera drängen wollte. Hasler drehte danach zwei weitere Filme mit Artur Pohl – Kein Hüsung nach Fritz Reuter und 1954 die nächste Literaturverfilmung nach Theodor Storm Pole Poppenspäler, die zum ersten Mal in Farbe. Bei den sommerlichen Dreharbeiten durften also zwei Studenten des Jenaer Filmseminars wenigstens als stumme, möglichst unauffällige Beobachter in den

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Kulissen stehen. Die ungebetenen Zaungäste wurden nicht nur vom älteren, arri- vierten Westberliner Bildungsbürger Artur Pohl gezielt geschnitten. Der war aber selbst im Umgang mit seinen Mitarbeitern äußerst wortkarg, mit rascher Neigung zu Hohn und Spott. Nur die Schauspieler und sein Kameramann wurden von ihm wie Kollegen behandelt, auch dies freilich in bürgerlich-reserviertem Stil. Auch der junge Kameramann Hasler, im Gegensatz zum gepflegten Outfit der anderen Stabspitzen burschikos gekleidet, bei Außenaufnahmen gar in kurzen Hosen, wür- digte die Studenten keines Blickes. In der nun folgenden Zusammenarbeit mit den älteren Regie-Routiniers, mit Richard Groschopp, Hans Müller, ein viertes Mal mit Pohl, entwickelte sich Has- ler immer mehr zum Mitgestalter, zum stilprägenden Kameramann. Er war nicht der Schwenker, der nur das Licht stellt für die wechselnden Einstellungen, die der Regisseur vorschlägt. Nach sieben Filmen, drei davon in Farbe, reizte es den lern- fähigen, scharfen Beobachter der Szene, nun auch die Spielleitung selbst in die Hand zu nehmen. 1956/57 konnte er eine Regie-Vakanz nutzen und inszenierte Gejagt bis zum Morgen. Nach einer Erzählung von Ludwig Turek ging es noch einmal um das Schicksal einer Arbeiterfamilie um die Jahrhundertwende. Die Leitung akzeptierte die damals ungewöhnliche Personalunion. Sie ersparte dem großen Aufnahmeteam viel Zeit, denn die notwendigen Abstimmungen zwi- schen Regisseur und Kameramann oder gar kontroverse Debatten gefährdeten nicht selten das streng geplante Tagespensum und so das Budget. Nach dem akzeptablen Regiedebüt bat der inzwischen berühmte Kurt Maetzig Joachim Hasler wieder hinter die Kamera. Es ging um ein neues großes Auftrags- werk im Breitwand- und Normalformat zum 40. Jahrestag der Novemberrevolu- tion, Das Lied der Matrosen und das in größter Terminnot. Da blieb nur ein un- konventioneller Ausweg. Zum ersten und letzten Mal in der DEFA-Geschichte wurde ein Film von zwei parallel arbeitenden kompletten Drehstäben realisiert. Kurt Maetzig arbeitete mit Hasler und sein langjähriger Assistent Günter Reisch mit Kameramann Otto Merz an getrennten Schauplätzen. Nun waren die von den alten Filmhasen oft skeptisch beäugten Studenten der jungen Babelsberger Film- hochschule in allen Sparten als Assistenten und Springer gefragt, zumal in diesen stark belasteten Sommermonaten. Als Aufnahmeleiter-Ersatz am Drehort trat ich einmal in eines der längst auf- gestellten Fettnäpfchen. Der Nachmittag war fortgeschritten, das Planpensum im DEFA-Außengelände noch längst nicht geschafft. Kameramann Hasler wartete, seelenruhig wie immer, auf das richtige Licht für die nächste Einstellung, als die- ser junge Spund vom Nachbar-Set kam und den Pausenfrieden mit einer nasewei- sen, vielleicht ein wenig ironisch anmutenden Bemerkung störte. Kameramann Otto Merz sei mit dem Himmel gleich um die Ecke durchaus zufrieden und warte nur darauf, daß man ihm endlich einen Darsteller schicke, der hier vergeblich auf besseres Wetter zu warten habe.

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Der leise Satz war kaum gesprochen und nur von wenigen um die Kamera herum vernommen. Da brach über dem vorlauten Neuling aus nahezu heiterem Himmel ein Donnerwetter herein, wie er es noch nie erlebt hatte, schon gar nicht am eigenen Leibe. Der stets gelassene und eher stille Hasler, nur vier Jahre älter als sein vermeintlicher Kritiker, verbat sich mit nie gehörter Stentor-Stimme vor und für vierzig Kollegen am Schauplatz diese »unverschämte und inkompetente Anpöbelei« von einem Menschen, der »von Filmarbeit keine, aber auch nicht die geringste Ahnung« habe. Der möge doch erst einmal die Grundbegriffe des Hand- werks lernen, die man an einer Hochschule offensichtlich nicht studieren könne – was zum Beispiel ein Lichtanschluß sei. Der überraschte Delinquent ließ die Strafpredigt geduldig über sich ergehen und stammelte erschrocken eine Entschuldigung. Die wurde auf der Stelle gnädig und ohne weitere Belehrung angenommen. Trotz der kleinen Verzögerung an diesem Tage stand wenigstens eine Premie- renkopie für den Partei- und Staatsakt vor 5 000 Gästen in der Werner-Seelenbin- der-Halle in Berlin-Weißensee pünktlich am 9. November 1958 zur Verfügung. Das Epos endet nicht mit der historischen Niederlage, sondern mit einem Sieg – dem Gründungsparteitag der KPD. Das doppelt große Schöpferkollektiv teilte sich in den erwarteten den National- preis I. Klasse, und nun war endlich auch Joachim Hasler aller Ehren wert. Bereits bei seiner nächsten Zusammenarbeit mit Kurt Maetzig war der Prakti- kant vom Vorjahr, nun als Produktionsabsolvent in der Aufnahmeleitung wieder mit von der Partie. Doch Joachim Hasler war nicht nachtragend. Er hatte wohl den Vorfall im Gegensatz zu seinem Opfer schnell vergessen. Die Zusammenar- beit beim ersten utopischen DEFA-Film Der schweigende Stern gestaltete sich sehr kollegial. Und so kam es zur ungewöhnlichen Annäherung zwischen Meister und Schüler. Während der längeren Außenaufnahmen auf der polnischen Seite der Hohen Tatra wurde der junge Mann für Hasler »Bruder Dieter«, und der durfte ihn »Bruder Jo« nennen und duzen. Das im DEFA-Studio weit verbreitete Du, teils durch die gewerkschaftliche Anrede Kollege begründet oder im Kreis der Genossen ohnehin üblich, wollte in Haslers professionellen und persönlichen Gestus nicht so recht passen. So ersann er also wenigstens fürs abendliche Beisammensein am Tisch des engeren Stabes in der anheimelnden Pension in Zakopane die liebevoll-ironische Gemeinsamkeit einer »Bruderschaft«. Die Beschwörung eines Mönchsordens spielte wohl auch auf seine und seiner »Brüder« Enthaltsamkeit an, die im übrigen Drehstab nicht immer an der »Nachtordnung« war. 1960 inszenierte Hasler eine kleine Gegenwartsstory – Wo der Zug nicht lange hält. Die spielte also in der Provinz und war wohl auch so beschaffen. Schon der Titel war eine kleine ironische Absage an das vielfach geforderte »epochale Ge- genwartsthema«: »das Heldentum der Arbeit auf den Bauplätzen des Sozialis- mus«.

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Nur für Kurt Maetzig übernahm er noch einmal die Kamera: beim Gegenwarts- film Septemberliebe. Doch selbst die fast freundschaftliche, gänzlich konfliktfreie mehrfache Zusammenarbeit mit ihm war für Hasler unbefriedigend. Kein anderer Regisseur, erinnert sich Hasler, kam »so gut vorbereitet und mit großer Disziplin« zum Drehort. »Er hatte schon zu Hause die Kamerafahrt zurechtgelegt ... Bei Maetzig war alles Schreibtisch, bei Staudte kam das morgens aus dem Hut.« Fortan arbeitete Hasler nur noch als Regie-Kameramann. Er wußte das Spiel seiner Darsteller ganz aus der Perspektive und wechselnden Optik der Kamera zu inszenieren. Junge Kameramänner oder qualifizierte Erste Assistenten übernah- men für ihn das rein Technische: die pure Kameraführung, die Fahrt auf dem Ka- merawagen oder per Zoom, den ruhigen oder den Riß-Schwenk, die Kontrolle des Bildausschnitts und der Tiefenschärfe der verschiedenen Brennweiten, die er Chef vorher bestimmt hatte. Anfang der 60er Jahre wagte sich Hasler, einer der wenigen parteilosen DEFA- Regisseure, in die politische Arena. Drei Filme hintereinander gehören in die dra- maturgische Kategorie der antiimperialistischen Thematik. Der Tod hat ein Gesicht heißt 1961 der Polit-Krimi um die eher zufällige Ent- deckung eines Giftes, dessen sich die Rüstungsindustrie gegen den Willen des Forschers sogleich zu bemächtigen sucht. Der Film Nebel konfrontiert einen freundlichen Bundesbürger noch einmal mit seinen Kriegsverbrechen als Kommandant eines U-Bootes, der vor der englischen Küste wissentlich ein Flüchtlingsschiff mit vielen schon gerettet geglaubten Kin- dern versenkt. Chronik eines Mordes konnte sich auf die Autorität eines links-bürgerlichen Li- teraten berufen, auf die literarische Kompetenz eines in der Bundesrepublik lebenden und befehdeten Autors, auf Leonhard Franks. Mit Angel Wagenstein ge- wann Dramaturg Walter Janka einen erfahrenen Szenaristen für seine erste Litera- turverfilmung. Vor seiner Verhaftung 1957 hatte er als Chef des Aufbau Verlags das Werk Leonhard Franks, so auch den Roman Die Jünger Jesu, für ein großes DDR-Publikum erschlossen. Dank seiner freundschaftlichen Beziehungen zum Autor war der bereit, der DEFA mitten im Kalten Krieg gerade dieses heikel-ge- sellschaftskritische Sujet anzuvertrauen und ihre sparsamen finanziellen Bedin- gungen zu akzeptieren. Mitte der 60er Jahre entdeckte Jo Hasler für sich ein gänzlich anderes, von der DEFA mit wechselndem Erfolg bearbeitetes Genre: Lustspiel und Komödie. Be- ginnend mit Reise ins Ehebett, wurde er nun zum Erfolgsregisseur. Er kreierte das Film-Musical und dies ausgerechnet im DDR-Gegenwartsambiente. Mit Heißer Sommer und Nicht schummeln, Liebling eroberte er die Freilichtbühnen und machte Chris Doerk und Frank Schöbel zu Filmstars und Publikumslieblingen. Lange bevor Heißer Sommer nach der Wende noch einmal zum Kultfilm wurde, geriet er Anfang der 70er Jahre ins kleine Programm einer DDR-Filmwo- che in Damaskus. Aus den bekannten Valuta-Gründen stellten Joachim Hasler und

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Dieter Wolf allein die DEFA-Delegation dar. Hasler erwies sich als unerwartet un- terhaltsamer, anekdotenreicher Reisegefährte. Die Offiziellen waren seinem Vor- schlag nicht gefolgt, seinen Film Heißer Sommer als publikumssicheren Eröff- nungsbeitrag zu wählen. Aus kulturpolitischen und repräsentativen Gründen fiel die Wahl auf den Goya von Konrad Wolf, dem ich die Ersatzdelegierung ver- dankte. Und so kam es wie es kommen mußte. Über dem Portal des Urauffüh- rungstheaters hatte der hauseigene Werbemaler farbig und über mehrere Meter hinweg den Film angekündigt und dafür die Die nackte Maja Goyas ausgebreitet. Das Motiv aus dem Gemälde-Oeuvre und dem Film schien ihm einladender als die schamhaft verhüllte bekleidete Version. Doch die Sittenstrenge des revolu- tionären islamischen Staates erlaubte so viel Freizügigkeit nun auch wieder nicht. Und so hatte der Künstler seinen spanischen Kollegen ein wenig korrigiert und der malerisch hingestreckten adligen Alba einen knallroten Bikini über Venushü- gel und Brüste gezaubert. Doch daran lag es sicher nicht, daß die Eröffnung zur schwach besuchten, höflich applaudierten Protokollveranstaltung festlich geklei- deter Amtsträger geriet. Dafür durfte sich Hasler mit seinem Musical-Hit eines vollen Hauses und eines frenetisch begeisterten jungen Publikums erfreuen. So nahe wie in Damaskus waren wir beide uns später leider nicht noch einmal. Jo Hasler kommentierte das treuhändlerische Ende der DEFA sarkastisch. Sie war seine künstlerische Heimat. Er überlebte sie nur wenige Jahre.

Chronik eines Mordes nach dem Roman »Die Jünger Jesu« von Leonhard Frank

Produktionsland DDR Premierendaten Uraufführung: 25. Februar 1965, Leipzig, Capitol Produzent DEFA-Studio für Spielfilme, Potsdam-Babelsberg, Künstlerische Arbeitsgruppe »Heinrich Greif« Verleih PROGRESS Film-Verleih Regie Joachim Hasler Drehbuch Angel Wagenstein Dramaturgie Walter Janka Kamera Joachim Hasler Standfotos: Herbert Kroiss Bauten Alfred Tolle

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Kostüme Luise Schmidt Schnitt Hilde Tegener Musik Gerd Natschinski Produktionsleitung Dieter Dormeier Darstellende Ruth Bodenheim: Angelica Domröse Dr. Martin: Ulrich Thein, Dr. Hoffmann: Jirˇí Vrstála Dr. Schäure: Bohumil Smída Dr. Rotholz: Siegfried Weiß Zwischenzahl: Martin Flörchinger Lion: Willi Schwabe, Direktor: Hans Klering Esther: Antje Ruge, David: Arno Wyzniewsk Johanna: Monika Lennartz, Steve: Stefan Lisewski Kapitän Liban: Helmut Schreiber Kleiner David: Norbert Petznick Wärterin: Gisela Graupner, Sekretärin: Rita Richter Sekretär: Helmut Bruchhausen Redner: Werner Schulz-Wittan Polizeichef: Horst Quednow Richter: Bruno Müller, Hoher Beamter: Günther Müller Solider Geschäftsmann: Fredy Barten Schöne Frau: Anna-Maria Horn Baronin: Katharina Recknitz Organist: Alois Herrmann, Pfarrer: Erich Böhme Ältere Frau: Gertrud Brendler Polin: Elisabeth Hermanns Amerikanischer Posten: Martin Richter Betrunkene Frau: Agnes Kraus Unterrock-Mädchen: Janina Rzasa-Adynowska Schlafrock-Mädchen: Maria Popwassilewa-Nitzsche Mixer: Wolfgang Joachim Justizbeamter: Friedrich Teitge Tänzerin: Elke Rieckhoff

Zum Inhalt Mitte der 1950er Jahre wird in einer westdeutschen Stadt der Bürgermeister Zwischenzahl am Tag seiner Amtseinführung erschossen. Täterin ist die Jüdin Ruth Bodenheim, die sich mit dem Mord am Tod ihrer Eltern rächen will: Als SA-Mann war Zwischenzahl offensicht- lich an der Deportation ihrer Eltern ins KZ während des Krieges beteiligt. Ruth hat ihre schrecklichen Erlebnisse und den Tod ihrer Eltern nicht verkraftet und will den Bürgern der Kleinstadt die Augen öffnen. Auch ihr liebevoller Ehemann Dr. Martin kann Ruths Gerechtigkeitssinn und ihr Bohren in der Vergangenheit nicht abwenden. Sie will keine Ab- findung, sondern einen offenen Prozeß. Beeindruckt von Ruths Beharrlichkeit, den schwie- rigen Fall Zwischenzahl an die Öffentlichkeit zu bringen, beschließt der Staatsanwalt Dr. Hoffmann ihre Verteidigung vor Gericht zu übernehmen.

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Der Regisseur Gerhard Klein

DEFA-Chefdramaturg Klaus Wischnewski, 1966 nach dem 11. Plenum fristlos entlassen, hat in der Rückschau Leichensache Zernick in die unmittelbare Nach- folge von Affäre Blum gestellt, den wir hier vor kurzem noch einmal gesehen haben. Auch da ging es ja nicht so sehr um die übliche Krimi-Spannung, wer denn der Mörder sei. Der Blick anspruchsvoller DEFA-Autoren und Regisseure rich- tete sich zu allen Zeiten vielmehr auf die sozialhistorischen Bedingungen und das politische Umfeld der Kriminalität, zielte auf die Besonderheiten ihrer Aufklärung und Verfolgung unter wechselnden gesellschaftlichen Verhältnissen. Leichensache Zernick geht auf einen authentischen Berliner Fall zurück. Das Studio hatte den Zugang zum Material der Dramaturgin Anne Pfeuffer zu danken, die mit einem Kriminalisten verheiratet war. In der Künstlerischen Arbeitsgruppe Berlin war zunächst Regisseur Gerhard Klein mit dem Stoff befaßt. Und so hat Leichensache Zernick eine besondere, man kann wohl sagen, tragische Werkge- schichte. Gerhard Klein wollte sich nach dem Verbot seines vierten Berlin-Films Berlin um die Ecke 1966 nicht in die unverbindliche Unterhaltung oder ins pure Action- Genre zurückziehen. Das hätte seiner ganzen Entwicklung und politischen Hal- tung zutiefst widersprochen. Der Arbeitersohn, 1920 geboren, war Mitglied von Jungspartakus, arbeitete ille- gal für die KPD, wurde zweimal verhaftet. Nach 1945 geriet er so erst einmal in den Hauptjugendausschuß der KPD und ins Jugendamt des Berliner Magistrats. Doch das existenzielle Interesse des Autodidakten galt dem Film. Und so kam er 1946 zum DEFA-Dokumentarfilm, 1952 dann zum Spielfilmstudio. Den Ur-Berliner interessierte das Material sogleich wegen seiner Ansiedlung in einer historisch einmaligen Situation seiner Heimatstadt. Der Kriminalfall ent- wickelte sich vor dem Hintergrund der endgültigen Spaltung durch die Einführung der Serparatwährung in den drei Westzonen und das Ende gemeinsa- mer politischer Institutionen – so auch der Kriminalpolizei. Gerade diesen Um- stand nutzte der Gewalttäter, der seine Opfer vornehmlich im Osten suchte und im Westen abtauchen konnte. Gerhard Klein entwarf unter Mitarbeit von Joachim Plötner und Wolfgang Kohlhaase ein breites Gesellschaftspanorama der gespaltenen Stadt mit ihrer exorbitanten Atmosphäre des eskalierenden Kalten Krieges. Mehr als die Akten über den mehrfachen Frauenmörder inspirierten ihn die lebendigen Erzählungen dreier seinerzeit mit dem Fall befaßter Kriminalkommissare. In einem längeren Arbeitsprozeß, von den Attacken einer heimtückischen Er- krankung mehrfach unterbrochen, entstand das Drehbuch für einen Film doppel- ter Länge. Das war aber nicht allein der Materialfülle geschuldet.

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In der Zeit des ersten, fernsehbedingten Zuschauerrückgangs erhofften sich manche Filmschaffende nicht nur vom Breitwand- und 70-mm-Format mit Drei- oder Mehrkanalton wieder größere Publikumswirksamkeit. Von den Erzählmöglichkeiten im großen Filmroman versprach man sich an- dere, stärkere Kino-Attraktivität. So entstanden Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre gleich mehrere Filme, die das übliche Eineinhalb-Stunden-Limit sprengten: Konrad Wolfs Goya, der Film über die Widerstandsgruppe Rote Kapelle und Die gefrorenen Blitze über den internationalen Widerstand gegen die faschistische Kriegsraketenentwicklung und ihren Einsatz. Während der Bucharbeit am Krimi drehte Gerhard Klein seinen Beitrag zum Episodenfilm Geschichten jener Nacht über den 13. August 1961: Der kleine und große Willi. Bereits da war er nach schwerer Operation mehr angeschlagen als ge- heilt. Doch Klein wollte nicht aufgeben. Ich hatte ihn in der Produktionsvorberei- tung von Berlin Ecke Schönhauser und beim Episodenfilm bereits als unermüdli- chen Arbeiter kennengelernt. Sein Kameramann Peter Krause beschreibt ihn als »klein, drahtig, kernig, witzig. Immer mit der großen Klappe vorneweg, autoritär, energiegeladen, aber immer diszipliniert ..., der kaum Ruhepausen kannte, beses- sen von der Aufgabe, den Menschen etwas für ihr Leben mitzuteilen ..., in der Lage, auf uns, seine engsten Mitarbeiter, etwas von seiner Kraft, seinem Mut zu 1 übertragen. Ähnliches habe ich nach ihm nie wieder erlebt.« So weit also sein Kameramann. Als das Drehbuch endlich fertig, die Produktion beschlossen war, mußte der Drehbeginn mehrfach verschoben werden. Die Vielzahl historischer Schauplätze überforderte die Studio-Kapazität, weniger an Atelierfläche als im Dekorations- bau. Da kam der DEFA ein Hilfeersuchen aus dem Prager Barrandov-Studio ent- gegen, das man schon aus politischer und kollegialer Solidarität nicht ausschlagen wollte. Dort standen die Ateliers leer und viele Mitarbeiter für Dienstleistungen zur Verfügung, denn nach dem 21. August 1968 lag die bis dahin prosperierende tschechisch-slovakische Filmproduktion des inzwischen nur noch sagenhaften Prager Frühlings völlig am Boden. Das kannten wir ja nur allzu gut aus den Jah- ren 1966/67, als nach dem 11. Plenum kurzfristig der Produktionsplan und fast der gesamte Buchvorlauf in den Orkus gingen. Gerhard Klein, von einer jüngsten Nachoperation noch nicht einmal voll gene- sen, wollte keine weitere Verzögerung des Drehbeginns. So kam es also zum Be- schluß der DEFA-Leitung, einen Teil der besonders aufwendigen Dekorationen auf dem Barrandov-Hügel über der Moldau bauen zu lassen und den großen Auf- nahmestab samt Schnitt für Wochen in Prag zu stationieren. Gerhard Klein hatte erstklassige Theater- und Filmdarsteller für sein großes Ensemble gewonnen: Wolfgang Kieling, Norbert Christian, Kurt Böwe, Günter Naumann, Wolfgang Winkler, Uwe Kockisch, Anne-Katrin Bürger, Helga Göring, 1 Hannes Schmidt, Werkstatterfahrungen mit Gerhard Klein – Gespräche. Aus Theorie und Praxis des Films; Heft 2/1984; Hrsg. Betriebsakademie des VEB DEFA Studio für Spielfilme.

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Brigitte Krause, Erik S. Klein. Fast alle mußten wegen ihrer fortdauernden Büh- nenverpflichtungen mehrfach anreisen. In mehreren Wochen drehte das Team bis Ostern 1970 etwa 20 Minuten des er- warteten Dreistundenfilms. Nach kurzer Feiertagspause sollten die Innenaufnah- men in weiteren, komplett vorbereiteten Dekorationen abgeschlossen werden. Doch da wurden das Team und das Studio von Kleins neuerlicher Notaufnahme im Krankenhaus überrascht. Von diesem Rückfall aber sollte sich der mutige Mann nicht mehr erholen. Er starb, gerade erst 50, am 21. Mai 1970. Bei einem solchen Abbruch der Dreharbeiten war an eine Weiterführung des Projekts unter anderer Spielleitung mit gleicher Darsteller-Crew nicht zu denken, zumal mit Schauspielern aus dem Westen wie Wolfgang Kieling und seiner Frau – Monika Gabriel. Und so wurde das gedrehte Material zunächst archiviert, der Film aber ausgebucht. Erst ein Jahr später wagte sich der junge Regisseur Helmut Nitzschke an die Wiederbelebung des totgeglaubten Projekts. Er war zuvor auch schon Kleins Assi- stent beim verbotenen Film Berlin um die Ecke. Das Studio war aus thematischen Gründen sehr am Stoff interessiert, wollte aber auf keinen Fall Gerhard Kleins Ex- periment einer doppelten Filmlänge mit einem Nachwuchsregisseur wagen. Der sehr eigenwillige Absolvent eines frühen Jahrgangs der Filmhochschule war mit seinem Debüt 1962 gescheitert. Nach eigenem Buch hatte er eine kleine Gegenwartsgeschichte im Produktionsmilieu in unbekannter quasi-dokumentarer Stilistik inszeniert. Nach drei Monaten Drehzeit entschied die Studioleitung den Arbeitsabbruch, ohne daß dafür starke politische Argumente ins Feld geführt wur- den. Inzwischen aber hatte er mit einem respektablen Krimi, Nebelnacht, seine handwerkliche Zuverlässigkeit und mit der Verfilmung einer Kalendergeschichte von Bertolt Brecht, »Zwei Söhne«, im Rahmen des Episodenfilms Aus unserer Zeit seine künstlerischen Ambitionen nachgewiesen. Er vollbrachte tatsächlich das Wunder, aus Gerhard Kleins Mehrstunden-Panorama die Kriminalgeschichte nachvollziehbar herauszufiltern.

Leichensache Zernik

Produktionsland DDR, 1970 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) (Künstlerische Arbeitsgruppe »Berlin«) Auszeichnung Heinrich-Greif-Preis I. Klasse für Joachim Plötner/ Claus Neumann, Heinrich-Greif-Preis I. Klasse für Georg Kranz, Heinrich-Greif-Preis I. Klasse für Helmut Nitzschke – alle 1973

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Regie Gerhard Klein Drehbuch Wolfgang Kohlhaase, Gerhard Klein, Joachim Plötner, Dramaturgie Anne Pfeuffer Kamera Peter Krause Bauten Georg Kranz Kostüme Barbara Müller-Braumann Musik Wilhelm Neef Produktionsleitung Horst Dau Darstellende Kleinert: Norbert Christian, Stübner: Kurt Böwe Probst: Günter Naumann, Kramm: Wolfgang Winkler Neltner: Justus Fritzsche, Hilgert: Uwe Kockisch Frau Zernik: Annekathrin Bürger Frau Dahlmann: Helga Göring Frau Walter: Brigitte Krause Berchthold: Herbert Köfer Erwin Retzmann: Gert Gütschow

Die Dreharbeiten mußten wegen einer schweren Erkrankung des Regisseurs Gerhard Klein nach zehn Tagen abgebrochen werden.

1971/72 wurde der Stoff unter der Regie von Helmut Nitzschke neu verfilmt:

Produktionsland DDR, 1971/72 Premierendaten Uraufführung: 10. März 1972, Berlin, Kino »Kosmos« Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) (Künstlerische Arbeitsgruppe »Berlin«) Verleih PROGRESS Film-Verleih

Auszeichnung Heinrich-Greif-Preis I. Klasse für Joachim Plötner/ Claus Neumann, Heinrich-Greif-Preis I. Klasse für Georg Kranz, Heinrich-Greif-Preis I. Klasse für alle 1973 Regie Helmut Nitzschke Regie-Assistenz: Dorit Langbein Drehbuch Helmut Nitzschke; Gerhard Klein, Joachim Plötner, Wolfgang Kohlhaase Szenarium Helmut Nitzschke

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Dramaturgie Anne Pfeuffer Kamera Claus Neumann Kamera-Assistenz: Frank Bredow, Peter Dietrich, Waltraud Pathenheimer Standfotos: Rudolf Brix Licht Jürgen Jankowski Bauten Georg Kranz Bauausführung: Norbert Günther Außenrequisite: Ingrid Hoehne Kostüme Eva Sickert Maske Klaus Becker Schnitt Evelyn Thieme Ton Kurt Eppers, Harry Fuchs Musik Hans-Dieter Hosalla Produktionsleitung Horst Dau Produktionsassistenz: Peter-Klaus Niemetz Aufnahmeleitung Wolfgang Bertram Darstellende Kriminalanwärter Horst Kramm: Alexander Lang Erwin Retzmann: Gert Gütschow Oberrat Kleinert, Leiter der Direktion K.: Norbert Christian Kriminalrat Stügner, Leiter der Mordkommission: Kurt Böwe Josef Probst, Kommissariatsleiter: Hans Hardt-Hardtloff Katharina Zernik: Annemone Haase Ingrid Walter: Lissy Tempelhof Lucie Matewsky, genannt »Goldlucie«: Käthe Reichel Trude Heinrich: Ute Boeden Emma Böhnke: Agnes Kraus Brucker, Leiter der Abteilung Fahndung: Günter Naumann Darstellende Dieter Netner, Mitarbeiter der MOK: Dieter Wien Berchtold, Stellvertreter von Probst: Jürgen Holtz Werner W. Bergmann, Fuhrunternehmer: Rolf Hoppe Hilgert, Kriminalanwärter: Jörg Gillner Alfred, Mitarbeiter der MOK: Justus Fritzsche Otto Böhnke, Hausvertrauensmann: Heinz Scholz Tscherbakow: Horst Hiemer Rosenfeld, US-Leutnant: Otto Stark Kilgas, US-Major: Franz Viehmann Kommissariatsleiter im Französischen Sektor: Gerd Ehlers

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Darstellende sowie: Friedrich Links, Gerhard Paul, Peter Kalisch Wolfram Handel, Viktor Deiß, Hasso Zorn, Otto Schröder, Günter Rüger, Gerd Staiger, Renate Usko, Carola Braunbock, Karin Gregorek, Horst Wünsch, Georg-Michael Wagner, Axel Triebel Gerhard Moebius, Victor Keune, Erich Schmidt-Rau, Jarmila Karlovská, Gerd-Michael Henneberg Harald Warmbrunn, Hans-Peter Pieper, Christoph Beyertt, Friedel Nowack, Wolfgang Bertram, Harald Quast, Regine Lehmann, Elfriede Hiesgen, Roman-Eckhard Gallonska, Elke Schuhrk, Eckhart Strehle, Heinz Runge, Hans Schmidt, Manfred Ott, Horst Lebinski, Günther Drescher, Horst Westphal, Alexander Wikarski, Hans Feldner, Harald Popig, Wolfgang Arnst, Werner Riemann, Karl Sturm, Fred Schlenker, Jochen Richter, Wolfgang Gehrick, Kurt Radeke, Karl-Maria Steffens, Wolfgang Seiffert, Gerhard Rohrer, Siegfried Theiss Anna-Maria Besendahl, Gertraut Last, Ostara Körner

Zum Inhalt Berlin 1948. Der Maschinenwärter Horst Kramm ist soeben in den Dienst der Kriminal- polizei eingetreten. Sein erster Fall, er soll eine diebische Nutte verhaften, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Der nächste jedoch ist bitterernst. Ein Frauenmörder treibt sein Unwesen in der Vier-Sektoren-Stadt, die geteilten Kompetenzen raffiniert ausnutzend. Zwei Leichen, bis zur Unkenntlichkeit durch Säure verätzt, wurden bereits in Berlin-Buch gefun- den. Die Kriminalisten des demokratischen Sektors haben inzwischen das Tatmotiv ermit- telt, doch ihre weitere Arbeit wird durch die Bildung eines eigenen Polizeipräsidiums für die drei Westsektoren unterbrochen. So können sie zwei weitere Morde nicht verhindern. In einer angesichts der politischen Situation grotesken Lage gelingt es ihnen unter großen Anstrengungen dennoch, den Täter zu fassen.

Der Mann, der nach der Oma kam nach einer literarischen Vorlage von Renate Holland-Moritz

Produktionsland DDR, 1970/1971 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) (Künstlerische Arbeitsgruppe »Johannisthal«) Uraufführung 10. Februar 1972, Berlin, Kino »International«

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Auszeichnung Prädikat: Wertvoll Regie Roland Oehme Regieassistenz: Harald Fischer Drehbuch Roland Oehme, Maurycy Janowski Szenarium Lothar Kusche Dramaturgie Willi Brückner Kamera Wolfgang Braumann Kamera-Assistenz: Eckhart Hartkopf, Rudolf Meister Defa-Fotograf: Rudolf Meister Bauten Hans Poppe Bauausführung: Marlene Willmann, Dieter Gabriel Kostüme Maria Welzig Maske Margarete Walther, Eberhard Neufink Musik Gerd Natschinski Gesang: Manfred Krug Chansontexte: Hans-Jürgen Degenhardt Schnitt Hildegard Conrad Ton Klaus Heidemann Aufnahmeleitung Günter Berger, Ralf Biok Produktionsleitung Siegfried Kabitzke Darstellende Erwin Graffunda: Winfried Glatzeder Günter Piesold: Rolf Herricht Gudrun Piesold: Marita Böhme Gaby Piesold: Katrin Martin Danny Piesold: Rolf Kuhlbach Herr Kotschmann: Herbert Köfer Frau Kotschmann: Marianne Wünscher Hans-Joachim Kotschmann: Harald Wandel Marianne: Margot Busse, Oma Piesold: Ilse Voigt Taxifahrer Köppe: Fred Delmare Frau Köppe: Agnes Kraus, Karl: Jochen Thomas Frau Bunzel: Angela Brunner Lehrerswitwe Henkel: Senta Bonacker Bürgermeister: Wolfgang Greese Versicherungskassiererin: Carmen Maja Antoni sowie: Otto Stark, Ilse Maybrid, Axel Triebel, Willi Schwabe, Gojko Mitic, Deborah Kaufmann, Lothar Kusche, Joachim Pflaum, Fritz Decho, Erika Stiska, Heidemarie Schneider, Fritz Marquardt, Hubert Hoelzke, Rudolf Kroboth, Christiane Lanzke, Hans Jörg Bräuer, Karlheinz Siewert, Monika Däbritz, Susan Baker, Emöke Pöstenyi, Heinz-Florian Oertel,

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Darstellende René Mach, Beate Fernengel, Carsten Hase, Carola Schmidt, Siegfried Kabitzke, Harald Fischer, Hans Feldner

Zum Inhalt Das Zuhause von Fernsehkomiker Günter Piesold, Schauspielerin Gudrun und ihren drei Kindern ist ein Chaos, das nur von Oma Piesold in Schach gehalten wird. Doch dann fin- det die alte Dame zu spätem Liebesglück, heiratet und widmet sich wieder ihrem eigenen Leben, was zum völligen Zusammenbruch des Künstlerhaushalts führt. Die Familie sucht daher per Annonce eine Aushilfe und findet überraschend den jungen und gut aussehenden Erwin Graffunda, der den Haushalt auf Vordermann und Gerede in die Nachbarschaft bringt. Auch Herr Piesold wird mißtrauisch: Ist Graffunda vielleicht der Liebhaber seiner Frau? Doch dieser hat noch ein zweites Leben ... Des ungewöhnlichen Rätsels Lösung: Graffunda sammelt praktische Erfahrungen für seine Dissertation über die Emanzipation der Frau. Ein Thema, das ihn ganz persönlich weiterbeschäftigen wird – als inzwischen verheirateter und bald Vater werdender Mann.

Liebesfallen

Mit meinem Studienkollegen Werner W. Wallroth aus dem ersten Regie-Matrikel der 1954 gegründeten Deutschen Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babels- berg verbinden mich gleich mehrere sehr frühe Erinnerungen. Er war oder wirkte jedenfalls immer etwas älter als die meisten von uns, auch belesener, klüger, geistreicher, jedenfalls respekteinflößend, zumal durch seine unnachahmliche Art, jeden noch so profanen Gedanken in lange druckreife Sätze, ja in geistreiche, gern auch ironische Sentenzen zu verwandeln. Diesem Image entsprechend, heiratete der Beststudent bald unsere GEWI-Assistentin. In Babelsberg war Wallroth mein erster Parteisekretär, und von seiner Hand stammt die Widmung in einem Werk des später bei Parteioberen nicht mehr so hoch angesehenen Stefan Heym. Diese Schriften zum Tage enthielten auch die Sammlung seiner recht freimütigen Kolumnen in der Berliner Zeitung nach dem 17. Juni 1953. Der Buchtitel Im Kopf – sauber zitiert die von einer Geste unter- malte Antwort eines Sowjetsoldaten, den eine mißlaunige Berlinerin per Finger- zeig auf seine schmutzigen Stiefel hingewiesen hatte. Ich erhielt das Buchpräsent mit dem Zeigefinger-Titel als krönenden Abschluß der Kandidatenzeit und zur Aufnahme in die führende Partei, also nach erfolg- reich bestandener zweijähriger Bewährung für – damals – alle, die nicht der

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Arbeiter- oder Bauernklasse entstammten. Daß sich 1953 Studenten aus den »ver- bündeten Schichten« überhaupt bewerben konnten, verdankte man erstaunlicher- weise dem Tod des »weisen Führers« und dem folgenden »Stalin-Aufgebot der FDJ«. 1957 wurde ich der studentische producer für Wallroths Vordiplom-Film Ge- wehre in Arbeiterhand. In seinem Bericht über die paramilitärische Ausbildung einer kleinen Einheit der Betriebskampfgruppen des Babelsberger Karl-Marx- Werks, damals noch Lokomotivbau, ehemals Orenstein & Koppel, übernahm der Regisseur die bekannte historische Legitimation. Er nutzte also Original-Doku- mentaraufnahmen von den bewaffneten Kämpfen der Arbeiterklasse nach dem Ersten Weltkrieg, voran des Rot-Front-Kämpfer-Bundes. Unser Streifen vertrat unsere Hochschule, zu meinem Kummer leider erfolglos, im Filmwettbewerb während der VI. Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1957 in Moskau. Dort hatten wir neben den neorealistischen Studentenfilmen aus Prag und Budapest keine Chance. Geringer Trost: der namentliche Eintrag ins Ehrenbuch des Zen- tralrats der FDJ. Vor dem Studium hatte Wallroth einen freiwilligen Dienst in der Kasernierten Volkspolizei absolviert. Das prädestinierte ihn nun als ersten Ausbilder in der vor- militärischen Unterweisung seiner männlichen Kommilitonen. Im ersten Studien- jahr waren es in allen vier Fachrichtungen nur einige dreißig. Wer aus dieser Vita nun auf einen fortan besonders eifrig linientreuen Propagandisten schließen möchte, der irrt. Werner W. Wallroth war, anders als manch ein Regiekollege, kaum auf eine thematische Grundorientierung festzulegen, noch weniger auf eine spezielle Genre-Affinität. Erstaunlicherweise äußerte er sich öffentlich kaum zu einem wie auch immer gearteten Credo, obwohl ihm doch die Worte dafür wahrlich nicht ge- fehlt hätten. Für sein Spielfilmdebüt 1960 schrieb sich der Regisseur das Buch selbst. Das Rabauken-Kabarett erzählt von einer aufmüpfigen Lehrlingsgruppe im Schiefer- bergbau seiner thüringischen Heimat. Ihre eher fragwürdigen Aktivitäten werden in kabarettistische Bahnen gelenkt und sie selbst auf diese Weise sozialisiert: Die Rabauken mutieren unter der Leitung eines pfiffigen Lehrausbilders zur Laien- spieltruppe und attackieren parodierend ihr eigenes Fehlverhalten. Wandel also durch Abstand – die unverzichtbare DEFA-Moral hier einmal in spielerisch- komödischer Gestalt. Für den Jung-Star Ernst-Georg Schwill war es eine ganz neue Figurenvariante, für die studierten Filmdebütanten Peter Reusse und Günter Junghans wurde es der Start in eine erstaunliche Spielfilmkarriere. Leider wurde Peter Sindermann we- nig später tödliches Opfer seiner Segelflugleidenschaft. Der frühe Erfolg machte den Hauptdarsteller, den begabten Horst Jonischkan, nur trunken. Der kleine Ge- genwartsfilm bewies Wallroths handwerkliche Sicherheit und galt als Talent- beweis, machte aber im Kino und in der Öffentlichkeit kaum Furore.

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So startete der Regisseur erst einmal zu einem Ausflug nach Adlershof in die Fernsehunterhaltung und zwar im Krimi-Genre, geografisch weniger als politisch naheliegend: Mord in Gateway. Danach aber blieb er Babelsberg bis zum bitteren Ende der DEFA treu und seiner Wohnheimat Potsdam bis heute auch. Wallroths Film Alaskafüchse eröffnete in Farbe, Breitwandformat und 4- Kanal-Magnetton die Sommerfilmtage 1964 auf der iga-Freilichtbühne in Erfurt. Der politische Abenteuerfilm nach einer Erzählung von Wolfgang Schreyer ver- dankte seine Story den reichen Material- und Personal-Offerten des Kalten Krie- ges. Der DEFA-Dramaturg Egon Günther erwies sich hier bereits zum dritten Mal als routinierter Filmautor im Action-Genre. Der Captain eines US-Luftwaffen- stützpunkts im Hohen Norden havariert bei einem heiklen Aufklärungsflug in so- wjetischem Interessengebiet. Daß er sich per Notruf von einer sowjetischen U-Boot-Besatzung retten läßt, wird ihm zum doppelten Verhängnis. Heimgekehrt, wird er wegen lebenserhaltender Befehlsmißachtung verhaftet und auch noch von der Geliebten verlassen ... Weniger fatal, doch durchaus dramatisch waren danach Manfred Krugs Aben- teuer als Hauptmann Florian von der Mühle: 1968 wurde es der richtige, zudem überlange erste DEFA-Film im 70-mm-Format auf der riesigen Leinwand des noch jungen Lichtspieltheaters Kosmos mit seinen 1 000 Plätzen. In allen anderen Kinos lief die zusätzlich auf 35-mm gedrehte Breitwandfassung. Das farbige Spektakel wurde zum großen Publikumserfolg. Der Unterhaltungsliteratur fol- gend, hier einer Erzählung von Joachim Kupsch, näherte sich die DEFA damit zunächst einmal den eher amüsanten Aspekten der Befreiungskriege. Da kämpft ein Müller um sein Recht und wird am Ende doppelt belohnt, für seine im Krieg zerstörte Mühle pekuniär reich entschädigt und durch die Liebe ei- ner Duchessa von Guastalla, die er auf seinem Abenteuerritt vor Wegelagerern aus Gefahr für Leib und Leben rettet. Als zehn Monate später im selben Kino Rolf Ludwig als Seine Hoheit, Ge- nosse Prinz das versammelte Volk herrlich amüsiert, ahnt im Publikum niemand die vorangegangene Mühsal der Entstehung einer Gegenwartskomödie trotz nicht gerade staatsgefährdendem Sujet. Nach dem 11. Plenum wurde jede DDR-Story von der Buchentwicklung über die Produktionsfreigabe bis zur Staatlichen Ab- nahme argwöhnisch beobachtet, kritisch begutachtet und kleinlich zensiert. Von Rudi Strahl stammte der schöne assoziationsträchtige Einfall, einem schlichten DDR-Porzellan-Außenhändler mit Findelkind-Vita die blaublütige Abkunft derer von und zu Hohenlohe-Liebenstein anzudichten. So wird unser Genosse im bundesdeutschen Westen auf sehr unvermutete Weise kontakt- und kontraktfähig. »Aus der ›Was wäre, wenn‹-Situation entwickeln sich Pointen, Spit- zen, klamottige und nachdenkliche Szenen. Strahl und Wallroth wurden mehrfach, 1 bis zum Minister hinauf, mit Listen zu streichender Wörter und Sätze versehen.«

1 Klaus Wischnewski, »Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg«, S. 240.

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Zum Glück für das Studio und das Publikum wurde Rudi Strahl, wenn auch mit neuerlichen Blessuren, seinem danach gefaßten Vorsatz untreu, vom heiteren Film fürderhin zu lassen. Für und mit Wallroth schrieb er erst einmal eine kleine harmlos-heitere, politisch unverdächtige Liebesgeschichte, wie schon der Titel beruhigend versprach: Du und ich und Klein-Paris mit schönen Hauptrollen für Jaecki Schwarz, Evelyn Opoczynski und die Handelsmetropole Leipzig. Dort startete der Film pünktlich zur Frühjahrsmesse 1971 im Kino Capitol. 2 »Das war Lützows wilde verwegene Jagd?« so lautete die sarkastische Titel- frage eines Kritikers zur handwerklich soliden, doch wenig packenden Filmbear- beitung des Schauspiels von Hedda Zinner »Lützower« durch Szenarist und Re- gisseur Wallroth. Mit Dramaturg Walter Janka sah ich in unserer Gruppe die Chance, die natio- nalistisch so übel mißbrauchte, in sich widersprüchliche Geschichte der Freikorps im Kampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft für ein junges Publikum spannend zu erzählen. Die äußere Handlung kreist um einen Husarenstreich, den Raub einer französi- schen Kriegskasse aus dem Haus eines reichen Kollaborateurs. Der kühne Frei- heitskämpfer wird gefangengenommen und zum Tode verurteilt. Er kann aber dank der Hilfe eines französischen Sergeanten und mit ihm zu den Lützowern zurückkehren. Doch da gab es noch eine zweite, weniger aktionsreiche Hand- lungslinie. Die aufmüpfige Tochter des Kollaborateurs erfährt von der Intrige des Königs und überbringt der Freischar die geheime Nachricht vom preußischen Waffenstillstand mit den Franzosen. Lützow glaubt nicht an den Verrat des Re- genten. Gutgläubig und befangen im Ehrenkodex seiner Kaste, gehorcht er dem Eid und wird so auf tragische Weise mitschuldig am Untergang seiner Truppe. Walter Janka wollte mich beim ersten Gespräch mit der Autorin in ihrer Villa in Berlin-Niederschönhausen dabei haben und bereitete mich auf eine Begegnung der eher ungewöhnlichen Art vor. Die Dichterin, Jahrgang 1907, gelernte Schauspielerin mit achtunggebietender antifaschistischer Vita, politische Emigrantin in Wien, Prag und Moskau, lege auf noble Umgangsformen wert, doch müsse man sie nicht unbe- dingt mit »Gnädige Frau« anreden, wie es vom Personal ihres Hause erwartet werde. Werner W. Wallroth mußte sich da nicht anstrengen. Er beherrschte den ange- messenen Konversationsstil und verstand es, auch in solch anspruchsvoller Um- gebung Eindruck zu machen und zugleich Respekt zu bezeugen. Die große Dame wirkte mehr streng als distinguiert, ein tief herabhängendes Au- genlid verstärkte den Ausdruck einer gewissen Skepsis und Unnahbarkeit. Nach schlechter Erfahrung mit der DEFA-Version ihres bekanntesten Bühnenstücks Der Teufelskreis durch Carl Balhaus wollte sie die Bucharbeit dem Regisseur nicht allein überlassen, und Wallroth war die prominente Mitautorenschaft durchaus recht.

2 Günter Sobe, Berliner Zeitung vom 29.10.1972.

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Mit dem Drehbuch aber begann ein ungewöhnlicher Kosten-Clinch zwischen dem Produktionsleiter und dem Studiodirektor. Der aber wollte Dramaturg und Gruppenleiter in die Pflicht nehmen, denn wir hatten nach dem Szenarium die Selbstkosten viel zu gering veranschlagt: Für 70-mm- plus Normalformat 2,7 Mil- lionen. Nun forderte die Produktion 3,5. Da ließ Hedda Zinner den Studiochef kommen, doch der blieb hart und bewilligte maximal drei Millionen. Als das Re- giebuch gar mit vier Millionen veranschlagt wurde, mutierte der Hauptdirektor zum Dramaturgen. In einem Brief schlug er die Streichung mehrerer Bilder und Einstellungen vor sowie die Reduzierung der vierbeinigen Komparserie mit zu großem Aufwand für die Pferdetransporte. Die Artillerie wurde einer Rüstungsbe- grenzung unterworfen und die Schlachtenszenen in Studionähe verlegt. Die ner- venzehrenden Dispute und lange Korrespondenz bewirkten wenig. Am Ende lan- deten die Kosten bei 4,7 Millionen. Das künstlerische Resultat ließ das ökonomische Desaster leider nicht in mil- derem Lichte erscheinen. Im Film gab es neben visuell attraktiven Milieu- und Kampfszenen viele Dialogpassagen, die allzu stark an ihre theatralische Herkunft erinnerten. Während selbst Hedda Zinner dies einräumte, nannte der Regisseur solchen Einwand »geistige Bedürfnislosigkeit« und wunderte sich wortreich, wie man bei einer Tragödie so genrefremde Erwartungen habe pflegen können. Unsere Hoffnung auf großen Publikumszulauf wurde enttäuscht. Der enorme Aufwand für die Produktion zweier Formate erwies sich als glatte Fehlinvestition. Wallroth aber konnte seinen früheren Erfolg im historischen Action-Genre doch noch einmal wiederholen. 1975 mit dem Indianerfilm Blutsbrüder mit DEFA-Dauer-Rothaut Gojko Mitic und unserem nicht weniger populären Zuwan- derer aus den USA – Dean Reed, image- und rollengerecht als weißer Deserteur an der Seite der vom Genozid bedrohten Cheyenne. Schon im nächsten Jahr eröffneten Wallroths Liebesfallen wiederum die Som- merfilmtage. Nach einem Bühnen-Musical von Dieter Wardetzky und Komponist Peter Ra- benalt inszenierte Wallroth 1982/83 die Film-Version des Musicals Zille und ick. Das realistische Zeit- und Milieubild aber enttäuschte anders geartete Unterhal- tungserwartungen des Publikums. Daß dieser Regisseur bei der Stoffwahl wählerisch sein konnte, verdankte er neben dem Festvertrag in Babelsberg wohl auch einer ganz anderen Kreativität, als Liedtexter nämlich für seinen solistischen Bruder. So hatte Wallroths letzter Spielfilm erst 1985 Premiere – ein kleines, mäßig heiteres Verwechslungsspiel: Der Doppelgänger.

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Liebesfallen nach Episoden aus Ludwig Tureks »Die Liebensfalle«

Produktionsland DDR, 1975/1976 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) (Künstlerische Arbeitsgruppe »Berlin«) Uraufführung 2. Juli 1976, Berlin, Freilichtbühne Fürstenwalde Regie Werner W. Wallroth Regieassistenz: Bernd Braun Drehbuch Werner W. Wallroth Dramaturgie Anne Pfeuffer Kamera Werner Bergmann Standfotograf: Norbert Kuhröber Bauten Erich Krüllke Kostüme Barbara Braumann Maske Gerhard Petri Musik Walter Kubiczek Musikinterpretation: Thomas Lück, Gerd-Michaelis- Chor, Holger Biege, Chris Doerk, Vlady Slezak Gesang: Nina Hagen Schnitt Lotti Mehnert Produktionsleitung Gerrit List Darstellende Bettina Gürtelschmidt: Marianne Wünscher Udo Klüterjahn: Fred Delmare Frau Reitstock: Eva-Maria Hagen Renate Mauerbusch: Heidemarie Wenzel Dr. Biebermamm: Dieter Wien Gabriele Metzke: Angela Brunner Herr Reitstock: Thomas Lück Prof. Kallmann: Herbert Köfer Liane Brückner: Nina Hagen Frau Schmidt: Ingeborg Krabbe Glöwen: Edgar Külow, BGL: Gertraud Last Kloppmann: Werner Lierck Kollege Rochmann: Carl-Heinz Choynski Paolino: Edwin Marian, Meister: Harry Merkel

Zum Inhalt Die Liebe in all ihren Spielarten ist Thema dieser aus vier szenisch miteinander verbunde- nen Geschichten bestehenden Komödie: Schiffskoch Udo Klüterjahn verführt das weib- liche Geschlecht mit Hilfe eines Segelboots und delikater Speisen. Doch am Ende ist es

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Bettina, die ihn zum Traualtar (ver)führt. Deren Vorgesetzte Renate Mauerbusch würde ih- rerseits gerne mit Pensionsnachbar Dr. Biebermann in den Hafen der Ehe einlaufen – doch zuerst muß sie den aufdringlichen Vermieter Reitstock wieder mit seiner Frau vereinen. Als Biebermanns Sekretärin Gabriele ihre Felle davonschwimmen sieht, sucht sie ihr Heil in einer Heiratsanzeige. Doch das Angebot läßt zu wünschen übrig, bis sie selbst auf eine An- zeige reagiert und so mit Professor Kallmann zusammenkommt. Dessen Forschungen be- fassen sich im Augenblick mit den Möglichkeiten der Frau zur Selbstverwirklichung. In dem von ihm beobachteten Betrieb scheint er in der attraktiven Liane, der alle Männer zu Füßen liegen, ein perfektes Studienobjekt gefunden zu haben. Denn selbst der neue Vorsit- zende der Betriebsgewerkschaftsleitung, den ihr neidische Kolleginnen auf den Hals het- zen, damit er ihr ein bißchen Anstand beibringt, kann diese nicht schrecken – vielmehr scheint er genau der Mann zu sein, nach dem Liane gesucht hat.

Und nächstes Jahr am Balaton

Als Filmminister Horst Pehnert im Kunsteisstadion Wilhelm Pieck in Weißwasser die Sommerfilmtage 1980 vor einer mehr als tausendköpfigen jungen Fan-Ge- meinde mit einer launigen Rede eröffnete, lag eine achtjährige Buch- und Produk- tionsgeschichte hinter uns. An ihrem Anfang stand eine Tramp-Story-Idee des mehrfachen DEFA-Autors Wolfgang Held aus Weimar. Eine amüsante Urlaubsliebelei zwischen einem DDR-Jungen und einem Mädchen in Bulgarien endete bei ihm allzu folgerichtig, als sich mit der westdeutschen Herkunft der Schönen auch die Unverträglichkeit ihrer Ansichten über die Welt und das Leben offenbart. Da wurde in bekannter Beweisdramaturgie vor allzu intimen Annäherungen im Zuge des deutsch-deutschen Massentourismus ans Schwarze Meer gewarnt. Ziemlich vordergründig war die Autorenabsicht und meine Dramaturgenkolle- gen waren verstimmt. Nur meine Studienkollegin Inge Wüste, frisch in der Gruppe, wußte sogleich Rat: Ausbuchen und einen anderen, nämlich jüngeren Autor mit entsprechend zeitgemäßerem Jugendsensus beauftragen. Und sie kannte auch gleich einen begabten Kandidaten, der sich justament jetzt auf einen Tramp-Trip vorbereite. So sponserte also die DEFA 1973 per Materialsammlung und Treat- ment-Vertrag eine Urlaubsreise des Lektors und Erzählers Joachim Walther unter dem Arbeitstitel Tramp durch sozialistische Länder, geliefert mit viermonatiger Verspätung und in vertragsferner Prosagestalt im Umfang von 150 Seiten. Diesem Manuskript folgte der vom Autor erwartete Szenarienvertrag erst ein- mal nicht. Zu groß und ungelöst waren die offenen Gestaltungsfragen. Die Episo- den in den verschiedenen Ländern verselbständigten sich und schienen austausch-

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bar. Das Handlungsmotiv und der Charakter des Helden waren nur aus dem Dia- log zu erfahren. Genre, Stil und Erzählweise blieben unbestimmt. Vor allem aber vermißten wir heitere, komödiantische Elemente. Die Geschichte sollte von ne- bensächlicher Polemik frei sein, die weder die Fabel, noch die Charaktere berei- cherte. Dafür wollten wir die Liebesgeschichte mit der Holländerin ins Zentrum gerückt sehen. Dem filmunerfahrenen Autor eine zweite Treatment-Fassung abzu- fordern, schien uns aussichtslos, zumal ohne die Mitarbeit eines Regisseurs. Ich hielt bereits das Reisemotiv seines jungen Helden für fragwürdig. Tramp- Fan und Maschinenschlosser Norman Bielat aus der Brigade »Patrice Lumumba«, liest in der Frühstückspause die neuesten Meldungen von der Donau-Hochwasser- Katastrophe in Rumänien. Er faßt spontan den Entschluß, dort selbst Hand anzu- legen, statt sich mit der obligaten Soli-Spende billig freizukaufen. Solche eine Einzelaktion, sicherlich gut gemeint, galt in unseren zentralisti- schen Planregimen als purer Individualismus. Kurz zuvor war Egon Günthers Projekt Carmen u. a. an einem ähnlichen Spontaneinfall seiner Hauptfigur ge- 1 scheitert. Die schöne Schauspielerin wollte nämlich ihren lang ersehnten Wart- burg sogleich gewinnbringend umrubeln und den Erlös für das kämpfende Viet- nam spenden und zwar ohne langjährige Splittung in monatliche Soli-Raten. Joachim Walther stellte in seiner Version den blinden Aktionismus des jungen Arbeiters selbst in Frage: Endlich im Donau-Delta angelangt, wird sein Hilfs- angebot im strategisch organisierten Großeinsatz von Militär, Technik und Men- schenmassen eher als störend betrachtet. So muß er sich damit begnügen, einer al- leingelassenen Soldatenfrau den Keller auszupumpen. Problematisch erschienen mir auch die Autorenblicke ins Interieur der soziali- stischen Bruderstaaten. In der Tschechoslowakei beherbergt den Tramper ein ver- einsamter skurriler alter Herr mit abseitigem Uhren-Sammler-Tick. Das mochte ja angehen. In Budapest trifft er auf einen gutherzigen Hochstapler, dessen sexuelle und berufliche Renommiersucht ans Tragisch-Krankhafte grenzt. Auch das war, komödiantisch behandelt, zu verkraften. Doch selbst Regisseur Herrmann Zscho- che störte, daß unser Mann im Puszta-Land auch noch in eine Treibjagd gerät, die gegen harte Währung eigens für Jäger aus dem Westen veranstaltet wird. Vor 2 fremden Türen aber wollte auch er nicht kehren. Weitaus heikler aber waren die Begegnungen dieses Norman Bielat mit den Siebenbürger Sachsen in Rumänien. Die Nachfahren der deutschen Minderheit waren im Staate Nicolae Ceausescus eher beargwöhnt als wohl gelitten. Ob ihres Fleißes und Ordnungssinnes lange Zeit ungeschoren, erfreuten sie sich noch, an- ders als nationale Minderheiten rumdum, einer eigenen Zeitung und deutschspra- chiger Rundfunksendungen. Im Erlebnis des trampenden DDR-Bürgers nun stell- ten sie sich so dar, wie sie in der nationalen Diaspora zum Teil wohl auch waren,

1 Siehe: Unsere nicht gedrehten Filme, a.a.O., S. 90 f. 2 Hermann Zschoche, Sieben Sommersprossen und andere Erinnerungen, Berlin 2002, S. 128 f.

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als bigotte Christen und dünkelhafte Nationalisten. Sie verstoßen eine junge Deut- sche aus ihrer frömmelnden Gemeinde, weil sie gegen den Willen ihrer Eltern ei- nen Rumänen liebt und heiraten will. Gegen solch eine kritische Sicht hätte die rumänische Bruderpartei ja kaum et- was einwenden können, von der »führenden Kraft« hierzulande gar nicht zu re- den. Doch da war außenpolitische Vorsicht angeraten. Und richtig, die einschlägig erfahrenen Genossen in der zuständigen Länderabteilung des MfAA und der Aus- landschef im Kulturministerium, Dr. Tautz, stellten unübersehbare Warnschilder auf. Gegen die Bewertung des Minderheiten-Phänomens durch den Autor sei natürlich nichts einzuwenden, aber die selbstbewußten Rumänen, die ohnehin im- mer aus der sozialistischen Reihe tanzten, seien allergisch gegen jede öffentliche Erörterung des Nationalitäten-Problems, schon gar in ausländischen Medien. Ein solcher DEFA-Film habe dort keine Chance. Da sei möglicherweise sogar bruderstaatliche Demarche zu befürchten, und sei es mit dem zynischen Argument, da könnten sich redliche rumänische Staatsbürger deutscher Nationalität beleidigt fühlen (wie heute vielleicht eine Nobelpreisträgerin). Joachim Walther schickte uns 1976 die druckfrische Erzählung Ich bin nun mal kein Yogi, begleitet von einem Beschwerdebrief an den Studio-Chef. Doch der wollte eine Entscheidung lieber seinem bereits designierten Nachfolger überlas- sen. Regisseur Herrmann Zschoche wiederum wollte sich erst mit dem Autor ver- abreden, wenn das Studio »grünes Licht« gegeben habe. So blieb das persönliche Gespräch mit dem empörten Autor mir allein. Im Juli 1978 hatte eine Bühnenversion der Erzählung in Weimar den Publi- kumstest glücklich bestanden, ohne daß es zu diplomatischen Verwicklungen ge- kommen war. Der Regisseur aber, offen für eine neue Fabelidee der Dramaturgin, hatte inzwischen zwei andere reifere Projekte in petto. Doch die Dramaturgin Inge Wüste-Heym gab nicht auf und entwarf selbst eine aussichtsreichere Kon- zeption und wurde so zur Filmautorin – nach Motiven von Joachim Walther. Mit der Erfindung einer völlig neuen Exposition kreierte sie eine handlungsbetonte, vor allem aber komödisch akzentuierte Story. Ins Zentrum des road movie rückten nun die Zufallsbekanntschaft und der intensive Austausch zwischen dem unangepaßten DDR-Jungen und der zivilisa- tionskritischen holländischen Aussteigerin. Sie ist auf Tantra-Trip zu einem indi- schen Yogi. Die recht unterschiedlichen Lebensansichten und Glücksvorstellun- gen der beiden Generationsgefährten sind kein Hindernis für eine kurze heftige Liebesromanze, die an der bulgarisch-türkischen Länder- und Systemgrenze en- det. Das Lustspiel findet sein genregerechtes Finale in der glücklichen Wiederver- einigung von nunmehr Jonas und seiner Ines, ja sogar in der Versöhnung mit ihren Eltern, die nach manchen Abenteuern und auf getrennten Wegen das Urlaubsziel erreicht haben. Die wichtigste Garantie für den wohl letzten überwältigenden Kinoerfolg Herr- mann Zschoches war seine Fähigkeit, mit jungen Laiendarstellern ein ganz und

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gar glaubwürdiges Bild dieser Generation gerade jenes Zeitraums zu zeichnen. Lange Zeit war der Regisseur der Meinung, die Rolle der Shireen könne glaub- würdig nur von einem holländischen Mädchen gespielt werden. Doch dann ent- schied er sich glücklicherweise für die schon erprobte Kareen Schröter aus Sieben Sommersprossen, für die er mit Hilfe von Cox Habbema später eine unersetzliche, einschmeichelnde Synchronstimme fand mit dem liebreizenden, holländisch ge- färbten Deutsch einer echten Niederländerin. Nach Solo Sunny war das Lustspiel mit 730 000 Besuchern in den ersten 13 Wochen unser größter Besucherrekord im letzten DEFA-Jahrzehnt. Nur der Auslandsverkauf ließ zu wünschen übrig. Die sowjetischen Film- ankäufer meldeten moralische Skrupel an. Den angeblich so toleranten Ungarn waren ihre Zollorgane nicht taktvoll genug behandelt, und die Rumänen hatten im Bilde ihres Landes immer noch unübersehbare Fehlfarben entdeckt …

Und nächstes Jahr am Balaton Nach der literarischen Vorlage »Ich bin nun mal kein Yogi« von Joachim Walther

Produktionsland DDR, 1979/1980 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg) (Künstlerische Arbeitsgruppe »Babelsberg«) Uraufführung 26. Juni 1980, Berlin, Kino »International« Filmpreis des Jugendmagazins »Neues Leben« (1980): Bester DEFA-Film Auszeichnungen Leserumfrage des »Filmspiegel« aus Anlaß des 2. Nationalen Spielfilmfestivals der DDR in Karl-Marx-Stadt (1982): 3. Preis Regie Hermann Zschoche Regieassistenz : Eleonore Dressel Drehbuch Hermann Zschoche Szenarium Inge Wüste-Heym Dramaturgie Manfred Wolter Kamera Günter Jaeuthe Kamera-Assistenz: Klaus Groch, Herbert Kroiss Defa-Fotograf : Herbert Kroiss Bauten Alfred Thomalla Bauausführung: Peter Zakrzewski

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Kostüme Günter Pohl Maske Kurt Tauchmann, Christa Grewald Schnitt Monika Schindler, Hildegard Conrad Musik Günther Fischer Ton Christfried Sobczyk, Helga Kadenbach, Christian Müller Aufnahmeleitung Detlef Willecke Produktionsleitung Rolf Martius Darstellende Irene Moldenschütt: Gudrun Ritter Heinz Moldenschütt: Peter Bause Otto Schmiedel: Fred Delmare, Kuß: Bernd Chill, Kalle: Günter Schubert, Jonas: René Rudolph Shireen: Kareen Schröter, Rainer: Thomas Kieper, Ines Moldenschütt: Odette Bereska Fränze: Silke Hollender, Grille: Christine Krech, Evelyn: Kerstin Haustein, Ordner: Hannes Stelzer, Gisela: Heide Kipp, Prohazka: Bohumil Vávra

Zum Inhalt Jonas wollte eigentlich allein mit seiner Freundin Ines verreisen. Aber ihre Eltern haben andere Pläne: spießiger Familienurlaub am Schwarzen Meer. Nicht mit Jonas. Er steigt unterwegs aus und trampt allein weiter. Er trifft Kumpels aus seiner Werkstatt und schließt sich Shireen, einem holländischen Mädchen an, das bis nach Indien zur Sekte der Tahtras gelangen will. An der bulgarisch-türkischen Grenze nehmen sie wehmütig Abschied. In Nessebar trifft Jonas wieder auf Ines und erfährt von der Familienreise mit Hindernissen. Der Vater mußte sich um einen gestohlenen Koffer kümmern und die Mutter hatte den Zug verpaßt. Am Ende gibt es doch noch einen versöhnlichen Urlaub zu viert.

Die Beteiligten

Laut großem Lexikon der DEFA-Spielfilme hat Drehbuchautor Gerhard Bengsch die Handlung dieses Krimis 1964 in einer Kleinstadt an der Elbe angesiedelt. Es war die Kreisstadt Burg, etwa 20 km von der Bezirkshauptstadt Magdeburg ent- fernt. Ursprünglich trug der Film dann auch den Titel Der Fall Burg. Eine junge Frau war während einer Dienstreise mit ihrem Chef und einer Kollegin ertrunken. Die zwei unmittelbar Beteiligten – ein tüchtiger Stadtrat und ehrbarer Familien-

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vater sowie eine seiner Mitarbeiterinnen – sagen aus, sie sei beim Spaziergang an der Elbe ins Wasser gefallen. Ein Unfall. Man glaubt ihnen. Ein Kriminalist ermit- telt, vom Unwillen seines Chefs begleitet, der den Stadtrat seit Jahren gut kennt. Schritt für Schritt kommt Fakt für Fakt ans Tageslicht. Es stellt sich heraus, daß die Tote schwanger war – vom Stadtrat. Ein außereheliches Kind wäre das Ende seiner Karriere gewesen. Schließlich ist klar: Es war Mord. Der Film polemisiert, seinem Genre gemäß, gegen Karrieredenken, opportuni- stisches Verhalten, Privilegien, Unterwürfigkeit, finanzielle Abhängigkeiten, ver- filzte Freundschaften, Furchterzeugung … und zielt so auf zahlreiche eben auch mittelbar Beteiligte. Anspielungen auf die Gegenwart werden deutlich. 1964 konzipiert, wurde das Projekt nicht realisiert (Stichwort 11. Plenum des ZK der SED vom Dezember 1965, dem 13 fertige oder in der Endfertigung befindliche Filme zum Opfer fielen). Der Regisseur Horst E. Brandt schreibt in seinen Erinnerungen Halbnah Nah Total: »Wir wollten über eine Kleinstadt erzählen, in deren Mauern sich die Diener des Staates gegen Recht und Gesetz vergehen und einen Mörder zu decken versuchen.« Das paßte nicht in die beschlossenen Vorstellungen: Im Juli 1958 hatte der V. Parteitag der SED »Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik« verab- schiedet, sie wurden dann auch in das auf dem VI. Parteitag im Januar 1963 be- schlossene Parteiprogramm übernommen; in Nr. 9 hieß es: »Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten.« Die Arbeiten am Film wurden erst 1988 wieder aufgenommen und zu Ende geführt – Drehort war die Kreisstadt Stendal. Mein Kalender sagt mir, daß ich am 15. Juni 1989 im International die Pre- miere erlebte. Als ich nun diesen Film sah, gingen meine Gedanken zurück in das Jahr 1959. Ich war damals Student an der Fakultät für Journalistik und hatte als Börde-Kind erst mein Druckerei- und dann mein Redaktionspraktikum bei der Volksstimme in Magdeburg absolviert; zu Ferienzeiten ging ich dann in der Re- daktion ein und aus und muggte ein wenig. Eines Tages kam ein Redakteur von einer Verhandlung am Bezirksgericht zurück. Aufgewühlt erzählte er vom Leiter des VEB Kommunale Wohnungsverwaltung der Stadt Burg, der ein folgenreiches Verhältnis mit einer jungen Frau hatte. Ein außereheliches Kind wäre das Ende seiner Karriere gewesen. (Man bedenke zudem: 1959 war Schwangerschafts- abbruch noch verboten; den das Opfer übrigens abgelehnt hatte). Um den – nicht einmaligen – Fehltritt zu vertuschen, entschieden sich er und eine ihm hörige Mit- arbeiterin fürs Verbrechen. Bei einer gemeinsamen Dienstreise stieß die Frau ihre Kollegin von einer Buhne in die Elbe. Und nach dem Mord, berichtete mein da- maliger Kollege erschüttert, seien beide seelenruhig essen gegangen. Die Unfall-Variante wurde den beiden zunächst geglaubt. Doch der Vater der jungen Frau gab keine Ruhe. Seine Wahrnehmungen wurden in der Kreisstadt von Volkspolizei und Staatsanwaltschaft ungenügend ernst genommen. Erst über den Generalstaatsanwalt gelangte der Fall aus den Händen der Kreisbehörde zum Bezirk

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und wurde aufgeklärt. Die Ähnlichkeiten liegen auf der Hand. Die Verlegung der Handlung von 1959 ins Jahr 1964 begründet sich durch die zeitliche Nähe der Er- eignisse; der andere Personenkreis (z. B. Stadtrat statt Leiter der Wohnungsverwal- tung) hat neben künstlerischen Gründen die gebührende Verfremdung als Grund. Bei meinen Bemühungen, etwas mehr über die damaligen Umstände zu erfah- ren, wechselten sich Fräulein Glück und Kommissar Zufall ab, aber auch Teufel Mißerfolg griff ein: Ich erinnerte mich aus Literaturankündigungen, daß es im Magdeburgischen einen Autor gibt, der außergewöhnliche Fälle aus dieser Region nacherzählt. Meine Buchhändlerin fand im Internet den Namen, den ich vergessen hatte: Bernd Kaufholz. Im Mitteldeutschen Verlag, der seine Schriften herausgibt (es sind mittlerweile ein rundes Dutzend), konnte ich mit meinen vagen Erinne- rungen nicht erfahren, ob dieser Fall in einem seiner Bände steht, die Mitarbeite- rin verriet mir aber, daß ich Herrn Kaufholz bei der Volksstimme erreiche, er sei dort Chefreporter. Zufällig arbeitet meine Nichte auch bei der Volksstimme und vermittelte mir ein Gespräch mit dem Autor. Von ihm erfuhr ich, daß diese Ge- schichte in dem Band »Der Ripper von Magdeburg« zu finden ist (ein Film über diesen Fall lief übrigens unlängst als Wiederholung im RBB). Meine Versuche, aus dem Archiv der Volksstimme den Gerichtsbericht von da- mals zu erhalten, schlugen fehl. »Nicht fündig geworden« übermittelte die Nichte dem Onkel. Das kann ich mir nicht vorstellen, denn ich wußte mittlerweile die Daten der Gerichtsverhandlung und der Urteilsverkündung. Zusätzlich habe ich dann eine Kollegin von damals in die Spur geschickt. Auch sie wurde nicht fün- dig. »Vielleicht hat das Archiv beim Umzug gelitten.« Eine andere – für mich die wahrscheinliche – Variante: Es ist nichts veröffentlicht worden – eben aus Rück- sicht auf das gesamte Umfeld: Ehepartner (die Täter waren verheiratet), Kinder, Nachbarn, Arbeitskollegen, Freunde, Bekannte ... Und in diesem weiten Umfeld eben auch dieser oder jener mittelbar Beteiligte. Persönlichkeitsschutz also ist ein Grund. Ein anderer: An Debatten in solcher Breite war die DDR nicht interessiert (mir war einmal zu Ohren gekommen, daß eine Nachricht über ein Geschehnis, das in der Region für Unruhe sorgte, vom Generalsekretär persönlich formuliert und nur regional veröffentlicht wurde). Meine Kollegin von damals aber fand her- aus, daß die Wochenpost in Ausgabe 6/1960 über diesen Prozeß berichtet hatte. Autor war der ebenso literarisch geschätzte Rudolf Hirsch – wir erinnern uns an ihn, seine Gerichtsberichte waren DDR-weit bekannt. Er verwendete in seinem Bericht allerdings die vollen Klarnamen. Was nicht üblich war und ist. Er gab die Aussagen zweier Zeugen wider, des Hauptbuchhalters und des Chauffeurs. Sie beklagten die selbstherrlichen Gewohnheiten ihres Chefs. »Wenn sie vor einem Jahr den Mund aufgetan hätten …«, gab der Verfasser zu bedenken. »Sie hatten Kenntnis von den Allüren ihres Vorgesetzten ... Sie haben es geduldet, haben den Karrieristen, Manager und Betriebscasanova nicht bloßgestellt ... Es wäre ihre Pflicht gewesen, dagegen Sturm zu laufen, selbst auf die Gefahr hin, Unannehm- lichkeiten erdulden zu müssen. Auch sie haben eine Schuld auf sich geladen, nicht

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aber eine Mitschuld am Tode ... Daß ein Mord Folge ihres Versagens war, konnten sie nicht voraussehen.« Richtig, richtig. Wie es aber einer Frau ergehen kann, wenn sie sich dem Wer- ben des Chefs widersetzt, schilderte eine Zeugin; aus Taktgründen war nur sie ge- laden. Seit ihrer Weigerung habe sie keinen ruhigen Tag mehr im Betrieb gehabt. Es sei unsere Aufgabe zu untersuchen, so Rudolf Hirsch, auf welchem Boden ein derartiges Verbrechen gedeihen konnte. Und dieser Aufgabe hatte sich auch der Film gestellt. In der Geschichte von Bernd Kaufholz »Die Ertrunkene aus der Elbe« in »Der Ripper von Magdeburg, Spektakuläre Kriminalfälle«, edition Volksstimme, Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle 2001, ist der Fall geschildert. Auf der Grundlage dieser Schilderung kann man sich vergegenwärtigen, was der Film aus diesem Stoff gemacht hat. Dieter Römmler

Die Beteiligten

Produktionsland DDR, 1988 Produzent DEFA-Studio für Spielfilme Uraufführung 15. Juni 1989, Kino »International«, Berlin Produktionsleitung Katrin Wiedemann Regie Horst E. Brandt Drehbuch Gerhard Bengsch Kamera Peter Badel Bauten Georg Wratsch Kostüme Inez Raatzke Schnitt Rosemarie Drinkorn Musik Rainer Böhm Darstellende Hans Gregor: Manfred Gorr Erwin Müller: Gunter Schoß Willi Stegmeier: Jürgen Zartmann Eva Sorge: Karin Ugowski Ewald Sorge: Christoph Engel Anna Sell: Karin Gregorek Helga Jordan: Katrin Knappe Betty Stegmeier: Renate Heymer

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Darstellende Staatsanwalt Matthes: Peter Kube Richard Sell: Wolfgang Greese Erika Müller: Friederike Aust in weiteren Rollen: Stefan Lisewski, Harry Pietzsch, Ute Lubosch, Petra Hintze

Zum Inhalt 1964 wird in einer Kleinstadt an der Elbe die Leiche von Christa Gellert aus dem Wasser gefischt. Scheinbar hat sich ein Unfall ereignet, so sagen jedenfalls die Beteiligten aus: Christa war mit dem Stadtrat Stegmeier und dessen Mitarbeiterin Anna Sell auf einer Dienstfahrt unterwegs und ist beim Pflücken von Weidenkätzchen ertrunken. Der junge Kriminalbeamte Hans Gregor vermutet mehr hinter der Sache und geht Gerüchten nach – erst recht, als sein Vorgesetzter Erwin Müller, der mit Stadtrat Stegmaier befreundet ist, ihn davon abhalten will. Nach undurchsichtigen Zeugenaussagen läßt Gregor eine Exhumie- rung vornehmen und findet heraus, daß die Tote schwanger war. Eine Kollegin weiß ge- naueres über Christas Verhältnis zum Stadtrat, scheut jedoch eine klare Aussage. Nur mit unendlicher Geduld kann sich Gregor durch das Geflecht der Abhängigkeiten kämpfen, um den Fall zu lösen.

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Über die Autoren

Klaus-Detlef Haas geboren 1949 in Berlin; 1968 bis 1975 Studium der Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, danach hauptamtlich in FDJ und SED tätig, ab 1990 Arbeit als Journalist, seit 1999 freiberuflich. Seit 1990 ehrenamtliche Arbeit im ANTIEISZEITKOMITEE und anderen Kulturprojekten.

Dr. Dieter Wolf geboren 1933 in Bad Frankenhausen/Kyffhäuser; 1952 bis 1954 Studium der Germanistik in Jena; 1954 bis 1958 Studium der Film-Produktion Deutschen Hochschule für Filmkunst Potsdam-Babelsberg; von 1958 bis 1990 im VEB DEFA-Studio für Spielfilme tätig, zunächst als Produktionsassistent, dann als Dramaturg, von 1964 an Leiter und Hauptdramaturg der Gruppe Babelsberg, als Dramaturg Mitwirkung an 26 der in der Gruppe Babelsberg entstanden 97 Filme.

Arbeit als Autor: Bevor der Film ins Kino komm. Von der Idee zur Premiere, Berlin 1984 u. 1987; Gruppe Babelsberg. Unsere nicht gedrehten Filme, Berlin 2000;

als Herausgeber: Barbara und Winfried Junge, Die Kinder von Golzow, Marburg 2004; div. Filmpublizistik, Mitautor von Sammelwerken, u. a. Babelsberg. Ein Filmstudio 1912/1992, Berlin 1992; Vor der Kamera. Fünfzig Schauspieler in Babelsberg, Berlin 2005; Jahrbuch der DEFA-Stiftung 2005; Zwischen uns die Mauer, DEFA Filme auf der Berlinale, Berlin 2010

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Alphabetisches Verzeichnis der Filme

Inhalt (nach Filmtiteln alpabetisch geordnet) – Titel und Regisseur

Abschied Egon Günther Ach du fröhliche Günter Reisch Addio piccola mia Lothar Warneke Affaire Blum Erich Engel Anton der Zauberer Günter Reisch Beethoven – Tage aus einem Leben Horst Seemann Berlin – Ecke Schönhauser Gerhard Klein Beschreibung eines Sommers Ralf Kirsten Bis daß der Tod euch scheidet Heiner Carow Blonder Tango Lothar Warneke Busch singt Konrad Wolf Chronik eines Mordes Joachim Hasler Das Beil von Wandsbeck Falk Harnack Das Fräulein von Scuderi Eugen York Das Kaninchen bin ich Kurt Maetzig Der Aufenthalt Frank Beyer Der Bruch Frank Beyer Der Dritte Egon Günther Der Fall Gleiwitz Gerhard Klein Der Geteilte Himmel Konrad Wolf Der Mann, der nach der Oma kam Roland Oehme Der Untertan Wolfgang Staudte Der Verlorene Engel Ralf Kirsten Die besten Jahre Günther Rücker Die Beteiligten Horst E. Brandt Die Beunruhigung Lothar Warneke Die blauen Schwerter Wolfgang Schleif Die Braut Egon Günther Die Kraniche ziehen Michail Kalatosow Die Schlüssel Egon Günther Die Zeit, die bleibt Lew Hohmann Ein Lord am Alexanderplatz Günter Reisch Einer trage des anderen Last Lothar Warneke Einmal ist keinmal Konrad Wolf For eyes only János Veiczi Genesung Konrad Wolf

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Geschichten jener Nacht Karlheinz Carpentier, Ulrich Thein, Frank Vogel, Gerhard Klein Ich war neunzehn Konrad Wolf Junges Gemüse Günter Reisch Karbid und Sauerampfer Frank Beyer Klarer Himmel Grigori Tschuchrai KLK an PTX Horst E. Brandt Leichensache Zernik Helmut Nitzschke Leuchte, mein Stern, leuchte Alexander Mitta Leute mit Flügeln Konrad Wolf Liebesfallen Werner W. Wallroth Lotte in Weimar Egon Günther Mama, ich lebe Konrad Wolf Mir nach, Canaillen Ralf Kirsten Professor Mamlock Konrad Wolf Rotation Wolfgang Staudte Solo Sunny Konrad Wolf Sterne Konrad Wolf … und morgen war Krieg Juri Karra Und nächstes Jahr am Balaton Hermann Zschoche Unterwegs zu Lenin Günter Reisch Wenn du groß bist, lieber Adam Egon Günther Wir Wunderkinder Kurt Hoffmann Wolz Günter Reisch

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