FJSB 2008 2.Pdf
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Neue Soziale FORSCHUNGSJOURNAL Bewegungen ZIVILGESELLSCHAFT IN BRÜSSEL – Mehr als ein demokratisches Feigenblatt? Heft 2 – Juni 2008 € 14,- Inhalt 1 EDITORIAL 83 Kathrin Glastra .................................................................................................................................... Public Affairs Management in Brüssel. 3 Matthias Freise, Jochen Roose Ein Praxisbericht am Beispiel Zivilgesellschaft in Brüssel – Mehr als nur des Anti-Dumping Verfahrens für ein demokratisches Feigenblatt? Energiesparlampen AKTUELLE ANALYSE .................................................................................................................................... FORUM BÜRGERGESELLSCHAFT ................................................................................................................................... 9 Ludger Volmer 91 Gloria Possart Der grüne Super-Gau – Die Bürgerkommune auf dem Prüfstand die Landtagswahlen von Hessen und Niedersachsen 94 Elke Becker Aus den Erfahrungen mit Bürgerbeteiligung THEMENSCHWERPUNKT in der Stadtentwicklung lernen .................................................................................................................................... 99 Thomas Röbke 16 Matthias Freise Was meint Brüssel eigentlich, wenn Zwischen Graswurzelbewegung und von Zivilgesellschaft die Rede ist? geordneten Strukturen. Lokale Engagementpolitik am Beispiel Nürnberg 29 Gudrun Eisele Worte und Taten: Der Europäische Wirt- schafts- und Sozialausschuss als Forum der 108 Hannes Wezel organisierten Zivilgesellschaft Bürgerkommune als Gesamtkonzept. Die „Nürtinger Formel“ 42 Matthias Dembinski/Jutta Joachim Von der Zusammenarbeit europäischer Re- 112 Roswitha Rüschendorf gierungen zum Europäischen Regieren? Standorte bestimmen und Wege ausbauen. Nichtregierungsorganisationen in der Eine „Arbeitshilfe zur Selbstbewertung dörf- EU-Außenpolitik licher Aktivitäten“ 52 Kristina Charrad PULSSCHLAG ................................................................................................................................... Teilhaber oder Beobachter? Interessengruppen aus Mittel- und 115 Birgit Sittermann Osteuropa auf Brüsseler Parkett Europa im Blick Das Observatorium für die Entwicklung der 64 Christine Quittkat sozialen Dienste in Europa Wirklich näher am Bürger? Konsultationsinstrumente der 119 Markus Linden EU-Kommission auf dem Prüfstand Prekäre Lebenslage – prekäre Repräsentation? 73 Thorsten Hüller Demokratisierung der EU durch Online- 126 Tina Guenther/Kai-Uwe Hellmann Konsultationen? Gesellschaft und Politik im Web 2.0-Fieber 2 Inhalt TAGUNGSHINWEIS 148 EU-Lobbying: Mehr Erkenntnis ist notwen- ................................................................................................................................... dig (Rudolf Speth) 131 „In der Lobby brennt noch Licht“ – Lobbyismus als politisches 150 Erfolg von Bewegungen – ein unerforsch- Schatten-Management bares Thema? (Jochen Roose) CALL FOR P APERS 154 Konsumenten und Unternehmen: ‚Gute ................................................................................................................................... Bürger’ im Zeitalter digitaler Medien? (Ben- 135 Orientierung in einem wilden Komplex. jamin Ewert) Konzepte und Methoden in der Forschung über Protest und Soziale Bewegungen 156 Theorie und Praxis des politischen Protests in Deutschland (Felix Kolb) TREIBGUT ................................................................................................................................... 158 DATENBANK BEWEGUNGSFORSCHUNG 137 Materialien, Notizen, Hinweise ................................................................................................................................... LITERATUR 159 AKTUELLE BIBLIOGRAPHIE ................................................................................................................................... ................................................................................................................................... 142 Brüssel auf der Suche nach demokratischer Legitimität (Dawid Friedrich) 163 ABSTRACTS ................................................................................................................................... 145 Brüssler Lobbyisten packen aus (Alexia 168 IMPRESSUM Duten) ................................................................................................................................... Editorial 3 Zivilgesellschaft in Brüssel – nur selten ein Gesetzgebungsverfahren blockiert, Mehr als nur ein demokratisches denn in den informellen Aushandlungsprozes- Feigenblatt? sen und bei der Rücksichtnahme auf Positionen verschieben sich die Kräfte innerhalb der Brüss- Die Europäische Union (EU) hat ein Demokra- ler Institutionen erheblich zugunsten des Parla- tiedefizit. Diese Aussage scheint so selbstver- ments. ständlich, dass sie kaum der weiteren Erläute- Anders sieht es hingegen bei der Beteiligung rung bedarf (vgl. aber Bach 2000, Fuchs 2003). von Bürgerinteressen und der Zivilgesellschaft Die EU hat sich selbst dieses Problems ange- aus. Hier reicht die Einrichtung von Webseiten nommen. So wurde in den Vertragsreformen oder die Einführung von beratenden Ausschüs- der letzten Jahrzehnte der demokratische Cha- sen allein nicht aus. Erst wenn die dort geäußer- rakter der EU gestärkt. Deutlichstes Zeichen ist ten Argumente substanziell verarbeitet werden der Machtzuwachs des Europäischen Parla- und eine Deliberation der politischen Program- ments als direkt von den Bürgern gewählte In- me – zumindest unter Experten und Interessen- stitution. Der Anteil von Richtlinien, die im Ver- vertretern – stattfindet mit Folgen für den Ge- fahren der Mitentscheidung unter maßgeblicher setzgebungsvorschlag, kann von einer Demo- Beteiligung des Parlaments beschlossen wur- kratisierung gesprochen werden. Ob und in den, hat deutlich zugenommen (Wessels 2008: welchem Maße dies aber geschieht, gilt es nä- 349). Zudem bemüht sich die Europäische Kom- her zu betrachten. Abhängig vom tatsächlichen mission um eine Öffnung gegenüber der Zivil- Einfluss dieser diskursiven Prozesse rund um gesellschaft. Die Meinung der organisierten In- die EU-Kommission fällt auch die Diagnose teressen, aber auch des einzelnen Bürgers soll des Demokratiedefizits unterschiedlich aus. stärker in den politischen Prozess einfließen. Die Einbindung der Zivilgesellschaft ist für Die frühzeitige Veröffentlichung von Gesetzge- die EU ein zweischneidiges Schwert. Demo- bungsvorhaben und Konsultationsprozesse im kratisierend ist die Einbindung der vielen Stim- Vorfeld von geplanten Regelungen sollen die men und guten Argumente. Eine Deliberation EU gegenüber den Wünschen und Interessen im Sinne von Habermas (1990, 1992) kann die der Bürger öffnen. Demokratie nur stärken. Ziel wäre hier, alle re- Angesichts dieser Entwicklungen, im Zuge levanten Argumente in einen Diskurs einzubrin- derer die Institutionenstruktur der EU erheblich gen, um die beste Lösung für Probleme zu er- verändert wurde, gerät auch die Diagnose des mitteln. Die vielfältigen, mit den Begriffen Dis- Demokratiedefizits potenziell ins Wanken. Hat kurs und Zivilgesellschaft verbundenen Hoff- sich das Problem also erledigt, ist es auf ein nungen stehen für diese demokratisierende Wir- vertretbares Maß eingedämmt, oder besteht es kung (vgl. Klein 2001). Die praktische Umset- in vollem Umfang weiter (Majone 2000, Mo- zung eines solchen Ziels führt dann aber schnell ravcsik 2002, 2004, kritisch dazu wiederum in Richtung eines Systems der pluralistischen Follesdal/Hix 2006)? Interessenvertretung mit den bekannten Nach- Die Veränderungen des institutionellen Ge- teilen. Schon vor langer Zeit wurde auf die Un- setzgebungsweges lassen sich recht leicht beur- gleichgewichte der Interessenvertretungschan- teilen. Das Europäische Parlament hat mit den cen hingewiesen (vgl. als Überblick Sebaldt/ Vertragskonsolidierungen zusätzliche Befugnis- Straßner 2004). Interessen, die sich nicht auf se erhalten und wird damit zu einem mächtige- einen bestimmten Adressatenkreis beziehen ren Spieler. Diese Machtverschiebung schlägt (zum Beispiel Umweltschutz), lassen sich be- sich selbst dann nieder, wenn das Parlament kanntermaßen schlechter organisieren als Inter- 4 Editorial essen mit einem begrenzten Kreis potenzieller geisterung der Europäer für die Union soll er- Nutznießer, die ihren Vorteil geldwert messen höht werden durch die Stärkung ihres demo- können (zum Beispiel Arbeitgeber). Offe hatte kratischen Charakters. Der Verfassungsprozess auf dieses Ungleichgewicht vor langer Zeit hin- hatte seine Intention nicht zuletzt in dieser Rich- gewiesen (Offe 1972, vgl. aber Roose 2006). tung (vgl. z.B. Leinen 2001, Lepsius 2006) – Im Kontext der EU trifft diese Verzerrung nicht um so schmerzlicher war sein Scheitern in Hin- allein die sogenannten schwachen Interessen, blick auf die Akzeptanz der EU. Tatsächlich sind sondern auch die schwachen Länder. In Bezug die Bürger Europas trotz aller institutionellen auf das Themenspektrum und die geographi- Reformen vom demokratischen Charakter der sche Abdeckung drohen Verzerrungen, die ei- EU nicht überzeugt. Nur 30 % waren im Herbst ner Demokratisierung durch Interessenvertre- 2007 der Ansicht, dass ihre Stimme in Europa tung entgegenstehen. Die normativen Vorbehal- zähle (Europäische Kommission 2007b: 40).1 te gegenüber Lobbying weisen auf diese Unzu- Wenn die Europäer gefragt werden, was die länglichkeiten hin (vgl. Kleinfeld et al. 2007, Europäische Union für sie bedeute,