Neue Soziale FORSCHUNGSJOURNAL Bewegungen

ZIVILGESELLSCHAFT IN BRÜSSEL – Mehr als ein demokratisches Feigenblatt?

Heft 2 – Juni 2008 € 14,- Inhalt 1

EDITORIAL 83 Kathrin Glastra ...... Public Affairs Management in Brüssel. 3 Matthias Freise, Jochen Roose Ein Praxisbericht am Beispiel Zivilgesellschaft in Brüssel – Mehr als nur des Anti-Dumping Verfahrens für ein demokratisches Feigenblatt? Energiesparlampen

AKTUELLE ANALYSE ...... FORUM BÜRGERGESELLSCHAFT ......

9 Ludger Volmer 91 Gloria Possart Der grüne Super-Gau – Die Bürgerkommune auf dem Prüfstand die Landtagswahlen von Hessen und Niedersachsen 94 Elke Becker Aus den Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung THEMENSCHWERPUNKT in der Stadtentwicklung lernen ......

99 Thomas Röbke 16 Matthias Freise Was meint Brüssel eigentlich, wenn Zwischen Graswurzelbewegung und von Zivilgesellschaft die Rede ist? geordneten Strukturen. Lokale Engagementpolitik am Beispiel Nürnberg 29 Gudrun Eisele Worte und Taten: Der Europäische Wirt- schafts- und Sozialausschuss als Forum der 108 Hannes Wezel organisierten Zivilgesellschaft Bürgerkommune als Gesamtkonzept. Die „Nürtinger Formel“

42 Matthias Dembinski/Jutta Joachim Von der Zusammenarbeit europäischer Re- 112 Roswitha Rüschendorf gierungen zum Europäischen Regieren? Standorte bestimmen und Wege ausbauen. Nichtregierungsorganisationen in der Eine „Arbeitshilfe zur Selbstbewertung dörf- EU-Außenpolitik licher Aktivitäten“

52 Kristina Charrad PULSSCHLAG ...... Teilhaber oder Beobachter? Interessengruppen aus Mittel- und 115 Birgit Sittermann Osteuropa auf Brüsseler Parkett Europa im Blick Das Observatorium für die Entwicklung der 64 Christine Quittkat sozialen Dienste in Europa Wirklich näher am Bürger? Konsultationsinstrumente der 119 Markus Linden EU-Kommission auf dem Prüfstand Prekäre Lebenslage – prekäre Repräsentation? 73 Thorsten Hüller Demokratisierung der EU durch Online- 126 Tina Guenther/Kai-Uwe Hellmann Konsultationen? Gesellschaft und Politik im Web 2.0-Fieber 2 Inhalt

TAGUNGSHINWEIS 148 EU-Lobbying: Mehr Erkenntnis ist notwen- ...... dig (Rudolf Speth) 131 „In der Lobby brennt noch Licht“ – Lobbyismus als politisches 150 Erfolg von Bewegungen – ein unerforsch- Schatten-Management bares Thema? (Jochen Roose)

CALL FOR P APERS 154 Konsumenten und Unternehmen: ‚Gute ...... Bürger’ im Zeitalter digitaler Medien? (Ben- 135 Orientierung in einem wilden Komplex. jamin Ewert) Konzepte und Methoden in der Forschung über Protest und Soziale Bewegungen 156 Theorie und Praxis des politischen Protests in Deutschland (Felix Kolb) TREIBGUT ...... 158 DATENBANK BEWEGUNGSFORSCHUNG 137 Materialien, Notizen, Hinweise ......

LITERATUR 159 AKTUELLE BIBLIOGRAPHIE ...... 142 Brüssel auf der Suche nach demokratischer Legitimität (Dawid Friedrich) 163 ABSTRACTS ......

145 Brüssler Lobbyisten packen aus (Alexia 168 IMPRESSUM Duten) ...... Editorial 3

Zivilgesellschaft in Brüssel – nur selten ein Gesetzgebungsverfahren blockiert, Mehr als nur ein demokratisches denn in den informellen Aushandlungsprozes- Feigenblatt? sen und bei der Rücksichtnahme auf Positionen verschieben sich die Kräfte innerhalb der Brüss- Die Europäische Union (EU) hat ein Demokra- ler Institutionen erheblich zugunsten des Parla- tiedefizit. Diese Aussage scheint so selbstver- ments. ständlich, dass sie kaum der weiteren Erläute- Anders sieht es hingegen bei der Beteiligung rung bedarf (vgl. aber Bach 2000, Fuchs 2003). von Bürgerinteressen und der Zivilgesellschaft Die EU hat sich selbst dieses Problems ange- aus. Hier reicht die Einrichtung von Webseiten nommen. So wurde in den Vertragsreformen oder die Einführung von beratenden Ausschüs- der letzten Jahrzehnte der demokratische Cha- sen allein nicht aus. Erst wenn die dort geäußer- rakter der EU gestärkt. Deutlichstes Zeichen ist ten Argumente substanziell verarbeitet werden der Machtzuwachs des Europäischen Parla- und eine Deliberation der politischen Program- ments als direkt von den Bürgern gewählte In- me – zumindest unter Experten und Interessen- stitution. Der Anteil von Richtlinien, die im Ver- vertretern – stattfindet mit Folgen für den Ge- fahren der Mitentscheidung unter maßgeblicher setzgebungsvorschlag, kann von einer Demo- Beteiligung des Parlaments beschlossen wur- kratisierung gesprochen werden. Ob und in den, hat deutlich zugenommen (Wessels 2008: welchem Maße dies aber geschieht, gilt es nä- 349). Zudem bemüht sich die Europäische Kom- her zu betrachten. Abhängig vom tatsächlichen mission um eine Öffnung gegenüber der Zivil- Einfluss dieser diskursiven Prozesse rund um gesellschaft. Die Meinung der organisierten In- die EU-Kommission fällt auch die Diagnose teressen, aber auch des einzelnen Bürgers soll des Demokratiedefizits unterschiedlich aus. stärker in den politischen Prozess einfließen. Die Einbindung der Zivilgesellschaft ist für Die frühzeitige Veröffentlichung von Gesetzge- die EU ein zweischneidiges Schwert. Demo- bungsvorhaben und Konsultationsprozesse im kratisierend ist die Einbindung der vielen Stim- Vorfeld von geplanten Regelungen sollen die men und guten Argumente. Eine Deliberation EU gegenüber den Wünschen und Interessen im Sinne von Habermas (1990, 1992) kann die der Bürger öffnen. Demokratie nur stärken. Ziel wäre hier, alle re- Angesichts dieser Entwicklungen, im Zuge levanten Argumente in einen Diskurs einzubrin- derer die Institutionenstruktur der EU erheblich gen, um die beste Lösung für Probleme zu er- verändert wurde, gerät auch die Diagnose des mitteln. Die vielfältigen, mit den Begriffen Dis- Demokratiedefizits potenziell ins Wanken. Hat kurs und Zivilgesellschaft verbundenen Hoff- sich das Problem also erledigt, ist es auf ein nungen stehen für diese demokratisierende Wir- vertretbares Maß eingedämmt, oder besteht es kung (vgl. Klein 2001). Die praktische Umset- in vollem Umfang weiter (Majone 2000, Mo- zung eines solchen Ziels führt dann aber schnell ravcsik 2002, 2004, kritisch dazu wiederum in Richtung eines Systems der pluralistischen Follesdal/Hix 2006)? Interessenvertretung mit den bekannten Nach- Die Veränderungen des institutionellen Ge- teilen. Schon vor langer Zeit wurde auf die Un- setzgebungsweges lassen sich recht leicht beur- gleichgewichte der Interessenvertretungschan- teilen. Das Europäische Parlament hat mit den cen hingewiesen (vgl. als Überblick Sebaldt/ Vertragskonsolidierungen zusätzliche Befugnis- Straßner 2004). Interessen, die sich nicht auf se erhalten und wird damit zu einem mächtige- einen bestimmten Adressatenkreis beziehen ren Spieler. Diese Machtverschiebung schlägt (zum Beispiel Umweltschutz), lassen sich be- sich selbst dann nieder, wenn das Parlament kanntermaßen schlechter organisieren als Inter- 4 Editorial

essen mit einem begrenzten Kreis potenzieller geisterung der Europäer für die Union soll er- Nutznießer, die ihren Vorteil geldwert messen höht werden durch die Stärkung ihres demo- können (zum Beispiel Arbeitgeber). Offe hatte kratischen Charakters. Der Verfassungsprozess auf dieses Ungleichgewicht vor langer Zeit hin- hatte seine Intention nicht zuletzt in dieser Rich- gewiesen (Offe 1972, vgl. aber Roose 2006). tung (vgl. z.B. Leinen 2001, Lepsius 2006) – Im Kontext der EU trifft diese Verzerrung nicht um so schmerzlicher war sein Scheitern in Hin- allein die sogenannten schwachen Interessen, blick auf die Akzeptanz der EU. Tatsächlich sind sondern auch die schwachen Länder. In Bezug die Bürger Europas trotz aller institutionellen auf das Themenspektrum und die geographi- Reformen vom demokratischen Charakter der sche Abdeckung drohen Verzerrungen, die ei- EU nicht überzeugt. Nur 30 % waren im Herbst ner Demokratisierung durch Interessenvertre- 2007 der Ansicht, dass ihre Stimme in Europa tung entgegenstehen. Die normativen Vorbehal- zähle (Europäische Kommission 2007b: 40).1 te gegenüber Lobbying weisen auf diese Unzu- Wenn die Europäer gefragt werden, was die länglichkeiten hin (vgl. Kleinfeld et al. 2007, Europäische Union für sie bedeute, antworten Leif/Speth 2006). Wird die angestrebte Delibe- nur 22 % Demokratie. Ebenso viele denken an ration aller umgesetzt als Offenheit gegenüber Bürokratie und Geldverschwendung (21 % bzw. Lobbyisten, wobei die starken Interessen, vor 20 %, Europäische Kommission 2007a: 91). Ein allem Wirtschaftsinteressen, und die reichen verstärkter Glaube an die demokratische Legi- Länder im Vorteil sind, dann würde sich das timität würde der EU also gut zu Gesicht ste- Demokratiedefizit der EU keineswegs verrin- hen. gern, sondern sogar noch verschärfen. Entschei- Eine Deliberation mit der Zivilgesellschaft dend ist also, in welchem Maße es der EU tat- könnte die Legitimationsbasis verbessern, eine sächlich gelingt, ein breites Spektrum von Inte- verzerrte, selektive Einbindung von Lobbyisten ressen in einen Diskurs zu integrieren, der im die Probleme verschärfen. Die Kommission be- Politikzyklus einflussreich wird oder mindestens müht sich, die Chancen zu nutzen und die Ge- nicht vollkommen irrelevant bleibt. fahren abzuwehren. Die Beteiligungsmöglich- Die Bearbeitung des Demokratiedefizits ist keiten wurden ausgebaut und die Bürger zur für die EU aus zwei Gründen von Bedeutung. Beteiligung ermuntert. Parallel entwickelt die Auf der einen Seite steht die Legitimität der EU Kommission Instrumente zur Kontrolle und Re- insgesamt auf dem Spiel. Die EU definiert sich glementierung von Interessenorganisationen. als demokratische Gemeinschaft demokratischer Das Weißbuch Europäisches Regieren (Euro- Staaten. In der Präambel des konsolidierten Ver- päische Kommission 2001) und das Grünbuch trages über die Europäische Union wird auf zur Europäischen Transparenzinitiative (Euro- beide Demokratieaspekte verwiesen. In den päische Kommission 2006) sind Schritte auf Kopenhagener Kriterien, mit denen die Bedin- diesem Weg, sich selbst Regeln zur Einbindung gungen eines Beitritts zur EU festgelegt wur- der Zivilgesellschaft zu geben und gleichzeitig den, sind stabile demokratische Institutionen von die Transparenz und Repräsentativität dieser Ein- hervorgehobener Bedeutung. Der Bezug auf bindung zu gewährleisten. Wer sich mit diesen Demokratie ist für das Selbstverständnis der Dokumenten beschäftigt, bekommt schnell ei- EU und ihre Legitimationsbasis von größter nen Eindruck von den Hoffnungen auf Legiti- Wichtigkeit. mationsgewinn und den parallelen Versuchen, Auf der anderen Seite erhofft sich die EU Schieflagen einzudämmen. durch eine Demokratisierung eine verbesserte Doch Papier ist geduldig, die Bücher der Anerkennung bei den Bürgern. Die geringe Be- EU, gleich welcher Farbe, sind Absichtserklä- Editorial 5

rungen für zukünftiges Vorgehen, die kommen- tung gewinnen und seiner ursprünglichen Auf- de Regelungen allenfalls skizzieren. Entschei- gabe besser gerecht werden könnte. Matthias dend ist die Wirklichkeit zwischen egoistischem Dembinski und Jutta Joachim bearbeiten das Lobbying der Starken und breiter Deliberation Feld der Außen- und Sicherheitspolitik. Sie aller relevanten Kräfte und aller guten Argu- zeichnen am Beispiel des 1998 verabschiedeten mente. Gerade aus dieser Ambivalenz einer zi- Kodexes zum Export von Rüstungsgütern nach, vilgesellschaftlichen Beteiligung ergibt sich der wie Verbände in diesem Politikfeld, das zwi- Bedarf einer genauen empirischen Analyse der schen den Regierungen koordiniert wird, durch wirklichen Interesseneinbindung. Koalitionsbildung und Überzeugungsarbeit trotz Das vorliegende Heft widmet sich dieser He- schwierigster Ausgangsbedingungen etwas er- rausforderung. Dabei liegt das Hauptaugenmerk reichen konnten. Kristina Charrad analysiert auf dem Umgang der EU-Kommission mit der das Spektrum der Interessenvertretungsorgani- Zivilgesellschaft. Dieser Fokus mag angesichts sationen. Die doppelte Verzerrung der vertrete- der zunehmenden Bedeutung des Parlaments nen Interessen wird deutlich: die thematische überraschen. Doch in diesem Heft soll nicht Verzerrung mit einer Privilegierung des Kapi- allgemein die Lobbyingaktivität auf europäischer tals und eine geographische Verzerrung zum Ebene betrachtet werden (vgl. dazu Lahusen/ Nachteil der mittelosteuropäischen Beitrittslän- Jauß 2001, Schendelen 2003). Vor dem Hinter- der. Christine Quittkat diskutiert verschiedene grund der Diskussionen um das Demokratiede- Konsultationsinstrumente, mit denen die Kom- fizit stellt sich die entscheidende legitimatori- mission Interessengruppen und Bürgern die sche Frage bei der Kommission, die mit ihrem Chance gibt, ihre Kommentare zu geplanten Initiativmonopol für europäische Gesetzgebung Vorhaben frühzeitig einzubringen. Die entschei- eine herausragende Rolle spielt und gleichzeitig dende Frage ist aber, wie die Kommentare in weder durch die Bürger gewählt, noch direkt den weiteren Prozess eingehen. Hier bleibt das von einem Parlament kontrolliert wird. Resümee sehr verhalten. Die weitere Bearbei- Der Beitrag von Matthias Freise macht den tung der Vorschläge ist weitgehend intranspa- Auftakt mit einer Diskussion der Frage, was rent und konkrete Niederschläge in den Kom- die Europäische Kommission unter Zivilgesell- missionsvorlagen gibt es kaum. Thorsten Hüll- schaft versteht. Dabei wird nicht nur das Spek- er nimmt sich ergänzend dazu das in den letzten trum der Akteure deutlich, die aus Sicht der Jahren verstärkt genutzte Instrument der Onli- Kommission relevant sind, sondern die der Zi- ne-Konsultationen vor. Hier scheint auf den ers- vilgesellschaft zugedachte Rolle zeichnet sich ten Blick ein besonderes demokratisierendes deutlich ab. Freise zieht die Verbindungslinien Potenzial zu liegen, weil per Internet viele Men- zwischen dem Verständnis der Kommission und schen zu geringen Kosten in einen Diskurs tre- der wissenschaftlichen Debatte und weist auf ten können. Die Deliberation der Interessen- die Anknüpfungspunkte auf beiden Seiten hin. gruppen und der Bürger wird durch das techni- Gudrun Eisele nimmt sich mit dem Wirtschafts- sche Hilfsmittel scheinbar eine konkrete Mög- und Sozialausschuss ein eigenes Gremium der lichkeit. Hüller stellt ausgehend von demokra- EU vor. Hier soll die „organisierte Zivilgesell- tietheoretischen Überlegungen konkrete Krite- schaft“ zusammenkommen und beratend den rien auf und diskutiert die Möglichkeiten, die europäischen Gesetzgebungsprozess begleiten. sich durch Online-Konsultationen bieten. So Der Beitrag beschreibt die Kluft zwischen kommt er zu einem weniger euphorischen, Wunsch und Wirklichkeit und zeigt unterschied- gleichwohl realistischen Bild der Chancen die- liche Wege auf, wie der Ausschuss an Bedeu- ses Instruments. Der Themenschwerpunkt wird 6 Editorial

beschlossen durch einen Praxisbericht von Ka- sichts dieser hochtrabenden Hoffnungen und thrin Glastra über die Arbeit Brüsseler Public tiefgreifenden Ängste ist eine nüchterne, auf Affairs Agenturen. An einem Beispiel erläutert sorgfältiger empirischer Analyse basierende Be- die Mitarbeiterin eines Lobbyingbüros ihre kon- standsaufnahme umso wichtiger. krete Arbeit. Der Blick von innen heraus be- Sich von einem demokratischer werdenden schreibt jenseits der Sagen und Vorurteile über Institutionensystem eine höhere Akzeptanz der „das Lobbying“ das tatsächliche Vorgehen, das EU zu erhoffen, erscheint gleichwohl unange- dem Leser die Möglichkeit gibt, sich selbst ein bracht. Zweifellos: Die Bürger Europas denken Urteil über die Demokratie fördernde und/oder bei der EU nicht zuerst an ein demokratisches einschränkende Bedeutung dieser Arbeit zu bil- Institutionensystem, und sie halten Demokratie den. Der Themenschwerpunkt wird mit mehre- für ein großes, wichtiges Gut. Fragt man aber, ren Buchbesprechungen abgerundet. In diesem welche geographische Ebene der Entscheidungs- dynamischen Forschungsfeld gibt es gleich eine findung sie wünschen und lässt ihnen nicht nur ganze Reihe von Neuerscheinungen, die von die Wahl zwischen der nationalen Ebene und Dawid Friedrich, Alexia Duten und Rudolf Europa, sondern stellt das gesamte Spektrum Speth vorgestellt werden. zur Disposition, dann entscheiden sie sich im Forderungen nach und Strategien zur Ein- transnationalen Bereich eher für die globale bindung der Zivilgesellschaft rufen beides Ebene und gerade nicht für die europäische hervor: Ängste vor der Herrschaft der Lobbyis- (Weßels 2004). Auf der globalen Ebene finden ten und Hoffnungen auf eine deliberative Kom- sich aber Institutionensysteme, die noch weit ponente einer europäischen Demokratie. Ange- undemokratischer und bürgerferner agieren als Editorial 7

die EU. Bei der Präferenz für eine politische Anmerkung Regelungsebene scheint der demokratische Cha- 1 Gegenüber der Frühjahrsbefragung ist der rakter keine Rolle zu spielen. So wird auch ver- Wert sogar um fünf Prozentpunkte gesunken ständlich, dass der Verfassungsvertrag, der noch (Europäische Kommission 2007b: 40), einmal einen Demokratisierungsschub bedeutet allerdings unterliegen die Einstellungen der EU hätte, von denselben Bürgern abgelehnt wird, bekanntermaßen zeitlichen Schwankungen, die die das Demokratiedefizit der EU beklagen. Und sich auch wieder in eine andere Richtung bewe- auch die Wirkungslosigkeit der vergangenen De- gen können. mokratisierungsstufen bei den Vertragsrevisio- nen in Hinblick auf die Akzeptanz der EU kann Literatur nur so verständlich werden. Die Entsprechung Bach, Maurizio 2000: Die europäische Inte- des Institutionensystems mit den normativen Re- gration und die unerfüllten Versprechen der De- geln der Demokratietheorie ist für die Präferenz mokratie. In: Klingemann, Hans-Dieter/Neid- einer Regelungsebene und die Akzeptanz su- hardt, Friedhelm (Hg.): Zur Zukunft der Demo- pranationaler Institutionen scheinbar wenig oder kratie. Herausforderungen im Zeitalter der Glo- nicht entscheidend. balisierung. WZB-Jahrbuch 2000. Berlin: editi- Ein Freifahrtschein ergibt sich für die EU on sigma, 185-213. daraus freilich nicht. Eher im Gegenteil verweist Europäische Kommission 2001: Europäi- dieser Befund neben der Notwendigkeit einer sches Regieren. Ein Weißbuch. http://eur- Demokratisierung auf die Bedeutung weiterer lex.europa.eu/LexUriServ/site/de/com/2001/ Wege, die Bürger an ihre EU zu binden. Mit der com2001_0428de01.pdf. Demokratisierung allein wird die EU keine ver- Europäische Kommission 2006: Grünbuch tiefte Akzeptanz bei den Bürgern finden. Ein Europäische Transparenzinitiative. http:// erster wichtiger Schritt bleibt es gleichwohl. ec.europa.eu/commission_barroso/kallas/doc/ Die Redaktion dankt Peter Bednarz für die com2006_0194_4_de.pdf. Zuarbeit bei der Erstellung des Themenschwer- Europäische Kommission 2007a: Euroba- punkts. rometer 67. http://ec.europa.eu/public_opinion/ Am 14. und 15. März 2008 diskutierten 30 archives/eb/eb67/eb67_en.pdf. Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Europäische Kommission 2007b: Euroba- Politik, Unternehmen, Verwaltung, Medien, Ver- rometer 68. First Results. http://ec.europa.eu/ bänden, Stiftungen und anderen gemeinnützi- public_opinion/archives/eb/eb68/ gen Organisationen auf Einladung der Stiftung eb68_first_en.pdf. Bürger für Bürger auf dem „Forum Bürgerge- Follesdal, Andreas/Hix, Simon 2006: Why sellschaft“ (im Schloss Diedersdorf bei Berlin) there is a Democratic Deficit in the EU. A Re- das Konzept Bürgerkommune, ,best practice‘ sponse to Majone and Moravcsik. In: Journal und Entwicklungspotenzial. Eine Auswahl an of Common Market Studies, Jg. 44, Heft 2, Beiträgen dieses Forums ist in diesem Heft do- 533-562. kumentiert. Fuchs, Dieter 2003: Das Demokratiedefizit der Europäischen Union und die politische In- Matthias Freise (Gastherausgeber, Münster), tegration Europas: Eine Analyse der Einstellun- Jochen Roose (Berlin) gen der Bürger in Westeuropa. In: Brettschnei- der, Frank et al. (Hg.): Europäische Integration in der öffentlichen Meinung. Opladen: Leske+Budrich, 29-56. 8 Editorial

Habermas, Jürgen 1990: Strukturwandel Moravcsik, Andrew 2002: In Defence of the der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Ka- ,Democratic Deficit‘: Reassessing the Legiti- tegorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frank- macy of the European Union. In: Journal of furt/M.: Suhrkamp. Common Market Studies, Jg. 40, Heft 4, 603- Habermas, Jürgen 1992: Faktizität und Gel- 634. tung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell- Moravcsik, Andrew 2004: Is there a ‘Demo- schaft. cratic Deficit’ in World Politics? A Framework Klein, Ansgar 2001: Der Diskurs der Zivil- for Analysis. In: Government and Opposition, gesellschaft. Politische Hintergründe und de- Jg. 39, Heft 2, 336-363. mokratietheoretische Folgerungen. Opladen: Offe, Claus 1972: Politische Herrschaft und Leske+Budrich. Klassenstruktur. Zur Analyse spätkapitalisti- Kleinfeld, Ralf et al. 2007: Lobbying. Struk- scher Gesellschaftssysteme. In: Kress, Gisela/ turen, Akteure, Strategien. Wiesbaden: VS Ver- Senghaas, Dieter (Hg.): Politikwissenschaft. lag für Sozialwissenschaften. Eine Einführung in ihre Probleme. Frankfurt/ Lahusen, Christian/Jauß, Claudia 2001: M.: Fischer, 135-164. Lobbying als Beruf. Interessengruppen in der Roose, Jochen 2006: Auf dem Weg zur Um- Europäischen Union. Baden-Baden: Nomos. weltlobby. Zur Vertretung der Umweltinteres- Leif, Thomas/Speth, Rudolf 2006: Die fünf- sen in Deutschland. In: Leif, Thomas/Speth, te Gewalt. Lobbyismus in Deutschland. Bonn: Rudolf (Hg.): Die fünfte Gewalt. Lobbyismus Bundeszentrale für politische Bildung. in Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für poli- Leinen, Jo 2001: Eine europäische Verfas- tische Bildung, 270-287. sung. Grundlage einer föderalen und demokra- Schendelen, Rinus van 2003: Machiavelli in tischen Ordnung der EU. In: Timmermann, Brussels. The Art of Lobbying the EU. Amster- Heiner (Hg.): Eine Verfassung für die Europä- dam: Amsterdam University Press. ische Union. Beiträge zu einer grundsätzlichen Sebaldt, Martin/Straßner, Alexander 2004: und aktuellen Debatte. Opladen: Verbände in der Bundesrepublik Deutschland. Leske+Budrich, 57-66. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für So- Lepsius, M. Rainer 2006: Identitätsstiftung zialwissenschaften. durch eine europäische Verfassung. In: Hettla- Weßels, Bernhard 2004: Staatsaufgaben: ge- ge, Robert/Müller, Hans-Peter (Hg.): Die eu- wünschte Entscheidungsebene für acht Politik- ropäische Gesellschaft. Konstanz: UVK, 109- bereiche. In: Deth, Jan van (Hg.): Deutschland 127. in Europa. Wiesbaden: VS Verlag für Sozial- Majone, Giandomenico 2000: The Credibi- wissenschaften, 257-273. lity Crisis of Community Regulation. In: Jour- Wessels, Wolfgang 2008: Das politische Sys- nal of Common Market Studies, Jg. 38, Heft 2, tem der Europäischen Union. Wiesbaden: VS 273-302. Verlag für Sozialwissenschaften. Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008 9

Ludger Volmer

Der grüne Super-Gau – die Landtagswahlen von Hessen und Niedersachsen

Die Grünen haben bei den Landtagswahlen in del gar nicht vorzukommen, ist merkwürdig für Hessen im Januar diesen Jahres so wenige Stim- eine Partei, die den Geltungsanspruch erhebt, men bekommen, weil andere so viele erhalten dritte Kraft, Alternative und strategischer Part- haben. So lautet – kurz gefasst – die „Wahlana- ner der SPD sein zu wollen. Das Hauptproblem lyse“ der Ein-Mann-Spitze in Hessen. Die SPD liegt m.E. aber darin, dass der grüne Grundwert sei durch die Decke gegangen, und die Linke, „sozial“ bis zur Unkenntlichkeit verblasst ist. nun ja, die Linke sei jetzt auch am Start. Die Es rächen sich heute – und das war vorausseh- Schlichtheit dieser Tautologie – die Grünen ver- bar – strategische Fehlentscheidungen von vor lieren, weil die anderen gewinnen – ist ebenso 10-15 Jahren: nämlich die Partei von einer sozi- verblüffend wie die wahnhaft dahin gelächelte al-ökologischen in eine ökologische Bürger- Erleuchtung des Bundesvorstandes, die Nieder- rechtspartei umzumodeln. lage eröffne neue strategische Optionen. Nun Solange ich für die Gesamtentwicklung der müssen Spitzenfunktionäre, wie ich selber weiß, Partei Verantwortung trug – vom Ende der manchmal nach außen beschwichtigen. Verzeih- 1980er bis Mitte der 1990er Jahre – war mir lich ist das dann und nur dann, wenn nach innen klar, und ich versuchte dies auch als Linie der die notwendige Reflexion stattfindet. Aber tut Parteiführung zu implementieren: eine Auswei- sie das? tung der PDS nach Westen muss unbedingt ver- In Hessen ist mehr passiert, als dass für das hindert werden! Das war eine strategische Ent- Alpha-Männchen von einst kein adäquater Er- scheidung, ein politischer Wille. Er motivierte satz gefunden wurde. Das Modell, per Rhetorik sich aus der Einschätzung, dass die Westaus- und Popstar-Gebaren Unentschlossene herum dehnung der PDS den Grünen die Bedeutung zu kriegen und über strategische Fehlentschei- nehmen würde. Inhaltlich, weil die Linke in der dungen hinweg zu spielen, ist ausgelaufen. Der sozialen Frage entschiedener auftreten würde; Versuch, statt alternative Politik alternierendes strategisch, weil sie die von der SPD enttäusch- Personal anzubieten, hat sich erledigt. Die selbst- ten Protestwähler auffangen würde; und kultu- gefällige Attitüde, mit dem Anspielen linksbür- rell, weil sie das interessantere Momentum in gerlicher Kulturmuster die Großstadt-Szene der deutschen Politik darstellen würde. Diese abgreifen zu können, hat sich demontiert. Die PDS-Eindämmungspolitik war damals effek- Agenten von Ökologie und Verbraucherschutz tiv, wie Gysi selbst mir bestätigte. Und sie wirkte fuhrwerkten an dem vorbei, was die Seele der auch noch bis Ende der 1990er Jahre fort, ob- Globalisierungsverlierer bedrückt. Das Selbst- wohl ihre Voraussetzungen in der grünen Poli- verständnis der Bundestagsfraktion, die intelli- tik bereits erodierten. Mit den Wahlerfolgen der genteste von drei Oppositionspolitiken zu be- „Linken“ nun ist nicht nur der GAU für die treiben, mag anheimelnd sein, aber wie viele Grünen eingetreten, sondern der Super-GAU. Wähler verfügen schon über einen IQ von 140. Der Super-GAU – zur Erinnerung – ist der Gemeinsam mit die Dicken zu Größte Anzunehmende Unfall, der nicht mehr bekämpfen, in der Person Roland Koch die beherrschbar, der irreversibel ist. Doofen und während einer zweijährigen Hoch- Das Feld der epochalen Niederlage der Grü- konjunktur des ur-grünen Themas Klimawan- nen ist die soziale Frage, das Kernthema der 10 Ludger Volmer

„Linken“. Die Niederlage auf die Demagogie Verbindung von „ökologisch“ und „gewaltfrei“ eines oder den Talkshow-Witz den Gründungsprozess bestimmte, geriet die eines zu schieben, wäre zu billig. Verbindung der Grundwerte „ökologisch“ und Es sind die Grünen selbst, die sich ihre Basis „sozial“ beim Abflauen der Friedensbewegung abgegraben haben. Dazu ein kleiner Abriss der zum Erfolgsschlager. Unsere Forderungen nach Karriere der sozialen Frage in der Partei: umweltverträglichem Wirtschaften wurden in Im Gründungsprozess 1980 war heftig um- ein „ökologisches und soziales Umbaupro- stritten, ob das Soziale ein formulierter und fi- gramm der Industriegesellschaft“ gegossen. xierter Grundwert der Partei werden solle. Un- Unsere ersten klimapolitischen und globalisie- umstritten war das Ökologische als Hauptmo- rungskritischen Konzepte flossen ein in die Pro- tiv für die Gründung und als Alleinstellungs- grammschrift „Auf dem Weg zu einer ökolo- merkmal in der Parteienlandschaft. Aber um das gisch-solidarischen Weltwirtschaft“. Auch nach Ökologische gesellschaftspolitisch einzubetten, dem Austritt zahlreicher sog. Öko-Sozialisten musste über die Vorstellung von Gesellschaft 1991 orientierten sich Wahlprogramme an der gerungen werden. Anfangs war völlig offen, ob Idee eines „ökologisch-solidarischen Gesell- die Grünen ein emanzipatorisches oder ein Blut- schaftsvertrags“. (Einer der Hauptautoren ist und Boden-Projekt würden. Die Grundsatzent- heute erfolgreicher Wirtschaftssenator in Ber- scheidung zum §218 führte zum Austritt der lin – für die PDS/Linke.) Konservativen. Die Grundsatzentscheidung für Auf dieser Grundlage wurde eine aktive den sozialen Grundwert führte dazu, dass ein Verbandspolitik betrieben: Gewerkschaften, lan- Großteil der linken Gruppen der 1970er Jahre ge Zeit nicht zu unrecht als Bremser beim öko- sich in den Parteigründungsprozess integrierte. logischen Umsteuern betrachtet, wurden gezielt Die Grünen besetzten den links von der SPD im Sinne eines kritischen Dialogs angesprochen, vakanten Platz im Parteienspektrum, ohne eine ebenso wie traditionelle Sozialverbände. So traditionelle Linkspartei zu sein. Es ging eher wurde eine gesellschaftliche Basis geschaffen, um kulturelle Avantgarde, wir waren Vordenker auf der Rot-Grün als politisches Projekt der und Experimentierlabor der Gesellschaft. Die ökologisch-sozialen Umsteuerung gegen die dem eigenen Selbstverständnis nach „Linken“ lange herrschende konservative Regierung erst unterzogen sich – wenn auch oft mühsam und entstehen konnte. Wohlgemerkt: Es ging dabei sträubend – einem gemeinsamen Lernprozess nicht um Zufälligkeiten der Arithmetik, sondern mit wertkonservativen Umweltschützern. Sie um bewusst organisierte gesellschaftliche Mehr- taten dies, weil und nur weil sie die Möglichkeit heiten. Die Betonung der eigenen sozialen Ver- sahen, so in dem anschwellenden Massenpro- antwortung und ein nicht zu übersehendes ent- test auch ihre Vorstellungen zur sozialen Frage sprechendes Engagement unterschied die – so- unterzubringen. „Ökologisch, sozial, basisde- ziologisch betrachtet – bildungsbürgerliche Mit- mokratisch, gewaltfrei“ – so lauteten die gleich- telschichtpartei „Die Grünen“ nicht nur von den berechtigten Gründungsideen der Grünen, die Ego-Liberalen der FDP. Sie machten die Grü- das erfolgreichste Neugründungsprojekt einer nen auch zur Zweitoption vieler SPD-Anhän- Partei in der alten BRD stabilisierten. ger, die zu grün wechselten, wenn sie von ihrer Nun erforderten die Zeitläufte auch den Partei enttäuscht waren. Die grüne Stammwäh- Formwandel der Grundwerte. Manche konkre- lerschaft lag Anfang der 1990er Jahre knapp te Idee der Anfangsjahre musste aufgegeben oder unter 5 Prozent. Stammwähler plus rot-grün mit weiter entwickelt werden. An den Werten selbst der Präferenz grün bei 12 Prozent, mit der Prä- aber hielt die Partei fest. Während Öko-Pax, die ferenz rot bei 25 Prozent. Bis 10,3 Prozent ha- Der grüne Super-Gau – die Landtagswahlen von Hessen und Niedersachsen 11

ben wir dieses Elektorat auf der Bundesebene verpassen – das historische Aus für die Grü- ausgeschöpft (bei der Europawahl 1994). nen. In den politischen Wirren der deutschen Ver- Die Bürgerrechtler sträubten sich auch des- einigung ging dieses Erfolgsmodell verloren. halb gegen die Parteiform, weil sie mit der SED Die Partei war tief gespalten, mehrere Gruppen schlimmste Erfahrungen gemacht hatten und erhoben den Anspruch, ihr eine neue Perspekti- weltanschaulich quer zum westdeutschen Par- ve weisen zu können. Der Bundesvorstand un- teiensystem lagen. Manche von ihnen passten ter Ralf Fücks, unterstützt vom sog. „Auf- zu den Grünen, andere nicht. Um aber die West- bruch“, legte 1990 ein Leitlinienpapier vor, in partei in einem Fusionsprozess, der von gleich dem die soziale Dimension nicht mehr vorkam. zu gleich ablaufen sollte, nicht als Maßstab er- Das „Linke Forum“ schaffte es, gemeinsam mit scheinen zu lassen, wurde dieser Umstand ig- „kritischen Realos“, diesen Angriff auf die noriert. Die soziale Frage bekam eine paradoxe Grundwerte abzuwehren und die soziale Kate- Funktion. Für viele Bürgerrechtler erschien so- gorie systematisch in das Papier einzuarbeiten. zial gleich sozialistisch gleich SED gleich dik- Im Einigungspapier der beiden großen Partei- tatorisch – vor dem Hintergrund ihrer Erfah- flügel, das 1991 in Neumünster von Fritz Kuhn rungen nachvollziehbar, aber ohne wirkliche und mir ausgehandelt wurde, bekam die soziale Kenntnis der linken Diskurse in der BRD. Sie Frage wieder ihren konstitutiven Stellenwert. weigerten sich, diese als „links“ begriffene und Zugleich wurden die Abkehr vom sozialstaatli- verabscheute Dimension als Emblem vor sich chen Traditionalismus und die grüne Verant- her zu tragen. Unterstützung bekamen sie vom wortung auch für die Produktivitätsentwicklung „Aufbruch“ um , der den Fusi- und kleinere und mittlere Betriebe betont. Mit onsprozess als Neugründungsakt einer ganz dem „Konsens von Neumünster“ ließ sich le- anderen, explizit nicht-linken, eher wertkonser- ben, nicht nur für die innerparteilichen Linken, vativen ökologischen Bürgerrechtspartei betrei- sondern auch für die rot-grüne Wechselwähler- ben wollte. Auch Realos um schar. drängten in diese Richtung, weil sie sich er- Aber dann kam alles anders. Die aus dem hofften, so die Mitte-Links-Mehrheit in der ei- geflogenen Grünen-West brauchten genen Partei brechen und die neue Formation Partner in Ost-Deutschland. Im Prinzip bot sich Richtung gesellschaftlichem Mainstream trei- ein breites Spektrum an. Für ein parteiförmiges ben zu können. Die Fusionsverhandlungen ver- Engagement aber waren nicht alle zu haben. suchten so, zusammen wachsen zu lassen, was Letztlich spitzte sich alles auf die Fusion der nicht zusammen gehörte. Wie viele Zugeständ- Grünen mit den Bürgerrechtsgruppen zu, die nisse wurden an einen Günther Nooke gemacht, sich im Bündnis 90 zusammengeschlossen hat- der die Grünen nach rechts zu ziehen suchte ten. Auch wenn ich selber als grüner Vorsitzen- und dann doch lieber zur CDU ging! Für die der diese Fusion gemanagt habe – es war die Linken innerhalb und außerhalb der Partei war falsche. Genauer: sie wies Bedingungen und dieses Spiel eine Zumutung. Defizite auf, die auf lange Sicht ruinös sein Innerhalb konnten diese Manöver als un- würden. Manche haben das damals geahnt. Aber vermeidbare Zugeständnisse an die historische das öffentliche Sentiment wie auch der inner- Situation kommuniziert werden. Dennoch muss- parteiliche Lobbydruck ließen letztlich keine ten die Grünen einen hohen Preis zahlen. Zahl- andere Wahl, als genau diesen Prozess empha- reiche Linke, Ökosozialisten, Radikalökologen tisch zu zelebrieren. Ein Scheitern hätte bedeu- und sog. Fundis verließen die Partei. Nicht um tet, 1994 das Come Back in den Bundestag zu alle war es schade. So manchen unerträglichen 12 Ludger Volmer

Querulanten von damals erkennt man heute mit unter dem Druck grüner Neocons wie Ralf Schadenfreude bei der „Linken“. Dennoch, auch Fücks und Daniel Cohn-Bendit Gewaltfreiheit viel Kompetenz und Engagement in der sozia- als eigenständiges Politikziel faktisch ab zuguns- len Dimension ging verloren, verschwand im ten eines Tool-Box-Ansatzes, der zur zivilen Niemandsland oder lagerte sich sogar bei der Krisenprävention ein ebenso instrumentelles, PDS/Linken an. Auf der anderen Seite blieben zweckrationales Verhältnis hatte wie zu militä- auch Semi-Fundis, weil sie bei den Grünen ihr rischen Mitteln. So wurde auch dieser Grund- Anliegen, die Bürger- und Menschenrechte, wert aus der Gründungsphase geopfert und der weiterhin gut aufgehoben sahen. Wegen ihnen Pazifismus-Diskurs an die PDS ausgeliefert, wurde das stark sozial konturierte „Linke Fo- die immer noch massenweise von ehemaligen rum“ aufgegeben zugunsten eines „Babelsber- NVA-Offizieren bevölkert ist, die nur deshalb ger Kreises“, der in diffuser Form alles zu sam- Pazifisten wurden, weil nicht der Warschauer meln versuchte, was sich irgendwie als „links“ Pakt, sondern die Nato den Kalten Krieg ge- begriff. Hier bekamen in der Diskussion um wonnen hat. Ausländer, Asyl und Rechtsradikalismus peu à Viele, insbesondere Realos, gingen davon peu westdeutsche Linksliberale wie Claudia aus, dass nach der Wende die SED-Nachfolge- Roth und ein wachsendes Gewicht. partei langsam durch Absterben und Absorpti- Sie waren persönlich nicht unsozial, trugen je- on verschwinden werde wie nach dem Zweiten doch faktisch dazu bei, die soziale Frage nun Weltkrieg der Bund der Heimatvertriebenen und von links her im grünen Diskurs und äußeren Entrechteten. Einen aktiven Beitrag der Grünen Erscheinungsbild an den Rand zu drängen. Statt zur Absorption aber definierten sie nicht. Ande- der vier gleichberechtigten Grundwerte kam es re, zu denen ich mich auch zählte, plädierten für zu einer Hierarchisierung. Ökologie und Bür- eine gezielte und differenzierte Politik gegenü- gerrechte (das Kondensat des Grundwertes „ba- ber den ehemaligen Aktivisten der DDR. Wir sisdemokratisch“) dominierten „sozial“ und „ge- gingen von drei Strömungen in der SED aus: waltfrei“. Bündnis90/Die Grünen als ökologi- Altstalinisten, mit denen wir nichts zu tun ha- sche Bürgerrechtspartei ersetzen als Folge der ben wollten und die in den Orkus der Geschich- deutschen Einheit die sozial-ökologischen Grü- te fahren sollten; Sozialdemokraten, für die die nen. Der interne Wohlfühlfaktor war hoch, stra- SPD zuständig wäre; und eine kleinere Gruppe tegisch mit Blick auf die SED/PDS aber wurde von (ökologischen) Modernisieren, die zu ge- ein entscheidender Fehler gemacht. winnen unser Ziel sein sollte. Der Fehler wiederholte sich, als im schwie- Verhindert wurde diese Strategie durch das rigen Grundwertekonflikt zwischen Menschen- parteiinterne Bündnis von ostdeutschen Bür- rechten („basis-demokratisch“) und Pazifismus gerrechtlern und westdeutschen Realos, die eine („gewaltfrei“) die Waage sich zugunsten des Verfestigung der grünen Linksorientierung prinzipiellen Ziels „Durchsetzung der Men- fürchteten. Bürgerrechtler legten eine hohe Meß- schenrechte“ neigte, auch unter Verzicht auf latte für Ostdeutsche an, wenn diese bei uns Gewaltfreiheit. Dass zur Abwehr einer unmit- mitmachen sollten. Die Masse der ehemaligen telbar drohenden Gefahr des Völkermordes in DDR-Bürger konnte da nur drunter hergehen. einer bestimmten Situation auch militärisch Ich selber war der Meinung, neben schwarz eingegriffen werden musste, war zwar unver- und weiß habe es – wie in der BRD – vor allem meidlich (Kosovo). Das Konzept des „politi- grau gegeben. Während die eine grüne Strategie sche Pazifismus“ versuchte diesem Umstand nur „weiß“ akzeptierte, lehnte die andere nur Rechnung zu tragen. Die Realos aber schafften „schwarz“ ab. Von 1000 kleinen Gorbatschows, Der grüne Super-Gau – die Landtagswahlen von Hessen und Niedersachsen 13

die auch in der DDR gewirkt hätten, sprach ich ale wurde der PDS ausgeliefert, grün war öko- – verhöhnt von Bürgerrechtlern – in meiner letz- logisch-bürgerrechtlich. Damit versperrten sich ten Rede als grüner Vorsitzender. Sie gälte es zu die Grünen nicht nur selbst den Weg nach Os- gewinnen. Ich plädierte für aktive Grauzonen- ten, sondern luden die PDS geradezu nach Wes- arbeit. Dahinter stand die Vorstellung, dass man ten ein. nicht beliebige, unpolitische Kreise für grüne Direkt nach der Bundestagswahl 1994 be- Politik neu interessieren könnte. Man müsse gann das Verhängnis. Joschka Fischer schaffte den aktiven Kern der ehemaligen DDR-Gesell- es als Fraktionsvorsitzender, den grünen Dis- schaft ansprechen, insoweit er sich nicht durch kurs in seine Bahnen zu lenken. Zunächst wur- stalinistisches Gebaren diskreditiert hatte, und de die aufkeimende Globalisierungskritik er- in einen kollektiven Lernprozess einbeziehen. stickt. Dann wurde den Öko- und Neoliberalen Nur so könnten wir eine wirkliche Verankerung wie Oswald Metzger freie Bahn zum Ausbrei- in den Neuen Ländern gewinnen. ten ihrer Ideenwelt gegeben, bis in der grünen Die Grünen entschieden sich anders. Auch Wirtschafts- und Finanzpolitik die soziale von unter dem Druck der CDU, die zu Lasten einer der liberalen Dimension verdrängt und entspre- linken Mehrheit in Deutschland ehemalige DDR- chendes Lob aus der Wirtschaftspresse zu ver- Aktive zu Unberührbaren erklärte. Die Exklu- nehmen war. Dann schwang sich Fischer zum siv-Fusion mit den ehemaligen Bürgerrechtlern Retter des Sozialstaats auf, in eher sozialdemo- kam zustande. Aber es erwies sich bald, dass kratischer Form, erklärte diesen zum grünen wir nicht mit einer breiten Massenbewegung Herzensanliegen, das wir nie aufgeben würden, fusioniert hatten, sondern mit einem zwar inter- für dessen Realisierung aber in einer Koalition essanten, aber recht kleinen Clübchen mit ge- die SPD zuständig sei. Joschka inszenierte sich ringer Verankerung im Osten. Viele Ex-DDR’ler, so als neue Mitte in einer von ihm selbst nach die weder zum diskreditierten Kern der SED- rechts verschobenen Fraktion. Gesellschaft, noch zur bekennenden Oppositi- Die soziale Frage wurde nicht mehr emanzi- on gezählt hatten und gern zu uns gekommen patorisch gewendet, als Aufforderung, unge- wären, blieben draußen. Das war das Falsche rechte Strukturen zu bekämpfen. Sondern die an der Fusion. Nachdem sie sich jahrelang am Tatsache, selbst der Mittelschicht anzugehören, Fenster zum grünen Kreisverband die Nase platt sollte nun auch in eine entsprechende Interes- drückten, zu recht zu stolz, sich hochnotpeinli- senorientierung münden. Als guter Bürger soll- chen Befragungen über ihr bisheriges Leben te man zwar auch den Armen geben, das war auszusetzen, gingen sie dorthin, wo sie eigent- der Unterschied zur FDP – doch nur als subsi- lich am wenigsten hin wollten – (zurück) zur diäre sozialstaatliche Verpflichtung, strukturel- (gewandelten) SED. Damit war das Projekt, die le Ungleichheit und Ungerechtigkeit wurden SED durch Absorption zum Absterben zu brin- nicht mehr thematisiert, sondern durch moder- gen, gescheitert. ne Sozialhilfekonzepte von der Grundsicherung Zugleich bestand damit die Gefahr, dass das bis Hartz IV abgemildert. So sollten wir – statt Parteiensystem sich nachhaltig zu Ungunsten alternativer Kleinpartei – linksbürgerliche Mit- der Grünen verschieben würde. Doch statt sich telpartei werden. Es kam wie absehbar: Nicht mit der einzig Erfolg versprechenden Politik Mittelpartei, sondern von der Mittelschicht zum dagegen zu wehren – nämlich der prägnanten Mittelstand, zur Partei der Mitte, des Mittelma- Betonung der eigenen sozialen Orientierung und ßes und der Mittelmäßigkeit. Die grüne Frakti- des politischen Pazifismus –, beschloss man aus on betrieb in der Folge eine Politik zwischen Angst vor dem Tod den Selbstmord. Das Sozi- Neoliberalismus und einer konservativ-subsi- 14 Ludger Volmer

diär bis sozialdemokratischen Sozialpolitik. Die ologiekritik wahrnehmen wollen, sich abwen- in diesem Bereich aktive „Linke“ Annelie Bun- deten, war nicht zu verhindern. Aber ein Teil tenbach, die traditionalistisch linksgewerkschaft- war hausgemacht. Hartz IV konnte ohne gelun- liche Positionen vertrat, wurde veralbert und gene Hartz I – III nicht funktionieren, wurde marginalisiert. (Sie war ein dankbares Opfer, aber – um überhaupt ein Wahlthema zu haben – trat aus und wurde Mitglied des DGB-Bundes- gepusht. Zudem war es der oft arrogante und vorstandes. Ich selber hatte lange Zeit versucht, besserwisserische Diskurs der rot-grünen Füh- neben der Friedenspolitik Wirtschafts- und So- rungsriege, der viele Verunsicherte abgeschreckt zialpolitik aus emanzipatorisch-linker Sicht mit – und die eigene „zweite Reihe“ demotiviert – zu formulieren, entschied mich dann aber für hat. Lasst uns mal ran, wir sind die bessere Elite die gleichermaßen wichtige und umstrittene – das war zu oft die zentrale Botschaft von Außen- und Friedenspolitik – eine Entschei- Schröder/Fischer/Trittin. Das Zelebrieren des dung, zu der ich stehe, auch wenn sie mich mei- eigenen Aufstiegs aus prekären Lebensverhält- ne Basis im Ruhrgebiet gekostet hat.) nissen in die Toskana-Fraktion. Die Verfesti- Mit einer solchen Politik war es schwer, dem gung einer intransingenten grünen Nomenkla- Wiedererstarken der SED/PDS zur Linkspartei tura. Falscher Überschwang allenthalben. Nichts und Linken Einhalt zu gebieten. Die rot-grüne gegen einen öffentlichen Sekt zum Erfolg – aber Regierung erledigte den Rest. In gewissem wenn linke Grüne nach gewonnener Wahl wie Umfang war dies unvermeidbar. Dass Traditio- Formel1-Idioten Schampus verspritzen, den viele nalisten, die Globalisierung und demographi- potentielle Wähler sich nie leisten könnten, dann sche Entwicklung nur als Gegenstand von Ide- wirkt das abstoßend. Der grüne Super-Gau – die Landtagswahlen von Hessen und Niedersachsen 15

Nach dem Ende von Rot-Grün hätte es Dogmatismus! Anders aber sieht es auf Lan- vielleicht die Chance gegeben, die verhängnis- des- und Bundesebene aus. Gesetzgebung fußt volle Entwicklung aufzuhalten, umzudrehen. immer auf weltanschaulicher Orientierung. Doch in den Steuerungszentren von Partei und Schwarz-grüne Spekulationen würden die rot- Fraktion schien man vor allem die Sorge zu rot-grüne Wechselwählerschaft massenweise haben, wer Joschka als Spitzenkandidat nach- vertreiben. In der Hansestadt kommt es nun sehr folgt – ein Spitzenkandidat, den die Grünen gar darauf an, ob Schwarz-Grün als lokale Beson- nicht brauchen. Dann erklärte man kurz vor der derheit definiert oder als Präzedenzfall, Auftakt, Hessenwahl die Dick-und-Doof-Nummer zur strategische Option verkauft wird. Interessant, Strategie. Gut, Koch ist bestraft, aber die Grü- dass die Leitkommentare den Grünen keinen nen haben am wenigsten dazu beigetragen, wenn eigenen strategischen Willen mehr zutrauen, man die Ergebnisse sieht. Gegen Rassismus und sondern sie in diversen Arithmetiken einfach zugleich für soziale Gerechtigkeit – das war die mitverbuchen: Funktionspartei der Mitte. Das Erfolgsstory. war einmal die FDP. Nun haben die Grünen die Die Grünen haben die entscheidende Liberalen auch hier beerbt. War es das, was sie Schlacht gegen die Westausdehnung der Lin- 1980 bei Gründung wollten? ken verloren. Weil sie sich vor 15 Jahren ge- Die Grünen werden ihre Marginalisierung weigert haben, mit den verunsicherten und Ori- durch Banalisierung und ihr Entscheidungsdi- entierung suchenden Zerfallsprodukten der lemma nur überleben, wenn sie Koalitionen mit SED-Gesellschaft zu reden, sind sie heute ge- FDP oder Linken gleichermaßen als Option zwungen, aus einer Position der Schwäche mit akzeptieren. Nur wenn der eine Flügel die Vor- ihnen zu verhandeln. Sie haben sich in eine aus- lieben des anderen mitzutragen bereit ist, wird weglose strategische Position gebracht, die sie die Partei sich nicht zerlegen. nun tapfer als neue Chance verkaufen. Ihr Und nur wenn der Oppositionscharme der Schicksal wird es aller Voraussicht nach sein, Linken dekonstruiert wird, indem man diese als eine von zwei Kleinparteien der einen oder Partei durch Regierungsbeteiligung dem Fun- anderen Volkspartei zur Mehrheit zu verhelfen. di-Realo-Streit aussetzt, der einst die Grünen Rot-Rot-Grün oder Ampel, gar Schwampel – spaltete, tun sich neue Horizonte auf. Wenn die die Entscheidung wird die geschwächte Partei Integrationskraft der Gysis und Biskys nach- einer neuen Zerreißprobe aussetzen und die lässt, könnte es – best case aus grüner Sicht – Linkspartei weiter stärken, so oder so. zu einer Entmischung kommen bei den Linken. Dieser Text wurde nach den Wahlen in Hes- Ökologische Modernisierer könnten sich schei- sen und Niedersachsen geschrieben. Das Er- den von Fundis, Querulanten und Stalinisten. gebnis in Hamburg hat die pessimistische Pro- Dann gäbe es die Chance, den Dialog, der einst gnose in bizarrer Weise bestätigt. Die deftige verpasst wurde, mit neuen strategischen Optio- grüne Niederlage wird als Chance für Schwarz- nen zu führen – vielleicht sogar einer Fusion, Grün schön geredet. Wohlgemerkt in einem Lan- diesmal der richtigen? desverband, der einst der am weitesten linke und zugleich stärkste der Grünen war. Nun kann Ludger Volmer ist Dozent für Internationale Schwarz-Grün auf kommunaler Ebene durchaus Beziehungen am Otto-Suhr-Institut der FU Ber- einmal funktionieren. Lokale Probleme, das lin. Er war Mitgründer der Grünen und von Bünd- Personal und die typische face-to-face-Kom- nis 90/Die Grünen, von 1990-1994 Parteivorsit- munikation können so spezifisch sein, dass die- zender, Bundestagsabgeordneter in den Jahren se Kombination eine Zeit lang trägt. Nur kein 1985-2005 und von 1998-2002 Staatsminister. 16 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

Matthias Freise

Was meint Brüssel eigentlich, wenn von Zivilgesellschaft die Rede ist?

Wer wirklich wissen möchte, womit sich der sche Unschärfe charakterisiert und in der Spra- Brüssler Behördenapparat aktuell beschäftigt, chenvielfalt der EU bisweilen babylonische kann sich eine Anmeldung beim Besucherdienst Verwirrung hervorruft. So sorgte ein Überset- der Europäischen Union getrost sparen. Viel zer aus dem Baltikum etwa kürzlich erst für aufschlussreicher ist ein abendlicher Bummel Unverständnis und später für Heiterkeit in sei- durch die Kneipen und Restaurants am Place du nem Heimatland, als er in Dokumenten im Luxembourg im Herzen der belgischen Kapita- Kontext der externen Demokratieförderung der le. Hier herrscht ein munteres Kommen und Union in Weißrussland wiederholt „Civil So- Gehen der Parlamentsabgeordneten, Kommis- ciety“ mit „nicht militärische Gesellschaft“ sionsbeamten, Verbandslobbyisten, EU-Korres- übersetzte. Und trotz mehrfacher Nachfrage pondenten, NGO-Vertreter – und nicht zuletzt wissen viele seiner Kollegen bis heute nicht so der Angestellten des gewaltigen Übersetzungs- recht, was der Begriff eigentlich beschreiben und Dolmetscherdienstes, die die zahllosen soll (zu den Problemen europäischer Überset- Rechtsakte, Verlautbarungen und Kommuniques zer vgl. Frame 2005). in die 23 Amtssprachen der Mitgliedsländer Was meint Brüssel also, wenn von Zivilge- übertragen und der EU somit erst ihre Stimme sellschaft die Rede ist? Im Folgenden sollen verleihen. Setzt man sich an einen beliebigen verschiedene Diskussionsstränge hinsichtlich Stammtisch dieser Berufsgruppe und fragt nach ihrer empirischen und ihrer normativen Verwen- einer Liste der unangenehmsten Begriffe, die in dung in Brüssel auf den Prüfstand gestellt wer- den vergangenen Jahren zu übersetzen waren, den. so nimmt „Zivilgesellschaft“ sprachenübergrei- fend einen der vorderen Ränge ein. Vor allem in 1 Definitionsdefizite der Amtszeit von Kommissionspräsident Ro- mano Prodi (1999-2004) hat die Zivilgesellschaft Beschäftigt man sich auf Brüssler Ebene mit als Reaktion auf das Scheitern der Santer-Kom- dem Diskurs der Zivilgesellschaft, so kann man mission verstärkt Eingang in die zahllosen Ver- sich schnell in einem wahren Knäuel der ver- öffentlichungen der Gemeinschaft gefunden schiedenen Diskursstränge verheddern, so ver- (Armstrong 2002), aber auch in der Kommissi- schieden sind die Kontexte, in denen mit dem on unter José Manuel Barroso nimmt der Be- Begriff hantiert wird. Inhärent ist allen aktuel- griff einen wichtigen Stellenwert in der Debatte len europäischen Diskussionssträngen aller- um die Weiterentwicklung europäischen Regie- dings eine dezidiert normative Perspektive von rens ein. Zivilgesellschaft, die im Kern um die grund- Seine weite Verbreitung in den unterschied- sätzliche Frage nach der Rolle und Funktion lichen politischen Zusammenhängen mit sei- gesellschaftlicher Selbstorganisation im Multi- nen sehr verschiedenen Akzentuierungen hat levelgovernance System der EU kreisen, wobei allerdings dazu geführt, dass Kritiker das Kon- zentralen konzeptionellen Bestandteilen wie zept der Zivilgesellschaft mittlerweile als dif- etwa der Legitimierung europäischer Regelset- fusen, wenig nützlichen Amöbenbegriff ableh- zung und den zur Verfügung stehenden Instru- nen, der sich vor allem durch seine definitori- menten bisweilen sehr unterschiedliche Bedeu- Was meint Brüssel eigentlich, wenn von Zivilgesellschaft die Rede ist? 17

tungen zugemessen werden (Eriksen/Fossum Zusammenhang mit den Anstrengungen in der 2004; Greenwood 2007). externen Demokratieförderung der Union, wird Es ist also erforderlich, nach den demokra- die Zivilgesellschaft als Hoffnungsträger the- tietheoretischen Prämissen und normativen Be- matisiert. deutungszumessungen zu fragen, die die Brüs- Bis heute scheuen sich die Institutionen der seler Institutionen im Hinterkopf haben, wenn Europäischen Union, eine Arbeitsdefinition von sie die Zivilgesellschaft thematisieren. Das er- Zivilgesellschaft zu entwickeln. Es wird sogar fordert bisweilen ein Lesen zwischen den Zei- – wie etwa im Grünbuch zur Rolle der Zivilge- len. Und dabei kann man den Eindruck gewin- sellschaft in der europäischen Drogenpolitik, nen, das Konzept solle die Funktion einer eier- das die Kommission 2006 vorgelegt hat – aus- legenden Wollmilchsau bei der Weiterentwick- drücklich darauf hingewiesen, dass sich Zivil- lung europäischen Regierens im Besonderen und gesellschaft gar nicht einheitlich definieren las- der Vertiefung des europäischen Integrations- se (Europäische Kommission 2006: 6). Immer- prozesses im Allgemeinen einnehmen, denn in hin gibt es innerhalb der einzelnen Dokumente, mindestens acht Diskussionszusammenhängen die sich mit der Rolle der Zivilgesellschaft in hat der Zivilgesellschaftsdiskurs auf EU-Ebene der Europäischen Union auseinandersetzen, ei- Eingang gefunden: nen gemeinsamen Bezugspunkt, nämlich eine (1) So soll die Zivilgesellschaft dazu beitra- Stellungnahme des Wirtschaft- und Sozialaus- gen, das vielbeschworene Demokratiedefizit des schusses (EWSA) aus dem Jahr 1999, in der „Elitenprojektes Europa“ zu überwinden. (2) Sie das Gremium, das sich selbst als Vertretung der soll als Legitimierungsquelle europäischen Re- organisierten Zivilgesellschaft in Brüssel ver- gierens angezapft werden und Europa näher an steht, die Akteure benennt, die die „organisierte die Bürgerinnen und Bürger rücken. (3) Sie soll Zivilgesellschaft“ seiner Ansicht nach konstitu- den Benachteiligten eine Stimme in Brüssel ver- ieren. In diesem bereichslogischen Zugang wer- leihen und damit die Inputlegitimität europäi- den neben NGOs, auch sogenannte Communi- scher Regelsetzung stärken. (4) Gleichzeitig soll ty-Based Organisations (also auf Gemein- die Outputlegitimität der Union durch das Ein- schaftsbildung ausgerichtete Assoziationen wie bringen von Expertise weiter gesteigert und eu- etwa Jugendorganisationen), Religionsgemein- ropäische Governance effektiver und effizien- schaften und schließlich auch die Sozialpartner ter gestalten werden. (5) Die Zivilgesellschaft (Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) wird darüber hinaus als „Wachhund“ der Brüss- sowie Vertretungsorganisationen im sozialen ler Institutionen thematisiert. Sie soll durch ihre und wirtschaftlichen Bereich im weiten Spek- Kontrollfunktion die Verantwortlichkeit der EU- trum der organisierten Zivilgesellschaft veror- Behörden schärfen. (6) Des Weiteren gilt sie als tet (Europäischer Wirtschafts- und Sozialaus- Schule der Demokratie im Sinne Tocquevilles schuss 1999: 9). Damit wählt der EWSA einen und als Hoffnungsträger für die Herausbildung sehr weiten bereichslogischen Zugang (vgl. auch einer europäischen Öffentlichkeit, die wiederum den Beitrag von Eisele in diesem Heft). auf lange Sicht die Etablierung einer gemeinsa- Ein zweiter wichtiger Bezugspunkt aktuel- men europäischen Identität befördern soll. (7) ler Debatten ist das Weißbuch „Europäisches Schließlich wird die Zivilgesellschaft als wich- Regieren“, das die Prodi-Kommission 2001 tiger Kooperationspartner für die Entwicklung vorgelegt hat. Es stellt den Ausgangspunkt für der bislang nur in Grundzügen erkennbaren eine mittlerweile ausufernde Debatte um die Sozialpolitik erkannt. (8) Und auch im Kontext Weiterentwicklung von „guter“ Governance in der EU-Außenpolitik, und hier vor allem im der EU dar. Im Zentrum steht die Forderung 18 Matthias Freise

nach fünf Grundsätzen guten Regierens, näm- sprünglich als bloße Regulierungsbehörde ei- lich Offenheit, Partizipation, Verantwortlichkeit, nes europaweiten freien Marktes ins Leben ge- Effektivität und Kohärenz als demokratisch- rufen, hat eine stetige Ausweitung ihres Ho- rechtsstaatliche Prinzipien, die unter anderem heitsbereiches erfahren. Immer mehr Kompe- durch zivilgesellschaftliche Partizipation ver- tenzen werden auf die europäische Ebene verla- wirklicht werden sollen. Auch der EU-Reform- gert. Und obwohl eine Reihe von demokrati- vertrag, der sich gegenwärtig im Ratifizierungs- schen Strukturen, wie das direkt gewählte Eu- verfahren befindet, sieht in Artikel 8b „einen ropäische Parlament, eingeführt worden sind, offenen, transparenten und regelmäßigen Dia- besteht doch mittlerweile weitgehende Einig- log mit den repräsentativen Verbänden und der keit in der politischen wie politikwissenschaft- Zivilgesellschaft“ vor (Europäische Union lichen Debatte, dass die Europäische Union ein 2007). großes, wenn nicht gar gigantisches Demokra- Allerdings halten sich auch das Weißbuch tiedefizit aufweist. In Deutschland erhielt die und der Reformvertrag sehr zurück, wenn es öffentliche Diskussion um das Demokratiede- darum geht, das Konzept von Zivilgesellschaft fizit kürzlich durch Altbundespräsident Roman zu präzisieren. Beide sprechen im Wesentlichen Herzog neuen Zündstoff, als er in einem Bei- die „organisierte Zivilgesellschaft“ im Sinne des trag mit Lüder Gerken für die Welt am Sonntag EWSA an, die im Rahmen des „zivilen Dia- die Vermischung von Legislative und Exekuti- logs“ in die europäische Politikgestaltung ve durch die zentrale Präjudizfunktion des Mi- insbesondere der Kommission eingebunden nisterrats in Bezug auf das Europäische Parla- werden und damit zu einer Ergänzung des klas- ment beklagte und etwas überschärft festhielt, sischen Governance-Repertoires der Union um die Bundesrepublik Deutschland könne nicht nicht-gesetzgeberische Politikinstrumente bei- mehr als parlamentarische Demokratie bezeich- tragen soll (Schutter 2002: 199). net werden. Vielmehr sei es die unzureichend Innerhalb der verschiedenen EU-Dokumente demokratisch legitimierte EU-Verwaltung, die wird also vor allem eine bereichslogische Defi- nationale Gesetzgebung maßgeblich bestimme nition vorgenommen, die Zivilgesellschaft als (Herzog/Gerken 2007: 9). Zahlreiche weitere intermediäre Sphäre kennzeichnet, dabei auch Argumente lassen sich gegen die gegenwärti- Akteure des Marktes einschließt und im We- gen Modi europäischen Regierens vortragen (für sentlichen auf verfasste Organisationen abhebt, eine Übersicht vgl. z.B. Mehr Demokratie e.V. die sich auf Brüssler Terrain bewegen. Was ist 2007: 497), darunter: Europäisches Regieren davon vor dem Hintergrund der großen Hoff- geschieht alles andere als transparent und ist nungen zu halten, die in Brüssel in die Zivilge- noch immer eine Art Außenstelle der nationalen sellschaft gesetzt werden? Regierungen, die ihre Geschäfte technokratisch hinter verschlossenen Türen treffen, ohne Rück- sicht auf repräsentativ-demokratische Verfah- 2 Zivilgesellschaft als Legitimierungs- ren nehmen zu müssen (Follesdal/Hix 2005: ressource der EU? 263). Es ist folglich nicht verwunderlich, dass Dass die Europäische Union in einer Krise die Bevölkerung der Union zunehmend skep- steckt, ist spätestens seit der Ablehnung der EU- tisch gegenüber steht. Verfassung in Frankreich und den Niederlan- Die Bürger durchschauen den Integrations- den gemeinhin bekannt. Dabei ist das Scheitern prozess und sein Ziel nicht mehr. Dies verdeut- der Verfassung nur Ausdruck eines viel größe- lichen die Ergebnisse des Eurobarometers immer ren Problems: Die Europäische Union, ur- wieder aufs Neue: Weite Teile der Bevölkerung Was meint Brüssel eigentlich, wenn von Zivilgesellschaft die Rede ist? 19

verstehen weder die Funktionsweise des politi- Neben Ansätzen, die vor allem auf eine wei- schen Systems der EU, noch glauben sie, dass tere Stärkung der repräsentativen Elemente in sie Einfluss auf die Entscheidungsfindung auf Form des Europäischen Parlaments abzielen und Brüssler Ebene haben (Rek 2007: 151). Sie solchen, die sich für die Einführung direkt-de- können nicht erkennen, wer für die Gesetzte mokratischer Elemente aussprechen, wird die verantwortlich ist, die sie zu Hause im Alltag Zivilgesellschaft als Teilnehmer deliberativer beeinflussen. Die in den Sozial- und Rechts- Entscheidungsfindung als dritte wichtige Säule wissenschaften bis vor Kurzem durchaus ver- bei der Demokratisierung europäischen Regie- breitete Ansicht, die EU ließe sich als überstaat- rens thematisiert. Allerdings ist festzustellen, liches Gebilde sui generis nicht nach auf den dass die demokratischen Potentiale zivilgesell- Nationalstaat zugeschnittenen demokratischen schaftlicher Einbindung in die Brüssler Ent- Kriterien beurteilen und müsse ihre Legitimität scheidungsfindung sowohl in akademischen als deshalb einzig oder zumindest überwiegend aus auch in politisch-praktischen Kreisen sehr kon- ihren Politikergebnissen beziehen, sich also in trovers diskutiert werden. der Sprache von Fritz Scharpf auf ihre Output- Innerhalb der verschiedenen Brüssler Insti- Legitimität stützen (Scharpf 2005: 143), wird tutionen sind ganz eindeutige Präferenzen in- deshalb zusehends nicht mehr akzeptiert. Statt- nerhalb dieser Diskussion erkennbar. So zeigt dessen wird eine Kombination input- und out- Pieter Bouwen sehr anschaulich, wie sich im putorientierter Legitimierungsquellen gefordert. Nachgang zur Veröffentlichung des Weißbuches Über die Frage allerdings, ob und ggf. wie sich Europäisches Regieren im Jahr 2001 ein Konf- eine solche Kombination verwirklichen lässt, likt zwischen Parlament und Kommission um wird derzeit heftig gestritten (Holzhacker 2007). die Institutionalisierung und Verstetigung von Beate Kohler-Koch und Berthold Rittberger Konsultationsverfahren mit Organisationen der zeigen in ihrer Bestandsaufnahme der Diskus- Zivilgesellschaft entwickelt hat. Offensichtlich sion um die Steigerung demokratischer (Input- fürchtete das Parlament um seine ohnehin be- )Legitimität der EU, dass sich das Heer der Kri- schränkten Kompetenzen im europäischen Le- tiker des demokratietheoretisch unbefriedigen- gislativverfahren und betonte mehrfach, dass den Status Quo grob in zwei Lager einteilen die Konsultation mit interessierten Parteien lässt: Auf der einen Seite diejenigen, die das grundsätzlich nur als Supplement europäischen Demokratiedefizit zwar beklagen, es aber auf- Regierens dienen dürfe, niemals aber in Kon- grund der spezifischen Aufgaben der EU für kurrenz zum durch demokratische Wahlen legi- unüberwindbar halten. Auf der anderen Seite timierten Parlament treten solle (Bouwen 2007: stehen Autoren, die meinen, das Demokratiede- 275). fizit könne über Kurz oder Lang beseitigt oder Von Seiten der Kommission werden die zumindest durch die Entwicklung eines politi- Organisationen der Zivilgesellschaft hingegen schen Systems für die EU abgemildert werden, zunehmend als Legitimierungsressource euro- das den Bürgerinnen und Bürgern in stärkerem päischen Regierens thematisiert. Die dahinter Maße als bisher Kanäle der politischen Partizi- liegende Idee fußt auf der Hypothese, durch pation, der Einflussnahme und der Kontrolle zivilgesellschaftliche Partizipation an der politi- öffnet (Kohler-Koch/Rittberger 2007: 6). Es schen Entscheidungsfindung und den damit wird also nach neuen Formen europäischer Po- verbundenen deliberativen Beratungsprozessen litiklegitimierung gesucht, und hier wird von ließe sich die demokratische Qualität der Bera- akademischer wie politischer Seite die Zivilge- tungen, der daraus resultierenden Rechtsakte und sellschaft ins Spiel gebracht. schließlich des politischen Systems selbst er- 20 Matthias Freise

höhen (Nanz/Steffek 2005: 88ff). In der Theo- knüpfen, wie sie auf europäischer Ebene vom rie der Internationalen Beziehungen wird dieser Europäischen Parlament verkörpert wird.“1 Be- deliberative Zugang zum demokratischen Re- trachtet man allerdings die Redebeiträge der gieren überstaatlicher Organisationen bereits seit meisten Parlamentarier im Eröffnungsplenum, Längerem diskutiert, allerdings gibt es bislang so wird deutlich, dass im Abgeordnetenhaus kaum empirische Studien, die einen Beleg für große Vorbehalte gegen einen weiteren Ausbau einen tatsächlichen demokratischen Mehrwert der Input-Legitimierung durch die Involvierung zivilgesellschaftlicher Partizipation liefern kön- zivilgesellschaftlicher Akteure bestehen. nen. Kenneth Armstrong hält vielmehr fest, dass Die Politikwissenschaft fragt deshalb zu- eine vollständige Umstellung auf ein deliberati- recht nach den normativen Voraussetzungen, die ves Modell, in dem die organisierte Zivilgesell- gegeben sein müssen, damit Deliberation euro- schaft als Bindeglied zwischen Entscheidungen päisches Regieren tatsächlich demokratischer und Bürgern die dominante Legitimationsfunk- gestalten kann (z.B. Steffek/Nanz 2007; Eder/ tion übernimmt, demokratietheoretisch überaus Trenz 2007). Dreh- und Angelpunkt dabei ist bedenklich ist. Angesichts der noch immer man- die Annahme, Organisationen der Zivilgesell- gelhaft ausgeprägten Öffentlichkeit und der in schaft könnten als Transmissionsriemen zwi- Mehrebenensystemen typischen Kontroll- und schen Bürger und den politischen Institutionen Verantwortungsprobleme laufen deliberative einer internationalen Organisation dienen, die Elemente Gefahr lediglich als Feigenblatt einer aus verschiedenen Gründen der Praktikabilität Elitenveranstaltung zu dienen (Armstrong 2006: keine oder nur eingeschränkte Legitimität durch 80). repräsentative Verfahren gewinnen kann. Die Dies gilt umso mehr für das Mehrebenen- internationale Entscheidungsfindung wird dem- system der EU, denn im Gegensatz zu den nati- nach demokratischer, weil Anliegen der betrof- onalen Diskursen über die Einbindung von par- fenen Bevölkerungsgruppen durch die Organi- tizipativen Elementen als „kleine“ Zusatzlegiti- sationen der Zivilgesellschaft gebündelt und in mation neben starken Parlamenten, soll die Zi- die deliberative Politikberatung eingebracht vilgesellschaft im Verständnis der Kommission werden können. Darüber hinaus tragen die Ak- zu einem echten Standbein der Input-Legitimie- teure der organisierten Zivilgesellschaft Infor- rung weiterentwickelt werden – und das auf mationen der internationalen Organisationen in Kosten einer Ausweitung der in der EU ohnehin die Bevölkerung und befördern den politischen schon sehr schwach ausgeprägten Parlaments- Diskurs, indem sie über alternative Lösungsop- kompetenz. So ist es keineswegs verwunder- tionen informieren. Soweit die Hypothese. Ob lich, dass das EU-Parlament seinerseits überaus die Organisationen der Zivilgesellschaft in die- skeptisch auf Initiativen reagiert, die es als Kon- sem Sinne wirklich zu einer Legitimation durch kurrenz zur eigenen repräsentativen Arbeit wahr- Deliberation beitragen können, ist in der empiri- nimmt. schen Forschung zur Governance internationa- Die erstmals im November 2007 ausgerech- ler Organisationen allerdings sehr umstritten. net auf Einladung des Parlamentes zusammen- Einigkeit herrscht hingegen in der normati- getretene Agora ist dafür ein gutes Beispiel: Laut ven Diskussion um die Rolle der Zivilgesell- Einladungstext hat die Agora zum Ziel, „die par- schaft in internationalen Governance-Struktu- tizipative Energie der europäischen Gesellschaft, ren darüber, dass Legitimation durch Delibera- wie sie in Vereinsnetzwerken, Berufsverbän- tion nur dann überhaupt denkbar ist, wenn eini- den und Gewerkschaften zum Ausdruck kommt, ge Grundvoraussetzungen erfüllt sind. Nanz und mit der repräsentativen Demokratie (…) zu ver- Steffek operationalisieren daher die Qualität Was meint Brüssel eigentlich, wenn von Zivilgesellschaft die Rede ist? 21

deliberativer Prozesse anhand von vier Kriteri- schon früh zur Diskussion zu stellen. Nahezu en, die sie als Grundbedingung für eine erfolg- alle Generaldirektionen der Kommission unter- reiche Demokratisierung internationalen Regie- halten in ihrem jeweiligen Tätigkeitsbereich im rens durch zivilgesellschaftliche Partizipation Rahmen des „zivilen Dialogs“ Kontakte zur or- betrachten. Dazu zählen sie neben dem nach ganisierten Zivilgesellschaft und anderen inter- Möglichkeit rechtlich verbrieften Zugang zivil- essierten Kreisen und tüfteln an der Versteti- gesellschaftlicher Organisationen zu den Bera- gung dieses Dialogs. Mit der Website „Ihre Stim- tungen der internationalen Organisationen und me in Europa“ bietet die Europäische Kommis- der Transparenz der Entscheidungsfindung vor sion Zugang zu einer Vielzahl von Konsultatio- allem eine umfassende Distribution von Infor- nen, Diskussionen und verspricht, dass sich die mationen und Dokumenten. Darüber hinaus wird Bürgerinnen und Bürger hierüber „aktiv an der Responsivität als Grundvoraussetzung delibe- Politikgestaltung in Europa beteiligen können“ rativer Demokratie gefordert, also der tatsächli- (Winkler/Kozeluh 2005: 179). Auch die Ein- che Eingang der eingebrachten Argumente in richtung der Datenbank „Konsultation, die Eu- den Beratungsprozess. Weiter betonen Nanz und ropäische Kommission und die Zivilgesell- Steffek die systematische Einbeziehung aller schaft“ (CONECCS)2 geht auf die Verpflich- Stakeholder, die durch den Regelsetzungspro- tung der Kommission zurück, ihre Konsultati- zess betroffen sind und betonen schließlich, dass onsverfahren transparenter zu gestalten. Die sich die Organisationen der Zivilgesellschaft Kommission verfolgt mit diesen Maßnahmen selbst diese Anforderungen in ihrem eigenen gemäß eigener Auskunft das Ziel, einen allge- Organisationsaufbau erfüllen müssen, damit ein mein gültigen, transparenten und kohärenten demokratischerer Mehrwert durch deliberative Rahmen für ihre Konsultationsverfahren mit der Verfahren erzielt werden kann (Nanz/Steffek organisierten Zivilgesellschaft zu schaffen. In 2005). erster Linie sollte sichergestellt werden, dass Dieses Konzept ist sicherlich sehr voraus- bei der Politikgestaltung der Kommission die setzungsvoll, und in der Forschungspraxis dürfte Standpunkte aller interessierten Kreise angemes- es große Schwierigkeiten bei der Umsetzung sen berücksichtigt werden (Europäische Kom- valider Evaluationsverfahren geben. Trotzdem mission 2007). dürften Nanz und Steffek den Autoren des Weiß- Trotz dieser Bemühungen dürfte die Kom- buches in der Europäischen Kommission aus mission damit gegenwärtig kaum die Input-Le- dem Herzen sprechen, wenn sie die Legitimität gitimität europäischen Regierens gesteigert ha- stiftenden Potentiale deliberativer Verfahren in ben, im Gegenteil: Dawid Friedrich hat in sei- der Entscheidungsfindung internationaler Or- ner Studie zur Partizipation zivilgesellschaftli- ganisationen herausarbeiten. Zumindest wird cher Akteure im Beratungsprozess der europäi- das offiziell so verkündet. Das Exekutivorgan schen Chemikalienrichtlinie eindrucksvoll her- der EU hat in den vergangenen Jahren eine gan- ausgearbeitet, dass Responsivität, Transparenz ze Reihe von Maßnahmen ergriffen, die auf die und Inklusion in den Beratungsverfahren Herstellung der genannten Grundvoraussetzun- keineswegs verwirklicht sind (Friedrich 2007). gen deliberativer Demokratie abzielen sollen Kritiker der Kommission wird das kaum ver- (siehe z.B. die Beiträge von Thorsten Hüller wundern. Nicht umsonst hat Rinus van Schen- und Christine Quittkat in diesem Heft). So wur- delen sein Standardwerk zum Lobbyismus in de beispielsweise das Internetangebot der Kom- der EU unter der Überschrift „Machiavelli in mission gehörig aufpoliert, um Informationen Brüssel“ veröffentlicht. Er schätzt, dass es ge- über geplante Gesetzesinitiativen der Union genwärtig rund 3.500 registrierte Interessenver- 22 Matthias Freise

bände gibt, die in Brüssel ein Büro unterhalten. Regierens unter Einbeziehung von Akteuren der Dazu kommt ein ganzes Heer von rund 25.000 „organisierten Zivilgesellschaft“ betrachtet. Der Lobbyisten, die sich in der belgischen Haupt- Kommission ist das durchaus bewusst. Trotz- stadt niedergelassen haben, etwa 5.000 Lobby- dem tut sie sich sehr schwer damit, diesem über isten von ihnen sind bei der Kommission offizi- die Jahre gewachsenen Geflecht von informel- ell akkreditiert. Wie eingangs bereits erwähnt len Beziehungen zu den verschiedenen Interes- unterscheidet das Kommissions-Konzept der sengruppen eine rechtsverbindliche Basis zu organisierten Zivilgesellschaft nicht zwischen verleihen. Das hat zwei Gründe: Zum einen Organisationen, die wirtschaftliche Interessen würde sich die Kommission angreifbar machen. ihrer Mitglieder verfolgen und solchen, die sich Zum anderen fährt der Beamtenapparat der als nicht-gewinnorientierte NGOs bezeichnen. Kommission mit der bisherigen Praxis der Inte- Setzt man diese beiden Gruppen ins Verhältnis ressenvertretung sehr gut und hinter vorgehal- zueinander, so kommt auf sechs Industrielob- tener Hand möchte auch kaum jemand in den byisten etwa ein NGO-Vertreter (Schendelen Fachreferaten daran etwas ändern. In der Tat 2005). Jeder, der die Interessenpolitik in Brüs- sind die Referenten in den verschiedenen Gene- sel einmal in der Praxis erlebt hat, wird sofort raldirektionen auf die Expertise der Interessen- bestätigen, dass die gegenwärtige Arbeitsweise gruppen zwingend angewiesen. Die EU ver- der EU alles andere als transparent abläuft. fügt im Gegensatz zu den nationalen Regierun- Insbesondere die Abwesenheit verbindlicher gen und Parlamenten nur über einen sehr klei- Regeln des Konsultationsprozesses wird des- nen wissenschaftlichen Dienst und muss sich halb vielfach als Hauptproblem europäischen deshalb auf die Informationen auswärtiger Ex- Was meint Brüssel eigentlich, wenn von Zivilgesellschaft die Rede ist? 23

perten stützen. Und die stellen die Interessen- Streiten Parlament, Rat und Kommission im gruppen natürlich gerne bereit (Kohler-Koch, Rahmen der Diskussion um die Weiterentwick- 2007). In der Folge haben sich die Interessen- lung europäischen Regierens vehement um die gruppen in Brüssel – ganz gleich ob Wirtschafts- Aufgaben der organisierten Zivilgesellschaft, so verbände oder NGOs – zu hochgradig profes- besteht doch weitgehende Einigkeit, wenn es sionalisierten Spezialisten entwickelt, die „durch darum geht, die Zivilgesellschaft als Hoffnungs- eine gewisse Distanz zur Öffentlichkeit auffal- trägerin für die Herausbildung einer europäi- len“, um es mit Jürgen Kocka einmal vorsichtig schen Öffentlichkeit zu bemühen. zu formulieren (Kocka 2007: 35). Entstanden ist so eine „stille Zivilgesellschaft“ (Kaelble 3 Zivilgesellschaft als 2005: 279), die alternative politische Lösungs- Identitätsstifterin? vorschläge in der Regel durch die Produktion von Gutachten und nur in Ausnahmefällen durch Eine wesentliche Ursache für die momentan die Organisation von Protest formuliert. weitgehend festgefahrene Debatte um die Wei- Die Kommission hat diese Entwicklung terentwicklung Europas ist die Tradition euro- dadurch noch vorangetrieben, dass sie in den päischer Integration als Elitenprojekt. Bis heute vergangenen Jahren in zunehmendem Maße ist eine europäische Identität wenn überhaupt versucht hat, sich im Rahmen von Top-Down- nur in Ansätzen zu erkennen. Zentraler Bezugs- Strategien zivilgesellschaftliche Kooperations- punkt politischen Denkens ist jedoch in nahezu partner selbst zu schaffen, indem sie in Politik- allen Staaten der Nationalstaat. Es gibt weder feldern, in denen ihrer Ansicht nach nicht alle europäische Parteien, noch mediale Bindeglie- Stakeholder angemessen vertreten sind, kurzer- der zwischen den Bürgerinnen und Bürgern vor hand Verbände bezahlt, die bei ihr Lobbying Ort und den Institutionen der Europäischen betreiben. Dies ist angesichts des erheblichen Union (Bijsmans 2007). Politische Berichter- Ungleichgewichts gegenüber den organisierten stattung findet europaweit wenn überhaupt nur Wirtschaftsinteressen durchaus legitim. Hendrik in den Qualitätszeitungen statt, und nach dem Kafsack zeigt allerdings am Beispiel der Um- Bericht aus Brüssel muss man in den dritten weltorganisationen in Brüssel, dass die EU in Programmen der ARD schon lange suchen. In diesem Politikfeld für zahlreiche Interessengrup- unseren Nachbarländern ist das nicht viel anders. pen zum wichtigsten Geldgeber avanciert und Kein Wunder also, dass die Institutionen der konstatiert etwas resigniert, dass das Wörtchen EU Hoffnungen in die nationalen und insbe- „nicht“ in „Nichtregierungsorganisation“ nur sondere die regionalen zivilgesellschaftlichen noch fiktiv sei (Kafsack 2005: 12). Vereinigung setzen, wenn es darum geht, euro- Was gegenwärtig in Brüssel also unter dem päische Themen näher an den Bürger zu rü- Schlagwort der zivilgesellschaftlichen Partizi- cken. Ganz unbegründet scheint diese Hoffnung pation passiert, ist paradoxerweise kein Ausbau nicht zu sein. Volker Gunnar Schuppert deutete input-orientierter Legitimation, vielmehr wird bereits 2001 in einem Essay für dieses Journal durch die Struktur der europäischen Interessen- an, dass sich zusehends europäische Netzwer- politik bestenfalls die Output-Leistung des EU- ke zivilgesellschaftlicher Organisationen heraus- Apparates durch die Bereitstellung von Exper- bilden, die „nicht nur dem jetzigen Integrations- tise seitens der Interessengruppen erreicht (Coen grad der Europäischen Union, sondern dem 2007). Fairerweise muss man einräumen, dass kulturellen Pluralismus Europas in besonderer dieses Phänomen von den Institutionen der EU Weise entsprechen“ (Schuppert 2001: 9). Die erkannt worden ist. Institutionen der Europäischen Union haben eine 24 Matthias Freise

Vielzahl von Maßnahmen in der Hoffnung ent- Aus demokratietheoretischer Perspektive ist wickelt, diesen Prozess beschleunigen zu kön- an Versuchen, Europa durch die Unterstützung nen. Jüngstes Beispiel ist das Programm „Eur- von europäischen Netzwerken eine Identität zu opa für Bürgerinnen und Bürger zur Förderung verleihen, sicher nichts auszusetzen. Allerdings einer aktiven europäischen Bürgerschaft“ für muss sich die Union hüten, eine europäische die Jahre 2007 bis 2013, das Rat und Parlament Zivilgesellschaft ausschließlich „von oben“ auf- im Dezember 2006 auf den Weg brachten. Auch bauen zu wollen. Trotz der erheblichen Förder- hier spielt die Zivilgesellschaft eine wichtige programme, die die Union seit den 1980er Jah- Rolle. Ziel des Programms ist es unter anderem, ren und in noch viel stärkerem Maße nach dem „ein Verständnis für eine europäische Identität Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder zu entwickeln, die auf gemeinsamen Werten, 2005 bzw. 2007 durchführt, lässt sich bislang gemeinsamer Geschichte und gemeinsamer kaum ein messbarer Erfolg hinsichtlich der Iden- Kultur aufbaut“ (Europäisches Parlament 2006). tifikation der Bürgerinnen und Bürger mit der Dies soll beispielsweise durch die Förderung Europäischen Union verzeichnen. von Städtepartnerschaften oder die Unterstüt- zung für Initiativen von Organisationen der Zi- 4 Zivilgesellschaft als vilgesellschaft vor Ort erreicht werden. Zahl- Ersatz-Exekutive? reiche weitere Beispiele für solche Förderpro- gramme lassen sich anführen. Der Vollständigkeit halber soll hier auf zwei Im Gegensatz zur Debatte um die Einbezie- weitere Diskussionszusammenhänge hingewie- hung von Akteuren der organisierten Zivilge- sen werden, in denen das Konzept der Zivilge- sellschaft in deliberative Beratungsprozesse der sellschaft Eingang in die Brüssler Behörden- Union umfasst die Perspektive der europäi- sprache gefunden hat, allerdings mit einem völ- schen Institutionen bei der Frage nach der Be- lig anderen Bedeutungsgehalt. So wird der Be- förderung einer europäischen Identität nun griff von den Europäischen Institutionen immer auch prononciert neo-tocqueville’sche Elemente mal wieder synonym zum ökonomischen Be- und heben indirekte Beiträge zum Community griff des Dritten Sektors verwendet, wenn es Building lokale Assoziationen hervor. Diese um die praktische Regelung der Daseinsvor- sollen durch ihre soziale Infrastruktur belast- sorge nach den Vorgaben der EG geht (Lahusen barer Netzwerke von face-to-face Beziehun- 2005). Hintergrund ist das Grundanliegen der gen bestehende soziale Schranken überwin- EU, einen gemeinsamen Binnenmarkt zu schaf- den. Interpersonales Vertrauen, die Unterstüt- fen. Dabei hat sich die Frage nach den ökono- zung gemeinschaftsbezogener Werte und Nor- mischen und rechtlichen Grundlagen für die men sowie bürgerschaftliches Engagement Erbringung sozialer Dienste im öffentlichen In- werden in diesem Verständnis in Netzwerken teresse durch nichtstaatliche Organisationen zu bürgerlicher Vereinigungen ausgebildet. Da- einer der heikelsten Probleme europäischer Bin- mit lässt sich diese Perspektive von Zivilge- nenmarktregulierung der vergangenen Jahre sellschaft der Debatte um den Nutzen von So- entwickelt. Dies resultiert aus der historisch zialkapital im Sinne Robert Putnams zuschla- gewachsenen Einbettung des Dritten Sektors in gen, den sich auch die Europäische Union zu die staatliche Wohlfahrtsproduktion, die von nutze machen möchte (Zimmer/Freise 2008). Land zu Land verschiedene Wohlfahrtsmixe aus Performanzevaluationen dieser Fördermaßnah- staatlichen, marktlichen und gemeinnützigen men sind allerdings überaus schwierig durch- Akteuren konstituiert hat (vgl. hierzu die Bei- zuführen. träge in Evers/Laville 2004). Im Kern geht es Was meint Brüssel eigentlich, wenn von Zivilgesellschaft die Rede ist? 25

also in dieser Auseinandersetzung um die externen Förderprogrammen zum Aufbau von Dienstleistungsfunktion gemeinnütziger Akteu- Zivilgesellschaften eher bescheidenen Erfolg re im Rahmen der Daseinsfürsorge und nicht attestieren. Dennoch spielt die Unterstützung etwa vorrangig um demokratietheoretische Fra- nicht-staatlicher Akteure in Transitionsprozes- gestellungen. Insbesondere den Organisationen sen nach wie vor eine wichtige Rolle in der EU- der freien deutschen Wohlfahrtspflege ist es aber Entwicklungszusammenarbeit. Gegenwärtig gelungen, den „zivilgesellschaftlichen Mehrwert wird in Parlament und Kommission eine rege gemeinwohlorientierter Dienste“ in Brüssel in Diskussion um die Professionalisierung des die politische Debatte einzuführen (Zimmer et Managements zivilgesellschaftlicher Koopera- al. 2005). Im Ergebnis hat dies dazu geführt, tionsprojekte geführt (Jünemann/Knodt 2006: dass sich die EU-Kommission bei der Durch- 291). setzung einheitlicher Regelungen im Bereich der Daseinsvorsorge gegenwärtig weitgehend zu- 5 Fazit rückhält. Dennoch gibt es augenblicklich eine Reihe von Konflikten zwischen EU-Kommis- Dass die eingangs zitierten EU-Übersetzer ihre sion, nationalen Regierungen und Vertretern des Schwierigkeiten mit dem Begriff Zivilgesell- Dritten Sektors, so im Ausschreibungs-, Sub- schaft haben, dürfte angesichts der dargestell- ventions- und Steuerrecht, um nur einige zu ten Verwendungsvielfalt in der Brüssler Behör- nennen (Blankart/Gehmann 2006). densprache verständlich geworden sein. Zu ver- Demokratietheoretisch wesentlich brisanter schieden sind die normativen Hoffnungen, die ist der Versuch der Kommission, mit Hilfe von seitens der EU-Institutionen in die aktuelle Dis- Organisationen des Dritten Sektors das ohnehin kussion um die Weiterentwicklung europäischen schon löchrige Subsidiaritätsprinzip und damit Regierens gesetzt werden, als dass Zivilgesell- nationale Kompetenzbereiche zu umschiffen. schaft in der EU-Forschung als heuristisches Die Methode der Offenen Koordinierung ist Konzept herhalten könnte. Warum hat der Be- ein gutes Beispiel. Hier werden „Organisatio- griff dennoch eine solche Karriere im europäi- nen der Zivilgesellschaft“ in den Umsetzungs- schen Diskurs hingelegt? Die Antwort dürfte in prozess der Zielvorgaben integriert, womit ein seiner utopischen Begriffsebene liegen. Wie starker Druck auf die nationalen Regierungen Ansgar Klein in seinem Standardwerk zum Dis- ausgeübt werden kann, Kommissionsinteres- kurs der Zivilgesellschaft so schön ausführt, ist sen umzusetzen, obwohl das Politikfeld nicht dieser „eine weit ausholende und unabgeschlos- vergemeinschaftet ist (Brandsen 2008). sene theoretische Suchbewegung nach den po- Schließlich hat der Begriff Zivilgesellschaft litischen Handlungsmöglichkeiten gesellschaft- in Brüssel ebenfalls einen festen Platz in der licher Akteure zur Herstellung und Fortentwick- Diskussion um die Weiterentwicklung europäi- lung demokratischer Formen der Politik“ (Klein scher Entwicklungszusammenarbeit und exter- 2000: 252). Untrennbar ist die Vorstellung von ner Demokratieförderung inne. Zwar zeigen Zivilgesellschaft mit der Idee einer „guten“, de- Annette Jünemann und Michèle Knodt, dass mokratischeren Gesellschaft verbunden, in der die Barroso-Kommission mit ihrer österreichi- eine aktive Bürgerbeteiligung und politische schen Außenkommissarin Ferrero-Waldner zi- Öffentlichkeit eine wichtige Rolle spielen. Und vilgesellschaftlichen Förderprogrammen spür- obwohl die aktuelle Umsetzung mehr zur Tar- bar weniger Aufmerksamkeit widmet als die nung der Elitenveranstaltung Europa dient, be- Vorgänger-Kommission, was auch einer Reihe steht doch offensichtlich die weitverbreitete von Evaluationen geschuldet sein dürfte, die Sehnsucht nach einem demokratischeren Euro- 26 Matthias Freise

pa, die sich auch in den umfangreichen Förder- Armstrong, Kenneth 2006: Inclusive gover- programmen der EU und anderer staatlicher In- nance? Civil Society and the open method of stitutionen niederschlägt. Forschungsnetzwer- co-ordination. In: Smismans, Stijn (Hg.): Civl ke wie CONNEX3 oder CINEFOGO4, aber Society and Legitimate European Governance. auch die Nachwuchsgruppe „Europäische Zi- Cheltenham: Edward Elgar, 68-86. vilgesellschaft & Multilevel Governance“5, der Bijsmans, Patrick/Altides, Christina 2007: der Verfasser vorsteht, sind nichts anderes als ‘Bridging the Gap’ between EU Politics and Einladungen an die Sozialwissenschaften, sich Citizens? The European Commission, National an der Verwirklichung der Utopie eines demo- Media and EU Affairs in the Public Sphere. In: kratischen Europas zu beteiligen. Journal of European Integration, Jg. 29, Heft 3, Sie dürfen dabei allerdings nicht den Fehler 323-340. begehen, auf den Zug derjenigen aufzusprin- Blankart, Charles/Gehrmann, Björn 2006: gen, die ein viel zu euphorisches Bild von Zivil- Der Dritte Sektor in der Europäischen Union: gesellschaft zeichnen und die Potentiale zivil- Die Daseinsvorsorge aus ökonomischer gesellschaftlicher Einbindung erheblich über- Sicht. In: Schmidt-Trenz, Hans-Jörg/Stober, schätzen. Eine Europäische Union, in der die Rolf (Hg.): Jahrbuch Recht und Ökonomik politische Entscheidungsfindung repräsentati- des Dritten Sektors. Baden-Baden: Nomos, ve Legitimierung zugunsten von vermeintlich 36-75. partizipativen Elementen marginalisiert, wird Bouwen, Pieter 2007: Competing for con- nicht zur Demokratisierung europäischen Re- sultation: Civil society and conflict between the gierens beitragen. Vielmehr steht im Gegenteil European Commission and the European Parli- eine Zementierung des Elitenprojektes Europa ament. In: West European Politics, Jg. 30, Heft zu befürchten. 2, 265-284. Brandsen, Taco 2008: European Civil Soci- Dr. Matthias Freise ist Leiter der Nach- ety and the Open Method of Coordination: an wuchsgruppe „Europäische Zivilgesellschaft analysis of the National Action Plans on Social und Multilevel Governance“ an der Universität Inclusion. In: Freise, Matthias (Hg.): European Münster, [email protected]. Civil Society on the Road to Success? Baden- Baden: Nomos, 157-179. Coen, David 2007: Empirical and theoreti- Anmerkungen cal studies in European lobbying. In: Journal of 1Vgl. www.europarl.europa.eu/agora. European Public Policy, Jg. 14, Heft 3, 333- 2Vgl. http://ec.europa.eu/civil_society/ 345. coneccs/index_de.htm. Eder, Klaus/Trenz, Hans-Jörg 2007: Prere- 3Vgl. www.connex-network.org/. quisites of Transnational Democracy and Me- 4Vgl. www.cinefogo.org/. chanisms for Sustaining it: The Case of the Eu- 5Vgl. nez.uni-muenster.de/. ropean Union. In: Kohler-Koch, Beate/Rittber- ger, Berthold (Hg.): Debating the Democratic Legitimacy of the European Union. Lanham: Literatur Rowman & Littlefield, 165-181. Armstrong, Kenneth 2002: Rediscovering Eriksen, Erik/Fossum, John Erik 2004: Eu- Civil Society: The European Union and the White rope in Search of Legitimacy: Strategies of Le- Paper on Governance. In: European Law Jour- gitimation Assessed. In: International Political nal, Jg. 8, Heft 1, 102-132. Science Review, Jg. 24, Heft 4, 435-459. Was meint Brüssel eigentlich, wenn von Zivilgesellschaft die Rede ist? 27

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Gudrun Eisele

Worte und Taten: Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss als Forum der organisierten Zivilgesellschaft

Es klafft eine Kluft zwischen EU-Europa und on 2001). Der Anspruch des EWSA, die orga- seinen BürgerInnen. Dies wurde spätestens 2005 nisierte Zivilgesellschaft zu repräsentieren, wur- mit dem Scheitern der Verfassungsreferenden de bei der Vertragsreform von Nizza anerkannt deutlich: Europa ist für die BürgerInnen kaum (Neuformulierung Art. 257 EGV; Läufer 2004). überschaubar, seine Institutionen und Akteure Auf europäischer Ebene finden sich aber weitgehend unbekannt, seinen Politiken haftet auch zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure, der Vorwurf der Bürgerferne an. Um Vertrauen die ihre Interessen in anderen Foren oder direkt zurückzugewinnen, muss Europa diese Kluft artikulieren. In Büchern über das politische Sys- schließen. Deshalb hat sich die EU eine stärke- tem der EU nimmt der Ausschuss maximal eine re Einbeziehung der BürgerInnen, insbesondere Randstellung ein (z. B. Tömmel 2003). Vor die- der zivilgesellschaftlich organisierten, auf die sem Hintergrund untersucht der vorliegende Fahne geschrieben. Vor diesem Hintergrund po- Beitrag, mit welchen Mitteln der Ausschuss sitioniert sich der Europäische Wirtschafts- und versucht, diese angestrebte Brückenfunktion Sozialausschuss (EWSA) seit einigen Jahren tatsächlich auszufüllen. Sind diese Ansätze ge- als Brücke zwischen Europa und der Zivilge- eignet, seinen selbst erhobenen Anspruch zu sellschaft (z. B. EWSA 2007). erfüllen? Der EWSA wurde bereits mit den Römi- Zunächst wird im Folgenden der EWSA in schen Verträgen 1957 als beratende Einrichtung seinen Grundelementen vorgestellt. Gleichzei- ins Leben gerufen. In ihm sind Arbeitgeber- tig werden die Stärken und Schwächen heraus- und Arbeitnehmervertreter sowie andere Inter- gestellt, die sich aus ihnen ergeben (1). Diese essengruppen versammelt. Der EWSA hat nur Ausgangsposition wird danach vor den Hinter- eine beratende Funktion, muss jedoch bei allen grund des gestiegenen Interesses an Zivilge- Fragen angehört werden, die die Wirtschafts- sellschaft und partizipativer Demokratie gestellt, oder Sozialpolitik der EU betreffen. Er versteht um die sich ergebenden Chancen und Heraus- sich als Vermittler zwischen den europäischen forderungen für den EWSA in seinem Umfeld Institutionen und der Zivilgesellschaft, und zwar zu analysieren (2). Nur wenn es dem EWSA in beide Richtungen: Zum einen möchte er den gelingt, seinen Herausforderungen zu begeg- Informationsgrad sowie das Bewusstsein über nen und gleichzeitig seine Chancen zu nutzen, das EU-politische Geschehen auf Basisebene kann er tatsächlich als Brücke oder Forum des erhöhen. Zum anderen versucht er, als Anlauf- zivilen Dialogs fungieren. Abschnitt 3 stellt ent- stelle bei der EU zu dienen und die Wünsche sprechend die unterschiedlichen vom Ausschuss und Belange, die zivilgesellschaftliche Organi- verfolgten Herangehensweisen vor und bewer- sationen formulieren, auf EU-Ebene einzubrin- tet sie kritisch. gen. 1999 prägte er den Begriff der „organisier- Grundlage der Analyse sind qualitative In- ten Zivilgesellschaft“ (EWSA 1999); auf seine terviews, die im Zeitraum Oktober 2005 bis Mai damalige Definition greifen nach wie vor zahl- 2006 durchgeführt wurden. Befragt wurden reiche wissenschaftliche Beiträge und EU-Do- hauptsächlich Mitglieder1, leitende Angestellte kumente zurück (z. B. Europäische Kommissi- und ExpertInnen des EWSA, aber auch Mitar- 30 Gudrun Eisele

beiterInnen der Europäischen Kommission und Die Mitglieder werden von den einzelstaatli- in Brüssel ansässiger NGOs.2 chen Regierungen vorgeschlagen und vom Rat ernannt, sind aber in ihrer Arbeit politisch un- abhängig. Als RepräsentantInnen eines be- 1 Stärken und Schwächen des stimmten Sektors vertreten viele in ihrem Selbst- EWSA verständnis eine ideelle „Basis“ im Ausschuss Die Stärken und Schwächen des EWSA lassen (Interviews EWSA). In seinen Stellungnahmen sich an drei Grundelementen der Institution fest- gelingt es dem EWSA, einen horizontalen Kon- machen: an seinen Anhörungsrechten, seiner sens zwischen diesen verschiedenen und zum Arbeitsweise sowie an der Doppelfunktion sei- Teil sehr gegensätzlichen Interessen abzubilden. ner Mitglieder. Gleichzeitig kann diese integrierende Kraft je- Zum Ersten ist der EWSA durch europäi- doch zu „am Ende nichtssagenden Stellungnah- sches Primärrecht dazu bestimmt, die sozio-öko- men“ auf dem „kleinsten gemeinsamen Nen- nomischen Interessen funktional zu repräsen- ner“ führen (Interview EWSA-Mitglied der tieren und die europäischen Institutionen zu be- Gruppe ,Verschiedene Interessen‘; GPlus Eu- raten. Seine vertraglich garantierten Anhörungs- rope 2005: 3). rechte sind eine seiner Hauptstärken: In vielen Die Doppelfunktion der Mitglieder ist das europäischen Gesetzgebungsprozessen, v.a. im dritte entscheidende Ausgangselement für die Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik, ist Positionierung des Ausschusses als „Brücke seine Stellungnahme ein fester Bestandteil (ob- zwischen der EU und der organisierten Zivilge- ligatorische Anhörung). In allen Politikfeldern sellschaft“. Die Mitglieder, „Vertreter der ver- der EU kann er durch Sondierungsstellungnah- schiedenen wirtschaftlichen und sozialen Be- men auf Anfrage von Kommission, Rat und reiche der organisierten Zivilgesellschaft“ (Art. Europäischem Parlament sowie durch Initiativ- 257 EGV), gehen weiterhin ihrer beruflichen stellungnahmen schon früh Einfluss nehmen Beschäftigung in ihren Heimatländern nach und (Art. 262 EGV, Lodge/Herman 1980: 273f, halten so, anders als Abgeordnete des EP oder Smismans 2000: 3). Bei obligatorischen Stel- EU-Funktionäre, permanent Kontakt zur ,Ba- lungnahmen, die am häufigsten verabschiedet sis‘. Europäische Entscheidungen kann der werden, wird der Ausschuss allerdings erst sehr EWSA so über seine Mitglieder an die Zivilge- spät befasst, sodass diese nur einen sehr be- sellschaften in den Mitgliedstaaten vermitteln grenzten Einfluss auf die inhaltliche Ausgestal- und die Belange der Menschen in die Beratun- tung von Rechtsvorschriften haben.3 Die Son- gen auf europäischer Ebene einbringen. Das dierungsstellungnahmen sind in dieser Hinsicht Fachwissen seiner Mitglieder wird von Ange- aussichtsreicher (Interview Kommission). hörigen anderer europäischer Institutionen und Das zweite Element ist die Arbeitsweise des von Brüsseler Meinungsführern geschätzt Ausschusses. Die Mitglieder des Ausschusses (GPlus Europe 2005: 19). organisieren sich in drei Gruppen: die der Ar- Dieser gewichtige Vorteil des EWSA entfal- beitgeberinteressen (Gruppe I), die der Arbeit- tet sich jedoch nicht voll, da ein Teil der Mitglie- nehmerinteressen (Gruppe II) und die der ,Ver- der sich nur wenig engagiert: „Von unseren 320 schiedenen Interessen‘, d.h. einer Vielzahl an- Mitgliedern [2006] sind etwa 40 bis 50 wirk- derer wirtschaftlicher und sozialer Interessen lich aktiv. Der Rest kommt und streicht das Geld wie etwa kleine und mittlere Unternehmen, [Tagegelder] ein.“ (Interview EWSA-Mitglied Landwirtschaftsverbände, Frauenverbände oder Arbeitnehmergruppe) Außerdem arbeitet ein Verbraucherschutzorganisationen (Gruppe III). erheblicher Anteil der EWSA-Mitglieder nicht Worte und Taten: Der EWSA als Forum der organisierten Zivilgesellschaft 31

in den Mitgliedstaaten selbst, sondern in Brüs- der sind unmittelbare Vertreter der organisier- seler Vertretungsbüros, was die vorgebliche ten Zivilgesellschaft und repräsentieren in ihrer Bindung an die Basis fraglich macht. Gesamtheit jenes Netzwerk an kommunikati- Sein vertraglicher Status, seine konsensori- ven Handlungen, die als ‚Lebenswelt‘ die not- entierte Arbeitsweise und die Doppelfunktion wendige Aktionsbasis der Zivilgesellschaft bil- seiner Mitglieder eröffnen dem EWSA die den.“ (EWSA 1999: 9.6) Möglichkeit, zwischen der EU und der Zivilge- Aus Sicht des EWSA dient er also als Fo- sellschaft zu vermitteln. Dieses Potential muss rum des horizontalen Dialogs, des Austauschs jedoch mit Vorsicht bewertet werden, denn den zwischen der organisierten Zivilgesellschaft und unbestreitbaren Stärken stehen auch die darge- den europäischen Institutionen. Er habe das stellten Schwächen gegenüber. Mit dieser hier Potential, zwischen den Organisationen an der geschilderten Ausgangslage ergeben sich für den Basis und den EU-Institutionen zu übersetzen EWSA aus aktuellen Entwicklungen diverse sowie zwischen ihnen zu vermitteln. Da der Chancen und Herausforderungen, die im nächs- EWSA politisch unabhängig sei, könne er die ten Abschnitt herausgearbeitet werden. unterschiedlichsten Interessen zivilgesellschaft- licher Organisationen einbringen (Interviews EWSA). 2 Brücke zur Zivilgesellschaft: Innner- und außerhalb des EWSA teilen viele Chancen und Herausforderungen die Meinung, dass die europäischen Institutio- Seit den 1990er Jahren gewinnt Zivilgesellschaft nen eine Plattform für Beratungen mit der Zivil- in politischen Diskursen und europäischen Ent- gesellschaft brauchen. Nach Meinung eines scheidungsprozessen zunehmend an Bedeutung. NGO-Mitarbeiters „verfügt der EWSA über ein Dies stellt eine große Chance für den EWSA großes Potential, der Fixpunkt der Zivilgesell- dar, als funktionaler Repräsentant im europäi- schaft in der EU zu werden“ (GPlus Europe schen Politikprozess seine Legitimationsgrund- 2005: 25). Unterstellungen seitens einiger lage zu stärken. Tatsächlich gelang es dem NGOs, er wolle der „Meister des Dialogs“ sein EWSA, beispielsweise mit den Anhörungen der (Fazi/Smith 2006: 8; Übers.: GE), weist der Zivilgesellschaft während der Verhandlungen EWSA jedoch entschieden zurück: „Der EWSA des Europäischen Konvents über den Verfas- hat das Mandat, in der Europäischen Union ei- sungsentwurf sein Profil als Forum des hori- nen Großteil der ‚organisierten Zivilgesell- zontalen zivilen Dialogs zu stärken (vgl. Smis- schaft‘ zu vertreten, er hat jedoch keine diesbe- mans 2003: 484). zügliche Monopolstellung“ (Bloch-Lainé 2004). Mit dem Lissaboner Vertrag wird ein Artikel Die Beziehung zu zivilgesellschaftlichen über ,partizipative Demokratie‘ in das EU-Ver- Organisationen ist für den EWSA folglich von tragswerk eingeführt, der dem EWSA eine wei- zentraler Bedeutung in seinen Bemühungen, tere Chance bietet, seine Rolle im europäischen sich als Brücke zur Zivilgesellschaft zu positi- Institutionengefüge zu untermauern.4 Entspre- onieren. Im Verlauf der europäischen Integra- chend bezieht sich der EWSA oft auf dieses tion sah sich der EWSA in seiner Funktion als Prinzip. Er beansprucht folgende Rolle für sich: Interessenvertretung einem zunehmenden Wett- „Der Ausschuss ist aufgrund seiner Aufga- bewerb ausgesetzt: Eine wachsende Zahl von benstellung als Forum der organisierten Zivil- Interessengruppen vertrat ihre Anliegen direkt gesellschaft in der Lage, sowohl Bürgernähe zu in Brüssel bei den Institutionen. Zudem grün- garantieren als auch zum demokratischen Wil- deten sich eine Vielzahl europäischer Netzwerke lensbildungsprozess beizutragen. Seine Mitglie- und Dachverbände, die schnell an medialer 32 Gudrun Eisele

Aufmerksamkeit gewannen (Kaelble 2004: Die mangelhafte Vertretung ist auf die inter- 274ff; Jansen 2005).5 Mit ihnen sind wichtige ne Gliederung der Interessen in drei Gruppen Vertreter der europäischen Zivilgesellschaft und auf die teilweise unsystematische Ernen- nicht im EWSA vertreten, da seine Mitglieds- nungspraxis der Staaten zurückzuführen. Die struktur auf nationalen Ernennungen beruht. interne Gliederung in die drei Gruppen ist seit Aber auch die mangelhafte Repräsentation ei- einigen Jahren in der Geschäftsordnung des niger Sektoren der Zivilgesellschaft schwächt EWSA verankert und lässt sich schwerlich än- seine Position als Forum der Zivilgesellschaft. dern. Unter MitarbeiterInnen, die eine Ausrich- Lediglich die Gruppe ,Verschiedene Interes- tung des Ausschusses als zivilgesellschaftliches sen‘ vertritt die Zivilgesellschaft in einem en- Forum begrüßen, wird diese Struktur als geren Sinne, da hier auch so genannte schwa- „Zwangsjacke“ empfunden und die mangelhaf- che Interessen vertreten sind, beispielsweise te Vertretung der breiteren Zivilgesellschaft kri- Verbraucherschutz-, Behinderten- oder Jugend- tisiert: verbände. Daneben repräsentiert diese Gruppe „Die Verträge sehen den sozialen Dialog vor, jedoch auch die Interessen des Handels, klei- also braucht man die Gruppen [der Arbeitgeber ner und mittlerer Unternehmen und der Land- und Arbeitnehmer] gar nicht mehr so sehr.“ „Der wirtschaft, Interessen mithin, die eigentlich in Mehrwert des Ausschusses […] wird durch die den Gruppen der Arbeitgeber und Arbeitneh- Gruppe ‚Verschiedene Interessen‘ geschaffen.“ mer organisiert sein müssten (Jansen 2005: (Interviews beratendeR ExpertIn beim EWSA 166). und EWSA-AngestellteR) Worte und Taten: Der EWSA als Forum der organisierten Zivilgesellschaft 33

Auf die Ernennungspraxis kann der EWSA 3 Reaktionen auf die mangels verbindlicher Richtlinien nur mittels Herausforderung Empfehlungen Einfluss nehmen. Doch trotz seines Appells, die Ernennungen mögen die Die Herausforderungen, vor denen der EWSA Entwicklung der Zivilgesellschaft widerspie- steht, werden seitens der Mitglieder und Mit- geln, sind „NGOs [in der Gruppe ‚Verschiede- arbeiterInnen des EWSA unterschiedlich be- ne Interessen‘] chronisch unterrepräsentiert“ wertet. Entsprechend werden verschiedene (GPlus Europe 2005: 40). Diese mangelnde Wege verfolgt, um ihnen zu begegnen. Drei in Repräsentativität spiegelt sich auch in der Wahr- ihren Instrumenten und Ansatzpunkten jeweils nehmung des EWSA wider. Nur rund ein Vier- unterschiedliche Reaktionen lassen sich her- tel der befragten ExpertInnen glaubten, der ausfiltern und zu Analysezwecken zusammen- EWSA vertrete die Zivilgesellschaft als Ganzes fassen: der Formalisierungsansatz (3.1), der und nicht nur einzelne ihrer Segmente (GPlus Vernetzungsansatz (3.2) und der Forumsan- Europe 2005: 12). satz (3.3). Um seine Bedeutung im Institutionenge- füge zu stärken und die Brückenfunktion aus- 3.1 Der Formalisierungsansatz zufüllen, muss der EWSA jedoch nicht nur repräsentativ sein, sondern auch wahrgenom- Die erste hier analysierte Herangehensweise men werden. Aber gerade daran hapert es. hebt die Stärken des Ausschusses hervor und Von den befragten ExpertInnen meinte die setzt auf eine stärkere Strukturierung und For- große Mehrheit, dass der EWSA institutio- malisierung des zivilen Dialogs. Der EWSA nell und öffentlich kaum sichtbar sei (GPlus unterscheidet zwischen der organisierten Zivil- Europe 2005: 32). Wie einE EWSA-Ange- gesellschaft und der Zivilgesellschaft als sol- stellteR sagte: „Der Ausschuss muss der Welt cher. Seine Mitglieder repräsentieren – offen- beweisen, dass er ein sinnvolles Instrument sichtlich – Organisationen, also die organisierte ist, um einen echten zivilen Dialog zu schaf- Zivilgesellschaft. Diese Unterscheidung ist ein fen – und nicht nur eine Institution, die Stel- zentraler Bestandteil der Identität des Ausschus- lungnahmen verfasst, um die sich niemand ses (Interviews EWSA). Die Definition der Zi- schert“. vilgesellschaft als „Gruppen, die über einen ge- Die erhöhte Aufmerksamkeit für die Zivil- wissen Organisationsgrad verfügen und gemein- gesellschaft bietet dem EWSA die Chance, sein wohlorientiert handeln“ (Interview EWSA-An- Profil als zivilgesellschaftliches Forum zu schär- gestellteR), dient als Bindeglied zwischen den fen und damit seine Bedeutung zu stärken so- divergierenden Interessen. Gleichzeitig lässt die wie seine Legitimitätsgrundlage zu stützen. konsensorientierte Arbeitsweise tatsächlich we- Gleichzeitig ist die Aufgabe, eine Brückenfunk- nig Raum für die Vertretung von Partikularinte- tion zwischen der EU und der Zivilgesellschaft ressen. Für die in einem engeren Sinne zivilge- wahrzunehmen, auch eine große Herausforde- sellschaftlichen Organisationen und die Vertre- rung. Mögliche Antworten des Ausschusses auf ter der Arbeitgeber- und Arbeitnehmergruppen diese Herausforderung müssen darauf abzie- wurde also mit der ,organisierten Zivilgesell- len, seine Sichtbarkeit wie seine Repräsentati- schaft‘ ein gemeinsamer Nenner gefunden.6 vität zu stärken. Im Folgenden wird untersucht, Dem EWSA ist es ein Anliegen, für größere wie die vom EWSA gewählten Herangehens- Bevölkerungsteile zu sprechen: weisen diese beiden zentralen Herausforderun- „Der Begriff [Zivilgesellschaft] wurde in den gen angehen. letzten 10, 15 Jahren oft geschändet, gerade von 34 Gudrun Eisele

der Kommission. Wenn es gerade passt, nimmt • unabhängig und weisungsungebunden ge- man ein paar Leute […], manchmal gar nicht genüber externen Instanzen sein; relevant für größere Bevölkerungsgruppen, z.B. • transparent sein, vor allem in finanzieller kleinere Interessengruppen, […] die aber, weil Hinsicht und in den Entscheidungsstruktu- es gerade opportun ist, nach vorne geschoben ren.“ (EWSA 2006a: 3.1.2) werden. Deswegen muss man aufpassen, dass die sinnvolle Mitwirkung der Zivilgesellschaft Mit dieser Stellungnahme unterstreicht der nicht durch solche politischen Spiele kaputt ge- EWSA zwischen den Zeilen auch seine eigene macht wird.“ (Interview EWSA-Mitglied Ar- Repräsentativität und damit seine Legitimität. beitnehmergruppe) Denn „natürlich hat der EWSA ein zentrales Mit der im Februar 2006 angenommenen Interesse daran hervorzuheben, dass er in die- Stellungnahme über ,Die Repräsentativität der sem Spiel das repräsentative Sprachrohr der europäischen Organisationen der Zivilgesell- organisierten Zivilgesellschaft ist“ (Interview schaft im Rahmen des zivilen Dialogs‘, die de- EWSA-Mitglied Arbeitnehmergruppe). Mit den finiert, welche Organisationen auf europäischer aufgestellten Kriterien belegt er einen Begriff, Ebene repräsentativ sind, zieht der EWSA so- der zwar häufig benutzt, von der Kommission mit eine weitere Trennlinie. Laut vorherrschen- bisher aber nicht definiert wurde. Dieser wider- der Meinung im EWSA sollen weiterhin alle strebt eine solche Definition auch, weil sie, dem Organisationen von den EU-Institutionen po- „freien Zugang als organisatorische Grundüber- tentiell konsultiert werden können, während nur zeugung“ (Mazey/Richardson 2006: 282; repräsentative Organisationen das exklusivere Übers.: GE) folgend, für alle Belange offen sein Recht haben, an der Politikgestaltung und an möchte (Interview Kommission). Die besagte der Erarbeitung von Gemeinschaftsbeschlüssen Stellungnahme schaffte es auf die Tagesordnung teilzuhaben (EWSA 2006a: 3.2).7 der Kommission und erhielt damit mehr Auf- „Um als repräsentativ zu gelten, müssen eu- merksamkeit als die meisten anderen (Interview ropäische Organisationen die folgenden neun Kommission). Auch die NGO-Netzwerke dis- Kriterien erfüllen: kutierten die Stellungnahme kritisch (Fazi/Smith • auf Gemeinschaftsebene dauerhaft organi- 2006: 46f). siert sein; Mit der Differenzierung der Zivilgesellschaft • einen direkten Zugriff auf die Expertise ihrer nach Organisationsgrad und Repräsentativität Mitglieder gewährleisten; ist es dem EWSA gelungen, seine Sichtbarkeit • allgemeine Anliegen vertreten, die dem Wohl temporär zu vergrößern und Diskussionen über der europäischen Gesellschaft dienen; abgestufte Teilhaberechte zu nähren. Diese Her- • aus Organisationen bestehen, die auf der angehensweise entfaltet mittel- und langfristig Ebene des jeweiligen Mitgliedstaats aner- jedoch keine Wirkung, da die Ursachen der kanntermaßen repräsentativ für die von ih- mangelnden Sichtbarkeit nicht bekämpft wer- nen vertretenen Interessen sind; den. • über Mitgliedsorganisationen in der großen Seine Legitimität als Vertreter der Zivilge- Mehrheit der Mitgliedstaaten der EU verfü- sellschaft konnte der Ausschuss mittels der vor- gen; genommenen Formalisierungen nicht stärken. • eine Rechenschaftspflicht gegenüber den Dies wird insbesondere durch die Vorbehalte in Mitgliedern der Organisation vorsehen; der Gruppe ,Verschiedene Interessen‘ gegenü- • über ein Vertretungs- und Handlungsman- ber dem Begriff der organisierten Zivilgesell- dat auf europäischer Ebene verfügen; schaft und durch die kritische Diskussion des Worte und Taten: Der EWSA als Forum der organisierten Zivilgesellschaft 35

Repräsentativitätsbegriffs außerhalb des EWSA werden im Ablehnungsschreiben eines wichti- belegt. gen Bündnisses von Umwelt-NGOs (heute „Green 10“) beispielhaft auf den Punkt ge- bracht: 3.2 Der Vernetzungsansatz „Es […] ist nicht klar, welchen praktischen Während der Formalisierungsansatz die Stär- Nutzen dieser zeitliche Aufwand […] haben soll, ken des EWSA betont, setzt der Vernetzungs- da wir über andere Wege verfügen, Themen von ansatz an seinen Schwächen an. Er bewertet die allgemeinem Interesse mit anderen europäischen Vertretung der Zivilgesellschaft durch den Aus- zivilgesellschaftlichen Organisationen zu dis- schuss tatsächlich als mangelhaft und versucht, kutieren. […] Außerdem möchten wir einer […] die parallel existierenden zivilgesellschaftlichen stärkeren Rolle des EWSA keinen Vorschub leis- Netzwerke auf europäischer Ebene an den Aus- ten, da dies eventuell die Möglichkeiten der di- schuss heranzuführen. In Konferenzen und rekten Konsultation mit […den] Institutionen Anhörungen des EWSA arbeiten NGOs und […] einschränken würde.“ (zitiert nach Fazi/ europäische Netzwerke schon lange punktuell Smith 2006: 35, FN 100; Übers.: GE). mit dem Ausschuss zusammen. Eine dauerhafte Trotz der anfänglichen Skepsis traten zuneh- Bindung zwischen dem EWSA und europäi- mend mehr NGOs der Verbindungsgruppe bei. schen Netzwerken wurde 2004 mit Einrichtung Wichtige Mitglieder sind heute unter anderem der ,Verbindungsgruppe mit den europäischen VertreterInnen des „European Civic Forum“, Organisationen und Netzwerken der Zivilge- der Europäischen Frauenlobby und des Ent- sellschaft‘ geschaffen. Diese Kontaktgruppe wicklungshilfe-Bündnisses CONCORD, wäh- wurde aufgrund des Drucks seitens der Arbeit- rend bedeutende Akteure aus anderen Bereichen geber- und Arbeitnehmergruppen zwar nur sehr wie etwa Umweltschutz nach wie vor nicht in schwach institutionalisiert, strukturiert aber den- der Verbindungsgruppe vertreten sind. An den noch die bereits bestehenden informellen Be- meisten Treffen der Verbindungsgruppe neh- ziehungen zwischen dem EWSA und den Ver- men zudem lediglich etwa ein Drittel bis die treterInnen europäischer Netzwerke. Ihre Auf- Hälfte ihrer Mitglieder teil. gabe ist es, „ein koordiniertes Vorgehen des Zu den bisherigen Arbeitsergebnissen der EWSA gegenüber den europäischen Organisa- Kontaktgruppe zählt ein Positionspapier zu den tionen und Netzen der Zivilgesellschaft zu ge- finanziellen Regulierungen der Kommission; die währleisten“ sowie „die Realisierung der ge- Ergebnisse fanden inhaltlich auch in einer Stel- meinsam beschlossenen Initiativen zu überwa- lungnahme des EWSA Eingang. Darüber hin- chen.“ (EWSA 2004: 3.2) aus wirkt die Verbindungsgruppe an Berichten Die Verbindungsgruppe setzt sich einerseits des EWSA zur Lissabon-Strategie mit. Neben aus Mitgliedern des EWSA und andererseits diesen schriftlichen Beiträgen diskutierte die aus VertreterInnen wichtiger NGO-Plattformen Verbindungsgruppe verschiedene für die Betei- verschiedener Politikfelder zusammen. Die De- ligten relevante Fragen und traf sich mehrmals legation des EWSA ist mit dem Präsidenten, mit Vertretern der Kommission. Insgesamt er- den drei Gruppen- und sechs Fachgruppen- arbeitete die Verbindungsgruppe nur sehr weni- präsidenten sehr ranghoch besetzt, was die Be- ge greifbare Ergebnisse, was unter anderem auf deutung dieser Kontaktgruppe unterstreicht.8 eine gewisse Zurückhaltung seitens der Vertre- Einige wichtige Netzwerke lehnten die Teil- terInnen der Netzwerke zurückzuführen ist. EinE nahme an der Verbindungsgruppe aber zunächst EWSA-AngestellteR beschreibt das Problem ab. Ihre Befürchtungen und Ressentiments bildhaft: 36 Gudrun Eisele

„Es ist wie mit einer verschlagenen Kuh, die ergien zu schaffen, beispielsweise durch ein sie in einen Pferch treiben wollen, um sie auf jährliches Arbeitsprogramm (EWSA 2006b). dem Lastwagen fortzubringen. Um diese Kuh Die Schaffung der Verbindungsgruppe ist herum stehen überall Bauern, die Stöcke haben somit ein positiver, wenn auch zögerlicher und winken und so bewegt sich die Kuh oder Schritt, die Sichtbarkeit und die Repräsentativi- sie tut zumindest so, ohne dass sie dem Lastwa- tät des EWSA zu erhöhen. Der EWSA bindet gen aber tatsächlich näher kommt.“ mit dieser Zusammenarbeit einige der großen Da die Verbindungsgruppe in der Geschäfts- und repräsentativen europäischen Netzwerke in ordnung des EWSA keine Erwähnung findet, einen horizontalen Dialog ein und versucht da- bleibt offen, in welchem Verhältnis ihre Ergeb- mit, sowohl die nationalstaatliche Logik der nisse zu Stellungnahmen des EWSA oder zu Rekrutierung auszugleichen als auch seine Brü- Meinungen der Gruppen stehen. Diese Unklar- ckenfunktion stärker mit Leben zu füllen. Mit- heit erschwert es auch VertreterInnen der EU- tel- und langfristig sind aber mehr greifbare Institutionen, das Gewicht der Verbindungsgrup- Ergebnisse und eine eindeutige Definition der pe einzuschätzen (Interviews Kommission, be- Rolle innerhalb des EWSA notwendig; sonst ratendeR ExpertIn beim EWSA). liegt der Verdacht nahe, der EWSA unterhalte Die Verbindungsgruppe erwies sich ent- die Verbindungsgruppe lediglich zu Image-Zwe- sprechend bisher eher als ein Mittel des Dia- cken. Um mit einem Mitglied der Gruppe ,Ver- logs zwischen dem EWSA und europäischen schiedene Interessen‘ zu sprechen: „Die Ver- Netzwerken – und zwischen den Netzwerken bindungsgruppe hat viel Potential, aber sie untereinander – denn als Werkzeug, mit dem schöpft es noch nicht aus“. Synergien für gemeinsame Arbeitsprogramme und Initiativen geschaffen werden. Dennoch 3.3 Der Forumsansatz erhielt die Gruppe insbesondere seitens des Brüsseler NGO-Kosmos einige Aufmerksam- Die dritte hier vorgestellte Herangehensweise, keit, wie das steigende Interesse an einer Mit- der Forumsansatz, versucht zu beweisen, dass gliedschaft belegt. Die größte bisherige Aner- der EWSA ein glaubwürdiges Forum der ge- kennung der Verbindungsgruppe durch die samten Zivilgesellschaft am Puls der Zeit ist. EU-Institutionen war ihre Erwähnung im Ko- Zudem soll durch eine Stärkung der Zusam- operationsprotokoll zwischen dem EWSA und menarbeit mit anderen Institutionen, insbe- der Kommission (Europäische Kommission/ sondere der Kommission, die Rolle und Sicht- EWSA 2005: Art. 12). 2006 entschied der barkeit des EWSA vergrößert werden. Als Mit- EWSA, das ,Experiment‘ der Verbindungs- tel wurde eine besondere Veranstaltungsform gruppe fortzuführen. Eine interne Evaluation gewählt, die hinsichtlich ihrer Zielsetzung und bekräftigte, dass die Existenz und die schriftli- Innovation innerhalb des EWSA herausstach: chen Beiträge der Verbindungsgruppe die Sicht- Das Stakeholder-Forum zum Thema „Die Kluft barkeit des Ausschusses signifikant erhöhe. überbrücken: Wie können Europa und seine Zudem verkörpere die Verbindungsgruppe die Bürger einander näher gebracht werden?“, das Brückenfunktion zwischen den EU-Institutio- im November 2005 stattfand. nen und der organisierten Zivilgesellschaft Vor dem Hintergrund der gescheiterten Re- (vgl. auch GPlus Europe 2005: 25). Der Eva- ferenden über den Verfassungsentwurf im Früh- luationsbericht forderte die Mitglieder der Ver- jahr 2005 maßen die europäischen Institutionen bindungsgruppe auf, stärker als bisher zu kom- der Kommunikation Europas eine hohe Bedeu- munizieren und zu kooperieren, um mehr Syn- tung bei. Dies bot dem EWSA eine hervorra- Worte und Taten: Der EWSA als Forum der organisierten Zivilgesellschaft 37

gende Gelegenheit zu zeigen, dass er einen wert- ber- und Arbeitnehmergruppen kritisierten, die vollen Beitrag zu europäischen Debatten leisten Teilnehmenden hätten nicht als VertreterInnen und eine „Brücke“ darstellen kann. Kommissa- von Organisationen gesprochen. Ein EWSA- rin Margot Wallström sicherte zu, dass die Er- AngestellteR forderte den EWSA auf, dem gebnisse eines Stakeholder-Forums bei der Er- Konzept der organisierten Zivilgesellschaft arbeitung des Weißbuchs über europäische wieder mehr Vertrauen entgegenzubringen: Kommunikationspolitik berücksichtigt würden. „In den meisten Fällen mangelte es an der Bereits im April 2005 hatte der EWSA ein Repräsentativität der Teilnehmenden, wenn sie Stakeholder-Forum mit der Open-Space-Me- nicht sogar völlig fehlte. Es ist ja völlig in Ord- thode organisiert (siehe Dokumentation EWSA nung, die Meinung der normalen BürgerInnen 2005). Diese Methode fördert Interaktivität und zu hören, aber daraus kann man keine Politik unterscheidet sich stark von gängigen Anhö- machen. [...] Das ist eine sehr populistische Her- rungen, bei denen „Menschen vorhersagbare angehensweise, wie man BürgerInnen einbe- Stellungnahmen im Namen ihre jeweiligen Or- zieht. [...] Wir machen hier ja keine Umfrage.“ ganisationen vorlesen“ (Interview EWSA-Mit- Gegner des Stakeholder-Forums fühlten sich glied Arbeitgebergruppe). in ihrer Skepsis bestätigt, als das Weißbuch über Am Stakeholder-Forum ,Die Kluft überbrü- eine europäische Kommunikationspolitik ver- cken‘ nahmen etwa 300 Menschen teil, neben öffentlicht wurde: Die Kommission erwähnte EWSA-Mitgliedern, VertreterInnen von Brüs- das Stakeholder-Forum zwar anerkennend (Eu- seler NGO-Netzwerken sowie EU-BeamtInnen, ropäische Kommission 2006: 3, FN 3), inhalt- JournalistInnen und Multiplikatoren auch sehr lich fanden sich die Vorschläge des Stakehol- viele VertreteterInnen nationaler zivilgesell- derforums im Weißbuch aber nicht wieder. schaftlicher Organisationen. Die ,üblichen Ver- Eines der Hauptziele des Forumsansatzes dächtigen‘ aus der Brüsseler Szene wurden be- war, die Kooperation zwischen den Institutio- wusst ausgelassen, um frische Ideen zu disku- nen, insbesondere die Zusammenarbeit des tieren und um „das Vorurteil zu überwinden [...], EWSA mit der Kommission, zu stärken. Im der Ausschuss bringe nur Menschen zusam- Anschluss an das Brüsseler Stakeholder-Fo- men, deren Stimmen ohnehin gehört werden“ rum plante der EWSA Stakeholder-Foren in den (Interview EWSA-AngestellteR). Mitgliedsstaaten, ganz im Sinne der lokalen Zu den unbestrittenen Erfolgen des Stake- Dimension der Kommunikationsstrategie. Zwar holder-Forums gehörte entsprechend, dass es fanden zwei regionale Stakeholder-Foren zum ,neue Gesichter‘ zusammenbrachte. Die inter- selben Thema statt, aber die Bemühungen, die essantesten Arbeitsgruppenergebnisse wurden Kommissionsvertretungen in den Mitgliedstaa- direkt mit EU-Kommissionsvizepräsidentin ten in die Veranstaltungen einzubeziehen, schei- Margot Wallström, der Präsidentin und dem Vi- terten. Insgesamt erhielten die Hoffnungen im zepräsidenten des EWSA sowie mit Mitglie- EWSA auf eine verstärkte Kooperation mit den dern des Europäischen Parlaments diskutiert. EU-Institutionen einen empfindlichen Dämp- Ein Mitglied der Gruppe „Verschiedene Inter- fer. essen“ sah das Forum so auch als Beweis, „dass Auch wenn die ehrgeizigen Ziele des Brüs- wir wirklich die Zivilgesellschaft zusammen- seler Stakeholderforums nicht erreicht wurden, bringen können“. so konnte der EWSA doch sein Profil als offe- Innerhalb des EWSA gab es jedoch auch nes Forum für die Zivilgesellschaft auf innova- Vorbehalte gegenüber der Methode sowie dem tive Weise stärken und seine Sichtbarkeit erhö- Einladungsverfahren. Mitglieder der Arbeitge- hen. Zwischen dem ernst zu nehmenden Anlie- 38 Gudrun Eisele

gen der Repräsentativität der Teilnehmenden funktion effektiv auszufüllen. Die wichtigsten und dem Ziel einer freien, interaktiven Ausspra- Herausforderungen, denen der EWSA folglich che gälte es bei zukünftigen Stakeholder-Foren begegnen muss, sind die Erhöhung seiner Re- ein Gleichgewicht auszuloten. Stakeholder-Fo- präsentativität und die Steigerung seiner Sicht- ren bieten dem EWSA die Möglichkeit, zu Kern- barkeit. Die Möglichkeiten, seine Mitgliedschaft fragen ein breites Meinungsbild an europäische auszuweiten und so eine erhöhte Repräsentati- Entscheidungsträger zu vermitteln. Der Erfolg vität zu erreichen, sind durch die nationale Lo- dieses Ansatzes hängt jedoch nicht nur vom gik seiner Besetzung wie durch seinen man- EWSA – und der dortigen Weiterverfolgung – gelnden Einfluss auf die Ernennung von Mit- ab, sondern auch von der Kommission: Bleibt gliedern sehr begrenzt. es bei bloßen Lippenbekenntnissen und finden Der EWSA verfolgt derzeit gleichzeitig meh- die Arbeitsergebnisse der Stakeholder-Foren rere Wege, um den Herausforderungen zu be- überhaupt keinen Eingang in die tatsächliche gegnen und gleichzeitig die Chancen zu nutzen. Politik, so ist die Durchführung eines innovati- Diese wurden hier analytisch in drei verschie- ven Austauschs mit der breiten Zivilgesellschaft dene Herangehensweisen unterschieden: den überflüssig. Formalisierungsansatz, den Vernetzungsansatz und den Forumsansatz. Mit den Stellungnahmen verwenden die 4 Fazit Akteure des Formalisierungsansatzes eines der Im vorliegenden Beitrag wurde untersucht, auf traditionellsten und etabliertesten Instrumente welche Weise der EWSA auf die sich ihm stel- des EWSA. Durch die Stellungnahme zur Re- lenden Herausforderungen reagiert, und die Fra- präsentativität zivilgesellschaftlicher Organisa- ge gestellt, ob die gewählten Herangehenswei- tionen erreichte der EWSA eine vergleichsweise sen geeignet sind, diesen zu begegnen. Mit Blick hohe Aufmerksamkeit. Einige der aufgestellten auf die hohe Bedeutung, die der Zivilgesellschaft Kriterien waren ebenso wie die Notwendigkeit seit einiger Zeit in der europäischen Politik und einer solchen Definition umstritten. Insgesamt Öffentlichkeit beigemessen wird, bietet sich dem tragen die Differenzierungen nicht zu einer glaub- EWSA die Chance, sich als Brücke zur Zivilge- haften Untermauerung der Repräsentativität des sellschaft und als Forum des zivilen Dialogs zu Ausschusses bei. Seinem Bestreben, eine Brü- positionieren. Um diese Chance effektiv zu nut- ckenfunktion zwischen der EU und der Zivilge- zen, kann er auf drei seiner zentralen Stärken sellschaft einzunehmen, dürften diese Stellung- zurückgreifen: die Doppelfunktion seiner Mit- nahmen sogar eher schaden, da Teile zivilge- glieder, die erfolgreiche Konsensbildung sowie sellschaftlicher Organisationen einer Formali- seinen vertraglich garantierten Status. Proble- sierung skeptisch begegnen. matisch ist hierbei allerdings, dass der EWSA Die beiden anderen Herangehensweisen sind die Zivilgesellschaft nur bedingt repräsentiert, aussichtsreicher. Mit der Gründung der Verbin- da große europäische Netzwerke nicht in ihm dungsgruppe unternimmt der Vernetzungsan- vertreten sind und vor allem da gerade schwa- satz den Versuch, europäische Netzwerke an che Interessen und NGOs – wichtige Teile der den EWSA heranzuführen und in leichter Form Zivilgesellschaft – in der Mitgliedschaft deut- einzubinden – allerdings mit nur mäßigem Er- lich unterrepräsentiert sind. Außerdem mangelt folg. Dies liegt zum einen an dem verhaltenen es dem Ausschuss an Sichtbarkeit im Institutio- Engagement der europäischen Netzwerke, zum nengefüge der EU und in der Öffentlichkeit. anderen aber auch am EWSA selbst, der die Dies erschwert es ihm zusätzlich, die Brücken- Verbindungsgruppe insgesamt nur sehr zöger- Worte und Taten: Der EWSA als Forum der organisierten Zivilgesellschaft 39

lich fördert. Entsprechend gelingt es dem EWSA obligatorischen Anhörungen nur noch Stellung- mit diesem Ansatz auch nur begrenzt, seine nahmen zu erarbeiten, wenn der Ausschuss wirk- Sichtbarkeit wie seine Repräsentativität zu er- lich etwas beizutragen hat. Dies würde potenti- höhen. Damit er sein Potential entfalten kann, ell die Sichtbarkeit und den Einfluss des EWSA muss die Beziehung zwischen der Verbindungs- stärken. Gleichzeitig könnten freiwerdende Res- gruppe und dem EWSA insbesondere mit Blick sourcen für Sondierungs- und Initiativstellung- auf die Arbeitsergebnisse der Verbindungsgrup- nahmen sowie für den Ausbau der vorhande- pe definiert und konkretisiert werden. Mehr nen Potentiale eingesetzt werden. Darüber hin- Unterstützung und Enthusiasmus seitens der aus muss die stark konsensorientierte Arbeits- EWSA-Mitglieder wären ebenso hilfreich wie weise kritisch hinterfragt werden, da sie die eine verstärkte Reflexion darüber, welchen Aussagekraft und den politischen Nutzen der Mehrwert die Verbindungsgruppe für die euro- Stellungnahmen des EWSA häufig minimiert. päischen Netzwerke schaffen könnte. Nur wenn Ein kritischer Diskurs innerhalb des EWSA aus lückenhafter Teilnahme eine wirkliche Be- muss neu definieren, wie viel Konsens notwen- teiligung zivilgesellschaftlicher Netzwerke dig und wünschenswert ist. wird, kann sich der EWSA mittels dieser Kon- Der EWSA muss „nach neuen Wegen su- taktgruppe wirksam als Forum des zivilen Dia- chen, das Beteiligungsrecht auszuüben“ (Füh- logs positionieren. rungskraft EWSA). Gleichzeitig muss er aber Der Forumsansatz wagt sich mit den Stake- auch die bestehenden Strukturen reformieren, holderforen an ein neues Veranstaltungsformat, will er die Potentiale dieser neuen Wege aus- mit dem sich der Ausschuss erfolgreich als of- schöpfen und in ihrer Umsetzung nicht über fenes Forum der Zivilgesellschaft präsentiert. seine eigenen Schwächen stolpern. Er trägt zudem zumindest punktuell zu einer stärkeren Sichtbarkeit des EWSA in der euro- Gudrun Eisele, Magistra Rerum Europae, päischen Öffentlichkeit und bei den europäi- promoviert in der Nachwuchsgruppe „Europä- schen Institutionen bei. Insgesamt ist dieser ische Zivilgesellschaft und Multilevel Gover- Ansatz bisher also vorsichtig positiv zu bewer- nance“ an der Universität Münster, ten, auch wenn die Ziele in Bezug auf die inter- [email protected]. institutionelle Kooperation bisher nicht erreicht wurden. Um aber sein Potential hinsichtlich der Anmerkungen Sichtbarkeit und Repräsentativität überhaupt entfalten zu können, ist ein kontinuierlicheres 1Interviews wurden mit Vertretern sowohl Engagement des Ausschusses in diesem Be- der Arbeitgeber- als auch der Arbeitnehmer- und reich notwendig. der Verschiedene-Interessen-Gruppe geführt. Innovationen und Reformen sind für den 2Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag, EWSA unumgänglich, denn Interessen zu re- der im September 2006 auf dem 23. Kon- präsentieren und ein Meinungsbild zu liefern, gress der Deutschen Vereinigung für Politi- sind auch auf europäischer Ebene schon lange sche Wissenschaft in Münster gehalten wur- keine Alleinstellungsmerkmale mehr. Dabei de. Für das erhaltene Feedback sei an dieser reicht es nicht aus, neue Ansätze zu entwickeln. Stelle gedankt. Auch gegebene Strukturen müssen hinterfragt 3Vgl. http://www.eesc.europa.eu/documents/ werden, um den Schwächen auch jenseits der follow-up/index_en.asp [03.11.2007], Inter- aktuellen Herausforderungen grundlegend zu view Kommission sowie die Ergebnisse einer begegnen. Denkbar wäre beispielsweise, bei unabhängigen „Studie zur Wahrnehmung des 40 Gudrun Eisele

EWSA zur Messung seiner Effektivität“ (GPlus ker engagieren als die anderweitig sehr beschäf- Europe 2005: 3). In der Studie wurden – im tigten und zum Teil desinteressierten Präsiden- Auftrag des EWSA – insgesamt 24 Personen ten der Fachgruppen (Interview EWSA). Ent- als ExpertInnen befragt, nämlich Angestellte der sprechend wurde die EWSA-Delegation kürz- Europäischen Kommission, des Europaparla- lich über den Kreis der Präsidenten hinaus er- ments, der Ständigen Vertretungen, Mitglieder weitert. des Europäischen Parlaments sowie Journalis- tInnen und VertreterInnen von Gewerkschaf- Literatur ten, Think-tanks und NGOs (GPlus Europe 2005: 7). Bloch-Lainé, Jean-Michel 2004: Das Ende 4„Die Organe pflegen einen offenen, trans- einer und der Beginn einer neuen Etappe. In: parenten und regelmäßigen Dialog mit den re- EWSA info Heft 3, 1. präsentativen Verbänden und der Zivilgesell- Europäische Kommission 2001: Europäi- schaft.“ (Konferenz der Vertreter der Regierun- sches Regieren. Ein Weißbuch. KOM(2001) gen der Mitgliedstaaten 2007, Art. II-8b Abs. 428. Brüssel: Europäische Kommission. 2) Dieser Artikel war auch Teil des gescheiter- Europäische Kommission 2005: Mitteilung ten Verfassungsentwurfs (Artikel I-47, Läufer „Der Beitrag der Kommission in der Zeit der 2005). Reflexion und danach: Plan D für Demokratie, 5Ab der ersten Direktwahl des europäischen Dialog und Diskussion.“ KOM(2005) 494. Parlaments verlor der EWSA als Interessen Brüssel: Europäische Kommission. vertretendes Organ relativ an Gewicht (Lodge/ Europäische Kommission 2006: Weißbuch Herman 1980). Darüber hinaus verlor er durch über eine europäische Kommunikationspolitik. die institutionelle Anerkennung des sozialen KOM(2006) 35. Europäische Kommission. Dialogs als vollwertigen Bestandteil europäi- Brüssel. scher Gesetzgebungsprozesse 1997 (Artikel Europäische Kommission/EWSA 2005: Pro- 138 EG-Vertrag) teilweise an Legitimations- tocol of Cooperation between the European grundlage. Commission and the EESC. Brüssel. 6Trotzdem lehnen einige Mitglieder diesen Europäischer Wirtschafts- und Sozialaus- Begriff ab, insbesondere Mitglieder aus Zen- schuss 1999: Stellungnahme zum Thema „Die tral- und Osteuropa. Dort bezieht sich der Be- Rolle und der Beitrag der organisierten Zivilge- griff ,Zivilgesellschaft‘ sehr stark auf Basisor- sellschaft zum europäischen Einigungswerk“. ganisationen und bottom-up-Bewegungen, die In: Amtsblatt Nr. C 329 vom 17.11.1999, 30. einen vergleichsweise niedrigen Organisations- Europäischer Wirtschafts- und Sozialaus- grad aufweisen (Interviews EWSA). schuss 2004: Abschlussbericht der Ad-hoc- 7„Konsultation ist ein top-down-Prozess, Gruppe „Strukturierte Zusammenarbeit/europä- d.h. die Kommission entscheidet, wer konsul- ische Netze der Zivilgesellschaft“ (CESE 1498/ tiert wird – außer bei wirklich offenen Anhö- 2003 fin, Berichterstatter: Herr Bloch-Lainé). rungen via Internet –, während die Partizipati- Brüssel: EWSA. on ein bottom-up-Recht ist.“ (Interview Europäischer Wirtschafts- und Sozialaus- EWSA) schuss 2005: Reviewing the European Sustai- 8In der praktischen Arbeit war dies nable Development Strategy. Brüssel: EWSA. manchmal eher hinderlich, da sich rangniedri- Europäischer Wirtschafts- und Sozialaus- gere MitarbeiterInnen mit einem genuinen Inte- schuss 2006a: Stellungnahme zum Thema „Die resse an der Verbindungsgruppe tendenziell stär- Repräsentativität der europäischen Organisati- Worte und Taten: Der EWSA als Forum der organisierten Zivilgesellschaft 41

onen der Zivilgesellschaft im Rahmen des zivi- Konferenz der Vertreter der Regierungen len Dialogs“. Brüssel: EWSA. der Mitgliedstaaten 2007: Entwurf eines Ver- Europäischer Wirtschafts- und Sozialaus- trags zur Änderung des Vertrags über die Euro- schuss 2006b: Evaluation Report of the Liaison päische Union und des Vertrags zur Gründung Group with European Civil Society Organisati- der Europäischen Gemeinschaft (CIG 1/1/07 ons and Networks. Brüssel: EWSA. REV 1). Europäischer Wirtschafts- und Sozialaus- Läufer, Thomas (Hg.) 2004: Vertrag von schuss 2007: Der EWSA: Brücke zwischen Nizza – Die EU der 25. Bonn: Bundeszentrale Europa und der organisierten Zivilgesellschaft. für politische Bildung. Brüssel: EWSA. Läufer, Thomas (Hg.) 2005: Verfassung der Fazi, Elodie/Smith, Jeremy 2006: Civil Dia- Europäischen Union. Verfassungsvertrag vom logue – Making it work better. Brüssel: 29. Oktober 2004. Bonn: Bundeszentrale für act4europe, Civil Society Contact Group and politische Bildung. Social Platform. Lodge, Juliet/Herman, Valentine 1980: The GPlus Europe 2005: Study for the EESC: A Economic and Social Committee in EEC Deci- Brussels perception audit to assess its effec- sion-making. In: International Organization, Jg. tiveness. Brüssel (unveröffentlicht). 34, Heft 2, 265-284. Heads of state and government 2001: Trea- Mazey, Sonia/Richardson, Jeremy 32006: ty of Nice amending the Treaty on European The Commission and the lobby. In: Spence, Union, the Treaties establishing the European David (Hg.): The European Commission. Lon- Communities and certain related acts. In: Offi- don: John Harper Publishing, 279-292. cial Journal of the European Communities (C Smismans, Stijn 1999: An Economic and 80), 1-87. Social Committee for the Citizen, or a Citizen Jansen, Thomas 2005: Zur Europäisierung for the Economic and Social Committee? In: der „organisierten“ Zivilgesellschaft: ein Bericht European Public Law, Jg. 5, Heft 4, 557-82. aus der Praxis. In: Knodt, Michèle/Finke, Bar- Smismans, Stijn 2000: The EESC: Towards bara (Hg.): Europäische Zivilgesellschaft. Kon- deliberative democracy via a functional assem- zepte, Akteure, Strategien. Wiesbaden: VS Ver- bly. European Integration online Papers, Jg. 4, lag für Sozialwissenschaften, 153-169. Heft 12 (http://eiop.or.at/eiop). Kaelble, Hartmut 2004: Gibt es eine euro- Smismans, Stijn 2003: European civil socie- päische Zivilgesellschaft? In: Gosewinkel, Die- ty – shaped by discourses and institutional inte- ter/Rucht, Dieter/Daele, Wolfgang van den/ rests. In: European Law Journal, Jg. 9, Heft 4, Kocka, Jürgen (Hg.): Zivilgesellschaft – natio- 473-495. nal und transnational. Berlin: edition sigma, 267- Tömmel, Ingeborg 2003: Das politische 284. System der EU. München: Oldenbourg. 42 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

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Von der Zusammenarbeit europäischer Regierungen zum Europäischen Regieren? Nichtregierungsorganisationen in der EU-Außenpolitik

Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Vorgänge in der zweiten Säule zu eng gewor- andere Interessengruppen wurden bisher von den ist, widmet sich dieser Beitrag der Rolle der Forschung zur Gemeinsamen Außen- und von NGOs im Bereich der Außen- und Sicher- Sicherheitspolitik (GASP) der EU kaum wahr- heitspolitik auf europäischer Ebene. Neben ih- genommen. Stattdessen wird die zeitgeschicht- ren Aktivitäten und Strategien ist vor allem von liche (Nuttall 2000) und politikwissenschaftli- Interesse, wie und inwieweit ihr Engagement che (Bretherton/Vogler 2006) Literatur zur EU- europäische Politik beeinflusst. Der Aufsatz Außenpolitik von staatszentrierten Ansätzen gliedert sich in drei Abschnitte. Während wir dominiert. Ihr Augenmerk gilt den Aushand- im ersten auf die Veränderungen in der Außen- lungsprozessen zwischen Regierungen. Dane- und Sicherheitspolitik eingehen, die dieses Po- ben finden allenfalls der Hohe Repräsentant, litikfeld für NGOs zugänglich machen, wen- hier und dort noch die Kommission und das den wir uns im zweiten Abschnitt dem Fallbei- Europäische Parlament Erwähnung (Smith spiel des EU-Verhaltenskodexes zu Rüstungs- 2003). exporten zu. Abschließend vergleichen wir das Damit steht die Forschung zur GASP in ei- Engagement von NGOs in der ersten und zwei- nem auffälligen Kontrast zu dem Teil der EU- ten Säule und diskutieren, welche Folgen sich Forschung, der sich den in der ersten Säule an- daraus für das Verständnis der GASP ableiten gesiedelten Feldern des Binnenmarkts widmet.1 lassen. Hier wurde im Laufe der 1990er Jahre die staats- zentrierte Perspektive von Modellen wie dem 1 NGOs in der GASP: Empirische des Mehrebenensystems (Marks/Hooghe/Blank Beobachtungen 1996; Marks/Hooghe 2001) und des Regierens in Netzwerken (Jansen/Schubert 1995; Börzel Zwei Voraussetzungen entscheiden darüber, ob 1997; Kohler-Koch/Eising 1999) zurückge- sich die Governance-Perspektive in der GASP- drängt. Unter dem Schlagwort Governance eta- Forschung in ähnlicher Weise fruchtbar machen blierte sich eine gesellschaftsorientierte Pers- lässt, wie sie die Forschung zum EU-Binnen- pektive, deren Vertreter mehrheitlich davon aus- markt inspiriert hat. Erstens ist zu klären, ob gehen, dass europäische Entscheidungen nicht NGOs in der zweiten Säule in nennenswerter mehr exklusiv von Regierungen getroffen, son- Weise aktiv sind, ihre bisherige Vernachlässi- dern in einem Neben- und Miteinander von gung also in erster Linie der theoretischen Lin- Regierungen, supranationalen Organen, natio- se staatszentrierter Ansätze geschuldet ist. nalen Legislativen und Gebietskörperschaften Zweitens ist zu klären, ob sich die institutionel- sowie eben von privaten Interessengruppen und len Bedingungen in beiden Säulen hinreichend NGOs ausgehandelt werden. gleichen oder inwieweit in der GASP besonde- Ausgehend von der Annahme, dass der re Barrieren den Zugang von Interessengrup- staatszentrierte Blickwinkel zur Erfassung der pen zum politischen Prozess versperren. Von der Zusammenarbeit europäischer Regierungen zum Europäischen Regieren? 43

1.1 NGO-Engagement friedens- und umwelt- bzw. entwicklungspoli- tischer Arbeit aktiv sind. Schließlich haben sich Der erste Nachweis ist einfach zu führen. Tat- Akteure im Grenzbereich von NGOs und Think sächlich verlagerten in Übereinstimmung mit Tanks in Brüssel angesiedelt. Besonderer Re- der von Kohler-Koch (1996) und anderen (Ei- sonanz erfreuen sich die International Crisis chener/Woelzkow 1994; Stone Sweet/Sandholtz Group oder ISIS-Europe, ein 1995 vom Lon- 1997) vertretenen Ko-Evolutionsthese außen- doner International Security Information Ser- und sicherheitspolitisch interessierte NGOs und vice gegründeter Ableger. Erwähnung verdient Interessengruppen in dem Maße ihre Aktivitä- daneben das European Peacebuilding Liaison ten von der nationalen auf die europäische Ebe- Office (EPLO), ein 2001 ins Leben gerufener ne, in dem die EU auf diesen Feldern politische Zusammenschluss von heute 22 NGOs, Think Steuerungskompetenz gewann. Tanks und Netzwerken. Besonders ausgeprägt ist das Engagement Neben der Präsenz friedenspolitisch ausge- der NGOs im Bereich der Entwicklungshilfe richteter Organisationen ist ein geradezu boom- und des Katastrophenschutzes, der Menschen- artiges Wachstum außen- und sicherheitspoliti- rechtspolitik und der internationalen Umwelt- scher Expertennetzwerke festzustellen. Die politik. Aber selbst im Kernbereich der Sicher- schon seit Längerem in Brüssel ansässigen und heitspolitik ist die GASP längst keine verbands- ursprünglich auf binnenmarktpolitische Themen und öffentlichkeitsfreie Zone mehr. Auch hier spezialisierten Einrichtungen wie das Centre for begleiten eine Reihe von NGOs und Interes- European Policy Studies (CEPS) und das Eu- sengruppen europäische Außenpolitik. ropean Policy Centre befassen sich seit Ende Lokale friedenspolitische Graswurzel-Orga- der 1990er Jahre zunehmend auch mit außen- nisationen und NGOs bildeten in den 1990er und sicherheitspolitischen Themenstellungen. Jahren europäische Netzwerke wie das Network Die 2002 gegründete Security & Defense Agen- for Civil Peace Services (EN.CPS), die Euro- da (SDA) widmet sich vor allem verteidigungs- pean Platform for Conflict Prevention and Trans- und rüstungspolitischen Fragestellungen. Das formation oder den europäischen Arm des In- von der EU finanzierte Institute for Security ternational Action Network on Small Arms Studies (EUISS), die Nachfolgeeinrichtung des (IANSA). Diese Zusammenschlüsse verfolgen früheren WEU-Instituts, soll beratend tätig wer- das Ziel, die Kontakte untereinander zu stärken den und zum Entstehen eines europaweiten si- und gemeinsam europäische Politik zu beein- cherheitspolitischen Diskurses beitragen. Die- flussen. Umgekehrt sollen Gruppen auf lokaler se Zielsetzung hat sich auch die jüngste Grün- Ebene über friedens- und abrüstungspolitisch dung auf seine Fahne geschrieben, das von der relevante Prozesse und Entscheidungen auf eu- Soros-Foundation großzügig unterstützte Pro- ropäischer Ebene informiert werden. Neben jekt eines European Council on Foreign Relati- Netzwerken lokaler Graswurzelgruppen betrei- ons. ben eine Reihe von professionellen, transnatio- nalen Organisationen in Brüssel friedens- und 1.2 Institutionelle und politische abrüstungspolitische Lobbyarbeit. Hierzu zäh- Barrieren? len Verbände mit kirchlichem Hintergrund wie das Quaker Council for European Affairs, Pax Die europäische Außen- und Sicherheitspolitik Christi International oder World Vision sowie ist ein relativ junges Politikfeld. Daher liegt die Organisationen mit weltlicher Orientierung, die Vermutung nahe, die noch beobachtbaren Un- wie Greenpeace oder Oxfam im Schnittfeld von terschiede des NGO-Engagements in der ersten 44 Matthias Dembinski/Jutta Joachim

und zweiten Säule würden sich im Laufe der weit fortgeschritten und wirft deshalb die Frage nächsten Jahre nivellieren. Ein solcher Analo- auf, ob das Verhältnis zwischen ihren Mitglie- gieschluss wäre angesichts der in der Literatur dern überhaupt noch mit dem Begriff der Au- ins Feld geführten These struktureller Unter- ßenpolitik angemessen bezeichnet ist. schiede zwischen beiden Säulen jedoch vor- Für offen halten wir dagegen einen dritten schnell. Zwei Argumente werden regelmäßig Einwand bezüglich der strukturellen Anglei- zur Verteidigung der unterschiedlichen For- chung der zweiten Säule an die erste (Dembin- schungsansätze angeführt: die stärkere intergou- ski 2007), der hervorhebt, dass sich anders als vernementale Ausrichtung der GASP sowie die in der GASP die Betroffenen europäischer Bin- These der Außen- und Sicherheitspolitik als nenmarktpolitik innerhalb der EU befinden. Domäne exekutiver Prärogative, die im Interes- Diese so genannten „stakeholder“ haben nicht se der Staatsraison dem Einfluss der Interes- nur ein starkes Motiv, ihre Interessen auf euro- sengruppen entzogen ist oder zu entziehen sei. päischer Ebene geltend zu machen, sondern tref- Beide Argumente überzeugen nicht. fen dabei auf Entgegenkommen der supranatio- Die institutionellen Bedingungen in der zwei- nalen Organe. Insbesondere die Kommission ten Säule ändern sich. Bereits die heutige GASP sieht in der Zusammenarbeit mit betroffenen hat nur noch wenig mit der vertrauten Diploma- Interessengruppen den entscheidenden Baustein tenrunde der früheren Europäischen Politischen für effektives und legitimes Regieren jenseits Zusammenarbeit (EPZ) gemein. Und mit dem des Staates, vorausgesetzt alle von einer Ent- Vertrag von Lissabon werden die institutionel- scheidung betroffenen Interessen haben die len Unterschiede weiter nivelliert. Bereits in den Chance, gleichberechtigt an der Formulierung 1990er Jahren konnten die supranationalen Or- der Entscheidung mitzuwirken. Um ein ,level gane ihre Kompetenzen im Bereich der GASP playing field‘ zu schaffen, fördern die für den ausbauen. Darüber hinaus beschleunigte sich Binnenmarkt zuständigen Generaldirektionen mit der Einrichtung des Hohen Repräsentanten, der Kommission mit großem Aufwand zivilge- des Politischen und Sicherheitspolitischen Ko- sellschaftliche Organisationen wie NGOs. Sie mitees und der außenpolitischen Abteilungen unterstützen ihre Projekte, tragen zu ihrer Kern- im Ratssekretariat der Prozess der „Brüsseli- finanzierung bei – das jährliche Förderungsvo- sierung“ (Allen 1998). Damit entstehen neue lumen liegt bei ca. einer Mrd. Euro – und haben Zugangspunkte für NGOs auf europäischer Ebe- nicht selten die europäischen, zivilgesellschaft- ne. Schließlich verliert sich die scharfe Tren- lichen Verbände und Netzwerke als ihre Partner nung zwischen erster und zweiter Säule mit der erst geschaffen (Europäische Kommission wachsenden Bedeutung der gemischten Kom- 2000). Die erste Säule bildet also nicht zuletzt petenzen. aufgrund der Empowerment-Strategie der Kom- Auch die Außenpolitik unterliegt einem Wan- mission einen hervorragenden Nährboden für del, insofern als die klassische Diplomatie zu- NGOs. Dagegen befinden sich die Betroffenen nehmend durch eine Außenpolitik ersetzt wird, europäischer Außenpolitik außerhalb der EU. bei der (1) die Beeinflussung der Gesellschaf- Während in der zweiten Säule die Adressaten ten in anderen Ländern im Vordergrund steht, europäischer Entscheidungen kaum eine Chan- (2) der Staat das Gestaltungsmonopol zu verlie- ce haben, auch zum Autor derselben zu werden, ren droht, weil zivilgesellschaftliche Akteure steht die Repräsentativität und Glaubwürdig- Mitspracherecht fordern und (3) sich die Unter- keit derjenigen, die sich äußern – in erster Linie schiede zwischen Außen- und Innenpolitik ver- NGOs –, aus Sicht der europäischen Organe in wischen. In der EU ist dieser Prozess besonders Frage. Die Kommission greift zwar auf deren Von der Zusammenarbeit europäischer Regierungen zum Europäischen Regieren? 45

Serviceangebote zurück. Insbesondere die Ge- von Rüstungsexporten zu informieren. Wenn neraldirektion Entwicklung arbeitet bei der ein Staat beabsichtigt, ein Rüstungsgeschäft zu Umsetzung der entwicklungspolitischen Pro- tätigen, das bereits von einem anderen abge- gramme sowie bei humanitärer Hilfe mit NGOs lehnt worden ist, soll er diesen zuvor konsultie- zusammen und finanziert im Gegenzug neben ren. Schließlich sieht der Kodex den Austausch deren Projekten auch die Kernaktivitäten des von Informationen über Rüstungsexporte im entwicklungspolitischen NGO-Dachverbandes Rahmen der Arbeitsgruppe des Rats zu kon- CONCORD. Eine Reihe von Beobachtungen ventionellen Waffen (COARM) vor, die ihrer- legen aber den Schluss nahe, dass sich die Kom- seits jährlich einen vertraulichen Bericht an den mission im Allgemeinen und die Generaldirek- Rat verfassen soll. tion Außenbeziehungen im Besonderen von der Bis zum Ende des Ost-West-Konflikts un- Zusammenarbeit mit NGOs auf diesem Feld terlag die Rüstungsexportpolitik ebenso wie der keinen signifikanten Beitrag zur Stärkung der gesamte Rüstungssektor der alleinigen Verant- Legitimität europäischer Politik oder zur Auf- wortung der Mitgliedstaaten. Erst 1991 setzten wertung ihrer eigenen Position versprechen. So die Außenminister die COARM Arbeitsgruppe illustrieren etwa die federstrichartige Entschei- mit dem Mandat ein, Möglichkeiten für ein ge- dung des damaligen Kommissars für Entwick- meinsames Vorgehen zu identifizieren. Obwohl lungshilfe, Poul Nielson, die Vorgängerorgani- sich die Gruppe schnell auf sieben der späteren sation von CONCORD – CLONG – 2002 zur Kriterien einigte – ein entwicklungspolitisches Selbstauflösung zu zwingen (Lefèbvre 2003) Kriterium wurde vom Europäischen Rat hinzu- oder die Entscheidung der Generaldirektion gefügt – verhedderten sich die Verhandlungen Außenbeziehungen, die Zusammenarbeit mit danach im Dickicht der unterschiedlichen Inter- dem Conflict Prevention Network vorzeitig ein- essen der großen europäischen Rüstungsexpor- zustellen und damit das Ende dieses Experten- teure. Deutschland befürwortete eine zeitnahe netzwerks zu besiegeln (Rummel 2003: 246), Regelung auf europäischer Ebene, weil es fürch- das einseitige Abhängigkeitsverhältnis der tete, das sich die vergleichsweise anspruchs- NGOs. vollen deutschen Exportkontrollbestimmungen Am Beispiel des EU-Kodexes zu Rüstungs- bei der sich abzeichnenden Liberalisierung der exporten zeigen wir im folgenden Abschnitt, europäischen Rüstungsmärkte als Standortnach- dass es NGOs trotz dieser institutionellen Bar- teil erweisen werden. Frankreich und Großbri- riere möglich ist, Zugang zur zweiten Säule zu tannien, deren Regelwerke den Transfer von erlangen und dass ihr Engagement Auswirkun- Waffen auch in Spannungsgebiete zuließen, ar- gen auf außenpolitische Prozesse hat. gumentierten dagegen, Rüstungsexporte beträ- fen den Kern der Staatsraison und müssten ausschließlich von den nationalen Regierungen 2 NGOs und ihr Beitrag zum EU- getroffen und verantwortet werden. Aus staats- Verhaltenskodex zu Rüstungs- zentrierter Perspektive ist die lange Verzöge- exporten rung angesichts dieser Konstellation nicht über- Der 1998 verabschiedete Verhaltenskodex zu raschend und das Zustandekommen des Kode- Rüstungsexporten besteht aus acht Kriterien, xes mit zwei Erwartungen verknüpft. Erstens die EU-Staaten beachten sollen, wenn sie Rüs- könne das Mitgliedsland mit den laxesten Ex- tungsgüter an Dritte liefern. Darüber hinaus portkontrollen die inhaltliche Ausgestaltung des verpflichten sich die Mitgliedstaaten in dem Kodexes bestimmen. Zweitens würden die Exe- Kodex, sich gegenseitig über die Ablehnung kutiven die Europäisierung dieses Politikfeldes 46 Matthias Dembinski/Jutta Joachim

nutzen, um ihre Autonomie und Entscheidungs- davon aus, es werde die genaue Ausformulie- spielräume auf Kosten ihrer Legislativen und rung des europäischen Regelwerkes entschei- Gesellschaften zu erhöhen. Erwartbar wären aus den können. Tatsächlich enthielt der Ende Mai dieser Sicht folglich weiche Bestimmungen auf 1998 von den Außenministern verabschiedete dem niedrigsten nationalen Niveau sowie eine Kodex striktere Regelungen, die bis dahin dis- Einschränkung der Transparenz und der Mit- kutiert worden waren, nicht mehr. „In the face sprachemöglichkeiten der Parlamente. of threats by France to jeopardize the whole Wie verhält es sich mit nicht-staatlichen Ak- arrangement, all the weaker options were cho- teuren? In der Tat wurde die Entwicklung des sen“ (Davis 2002: 101). Der Kodex, der recht- Kodexes von einer Gruppe friedenspolitischer lich nicht bindend ist, stellt die Frage, ob ein NGOs begleitet (Joachim 2005). Bereits 1991 Waffentransfer eines der Kriterien verletzt, in hatte beispielsweise Saferworld Vorschläge für das Ermessen des exportierenden Staates, er- ein europäisches Exportkontrollregime entwi- laubt selbst die Durchführung von Geschäften, ckelt (Saferworld 1991). Nachdem seine Ideen die ein anderes Land zuvor abgelehnt hat, be- im Europäischen Parlament auf fruchtbaren tont die Vertraulichkeit und verhindert so, dass Boden gefallen waren, entwickelte Saferworld Regierungen gegenüber ihren Parlamenten und zusammen mit anderen NGOs präzise Definiti- Öffentlichkeiten rechenschaftspflichtig werden. onen der Regeln und Prinzipien des Kodexes Er nährt darüber hinaus den Verdacht, dass das (British American Security Information Coun- europäische Regelwerk den Exekutiven dazu cil et al. 1995). 1997 schließlich knüpfte Safer- diene, die in einigen EU-Staaten bestehenden world ein Netz bestehend aus NGOs und Think Mitsprachemöglichkeiten der Legislativen und Tanks, das europaweit nationale Informations- Gesellschaften über nationale Rüstungsexporte kampagnen koordinierte (Davis 2002: 100). einzuschränken (Holm 2006). Dabei setzten die beteiligten NGOs nicht auf Wenngleich sich die Entstehung des Kode- sozialen Protest, sondern auf ihre Reputation xes mit staatszentrierten Modellen erklären lässt, als Experten, die aufgrund ihres Fachwissens beobachten wir nach 1998 drei Entwicklungen, bessere Ideen für europäische Lösungen anbie- die diesen widersprechen: a) eine Präzisierung ten konnten. und Verschärfung der Regeln und Normen auf Eine Reihe von Untersuchungen rechnet den europäischer Ebene, b) eine Zunahme der Trans- NGOs einen Teil des Erfolges zu (Anders 2003). parenz und c) überraschende Anpassungsleis- Dennoch scheint der Regierungswechsel in tungen auf nationaler Ebene. Großbritannien 1997 für den Durchbruch bei den Verhandlungen ausschlaggebender gewe- a) Weiterentwicklung der Regeln sen zu sein. Vor dem Hintergrund britischer Die jährliche Überprüfung des Kodexes eröff- Rüstungsskandale hatte Labour im Wahlkampf nete rüstungskontrollfreundlichen Staaten und eine Reform der nationalen Exportpolitik ange- NGOs die Möglichkeit, erfolgreich für seine kündigt. Um die Verschärfung der Richtlinien Weiterentwicklung zu werben. Beispielsweise innenpolitisch abzusichern, strebte die neue einigten sich die Mitgliedstaaten auf eine ge- Regierung deren europäische Einbettung an meinsame Liste der zu kontrollierenden militä- (Mepham/Eavis 2002). rischen Güter und definierten zentrale Begriffe Nach dem britischen Positionswechsel zeigte des Kodex wie „essentially identical transac- auch Paris mehr Flexibilität. In Frankreich tions“ (Bauer 2004). Im vierten Jahresbericht schlug die Aufdeckung mehrerer Rüstungsex- sind diese Präzisierungen erstmals in einem portskandale hohe Wellen. Zudem ging Paris Compendium of Agreed Practices niedergelegt Von der Zusammenarbeit europäischer Regierungen zum Europäischen Regieren? 47

(Europäischer Rat 2003). Darüber hinaus wur- lere Unterrichtung über abgelehnte Exportan- den die Regeln des Kodexes auf zusätzliche träge und die Einrichtung einer zentralen Da- Tatbestände wie die Vermittlung von Waffenge- tenbasis beim Ratssekretariat (Bauer/Bromley schäften durch EU-Bürger oder den Transfer 2004: 16). Schließlich verständigten sie sich von nicht-tangiblen Gütern ausgeweitet. 2001 darauf, einen „undercut“ nicht, wie im Kodex vorgesehen, nur dem betroffenen Land, b) Transparenz sondern „to the extent compatible with national Entgegen der Erwartung aus staatszentrierter considerations and on a confidential basis“ al- Perspektive führte die Europäisierung dieses len Mitgliedstaaten mitzuteilen (Bauer 2004: Politikfeldes zu mehr Transparenz zwischen 163; siehe auch Europäischer Rat 2003: 6). Regierungen (interne Transparenz) sowie zwi- Insgesamt notieren selbst kritische NGOs sub- schen dem intergouvernementalen Verhand- stanzielle Fortschritte (Gemeinsame Konferenz lungsraum und öffentlichen Räumen (externe Kirche und Entwicklung 2005; Saferworld Transparenz). In Bezug auf die interne Trans- 2004). parenz verbesserten sich die Quantität und Qua- In Bezug auf die externe Transparenz ist lität der Informationen in den jährlichen natio- zuallererst die Veröffentlichung der konsolidier- nalen Berichten an den Rat nachhaltig. Die Staa- ten EU-Berichte selbst erwähnenswert, die der ten passten das Format ihrer Berichte einander Kodex gar nicht vorsieht und die der Rat auf an und gaben untereinander mehr und genauere Basis der nationalen Berichte jährlich erstellt. Informationen über ihre Rüstungsexporte preis. Die Quantität und die Qualität der Daten in die- Unter anderem einigten sie sich auf eine schnel- sen Berichten nahmen im Laufe der Jahre deut- 48 Matthias Dembinski/Jutta Joachim

lich zu. War der erste Bericht nur vier Seiten trastieren (Amnesty International et al. 1998; lang und enthielt lediglich unvollständige Glo- Saferworld 2004). Anders als vor 1998 gelang balzahlen zu den erteilten Ausfuhrgenehmigun- es nun NGOs, die europäische Agenda zu be- gen und deren Wert sowie den abgelehnten einflussen und Staaten rechenschaftspflichtig zu Anträgen und Konsultationen, wurden die An- machen. gaben im Laufe der Zeit immer präziser und Mit der Institutionalisierung des Kodex tra- umfangreicher. Der im November 2005 veröf- ten aber auch neue Akteure auf den Plan und mit fentlichte Jahresbericht umfasste 373 Seiten und ihnen potentielle Koalitionspartner für NGOs. enthielt detaillierte Angaben über die Empfän- Beispielsweise wurde das Europäische Parla- gerländer und exportierten Waffen (Europäi- ment (EP) – ein traditioneller Ansprechpartner scher Rat 2005). Schließlich folgten mehr und der NGOs – aufgewertet, weil sich die finni- mehr EU-Mitglieder dem Beispiel Schwedens sche Präsidentschaft entschied, den konsolidier- und veröffentlichten ihre nationalen Berichte ten Bericht seinem sicherheits- und verteidi- über ihre Rüstungsexportpolitik (Bauer gungspolitischen Unterausschuss zuzusenden, 2004:144; Gemeinsame Konferenz Kirche und der eine Debatte abhielt und Vorschläge zur Wei- Entwicklung 2004). terentwicklung des Kodexes diskutierte. Ein Jahr später folgte die schwedische Ratspräsi- c) Verschränkung der Ebenen dentschaft diesem Beispiel und etablierte damit Drittens beobachten wir erhebliche Anpassungs- eine seitdem befolgte Praxis. leistungen auf nationaler Ebene. Selbst Frank- Mit der Rechenschafts- und Begründungs- reich, ein großer, rüstungsabhängiger und ge- pflicht wuchs auch der Wert der NGOs als Ex- genüber dem Kodex skeptisch eingestellter Staat, perten, an die sich sowohl die Präsidentschaf- reformierte und verschärfte als Reaktion auf die ten aber auch einzelne Staaten wandten. So ar- europäischen Bestimmungen seine nationale beitete die britische Labour-Regierung während Exportkontrollgesetzgebung (Dembinski/Schu- ihrer EU-Präsidentschaft eng mit einer Gruppe macher 2005). britischer NGOs zusammen (UK Presidency Für diese Veränderungen ist sicherlich nicht Project 1998a, 1998b) und beauftragte die hol- allein und nicht einmal in erster Linie das NGO- ländische Präsidentschaft das renommierte For- Engagement verantwortlich. Ausschlaggeben- schungsinstitut SIPRI mit der Erstellung eines der war vielmehr die Europäisierung dieses Reports über das nationale Berichtswesen mit Politikfeldes. Damit einher ging zum einen eine dem Ziel, dieses stärker zu harmonisieren (Ge- Aufwertung institutioneller Rollen wie die der meinsame Konferenz Kirche und Entwicklung Ratspräsidentschaft. Zum anderen sahen sich 2004: 38; Bauer/Bromley 2004). Auch die Staaten untereinander einer Begründungs- COARM begann nach 1998 damit, NGOs re- pflicht ausgesetzt. Aufgrund dieser Entwicklun- gelmäßig zu konsultieren. gen ergaben sich neue Handlungsmöglichkei- Schließlich trugen NGOs zu vermehrter ten für NGOs. Umgekehrt verstärkte ihr Enga- Transparenz bei, indem sie die Rüstungsexport- gement die Effekte der Europäisierung. politiken der EU-Staaten auf europäischer und So spielte die Institutionalisierung des Ko- nationaler Ebene kommentierten und kritisier- dexes den argumentativen Strategien der NGOs ten sowie Medien, Parlamentarier und Gras- in die Hände. Sie konnten die in der Präambel wurzelgruppen in den einzelnen Ländern infor- ausformulierten Zielvorstellungen als europäi- mierten. Dies lässt sich am Beispiel Frankreichs sche Norm darstellen und mit der davon abwei- zeigen, wo sich nach der Institutionalisierung chenden Praxis einiger EU-Regierungen kon- des Kodexes NGOs, die bis dahin ausschließ- Von der Zusammenarbeit europäischer Regierungen zum Europäischen Regieren? 49

lich im nationalen Rahmen gearbeitet hatten, an grund ihrer Informationen das Agenda-Setting den Kampagnen europaweiter Netzwerke be- und die Umsetzung von Entscheidungen beein- teiligten und somit den französischen öffentli- flussen. Das zivilgesellschaftliche Engagement chen Raum gegenüber Europa öffneten. In der in der GASP unterscheidet sich von dem in der Folge wird die restriktive Politik der französi- Binnenmarktpolitik insofern, als dass die Kom- schen Regierungen, die Informations- und Mit- mission nur bedingt die Rolle eines Förderers sprachewünschen der Gesellschaft und des Par- spielt, NGOs in erster Linie Zugang zum Euro- laments traditionell ablehnend gegenüber stand, päischen Parlament und den Organen des Rates unmittelbarer mit den liberaleren Praktiken in statt zur Kommission suchen und die Staaten anderen Ländern vergleichbar und dadurch ei- die entscheidenden Akteure bleiben. Aber hier nem beachtlichen Anpassungsdruck ausgesetzt. wir dort verändern NGOs den Kontext und da- Umgekehrt rückt die oft bremsende Politik mit sowohl die Form der Interaktionen als auch Frankreichs auf europäischer Ebene deutlicher die Ergebnisse. Dieser Befund legt nahe, dass ins Blickfeld der französischen Gesellschaft sich eine theoretische Öffnung hin zu mehr ge- und wird so im nationalen Diskurs themati- sellschaftsorientierten Ansätzen wie sierbar. In der kommunikativen Verknüpfung beispielsweise Governance für zukünftige Stu- beider Ebenen und der daraus resultierenden dien zur GASP als fruchtbar erweisen könnte. Sicherung der Rechenschaftspflicht nationaler Regierungen liegt wahrscheinlich der wichtigs- Dr. Matthias Dembinski ist wissenschaftli- te Beitrag der NGOs zum europäischen Regie- cher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung für ren. Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main, [email protected]. PD Dr. Jutta Joachim ist wissenschaftliche 3 Schlussfolgerungen Oberassistentin am Institut für Politische Wis- Die von uns beobachteten Entwicklungen seit senschaft der Leibniz Universität Hannover, der Verabschiedung des EU-Verhaltenskodexes [email protected]. zu Rüstungsexporten sind mit den Erwartun- gen staatszentrierter Ansätze nicht in Überein- Anmerkung stimmung zu bringen. Dies gilt in besonderer Weise für das Engagement von NGOs. Sie be- 1Mit dem EU-Vertrag von Maastricht von gleiteten, kommentierten und beeinflussten die 1992 wurde die EG zur Europäischen Union Entwicklung des Kodexes. Dadurch gelang es, aufgewertet und die bis dahin außerhalb des das Informationsmonopol der Exekutiven auf- EG-Vertrages angesiedelte Europäische Politi- zubrechen, einen öffentlichen europäischen sche Zusammenarbeit als Gemeinsame Außen- Raum zu schaffen, und diesen Raum mit natio- und Sicherheitspolitik in einer zweiten Säule nalen Diskursräumen zu verknüpfen. Weil sich Bestandteil des EU-Vertrages. Eine dritte Säule die europäische Politik der nationalen Regie- des Maastricht-Vertrages beinhaltet die damals rungen auf einer öffentlichen Bühne vollzog, neu geschaffenen Bestimmungen über die Zu- von einer Fachöffentlichkeit kommentiert und sammenarbeit in den Bereichen Justiz und In- kritisiert werden konnte, blieben die Regierun- neres, während die erste Säule die Bestimmun- gen rechenschaftspflichtig. gen zur EG (Binnenmarkt) und zur Wirtschafts- Diese von NGOs induzierten Prozesse las- und Währungsunion enthält. In der zweiten und sen sich in ähnlicher Weise auch in der ersten dritten Säule kommen besondere Verfahren zum Säule wiederfinden, wo private Akteure auf- tragen. Beispielsweise verfügen die Kommissi- 50 Matthias Dembinski/Jutta Joachim

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Kristina Charrad

Teilhaber oder Beobachter? Interessengruppen aus Mittel- und Osteuropa auf Brüsseler Parkett

Für Rucksacktouristen in Brüssel ist der Reise- vertreter aus den neuen EU-Staaten arbeiten. führer Lonely Planet eine beliebte Orientierungs- Diesen Fragen will der vorliegende Beitrag nach- hilfe, führt er doch kompetent zu den verschie- gehen. denen Sehenswürdigkeiten der belgischen Die Europäischen Institutionen, allen voran Hauptstadt. Wer sich allerdings abseits von Ato- die Kommission, begrüßen grundsätzlich das mium und Manneken Pis mit der politischen Anliegen von Lobbyisten, auf die europäische Entscheidungsfindung in Europas Kapitale aus- Regelsetzung Einfluss zu nehmen, betrachten einandersetzen möchte, dem sei der Reiseführer sie doch die Partizipation von Interessenvertre- Lobbyplanet des Corporate Europe Observa- tern der ,organisierten Zivilgesellschaft‘ an der tory ans Herz gelegt, der einen kompetenten politischen Entscheidungsfindung als Möglich- Wegweiser durch den wuchernden Brüsseler keit, das vielfach konstatierte Demokratiedefi- Lobby-Dschungel bereithält und besonders haar- zit europäischen Regierens zu überwinden. Es sträubende Auswüchse irreführenden, manipu- vergeht kaum ein Tag, an dem nicht eine EU- lativen und unethischen Greenwashings doku- Verlautbarung zivilgesellschaftliche Interessen- mentiert.1 gruppen als Transmissionsriemen zwischen Zweifellos hat sich Brüssel in den vergan- Bürgern und EU preist, wobei die Brüsseler genen Jahren zur Hauptstadt europäischer Lob- Institutionen unter Zivilgesellschaft ausdrück- byaktivitäten gemausert: Seit Unterzeichnung lich auch Wirtschaftsverbände verstehen (siehe der Einheitlichen Europäischen Akte im Febru- den Beitrag von Matthias Freise in diesem Heft). ar 1986 ist die Zahl der verschiedenen Interes- Aus demokratietheoretischer Perspektive senorganisationen und Public Affairs Profis betrachtet sind diese hochtrabenden Hoffnun- beständig angestiegen (Aspinwall/Greenwood gen sicherlich übertrieben. Dies gilt umso mehr, 1998; Greenwood 2007; für die Arbeit von pro- als dass trotz des anhaltenden Stroms europäi- fessionellen Beratern vgl. Lahusen 2003). scher Interessengruppen nach Brüssel ein er- Gleichzeitig haben sich zahllose transnationale hebliches Erkenntnisdefizit hinsichtlich ihres zivilgesellschaftliche Interessengruppen (soge- Einflusses und ihrer Beziehungen mit den euro- nannte Eurofeds) und nationale Dachverbände päischen Institutionen klafft. Vor allem über in Belgien niedergelassen, um gezielt auf die mittel- und osteuropäische Interessenorganisa- europäische Regelsetzung Einfluss zu nehmen tionen auf Brüsseler Parkett weiß man bislang (Hooghe/Marks 2001: 15; Woll 2006: 458). Mit wenig. Wie agieren Interessenvertreter aus den der großen Osterweiterung der Union in den neuen Mitgliedsstaaten? Welche Politikinhalte Jahren 2004 und 2007 um insgesamt zwölf Staa- sind für sie von besonderem Interesse, und ten wurde zudem ein erhebliches Anwachsen welche Strategien verfolgen sie? Welchen be- der Lobbyistenszene in Brüssel vorausgesagt. sonderen Herausforderungen müssen sie sich Bislang ist allerdings recht wenig darüber be- stellen, und wie hat sich die Lobbyszene in Brüs- kannt, ob es tatsächlich zu einem Massenan- sel nach der EU-Erweiterung insgesamt verän- sturm osteuropäischer Lobbyisten gekommen dert? Gibt es heute einfach nur mehr Interessen ist und unter welchen Bedingungen Interessen- und Lobbyisten im europäischen Entscheidungs- Teilhaber oder Beobachter? Interessengruppen aus Mittel- und Osteuropa auf Brüsseler Parkett 53

findungsprozess oder haben sich neue Interes- und „In-House Representatives“ (Firmennieder- senkoalitionen herauskristallisiert? lassungen in Brüssel) und anderen Interessen- Im vorliegenden Beitrag sollen Interessen- organisationen zurechtfinden. vertretung und Lobbying nicht grundsätzlich als Lobbying im Prozess der Brüsseler Ent- ,demokratieabträgliches schmutziges Geschäft‘ scheidungsfindung ist weitaus anspruchsvoller gebrandmarkt werden, wie dies bisweilen in der als in den politischen Systemen der National- Öffentlichkeit geschieht. Stattdessen knüpft der staaten, ist es doch in das hochkomplexe Sys- vorliegende Beitrag an die pragmatische Zu- tem europäischer Governance eingebunden. gangsweise der EU-Kommission an, die unter Bevor die Anstrengungen der osteuropäischen Lobbying die „Gesamtheit aller Aktivitäten“ Interessengruppen in Brüssel analysiert wer- betrachtet, „die mit dem Ziel durchgeführt den, sollen deshalb zunächst die Besonderhei- werden, die Politikformulierung und den Ent- ten des europäischen Mehrebenensystems für scheidungsfindungsprozess der Europäischen das Lobbying skizziert werden. Institutionen zu beeinflussen“ (Europäische Kommission 2006: 5). Zu diesen Maßnahmen 1 Rahmenbedingungen europäischer gehört weniger das Ausüben von Druck, als Governance vielmehr das Monitoring des legislativen Pro- zesses, der Aufbau von Netzwerken, die Pflege Lisbeth Hooghe und Garry Marks (2001: 28) von Themenkoalitionen und das Aufzeigen von haben europäische Governance als Mehrebe- alternativen Lösungsansätzen im politischen nenmodell beschrieben, das zwei Dimensionen Diskurs durch Informationsinput (Guéguen aufweist: eine vertikale Dimension, die die ver- 2007). Für gewöhnlich wird Lobbying mit di- schiedenen Ebenen europäischen Regierens von rekter oder indirekter politischer Einflussnahme der lokalen, über die regionale, nationale bis hin gleichgesetzt. Praktiker weisen aber darauf hin, zur europäischen Ebene umfasst und eine hori- dass ihre Arbeit von Interessenorganisationen zontale Dimension, die die verschiedenen Sta- im Wesentlichen in der Bereitstellung von In- keholdernetzwerke beschreibt. formationen liegt und darauf abzielt, dem politi- Für die europäischen Interessengruppen er- schen Entscheidungsträger unbeabsichtigte geben sich aus dieser Charakteristik europäi- Nebenwirkungen seines Handelns aus der Per- schen Regierens größere Handlungsoptionen. spektive der betroffenen Stakeholder aufzuzei- Die nationalen Regierungen sind nicht länger gen (Cassidy 1999: 9, vgl. auch den Beitrag die exklusiven Ansprechpartner bei der Umset- von Kathrin Glastra in diesem Heft). zung transnationaler Interessen. Vielmehr be- Aus einer pluralistisch-demokratietheoreti- steht die Möglichkeit, direkte Zugangspunkte schen Perspektive ist dies zunächst einmal un- auf europäischer Ebene aufzubauen, um damit problematisch, wenngleich eingeräumt werden ohne nationalen Umweg in der EU-Policy Are- muss, dass der Brüsseler „Lobbyplanet“ wegen na mitzumischen. Die große Herausforderung seiner Intransparenz tatsächlich ein erhebliches für Interessengruppen im europäischen Mehr- Demokratiedefizit aufweist und deshalb zu Recht ebenensystem besteht deshalb in der Etablie- massiv in der Kritik steht. Darum soll es an rung von Strukturen, die eine aufeinander abge- dieser Stelle aber nicht gehen. Vielmehr interes- stimmte Interessenvertretung auf allen Ebenen siert, wie sich Interessengruppen aus Mittel- sicherstellt. Beate Kohler-Koch (1997: 3) bringt und Osteuropa in diesem undurchschaubaren dies schön auf den Punkt: Gewimmel von Public Affairs Consultancies, „[t]he combination of multiple channels of Rechtsanwaltskanzleien, NGOs, Think Tanks access is mandatory, because, in the course of 54 Kristina Charrad

the policy-making cycle, the arena changes from die Interessengruppen, EU-Policies über ihre one level of government to the other and becau- jeweiligen nationalen Regierungen zu beeinflus- se European decision-making still is a mix of sen, etwa durch das Lobbying der im Minister- intergovernmental and supranational bargaining. rat vertretenen Ministerien oder der nationalen It would therefore be a short-sighted strategy ständigen Vertretungen in Brüssel. Im Rahmen just to concentrate on one level or one instituti- des zweiten Ansatzes eröffnen die Interessen- on.“ (Kohler-Koch 1997: 3) gruppen ein eigenes Büro in Brüssel oder wer- Allerdings ist diese ebenenübergreifende den Mitglied in einer Eurofed, um so die euro- Partizipation am Entscheidungsfindungsprozess päische Politikformulierung zu beeinflussen. Im sowohl kosten- als auch personalaufwändig. dritten Ansatz richten sich die Interessenorga- Insbesondere für kleinere Interessengruppen ist nisationen mit ihrem Informationsinput direkt die Vertretung ihrer Anliegen auf subnationaler an die Beamten der Kommission und die Parla- und auf europäischer Ebene nur schwer zu be- mentsabgeordneten. Da sich im europäischen werkstelligen (Greenwood 1997: 27). Dies gilt Politikzyklus die nationalen und gesamteuropä- insbesondere für die extrem hohen Transakti- ischen Kompetenzen abwechseln und ergänzen, onskosten, die für eine Koordination der Stra- ist es für Interessengruppen von großer Wich- tegien im Mehrebenensystem aufgewendet wer- tigkeit, alle drei Strategien zu kombinieren (Fur- den müssen (Grande 2000: 20) und die ein sehr tak 2005: 76; Kohler-Koch 1998: 130). Wenn hohes Maß an Professionalisierung erfordern, dies gelingt, steht den Interessengruppen im insbesondere hinsichtlich der Koalitionsfähig- Mehrebenensystem der EU eine sehr effektive keit mit anderen Interessengruppen im europäi- Doppelstrategie zur Verfügung: Sie können schen Mehrebenensystem (Eising/Kohler-Koch einerseits die nationalen Regierungen beeinflus- 2005: 48f). Verstärkt wird dieser Effekt umso sen, die ihre Anliegen vor allem in den Rat ein- mehr, als dass die Entscheidungsgewalt in einer bringen. Andererseits üben sie direkten Einfluss Mehrebenenstruktur auf verschiedene Instituti- auf die Initiativen der Kommissionsbeamten und onen verteilt ist und es deshalb keinen einzel- das Abstimmungsverhalten der Parlamentarier nen Ansatzpunkt für europäisches Lobbying gibt aus (Jachtenfuchs/Kohler-Koch 1996: 25). (Grande 1996: 383). Im Ergebnis müssen Inte- Neben der Adaption der vertikalen Dimen- ressengruppen also auf europäischer und natio- sion des europäischen Mehrebenensystems stellt naler Ebene dauerhaft präsent sein und dabei die Orientierung an der horizontalen Dimensi- gleichzeitig verschiedene Strategien der Inter- on eine nicht minder große Herausforderung essenvertretung entwickeln (Kohler-Koch 1996: für europäische Interessenorganisationen dar. 199). Dies verdeutlicht, dass ressourcenstarke Ein herausstechendes Charakteristikum der eu- Interessengruppen deutliche Vorteile in ihrer ropäischen Governance ist das Regieren ohne Lobbytätigkeit gegenüber kleineren oder schwer echte Regierung (Kohler-Koch 1999: 14). Der zu organisierenden Interessen aufweisen (Jach- einzigartige Aufbau des institutionellen Gefü- tenfuchs/Kohler-Koch 1996: 25). ges der EU lässt sich nicht mit nationalstaatli- Die europäische Lobbyforschung unterschei- chen Regierungssystemen vergleichen. Deshalb det drei Strategien, die Interessengruppen auf ist innerhalb der EU ein spezifischer Gover- europäischem Parkett verfolgen können (vgl. nance-Modus herangewachsen (Benz/Papad- Furtak 2005: 77; Pappi/Henning 1999: 262f): opoulos 2006: 15), der vielfach mit dem Begriff eine direkte nationale, eine indirekt supranatio- Netzwerk-Governance beschrieben wird (Koh- nale und eine direkte supranationale Strategie. ler-Koch 1999: 14f). Darunter versteht man die Bei der direkten nationalen Strategie versuchen horizontalen Interaktionsformen verschiedener Teilhaber oder Beobachter? Interessengruppen aus Mittel- und Osteuropa auf Brüsseler Parkett 55

unabhängiger Akteure, die in gegenseitiger Ab- Für Interessengruppen bedeutet diese Art der hängigkeit zueinander bei der Suche nach ge- Netzwerk-Governance zuvörderst zahlreiche meinsamen Lösungen stehen, aber nicht in der Gelegenheiten, sich in den politischen Entschei- Lage sind, die Entscheidungsfindung zu mono- dungsfindungsprozess einzubringen. Sie wer- polisieren (Schmitter 2006: 162). Diese Inter- den seitens der Institutionen als Governance- aktionsmuster sind ihrerseits durch eine Reihe Partner akzeptiert und bilden einen integralen von Aushandlungsverfahren gekennzeichnet, Bestandteil der Netzwerke. Deshalb sind sie in die sich häufig gegenseitig überlappen. Dabei der Lage, Policies durch ihren Input zu beein- lässt sich keine klare Differenzierung von öf- flussen. fentlicher und privater Sphäre vornehmen, da Ein großer Nachteil dieses Governance- die staatlichen Akteure ihrerseits in verschiede- Modus ist die Fokussierung auf die Problemlö- ne Netzwerke eingebunden sind (Kohler-Koch sung und die damit einhergehende Tatsache, dass 1999: 26). Ein Charakteristikum dieses Netz- sich für jeden Politikinhalt verschiedene Stake- werkmodells ist die Existenz hochgradig aus- holderkonstellationen ergeben. Für Interessen- differenzierter Einzelnetzwerke, die für die eu- gruppen ergibt sich somit die Herausforderung, ropäische Politikformulierung verantwortlich sich in die verschiedenen Netzwerke einzubrin- zeichnen. In diesem Zusammenhang führt eu- gen und ihre Strategien an den jeweiligen Poli- ropäisches Regieren nicht zu verbindlichen Re- tikinhalten und Aushandlungsmodi zu orientie- gelungen, wie es in hierarchischen Systemen ren. Es ist offensichtlich, dass in hohem Maße der Fall ist, sondern eher zu einem Zusammen- personelle, organisatorische und finanzielle führen der relevanten staatlichen und gesell- Kapazitäten zur Verfügung stehen müssen, um schaftlichen Akteure, die sich auf themenspezi- eine effiziente Interessenvertretung betreiben zu fische Regelmuster verständigen (Eising/Koh- können. Insofern ist es nicht verwunderlich, ler-Koch 1999: 5). dass es für Newcomer im System europäischer

Tabelle 1: Interessengruppen aus den neuen Mitgliedsländern in Brüssel Tschechien 2 Regionenvertretungen 2 Firmenvertretungen Estland 1 Regionenvertretung Ungarn 2 Wirtschaftsverbände 1 Regionenvertretung Rumänien 1 Wirtschaftsverband Polen 5 Regionenvertretungen 2 Wirtschaftsverbände 1 Firmenvertretung Slowakei 2 Regionenvertretungen 1 Wirtschaftsverband 1 NPO (kirchennahe Organisation) Zusammenschlüsse aus MOE 1 Umweltorganisation

Quelle: Register der beim Europäischen Parlament akkreditierten Interessenvertreter (abgerufen am 20.01.2008) 56 Kristina Charrad

Governance besonders schwierig ist, sich ein- Diese Zahlen halten sich seit Längerem in der zufügen. Beide Dimensionen bergen eine Viel- EU-Forschung, lassen sich aber nicht durch zahl von Ansatzpunkten für Interessengruppen, konkrete empirische Studien untermauern. sind aber gleichzeitig eine große Herausforde- Greenwood bezweifelt diese Schätzung deshalb rung für eine effektive Lobbyarbeit, die sich auch und sieht in der Zahl eher eine grobe Haus- nicht mit nationalen Gepflogenheiten verglei- nummer in der Debatte um die Bedeutung des chen lässt. Lobbyismus im europäischen Governance- Modell (Greenwood 2007: 11). Trotz alledem ist die Zahl osteuropäischer Lobbyisten und In- 2 Wen zog es nach Brüssel? teressenorganisationen im Vergleich zu den Vor der großen Beitrittsrunde im Mai 2004 westlichen Ländern im Jahr 2008 geradezu ver- wurde allgemein angenommen, dass die Zahl schwindend gering. Es stellt sich deshalb die der Interessengruppen auf dem Brüsseler Par- Frage, weshalb Interessengruppen derart zöger- kett drastisch zunehmen werde, sogar ein regel- lich in Brüssel auftreten. Eine eindeutige Ant- rechter Boom im ,Eurolobbying‘ wurde pro- wort darauf lässt sich bis heute nicht finden. phezeit. Neue Interessengruppen würden sich Creber und Spence (2005: 118) konnten aber auf den Weg nach Brüssel machen und Einlass nachweisen, dass es beispielsweise den etab- in die Lobbyszene begehren (Kohler-Koch 1997: lierten Eurofeds, den Wirtschaftsverbänden, 8). Vier bzw. zwei Jahre nach dem Beitritt Est- Gewerkschaften und NGOs, die nach 2005 ge- lands, Litauens, Lettlands, Polens, Tschechiens, ographisch nach Osten expandieren wollten, der Slowakei, Sloweniens, Ungarns, Rumäni- überaus schwer gefallen ist, Partnerorganisati- ens und Bulgariens hat sich diese Prophezeiung onen, aber auch Praktiker aus dem Gebiet der allerdings (zumindest noch) nicht bewahrheitet. Public Affairs in den neuen Mitgliedsländern Ein Blick in das online zugängliche Register aufzutun. Selbst wenn die Organisationen um- der beim Europäischen Parlament akkreditier- fangreiche Finanzierungsangebote und Fortbil- ten Interessenvertreter offenbart vielmehr, dass dungsprogramme wie etwa die Charity Aid sich hier nur einige wenige Interessengruppen Foundation in Mittel- und Osteuropa bereitstell- aus Mittel- und Osteuropa haben eintragen las- ten, hatten sie häufig Schwierigkeiten, Kandi- sen (siehe Tabelle 1). daten für die Arbeit in Brüssel zu gewinnen.2 Somit sind Anfang 2008 lediglich 21 Inter- Von einer effektiven Partizipation an der euro- essengruppen aus Mittel- und Osteuropa und päischen Entscheidungsfindung sind Akteure ein Zusammenschluss von mittel- und osteuro- aus Mittel- und Osteuropa also noch weit ent- päischen NGOs beim EU-Parlament akkredi- fernt. Woran liegt das? tiert. Im Verhältnis zu den fast 5.000 akkredi- tierten Interessenvertretern aus den alten Mit- 3 ,Altlasten‘ und gliedsstaaten fällt ihre Zahl kaum ins Gewicht. Adaptionsprobleme Die meisten Veröffentlichungen, die sich mit dem ,Lobbyplaneten‘ Brüssel beschäftigen, Die Gründe für das Ausbleiben einer ,Lobbyis- darunter auch die Transparenz-Initiative der tenschwemme‘ aus Mittel- und Osteuropa nach Kommission aus dem Jahr 2006, schätzen, dass der EU-Osterweiterung liegen in der Entwick- es rund 15.000 Personen in Brüssel gibt, die lung der nationalen Interessengruppen nach der sich im weitesten Sinne als Lobbyisten bezeich- politischen Zeitenwende 1989/90. Bis heute hat nen lassen und etwa 3.000 Organisationen, die sich in den postsozialistischen Ländern keine ein Büro in Belgiens Hauptstadt unterhalten. besonders starke Interessenvertretung heraus- Teilhaber oder Beobachter? Interessengruppen aus Mittel- und Osteuropa auf Brüsseler Parkett 57

gebildet. Dies gilt gleichermaßen für Interes- ist nach dem Versiegen amerikanischer Förder- senvertreter aus dem Wirtschaftssektor wie für mittel allerdings bereits wieder geschlossen anwaltschaftlich tätige NGOs. Der zivilgesell- worden. Bei den übrigen Organisationen han- schaftliche Sektor in Mittel- und Osteuropa prä- delt es sich entweder um Vertretungen von Fir- sentiert sich dem Beobachter sehr fragmentiert, men und Arbeitgeberverbänden. Daneben gibt weshalb Howard (2003) auch von einer es vor allem Wissenschaftsverbände und Regi- „Schwäche postsozialistischer Zivilgesellschaf- onenvertretungen, die Dienste bei der Gewin- ten“ spricht. Die Abwesenheit von mitglieder- nung von Fördermitteln für ihre Mitglieder leis- starken Dachverbänden hat unmittelbaren Ein- ten sollen. fluss auf die Entwicklung intermediärer Struk- Wenn sich eine Interessenorganisation den- turen in diesen Ländern zur Folge gehabt (vgl. noch entschieden hat, sich in Brüssel niederzu- Perez-Solorzano Borragan 2006: 140). Zwar lassen, dann ist der Weg dorthin in aller Regel wurden in allen neuen EU-Mitgliedsländern steinig und schwer. Interviewte Vertreter3 von formal korporatistische Strukturen implemen- mittel- und osteuropäischen Interessengruppen tiert. Dies erfolgte jedoch zumeist staatlich ge- in Brüssel sehen die größte Herausforderung lenkt und nicht auf der Grundlage gewachsener ihrer Arbeit deshalb in ihren Heimatländern. Ein historischer Strukturen mit starken Interessen- slowakischer Lobbyist bringt das auf den Punkt: gruppen wie dies in den etablierten Demokrati- „Lobbying beginnt und endet zu Hause: Wenn en des Westens der Fall gewesen ist (vgl. Op- die Basis auf nationaler oder regionaler Ebene tenhögel 2000; Ost 2000; Wiesenthal 1996: 54f). Deine Arbeit in Brüssel nicht unterstützt, gibt Darüber hinaus ist es nur in den seltensten es gegenüber den EU-Institutionen und ande- Fällen gelungen, starke Einheitsverbände auf- ren Brüsseler Stakeholdern nichts zu verteidi- zubauen. So konnte beispielsweise in keinem gen oder zu repräsentieren.“ Die Interviewpart- der mittel- und osteuropäischen Staaten ein Ge- ner beklagen sich in diesem Zusammenhang über werkschaftsverband aufgebaut werden, unter zwei grundlegende Probleme: Zum einen über dessen Dach sich alle Einzelgewerkschaften ver- das sehr negative Image von Lobbymaßnah- sammeln. Für die Brüsseler Gewerkschaftsbe- men generell, die in vielen postsozialistischen wegung ist Mittel- und Osteuropa deshalb bis Staaten mit Korruption gleichgesetzt werden, heute ein vermintes Terrain geblieben, in dem zum anderen über das fehlende Bewusstsein niemand mit einer Stimme spricht und schon für die Bedeutung von Interessenrepräsentation gar nicht den Anspruch erheben kann, für alle in komplexen Governancestrukturen und die Arbeitnehmer zu sprechen. Ähnliche Beispiele daraus resultierende Passivität nationaler Dach- lassen sich für eine ganze Reihe von Politikfel- verbände. dern anführen, nur sehr wenige Interessen sind Pavol Fric (2004) hat die Assoziation von in Mittel- und Osteuropa umfassend dachver- Lobbying mit Korruption und Schattenpolitik bandlich organisiert, was aber als Grundvor- in den mittel- und osteuropäischen Ländern an- aussetzung für ein Mitmischen in der europäi- schaulich belegt. Ein polnischer Interviewpart- schen Mehrebenengovernance betrachtet wer- ner bestätigt dies: „Es ist überaus schwierig, für den muss. Mit Blick auf die Tabelle scheint sich die Notwendigkeit der Interessenrepräsentation einmal mehr die Feststellung Fritz Scharpfs zu werben, wenn man unter Lobbying öffent- (1970) zu bestätigen, dass sich Partikularinter- lichkeitswirksames Händeschütteln bei gleich- essen deutlich besser vertreten lassen als kol- zeitigem Weiterreichen von Geldkoffern unter lektive. Nur eine einzige NGO-Vertretung aus dem Tisch versteht.“ Diese ablehnende Haltung Polen hat den Weg nach Brüssel gefunden. Sie gegenüber Lobbyaktivitäten tritt auch im Ver- 58 Kristina Charrad

hältnis zwischen Lobbyisten und den jeweili- Interessengruppen in die europäische Gover- gen Nationalregierungen zutage. Korruptions- nance ist bei vielen Interessengruppen auch ein bekämpfung ist ein Dauerbrenner in den mittel- Mangel an Professionalität und Erfahrung bei und osteuropäischen Wahlkämpfen der vergan- der Durchführung von Lobbymaßnahmen in genen Jahre. Ministerialbeamte sind deshalb Brüssel, etwa bei der Vertretung eigener Positi- sehr vorsichtig, Input von Lobbyisten überhaupt onen und Vorschläge im europäischen Instituti- nur anzunehmen. Eingaben und Informations- onengefüge. Als die wenigen Lobbyisten aus veranstaltungen werden gemieden, Vorschläge für Mittel- und Osteuropa ihre Arbeit in Brüssel eine transparent gestaltete Kooperation zwischen aufnahmen, bestand ihre hauptsächliche Arbeit Interessengruppen und Verwaltung nicht weiter im Weiterleiten von Informationen an die natio- verfolgt. In anderen Worten: Eine ausgeprägte nalen Verbände in ihren Entsendeländern. Vier Kultur der gegenseitigen Partnerschaft und Ab- Jahre nach dem Beitritt konzentrieren sich die hängigkeit von Lobbyisten und Regierung ist in meisten Interessenverbände nach wie vor auf Mittel- und Osteuropa nicht vorhanden. diese Tätigkeit, obwohl ihre Repräsentanten Inwieweit beeinträchtigen diese nationalen durchaus die Bedeutung von Interessenkoaliti- Rahmenbedingungen erfolgreiches Lobbying in onen auf Brüsseler Ebene sehen. Die Tatsache, Brüssel? Zum einen ist die Entwicklung einer dass die Interessengruppen in Brüssel so gut Mehrebenenstrategie überaus schwierig, wenn wie gar nicht mit Input aus den nationalen Dach- die einzelnen Maßnahmen auf nationaler und verbänden, wie etwa Thesenpapieren oder an- europäischer Ebene nicht aufeinander abge- deren Statements, versorgt werden, begrenzt die stimmt werden können, weil Interessengrup- Möglichkeiten der europäischen Repräsentan- pen bei ihren nationalen Regierungen auf taube ten erheblich, sich in bestehende Netzwerkstruk- Ohren stoßen, die vertikale Dimension europä- turen einzubinden. So stehen sie vielfach sogar ischer Governance bei der Entwicklung einer vor dem Problem, von Parlament oder Kom- Lobbystrategie also weitgehend unter den Tisch mission zu einer Stellungnahme zu einem poli- fällt. Zum anderen ist aber auch die horizontale tischen Thema aufgefordert zu werden, letztlich Dimension in Brüssel selbst betroffen. So ist aber nur bloße Vermutungen über die Position die enge Kooperation zwischen den ständigen ihres Verbandes äußern zu können. Ein tsche- Vertretungen der Mitgliedsländer (die in der chischer Interviewpartner unterstreicht, dass er Regel mit Beamten besetzt sind) und den euro- seine Organisation wiederholt dazu anhalten päischen Interessengruppen von großem Vor- musste, Positionen zu verschiedenen politischen teil. Im Vergleich etwa zur deutschen Ständigen Sachverhalten zu entwickeln: „Meine Aufgabe Vertretung in Brüssel, die ihre Tätigkeit viel- ist es hier vor allem, meine nationalen Verbände fach eng mit den deutschen Interessenorganisa- aufzuwecken und zu mehr Beteiligung zu er- tionen abstimmt und diesen sogar ein Forum mahnen. Sonst hören die sich einfach nur an, bietet, ist die Kooperation und Kommunikation was hier in Brüssel passiert, ohne jemals eine zwischen den mittel- und osteuropäischen Ver- Position zu Papier zu bringen.“ tretungen und den Interessengruppen aus ihren Als Reaktion auf diese unbefriedigenden Ländern eher schwach ausgeprägt. Beide Fak- Arbeitsbedingungen haben sich die mittel- und toren bedingen eine vergleichsweise geringe osteuropäischen Lobbyisten in Brüssel ein neues Effektivität von Lobbymaßnahmen aus Mittel- Aufgabenfeld erschlossen, nämlich Bildungs- und Osteuropa. maßnahmen in ihren Heimatländern. Die be- Ein weiteres wesentliches Hindernis für eine fragten Repräsentanten von Interessenorgani- stärkere Einbindung mittel- und osteuropäischer sationen in Brüssel, ganz gleich ob es sich dabei Teilhaber oder Beobachter? Interessengruppen aus Mittel- und Osteuropa auf Brüsseler Parkett 59

um Firmen, NGOs, Arbeitgeberverbände, Wis- Versuch, die Europäisierung zu beschleunigen, senschaftsorganisationen oder sogar um priva- um somit die Rolle der Brüsseler Interessenor- te Berateragenturen handelte, gaben übereinstim- ganisationen aufzuwerten. mend an, dass sie regelmäßig in ihre Haupt- quartiere in den Landeshauptstädten reisten, um 4 Finanzierung und Personal dort Seminare und Workshops zur Bedeutung der EU durchzuführen. Zielgruppen sind dem- Die Ausstattung der Brüsseler Vertretung so- nach nicht nur die Mitgliedsverbände und Fir- wohl mit finanziellen als auch mit personellen menabteilungen, sondern bisweilen nationale Ressourcen ist ein wichtiger Faktor, wenn man Ministerien oder Regionalverwaltungen, die die Lobbyaktivitäten dieser Organisationen be- über die Rolle Europas aufgeklärt werden müs- trachtet. Welche Finanzierungsmodelle lassen sen. Solche Trainingsmaßnahmen scheinen ein sich bei den mittel- und osteuropäischen Orga- besonderes mittel- und osteuropäisches Spezi- nisationen in Brüssel unterscheiden? fikum zu sein, die Vertreter aus Malta (ebenfalls Eine mangelhafte Finanzierung durch ihre seit 2004 Mitglied der EU) hatten diese Tätig- Entsendeorganisationen wird von allen befrag- keit jedenfalls nicht in ihrem Aufgabenspektrum. ten Repräsentanten beklagt. Gleichwohl wird Die Notwendigkeit dieser Dienste kann als Be- sie nicht als Hauptproblem angesehen, als we- leg für die noch wenig fortgeschrittene Europä- sentlich gravierender wird die Passivität der isierung der mittel- und osteuropäischen Ver- nationalen Verbände betrachtet. Dennoch sind bändelandschaft herangezogen werden. Die die Errichtung und vor allem der Unterhalt ei- Bemühungen der Brüsseler Repräsentanten, in nes Brüsseler Büros alles andere als günstig, ihren Heimatländern das Bewusstsein für die bedenkt man die exorbitanten Mieten im EU- Bedeutung der EU zu schärfen, ist demnach der Viertel, in denen Interessengruppen üblicher- 60 Kristina Charrad

weise ihr Quartier aufschlagen. Daneben ste- Ein drittes Modell der privaten Interessen- hen in Brüssel vor allem Kosten für qualifizier- vertretung auf EU-Level ist die Teilfinanzierung tes Personal und den Betrieb des Büros. Für durch die nationalen Regierungen. Diese Quel- eine Interessenorganisation, die erst vor zehn le ist in Brüssel nicht sehr verbreitet und wird Jahren in ihrem Heimatland an den Start gegan- im Grunde nur von mittel- und osteuropäischen gen ist, stellt der Gang nach Brüssel damit eine Organisationen angewendet. Trotz der größe- große Herausforderung dar. ren finanziellen Spielräume gehen mit diesem Die Organisationen haben deshalb verschie- Modell zahlreiche Risiken einher, darunter der dene Verfahren gewählt, ihre Tätigkeiten auf Verlust der Unabhängigkeit und das Problem EU-Ebene zu finanzieren. Eine Möglichkeit ist der fehlenden Kontinuität. So bestätigen ver- die Finanzierung der Brüsseler Dependance schiedene Interviewpartner, dass jeder Regie- durch Beiträge der Mitglieder. Die Beiträge rungswechsel zu Hause großen Einfluss auf die werden in diesem Modell direkt für die Inter- Arbeitsfähigkeit ihrer Organisation in Brüssel essenrepräsentation in Brüssel und verschie- hat. dene Serviceleistungen aufgewendet, die ex- Ihre fehlenden Eigenressourcen führen In- klusiv den zahlenden Mitgliedern zur Verfü- teressenverbände in Brüssel demnach in eine gung stehen. Interviewpartner, deren Organi- Zwickmühle: Entweder sie speisen sich mehr sation sich durch diese Art der Finanzierung oder weniger vollständig aus staatlichen Quel- trägt, beklagen ein hohes Maß an Unsicherheit len und geben ihre Unabhängigkeit damit weit- und den Nachteil, dass sie ihre Dienste nicht gehend auf, oder sie müssen sich als Dienst- auch anderen Interessengruppen anbieten kön- leistungsagenturen betätigen, was aufgrund der nen, um so zusätzliche Finanzierungsquellen begrenzten Mittel potentieller Kunden ein har- anzuzapfen. tes Brot ist. Der Vertreter einer privaten slowa- Eine andere Finanzierungsmöglichkeit ist die kischen Unternehmensberatung, die sich auf Errichtung einer gemeinsamen Repräsentanz Wirtschaftslobbying für Firmen spezialisiert hat, verschiedener nationaler Interessengruppen, die bestätigt das: „Für viele Unternehmen kostet sich ein Brüsseler Büro teilen. In diesem Fall eine eigene Repräsentanz in Brüssel schlicht und werden typische Dienstleistungen wie das le- einfach zu viel Geld, und ein anderes Problem gislative Monitoring, die Weitergabe von Infor- ist es, geeignetes Personal zu finden.“ Seine mationen, Strategieentwicklung, Kontaktan- Beraterfirma spezialisiert sich deshalb auf gro- bahnung und Direktlobbying auch Dritten ge- ße Firmen, die auf staatliche Hilfen zurückgrei- gen Gebühr angeboten. Diese Arbeitsweise fen können, aber auch auf Interessenverbände scheint in Brüssel vergleichsweise effektiv zu wie den slowakischen Arbeitgeberverband und sein, wenngleich die befragten Organisationen Forschungsinstitutionen, die Zugriff auf EU- noch immer über einen Ressourcenmangel kla- Fördermittel haben und Unterstützung bei der gen. Ein gutes Beispiel ist die Organisation ,Slo- Antragsstellung benötigen. wakisches Haus‘, in der verschiedene slowaki- Bei der Personalauswahl stellt sich für viele sche Regionalverbände ihre Ressourcen in ei- Brüsseler Repräsentanzen die Herausforderung, nem Büro zusammengelegt haben und sich hoch qualifizierte Mitarbeiter zu rekrutieren, die Arbeit und Kosten teilen. Dies hat zu einer deut- einerseits die Voraussetzungen an Brüsseler In- lich größeren Wahrnehmung der Organisation teressenvertreter erfüllen (also vor allem Fremd- in Brüssel geführt, als dies bei den übrigen Or- sprachenkenntnisse und Public Affairs-Erfah- ganisationen aus Mittel- und Osteuropa der Fall rungen), gleichzeitig aber auch in der Lage sind, ist. mit den Organisationen vor Ort zu kooperieren. Teilhaber oder Beobachter? Interessengruppen aus Mittel- und Osteuropa auf Brüsseler Parkett 61

Das ist nicht immer einfach: Zwar gibt es zahl- und stellen aufgrund ihrer Mehrebenenstruktur reiche hoch qualifizierte Arbeitskräfte, die ihre eine besondere Herausforderung dar. Gegen- Ausbildung in Westeuropa absolviert haben und wärtig sind die mittel- und osteuropäischen auf Berufserfahrung in Brüssel verweisen kön- Neulinge auf dem Brüsseler Parkett nicht über nen, denen dann aber jede Verankerung in den den Status von Beobachtern hinausgekommen,4 nationalen oder gar regionalen Verbänden ab- und es ist noch ein weiter Weg hin zu professi- handengekommen ist. Auf der anderen Seite onellen Teilnehmern am europäischen Entschei- steht Personal zur Verfügung, das zwar diese dungsfindungsprozess mit weitreichenden Netz- Verankerung aufweist, aber in Brüssel nicht werken und Zugang zu verschiedenen Policy- mithalten kann. Für mittel- und osteuropäische Arenen. Interessenorganisationen ist dies eine besonde- Dabei müssen sie zahlreiche Hindernisse aus re Herausforderung, da der Pool geeigneter Per- dem Weg räumen, darunter die langfristige Fi- sonen aufgrund der nicht langfristig gewachse- nanzierung ihrer Arbeit, vor allem aber das Zu- nen Strukturen deutlich kleiner ist als in ande- sammenspiel zwischen den verschiedenen Ebe- ren Ländern. Dazu kommt erneut ein finanziel- nen der regionalen, nationalen und europäischen ler Aspekt: Interessenorganisationen konkur- Interessenvertretung. Gelingt es nicht, Akzep- rieren vielfach mit international tätigen Firmen, tanz für Interessenvertretungsmaßnahmen durch vor allem aber mit den Europäischen Institutio- Akteure des Marktes und der Zivilgesellschaft nen, die qualifiziertes Fachpersonal aus diesen in Mittel- und Osteuropa zu schaffen, wird auch Ländern rekrutieren wollen. Viele Lobbyisten der Einfluss der Interessengruppen aus diesen konnten aufgrund der Länder-Quoten, die die Ländern in Brüssel langfristig marginal blei- EU-Institutionen für ihre Beamten anwenden, ben. Das Problem ungleicher Interessenvertre- vergleichsweise schnell eine besser besoldete tung besteht dann nicht nur thematisch, sondern Stelle in Brüssel auftun und kehrten ihren Inte- es kommt zusätzlich ein geographisches Un- ressenorganisationen deshalb schnell den Rü- gleichgewicht hinzu. cken. Für die Weiterentwicklung europäischer Governance ist das durchaus problematisch. Denn unabhängig davon, welche normative 5 Fazit: Teilnehmer oder Rolle man Lobbying in demokratisch-pluralis- Beobachter? tischen Gesellschaften zuweist, kommt man nicht Der seit 2004 erwartete Andrang mittel- und umhin, den Brüsseler ,Lobbyplaneten‘ als Fakt osteuropäischer Interessenorganisationen auf zu akzeptieren. Wenn Interessenorganisationen den Brüsseler Lobbyplaneten ist bis heute weit- aus den Ländern Mittel- und Osteuropas dort gehend ausgeblieben. Nur einige wenige Orga- lediglich die Rolle von Zuschauern zukommt, nisationen haben dort eine Repräsentanz, ihr verstärkt das allerdings das Demokratiedefizit Anteil an der Gesamtzahl europäischer Interes- der EU zusätzlich. senorganisationen ist verschwindend gering. Ein Blick auf die Anforderungen, denen sich die Übersetzung aus dem Englischen: Matthias mittel- und osteuropäischen Interessengruppen Freise in Brüssel ausgesetzt sehen und die Möglich- keiten der meisten jungen Organisationen ver- Kristina Charrad, M.A., ist Mitglied der deutlicht die immensen Adaptionsprobleme. Die Nachwuchsgruppe „Europäische Zivilgesell- Kontextbedingungen, in die sich die neuen Ak- schaft“ an der Universität Münster. E-Mail: teure integrieren müssen, sind hoch komplex [email protected] 62 Kristina Charrad

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Christine Quittkat

Wirklich näher am Bürger? Konsultationsinstrumente der EU-Kommission auf dem Prüfstand

1 Einleitung braucherinteressen, Sozialarbeit, Umwelt- schutz, Tierschutz, Bildung, Menschenrechte Auch für Laien ist erkennbar, dass sich in Brüs- u.ä.1 sel eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Or- Da die Europäischen Kommission kein ein- ganisationen (ZGO) um Kontakte zu den politi- heitlicher Akteur ist und sich die verschiedenen schen Entscheidungsträgern bemühen. Ebenso Generaldirektionen (GD) in ihren Traditionen ist die Europäische Kommission seit Mitte der und ihrer Konsultationskultur durchaus erheb- 1990er Jahre bestrebt, nicht nur Experten und lich unterscheiden, beschränkt sich die Analyse Verbände am europäischen Willensbildungspro- der neueren Konsultationspolitik der Europäi- zess zu beteiligen, sondern auch die ,Zivilge- schen Kommission und deren Bedeutung für sellschaft‘ in den europäischen Politikprozess die europäische zivilgesellschaftliche Infrastruk- zu integrieren – „to bring the EU closer to its tur auf die Generaldirektion Beschäftigung und citizens“ (Turin European Council 1996). Ziel Soziales (GD Soziales). Diese ist für eine Un- der Kommission ist vor allem die inhaltliche tersuchung nämlich besonders geeignet: So sind Verbesserung und gezieltere Ausrichtung euro- hier nicht nur eine Vielzahl von zivilgesellschaft- päischer Politik an den Bedürfnissen der euro- lichen Organisationen auf EU- und Mitglieds- päischen Bürger. Zudem erhofft sie sich, durch staatsebene in den von dieser Generaldirektion die Ausweitung von Partizipation und Öffent- abgedeckten Politikbereichen Beschäftigung, lichkeit die demokratische Qualität europäischer Arbeitsbedingungen und ,Integrative Gesell- Politik erhöhen zu können. Doch wie sieht die schaft‘ (inklusive der Bekämpfung von Diskri- ,empirische Wirklichkeit‘ aus? Welche Konsul- minierungen) involviert. Aufgrund der inhaltli- tationsinstrumente setzt die Europäische Kom- chen Ausrichtung kann für die GD Soziales auch mission ein, welche zivilgesellschaftlichen Or- eine gewisse Vorbildfunktion in der Konsultati- ganisationen erreicht sie mit ihnen, und wie wir- onspraxis vermutet werden. Außerdem kann sie ken sich die diversen Konsultationsinstrumente nach eigenen Worten „auf eine lange Tradition auf die zivilgesellschaftliche Infrastruktur aus? zurückblicken, was die Beteiligung von Nicht- Diese Fragen soll der vorliegende Beitrag klä- regierungsorganisationen (NRO) am Anhö- ren. rungsprozess und der Umsetzung von Politi- Der recht schwammige Begriff ,zivilgesell- ken angeht“ (Kommission 2007). schaftliche Organisation‘ (ZGO) erfasst in der Grundlage des vorliegenden Beitrags ist eine vorliegenden Untersuchung alle Verbände, Ver- Datenbank, die im Rahmen des am Mannhei- eine, Vereinigungen und Netzwerke, die nicht mer Zentrum für Europäische Sozialforschung gewinnorientiert sind. Innerhalb dieser Grup- (MZES) der Universität Mannheim durchge- pe wird differenziert zwischen (1) Wirtschafts- führten und von der Deutschen Forschungsge- verbänden, (2) Gewerkschaften und Berufs- meinschaft finanzierten Forschungsprojektes verbänden und (3) Nichtregierungsorganisati- ,Demokratisierung der EU durch Einbindung onen (NRO) im engeren Sinne, d.h. um nicht- der Zivilgesellschaft: Die Rolle der Europäi- staatliche Organisationen in den Bereichen Ver- schen Kommission‘ (DemoCiv) angelegt wur- Wirklich näher am Bürger? 65

de. Sie erfasst zum einen systematisch all dieje- • Gleichberechtigung (Geschlecht und Behin- nigen Konsultationsinstrumente der GD Sozia- derung), les, die seit der ,Öffentlichkeitsinitative‘ und • Arbeitsmarkt (inklusive Arbeitsrecht). dem Weißbuch der Kommission zum ,Europäi- Dabei ist das verwendete Konsultationsinstru- schen Regieren‘ (Kommission 2001) auf der mentarium breit gefächert und variiert nach Homepage der Europäischen Kommission auf- Adressaten, die sich in drei Gruppen einteilen geführt werden. Zum anderen erfasst die De- lassen: (1) Instrumente zur Konsultation von moCiv-Datenbank alle öffentlichen Akteure Experten, (2) Instrumente zur Konsultation der (Kommunen, Städte, Regierungen, europäische Politikbetroffenen (Englisch stakeholder) und und internationale Organisationen etc.) und pri- (3) Instrumente zur Konsultation der (interes- vaten Akteure (Firmen, Wirtschaftsverbände, sierten) Öffentlichkeit. Gewerkschaften, NRO etc.), die an den jeweili- (1) Die Konsultation von Experten erfolgt gen Konsultationen der GD Soziales beteiligt über Expertenseminare und Expertengruppen. waren. Privatpersonen wurden in der Demo- Der Begriff ,Experte‘ bezieht sich bei der Euro- Civ-Datenbank hingegen nicht berücksichtigt. päischen Kommission in der Regel auf Wissen- Nach einer Übersicht der Konsultationsin- schaftler. Expertenseminare dienen in erster Linie strumente der GD Soziales untersucht der vor- der Wissensbeschaffung und haben einen ex- liegende Beitrag, wie die unterschiedlichen Kon- klusiven Teilnehmerkreis. So wurden von der sultationsinstrumente der Kommission von den GD Soziales beispielsweise zwei Demographie- zivilgesellschaftlichen Organisationen genutzt Expertenseminare organisiert, zu denen ausge- werden. Schließlich folgt eine empirische Ana- wählte Wissenschaftler eingeladen worden wa- lyse der Auswirkungen der Konsultationspoli- ren und an denen der zuständige Kommissar tik der Kommission auf die zivilgesellschaftli- und einige wenige hochrangige Mitarbeiter teil- che Infrastruktur. nahmen (11.01.2006: 4 Wissenschaftler; 13.03.2006: 5 Wissenschaftler). Expertengrup- pen sind in ihrer Zusammensetzung etwas hete- 2 Konsultationsinstrumente der rogener und beziehen neben Vertretern der mit- Europäischen Kommission gliedstaatlichen und europäischen Verwaltung Die Begriffe ,Konsultation‘ oder ,Konsultati- gelegentlich auch Wissenschaftler und/oder Ver- onsinstrument‘ sind durch ihre Beziehung zu treter zivilgesellschaftlicher Organisationen ein. Meinungsbildung und Entscheidungsfindung Obwohl ein altbekanntes Instrument der Euro- definiert. Ähnlich wie ,Lobbying‘ erfüllt die päischen Kommission, hat die Nutzung von Konsultation eine Funktion in Hinblick auf die Expertengruppen in den vergangenen sieben Entscheidungsfindung der Europäischen Kom- Jahren erheblich zugenommen (Gornitzka/Sver- mission, doch während Lobbying von den Inte- drup 2007: 11). Für beide Instrumente gilt ressenvertretern selbst initiiert wird, lässt sich allerdings, dass die Kommission die Kriterien die Konsultation als ein von der Europäischen für die Auswahl der Experten nicht spezifiziert Kommission gesteuerter Prozess definieren. oder offenlegt (vgl. Quittkat/Finke 2008), was Die Vielzahl der Konsultationen der GD vor dem Hintergrund ihres Politikziels einer Soziales gruppiert sich seit der Jahrtausendwen- höheren Transparenz durchaus problematisch de im Kern um vier Sachthemen: ist. • Soziale Verantwortung der Unternehmen (2) Instrumente zur Konsultation der Poli- (Corporate Social Responsibility, CSR), tikbetroffenen sind sogenannte Politikforen • Demographie, (Englisch policy forum) und ,strukturierte Kon- 66 Christine Quittkat

takte mit der Bürgergesellschaft‘. Der Begriff Vielmehr sind diese Organisationen die einzi- Politikforum wird von der Kommission und gen NRO, die auf der Homepage der GD Sozi- der GD Soziales freilich relativ breit verwen- ales namentlich aufgeführt werden. Dieser Ka- det. Als Konsultationsinstrument erfasst er Ar- tegorie an Konsultationsinstrumenten hinzuge- beitsgruppen mit einem offiziellen Mandat, die fügt werden kann auch der Europäische Soziale die Europäische Kommission bei der Suche nach Dialog. Die Kontakte zwischen den europäi- Problemlösungen unterstützen sollen. Sie kom- schen Gewerkschaften und Arbeitgeber- bzw. men seit den 1990er Jahren zum Einsatz, um Wirtschaftsverbänden und der Europäischen eine Senkung von Transaktionskosten zu errei- Kommission haben allerdings einen besonde- chen (Broscheid/Coen 2002). Politikforen set- ren Institutionalisierungsgrad, da Artikel 138 zen sich üblicherweise aus ZGO der EU-Ebene EG-Vertrag die Anhörung der Sozialpartner auf zusammen, allerdings ist oft ein (deutliches) europäischer Ebene zu beschäftigungspoliti- Übergewicht der Wirtschaftsverbände erkenn- schen und sozialen Fragen zwingend vorsieht. bar. Als Beispiel sei hier das von 2002 bis 2004 (3) Die Konsultation der (interessierten) existierende ,European Multi-Stakeholder Fo- Öffentlichkeit schließlich erfolgt mit zwei recht rum on Corporate Social Responsibility (CSR unterschiedlichen Instrumenten: Konferenzen EMS Forum)‘ genannt, das sich mit der sozia- und Online-Konsultationen. Obwohl Kommis- len Verantwortung der Unternehmen befasste. sionskonferenzen üblicherweise jedermann of- Die Arbeit des CSR EMS Forums erfolgte über fen stehen und die Kommission in der Regel vier themenspezifische Runde Tische, zu denen auch keine Teilnahmegebühren verlangt, ist eine jeweils drei Treffen in unterschiedlicher Zusam- gewisse Selbstselektion der Teilnehmer zu ver- mensetzung stattfanden (CSR EMS Forum muten. Unter den Bedingungen begrenzter Per- 2007). Ähnlich wie bei der Auswahl der Exper- sonal- und Finanzressourcen (Stichwort Reise- ten gilt leider auch für die Politikforumsteilneh- kosten) können zivilgesellschaftliche Organi- mer, dass die Auswahlkriterien der Europäischen sationen eine Konferenzteilnahme gegenüber Kommission im Dunklen bleiben. ihren Mitgliedern nur dann rechtfertigen, wenn Anders als die Experteninstrumente oder die die behandelte Thematik tatsächlich auch für das Politikforen beziehen sich die strukturierten Tagesgeschäft von Bedeutung ist, d.h. an Kon- Kontakte mit der Bürgergesellschaft ausschließ- ferenzen nehmen zumeist Politikbetroffene und lich auf ausgewählte europäische Netzwerke von weniger die breite Öffentlichkeit teil. Online- Nichtregierungsorganisationen. Diese heben Konsultationen werden von der Kommission sich weniger dadurch hervor, dass die Kom- seit 2000 eingesetzt und über das Internet durch- mission ihre volle Finanzierung übernimmt wie geführt. Durch ihre einfache Zugänglichkeit im Falle der Plattform europäischer Sozial-NRO über die Homepage ,Your Voice in Europe‘ sind (Soziale Plattform), dem Europäischen Netz die Zugangs- und Beteiligungshürden für Bür- gegen Rassismus (ENAR) oder der Internatio- ger und NRO an Online-Konsultationen relativ nalen Lesben- und Schwulenvereinigung – Eu- gering (vgl. den Beitrag von Hüller in diesem ropa (ILGA-Europe) oder sich an den operati- Heft). ven Kosten beteiligt wie bei der Europäischen Für alle vier Themenbereiche der GD Sozi- Blindenunion, der Europäischen Union der ales gilt, dass die Konsultationsinstrumente Gehörlosen (EUD), bei Inclusion Europe, bei mitnichten wahllos zum Einsatz kommen; viel- Autisme-Europe und bei Mental Health Euro- mehr ist der Konsultationsprozess durch ein pe. Die Kommission unterstützt auch andere komplexes, aber strukturiertes Wechsel- und europäische ZGO finanziell (vgl. Abschnitt 4). Zusammenspiel unterschiedlicher Konsultati- Wirklich näher am Bürger? 67

onsinstrumente gekennzeichnet. Steht ein Sach- men, wobei es sich bei diesen im Wesentlichen thema erst einmal auf der politischen Tagesord- um europäische ZGO handelt.2 nung, setzt die GD Soziales zu einem sehr frü- Einen wichtigen Erfolg bezüglich ihres Ziels, hen Zeitpunkt im Politikformulierungsprozess neben Experten und Verbänden auch die Zivil- das Instrument der Online-Konsultation ein, das gesellschaft in den europäischen Politikprozess sich an die breite (interessierte) Öffentlichkeit zu integrieren, konnte die Europäische Kom- richtet. Der weitere Verlauf der Politikformulie- mission bisher durch den Einsatz der Online- rung wird von mehreren Konferenzen, die Teil- Konsultationen erzielen. Deren Nutzung hat seit aspekte des Sachthemas abdecken, begleitet. ihrer Einführung im Jahr 2000 kontinuierlich Politikforen, die in der Regel über einen länge- zugenommen, erreichte 2005 die 100er Grenze ren Zeitraum hinweg existieren, ermöglichen es und verdoppelte sich 2007 noch einmal. der Europäischen Kommission, bei spezifischen Auch die Online-Konsultationen lassen sich Teilaspekten und Problemstellungen von der hinsichtlich ihrer Adressaten in drei Gruppen Sachkenntnis ausgewählter Politikbetroffener zu einteilen: (1) Die kleinste Gruppe bilden Onli- profitieren. Verwiesen sei hier noch einmal auf ne-Konsultationen, die nur ausgewählten Adres- das oben genannte Beispiel des ,European Mul- saten offenstehen; hier werden beispielsweise ti-Stakeholder Forum on Corporate Social Re- ,Steuer- und Buchhaltungswissenschaftler‘, sponsibility (CSR EMS Forum)‘. Schließlich ,Akteure des Zivilschutzes‘, „Akteure des Eras- wird die Konsultation der interessierten Öffent- mus Mundus Programms“ u. ä. als Zielgruppe lichkeit und der Politikbetroffenen durch den genannt. (2) Eine weitere Gruppe an Online- Input sachverständiger Experten bzw. Wissen- Konsultationen richtet sich ausschließlich an schaftler über Expertenseminare und Experten- Organisationen und Institutionen. (3) Die Mehr- gruppen ergänzt, wobei die Expertenkonsultati- heit der Online-Konsultationen (ca. drei Vier- on vor allem dazu dient, die eigene, kommissi- tel) richtet sich an alle Politikbetroffenen sowie onsinterne Fachkompetenz zu erhöhen bzw. zu die breite (informierte) Öffentlichkeit und sieht aktualisieren. auch die Teilnahme von Privatpersonen vor. Obwohl das aus der Literatur bekannte Bei- spiel der 2003 durchgeführten Online-Konsul- 3 Nutzung der Konsultations- tation „Registrierung, Bewertung, Genehmigung instrumente durch ZGO und Einschränkungen von Chemikalien“ (Re- Konferenzen und Politikforen erlauben aufgrund gistration, Evaluation, Authorisation and Rest- ihres beschränkten Teilnehmerkreises eine in- rictions of Chemicals, REACH) mit rund 6.400 tensivere und interaktivere Beteiligung, binden Beiträgen eher ein Ausnahmefall ist (vgl. Pers- aber auch mehr personelle und finanzielle Res- son 2007), erreichen viele Online-Konsultatio- sourcen, da einer erfolgreichen Teilnahme auch nen aufgrund der Breite der Adressaten durch- eine entsprechende Vorbereitung vorausgehen aus mehrere hundert Beiträge. Das Beispiel der muss. Diese Rahmenbedingungen führen dazu, GD Soziales zeigt zudem, dass die Zahl der dass vergleichsweise wenige ZGO an Konfe- Konsultationsteilnehmer auch vom behandel- renzen oder gar Politikforen teilnehmen und ten Thema und dem verwendeten Fragenformat Teilnahmen auch eher einmalige als regelmäßi- abhängt. Obwohl alle fünf Online-Konsultatio- ge Ereignisse sind. Nur 17 Prozent aller ZGO, nen der GD Soziales, für die Beteiligungsdaten die an den Konsultationsinstrumenten der GD zur Verfügung stehen, als Zielgruppe die ,Öf- Soziales beteiligt waren, haben mehr als ein Mal fentlichkeit‘ nannten, waren die Beteiligungs- an Konferenzen oder Politikforen teilgenom- raten sehr unterschiedlich. Während das Thema 68 Christine Quittkat

der Online-Konsultationen als Einflussgröße foren und Online-Konsultationen zur Einfluss- auf die Beteiligung wenig überrascht, weist ein nahme auf den europäischen Politikprozess nut- anderer empirischer Befund auf das Dilemma zen, konzentrieren sich die NRO stärker auf die von Online-Konsultationen hin: Multiple-choice Teilnahme an solchen Konsultationen, die hö- Fragebögen, bei denen die Teilnahme nur das here Wirkungserfolge aufgrund der intensive- Ankreuzen von verschiedenen möglichen Ant- ren und direkteren Kommunikation zwischen worten erfordert, erreichen die höchsten Betei- zivilgesellschaftlichen Akteuren und Kommis- ligungsraten, insbesondere von Privatpersonen. sion erwarten lassen, nämlich Konferenzen und Online-Konsultationen mit semi-standardisier- Politikforen. Doch nicht allein wegen ihrer knap- tem Fragebogen, der aus strukturierten, aber peren Ressourcenausstattung leisteten sich nur offenen Fragen besteht, erreichen eine deutlich rund acht Prozent der europäischen und inter- geringere Beteiligung, die noch weiter sinkt, nationalen NRO eine Beteiligung an dem ge- wenn für Online-Konsultationen ein vollstän- samten Spektrum der Konsultationsinstrumen- dig offenes Format gewählt wird, d. h. wenn zu te der GD Soziales. Bei den Nichtregierungsor- einem neuen Kommissionsdokument Kommen- ganisationen macht sich auch eine gewisse Un- tare erbeten werden. Somit wird die höchste zufriedenheit mit den Online-Konsultationen Teilnahmequote bei Online-Konsultationen mit bemerkbar. Diese ergibt sich zum einen aus dem einem Format erreicht (Multiple-choice Frage- bereits genannten Dilemma der Online-Konsul- bogen), das kaum neuen Input ermöglicht und tationen zwischen Quantität und Qualität. Zum den Beteiligten nur einen relativ geringen Ein- anderen zeigt sich bei den Vertretern europäi- fluss auf die Politikformulierung erlaubt, wäh- scher NRO auch eine große Frustration über rend bei Online-Konsultationen mit (semi-)of- den Umgang der Europäischen Kommission mit fenem Format, das großen Spielraum für quali- diesem Konsultationsinstrument: Die Ergebnis- tative Politikvorschläge lässt, eine geringere se der Online-Konsultationen und die eingebrach- Teilnehmerzahl festzustellen ist. Diese Variatio- ten Vorschläge würden oft mangelhaft dokumen- nen in den Beteiligungsraten je nach Fragebo- tiert. Zudem fehlten auch hinreichende Stellung- genformat werfen auch normative Fragen auf. nahmen der Kommission zu den Konsultations- Es bleibt zu untersuchen, ob die Europäische ergebnissen und Erklärungen darüber, weshalb Kommission die unterschiedlichen Formate je Veränderungsvorschläge angenommen oder ab- nach ihren eigenen Interessen strategisch ein- gelehnt würden (Interview Soziale Plattform, setzt, um ggf. die Ergebnisse der Online-Kon- Oktober 2007; vgl. auch Fazi/Smith 2006: 29). sultationen ,kontrollieren‘ zu können. Richtet sich der Blick spezifischer auf die 4 Zivilgesellschaftliche Infrastruktur Beteiligung von europäischen und internationa- der GD Soziales len ZGO an den diversen Konsultationsinstru- menten der Kommission, zeigen sich zwischen Neu und bemerkenswert für die heutige euro- den verschiedenen zivilgesellschaftlichen Grup- päische zivilgesellschaftliche Infrastruktur ist, pen Unterschiede, die bei den europäischen dass bezogen auf die 235 europäischen und in- Wirtschaftsverbänden und den europäischen ternationalen zivilgesellschaftlichen Organisa- NRO am deutlichsten hervortreten: Rund 64 tionen, die an den 31 untersuchten Konsultatio- Prozent beider Gruppen nahm ausschließlich nen der GD Soziales zwischen 2000 und Mitte an Online-Konsultationen der GD Soziales teil. 2007 teilgenommen haben, Nichtregierungsor- Doch während bei den Wirtschaftsverbänden ganisationen die größte Gruppe stellen (58 %), etwa 16 Prozent sowohl Konferenzen, Politik- gefolgt von den Wirtschaftsverbänden (29 %) Wirklich näher am Bürger? 69

und schließlich den Gewerkschaften und Be- tionen und auf solche Organisationen, die die rufsverbänden (14 %). Vertretung schwächerer Gesellschaftsgruppen Zugleich ist das durchschnittliche Organisa- übernehmen. Sie trägt beispielsweise nicht nur tionsalter der europäischen NRO deutlich nied- für die auf ihrer Homepage genannten Organi- riger als das der Wirtschaftsverbände, Gewerk- sationen wie das Europäische Netz gegen Ras- schaften und Berufsverbände.3 Europäische sismus (ENAR), die Soziale Plattform oder In- Wirtschaftsverbände wurden, wie auch Ge- clusion Europe, sondern auch für andere NRO werkschaften und Berufsverbände – allerdings wie die europäische Organisation der Kinder- auf sehr viel niedrigerem Niveau –, vor allem in rechte Eurochild AISBL, das europäische Ju- den frühen Jahren der Europäischen Wirtschafts- gendforum (Youth Forum Jeunesse, YFJ), das gemeinschaft gegründet, wobei die Einführung europäische Anti-Armutsnetzwerk (European der europäischen Wirtschafts- und Währungs- Anti-Poverty Network, EAPN) und für die eu- union mit dem Vertrag von Maastricht 1992 ropäische Föderation der nationalen Organisa- noch einmal eine Gründungswelle verursachte. tionen, die mit Obdachlosen arbeiten (Fédérati- Der „Gründungsboom“ der europäischen on Européenne des Associations Nationales Nichtregierungsorganisationen dagegen reichte Travaillant avec les Sans-abri, FEANTSA), von Mitte der 1980er Jahre bis etwa 2001. Die zwischen 75 und 90 Prozent der Finanzierung. Neugründungen europäischer NRO in dieser Doch die europäische zivilgesellschaftliche Phase spiegeln das Ausgreifen der Europäischen Infrastruktur beschränkt sich nicht auf diejeni- Gemeinschaft auf neue Politikfelder von der gen Organisationen, die sich auf europäischer Einheitlichen Europäischen Akte über den Ver- Ebene gegründet haben. Der Europäischen trag von Maastricht und den Vertrag von Ams- Kommission ist es gelungen, mit ihren diversen terdam bis hin zu dem Vertrag von Nizza wider. Konsultationsinstrumenten auch ZGO der nati- Heute macht sich die Verlagerung der EU-Poli- onalen, sub-nationalen und lokalen Ebene zu tik auf die Konsolidierung des Integrationspro- erreichen. zesses und auf die EU-Osterweiterung in dem Hier sind allerdings deutliche Unterschiede deutlichen Rückgang an Neugründungen euro- zwischen den Mitgliedstaaten zu erkennen: päischer NRO seit Anfang des Jahrhunderts • Zum einen zeigt sich, dass ZGO aus den bemerkbar. alten und großen EU-Mitgliedstaaten Das Spektrum der von europäischen NRO (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, vertretenen Interessen gegenüber der GD Sozi- Italien) am stärksten in den Konsultationen ales ist weit gestreut. Menschenrechtsorganisa- der GD Soziales präsent sind; dies gilt für tionen (18 %) und Wohlfahrtsorganisationen Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften und (14 %) stellen die beiden größten Gruppen, doch Berufsverbände wie auch für NRO gleicher- ergänzt wird die Liste durch Organisationen, maßen. die sich für den Umwelt- oder den Verbraucher- • Ebenso wird deutlich, dass die nationale schutz einsetzen, die die Anliegen der sog. „Drit- Herkunft der NRO sehr viel weiter gestreut ten Welt“ vertreten oder die sich mit der sozia- ist als diejenige der Wirtschaftsverbände oder len Verantwortung der Unternehmen befassen. der Gewerkschaften und Berufsverbände. Diese Ausdifferenzierung der auf EU-Ebe- Während bei den Konsultationen der GD ne vertretenen Interessen wurde durch Förder- Soziales Nichtregierungsorganisationen aus programme der Europäischen Kommission un- allen EU-Mitgliedstaaten vertreten sind, über- terstützt. Ihren besonderen Schwerpunkt legt lassen Wirtschaftsverbände aus kleineren die GD Soziales dabei auf Wohlfahrtsorganisa- und/oder neueren Mitgliedstaaten, ähnlich 70 Christine Quittkat

wie die Gewerkschaften und Berufsverbän- ration; ETUC: 16 Teilnahmen) und für Busi- de, die Vertretung ihrer Interessen auf EU- ness Europe (ehemals Union of Industrial and Ebene lieber den Euroverbänden, den soge- Employers’ Confederations of Europe (UNICE); nannten EUROFEDs.4 13 Teilnahmen), die beide in den Europäischen • Schließlich gilt: Je länger ein Land Mitglied Sozialen Dialog eingebunden sind. Ebenso trifft in der EU ist, desto höher ist die Zahl seiner dies auf die 1995 gegründete Soziale Plattform auf EU-Ebene aktiven ZGO, d.h. der Wirt- zu (14 Teilnahmen), mit der gemeinsam die GD schaftsverbände, Gewerkschaften und Be- Soziales unter dem Titel ,Strukturierter Dialog rufsverbände sowie Nichtregierungsorgani- mit der sozialen Plattform‘ zwei Mal jährlich sationen. Finanzielle Ressourcen sind somit ein Treffen zur Erörterung verschiedener ge- zwar eine wichtige Voraussetzung für den meinschaftlicher Fragen organisiert, das den in Aktivitätsradius von zivilgesellschaftlichen der Sozialen Plattform organisierten NRO ein Organisationen, die Vertrautheit mit dem Forum bietet, zu aktuellen Themen Stellung zu politischen System der EU aber ist ein wei- beziehen, während die Kommission über neue terer Faktor, der die Beteiligung von mit- Initiativen berichtet. gliedstaatlichen zivilgesellschaftlichen Orga- Business Europe, Europäischer Gewerk- nisationen am europäischen Politikprozess schaftsbund und Soziale Plattform agieren als wesentlich mitbestimmt (vgl. auch Quittkat ,Informationsbroker‘ und Interessenvertreter. 2005, Roose 2003). Sie informieren ihre Mitglieder über anstehen- Somit reicht die Finanzierung derjenigen euro- de Konsultationsverfahren, um sie für eine ak- päischen Nichtregierungsorganisationen, die tive Teilnahme zu mobilisieren, und nehmen sel- sich für schwächere Gesellschaftsgruppen ein- ber an den Konsultationsverfahren der Kom- setzen, nicht aus, um die zivilgesellschaftliche mission teil. Dabei gestaltet sich die Bündelung Infrastruktur der EU weiter zu verbessern. Es der vertretenen Interessen für diese drei Orga- sind auch Anstrengungen notwendig, die Barri- nisationen unterschiedlich schwierig. Während eren zwischen der Europäischen Kommission Business Europe mitgliedstaatliche Dachorga- und den zivilgesellschaftlichen Organisationen nisationen organisiert, handelt es sich bei den aus den neuen EU-Mitgliedstaaten weiter zu Mitgliedern des Europäischen Gewerkschafts- senken (vgl. auch den Beitrag von Charrad in bunds um mitgliedstaatliche Dachorganisatio- diesem Heft). nen und um zwölf europäische Fachgewerk- Trotz dieser Schieflage lässt sich festhalten, schaften. Noch sehr viel inhomogener ist im dass die zivilgesellschaftliche Infrastruktur der Vergleich hierzu die Zusammensetzung der So- GD Soziales breit gefächert ist und aus NRO, zialen Plattform. Sie vereint rund vierzig Euro- Wirtschaftsverbänden sowie Gewerkschaften gruppen, die wiederum pro Mitgliedsland meh- und Berufsverbänden der lokalen, nationalen, rere Dachorganisationen zu ihren Mitgliedern europäischen und internationalen Ebene besteht. zählen – und die vertretenen Anliegen reichen Eine wesentliche Rolle in den Konsultationen von Frauen, Arbeitslosen, Senioren, Behinder- kommt dabei denjenigen ZGO zu, die auch in ten, Lesben und Schwulen bis hin zu Jugendli- institutionalisierte Konsultationsverfahren ein- chen, Kindern, Familien u.a. So ist der Kom- gebunden sind, denn sie weisen die stärkste munikations- und Abstimmungsprozess inner- Beteiligung an den Online-Konsultationen, halb der Sozialen Plattform nicht nur von der Konferenzen und Politikforen der GD Soziales schwierigen Bündelung sehr unterschiedlicher auf. Dies gilt für den Europäischen Gewerk- Interessen geprägt, auch die Kommunikations- schaftsbund (European Trade Union Confede- kette über die europäischen Dachverbände zu Wirklich näher am Bürger? 71

den nationalen (und subnationalen wie lokalen) führung und zunehmenden Nutzung von Onli- Verbänden ist sehr viel länger – ein Problem, ne-Konsultationen und an den vielen auf der mit dem sich die Soziale Plattform im Rahmen Homepage der Kommission zugänglichen In- einer internen Studie ab 2008 verstärkt befas- formationen. Doch gerade dort, wo die Kom- sen wird (Interview Soziale Plattform, Oktober mission eine Selektion ihrer Ansprechpartner 2007). vornimmt (Expertengruppen, Expertensemina- re und Politikforen) bleibt sie die Offenlegung der Auswahlkriterien schuldig. Zum anderen ist 5 Fazit die Beteiligung von ZGO der EU-Mitgliedstaa- Obwohl die zivilgesellschaftliche Infrastruktur ten an den Konsultationsinstrumenten der Kom- der GD Soziales breit gefächert ist und die Be- mission ungleich verteilt und vor allem die neu- teiligung an den Konsultationsinstrumenten der en EU-Mitgliedstaaten sind bisher noch Kommission territorial (lokale, sub-nationale unterrepräsentiert. Schließlich zeigt sich, dass und nationale ZGO) wie funktional (Wirt- Online-Konsultationen zwar die zivilgesell- schaftsverbände, Gewerkschaften und Berufs- schaftliche Infrastruktur der Europäischen verbände, NRO ) weit ausdifferenziert ist, füh- Kommission verbreitern, die Möglichkeiten der ren nicht alle Konsultationsinstrumente Mitwirkung an der europäischen Politikformu- gleichermaßen zu einer großen Breite vertrete- lierung sind über dieses Konsultationsinstru- ner Interessen. Für den Differenziertheitsgrad ment aber oftmals sehr eingeschränkt. Dass sich der Beteiligung ist nicht nur die spezifische gerade die Nichtregierungsorganisationen, de- Adressatenausrichtung der unterschiedlichen ren Ressourcen in der Regel besonders knapp Konsultationsinstrumente maßgeblich. Die Zu- sind, deutlich stärker als Wirtschaftsverbände gangshürden aufgrund unterschiedlicher Res- auf Konferenzen und Politikforen beschränken sourcenbindung haben ebenfalls Einfluss auf und nicht noch ergänzend an den Ressourcen das Spektrum der beteiligten ZGO. schonenden Online-Konsultationen teilnehmen, Es ist vor allem der Einführung von Online- unterstreicht den Handlungsbedarf. Konsultationen zu verdanken, dass sich die zi- Damit die bisherigen Erfolge im Aufbau ei- vilgesellschaftliche Infrastruktur der EU deut- ner europäischen zivilgesellschaftlichen Infra- lich ausdifferenziert hat. So ist im Vergleich mit struktur fortbestehen und sich weiterentwickeln, Konferenzen und Politikforen das Spektrum der muss es der Europäische Kommission gelin- vertretenen Interessen in Online-Konsultatio- gen, den wesentlichen Vorteil von Politikforen nen am breitesten. Zudem ist die verstärkte Teil- und Konferenzen, nämlich deren Interaktivität nahme von nationalen, sub-nationalen und lo- und soziale Rückkoppelung, zumindest an- kalen zivilgesellschaftlichen Organisationen am satzweise auf die Online-Konsultationen zu europäischen Prozess der Politikformulierung übertragen, indem sie nicht nur die eingehenden den Online-Konsultationen geschuldet. Aber Beiträge publiziert, sondern auch zu den Ergeb- auch die Finanzierungshilfen der Kommission nisse und – wichtiger noch – den daraus resul- haben dazu beigetragen, dass heute nicht mehr tierenden Entscheidungen Stellung bezieht. Wirtschaftsverbände, sondern Nichtregierungs- organisationen die größte Gruppe zivilgesell- Dr. Christine Quittkat ist Politikwissen- schaftlicher Organisationen stellen. schaftlerin am Mannheimer Zentrum für Euro- Allerdings ist die Bilanz nicht nur positiv. päische Sozialforschung (MZES)/Universität So zeigt sich zum einen zwar das Bemühen der Mannheim, [email protected] Kommission um mehr Öffentlichkeit an der Ein- mannheim.de. 72 Christine Quittkat

Anmerkungen mission Fora: A Game Theoretic Investigation. MPIfG Arbeitspapier 02/7, Juli 2002. 1Die Europäischen Kommission bezieht CSR EMS Forum 2007: Homepage; http:// Wirtschaftsverbände unter den Begriff ,Zivil- circa.europa.eu/irc/empl/ gesellschaft‘ mit ein (vgl. Weißbuch „Europäi- csr_eu_multi_stakeholder_forum/info/data/en/ sches Regieren“ KOM(2001) 428). csr%20ems%20forum.htm; Stand: 9.12.2007. 2Da die GD Soziales besonders viele Kon- Fazi, Elodie/Smith, Jeremy 2006: Civil Dia- ferenzen in dem Themenfeld ,Soziale Verant- logue - Making it work better. Brüssel: wortung von Unternehmen‘ durchgeführt hat, Act4Europe. dominieren Wirtschaftsverbände, Menschen- Gornitzka, Åse/Sverdrup, Ulf 2007: Who rechtsorganisationen und NRO, die sich für die consults? The use of expert groups in the Euro- Belange der sogenannten ,Dritten Welt‘ einset- pean Union. Vortragspapier vorgestellt im Rah- zen, das Teilnehmerspektrum. men eines ARENA-Seminars am 8. Mai 2007, 3Die Auswertung basiert auf den europäi- Oslo. schen und nationalen zivilgesellschaftlichen Kommission der Europäischen Gemein- Organisationen, die an den Konsultationen der schaften 2001: Europäisches Regieren. Ein GD Soziales teilgenommen haben und die sich Weißbuch. KOM (2001) 428 endg. 25.7.2001. in die ehemalige EU-Datenbank CONECCS Brüssel. eingetragen hatten. Die Datenbank wurde Kommission der Europäischen Gemein- allerdings seit März 2007 nicht mehr aktuali- schaften 2007: Homepage der Generaldirektion siert und ist seit November 2007 auch nicht Beschäftigung und Soziales; http://ec.europa.eu/ mehr im Internet zugänglich. Mitteilung der employment_social/fundamental_rights/civil/ Kommission auf der CONECCS Homepage: civ_de.htm; Stand: 29.11.2007. „Am 21. März 2007 nahm die Kommission eine Persson, Thomas 2007: Democratising Eu- Mitteilung über Folgemaßnahmen zu dem Grün- ropean Chemicals Policy: Do Online Consulta- buch „Europäische Transparenzinitiative“ an tions Favour Civil Society Participation? In: (KOM (2007) 127). Aufgrund dieser Mittei- Journal of Civil Society, Jg. 3, Heft 3, 223-238. lung hat die Kommission entschieden ein neues Quittkat, Christine 2005: Die Europäisierung freiwilliges Register der Interessenvertreter ein- nationaler Wirtschaftsverbände: Lehren für die zurichten und im Frühjahr 2008 einzuführen. Einbindung der organisierten Zivilgesellschaft Daher ist die Datenbank CONECCS von nun in den europäischen Politikprozess. In: Knodt, an geschlossen.“ (http://ec.europa.eu/ Michèle/Finke, Barbara (Hg.): Europäische Zi- civil_society/coneccs/index.html; 7.12.2007). vilgesellschaft. Konzepte, Akteure, Strategien. 4Keine oder einmalige Teilnahme von Wirt- Wiesbaden: VS Verlag, 365-388. schaftsverbänden an Konsultationen der GD Quittkat, Christine/Finke, Barbara 2008: EU Soziales (in alphabetischer Reihenfolge): Est- Commission Consultation Regime. In: Kohler- land, Finnland, Lettland, Luxemburg, Malta, Koch, Beate/De Bièvre, Dirk/Maloney, William Niederlande, Portugal, Rumänien, Slowakei, (Hg.): Opening EU Governance to Civil Socie- Slowenien, Tschechische Republik und Zypern. ty – Gains and Challenges, CONNEX Report Series, Band 5, 183-222. Roose, Jochen 2003: Die Europäisierung von Literatur Umweltorganisationen. Die Umweltbewegung Broscheid, Andreas/Coen, David 2002: Busi- auf dem langen Weg nach Brüssel. Wiesbaden: ness Interest Representation and European Com- Westdeutscher Verlag. Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008 73

Thorsten Hüller

Demokratisierung der EU durch Online-Konsultationen?

Online-Konsultationen sind ein zentrales, re- den Beitrag von Christine Quittkat in diesem gelmäßig genutztes Instrument der Europäischen Heft). In der Praxis bestehen nebeneinander in- Kommission zur Einbindung nicht-staatlicher formelle Kontakte zwischen einzelnen Vertre- Akteure in europäische Politikprozesse. Sie ver- tern zivilgesellschaftlicher Organisationen und folgt damit zwei Ziele: Die Informationsbasis Kommissionsmitarbeitern, restriktive und nicht ihrer politischen Entscheidungen soll sich durch unbedingt transparente formelle Beteiligungs- erweiterte Einbindung verbessern und die de- verfahren und schließlich offene Online-Kon- mokratische Qualität erhöhen (und beides zu- sultationen. Letztere können wohl für ‚best de- sammen soll die Legitimität der europäischen mocratic practice‘ unter den unterschiedlichen politischen Ordnung steigern). Diese Vorstel- vorhandenen Zugängen für zivilgesellschaftli- lungen gehen auf das Weißbuch über „Europä- che Akteure genommen werden, weil sie sich isches Regieren“ (Kommission 2001) zurück, durch das Offenheitskriterium zumindest dem welches vor allem im Hinblick auf das Demo- Prinzip formaler Chancengleichheit (in der Kon- kratieziel eine Veränderung der Erwartungen der sultation) verschrieben haben und auch eine hin- Kommission an die Leistungen zivilgesellschaft- reichende Transparenz entsprechend behandel- licher Einbindung darstellt (Kohler-Koch/Fin- ter Regelungsgegenstände anzunehmen ist. ke 2007). Inwieweit die Demokratisierungser- Zudem bietet das Internet Partizipationswilli- wartungen berechtigt sind, wird in diesem Auf- gen einen vergleichsweise aufwandsarmen Zu- satz überprüft. gang an. Mit Online-Konsultationen sind hier dieje- Doch wird das selbst gesetzte Ziel der Kom- nigen Angebote zur politischen Beteiligung ge- mission, die Demokratisierung, durch das Ein- meint, die die Kommission über ihre Internet- führen und die Nutzung von offenen Online- seite ,Ihre Stimme in Europa‘ und den entspre- Konsultationen tatsächlich befördert? Bevor chenden Seiten ihrer Generaldirektionen ankün- diese Frage im zweiten Schritt geklärt werden digt. Hier können Bürger, zivilgesellschaftliche kann, braucht es einen Maßstab für Demokra- Organisationen, aber auch staatliche Körper- tisierung. Zunächst geht es also um die Frage: schaften in einem Zeitraum von zumeist min- Woran erkennen wir Demokratie/Demokrati- destens acht Wochen Stellung zu den konkreten sierung? Vorhaben der EU beziehen. Online-Konsultati- onen können sich entweder an bestimmte, von 1 Demokratisierung: der Kommission ausgewählte Adressaten rich- Eine Begriffsbestimmung ten (beschränkte Konsultationen) oder an alle möglicherweise Betroffene (offene Konsultati- Zur Messung demokratischer Performanz schla- onen). ge ich folgenden normativen Demokratiebegriff Online-Konsultationen sind bei weitem nicht vor: Demokratisch ist eine Herrschaftsordnung, das einzige Instrument der Kommission zur Ein- wenn ihre wesentlichen Entscheidungen öffent- bindung zivilgesellschaftlicher Organisationen lich hervorgebracht werden und ein beliebiger (für einen Überblick siehe Fazi/Smith 2006 und Mechanismus den Inhalt der Entscheidungen 74 Thorsten Hüller

egalitär und effektiv an die Mitglieder dieser che relevanten Ansprüche Eingang und Auf- Ordnung zurückbindet. merksamkeit in ein Verfahren erhalten (sachli- Dieser Vorschlag beinhaltet drei normative che Repräsentation) (siehe Hüller 2005: Kap. Prinzipien, die entsprechende Entscheidungen 5). und Ordnungen zu demokratischen machen. Die egalitäre Berücksichtigung im Entschei- Diese normativen Prinzipien sollen nun präzi- dungsakt würde je nach normativer Konzeption siert werden.1 danach fragen, ob sich politische Entscheidun- gen mit der Position des Medianwählers de- cken (aggregative Demokratie) oder ob die Er- 1.1 Politische Gleichheit gebnisse reziprok-verallgemeinerungsfähig sind Spiegeln politische Entscheidungen nur die Prä- (deliberative Demokratie). ferenzen und Ansprüche einzelner oder weni- ger Mitglieder einer Gesellschaft wider, han- 1.2 Wirksamer Bindungsmechanismus delt es sich nicht um eine Demokratie. Stattdes- sen geht es idealer Weise in einer Demokratie Autorisierung, Kontrolle, Verantwortlichkeit, darum, die Präferenzen und Ansprüche aller Responsivität oder Rechenschaft(-spflicht) sind Bürger (oder Betroffener) nach einem an- Begriffe, die darauf zielen, politische Entschei- spruchsvollen Gleichheitskriterium zu berück- dungen und/oder das Handeln der Entschei- sichtigen. In einer ‚aggregativen‘ Demokratie dungsträger an den ‚Willen des Volkes‘ zu bin- kommt jedem Bürger eine gleichgewichtige den.3 Eine solche Bindung kann prospektiv Stimme zu und in einer deliberativen Demokra- durch eine Delegation von Entscheidungsmacht tie sollen gleich gute Argumente unabhängig erfolgen, retrospektiv in der Kontrolle gefällter von ihrer Herkunft gleiche Berücksichtigung Entscheidungen bestehen und sie kann aufge- finden (siehe hierzu Christiano 1996). hoben sein in Akten tatsächlicher kollektiver Grob lassen sich drei anspruchsvolle Vari- Selbstgesetzgebung. Je nach normativem Ideal anten politischer Beteiligungsgleichheit unter- sind nicht alle drei Mechanismen gleichermaßen scheiden: Wenn alle Mitglieder einer bestimm- geeignet, die jeweils gewünschte Bindung zu ten Gruppe sich tatsächlich an einem Entschei- erzeugen.4 Entscheidend ist, dass im Entschei- dungsfindungsprozess beteiligen, besteht eine dungssystem eine wirksame Bindung an die ideale partizipative Gleichheit. Wenn alle Mit- Ansprüche der Bürgerschaft besteht. Gibt es glieder das Recht und die Möglichkeit haben, einen solchen Mechanismus nicht, handelt es sich zu beteiligen und sich eine unter sozialstra- sich bei dem Herrschaftssystem schlicht nicht tifikatorischen Gesichtspunkten unauffällige um eine Demokratie. Teilgruppe der Mitglieder beteiligt, besteht eine ideale politische Chancengleichheit.2 Sobald es 1.3 Publizität in politischen Verfahren um die direkte Beteili- gung von Bürgern geht, sollte untersucht wer- Damit es einen wirksamen Bindungsmechanis- den, ob eine Chancen- oder eine partizipative mus geben kann, müssen die Mitglieder wis- Gleichheit annäherungsweise realisiert wird sen, was ‚die da oben‘ entscheiden. Dafür be- oder nicht. Eine ideale repräsentativ-egalitäre darf es zumindest der Transparenz politischer Beteiligung findet statt, wenn sämtliche sozia- Entscheidungen, d.h. die Bürger müssen die len Merkmale einer Gruppe sich in gleicher Stär- Chance haben, sich ohne großen Aufwand über ke in einem repräsentativen Sample wieder fin- die Inhalte politischer Entscheidungen zu infor- den (soziale Repräsentation) oder wenn sämtli- mieren. Darüber hinaus müssen die wesentli- Demokratisierung der EU durch Online-Konsultationen? 75

chen Verfassungsinhalte sowie Gegenstände etc.) können hier ausgeblendet werden, weil sie und Positionen in den wichtigsten politischen nicht auf EU-Ebene gewährleistet werden müs- Entscheidungen auch tatsächlich allgemein be- sen. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingun- kannt sein (Publizität).5 gen finden ebenfalls indirekt Eingang, weil nicht Diese Liste kann nun mit ganz unterschied- nur die formale Gewährleistung von Rechten lichen Einwänden konfrontiert werden: Sie zu untersuchen ist, sondern auch ihre tatsächli- könnte zu kurz sein, zu lang, falsch besetzt oder che Ausübung. zu unspezifisch sein. Zu lang wäre die Liste, wenn mindestens Zu kurz wäre die Liste, wenn mit Blick auf eines der Prinzipien verzichtbar oder gar unan- den Untersuchungsgegenstand ein Ergebnis gemessen wäre. Die präzise Frage lautet dann: generiert würde, welches sich bei der Verwen- Kann eine demokratische Ordnung als gewähr- dung weiterer demokratierelevanter Prinzipien leistet gelten, wenn wesentliche Verfassungsin- signifikant anders darstellen würde. Es gibt halte nicht unter Beachtung aller drei Prinzipien mindestens zwei Kandidaten für weitere demo- hervorgebracht worden sind? Tatsächlich wird kratierelevante Prinzipien: politische Freiheits- von einigen Autoren ein schmaleres Demokra- rechte und gesellschaftliche Demokratieermög- tieverständnis erwogen. So wird gelegentlich lichungsbedingungen. Spezielle politische Frei- auf die Untersuchung einer egalitären Praxis heitsrechte (z.B. Beteiligungsrechte) sind Teil verzichtet und exklusiv auf formale Bestimmun- des Gleichheitsprinzips und gehen entsprechend gen rekurriert, Publizität als eigenständiges Prin- in die Untersuchung ein. Allgemeine politische zip ausgeblendet oder in elitären Ansätzen das Freiheitsrechte (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit Prinzip der Rechenschaftspflicht bis zur Un- 76 Thorsten Hüller

kenntlichkeit verdünnt. Hier wird gegen diese oretischen Bewertungsprozess einen erheblichen Vorstellungen nur argumentiert, dass unter sonst Unterschied, ob die Bürger sich selbst beteili- gleichen Bedingungen eine egalitäre politische gen oder ob zivilgesellschaftliche Organisatio- Praxis signifikant demokratischer ist als eine nen sich ‚stellvertretend‘ engagieren. Die Unter- inegalitäre usw. suchung der Online-Konsultationen geschieht im Und falsch besetzt wäre die Prinzipienliste, Hinblick auf beide Demokratieverständnisse. wenn die Präzisierungen der Prinzipieninhalte Es wäre ein Fehler, diesen Demokratiebe- unplausibel sind, wenn zum Beispiel statt offe- griff als ‚minimalistisch‘ zu etikettieren, auch ner eindeutige Standards in der Partizipations- wenn er sicher keine umfassende oder hinrei- frage benannt werden könnten oder wenn die chende Bestimmung darstellt. Er ist eng, weil er gemachten Festlegungen (z.B. Publizität statt sich auf den Kern demokratischer Entschei- Transparenz) unplausibel sind. Was Demokra- dungsprozeduren konzentriert, aber er ist tie letztlich ausmacht, ist durchaus umstritten zugleich auch normativ anspruchsvoll, weil er und zwar in mindestens drei Hinsichten: Nor- als regulative Idee präsentiert wird. Publizität, mativ ist vor allem umstritten, welches Mi- politische Gleichheit sowie Rechenschaftspflicht schungsverhältnis aus liberalen und egalitären bzw. Verantwortlichkeit sind Prinzipien, denen Zielen verwirklicht werden sollte, institutionell wirkliche politische Ordnungen mehr oder we- ist unklar, wie dies am besten funktioniert und niger entsprechen können, ohne dabei in der schließlich können die tatsächlichen Realisie- Lage zu sein, sie vollständig zu realisieren. Solch rungsbedingungen (‚Sollen impliziert können!‘) ein idealer Demokratiebegriff ist dann angezeigt, in unterschiedlicher Weise Eingang in die Be- wenn es – wie hier – um eine Messung graduel- wertungsstandards finden. Um nun Einwände ler Veränderungen in der demokratischen Per- der dritten Art zu überwinden, müssen die um- formanz über die Zeit geht und nicht um eine strittenen Positionen in allen drei genannten grobe Verortung politischer Systeme auf einer Dimensionen gegeneinander abgewogen und Achse zwischen demokratischen und nicht-de- dann – soweit es geht – überwunden werden. mokratischen Ordnungen (Abromeit 2004). Eine umfassende, systematische und zufrieden- Veränderungen durch institutionelle Innova- stellende Behandlung dieses Problems gibt es tionen, um deren Bewertung es hier geht, kön- aber bisher nicht.6 nen dann mit Blick auf die unterschiedlichen Der vorgeschlagene Demokratiebegriff ist Kriterien mehr oder weniger positiv oder nega- offen für unterschiedliche Willensbildungside- tiv ausfallen. Eine Demokratisierung findet ein- ale und Partizipationsverständnisse: Es wird deutig statt, wenn über die Zeit hinweg eines erstens nicht entschieden, in welchem Maße die oder mehrere der normativen Kriterien in signi- Präferenzen der Bürger im politischen Prozess fikant höherem Maße realisiert werden und kei- aufgeklärt, gereinigt oder sogar erst entdeckt nes in geringerem Maße. Jede signifikante Ver- werden. Zweitens wird nicht theoretisch festge- änderung, die also pareto-superior ist, zeigt eine legt, wo eine solche Ordnung zwischen den Demokratisierung an. Polen einer vollständig partizipativen und einer Die Demokratisierung kann mit Blick auf vollständig repräsentativen Herrschaftsordnung unterschiedliche Aspekte politische Beteili- genau zu verorten ist. Die normativen Standards gungs- und Entscheidungsprozesse freilich lassen sich auf beide Typen (und damit auch auf höchst unterschiedlich ausfallen. So kann ge- entsprechende institutionelle Settings) anwen- fragt werden, ob eine Demokratisierung der den, müssen dann ggf. nur entsprechend ange- Agendakontrolle, des politischen Verhandlungs- passt werden. Es macht für den demokratiethe- und Beratungsprozesses (im weiten Sinne) und/ Demokratisierung der EU durch Online-Konsultationen? 77

oder des Entscheidungsaktes durch die instituti- Motivation zur Beteiligung haben. Zum einen onelle Innovation gefördert wird – oder eben nicht. wird eine Verbesserung prozeduraler Kompe- tenzen erwartet. Wer sich politisch beteiligt, er- lernt quasi nebenbei relevantes ‚Handwerks- 2 Demokratisierung durch offene zeug‘. Wer regelmäßig mit anderen diskutiert, Online-Konsultationen? wird eher bestimmte Gesprächsnormen und rhe- Offene Online-Konsultationen sind demokra- torische Fähigkeiten ausbilden, als jemand der tietheoretisch kein einfacher Fall. Es ist nämlich dies nicht tut. Wer sich regelmäßig an Wahlen prima facie nicht klar, ob solche Beteiligungen beteiligt, wird im Zuge dieser Aktivitäten das auf eine breite direkte Einbindung der Bürger- Wahlsystem besser durchdringen (und damit zu schaft zielen (partizipative Demokratisierung) nutzen wissen), als jemand der dies nicht tut. oder ob sie vornehmlich auf eine Einbindung Zum anderen werden positive Effekte auf de- repräsentativer (zivilgesellschaftlicher) Organi- mokratierelevante habituelle Dispositionen bzw. sationen zielen (assoziative Demokratisierung). Bürgertugenden erwartet. Genannt werden hier Zwar sind an beide Strategien dieselben norma- u.a. Toleranz, bestimmte Gesprächstugenden tiven Maßstäbe der Demokratie anzulegen, nur sowie Vertrauen gegenüber Mitbürgern und der muss die Bewertung auf die je unterschiedliche politischen Elite. Bedeutung der direkten Einbindung der Bürger Eine Untersuchung assoziativer Demokrati- bzw. der zivilgesellschaftlichen Organisationen sierung muss anders erfolgen. Grob lassen sich Rücksicht nehmen. Wo wir jeweils nach Demo- zwei mögliche Demokratiesierungskanäle un- kratie suchen müssen, soll nun kurz gezeigt terscheiden7: Die intermediären Organisationen werden, bevor dies am Beispiel der Online-Dis- können zum einen über eine Top-down-‚Auf- kussionen entwickelt wird. klärung‘ demokratierelevante Leistungen erbrin- Wie kann mehr Bürgerbeteiligung zu mehr gen. Gesellschaftliche Assoziationen können Demokratie führen? Wenn eine breite direkte weitgehend transparente politische Ordnungen Beteiligung der Bürger in Entscheidungsver- und Entscheidungsprozesse mehr oder weniger fahren erreicht wird, sollten sich erstens mit systematisch beobachten und ihren Mitgliedern Blick auf alle drei Prinzipien (Gleichheit, Publi- und/oder der allgemeinen Öffentlichkeit einen zität, Rechenschaftspflicht) quasi automatisch Bericht über ihre Einschätzung der hervorge- Verbesserungen einstellen. Wenn beispielsweise brachten Leistungen darbieten. Durch ein sol- alle mitentscheiden, ist der Gegenstand automa- ches assoziatives Monitoring würde sich die tisch öffentlich und unter sonst gleichen Um- Publizität der Regierungstätigkeit und in der ständen ist es plausibel zu erwarten, dass mehr Folge auch die Rechenschaftspflicht repräsen- Beteiligung zu erhöhter Publizität und zu einer tativer Institutionen erhöhen. Die Einbindung Egalisierung führen würde. Schließlich kann zivilgesellschaftlicher Organisationen kann zum argumentiert werden, dass eine direkte Beteili- anderen auch von unten nach oben demokrati- gung kompetenter Bürgerschaft demokratische sieren: Assoziationen haben viele Mitglieder und Responsivität und/oder Rechenschaftspflicht deren Präferenzen können in Beteiligungsver- erhöht oder sogar ersetzt (siehe z.B. Pitkin/Shu- fahren klarer in den politischen Entscheidungs- mer 1982/2001: 455, Nagel 1987: 11ff.). prozess eingespeist werden. Damit kann im Zweitens sind aber auch bestimmte demokratie- Entscheidungsprozess eher auf eine Verbreite- relevante Entwicklungseffekte möglich. Die tat- rung der Informationsbasis über normativ re- sächliche politische Beteiligung der Bürger spektable Präferenzen der Betroffenen gehofft könnte positive Effekte auf ihre Befähigung und werden als in Prozessen, in denen staatliche In- 78 Thorsten Hüller

stitutionen allein entscheiden. Dieser Bottom- In politischen Entscheidungsprozessen kann up Mechanismus führe zu einer egalitäreren In- die Gleichheit der Beteiligung für drei Bereiche teressenrepräsentation (Fung 2003: 523ff.) und untersucht werden, für die Möglichkeit die po- bei entsprechender Berücksichtigung zu einer litische Tagesordnung zu besetzen, für die Be- Stärkung demokratischer Rückbindung. Dabei teiligung im politischen (Beratungs-)prozess und sind Informationen oder lokales Wissen nicht für den Einfluss auf die Bestimmung des Er- die einzigen Gegenstände, die ‚von unten nach gebnisses. oben‘ transportiert werden können. Proteste, De- Die Agendakontrolle liegt formal und fak- monstrationen etc. werden ebenfalls durch zi- tisch bei der Kommission. Sie ist nicht Gegen- vilgesellschaftliche Organisationen betrieben stand der Konsultationen. Gleiches gilt für die und sie können als Hinweise an das politische Entscheidungsebene, die ebenfalls der Kommis- Zentrum auf nicht hinreichend bearbeitete Pro- sion vorbehalten bleibt. Und die auf der Ebene bleme und Konflikte gedeutet werden. Bei ent- des Agendasetting wie der Entscheidungsfin- sprechender gesellschaftlicher Basis der Pro- dung ablaufenden politischen Prozesse und Er- teste kann eine Resonanz im Regierungssystem gebnisse sind kaum transparent und erfüllen auch als Demokratiegewinn (im Sinne der Rück- nicht das Publizitätsprinzip. Ob innerhalb der bindung) gedeutet werden. Schließlich können Kommission Responsivitätsgesichtspunkte zivilgesellschaftliche Akteure ihre Beiträge auch faktisch eine Rolle spielen, ist unklar. In den in argumentativer Münze einbringen. Dabei entsprechenden Handlungsanweisungen für transportieren sie dann idealerweise die in ega- Kommissionsmitarbeiter finden sich solche Er- litären, dezentrierten Kommunikationen gewon- wartungen zumindest und in den Folgenabschät- nenen guten Argumente von der Peripherie ins zungen sollen entsprechende handlungsleitende Zentrum des politischen Systems. Sofern diese Gründe zur Auswahl von Themen, Adressaten ‚oben‘ nachvollzogen werden und Resonanz und die (Nicht-)Berücksichtigung ihrer Einga- erzeugen, kann ebenfalls die demokratische ben auch dokumentiert werden. Die existieren- Qualität gefördert werden (Habermas (1992: den Auswertungsdokumente lassen allerdings Kap. VIII). keinen (positiven) Schluss über die Berück- Im Folgenden wird diskutiert, ob sich im sichtigung von Eingaben zu (siehe auch 2.2). partizipativen oder im assoziativen Sinne eine Responsivität bleibt so in jedem Fall vom guten Demokratisierung der EU durch Online-Kon- Willen in der Administration abhängig, weil sie sultationen erwarten lässt. weder erzwungen werden kann, noch im politi- schen Alltag wahrgenommen würde. Der demokratiefunktionale Kern solcher 2.1 Online-Konsultationen als partizi- Konsultationsverfahren liegt demnach in der pative Demokratisierung? Beratungsdimension. Diskurse unter den Be- Durch das Prinzip des offenen Zugangs auch teiligten können schon deshalb ausgeschlossen für ‚einfache‘ Bürger kann man die Online-Kon- werden, weil die offenen Konsultationsprozes- sultationen als ein Modell partizipativer Demo- se keinen Forumscharakter haben. Die Beiträge kratie beschreiben bzw. untersuchen. Entspre- der Beteiligten werden – von wenigen Ausnah- chend kann mit Blick auf die in Abschnitt 1 men abgesehen – erst nach Abschluss der Ver- entwickelten Kriterien vor allem gefragt wer- fahren transparent gemacht. Diese nicht vorhan- den, ob eine breite egalitäre Inklusion im Sinne dene sofortige Publizierung der Beiträge ist un- partizipativer oder aber politischer Chancen- ter Anwendung eines deliberativen Willensbil- gleichheit stattfindet. dungsideals fatal, nicht aber unter Anwendung Demokratisierung der EU durch Online-Konsultationen? 79

eines ‚aggregativen‘. Schließlich können Ak- allermeisten Bürger bekommen von den aller- teure nur schwer auf Positionen und Argumen- meisten Konsultationsprozessen, kurz gesagt, te eingehen, die sie im Laufe des Beteiligungs- gar nichts mit. verfahrens gar nicht präsentiert bekommen, son- Der Beteiligungsaufwand ist etwa im Ver- dern erst nach dessen Abschluss. gleich zu Volksabstimmungen recht hoch. Um So stellt sich die Gleichheitsfrage in der Be- selbst einen Beitrag zu leisten, muss sich der ratungsdimension nur im Hinblick auf die ega- Bürger eben nicht nur eine Position zu einem litäre Inklusion gegebener ‚Präferenzen‘. Die Sachverhalt bilden, diese muss auch formuliert formale Offenheit konnte dabei bisher in kei- und im Rahmen der angebotenen Beteiligungs- nem der durchgeführten Verfahren auch nur instrumente der Kommission artikuliert werden. annährend eine partizipative oder auch nur eine Dazu ist die große Mehrheit der Bürger schlicht chancengleiche auffällige Beteiligung provozie- nicht bereit (aus welchen Gründen auch immer). ren. Persson (2006) zeigt dies für den REACH- Der subjektiv erwartbare Einfluss für Bür- Fall, der noch die höchste Beteiligung hervor- ger in Online-Konsultationen ist ebenfalls ge- gerufen hat (siehe auch den Beitrag von Quitt- ring. Zum einen können Bürger hier nur zu von kat in diesem Heft). der Kommission vorgegebenen Themen Stel- In der kausalen Herangehensweise zeigt sich, lung beziehen. Dadurch ist ein Einfluss auf die warum Online-Konsultationen eine vergleichs- Besetzung der Agenda praktisch ausgeschlos- weise schwache Demokratisierung erwarten las- sen. Zudem sind der Kommission keinerlei sen: Bestehen wirkliche Einflusschancen für die Pflichten für den Umgang mit den Beiträgen in Bürger? Werden für den ‚einfachen‘ Bürger in- Konsultationsverfahren auferlegt. Damit bleibt teressante Themen behandelt? Wie hoch ist der ihr ein großer Spielraum im Umgang mit unter- Aufwand (prozedurale Kompetenzen und all- schiedlichen Beiträgen. Das kann ein (generali- gemeine Fähigkeiten) für eine effektive Teilnah- siertes) Misstrauen befördern, das ebenfalls me? hemmend auf die Motivation wirkt, sich bei an- Das Interesse der Bürger, zumindest an ein- spruchsvollen Akten politisch zu beteiligen. zelnen der behandelten Themen, ist (nach deren Es mag Bedingungen geben, die eine De- Selbsteinschätzung) recht hoch. Trotzdem zei- mokratisierung auf europäischer Ebene grund- gen empirische Untersuchungen, dass ihre akti- sätzlich schwieriger machen als eine im Natio- ve Beteiligung an Online-Konsultationen nied- nalstaat. Die hier genannten Defizite gehören rig ausfällt, das Mittel selbst öffentlich kaum nicht dazu. Sie hängen schlicht an der Qualität bekannt ist und ihre Beiträge und Ergebnisse der angebotenen Verfahren. Trotzdem lautet das kaum öffentliche Resonanz erzeugen. Woran Fazit: Eine signifikante partizipative Demokra- liegt das? Von allen Massenkommunikations- tisierung findet durch Online-Konsultationen mitteln ist das Internet allein durch die damit nicht statt. verbundenen technischen Ansprüche ein Medi- um, das politische Ungleichheit provoziert. 2.2 Online-Konsultationen als Nicht einmal die Hälfte der Europäer nutzt es. assoziative Demokratisierung? Zur Informationsbeschaffung über die Politik der EU wird es, auch im Vergleich zu anderen Die (erwartbare) partizipativ-demokratische Massenkommunikationsmedien, nur spärlich Performanz von offenen Online-Konsultatio- genutzt. Schon durch das Medium der Online- nen ist äußerst beschränkt. Dasselbe Verfahren Konsultationen allein kann nur ein kleiner Teil kann aber auch unter Anwendung des stärker der aktivierbaren Bürger erreicht werden. Die repräsentativen Verständnisses einer assoziati- 80 Thorsten Hüller

ven Demokratisierung getestet werden. Aber Empirisch ist die Frage aber nicht hinreichend auch dann muss zunächst einmal festgestellt geklärt. werden, dass mit Blick auf eine Demokratisie- Die Transparenz dürfte für ein Modell asso- rung der Agendakontrolle und der Entschei- ziativer Demokratisierung aber hinreichend sein. dungsfindung die Defizite von Online-Konsul- Jedenfalls bestehen keine strukturellen Hinder- tationen strukturelle sind. Hier wird es keine nisse für Assoziationen jeglicher Art, um für sie eigenständigen, signifikanten Demokratisierun- relevante Regelungsentwürfe der EU zur Kennt- gen geben. nis zu nehmen und zu kommentieren. Im Hinblick auf die Beratungsdimension Schließlich bleibt die Frage, ob und wie die kann gefragt werden, ob in Online-Konsultati- Kommission sich für den Umgang mit Konsul- onen unterschiedliche Positionen und damit der tationsbeiträgen zu rechtfertigen hat. gegebene Argumentationshaushalt zu einem Wir können zwei Sorten von Rechenschafts- Thema hinreichend repräsentiert wird und ob pflichten unterscheiden, eine starke oder sank- darüber eine Art repräsentativer Gleichheit her- tionsbewährte materiale Rechenschaftspflicht gestellt wird. Das ist weitgehend eine empiri- und eine weiche rein symbolische Rechen- sche Frage, zu der bisher keine systematischen schaftspflicht. Eine Rechenschaftspflicht der Erkenntnisse vorliegen. Bisherige Untersu- ersten Art könnte es geben (z.B. könnten Ge- chungsergebnisse sind wenig optimistisch. Sie richte auf Antrag der Beteiligten prüfen, ob be- zeigen vor allem eine insgesamt geringe Beteili- stimmte Beiträge hinreichend gewürdigt wur- gung, in der sich keineswegs die Breite zivilge- den), gibt es aber nicht. Eine symbolische Re- sellschaftlicher Positionen widerspiegelt (Koh- chenschaftspflicht besteht und diese muss in ler-Koch 2003: 207f; Persson 2006). Folgenabschätzungen auch transparent gemacht Diese Untersuchungen sind aber insofern werden. Aber eine gerade veröffentlichte Eva- beschränkt, als dass sie überhaupt nur die Be- luation dieser Folgenabschätzungen zeigt auch, ziehungen zwischen Vertretern zivilgesellschaft- dass die Teilnehmer gerade nicht sehen können, licher Organisationen und der Kommission in ob und wie ihr Input in den Konsultationspro- den Blick genommen haben. Bei der assoziati- zessen beachtet wird (Evaluation Partnership ven Demokratisierung gilt es aber, einen ‚Dop- 2007: 77f.). pelschritt‘ in den Blick zu nehmen, dessen an- derer Teil auf die Prozesse zwischen den betei- 3 Schluss ligten Vertretern zivilgesellschaftlicher Organi- sationen und ihrer Mitgliedschaft und/oder ei- Findet also durch die Anwendung des Instru- ner breiteren Öffentlichkeit fokussiert. Und ge- ments offener Online-Konsultationen eine De- nau in diesem Bereich scheinen die eigentlichen mokratisierung der EU statt? Davon kann, so Restriktionen für die Demokratisierung der EU ist argumentiert worden, insgesamt kaum die zu lauern. In der breit wahrgenommenen Öf- Rede sein.8 Mit Blick auf die Agendakontrolle fentlichkeit kommen die Online-Konsultationen und den Entscheidungsakt politischer Prozesse nicht vor. Sie werden schlicht nicht wahrge- ist eine solche Demokratisierung nicht einmal nommen und ihre Themen und Konflikte wer- beabsichtigt. So bleibt allein die Beratungsdi- den von Assoziationen auch nicht dorthin trans- mension politischer Prozesse für Demokrati- portiert. Und dass innerhalb der Assoziationen sierungshoffnungen. Hier kann erwartet wer- breite Meinungs- und Willensbildungsprozes- den, dass diese Konsultationen zumindest Raum se zu den Themen der Online-Konsultationen dafür schaffen, dass bestehende Ansprüche und stattfinden, ist ebenfalls nicht zu vermuten. Sichtweisen in den politischen Prozess einge- Demokratisierung der EU durch Online-Konsultationen? 81

speist werden können. Die Beteiligung ist 3Zu unterschiedlichen Dimensionen und allerdings in hohem Maße ungleich und wird Operationalisierungsversuchen des ‚Kontroll‘- dies auch dauerhaft bleiben. Und der Gesamt- Begriffs in der Demokratietheorie siehe Lauth prozess findet kaum breitere Resonanz. Kurz (2000). gesagt: Von offenen Online-Konsultationen kann 4Ein aggregatives Willensbildungsideal be- überhaupt nur eine partielle Demokratisierung tont in der Regel die prospektive Autorisierung ausgehen und selbst die fällt noch höchst be- durch exogene Präferenzen in Wahlen. Sie kann schränkt aus. aber auch durch faktische Responsivität politi- Auf den ersten Blick ließe sich gegen diese scher Entscheidungsträger realisiert werden, Bewertung vielleicht erwidern, dass die Demo- genauso wie durch eine spätere Korrektur durch kratisierungsmöglichkeit der EU sowieso struk- den Demos (sei es durch Abwahl oder entspre- turell beschränkt sei und deshalb das Ergebnis chende Referenden). In einer deliberativen Kon- nicht überrascht. Dagegen zeigt der Fall der zeption geht es hingegen stärker um eine Re- Online-Konsultationen aber auch deutlich, dass sponsivität gegenüber allen relevanten Ansprü- die Demokratisierungsbilanz der EU vor allem chen und Gründen. Entsprechend stehen hier durch ‚Selbstbeschränkung‘ bei den Beteili- zumeist die Beratungsprozesse im Mittelpunkt. gungsmöglichkeiten unnötige Demokratiebe- Aber auch dies ist keineswegs exklusiv zu ver- schränkungen in Kauf nimmt. Anders formu- stehen (siehe Gutmann/Thompson 1996: Kap. liert: Selbst unter Berücksichtigung der be- 4). schränkten Demokratisierungsmöglichkeiten 5Zu der Unterscheidung von Transparenz wäre deutlich mehr Demokratie möglich – mit und Publizität und deren Relevanz für unter- Online-Konsultationen aber auch durch andere, schiedliche Demokratiekonzeptionen siehe Hül- nicht genutzte Beteiligungsinstrumente. ler (2007b). 6Ein Beispiel eines solchen Versöhnungs- Dr. Thorsten Hüller ist Politikwissen- versuchs konkurrierender normativer Konzep- schaftler und arbeitet am Mannheimer Zen- tionen findet sich in Hüller (2005: Teil I), für trum für Europäische Sozialforschung der das Verhältnis normativer und institutioneller Universität Mannheim sowie am Sonderfor- Gesichtspunkte siehe Fung (2007), einige Über- schungsbereich 597 ‚Staatlichkeit im Wandel‘ legungen zur Berücksichtigung des europäi- an der Universität Bremen, E-Mail: schen Kontextes finden sich in Hüller (2007a) [email protected]. und Hüller/Kohler-Koch (2008). 7Für eine ausführlichere Darstellung und eine stärkere Anbindung an die EU siehe Hül- Anmerkungen ler/Kohler-Koch (2008). 1Eine ausführlichere Diskussion dieser Prin- 8Im Rahmen des Aufsatzes wird nur das zipien findet sich in Hüller (2005: Kap. 3). Er- Demokratisierungspotential offener Online- wägungen darüber, warum sie für die EU ange- Konsultationen diskutiert. Einleitend ist wendet werden sollten, in Hüller (2007a). allerdings auch auf ein weiteres Ziel der Kom- 2Weniger kompliziert ausgedrückt: Alle, die mission (die Gewinnung von Informationen sich beteiligen wollen, haben nicht nur das for- bzw. Expertise) hingewiesen worden. Die ent- male Recht dazu, sondern werden auch nicht sprechende Leistungsfähigkeit dieses Instru- durch strukturelle soziale Bedingungen (gerin- ments muss anders geprüft werden. Ich ver- ges Einkommen, Bildungsarmut etc.) faktisch mute, dass die Kommission hierfür aber daran gehindert. sowieso vor allem auf andere Foren, insbe- 82 Thorsten Hüller

sondere ihre sog. Expertengruppen setzt. In- Hüller, Thorsten 2007b: Assessing EU Stra- sofern wären offene Online-Konsultationen tegies for Publicity. In: Journal of European nicht der erste Ort, an dem nach der epistemi- Public Policy, Jg. 14, Heft 4, 563-581. schen Qualität europäischer Beteiligungspro- Hüller, Thorsten/Kohler-Koch, Beate 2008: zesse zu suchen ist. Assessing the Democratic Value of Civil Socie- ty Engagement in the European Union. In: Koh- ler-Koch, Beate/De Bièvre, Dirk/Maloney, Wil- Literatur liam (Hg.): Opening EU-Governance to Civil Abromeit, Heidrun 2004: Die Messbarkeit Society. Gains and Challenges. Mannheim: von Demokratie: Zur Relevanz des Kontexts. CONNEX Report Series Nr. 5, 145-181. In: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 45, Heft Kohler-Koch, Beate 2003: Auf der Suche 1, 73-93. nach einer besseren Politik: Offene Türen für Christiano, Thomas 1996: Deliberative die Zivilgesellschaft in Brüssel. In: Chardon, Equality and Democratic Order. In: Shapiro, Ian/ Matthias et al. (Hg.): Regieren unter neuen He- Hardin, Russell (Hg.): Political Order: NOMOS rausforderungen. Baden-Baden: Nomos, 199- XXXVII. New York/London: New York Uni- 213. versity Press, 251-287. Kohler-Koch, Beate/Finke, Barbara 2007: Evaluation Partnership 2007: Evaluation of The Institutional Shaping of EU-Society Relati- the Commission’s Impact Assessment System. ons. A Contribution to Democracy via Partici- Final Report. London. pation? In: Journal of Civil Society, Jg. 3, Heft Fazi, Elodie/Smith, Jeremy 2006: Civil Dia- 3, 205-221. logue: Making it Work Better. Brüssel: Kommission der Europäischen Gemein- Act4Europe. schaften 2001: Europäisches Regieren. Ein Fung, Archon 2003: Associations and De- Weißbuch, KOM (2001) 428 endg. 25.7.2001 mocracy: Between Theories, Hopes, and Reali- Brüssel. ties. In: Annual Review of Sociology, Jg. 29, Lauth, Hans-Joachim 2000: Die Kontroll- Heft 1, 515-539. dimension in der empirischen Demokratiemes- Fung, Archon 2007: Democratic Theory and sung. In: Lauth, Hans-Joachim/Pickel, Gert/ Political Science: A Pragmatic Method of Welzel, Christian (Hg.): Demokratiemessung. Constructive Engagement. In: American Politi- Konzepte und Befunde im internationalen Ver- cal Science Review, Jg. 101, Heft 3, 443-458. gleich. Wiesbaden: VS, 49-72. Gutmann, Amy/Thompson, Dennis 1996: Nagel, Jack 1987: Participation. Lebanon, Democracy and Disagreement. Cambridge, Indiana: Prentice Hall. MA/London: Harvard University Press. Persson, Thomas 2006: Democratising Eu- Habermas, Jürgen 1992: Faktizität und ropean Chemicals Policy: Do Online Consulta- Geltung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. tions Work in Favour of Civil Society Organi- Hüller, Thorsten 2005: Deliberative Demo- sations? Paper presented at the Editorial Mee- kratie: Normen, Probleme und Institutionalisie- ting „The Institutional Shaping of EU-Society rungsformen. Münster: Lit. Relations“, Universität Mannheim. Hüller, Thorsten 2007a: Adversary or ,De- Pitkin, Hannah/Shumer, Sara 1982/2001: politicized‘ Institution? Democratizing the Con- On Participation. In: Blaug, Ricardo/Schwarz- stitutional Convention. RECON Working Pa- mantel, John (Hg.): Democracy. A Reader. New per 07/2007. York: Columbia University Press, 452-457. Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008 83

Kathrin Glastra

Public Affairs Management in Brüssel Ein Praxisbericht am Beispiel des Anti-Dumping Verfahrens für Energiesparlampen

Kritiker des EU-Lobbyings zeichnen häufig das EU-27 und als Gesetzgeber in vielen europä- Bild eines durch und durch korrupten Systems, isch regulierten Politikfeldern für beinahe eine das durch prall gefüllte Geldkoffer, Schlapphü- halbe Milliarde Europäer Dreh- und Angelpunkt te, dunkle Hinterzimmer und die Vermittlung der politischen Entscheidungsfindung. Um an von Lustreisen gekennzeichnet ist. Ohne Zwei- diesem komplexen Prozess beteiligt zu sein, ihn fel gibt es derartige Auswüchse auch immer zu kontrollieren und zu beeinflussen, ist ein wieder in Brüssel. Als Praktikerin mit mehrjäh- gutes Verständnis der Institutionen und Kom- riger Erfahrung im Brüsseler Public-Affairs- petenzfelder vonnöten, aber auch eine Präsenz Management will ich im folgenden Beitrag zur vor Ort – sei es durch ein eigenes Büro, einen Korrektur dieses Bildes beitragen, indem ich Verband oder eine Interessenvermittlungs- das Brüsseler Tagesgeschäft anhand eines Fall- agentur. beispiels näher beschreibe. Das hat allerdings auch dazu geführt, dass Auf der anderen Seite des Atlantiks gehören die Zahl der Interessenvertreter in Brüssel Lobbying, Public Affairs, Advocacy oder sim- sprunghaft angestiegen ist, um auf den wach- pel ausgedrückt: die Vertretung und Vermittlung senden – vermeintlichen oder reellen – Bedarf von Interessen zum politischen und regulatori- zu reagieren, der durch neue Regulierungsfel- schen Arbeitsalltag. Davon sind die Europäer in der und neue Mitgliedsländer (wie seit 2007 ihrem Selbstverständnis noch weit entfernt: Rumänien und Bulgarien) entsteht. Zu den Inte- Auch über 25 Jahre nach der Einrichtung der ressenvermittlern zählt man in Brüssel nicht nur ersten Interessenvertretungen in Brüssel1 bleibt Ländervertretungen und Wirtschaftsverbände, es ein Thema mit Beigeschmack, der durch Pres- wie wir sie aus Deutschland kennen, sondern seberichte über Korruptionsskandale und Vet- auch Firmenrepräsentanzen großer Konzerne ternwirtschaft noch verstärkt wird. Allerdings (also „In-House-Lobbyisten“). BMW oder Sie- zeigt die Praxis ein anderes Bild: Die überwälti- mens haben beispielsweise längst den Weg nach gende Mehrheit der in der EU-Hauptstadt an- Brüssel gefunden, ebenso Umweltorganisatio- sässigen Lobbyisten hält sich an die geschrie- nen wie Greenpeace und Verbraucherschutzor- benen und ungeschriebenen Regeln des Public ganisationen wie die BEUC. Dazu gesellen sich Affairs Management und leistet mit ihrer Arbeit law firms wie Freshfields, große und kleine einen Beitrag zur demokratischen Meinungs- Politikberatungsunternehmen wie Burson Mars- bildung. teller und EU.select runden das Bild ab.2 Was Wenngleich Public Affairs Management in charakterisiert deren Arbeit konkret? Und wie Brüssel mit anderen Ansätzen, Methoden und gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen die- Mitteln arbeitet als in den USA oder auch in sen Akteuren und den Vertretern der Europäi- den einzelnen europäischen Hauptstädten, so schen Institutionen? Welche Interessen vertre- gehört diese Disziplin doch mehr und mehr zum ten die oben genannten Vermittler und aus wel- Alltag europäischen Regierens. Und das ist auch chem Eigeninteresse (oder auch Fremdinteres- gut so – schließlich ist Brüssel als Zentrum der se) handeln sie? Und schließlich: Welche ge- 84 Kathrin Glastra

schriebenen und ungeschriebenen Regeln gel- prüfung von ausgewählten Themen hinsicht- ten für das Miteinander? lich neuer Entwicklungen) und Early-Warning- Funktionen (Frühwarnfunktion, z.B. frühzeiti- ge Information über die anstehende Erarbeitung 1 Public Affairs Management in der eines Weißbuchs als erster Schritt hin zu einer Praxis neuen Gesetzgebung) über konkretes Issue- Schätzungsweise 80 % der europäischen Wirt- Management (also spezifische Veranschauli- schaftsgesetzgebung werden in Brüssel be- chung und Bearbeitung eines Problemfelds und schlossen (Maastrichturteil des Bundesverfas- möglicher Lösungsansätze) bis hin zur aktiven sungsgerichts BVerfGE 89/155), somit ist die- Interessenvermittlung an die europäischen Ent- se Arena für wirtschaftliche Interessen nicht zu scheider. Abhängig von der Expertise und je vernachlässigen. Aber nicht nur für Wirtschafts- nach Auftrag kann eine Agentur als one-stop- verbände oder Nichtregierungsorganisationen shop für ein Unternehmen tätig sein und Anträ- (NRO) ist der Austausch mit der EU über neue ge für Fördermittel begleiten, die Positionierung Gesetzesvorhaben unerlässlich, auch die euro- zu einem aktuellen Gesetzesvorhaben betreiben päischen Institutionen sind auf den Input aus und die Netzwerkpflege für das Unternehmen der „realen“ Welt mehr als angewiesen und er- durchführen. öffnen immer mehr Partizipationsmöglichkei- Was charakterisiert aber konkret PAM und ten. Ausdruck dieses verstärkten Austausches welche Grundvoraussetzungen müssen gege- ist beispielsweise die steigende Zahl von soge- ben sein? Als informelle Regeln für den Erfolg nannten stakeholder consultations oder aber von europäischen Lobbyings gelten gemeinhin Folgenabschätzungen (impact assessments), die (Michalowitz 2007: 76): die Auswirkungen von geplanten Gesetzen stär- • Europäisierte Argumentation ker untersuchen und in die Erarbeitung dersel- • Repräsentativität ben mit einfließen lassen. • Konstruktive Argumentation Dieser Austausch ist systemimmanenter • Bescheidenheit im Auftreten Kern des Prozesses: Gestalter und Betroffene • Schaffung von Unverzichtbarkeit von gesetzlichen Rahmenbedingungen organi- • Aufbau von Reputation sieren sich in allen Phasen im Prozess und han- • Flexibilität deln dabei mit Wissen, um das Ergebnis der • Fähigkeit, Schlüsselpersonen zu identifizie- Legislativinitiative hinsichtlich Nutzwert und ren Praktikabilität zu prüfen und zu optimieren. • Netzwerkfähigkeiten Die Tätigkeiten von Public Affairs Agentu- • Gutes Timing ren sind im Gegensatz zu Anwaltskanzleien und • Mehrsprachigkeit und interkulturelles Ver- NRO mit einem deutlichen wirtschaftspoliti- ständnis. schen Akzent ausgestattet. Dabei können Agen- Dazu kommen als conditio sine qua non eine turen sowohl ergänzend und unterstützend für detaillierte Kenntnis der EU, also ihrer Instituti- ein bestimmtes Themengebiet, zum Beispiel onen, Prozesse und Positionen sowie der aktu- Umweltpolitik, aktiv sein, als auch die Gesamt- ellen kurz-, mittel- und langfristigen politischen vertretung eines Unternehmens oder Verbandes Agenda. Sind diese Grundvoraussetzungen ge- in Brüssel wahrnehmen. Die Tätigkeitspalette geben, so entwickelt sich das praktische PAM von Public Affairs Agenturen erstreckt sich ent- üblicherweise wie folgt: Nach der übergeord- sprechend von reinen Monitoring-Aufgaben neten Zielsetzung sind drei strategische Schritte (also die regelmäßige Überwachung und Über- unabdingbar: Die Analyse des Status Quo (whe- Public Affairs Management in Brüssel 85

re do we stand?), die Entwicklung einer zielge- Hindernis 1: Der zuständige Handelskom- richteten Strategie (where do we want to go?) missar verfolgt eine massive Marktliberalisie- und schließlich (die Empfehlung für) die Um- rung und weitestgehende Begrenzung der han- setzung (how do we get there?) anhand eines delspolitischen Schutzinstrumente. Ausgangs- maßgeschneiderten Maßnahmen-Mix, bei dem punkt hierfür ist die im Dezember 2006 begon- all jene PAM-Instrumente zum Einsatz kom- nene Diskussion zur neuen handelspolitischen men, die Aussicht auf Erfolg versprechen. Ausrichtung der EU („Global Europe. Green Die folgende Grafik veranschaulicht, wie der Paper on Trade Defence Instruments“ vom Werkzeugkasten einer Public Affairs Agentur 6.12.2006), welche in einer stakeholder con- aussehen kann, aus dem der sogenannte Maß- sultation starke Kontroversen hervorgerufen nahmen-Mix ausgewählt wird. hatte. Die ursprünglich für Herbst 2007 ange-

Abb. 1: Werkzeugkasten einer Brüssler PAM-Agentur

Quelle: Website EU.select

2 Praktisches Beispiel: AD-Fall kündigte Unterbreitung eines Legislativvor- Energiesparlampen schlags durch den britischen EU-Handelskom- missar Peter Mandelson ist aufgrund der anhal- Anhand eines praktischen Beispiels lässt sich tenden Diskussion innerhalb der Kommission, diese Vorgehensweise verdeutlichen. Die Aus- aber auch zwischen den Mitgliedsstaaten, gangssituation stellt sich nach der Status-Quo- zunächst auf Anfang 2008 verschoben und seit Analyse wie folgt dar: Eine Firma produziert dem 11. Januar 2008 (Pressekonferenz mit Pe- als europäischer Marktführer Energiesparlam- ter Mandelson) vorübergehend auf Eis gelegt pen und gerät dabei immer stärker unter Druck worden. Gut informierte Quellen sprechen durch asiatische Dumping-Importe. In einem davon, dass die französische Ratspräsident- europäischen Anti-Dumping(AD)-Verfahren, schaft im zweiten Halbjahr 2008 das gesamte welches über die fortlaufende Verhängung von Paket kippen wird. sogenannten AD-Zöllen auf die importierten Hindernis 2: Weitere europäische Produzen- Dumping-Produkte und somit der Wiederher- ten formieren sich und unterstützen aufgrund stellung einer fairen Wettbewerbssituation ent- eigener Investitionen in Asien die Fortführung scheidet, stellen sich unter anderem die folgen- der AD-Zölle nicht weiter, sondern setzen sich den Hindernisse in den Weg: stark für deren Aufhebung ein (damit ihre in 86 Kathrin Glastra

Asien produzierten Produkte ohne Strafzölle Gemeinschaftsinteresse) und einer politischen eingeführt werden können). Argumentation zu unterscheiden, welche auch Hindernis 3: Umwelt- und Verbraucher- auf weitere Aspekte wie Umwelt- und Verbrau- schutzorganisationen wollen den europäischen cherschutz, Arbeitsplätze, globale Kooperation Bürgern den Zugang zu günstigen Energiespar- etc. eingehen kann. lampen aus dem asiatischen Ausland (trotz ne- Um in einem nächsten Schritt coalition-buil- gativer CO2-Bilanz durch lange Transportwege ding betreiben zu können, muss zunächst ein und Qualitätsunterschiede bei den Lampen) Überblick über Unterstützer und Gegner ge- nicht verwehren. wonnen werden, die im PAM-Jargon als „Fri- Hindernis 4: Der Prozess muss gemäß eu- ends & Foes“ bezeichnet werden. Wie positio- ropäischen Verfahrensrechts innerhalb kur- nieren sich andere und mit welcher Argumenta- zer Zeit abgeschlossen sein, nämlich inner- tion? Entsprechen die vorgetragenen Fakten der halb von zwölf Monaten, in Ausnahmefällen Realität? Existieren hidden agendas, also se- einmalig verlängerbar um drei Monate. Im vor- kundäre Ursachen für Positionen, die erst auf liegenden Fall war das Verfahren im Juli 2006 den zweiten oder dritten Blick erkennbar sind, eröffnet worden und musste nach einer Ver- und wie stabil und wichtig sind diese? Wo kön- längerung im Sommer 2007 bis Oktober 2007 nen möglicherweise Allianzen und Koalitionen mit einer Entscheidung im Amtsblatt veröf- geschmiedet werden, um die eigene Argumen- fentlicht sein. tation mit mehr Repräsentativität und weiteren Vor dem Hintergrund dieser spezifischen Fakten zu verstärken? Problemlage entwickelt eine Public Affairs Sobald Inhalt und weitere Akteure klar be- Agentur gemeinsam mit dem unter Druck gera- stimmt sind, geht es um die Positionierung ge- tenen europäischen Produzenten eine Strategie genüber den europäischen Institutionen. In die- zur Aufrechterhaltung der AD-Zölle. Zu An- sem Fall ist die Europäische Kommission An- fang wird dazu eine Art politische Standortbe- sprechpartner Nummer eins, da sie über die stimmung per Status-Quo-Analyse durchge- Verhängung von AD-Zöllen entscheidet. führt, die in der PAM-Sprache auch political Allerdings geschieht dies im engen Zusammen- audit genannt wird. Dabei muss das Problem- spiel mit den Mitgliedsstaaten, die in einem be- feld und die Vielschichtigkeit der Herausforde- ratenden Ausschuss, dem Anti-Dumping-Ko- rungen konkret erfasst werden. Ein Bestandteil mitee, ihre Empfehlung abgeben. Für die Inter- davon ist beispielsweise das Formulieren und essenvermittlung gilt es daher, die EU-Akteure Bewusstmachen der oben genannten Hinder- und die Prozesse (also Fristen, Sitzungstermi- nisse. Wichtig für die Vermittlung ist im ersten ne, Vorlagen und gesetzliche Vorgaben) gut zu Schritt die klare und verständliche Beschreibung kennen und entscheidungskritische Zeitpunkte des zur Diskussion stehenden Themas. Dies zu verinnerlichen. Selbst das beste Argumenta- geschieht durch die Aufbereitung von Hinter- tionspapier ist sinnlos, wenn man die falsche grundinformationen, praktische Darstellungen Person anspricht, den rechten Zeitpunkt ver- (beispielsweise eine Energiesparlampe in Ein- passt und zu früh oder zu spät das Gespräch zelteilen) und schließlich der Erstellung einer sucht, Stil und Format der Argumentation nicht überzeugenden Argumentation in Form eines angemessen sind und/oder über kein Verständ- Positionspapiers. Im konkreten AD-Fall gilt es nis für das Gegenüber und das, was er/sie be- zudem zwischen einer juristisch-verfahrenstech- nötigt, verfügt. Das Wann, Wie und Mit-Wem nischen Argumentation, welche konkrete Krite- sind entscheidend für den Erfolg oder Misser- rien abzuarbeiten hat (wie zum Beispiel das folg von Lobbying. Public Affairs Management in Brüssel 87

Im vorliegenden Fall war es beispielsweise so auf ein stabiles Netzwerk zurückgreifen zu von Bedeutung, die europäischen Produktions- können. A und O guter Lobbyisten-Arbeit in und Vertriebsstandorte für Energiesparlampen Brüssel ist also die permanente Pflege beste- zu recherchieren und die nationalen Entschei- hender und der Aufbau neuer Kontakte. Dabei dungsträger entsprechend zu informieren. Das kommt es weniger auf schicke Visitenkarten oder Tauschen und die Weitergabe von Positionen das permanente Versenden von Newslettern, und Informationen funktioniert nach dem sondern viel mehr auf Zuverlässigkeit, gezielte Schneeballprinzip und kann oft eine ungeahnte Informationen und Integrität an. Wie in jedem Eigendynamik entwickeln. In unserem Beispiel anderen Lebensbereich auch, wird man daran hatte das verschiedene Reaktionen zur Folge: gemessen, ob man ehrlich ist, Absprachen ein- Einige Mitgliedsstaaten sahen die europäische hält (also versprochene Informationen zusen- Produktion nicht in Gefahr, da sie schließlich det) und vertrauenswürdig ist (also z.B. Ver- noch präsent sei und zudem Billigimporte aus trauliches auch wirklich so behandelt). Asien die erhöhte Nachfrage in Europa deck- Die Ausgangssituation im Fall der Energie- ten, was die europäische Produktion nicht zu sparlampen war schwierig und noch dazu hoch leisten vermöge. Andere Mitgliedsstaaten hin- politisch. Eine vorschnelle Entscheidung konn- gegen sahen die Notwendigkeit, ihre Produkti- te durch gezieltes und informierendes Lobbying on und Arbeitsplätze aufrecht zu erhalten und verhindert werden, welches innerhalb kürzester plädierten entsprechend für fairen Wettbewerb Zeit in Brüssel und in beinahe zwanzig Mit- und einen europäischen Schutz vor Billigim- gliedsstaaten in Form von persönlichen Gesprä- porten. Um in Europa für den europäischen chen mit Fachleuten und Entscheidungsträgern Markt produzieren zu können, müssten die durchgeführt wurde. Die übrigen Mitgliedsstaa- Weichen entsprechend gestellt werden. ten sind wie alle anderen auch schriftlich und/ Nicht zu unterschätzen sind aber auch die oder telefonisch informiert worden, und hatten neutralen Akteure (beispielsweise Mitgliedsstaa- im Vorfeld bereits deutlich zu erkennen gege- ten ohne Produktion, also ohne nahe liegendes ben, dass sie einer Verlängerung der Zölle nicht nationales Interesse), die sich dem klaren Sche- zustimmen würden. Das hatte zur Folge, dass ma nicht ohne weiteres zuordnen lassen und die dem Vorschlag der federführenden Generaldi- möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt rektion in der Interservice Consultation nicht Stellung beziehen. Ein permanentes Monitoring zugestimmt wurde, die Mitgliedsstaaten im be- dieser Positionen durch Gespräche mit Entschei- ratenden Ausschuss schließlich die Zustimmung dungsträgern in den Institutionen und den Mit- verweigerten und eine Diskussion auf Kabi- gliedsstaaten ist daher unabdingbar. netts- und letztlich Kommissarsebene stattfand, Wichtige EU-Akteure sind die decision- die einem Kompromiss den Weg ebnete. Im maker, also die letztendlich Verantwortlichen Spannungsfeld der globalen Beziehungen zu für eine Entscheidung, aber fast noch mehr die Asien, dem EU-internen Streit um die handels- decision-shaper, also diejenigen, die Entschei- politischen Schutzinstrumente, der von der EU dungen vorbereiten und abwägen. Einen EU- selbst forcierten Lissabon-Agenda mit dem Kommissar zu „kennen“ reicht in den meisten Schwerpunkt „Growth and Jobs“ und vor dem Fällen nicht aus, wenn man keinen Zugang zu Hintergrund der aktuellen Klimadiskussionen seiner Administration bis hin zum desk officer entwickelte sich dieser Fall zu einem Politikum, hat und diese Personen nicht einbinden kann. welches bis zu den höchsten Entscheidungs- Dabei ist es von Vorteil, zuverlässige Kontakte ebenen vordrang und eine ungewöhnlich hohe auf allen Ebenen bereits etabliert zu haben und Aufmerksamkeit erlangte. 88 Kathrin Glastra

3 Stärken und Schwächen des Auf der anderen Seite sind Public Affairs europäischen PAM Agenturen natürliche Grenzen gesetzt: Sie sind in erster Linie Vermittler, Übersetzer und Über- Der geschilderte Fall gibt einen ersten Einblick bringer der Position eines bestimmten Mandan- in die Notwendigkeiten des Lobbyings auf EU- ten und haben nur eingeschränkt die Möglich- Ebene, zeigt aber auch einige Grenzen auf: In keit, Unternehmenspositionen mit zu beeinflus- der politischen Gemengelage ist zuweilen ein sen. Als reinen Erfüllungsgehilfen wird sich aber Kompromiss der einzige Weg, um alle Stake- sicher keine Agentur sehen, sondern im Fall holder halbwegs zufrieden zu stellen und kei- einer Position, die nicht mehr mitgetragen wer- nen Gesichtsverlust zu erleiden. den kann, die Zusammenarbeit aufkündigen. Wenngleich Public Affairs Agenturen an- Eine Agentur ist schließlich auf ihren Ruf als greifbar sind, weil sie keine eigenen, sondern seriöser Informationsmittler angewiesen, um nur Fremdinteressen vertreten, so ist ihre Rol- auch zukünftig in der Kommission Gehör zu le als Mediator an der Schnittstelle zwischen finden. Politik und Wirtschaft nicht zu unterschätzen. Lobbying ist ein ständiger wechselseitiger Public Affairs Agenturen sind in der Regel Austausch und Erkenntnisgewinn und sollte bereits etablierte Player in Brüssel und, sofern demnach nicht als Einbahnstraße verstanden sie in der Vergangenheit zuverlässig und seri- werden, sondern in beide Richtungen funktio- ös gearbeitet haben, mit der entsprechenden nieren und somit auch präventiv und gestalte- Reputation ausgestattet, die ihnen die Tür bei risch in Richtung der Unternehmenspolitik wir- den EU-Akteuren öffnet. Die Vielzahl der In- ken. teressenvertreter in Brüssel sorgt zudem für eine gewisse Eigenregulation des Marktes, ein 4 Ausblick: Die Europäische exklusives Zugangsrecht zu den Institutionen Transparenzinitiative kann kein Interessenvertreter für sich bean- spruchen. Vielmehr muss er sich kontinuier- Angesichts der wachsenden Zuständigkeiten lich im Wettbewerb mit den anderen Lobbyis- der EU und der immer größer werdenden Zahl ten bewegen und durch ein unverkennbares von Interessenvertretern hat die Europäische Profil, zuverlässige Informationen und beste Kommission unter der Führung des estnischen Zugänge positionieren – sowohl in Richtung Kommissars Siim Kallas (zuständig für Triple der Institutionen als auch in Richtung der po- A, Brüsseler Jargon für Administration, Audit tenziellen Mandanten. Vorteile gegenüber In- und Anti-Korruption) bereits im November House-Lobbyisten haben Politikberater da- 2005 einen ersten Vorstoß unternommen, die durch, dass sie bereits in Brüssel etabliert, aber europäischen Prozesse mit einer größeren unternehmensfremd sind und dadurch einen Transparenz auszustatten. Im Zuge des Plan D frischen Blick auf Sachverhalte haben, bzw. der Europäischen Kommission, der in einer diese mit der europäischen Agenda abgleichen weiteren europatypischen Alliteration für mehr können. Genau aus diesem Grund stellen Poli- Demokratie, Dialog und Diskussion steht und tikberatungsunternehmen für ein Unternehmen Europa näher an den Bürger bringen soll, wur- ohne eigene Repräsentanz in Brüssel eine Al- de die Europäische Transparenzinitiative (ETI) ternative dar, die zudem eine kosteneffektive begründet, welche vor allem in den folgenden und kurzfristig aktivierbare Lösungskompo- drei Bereichen Verbesserungen und stärkere nente zur Positionierung der unternehmens- Kontrolle bringen soll (Europäische Kommis- spezifischen Interessen bedeuten. sion 2006): Public Affairs Management in Brüssel 89

1. Mittelvergabe der EU-Finanzen Zielsetzung Dritter, für die Politikberatungs- 2. Persönliche Integrität der EU-Beamten und agenturen tätig werden, mehr als problematisch Unabhängigkeit der EU-Institutionen und auch datenschutzrechtlich nicht ohne 3. Kontrolle der Lobbying-Aktivitäten Schwierigkeiten. Zudem sollen für Anwalts- kanzleien und Public-Affairs-Agenturen die Nach dem Motto „Größere Einbindung erfor- gleichen Auflagen gelten – Rechtsanwälte kön- dert aber auch größere Verantwortung“ (Euro- nen sich aber auf ihre Verschwiegenheitspflicht päische Kommission 2001) will die Kommissi- berufen und diese Aussagen verweigern. Die- on der Öffentlichkeit ermöglichen, die Bezie- ses Recht haben Politikberater hingegen nicht, hungen zwischen den EU-Institutionen und den obwohl ihr Verhältnis zu Mandanten vergleich- Interessenvertretern zu kontrollieren (Europäi- bar ist und sie ein beinahe identisches, wenn- sche Kommission 2006: 5). Die Kommission gleich ungeschriebenes Vertraulichkeitsgebot zu stuft Lobbying grundsätzlich als legitimen Be- befolgen haben hinsichtlich des Umgangs mit standteil des demokratischen Systems ein und Mandanten und ihren Informationen. spricht den verschiedenen Lobbyisten eine wich- Es gerät auch leicht aus dem Blick, dass der tige Rolle zu (ebd. 4ff). Umso strenger erscheint Brüsseler Mikrokosmos trotz allem klein (weil daher die ETI auf den ersten Blick – ein Diktat beinahe „jeder jeden kennt“) und einzigartig ist, mit Überregulierung als Ergebnis, das dem Di- was die Verflechtung der verschiedenen Poli- ckicht an EU-Gesetzen und -Initiativen nun eine tikfelder betrifft. Das bedeutet zugleich für Lob- weitere Hecke hinzufügt. Konkret formuliert die byisten, dass ein unethisches Arbeitsverhalten Initiative in vier Eckpunkten die neuen Anfor- unweigerlich Konsequenzen haben wird, näm- derungen an Lobbyisten wie folgt: lich verschlossene Türen und einen schlechten 1. Einrichten eines öffentlichen, zunächst frei- Ruf – ein Todesurteil für jeden Lobbyisten. willigen Lobbying-Registers Zur besseren Positionierung im Rahmen der 2. Erstellung eines Verhaltenskodex Forderung nach mehr Transparenz haben sich 3. Veröffentlichung der Zielsetzung des Lob- in den vergangenen Jahren einige Public Af- byings fairs Agenturen zu verschiedenen Dachverbän- 4. Offenlegung der Finanzierungsquellen den3 zusammengeschlossen, die die Interessen- vertretung der Interessenvertreter wahrnehmen Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass in Be- – und es ist zumindest fragwürdig, ob eine der- zug auf die Transparenzvorgaben für Lobbyis- artige Bürokratisierung wirklich notwendig war. ten nun Regeln aufgestellt werden, die für gute Gleiches gilt für den Vorschlag der allgemeinen Lobbyisten ohnehin selbstverständlich sind, Registrierung: Statt erneut eine Datenbank zu nämlich ihre Arbeit zuverlässig, transparent, schaffen, könnte man leicht und unbürokratisch offen und mit seriösen Mitteln zu verfolgen. eine Ausweitung der bereits öffentlich zugäng- Sofern mehr Transparenz mehr Vertrauen lichen Parlaments- oder Kommissionsregister4 schafft, können derartige Vorschläge nur befür- vornehmen. Ein Verhaltenskodex, der für so wortet werden. Allerdings besteht die Gefahr, viele verschiedene Arten von Interessenvertre- dass mit der Forderung nach mehr Transparenz tern gleichermaßen Anwendung finden soll, kann nicht das eigentliche Ziel der höheren Glaub- mangels Praxisbezug und Sanktionen nicht mehr würdigkeit erreicht wird, sondern der Eindruck als ein good will document sein. Und sollte man entsteht, die Situation sei nicht im Griff und nur sich doch noch auf Sanktionen einigen, so blie- durch strenge Regulierung zu kontrollieren. be die Frage offen, wie diese durchgesetzt und Noch dazu ist eine detaillierte Erläuterung der wie Verstöße geahndet werden sollen. 90 Kathrin Glastra

Schwierig wird es insbesondere für Public ons (10%), regional representations (8%), in- Affairs Agenturen, wenn sie die Zielsetzung und ternational organisations (5%) and think tanks Finanzierungsquellen ihrer verschiedenen Man- (1%).“ (Schendelen 2005: 50). date offenlegen sollen. Das stellt nicht nur ein 3Beispielhaft seien hier SEAP (Society of Datenschutzproblem dar, sondern würde auch Public Affairs Professionals) und EPACA (Eu- das Vertrauensverhältnis mit den Mandanten ropean Public Affairs Consultancies’ Associati- empfindlich stören. Und auch hier stünde eine on) genannt. unabhängige Überprüfung im Raum, welche die 4Die Auflagen für die Registrierung bei- Vergleichbarkeit der Daten gewährleisten könn- spielsweise im Europäischen Parlament sind in te. den vergangenen fünf Jahren erheblich ver- Sollten trotz aller Bedenken diese Schritte schärft worden: So ist die Zahl der zugelasse- dazu führen, dass schwarze Schafe identifiziert nen Interessenvertreter pro Büro heruntergesetzt werden und vom politischen Prozess ausge- worden (auch als Reaktion auf die letzten bei- schlossen werden könnten, so ist dies zweifel- den Erweiterungsrunden und die Notwendig- los im Sinne eines jeden verantwortungsbewuss- keit, Interessenvertretern aus weiteren Ländern ten Lobbyisten. Zugang zu gewähren) und die Formalitäten für In der praktischen Arbeit in Brüssel zeigt die Antragstellung (zum Beispiel durch das Vor- sich, dass Lobbying mittlerweile ein normaler legen eines aktuellen Polizeilichen Führungs- und legitimer Bestandteil des demokratischen zeugnisses) ausgeweitet worden. EU-Entscheidungsfindungsprozesses gewor- den ist, in dem jede Stimme ein Interesse vertritt Literatur und verdient, gehört zu werden. Welche Stim- me sich am Ende durchsetzt, ist keine Frage von Europäische Kommission 2001: Europäi- Ressourcen, sondern eine Frage der besseren sches Regieren. Ein Weißbuch. KOM(2001)428 Argumente. endgültig. Brüssel: Europäische Kommission. Europäische Kommission 2006: Grünbuch Kathrin Glastra, M.A. (geb. Ahlbrecht) ist Europäische Transparenzinitiative. KOM (2006) Politikberaterin und arbeitet bei der Public Af- 194 endgültig. Brüssel: Europäische Kommis- fairs & Communications Consultancy EU.select sion. in Brüssel, [email protected]. Greenwood, Justin/Webster, Ruth 2000: The Governability of EU Business Associations. In: Journal of European Integration, Jg. 23, Heft 1, Anmerkungen 63-92. 1Entsprechend spät hat in Europa die poli- Michalowitz, Irina 2007: Lobbying in der tikwissenschaftliche Befassung mit der Interes- EU. Wien: Facultas. senvermittlung begonnen. Das wissenschaftli- Rosamond, Ben 2000: Theories of European che Interesse ist aber in den vergangenen 20 Integration. Houndmills: Palgrave. Jahren stetig angestiegen (Woll 2006: 456). Schendelen, Rinus van 2005: Machiavelli in 2Rinus van Schendelen zufolge ist die Ver- Brussels. The Art of Lobbying the EU. Amster- teilung wie folgt: „European trade federations dam University Press. (35%), commercial consultants (15%), compa- Woll, Cornelia 2006: Lobbying in the Euro- nies (13%), European NGOs in such fields as pean Union: From Sui Generis to a Comparati- environment, health care and human rights ve Perspective. In: Journal of European Public (13%), national business and labour associati- Policy, Jg. 13, Heft 3, 456-469. Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008 91

Gloria Possart

Die Bürgerkommune auf dem Prüfstand

Das dritte Forum Bürgergesellschaft stellte dieser Dynamik entstand eine konstruktive am 14. und 15. März 2008 in Schloss Die- Diskussion. dersdorf bei Berlin in Form von fünf Diskus- Die im Forum Bürgergesellschaft 2007 (sie- sionsforen sowohl das theoretische Konzept he auch Forschungsjournal NSB, Heft 2, 2007: Bürgerkommune als auch dessen best practice 134-176) festgestellte Tendenz einer Monetari- und Entwicklungspotenziale auf den Prüf- sierung von Teilbereichen des bürgerschaftli- stand. Auch dieses Jahr trafen sich Expert- chen Engagements wurde nicht nur als Risiko, innen und Experten aus verschiedenen Bun- sondern auch als Chance hybrider Formen der desländern, Verwaltungen (sowohl ministeri- Engagementförderung wahrgenommen (vgl. alen als auch kommunalen), gemeinwohlori- Jakob 2007). In diesem Zusammenhang fokus- entierten Organisationen (sowohl Wohlfahrts- sieren sich die Herausforderungen an die Bür- verbänden, Stiftungen, Landes- und Städte- gerkommune u.a. auf die nachhaltige Gewin- netzwerken als auch regionalen Förderverei- nung und Einbeziehung örtlicher Unternehmen. nen und Freiwilligenagenturen), Wirtschaft Während es im Forum 2007 verschiedene un- (sowohl international und bundesweit agie- ternehmerische Kooperationsmodelle gab, zeich- renden als auch Einzelunternehmen) und Wis- neten sich die Diskussionsforen in 2008 durch senschaft (Universitäten, Fachhochschulen, innovative mehrsektorale Konzepte zwischen Berufsakademien und Instituten). Obwohl es Politik, Verwaltung und Bürgerengagement aus. keine ausgewiesenen politischen Vertreter vor Die Beteiligung von Vertretern der Wirtschaft Ort gab, zeigte sich bald, dass alle Beteiligten und wirtschaftsnahen Organisationen signali- partei- und programmübergreifend politisch siert allerdings deren grundsätzliches Interesse: dachten und konzeptionell agierten. Damit Es ist zu erwarten, dass Vertreter der Wirtschaft bildete schon das Forum selbst die angestrebte demnächst ihrerseits Modelle mehrsektoraler Verbindung der drei Sektoren Staat, Markt Partnerschaften in Diedersdorf vorstellen wer- und Zivil-/Bürgergesellschaft ab. Aufgrund den.

„Forum Bürgergesellschaft“ Unter dem Titel „Forum Bürgergesellschaft“ diskutierten Experten und Expertinnen aus Wis- senschaft, Politik, Unternehmen, Verwaltung, Medien, Verbänden, Stiftungen und anderen gemeinnützigen Organisationen auf Einladung der Stiftung Bürger für Bürger am 14. und 15. März 2008. Nachfolgend dokumentieren wir einige Beiträge dieses Diskusionsforums. Kontakt: Bernhard Schulz, Geschäftsführer der Stiftung Bürger für Bürger, Kontakt: [email protected] Die Redaktion 92 Gloria Possart

Thomas Olk, Vorsitzender der Stiftung Bür- Die dokumentierten Beiträge ger für Bürger und Professor an der Martin- Hannes Wezel, Leiter der Geschäftsstelle für Luther-Universität Halle-Wittenberg führte kurz Bürgerengagement der Stadt Nürtingen, stellte und prägnant in das Thema des Forums ein. Er im ersten Diskussionsforum die Bürgerkom- erläuterte die Grundidee des Konzepts der Bür- mune als Gesamtkonzept vor. Er erläuterte die gerkommune am Beispiel des von der Bertels- sog. Nürtinger Formel: Bürgerkommune = mann-Stuftung mit Kooperationspartnern durch- Empowerment (Beteiligungsförderung x Enga- geführte Civitas-Projekts ‚Die bürgerorientier- gementförderung). So einfach diese Formel er- te Kommune‘. Bei der hier verfolgten Stärkung scheint, so nachhaltig wirkt sie durch Einbezie- sowohl der Auftraggeber- als auch der Mitge- hung aller Sektoren in das Nürtinger Gemein- stalterrolle von Bürgerinnen und Bürgern ging wesen. Die eingehende Erläuterung der For- es noch primär um das demokratiepolitische melteile und das gesamte Spektrum engagement- Ziel, die Partizipationschancen möglichst aller fördernder Praxis in Nürtingen kann im Fol- Bürger in der Kommune zu erweitern. Die Achil- genden nachgelesen werden. lesferse aller dieser Ansätze besteht in der sys- Thomas Röbke, Geschäftsführer des Lan- tematischen (und nicht nur fallweisen) Vermitt- desnetzwerks Bürgerschaftliches Engagement lung der direktdemokratischen Foren und Gre- Bayern, präsentierte im zweiten Diskussions- mien mit den repräsentativ gewählten und da- forum mit dem Titel „Müssen wir näher an den mit formal legitimierten Gremien (wie etwa dem Bürger ran? Zur Bedeutung stadtteilbezogener Gemeinde- oder Stadtrat). Inzwischen – so sei- Ansätze der Bürgerkommune“ die lokale Enga- ne These – haben sich die Formen, Adressaten- gementförderung der Stadt Nürnberg. Das Zen- gruppen und Ziele kommunaler Aktivierungs- trum Aktiver Bürger hat sich dort mittlerweile politiken unter veränderten Rahmenbedingun- von einem ehemaligen Modellprojekt zu einem gen (wie ethnische Vielfalt, soziale Ausgren- strategischen Akteur kommunaler Sozialpolitik zung, Armut, demographischer Wandel etc.) etabliert. Die Entwicklung von Schlüsselpro- verschoben: Unter Begriffen wie intersektorale jekten hat zu einer städtisch relevanten Infra- Kooperation bzw. local Governance können wir struktur bürgerschaftlich erbrachter Dienstleis- eine wachsende Bedeutung von horizontalen tungen geführt, die per Stadtratsbeschluss im Netzwerken, bestehend aus Vertretern kommu- Jahr 2005 in einen kommunalpolitischen Ori- naler Politik und Verwaltung, organisierten und entierungsrahmen für eine nachhaltige Jugend-, unorganisierten Bürgern sowie Wirtschaftsun- Familien-, Bildungs- und Sozialpolitik in Nürn- ternehmen beobachten, in denen gemeinsame berg implementiert wurde. Durch eine systema- Projekte und Anliegen vorangetrieben werden. tische Vernetzungsstruktur des Zentrums Akti- Hinter diesen Entwicklungen steht weniger ein ver Bürger werden kommunalpolitische Ermög- demokratiepolitischer Impuls, sondern vielmehr lichungsstrukturen unterstützt und durch kom- die Einsicht, dass keiner der Akteure die anste- munale Rahmenvereinbarungen verstetigt. henden Herausforderungen allein zu bewälti- Roswitha Rüschendorf vom Regierungsprä- gen in der Lage ist. Hier stellt sich die Frage, sidium Kassel stellte im dritten Diskussionsfo- wie solche eigendynamischen Formen horizon- rum „Die Bürgerkommune im ländlichen taler Governance mit dem System des hierar- Raum“ eine „Anleitung zur Selbstbewertung chischen kommunalen Governments verzahnt dörflicher Aktivitäten“ vor. Sie wurde in Zu- werden können. sammenarbeit mit dem hessischen Ministerium Die Bürgerkommune auf dem Prüfstand 93

für Umwelt, ländlichen Raum und Verbraucher- sammenhang auf Stolpersteine und Ansätze ge- schutz entwickelt und bietet eine Evaluierungs- lingender Bürgerkommunen aufmerksam. methode dörflicher Aktivitäten. Diese dient vor- Für den Veranstalter, so bilanzierend Tho- rangig der Qualitätsentwicklung ländlicher Re- mas Olk, gilt es die neu gewonnenen Erkennt- gionen. nisse des dritten Forums Bürgergesellschaft in Elke Becker, wissenschaftliche Mitarbeite- der Weiterentwicklung einer nachhaltigen Leit- rin im Institut für Stadt- und Regionalplanung bildidee zum Konzept Bürgerkommune zu ver- der Technischen Universität Berlin, entfaltete dichten. im abschließenden Diskussionsforum den Fra- genkomplex „Lässt sich die Bürgerkommune Gloria Possart promoviert an der Martin- auf Beteiligungsansätze reduzieren?“ Die Luther-Universität Halle-Wittenberg zum The- Schnittmengen Corporate Social Responsibili- ma „Wirkungsorientierte Evaluation von Frei- ty bzw. Corporate Citizenship zwischen den willigendiensten“, ist Lehrbeauftragte für So- Sektoren Markt und NonProfit-Sektor sowie zialmanagement an der Alice Salomon Hoch- Bürgerbeteiligung bzw. Politik zwischen den schule Berlin und selbstständige Betriebliche Sektoren Staat und NonProfit-Sektor zeigten Sozialberaterin für die Bombardier Transpor- die Vielfalt mehrsektoraler Zusammenarbeit auf. tation GmbH. Wichtige Handlungsfelder der dreisektoralen Kooperationen bilden das Quartiersmanagement, Literatur das City-Management oder Stadtmarketing und die Lokale Agenda 21. Der aktuelle Trend ist Jakob, Gisela 2007: Kommunen im Welf- die Entwicklung einer nationalen Stadtentwick- are-Mix – Eindrücke aus einem Gesprächsfo- lungspolitik. Ihr Beitrag macht in diesem Zu- rum. In: FJNSB 20/2007, Heft 2, 134-140. 94 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

Elke Becker

Aus den Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung in der Stadtentwicklung lernen

Stadtplanung umfasst heute – im Regelfall – Die hier vorgestellten Ausführungen basie- mehr als planerische Zeichnungen und Festle- ren in weiten Teilen auf in mehreren Jahren ge- gungen. Gesellschaftliche, soziale und wirt- sammelten persönlichen Erfahrungen in der schaftliche Entwicklungen sowie Mitsprache der Kommunalberatung in den neuen Ländern, Bürgerschaft beeinflussen gegenwärtig das insbesondere bei der Umsetzung von EU-För- Handeln von Planer/innen. Dies war nicht immer derprogrammen und der Bürgerbeteiligung. Da der Fall: Über die 1960er Jahre schreibt Selle: erlebte Situationen in Vor-Ort-Büros, bei Betei- „Aus dem Handwerkszeug für Spezialisten wird ligungsverfahren oder in Verwaltungsrunden zu eine gesellschaftliche Aufgabe, Planungseupho- Grunde liegen, besteht weder einen Anspruch rie kommt auf. Der Glaube an die umfassende auf Vollständigkeit noch basieren die Ausfüh- Gestaltbarkeit gesellschaftlicher Entwicklung ist rungen auf empirischen oder wissenschaftlichen weit verbreitet“ (Selle 1996: 57). In dieser Zeit, Erhebungen. in der Planer/innen, sich vermeintlich in der Lage sahen, die Gesellschaft in allen ihren Facetten Trends und Themen in der Stadtent- zu begreifen und mit ihren Planungen zu bedie- wicklung in den letzten zehn bis nen, wurde die Bürgerschaft in Planungs- und fünfzehn Jahren Entscheidungsprozesse nicht einbezogen. Heu- te sieht das Bild anders aus: Stadtplanung lässt Im Folgenden werden wesentliche Trends und sich inzwischen treffender mit Stadtentwicklung Aufgabenfelder in der Stadtentwicklung seit den umschreiben. Der Planer und die Planerin sind 1990er Jahren angerissen. Die einleitenden Gestalter und Moderatoren komplexer Raum- Worte lassen erwarten, dass diese Themen nicht entwicklungsprozesse. Der Anspruch besteht alleine im Dunstkreis der hoheitlichen Aufgabe nicht mehr darin, für die Menschen, sondern Planung eine Rolle spielten, sondern Schnitt- mit den Menschen zu planen. Dies impliziert, mengen zwischen den Säulen Öffentliche Hand/ dass diese Moderator/innen zwischen allen – Staat, Markt/Wirtschaft sowie Zivilgesellschaft/ oder zumindest möglichst vielen – Interessen Dritter Sektor bestehen (vgl. Abb. 1). und Akteuren vermitteln müssen: aus der Bür- gerschaft, der Wirtschaft und der öffentlichen Schnittmenge Staat – Wirtschaft Hand. Umschrieben wird dies u.a. mit dem Be- Public Private Partnership (ppp): Beim ppp griff integrierte Stadtentwicklung, der in För- handelt sich um vertraglich vereinbarte Partner- derprogrammen wie Soziale Stadt aber auch in schaften zwischen der öffentlicher Hand und EU-Förderprogrammen eingefordert wird. Ge- Unternehmen, mit dem Ziel beispielsweise öf- genstand und Ziel dieses Ansatzes ist nicht al- fentliche Infrastrukturprojekte effizienter zu rea- lein eine bessere Vernetzung und Einbeziehung lisieren. Business Improvement Districts (BID): der Akteure in den jeweiligen räumlichen Ku- BIDs haben ihre Wurzeln in den 1970er Jahren lissen, sondern auch eine ämterübergreifende in den USA. Es handelt sich dabei um eine Zusammenarbeit in der Verwaltung. Kombination von Eigeninitiative, Selbstver- Aus den Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung in der Stadtentwicklung lernen 95

pflichtung und ppp. Für einen vertraglich defi- der Innenstadt. Die Akteure beziehen dabei auch nierten Zeitraum schließen sich Geschäftsleute bürgerschaftliches Engagement mit ein. zusammen, mit dem Ziel – u.a. mit eigenen fi- Quartiersmanagement (QM): Das Quar- nanziellen Mitteln –, ihr Quartier und damit ihre tiersmanagement hat durch das Förderprogramm eigene geschäftliche Lage aufzuwerten und zu Soziale Stadt einen gewissen Boom erlebt. Zie- verbessern. le sind u.a. die Verbesserung der Lebensquali- tät, Hilfe zur Selbsthilfe sowie die Aufwertung Schnittmenge Markt – Dritter Sektor des öffentlichen Raumes in benachteiligten Corporate Social Responsibility/Corporate Ci- Stadtteilen mit dem Anspruch eines integrierten tizenship: Zunehmend sehen sich Unternehmen Ansatzes (s.o.). und Unternehmer/innen als verantwortungsvolle Lokale Agenda 21: Die Lokale Agenda 21 Bürger/innen in der Stadt und engagieren sich – wurde 1992 auf der Weltkonferenz für Umwelt oftmals über Spenden und Sponsoring – für und Entwicklung in Rio unterzeichnet. Unter das Gemeinwohl vor Ort. dem Motto global denken – lokal handeln sind die Projekte im Rahmen der Lokalen Agenda Schnittmenge Staat – Dritter Sektor von der Nachhaltigkeitsidee geprägt, also von (Informelle) Bürgerbeteiligung: Gemeint ist der Idee, Verantwortung gegenüber nachfolgen- hier nicht die gesetzlich vorgeschriebene Bür- den Generationen zu übernehmen. Eine Grund- gerbeteiligung nach Baugesetzbuch (BauGB), voraussetzung ist die Beteiligung der Kommu- sondern zusätzliche und freiwillige informel- nalverwaltung; zusätzlich fordert sie die Betei- le Beteiligungsverfahren der öffentlichen ligung von Bürger/innen, der Privatwirtschaft Hand. Diese gewissermaßen top-down er- und Nichtregierungsorganisationen ein. möglichende Angebote, sich bei stadtentwick- Bürgerstiftungen: Die Idee beruht auf dem lungsrelevanten Projekten zu engagieren, sind Gedanken, eine politisch und religiös neutrale von denen zu unterscheiden, bei denen die Stiftung von Bürgern für Bürger zu gründen. Bürgerschaft Mitsprache und -wirkung, z.B. Sie hat das Ziel, entlang ihrer Stiftungszwecke, in Bürgerbegehren oder -initiativen, einfor- die Lebensqualität der Menschen vor Ort zu dert. verbessern. In einer Bürgerstiftung kann sich Politiker/innen: Auch wenn die Politik zwei- jeder nach seinen Möglichkeiten finanziell und felsfrei der Säule des Staates/der öffentlichen zeitlich einbringen. Hand zuzuordnen ist, ist sich zu vergegenwärti- „Auf dem Weg zu einer nationalen Stadtent- gen, dass viele der Politiker/innen ein Ehrenamt wicklungspolitik“ – Memorandum des Bundes- ausüben. Entsprechend werden sie – gewollt ministeriums für Verkehr, Bau und Stadtent- oder ungewollt – einen anderen Blick auf bür- wicklung (BMVBS): Das Memorandum fordert gerschaftliches Engagement haben, als das Zusammenwirken von Büger/innen, der beispielsweise das Gros der Verwaltungsmitar- Wirtschaft, Politik und Verwaltung. Es hat u.a. beiter. zum Ziel, Stadt zum öffentlichen Thema zu ma- chen und ein Bewusstsein für das Engagement Schnittmenge Markt – Dritter Sektor für die Stadt zu entwickeln. – Staat Die zusammenfassende Grafik (vgl. Abb. City-Management / Stadtmarketing (CM): 1) zeigt, dass in den letzten Jahren in einer Rei- Hierbei handelt es sich um einen freiwilligen he stadtentwicklungsrelevanter Themen Erfah- Zusammenschluss, oftmals in Vereinsform, von rungen mit den Schnittmengen der drei Säulen Gewerbetreibenden und der Stadt zur Stärkung gesammelt werden konnten. 96 Elke Becker

Abb.1: Disziplinrelevante Schnittmengen:

Quelle: eigene Darstellung

Stolpersteine ist davon auszugehen, dass beispielsweise der Es gibt zweifellos einen hohen Erfahrungsschatz Begriff ‚Zivilgesellschaft‘ im Sprachgebrauch und eine Reihe guter Beispiele, Projekte und eines großen Teils der Bevölkerung nicht vor- Ansätze. Im Folgenden wird der Versuch unter- kommt – oder etwas sehr anderes darunter nommen, sich weniger über gute Erfahrungen, verstanden wird. Was dem Forscher oder Prak- als vielmehr über mögliche Stolpersteine einer tiker, aus seiner täglichen Arbeit heraus, selbst- „Exzellenzinitiative Bürgerkommune“ zu nä- verständlich scheint, ist für viele andere ein Buch hern. Schließlich sollte es zukünftig nicht allein mit sieben Siegeln. darum gehen, diejenigen Initiativen und Perso- Ein weiterer Aspekt sind gesellschaftliche nen zu unterstützen, die für eine Bürgerkom- Hemmschwellen. Erfahrungen aus Ostdeutsch- mune stehen, sondern darum, auch diejenigen land zeigen, dass viele Bürger/innen es vermei- zu erreichen, die bislang mit dem Begriff nicht den, ein Rathaus zu betreten. Das Aufsuchen umgehen können oder wollen. eines Stadtteilbüros mit der Bitte, eine Auskunft aus der Stadtverwaltung zu erhalten, ist nicht Nicht von sich auf andere schließen zwangsläufig eine Frage von Bequemlichkeit, Wenn Experten unter sich sind, wird oftmals sondern auch von Angst, unverhältnismäßigem übersehen, dass in der breiten Masse der Ge- Respekt und Überforderung. Der Besuch und sellschaft kein Wissen, vielleicht auch kein In- gar persönliche Worte eines Bürgermeisters teresse an ihrem Thema besteht. Dies ist bei können für Mitarbeiter/innen des zweiten Ar- einem gesellschaftsrelevanten Ansatz wie der beitsmarktes in einem Stadtteilbüro zu einer Zivilgesellschaft oder Bürgerkommune nicht Nerven- und Belastungsprobe werden. Die Fer- anders. Unabhängig von gesellschaftlichem oder ne und Vorbehalte gegenüber der öffentlichen politischen Interesse oder sozialer Kompetenz Hand spiegeln sich auch in zahlreichen Gesprä- Aus den Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung in der Stadtentwicklung lernen 97

chen in dem für Bürger/innen ‚neutralen‘ Stadt- Bei der Betrachtung der drei Säulen öffentli- teilbüro wider. Erfahrungsgemäß sind sie offe- che Hand, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ist sich ner, freier und intensiver, wenn keine Verwal- zu vergegenwärtigen, dass trotz eines Interesses tungsmitarbeiter am Tisch sitzen. So selbstver- aneinander und gemeinsamer Anätze unterschied- ständlich für eine Vielzahl von Bürger/innen der liche Denkweisen, Hierarchien und Ziele im Raum Umgang mit Politikern oder ‚Reichen‘ oder ver- stehen. Dies lässt sich bereits am Beispiel der öf- meintlichen Eliten scheint, so sehr kann er ein- fentlichen Hand zeigen: Wenn der Bürgermeister zelne Bürgergruppen, die eigentlich besonders eine bürgerfreundliche Kommune will, bedeutet von den Qualitäten einer Bürgerkommune pro- dies noch lange nicht, dass die Verwaltung diesen fitieren sollten, ausgrenzen. Wunsch teilt und entsprechend handelt. Wenn ein Als dritter Punkt sei hier der Unterschied Unternehmer etwas für die Verbesserung der Le- bei Begrifflichkeiten genannt. Die Zivilgesell- bensqualität vor Ort tun will, sind die Ziele, die er schaft wurde bereits als Beispiel angesprochen. damit verbindet, andere, als wenn die öffentliche Es kann aber z.B. bereits Irritationen geben, Hand solche Aufgaben erfüllt. Bereits innerhalb wenn in einer Runde mit Bürger/innen anstatt der Säulen wird eine unterschiedliche Sprache ge- von Kiez von Quartier gesprochen wird oder an sprochen. Die Ziele sowie die Motivation zu einer Stelle von Bezirk Stadtteil. Sich und sein Voka- finanziellen Unterstützung und damit mögliche ver- bular als Standard vorauszusetzen, führt zu bundene Effekte sind für die drei Sektoren sehr Missverständnissen und einem Dialog, der nicht unterschiedlich. auf Augenhöhe geführt wird. Was soll mit einer Bürgerkommune Bürgerkommune und Geld erreicht werden – und wer will das Im Rahmen geförderter Projekte wird eine Viel- überhaupt? zahl innovativer, nachhaltiger und integrierter Insider mögen sich darüber einig sein, was sie Beteiligungsansätze durchgeführt – nicht zuletzt, unter einer Bürgerkommune verstehen, und dass weil solche gefordert sind. Die Situation sieht sie für die Gesellschaft gut ist. Aber sieht die anders aus, wenn Beteiligungsansätze allein aus breite Masse darin tatsächlich mehr Transparenz Haushaltsmitteln bestritten werden müssen. Auch und Legitimation – oder doch eher ein Abwälzen wenn im Vorfeld im Rahmen von Förderprogram- hoheitlicher Verantwortung? Das Bewusstsein men gute Erfahrungen gemacht wurden. Oftmals in der Bevölkerung für das, was die öffentliche funktioniert eine zusätzliche Beteiligung also nur, Hand leisten kann, darf oder soll, ist wenig ent- wenn sie gefordert – und gefördert – wird. wickelt. Nur wenige haben eine Vorstellung Eine bürgernahe Kommune kostet Geld und davon, was Pflichtaufgaben und was freiwillige die Effekte, die mit ihr erzielt werden, sind nur Aufgaben sind – dass es hierfür überhaupt eine schwer messbar. Wie ist also ein solches Vorge- Differenzierung gibt. Eine Verlagerung von Auf- hen in Zeiten knapper Kassen zu rechtfertigen? gaben –, dazu kann auch eine andere Form der Wie geht man mit räumlichen Disparitäten um? Mitsprache gehören – wird oft als Rückzug ver- Was sind Indikatoren für eine gut funktionie- standen und nicht zwangsläufig als Chance, ei- rende Bürgerkommune in Städten, die in den nen gestalterischen Beitrag für eine positive Ent- letzten Jahren zahlreiche Bürger/innen verloren wicklung der Gesellschaft zu leisten. haben? Kaum einer wird in einer ostdeutschen Stadt verbleiben, nur weil sie bürgerfreundlich Ansätze für eine Bürgerkommune ist. Es wird viel bewegt, dies aber nur unzurei- Für eine Exzellenzinitiative können folgende chend belegt. Gedanken herangezogen werden. Sie unterlie- 98 Elke Becker

gen räumlichen und strukturellen Besonderhei- Exzellenzinitiative Bürgerkommune ten und können sicherlich eine unterschiedliche Baustein einer Exzellenzinitiative sollte nicht nur Relevanz und Ausprägung haben: sein, gut laufende Projekte zu unterstützen, son- Eine Bürgerkommune funktioniert nur, wenn dern dazu gehört auch der Anspruch, Ansätze zu die Akteure auch überzeugt sind: der Wille eines erfassen, die womöglich noch nicht gut funktio- Bürgermeisters ist kein Garant für eine funktio- nieren, sich aber um eine umfassende Aufklä- nierende Bürgerkommune und die breite Masse rungs- und Überzeugungsarbeit im Vorfeld be- der Bürgerschaft ist für die Idee nur zu gewinnen, mühen. Es wird Orte geben, an denen es nicht wenn sie die Vorteile ihre Rolle darin erkennt. reicht, eine Bürgerkommune anzubieten, sie muss Es braucht eine klare Kommunikation, die der Bevölkerung auch näher gebracht, wenn nicht vermittelt, was eine Bürgerkommune vom wem sogar erklärt werden. Ein Blick auf Beteiligungs- erwartet und was sie wem bringen soll: Das projekte und den integrierten Ansatz in der Stadt- Angebot bürgernaher Strukturen reicht nicht aus, entwicklung – sowohl auf Erfolge, als auch auf wenn die Bevölkerung der öffentlichen Hand die Fehler – kann lehrreich sein. Des Weiteren ist argwöhnisch gegenüber steht oder diese Struk- sich zu vergegenwärtigen, dass es eine Differen- turen nicht zu nutzen weiß. Hier muss Öffent- zierung geben sollte zwischen dem, was von der lichkeits- und Aufklärungsarbeit betrieben wer- öffentlichen Hand ermöglicht und angestoßen den, die abgestimmt ist auf unterschiedlichen wird, und dem, was aus der Bevölkerung heraus Bevölkerungs- und Interessensgruppen. entsteht und wächst. In beiden Fällen wird wert- Erwartungen sollten nicht zu hoch ge- volles zivilgesellschaftliches Engagement gene- schraubt werden: Insider müssen sich – auch riert. In dem einen Fall handelt es sich aber um Enttäuschungen und Missverständnissen gewissermaßen um eine Zivilgesellschaft von vorzubeugen – vergegenwärtigen, dass ihre Lei- oben, im zweiten Fall um eine Zivilgesellschaft denschaft nicht von der gesamten Bevölkerung von unten. Dies ist an dieser Stelle weder zu geteilt wird. Entsprechend sollten sie sich auch kritisieren noch zu bewerten, sondern ist lediglich nicht zum Maßstab machen. im Umgang mit den Akteuren und bei den Er- Eine intakte Bürgerkommune braucht in der wartungen an sie zu berücksichtigen. Bevölkerung ein Bewusstsein für die (Stadt-)Ge- sellschaft: Der Gedanke, die Stadt zum öffentli- Elke Becker ist Wissenschaftliche Mitarbei- chen Thema zu machen (aus dem Memoran- terin am Institut für Stadt- und Regionalplanung dum des BMVBS) und damit das Bewusstsein der TU-Berlin, Fachgebiet Planungstheorie. zu entwickeln, überhaupt eine Verantwortung Arbeitsschwerpunkte: integrierten Stadtentwick- für die Stadt zu haben, ist zukünftig ein wesent- lung, Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung licher Baustein für die Tragfähigkeit einer Bür- im lokalen und regionalen Kontext, Bürgerstif- gerkommune. tungen, Moderation und Kommunikation von Bürgerkommune funktioniert nur dann, (Planungs-)Prozessen und Öffentlichkeitsarbeit wenn es auch niedrigschwellige Angebote gibt: Um einen besseren Querschnitt der Bevölke- Literatur rung zu erreichen, werden neutrale Orte und Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt- Personen gebraucht. Stadtteilbüros sind nur ein entwicklung (Hg.) 2007: Auf dem Weg zu einer Beispiel dafür. Dabei sollte es nicht nur niedrig- nationalen Stadtentwicklungspolitik. Berlin. schwellige Beteiligungs- und Mitspracheange- Selle, Klaus 1996: Was ist bloß mit der Pla- bote bei der Problemlösung, sondern bereits bei nung los? Erkundungen auf dem Weg zum ko- der Problemerfassung geben. operativen Verhalten. Dortmund. Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008 99

Thomas Röbke

Zwischen Graswurzelbewegung und geordneten Strukturen Lokale Engagementpolitik am Beispiel Nürnberg

1 Die Neue Unübersichtlichkeit könnte. Der ungeahnte Erfolg der Freiwilligen- agenturen, deren es schon an die 250 in Deutsch- Bürgerschaftliches Engagement wächst von land gibt, offenbart ein Bedürfnis nach kompe- unten, das macht seine Stärke und Innovations- tenter Vermittlung und Entwicklung Bürger- kraft aus. Gerade im Gefolge der neuen sozia- schaftlichen Engagements. Diese Agenturen re- len Bewegungen sind viele Initiativen entstan- agieren letztlich schon auf die wachsende Unü- den, die zu stabilen Einrichtungen wurden und bersichtlichkeit des Engagementangebots. Sie schließlich überregionale Netzwerke bildeten: bilden eine Metastruktur der Information über Mütterzentren, Tauschringe, soziokulturelle Ein- Angebote, gleichsam eine ‚One-Stop-Agency‘ richtungen. Manchmal gelingt es sogar, mit in- für das Ehrenamt. Wie ein Tourismusbüro wol- telligenten Förderrichtlinien und Modellpro- len sie die Angebote in ihrem Umkreis bündeln. grammen, wie im Falle der Selbsthilfekontakt- Kühn gedacht: Am besten sollen alle Einwoh- stellen und Seniorenbüros, den Nerv der Zeit zu ner einer Stadt oder eines Landkreises mit ei- treffen und diesen Initiativen einen weiteren nem kurzen Blick ins Telefonbuch das richtige Wachstumsschub und sogar dauerhafte Stabili- Kompetenzzentrum für das Ehrenamt finden. tät zu verleihen. Nun steht diese Metaebene selbst vor jenem Freilich steht dieser fruchtbare Wildwuchs Problem, dass sie lösen wollte, denn durch nach gewisser Zeit in Gefahr, sich gegenseitig immer neue Modellprogramme werden weitere das Licht zu nehmen und die Nährstoffzufuhr Institutionen geschaffen, die in ihren Profilen abzuschneiden, wenn nicht eine vorausplanen- Teilfunktionen von Freiwilligenagenturen über- de Engagementpolitik die gewachsenen Kultu- nehmen: Dazu zählen aktuell die neuen Mehr- ren ordnet und verdichtet. So war es etwa bei generationenhäuser, die Koordinierungsstellen den Wissensbörsen, die sich nach dem Berliner für die generationsübergreifenden Freiwilligen- Vorbild in den 1990er Jahren flächendeckend dienste, zum Teil auch die historisch früheren ausbreiteten. Ihre einfache und zwingende Idee Bündnisse für Familie. Wenn nun auch die vor- war, Menschen unterschiedlicher Generations- gesehenen Pflegestützpunkte kommen, werden zugehörigkeit und Herkunft über gemeinsame voraussichtlich weitere Aufgaben neu sortiert Interessen oder Hobbies zusammenzubringen. und ausgelagert. Nur: Wenn jeder Wohlfahrtsverband schließlich Obwohl Freiwilligenzentren sich historisch eine eigene Wissensbörse betreibt, dann kommt noch gar nicht stabilisiert haben, wird immer es nicht zu überraschenden neuen Bekanntschaf- wieder eine neue – und für einige Jahre der ten, sondern es treffen wieder nur die alten Be- Modellfinanzierung wohlgenährte – Sau durchs kannten aufeinander. Damit wird die Intention Dorf getrieben. Was aber wird geschehen, wenn ad absurdum geführt und erstickt am eigenen die Mehrgenerationenhäuser aus der Modell- Erfolg. phase entlassen werden? Vorhersehbar ist jetzt Die Gefahr wächst, dass den kommunalen schon der wachsende Konkurrenzdruck unter Anlaufstellen für das bürgerschaftliche Enga- den unterschiedlichen Kompetenzzentren des gement ein ähnliches Schicksal widerfahren Bürgerschaftlichen Engagements. 100 Thomas Röbke

Vor diesem Hintergrund plädiere ich für eine werden Lösungen anders aussehen. Ich bin aber ordnungspolitische Sicht auf den Engagement- davon überzeugt, dass wir uns alle eine ordnen- bereich, um nachhaltige und effiziente Arbeits- de und überblickende Perspektive zu eigen ma- strukturen mit möglichst geringen Reibungsver- chen müssen, um damit die Spontaneität des lusten zu garantieren. Sie ist vor allem auch des- Bürgerschaftlichen Engagements zu zügeln, wegen nötig, weil im Aufbau der neuen Engage- nicht aber zu ersticken. Ich halte den Begriff der mentstrukturen sozialräumliche Aspekte sträflich Ordnungspolitik für übertragbar. Er leitet sich vernachlässigt wurden. Welchen lokalen Umgriff ja her aus der Theorie der sozialen Marktwirt- sollte eine eigenständige Freiwilligenagentur ha- schaft und stellt den Versuch dar, den sponta- ben? In München gab es zum Beispiel über Jahre nen und autonomen Kräften des Marktes (in als eingeführte Adresse nur die zentrale Agentur unserem Fall des Bürgerschaftlichen Engage- ‚Tatendrang‘, bis die Caritas auf einen Schlag ments) eine zurückhaltende, staatliche Rahmung fünf weitere Agenturen eröffnete. Die Diakonie zu geben. Nicht um ihre Spontaneität abzuwür- zog nach, wobei ihre eigene Agentur nur kurz gen, sondern um sie möglichst gemeinwohlori- überlebte. Das mag für eine Stadt dieser Größe entiert und ressourcenschonend umzusteuern. sinnvoll sein, aber richtig koordiniert war dieser Vor elf Jahren wurde in der zweitgrößten Gründungsboom sicher nicht. bayerischen Großstadt mit über 500.000 Ein- Man kann diese wachsende Unübersichtlich- wohnern das Zentrum Aktiver Bürger (ZAB) keit durch größere Internetportale in den Griff zu gegründet. Im Gegensatz zu anderen Freiwilli- bekommen versuchen, wie es vorbildlich in Berlin genzentren, die zu dieser Zeit ihren ersten Grün- (mit dem neuen Auftritt auf den Seiten von dungsboom erlebten, setzte das ZAB nicht auf www.berlin.de) gelungen ist. Wie aber können in- Vermittlung in bestehende, sondern auf Ent- tegrierte Lösungen auf dem flachen Land aussehen, wicklung neuer Engagementfelder. Insbesondere wo sich manchmal Gemeinden mit 5.000 Einwoh- wurde Menschen in der nachberuflichen Phase nern eine Freiwilligenagentur leisten, obwohl ein als Freiwillige gewonnen. Dies erklärt sich nicht paar Kilometer weiter schon ein nächster Stütz- zuletzt durch die sozialen Schwierigkeiten, die punkt besteht. Macht das Sinn? Natürlich kann es Nürnberg überstehen musste. Massiv wurden sinnvoll sein, vorausgesetzt, die Agentur ist gut in altindustrielle Arbeitsplätze abgebaut, das letzte die örtlichen Gegebenheiten der Engagementland- bundesweit bekannte Beispiel war die Schlie- schaft eingebunden. Von Kontext zu Kontext, von ßung des AEG-Werkes. Viele Menschen wur- Fall zu Fall wird diese Einbettung anders aussehen, den dadurch zwangsweise in den Vorruhestand in Berlin anders als in Marktheidenfeld. Das Plädo- geschickt, die fit und kompetent waren und na- yer sollte aber eindeutig lauten: Wir brauchen, mehr türlich ein wichtiges Reservoir für bürgerschaft- denn je, einen ordnungspolitischen Blick auf das liche Aktivitäten bildeten. Engagement. Man sollte sich nicht mit wohlklin- Über die Jahre entstanden im ZAB an die genden Floskeln wie Buntheit und Vielfalt über die- zwanzig Engagementfelder aus unterschiedli- se anstehende Aufgabe hinwegmogeln. chen Gründungsinitiativen. Manchmal brachte eine Gruppe Ehrenamtlicher eine Idee ein, die dann gemeinsam mit Hauptamtlichen realisiert 2 Beispiel Nürnberg: werden konnte, manchmal griffen Hauptamtli- Das Zentrum Aktiver Bürger che interessante Projekte auf, die andernorts Vor diesem Hintergrund sind unsere Nürnber- entstanden waren, um sie auch in Nürnberg an- ger Erfahrungen sicher für andere Städte anre- zusiedeln. Schließlich äußerten kommunale So- gend. Wie gesagt. In jedem sozialen Kontext zialpolitiker bestimmte Wünsche. Zwischen Graswurzelbewegung und geordneten Strukturen 101

Es kristallisierten sich Engagementbereiche Haushaltslage plädierte Nürnbergs Sozialrefe- heraus, die für viele Ehrenamtliche attraktiv rent Reiner Prölß für eine Neuausrichtung, die waren, sich aber auch deswegen besser als an- die Handlungsfelder der so genannten drei As dere entwickelten, weil sie durch öffentliche (Aufwachsen, Armut, Alter) mit einem deutli- Finanzierungen entsprechend ausgestattet wa- chen sozialräumlichen Bezug kombinieren soll- ren. Heute hat das ZAB elf hauptamtliche und te. Damit war einerseits die stärkere Konzentra- über 500 ehrenamtliche Mitarbeiter, von deh- tion sozialer Dienste und Einrichtungen auf nen mehr als zwei Drittel in Projekten tätig sind, Stadtteile beabsichtigt, die einen vergleichsweise die sich der Bildung von Kindern und Jugend- hohen Migranten- und Sozialhilfeanteil sowie lichen sowie der Unterstützung von Familien niedrigere Bildungsabschlüsse aufweisen. widmen: Mit Patenschaften wird überforderten Andererseits ging es darum, die für die Unter- Familien unter die Arme gegriffen. Ehrenamtli- stützung von Familien bestehenden Dienste und che in Kindergärten und Schulen unterstützen Einrichtungen (Schulen, Kindergärten, Bera- durch individuelle Hilfen den Bildungsanspruch tungsdienste etc.) durch eine übergreifende der Kinder. Bildungspaten begleiten Jugendli- Stadtteilkoordination besser zu vernetzen. che in der Zeit der Berufsfindung. Im Projekt Unter den zwölf Leitlinien des Orientierungs- ‚Betreuter Umgang‘ kann das Umgangsrecht rahmens wird dieser Anspruch in der Leitlinie 8 im Scheidungsfall mit Hilfe einer ehrenamtli- ‚Soziale Nahräume entwickeln‘ folgendermaßen chen, neutralen Begleitperson ausgeübt werden. wiedergegeben: ‚Der Stadtteil ist wegen seiner Die Arbeit des ZAB wurde anfangs über- Überschaubarkeit nicht nur für Kinder, Jugend- wiegend durch begrenzte Modellprojekte finan- liche und Familien der geeignete soziale Be- ziert. Seit etwa zwei Jahren allerdings hat die zugsraum. Auch für ältere Menschen sind funk- Stadt die kommunalen Haushaltsmittel massiv tionierende Beziehungs- und Infrastrukturnetze aufgestockt. Das ZAB erhält 255.000 Euro Zu- wichtig für das Überwinden der Isolation und schuss, was für eine deutsche Stadt dieser Grö- das Verbleiben in der eigenen Häuslichkeit. Ein ßenordnung wohl einmalig ist. Mit weiteren lebendiger Nahraum steigert die Lebensqualität Projektfinanzierungen und den Aktivitäten des in der Stadt ... Soziale Arbeit muss verstärkt die ZAB im Bereich des Corporate Volunteering Bildung von Netzwerken unterstützen und fach- betrug 2007 der Gesamtetat ein halbe Million übergreifend tätig werden.‘ Dieser Leitlinie wer- Euro. den konkrete Maßnahmen zugeordnet: Dazu zählen vordringlich: Bürgerengagement als Ressource • die Einrichtungen zu Stadtteilzentren entwi- strategischer Sozialpolitik ckeln (z.B. Schulen, Kindertagesstätten, Se- Diese Entwicklung kam nur durch eine engere niorentreffs); Verknüpfung der Projekte des ZAB mit den • der Einsatz von Stadtteilkoordinator/inn/en Zielen der Nürnberger Sozialpolitik zustande, und Quartiersassistent/inn/en. die seit Jahren sehr ernsthaft das bürgerschaft- Durch die sozialräumliche Ausrichtung der So- liche Engagement in ihre strategischen Überle- zialpolitik ergeben sich wichtige Anschlussstel- gungen einbezieht. Im Dezember 2005 verab- len für das Bürgerengagement: Wenn Schulen schiedete der Stadtrat den Orientierungsrah- und Kindergärten zu stadtteil- und familienof- men für eine nachhaltige Familien-, Bildungs- fenen Einrichtungen weiter entwickelt werden, und Sozialpolitik, der einen Paradigmenwech- liegt es nahe, die Ressourcen der Nachbarschaft, sel einläutete. Vor dem Hintergrund neuer sozi- das Sozialkapital des Bürgerengagements, zu aler Probleme und angesichts einer schwierigen aktivieren. Wenn zudem eine stärkere Durch- 102 Thomas Röbke

lässigkeit der Einrichtungen und Dienste durch in Einklang bringen lässt – engagierte Bürger- Stadtteilkoordinatoren im professionellen Be- innen und Bürger brauchen auch eigene Ge- reich angestrebt wird, ist es erforderlich, sich staltungsfreiheiten und Entwicklungsspielräu- der Vernetzungspotenziale des bürgerschaftli- me. Allerdings ist es erforderlich, dass die chen Engagements zu bedienen. Ehrenamtliche Kommune Korridore vorgibt, innerhalb derer Mitarbeit öffnet Einrichtungen ja nicht nur für bürgerschaftliches Engagement intensiv geför- Erfahrungswelten, die in der vielfach vorhan- dert wird.‘ denen professionellen Enge nicht vorhanden Wenn sich kommunale Sozialpolitik mit ih- waren. Ehrenamtliche scheren sich zudem auch ren Ansprüchen der gerechten Daseinsvorsor- nicht um Zuständigkeitsgrenzen. Sie haben die ge und flächendeckenden Versorgung mit ei- Familie oder das Kind im Blick, egal, ob es nem bisher eher punktuell organisierten bürger- gerade mit der Schule oder dem Sozialdienst schaftlichen Engagement verbinden, müssen konfrontiert ist. Brücken zwischen beiden Welten gebaut wer- Diese Transfer- und Kooperationsqualität, den. Unterschiedliche, Systeme und Lebenswel- aber auch den Eigensinn des Bürgerschaftlichen ten prallen auseinander. Auf einen Widerspruch Engagements will sich Sozialpolitik nach dem macht Prölß aufmerksam und gibt gleich die Orientierungsrahmen bewusst zu Nutze ma- Richtung einer konstruktiven Lösung an: Es chen. Die Leitlinie 7 ‚Zivilgesellschaft aktivie- dürfen nicht zu enge Korridore definiert wer- ren – Verantwortung aller einfordern‘ des Ori- den, die eine Passung zwischen bürgerschaftli- entierungsrahmens lautet: ‚Die Zivilgesellschaft chen und professionellen Unterstützungsformen lebt vom Engagement ihrer Bürgerinnen und garantieren, ohne den Eigensinn des Engage- Bürger wie auch von Unternehmen, die Verant- ments zu zerstören. wortung für die Gemeinschaft übernehmen (...) Auch jenseits des klassischen Ehrenamtes, etwa Schlüsselprojekte und ihre in der Kirchengemeinde (...), gibt es viele Betä- sozialräumliche Einbettung tigungsfelder. Der vorhandene Reichtum an Ta- Wie kann dieser Brückenbau gelingen? Vor al- lenten wird, ergänzend zur und in Partnerschaft lem durch eine diskursive und prozesshafte mit der professionellen sozialen Arbeit, drin- Ausgestaltung der Kooperation auf Augenhö- gend benötigt(...).‘ he: In einer Rahmenvereinbarung des Sozialre- In einem Diskussionspapier vom 20. Sep- ferats mit dem ZAB werden hierfür die wich- tember 2007 äußert sich Nürnbergs Sozialre- tigsten Komponenten benannt. ferent Reiner Prölß zur konkreten Rolle des ZAB: ‚Das ZAB ist für den Geschäftsbereich Schritt 1: Schlüsselprojekte aufbauen Ref.V (i.e. des Sozialreferats) wichtigster Part- In einem ersten Schritt werden Schlüsselpro- ner bei der Entwicklung und Begleitung des jekte definiert, die das ZAB vor allem in den bürgerschaftlichen Engagements und wird ent- benachteiligten Sozialräumen umsetzen soll. sprechend gefördert. Ziel ist eine engere Ver- Dafür erhält es ein Budget, das für die Zielerrei- zahnung der kommunalen sozialpolitischen chung flexibel eingesetzt werden kann. Hierzu Strategien und der Aktivierung und Begleitung zählen von bürgerschaftlichem Engagement entspre- • Familienpatenschaften chend der Leitlinie 7. Dabei ist unbestritten, • Betreuter Umgang dass die Logik bürgerschaftlichen Engagements • Bürgerschaftliches Engagement in Kitas und sich nicht mit einer straffen operativen und be- Schule triebswirtschaftlichen kommunalen Steuerung • Bildungspatenschaften sowie Zwischen Graswurzelbewegung und geordneten Strukturen 103

• zentrale Dienste, die zum Beispiel für die alräumlichen Kontext entstehen, verwirklichen. Anwerbung Ehrenamtlicher, die Organisa- Derzeit gibt es neben der ZAB-Zentrale drei tion von Fortbildungen und einer passenden stadtteilnahe Anlaufstellen. In Langwasser etwa, Anerkennungskultur zuständig sind. einem Quartier mit einem hohen Anteil älterer Die Schlüsselprojekte können im gegenseitigen Menschen, entstand ein ehrenamtlicher mobiler Einvernehmen zwischen Stadt und ZAB erwei- Handwerkerdienst, der auch kleinere Reparatu- tert werden. Derzeit im Gespräch sind Integra- ren im Haushalt durchführt. Im ZAB-Süd wer- tionsangebote des bürgerschaftlichen Engage- den zusätzlich bildungsunterstützende Projekte ments, aber auch frühkindliche Unterstützungs- für Jugendliche mit Migrationshintergrund auf- netzwerke, die nach der Geburt jungen und un- gebaut, da hier eine besonders hohe Jugendar- erfahrenen Eltern zur Verfügung stehen. Klar beitslosigkeit herrscht. In dem vom ZAB mit- ist, dass jedes weitere Schlüsselprojekt auch getragenen Mehrgenerationenhaus in Schweinau zusätzliche Ressourcen beansprucht. In allen wird unter anderem ein Secondhand-Laden eh- Schlüsselprojekten besteht ein fachlicher Kern renamtlich betrieben. Er bietet Frauen im Stadt- von Hauptamtlichkeit, der zum Beispiel die teil ein kleines Verdienst und ein mögliches Aufgabe hat, geeignete Rahmenbedingungen Sprungbrett in die wirtschaftliche Selbststän- und Passungen für die Ehrenamtlichen bereit- digkeit. zustellen. Das ZAB wird zudem von der Stadt ermun- Das ZAB kann zusätzlich zu den Schlüssel- tert, weitere Modellprojekte einzuwerben. Auf projekten weitere Ideen, die im jeweiligen sozi- diese Weise können sich die Schlüsselprojekte

Abbildung 1: Vernetzung von Stadtteil- und Ehrenamtskoordination im Sozialraum 104 Thomas Röbke

zu unverwechselbaren Stadtteilprofilen weiter- werden, deren Qualität über alle Einrichtungen entwickeln, die die jeweils vorhandenen Kom- hinweg gesichert sein muss. Neben den übli- petenzen und Ideen ehrenamtlicher Mitarbeiter, chen Instrumenten gemeinsamer Teambespre- aber auch die besonderen lokalen Problemlagen chungen und Supervisionen setzt das ZAB auf konstruktiv aufgreifen. moderne IT-Strukturen. Alle lokalen Standorte Dieser Organisation des bürgerschaftlichen sind miteinander vernetzt. Im gemeinsamen In- Engagements im Stadtteil, das in den drei loka- tranet werden durch ein online verfügbares len Anlaufstellen des ZAB – Langwasser, Süd- Qualitätshandbuch der Aufbau und die Arbeits- stadt und Schweinau – gebündelt ist (zu denen weise der Schlüsselprojekte (s.o.) genau be- noch ein ZAB in der Nachbarstadt Fürth und schrieben. Hinterlegte Vereinbarungen (zum die ZAB-Zentrale hinzukommen), stehen Stadt- Beispiel mit kooperierenden Kindertagesstätten) teilkoordinator/inn/en gegenüber. Sie haben als und Leitfäden (zum Beispiel für Erstgespräche städtische Mitarbeiter die Aufgabe, die profes- mit potenziellen Ehrenamtlichen) sichern die sionellen Dienste und Einrichtungen im Quar- Standards. Zudem werden im Handbuch Zu- tier, die für das Leben der Familien wichtig sind, ständigkeiten festgelegt, Teambeschlüsse ver- zu vernetzen. Hierzu zählen Schulen, Altenhei- öffentlicht und so genannte Kernprozesse be- me, Beratungsdienste, Jugendeinrichtungen, schrieben, die sich über die einzelnen Schüssel- Kindergärten, Kulturläden usw. Diese Funkti- projekte hinweg ziehen. Hierzu gehören zum on ist natürlich mit der des Quartiersmanagers Beispiel Themen für Fortbildungen, Anforde- vergleichbar, den wir aus den Modellprogram- rungen an eine gemeinsame Anerkennungskul- men der ‚Sozialen Stadt‘ kennen. tur, Verfahrenswege des Beschwerdemanage- Die sozialräumliche Orientierung der Nürn- ments oder Aufgaben der Gesamtleitung. berger Sozialpolitik ist davon geprägt, die zum Eine besondere Herausforderung besteht Teil stark versäulten Bereiche kommunaler Zu- darin, die sozialräumliche Logik mit der fachli- ständigkeit vor dem Hintergrund der besonde- chen Zuständigkeit für die Schlüsselprojekte zu ren Lebenslagen von Familien behutsam zu öff- kombinieren. Beide Logiken müssen die haupt- nen und miteinander zu vernetzen. Wenn heute amtlichen Mitarbeiter/innen in ihrem Alltags- etwa Armut nicht mehr nur materiellen Mangel, handeln bedenken. Jede/r Mitarbeiter/in eines sondern vor allem Bildungsferne oder Milieu- ZAB-Lokal hat insofern eine Doppelfunktion: zugehörigkeit umfasst, müssen neue Koopera- Im Sinne der sozialräumlichen Logik arbeitet tionsformen zwischen sozialen Diensten, Kul- er/sie mit dem Tandem der Stadtteilkoordinati- tureinrichtungen und Schulen gefunden wer- on gemeinsam an der Öffnung der sozialen Ein- den. Wenn Sozialpolitik vom Subjekt (der Fa- richtungen und Dienste im Quartier. Als Verant- milie, dem Kind, dem pflegebedürftigen Men- wortliche/r für ein Schlüsselprojekt (zum Bei- schen) aus gedacht wird, versteht sich die Not- spiel für das bürgerschaftliche Engagement in wendigkeit vernetzenden Denkens von selbst. Kindertagesstätten) sitzt die direkte fachliche Es stößt heute aber immer noch an die harten Ansprechperson in der Abteilung Kindertages- Grenzen regelkonformen Verwaltungshandelns. stätten des Nürnberger Jugendamts oder beim Die Dezentralisierung stellt das ZAB vor jeweiligen Träger der kooperierenden Kitas. massive Herausforderungen der Organisations- Diese doppelte Perspektive stets im Blick zu entwicklung. Aus einer Einrichtung werden vie- haben ist sicher nicht einfach, aber sie ist wich- le, das bedeutet: Der Kommunikationsfluss, die tig, weil sie die Scharnierfunktion des Bürger- Verantwortungsstrukturen müssen neu geord- schaftlichen Engagements stark macht. Sie wirkt net werden. Kernprozesse müssen definiert als Relais zwischen den Anforderungen der Zwischen Graswurzelbewegung und geordneten Strukturen 105

Familien im Sozialraum und der fachlichen und teilungsleiter der Sozial- und Jugendverwaltung einrichtungsbezogenen Sichtweise der Verwal- angehören, um langfristige Perspektiven zu dis- tung. kutieren, neue Schlüsselprojekte abzustimmen Jedes ‚ZAB-Lokal‘ ist derzeit mit einem und die entsprechenden Stadtratsbeschlüsse hauptamtlichen Kontingent von ca. 30 Perso- vorzubereiten. nalstunden ausgestattet. Hinzu kommt ein Kom- Dies alles wird in der gemeinsam von der petenzteam von vier bis fünf Ehrenamtlichen, Stadt Nürnberg und dem ZAB ausgearbeiteten das die Infrastruktur der Einrichtung aufrecht- Rahmenvereinbarung ‚Entwicklungs- und Re- erhält und die Projekte vor Ort koordiniert. giestelle soziales Bürgerengagement‘ festgehal- Übergreifende Aufgaben, wie zum Beispiel die ten. Koordination der Öffentlichkeitsarbeit oder die Konzeption von Fortbildungen, werden in der 3 Offene Fragen ZAB-Zentrale gebündelt. Im eigentlich operati- ven Geschehen, also als Hausaufgabenhilfe oder Verglichen mit vielen politischen Stellungnah- Bildungspate etc., arbeitet jedes ZAB-Lokal men über die grundlegende Bedeutung des bür- etwa mit 80 bis 100 Ehrenamtlichen zusammen gerschaftlichen Engagements, die dann allzu oft strukturell und finanziell folgenlos bleiben, kann Schritt 2: strategische Steuerung und man über das in Nürnberg erreichte Niveau zu- Weiterentwicklung sicherstellen frieden sein. Zurücklehnen sollte man sich Soweit zur inneren Organisationsform des ZAB. freilich nicht. Positiv ist: Bürgerschaftliches Mit der städtischen Sozialpolitik ist das ZAB Engagement wird als ernsthafter und integraler auf unterschiedlichen Ebenen verknüpft. Die Bestandteil sozialpolitischer Strategien aner- gemeinsamen Schnittstellen in der unmittelba- kannt, die die Ressource ‚Sozialkapital‘ syste- ren operativen Arbeit wurden schon benannt. matisch für das Gemeinwohl nutzbar machen. Das ZAB sucht immer den doppelten Bezug Hauptamtliche Strukturen und ehrenamtliche zum Sozialraum und zur Fachverwaltung. Es Mitarbeit werden auf verschiedenen Ebenen – übt zwischen beiden Ebenen eine Gelenkfunk- von der alltäglichen Arbeit vor Ort bis zur poli- tion aus und kooperiert, gleichsam im Tandem, tischen Planung – in Beziehung gebracht. Das mit der zuständigen Stadtteilkoordination bzw. bürgerschaftliche Engagement ist Partner auf Fachstelle. Augenhöhe. Die kommenden Jahre werden zei- Darüber hinaus gibt es zwei weitere strate- gen, ob diese experimentelle Anordnung dauer- gische Verknüpfungen. Zum einen werden in haft verlässliche Ergebnisse hervorbringt. monatlichen Besprechungen zwischen einem im Es bleiben Unwägbarkeiten und Gefahren Sozialreferat angesiedelten Stabmitarbeiter für auf dem eingeschlagenen Weg. Ich möchte vier das bürgerschaftliche Engagement und der Lei- Punkte zum Schluss ansprechen, von denen ich terin des ZAB wichtige strategische Weichen- glaube, dass sie in den kommenden Jahren in stellungen vorbereitet. Hierzu zählt zum Bei- ihrer Bedeutung zunehmen werden: spiel die Aufstellung des Haushalts, Fragen mittelfristiger Projektentwicklung oder die bes- Das Verhältnis von Freiheit und sere Darstellung des Bürgerengagements auf Bindung des bürgerschaftlichen den städtischen Internetseiten. Und schließlich Engagements trifft zweimal im Jahr unter dem Vorsitz des Es besteht ein grundlegender Widerspruch zwi- Sozialreferenten eine Strategiegruppe Bürger- schen institutionellem Handeln und dem Eigen- engagement zusammen, der alle wichtigen Ab- sinn bürgerschaftlichen Engagements. Die 106 Thomas Röbke

Kunst ist, aus diesem Widerspruch Energien zu chendeckenden Anspruch verfolgen, wenn sie schöpfen. Falsch wäre hingegen, das bürger- für Chancengerechtigkeit sorgen will. Punktu- schaftliche Engagement umstandslos den gege- elle Modellprojekte helfen dabei wenig. Davon benen Anforderungen der professionellen Ein- unberührt werden vom Gesetzgeber aber schon richtungen und Dienste unterzuordnen, Ehren- Fakten geschaffen. Es mehren sich die Anzei- amtliche gleichsam zu Hilfserziehern, Minipäd- chen, dass Bürgerschaftliches Engagement als agogen oder Schmalspurberatern zurechtzustut- integraler Bestandteil in die Erstellung von Re- zen. Bürgerschaftliches Engagement kann auf gelleistungen einbezogen werden soll (zum Bei- der einen Seite Korrektiv für die Pathologien spiel bei den neuen Pflegestützpunkten, beim moderner sozialer Institutionen sein, es kann Aufbau von Hospizen, bei der Selbsthilfe im ihre Betriebsblindheit lindern. Auf der anderen Gesundheitsbereich). Kann das gut gehen? Seite darf es sich aber nicht über Regelkonfor- mität eingespielter Betriebsabläufe vollständig Regeleinrichtungen und neue Instituti- hinwegsetzen. Um diesen vorhandenen Wider- onen des Engagements spruch fruchtbar zu machen, müssen Freiheits- Neue Institutionen des Engagements sind ent- korridore definiert und Managementtechniken standen. Freiwilligenagenturen und andere Ein- erprobt werden, die aus den unterschiedlichen richtungen bringen innovative Impulse in die Handlungslogiken etwas Neues zu formen ver- professionelle Landschaft der Schulen, Alten- stehen. Die Zentripetalkräfte routinierter Ver- heime, Familienzentren etc. Ihr eigentliches Ziel waltungsabläufe sind zweifellos sehr stark. ist ein neuer Alltag zwischen Haupt- und Eh- Aber nur da, wo Spannung ist, kann auch Strom renamt, eine andere Art Leistungserbringung fließen. durch gemeinsame Koproduktion, eine bessere Einbettung von Institutionen in die alltägliche Wie verlässlich ist die Ressource Lebenswelt der Menschen. ‚bürgerschaftliches Engagement‘? Einerseits sind diese Institutionen extrem Man greift sicher zu kurz, das wachsende poli- gefährdet. Nur die wenigsten können sich wie tische Interesse am Ehrenamt darauf zurückzu- das ZAB derzeit auf eine dauerhafte Haushalts- führen, dass der Staat Verantwortung abwälzen stelle verlassen. Die enge Ökonomie des Sozi- will. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass alstaats im letzten Jahrzehnt hat es nicht zuge- angesichts des demografischen Wandels unser lassen, verlässliche Infrastrukturen zu schaffen. bewährtes Spiel: ‚Problem erkannt, öffentliche Legitim ist daher ihr Wunsch nach dauerhafter Stelle geschaffen‘, seinen Sinn verloren hat. Sicherung. Es ist legitim, danach zu fragen, wie weit die Andererseits ist zu fragen, was das Ziel die- Ressource bürgerschaftliches Engagement ser innovativen bürgerschaftlichen Impulse sein überhaupt reicht? Bis auf wenige Ausnahmen soll, die von Freiwilligenagenturen ausgehen? (Feuerwehr, Sport) gibt es kaum Erfahrungen Man könnte behaupten: Im Grunde sollte es das darüber, ob bürgerschaftliches Engagement ver- Ziel sein, sich (fast) überflüssig zu machen. lässlich Teilbereiche der Daseinsvorsorge über- Nehmen wir an, jede soziale, kulturelle oder nehmen kann. Wenn sich heute in Nürnberg Bildungseinrichtung hätte die Botschaft verstan- insgesamt etwa 300 Ehrenamtliche in Kinderta- den und eine engagementfreundliche Organisa- gesstätten engagieren, klingt das eindrucksvoll. tionskultur geschaffen. Warum sollte es dann Wieviel aber wiegt dies gegenüber den 386 be- noch externe Entwicklungsagenturen geben? stehenden Kitas? Natürlich zählt jedes einzelne Nur wenige Funktionen würden dann weiterhin Engagement. Aber Sozialpolitik muss einen flä- übergreifend auszuüben sein: Zum Beispiel ein Zwischen Graswurzelbewegung und geordneten Strukturen 107

gemeinsames Informationsportal, eine stadtwei- neue Vereinbarungskultur gesetzt. Wenn schon te Öffentlichkeitsarbeit, um Ehrenamtliche zu öffentliche Steuermittel verbraucht werden, so gewinnen oder ein gemeinsames Fortbildungs- darf man doch fragen, ob sie ihre Wirkung tun. programm (was freilich auch Volkshochschu- Damit aber werden Organisationen des so ge- len übernehmen könnten). nannten Dritten Sektors zunehmend zu Leis- Bis es dazu kommt, wird sicher noch viel tungserbringern gemacht. Das klassische Zu- Zeit verstreichen. Heute gibt es genug Entwick- wendungsrecht für gemeinnützige Organisatio- lungsfelder, um externe Organisationen wie nen, das nach dem Motto verfährt: ‚Der Staat Freiwilligenagenturen nicht arbeitslos werden gibt den Vereinen und Verbänden Geld, damit zu lassen. In Nürnberg haben wir dies Dilemma diese ihre eigenen Zwecke verfolgen‘, wird suk- als ‚Haus- oder Zeltstrategie‘ beschrieben. ‚Wie- zessive durch die Logik des Leistungsaus- viel Haus muss sein?‘ Mit anderen Worten: Wie tauschs ersetzt. Auch hier stellt sich wieder – groß in Bezug auf Aufgabenstellung und Per- nun auf der Ebene der Organisationen und nicht sonalausstattung und mit welchem sozialräum- der Personen – die Frage nach dem zu bewah- lichen Umgriff muss ein einzelnes ZAB-Lokal renden Eigensinn, der nur überleben kann, wenn konzipiert werden? ‚Wieviel Zelt kann sein?‘ die gegenseitige Autonomie der Partner gewahrt Wann ist ein Entwicklungsauftrag erledigt? Wann bleibt. Aber im Prinzip baut die Partnerschaft könnte ein ZAB-Lokal geschlossen oder ver- auf einer Asymmetrie auf, wenn einer das Geld kleinert werden oder in den nächsten Stadtteil gibt. Werden Einrichtungen der Zivilgesellschaft ziehen, um dort mit einer weiteren Mission zu vermehrt zu Dienstleistern, besteht die Gefahr beginnen? Dieses Problem sollte uns von An- politischer Stromlinienförmigkeit. Und schließ- fang an beschäftigen. Nicht nur, weil es wenige lich ist dieser Vorgang auch steuerrechtlich nicht finanzielle Spielräume gibt, die nicht erlauben, unproblematisch. Je näher und genauer zu er- eine Stadt flächendeckend mit Freiwilligenagen- füllende Vorgaben in einer Vereinbarung be- turen zu pflastern. Sondern auch deshalb, weil schrieben werden, desto wahrscheinlicher wird jede Institution ein ungeheures Beharrungsver- es, Umsatzsteuer abführen zu müssen, was den mögen noch dann besitzt, wenn sie ihre Funkti- jetzt schon kleinen Finanzkuchen weiter schmä- on schon längst verloren hat. lern würde.

Gemeinnützigkeit und Umsatzsteuer Thomas Röbke ist Geschäftsführer des Lan- Schließlich ein letzter neuralgischer Punkt: Staat- desnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement liches Handeln hat in den letzten Jahren auf eine Bayern 108 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

Hannes Wezel

Die Bürgerkommune als Gesamtkonzept Die „Nürtinger Formel“

Am 10. Juni 1991 wurde mitten in der schwäbi- Beteiligungsförderung (BF) schen 40.000 Einwohner-Stadt Nürtingen ein Seit 1994 entstanden im Bürgertreff ganz neue Bürgertreff am Rathaus eröffnet. Seitdem ist Formen von Beteiligungsförderung (BF). Die das Nürtinger Rathaus mit dem Bürgertreff und gewählten Kommunalpolitiker des Stadtparla- einer Glashalle landauf, landab der Inbegriff mentes gehen schon immer im Bürgertreff ein dafür, dass Rathäuser nicht nur für den Rat und und aus. Sie haben nach der Eröffnung schnell die Verwaltung bestimmt sind, sondern die akti- gemerkt, was ihnen eine solche ‚permanente ve Bürgerschaft dort ihren festen Platz hat. Seit Bürgerversammlung‘ bringt. Und umgekehrt nunmehr 17 Jahren wird in der Stadt der 3 Hs haben die Bürger die Nähe zu Gemeinderat und (Hölderlin, Härtling und Harald Schmidt) an auch Verwaltungsspitze als unverkrampft und der Vernetzung von Bürgerschaft, Politik, Ver- selbstverständlich erlebt. Bürgerorientierung waltung und Wirtschaft ganz im Sinne einer und Bürgerengagement steht grundsätzlich im lokalen Zivilgesellschaft gearbeitet. Und bei al- Spannungsverhältnis und im ‚magischen Drei- ler Kreativität im Alltag ist man in Nürtingen eck‘ zwischen Bürger, Politik und Verwaltung. um eine Systematik bemüht. So entstand die Durch die kontinuierliche Einbeziehung der Nürtinger Formel für eine aktive Bürgerkom- Kommunalpolitiker in die alltägliche Arbeit stell- mune: te sich aber nie die ‚Machtfrage‘. Immer waren die Rollen klar verteilt und richteten sich stets BüKo = E(BF x EF) an dem aus, was in Schweden mit ‚großer und Das E vor der Klammer steht für Empower- kleiner Demokratie‘ gemeint ist: Die ‚große ment und ist in Nürtingen das zentrale Instru- Demokratie’ als die klassische, gewählte, parla- ment bei der Förderung von Beteiligung und mentarische Form und Bürgerengagement als Engagement. Empowerment als Konzept zeich- die ‚kleine Demokratie‘, die alltägliche Form net sich durch die Abwendung von einer defi- der Mitwirkung auf vielen verschiedenen, nicht zitorientierten hin zu einer stärkenorientierten immer politischen Feldern. Wir suchten nach Wahrnehmung aus. Empowerment wird viel einer Möglichkeit, Beteiligung an dieser Stelle beschworen und ist dennoch ein in Deutsch- lebendig werden zu lassen und erfanden hier land viel zu wenig beachteter Ansatz in der Dis- gemeinsam mit unserer lokalen Zeitung den kussion um das bürgerschaftliche Engagement. ‚Dämmerschoppen-Dialog‘ – ‚Kommunalpoli- Die Förderung der Selbstkompetenz der Bür- tiker fragen – Bürger antworten‘. Mit einer pa- ger und Bürgerinnen steht dabei im Mittelpunkt radoxen Methode wird das Dialogprinzip frucht- der Praxis. Das ehrenamtliche Engagement soll bar gemacht. sich nicht mehr durch unbezahlte Arbeit und Ein wichtiges Lern- und Beteiligungsinstru- durch ‚Ehre‘ bei der Übernahme von Ämtern in ment ist die seit 1997 jährlich stattfindende Vereinen und Verbänden definieren, sondern soll Nürtinger Sozialkonferenz, die auch methodisch dem engagierten Mitbürger eine Plattform bie- auf Formen der informellen Beteiligung setzt. ten, seine Belange selbst in die Hand zu neh- In der Sozialkonferenz wurden in den vergan- men. genen Jahren Themen wie das interkulturelle Die Bürgerkommune als Gesamtkonzept 109

Zusammenleben oder die Integration von Men- Initiativen bieten selbst Gutscheine an, nehmen schen mit Behinderungen aufgegriffen, Denk- also nicht nur in Anspruch, sondern bringen ihr anstöße für ein Zusammenleben zwischen Ei- Engagement mit ein. Ob astronomische Füh- gennutz und Gemeinsinn gesucht und Bürge- rungen, Kirchturmrundblick oder Bootspartie – rInnen als ExpertInnen beteiligt. Im Jahr 2005 dieser Pass schafft die Voraussetzungen für ein führte Nürtingen als 5. Kommune in Deutsch- Netzwerk von Geben und Nehmen. land die im Städtenetzwerk Civitas der Bertels- mann Stiftung entwickelte ‚Lokale Demokra- 1999: ‚Hier ist der Bürger wirklich tiebilanz‘ durch. Eine repräsentative Bürgerbe- König‘ fragung, eine Verwaltungsenquete und die Rats- Die Stadt Nürtingen mit ihren 40.000 Einwoh- beteiligung sind dabei dynamische Elemente für nern gewann den ersten Preis beim Bundes- die Belebung der lokalen Demokratie. In Nür- wettbewerb der Bertelsmann Stiftung ‚Bürger- tingen werden, wie mittlerweile in ganz Baden orientierte Kommune – Wege zur Stärkung der Württemberg, systematisch Bürgermentoren als Demokratie‘ unter 83 teilnehmenden Kommu- Brückenbauer zwischen Verwaltung, Bürger und nen vor Leipzig und Bremen. Mit dem Preis- Politik ausgebildet und eingesetzt. In Nürtin- geld in Höhe von DM 50.000,– wurde eine gen ganz speziell in den 11 Beteiligungsforen. städtische Bürgerstiftung eingerichtet. Der Preis bedeutete eine große Anerkennung für das En- Engagementförderung (EF) gagement der Bürger in der Stadt Nürtingen, Die konsequente Engagementförderung (EF) für den Dialog zwischen Politik und Bürger- durch die Stabsstelle führte 1997 zur Einfüh- schaft und für eine konsequente Anerkennungs- rung des Nürtinger Freiwilligenpasses. Das lo- kultur. Über 5 Jahre hinweg organisierte Ber- kale Bonussystem bezieht Handel, Banken, telsmann das Städtenetzwerk Civitas, das bis Krankenkassen und Energieversorger als loka- heute durch die ‚Civitas Botschafter‘ zum Er- le Sponsoren und Förderer in den bürgergesell- fahrungsaustausch genutzt wird. Die Stadtver- schaftlichen Kreislauf ein. In einem Scheckheft waltung Nürtingen richtete 2001 in Absprache werden seitdem jährlich über 140 Gutscheine mit dem Personalrat das erste ‚Azubivoluntee- an Sachspenden, aber auch an Unterstützung ring‘ in Deutschland ein: Verwaltungsauszubil- durch Räume und Menpower den Engagierten dende engagieren sich seitdem während der angeboten. Der Freiwilligenpass hat einen fi- Arbeitszeit in sozialen Organisationen und Pro- nanziellen Wert von ca. 10.000 Euro und er- jekten. reicht bis zu 3.000 Engagierte. Die drei Ws Im Rahmen eines Lehrauftrags an der Hoch- Wertschätzung, Würdigung und Weiterbildung schule für Wirtschaft und Umwelt thematisierte sind zentrale Entwicklungsbausteine der Enga- Hannes Wezel von der Stabsstelle BE im Jahr gementförderung im Freiwilligenwesen. Thea- 2001 das Thema ‚Corporate Volunteering‘. Stu- ter- oder Kinokarten, Freifahrten bis in die Bun- denten erarbeiteten Referate zum Thema und deshauptstadt Berlin, Warengutscheine für Nür- organisieren zusammen mit der Stabsstelle für tinger Kaufhäuser (Bäcker und Metzger) sind BE der Stadt Nürtingen die Verleihung eines für die Freiwilligen Anreiz und Anerkennung. lokalen Ehrenamtspreises ‚Goldener Bingo‘ am Der Freiwilligenpass steht für öffentliche An- internationalen Freiwilligentag (dem 5. Dezem- erkennung als Gemeinschaftsleistung innerhalb ber 2001) an sechs beispielhafte, ortsansässige unserer Kommune. Firmen. Diese hatten die Möglichkeit, ihr Enga- Es steckt aber noch ein weiterer qualitativer, gement einer großen Öffentlichkeit vorzustel- menschlicher Aspekt im Freiwilligenpass: Die len. 110 Hannes Wenzel

Die Zusammenarbeit zwischen der Stabs- Stabsstelle BE und ausgebildeten Bürgermen- stelle BE der Stadt und der Hochschule für Wirt- torInnen eine Fachtagung zum Thema Corpora- schaft und Umwelt führt im Jahr 2002 zur Ein- te Citizenship vorbereitet und im Oktober mit richtung der Projekts ‚Service learning‘. Stu- über 80 Teilnehmern aus Hochschule, Unter- dierende hatten fortan die Möglichkeit, sich pro- nehmen, Kommunen und Sozialministerium jektorientiert im Bereich der lokalen Bürgerge- realisiert. Der Experte Dieter Schöffmann hielt sellschaft zu engagieren, ihre Fähigkeiten zu dabei den Hauptvortrag. erproben und erhalten dafür ein Zertifikat. Die Die vier Firmen Heller, Senner Medien, Pam Auszubildenden-Vertretung der Firma Heller Network Studios und die Stadt Nürtingen fi- fragte im Bürgertreff nach Projekten, in denen nanzierten und realisierten im Jahr 2006 einen sich 120 Auszubildende engagieren könnten! Kinospot mit dem Titel: ‚Nürtingen bewegt alle‘ Gemeinsam mit den Azubis, der Personalabtei- zum Thema ‚Unternehmen übernehmen soziale lung der Firma Heller und dem Personalrat ent- Verantwortung‘. Der Nürtinger Kinopalast un- stand ‚HAI‘, die Heller-Azubi-Initiative, mit terstützte diese Kampagne, indem dieser Spot eigenständigen, neuen Projekten und einer fir- zur Werbung neuer Firmen ein Jahr lang vor meneigenen Organisationsstruktur. Die Projek- jedem Hauptfilm kostenlos gezeigt wurde. te reichen von Discos und Fußballturnieren mit Bereits nach sechs Wochen haben sich 4 neue Behinderten, über Waldreinigungsaktionen bis Firmen, interessanterweise aus Handwerk und zum Verkauf von selbst produzierten Waren auf Einzelhandel, gemeldet. dem Weihnachtsmarkt. Ausgehend von der Tagung und den aktuel- Erstmalig fand 2003 die ‚Messe Aktiv‘ statt, len Entwicklungen in Zusammenhang mit dem eine Freiwilligen-Messe mit 120 Organisatio- Kinospot bereitete eine Arbeitsgruppe, beste- nen, darunter auch Firmen, die sich sozial enga- hend aus Stabsstelle BE, Bürgermentoren und gieren. Über 10.000 Besucher kommen, stau- Hochschule, zusammen mit der Wirtschaftsför- nen, diskutieren und vernetzen sich zu neuen derin der Stadt Nürtingen die Gründung eines Projekten. Azubivolunteering macht in Firmen ständigen Forums für CC vor. Dieses Forum ist die Runde: Die Azubis der Maschinenfabrik eines von momentan elf Bürgerforen, die als Heller engagieren sich jährlich mit 120 Auszu- Instrumente der Beteiligung an nahezu allen bildenden. Diese Initiative war nicht aufzuhal- kommunalen Fragestellungen im Nürtinger ten und gewann den ersten Ehrenamtspreis des Gemeinwesen mitwirken. Zur nachhaltigen För- Landes Baden-Württemberg ‚Echt Gut‘ derung des Bürgerengagements in Nürtingen Beim jährlich stattfindenden traditionellen wurde die bislang rechtlich unselbständige städ- Benefizlauf ‚In Nürtingen läuft was‘, bei dem tische Stiftung vom Nürtinger Gemeinderat in jede gelaufene Runde 50 Cent für soziale Zwe- eine eigenständige Bürgerstiftung umgewandelt. cke erbringt, wurde 2005 erstmalig eine Fir- menwertung ausgeschrieben. Die Firma mit den Und die Zukunft? Ein Szenario meisten Mitarbeitern am Start erhält einen Po- Überall wurden Rathäuser zu Bürgerhäusern kal. 20 Firmen beteiligten sich mit insgesamt und nach und nach wuchsen aller Orten kom- ca. 500 Mitarbeitern. Eine ganz einfache Idee, munale Zentren für Zivilgesellschaft, übrigens wie Firmen aktiv etwas Gutes für das Gemein- nach unserem Nürtinger Vorbild, in denen Poli- wesen leisten können. tik, Bürger und Verwaltung gegenseitige Sei- Im Laufe des Sommersemesters wurde von tenwechselprojekte durchführen. So konnte ge- Studierenden und Mitarbeitern der Hochschule genseitiges Verständnis geschaffen werden. Bei für Wirtschaft und Umwelt gemeinsam mit der uns hat jeder gewählte Stadtrat zwischenzeitlich Die Bürgerkommune als Gesamtkonzept 111

seinen ausgebildeten Bürgmentor als Berater zur nes Engagement!‘ Oder ‚Gute Menschen, Seite und in den Verwaltungen gibt es nicht nur schlechte Menschen‘ – aus dem Leben der En- Azubivolunteering, sondern auch Amtsleitervo- gagierten erfährt man hautnah, was den Leuten lunteering nach dem Vorbild der Civitas-Kom- so auf der Seele brennt. mune Essen aus dem Jahr 2007. ‚Anerkennungskultur für Alle‘ ist der zen- Klar, der monatliche ‚Bürgeraward‘ inklu- trale Slogan der Bürgergesellschaft. Bei regel- sive den samstäglichen TV-Shows mit Gott- mäßigen Ehrungen von engagierten Bürgern, schalk und Schmidt hat bei uns längst Kultsta- bürgerorientierter Verwaltung und engagierten tus. Vor allem lässt keiner der Moderatoren aus, Kommunalpolitikern, die immer Samstagmit- sich mit seiner ganz persönlichen Engagement- tags in der Halbzeitpause der Bundesligaspiele geschichte zu outen! Allen voran unser Nürtin- in den Stadien stattfinden und somit eine breite ger Lästermaul Harald Schmidt. Da kam doch Öffentlichkeit erreichen, ist eine ganz neue Kul- ans Licht, dass er sich als Zivi und Organist in tur der Anerkennung entstanden. Und regelmä- seiner Heimatstadt in jungen Jahren schon ins ßige Führungen durch das ‚Engagement-Mu- Zeug legte und als Moderator von Altennach- seums-Dorf‘ in Nürtingen zeigen, wie damals mittagen und Sommerferienlagern Engage- alles einmal anfing. mentspuren hinterließ. Mir gefallen vor allem die Talkshows am Nachmittag. Und die Nach- Hannes Wezel ist Leiter der Geschäftsstelle mittagsserien und Engagementsoaps ‚Verbote- für Bürgerengagement der Stadt Nürtingen 112 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

Roswitha Rüschendorf

Standort bestimmen und Wege ausbauen Eine „Arbeitshilfe zur Selbstbewertung dörflicher Aktivitäten“

Ohne die Bereitschaft der Bewohnerinnen und vorsteher, Mitglieder dörflicher Arbeitskreise Bewohner, Verantwortung für ihr Gemeinwe- und Bürgermeister beteiligten sich daran. Im sen zu übernehmen, wären heute weite Teile Winter 2006/2007 durchlief der Test einen Pro- dessen, was ländliche Lebensqualität ausmacht, belauf in vier Orten. Nach Einarbeitung der nicht mehr vorhanden. Mit einer neuen Arbeits- Anregungen wurde die Arbeitshilfe im April hilfe möchte das hessische Ministerium für 2007 herausgegeben. Mit knapp 500 Abgaben Umwelt, ländlichen Raum und Verbraucher- ist sie zwischenzeitlich sehr gut verbreitet. schutz (HMULV) diese Bereitschaft noch stär- ker unterstützen, so Minister Wilhelm Dietzel Worum geht es in der Arbeitshilfe? in dem Vorwort der Arbeitshilfe. Sie liegt als Wie wird sie eingesetzt? Broschüre im DIN A 5 Format mit eingelegter Das mit der Arbeitshilfe zur Verfügung gestell- CD-ROM vor. te Instrument unterstützt die Bewohnerinnen Ziel der Arbeitshilfe ist, den Dörfern ein In- und Bewohner von Orts- und Stadtteilen, ihre strument zur Verfügung zu stellen, mit dem sie vielfältigen Aktivitäten im Hinblick auf die Si- die Stärken und Schwächen ihres Engagements cherung der örtlichen Lebensqualität einzuschät- bezüglich einer nachhaltigen lokalen und kom- zen. Die Selbstbewertung erfolgt unter Hinzu- munalen Entwicklung individuell bestimmen ziehung aller örtlich engagierten und interes- können. Dieses unterstützt den Entwicklungs- sierten Bewohner oder auch im Rahmen einer prozess und motiviert Orte, sich damit zu be- Bürgerversammlung. Die vorgegeben Metho- fassen. Mit dem Einsatz des Produkts als CD- de ist so konzipiert, dass sie ohne externe Hilfe Rom soll die nachhaltige Entwicklung des länd- eingesetzt werden kann. Die Anleitung (Bro- lichen Raumes weiter gestärkt werden. schüre) ist gut verständlich im Sinne einer Spiel- Die AnwenderInnen sollen unterstützt wer- anleitung geschrieben. den in den Fragen: Die Bewertung erfolgt mit Hilfe eines Tests. • Wo stehen wir jetzt? (Aktuelle Situation be- Er umfasst elf thematische Handlungsfelder. stimmen) Diese sind: • Wo wollen wir hin? (Ziele für die Zukunft A. Soziales Gefüge und Identifikation festlegen, Perspektiventwicklung) B. Kulturelle Vielfalt • Wie weit sind wir inzwischen gekommen? C. Kommunikation (Teilziele definieren) D. Motivation E. Örtliche Organisation Was zeichnet die Hilfe noch aus? F. Überörtliches und regionales Engagement der Nicht nur der Inhalt, sondern gerade auch die Ortsgemeinschaft Art und Weise wie die Arbeitshilfe entwickelt G. Wirtschaftlich-soziale Initiativen wurde, sind neuartig und lassen eine gute Pra- H. Baugestaltung des Ortes xistauglichkeit erwarten. So wurden die Inhalte I. Grüngestaltung des Ortes 2006 unter Mitwirkung von 18 örtlich aktiven J. Natur- und Landschaftsschutz Personen aus 17 Landkreisen erarbeitet. Orts- K. Entwicklungsperspektiven. Standort bestimmen und Wege ausbauen 113

Wie unschwer zu erkennen ist, definieren Gründe hierfür verantwortlich sind und welche diese Themen einerseits dörfliche Lebensquali- Folgerungen daraus gezogen werden können, tät. Andererseits bilden sie die Ansatzpunkte für dass sollten die weiteren gemeinsamen Diskus- das Engagement der Bewohnerinnen und Be- sion erbringen. Hierin liegt der eigentliche Ge- wohner. Die Selbsteinschätzung und Selbstbe- winn der Evaluierungsmethode. In zeitlichen wertung erfolgt über die Fragen ‚Wo stehen Abständen eingesetzt, z.B. von zwei bis drei Jah- wir?‘ und ‚Wo wollen wir hin?‘ Beispielhaft ren, lassen sich Veränderungen feststellen. Für sind hierzu einige konkrete Fragen aufgenom- die eigentliche Durchführung des Tests sind ca. men. Da jedes Handlungsfeld jeweils über fünf drei bis vier Stunden zu veranschlagen. Daran Indikatoren definiert wird, stehen insgesamt 55 schließt sich die Diskussion der Ergebnisse an. Ausschnitte dörflichen Lebens zur Diskussion. Die jeweilige Bewertung erfolgt in den Skalen Beispiel: Motivation 1 bis 5 oder 0 % bis 100 %. Motivation ist einer der 11 Erfolgsfaktoren (Hand- Die Auswertung ist EDV-unterstützt. Über lungsfelder) zur Selbsteinschätzung. Nachfol- Netz- und Säulendiagramme sind die Ergebnisse gend sind zwei der fünf Indikatoren und die ent- für alle gut lesbar. Sie liefern den Bewohnern sprechenden hinführenden Fragen aufgeführt. Hinweise, in welchem Handlungsfeld ihr Ort Haben wir Bürger, die ihre Ideen einbringen und stark ist und in welchem weniger gut. Welche andere motivieren können? Gibt es Visionäre? 114 Roswitha Rüschendorf

Grafische Darstellung des Gesamtergebnisses

Orte, die sich am Programm der Dorferneuerung und am Hessischen Wettbewerb ‚Unser Dorf hat Zukunft’ be- teiligen oder sich dafür inte- ressieren.

Hinweise Sie erhalten die Arbeitshilfe beim Regierungspräsidium Kassel, (Roswitha Rüschen- dorf, Telefon: 0561-106- 3125; E-Mail: roswitha. [email protected]). Anleitung, Handlungsfel- der und Auswertung finden Sie auch bei www.rp- kassel.de (Direktlink Dorf- wettbewerb) unter Aktuelles.

Roswitha Rüschendorf arbeitet beim Regie- Wer kann die Arbeitshilfe einsetzen? rungspräsidium in Kassel. Der Test richtet sich an alle Orts- und Stadtteile, die sich um eine ganzheitliche Ortsentwicklung bemühen. Damit unterstützt er gerade auch die Pulsschlag 115

SELBSTDARSTELLUNG frei-gemeinnützige und privat-gewerbliche Or- ...... ganisationen. Bevor wir uns der Arbeit des Observatori- Europa im Blick ums zuwenden, bleibt aber die Frage zu klären: Das Observatorium für die Weshalb ist für diese sozialen Dienste die EU Entwicklung der sozialen Dienste in und ihre Politik relevant? Europa EU und soziale Dienste Offene Methode der Koordinierung oder sozia- Diese Frage mag sich auf den ersten Blick le Dienste von Allgemeinem Interesse – mit die- durchaus stellen, denn schließlich hat die natio- sen der EU-Politik entstammenden Wortunge- nale Ebene nach wie vor die Hauptkompeten- tümen müssen sich soziale Dienstleister heute zen in dem Bereich der Sozialpolitik. Dies wird auseinandersetzen, wollen sie im ‚EU-Dschun- auch durch den Vertrag von Lissabon nicht ge- gel‘ nicht den Überblick verlieren. Das Obser- ändert werden. Auf den zweiten Blick sieht dies vatorium für die Entwicklung der sozialen aber anders aus, denn längst haben viele soziale Dienste in Europa hat dabei seit seiner Entste- Themen quasi durch die Hintertür den Weg auf hung 1999 die Aufgabe, durch die beobachten- die EU-Ebene gefunden. Diese Hintertür heißt de Begleitung der EU-Politik und die Bereit- ‚Offene Methode der Koordinierung‘ (OMK). stellung von vielfältigen Informationen diesen Diese Methode ist ein Bestandteil der Lissa- EU-Dschungel zugänglicher und übersichtlicher bon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung zu gestalten. Finanziert wird das Observatori- und wird angewandt, wenn bestimmte Themen um von Beginn an vom Bundesministerium für auf der EU-Ebene behandelt werden sollen, Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFS- ohne dass explizite EU-Kompetenzen für die- FJ), mit der Durchführung des Projekts wur- ses Politikfeld bestehen. Auf EU-Ebene wer- den der Deutsche Verein für öffentliche und pri- den für die verschiedenen Politikfelder gemein- vate Fürsorge e.V. und das Institut für Sozialar- same Ziele vereinbart sowie Indikatoren, die die beit und Sozialpädagogik e.V. betraut. Erreichung der Ziele bewerten sollen. Die ein- Bezugspunkt für die Aktivitäten des Obser- zelnen EU-Länder haben dann die Aufgabe, re- vatoriums ist dabei immer die Frage nach der gelmäßig Berichte über ihre Fortschritte bei der Relevanz der Themen für die Bereitstellung so- Zielvereinbarung nach Brüssel zu senden. Die zialer Dienste. Soziale Dienste sind dabei wie OMK wird dabei in Bereichen wie Jugend, folgt definiert: Sozialschutz und soziale Eingliederung, Ge- • Personenbezogene Dienstleistungen im Sin- sundheitsversorgung und Langzeitpflege, Bil- ne zeitgleicher und ortsgebundener Interak- dung und Beschäftigung angewandt. Es ent- tionsbeziehungen steht allerdings aus der OMK heraus keine ver- • Soziale Dienstleistungen im Sinne berufli- bindliche Politik für die Mitgliedsländer. Den- cher und ehrenamtlicher Handlungen noch bleibt festzuhalten, dass wesentliche Akti- • Soziale Dienste im Sinne eines organisato- vitätsbereiche, in denen soziale Dienste aktiv risch-institutionellen Handlungsrahmens sind, damit auf EU-Ebene diskutiert werden.1 • Soziale Dienste als Teil des Sozialleistungs- Hinzu kommt, dass die nationalen Regierungen systems des Wohlfahrtsstaates, in Ergänzung angehalten sind, die relevanten Akteure der je- zu Geld- und Sachleistungen weiligen Politikfelder zur Erstellung der Berichte Dabei werden drei verschiedene Anbieter von zu konsultieren und dies sind eben auch die sozialen Diensten unterschieden: öffentliche, sozialen Dienstleister. Besonders gemeinnützi- 116 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

ge soziale Dienstleister sind damit in ihrer an- Idee des Observatoriums für die Entwicklung waltschaftlichen Funktion angesprochen. In der der sozialen Dienste in Europa. Mit der Durch- Tat sind diese Akteure ja auch längst in Brüs- führung dieses Projekts wurden der Deutsche sel präsent, Wohlfahrtsverbände wie die Dia- Verein für private und öffentliche Fürsorge e.V. konie oder der Caritas-Verband haben eigene sowie das Institut für Sozialarbeit und Sozial- Büros dort. Die Prozesse rund um die OMK pädagogik e.V. vom BMFSFJ beauftragt. Auf- wurden vom Observatorium in den letzten Jah- gabe des Observatoriums ist seither die Beob- ren beobachtet und analysiert (Siehe z.B. Mau- achtung aktueller EU-Politik, die für soziale cher 2004). Dienste von Belang sind. Ein ganz wichtiger Ein noch handfesterer Grund für die sozia- Aspekt ist dabei die vergleichende internationa- len Dienstleister sich mit EU-Politik zu beschäf- le Perspektive, d.h. es werden auch immer Ent- tigen, ist die seit längerem bestehende Diskus- wicklungen in anderen EU-Staaten unter die sion, ob soziale Dienstleistungen unter die Be- Lupe genommen. Für das Verständnis der Ent- stimmungen des EU-Binnenmarkts und des wicklung von EU-Politik ist es relevant, diese Wettbewerbsrechts fallen. Das würde gerade für nicht immer nur aus der deutschen Perspektive Deutschland Konsequenzen haben, da dies das zu betrachten. Gerade die besondere Situation deutsche System der Bereitstellung sozialer deutscher gemeinnütziger sozialer Dienstleister Dienste, welches durch das Subsidiaritätsprin- unterscheidet sich von der Situation in anderen zip und die steuerliche Begünstigung gemein- europäischen Ländern, in denen z.B. der Staat nütziger Anbieter gekennzeichnet ist, in Frage eine größere Rolle als Anbieter von Dienstleis- stellen würde. tungen spielt. Ein weiterer Grund für soziale Dienstleister, In Abstimmung mit dem BMFSFJ und an- sich mit der EU und anderen EU-Mitgliedslän- gepasst an aktuelle Diskussionen wird jedes dern auseinander zusetzen, ist, dass die grenzü- Jahr ein Arbeitsplan mit übergeordneten The- berschreitenden Aktivitäten verschiedener Trä- men und Fragestellungen für das Observato- ger längst Realität ist. Damit ist nicht nur das rium entwickelt. Dieser Arbeitsplan lässt aber deutsche Seniorenheim in Spanien gemeint, son- auch immer Freiräume, um auf aktuelle poli- dern gerade in grenznahen Regionen sind An- tische Entwicklungen auf der EU-Ebene ein- bieter oft auch in den Nachbarländern aktiv. zugehen. Die zusammengetragenen Ergebnis- Andere Träger haben sich im Zuge der EU- se werden dann nicht nur dem BMFSFJ zur Erweiterung in Mittel- und Osteuropa nieder- Verfügung gestellt, sondern auch der interes- gelassen. sierten Öffentlichkeit. Neben Wissenschaft- lern, Studierenden und politischen Entschei- Die Arbeit des Observatoriums für die dungsträgern sind es vor allem die sozialen Entwicklung der sozialen Dienste in Dienstleister, an die die Arbeitsergebnisse he- Europa rangetragen werden und mit denen ein Aus- Bereits Ende der 1990er zeichnete sich die zu- tausch stattfindet. Diese Rückkoppelung an nehmende Relevanz der EU-Politik für die so- die praktische Arbeit der sozialen Dienstlei- zialen Dienste ab. Fragen des Wettbewerbsrechts ster erfolgt auf den Tagungen des Fachaus- und der Niederlassungsfreiheit rückten in den schusses ‚Internationale Zusammenarbeit und Vordergrund. Aber auch allgemeine Entwick- europäische Integration’ des Deutschen Ver- lungstendenzen wie die zunehmende Ökono- eins für private und öffentliche Fürsorge. Hier misierung der sozialen Dienste gewannen an wird die Arbeit des Observatoriums regelmä- Relevanz. Vor diesem Hintergrund entstand die ßig diskutiert. Pulsschlag 117

Weiterhin veranstaltet das Observatorium wird. Im Bereich soziale Dienstleistungen Tagungen und publiziert längere Arbeitspapiere herrscht noch viel Unsicherheit rund um das zu den aktuellen Arbeitsthemen. Zwei mal pro Thema staatliche Beihilfen und Vergaberechte. Jahr erscheint der Newsletter des Observatori- Um diesen Unsicherheiten zu begegnen richtete ums sowohl in englischer als auch in deutscher die Europäische Kommission Anfang 2008 ein Sprache. Alle Publikationen und Arbeitsergeb- Internetportal ein, dass offene Fragen beantwor- nisse werden auf der projekteigenen Homepage ten will.3 bereitgestellt. Mittlerweile wurde die Förderungsdauer des Aktuelles und Ausblick Projekts bereits mehrmals verlängert, gerade im Das Thema ‚Soziale Dienste und Binnenmarkt‘ Januar 2008 begann eine neue Förderperiode. wird damit auch in der aktuellen Förderperiode eine wesentliche Rolle spielen. Darüber hinaus Die Themen des Observatoriums wurden in Absprache mit dem BMFSFJ drei Ein breites Spektrum an Themen stand in dieser weitere Arbeitsschwerpunkte festgelegt. So wird Zeit auf der Tagesordnung. Zu Beginn wurde das Thema bürgerschaftliches Engagement und viel Grundlagenarbeit geleistet, so entstanden Soziale Dienste behandelt werden. Bürgerschaft- im Jahr 2000 und 2003 jeweils umfassende Bi- liches Engagement spielt in der Diskussion um bliographien zum Themenbereich Soziale Diens- die besonderen Charakteristika von Sozialdienst- te in Europa. Die Entwicklung der sozialen leistungen eine Rolle, da es als wichtiges Un- Dienste in Mittel- und Osteuropa vor dem EU- terscheidungsmerkmal zu Dienstleistungen an- Beitritt 2004 begleitete das Observatorium mit derer Art dienen könnte. So macht die Europäi- mehreren Konferenzen und Artikeln. Die recht- sche Kommission deutlich: „Eine wichtige Rol- liche Seite der Tätigkeit von sozialen Diensten le bei der Erbringung ehrenamtlicher Helfer, die in Europa war ebenfalls ein Schwerpunktthema damit ihre Fähigkeiten zu aktivem Bürgersinn der letzten Jahre, so wurde beispielsweise im unter Beweis stellen und zur sozialen Integrati- Auftrag des Observatoriums ein Gutachten er- on und zum sozialen Zusammenhalt innerhalb stellt, welches die europarechtlichen Rahmen- lokaler Gebietskörperschaften sowie zur Soli- bedingungen für die Tätigkeit sozialer Dienste darität zwischen den Generationen beitragen.“ und Einrichtungen prüft (Schulte 2001). (Kommission der Europäischen Gemeinschaf- Wie bereits erwähnt, ist das Thema soziale ten 2007: 8). Dienstleistungen und EU-Binnenmarkt ein Das zweite Thema auf der Tagesordnung des ‚Dauerbrenner‘ in der Arbeit des Observatori- Observatoriums ist die Frage nach der Reaktion ums. So ist zwar der besondere Charakter von von Sozialen Diensten auf den demographi- sozialen Dienstleistungen von allgemeinem In- schen Wandel. Hier wird der Frage nachgegan- teresse anerkannt worden, dennoch macht die gen, mit welchen Konzepten die sozialen Dienste Europäische Kommission deutlich, dass eine den Herausforderungen des demographischen Vielzahl der von sozialen Einrichtungen erbrach- Wandels entgegentreten, wie zum Beispiel der ten Leistungen unter das Gemeinschaftsrecht erwarteten wachsenden Anzahl der Demenzkran- der EU fallen (Kommission der Europäischen ken oder der Gewinnung ausreichender Arbeits- Gemeinschaften 2007: 8).2 Dazu muss beachtet kräfte. werden, dass im EU-Recht nicht unterschieden Drittens bearbeitet das Observatorium das wird, wer eine Dienstleistung anbietet (also eine Thema Familienpolitik, das mit der Europäischen gemeinnützige Einrichtung oder eine gewinn- Allianz für Familien im Jahr 2007 unter der orientierter Anbieter), sondern was angeboten deutschen Ratspräsidentschaft eine EU-Dimen- 118 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

sion bekommen hat.4 Zu diesem Thema richtete Birgit Sittermann, wissenschaftliche Mitar- das Observatorium bereits 2007 in Zusammen- beiterin des Observatoriums für die Entwick- arbeit mit dem Deutschen Verein für private und lung der sozialen Dienste in Europa (Projekt- öffentliche Fürsorge eine internationale Konfe- team Frankfurt am Institut für Sozialarbeit und renz mit dem Titel ‚Aktuelle Entwicklungen in Sozialpädagogik e.V.). Kontakt: der europäischen Familienpolitik‘ aus. Anknüp- [email protected]. fend daran steht nun vor allem die Frage im Vordergrund, welche Konzepte zur Kinderbe- Anmerkungen treuung in anderen EU-Mitgliedsländern vor- 1Weitere Informationen zur OMK gibt es auf herrschen und welche Rolle die einzelnen rele- den Internetseiten der EU: http://ec.europa.eu/ vanten Akteure neben der Familie – also Unter- employment_social/spsi/the_process_de.htm nehmen, Staat und soziale Dienste – in der Si- (abgerufen am 27.3.08). cherung der Kinderbetreuung spielen. Bei die- 2Dieses Dokument bietet einen guten Über- sem Thema wird wie bei allen anderen im Ob- blick über die Entwicklungen der letzten Jahre servatorium bearbeiteten Fragestellungen eine und den aktuellen Diskussionsstand rund um vergleichende Perspektive angenommen und die soziale Dienstleistungen von allgemeinem Inte- Situation in anderen EU-Mitgliedsländern be- resse. trachtet. 3Siehe: http://ec.europa.eu/services_general_ Neben diesen grundlegenden Themen wird interest/index_de.htm (abgerufen am 27.03.08) die Verfolgung aktueller Politikentwicklungen 4Siehe das Webportal der Europäischen Al- nicht vergessen. So wird das Observatorium lianz für Familien: http://ec.europa.eu/ aufmerksam die Veröffentlichung der neuen employment_social/families/european-alliance- sozialen Agenda der EU, die für den nächsten for-families_de.html (abgerufen am 27.3.2008). Zyklus der Lissabonstrategie gelten soll, ver- 5Beim Treffen des Europäischen Rats im folgen.5 Und das Jahr 2009 bringt einige Ver- März 2008 wurden bereits die Grundlagen für änderungen für die EU mit sich: Sollte der Lis- die neue soziale Agenda festgesetzt. Vgl. Rat sabon-Vertrag wie planmäßig in Kraft treten, so der Europäischen Union 2008. Informationen wird die Position des EU-Präsidenten einge- zur bisherigen sozialen Agenda werden unter richtet werden. Außerdem finden Wahlen zum http://ec.europa.eu/employment_social/ Europäischen Parlament statt und eine neue EU- social_policy_agenda/social_pol_ag_en.html Kommission wird ihre Arbeit beginnen. Das (abgerufen am 27.3.08) bereitgestellt. Observatorium wird weiterhin im Blick behal- ten, wie sich unter diesen Rahmenbedingungen Literatur die für soziale Dienste relevanten Politikfelder Kommission der Europäischen Gemein- auf EU-Ebene entwickeln. schaften 2007: Mitteilung der Kommission an Unter www.soziale-dienste-in-europa.de das Europäische Parlament, den Rat, den Euro- bietet das Observatorium für die Entwicklung päischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und der sozialen Dienste in Europa Informationen den Ausschuss der Regionen. Begleitdokument zu den bisher bearbeiteten Themen und eine Liste zu der Mitteilung „Ein Binnenmarkt für das aller Publikationen, die auch heruntergeladen Europa des 21. Jahrhunderts“. Dienstleistun- werden können. Auch der halbjährlich erschei- gen von allgemeinem Interesse unter Einschluss nende Newsletter ist auf der Internetseite zu fin- von Sozialdienstleistungen: Europas neues En- den. gagement. KOM(2007)725 endg. Pulsschlag 119

Maucher, Mathias 2004:Beteiligung mög- ‚Kommissionitis‘ und deliberative lich? – Die Offene Methode der Koordinierung Demokratie und ihre Anwendung im Sozialbereich. Im In- Am weitesten gehen diesbezüglich sicherlich ternet unter: http://www.soziale-dienste-in- die diskurstheoretischen Überlegungen von Jür- europa.de/Anlage25405/ gen Habermas. Sein Ansatz besteht im Kern Artikel_Offene_Methode_der_Koodinierung_ darin, den „zwanglosen Zwang des besseren Beteiligungsverfahren.pdf (abgerufen am Arguments“ (Habermas 1984: 161) qua Deli- 27.3.08). beration als Grundprinzip politischer Entschei- Rat der Europäischen Union 2008: Tagung dungsfindung nutzbar zu machen. Folgt man des Europäischen Rates vom 13./14. März in dieser Konzeption, so kann über die Richtigkeit Brüssel. Schlussfolgerungen des Vorsitzes. moralischer Handlungsnormen und über die Nr.7652/08. Wahrheit propositionaler Aussagen ein rational Schulte, Bernd 2001: Europarechtliche Rah- motiviertes Einverständnis erzielt werden. An- menbedingungen für die Tätigkeit sozialer gewendet auf den politischen Prozess hieße Dienste und Einrichtungen in kommunaler und dies, dass dem Disparitätsproblem mittels Schaf- freigemeinnütziger Trägerschaft = Arbeitspapier fung entsprechender Entscheidungsprozesse Nr. 6 des Observatoriums für die Entwicklung beizukommen ist. Am Ende einer so ausgestal- der sozialen Dienste und Einrichtungen in kom- ten Meinungs- und Willensbildung stehen dem- munaler und freigemeinnütziger Trägerschaft. nach Ergebnisse, von denen anzunehmen ist, Im Internet unter: http://www.soziale-dienste- dass sie „von allen Rechtsgenossen rational ak- in-europa.de/Anlage16940/ zeptiert werden könnte(n)“ (Habermas 1992: Arbeitspapier_Nr._6.pdf (abgerufen am 169) – also auch und gerade von den Trägern 27.3.08.) schwacher Interessen. Das Teilprojekt C 7 (‚Formen und Funkti- PROJEKT- UND TAGUNGSBERICHT onsweisen politischer Repräsentation von ...... Fremden und Armen‘) im Sonderforschungs- Prekäre Lebenslage – bereich 600 (‚Fremdheit und Armut‘) an der prekäre Repräsentation? Universität Trier beschäftigt sich mit der Über- prüfung dieses Inklusionsanspruchs. Als For- Die Problematik der Repräsentation sogenann- schungsgegenstand fungiert die Sozial- und ter schwacher Interessen gehört sicherlich zu Migrationspolitik in den beiden Amtszeiten den Kernfragen demokratischer Theorie und Gerhard Schröders. Dieser wird im Nachhinein Praxis. Nicht zuletzt hierbei machen Vertreter zwar gerne als ‚Basta-Kanzler‘ tituliert, stellte neuerer Demokratietheorien Vorteile ihrer eige- seine Kanzlerschaft jedoch zu deren Beginn nen Konzeptionen gegenüber hergebrachten unter das Motto eines ‚Regierens durch Dis- pluralistischen, realistischen oder parteiendemo- kurs‘. In seiner ersten Regierungserklärung kratischen Ansätzen geltend. Zivilgesellschaft- beschrieb Schröder (1998: 62f.) diesen Poli- liche, partizipatorische und deliberative Vorstel- tikstil wie folgt: „(...) die Republik der Neuen lungen von Demokratie erheben den Anspruch, Mitte ist auch eine Republik des Diskurses. Er der Disparität im politischen Wettbewerb wirk- findet nicht hinter den verschlossenen Türen sam entgegentreten, also den Inklusionsaspekt der Gremienvorstände statt. Die Neue Mitte von Demokratie gegenüber benachteiligten sucht den Konsens über das beste Ergebnis Gruppen vergleichsweise besser gewährleisten und nicht den Kompromiss über den kleinsten zu können. gemeinsamen Nenner.“ 120 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

Das Konsens- bzw. Diskursprinzip spiegel- schwacher Interessen in verschiedenen Demo- te sich – obgleich im Einzelfall natürlich auch kratietheorien nachzugehen. machtpolitische Aspekte eine große Rolle spiel- Primär fokussierend auf die letztgenannte theo- ten – durchaus in der der rot-grünen Regierungs- retische Teiluntersuchung wurde im Jahr 2007 praxis wider. Eine besondere Bedeutung erlang- eine Tagung zum Thema ‚Inklusion durch Re- ten in diesem Zusammenhang außerparlamen- präsentation’ veranstaltet, deren Ergebnisse tarische Konsensgremien bzw. Expertenkom- mittlerweile vorliegen (Thaa 2007b). Von Pro- missionen. Die bekanntesten dieser Gremien jektseite wurde dabei herausgearbeitet, wie eng wurden in der öffentlichen Wahrnehmung mit die Habermassche Deliberationstheorie mit ei- den Namen ihrer Vorsitzenden – z.B. Peter nem politischen Wahrheits- und Vernunftan- Hartz, Rita Süssmuth und Bert Rürup – identi- spruch verbunden ist, dessen Auswirkungen auf fiziert. Im Fall der sogenannten ‚Hartz-Komm- die Inklusion schwacher Interessen eher zwei- mission‘ (‚Moderne Dienstleistungen am Ar- felhaft sind. Winfried Thaa (2007a) konstatiert beitsmarkt‘) ist es schon alleine aufgrund der eine Kognitivierung und Informalisierung poli- Bezeichnung ‚Hartz-Gesetze‘ offensichtlich, tischer Repräsentation im deliberativen Modell dass die Kommissionsergebnisse einen nicht von Habermas. Das „begünstigt solche Interes- unerheblichen Einfluss auf die Reformpolitik sen und Meinungen, die einen strengen Allge- der Regierung Schröder besaßen. Auf die ‚Un- meinheitsanspruch geltend machen können“ abhängige Kommission ‚Zuwanderung‘ (‚Süss- (Thaa 2007a: 105), lässt aber im Umkehrschluss muth-Kommission‘) trifft dies mit Abstrichen auf erhebliche Nachteile für solche Migranten- ebenfalls zu, wenngleich die vorgeschlagene und Armengruppen schließen, bei deren An- Gesamtkonzeption im Gesetz nicht umgesetzt sprüchen eben jene Rückkopplung an das All- wurde. gemeininteresse nur schwer vermittelbar ist. Darüber hinaus konnte im Rahmen des the- Ziele und erste Ergebnisse oretischen Projektteils gezeigt werden, dass eine des Projekts Pluralismuskritik, die sich vor allem an der Pos- Das Trierer Forschungsprojekt fragt in ver- tulierung einer ‚naiven‘ Gleichgewichtstheorie gleichender Perspektive danach, ob die Inter- stößt, pluralistischen Demokratietheorien nicht essen von Migranten und sozial Benachteilig- gerecht wird. Innerhalb dieser Ansätze werden ten in den genannten Gremien besser reprä- nämlich (selbst von elitären Vertretern) vielfäl- sentiert wurden als im parlamentarischen Pro- tige und praktisch durchaus wirksame Inklusi- zess. Dabei geht es einerseits um die Reprä- onsmodi für die Repräsentation potentiell be- sentation in Form von Prozessen der Interes- nachteiligter Interessen genannt (vgl. Linden senvermittlung und -durchsetzung. Daneben 2007). Als zentrale Grundbedingungen für de- wird anhand von meinungsbildenden Artikeln ren Funktionsfähigkeit sind jedoch die Trans- in überregionalen Tages- und Wochenzeitun- parenz politischer Entscheidungsfindung sowie gen untersucht, ob die Kommissionsarbeit Ein- die Existenz „überlappender Mitgliedschaften“, fluss auf die öffentliche Diskussion genom- die quer zu sonstigen Gruppenzugehörigkeiten men hat. Im Engeren werden dabei Verände- verlaufen, anzusehen (vgl. Linden 2007: 78f.). rungen der Deutungsmuster von Fremdheit und Hinsichtlich der Entwicklung der öffentli- Armut sowie des jeweiligen argumentativen chen Debatte zwischen 1998 und 2005 bestäti- Rahmens der Debatten zur Migrations- und gen die vorgenommenen Auswertungen von Sozialpolitik analysiert. Darüber hinaus hat man Zeitungsartikeln einen ‚gefühlten Trend‘. In der es sich zur Aufgabe gemacht, der Verortung Sozialstaatsdiskussion dominieren ökonomische Pulsschlag 121

gegenüber karitativen und republikanischen selbst in der politischen Theorie jedoch eine Begründungsweisen. Dabei sehen sich selbst Renaissance. die Advokatoren sozial Schwacher zunehmend Im Eröffnungsvortrag sprach Michael Ves- gezwungen, auf ökonomische Deutungsmuster ter (Hannover) zum Thema Soziale Milieus und zurückzugreifen, da deren Dominanz im Längs- die Schieflagen politischer Repräsentation. Ves- schnittvergleich eher zunimmt (vgl. Blaes-Her- ter diskutierte die grundsätzlichen Probleme und manns 2007). Auch in der Debatte zum Zuwan- Entwicklungen der politischen Repräsentation derungsgesetz gewannen im Zeitverlauf Argu- sozialer Milieus ausgehend von der Diagnose mentationsweisen an Bedeutung, die Interessen Bourdieus in dem berühmten Kapitel ‚Politik von Migranten anhand der spezifisch zu erwar- und Bildung‘ aus den Feinen Unterschieden tenden Gegenleistung gegenüber der Allgemein- (1982). Danach hängt die Beteiligung am politi- heit gewichteten, wenngleich karitative Deu- schen Prozess nicht allein von der Sachkompe- tungsmuster hier auch weiterhin präsent blie- tenz und dem Wissensstand der Menschen ab, ben (vgl. Blaes-Hermanns 2008). In welchem sondern auch von der Statuskompetenz, also Maß diese Entwicklungen, die auch mit Stich- der im Klassenhabitus angelegten Überzeugung, worten wie ‚Ökonomisierung‘ bzw. ‚Vermarkt- zum Mitreden und Mitwirken legitimiert zu sein. lichung‘ beschrieben werden könnten, ursäch- Politische Nichtbeteiligung ist demnach Aus- lich auf die Arbeit von Expertenkommissionen druck einer machtlosen sozialen Stellung und, zurückgehen, kann nicht ermittelt werden. so Bourdieu, nicht ein Hindernis, sondern eine Zumindest zeugen jedoch die inhaltlichen und Voraussetzung des Funktionierens eines von zeitlichen Parallelen zwischen Kommissionbe- ‚Eliten‘ dominierten politischen Systems. Am richten und öffentlicher Debatte von einem Ver- Beispiel breiter empirischer Untersuchungen zur stärkungseffekt. zunehmenden Differenzierung der Klassenmi- lieus in Deutschland diskutierte Vester das Pro- Tagung zur Repräsentation Fremder blem einer solchen ‚Demokratie von oben‘. Er und Armer argumentierte, dass sich im Zuge der Bildungs- Weitere Projektergebnisse wurden im Rah- expansion und wachsenden Berufskompeten- men einer Tagung vorgestellt, die das Projekt zen auch politisches Urteilsvermögen und Par- unter dem Titel ‚Die politische Repräsentati- tizipationskompetenz der Volksmilieus erheb- on von Fremden und Armen‘ vom 28. Febru- lich ausgeweitet haben. Dennoch hielten die ar bis zum 01. März 2008 an der Universität oberen Milieus bzw. politischen ‚Eliten‘ an ih- Trier veranstaltete. Ein darauf basierender ren Ansprüchen der Hegemonie und Vormund- Sammelband wird im Herbst erscheinen (Lin- schaft übermäßig fest. Infolgedessen sind das den/Thaa 2008). Vertrauen in die Volksparteien und die Wahlbe- Das erste von insgesamt drei Panels der Ta- teiligung so weit gesunken, dass man von einer gung firmierte unter dem Überschrift Reprä- ‚Krise der politischen Repräsentation‘ sprechen sentation in der Krise und Krisenbewältigung kann, so Vester. durch Repräsentation. Den Ausgangspunkt für Im anschließenden Vortrag über Das unge- diese vordergründig konträre Themensetzung löste Inklusionsproblem in den partizipatori- bildet der derzeitige Stand der Debatte zum The- schen Neubewertungen politischer Repräsenta- ma Repräsentation. Einerseits wird den reprä- tion ging Winfried Thaa (Trier) der Frage nach, sentativen Institutionen in westlichen Demokra- ob neuere Ansätze in der Repräsentationstheo- tien eine tiefgreifende Krise attestiert. Auf der rie gangbare Lösungsmöglichkeiten für die fest- anderen Seite erlebt das Repräsentationsprinzip stellbaren Repräsentationsdefizite aufzeigen. Der 122 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

Vortrag ging aus von zwei unterschiedlichen potential gegenüber Fremden und Armen auf- Typen der partizipatorischen Kritik politischer weisen. Ingo Bode (Wuppertal) diskutierte in Repräsentation: der autonomiezentrierten, an seinem Vortrag zur advokatorischen Funktion Rousseau orientierten Kritik, der es darum geht, des Sozialsektors im disorganisierten Wohl- durch einen allgemeinen vernünftigen Willen fahrtskapitalismus Entwicklungen im Bereich den Gegensatz zwischen öffentlicher und indi- von Organisationen, die im System sozialer vidueller Freiheit aufzuheben und der hand- Dienste verankert sind und dabei mit Blick auf lungszentrierten, an Hannah Arendt orientierten ihre Klientel auch Funktionen der advokatori- Kritik, die durch politische Repräsentation die schen Interessenvertretung übernehmen (z.B. Möglichkeiten für ein eigenes öffentliches Han- die Wohlfahrtsverbände). Unter Bedingungen deln der Bürger gefährdet sieht. Neuere Theori- einer weit reichenden (Quasi-)Vermarktlichung en zur politischen Repräsentation knüpften an ihrer Reproduktionsbedingungen verändert sich der handlungszentrierten Kritik an, stellten sie der Charakter der Interessenvertretungsfunkti- aber gewissermaßen auf den Kopf und argu- onen dieser Organisationen, so Bode. In einem mentieren, erst Repräsentationsbeziehungen er- mittlerweile permanent dis- und reorganisierten öffneten einen pluralen und optionalen politi- System sozialer Daseinsvorsorge erführen die schen Raum und ermöglichten die Mitwirkung Träger ihre Organisationsdomänen zunehmend der Bürger. Thaa führte aus, dass die Rekonst- als potenziell gefährdet. Der gewohnte (korpo- ruktionen politischer Repräsentation als offene ratistische) Kurzschluss mit Verbündeten im politisch gestaltbare Beziehung durch Autoren politischen System werde sukzessive aufgeho- wie David Plotke, Nadia Urbinati und Iris Ma- ben. Unter diesen Bedingungen einer perma- rion Young zwar interessante neue Aspekte in nent prekären Ressourcenalimentierung sowie die demokratietheoretische Diskussion bringen, einer zunehmend unverbindlichen ‚Sozialpart- in Hinsicht auf institutionelle Konkretisierun- nerschaft‘ mit Wohlfahrtsstaat und Zivilgesell- gen, soziale Selektivität und die geschichtliche schaft gebe es nun einerseits mehr Dynamik Entwicklung der repräsentativen Demokratie und Kreativität gerade auch beim Auftritt in aber defizitär bleiben. Der Vortrag schloß mit Öffentlichkeiten, andererseits aber weniger der Vermutung, die Diskussion sei selbst Teil Kohärenz und Nachhaltigkeit bei den Produkti- eines Formwandels der repräsentativen Demo- ons- und Kommunikationsleistungen des Sek- kratie, den Bernard Manin als Übergang von tors. Dessen advokatorische Funktionen wer- der Parteien- zur Publikumsdemokratie be- den somit einerseits punktuell intensiviert, wäh- schreibt. Anstatt lediglich den offenen politi- rend sie andererseits an gesellschaftlicher Reich- schen Charakter von Repräsentationsbeziehun- weite zu verlieren drohen, folgerte Bode. gen zu würdigen, stünde eine partizipatorisch Im Anschluss eröffnete Sven T. Siefken orientierte Politikwissenschaft vor der Aufgabe (Halle) mit einem Vortrag zum Thema Exper- genauer zu bestimmen, welche Repräsentations- tenkommissionen als Instrument zur Einbindung formen welche Handlungs- und Einflussmög- gesellschaftlicher Gruppen in die politische Ent- lichkeiten für welche Gruppen und Interessen scheidungsfindung die Diskussion über delibe- bieten. rative Repräsentationsformen. Ausgehend von An diese Aufforderung anknüpfend lag der einer Gesamterhebung aller Expertenkommis- zweite Themenschwerpunkt der Tagung auf der sionen zwischen 1998 und 2005 sowie drei de- Frage, inwiefern verschiedene Repräsentations- taillierten Fallstudien analysierte Siefken, inwie- formen (advokatorisch, deliberativ und parla- weit Expertenkommissionen eine Chance oder mentarisch) ein unterschiedliches Inklusions- ein Risiko für die Berücksichtigung schwacher Pulsschlag 123

Interessen bei der Politikformulierung darstel- eine gesteigerte Berücksichtigung von Migran- len. Er führte aus, dass es in Deutschland sehr teninteressen festzustellen. Schneider argumen- unterschiedliche Typen von Expertenkommis- tierte jedoch, dass die Repräsentationsfunktion sionen gibt, die jeweils spezifisch zu bewerten der Süssmuth-Kommission im mittelfristigen sind. Insgesamt waren Vertreter schwacher In- Policy-Impact auf das Handeln der an der Imp- teressen äußerst selten in die Kommissionen lementation und weiteren Beratung des Migra- berufen und hatten auch wenig Einflussmög- tionsrechts beteiligten Akteure zu verorten ist. lichkeiten auf deren Arbeit, so Siefken. Für die Auch im Hinblick auf den längerfristigen Poli- Bewertung politischer Entscheidungsfindung cy-Outcome ließen sich entsprechende Wirkun- sei der Blick auf Expertenkommissionen alleine gen nachweisen, wie z.B. die Einführung einer indes nicht ausreichend. Es bedürfe der Analy- Bleiberechtsregelung für langfristig Geduldete se kompletter Entscheidungsprozesse im jewei- im Jahr 2006, die fortgesetzte Debatte über ei- ligen Politikfeld. Gerade im Rahmen der parla- nen stärker menschenrechtlich orientierten Um- mentarischen Mechanismen von Repräsentati- gang mit der Problematik irregulärer Migranten on und Responsivität vermutet Siefken dabei oder die Pläne für Einwanderungsoptionen auf ein deutlich höheres Potenzial zur Berücksich- der Grundlage eines Punktesystems. tigung schwacher Interessen. Weitere Ergebnisse des Trierer Projekts wur- Auf die eher umfassenden Herangehenswei- den von Markus Linden in einem Vortrag zur sen von Bode und Siefken folgten zwei Vorträ- parlamentarischen und deliberativen Repräsen- ge, die sich spezifischer mit den empirischen tation von Migranteninteressen in der Ära Schrö- Auswirkungen deliberativer Entscheidungsfin- der präsentiert. Die dabei getroffene Bewertung dung auf die Migrationspolitik beschäftigten. der Süssmuth-Kommission weicht teilweise von Unter der Fragestellung Pro Zuwanderung, pro den Schlussfolgerungen Schneiders ab, was Zuwanderer? befasste sich Jan Schneider (Gie- auch auf den gewählten Analyseansatz zurück- ßen/Berlin) mit der Repräsentation von Mig- zuführen ist. Der Vortrag ging von der Feststel- rantinnen und Migranten in der deutschen Mig- lung aus, dass die Redeweise von ‚den Migran- rationspolitik, insbesondere in der sog. ‚Süss- teninteressen‘ in vielen Fällen irreführend ist. muth-Kommission‘ von 2000/2001. Personell Es müssen vielmehr Interessen verschiedener waren Migranten in der Süssmuth-Kommissi- Migrantengruppen unterschieden werden. Im on nur sehr schwach repräsentiert, so Schnei- Rahmen der Süssmuth-Kommission erwiesen der. Demgegenüber seien jedoch im Sinne ad- sich vor allem jene Interessen als vermittlungs- vokatorischer Repräsentation in ausgeprägter fähig, bei denen ein argumentativer Bezug zu Form (vermeintliche) Migranteninteressen durch einem primär ökonomisch definierten Allge- einzelne Kommissionsmitglieder in die Arbeit meinwohl hergestellt werden kann. Das betrifft der Kommission eingebracht worden. Zudem insbesondere die Anliegen von ausländischen hätten sich während der externen Beratungs- Hochqualifizierten und von ‚integrationswilli- kommunikationen der Kommission Ansätze der gen‘ Migranten in Deutschland. Demgegenüber Inklusion und Repräsentation ergeben – insbe- wurde die Gruppe der Flüchtlinge trotz gegen- sondere durch Anhörungen sowie durch die teiliger Außendarstellung und -wahrnehmung Erstattung wissenschaftlicher Gutachten. Im der Kommission nur schlecht repräsentiert. Im Hinblick auf den unmittelbaren Policy-Output parlamentarischen Prozess, dessen Verhand- im Rahmen des Anfang 2005 in Kraft getrete- lungsmodi durch die Rückbindung an Wähler- nen Zuwanderungsgesetzes sei im Vergleich zu gruppen und durch die Legitimität der advoka- früheren Gesetzgebungsprozessen zwar kaum torischen Wahrnehmung spezifischer Interes- 124 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

sen geprägt sind, verliert das Kriterium der Zu- eine inklusive Orientierung der politischen Spit- träglichkeit für das angenommene ökonomische zen und der leitenden Verwaltungsbeamten in Wohl der Mehrheitsbevölkerung hingegen an der lokalen Politik. Zusammen mit Wohl- Bedeutung. Im vorliegenden Fall konnte eine fahrtsverbänden, Bürgerinitiativen und lokalen relativ bessere Repräsentation von Flüchtlings- Medien bildeten sie ein ‚Integrationsregime‘, interessen nachgewiesen werden (was auch zu dem ein ‚Wachstumsregime‘ gegenüberstehe, den von Jan Schneider skizzierten Neuregelun- das sich ganz auf die Entwicklungspotenziale gen nach 2005 führte). Außerdem zeichnet sich der Städte orientiert. Man könne daher von ei- die primär parteipolitisch und parlamentarisch nem ‚Doppelregime‘ sprechen. An den Proble- induzierte Debatte zum Staatsbürgerschaftsrecht men dieser Stadtteile ändere sich aber nicht im Vergleich zu der durch die Süssmuth-Kom- grundsätzlich etwas. Vielmehr wird die Margi- mission entscheidend mitgeprägten Zuwande- nalität laut Häußermann lediglich zuverlässig rungsdiskussion dadurch aus, dass Interessen verwaltet. von Migranten weitaus häufiger ohne argumen- Dominic Heinz (Mannheim) stellte in sei- tative Bezugnahme auf ‚das Allgemeinwohl‘ nem Vortrag zur parlamentarischen Repräsenta- artikuliert wurden. Mithin, so die These, wirkt tion von Migranten erste Ergebnisse des Pro- die parlamentarische Repräsentation jenen Dis- jektes ‚Die politische Repräsentation von Mig- paritäten bei der Interessenvermittlung entgegen, ranten‘ vor. Analysen der deutschen Abgeord- die deliberativ-rationalisierten Repräsentations- neten mit Migrationshintergrund auf den ver- formen zu Eigen sind. schiedenen Ebenen des politischen Systems zeig- Die Vorträge im abschließenden Themen- ten Unterschiede nach Parteizugehörigkeit und block nahmen die spezifischen Partizipations- Schwerpunktsetzungen. Im Vergleich zu den und Einflussformen Fremder und Armer in den bürgerlichen Parteien fänden sich auf der politi- Blick, wobei die kommunale Repräsentation, schen Linken mehr Abgeordnete mit Migrati- Wirkungsweisen der Selbstrepräsentation so- onshintergrund. Diese beschäftigten sich vor- wie konkrete Fälle der politischen Mobilisie- wiegend mit migrationsrelevanten Themen und rung erörtert wurden. Hartmut Häußermann seien darüber hinaus offener für die Repräsen- (Berlin) referierte über die Repräsentation mar- tation sozialer Gruppen. Abgeordnete mit Mig- ginalisierter Quartiere in der Stadtpolitik. Als rationshintergrund in bürgerlichen Parteien empirische Grundlage fungierten die Ergebnis- scheinen formal besser integriert zu sein als ihre se des Projekts ‚Politische Repräsentation in Kollegen auf der politischen Linken, so Heinz. der fragmentierten Stadt‘. Anlaß für die Studie, Aus Beobachtungen und persönlichen Inter- in der vier Städte vergleichend untersucht wur- views gehe außerdem hervor, dass Abgeordne- den, war die Befürchtung, dass sich die Stadt- te mit Migrationshintergrund sich primär als politik von den sogenannten ‚Problemquartie- völlig normale Repräsentanten der deutschen ren‘ abwendet, sie immer mehr ignoriert und Gesellschaft sehen. Dieses Selbstbild blende die somit zu ihrer weiteren Abkoppelung und Iso- zu beobachtende Zurückhaltung politischer Par- lierung beiträgt. Das Ergebnis der Erforschung teien aus, mehrere Kandidaten mit Migrations- der politischen Repräsentation von Stadtteilen, hintergrund in aussichtsreichen Wahlkreisen in denen sich soziale Probleme konzentrieren, oder auf aussichtsreichen Listenplätzen zu no- war jedoch, dass eine politische Vernachlässi- minieren. Insofern stelle sich die Frage, inwie- gung nicht festzustellen ist, so Häußermann. weit die parlamentarische Repräsentation von Dies sei allerdings nicht auf eine direkte politi- Migranten substanziell oder ‚nur‘ symbolisch sche Repräsentanz zurückzuführen, sondern auf ist. Pulsschlag 125

Abschließend befasste sich Helen Schwen- Literatur ken (Kassel) mit einem Extremfall von Armut Blaes-Hermanns, Nora 2007: Argumenta- und Fremdheit, nämlich mit der prekären politi- tions- und Rechtfertigungsstrategien im Armuts- schen Repräsentation illegalisierter MigrantIn- diskurs. Das Inklusionspotential deliberativer nen in der EU. An diesem Fall sollte ‚getestet‘ Gremien am Beispiel der Hartz-Kommission, werden, ob und in welcher Form sie sich poli- in: Thaa, Winfried (Hg.): Inklusion durch Re- tisch repräsentieren und ihre Interessen vertre- präsentation, Baden-Baden, 129-147. ten. Methodisch griff Schwenken auf die Fra- Blaes-Hermanns, Nora 2008: Interessen- me-Analyse zurück und zeigte anhand von rechtfertigung durch Gegenleistung? Politische Mobilisierungen in Grenzgebieten und von in Inklusion von Fremden: Die Unabhängige Privathaushalten arbeitenden Migrantinnen auf, Kommission „Zuwanderung“ und die sich an- dass es durchaus eine Spannbreite von Deu- schließende öffentliche Debatte 2000-2005, in: tungsrahmen gibt, die die MigrantInnen nutzen, Raphael, Lutz/Uerlings, Herbert (Hg.): Zwi- vom ‚Recht auf Rechte‘ bis hin zur Forderung schen Ausschluss und Solidarität. Modi der In- nach einer ‚Re-Regulierung‘ informeller Be- klusion/Exklusion von Fremden und Armen in schäftigungsverhältnisse. Mithin verwenden Europa seit der Spätantike, Frankfurt a.M. u.a. also auch marginalisierte Gruppen eine große (i.E.). Bandbreite an argumentativen Instrumenten, so Habermas, Jürgen 1984: Vorstudien und Schwenken. In Anbetracht der Bedeutung der Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Argumentationsfähigkeit von Interessen im Handelns, Frankfurt a.M. Rahmen politischer Öffentlichkeit könne sich Habermas, Jürgen 1992: Faktizität und dies positiv auf deren Vermittlungschancen aus- Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts wirken. und des demokratischen Rechtsstaats, Frank- Will man die Ergebnisse der Tagung auf ei- furt a.M. nen knappen Nenner bringen, so überwog die Linden, Markus 2007: Interessensymmetrie Skepsis gegenüber neuen Repräsentationsfor- trotz Vielfalt? Modi gleichwertiger Inklusion in men und -bedingungen. Von Seiten des Trierer pluralistischen Demokratietheorien, in: Thaa, Forschungsprojekts wird deshalb vorgeschla- Winfried (Hg.): Inklusion durch Repräsentati- gen, primär an der Inklusionsfähigkeit herge- on, Baden-Baden, 61-81. brachter Strukturen, Prozesse und Institutionen Linden, Markus 2008: Kreuzung politischer zu arbeiten. Ein dauerhafter Bedeutungszu- Kreise. Überlappende Mitgliedschaft als Inklu- wachs rationalisiert-deliberativer Repräsentati- sions- und Kohäsionskonzept für pluralistische onsformen bei gleichzeitigem Bedeutungsver- Einwanderungsgesellschaften, in: Meimeth, lust parlamentarischer Repräsentation hätte neue Michael/Talmon, Susanne/Robertson, John Exklusions- und Disparitätsmechanismen zur (Hg.): Integration und Identität in Einwande- Folge. Das beträfe insbesondere die Interessen rungsgesellschaften. Herausforderungen und benachteiligter Gruppen. transatlantische Antworten, Baden-Baden 2008, 81-98. Markus Linden, wissenschaftlicher Mitar- Linden, Markus/Thaa, Winfried (Hg.) 2008: beiter im DFG-Sonderforschungsbereich 600 Die politische Repräsentation von Fremden und Fremdheit und Armut an der Universität Trier/ Armen, Baden-Baden (i.V.). Teilprojekt C 7: Formen und Funktionsweisen Schröder, Gerhard 1998: Regierungserklä- politischer Repräsentation von Fremden und rung v. 10.11.1998, Bundestags-Plenarproto- Armen. Kontakt: [email protected] koll 14/3, 47-67. 126 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

Thaa, Winfried 2007a: Informalisierung und on‘, ‚Advocacy 2.0: Digitaler Aktivismus. Kam- Kognitivierung politischer Repräsentation in pagnen und NGOs im Netz‘, ‚Emergente In- deliberativen Demokratietheorien, in: Ders. telligenz‘, ‚The Internet of Things‘, ‚Greenpeace (Hg.): Inklusion durch Repräsentation, Baden- Internetstrategie‘, ‚Wer terrorisiert wen? Blog- Baden, 85-108. gen gegen Überwachung‘, ‚Auslandrundfunk Thaa, Winfried (Hg.) 2007b: Inklusion 2.0‘, ‚Wenn Politiker im Internet sprechen‘, durch Repräsentation, Baden-Baden. ‚Bloggen & Recht‘, ‚Plagiarismus 2.0‘, ‚Strick- blogs oder Postfeminismus‘, ‚Pimp Your El- TAGUNGSBERICHT fenbeinturm: Wiki-Blog-Caster rocken die uni- ...... versitäre Lehre‘ oder ‚Open Video, Open Soci- ety‘, um nur einige aufzuzählen. Gesellschaft und Politik im Web 2.0-Fieber Nicht mehr vergessen können? Kommt man auf einzelne Vorträge und Sessi- Wir schreiben April 2008, und das Internet ist ons zu sprechen, liegt es nahe, mit dem Keyno- gut 25 Jahre alt – gemessen an der Erfindung te-Speaker Victor Mayer-Schönberger von der des TCP-IP-Protokolls im Jahr 1982. Verfüg- Harvard-Universität zu beginnen, der zum The- ten im Dezember 1995 weltweit 16 Millionen ma Informationsökologie referierte. Mayer- Menschen über Internetzugang, ist die Zahl der Schönberger vertrat die These der Nützlichkeit Netznutzer bis Dezember 2007 auf knapp 1,4 des Vergessens angesichts einer zunehmenden Milliarden gestiegen. Die rund 900 Teilnehmer Diskrepanz zwischen dem menschlichen Erin- der zweiten re:publica, einem Szenetreffen der nerungsvermögen und der Masse der im Inter- Blogger und Netzbewohner der deutschspra- net gespeicherten Daten. Mit der wachsenden chigen Internetöffentlichkeit mit politischen Datenmenge stehen zwei Kollektivsubjekte ge- Ambitionen, waren zumeist nur um einige Jah- genüber: die Internetöffentlichkeit und der Su- re älter als der zu verhandelnde Gegenstand. peragent Google. Die Unerbittlichkeit des In- Unter den Teilnehmern war nicht nur Szenepro- ternet als kollektives Gedächtnis erweist sich minenz – die sogenannten A-Blogger – vertre- dabei als individuell fatal, wie Mayer-Schön- ten, sondern auch ein größerer Kreis aktiver berger am Beispiel der Lehramtsanwärterin Sta- Nutzer, die sich intensiv mit dem Internet be- cy Snyder deutlich machte, die ein Bild von schäftigen, das Netz für ihre Themen und An- sich auf ihre Myspace-Homepage gestellt hatte, liegen nutzen und selbst kreativ gestalten. Das das sie als betrunkene Piratin im Karneval zeig- diesjährige Treffen trug den Titel ‚Die kritische te. Daraufhin verweigerte ihr das Ministerium Masse‘ – im doppelten Wortsinn – und bot ei- die Lehrerlaubnis. Mayer-Schönberger plädier- nen breiten Rahmen, um zu politischen, wirt- te aufgrund solcher Vorfälle u.a. für ein Ver- schaftlichen, rechtlichen, sozialen, wissenschaft- fallsdatum der im Netz gespeicherten Informa- lichen und medienöffentlichen Aspekten des tionen, das vom Benutzer selbst festgelegt wer- Internet zu diskutieren. den soll. So gab es Veranstaltungen zu Themen wie Im Anschluß daran fand eine recht aggres- ‚Wiki-Governance‘, ‚Wahlcomputer‘, ‚Elemente siv moderierte Podiumsdiskussion zum Thema der Netzkultur‘, ‚Social Networks für jeder- ‚Die Zukunft der Social Networks‘ statt. Einge- mann‘, ‚Porno 2.0‘, ‚Polizei 2.0‘, ‚Beten per laden waren u.a. Joel Berger von MySpace Mausklick?‘, ‚Free Culture/Wir wählen die Frei- Deutschland und Michael Brehm von StudiVZ. heit‘, ‚Utopien, Singularitäten, Marskolonisati- Insbesondere Michael Brehm mußte sich dabei Pulsschlag 127

eine ganze Reihe sehr direkter und zum Teil netöffentliche Befragung im deutschen Sprach- äußerst kritischer Fragen gefallen lassen, die raum gelten. Die Befragung fördert zutage, dass sich allesamt auf die jüngere Unternehmenspo- das Bildblog ein spezielles Publikum anspricht: litik von StudiVZ nach dem Verkauf größerer 86 Prozent der Befragten sind männlich, 14 Pro- Geschäftsanteile an den Holzbrinck Konzern zent weiblich. Mehr als die Hälfte der Bildblog- bezogen, bei der es um die Weitergabe von User- Leser sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Mehr daten ging, die durch Oktroyierung neuer Ver- als 40 Prozent haben das Abitur oder die Matu- tragsbedingungen strikt durchgesetzt werden ra erworben, und über die Hälfte der Bildblog- sollten. Aber auch MySpace kam sich nicht ganz Leser sind berufstätig. Intensive und regelmä- ungeschoren davon, da diese großen Web-Platt- ßige Nutzer des Bildblogs lesen selten oder nie formen generell dem Verdacht und den Angrif- die BILD-Zeitung. Vielmehr spricht das Bild- fen aus der Blogosphäre ausgesetzt sind. Allge- blog eine Leserschaft an, die der BILD kritisch meiner Liebling war dagegen Oliver Überholz gegenüber steht, in systematischer Form über von der Wiki-Plattform mixxt, der deutlich stär- Fehler, Schwächen und Mängel der BILD-Re- ker noch den ‚grassroots‘-Habitus aufwies. daktion informiert werden möchte und bereit- In einer weiteren Veranstaltung ging es dann willig auch eigene Beiträge dazu erbringt. um eine ‚Qualitätsdebatte‘, die die neue Kon- In kritischer Distanz zur Berichterstattung kurrenz des Printjournalismus durch die Blo- über den Irak-Krieg bei CNN und anderen gro- gosphäre betraf. Hier waren jeweils Journalis- ßen Medienanbietern der englischsprachigen ten auf dem Podium vertreten, die allesamt in Öffentlichkeit steht das amerikanisch-irakische beiden Welten des Journalisten zuhause sind. Projekt ‚Alive in Baghdad‘. Drei US-amerika- Die Debatte drehte sich dabei vorrangig um nische Journalisten und ihre Kollegen aus dem Abgrenzungs- und Selbstbestimmungsbemü- Irak befragen irakische Bürger in ihrer Sprache hungen, ohne zu einem klaren Ergebnis zu kom- nach ihrem Schicksal und ihren aktuellen Sor- men. gen und Nöten. Die mit Untertiteln in engli- scher Sprache versehenen Interviews werden ‚Führt das Erbe von Wallraff fort!‘ sowohl im Internet verbreitet als auch an Fern- Nah verwandt hierzu war der Vortrag ‚Führt sehsender veräußert, beispielsweise an die ARD. das Erbe von Wallraff fort!‘ von Jan Schmidt Praktisch jeder irakische Bürger hat Familien- vom Hamburger Hans-Bredow-Institut für angehörige verloren. Drei Journalisten, erst recht Medienforschung, in dem es um das Bildblog jedoch ihre irakischen Kollegen, bewegen sich der Journalisten Stefan Niggemeier und Chris- unabhängig vom Militär im Irak, besuchen Städ- toph Schultheis ging, die die Tradition der Bild- te, Orte und Nachbarschaften, die von den gro- kritik aus den 1960er und 1970er Jahren im ßen Medienhäusern als ‚zu gefährlich‘ erachtet Rahmen des Genres Mediawatchblog fortfüh- werden und betreiben ihr Projekt mit minimalen ren und dabei ein breites Publikum für sich ge- Finanzmitteln und lediglich geringfügiger Ver- wonnen haben, das Kritik an der BILD-Zeitung sicherung im Verletzungs- oder Todesfall. Un- und der Springer-Presse pflegt. Die Bildblog- ter den irakischen Journalisten im Projekt ist es Befragung beansprucht dabei keinerlei statisti- bereits zu Todesfällen gekommen. sche Repräsentativität im strengen Sinne, da die Befragten mit Beiträgen zur Teilnahme eingela- Digitale Grundversorgung im Web 2.0 den wurden. Dennoch kann sie mit knapp 20.000 Sebastian Detering von der Universität Utrecht vollständig ausgefüllten Fragebögen bei einem referierte in seinem Vortrag ‚re-publize this!‘ Monat Feldzeit als bisher umfangreichste inter- über die stille Privatisierung der digitalen Grund- 128 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

versorgung im Web 2.0. Damit ist die Tatsache Schnittstellen für die Demokratie begreifen und gemeint, dass die Politik der durch Geschäfts- mehr Offenheit und Transparenz wagen. Die interessen getriebenen Kommerzialisierung des digitalen Infrastrukturen des Staates müssen Internet in seiner gegenwärtigen Entwicklungs- selbstverständlich frei, offen und demokratisch phase bisher keinen gesetzlichen Rahmen ent- kontrollierbar sein. Was als öffentlich-rechtlich gegensetzt, der eine digitale Grundversorgung gilt, sollte dem digitalen Zeitalter angepaßt wer- der Bürger im Rahmen der charakteristischen den. Eine Möglichkeit bestünde darin, digitale Lese-Schreib-Kultur gewährleistet. Web 2.0- Strukturen und neue Institutionen zu finanzie- Plattformen wie Facebook, Flickr, MySpace, ren, die Informationen von Relevanz für das Wordpress erbringen einen Großteil der digita- öffentliche Interesse bereitstellen. Kommunen len Grundversorgung. Gemessen an den fünf sollten einen Basis-Zugang zum Netz bereit- Standards Kontrolle, Erschwinglichkeit, Aus- stellen, analog zu Strassen und Bürgersteigen. fallsicherheit, Gleichberechtigung (bzw. Barri- Denn das Internet ist Grundversorgung. Benö- erefreiheit) und Meinungsfreiheit stellte Dete- tigt wird ein Urheberrecht, welches den gesell- ring heraus, daß Data Portability, also der Trans- schaftlichen Realitäten angepasst ist, anstelle von fer von Profildaten und relationalen Daten der Einschränkungen der Kunst-, Meinungs- und Nutzer zwischen verschiedenen Plattformen Wissenschaftsfreiheit, die sich am Urheberrecht kommerzieller Anbieter, eine digitale Grundver- orientieren. Im privaten Gespräch werden auch sorgung der Bürger im Internet keinesfalls ge- in der digitalen Gesellschaft freie und anonyme währleistet. Um die mit der gegenwärtigen Ent- Kommunikationswege benötigt. Politiker soll- wicklung des Internet entstandenen Informati- ten sich Internet-Content nicht ausdrucken, son- ons-, Kommunikations- und Wissensinfrastruk- dern das Medium selbst aktiv nutzen. turen allen Bürgern zugänglich zu machen, ist die Politik wie auf Märkten für die Bereitstel- Web 2.0 und die lung von Netzinfrastrukturen im allgemeinen Öffentlich-Rechtlichen gefordert, d.h. ein entsprechender Rechtsrah- Besonders interessant war folglich die medien- men (Verbraucherrechte), eine Wettbewerbsauf- politische Podiumsdiskussion mit ARD-Pro- sicht, Preisregulierung, eine Universaldienstleis- grammchefin Verena Wiedemann, Thorsten tung (Versteigerung) etc. Da Unternehmen die Schilling von der Bundeszentrale für politische digitale Grundversorgung nur im Rahmen ihrer Bildung und Johnny Haeusler von Spreeblick AGBs erbringen, muss internetöffentliche In- über den zukünftigen Auftrag der öffentlich- formations- und Meinungsfreiheit der Bürger rechtlichen Medienanbieter für das Internetzeit- durch geeignete politische Rahmenbedingungen alter. Während sich die öffentlich-rechtlichen gewährleistet werden. Sender erst jetzt ins Netz bewegen, haben viele Markus Beckedahl, Co-Organisator der Bürger den Schritt ins Internet als Universal- re:publica08 und Betreiber des Weblogs Netz- medium längst vollzogen und richten konkrete politik, hatte bereits im Vorfeld einen Forde- Erwartungen an die öffentlich-rechtlichen Me- rungskatalog für eine zukunftsfähige Interne- dienhäuser. Infolge einer Beihilfe-Entscheidung töffentlichkeit aufgestellt: Das Internet sollte eine seitens der Europäischen Kommission – die Grundversorgung der Informationsgesellschaft Rundfunkgebühren sind eine Beihilfe – sieht darstellen. Open-Source-Communities sollen ein derzeit in Verhandlung stehender Entwurf gezielt gefördert werden. Freie Software ist ein für den 12. Rundfunkstaatsvertrag eine sehr re- Wirtschaftsfaktor und bedarf somit Förderung. striktive Handhabung des öffentlich-rechtlichen Staatliche Instanzen sollten sich als offene Onlineauftrags vor. Danach müssen sämtliche Pulsschlag 129

Online-Inhalte der öffentlich-rechtlichen Anbie- lässige Daten über ‚Social Web‘ zur Verfügung ter nach spätestens sieben Tagen gelöscht wer- stellt. Auch die von Vertretern aus Print, Rund- den; dies entspricht nach Aussage von Verena funk und Fernsehen sowie von Institutionen Wiedemann etwa 95 Prozent des Online-Con- professioneller Vereinigungen, Forschungsins- tents. Ein Großteil der Hintergrundinformatio- titutionen und Hochschulen häufig artikulierte nen würden gelöscht, die Nutzungsmöglichkei- Zweifel an der Relevanz des ‚Social Web‘ könnte ten massiv eingeschränkt, Weiterverbreitung im in diesem Kontext aufgegriffen und beantwor- Internet juristisch geahndet werden. Die Dis- tet werden, berufen sich die Kritiker des neuen kussionsteilnehmer nutzten die Möglichkeit, den Netzes doch immer wieder auf die im Vergleich Geschäftsinteressen kommerzieller Anbieter die mit Print und TV geringere Reichweite von Interessen der Blogger entgegenzustellen. Weblogs. Doch außer der internen Verlinkung Jedes Medium hat eine Arbeitsgemeinschaft der Blogosphäre gibt es bisher zu wenig brauch- oder Forschungsgruppe, welche dafür verant- bare Daten für eine profunde Erforschung des wortlich zeichnet, eine Metrik für ihr Medium ‚Social Web‘, welche einerseits die Verbindung zu entwickeln, wie z.B. die IVW für Werbeträ- zur Gesellschaft schlägt, in welche das ‚Social ger, ag.ma für verschiedene Medienangebote Web‘ eingebettet ist, und andererseits Vergleich- bis hin zur AGOF, der offenen Organisation barkeit in internationalen Forschungskontext der Online-Vermarkter und Werbeträger. Die nachweisen kann. Verfügt man über eine zuver- sich abzeichnende Entdeckung des ‚Social Web‘ lässige und aus der Perspektive der Nutzer rele- für die Geschäftsinteressen von Unternehmen, vante Metrik des ‚Social Web‘ – angefangen bei Werbetreibenden, Verlagen und großen Medi- Weblogs –, läßt sich der Nachweis über ihre enhäusern führt unweigerlich zu dem Versuch, soziale Relevanz bedeutend leichter führen. mit einer geeigneten Blog- oder eine Reichwei- Insbesondere steht die Gruppierung dem Krite- tenwährung eine größere Relevanz der Online- rium der Page Impressions (Abruf einer Einzel- Angebote aus Verlagen und Medienhäusern seite innerhalb einer Webseite) kritisch gegenü- gegenüber den Bloggern und Netzbewohnern ber. Die Fokussierung auf Klickzahlen verführt in Zahlen nachzuweisen, um Werbekapazität zu z.B. zu endlosen Bildergalerien, die hohe Klick- beanspruchen. zahlen produzieren sollen, aber nicht in einem inhaltlichen Zusammenhang zum jeweiligen Gründung der Forschungsgruppe Social Onlineangebot stehen. Vielmehr kommt es dar- Media auf an, an einer geeigneten Metrik und inhaltli- Anläßlich der re:publica08 hat sich eine Grup- chen Erforschung der gesellschaftlichen Bedeu- pierung aus Bloggern, Netzbewohnern, Infor- tung von Blogs und anderen ‚Social Media‘ zu matikern sowie Kommunikations- und Sozial- arbeiten. forschern dazu entschlossen, diese Angelegen- heit in die eigenen Hände zu nehmen. Dazu Blogging Scientists wurde eine Forschungsgruppe Social Media Ein weiteres Panel zum Thema möglicher Pers- gegründet, deren Ziel es ist, eine Metrik des pektiven einer Wissenschaft 2.0 mit Themen ‚Social Web‘ zu entwickeln und die Erforschung und Diskussionen gestaltete die Gruppe Hard des Mediums auf dieser Grundlage voranzu- Blogging Scientists. Der Jurist Peter Schilling treiben. Zudem könnte eine solche Institution präsentierte sein Weblog Plagiarismus.de, in auch als Träger für qualitative wie quantitative welchem er ihm zugetragene Plagiatsfälle in Blogstudien agieren sowie als Informationsstel- anonymisierter Form publiziert und Ratschläge le, die der interessierten Öffentlichkeit zuver- zum Umgang mit der Problematik von Plagia- 130 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

ten unterbreitet. Im Anschluß an seine Kurzdar- Klassiker Max Weber, dessen Bemühungen, stellung entwickelte sich mit Beteiligung von eine Soziologie des Zeitungswesens als frühe Hochschulabsolventen verschiedener Fachrich- Mediensoziologie zu Lebzeiten keinen Anklang tungen und der Anbieter von Wikipedia eine in der soziologischen Disziplin fanden. Tina lebhafte und konstruktive Diskussion. Über- Guenther ist in ihrem Vortrag ‚Das macht bei einstimmung wurde in folgenden Punkten er- uns die Hilfskraft‘ der Frage nachgegangen, reicht: Erstens solle man auf die Anfertigung weshalb die Potenziale des Web 2.0 in den So- von Plagiaten mit unmissverständlicher Verach- zialwissenschaften – Arbeitsplatz 2.0, Metho- tung und wirksamer Bestrafung reagieren, ganz dologie 2.0 und Öffentlichkeit 2.0 – bisher nicht besonders im akademischen Bereich. Jedoch ausgeschöpft werden. Mithilfe der Theorie der könne zweitens ein wirksamer Schutz vor Pla- Märkte als organisationaler Felder zeigte Guen- giaten allein mit softwaretechnischen Mitteln ther auf, daß sich Nachwuchswissenschaftler nicht gewährleistet werden. Es werde immer mit Online-Biografie in einer herausfordernden einen Personenkreis geben, der über das not- Position und klaren Abgrenzung von dominie- wendige Wissen und softwaretechnischen Res- renden Akteuren wie DFG, Wissenschaftsrat, sourcen verfügt, um eine beliebige Software zur Gutachtern, Anbietern von Hochschulratings, Identifizierung von Plagiaten zu umgehen oder Organen der Universität und Professoren und außer Gefecht zu setzen. professionellen Vereinigungen befinden und mit In der Folgeveranstaltung hatten Nach- welchen eigenen Ressourcen sie ausgestattet wuchswissenschaftler aus den Sozial- und In- sind: Einbeziehung des Internet als Ressource formationswissenschaften Gelegenheit zu dis- in Arbeitsweisen und Arbeitsprozesse, Erwei- kutieren, ob eine Wissenschaft 2.0 möglich sei, terung des methodischen Instrumentariums der worin ihre Potenziale bestehen und weshalb diese Generierung und Auswertung empirischer Da- bisher nicht ausgeschöpft werden. Marc Sche- ten, Veränderung der Didaktik durch Einbezie- loske, Betreiber des Blogs Wissenswerkstatt hung von Social Software in die Lehre, eine und des Wissenschaftscafés, stellte besonders eigenständige Informations-, Kommunikations- die Potenziale von Wissenschaft 2.0 für den und Wissensinfrastruktur, um wünschenswer- Forschungs- und Arbeitsprozeß des Wissen- te Öffentlichkeit für ein Thema zu generieren, schaftlers heraus und berichtete über Verbrei- ein charakteristisches Reputations-, Bezie- tung und Entwicklungsdynamik der wissen- hungs- und Identitätsmanagement. Guenther schaftlichen Blogosphäre. Mit Bezug auf Paul forderte auf, die vielfältigen Möglichkeiten des Watzlawick stellte er heraus, daß man auch als Internet professionell zu nutzen und an ihrer Wissenschaftler ‚nicht nicht kommunizieren‘ Verbesserung und Gestaltung mitzuwirken. kann. Benedikt Köhler, Betreiber des Weblogs Martin Memmel (DFKI) stellte in seinem mit Viralmythen, ist in seinem Vortrag der Beob- seinem Vortrag ‚Sagt wer?‘ heraus, daß Inter- achtung nachgegangen, daß das Internet in der netnutzer im Zuge der Praxis des Bookmarkens akademischen Lehre im Fach Soziologie als kollaborativ Internetobjekte (z.B. Webseiten, Lehrveranstaltungsinhalt fast nicht vorkommt. Bücher, Orte) verschlagworten, sortieren, kom- Nur an zwei (Bielefeld und München) von acht- mentieren, bewerten und empfehlen und auf die- zehn Hochschulstandorten, an denen Soziolo- se Weise zu einer erhöhten Sichtbarkeit der als gie gelehrt wird, hat Köhler für das Winterse- relevant erachteten Objekte beitragen. Am Bei- mester 2007/2008 Lehrveranstaltungen identi- spiel einer Eigenentwicklung mit der Bezeich- fizieren können, in welchen das Internet sub- nung ‚ALOE‘ zeigte Memmel wie man diese stanziell behandelt wird. Köhler verwies auf den Metadaten zur Beschreibung, Strukturierung, Pulsschlag 131

Sortierung und Empfehlung von Internetobjek- te: Die Ära des Mitmachweb ist endgültig ange- ten für die Wissensproduktion, Wissensorgani- brochen, und jetzt gilt es auszuloten, wohin die sation in einem wissenschaftlichen Kontext ein- Entwicklung in Zukunft geht. setzen kann. Tina Guenther/Kai-Uwe Hellmann, Düssel- Enterprise 2.0 dorf/Berlin Ein sehr informativer Vortrag wurde von Peter Schütt von der IBM gehalten, dem Hauptspon- TAGUNGSHINWEIS sor der re:publica08. Schütt stellte darin eine ...... unternehmensinterne Evolution in Richtung Web 2.0 vor. Hintergrund war, dass IBM schon vor „In der Lobby brennt noch Licht“ – Jahren, nach der sehr ernsten Krise Anfang der Lobbyismus als politisches 1990er Jahre, seine internen Entscheidungspro- Schatten-Management zesse in vielen Hinsicht auf die neuen Web 2.0- Technologien und „ was noch viel bedeutsamer am 19.-20. September, Friedrich- ist „ damit einhergehende Kommunikationskul- Ebert-Stiftung Berlin, Hiroshimastr. 17, tur der Transparenz, des Dialogs, der Informa- 10785 Berlin tionssymmetrie umgestellt hat und ausgezeich- nete Erfahrungen mit dieser Unternehmenskul- Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. So steht turevolution macht. Erstaunlich war daran nicht es im Grundgesetz. Aber gilt das auch für die zuletzt, daß ein Unternehmen dieser Größe mit parlamentarische Wirklichkeit der Berliner Re- rund 340.000 Mitarbeitern weltweit in der Lage publik? Warum sich diese Frage stellt, veran- ist, wichtige Kommunikations- und Entschei- schaulichen einige Fallbeispiele der jüngeren dungsprozesse auf die Web 2.0-Basis umzu- Zeit. Da beratschlagte eine Arbeitsgruppe der stellen „was Hoffnung geben mag für andere Großen Koalition über einen Gesetzentwurf zum Unternehmen vergleichbarer Größe, es dereinst Nichtraucherschutz und tat dies anhand einer auch einmal damit zu versuchen“. Vorlage, die vom Verband der Cigarettenindus- Eine letzte Veranstaltung sei noch erwähnt, trie stammte und per Copy & Paste – samt Tipp- in der ein neues Online Projekt vorgestellt wur- fehlern – in den Entwurfstext kopiert wurde. de, das den Namen ‚Fan 2.0 „Crowdsourcing Da bekam ein Manager des Flughafenbetrei- im Profisport‘ trug. Die dahinter liegende Ge- bers Fraport AG ein eigenes Büro im Bundes- schäfts- und Fanprojektidee war, wie sie schon verkehrsministerium und arbeitete dort an Ex- in England praktiziert wird, eine kritische Mas- pertisen, die den Sinn von Lärmschutzmaßnah- se an Fußballbegeisterten per Internet dafür zu men für Flughafenanwohner in Zweifel zogen. mobilisieren, sich durch eine Einlage von 59 Er ist, wie eine Analyse des Bundesrechnungs- Euro am Kauf eines Fußballclubs zu beteiligen, hofes zeigt, nur einer von vielen Industrieex- um diesen dann sportlich zu managen, bis hin perten, die im Rahmen von ‚Personalaustausch- zum Trainingsablauf zur Trikotfrage und der programmen‘ auf Kosten und im Sinne ihrer Spieleraufstellung. Die Diskussion wurde sehr Arbeitgeber an Gesetzesvorhaben und Erlassen kontrovers geführt, als das Finanzierungsmo- mitwirken. Und auch die Fälle, in denen Abge- dell noch eine Reihe ungeklärter Fragen auf- ordnete von VW, Siemens und anderen Kon- warf. Nichtsdestotrotz entsprach diese Projekt- zernen Nebeneinkünfte ohne erkennbare Ge- idee genau dem Geist des Web 2.0, wie er Ver- genleistungen bezogen, werfen die Frage auf, handlungsgrundlage der re:publika08 sein soll- welche Interessen gewählte Volksvertreter ei- 132 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

gentlich vertreten: die der Wähler oder die der der Diskussion wird gerne darauf verwiesen, Wirtschaft? dass ja auch Kirchen, Gewerkschaften und Bür- Dass es sich bei den genannten Beispielen gerinitiativen Einfluss auf die Gesetzgebung keineswegs um bedenkliche, aber letztlich un- nehmen. Aber haben die Akteure der Zivilge- bedeutende Einzelfälle handelt, sondern um sellschaft tatsächlich dieselbe Chance, sich mit Symptome eines Grundproblems unseres Poli- ihren Anliegen Gehör zu verschaffen? Besteht tikbetriebs, belegen zwei Sammelbände zum ein Unterschied zwischen Gemeinwohl-Inter- Thema Lobbyismus in Deutschland, die unter essen – etwa von NGOs vertreten – und schlich- den Titeln ‚Die stille Macht‘ (2003) und ‚Die ten Profitinteressen der Industrie? fünfte Gewalt‘ (2006) erschienen sind. Mit Blick Die Einflussnahme auf die Politik stützt sich auf die darin präsentierten Fallstudien und Ana- heute nicht mehr nur auf die Pflege persönli- lysen warnte Hans-Jürgen Papier, der Präsi- cher Kontakte in Feinschmeckerlokalen oder dent des Bundesverfassungsgerichtes, vor ei- Golfclubs. Effektiv ist das Lobbying vor allem, ner ‚Umgehung der Verfahren der parlamenta- wenn die Überzeugungsarbeit im direkten Ge- risch-repräsentativen Demokratie und einer spräch durch gleich lautende Botschaften in den Aushöhlung ihrer Formen‘. Welche Dimensio- Medien unterstützt und bestärkt wird. Zu die- nen das politische Schattenmanagement mittler- sem Zweck werden wohl gesonnene Journalis- weile erreicht hat, wird auf der Ebene der Euro- ten mit Exklusivmeldungen gefüttert, PR-Texte päischen Union besonders deutlich. Den derzeit als redaktionelle Beiträge getarnt, Meinungs- 27 Mitgliedern der Europäischen Kommission umfragen mit absehbarem Ergebnis in Auftrag sowie den rund 800 Parlamentsabgeordneten gegeben, Unternehmenswerbespots im Fernse- stehen schätzungsweise 15.000 Lobbyisten ge- hen geschaltet, ‚Graswurzel-Initiativen‘ im In- genüber, die in der Mehrzahl von Unternehmen ternet simuliert oder Boulevardreporter zu Be- oder Unternehmensverbänden dafür bezahlt nefizveranstaltungen eingeladen, bei denen sich werden, Einfluss auf das Gesetzgebungsver- Großbetriebe als ‚gute Bürger‘ in Szene setzen. fahren auszuüben. Die Kunst, die verschiedenen Instrumente der Auf Kritik an ihrer Macht ohne Mandat rea- Politikbeeinflussung aufeinander abzustimmen, gieren Profis des Lobbygewerbes mit demons- bezeichnen PR-Agenturen als ‚orchestrierte trativem Understatement: ‚Die Entscheidungen Kommunikation‘. treffen nicht wir, sondern die Politik‘, so lautet Wie Lobbyisten mit Journalisten umgehen, eine der gängigen Beschwichtigungsformeln, ist eine der Leitfragen der Berliner Konferenz, ‚wir informieren nur, und das machen andere welche Möglichkeiten es gibt, die Grauzonen auch‘. Das sehen viele Politikwissenschaftler der Gesetzgebung einer demokratischen Kon- ähnlich. Der gängigen Lehrmeinung nach ist trolle zu unterziehen, eine andere. Dass die Kon- der Lobbyismus für die Praxisnähe des Politik- takte der Interessenvertreter zur politischen Klas- betriebs unverzichtbar. Ohne das Fachwissen se transparenter gestaltet werden müssen, um der Wirtschaft seien Abgeordnete und Ministe- der wachsenden Politikverdrossenheit in der rialbeamte mit der wachsenden Komplexität der Bevölkerung entgegenzuwirken, darüber sind Gesetzesmaterie heillos überfordert, heißt es. sich Praktiker und Kritiker des Lobbyismus Doch wenn dem so ist: Woran sollen die abge- weitgehend einig. Doch wie genügend Trans- magerten Mitarbeiterstäbe des ‚schlanken Staa- parenz hergestellt werden kann, darüber gehen tes‘ dann erkennen, wie verlässlich die Infor- die Meinungen weit auseinander. Reicht ein frei- mationen sind, die ihnen die Unternehmensver- williger Verhaltenskodex für professionelle In- treter als Fakten präsentieren? An dieser Stelle teressenvertreter oder brauchen wir ein obliga- Pulsschlag 133

torisches Lobbyregister? Hat sich die Regelung Gerd Mielke (Universität Mainz): Forschungs- zur Offenlegung der Nebeneinkünfte von Bun- überblick – Die (wissenschaftliche) Landkarte destagsabgeordneten bewährt oder sind weiter- des Lobbyismus gehende Regularien, wie zum Beispiel eine ‚Ka- renzzeit‘ zwischen dem Wechsel vom Parlament 15.15 Uhr: Kaffee und Kommunikation in die Industrie, erforderlich? Bei der Diskussion dieser Fragen sollen 15.45 - 18.00 Uhr: „Wir informieren doch Wissenschaftler und Journalisten ebenso zu nur…“ Eine analytische Lobby-Revue Wort kommen wie Vertreter aus Wirtschaft und Politik. Zum Rahmenprogramm der Tagung Marianne Tritz (Deutscher Zigarettenverband): gehört eine Stadtführung zu den Schauplätzen Lobbyisten als Partner der Politik der Berliner Republik. Sie wird von der Initiati- ve Lobby Control durchgeführt und soll Einbli- (MdB, SPD): Rauchverbot und cke geben in eine Lobbyszene, die durch die Tabaklobby. Erfahrungsbericht eines Abgeord- sprunghaft wachsende Zahl von Unternehmens- neten repräsentanzen und -allianzen, Public Affairs- Agenturen und Anwaltskanzleien auffälliger, Dr. Thilo Sarrazin (Finanz-Senator Berlin): aber auch unübersichtlicher geworden ist. Lobbystrategien zur Durchsetzung der Bahn- reform Die Fachkonferenz wird von netzwerk re- cherche e.V. in Zusammenarbeit mit dem For- Kaffeepause schungsjournal neue Soziale Bewegungen durchgeführt und von der Friedrich-Ebert-Stif- N.N.: Das Personalprogramm Seitenwechsel tung unterstützt. Kim Otto (Monitor): Leiharbeiter im Maßanzug. Programm (Änderungen vorbehalten): Zur Tätigkeit von Lobbyisten in den Ministerien

Freitag, 19. September 2008 Matthias Corbach (FU Berlin): Lobbyismus und Emissionshandel. Ergebnisse einer Studie 10.30 - 14.00 Uhr: Vorprogramm Zwischenbilanz und Zusammenfassung 10.30 Uhr: „Eine Lobby-Reise durch Berlin“, Politische Stadtführung mit LobbyControl 18.00 Uhr: Imbiss am Abend (NGO, Köln) 19.00 - 21.00 Uhr: 13.00 Uhr: Beginn der Konferenz/Imbiss Festveranstaltung 20 Jahre Forschungsjournal 14.00 - 15.15 Uhr: Lobbyismus heute Neue Soziale Bewegungen

Christine Hohmann Dennhardt (Richterin am 19.00 Uhr: (Stv. Präsident Bundesverfassungsgericht): Hausverbot für des Deutschen Bundestages): Sprachmacht Lobbyisten? heute – Wer setzt heute die Themen in der poli- tischen Arena? Reflexionen zur Veränderung der politischen Kultur in Deutschland. 134 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

19.30 Uhr: Prof. Dr. Roland Roth: Chancen, 14.00 - 15.45 Uhr: Lobbyismus in Europa Risiken und Nebenwirkungen von Bewegungs- forschung – Zur Wirkungsanalyse einer politi- David Miller (University of Stratheligde): Lob- schen Zeitschrift. by-Paradies Brüssel – Wie der Lobbyismus in Europa funktioniert? 20.00 Uhr: 20-minütiges Feedback zu den Re- den mit den Verantwortlichen Redakteuren des Axel Singhofen (Mitarbeiter der Grünen-Frak- Forschungsjournals Neue Soziale Bewegungen tion im Europaparlament): EU-Lobbyismus am und befreundeter Fachzeitschriften (Vorgänge, Beispiel von REACH Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte, Blätter für deutsche und internationale Politik) William Dinan (University of Strathcliyde): Was können wissenschaftliche Zeitungen heute Gegenstrategien zur Macht des Lobbyismus in noch bewirken? Brüssel Moderation: Dr. Thomas Leif anschl. Empfang und Buffet 15.45 Uhr: Kaffee und Kommunikation

Samstag, 20. September 2008 16.15 - 18.15 Uhr: Ausblick. Zukunft des Lob- byismus 10.00 - 12.30 Uhr: Medien und Lobbyismus Lobbyregister, Ehrenkodex & Co: Wege zu mehr Hans Leyendecker (Süddeutsche Zeitung), an- Transparenz Roundtable mit gefragt: Die mediale Drehtür – Warum eignen Jürgen Hogrefe – Generalbevollmächtigter sich (Top)-Journalisten als Lobbyisten? EnBW Stefan Krug – Greenpeace, angefragt Cerstin Gammelin (Süddeutsche Zeitung): Lob- Dominik Meier – Deutsche Gesellschaft für byisten und Journalisten – Anatomie einer ef- Politikberatung fektiven Beziehung Norbert Theihs – Verband der Chemischen In- Kommentar: Nicola Brüning (BMW Group) dustrie

N.N.: Die Praxis des Negative Campaignings - Moderation Dr. Thomas Leif Erfahrungen eines Betroffenen Kommentar: N.N. 17.15 Uhr: Abschlussvortrag

Kaffeepause Sonia Mikich (Monitor): Lobbyismus in der Demokratie – Einflusschancen und Einfluss- Albrecht Ude (freier Journalist): Das Internet grenzen von Interessenvertretungen und die als Marktplatz des Lobbyismus Rolle des Parlaments Kommentar: N.N. Rückfragen und Anmeldung: Tobias Quednau, Dietmar Jazbinsek (freier Journalist): Corpo- Sonnenallee 26, 12047 Berlin, rate Social Responsibility als Lobby-Strategie [email protected], 0176-29257981 Kommentar: N.N.

12.30 Uhr: Mittagspause – Buffet Pulsschlag 135

CALL FOR PAPERS • sich über Publikationsmöglichkeiten zu in- ...... formieren.

Orientierung in einem wilden Die Tagung soll insbesondere die Möglichkeit Komplex eröffnen, Chancen wie Gefahren im Forschungs- prozess frühzeitig zu erkennen. Die häufig zu Konzepte und Methoden in der hörende Einschätzung einer abnehmenden Pro- Forschung über Protest und Soziale testintensität seit den 1960er Jahren widerspricht Bewegungen – interdisziplinäre z.B. diametral dem Forschungsstand, der auch Nachwuchstagung anhand quantitativer Daten in der Regel das Gegenteil belegt. Grundlagenkenntnis über so- Termin 15.11.2008, TU-Berlin ziale Bewegungen auch außerhalb der eigenen Forschung kann also von hohem Nutzen sein, Die Tagung wird in Zusammenarbeit um voreilige Schlussfolgerungen zu vermeiden mit dem Arbeitskreis Soziale aber auch um Besonderheiten der eigenen Em- Bewegungen der DVPW organisiert pirie überhaupt erst ‚sehen‘ zu können. In Hin- sicht auf die Wahl und Eingrenzung der Unter- Als wilder Komplex mit anarchischer Struktur suchungsgegenstände kann über bisherige Er- (Habermas) wurde einmal jene gesellschaftli- fahrungswerte und Forschungslücken aufgeklärt che Sphäre charakterisiert, die die Systeme von werden. Es macht z.B. einen Unterschied, ob Geld und Macht mittels Protest im Belagerungs- ganze Bewegungen, einzelne Protestkampag- zustand hält. Dass auch die Konzepte zur Ana- nen, Szenen/Milieus, Organisationen oder Ak- lyse von Protestmobilisierungen ein wilder tivisten untersucht werden. Häufig untersuch- Komplex sein können, diese Erfahrung machen ten Organisationen (Greenpeace, Attac) stehen viele jüngere Forscher, die soziale Bewegun- bislang vernachlässigte Bereiche gegenüber gen in den Mittelpunkt ihrer Studienabschluss- (z.B. aktivistische Biographien in anti-rassisti- arbeiten oder Dissertationen stellen. Es braucht schen Initiativen). Die Wahl der Untersuchungs- ein hohes Orientierungsvermögen, um sich in ebenen (lokal, national, transnational), aber auch diesem weniger stark kanonisierten interdiszip- der zeitlichen und geographischen Reichweite linären Forschungsfeld zurechtzufinden. Wich- der eigenen Forschung hat unter anderem er- tig ist diese Orientierung vor allem angesichts heblichen Einfluss auf die Wahl adäquater The- einer schwachen Institutionalisierung der For- orieangebote. In dieser Hinsicht existiert in den schung zu Protest und sozialen Bewegungen, verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen die dazu führt, dass viele Nachwuchswissen- eine Reihe von Ansätzen, die von kleinteiliger schaftlerInnen isoliert an ihren Projekten arbei- Erklärung einzelner Protesthandlungen bis hin ten. Die Tagung möchte daher jungen Forschen- zur Einordnung von sozialen Bewegungen in den die Möglichkeit geben, Breitwandgemälde gesellschaftlicher Umbrüche • ihre Forschungskonzepte zu präsentieren. reichen. Hier soll die Tagung vor allem die • ihre Forschung durch fachlichen Austausch Möglichkeit bieten, die eigenen Begrifflichkei- zu erleichtern. ten und Konzepte passgenau zur jeweiligen the- • Kontakte mit anderen Nachwuchsforscher- oretischen Positionierung auszuwählen, um zu Innen zu knüpfen. verhindern, dass theoretische Konstruktions- • mit erfahrenen ForscherInnen zu diskutie- mängel schon ins Fundament der Arbeit einge- ren. schrieben werden. Schließlich soll die Tagung 136 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

das häufig zeitlich eng begrenzte wissenschaft- die erste Entwürfe ihrer Arbeiten (10-seitiges liche Arbeiten von jungen Forschern erleich- Exposé) vorstellen oder bisher unveröffentlich- tern, indem eine Methodenberatung angeboten te Arbeiten präsentieren. In dieser Hinsicht bit- wird. In dieser Hinsicht stehen erfahrene For- ten wir um abstracts, in denen einzelne Theore- scher bereit, die über ihre Erfahrungen mit be- me, Modelle und Konzepte oder die theoreti- stimmten Verfahren wie quantitative wie quali- sche Konstruktion der eigenen Arbeit diskutiert tative Dokumentenanalyse, Interviews, Frage- werden. Dabei gibt es keine disziplinären, zeit- bogenuntersuchungen, teilnehmende Beobach- lichen oder thematischen Beschränkungen. Ein tung, Netzwerkanalyse usw. Auskunft geben Papier zum Symbolgehalt einzelner Protesthand- können. lungen in der Kaiserzeit ist genauso willkom- Da auf der Konferenz konzeptionelle und men wie der aggregierte Vergleich von Bewe- methodische Probleme diskutiert werden sollen gungen in mehreren Ländern. statt einzelner Themen, Ereignisse oder Bewe- Rückmeldung: Simon Teune, E-Mail: gungen, richtet sich die Tagung an Teilnehmer, [email protected] Treibgut 137

Bürgerforum der EU: Agora schaft: 14 Bürgerinnen und Bürger der EU wen- Das Europäische Parlament hat ein neues In- den sich mit Videobotschaften an die Nutzer. strument zur Beteiligung der Zivilgesellschaft Sie plädieren dafür, eine weitere Vertiefung der an den Angelegenheiten der Europäischen Uni- EU ‚mit mehr Bürgersinn anstatt mit mehr Bü- on eingerichtet: die ‚Agora‘. Im November 2007 rokratie‘ zu erreichen und fordern alle europäi- wurde dieses Verfahren zum ersten mal erprobt: schen Bürgerinnen und Bürger zur Mitarbeit 500 Vertreter und Vertreterinnen von Organisa- auf. tionen der Zivilgesellschaft sind eingeladen worden, gemeinsam mit Mitgliedern des Euro- Europäische Zivilgesellschaft im päischen Parlaments zwei Tage lang über die Internet Zukunft Europas und die Herausforderungen, Viele Vereinigungen, Stiftungen und Nichtre- Chancen und Instrumente des Reformvertrags gierungsorganisationen haben sich die Förde- zu diskutieren. Diese Form des Dialogs zwi- rung und Vertiefung der europäischen Verstän- schen Vertretern der EU und den Bürgern soll digung und Integration zum Ziel gesetzt – sie institutionalisiert werden und alle sechs Mona- organisieren und engagieren sich zivilgesell- te stattfinden. Das zweite Agora-Treffen zum schaftlich auf europäischer Ebene. Die ‚Ideas Thema ‚Klimawandel‘ ist für Juni 2008 geplant. Factory Europe‘ (www.ideasfactoryeurope.eu), Auf einem eigens eingerichteten Onlineforum ein Projekt des European Policy Centres, will haben akkreditierte zivilgesellschaftliche Orga- vor allem junge Leute zur Auseinandersetzung nisationen und interessierte Bürgerinnen und mit Europa animieren. Unter der Leitfrage „How Bürger die Möglichkeit, schon vor dem offizi- would you do things if you were in charge?“ ellen Treffen im Juni in den Diskurs einzustei- sollen Themen angesprochen werden, die ‚jun- gen. gen Menschen auf dem Herzen liegen, die aber Weitere Informationen zu Agora und den Teil- in der europäischen Debatte bislang wenig be- nahmemöglichkeiten sowie das Onlineforum achtet werden‘. Das ‚Netzwerk Europäische gibt es auf der Internetpräsenz des Europäischen Bewegung Deutschland‘ (http://europaeische- Parlamentes unter www.europarl.europa.eu, bewegung.de) ist ein überparteilicher Zusam- Menüpunkt ‚Agora‘. Dort findet sich auch ein menschluss von Interessengruppen im Bereich Link zu den Abschlussberichten der ersten Agora Europapolitik. Rund 145 Verbände, Gewerk- vom November 2007. schaften, Bildungsträger, wissenschaftliche In- stitute, Stiftungen, Parteien und Unternehmen Videobotschaften zur Zivilgesellschaft haben sich zusammengeschlossen, um die eu- Die Bundeszentrale für politische Bildung bie- ropäische Integration in Deutschland und die tet auf ihrem Internetportal (www.bpb.de) ei- grenzüberschreitende Kooperation der europäi- nen Schwerpunkt zu Europa und zur Europäi- schen Zivilgesellschaft zu fördern. Auf der In- schen Union. Unter dem Menüpunkt ‚Themen ternetpräsenz des Netzwerkes können neben -> Europa -> Europäische Union‘ finden sich Informationen zu aktuellen Projekten auch Dos- zahlreiche Dokumente, Analysen und Hinter- siers und Studien über europäische Entwick- grundinformationen zur Arbeitsweise der EU, lungen herunter geladen werden. zu den Kompetenzaufteilungen zwischen den Über das Internet lassen sich auch vielfältige Organen, zu Bürgerrechten oder zu einzelnen Informationen über die institutionalisierte Zu- Mitgliedstaaten. Der Menüpunkt ‚Zivilgesell- sammenarbeit der EU mit der Zivilgesellschaft schaft‘ bietet eine kreative Auseinandersetzung finden: Auf der Seite der EU-Kommission mit dem Thema der europäischen Zivilgesell- beispielsweise sind Ziele, Zwecke und Bestim- 138 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

mungen einer Kooperation zwischen der EU Europäisches Wissenschaftsparlament und der Zivilgesellschaft aufgeführt (http:// Das ‚Europäische Wissenschaftsparlament‘ ec.europa.eu/civil_society/index_de.htm); auf (EWP) ist ein Gemeinschaftsprojekt der Stadt der Internetseite ‚Debate Europe’ (http:// Aachen und der RWTH Aachen. Mit dem Wis- europa.eu/debateeurope/index_de.htm) hat die senschaftsparlament soll der Dialog zwischen EU ein Forum eingerichtet, in dem Menschen Bürgerinnen und Bürgern, der Wissenschaft und aus Europa über europäische Themen debattie- der Politik gefördert werden. Alle zwei Jahre ren können. In vier großen Themenblöcken lädt das EWP europaweit engagierte Menschen (Klimawandel und Energie, Zukunft Europas, zur Teilnahme ein – über Generationen und Be- Interkultureller Dialog und Verschiedenes) soll rufssparten hinweg. Der Schwerpunkt liegt das Interesse an einer aktiven Auseinanderset- dabei auf der jungen Generation. Die erste Sit- zung mit den Angelegenheiten der Europäischen zung des EWP wird am 9. und 10. Oktober Union geweckt werden. 2008 in Aachen stattfinden. Sie steht unter dem Motto ‚Europa unter Strom – geht 2050 das Bürgergutachten Europa Licht aus?‘ und widmet sich dem Thema ‚Ener- Im Frühjahr diesen Jahres wurde in Berlin ein gie‘. Bürgergutachten vorgestellt, das ‚Eckpunkte für Weitere Informationen und Kontaktmöglichkei- ein offenes, ökologisches und soziales Europa‘ ten gibt es unter www.wissenschaftsparlament. formuliert. Das Bürgergutachten, das vom ‚Ber- eu. Die Webseite informiert jedoch nicht nur liner Institut für Kooperationsmanagement und über das EWP: Sie spielt vor allem für die Vor- interdisziplinäre Forschung – nexus‘ erstellt bereitung der Veranstaltung eine tragende Rol- wurde, war Teil der ‚European Citizens’ Con- le. Mit Hilfe dieser interaktiven Plattform kön- sultations (ECC)‘, die als europaweite Bürger- nen alle Interessierten Fragen stellen, Meinun- beteiligung durchgeführt wurde. Entlang der gen äußern oder Lösungen für die Energiepro- zentralen Fragestellung ‚Was für ein Europa blematik vorstellen und sich dadurch für die wollen wir?‘ erarbeiteten 45 Bürgerinnen und persönliche Teilnahme an der Aachener Tagung Bürger aus Berlin Empfehlungen zu den The- im Oktober bewerben. Innerhalb eines Wettbe- men ‚Umwelt und Energie‘, ‚Familie und Sozi- werbsverfahrens werden Teilnehmerinnen und ale Sicherung‘ sowie ‚Immigration und Euro- Teilnehmer der Internetplattform selbst die Vor- pas Rolle in der Welt‘. Das Gutachten wurde auswahl der Kandidaten bestimmen. von der belgischen King Baudouin Foundation in Auftrag gegeben und von der Europäischen Mehr Demokratie Kommission und der Initiative Plan D kofinan- Der Verein Mehr Demokratie e.V. hat einen bun- ziert. desweiten Bericht zu Bürgerbegehren veröffent- Das Bürgergutachten kann im Internet unter licht. Der in Zusammenarbeit mit der Universi- www.nexus-berlin.com/download/ tät Marburg entstandene Bericht kann im Inter- citizens_report_ECC.pdf herunter geladen wer- net unter www.mehr-demokratie.de/buergerbe- den. gehrens-bericht.html eingesehen werden. Auf der Homepage des Vereins findet sich auch der aktuelle Jahresbericht von Mehr Demokratie e.V., der eine Übersicht über die Arbeit des Ver- eins und die vielfältigen Bürgerbegehrens- und Beteiligungsformen bietet. Treibgut 139

Ideenwettbewerb Nürnberg zu sehen. Genauere Angaben zu Ter- ‚Teilhabe und Integration‘ minen und Ausstellungsstandorten sowie wei- Die Stiftung Bürger für Bürger hat die Doku- tere Informationen zur Ausstellung finden sich mentation des bundesweiten Ideenwettbewerbs im Internet unter www.rollenbilder.de. 2008 ‚Teilhabe und Integration von Migrantin- nen und Migranten durch bürgerschaftliches Weltretter.org Engagement‘ online gestellt. Bürgerschaftliches Die neue Internetplattform www.weltretter.org Engagement von Migranten ist sowohl Motor möchte Menschen zusammenbringen, die klei- der Integration als auch ein Zeichen gelungener ne soziale Projekte planen. Mit der Plattform Integration selbst. Deshalb soll mit dem Wett- soll ihnen die Möglichkeit zum Ideen- und Er- bewerb dieses Engagement gefördert werden. fahrungsaustausch gegeben werden. Die Platt- Prämiert wurden Projekte, die Vorbildfunktion form richtet sich an Menschen, „die in ihrem haben und Innovationscharakter aufweisen und Leben mehr erreichen wollen als Mitarbeiter und damit als gelungenes Beispiel für Integrations- Konsument zu sein.“ Man kann Menschen su- arbeit dienen können. chen, die einen bei den eigenen Projekten unter- Die Dokumentation sowie weitere Informatio- stützen, aber auch selber Hilfe und Beratung nen zum Wettbewerb sind im Internet einsehbar für andere geben. unter www.buerger-fuer-buerger.de/content/ab- lage/Doku_Wettbewerb2008.pdf. E-Partizipation Eine im Auftrag des Bundesministeriums des Rollenbilder im Wandel Innern vom Institut für Informationsmanage- Rollenbilder haben immer noch eine große Wir- ment Bremen (ifib) und Zebralog e.V. erstellte kungskraft und beeinflussen unser Zusammen- Studie nimmt die Verbreitung und die Möglich- leben. Gerade in der Arbeitswelt sind Rollen- keiten digitaler Beteiligungsformen unter die bilder oftmals die Ursache für Ungleichheiten Lupe. Die Studie mit dem Titel ‚E-Partizipation und ungleiche Behandlung von Männern und – Elektronische Beteiligung von Bevölkerung Frauen. Frauen beschränken sich bei ihrer Be- und Wirtschaft im E-Government‘ gibt zunächst rufswahl häufig noch immer auf typische Frau- eine umfassende vergleichende Bestandsaufnah- enberufe mit geringeren Verdienst- und Auf- me von E-Partizipation in Deutschland und an- stiegschancen; junge Männer dagegen sind in deren Ländern. Neben einer Darstellung der sozialen Berufen unterrepräsentiert. Die bun- Sicht von Nutzerinnen und Nutzern sowie Ver- desweite Wanderausstellung ‚Rollenbilder im bänden aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft Wandel‘, ein Kooperationsprojekt des Bundes- wurde eine Stärken-Schwächen-Analyse in die ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Untersuchung aufgenommen. Abschließend gibt Jugend und der Bundesagentur für Arbeit, prä- die Studie Handlungsempfehlungen zur Fort- sentiert Rollenbilder, Lebenssituationen und entwicklung von E-Partizipation innerhalb des Perspektiven in kurzen Videoporträts und macht E-Government-2.0-Programms der Bundesre- die Bedeutung der Überwindung von alten Rol- gierung. lenbildern für neue berufliche Chancen mög- Die Studie kann im Internet unter www.ifib.de/ lich. dokumente/ifib-zebralog_e-partizipation.pdf Die Wanderausstellung ist ab Juni 2008 unter eingesehen werden. anderem in Erfurt, Frankfurt/Main, Stuttgart und 140 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

Steuergerechtigkeit und Steuerflucht I Weitere Informationen zu Steueroasen und dem Das Bildungswerk des DGB, das Global Poli- Aktionsplan von Attac gibt es im Internet unter cy Forum Europe und terre des hommes haben www.attac.de/steuerflucht/cms/. gemeinsam die Dokumentation ‚Steuergerech- tigkeit und Unternehmensverantwortung‘ ver- Greenwasher Award öffentlicht. Darin konstatieren sie, dass den Monatlich berichtet die Zeitschrift Ethical Cor- Regierungen weltweit durch Steuergeschenke, poration in ihrer Kolumne ‚Greenwasher‘ über manipulierte Verrechnungspreise und andere Firmen, deren Handlungen und Arbeitsprakti- Tricks der Gewinnverlagerung Einnahmen in ken in klarem Widerspruch zur gepredigten dreistelliger Milliardenhöhe entgehen oder vor- Corporate Social Responsibility stehen oder die enthalten werden. Deswegen plädieren die Au- in besonderer, häufig satirisch anmutender Weise toren für eine verstärkte multilaterale Zusam- ökologische Vertretbarkeit ihrer Produkte oder menarbeit in der Steuerpolitik unter dem Dach ähnliches anpreisen. So wurden beispielsweise der Vereinten Nationen. Aber auch auf nationa- Journalisten, die sich über die Umweltschutz- ler Ebene seien den Regierungen keineswegs maßnahmen einer Land Rover-Fabrik in Eng- völlig die Hände gebunden: Die Dokumentati- land informieren wollten, zu einem ‚Offroad- on beschreibt, was in Deutschland zu tun wäre, Nachmittag in der Natur‘ in einem der sicherlich um Steuerflucht zu vermeiden und mehr Steu- nicht gerade umweltfreundlichen Land Rover- ergerechtigkeit zu erhalten, und kritisiert, dass Gefährte eingeladen. Einen der Preise, die am die beschlossene Steuerreform der Großen Ko- Ende des Jahres an herausragende ‚Greenwas- alition den Unternehmen vor allem weitere Steu- her’ verliehen wird, bekam im letzten Jahr Nor- ergeschenke bringt. bert Haug, Motorsportchef von Mercedes, in DGB Bildungswerk/Global Policy Forum Eu- der Kategorie „Most useless excuse for inac- rope/terre des hommes: Steuergerechtigkeit und tion of the year“: Auf die Frage, was denn die Unternehmensverantwortung. Bonn/Düssel- Formel 1 an Klimaschutzmaßnahmen ergreife, dorf/Osnabrück, Februar 2008, 32 S., ISBN: antwortete er, während der Rennen würden ja 978-3-924493-84-4. In elektronischer Form ist Millionen von Menschen vor dem Fernseher die Studie erhältlich unter www.tdh.de/content/ sitzen und in dieser Zeit ihr eigenes Auto nicht themen/weitere/entwicklungspolitik/ benutzen. doku_steuergerechtigkeit.htm. Die monatlichen Kolumnen können in engli- scher Sprache im Internet angesehen werden Steuergerechtigkeit und unter www.ethicalcorp.com, Menüpunkt Show Steuerflucht II All -> Greenwasher. Das globalisierungskritische Netzwerk Attac hat einen Aktionsplan gegen Steuerflucht entwi- BBE-Aktionswoche 2008 ckelt. Die Organisation tritt für eine rasche Ver- Das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Enga- änderung geltenden Rechts ein, um Steuerflucht gement veranstaltet auch in diesem Jahr eine und Steuerhinterziehungen weltweit zu bekämp- ‚Woche des bürgerschaftlichen Engagements‘. fen. Dabei geht es vor allem um die „Trockenle- Vom 19. bis zum 28. September 2008 können gung von Steueroasen“, deren Existenz allein Interessierte und Unterstützer der Aktionswo- die Länder des Südens nach Angaben von Attac che unter dem Motto ‚Engagement macht stark’ jährlich über 50 Milliarden US-Dollar kosteten. auch die eigenen Freiwilligenprogramme, Pro- Treibgut 141

jekte und Initiativen vorstellen. Flyer zur Akti- politische Programme zusammen, so dass Inte- onswoche 2008 können kostenlos auf www. ressierte sich einen guten Einblick in die natio- engagement-macht-stark.de unter dem Menü- nalen Rechtsgrundlagen der Klimapolitik ver- punkt ‚Materialbestellung‘ oder per Mail an schaffen können. [email protected] bestellt werden. Die Internetseite www.klima-luegendetektor.de hingegen versteht sich als so genanntes watch- Initiative Nachrichtenaufklärung blog, das Zeitungsanzeigen, Politikerreden oder Ziel der Initiative Nachrichtenaufklärung ist es, Lobbyisten-Statements auf ihren Wahrheitsge- von den Medien vernachlässigte Themen stär- halt prüfen will. Die Macher des vom Green- ker in die Öffentlichkeit zu bringen. Dazu ver- peace-Magazin und dem unabhängigen Inter- öffentlicht die Initiative jährlich eine Rangliste netportal wir-klimaretter.de getragenen Projekts mit den zehn am meisten vernachlässigten The- wollen die untersuchten Statements gegebenen- men. Aktuell zählt nach Meinung der Initiative falls richtig stellen oder auf verschwiegene In- die mangelnde Bereitschaft der Politik, flächend- formationen und Daten hinweisen und diese eckend so genannte Bürgerbeauftragte oder ergänzen. Ombudsmänner einzurichten, zu den am stärks- ten vernachlässigte Themen. Dabei sei die Ein- Fairness durch Netzwerk-Governance? richtung dieser Bürgerbeauftragten wichtig, da Regierungen von Entwicklungsländern fehlt sich über solche Stellen nicht nur die Kontrolle häufig die Fähigkeit, die Einhaltung global ver- über Verwaltung und Parlamente verbessern las- einbarter Arbeitsstandards im eigenen Land se, sondern auch die Partizipation von Bürger- durchzusetzen. Die Regulierung von so genann- innen und Bürgern. Andere aktuelle ‚Top-The- ten Kernarbeitsnormen findet deshalb zuneh- men‘ sind beispielsweise Absprachen über Ter- mend über private Akteure statt. Eine Untersu- minierungsentgelte im deutschen Handynetz chung, die im Rahmen des Promotionskollegs oder auch Qualitätsverluste im deutschen Jour- ‚Ökologie und Fairness im Welthandelsregime‘ nalismus. am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, En- Weitere Informationen zur Initiative und Erläu- ergie entstand, untersucht anhand von Fallbei- terungen zur aktuellen ‚Top Ten‘ gibt es unter spielen, wie mit Hilfe von Stakeholdern zu ei- www.nachrichtenaufklärung.de. ner faireren Gestaltung globaler Wertschöp- fungsketten beigetragen werden kann. Klimapolitik und Lügendetektor Die Studie kann im Internet herunter geladen Die von econsense, dem Forum Nachhaltige werden unter www.wupperinst.org/globalisie- Entwicklung der Deutschen Wirtschaft betrie- rung/html/netzwerk-governance.html. bene Webseite http://weltkarte-der- klimapolitik.de gibt Informationen zu aktuellen Fragen der Klimapolitik. Besonders interessant ist der ‚Map Creator‘, eine interaktive Weltkarte mit vielfältigen Informationen zur Klimapolitik und Daten zur Energieversorgung und sozioö- konomischen Größen für 14 Länder und Regi- onen der Welt. Darüber hinaus stellt das Pro- gramm aktuelle Rechtsnormen und wichtige 142 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

REZENSIONEN die demokratische Legitimität der EU neue Im- ...... pulse zu geben. In der vorliegenden Sammelre- zension werden die Bände dahingehend unter- Brüssel auf der Suche nach sucht, ob ihnen ein origineller Zugang zum The- demokratischer Legitimität ma (organisierte) Zivilgesellschaft im demokra- tischen Leben der EU gelungen ist und inwie- Obwohl sich die Europäische Union in ihrem fern sie die verschiedenen interdisziplinären institutionellen Design mittlerweile einem poli- Stränge zu einem neuen, anregenden Ganzen tischen System liberaldemokratischer Prägung integrieren. beträchtlich angenähert hat – mit den zentralen Merkmalen des Respekts der Grundfreiheiten, Analyse des konzeptionellen Rahmens Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Gewal- Die Edition von Kohler-Koch/Rittberger bietet tenteilung – verstummt die Diskussion über ihre den vergleichsweise breitesten Zugang. Der demokratische Legitimität nicht. Der Ruf nach Sammelband gibt einen sehr gut strukturierten einem ‚Europa der Bürger‘ wurde erneut an- Überblick über das komplexe Feld der aktuel- lässlich des zu einem Reformvertrag degradier- len Demokratiedefizitsdiskussion und bietet ten Verfassungsentwurfes laut. somit eine wertvolle Orientierungshilfe für Stu- In den vergangenen Jahren hat sich ein neu- dierende und Forscher gleichermaßen. Ange- er Schwerpunkt in der wissenschaftlichen Dis- sichts des Überblickscharakters ist es bemer- kussion herausgebildet, der sich sowohl aus kenswert, dass sich drei des in fünf Teile ge- normativer wie empirischer Quelle speist und gliederten Bandes mit den Themenkomplexen eine Vielzahl aktueller Veröffentlichungen nach Zivilgesellschaft, Partizipation und Deliberati- sich gezogen hat. Im Kontext des ‚deliberative on beschäftigen und somit Zeugnis ablegen für turns‘ in der Demokratietheorie sowie durch den aktuellen Schwerpunkt der Debatte um das einen Politikstil in der EU, der sich durch ver- Demokratiedefizit der EU. Es sind sowohl em- mehrte Anwendung von horizontalen Gover- pirische wie theoretische Beiträge, die das Tab- nance-Mechanismen anstelle von vertikaler Po- leau der Diskussion widerspiegeln: Zivilgesell- litikgestaltung auszeichnet, hat sich der Fokus schaft sei nötig, um eine breite Öffentlichkeit weg von den aus dem nationalstaatlichen Kon- herzustellen (Heinelt), aber letztlich bedürfe es text bekannten institutionellen Mechanismen eines Parlaments, um die umfassenden (konsti- repräsentativer Demokratie, hin zu der Rolle der tutionellen) Fragen zu klären (Lord). Zudem (organisierten) Zivilgesellschaft und ihrer Be- wird angezweifelt, dass die von der Europäi- teiligung in Politikprozessen als potentielles schen Kommission eingeleitete Verstärkung ‚cure for the democratic deficit’ (Untertitel Stef- partizipativer Governance-Elemente die zwi- fek et al.) bewegt. Diese Diskussion zeichnet schen den zivilgesellschaftlichen Organisatio- sich insbesondere durch ihre Interdisziplinari- nen bestehenden Asymmetrien beheben könne, tät aus, beteiligen sich doch Vertreter der Rechts- wenngleich die administrativen Anstrengungen wissenschaft, der Soziologie, der empirischen bezüglich Transparenz und Offenheit mög- Politikwissenschaft und der normativen Politi- licherweise unintendierte, positive Effekte auf schen Theorie an ihr. Alle vier hier besproche- die demokratische Legitimität europäischen Re- nen, englischsprachigen Sammelbände verste- gierens haben (Kohler-Koch). Doch sei nicht hen sich als Beitrag, die verschiedenen Diszi- zu vergessen, dass partizipative Demokratie ur- plinen und Denkschulen einander befruchtend sprünglich die Partizipation von Individuen und zusammenzuführen, und so der Debatte über nicht die von zivilgesellschaftlichen Organisa- Literatur 143

tionen zum Inhalt hatte, und dieser Perspekti- samten Band eine stabilere Klammer verleihen venwechsel eine Instrumentalisierung von Par- können. tizipation und Zivilgesellschaft mit sich bringen könnte (Greven). Der Band zeichnet sich ins- Typische Konsistenzprobleme von besondere durch seinen konzeptionellen Rah- Sammelbänden men aus, der den Versuch unternimmt, die Viel- Die zwei Sammelbände von Ruzza und Della zahl der vorhandenen demokratietheoretischen Salla sowie die Edition von Smismans beschäf- Angebote und institutionellen Vorschläge zu tigen sich beide explizit mit dem Zusammen- sortieren. Die Herausgeber gehen von der Prä- hang der ‚unequal triangle‘ (Della Salla) von misse aus, dass demokratische Legitimität nicht Demokratie, Governance und Zivilgesellschaft. (bloß) durch eine bestimmte Kombination von Die Beiträge in Ruzza/Della Salla stellen sich input, output und sozialer Legitimität erreicht der Herausforderung, über neue Wege nachzu- wird, sondern durch die Verwirklichung der denken, wie Demokratie im Zeitalter postnatio- fundamentalen demokratischen Werte. Hier he- naler Governancestrukturen zu ermöglichen ist. ben sie insbesondere das Autonomieprinzip als Hierbei ist eine interessante Mischung aus the- zentrales Element des demokratischen Projek- oretischen und empirischen, aber normativ ge- tes hervor (12). Vor dem Hintergrund dieser sättigten Beiträgen entstanden. Tsakatika von allen modernen Demokratiekonzeptionen beispielsweise zeigt, dass die Offene Methode geteilten Prämisse sei es möglich, die vorhan- der Koordinierung (OMK) – als zentraler Me- denen Ansätze einer Dichotomie zuzuordnen: chanismus von ‚new governance‘ – nicht im Für die einen ist (in Schumpeterianischer Tra- Stande ist, zentrale demokratietheoretische Er- dition) Demokratie ein Mittel zur Entschei- fordernisse so unterschiedlicher Theorieansät- dungsfindung, für die anderen ein grundlegen- ze wie aggregativer, deliberativer und agonisti- des Gesellschaftsmodell. Anhand der Ausprä- scher Demokratie zu erfüllen. Bezüglich der gung in drei Dimensionen (political institutions Rolle von Zivilgesellschaft zeigt sich, dass es vs. civil society; voting vs. deliberation; instru- durchaus eine gewisse Europäisierung der nati- mental vs. intrinsic participation) können die onalen Zivilgesellschaft gibt, dass aber sowohl Ansätze einer der dichotomischen Positionen die Mobilisierung ‚von unten‘ (Trenz) als auch zugeordnet werden. Ziel des Bandes ist es also, ‚von oben‘ (Friedrich/Nanz) signifikante Asym- die unterschiedlichen demokratietheoretischen metrien und Ungleichheiten mit sich bringt, die Angebote und institutionellen Vorschläge auf zu dem Ideal demokratischer Gleichheit in Span- ihren Mehrwert für das Prinzip der Autonomie nung stehen. Smismans schlägt vor diesem Hin- zu untersuchen. Allerdings bleiben die Heraus- tergrund ein normatives Modell reflexiv-deli- geber eine entsprechend dezidierte, zusammen- berativer Polyarchie vor, um den Problemen der fassende Stellungnahme schuldig. Es bleibt dem deliberativen Partizipation organisierter Zivil- Leser überlassen, sich von den Argumenten des gesellschaft in europäischer Governance durch weiten Tableaus der (jeweils von Experten kom- Reflexivität zu entgehen. Insgesamt bietet die- mentierten) Beiträge inspirieren zu lassen, da ser Sammelband interessante und vielfältige Ein- die Herausgeber kein abschließendes Kapitel blicke in den aktuellen empirischen wie theore- verfasst haben. Dort hätten sie ihren normati- tischen Forschungsstand über Demokratie in ven Maßstab – Erreichung von Autonomie – der EU. Allerdings ist diese Vielfalt konzeptio- und eventuelle Spannungen in ihren drei Di- nell nur relativ lose durch das ‚unequal triangle‘ mensionen in vergleichender Perspektive über miteinander gekoppelt, so dass ein für Sammel- die Beiträge hinweg reflektieren und dem ge- bände typisches Konsistenzproblem entsteht. 144 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

Nichtsdestotrotz zeigt sich an den Beiträgen Praktiken in EU-Governance gibt, dass sie aber besonders eindrücklich, dass die Debatte über in klassisch-repräsentative Formen des Parla- Zivilgesellschaft und demokratisches Regieren mentarismus eingebettet sein sollten, um der in der EU ‚erwachsen‘ geworden ist und dass Gefahr des Elitismus entgegenzuwirken (ähn- sie sich emanzipiert hat von den euphemisti- lich Lord im Kohler-Koch/Rittberger Band). Die schen Erwartungen an Offenheit, Deliberation rechtswissenschaftlichen Beiträge zeigen die und Partizipation, die sich insbesondere an neu- Bedeutsamkeit, die organisierte Zivilgesellschaft en Governance-Mechanismen wie der Offenen im europäischen Verwaltungsrecht hat, insbe- Methode der Koordinierung (OMK) entzündet sondere bezogen auf Transparenz (Harlow) und hatten. Beschwerdeverfahren beim Ombudsman (Bon- nor). De Schutter zeigt jedoch auch überzeu- Wie lässt sich die demokratische gend, dass, solange es keinen ‚locus standi’ für Zeitbombe entschärfen? zivilgesellschaftliche Organisationen vor dem Die Anthologie von Smismans – selbst von EuGH gibt, die Debatte über partizipative De- Hause aus Jurist – konzeptionalisiert den The- mokratie und die europäische Realität auseinan- menkomplex des ‚unequal triangles‘ am offen- derklaffen. sivsten als interdisziplinäre Herausforderung, Im empirischen Teil wird die Rolle der zivil- was sich in den drei Teilen des Bandes wider- gesellschaftlichen Organisationen kritisch hin- spiegelt: Teil I widmet sich auf konzeptioneller terfragt. Saurugger zum Beispiel beschreibt das Ebene den drei Grundthemen, Teil II reflektiert partizipative Dilemma, dass die zunehmende juristische Implikationen der zivilgesellschaft- Professionalisierung der zivilgesellschaftlichen lichen Partizipation, und Teil III stellt zentrale Organisationen deren Legitimität selber in Fra- empirische Ergebnisse vor. Ausgangspunkt des ge stellt. Demgegenüber hebt Cram hervor, dass Buches ist die Beobachtung einer zunehmen- bereits der intensive Diskurs über eine europä- den Verwischung der Grenzen von öffentlicher ische Zivilgesellschaft und die Bemühungen zur und privater Sphäre und damit einhergehender Schaffung partizipativer Governance-Formen zu verstärkter Komplexität der Interaktionen pri- einer ‚Erfindung‘ eines europäischen Volkes und vater und öffentlicher Akteure. Diese Beobach- damit zur Lösung des oft zitierten Demos-Pro- tung ist in den Worten des Herausgebers poten- blems beitragen. tiell „a democratic time bomb … but may also provide a potential to deepen democracy through Höhere Gleichheit und Responsivität participatory procedures“ (Smismans: 6). Die sind vonnöten drei konzeptionellen Beiträge von Magnette, Auch der Sammelband von Steffek/Kissling/ Armstrong und Warleigh arbeiten sich alle am Nanz bewegt sich in dem Spannungsfeld von Theorieangebot deliberativer Demokratie ab. Governance, Demokratie und Zivilgesellschaft. Armstrong zeigt beispielsweise, dass insbe- Allerdings verfolgt dieser Band ein anderes Ziel sondere der prominente Ansatz von Habermas als die zuvor beschriebenen Editionen: Es geht weniger gut als normative Folie für das Mehr- nicht um eine mit empirischen Beispielen ange- ebenensystem der EU geeignet ist als die di- reicherte Darstellung des Tableaus verschiede- rekt-deliberative Polyarchie – welche wiederum ner konzeptioneller Überlegungen über dieses vom Herausgeber selbst in diesem und im vori- Spannungsfeld. Vielmehr wird ein spezifisches gen Band kritisiert und erweitert wird. Auch Modell deliberativer Demokratie operationali- Magnette betont, dass es zwar gute Gründe für siert und dadurch für empirische Forschung die Berücksichtigung partizipativ-deliberativer fruchtbar gemacht, um die in der Literatur so Literatur 145

prominent zu findende Vorstellung zu überprü- ser Bände, die oft dieselben Personen und ähn- fen, eine deliberative Einbeziehung organisier- liche Beiträge beinhalten, verdeutlicht, dass es ter Zivilgesellschaft erhöhe durch ihre Funkti- trotz dieses intensiv geführten Diskurses wei- on als ‚Transmissionsriemen’ (Steffek/Nanz) teren Forschungsbedarf gibt. Insbesondere den demokratischen Gehalt inter- und suprana- scheint es an der Zeit, Forschungsarbeiten vor- tionalen Regierens. Der Band zeichnet sich zulegen, welche explizit normative Demokra- durch eine für Sammelbände hohe Konsistenz tietheorie mit empirischer Forschung zu verbin- aus, da sich die Autoren durchweg zumindest den versuchen – eine Aufgabe, die von der in an einige der von dem Modell vorgegebenen Sammelbänden zu findenden Vielfalt nur schwer Kriterien (Zugang, Transparenz, Inklusion, Re- geleistet werden kann. sponsivität) orientieren. Die acht empirischen Beiträge widmen sich nicht nur europäischen Dawid Friedrich, Bremen Politikverfahren (Ferretti, Friedrich, Kamlage), sondern auch globalen Themen wie dem World Besprochene Literatur Summit on Information Society (Dany), der ILO Della Sala, Vincent/Ruzza, Carlo (Hg.) 2007: (Thomann), der WTO (Ehling/Steffek) und der Governance and Civil Society. Volume 2: Ex- NATO (Mayer). Diese empirische Breite ver- ploring Policy Issues. Manchester: Manchester leiht der Schlussfolgerung einige Überzeu- University Press. gungskraft, dass zwar vielfältige partizipative Kohler-Koch, Beate/Rittberger, Berthold Prozesse zu beobachten sind, diese aber nicht (Hg.) 2007: Debating the democratic legitimacy stark genug sind, um den ‚intergovernmental of the European Union. Lanham: Rowman & core of policy-making‘ (Kissling/Steffek) durch Littlefield. deliberative Praxis demokratischer zu machen. Ruzza, Carlo/Della Sala, Vincent (Hg.) 2007: Insbesondere höhere Gleichheit und Responsi- Governance and Civil Society. Volume 1: Nor- vität der öffentlichen Institutionen wären mative Perspectives. Manchester: Manchester vonnöten, um das demokratische Potenzial zi- University Press. vilgesellschaftlicher Partizipation zur Wirkung Smismans, Stijn (Hg.) 2006: Civil Society kommen zu lassen. and Legitimate European Governance. Chelten- Alle vorliegenden Bände bieten dem Leser ham: Edward Elgar. einen nuancierten, empirisch wie theoretisch Steffek, Jens/Kissling, Claudia/Nanz, Patri- gehaltvollen Überblick in den Zusammenhang zia (Hg.) 2007: Civil Society Participation in von Partizipation, Zivilgesellschaft und Demo- European and Global Governance: A Cure for kratie. Sie belegen eindrücklich den Bedarf in the Democratic Deficit? Houndmills: Palgrave. unserer interdependenten Welt, neue gedankli- che Wege zu beschreiten, möchte man das Über-  leben von Demokratie erreichen. Sie zeigen aber auch, dass es bis dahin sowohl in der theoreti- Brüssler Lobbyisten packen aus schen Erörterung wie auch in der politischen Praxis noch ein weiter Weg ist. Insbesondere Die Lobbyismusbranche ist ein boomendes am Beispiel des Umgangs der Europäischen Geschäft in Brüssel, und für viele bietet sie at- Union mit der organisierten Zivilgesellschaft traktive Berufsperspektiven. Allerdings würde kann man studieren, wie weit Problemerkennt- kaum jemand auf die Idee kommen, sich seinen nis, Lösungswege und tatsächliche Umsetzung Schwiegereltern als Lobbyist vorzustellen, zu auseinanderklaffen. Eine Zusammenschau die- sehr ist der Begriff im allgemeinen Sprachge- 146 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

brauch negativ konnotiert. Politikberater klingt weitergabe von Politikberatern im Verlauf des da schon viel besser. Und da die Bezeichnung Gesetzgebungsverfahrens zu massivem Lob- nicht geschützt ist, nimmt ihn eine ganze Reihe bying entwickelt hat. Rudolf Strohmeier und von Akteuren auf dem europäischen Markt der Thomas Scholz stellen Pro und Kontra des Lob- Meinungsmache für sich in Anspruch. Der Sam- byismus aus Sicht der Europäischen Kommis- melband von Stefan Dagger und Michael Kam- sion gegenüber. Jochen Grünhages führt den beck hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, ersten Teil des Sammelbandes zusammen und Beteiligten der Brüssler Politikszene ein Podi- reflektiert über Politikberatung sowohl aus der um zu bieten, um jeweils für ihren Bereich per- Sicht staatlicher als auch nichtstaatlicher Inter- sönliche Wahrnehmungen des Lobbyismus dar- essenvertreter, wobei er jedoch keine grundle- zustellen. Dabei gehen sie von einem weiten genden Unterschiede zwischen beiden Perspek- Begriffsverständnis von Politikberatung und tiven zu finden scheint. Übereinstimmung bei Lobbyismus aus und betonen auch wiederholt, den Beratungsempfängern herrscht bei der dass die beiden Begriffe bis heute nicht auf eine grundsätzlichen Akzeptanz von Lobbying als endgültige und feststehende Definition zurück- legitimer Bestandteil der Interessenartikulation blicken können. in pluralistischen Gesellschaften. Allerdings wird eindrucksvoll deutlich, dass alle Autoren Drei Perspektiven und ein Fazit bereits unerfreuliche Erfahrungen mit Lobbyis- Kernanliegen des Buchs ist die Schilderung von ten gemacht haben und eine stärkere Transpa- Politikberatung und Lobbying aus Sicht der renz der Brüsseler Lobbyszene einfordern. ‚praktizierenden Bevölkerung‘. Dazu wird der Im zweiten Teil des Bandes wird die Pers- Band in drei Akteursguppen eingeteilt, nämlich pektive von Interessenvertretern in den Blick Entscheider (Teil 1), Interessenvertreter (Teil 2) genommen. Repräsentanten von Greenpeace und schließlich Beobachter und Begleiter (Teil aber auch von Landes-, Städte- und Gemeinde- 3) der Brüssler Szene. vertretungen sowie Akteure der Wirtschaftslob- Die Perspektive der Entscheider wird mit bys kommen zu Wort. Während eine Erhöhung einführenden Worten des Präsidenten des Eu- der Transparenz der Beratungsaktivitäten durch ropäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering, die EU-Institutionen weitgehend auf ungeteilte eingeleitet, der die grundsätzliche Legitimität von Zustimmung stößt, unterscheiden sich die Au- Lobbying in pluralistischen Gesellschaften be- toren hinsichtlich ihrer Forderung nach Regeln tont, gleichzeitig aber eine bessere Kooperation für die Brüsseler Politberatung: Jorgo Riss von von Politik und Lobbying anmahnt. Es folgen Greenpeace engagiert sich für eine erhöhte Re- Beiträge mehrerer EU-Parlamentsabgeordneter, gulierung im Sinne des Allgemeinwohls. Klaus darunter Martin Schulz (SPE), der sich selbst Nutzenberger vom deutschen Städte- und Ge- als Parlamentarier auf der „Beratungsempfän- meindebund betrachtet eine stärkere Regulie- gerseite“ sieht (28). Er äußert eine Reihe von rung hingegen als überflüssig, da seiner An- Wünschen an die Politikberatung und weist auf sicht nach Qualität der Lobbyistenarbeit nur die Notwendigkeit langfristiger Kooperationen durch geeignete Persönlichkeiten und nicht zwischen Entscheidern und Beeinflussern hin. durch restriktive Handlungsrahmen erreicht Silvana Koch-Mehrin (FDP) vergleicht die Lob- werden könne (155). Hans Stein (Landesver- byszenen Brüssel und Berlin, während Karl- tretung NRW) verteidigt die Landesvertretun- Heinz Florenz (EVP-ED) Politikberatung am gen in Brüssel als lebensnotwendige Interes- Beispiel der Chemikalienpolitik analysiert. Er senverteidigung, enthüllt allerdings auch Macht- zeigt, wie sich die anfängliche Informations- spiele zwischen lokaler und europäischer Ebe- Literatur 147

ne, die durchaus einen Nachgeschmack hinter- fentlichkeit erwartet. Axel Heyers Beitrag ist lassen. Mit einer historischen Einführung, ei- dagegen eher von technischer Natur und be- nem Glossar der wichtigsten Brüsseler Lobby- schreibt Politikberatung am Beispiel von Onli- istenbegriffe und einem Hinweis auf bestehen- ne-Präsenzen der einzelnen Kommissionsmit- de Forschungsdesiderate im Bereich Politikbe- glieder. ratung im Prozess der europäischen Integration liefert Martin Säckl eine gelungene Zusammen- Politikberatung und Lobbying à la fassung. Jeremy Galbraith schließt aus wirt- Bruxelloise schaftlicher Sicht mit ‚eine[r] Analyse und zwölf Das umfangreiche Sammelwerk von Dagger Tipps für effektives Lobbying‘ diesen Teil des und Kambeck erfährt seinen Mehrwert aus der Sammelbandes pragmatisch ab, indem er die Vielfalt der dargestellten Meinungen: Lobbyis- Nützlichkeit der verschiedenen Lobbyingarten ten selbst, ihre Zielpersonen, Lobbying-Begeis- unter rein betriebswirtschaftlichen Gesichts- terte und ihre Kritiker wiegen Pro und Kontra punkten veranschaulicht. des Beratungsspiels gegeneinander auf. Wie häufig in Sammelbänden, in denen Praktiker zu Kritische Beobachter Wort kommen, ist das Niveau der einzelnen Die Perspektive der ‚Beobachter und Begleiter‘ Beiträge allerdings nicht durchgängig hoch. der Politikberatung, wird von sechs weiteren Bisweilen entlarven sich einzelne Kapitel durch Autoren geschildert. Es kommen Vertreter von ihren Jargon als bloßes Namedropping ohne Think Tanks, Wissenschaft und Brüsseler Jour- wirklichen Tiefgang. Den Herausgebern ist nalismus zu Wort. Gerd Langguth beschreibt allerdings zugute zu halten, dass ihnen die Zu- die Grenzen zwischen Lobbyismus, Politikbe- sammenführung der verschiedenen Perspekti- ratung und Public-Affairs als fließend, disku- ven und die Anlage des Bandes selbst gut ge- tiert den demokratischen Beitrag dieser notwen- lungen sind. Insbesondere Leser, die über eine digen Aktivitäten und erläutert die Unterschie- Tätigkeit auf dem Brüssler Lobbyplaneten nach- de zwischen den Lobby Planeten Europa, denken, erhalten in der Anthologie umfassend Deutschland und Nordamerika. Wolfgang Wes- Einblick in die Arbeit von Politikberatern. Auch sels und Verena Schäfer analysieren daraufhin werden Neugierige sicher fündig, die neben der Brüssler Think Tanks und qualifizieren sie als mittlerweile ausufernden Fachliteratur zur Inte- „sanfte Mitspieler“ eines „Mehrebenen- ressenvertretung im institutionellen Gefüge der Meinungsmarkt[es]“ (210), von denen es EU Einblicke in die Selbsteinschätzung der be- allerdings noch nicht genügend gebe, um die teiligten Akteure suchen. ideologische Bandbreite der politischen Inter- essen gleichermaßen abzudecken. Ein weiterer Alexia Duten, Münster Beratungsbedarf wird ebenfalls von Peter Wei- lemann konstatiert, der die besondere Beratungs- Besprochene Literatur kultur Brüssels als „Schmelztiegel“ Europas Dagger, Stefan/Kambeck, Michael (Hg.) (217) klassifiziert und darauf hinweist, dass hier 2007: Politikberatung und Lobbying in Brüs- verschiedene Lobbyistenkodices aufeinander sel. Wiesbaden: VS Verlag. prallen. Der Journalist Hajo Friedrich provo- ziert, indem er die Politikberatungsdebatte auf  die Krise der EU insgesamt projiziert und unter anderem Berichte von höherer Qualität von den Medien als vierte Gewalt und Gestalter der Öf- 148 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

EU-Lobbying: vermittlung, das heißt das Lobbying in der EU Mehr Erkenntnis ist notwendig bietet. Sie setzt dabei die beiden Begriffe – Inte- ressenvermittlung und Lobbying – gleich. Im Viele Entscheidungen, die das Leben der Be- Lobbying aber geht es wesentlich um die Durch- völkerung in den EU-Staaten betreffen, werden setzung von Interessen, nicht nur um deren Ver- direkt oder indirekt in Brüssel getroffen. In mittlung in den politischen Prozess. Das Buch manchen Schätzungen sind es bis zu 80 Prozent widmet sich einem komplexen und wichtigen der nationalstaatlichen Entscheidungen, die in Thema. Schon gleich zu Beginn wird deutlich, Brüssel vorbereitet, strukturiert oder angeregt dass für das Lobbying auf der EU-Ebene gän- werden. Auch wenn diese Schätzung durch die gige Muster der Interessengruppenforschung, Forschungsergebnisse des amerikanischen Po- die anhand nationaler Strukturen entwickelt litikwissenschaftler und EU-Experten Andrew wurden, nur bedingt tauglich sind. Dies zeigt Moravscik inzwischen arg in Zweifel gezogen sich beispielsweise im Kapitel über die Theori- wurde – er nennt 30 Prozent als realistische en der europäischen Interessenvermittlung. Auf Größe – so ist doch die Tendenz klar: Die poli- der einen Seite bleiben die Theorien – Neofunk- tischen Strukturen der Europäischen Union sind tionalismus, Governance-Forschung und Insti- zu einem wichtigen Adressaten von Interessen- tutionalismus – zu abstrakt, und auf der ande- gruppen geworden. ren Seite sind die Theorien mittlerer Reichweite In Deutschland hatte sich in den vergange- (Neopluralismus, Neokorporatismus, Politik- nen Jahrzehnten, besonders in den 1970er und netzwerkanalyse und Rational Choice) eher für 1980er Jahren eine breite Forschung zu Ver- nationale Politikarenen entwickelt worden. Das bänden und Interessengruppen entwickelt. größte Problem der Theoriebildung aber scheint Allerdings war diese Forschung im Kern auf zu sein, dass es immer noch zu wenig empiri- die nationale Politikarena ausgerichtet. Erst in sches Material gibt, das die Grundlage für eine den vergangenen Jahren beschäftigt sich die EU- Theorie des europäischen Lobbyings sein Forschung zunehmend mit der Interessenver- könnte. mittlung auf der EU-Ebene. Aber in der eng- lischsprachigen Literatur gibt es seit den 1990er Akteure und ihre Interessen Jahren eine breite Forschung zur Interessenver- Eine der wesentlichen Voraussetzungen für die tretung auf der EU-Ebene. Aus dieser Richtung Forschung zum europäischen Lobbying ist es kommt auch ein neuer Begriff, mit dem die Inte- nach Michalowitz, die Akteure und ihre Interes- ressenvermittelung zunehmend bezeichnet wird: sen zu kennen und ihr Verhalten politischen Pro- Lobbying. Während sich die deutsche Interes- zessen, Inhalten und Strukturen zuordnen zu sengruppenforschung vor allem den kollekti- können. Deshalb widmet sich Michalowitz in ven Akteuren (Verbänden) widmete, beschäf- den zentralen Kapiteln ihrer Arbeit den Akteu- tigte sich die englischsprachige Forschung mit ren, kollektiven wie individuellen, und der Ar- dem neuen Phänomen, dass in jüngerer Zeit vor beit der Lobbyisten. In der Akteursstruktur un- allem individuelle Akteure (Unternehmen, Pu- terscheidet sich die europäische Interessengrup- blic Affairs-Agenturen und Law Firms) den penlandschaft wesentlich von der nationalen. In kollektiven Akteuren Konkurrenz machen. Brüssel gibt es viel mehr Unternehmen, die jen- seits ihrer Verbände tätig sind und die europäi- Interessensvermittlung und Lobbying schen Verbände, Eurogruppen genannt, sind Irina Michalowitz hat nun ein Lehrbuch vorge- nicht mit nationalen Verbandsstrukturen zu ver- legt, das einen Überblick über die Interessen- gleichen. Hinzukommen international tätige Literatur 149

NGOs. Wesentlich für die europäische Ebene Michalowitz analysiert die Politikfelder For- sind Public Affairs-Agenturen und internatio- schungspolitik, Landwirtschaftspolitik, Han- nal tätige Anwaltsfirmen, die Michalowitz delspolitik und Umweltpolitik und fragt danach, allerdings nicht erwähnt. Wenn von den Akteu- wie sich die spezifischen Strukturen des jewei- ren die Rede ist, dann müssen auch die Kom- ligen Politikfeldes auf die Art und Weise des missionsbeamten, die Parlamentarier, die Ver- Lobbying auswirken. Wenn aber die Rolle des treter von Regierungen und Regionen sowie die Lobbying von der jeweiligen Struktur des Poli- amerikanische Handelskammer und andere In- tikfeldes abhängt, dann gerät die Forschung in teressenorganisationen ähnlicher Herkunft ge- eine unkomfortable Lage und Lobbying wird nannt werden. für die Interessengruppen noch stärker von den Für Wissenschaftler wie für Lobbyisten ist zur Verfügung stehenden Ressourcen abhän- die Kenntnis der institutionellen Strukturen und gig. Es gibt aber auch politikfelderübergreifen- der Eigenheiten der Akteure in diesen Struktu- de Gemeinsamkeiten: in allen Politikfeldern wer- ren von entscheidender Bedeutung. So zeigt den Interessenvermittler einbezogen und die sich, dass die europäische Kommission ein gro- Kommission verfolgt eine aktive Rolle in der ßes Interesse hat, sich Interessengruppen zu Einbeziehung der Interessengruppen. Letztlich, öffnen, die repräsentativ sind und die eher so Michalowitz, komme es immer noch auf die schwache Interessen vertreten. Die Kehrseite persönlichen Kontakte an. dieser Haltung ist, dass große nationalen Fir- men und mittelständische Unternehmen eher Auswirkungen des Lobbying auf Schwierigkeiten haben, Zugang zur Europäi- Europa schen Kommission zu bekommen. In den letzten Kapiteln diskutiert Michalowitz die Frage, inwieweit das Lobbying zur Europä- Kollektive Interessengruppen und isierung beiträgt und welche Auswirkungen es individuelles Lobbying auf die Entwicklung der europäischen Demo- Auf der europäischen Ebene ist eine Entwick- kratie hat. Bezogen auf Österreich und Deutsch- lung zu beobachten, die nach Michalowitz auch land kommt Michalowitz zur Diagnose, dass das nationale Lobbying prägen wird. Denn zu die politische Kommunikation in beiden Län- den kollektiven Interessenvertretungen kommt dern durch die Europäisierung eine strategischere das direkte Lobbying durch so genannte In- Ausrichtung bekommt. Dies führt zu einer Haus-Lobbyisten von Unternehmen und das grundlegenden Veränderung des politischen kommerzielle Lobbying von Public Affairs- und Systems, das in beiden Ländern über Jahrzehn- Politikberatungsagenturen hinzu. Michalowitz te durch korporatistische Strukturen geprägt war. macht darauf aufmerksam, dass in der For- In der Antwort auf die letzte Frage kommt schung das individuelle Lobbying bislang ver- Michalowitz zum Ergebnis, dass das Lobbying nachlässigt wurde. Interessengruppen haben in der Tat zu einem demokratischen Regieren durch eine kluge Kombination dieser drei Wege beitragen könne – aber es könne die formelle größere Möglichkeiten, ihre Ziele zu erreichen. Repräsentation nicht ersetzen. Die Lösung der Aber nicht nur dadurch wächst die Komple- europäischen Integration kann also nicht in ei- xität. Michalowitz diskutiert die These von The- ner weiteren Stärkung der Interessengruppen odor Lowi, der zufolge Politikprozesse in ers- bestehen. ter Linie von den zu erwartenden Wirkungen Die Hoffnung der Europäischen Kommis- abhängen, die politische Entscheidungen her- sion, durch verstärkte Partizipation der Interes- vorbringen können (‚Policy drives politics‘). sengruppen die europäische Zivilgesellschaft zu 150 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

stärken, erfüllte sich daher nur bedingt. Denn lern, Musikern, Designern und Ingenieuren ver- die Einbeziehung der Zivilgesellschaft bedeutet deckt für Wirtschaftsinteressen warb. auch, dass diese Organisationen Strukturen der Auch die Bertelsmann AG und die Bertels- inneren Demokratie ausbilden müssen. Bei vie- mann-Stiftung finden in der Broschüre Erwäh- len NGOs ist dies allerdings nicht der Fall. nung. Beide werden für ihre Politikbeeinflus- Zudem hat die Kommission in den vergange- sung kritisiert, vor allem darin, dass Elmar Brok, nen beiden Jahren unter der Regie von Siim Mitglied des Europäischen Parlaments und bis Kallas die europäische Transparenzinitiative ins 2007 Leiter des auswärtigen Ausschusses, als Leben gerufen, mit der dem europäischen Lob- Lobbyist für die Bertelsmann AG tätig sei. bying größere Akzeptanz verschafft werden soll. Lobbycontrol sieht Brüssel als neuen Brü- Allerdings diskutiert Michalowitz diese neue ckenkopf für amerikanische Think Tanks, die, Stufe der ‚Demokratisierung‘ des Lobbying unterstützt von großen amerikanischen Konzer- nicht. nen, in Europa dem schrankenlosen Kapitalis- mus ein neues Feld eröffnen wollen. Stadtführer durch die Lobby Control begrüßt daher die Initiative Brüssler Lobbyszene von Siim Kallas und kämpft für mehr Transpa- Dafür stellt Lobbycontrol mit seiner Broschüre renz und Demokratie. Als eindeutig politische ‚Brüssel – das EU-Viertel‘ in den Mittelpunkt. Organisation hat sie ihre Gegner im Blick und Dieses schmale Heftchen versteht sich als nicht das ganze Lobbyfeld. Denn auf diesem ‚Stadtführer‘ durch die Brüsseler Lobbyszene. gibt es auch viele NGOs, die Kirchen, die Ge- Lobbycontrol verfolgt mit dieser Schrift keinen werkschaften und andere Gruppen, die öffentli- wissenschaftlichen Anspruch, sondern versteht che Interessen vertreten – aber ebenso Lobbying sich eher als Watchdog-Gruppe. Das Ziel der betreiben wie die Interessengruppen aus der Organisation ist es, den ‚wuchernden Lobbyis- Wirtschaft. mus‘ einzudämmen und die einseitige und ‚ma- nipulative Einflussnahme‘ zu benennen. Ent- Rudolf Speth, Berlin sprechend ist die Broschüre auch aufgebaut. Der Stadtplan rund um das Gebäude der EU-Kom- Besprochene Literatur mission verzeichneten nur den Typus der Wirt- Michalowitz, Irina 2007: Lobbying in der schafts-Lobby: Unternehmensrepräsentanzen, EU. Wien: Facultas Verlag, UTB. Eurogruppen, große Public Affairs-Agenturen Lobby Control 2007: Brüssel – das EU-Vier- sowie Think Tanks, die den Wirtschaftsinteres- tel. Zu beziehen über www.lobbycontrol.de sen zuarbeiten. Gleichwohl bietet die Broschü- re dem politisch Interessierten nützliche Infor-  mationen, nicht nur zu den Adressen von Un- ternehmensrepräsentanzen, sondern auch kurze Erfolg von Bewegungen – Darstellungen zu einzelnen Unternehmen, Lob- ein unerforschbares Thema? bying-Fällen und zur Arbeitsweise der EU-In- stitutionen. Das Buch von Felix Kolb zu den Erfolgen von So informiert die Broschüre über die ‚Cam- sozialen Bewegungen ist ein unwahrscheinli- paign for Creativity‘, mit der Unternehmen wie ches Buch. Das bearbeitete Vorhaben trägt alle Microsoft, SAP und andere für Softwarepaten- Züge eines Projektes, das zum Scheitern verur- te warben. Allerdings war diese Kampagne eine teilt ist. Der Versuch, ein ausgesprochen kom- „Irreführung“, weil sie im Namen von Künst- plexes Thema mit einer Literaturübersicht, the- Literatur 151

oretischen Aufarbeitung und doppelten empiri- dann vielfach diskutierte Konzept von sozialen schen Anwendung als Fallstudie und internati- Mechanismen, die über statistische Zusammen- onal vergleichend aufzuarbeiten, ist eigentlich hänge hinaus eine Spezifikation der genauen schon in der Anlage aussichtslos. Es sind diese Abläufe und Kausalketten gefordert haben, um Promotionsprojekte, von denen Betreuer ihren zu einer echten Erklärung zu kommen (in der Kandidaten intensiv abraten. Wenn sie dann Bewegungsforschung haben dies in einer viel- dennoch nicht nur in Angriff genommen, son- diskutierten Version McAdam et al. 2001 getan). dern dazu auch abgeschlossen werden mit ei- Dies strebt Kolb mit den fünf von ihm entwi- nem lesbaren Produkt, so handelt es sich oftmals ckelten Mechanismen zum Bewegungserfolg an, um einen Glücksfall für die Wissenschaft. Mit für die er dann Bedingungen und zu erwartende einem solchen Glücksfall hat man es bei Kolbs Erfolgsarten skizziert: Beim ‚Disruption Mecha- Buch zu tun. nism‘ bekommen sonst machtlose Bewegungen durch die Störung der öffentlichen Ordnung be- Die Schwierigkeit einer ziehungsweise einer entsprechenden Drohung Erfolgsmessung eine Ressource in die Hand, die eine Berücksich- Die Erfolge von Bewegungen und in diesem tigung ihrer Anliegen durch die Politiker interes- Zusammenhang die Erfolgsbedingungen wis- sant machen könnte. Beim ‚Public Preference senschaftlich zu untersuchen, ist ausgesprochen Mechanism‘ werden durch die Beeinflussung schwierig. Das Buch beschränkt sich auf politi- einer wahlrelevanten öffentlichen Meinung die schen Erfolg in den westlich industrialisierten, Politiker zur Reaktion gezwungen. Der ‚Political demokratischen Ländern, was die Schwierig- Access Mechanism‘ verabschiedet sich von der keit des Projektes kaum entschärft. So wird Idee einer Bewegung als Außenseiter im politi- zunächst die Komplexität des Unterfangens aus- schen System und verweist auf die Möglichkeit, gebreitet. Kolb geht auf drei Komplexe ein: dass Bewegungsvertreter in den politischen In- erstens auf die Art der Effekte beziehungsweise stitutionen selbst aktiv sind. Der ‚Judicial Me- unterstellten Ziele der Bewegung, zweitens auf chanism‘ beruht auf dem Umweg über Gerichte die Art und Stärke der Bewegung beziehungs- und dem Einklagen von Bewegungszielen. Der weise Bewegungsaktivität und drittens auf die ‚International Politics Mechanism‘ schließlich Opportunitäten, die Bewegungserfolg leicht oder bezieht die internationalen und supranationalen schwer machen, zulassen oder verhindern. Zu politischen Konstellationen mit ein, die aus au- allen drei Komplexen werden Ergebnisse zu- ßenpolitischen Gründen eine innenpolitische sammengetragen, die sich allerdings keineswegs Rücksichtnahme auf Bewegungsziele notwen- zu einem einheitlichen Bild fügen. Der Schluss dig machen können. (Die Mechanismen hat Kolb liegt nahe, dass widersprüchliche Ergebnisse auf im Forschungsjournal-Heft zum Erfolg von Be- zusätzliche, in den referierten Studien jeweils nicht wegungen ebenfalls beschrieben, FJ NSB Heft berücksichtigte Einflüsse zurückgehen. 1/2006.) Ausgehend von diesen Mechanismen unter- Fünf Mechanismen sucht Kolb nun den Erfolg von zwei Bewegun- zum Bewegungserfolg gen: den der Bürgerrechtsbewegung in den USA Um die unübersichtliche Ergebnislage und die und den der Anti-Atomkraft-Bewegung im Län- vielfältigen theoretisch zu erwartenden Einflüsse dervergleich. Dies geschieht auf der Basis um- zu integrieren, greift Kolb auf die Idee von Me- fänglicher Literatur, die Kolb aber nicht nur re- chanismen zurück. Pate steht dabei das von He- feriert, sondern zu neuen, eigenständigen Daten dström und Svedberg (1998) eingebrachte und zusammenstellt und sekundär analysiert. 152 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

Erfolgsmechanismen der bezieht sich auf die Zeit bis 1986, dem Jahr des US-Bürgerrechtsbewegung Tschernobyl-Unfalls, die zweite Phase auf die Mit der Betrachtung der Bürgerrechtsbewegung unmittelbar folgenden Jahre. Als erklärende Va- werden die Mechanismen empirisch unterfüttert. riablen macht Kolb eine Abschätzung der Bewe- So zeigt sich für diesen Fall, wie eine Taktik gungsstärke, verschiedener Aspekte der politi- gewählt wurde und welche ermöglichenden oder schen Gelegenheitsstruktur in ihrer klassischen beschränkenden Bedingungen zu einem (partiel- Konzeption, die öffentliche Meinung, das Aus- len) Erfolg geführt oder diesen verhindert haben. maß politischer Krise als Hinweis auf ein Gele- Kolb geht hier noch einmal die fünf Mechanis- genheitsfenster sowie die sozio-ökonomische Si- men nacheinander durch. Die faktenreiche Be- tuation aus. Obwohl ein Vergleich mit 18 Län- schreibung, zum Teil ergänzt durch quantitative dern umfangreicher ist als alle bisherigen Analy- Verlaufsdaten, macht deutlich, wie die Mecha- sen, ist die Anwendung multivariater statistischer nismen ablaufen und zu Ergebnissen führen kön- Verfahren aufgrund der kleinen Fallzahl proble- nen, wo aber auch Grenzen liegen. Mit dieser matisch. Neben bivariaten Analysen nimmt Kolb Analyse werden die Mechanismen mit Leben daher eine qualitative komparative Analyse nach gefüllt. Die detailreiche Fallbeschreibung stellt Ragin vor. keine neue Analyse der Wirkungen dar, die von Die Stärke der Mobilisierung kann für sich der Bürgerrechtsbewegung erreicht wurden. Das genommen nicht den Erfolg erklären, sie ist aber Ziel der Darstellung geht genau in die entgegen- eine notwendige Bedingung für Erfolg. Der Ein- gesetzte Richtung. Hier soll deutlich werden, dass fluss der öffentlichen Meinung ist ausgespro- die beobachtbaren Zusammenhänge durch die chen stark. Dies ist ein entscheidender Faktor. fünf Mechanismen adäquat beschrieben werden Weder das Ausmaß von Wechselwählern, noch können. Das theoretische Instrumentarium muss die Energieabhängigkeit hatten einen Einfluss. sich hier an den bekannten Befunden bewähren. Auch der radioaktive fallout nach dem Tscher- Gleichzeitig wird der kausale Weg zu den er- nobyl-Unfall ist nicht erklärungsrelevant für die reichten Erfolgen mit Hilfe der Mechanismen Änderung des Atomprogramms nach 1986. Eine reorganisiert und verdeutlicht. moderierende Rolle hat die politische Gelegen- heitsstruktur, die in unterschiedlichem Maße den Strategien und Gelegenheiten der Einfluss von Bewegungsstärke oder öffentli- Anti-Atomkraft-Bewegung cher Meinung auf den Bewegungserfolg ver- Die Analyse der Anti-Atomkraft-Bewegung folgt hindert oder ermöglicht. Abschließend werden nun einer anderen Analyseperspektive. Hier ste- drei der Mechanismen, der judicial, disruption hen nicht die Mechanismen im Vordergrund, son- und public preference mechanism, für einzelne dern die Stärke der Bewegung und die politi- Länder betrachtet. schen Gelegenheiten. Während beim Blick auf die Bürgerrechtsbewegung diese Aspekte bei der Ein großer Wurf Betrachtung eines Mechanismus mit einflossen, Kolb legt einen großen Wurf zum Thema Erfolg ist es nun umgekehrt. Die politischen Gelegen- von Bewegungen vor. Die theoretischen, vor allem heiten und die Bewegungsstärken in 18 Ländern die empirischen Bemühungen zu diesem Thema sollen Bewegungserfolge erklären. Unter Bewe- waren bislang eher verhalten. Kolbs Buch macht gungserfolg versteht Kolb hier das Ausmaß der mehr als deutlich, was die Schwierigkeit einer sol- Abweichung von anfänglichen Plänen zum Auf- chen Analyse ist. Dennoch hat er sich nicht ab- und Ausbau der Atomenergie. Dies muss diffe- schrecken lassen und einen praktikablen Weg durch renziert werden in zwei Phasen. Die erste Phase den Dschungel der Einflüsse gewiesen. Literatur 153

Freilich bleiben einige Fragen offen, wie es organisierte Politik ist, lenkt den Blick auf an- bei einem solchen Projekt kaum anders sein dere Akteure, insbesondere Wirtschaftsunter- kann. So sind die Mechanismen induktiv ge- nehmen. Damit könnte als strategische Option wonnen aus vorliegenden Beschreibungen von für Bewegungen und für deren Erfolgsaussich- Bewegungsverläufen und -erfolgen, mit beein- ten die Beeinflussung von Unternehmen durch flusst insbesondere durch den Political Oppor- Konsumentenboykott und ähnliches wichtiger tunity Structure-Ansatz. Die induktive Vorge- werden. Dies betrachtet Kolb nun gerade nicht. hensweise lässt aber vermuten, dass auch ande- Die genannten Schwierigkeiten oder Lücken re Mechanismen denkbar wären, vielleicht sogar in der Analyse muss man aber vor der Komple- gewirkt haben, ohne dass ihnen in den Studien- xität der Materie beurteilen. Es hat schon seinen beschreibungen besondere Aufmerksamkeit Grund, dass in der Bewegungsforschung die geschenkt wurde. Mit einem Blick in die Theo- Untersuchungen zu den Effekten von Bewe- rie der funktionalen Differenzierung könnte man gungen recht verhalten geblieben sind. Prozes- noch Einflussmechanismen über andere Funk- se von gesellschaftlicher Veränderung sind so tionssysteme jenseits von Politik und Recht ver- komplex und langwierig, dass sie schwer ein- muten, beispielsweise eine Verbrauchermacht zelnen Ursachen zugeordnet werden können und (vgl. dazu z.B. FJ NSB-Heft 4/2005) oder ein gleichzeitig haben wir mit Bewegungen einen Einfluss der Bildung und der Sensibilisierung amorphen Akteur mit einer Vielzahl ganz unter- für ein Bewegungsthema im Laufe des Bil- schiedlicher Aktivitäten. Kolb ist es gelungen, dungsweges. Für den Atomkonflikt wäre dies durch diese verschlungenen Kausalitätspfade und denkbar, für die Mobilisierung gegen den Kli- Scheinwirkungen eine verständliche Schneise zu mawandel ausgesprochen plausibel. Bewegun- schlagen, die Forschung und Diskussion ermög- gen sind erfindungsreich, und es dürfte schwie- licht. Natürlich wird dieses Buch nicht das letzte rig sein, diesen Erfindungsreichtum im Vorhin- Wort zum Thema Erfolg von Bewegungen blei- ein in Mechanismen zu bändigen. Andererseits ben – aber es sollte ein zentraler Referenzpunkt würde eine Erweiterung der Mechanismen die der Diskussion werden. Leistung von Kolbs Analyse nicht schmälern, nur ergänzen. Genauso schwierig bleibt die Jochen Roose, Berlin Kombination der Mechanismen und Einfluss- faktoren, denn alles – so scheint es – bedingt Besprochene Literatur sich gegenseitig. Im Teil über den Einfluss von Kolb, Felix 2007: Protest and Opportunities. politischen Gelegenheiten und Bewegungsstär- The Political Outcomes of Social Movements. ke wird dieses Problem deutlich. Es zeichnet Frankfurt/M., New York: Campus. sich aber auch bei der Betrachtung der Mecha- nismen ab. Hier kann ein Mechanismus mög- Zitierte Literatur licherweise ohne die Flankierung des anderen Hedström, Peter/Swedberg, Richard 1998: nicht zum Zuge kommen. Schließlich erscheint Social Mechanisms. An Analytical Approach to es fast ironisch, dass Kolb, der selbst Attac Social Theory. Cambridge: Cambridge Univer- Deutschland mit begründet hat, sich auf Effekte sity Press. im politischen System beschränkt, wo doch in McAdam, Doug et al. 2001: Dynamics of der Globalisierungskritik das Verhalten der Wirt- Contention. Cambridge: Cambridge University schaft eine große Rolle spielt. Die Diskussion Press. um die beschränkte Handlungsmacht von Poli-  tik, die zurzeit eben doch vornehmlich national 154 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

Konsumenten und Unternehmen: des ‚Consumer Citizen‘ und handlungsprakti- ‚Gute Bürger‘ im Zeitalter digitaler schen Methoden der Kampagnenpolitik. Der Medien? zweite Teil diskutiert die Rolle von Unterneh- men als (global handelnde) Kollektivbürger. Die Nach Aristoteles gilt es als edle Bürgertugend‚ Beiträge des dritten Teils vermitteln lebenswelt- sich ‚sowohl regieren zu lassen als auch regie- liche Erfahrungen mit der Anwendung beider ren zu können‘. Während der ‚gute Bürger‘ seit Bürgerdimensionen. Zu den Stärken des Ban- jeher eine knappe und fluktuierende Ressource des, dessen Herausgeberinnen in der Einleitung ist, erfuhr die Konstitution des Bürgerbegriffs die ‚gegenseitige Durchdringung von Zivilge- eine stetige Neubestimmung und Entgrenzung. sellschaft und Markt‘ zum Ausgangspunkt ih- Vor dem Hintergrund neoliberaler Wirtschafts- rer Überlegungen machen, zählt die Interdiszi- und Gesellschaftsreformen seit Mitte der plinarität der Autorenschaft. Zu Wort kommen 1980er-Jahre wird der Bürgerstatus nun auf neben Politik- und Medienwissenschaftler und Marktakteure übertragen. Hybride Figuren und Soziologen auch Praktiker. Etwas irreführend Gebilde, wie ‚Verbraucherbürger‘ (Consumer ist der Titel: Für Unternehmensbürger passt das Citizens) und Unternehmen als Corporate Citi- Bild der ‚Politik mit dem Einkaufswagen‘ nicht. zens sollen einerseits gesellschaftliche Verant- wortung übernehmen, andererseits Aufklärungs- Verbraucherbürger und veränderte und Politisierungsfunktionen ausüben und so- Kampagnenstrategien mit gesellschaftlichen Einfluss auf Marktpro- Theoretisch fundiert wird der erste Teil durch zesse nehmen. Politische Öffentlichkeit wird die Beiträge ‚Verbraucheröffentlichkeit und dabei insbesondere über digitale Medien erzeugt Bürgergesellschaft‘ von Michael Beetz und ‚Die – Internet, Webblogs und E-Mail-Kommunika- Autonomie des Verbrauchers und ihre politi- tion fungieren als moderne Hilfsmittel bürger- schen Formen. Bausteine einer Kulturtheorie schaftlichen Handelns. des Consumer Citizen‘ von Jörn Lamla. Beetz betont die dezidiert ‚sanfte‘ Steuerungsmacht Gegenseitige Durchdringung von politisch-bewusster und öffentlichwirksamer Zivilgesellschaft und Markt Konsumenten, deren Einfluss im Sinne einer Der von Sigrid Baringhorst, Professorin für demokratischen Zivilisierung der Wirtschaft Politikwissenschaft an der Universität Siegen, vornehmlich auf der Initiierung eines ‚reflexi- und ihren Mitarbeiterinnen Veronika Kneip, ven Prozesses‘ basiert. Von symbolischen Kauf- Annegret März und Johanna Niesyto herausge- entscheidungen der Verbraucheröffentlichkeit gebene Sammelband ‚Politik mit dem Einkaufs- gehen, ‚moralische Appelle‘ an die Wirtschaft wagen. Unternehmen und Konsumenten als aus, die ihre Warenproduktion entsprechend Bürger in der globalen Mediengesellschaft‘ un- anpasst. Der Giessener Soziologe Jörn Lamla tersucht beide Aspekte: die politische Aufladung stellt zunächst die Frage nach der Autonomiesi- des individuellen Alltagskonsums und unter- cherung von Verbraucherbürgern. Diese müsse nehmerisches Bürgerhandeln sowie die media- als Voraussetzung für bürgerschaftliches Han- len Inszenierungs- und Vermittlungsstrategien deln in der Sphäre der ‚alltäglichen Lebensfüh- der neuen Engagementformen. Der Band unter- rung‘ ansetzen. Anhand des Rekurses auf kul- teilt sich in drei thematische Blöcke. Die Beiträ- tursoziologische Theorien von Konsumprakti- ge des ersten Teils beschäftigen sich mit Fragen ken leitet Lamla Bedingungen der ‚Autonomie- des individuellen politischen Konsums, also gewinnung‘ von Verbrauchern her und bietet konkret mit den theoretischen Voraussetzungen Kriterien für eine Emanzipation gegenüber ei- Literatur 155

ner konsumistisch und ökonomistisch impräg- nehmung einflussreicher: Vergleichsweise mäch- nierten Umwelt. Es sind die theoretischen Bei- tigen Unternehmen werden eher steuerungspo- träge des Bandes, die die Verknüpfung der Po- litische Impulse zugetraut als der sperrigen Fi- litisierungschancen von spätmodernen ‚Ver- gur des Verbraucherbürgers. Hier leistet Janina braucherbürgern‘ mit veränderten Strategien der Curbach mit ihrem Aufsatz ‚Unternehmen als Kampagnenpolitik und Medieninszenierung Weltbürger‘ vorzügliche Arbeit, indem sie ter- nachvollziehbar machen. minologische Klarheit über die Bedeutungsin- Wie agieren nun bürgerschaftlich-bewegte halte der Begriffe ‚Corporate Citizenship‘ (CC) Konsumenten angesichts fragmentierter Medi- und ‚Corporate Social Responsibility‘ (CSR) enlandschaften und neuer Möglichkeiten des schafft. Während ersterer nach der gesellschaft- politischen Protests? Baringhorst zeichnet in lichen Rolle eines Unternehmens fragt, also den ihrem Beitrag ‚Konsumenten als Netizens (…)‘ ‚formalen Bürgerstatus‘ umfasst, definiert CSR ein ambivalentes Bild. Zwar böte das Internet die Verantwortungsdimensionen von Unterneh- neue Chancen von ‚Empowerment und Teilha- men. Deutlich wird insbesondere: Gemeinnüt- be‘ für eine weltanschaulich nicht festgelegte zige Unternehmensbürger (Citoyen) können ihre und nur schwach verbundene Konsumentenbe- Hauptrolle als Wirtschaftsbürger (Bourgeois) wegung, zum Beispiel durch Webblogs und in- nicht abstreifen. Der ‚unternehmerische Citoy- putorientierte Interaktionsformen. Auf der an- en‘ bleibt stets der Profitabilität seines Handelns deren Seite könne das Medium in der direkten verpflichtet. An diese grundsätzliche Auseinan- Auseinandersetzung mit Unternehmen nicht die dersetzung mit Unternehmensbürgerschaft Glaubwürdigkeit traditioneller face-to-face- knüpft Kneips Beitrag ‚Legitimationsfaktor Kommunikation ersetzten. Ob Protestnetzwer- Bürgerschaft. Die kommunikative Vermittlung ke im Internet überhaupt einen ‚kollektiven Sinn‘ von Corporate Citizenship‘ an. Unternehmen erzeugen können, erörtert der Beitrag von An- legitimierten Kneip zufolge mittels CC ihre ge- negret März. wachsene gesellschaftspolitische Stellung und Die Fokussierung des Bandes auf Markt- ihre Ansprüche. Dies fordere zivilgesellschaft- und Zivilgesellschaftsakteure durchbricht der liche Akteure zu einer stärkeren öffentlichen Beitrag von Kneip und Niesyto. Sie untersu- Kontrolle heraus. Für den Leser wäre es span- chen, inwieweit politischer Konsum und Kam- nend, wenn die Beiträge der Wirtschaftsvertre- pagnepolitik als nationalstaatliches Steuerungs- ter die konzeptionell-normativen Fragen von instrument geeignet sind. Kampagnen taugen Curbach und Kneip an Unternehmensbürger- demnach prinzipiell für eine ‚proaktive Verbrau- schaften kontrovers aufgreifen würden. cherpolitik‘. Der Beitrag verdeutlicht auch, wie stark nationale Verbraucherpolitik dem Schutz- Breites Spektrum an gedanken verhaftet ist und sich schwer tut, Kon- Erfahrungsberichten sumenten angemessen zu informieren bzw. ih- Interessant am dritten Teil ist die Spannbreite nen tatsächliche Gestaltungsoptionen zu offe- der zum Ausdruck kommenden Erfahrungen mit rieren. Verbrauchern und Unternehmen als Bürgern. Die Beiträge von Lars Rademacher (‚Bürger- Spannungsverhältnis zwischen Citoyen schaft und Unternehmensführung‘) und Tho- und Bourgeois mas Löding, Kay O. Schulze sowie Jutta Sund- Im zweiten Teil des Bandes rückt die Idee von ermann (‚Geheimwaffe CSR – wozu braucht’s Unternehmen als globale Kollektivbürger in den noch Kampagnen?‘) repräsentieren entgegen- Vordergrund. Diese ist in der öffentlichen Wahr- gesetzte Pole der Diskussion. Während Rade- 156 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

macher am Beispiel Bildung die ‚unabweisbare Theorie und Praxis des politischen Verantwortung‘ von Unternehmen hervorhebt Protests in Deutschland in ‚ordnungspolitisch frei werdenden Hand- lungsfeldern‘ bürgerschaftlich und gemeinwohl- Mit ‚Protest Politics in Germany‘ hat Roger orientiert zu intervenieren, fordern die Attac- Karapin ein Buch vorgelegt, das der Bewe- Mitglieder Löding, Schulze und Sundermann gungsforschung wichtige Impulse für die Wei- Verbindlichkeit, Kontrolle und Sanktionierungs- terentwicklung ihres theoretischen Unterbaus möglichkeiten von ‚philantrophischem Unter- gibt. Im Zentrum des Buches steht der weitge- nehmenshandeln‘ und plädieren für die Etablie- hend gelungene Versuch, eine präzisere Ant- rung einer ‚Corporate Accountability‘. wort auf die Fragen nach den Ursachen für die Die Herausgeberinnen leisten mit ihrem Größe sozialer Bewegungen und deren unter- Band einen wichtigen Beitrag zur Synthese schiedliche Wahl von Aktionsformen zu formu- zweier nur lose miteinander verbundener Dis- lieren. Ebenso überzeugt das Buch durch sein kurse: die Politisierung des Konsums sowie dem auf acht empirischen Fällen basierendes ver- Bürgerstatus von Unternehmen und politischen gleichendes Design, das die typischen Schwä- Vermittlungs- und Kampagnestrategien im Zeit- chen von Fallstudien vermeidet. Selbst das in alter digitaler Medien. Unwillkürlich etwas zu der Bewegungsforschung übliche Vorgehen, lin- kurz kommt die ‚innere Kohärenz‘ des Bandes; ke und rechte soziale Bewegungen getrennt zu eine stärke Bezugsnahme der Einzelbeiträge auf analysieren, wird überwunden. Darüber hinaus die überzeugenden theoretischen Beiträge wäre zeichnet sich ‚Protest Politics‘ dadurch aus, dass ebenso wünschenswert gewesen, wie eine stär- es klar strukturiert ist, stringent argumentiert kere Berücksichtung der Rolle des Staates. Sollte und den Leser nicht mit nebensächlichen De- dieser vom klassischen Konsumentenschutz tailinformationen erschlägt. Neben diesen her- abrücken und stattdessen mehr Beteiligungsan- ausragenden Qualitäten weist das Buch aber auch reize für Verbraucherbürger schaffen? In wel- einige theoretische Schwächen auf, deren Dar- chen Bereichen kann Corporate Citizenship (die stellung ebenso Aufmerksamkeit gewidmet wird vormals staatliche Aufgabe) der Durchsetzung wie den Stärken. sozialer Standards übernehmen und wo liegen die Grenzen der (Selbst-)Übertragung steue- Vier empirische Beispiele rungspolitischer Verantwortung? Ein Gewinn Nach einer kurzen Einleitung skizziert Karapin für den Leser wäre außerdem ein Resümee der im ersten Kapitel seinen interaktiven politischen Herausgeberinnen, das die Diskussionsstränge Prozess-Ansatz, den er in der Tradition der po- der drei Teile zusammenführt und einen Aus- litischen Prozesstheorie sozialer Bewegungen blick wagt. verortet und diesen von politisch-institutionel- len und sozio-strukturellen Theorien abgrenzt. Benjamin Ewert, Gießen In den folgenden vier empirischen Kapiteln kommt der modifizierte politische Prozess-An- Besprochene Literatur satz zum Einsatz, um Unterschiede in Stärke Baringhorst, Sigrid/Kneip, Veronika/März, und Form zwischen zwei beziehungsweise drei Annegret/Niesyto, Johanna (Hg.) 2007: Politik Fällen von Protestmobilisierung im gleichen mit dem Einkaufswagen. Unternehmen und Politikfeld zu erklären. Im zweiten Kapitel wer- Konsumenten als Bürger in der globalen Medi- den die Konflikte um geplante Stadterneue- engesellschaft, Bielefeld, transcript Verlag. rungsvorhaben während der 1970er und 1980er  Jahren in Hannover und West-Berlin behandelt. Literatur 157

Im dritten Kapitel werden die lokalen Ausein- Karapin zeichnet detailliert nach, wie das andersetzungen um den Bau von Atomkraft- zunächst auf konventionelle Strategien be- werken in Wyhl und Brokdorf verglichen. Im schränkte Vorgehen der badisch-elsässischen vierten Kapitel wird die ausländerfeindliche, sich Bürgerinitiativen gegen das geplante AKW Wyhl aber überwiegend konventionellen Protestfor- und die totale Ignoranz der Proteste durch die men bedienende Mobilisierung gegen den Bau CDU-Landesregierung ihr die Unterstützung von Asylbewerberheimen in München und dem der lokalen politischen Elite einbrachte. Diese Landkreis Rendsburg untersucht. Im fünften Allianz wiederum war zusammen mit den teils Kapitel analysiert Karapin die gegen Migranten überzogenen Polizeieinsätzen die Voraussetzung und Flüchtlinge gerichtete und in zwei der drei für die breite öffentliche Unterstützung der ge- Fälle extrem gewalttätige Mobilisierung in den waltfreien Besetzung des Bauplatzes im Febru- ostdeutschen Städten Hoyerswerda, Rostock ar 1975. Innerhalb weniger Tage entschied die und Riesa. Im sechsten Kapitel werden die neun Landesregierung, den Bau des Atomkraftwer- Fälle vergleichend zusammengefasst und Un- kes vorübergehend zu stoppen. terschiede zwischen der Protestmobilisierung von links und rechts behandelt. Theoretische Schwächen Obwohl ich Karapins interaktiven Ansatz als Der interaktive politische einen großen Schritt vorwärts betrachte, möch- Prozess-Ansatz te ich auf einige kritische Punkte hinweisen. ‚Protest Politics‘ entwickelt den politischen Pro- Zunächst einmal scheint es zumindest einer Be- zess-Ansatz in einer Weise weiter, die den dy- gründung würdig, warum er seinen Ansatz mit namischen Charakter politischer Konflikte ernst dem politisch-institutionellen und dem sozio- nimmt und theoretisch erfasst. Soziale Bewe- ökonomischen Ansatz vergleicht, obwohl selbst gungen werden einerseits vom politischen Kon- die Protagonisten dieser Ansätze zugeben wür- text beeinflusst, können aber andererseits die- den, dass diese beim vorliegenden Forschungs- sen verändern und sogar neue politische Mög- design notwendigerweise wenig überzeugen lichkeiten schaffen. In den meisten Veröffentli- können. Theoretisch ergiebiger wäre es deswe- chungen wird der politische Prozess-Ansatz gen gewesen, zum Vergleich der Erklärungs- aber auf den ersten Aspekt verkürzt. Deshalb kraft den Framing- und den Ressourcenmobili- ist es in meinen Augen der größte Verdienst von sierungsansatz heranzuziehen (vgl. McAdam et Karapin, theoretisch zu postulieren und empi- al. 1996). risch eindrucksvoll darzulegen, dass sich Be- Schwerer wiegt allerdings ein anderer Punkt. wegungen politische Möglichkeiten durch ihr Ohne es zu thematisieren, reduziert Karapin die eigenes Handeln schaffen können. Die Intensi- Palette politischer Möglichkeiten auf institutio- tät und Form von Protesten werden demnach nelle Faktoren und das Verhalten politischer Eli- von drei miteinander verbundenen Prozessen ten. Zwar spricht vieles dafür, die Unterstüt- beeinflusst, die wiederum auch durch das Han- zung durch Teile der politischen Elite als eine deln der Protestierenden mitbestimmt werden. herausragende politische Möglichkeit zu be- Dabei handelt es sich um die Bildung von Alli- trachten, aber auch öffentliche Meinung und anzen zwischen Protestgruppen und Teilen der Massenmedien sind Faktoren, deren möglicher politischen Eliten, durch Regierungen eingelei- Einfluss nicht einfach ausgeblendet werden soll- tete politische Reformen und das Agieren von te (vgl. Kolb 2005). Selbst wenn wir anneh- Polizei und Sicherheitsbehörden gegenüber den men, dass weder öffentliche Meinung noch die Demonstranten. Berichterstattung in den Massenmedien einen 158 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

Einfluss auf die Stärke und Form der Mobili- Since the 1960s. University Park, PA: The Penn- sierung in den untersuchen Fällen hatte – was sylvania State University Press schwer vorstellbar ist –, sollten beide Faktoren nicht einfach ausgeblendet werden. Zitierte Literatur In den empirischen Kapiteln tauchen zwar Kolb, Felix 2005: The Impact of Transnatio- hin und wieder Verweise auf öffentliche Mei- nal Protest on Social Movement Organizations: nung und die Rolle von Massenmedien auf, aber Mass Media and the Making of ATTAC Ger- da sie in Karapins interaktiver politisch-institu- many. in: Porta, D. Della/ Tarrow, S.: Transna- tioneller Theorie keinen Platz gefunden haben, tional Protest & Global Activism. Lanham, MD: wird ihre mögliche Erklärungskraft in den Zu- Rowman & Littlefield. 95-120. sammenfassungen und theoretischen Schluss- McAdam, D. et al. (Hg.) 1996: Comparative folgerungen ignoriert. Beispielsweise berichtet Perspectives on Social Movements: Political Karapin, dass in Hannover Linden 95 Prozent Opportunities, Mobilizing Structures, and Cul- der Bevölkerung die geplanten Stadterneue- tural Framings. Cambridge England, New York: rungsmaßnahmen ablehnten. Und ungefähr 75 Cambridge University Press. Prozent der Bevölkerung der umliegenden Ge- meinden in Wyhl und Brokdorf lehnten den Bau  der Atomkraftwerke ab. Analog zu Karapins Argumentation hinsichtlich anderer Faktoren Datenbank Bewegungsforschung läge es nahe zu postulieren, dass breite öffentli- che Unterstützung eine zentrale Voraussetzung Das Forschungsjournal Neue Soziale Bewegun- für starke Mobilisierung ist. gen informiert in einer Datenbank einen Über- Abschließend möchte ich darauf hinweisen, blick über laufende Forschungsvorhaben zum dass das Buch nicht nur für Akademiker eine Bereich Neue Soziale Bewegungen. Deshalb lohnende Lektüre darstellt, sondern ebenso für sind alle Forscherinnen und Forscher, Studen- Aktivisten. Beispielsweise belegt Karapin auf tinnen und Studenten sowie Forschungseinrich- breiter empirischer Basis, dass legale Formen tungen aufgerufen, entsprechende Projekte an der Partizipation wie die Teilnahme an Hearings das Forschungsjournal zu melden. Sie werden oder das Sammeln von Unterschriften zwar eine dann auf der Internet-Seite des Forschungsjour- wichtige Funktion für die Legitimation und den nals (www.fjnsb.de) veröffentlicht. Aufbau der Bewegungen hatten, aber erst dis- Benötigt werden folgende Angaben: 1. Titel ruptive Aktionsformen wie Demonstrationen des Vorhabens, 2. Zeitraum, auf den sich das oder Haus- beziehungsweise Platzbesetzungen Projekt bezieht, 3. Name und Anschrift des Be- auch politische Veränderung bewirken konn- arbeiters/der Bearbeiterin, 4. Name und An- ten. Insbesondere der inzwischen weitgehend schrift der Institution, an der die Arbeit entsteht, gezähmten und damit zahnlosen Umweltbewe- 5. Name und Anschrift des Betreuers/der Be- gung sollte dies eine Lehre für ihre zukünftige treuerin, 6. Art und Stand der Arbeit (Abschluss- strategische Ausrichtung sein. arbeit, Projekt, Dissertation etc), 7. Laufzeit des Forschungsvorhabens, 8. Art der Finanzierung. Felix Kolb, Bremen Diese können per Post (Karin Urich, Hoher Weg 15, 68307 Mannheim oder per E-Mail Besprochene Literatur ([email protected]) an die Rubrikverant- Karapin, Roger 2007: Protest Politics in wortliche übermittelt werden. Germany. Movements on the Left and Right Literatur 159

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Ludger Volmer: Der grüne Super-Gau – die Landtagswahlen von Hessen und Niedersachsen. FJ NSB 2/2008, S. 9-15 Ludger Volmer, ehemaliger Parteivorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, analysiert die strategi- sche Positionierung der Partei in der deutschen Parteienlandschaft. Die Grünen haben sich in eine ausweglose Situation manövriert. Die grünen Grundwerte, die zum Gründungsfundament der Partei gehörten, lauteten „ökologische, sozial, basisdemokratisch und gewaltfrei“. Im Laufe der Zeit waren Veränderungen nötig bzw. wurden vorgenommen. Dabei wurden zwei fundamentale strategische Fehler gemacht. Die Westausdehnung der SED/PDS als Konkurrenz für die Grünen wurde nicht verhindert, weil bei der Vereinigung mit dem Bündnis 90 nur die Oppositionellen der DDR aufgenommen wurden, aber nicht die systemnah Kritischen. Damit gab es im Osten kaum eine Basis für die Grünen, während große Teile der systemkritischen DDR-Bevölkerung wieder bei der PDS ihre politische Heimat fand. Zudem hat die Partei das soziale Profil geopfert. Damit verlor sie das Wählerpotenzial der frustrierten SPD-Anhänger, das nun ebenfalls von der Links- partei absorbiert wird. Im Ergebnis haben sich die Grünen selbst ins Abseits manövriert, was bei den Wahlergebnissen in Hessen, Niedersachsen und Hamburg deutlich wurde.

Ludger Volmer: A fatal accident – the electoral turn outs for the Greens in Hesse and Lower Saxony. FJ NSB 2/2008, pp. 9-15 Ludger Volmer, former party leader of Bündnis 90/Die Grünen, analyzes the strategic position of the Green Party. The Greens are in a hopeless situation. The party declared to be „ecologic, social, basic democratic and violence free“. Over the years some adjustments on these basic values were necessary. In the process two fundamental mistakes were made. In the unification process only those in fundamental opposition to the political system of the GDR were accepted to join, while the critical but conform people were rejected. As a result the party has only a very slim basis in the east while many people were forced to join the PDS, the former comunist party. Additionally the party lost ist social profile. Voters of the Social Democrats, who are frustrated by their party, used to be an electoral potential for the Greens but now these people turn to the Links-Party (a merger of the eastern PDS and a new West-German party). Overall the Green party is in a fatal stategic situation, which became obvious in the poor turnout for the party in the last three Länder elections.

Matthias Freise: Was meint Brüssel eigentlich, wenn von Zivilgesellschaft die Rede ist? FJ NSB 2/2008, S. 16-28 Der Beitrag thematisiert die verschiedenen Stränge des Zivilgesellschaftsdiskurses in Brüssel Er verdeutlicht, dass die Institutionen der EU Zivilgesellschaft sowohl im Kontext der Input-Legiti- mierung europäischer Governance durch die Einführung partizipativer und deliberativer Instru- mente diskutieren, als auch nach den Möglichkeiten einer Outputsteigerung europäischer Policies fragen, die durch die Einbeziehung von Akteuren der „organisierten Zivilgesellschaft“ in die Poli- tikimplementation erreicht werden soll. Freise argumentiert, dass angesichts der mangelhaft ausge- prägten europäischen Öffentlichkeit und den in Mehrebenensystemen entstehenden Kontroll- und Verantwortlichkeitsproblemen deliberative Verfahren Gefahr laufen, der Elitenveranstaltung Euro- pa lediglich ein demokratisches Feigenblatt vorzuhängen. Gleichzeitig sieht der Autor aber auch Chancen, verschiedene Forschungsfelder der Europawissenschaften unter dem Sammelbegriff 164 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

Zivilgesellschaft zu verbinden und unter gemeinsamen empirischen wie normativen Fragestellun- gen zu betrachten.

Matthias Freise: What does Brussels mean when talking about civil society? FJ NSB 2/2008, pp. 16-28 The contribution analyses the various strands of the civil society discourse in Brussels. It points out that the EU institutions discuss civil society in the context of input legitimation by introducing deliberative and participative elements in the process of decision making as well as in the context of a possible enhancement of output legitimacy by involving „organized civil society“ in the process of policy implementation. Freise argues that in regard of the lack of a European public sphere and other typical problems of control and accountability in multi level systems, deliberative procedures run the risk of merely hiding an elitist system of European governance behind a democratic fig leaf. At the same time the author is in favour of unifying several empirical and normative strands of EU research under the umbrella of civil society.

Gudrun Eisele: Worte und Taten: Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss als Forum der organisierten Zivilgesellschaft, FJ NSB 2/2008, S. 29-41 Als Brücke zwischen den europäischen Institutionen und der Zivilgesellschaft zu vermitteln – das ist der Anspruch des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses. Vor diesem Hintergrund eröffnet das gestiegene Interesse an Zivilgesellschaft und partizipativer Demokratie dem Aus- schuss die Chancen, sein Profil zu stärken und seine Legitimationsgrundlage zu stützen. Um diese zu ergreifen, muss der Ausschuss Zivilgesellschaft glaubwürdig vertreten und seine Sichtbarkeit erhöhen. Gudrun Eisele filtert drei verschiedene Reaktionen auf diese beiden grundlegenden Her- ausforderungen heraus und bewertet diese kritisch: den Formalisierungsansatz, den Vernetzungs- ansatz sowie den Forumsansatz.

Gudrun Eisele: Walk and Talk: Perspectives of the European Economic and Social Committee. FJ NSB 2/2008, pp. 29-41 To act as a bridge between the European institutions and civil society – that is the claim of the European Economic and Social Committee. Against this backdrop, the increased interest in civil society and participatory democracy provides the Committee on the one hand with the opportunity to strengthen its profile and back its legitimacy, but this inflicts on it on the other hand the essential challenges of representativeness and visibility. Three different reactions to these challenges are analytically distinguished and critically evaluated: the formalizing approach, the liaising approach and the forum approach.

Matthias Dembinski/Jutta Joachim: Von der Zusammenarbeit europäischer Regierungen zum Europäischen Regieren? Nichtregierungsorganisationen in der EU-Außenpolitik, FJ NSB 2/2008, S. 42-51 Der Beitrag thematisiert die Rolle von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) im Allgemeinen und am Beispiel des 1998 verabschiedeten EU-Kodexes zum Export konventioneller Rüstungen im Besonderen. In Abgren- Abstracts 165

zung zu der von staatszentrierten Ansätzen geprägten Forschung zur GASP zeigt der Aufsatz, dass die zweite Säule der EU längst nicht mehr die verbands- und öffentlichkeitsfreie Zone der Diploma- tie ist, sondern NGOs auch in diesem Bereich sowohl Entscheidungsträger beraten als auch Ent- scheidungsprozesse genau beobachten und kommentieren. Im Fall des Kodexes konnten NGOs eine Erweiterung und Präzisierung des Regelwerkes erreichen, indem sie Bündnisse mit suprana- tionalen Akteuren und kleineren Staaten eingingen und die Möglichkeiten nutzen, die sich ihnen sowohl im Zuge einer zunehmenden Institutionalisierung der GASP als auch wachsenden Interde- pendenzen zwischen der europäischen und nationalen Ebene boten.

Matthias Dembinski/Jutta Joachim: From Cooperation between EU Member States to EU Governance? Non-Governmental Organizations and European Foreign Policy. FJ NSB 2/2008, pp. 42-51 This article discusses the role of non-governmental organizations (NGOs) in the EU’s Common Foreign and Security Policy (CFSP), in general, and the adoption of the European Code of Conduct on Arms Exports in 1998, in particular. Contrary to state-centric approaches which dominated CFSP-related research until recently, we show that the second pillar is no longer an interest and civil society group free zone. Instead, NGOs provide information and expertise to decision-makers and monitor decision-making processes. In the case of the European Code of Conduct on Arms Exports, they exerted influence following its establishment. They contributed to the tightening and specification of the Code’s rules by taking advantage of the ongoing institutionalization in the CFSP, entering into alliances with both supranational actors as well as smaller states, and by making use of growing interdependencies between the European and the national level.

Kristina Charrad: Teilhaber oder Beobachter? Interessengruppen aus Mittel- und Osteuropa auf Brüsseler Parkett, FJ NSB 2/2008, S. 52-63 Kristina Charrad untersucht die Rahmenbedingungen, unter denen Interessengruppen aus den neuen mittel- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten der EU in Brüssel agieren. Deutlich wird dabei: Der erwartete große Strom von Lobbyisten aus diesen Ländern ist bislang ausgeblieben. Im Vergleich zu ihren westeuropäischen Pendants haben nur sehr wenige Interessengruppen aus Europas Osten ein eigenes Büro in der EU-Kapitale eröffnet. Die Autorin illustriert verschiedenen Zugangshürden, die den Neulingen auf Brüssler Parket die Arbeit erschweren und zeigt auf, dass mittel- und osteuropäische Interessengruppen bislang nicht über den Status von Beobachtern europäischer Regelsetzung hinausgekommen sind. Es ist noch ein weiter Weg hin zu professionel- len Teilnehmern am europäischen Entscheidungsfindungsprozess mit weitreichenden Netzwerken und Zugang zu den verschiedenen Policy Arenen. Dies verstärkt das Demokratiedefizit der EU zusätzlich

Kristina Charrad: Participants or Observers? Lobbyists from East Central Europe in Brussels, FJ NSB 2/2008, pp. 52-63 The chapter focuses on the framework conditions under which advocacy organizations from the new Central and East European member countries of the European Union are operating in Brussels. It points out that the expected run of lobbyists from these countries did not take place as yet. In contrast to their West European pendants only very few interest groups from Europe’s East have 166 Forschungsjournal NSB, Jg. 21, 2/2008

opened an own office in the EU capital. They are facing several challenges which complicate their access to the formal and informal networks of European policy making. Currently they are no more than observers of European politics. Equally professional participants with similar access to the various policy fields and networks of European governance are a long way down the road. This worsens the democratic deficit of the European Union.

Christine Quittkat: Wirklich näher am Bürger? Konsultationsinstrumente der EU-Kommission auf dem Prüfstand. FJ NSB 2/2008, S. 64-72 Die Europäische Kommission will mit einer veränderten Konsultationspolitik einen Beitrag zur Verbesserung der demokratischen Qualität europäischer Politik leisten. Die hochgesteckten Erwar- tungen in die Konsultationspolitik werden bisher allerdings nur bedingt erfüllt, wie die empirische Analyse am Beispiel der Generaldirektion Soziales verdeutlicht. Der Fokus liegt auf den eingesetz- ten Konsultationsinstrumenten (u.a. Online Konsultationen, Konferenzen und Expertengruppen), deren unterschiedliche Akzeptanz durch zivilgesellschaftliche Organisationen und deren Auswir- kungen auf die europäische zivilgesellschaftliche Infrastruktur. Während Partizipation und Öffent- lichkeit deutlich zugenommen haben, besteht weiterhin erheblicher Handlungsbedarf bezüglich der Transparenz europäischer Konsultationspolitik, so die gemischte Bilanz der Untersuchung.

Christine Quittkat: The European Commission’s consultation instruments: Closer to the citizen? FJ NSB 2/2008, pp. 64-72 The European Commission wants to improve the democratic quality of European governance by changing its consultation regime. An analysis of the General Directorate of Economic and Social Affairs proves, however, that the high expectations are only partly fulfilled. The focus of the paper is on the consultation instruments applied (i.e. online consultations, conferences and expert groups), their varying acceptance by civil society organisations, and their impact on the infrastructure of European civil society. The results attest the Commission considerable improvements concerning openness and participation; but there still remains a need for action with regard to the transparency of the European consultation regime.

Thorsten Hüller: Demokratisierung der EU durch Online-Konsultationen? FJ NSB 2/2008, S. 73-82 Online-Konsultationen sind eines der wichtigsten Instrumente der Kommission, um ihre politi- schen Entscheidungsverfahren zu demokratisieren. Aber führt ihr Einsatz auch zu mehr Demokra- tie in der EU? Mit politischer Gleichheit/Reziprozität, Publizität und Rechenschaftspflicht werden drei normative Prinzipien eingeführt, an deren Verwirklichung sich die demokratische Qualität der EU ablesen lässt. Eine Demokratisierung kann sich nun durch die Beteiligung ‚einfacher’ Bürger oder zivilgesellschaftlicher Organisationen ergeben. Thorsten Hüller zeigt, dass in beiden Lesarten wenig Demokratisierung zu erwarten ist. Eine partizipative Demokratisierung wird schon daran scheitern, dass entgegenkommende bürgerschaftliche Dispositionen und Kompetenzen, nicht durch Online-Konsultationen gefördert werden. Eine assoziative Demokratisierung wird vor allem durch mangelnden Einfluss auf die Besetzung der Beratungsagenda und durch mangelnde Rechenschafts- Abstracts 167

pflicht beeinträchtigt, aber möglicherweise auch durch mangelnde inner-assoziative Meinungs- und Willensbildungsprozesse.

Thorsten Hüller: Democratizing the EU via Online-Consultations? FJ NSB 2/2008, pp. 73-82 Online-consultations are one of the most important Commission’s instruments to democratize EU decision-making. But are they really fostering EU democracy? Political equality/reciprocity, publi- city and accountability are introduced as three normative principles. Their realization is indicative for the democratic quality of the EU. Online-consultations might democratize the EU via involving ,ordinary‘ citizens or civil society organizations. But neither of the mechanisms works effectively. A participatory strategy fails due to convenient habitual dispositions and competences of EU citizens, which are not fostered by the online-consultations. An associative democratization is hampered by the missing of any agenda setting options, the lack of working accountability structu- res, and possibly ineffective processes of opinion and will-formation within associations.

Kathrin Glastra: Public Affairs Management in Brüssel. Ein Praxisbericht am Beispiel des Anti- Dumping Verfahrens für Energiesparlampen. FJ NSB 2/2008, S. 83-90 Dem schlechten Image von Lobbying in Brüssel wird in diesem Beitrag ein korrigierendes Beispiel entgegengesetzt, das den Brüsseler Alltag aus Sicht einer Praktikerin illustriert. Dabei werden die Werkzeuge und die informellen Regeln für Erfolg genauso beleuchtet wie die Perzeption der europäischen Entscheidungsträger. Zur Veranschaulichung wird die praktische Arbeit europäischer Lobbyisten am Beispiel eines hochpolitischen Anti-Dumping-Verfahrens aus dem Jahr 2007 erläu- tert, bei dem erfolgreiches PAM einen entscheidenden Beitrag zum Ausgang leisten konnte. Eine anschließende Stärken-Schwächen-Analyse kommt zu dem Schluss, dass Public Affairs Agentu- ren zwar „Augen, Ohren und Stimme“ für ihre Mandanten in Brüssel sein können, aber in ihrer Rolle auch beschränkt sind und eher als gut informierte und vernetzte Vermittler nach beiden Seiten hin agieren.

Kathrin Glastra: Public Affairs Management in Brüssel. A practitioner’s view. FJ NSB 2/2008, pp. 83-90 The bad image of lobbying in Brussels is contrasted in this article with a correcting example of the Brussels day-to-day seen from a practitioner’s view. Public Affairs Management (PAM) is still a quite unusual phenomenon in Europe which has however more and more become an inherent, democratically legitimate and – against the background of growing competences and members of the EU – also necessary part of the European decision-making process. The practical work of European lobbyists is illustrated by the example of a politically sensitive Anti-Dumping-Procee- ding of 2007 in which successful PAM has made a significant contribution to the decision. The following analysis of strengths and weaknesses concludes that public affairs agencies can well be „eyes, ears and voice“ of a client in Brussels, but are limited in their role and act rather as well informed „networkers“ and mediators to both sides. 168 Impressum

Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen Gegründet 1988, Jg. 21, Heft 2, Juni 2008 Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft m.b.H. • Gerokstraße 51 • 70184 Stuttgart Fax 0711/242088 • e-mail: [email protected] • www.luciusverlag.com Für die Forschungsgruppe NSB herausgegeben von PD Dr. Ansgar Klein; Jupp Legrand; Dr. Thomas Leif Gastherausgeber für diesen Themenschwerpunkt: Dr. Matthias Freise, Münster Redaktion: Alexander Flohé, Kiel; PD Dr. Ansgar Klein, Berlin; Dr. Ludger Klein, St. Augustin/Frankfurt M.; Peter Kuleßa, Berlin; Jupp Legrand, Wiesbaden; Dr. Thomas Leif, Wiesbaden; Dr. Markus Rohde, Bonn; Jan Rohwerder, Aachen; Dr. Jochen Roose, Berlin; Gabi Schmidt, Berlin; Lars Schmitt, Marburg; Stephanie Schmoliner, Hamburg; PD Dr. Rudolf Speth, Berlin; Dr. Karin Urich, Mannheim Redaktionelle Mitarbeiter: Vera Faust, Aachen; Anja Löwe, Berlin; Albrecht Lüter, Berlin; Stefan Niederhafner, Aalen; Tobias Quednau, Berlin; Elmar Schlüter, Marburg Verantwortlich für den Themenschwerpunkt dieser Ausgabe: Dr. Matthias Freise (v.i.S.d.P.); Dr. Jochen Roose; verantwortlich für Pulsschlag: Alexander Flohé, Schönberger Str. 2, 24148 Kiel, e-mail: [email protected]; für Treibgut: Jan Rohwerder, Hubertusplatz 8, 52064 Aachen, e-mail: [email protected]; für Literatur: Dr. Karin Urich, Hoher Weg 15, 68307 Mannheim, e-mail: [email protected] Beratung und wissenschaftlicher Beirat: Dr. Karin Benz-Overhage, Frankfurt/M.; Prof. Dr. Andreas Buro, Grävenwiesbach; Volkmar Deile, Berlin; Dr. Warnfried Dettling, Berlin; Prof. Dr. Ute Gerhard-Teuscher, Frankfurt/M.; Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach SJ, Frankfurt/M.; Prof. Dr. Robert Jungk (†); Ulrike Poppe, Berlin; Prof. Dr. Joachim Raschke, Hamburg; Prof. Dr. Roland Roth, Berlin; Prof. Dr. Dieter Rucht, Berlin; Wolfgang Thierse, Berlin; Dr. Antje Vollmer, Berlin; Heidemarie Wieczorek-Zeul, Berlin Redaktionsanschrift: Forschungsgruppe NSB, c/o Dr. Ansgar Klein, Mahlower Straße 25/26, 12049 Berlin, e-mail: [email protected] Homepage: www.fjnsb.de Förderverein: Soziale Bewegungen e.V., c/o Dr. Ludger Klein, Im Erlengrund 1, 53757 St. Augustin, e-mail: lepus.lk@t- online.de: Spendenkonto: Sparkasse Bonn, BLZ: 380 500 00, Konto-Nr: 751 460 7 Bezugsbedingungen: Jährlich erscheinen 4 Hefte. Jahresabonnement 2008: Bibliotheken ‡ 48,–, persönliches Abonnement ‡ 42,–, für Studierende gegen Studien- bescheinigung ‡ 30,–, Einzelheft ‡ 14,–, jeweils inkl. MwSt. (Versandkosten Inland ‡ 4,–/Ausland ‡ 8,–) Alle Bezugspreise und Versandkosten unterliegen der Preisbindung. Abbestellungen müssen spätestens 3 Monate vor Ende des Kalenderjahres schriftlich beim Verlag erfolgen. Abonnentenverwaltung (zuständig für Neubestellungen, Adressänderungen und Reklamationen) bitte direkt an die Verlagsauslieferung: Brockhaus/Commission • Postfach • 70803 Kornwestheim Tel. 07154/1327-37 • Fax 07154/1327-13 Anzeigenverwaltung beim Verlag (Anschrift wie oben) Es gilt die Anzeigenpreisliste vom 1. Januar 2008. © 2008 Lucius & Lucius Verlagsges. mbH, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages vervielfältigt oder verbreitet werden. Unter dieses Vorbehalt fällt insbesondere die gewerbliche Vervielfältigung per Kopie, die Aufnahme in elektronischen Datenbanken und die Vervielfältigung auf CD-ROM und allen anderen elektronischen Datenträgern. Das Forschungsjournal wird durch SOLIS, IPSA (International Political Science Abstracts), IBSS (International Bibliography of the Social Sciences), sociological abstracts und BLPES (International Bibliography of Sociology) bibliographisch ausgewertet. Karikaturen: Gerhard Mester, Wiesbaden Umschlag: Nina Faber de.sign, Wiesbaden Satz: com.plot Klemm & Leiby, Mainz Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany ISSN 0933-9361