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BILD: HERLINDE KOELBL AGENTUR/ FOCUS —

12 Verstehen Sie diese Frau? ist seit zehn Jahren Kanzlerin Deutschlands. Was die mächtigste Frau der Welt wirklich antreibt, ist nicht klar. Was von ihrer Amtszeit bleiben wird, schon: ihre Haltung in der Flüchtlingsfrage.

Von Michael Angele BILD: HERLINDE KOELBL AGENTUR/ FOCUS —

DAS MAGAZIN 47/2015

13 Ich fühle mich Angela Merkel manchmal ten – Merkel hält die böse Welt von sehr nahe. Sie wohnt nur etwa hundert Deutschland fern, aber das ist ein trüge- Meter von meinem Arbeitsplatz ent- risches Projekt: So etwa lautete die kriti- fernt, ich fahre täglich an ihrem Haus sche Erzählung jener Tage, in denen An- vorbei. Es liegt in einer ruhigen Ecke von gela Merkel als «Mutti» fungierte. -, am Kupfergraben, ein Ein unsägliches Wort, dessen frau- schmucker Bau, 17., vielleicht auch 18. enfeindlicher Impuls kaum thematisiert Jahrhundert, am Türschild steht «Prof. wurde. Der Publizist Stephan Hebel er- Sauer», also der Name ihres Ehemanns, hob das Wort sogar zum Buchtitel: «In zwei Polizisten stehen davor und bestä- meinem Buch ‹Mutter Blamage› über tigen der überschaubaren Zahl von Tou- Angela Merkel habe ich zu beschreiben risten: Stimmt, sie wohnt da oben, ja, im versucht, wie verfehlt die Politik dieser vierten Stock, aber nein, jetzt ist sie doch Kanzlerin ist und wie geschickt sie den nicht zu Hause. Eine kleine Welt, so pro- wahren Charakter ihres Handelns ver- saisch und geheimnislos, wie die Kanz- schleiert.» Man staunt über diese cha- lerin selbst es ist. Würde man meinen. rakterkundliche Einlassung, die man Denn das stimmt offenbar nicht. Of- eher in Antisemitismus und Antiislamis- fenbar gibt es da eine andere Welt, die mus vermuten würde: der hinterlistige ihr nun, in der Flüchtlingskrise, vor die Jude, der von seiner Religion zum Täu- Füsse fällt. Es ist eine Welt der Abgründe schen der Ungläubigen geradezu ver- und des Verdachts. Immer weniger wer- pflichtete Muslim. Und nun erweist sich den die, die ihre offene, humane, im bes- also auch die Bundeskanzlerin als eine ten Sinne christliche Flüchtlingspolitik arglistige Person. Ein einmaliger Ausset- gut finden: weniger in der Bevölkerung, zer ist das nicht. weniger in ihrer eigenen Partei und we- Dazu ein Beispiel für die Verdachts- niger in den Medien. Vielmehr fragt es hermeneutik von rechts. In ihrem Buch an allen Ecken und Enden: Was hat sie «Die Patin» behauptet Gertrud Höhler, bloss geritten, diese Selfies mit den syri- dass Merkel den heimlichen Plan verfol- schen Flüchtlingen zu machen? Wie ge, die Demokratie zu zerstören und in kann sie behaupten, dass es keine Ober- eine «Planwirtschaft neuer Ordnung» Angela grenze für die Aufnahme von Asylbe- zu überführen. Wer sich fragt, wie ein werbern gibt? Woher nimmt sie die solcher Plan in der prosaischen Wirk- Frechheit, einfach zu behaupten, dass lichkeit des Kanzleramts umgesetzt wer- und ich «wir das schaffen»? Sie hat ja noch nicht den könnte, wird von der Autorin be- einmal die eigene Partei im Griff! Beglei- lehrt: «Die schwer lesbare Kanzlerin lebt tet werden diese Fragen vom Gestus der tendenziell immer undercover.» Das Unser Autor Fassungslosigkeit: Ich versteh es einfach schreibt nicht der Autor der Dr.-Mabuse- Michael Schindhelm teilte als nicht. Romane, sondern eine Professorin für junger Wissenschaftler Nicht erst, seit sie die Grenzen für Literatur und Unternehmensberaterin in Ostberlin sein Büro mit Flüchtlinge im europäischen Vergleich mit hoher medialer Präsenz. Angela Merkel. sperrangelweit öffnen liess, und auch Ihr abgrundtiefes Misstrauen be- nicht erst seit ihrer entschlossenen Wen- gründet Höhler mit der Biografie der de in der Energiepolitik versucht man Kanzlerin. Angela Merkel war 35, als die Als ich Angela Merkel im Winter 1983 Angela Merkel als ein Wesen zu verste- Mauer fiel, sie arbeitete als Physikerin an kennenlernte, arbeitete sie in einem ein- hen, das nur schwer zu verstehen ist. Das der Akademie der Wissenschaften, sie stöckigen, wackligen Bungalow, in ei- Merkelverstehenwollen ist regelrecht war weder in der SED noch in einer nem lauschigen Winkel auf dem Gelän- eine eigene Gattung in der deutschen Pu- Blockpartei, weder im kirchlichen noch de der Akademie der Wissenschaften in blizistik. Angetrieben wird es von einem im politischen Widerstand. Kurz, sie Ostberlin-Adlershof. In den Schlehen-

Verdacht: Es muss da einen verborgenen führte ein durchschnittliches Leben. büschen zeterten Spatzen. Kaninchen- BILD: PRIVAT Sinn «hinter» dem Gesagten geben. Man Eine solche Biografie könnte leicht den spuren liefen über den Schnee. Irgend- — wittert ihn von links und rechts. Von Schlüssel zum postheroischen Pragma- wo hinter einem verrosteten Maschen- links: Viele Kritiker fanden, bestimmt tismus der Kanzlerin abgeben, der ab- drahtzaun begann die brandenburgische nicht zu Unrecht, dass die Bundeskanzle- rupte Kurswechsel einschliesst, wenn Steppe. Die Zufahrtsstrasse endete kurz rin den grossen Problemen der Zeit aus- sie geboten scheinen. Aber Höhler greift hinter dem Campus in der Mauer. weicht, sie in Wortwatte packt. Ob Fi- eine andere Spur auf. Merkel habe als In den folgenden Jahren sassen Mer- nanzkrise oder die Kriege im Nahen Os- DDR-Bürgerin gelernt, zwischen den kel und ich im selben Büro und fuhren

14 Angela Merkels Dissertationsfeier 1986 Zeilen zu lesen, sich unauffällig zu ver- Worte, die ihr kurzzeitig viel Sympathie in Berlin: links ihr heutiger Ehemann halten und ihrer Umwelt zu misstrauen. einbrachten, weil sie erkennbar von Joachim Sauer, rechts der Autor. Dass eine Diktatur eher Misstrauen Herzen kamen, Worte, aus denen man stärkt als Offenheit fördert, wird man aber auch eine Distanzierung lesen nicht bestreiten können, aber hier geht konnte. Politisches Reden ist gelegent- es nicht darum, einen Regierungsstil zu lich doppelt codiert, aber man muss beschreiben oder Techniken der Macht- nicht einen unpatriotischen Akt «hin- sicherung zu erklären, hier geht es dar- ter» einer Äusserung vermuten, die vor um, eine enorme Gefahr abzuwehren, allem an die eigenen Leute gerichtet die Deutschland aus dem Zentrum sei- war. Angesprochen war der bayrische ner Macht droht. Höhler hat ihr Buch vor Ministerpräsident Horst Seehofer, der der Flüchtlingskrise geschrieben, heute ein ums andere Mal querschoss. Spür- wird ihr Impuls von vielen geteilt. bar wird in diesen Tagen, wie sich Mer- Angela Merkel heisst bei Höhler die kel ihrer eigenen Partei entfremdet, «Fremde aus Anderland». Was aber- ähnlich wie Gerhard Schröder am Ende mals wie ein politischer Fantasy-Roman seiner Kanzlerschaft – aber hat sie sich klingt, ist mehr: Wer verstehen will, was im westdeutschen, konservativen CDU- gerade mit Merkel passiert, kommt um Milieu je heimisch gefühlt? den Begriff des Fremden nicht herum. Das bezweifelt Jacqueline Boysen, Merkel hat ihn unter der Hand selbst ins die schon 2005 eine Merkel-Biografie Spiel gebracht, als sie im September ihre vorgelegt hat. Von Kindheit an sei Ange- schon historischen Worte sprach: «Ich la Merkel von der Erfahrung geprägt ge- muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt wesen, nie ganz in ihrer «umgebenden anfangen, uns noch entschuldigen zu Welt aufgehen» zu können, ein Muster, müssen dafür, dass wir in Notsituatio- das sich in ihrer politischen Karriere nen ein freundliches Gesicht zeigen, fortsetze. Auch aus der Historikerin Boy- dann ist das nicht mein Land.» sen spricht die Verdachtshermeneutik,

oft gemeinsam vom Prenzlauer Berg mit der S-Bahn an die Arbeit. Vom Zug aus sah man an mehreren Stellen hinüber auf die Dächer und Schrebergärten von Kreuzberg und Neukölln. Auf das für uns unerreichbare Jenseits der anderen Stadthälfte. Es herrschte die Totenstille der sterbenden DDR. Davon liessen wir uns aber nicht an- stecken. Vielleicht lag es an der ähnlichen Sozialisierung (protestantisches Eltern- haus), dass wir keine Bedenken hatten, offen miteinander zu sprechen. Angela Merkel, die einzige Frau in diesem Zirkel von (ausser mir) ehrwürdigen Wissen- schaftlern einer anderen Generation, hatte die Neugier für das Fremde nicht verloren. Von mir wollte sie vor allem über die Perestroika und Gorbatschow hören, denn ich hatte gerade fünf Jahre in

BILD: PRIVAT Russland verbracht. Sie schloss sich auch — einem Team junger Wissenschaftler aus der Tschechoslowakei und Polen an, um Immer weniger werden die, die aus dem ostdeutschen Trott rauszukom- men. Zusammenarbeit mit dem Westen Merkels offene, humane, im war für unsereinen tabu. besten Sinne christliche Flüchtlings- Es war ihr ernst mit der Wissen-

DAS MAGAZIN 47/2015 schaft, aber sie interessierte sich auch politik gut finden.

15 für Kunst. Manchmal gingen wir zusam- «Volksverräterin, Volksverräterin», men ins Konzert. Die Oper hatte es ihr skandierte der Mob, als Merkel schon damals angetan. Gab es im Ostber- liner Babylon eine Retrospektive von Fil- in diesem Sommer ein sächsisches men aus dem Westen, die man sonst Flüchtlingsheim besuchte. nicht zu sehen bekam, dann war Angela dabei. Meist sah man sie in Jeans und Pullover, ein schlankes Mädchen mit grossen, wachen Augen. An freien Wo- chenenden fuhr sie gern Rad in der Mark Brandenburg und an der Ostsee, und für die Männer im Büro kochte sie den Kaffee türkisch. Ihr Freundeskreis bestand vor allem aus ihresgleichen, jungen Akade- mikern – die meisten gehörten nicht zur Partei, sondern standen der evangeli- schen Kirche nahe. Dort hat sie begon- nen, sich politisch zu engagieren. Und dann war da das Paradox mit dem geteilten Deutschland. Eines Tages durfte sie zum ersten Mal in den Westen reisen, zu einem Verwandtschaftsge- burtstag. Sie kam zurück, anders, als vie- le Ostdeutsche in dieser Zeit. Sie sagte mir, dort sei zwar das gelungenere Deutschland, aber ihr Lebensmittel- punkt sei nun mal hier. Lebensmittel- sie zieht aber den gegenteiligen Schluss nungs- und nicht verantwortungs- punkt: Das war Joachim Sauer, ihre Fa- zu Höhler: Merkel konnte sich «hinter ethisch. So argumentiert Hans-Her- milie, ihre Freunde, offenbar die Akade- ihrem Fremdsein» verstecken, um eine mann Tiedje in der NZZ, wenn er mie. unideologische, die «bekannten bun- schreibt: «Ihr Satz ‹Das Grundrecht auf Dann kam die friedliche Revolution, desrepublikanischen Muster» konterka- Asyl kennt keine Obergrenze› ist nicht fiel die Mauer. Alles wurde anders. Mer- rierende Politik zu entwickeln, schreibt nur weltfremd, er ist verantwortungslos kel ahnte das. Der Lebensmittelpunkt sie in der NZZ. Dass die politische Macht wegen der Botschaft, die in ihm steckt.» würde sich verschieben. Unvorstellbare von einer Person ausgeht, die mit den In- Aber Tiedje geht noch einen Schritt wei- Dinge würden passieren. Bald zog sie in signien des «Fremden» ausgestattet ist, ter: «Sie müsste vor ihre Bevölkerung Helmut Kohls erstes gesamtdeutsches ist in der Geschichte nichts Ungewöhn­ treten und drei Sätze sagen: ‹Ich habe Kabinett ein. liches, der Bogen spannt sich von Hitler einen Fehler gemacht. Ich habe einen Als Anfang 2000 mein erster Roman über Thatcher bis Obama. Es ist der Milliardenschaden angerichtet. Ich bitte erschien, «Roberts Reise», hatte sie gera- Fremde, der das Heil bringt, und es ist um Verzeihung.› Das wäre ihr politi- de den berüchtigten offenen Brief an Hel- der Fremde, der das Unheil bringt. Cha- sches Ende, aber auch so rückt es nä- mut Kohl in der FAZ veröffentlicht, der zu rismatiker und Dämon. Als Charismati- her.» Man hat nicht den Eindruck, dass Kohls Sturz und ihrem Aufstieg führte. kerin galt Merkel noch nie, dämonisiert der Publizist dieses Ende bedauert. Aber Sie erkannte sich in einer Figur von «Ro- wurde sie schon immer. rückt es wirklich näher? Vielleicht. Viel- berts Reise» wieder, Renate. Der Erzäh- Natürlich kann man ihre weiche leicht auch nicht. ler schenkt Renate in der Geschichte zum Haltung in der Flüchtlingspolitik zu Fest steht, dass sich die deutschen Abschied ein Buch. Das Buch enthält die Recht kritisieren, sofern sie unter der za- Leitmedien und Alpha-Journalisten Widmung: «Geh ins Offene». ckigen Handschrift eines Thomas de nicht so gern auf das Merkelverstehen- Ein paar Monate später wurde Ange- Maizière oder eines Schäuble überhaupt wollen beschränken, sie wollen schon la Merkel von einer Männerriege rhein- noch erkennbar ist. Gerhard Schröder auch Politik machen oder genauer: deutscher Konservativer zu deren Vor- hat das mit schlichten Worten getan: Macht spüren, indem sie Mächtige ihre sitzender gewählt. In ihrer Antrittsrede «Viel Herz, kein Plan». Diese schlichten Macht spüren lassen. auf dem CDU-Parteikongress rief sie Worte könnten etwas kompliziertere Deutsche Leitartikler fantasieren den Delegierten den mir vertrauten Satz werden: Sie denkt nicht über die fatalen sich deutsche Politik gern als Shake­ zu: «Geht ins Offene!» Es war der Be- Folgen ihrer gut gemeinten Handlungen speare’sches Stück, mit viel Verrat und ginn einer neuen Ära. Nicht nur für die nach, anders gesagt: Sie handelt gesin- Intrige und sie selbst in der Rolle des CDU, wie sich bald zeigen würde.

16 Ich hatte Renate und die Widmung er- Königsmörders (wenn man schon nicht und er ist dabei, die Willkommenskultur funden. Merkel nahm sie trotzdem ernst. selbst König sein kann). Das war bei Ger- mitzureissen. Angst verstärkt den Arg- Am Tag der Deutschen Einheit vor neun hard Schröder so, der vom «Spiegel» wohn, der wiederum die Angst verstärkt. Jahren erinnerte sie sich in einer Rede buchstäblich aus dem Amt geschrieben Bekannt ist dieser paranoische Me- an die Wende in der DDR und an diese wurde, das war bei Bundespräsident chanismus aus der Weimarer Republik, fiktive Widmung: «Sie ist für mich wie Christian Wulff so, auf den die Medien die in diesen Tagen nicht ganz zu Un- die Überschrift über all meine Gefühle, eine regelrechte Hetzjagd betrieben, recht häufig zum Vergleich herangezo- Wünsche und Sehnsüchte dieser Zeit: und es ist mit Angela Merkel so. Die gen wird. Geh ins Offene. Das war mit das Schöns- muss weg! Es ist nicht leicht, in dieser Lage te, was man mir zu dieser Zeit sagen Dabei ist Tiedje ein Wiederholungs- Realängste und neurotische Ängste zu konnte. Und wie ich losmarschiert bin!» täter. Legendär wurde er als Chefredak- unterscheiden. Wer etwa könnte deren Der Weg von dem inzwischen abge- tor der «Bild»-Zeitung mit einer Titel- Anteil in der Furcht vor einer Islamisie- rissenen Bungalow in Adlershof an die seite, die den damaligen Bundeskanzler rung des Westens quantifizieren? Die Spitze der Bundesregierung und zu zehn , um 90 Grad gedreht, zeig- Linke beziffert ihn traditionell als nied- Jahren Kanzlerschaft war Merkels langer te, dazu die Schlagzeile: «Der Umfal- rig bis null, was nicht nur der Philosoph Marsch. Unzählige Kommentare haben ler», die sich auf Steuererhöhungen in Slavoj Žižek für einen Fehler hält, die ihren Marsch begleitet, aber sie ist offen- der Folge der deutschen Einheit bezog, Rechte bei hundert Prozent, was defini- bar so etwas wie ein Rätsel geblieben. die Kohl im Wahlkampf kategorisch aus- tiv eine Dämonisierung ist. Das Rätsel könnte darin bestehen, geschlossen hatte. Das hinderte Tiedje Es ist Angela Merkel nicht gelungen, dass Merkel in keine Schublade passt. freilich nicht daran, ein paar Jahre später die Dämonen zu bannen. Sie kennt die Dass sie anders ist. Anders als zum Bei- für Kohl als Berater in dessen letzten «German Angst» vermutlich einfach spiel Margaret Thatcher oder Hillary Wahlkampf zu steigen. So laufen die nicht. Das kann man ihr als Schwäche Clinton und erst recht als jeder deutsche Dinge in Berlin nun einmal. Ausserdem: auslegen, weil sie so einen Teil ihrer Be- Spitzenpolitiker. Warnen Leute wie er nicht vor den völkerung nicht erreicht. Wer indes Wahrscheinlich ist sie nicht nur an- schädlichen Folgen einer zu rigiden Mo- hofft, dass sie nach den Anschlägen von ders, weil sie eine Frau und eine ehema- ral? Ist es nicht ein «moralischer Impe- Paris bei ihrem humanen Kurs gegen- lige Naturwissenschaftlerin ist. Das rialismus», der von Merkels Deutsch- über den Flüchtlingen bleibt, wird in ih- scheinbare Rätsel könnte in Merkels land heute ausgeht? Man fragt sich, ob rer Angstfreiheit primär eine grosse Biografie begründet sein. Wer den Zu- das noch ätzende Kritik oder schon Stärke sehen. sammenbruch eines Landes und Demagogie ist. Vielleicht beides. schliesslich eines politischen Systems Es gibt eine ganze Reihe von Publi- erlebt, wird entweder gelähmt oder mo- zisten, die gerade wie die nur leicht zivi- bilisiert. Angela Merkel gehört eindeutig lisierte Version des Wutbürgers anmu- zur zweiten Gruppe. Obwohl man ihr oft ten, der in der -Version zum Zaudern vorgeworfen hat, halte ich sie «Hassbürger» mutiert. «Volksverräte- für angstfrei. Nicht nur, weil ich sie so rin, Volksverräterin», skandierte der schon vor dreissig Jahren in Adlershof Mob, als Merkel diesen Sommer ein erlebt habe, sondern auch, weil sie ohne sächsisches Flüchtlingsheim besuchte. diese Angstfreiheit nie den Weg an die In der FAZ oder auch im Monatsmagazin Spitze einer konservativen (west-)deut- «Cicero» vernimmt man in diesen Ta- schen Volkspartei gemacht hätte. gen fast schon den gleichen Sound. Es Merkels Courage leitet sich davon fallen Worte wie «Unverschämtheit», ab, dass «wer nicht wagt, der nicht ge- wo man auch «Empathie» sagen könnte. winnt», wie sie auch in der erwähnten Woher kommt dieser Hass, woher diese Rede vor neun Jahren gesagt hatte. Mit Häme? Vielleicht aus der Angst. ihrer verblüffend hartnäckigen Flücht- Ein Wort, das dieser Tage die Runde lingspolitik wagt sie vielleicht alles. Wie macht: Die «German Angst» ist zurück. 1989, als sie Politikerin wurde, wie 1999, Die Angst also, die so schnell masslos, so als sie mit ihrem Patron Helmut Kohl schnell apokalyptisch wird, sie hat eine brach. Sie geht wieder einmal ins Offene soziale Grundierung: Vielen Menschen und erwartet, dass die Deutschen, dass geht es gar nicht so schlecht, aber sie ha- die Menschen in Europa mitgehen. ben Abstiegsängste, die sich mit den Ängsten derer verstärken, die schon un- ten sind und nun fürchten, dass ihnen das wenige noch von den Flüchtlingen genommen wird. Es ist ein Angststrom,

MICHAEL SCHINDHELM ist Schriftsteller und Kulturforscher. Er lebt in Lugano und London; MICHAEL ANGELE ist stellvertretender Chefredaktor bei «Der Freitag»; [email protected] [email protected] 17