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Werbeseite MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Günter Grass

ine Blechtrommel war nichts dagegen: Mit gewaltigen Paukenschlägen Ekündigte der Göttinger Steidl Verlag dieses „Opus magnum“ an – das jüngste Buch des Günter Grass, berühmtester unter den lebenden deut- schen Schriftstellern, dem der SPIEGEL nun zum viertenmal eine Titelge- schichte widmet. Zeitig und exklusiv sicherte sich der SPIEGEL die Rech- te für einen Vorabdruck etlicher Passagen aus dieser Neuheit, „Ein weites Feld“. Doch als es dann etwas zu lesen gab, kamen Chef- und Kulturre- daktion in Verlegenheit. Die zum Abdruck gedachte Romanstrecke er- wies sich als ein überaus sperriger Kurs durch deutsche Geschichte, und selbst dem besonders bemühten, literarisch bewander- ten Leser mußte es da schwerfallen, zwi- schen den Bruchstücken eine Richtung zu erkennen. Da zudem der Verlag um die 4500 Exemplare des „Jahrhundertwerks“ (dpa) im Vorwege an die Fachwelt verteil- te, war auch von der Exklusivität nicht viel übriggeblieben.

Gute Gründe also, auf den Teilabdruck zu verzichten, doch bei den Betroffenen hörte es sich anders an. Rudolf Augstein, wurde Grass-Titel (1963) kolportiert, habe sein Veto eingelegt, und zwar auch deshalb, so hieß es allen Ernstes, weil er mit Grass in Fragen der deutschen Vereinigungspolitik über Kreuz sei. Als der SPIEGEL den Vorabdruck des „Weiten Feldes“ ablehnte, hatte Augstein gerade mal ein Viertel davon überflogen, und die Vorstellung, politischer Dissens trübe bei ihm das literarische Urteil, ist nun wohl allzu naiv. Augstein hatte schon 1966 das Anti-Brecht-Stück von Grass „Die Plebejer proben den Aufstand“ im SPIEGEL rezensiert. Dennoch war es vom Steidl Verlag werbetechnisch nicht ungeschickt zu insinu- ieren, der neue Grass sei dem SPIEGEL politisch zu suspekt, gar zu brisant.

Ganz ähnlich wie den SPIEGEL-Redak- teuren muß es dem Kritiker Marcel Reich- Ranicki ergangen sein. Der hatte bei einer ersten Lesung als deren Gastgeber der Grass-Neuheit höflich applaudiert: Was hätte er nach der schmalen Kostprobe aus einem 784-Seiten-Opus auch anderes tun können! Reich-Ranicki ist ein unabhängi- ger Mann, eine kritische Institution, wie kein anderer geeignet, das mit mächtigem Reich-Ranicki-Titel (1993) Wirbel promovierte Grass-Epos für den SPIEGEL zu würdigen. Zudem trägt er dem SPIEGEL noch einiges nach: Die Titelkarikatur des Hefts 40/1993, die ihn als Bücher zerfetzenden Kampfhund zeigte, hatte ihn aufgebracht: „beschämend und empörend“.

Augstein wurde übrigens 1963 von der Zeit als Böll-Verehrer gebeten, ei- ne Gegenkritik zu dem ungewöhnlich scharfen Reich-Ranicki-Verriß des Romans „Ansichten eines Clowns“ zu schreiben – er gab jedoch in seiner Kritik dem vernichtenden Urteil Reich-Ranickis recht. Damals. .

TITEL INHALT Die Zwangsehe zwischen dem Dichter Günter Grass und seinem Kritiker ...... 160 Marcel Reich-Ranicki über den neuen Grass-Roman „Ein weites Feld“ ...... 162 Milliardenmarkt Multimedia Seiten 22, 24 Mit einer Flut von neuen Geräten und Programmen läutet die Funk- SPIEGEL-ESSAY ausstellung diese Woche das Multimedia-Zeitalter ein. Die Firmen Dieter Wild: Die Wacht am Rhein ...... 78 hoffen auf einen gigantischen Markt, wenn Hunderte von Fernsehka- nälen Filme und Nachrichten auf Knopfdruck liefern. DEUTSCHLAND Panorama ...... 16 Multimedia: Das digitale Zeitalter beginnt ...... 22 Die Medien-Konzerne entdecken Ein „neuer Faschismus“ Seite 27 das Online-Geschäft ...... 24 Grüne: SPIEGEL-Gespräch mit Joschka Fischer Ein „neuer Faschismus“ über die Kritik an seinem Bosnien-Papier drohe in Bosnien zu sie- und den Pazifismus ...... 27 gen, meint Joschka Fi- Nato: Lockerer Zeitplan für die scher und plädiert er- Ausdehnung gen Osten ...... 32 neut dafür, die mosle- mischen Schutzzonen Vereinigung: Bonn macht Politik militärisch zu schützen. ohne die Ostdeutschen ...... 34 Den grünen Kritikern, Bayern: SPIEGEL-Gespräch mit die sein Bosnien-Papier Schriftsteller Carl Amery über den „verantwortungslos“ Kruzifix-Streit ...... 40 nennen, hält er entge- Presse: Kirchenblätter vor dem Aus ...... 48 gen: „Ich giere nicht Flüchtlinge: Barbara Supp über Deutschlands nach Militäreinsätzen, größten Abschiebeknast ...... 51 aber die Zäsur liegt in

Arbeit: Die Trümmerfrauen J. H. DARCHINGER der Wirklichkeit des von Zettemin ...... 63 Fischer ethnischen Krieges.“ Regierung: Hartmut Palmer über den Kanzler-Adlatus Friedrich Bohl ...... 66 Abenteuer: „House Running“ als neuer Freizeitspaß ...... 73 Wende im Westen Seite 34 Extremisten: Polizeierfolge verstören Angela Merkel spielt in der CDU, Wolfgang Thierse in der SPD nur ei- Neonazis ...... 75 ne geduldete Nebenrolle. Ob Grüne oder FDP: Ostdeutsche Politiker Hauptstadt: SPD vermasselt Berliner versinken in der Bedeutungslosigkeit. Der Westen ist fünf Jahre nach Wahlkampf-Auftakt ...... 76 der Vereinigung zur Tagesordnung übergegangen – der westlichen. Medien: Machtkampf im Springer-Verlag ...... 80 Warum ein Kirch-kritischer „Tagesthemen“-Kommentar nicht gesendet wurde ...... 81 Airbus als Opfer Seite 82

WIRTSCHAFT Konzerne: Die Dasa soll auf Kosten von Airbus saniert werden ...... 82 Steuern: Waigel muß die Einheitswerte ändern ...... 85 Börse: Erstmals wird in Deutschland ein Insider bestraft ...... 88 Arbeitnehmer: Reich mit Verbesserungsvorschlägen ...... 89 Trends ...... 91 Ausländer: Schwarzarbeiter als Unternehmer ...... 94 Spekulation: Nick Leeson will nach Hause ...... 97 Bananen: Deutsche mucken auf ...... 98

GESELLSCHAFT F. HOLLANDER / DIAGONAL Flugzeugbau bei Fokker Jubiläen: Nostalgie-Trubel um Bayern-König Ludwig II...... 100 Der niederländische Flugzeughersteller Fokker ist in so große Turbulen- Rudolf Augstein über Ludwig II. zen geraten, daß sein Mehrheitsgesellschafter Dasa mit ins Schlingern und Bismarck ...... 107 gerät. Die Daimler-Tochter muß ein rigoroses Sparprogramm durchzie- Michael Mönninger über die gebauten hen. Besonders betroffen sind die Airbus-Werke. Utopien des Bayern-Königs ...... 111

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AUSLAND Panorama Ausland ...... 118 Irak: Saddams Kampf um die Macht ...... 120 Geisterfahrer König Ludwig Seiten 100, 107, 111 Interview mit Ex-Geheimdienstchef Wafik Samarraı¨ über die kritische Situation Zum 150. Geburtstag des in Bagdad ...... 122 Bayernkönigs Ludwig II. er- China: Großmacht ohne Skrupel ...... 123 reicht der Gedenkrummel Greenpeace-Geschäftsführer Thilo Bode unbekannte Höhen. Bei über chinesische Atomtests ...... 124 Neuschwanstein wird sogar Rußland: Interview mit Nationalitätenminister ein großes Musicaltheater Wjatscheslaw Michailow über das für den „Dream King“ ge- Friedensabkommen mit den Tschetschenen ...... 126 plant. Derweil fällt auch Indien: Tiziano Terzani über den neues Licht auf den Politiker Unabhängigkeitskampf in Kaschmir ...... 128 Ludwig als Gegenspieler Bismarcks. Und Kunstge- USA: Planung für den Computerkrieg ...... 132 schichtler zollen den bislang Bosnien: Jacques Milliano von der als Kitsch belächelten Phan- Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ über die tasieschlössern des exzentri- Vertreibung der Kroaten und Moslems ...... 134

H. SCHAPOWALOW schen Geisterfahrers höchste Asien: SPIEGEL-Gespräch mit Malaysias Ludwig-Schloß Neuschwanstein Anerkennung. Premier Mahathir Mohamad über asiatische Werte und den Niedergang des Westens ...... 136 Peru: Protest gegen Delphinfang ...... 140

TECHNIK Asiens neue Arroganz Seite 136 Brückenbau: Viele Spannbeton-Brücken Der Ferne Osten sieht sich als Zukunftsregion der Welt. Im SPIE- vorzeitig zerschlissen ...... 142 GEL-Gespräch beklagt Malaysias Premier Mahathir die „beispiellose Hörfunk: Start des digitalen Radios ...... 146 Heuchelei“ des Westens und dessen dramatischen „Werteverfall“. WISSENSCHAFT Prisma ...... 150 Medizin: Hormon Melatonin – Wunderpille Geldsuche rund um den Globus Seite 192 gegen das Altern? ...... 153 Meeresbiologie: Riesenkraken und Eine entnervte Steffi Monsterquallen in der Tiefsee ...... 156 Graf verlor in Toronto. Umwelt: Pflanzen fressen Bodengifte ...... 158 Ihr Versuch, die Steu- eraffäre übers Tennis KULTUR zu bewältigen, mußte scheitern. Denn die Komponisten: SPIEGEL-Gespräch mit Probleme werden im- Rolf Liebermann über seine mer größer: Ihre An- neue Oper und den Musikbetrieb ...... 171 wälte suchen rund um Pop: Der späte Erfolg des US-Rockers den Globus nach Graf- Matthew Sweet ...... 176 Geldern. Und Doku- Ausstellungen: Der chinesische Avantgarde- mente zeigen, daß die Maler Ye Yongqing in Augsburg ...... 178 Grafs 1985 ihre Steuer- Fernsehen: RTL-Serienhelden drängen

flucht nach Monte Carlo AP ins Musikgeschäft ...... 179 Graf beim Turnier in Toronto vorbereiteten. Bestseller ...... 180 Kino: Millionen-Gagen für Hollywood-Autoren ...... 182 Film: „Eine französische Frau“ Monstren am Meeresgrund Seite 156 von Re´gis Wargnier ...... 184 Monsterquallen oder Rie- Szene ...... 186 senkraken, die mit ihren Performance: „Öffentliches Wohnen“ Fangarmen Fischerboote in als Kunstspektakel ...... 190 die Tiefe ziehen – existieren Fernseh-Vorausschau ...... 202 derlei schaurige Fabelwesen wirklich? In den noch uner- SPORT forschten Abgründen der Tennis: Wie der Graf-Clan die Steuerflucht Tiefsee, behauptet ein US- Zoologe, hausen Seeunge- nach Monte Carlo plante ...... 192 heuer, die den legendä- ren Meeresbestien gleichen: Briefe ...... 7 Großräuber mit Krallen an Impressum ...... 14 Register THE GRANGER COLLECTION den Saugnäpfen oder Mäu- ...... 198 Seeungeheuer (Holzschnitt von 1555) lern voller Reißzähne. Personalien ...... 200 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 206

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BRIEFE

Auschwitz – und deren hat es ja Aber- Immerhin noch Sinn tausende gegeben – waren die Japanpi- (Nr. 31/1995, Polemik: Hannes Stein loten Engel gewesen. Ob das ein Fort- und Richard Herzinger über die Gleich- schritt gewesen ist, ist eine andere Fra- setzung von Hiroschima mit Auschwitz) ge.“ PETER UMBSEN Wer Hiroschima mit Auschwitz gleich- setzt oder auch „nur“ in einen Topf wirft, gibt eine geistige Bankrotterklä- Die atomare Massenvernichtung und rung ab. Daß dies faschistoide Stamm- die rassistische Massenvernichtung sind tischdeppen und linksideologische Blö- schon deshalb getrennt zu diskutieren, diane gleichermaßen tun, kann bloß weil sie verschiedenen Denkmustern an- gehören. Auschwitz entspringt einem archaischen, einem ma- gischen Denken. Hiroschima demonstriert dagegen „das lo- gische Ergebnis der entfessel- ten Moderne“ (Stein/Herzin- ger). Über Auschwitz zu reden ist Geschichte. Über Hiroschi- ma zu reden ist Politik. Berlin PROF. ALEXANDER SCHULLER

Die entscheidende Frage für uns ist doch: Wie können zu- künftig ein weiteres Auschwitz und ein weiteres Hiroschima verhindert werden? Morsbach (Nrdrh.-Westf.) HERMANN KÜENZLEN

Die fatale Gleichsetzung von Auschwitz und Hiroschima muß mit Entschiedenheit zu- rückgewiesen werden. Bei Auschwitz handelt es sich um

GAMMA / STUDIO X systematischen Massenmord Japanische Kinder nach Atombombenabwurf aus Rassenhaß, um eine in der Militäraktion mit kriminellem Charakter NS-Ideologie angelegte per- verse Vernichtungsaktion. Bei Schmalspurdenker überraschen, die ihr Hiroschima um eine schreckliche Mili- Links-rechts-Weltbild als Identitätsstüt- täraktion, deren krimineller Charakter ze benötigen. evident ist, die aber immerhin noch Nürnberg MARKUS KATZENMEIER den Sinn hatte, den Krieg zu been- den.

Bestürzend ist an dem Artikel, daß Ver- Würzburg PROF. THEO MEYER brechen wieder einmal, wenn sie denn im Zusammenhang mit Krieg stehen, re- lativiert werden. Irgendwie ist dann jede Irreale Atmosphäre noch so scheußliche Kriegshandlung ein (Nr. 32/1995 Grüne: Das Pazifismus- notwendiges Übel gewesen. Dogma wankt) JUTTA AHRENS Leider verschweigt der SPIEGEL, daß auf dem letzten Parteitag von Bündnis Günther Anders dürfen die Autoren 90/Die Grünen bereits die Forderung nicht zum Zeugen ihrer opportunisti- nach Schutz der Uno-Schutzzonen schen These vom verhängnisvollen Wir- durch Verstärkung der Unprofor-Prä- ken apokalypsebedürftiger Endzeitpro- senz beschlossen wurde. Fischer zieht pheten machen. Niemand hat wie An- nun lediglich die logische Konsequenz ders auf der moralischen Unterschei- aus diesem Beschluß und bereitet kei- dung von Auschwitz und Hiroschima neswegs eine bellizistische Kehrtwende bestanden. Anders schreibt: „Auschwitz der grünen Politik vor. Dies ist auch kei- ist trotz der Tatsache, daß die Welt nicht ne Abkehr vom Prinzip der Gewaltfrei- durch Auschwitzs, sondern durch Hiro- heit: Das Notwehrrecht ist bereits im al- schimas zugrunde gehen wird, moralisch ten Grundsatzprogramm von 1980 ver- ungleich entsetzlicher gewesen als Hiro- ankert. PS: Unsere jeweiligen Kollegen schima . . . Neben den Tätern von Joschka Fischer und Jürgen Trittin wer-

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BRIEFE H. SCHWARZBACH / ARGUS Grünen-Vorstandssprecherin Sager: Längst beschlossene Forderung

den dem SPIEGEL-Leser als Fraktions- zu spät. Höchste Zeit für einen militäri- vorsitzender und Vorstandssprecher vor- schen Eingriff. gestellt. Die Fraktionsvorsitzende Ker- Mainz FABIAN STOFFERS stin Müller wird lediglich als Sprecherin Ehemaliger Pazifist der Linken im und ichals Rea- lo-Freundin bezeichnet. Männer als Funktionsträger, Frauen als Freundin- Was für eine seltsame irreale Atmo- nen und Teil der Gefolgschaft – Zufall? sphäre! Verteidigung der multikulturel- Bornheim (Nrdrh.-Westf.) KRISTA SAGER len Gesellschaft als Interventionsgrund: Bündnis 90/Die Grünen Dieses Pathos droht, wenn man damit Ernst macht, ein Europa ohne Grenzen in Kriege ohne Grenzen zu verwickeln; Volker Rühes Salami-Taktik ist aufge- denn überall in der Welt gibt es bedroh- gangen: Er hat den Out-of-area-Einsät- ten Multikulturalismus zu verteidigen. zen der Bundeswehr den Boden bereitet, Bielefeld PROF. JOACHIM RADKAU das Bundesverfassungsgericht hat sie le- galisiert. Die moralische Legitimation für militärisches Intervenieren auf dem Bal- kan liefert Joschka Fischer. Noch läßt der Manches dazugelernt Grünen-Fraktionschef die entscheiden- (Nr. 31/1995, Minister: SPIEGEL-Ge- de Frage offen: Mit welcher Strategie will spräch mit Ex-Kultusminister Hans er seine Militäreinheiten in die Schlacht Schwier über Schulen und Lehrer) für die Menschenrechte führen? Ich danke Hans Schwier für dieses ehrli- Freiburg JÜRGEN GRÄSSLIN Rüstungs-Informationsbüro Baden-Württemberg che und nachdenkliche Gespräch. Als junger Kollege in der Kultusminister- konferenz fühle ich mich in vielem be- Wo habe ich bei Fischers Rede am 30. Ju- stätigt, manches lernte ich dazu. Für fast ni bloß hingehört? Bosnien hin und her. jede politische Lebenssituation eines Fischers neuestes Papier besagt: Es ist Kultusministers habe ich nun ein pas- Krieg, und wir Deutschen gehen wieder sendes Schwier-Zitat parat. hin, wo auch immer auf der Welt. Dresden DR. MATTHIAS RÖSSLER Aachen ALBRECHT BAUSCH Staatsminister für Kultus Vorsitzender im „Aachener Friedenspreis“

Irritiert waren die Besucher der Ausch- Etwas mehr Demut witz-Gedenkfeier, als Menschenrechtler (Nr. 32/1995, Medizin: Krebs-Kind Olivia Plakate von ausgehungerten Lagerinsas- Pilhar – Opfer im Richtungsstreit um die sen zeigten. Es war keine Dokumentati- Heilkunst) on aus Auschwitz, sondern Bilder aus ser- bischen Kriegsgefangenenlagern. Man Seit März weiß ich, daß ich an Leukämie soll diese zwei Dinge nicht gleichsetzen, erkrankt bin. Die Diagnose war ein aber endlich aufhören, die ethnischen Schock; die weiteren Aussichten: be- Säuberungen auf dem Balkan zu ver- handelbar, lebensverlängernd, aber harmlosen. Gerade wirDeutschen haben letztlich unheilbar – tödlich. Mehr als eine Verantwortung dafür, den Anfän- dieses Wissen und die Therapie machen gen zu wehren. Hierfür ist es aber schon mir die Ratschläge von Freunden, Be-

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BRIEFE

bemüht sind, wenn Psychopa- fehlt es den Krankenhäusern an Medika- then wie Hamer zum Symbol menten und Geräten. Obwohl vielfach werden für das, was die Schul- durchaus Heilungschancen bestehen medizin abgrenzend als „Al- würden, beschränkt sich die Behandlung ternative Heilmethoden“ be- einzelner Kinder auf schmerzstillende zeichnet. Maßnahmen. Damit eins der Kinder Hamburg überlebt, müssen andere sterben. DR. MED. HANNE-DORIS LANG Lauf a. d. Pegnitz (Bayern) WILHELM JAKOB Krebshilfe deutscher Akademiker für ukrainische Kinder In die Kategorie der Krebshei- ler vom Typus Hamer und Klehr – vor denen ich selbst Laßt sie doch malen seit vielen Jahren öffentlich (Nr. 32/1995, Graffiti: Die Sprühkunst vielfach gewarnt habe – kann wird zum legalen Auftragsgeschäft) mich nur einordnen, wer die Augen vor der Wirklichkeit Graffiti in der U-Bahn, an Brücken, verschließt. Die Wirksamkeit Unterführungen, Gebäuden – warum meines Programms der „Be- nicht auch in den Gebäuden? Bei uns ist hutsamen Krebsbekämpfung“ es bereits realisiert. Graffiti in der Fa- mit Schwerpunkt Liebeshor- brik: bislang circa 40 Quadratmeter vom monblockade ist inzwischen Sprayer „Seak One“ in einer unserer durch eine Fülle von Fünf-Jah- Produktionshallen, und zwar dort, wo

REUTERS res-Heilungen und mehr er- Menschen arbeiten. Krebsheiler Hamer, Patientin Olivia* wiesen. Im übrigen gibt es – Hennef (Nrdrh.-Westf.) Chemotherapie nicht zum Spaß wie im SPIEGEL auch steht – MANFRED RADERSCHAD in der Krebsbekämpfung allge- kannten und der Familie zu schaffen. Bü- mein „Richtungsänderungen“ und gehö- cher, Artikel und Adressen werden ange- ren „alternative Heilverfahren . . . nun Was Graffiti zeigen, ist entweder häß- schleppt. Und wenn ich auf die gute, für- vielerorts zum normalen Repertoire“. lich oder nicht neu. In keinem Fall ist es sorgliche Betreuung durch meine behan- Sogar die Schulmedizin-Lehrer empfeh- kreativ, dafür meist aggressiv. Berlin delnden Schulmediziner verweise, ernte ich oft Unverständnis, Lächeln oder gar Vorwürfe. Aber ich habe die Krankheit, und ich möchte mich nicht zum Sklaven von 1001 Alternativmethoden mit unge- wissem Ausgang machen, sondern die verbleibende Zeit, soweit es geht, normal verbringen und noch ein bißchen Freude daran haben. Friedrichswalde (Brandenburg) M. LIPPMANN

Ich denke, daß es keinen einzigen Kolle- gen gibt, der es sich zum Spaß macht, Pa- tienten einer Chemotherapie zu unterzie- hen. Es istmitnichten so, daß man abends am Stammtisch sitzt und sich überlegt: „Wem wollen wir denn morgen mal die Haare ausgehen lassen? Wer soll denn morgen mal kotzen?“

Mainz CHRISTOPH SEEBER LICHTBLICK

Die Crux ist, daß wir Schulmediziner sehr S. SAUER / Verfolgter Graffiti-Künstler „Ben“: Schöner als graue Betonwände häufig den Eindruck erwecken, mit der Chemotherapie seien wirim Besitz der al- len mehr und mehr behutsamere Be- leidet unter zunehmender Gewalt der lein gültigen Lehre. Insbesondere die handlungsmethoden. Graffiti-Szene. Macht nix! Der SPIE- deutsche Krebsgesellschaft richtet mit GEL liefert den Nimbus von Kunst, ge- dem arroganten Satz, „die Wirksamkeit Riedering/Spreng (Bayern) mixt mit Abenteuer – eine sprühende der alternativen Verfahren ist nicht oder PROF. JULIUS HACKETHAL Idee Ihrer Redaktion. zumindest nicht zweifelsfrei erwiesen“, mehr Schaden als Nutzen an. Etwas mehr Berlin DIETER HAPEL Demut täte uns allen gut. Was uns im Fall der Olivia Pilhar beson- Parlamentarischer Geschäftsführer der ders wütend macht, ist die Tatsache, Berliner CDU-Fraktion Oberaudorf-Reisach (Bayern) MEINOLF LINN daß in ukrainischen Kliniken täglich krebskranke Kinder nur deshalb sterben Graffiti, auch unprofessionelle, finde Es erschüttert diejenigen, die ernsthaft müssen, weil ihnen jene Behandlung ich schöner als graue Betonwände. Al- um integrative Ansätze in der Heilkunde versagt bleibt, auf die hierzulande jedes Kind Anspruch hat. Da die Ukraine so so, laßt sie doch malen. * Mit ihren Eltern und Ärztin Marina Marcovich. gut wie über keine Devisen verfügt, Hamburg HELMUT SCHIBATH

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BRIEFE MNO Exotin im Zoo 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 (Nr. 32/1995, Schriftsteller: Die Stasi- CompuServe: 74431,736 . Internet: http://www.spiegel.de Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006. Telefax (040) 30072898, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. Akte der Monika Maron) HERAUSGEBER: Rudolf Augstein 532 5453 . Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. (00422) 24 22 0138, Telefax 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glü- Das, wasMaron der Stasi berichtet haben CHEFREDAKTEUR: Stefan Aust sing, Avenida Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro soll, ist wohl nicht der Rede wert, gerade (RJ), Tel. (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska STELLV. CHEFREDAKTEURE: Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild von Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, der abgedruckte Berichtzeigt, wiesiesich Telefax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, Wil- . zwischen den Zeilen über Stasi und SED helm Bittorf, Peter Bölke, Ulrich Booms, Dr. Hermann Bott, Klaus 11 223 Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 Warschau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, lustig macht – als Ossi liest man es fast als Brinkbäumer, Henryk M. Broder, Werner Dähnhardt, Dr. Thomas . Darnstädt, Hans-Dieter Degler, Dr. Martin Doerry, Anke Dürr, Adel Tel. (004822) 25 49 96, Telefax 25 84 74 Washington: Karl- Satire über die DDR. Nein, das ist nicht S. Elias, Marco Evers, Nikolaus von Festenberg, Uly Foerster, Dr. Heinz Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National Press Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) Erich Follath, Klaus Franke, Gisela Friedrichsen, Angela Gatter- . das Problem mit dieser Frau. Aber wie burg, Henry Glass, Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, 347 5222, Telefax 347 3194 Wien: Dr. Martin Pollack, Schön- sich die im satten Funktionärsbiotop auf- Dr. Hans Halter, Werner Harenberg, Dietmar Hawranek, Manfred brunner Straße 26/2, 1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax W. Hentschel, Hans Hielscher, Wolfgang Höbel, Heinz Höfl, Cle- 587 4242 gewachsene Maron dann nach ihrem mens Höges, Joachim Hoelzgen, Dr. Jürgen Hohmeyer, Hans ILLUSTRATION: Werner Bartels, Renata Biendarra, Martina Blu- Hoyng, Thomas Hüetlin, Ulrich Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, Urs me, Barbara Bocian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas Weggang mit Visum über ihre Landsleute Jenny, Dr. Hellmuth Karasek, Sabine Kartte, Klaus-Peter Ker- Bonnie, Regine Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef ausläßt, das ist übel. busk, Ralf Klassen, Petra Kleinau, Sebastian Knauer, Dr. Walter Csallos, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hur- Knips, Susanne Koelbl, Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, me, Bettina Janietz, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, Ursula Magdeburg DR. PAUL R. FRANKE Bernd Kühnl, Wulf Küster, Dr. Romain Leick, Hans Leyendecker, Morschhäuser, Cornelia Pfauter, Monika Rick, Chris Riewerts, Ju- Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr. lia Saur, Detlev Scheerbarth, Manfred Schniedenharn, Frank Hans-Peter Martin, Georg Mascolo, Gerhard Mauz, Fritjof Meyer, Schumann, Rainer Sennewald, Dietmar Suchalla, Karin Wein- Dr. Werner Meyer-Larsen, Michael Mönninger, Joachim Mohr, berg, Matthias Welker, Monika Zucht Monika Maron hat richtig reagiert: Da- Mathias Müller von Blumencron, Bettina Musall, Dr. Jürgen Nef- Titelfotos: ZDF; Monika Zucht fe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, Claudia Pai, SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- mals, als sie ihre Stasi-Mitarbeit zur uner- Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Petermann, Dietmar Pieper, bine Bodenhagen, Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, Hermann bittlichen Kritik an dem System nutzte, Norbert F. Pötzl, Detlef Pypke, Dr. Rolf Rietzler, Anuschka Rosha- Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga ni, Dr. Fritz Rumler, Dr. Johannes Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas und später, als sie auf die Selbstdarstel- Marie-Luise Scherer, Michaela Schießl, Heiner Schimmöller, Ro- M. Peets, Gero Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Seelig, land Schleicher, Michael Schmidt-Klingenberg, Cordt Schnibben, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Ruth Tenhaef, Hans-Jürgen lung der eigenen Rolle verzichtete. Hans Joachim Schöps, Dr. Mathias Schreiber, Sylvia Schreiber, Vogt, Kirsten Wiedner, Holger Wolters Bruchsal FRANZ CSIKY Bruno Schrep, Helmut Schümann, Matthias Schulz, Birgit VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- Schwarz, Ulrich Schwarz, Claudius Seidl, Dr. Stefan Simons, Ma- orama, Bayern, Presse, Arbeit, Extremisten, Hauptstadt, Auslän- reike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Olaf Stampf, Gabor der, China (S. 124): Clemens Höges; für Multimedia, Konzerne, Steingart, Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, Barbara Supp, Dieter Steuern, Börse, Arbeitnehmer, Trends, Spekulation, Importe: Ar- G. Uentzelmann, Klaus Umbach, Hans-Jörg Vehlewald, Dr. Man- min Mahler; für Grüne, Nato, Vereinigung: Dr. Gerhard Spörl; für fred Weber, Susanne Weingarten, Alfred Weinzierl, Marianne Abenteuer, Medien, Pop, Fernsehen, Kino, Szene, Performance, Wellershoff, Peter Wensierski, Carlos Widmann, Erich Wiede- Fernseh-Vorausschau: Wolfgang Höbel; für Jubiläen (S. 100): Dr. mann, Christian Wüst, Peter Zobel, Dr. Peter Zolling, Helene Zu- Joachim Reimann; für Panorama Ausland, Irak, China (S. 123), ber Rußland, USA, Bosnien, Asien, Peru: Dr. Romain Leick; für Brük- kenbau, Hörfunk, Prisma, Medizin, Meeresbiologie, Umwelt: Jür- REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- gen Petermann; für Titelgeschichte, Komponisten, Ausstellun- gang Bayer, Petra Bornhöft, Markus Dettmer, Jan Fleischhauer, gen, Bestseller: Dr. Mathias Schreiber; für Tennis: Heiner Schim- Uwe Klußmann, Jürgen Leinemann, Claus Christian Malzahn, möller; für namentlich gezeichnete Beiträge: die Verfasser; für Walter Mayr, Harald Schumann, Michael Sontheimer, Kurfürsten- Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Man- straße 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Telefax . fred Weber; für Titelbild: Thomas Bonnie; für Gestaltung: Manfred 25 40 91 10 Bonn: Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Dr. Olaf Schniedenharn; für Hausmitteilung: Hans Joachim Schöps; Chef Ihlau, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Elisabeth Nie- vom Dienst: Horst Beckmann (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 jahr, Hartmut Palmer, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Hans-Jürgen Hamburg) Schlamp, Hajo Schumacher, Alexander Szandar, Klaus Wirtgen, Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26 70 3-0, Tele- DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Hel- fax 21 51 10 . Dresden: Sebastian Borger, Christian Habbe, Kö- mut Bott, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heiko Buschke, Heinz nigsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 567 0271, Te- Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen, lefax 567 0275 . Düsseldorf: Ulrich Bieger, Georg Bönisch, Ri- Cordelia Freiwald, Dr. Andre´ Geicke, Ille von Gerstenbergk-Hell- chard Rickelmann, Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) dorff, Dr. Dieter Gessner, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Jürgen 93 601-01, Telefax 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Dalbergsweg Holm, Christa von Holtzapfel, Joachim Immisch, Hauke Janssen, 6, 99084 Erfurt, Tel. (0361) 642 2696, Telefax 566 7459 . Günter Johannes, Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köl- lisch, Sonny Krauspe, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Lang-

Frankfurt a. M.: Peter Adam, Wolfgang Bittner, Annette Groß- H. FLOSS bongardt, Rüdiger Jungbluth, Ulrich Manz, Oberlindau 80, 60323 heim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig, Sigrid Frankfurt a. M., Tel. (069) 71 71 81, Telefax 72 17 02 . Hanno- Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Mi- Schriftstellerin Maron ver: Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, 30159 Hannover, Tel. nich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Christel Nath, Anneliese Neu- Mitsu, mein ganzes Glück bist du (0511) 32 69 39, Telefax 32 85 92 . Karlsruhe: Dr. Rolf Lam- mann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, Anna Petersen, Peter Philipp, precht, Amalienstraße 25, 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 225 14, Axel Pult, Ulrich Rambow, Dr. Mechthild Ripke, Constanze San- Telefax 276 12 . Mainz: Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, ders, Petra Santos, Christof Schepers, Rolf G. Schierhorn, Ekke- Wie alles im Umfeldder Maron –ihre lite- 55116 Mainz, Tel. (06131) 23 24 40, Telefax 23 47 68 . Mün- hard Schmidt, Andrea Schumann, Claudia Siewert, Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Rai- Dinah Deckstein, Annette Ramelsberger, Dr. Joachim Rei- rarische Leistung, ihr Dissidententum – chen: ner Szimm, Monika Tänzer, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Tei- mann, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, chert, Jutta Temme, Dr. Iris Timpke-Hamel, Carsten Voigt, Horst Telefax 4180 0425 . Bert Gamerschlag, Spieltor- imWesten überbewertet wurde,weil es in Schwerin: Wachholz, Ursula Wamser, Dieter Wessendorff, Andrea Wilkens, damm 9, 19055 Schwerin, Tel. (0385) 557 44 42, Telefax Karl-Henning Windelbandt den politischen Kram paßte, so auch ihre 56 99 19 . Stuttgart: Dr. Hans-Ulrich Grimm, Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 22 15 31, Telefax 29 77 65 BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles Stasi-Kollaboration. NACHRICHTENDIENSTE: AP, dpa, Los Angeles Times/Washing- REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, ton Post, New York Times, Reuters, sid, Time Lübeck CLAUS WENDT Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Telefax . 283 0475 Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 66 99 87, Telefax 66 01 60 . Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM Brüssel: Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Charlemagne Mitsu, Mitsu, Mitsu, mein ganzes Glück . 130,00, zwölf Monate DM 260,00, für Studenten (nur Inland) DM 45, 1040 Brüssel, Tel. (00322) 230 61 08, Telefax 231 1436 182,00. Normalpost Europa: sechs Monate DM 184,60, zwölf Jerusalem: Jürgen Hogrefe, 29, Hatikva Street, Yemin Moshe, bist du. Hat vielleicht der frühe Ohrwurm . Monate DM 369,20; Seepost Übersee: sechs Monate DM Jerusalem 94103, Tel. (009722) 24 57 55, Telefax 24 05 70 189,80, zwölf Monate DM 379,60; Luftpostpreise auf Anfrage. die Stasi inspiriert, Frau Maron diesen Johannesburg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Floor, 85 Eloff Street, Johannesburg 2000, Tel. (002711) 333 1864, Tele- Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74, exotischen Namen zu verpassen, weil sie fax 336 4057 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; Düsseldorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) sich selbst, gewiß mehr bewußt als unbe- Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 360 4944, Telefax 360 7655 . 936 01 02, Telefax 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, Kiew: Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 wußt, als Exotin im einstigen Ost-Berli- . 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 72 03 91, Telefax 72 43 32; Kiew, Tel. (0038044) 228 63 87 London: Bernd Dörler, 6 Hen- München: Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) ner Zoo begriff, in dem sie meinte, die rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (0044171) 379 8550, Tele- . 41 80 04-0, Telefax 4180 0425; Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, fax 379 8599 Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, Kru- 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 226 30 35, Telefax 29 77 65 Bedingungen für gelegentlich geöffnete tizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007502) 221 7725, Telefax 221 7724 . Neu-Delhi: Dr. Tiziano Terzani, Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner Schlupflöcher in den Westen selbst stel- 6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111) Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 49 vom 1. Januar 1995 len zu können? 469 7273, Telefax 460 2775 . New York: Matthias Matussek, Postbank AG Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. Druck: Gruner Druck, Itzehoe; maul belser, Nürnberg Berlin BERND LANGE (001212) 221 7583, Telefax 302 6258 . Paris: Lutz Krusche, Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Paris, Tel. (00331) VERLAGSLEITUNG: Fried von Bismarck 4256 1211, Telefax 4256 1972 . Peking: Jürgen Kremb, Qi- MÄRKTE UND ERLÖSE: Werner E. Klatten jiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. (008610) 532 3541, Telefax GESCHÄFTSFÜHRUNG: Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen. DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $290.00 per annum. Distributed by German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Second class postage is paid at Englewood, NJ 07631 and at additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to: Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe enthält DER SPIEGEL, GERMAN LANGUAGE PUBLICATIONS, INC., P.O. Box 9868, Englewood, NJ 07631-1123. eine Beilage der Firma Toshiba Europa, Neuss, so- wie der Firma Honda, Offenbach.

14 DER SPIEGEL 34/1995 Werbeseite

Werbeseite . PANORAMA

Rüstung möge zudem seinen Arbeitsanteil von gut 4 Milliarden Mark) rund 1,4 Milli- 30 auf 23 Prozent verringern. Begrün- arden Mark einsparen. Jedes einzelne Billige Briten dung: Statt geplanter 250 der nun Flugzeug – Schätzpreis weit über 100 „Eurofighter 2000“ genannten Flieger Millionen – könnte wegen der in Groß- Der „Jäger 90“ sorgt für Zwist zwi- wolle Bonn nur noch 140 ordern; au- britannien niedrigeren Herstellungs- schen Deutschland und Großbritan- ßerdem benötige die konservative Re- preise um mindestens 5 Millionen nien. Bei einem Bonn-Besuch verlang- gierung in London deutsche Unterstüt- Mark billiger werden. te Londons neuer Rüstungsstaatsse- zung beim Erhalt von Arbeitsplätzen. Dennoch lehnte Verteidigungsstaats- kretär James Arbuthnot, der Konzern Die Forderung hat für Bonn Vorteile: sekretär Jörg Schönbohm ab. Das British Aerospace solle die bisher mit Nach internen Berechnungen des Ver- Wehrressort will lieber deutsche Ar- der Daimler-Benz Aerospace (Dasa) teidigungsministeriums würde Bonn beitsplätze indirekt subventionieren, geteilte Führung des Milliardenpro- allein bei der Vorbereitung der Serien- als weitere Job-Verluste bei der ohne- jekts allein übernehmen. Deutschland produktion (deutscher Kostenanteil: hin schrumpfenden Dasa zu riskieren. U. BAUMGARTEN / VARIO-PRESS Eurofighter 2000

Lkw betroffenen Städte verstopfen und T.I.R.-Systems. Auch das Bundesfi- dann zu ihren Zielorten fahren. nanzministerium, Herr der Zollverwal- Noch mehr Verkehr Die Spitzenverbände der deutschen tung, hält nichts von den IRU-Plänen. Wirtschaft befürchten den „Zusam- Der Grund für die Einschränkungen: Eine neue Zollregelung sorgt künftig menbruch des Straßengüterverkehrs Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs für noch mehr Lastwagenverkehr auf mit den osteuropäischen Ländern“. nutzen Betrüger den problemlosen Deutschlands Straßen. Das sogenann- Die Änderungen, heißt es in einem ge- Grenzübertritt im T.I.R.-Verfahren te T.I.R.-Verfahren (Transport Inter- meinsamen Schreiben an die IRU, be- zunehmend für Schmuggelfahrten. national Routier), das bislang den Spe- deuteten „faktisch das Ende“ des Nun sollen schärfere Kontrollen an diteuren aufwendige Kontrollen an wenigen Orten den Miß- den Grenzen erspart hatte, wird dra- brauch eindämmen. stisch eingeschränkt. Beharrt die IRU auf ihren Vom 1. September an will die Genfer Plänen, können Wirtschaft International Road Transport Union und Regierung wenig aus- (IRU) die Abfertigung in den 54 Mit- richten. Denn die Genfer gliedstaaten der T.I.R.-Konvention Organisation hat ein einfa- auf wenige Zollstellen begrenzen. In- ches Druckmittel: Fahren nerhalb Deutschlands sollen Lkw Transporteure nicht die künftig nur noch 10 Zollämter anfah- vorgeschriebenen Zollstel- ren dürfen. Derzeit können die Truk- len an, erhalten sie schlicht ker ihre Ladung bei 440 Ämtern ver- keine T.I.R.-Papiere – und zollen. Die Folgen: Nun werden Lkw müssen sich fortan wieder

erst den Umweg zu einer der verblie- T. HEIMANN an jeder Grenze kontrollie- benen Zollstellen nehmen müssen, die Lastwagenstau bei Frankfurt an der Oder ren lassen.

16 DER SPIEGEL 34/1995 .

DEUTSCHLAND

Staatsdiener „Reykjavik wäre ein schöner Ort“

Der Berliner Professor Ulrich Battis, SPIEGEL: Und wenn er sich weigert? 51, Experte für Beamtenrecht, über Battis: Dann wird ihm das Gehalt ge- den Fall des frühpensionierten strichen. Diplomaten Jürgen Sudhoff SPIEGEL: Sudhoff würde als Daimler- Vertreter die guten Kenntnisse nutzen, SPIEGEL: Das Auswärtige Amt prüft, die er in Paris erworben hat. Ist das zu- REUTERS ob der aus Gesundheitsgründen in den lässig? Geschmuggeltes Plutonium vorzeitigen Ruhestand versetzte Bot- Battis: Vor zwei Jahren durfte ein ehe- schafter Jürgen Sudhoff jetzt als Re- maliger Staatssekretär im Verteidi- Plutonium-Affäre präsentant des Daimler- gungsministerium nicht Benz-Konzerns arbeiten Vorstandsmitglied der Dünne Akten darf. Muß Klaus Kinkel Bremer Vulkan-Werft einen Arzt losschicken? bleiben, weil diese auch Die SPD hat der Bundesregierung Battis: Das Gesetz ver- Kriegsschiffe baut. Da „Verzögerungstaktik“ bei der Aufklä- langt nur, daß ein Beam- wurde das Gesetz in sei- rung der Plutonium-Affäre vorgewor- ter sich im Verdachtsfall ner ganzen Härte ange- fen. Mehr alszwei Monate nach den Be- untersuchen lassen muß. wandt. Auch bei Sudhoff weisbeschlüssen, rügte der SPD-Ob- Das bedeutet: Wenn der müßte sorgfältig geprüft mann Hermann Bachmaier letzte Wo- Dienstherr Mißbrauch werden, ob Unverein- che den CSU-Vorsitzenden des parla- vermutet, muß er tätig barkeit vorliegt. Auf den mentarischen Untersuchungsausschus- werden. Ich kann mir ersten Blick spricht mehr ses, seien zentrale Akten des Kanzler- nicht vorstellen, daß dafür als dagegen. Daim- amtes, der Münchner Staatsanwalt- Daimler-Benz jemanden ler hat ihn doch in Paris schaft und des Bundesnachrichtendien- einstellt, der arbeitsunfä- eingestellt, weil er vor- stes noch immer nicht beim Ausschuß

hig ist. F. DARCHINGER her dort tätig war. eingetroffen. Der größte Teil der bis- SPIEGEL: Wenn Sudhoff Battis SPIEGEL: Rund 40 Pro- lang übergebenen Akten stammt aus nicht so krank ist, wie er zent der Staatsdiener diesem Jahr. Nur 70 Blatt der Unterla- sagt, kann Kinkel ihn dann zurück in scheiden vor dem 65. Geburtstag aus gen datieren aus der Zeit vor dem spek- den Staatsdienst beordern? dem Dienst aus. Macht das Beamten- takulären Fund des im August 1994 aus Battis: Das liegt in seinem Ermessen. Dasein so krank? Rußland eingeschmuggelten Plutoni- Aber im Fall Sudhoff drängt sich die Battis: Häufig sind es die Politiker ums. Dabei sei es „kein Geheimnis“, so Lösung geradezu auf: Wenn der Mann selbst, die politische Beamte in den Bachmaier, „daß es zwischen dem Bun- nicht mehr so krank ist, kann er ja auf teuren vorzeitigen Ruhestand schik- deskanzleramt und dem Bundesnach- einem weniger anstrengenden Posten ken, statt sie auf anderen Posten einzu- richtendienst spätestens ab dem 25. Juli tätig werden, als es Paris ist. Reykjavik setzen. Wenn das Beamtenrecht end- 1994 eine sehr rege Kommunikation zur wäre doch ein schöner Ort. Und sein lich mal angewandt würde, könnte ei- Frage des Plutonium-Deals gegeben altes Gehalt würde ihm auch gezahlt. ne Menge Geld gespart werden. hat“.

Bundeskriminalamt sein Wer „die Ellenbogen am gekonntesten einsetzt“, wer „schleimt und buckelt auf Teufel komm raus“, ja sogar „über Leichen geht“ – der habe, spekuliert Kriminalhauptkommissar Arno Falk vom Bundeskriminalamt (BKA), in der Wiesbadener Behörde die besten Aufstiegschancen. Falks Einschätzun- gen, abgedruckt im Monatsblatt der Gewerkschaft der Polizei, gipfeln im Vorwurf, der Schlager der Popgruppe Die Prinzen „Du mußt ein Schwein sein“ sei „mitten aus dem BKA-Leben gegriffen“. Das Amt, in dem seit der Terroristenjagd von Bad Kleinen im Juni 1993 das Betriebsklima von Miß- trauen geprägt ist, fühle sich, so BKA- Sprecher Willi Fundermann, „von den

hypothetischen Ausführungen in dem S. MORGENSTERN Artikel nicht angesprochen“. Wiesbadener BKA-Gebäude

DER SPIEGEL 34/1995 17 .

PANORAMA

Deserteure übersandte der rechtspolitische Grü- nen-Sprecher Volker Beck den ande- Von Anfang an ren Parteien jetzt einen „Vorschlag für einen interfraktionellen Gesetzent- Die Fraktion von Bündnis 90/Die Grü- wurf“. nen im Bundestag will ein unwürdiges In seinem Papier berücksichtigt Beck Politgezerre beenden, unter dem eine auch Wünsche der CDU, die gegen ei- Gruppe von NS-Opfern 50 Jahre nach ne pauschale Aufhebung der Terrorur- Kriegsende immer noch leidet: den teile eintritt. Begründung der Union: Streit um die Rehabilitierung von Ver- Manche Fahnenflüchtige seien in Tat- urteilten durch die nationalsozialisti- einheit mit der Desertion auch wegen sche Militärjustiz. anderer Straftaten bis hin zum Mord Nahezu 50 000 Todesurteile hatten Mi- verurteilt worden. litärgerichte gegen Deserteure, Kriegs- Becks Vorschlag: Wenn die Begleittat dienstverweigerer und sogenannte von „untergeordneter Bedeutung“ Wehrkraftzersetzer verhängt. Bis zu war, soll vermutet werden, daß der 25 000 dieser Urteile wurden voll- Delinquent zu Unrecht verurteilt wur- streckt. Zudem kam eine unbekannte de; er hätte dann als Verfolgter An- Zahl Verurteilter im KZ, Zuchthaus spruch auf Entschädigung. Beispiel:

und Strafbataillon um oder erlitt dort J. PIEKALKIEWICZ Fahnenflucht in einem gestohlenen bleibende Schäden. Durch SS erhängter deutscher Soldat (1945) Wehrmachtsauto. Ein gutes halbes Jahrhundert nach En- Anders als die Grünen sind sich die de des Hitler-Kriegs gibt es noch 300 stande, den Dauerstreit über diese Op- Koalitionsparteien und die SPD noch bis 400 Überlebende und eine größere fer der militärischen Terrorjustiz zu nicht schlüssig, ob die Entschädigung Anzahl von Hinterbliebenen. Doch beenden. Um wenigstens das drängen- statt durch ein Gesetz auf dem Verwal- der Bundestag sah sich bislang außer- de Entschädigungsproblem zu lösen, tungsweg geregelt werden soll.

DLRG Minister als Retter Der Deutschen Lebens-Rettungs-Ge- sellschaft (DLRG) ist nach einer In- tervention des Stuttgarter Innenmini- sters – und früheren DLRG-Justitiars – Frieder Birzele (SPD) bei Finanz- minister Gerhard Mayer-Vorfelder (CDU) eine Steuerschuld von fast 700 000 Mark erlassen worden. Die Summe resultiert zum großen Teil aus Mehrwertsteuererstattungen, die sich der Verein vom Finanzamt hatte auszahlen lassen – zu Unrecht, wie ein Finanzbeamter 1992 feststellte. Er forderte den Betrag zurück. Nun prüft die Staatsanwaltschaft Stuttgart, die schon gegen 30 Funk- tionäre wegen Untreue und Betrugs ermittelt, ob sich DLRG-Verantwort-

H. SCHÜTZ liche die Erstattungen mit falschen Geschändete Fechter-Gedenkstätte Angaben „erschlichen“ haben. Sie dehnte deshalb die Ermittlungen auf Extremisten Täter hatten in der Nacht zum 10. Au- den Verdacht der Steuerhinterzie- gust das Fechter-Holzkreuz abgesägt hung aus. Radikaler Wessi-Jargon und einen NVA-Stahlhelm am Tatort Offenbar haben einige Funktionäre zurückgelassen. Anschließend hatte ei- sich auch an DLRG-Geldern berei- Der Anschlag auf das Gedenkkreuz zu ne „Brigade Rosa Luxemburg der chert, etwa über gefälschte Spesenab- Ehren des DDR-Flüchtlings Peter Neuen Volksarmee der DDR“ sich zu rechnungen oder die Verquickung Fechter, der 1962 in Berlin von ost- dem Anschlag bekannt und erklärt, es von Privat- und Vereinsgeschäften. deutschen Grenzsoldaten erschossen sei nicht hinnehmbar, „daß unsere Manche Lebensretter wie der frühere worden war, geht vermutlich auf das Identität als DDR-Bürger vernichtet“ Technische Leiter des Landesverban- Konto von West-Berliner Linksextre- werde. Kittlaus aber hält es „aufgrund des Württemberg trieben einen Han- misten. des linksradikalen Wessi-Jargons“, der del mit Rettungsbedarf und beliefer- Manfred Kittlaus, Leiter einer polizei- den Gesamttext durchzieht, für „äu- ten die DLRG. Bisweilen tauchten lichen Sonderermittlungsgruppe in ßerst unwahrscheinlich“, daß hinter die Güter in den Inventarlisten gar Berlin, bestätigte, daß „in dieser Rich- dem Anschlag tatsächlich Ostdeutsche nicht auf – aus Versehen, wie die tung ermittelt“ werde. Unbekannte stecken. Verantwortlichen jetzt beteuern.

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Statt Partei „Enorm unwürdiges Schauspiel“ Im Mai dieses Jahres machte Ham- burgs sozialdemokratischer Bürger- meister Henning Voscherau eine über- raschende Ankündigung: Seinen Re- gierungspartner, die Statt Partei, wer- de es nach der nächsten Bürgerschafts- wahl 1997 im Hamburger Parlament „wohl nicht mehr geben“. Doch so lange will die seit zwei Jahren mitregierende Statt-Truppe um ihren Gründer Markus Wegner offenbar nicht warten. Vergangene Woche erst kündigte der von Statt nominierte par- teilose Justizsenator Klaus Hardraht seinen Wechsel als Minister ins sächsische Innen- ministerium an. Har- drahts Abzug, so ge- steht der Chef der Statt-Gruppe im Ham- burger Parlament, Achim Reichert, sei nicht zuletzt auf das „enorm unwürdige Schauspiel“ zurückzu-

K. KARWASZ führen, mit dem die Hardraht Statt-Abgeordneten seit Wochen die Fünf- Stimmen-Mehrheit des Regierungs- bündnisses mit der SPD gefährden: Mitte Juni bereits verließen Wegner und sein Kollege Klaus Scheelhaase die Fraktion, weil sie wegen fortgesetz- ter Stänkerei von ihren Kollegen ge- rüffelt wurden. Wenig später forderte Reicherts Rest- gruppe die Partei auf, Wegner und Scheelhaase rauszuwerfen. Doch der Parteivorstand traute sich nicht, den – zumindest bei Unbeteiligten – belieb- ten Statt-Gründer zu verbannen. Drei Statt-Abgeordnete kündigten daraufhin ihren Parteiaustritt an, soll- ten Wegner und Scheelhaase in der Partei bleiben. Mittlerweile wird auch Voscherau ner- vös: Die Albernheiten der Statt Partei gingen ihm gewaltig „auf die Nerven“. Vergangene Woche schlug der Abge- ordnete Scheelhaase sogar den Polit- Irrwisch Wegner als neuen Justizsena- tor vor. Am kommenden Wochenende soll nun die auf 400 Mitglieder geschrumpfte Statt-Basis über das Schicksal von Scheelhaase und Wegner abstimmen – und damit auch darüber, ob ihre letz- ten Abgeordneten in der Statt Partei bleiben oder gehen. Reichert gibt sich entschlossen: „Entweder die Partei be- wegt sich, oder wir tun es.“ .

PANORAMA

Psychotherapeuten Selbst ist der Patient Nach der Sommerpause will Bundes- gesundheitsminister Horst Seehofer ei- nen neuen Entwurf für ein Psychothe- rapeuten-Gesetz vorlegen. Darin soll definiert werden, welche Ausbildung nötig ist, damit sich jemand „Psycholo- gischer Psychotherapeut“ nennen und seine Dienste bei den Krankenkassen abrechnen darf. Der Seehofer-Plan sieht zudem eine Selbstbeteiligung der Patienten von mindestens zehn Pro- zent (etwa zehn Mark pro Therapie- stunde) vor. Über ein Psychotherapeu- ten-Gesetz wird schon seit 17 Jahren folgenlos debattiert. Die Betroffenen regeln die Abrechnung bislang eigen- ständig. Anfang des Jahres hat der Deutsche Psychotherapeutenverband mit den Innungs- und Betriebskran- kenkassen (zwölf Millionen Versicher-

G. FISCHER / BILDERBERG te) eine Kostenerstattung ohne Selbst- Kindergarten beteiligung ausgehandelt – aber nur für Kindergartenplätze vom Verband überprüfte Psychologen. Verärgert über diese Vereinbarung, droht Seehofer damit, sein Ministeri- „Eine Flut von Klagen“ um werde die großzügige Regelung als Aufsichtsbehörde für ungültig erklä- Der Präsident des Deutschen Seiler: Neue Plätze entstehen dadurch ren. Städtetages, Gerhard Seiler (CDU), nicht, die Kommunen hätten zusätzlich über den Rechtsanspruch auf einen die Verfahrenskosten am Hals. In den Kindergartenplatz ab 1996. Seiler, 64, Kindergärten müßten vielleicht 28 statt Diplomatie ist Oberbürgermeister von Karlsruhe. 22 Kinder in eine Gruppe gesteckt werden. Eine vernünftige Betreuung Signal an Belgrad SPIEGEL: Familienministerin Claudia wäre nicht mehr möglich. Nolte hat den Eltern nahegelegt, im SPIEGEL: Gibt es eine Alternative? Bonn knüpft wieder auf höherer Ebe- kommenden Jahr einen Kindergarten- Seiler: Der Bundesrat hat im Juli in ei- ne Kontakte zu Belgrad. Nach drei platz notfalls einzuklagen. Wird es nun ner Entschließung die sogenannte Jahren diplomatischer Quarantäne we- tatsächlich zu Gerichtsverfahren kom- Stichtagsregelung verlangt. Danach gen des Balkankrieges wurde der Ge- men? soll der Anspruch nur für Kinder gel- schäftsträger Rest-Jugoslawiens am Seiler: Mein Respekt vor dem Amt ei- ten, die bis zum August eines Jahres Rhein, Zoran Jeremic´, im Auswärti- ner Bundesministerin verbietet mir zu gen Amt von Staatssekretär Peter sagen, was ich davon halte, wenn Frau Hartmann (CDU) zu einem Gespräch Nolte jetzt die Eltern gegen die Kom- empfangen. Belgrads Mann warb um munen aufruft. Nun rollt eine Flut von Hilfe für die serbischen Kriegsvertrie- Klagen auf uns zu, die Rechtsanwälte benen. Dafür stellte Bonn unterdessen reiben sich schon die Hände. Und das dem serbischen Roten Kreuz und an- wegen eines Gesetzes, das zwar der deren karitativen Organisationen vier Bund beschlossen hat, das aber die Millionen Mark zur Verfügung. Diese Kommunen ausführen und bezahlen humanitäre Geste soll offenbar eine müssen. politische Annäherung fördern. Seit SPIEGEL: Der Beschluß, ab 1996 einen der schnellen Anerkennung Kroatiens Kindergartenplatz zu garantieren, ist und Sloweniens Ende 1991 durch die von 1992. Sie hatten doch genügend Bundesrepublik waren die Beziehun- Zeit. gen zwischen Bonn und Belgrad prak- Seiler: Ich bitte Sie: Ein neuer Kinder- tisch eingefroren. Serbiens Präsident

gartenplatz kostet rund 35 000 Mark. DPA Slobodan Milosˇevic´ hatte in den ver- Macht bei 600 000 fehlenden Plätzen Seiler gangenen Monaten mehrfach seine Be- rund 21 Milliarden. Woher sollen wir reitschaft zur Normalisierung des Ver- die nehmen? Vom Bund bekommen drei Jahre alt geworden sind. Uns wür- hältnisses signalisiert, doch Bonn setz- wir nichts. Viele Städte können nicht de diese vernünftige Regelung um ei- te bislang im Rahmen der Bosnien- einmal mehr die Zinsen für ihre Schul- nen halben Jahrgang entlasten. Wenn Kontaktgruppe, die sich um eine Frie- den bezahlen. der Bundestag sich dem anschließt, denslösung in Ex-Jugoslawien bemüht, SPIEGEL: Was geschieht, wenn die El- wäre den Kommunen schon sehr ge- auf Kroatien und die bosnischen Mos- tern ihre Prozesse gewinnen? holfen. lems.

20 DER SPIEGEL 34/1995 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND

Multimedia „Das Ding der Zukunft“ Mit der Funkausstellung, die Ende dieser Woche startet, rückt der Beginn des digitalen Zeitalters ins Bewußtsein der Deutschen. Die Industrie hofft auf einen gigantischen Wachstumsmarkt. Milliarden wurden in die neue Multimedia- Welt investiert. Die bisherigen Ergebnisse sind eher ernüchternd: Der Konsument muß erst noch begeistert werden.

s war wie ein Goldrausch. Kaum Mega-Markt zusammenwachsen (siehe kundig ihre wahre Kraft. Politiker ha- waren die Aktien der Softwarefir- Grafik Seite 25). ben längst aufgeregt Witterung aufge- Ema Netscape Anfang August auf Nun werden die Claims abgesteckt im nommen, Manager legen Hand an, und dem Markt, da schoß der Kurs in die Wachstumsmarkt der Zukunft. Alle das Volk schaut, je nach Temperament, Höhe – von 28 auf 75 Dollar. Eine sol- wollen sie dabeisein, die Elektronik- aufmerksam bis skeptisch zu. Es geht che Kaufhysterie hatte die New Yorker und die Computerfirmen, die Medien um die Zukunft, es geht um Jobs. Wall Street lange nicht mehr erlebt. und die Anbieter von Telekommunika- Binnen weniger Jahre soll sich der Die Firma Netscape, um die es ging, tion. Fast täglich berichtet die Wirt- Umsatz von jetzt rund 300 Milliarden hat bis heute noch nicht einen Pfennig schaftspresse über neue Allianzen und Mark vervielfachen. Keine Zahl ist den Gewinn erwirtschaftet. Nun wurde ihr über neue Milliarden-Investitionen. Experten zu groß. Und keiner lacht, Mitbegründer, der 24jährige Marc L. Die neue industrielle Revolution, das wenn der technikverliebte frühere Andreesen, über Nacht um 58 Millio- Computerzeitalter, entfaltet nun offen- Apple-Chef John Sculley behauptet, nen Dollar reicher. Andreesen hat das Softwarepaket „Netscape Navigator“ entwickelt, das eine besonders einfache Steuerung im weltweiten Computernetzwerk Internet ermöglicht. Nicht wenige Anleger pro- phezeien dem Studenten Andreesen ei- ne ähnlich steile Karriere wie Bill Gates, jenem Wunderknaben der mo- dernen Zeit, der es mit seiner Soft- warefirma Microsoft inzwischen zum reichsten Mann der Welt gebracht hat. Leute wie Gates und möglicherweise Andreesen sind die Helden im begin- nenden Multimedia-Zeitalter, das Ma- nager und Anleger zunehmend faszi- niert – zumindest in den USA. In Deutschland dagegen hält sich die Be- geisterung noch in Grenzen. Das könnte sich bald ändern. Am kommenden Samstag beginnt in Berlin die Internationale Funkausstellung (IFA), und sie soll, sagt Telekom-Chef Ron Sommer, „zur Eröffnungsfeier für das multimediale Zeitalter werden“. Dann, so hoffen die beteiligten Fir- men, wird die Euphorie, die Amerika- ner beim Wort Multimedia erfaßt, end- lich auch auf Deutschland überschwap- pen. Die Hersteller von Fernsehern und Satellitenschüsseln, Camcordern und Hi-Fi-Geräten, Videorecordern und Autoradios werden, so Siemens-Mana- ger Rüdiger Nickel, mit einer „Flut von Innovationen“ aufwarten. Erstmals sind auch Computer- und Softwarepro- duzenten, Telefongesellschaften und Handy-Hersteller in Berlin dabei: Die bislang recht klar getrennten Märkte und Branchen werden künftig zu einem TV-Geräte-Angebot im Handel: Schon jetzt hält sich bei den Deutschen die Lust auf

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schon in fünf Jahren werde der Umsatz Schon im Oktober schießt das Luxem- Zuschauer in den USA nicht selten weit mit Multimedia auf vier Billionen Dollar burger Unternehmen Socie´te´ Euro- über 40 Mark. Das „Ding der Zukunft“, –mehr alsdie Hälfte des heutigen Brutto- pe´enne des Satellites den ersten digitalen da sind sich alle mit Bertelsmann-Chef sozialprodukts der USA – ansteigen. Himmelskörper Astra 1E inden Orbit; er Mark Wössner einig, „ist Pay-TV“. Die Möglichkeiten der schönen neuen sendet im Frühjahr. Bis 1997 gehen zwei Aber Multimedia bietet viel mehr als Multimedia-Welt scheinen unerschöpf- weitere digitale Astra-Satelliten hoch. nur TV satt: Telespiele aus der Telefon- lich. In Berlin werden viele erstmals dem Wasdann aufdieViel- und Gern-Seher leitung etwa oder Online-Dienste (siehe Publikum präsentiert, schon bald sollen zukommt, zeigt der Münchner Fernseh- Seite 24), mit denen sich der Zuschauer sie in vielen Wohnungen zum Alltag ge- unternehmer und Filmgroßhändler Leo Shakespeares gesammelte Werke imOri- hören: 200, 300oder auch 500TV-Kanäle Kirch in Berlin. Neben zwei Kinderkanä- ginaltext auf den Monitor holen oder Bill werden per KabeloderSatellitauf Bestel- len und dem Dokumentationsprogramm Clinton im Weißen Haus (Internet- lung Filme liefern und Nachrichten oder „Documania“laufen bei Kirch Spitzenfil- Adresse: http://www.whitehouse.gov) Wetteransagen rund um die Uhr bieten. me wie „Forrest Gump“, „Star Trek: Ge- einen digitalen Gruß abstatten kann. Die digitale Sendetechnik, entwickelt nerations“ oder „Naked Gun 33 1/3“. In Amerika nutzen schon jetzt 25 Mil- voneuropäischen Ingenieuren, macht die Sportfans können sich ihre bewegte lionen Bürger regelmäßig Online-Dien- Bilderflut möglich. Ausgeklügelte Kom- Lieblingsware selbst aussuchen: Sat 1 of- ste, in Frankreich hängen 6,5 Millionen primierungsverfahren, die den gewalti- feriert ein Fußballspiel freier Wahl, beim Kunden am Netz von Minitel. Nur die gen Wust der digitalen Daten immens re- Deutschen Sportfernsehen zeigen sechs Deutschen hinken hinterher: T-Online, duzieren, erlauben es künftig, über einen Kameras ein Tourenwagen-Rennen aus früher Btx genannt, wartet immer noch Kanal bis zu zehn weitere Programme zu unterschiedlichen Perspektiven. Per auf den millionsten Teilnehmer. schicken. Fernbedienung kann der Zuschauer ent- Als Leitbild dient den TV-Strategen Darunter leidet dann zwar die Bildqua- scheiden, mit welcher Kamera er das nicht mehr dieFamilie vor dem Pantoffel- lität, denn die hängt davon ab, wie viele Rennen verfolgen will. kino, sondern ein informationshungri- Programme die Anbieter in einem Kanal Die Bilderflut kommt nicht umsonst. ger, solventer und unterhaltungssüchti- zusammenquetschen. Wird die gesamte Wer dabeisein will, muß zahlen. Für Pri- ger Medienkonsument, der sich per Kapazität für nur ein Programm genutzt, vatsender, die sich allein mit Werbung fi- Fernbedienung allein durchs Fernseh- sindgestochen scharfe Bilder in Kinoqua- nanzieren, ist in den Zukunftsszenarien leben zappt: Nach einer Nachrichtensen- lität möglich. Doch der Trend heißt:Mas- der Medienmanager wenig Platz. Für dung informiert er sich in einem elektro- se statt Klasse. spektakuläre Sportereignisse zahlen die nischen Lexikon, bummelt dann ineinem L. FISCHMANN / GRÖNINGER immer mehr Fernsehen in Grenzen

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virtuellen Kaufhaus und bestellt einen Pay-Spielfilm, klickt eine CD-Rom an und bezahlt zum Schluß noch seine Rechnungen per Telebanking. Shopping und Spiele Auch Dienstleistungs- und Handels- firmen wittern ein neues Geschäft. In Die Medien-Konzerne entdecken das Online-Geschäft England bietet ein Kreditinstitut bereits den „Armchair Banking Service“ an, der es dem Kunden ermöglicht, sich in n den Online-Diensten sehen viele Sport, anbieten. Eine 15köpfige ex- einer individuellen Videokonferenz vom Branchenkenner das Medium der terne Nachrichtenredaktion will noch häuslichen Sessel aus durch seine Bank IZukunft: Sie bringen über einen aktueller sein als das Inforadio Bay- beraten zu lassen. PC, der per Modem an das Telefon- ern 5, das viertelstündlich seine News Schon haben Versandhändler wie Ot- netz angeschlossen wird, Informatio- verbreitet. Einen Teil steuert wohl to oder Quelle ihre dickleibigen Katalo- nen und Dienstleistungen aus aller der Axel Springer Verlag bei, der die- ge in computerfreundliche Bits und Welt ins Haus. se Woche Anteile von Europe Online Bytes zerlegt. Zwar ist das Angebot erst Schon jetzt ist der Markt in übernehmen will. Dafür steigt wo- auf CD-Rom verfügbar, doch schon Deutschland gut besetzt: 850 000 möglich das englische Verlagshaus bald können Versender ihr Angebot Kunden tätigen auf dem früheren Pearson (Financial Times) aus. auch online offerieren. Bildschirmtext der Telekom (dem- Die ehrgeizigen deutschen Wett- Die Technik, so wollen die Ingenieure nächst: T-Online) meist Bankge- streiter hoffen auf ähnliche Wachs- glauben machen, setzt der Phantasie schäfte; der US-Anbieter Compu- tumsraten wie die amerikanischen keine Grenzen mehr. Selbst der alte serve, auf dem auch Presseobjekte Online-Dienste. Dort verzehnfachte Traum vom flachen Bildschirm, der wie wie der SPIEGEL ver- America Online seine ein Bild an der Wand hängt, wird in treten sind, bietet Dis- Abonnentenzahl inner- Berlin Realität. kussionsforen und Infor- halb zweier Jahre auf Gleich zwei Firmen wollen mit ihren mationen. Und auch das drei Millionen. Haupt- Geräten die „Fernsehrevolution“ einlei- weltweit gewaltig expan- grund: eine Reihe von ten. Und erstmals seit langem hat wie- dierende Internet, ein Gesprächsforen, etwa der eine deutsche Firma die Chance, noch nicht kommerziel- mit Golfern, Esoteri- les Netzwerk von Unter- kern, Schwulen und Les- nehmen und Universitä- ben. Neue Programme und ten, findet in Deutsch- Nun wartet die ganze Angebote sollen land immer mehr An- Branche auf Bill Gates, hänger. dessen Konzern Micro- die Kauflust anheizen

Nun wollen auch die B. SMITH / OUTLINE soft den Weltmarkt für großen Konzerne in das Gates Computer-Software be- beim Rennen um den Fernseher der Zu- zukunftsträchtige Ge- herrscht. Sein eigener kunft ganz vorn dabeizusein. schäft einsteigen. In Deutschland Online-Dienst, der in Kürze starten Die Allgäuer Firma Schneider hat ei- bauen die Verlage Bertelsmann wird, läßt sich ganz leicht über Mi- nen TV-Empfänger entwickelt, der ganz und Burda eigene Dienste auf, von crosofts neues Programm Windows ohne Bildröhre auskommt. Per Laser- den USA aus versucht der Soft- 95 anklicken. strahl wird das Bild wie bei einem Dia- ware-Unternehmer Bill Gates Diese Verbindung zwischen Soft- projektor in jeder beliebigen Größe an (Microsoft) den Weltmarkt zu er- ware und elektronischer Verlegerei die Wand geworfen. Die Technik funk- obern. beschäftigt die Kartellwächter in den tioniert, allerdings wird es noch minde- Der Medienriese Bertelsmann USA und in Europa. Sie fürchten stens drei Jahre dauern, bis das Heimki- will seinen Online-Dienst im Diskriminierungen der Wettbewer- no für Privatkunden erschwinglich ist. Herbst starten und via Computer ber. Näher an der Realität ist der japani- junge Familien mit elektronischer Gates, schimpft Bertelsmann-Ma- sche Elektronikriese Sony mit seinem Unterhaltung versorgen. Geplant nager Thomas Middelhoff, beginne Plasmatron-TV, einer Technik, die So- sind Spiele, Teleshopping, Ge- Medieninhalte aufzukaufen und ny in den USA eingekauft hat. Bereits sprächsforen, Auszüge aus Zeit- könne so eine „Gefahr für alle Ver- im nächsten Jahr soll der nur knapp vier schriften und Lexika sowie spezielle lagsunternehmen“ werden. Beim Zentimeter dicke Bildschirm (Gewicht: Dienstleistungen, etwa für Geldge- CNN-Chef Ted Turner etwa will der 1,7 Kilo) im Format von 60 mal 38 Zen- schäfte oder Reisebuchungen. So- Software-Tycoon ein bis zwei Milli- timetern zu kaufen sein. gar Online-Klassenräume mit pro- arden Dollar investieren, im Gegen- Wer’s größer mag, muß zwar weiter- fessionellen Lehrern soll es geben. zug sollen CNN-Inhalte in das Mi- hin in die Röhre schauen. Doch der fast Zeitgleich mit Bertelsmann will crosoft-Netz einfließen. Freiwillig je- quadratische Kasten ist künftig bei na- der Münchner Verleger Hubert doch haben sich bereits 70 Printfir- hezu allen Firmen auch im sogenannten Burda (Bunte, Focus) zusammen men mit Gates eingelassen, in Breitbildformat (16:9) zu haben. Die bis mit Partnern Europe Online auf Deutschland etwa die Schulbuchver- zu 150 Kilogramm schweren Kisten ha- den Markt bringen. Bis zur Jahr- lage Klett und Cornelsen. ben allerdings ihren Preis. Für größere tausendwende will er, so wie Ber- Die Nachfrage in Deutschland Geräte muß der Käufer 4500 Mark und telsmann, eine Million Mitglieder wird sich allerdings noch einige Zeit mehr zahlen, Spitzenmodelle kosten bis erreichen. in engen Grenzen halten: Erst vier zu 10 000 Mark. Bei Burda sollen 50 Mitarbeiter Prozent der deutschen Haushalte ha- Noch ist nicht entschieden, ob am En- der Online-Redaktion Stoffe in ben einen PC, der sich mit dem Tele- de der Fernseher oder der Monitor des zwölf Ressorts, von Wirtschaft bis fonnetz verbinden läßt. Computers das Guckloch in die interak- tive Datenwelt sein wird. Um entschei- dungsschwache Käufer nicht zu verprel-

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len, hat Siemens das Allroundgerät ent- wickelt. Der „Multimedia-Star“ des Münchner Elektronikkonzerns (Werbe- slogan: „Ab jetzt ist alles drin!“) ist Fernseher und Personalcomputer in ei- nem. Zum stolzen Preis von 4300 Mark bekommt der Käufer allerdings noch nicht die neueste Technik. Anders als die Hersteller von Handys oder Computern sind die Firmen der Unterhaltungselektronik in den vergan- genen Jahren nicht mit Wachstum ver- wöhnt worden. Seit drei Jahren schon schrumpfen die Umsätze mit Fernse- hern, Video- und Hi-Fi-Geräten. Der Markt ist weitgehend gesättigt. In nahezu jedem Haushalt steht minde- stens ein Fernseher, 80 Prozent besitzen eine Stereoanlage, zwei Drittel einen Videorecorder. Nun sollen die neuen Programme und Serviceangebote die Kauflust der Ver- braucher endlich wieder anheizen. Denn ohne einen speziellen Decoder,

der die vielen Daten entschlüsselt, die ULLSTEIN künftig über Kabel und Satellit verbrei- TV-Familie (1956): „Euphorie ist fehl am Platz“ tet werden, läuft gar nichts. Die High- Tech-Boxen, die im Handel etwa 1500 Amerika seit Jahren Schmuck und Tex- Million Kunden hat der einzige deutsche Mark kosten werden, verbinden TV- tilien über den Äther verkaufen, plagen Pay-TV-Sender Premiere in den vergan- Apparat, Personalcomputer, Drucker, sich noch immer mit dürftigen Margen genen fünf Jahren für sein Programm Hi-Fi-Geräte, Spielkonsolen, CD-Play- und hohen Retourquoten. (Monatsgebühr: 44,50 Mark) gewinnen er, Videorecorder und Telefon. „Wo ist die Zielgruppe?“ fragt sich können. Um die Vorherrschaft über diese ein Philips-Manager aus Hamburg. „Die Die Erfahrungen der ersten Pilotver- „Drauf-Setz-Box“ (SPD-Medienpoliti- nötige Zeit haben doch nur Arbeitslose, suche stimmen viele Branchenkenner ker Peter Glotz) und die künftigen tech- aber die haben nicht das Geld, um dau- eher skeptisch. Ob im englischen Kes- nischen Standards liegen zwei Gruppie- ernd vor der Glotze zu hängen und Pay- grave oder in Orlando (Florida), in rungen in erbittertem Streit. Der Deut- TV zu gucken.“ Hamburg oder in Stuttgart, überall lie- sche Leo Kirch hat sich für seine „dBox“ Schon jetzt hält sich bei den Deut- gen die Mediengiganten weit hinter ih- mit dem Südafrikaner Johann Rupert schen die Lust auf immer mehr Fernse- ren großspurigen Ankündigungen zu- und der finnischen Elektronikfirma No- hen in Grenzen. Obwohl sich die Zahl rück. kia liiert. Auf der Gegenseite ballen sich der Kanäle in den vergangenen zehn Die amerikanische Telefongesell- die Telekom, die luxemburgische CLT Jahren verzehnfachte, stieg der durch- schaft Bell Atlantic etwa hatte vor zwei sowie ARD, ZDF, RTL und der franzö- schnittliche Fernsehkonsum nur um Jahren den Kunden in ihrer Region ver- sische Canal Plus zu einer Allianz. Der knapp 20 Prozent. Nicht einmal eine sprochen, schon 1995 könnte jeder sein Sieger aus diesem Kampf hat Video auf Bestellung (on de- wohl auch beim Zukunfts- mand) durchs Kabel bekom- fernsehen die Nase vorn. Treffpunkt Elektronikkonzerne, men. Davon ist nun keine Re- Schon sieht Kirch-Manager Multimedia Softwareanbieter: de mehr. Nach nüchterner Gottfried Zmeck einen Wie unterschiedliche Sony, Philips, Apple, IBM, Analyse der ökonomischen „quantitativen und qualitati- Industriezweige in Microsoft u. a. Daten räumte der Firmenchef ven Sprung im TV-Angebot“. den neuen Me- kürzlich ein, daß er keine Noch ist allerdings längst dien zusammen- Computer, Chance sehe, die gewaltigen nicht klar, ob all der elektro- geführt werden Unterhaltungselektronik Investitionen wieder einzu- nische Schnickschnack, der spielen. demnächst über die Bildschir- Marktforscher der Firma Datenspeicher Netzdienst- me ins Haus kommen soll, (Disketten, leistungen Dataquest schätzen inzwi- vom Publikum auch honoriert CD) schen, daß eine Telefon- oder wird. In den USA etwa, wo MULTIMEDIA Kabelfernseh-Gesellschaft das Pay-TV schon länger ver- pro Haushalt 2500 Dollar in- breitet ist, bestellen die Kun- Unterhaltungs- Telekom- vestieren muß, um Teleshop- den im Schnitt zwei bis programme, Abonnenten- munikation, ping und Filme auf Bestellung drei Filme pro Monat. „Die Bildungspro- und Kunden- Datenüber- liefern zu können. Ursprüng- Leute“, weiß Michael Spind- gramme, betreuung tragung lich war die Branche von 1000 Medien- Nachrichten ler vom Computerkonzern konzerne: Dollar pro Haushalt ausge- Apple, „rennen nach wie vor Walt Disney, Telefongesellschaften: gangen. zu Blockbuster, um Videos Time Warner, AT&T, US West, TCI, MCI Die bisherigen Erfahrun- auszuleihen.“ Viacom, Bertelsmann, (alle USA), British Telecom, gen zeigen: Die Kosten, aber Nicht viel besser ergeht es News Corporation (Murdoch), France Télécom, Veba, auch die technischen Schwie- den Home-Shopping-Anbie- Leo Kirch u. a. Telekom (Deutschland) u. a. rigkeiten wurden weit unter- tern. Jene Firmen, die in schätzt, das Interesse des Pu-

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blikums wurde dagegen gewaltig über- ihrer Büroräume streichen und dadurch sich Multimedia durchsetzen wird. Das schätzt. Überall tun sich die Firmen Kosten in zweistelliger Millionenhöhe Problem für die Elektronikindustrie ist, schwer, genügend Tester zu gewinnen, sparen. Langfristig, glauben Experten, wie schnell sich die neuen Techniken obwohl die Versuchshaushalte meist das lassen sich mit jeder in neue Technik in- etablieren. gesamte Equipment und zum Teil sogar vestierten Mark zwei Mark an Büromie- Viel hängt davon ab, wie gut es der die Dienste umsonst bekommen. ten sparen. Industrie gelingt, die Geräte narrensi- Ist die kommende Multimedia-Welt Wenn 1998 die Monopole der Tele- cher und benutzerfreundlich zu machen. also nur ein Hirngespinst wachstums- kom fallen, werden Dutzende von priva- Denn Multimedia, sagt der Münchner süchtiger Manager? Mit Sicherheit ten Anbietern auf den Markt drängen Medienexperte Rüdiger Funiok, „muß nicht: Auch Skeptiker sehen einen ge- und die Preise drücken. Dann wird sich, auch von technikungewohnten Men- waltigen Markt – aber weniger bei priva- davon ist Multimedia-Experte Garm- schen leicht beherrschbar sein“. ten Konsumenten. hausen fest überzeugt, „die Virtualisie- Noch sind die Computerfirmen, aber Den großen Durchbruch, glaubt der rung von Arbeitsplätzen auch in auch die Elektronikbranche, davon weit Technologieexperte Erich Kiefer, erlebt Deutschland zügig durchsetzen“. entfernt. Nicht einmal 40 Prozent aller die neue Technik in der Kommunikati- Seit Monaten schon läßt der gewiefte Besitzer von Videorecordern, glauben on der Unternehmen. Kiefer: „Es ist Stratege Kirch Mitarbeiter über speziel- Kenner der Szene zu wissen, können ihr viel billiger, schneller und effektiver, Gerät selber programmieren. Gerade nur noch das zu transportieren, was einmal 10 Prozent aller Funktionen ei- prinzipiell nicht in Form von Bits be- Telearbeit wird das nes Komforttelefons, so lautet ein ande- wegt werden kann.“ Leben vieler rer Erfahrungswert der Branche, wer- Besonders stark könnten die Infobah- den wirklich genutzt. nen bei der Telearbeit in das gewohnte Menschen verändern „Euphorie ist fehl am Platz“, meint Leben vieler Menschen eingreifen. deshalb der Saarbrücker Marketingex- Rund 70 Prozent aller Arbeitsplätze in le Nachrichtenkanäle für geschlossene perte Joachim Zentes. Multimedia wer- Deutschland, schätzt der Bonner Multi- Zirkel nachdenken. Ein Ergebnis dieser de sich „eher langsam entwickeln“. media-Unternehmer Thomas Garmhau- internen Planungen: Kirchs „dBox“ Doch Medienunternehmer wie Leo sen, sind nicht an einen bestimmten könnte beispielsweise bei der Personal- Kirch oder der Time-Warner-Chef Ge- Standort gebunden. Dank Computer- schulung des Autokonzerns BMW zum rald Levin wollen sich von den Skepti- und Telekommunikationstechnik könn- Einsatz kommen. Von der Zentrale in kern nicht das Geschäft ausreden las- ten deshalb viele Menschen genausogut München aus, so Kirchs Experten, lie- sen. Sie setzen darauf, daß auch bei an- zu Hause oder an einem beliebigen an- ßen sich über Satellit alle Werkmeister deren Erfolgsprodukten, wie Telefon, deren Standort arbeiten. in den deutschen Niederlassungen sowie Homecomputer oder Handy, zunächst Bei IBM arbeiten schon heute mehr benötigte Mitarbeiter in ihren Wohnun- kein Bedarf gesehen wurde. als 5000 Angestellte, darunter knapp gen verbinden. Dann könnten neue Ma- Levin bemüht deshalb gern die Ge- 400 in Deutschland, ganz oder teilweise schinen oder Montageanleitungen live schichte. Und die, behauptet der Time- von zu Hause aus. Die Auslagerung erklärt werden. Die Kostenvorteile lie- Warner-Chef, „zeigt, daß die Konsu- rechnet sich: Da sich 6 bis 8 Angestellte gen auf der Hand. menten noch nie wußten, was sie eigent- einen Platz im Büro teilen, will die Fir- Der Streit unter Experten geht des- lich wollten – bis sie die neuen Angebo- ma in den nächsten Jahren 20 Prozent halb längst nicht mehr um die Frage, ob te selbst kennenlernten“.

Relais-Satellit TV-Direktsatellit Schöne neue Medienwelt Anwendungen des zukünftigen digitalen Fernsehens Anstelle der herkömmlichen analogen Fernsehübertragung soll der Zuschauer künftig über Kabel oder die eigene Satellitenschüssel digitalisierte Bilder und Töne empfangen. Das schafft in der Übertragung Platz für bis zu zehnmal mehr Programme. Kernstück der künftigen Heimanlage wird dabei die sogenannte Set-Top-Box, die ankommende Signale entschlüsselt und sie an Fernseher oder Hi-Fi-Anlage verteilt.

Digitale Ausstrahlung Computer

Drucker

Fernseher Fernseh- Antennenleitung sender Telefonleitung Set-Top-Box Satelliten- schüssel

Die Nutzerdaten Kabel- werden von der Kopf- Set-Top-Box über Multi-Standard CD-Spieler station die Telefonleitung an den Sender übermittelt und dort abgerechnet. Hi-Fi-Anlage Spielkonsole digitaler Videorecorder

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SPIEGEL-Gespräch „Das wäre blutiger Zynismus“ Joschka Fischer über die Kritik an seinem Bosnien-Papier und den Pazifismus der Grünen

SPIEGEL: Herr Fischer, haben Sie sich schon eine Knarre be- schafft, um demnächst nach Sarajevo zu marschieren? Fischer: Soll ich darauf ernst- haft antworten? SPIEGEL: Das empfiehlt Ihnen Ihr Parteifreund Ludger Vol- mer, der Ihre Bosnien-The- sen „verantwortungslos“ nennt und „mit dicken Backen aufge- blasene symbolische Politik“. Fischer: Ich wollte nach der Eroberung von Srebrenica ei- ne Diskussion, die gibt es jetzt. Und manches wird sich schon bald als Scheinkontroverse er- weisen. SPIEGEL: Immerhin erntete Ihr Plädoyer für den militärischen Schutz der bosnischen Uno- Enklaven viel Lob aus konser- vativen Kreisen. Fühlen Sie sich wohl in der Umgebung von Interventionisten und Bel-

lizisten? J. H. DARCHINGER Fischer: Nein, ich bin nach wie Fischer beim SPIEGEL-Gespräch*: „Ich wollte eine Diskussion, die gibt es jetzt“ vor kein Bellizist. Aber man kann für manchen Beifall nichts. Doch Fischer: Wer das will, soll es offen sa- worden ist, die von den Serben aussor- zur Sache: Bisher haben wir Grünen gen. Das wäre der nackte und blutige tiert wurden. immer argumentiert, daß wir in Bos- Zynismus. Es bedeutet, daß man die- SPIEGEL: Sie brechen mit einem der nien den Uno-Einsatz inklusive Blau- sen Menschen faktisch die Illusion ei- letzten großen Tabus der Linken: jeder helme und Schutzzonen unterstützen. ner Schutzzone gibt bis zu dem Augen- Teilnahme am Krieg. Für Deutschland forderten wir zu blick, wo sie dann von ihren Mördern Fischer: Die Linke hat den Krieg nie Recht eine Beschränkung auf humani- abgeholt werden, wie in Srebrenica ge- absolut abgelehnt: Spanien 1936, Viet- täre Unterstützung. schehen. Noch immer weiß man nicht, nam, Nicaragua sind nur einige Gegen- SPIEGEL: Die Annexion von Srebreni- was aus Tausenden moslemischer Män- beispiele. Ich lehne den Krieg nach wie ca und Zepa machte dieses Schutzzo- ner und heranwachsender Knaben ge- vor als Mittel der Politik ab. Aber in nenkonzept zur Farce. unserem Gründungsprogramm gibt es Fischer: Nach Srebrenica ist der bishe- ein Selbstverteidigungsrecht, sozusagen rige Uno-Einsatz gescheitert, und es Militärischen Schutz die äußerste Notwehr. Und das gilt für gibt nur noch drei Alternativen: die Opfer der grauenhaften Entwick- Wer eintritt für das Konzept der für die Uno-Schutztruppen in Bos- lung im früheren Jugoslawien, wo ein Schutzzonen, muß auch deren militäri- nien forderte Joschka Fischer, der neuer Faschismus zu siegen droht. Das sche Eroberung verhindern. Es kann Fraktionsvorsitzende der Bündnis- bringt uns Grüne in einen Grundwerte- nicht sein, daß Uno-Schutzzonen sich grünen, Ende Juli in einem Brief an konflikt. als Auslieferungsstätten von unbewaff- seine Partei. Der Nuklearpazifis- SPIEGEL: Sie plädieren für die Abkehr neten moslemischen Zivilisten an ihre mus sei die richtige Antwort auf die vom Prinzip der Gewaltfreiheit. Warum Mörder erweisen. „globale Vernichtungslogik gewe- wollen Sie das wegreden? Oder aber: Wenn ich der Meinung bin, sen“, so argumentierte er. Durch Fischer: Ich will das überhaupt nicht das geht nicht, dann muß ich konse- die konventionellen Kriege mitten wegreden, ich möchte nur klarmachen, quent sein und für Abzug und für Be- in Europa aber würden grüne ge- daß es nicht um das Abräumen von waffnung der bosnischen Muslime plä- waltfreie Überzeugungen „bis an Prinzipien geht, sondern um eine kon- dieren. die Grenze des Zerreißens heraus- krete, hochgefährliche Herausforde- SPIEGEL: Die dritte Variante ist: wei- gefordert“. Im SPIEGEL-Gespräch rung. Nach Srebrenica gibt es die Argu- ter so? verteidigt sich Fischer, 47, gegen mentation mit dem Uno-Einsatz, wie vehemente Angriffe aus den Rei- wir ihn bisher kannten, eben nicht * Mit Redakteuren Olaf Ihlau und Paul Lersch an hen der Grünen. mehr. Ich giere doch nicht nach Militär- seinem Urlaubsort in der Toskana. einsätzen, das ist absurd . . .

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SPIEGEL: . . . unter dem Belli- SPIEGEL: Bezweckt Ihr Rundbrief eine zisten-Image scheinen Sie Art emotionale Entlastung angesichts wahrlich zu leiden . . . der Greuelbilder aus Bosnien, die uns Fischer: . . . weil ich von der das Fernsehen Tag für Tag vorführt? politischen Lösungskompetenz Fischer: Wenn in einer solchen Situation von Gewalt letztendlich nicht die Emotion nicht gilt – wann dann? überzeugt bin. Gewalt gebiert Wenn eine demokratische Linke die immer neue Gewalt. Dennoch Sensibilität dafür nicht mehr aufbringt, hängt manchmal an ihr das daß ein neuer Faschismus Uno-Schutz- Überleben. Das ist der Wider- zonen abräumt und unter den Augen spruch. der Weltöffentlichkeit Tausende ver- SPIEGEL: Deutschland hat seit schwinden läßt – ja, meine Güte! Da re- Kriegsende eine Kultur der Zu- den Sie von „Entlastung“? rückhaltung praktiziert. Was SPIEGEL: Würden Sie Ihr Bosnien-Pa- Sie da anpeilen, bedeutet eine pier nach dem Vorstoß der Kroaten in Zäsur. der Krajina anders schreiben? Fischer: Ich möchte die Zäsur Fischer: Ja, Sie haben dort jetzt die eth- gar nicht abstreiten, aber ich nische Säuberung von der anderen Sei- peile da gar nichts an. Die Zäsur te. Die Krajina soll serbenfrei gemacht liegt in der Wirklichkeit des eth- werden, und das ist ein weiteres großes nischen Krieges. Können wir Verbrechen. Das ist der Nationalismus angesichts des Vormarsches ei- in seiner kroatischen Variante, Deutsch- nes neuen Faschismus einfach lands sogenanntem Freund. Aber Sre- zuschauen? Nehmen unsere po- brenica wird dadurch nicht ungeschehen litischen Grundüberzeugungen gemacht und die Notwendigkeit einer nicht Schaden? Da geht es an Antwort darauf auch nicht. die moralische Substanz der SPIEGEL: Wer moralisch argumentiert, deutschen Linken. darf sich nicht nur durch Bosnien auf- SPIEGEL: Militärische Gewalt wühlen lassen. Krieg und Konflikte gibt

unter bestimmten Umständen FOTOS: J. H. DARCHINGER es auch anderswo. also nicht nur zum Schutz von Fischer: Ich argumentiere keineswegs Schutzzonen? „Können wir angesichts des moralisch. Ich argumentiere auf der Fischer: Ich habe nun wirklich Vormarsches eines neuen Grundlage eines bestehenden Uno-Ein- nicht mit lautem Hurra gesagt, satzes. Wenn die Vereinten Nationen wir müssen uns in diesem Fall Faschismus einfach zuschauen?“ nicht in der Lage sind, die Schutzzonen für Gewalt aussprechen. Ich ha- zu schützen, müssen sie das sagen. Dann be meinen ganzen Zwiespalt dargestellt. land wieder zu einer militärisch gestütz- müssen sie aber auch den Menschen die Wir sollten natürlich alles tun, um eine ten Außenpolitik zurückzuführen“? Möglichkeit geben, sich selbst zu vertei- gewaltfreie, zivile Außenpolitik mehr- Fischer: Nicht die deutsche Rechte hat digen. Jedenfalls muß die Lüge von heitsfähig zu machen und durchzuset- Srebrenica auf dem Gewissen. Das wa- Schutzzonen, die keine sind, ein Ende zen. Aber dennoch: Wenn ein aggressi- ren der General Mladic´ und seine Spieß- haben. Ich lasse mir keine generelle Po- ver Nationalismus mit dem großen gesellen, das war nicht das Schlachten an der Zivilbevölkerung be- Versagen, sondern die Lü- ginnt, dann werden wir um die Frage ge des Uno-Schutzzonen- nicht herumkommen, wie wir es mit der Konzeptes. Ich bin nach internationalen Solidarität auch unter wie vor der Meinung, daß dem Gesichtspunkt der Hilfe zum Ei- wir alles tun sollten, damit genschutz halten. dieses durch die Einheit SPIEGEL: Pazifismus ist heutzutage of- wieder sehr groß geworde- fenbar etwas altmodisch geworden. ne Deutschland eine mög- Fischer: Völliger Blödsinn. Ich bin im lichst kleine militärische Gegenteil der Meinung, daß eine ge- Rolle spielt. Davon verab- waltfreie Überzeugung heute dringend schiede ich mich mitnich- not tut, gerade auch in Deutschland. Ei- ten. ne grundsätzliche Abkehr von unserer SPIEGEL: Habermas geht Position der Gewaltfreiheit hielte ich für sogar weiter. Für ihn ist völlig falsch. Aber auch Pazifisten wer- die Inkonsequenz nicht zu den ihre Augen vor den ethnischen rechtfertigen, in Bosnien Morden nicht verschließen können und, „nur die Soldaten anderer wenn andere Methoden nicht mehr hel- Nationen vorzuschicken“. fen, auch zu den letzten Mitteln ja sagen Fischer: Mir geht’s nicht „Auch zu den letzten müssen. Das hat Jürgen Habermas in um Vorschicken. Für mich seinem SPIEGEL-Interview hervorra- wiegt die historische Hypo- Mitteln ja sagen“ gend dargestellt. Und, mit Verlaub, thek des Nationalsozialis- auch Günter Grass oder Ralph Giorda- mus auf dem Balkan und das Bonner sitionsverschiebung grüner Außenpoli- no stehen doch nicht für Bellizismus. Vorpreschen bei der Anerkennung tik anhängen. Damit kann ich nicht die- SPIEGEL: Herr Fischer, helfen Sie mit Kroatiens nach wie vor sehr schwer. Ich nen. dem interventionistischen Schwenk glaube nicht, daß Deutschland mit ei- SPIEGEL: Es wirkt schon ein bißchen ku- nicht gerade jenen Rechten, denen Sie nem militärischen Einsatz zur Deeskala- rios, wenn Sie Ihren Schwenk auf die vorwerfen, „Schritt für Schritt Deutsch- tion auf dem Balkan beitragen kann. Schutzzonen in Bosnien beschränken.

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Fischer: Das istüberhaupt nicht kurios. In Frage keine Antwort, was denn für ihn mich auch: nie wieder eine Rolle Srebrenica ist die tragende Säule unserer die Konsequenz aus Srebrenica ist. Kri- Deutschlands, die die Verführung zum Argumentation, das Schutzzonen-Kon- tik, die ihre eigene Haltung nicht be- Krieg beinhaltet. Das andere ist „Nie zept, weggebrochen. Die Grünen werden nennt, ist wenig überzeugend. wieder Auschwitz“. diskutieren müssen, wie wir in vergleich- SPIEGEL: Lafontaine sagt, die Nato sei SPIEGEL: Wie wollen Sie Auschwitz oh- baren Situationen mit dem Grundwerte- ein Verteidigungsbündnis und habe mit ne Krieg verhindern? konflikt umgehen, den wir als gewaltfreie Bosnien nichts zu tun. Wollen die Grü- Fischer: Das ist ein großer, nicht auflös- Partei haben: Verteidigung von Leben nen die SPD jetzt rechts überholen? barer Widerspruch. Auschwitz bedeutet und Freiheit einerseits – eine zivile Ord- Fischer: Ich plädiere doch nicht für den äußersten Krieg gegen die Nazis nung der Gewaltfreiheit andererseits. Out-of-area-Einsätze oder ähnliches. und das Deutsche Reich bis hin zu deren SPIEGEL: Wollen SieIhre Parteiaußenpo- Ich bin nach wie vor der Meinung, daß völliger Niederlage oder dem Untergang litisch neu ausrichten, um regierungsfähig Deutschland sich auf humanitäre Unter- der Zivilisation. „Nie wieder Krieg“ be- zu werden? stützung beschränken sollte. Was aber deutet die Verpflichtung, nie wieder ei- Fischer: Sie unterstellen mir eine Instru- ist die Konsequenz aus Srebrenica – ne Politik zuzulassen, wo das Verbre- mentalisierung des Mordens in Srebreni- Schutzzone, Abzug, weiter so? Darauf chen regiert und dann in militärische ca, die ich in aller Schärfe zurückweisen habe ich keine Antwort bekommen. Aggressionen, in Völkermord, in Ver- muß. Sollte 1998 eine rot-grüne Mehrheit SPIEGEL: Die Alternative heißt Ener- sklavungsversuche anderer Völker um- dasein,sowirdKohl abgelöstwerden.Die gie- und Kommunikationsembargo ge- gesetzt werden kann. Partei wird sich rechtzeitig vor 1998 Klar- gen Bosniens Serben und Restjugosla- SPIEGEL: Die Militärs zögern mit Inter- heit verschaffen müssen, wie sie als mögli- wien. ventionen in Bosnien, die Generati- REUTERS Britische Soldaten der Schnellen Eingreiftruppe bei Sarajevo: „Die Lüge von Schutzzonen muß ein Ende haben“

che Regierungspartei mit dem Militär- Fischer: Ich würde meinem Herrgott on ehemaliger Kriegsdienstverweigerer faktor in Deutschland umgehen will. Ich danken, wenn die Embargos konse- aber wendet sich ab vom Pazifismus. Ist bin mir sicher: Diese Debatte wird es quent angewandt worden wären und das nicht absonderlich? geben. Aber die muß man nicht an Bos- funktioniert hätten. Aber es gibt mäch- Fischer: Auch als Pazifisten werden wir nien festmachen. tige Interessen, die das verhindern, weil uns in einer gewaltsamen Welt neu defi- SPIEGEL: Auch der SPD-Vorsitzende es auch ein gemeinsames Handeln des nieren müssen. Ich würde meiner Partei Scharping bekrittelt die militärische Di- Westens in diesem Konflikt nicht gibt. raten, zu diesem Widerspruch in den mension Ihrer Bosnien-Reflexionen. Da stoßen Sie auf historisch bedingte, Grundüberzeugungen auch zu stehen Fischer: Ja, mit Rudolf Scharping ist es teilweise absurde Interessenlagen, übri- und nicht zu versuchen, ihn auf die eine schwierig. Da weiß man nicht so genau, gens auch auf deutscher Seite. oder andere Weise aufzulösen. Die De- was man von so einer Kritik halten soll. SPIEGEL: Der Krieg diene der Belebung batte, die wir solidarisch führen müssen, Er wird ja nicht müde, uns immer zu sa- einer „verfetteten“ Gesellschaft, meint ist über die Grünen hinaus von Bedeu- gen, wir müßten diesen oder jenen Un- die Rechtsphilosophin Sibylle Tönnies. tung. Die SPD als die große Traditions- sinn endlich lassen. Fischer: Mich widert eine solche Argu- wahrerin der deutschen demokratischen SPIEGEL: SPD-Vize Lafontaine nennt mentation an. Für mich gehören zwei Linken führt diese Diskussion nicht. Al- Ihre Positionen „fehlerhaft“. „Nie wieder“ zum Kernbestand meiner so müssen wir sie führen. Fischer: So sehr ich Oskar Lafontaine politischen Identität. Das eine ist „Nie SPIEGEL: Herr Fischer, wir danken Ih- schätze: Er gibt auf die entscheidende wieder Krieg“, und daran hängt für nen für dieses Gespräch. Y

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Nato Wirre Angst Die Nato hat es mit ihrer Ost- Erweiterung nicht mehr so eilig. Vor allem die USA wollen Rußland nicht verschrecken.

enn Volker Rühe auf Ost-Reise geht, wird er hofiert wie ein WStaatschef. Gleich drei Präsiden- ten wollen den deutschen Verteidi- gungsminister diese Woche bei seiner ersten Visite in den baltischen Ländern empfangen. Denn die Esten, Letten und Litauer sehen in Deutschland den stärksten Für- sprecher für ihren Wunsch, zum Schutz vor dem unberechenbaren Nachbarn Manöver-Besucher Rühe*: Rücksicht auf Rußland

Warum“ der Erweite- Bewerber, so die Allianz ganz allge- rung in Auftrag gege- mein, sollen der Demokratie und der ben. Die 16 Bündnis- Marktwirtschaft verpflichtet sein, Frei- partner wollten für heit und Menschenrechte schützen. Sie Klarheit über den Kurs müßten willens und fähig sein, sich an sorgen. sämtlichen Aufgaben der Nato zu beteili- Das Papier soll im gen – von der Verteidigung des Bündnis- Herbst den 26 Ländern gebiets gegen einen Aggressor bis zum des Ostens, die sich am Blauhelmeinsatz im Dienste der Verein- Nato-Programm „Part- ten Nationen. nerschaft für den Frie- Ob diese Anforderungen für Neumit- den“ beteiligen, vorge- glieder bedeuten, daß sieihre Streitkräfte stellt werden. Es dient vollständig in die Nato-Kommandostruk- als Grundlage für späte- turen einordnen müssen, ist in Brüssel re Beitrittsverhandlun- noch heftig umstritten. Die USA plädie- gen. ren für soviel Konsequenz, Frankreich, Der 35seitige Ent- das 1966 unter Präsident Charles de wurf, den eine Arbeits- Gaulle aus der militärischen Integration gruppe unter Leitung der Nato ausscherte, lehnt sie ab. des deutschen Nato-Di- Solche Grundsatzentscheidungen blei- plomaten Gebhardt von ben vorerst gewollt ungeklärt. Das sei Moltke jetzt vorlegte, derzeit die Strategie des Bündnisses, LASA klammert allerdings in meint ein deutscher Unterhändler:

FOTOS: seinen sechs Kapiteln „Keiner soll sagen können: Wir erfüllen Allianz-Partner Talbott, Rühe wesentliche Fragen aus. jetzt alle Kriterien, nun müßt ihr uns neh- „Es gibt Fallstricke und Risiken“ Weitschweifig preist men.“ die Nato ihren Vorsatz, Die Nato will sich nicht binden. Hinter Rußland rasch Unterschlupf bei der zu mehr Stabilität, Sicherheit und Wohl- den Versprechungen (Rühe: „Die Erwei- Nato zu finden. „Jahrelang hat uns der stand in der gesamten euro-atlantischen terung ist unumkehrbar“) verbirgt sich Westen gedrängt, nach Freiheit zu stre- Region beizutragen. Sie wolle die Um- tiefe Unsicherheit. „Es gibt Fallstricke ben“, mahnte etwa Litauens stellvertre- bruchländer im Osten bei demokrati- und Risiken“, warnt der amerikanische tender Außenminister Albinas Januska: schen und wirtschaftlichen Reformen Vize-Außenminister Strobe Talbott. Er „Laßt uns jetzt nicht im Stich.“ unterstützen und sie in die westliche ist bekannt für maximale Rücksichtnah- Rühe war zeitweise forscher Advokat Staatengemeinschaft aufnehmen. me auf Rußland. einer zügigen Ausdehnung der West-Al- Die Studie enthält jedoch weder einen „Wir schaffen nur die Bedrohung, ge- lianz nach Osten. Nun muß er allerdings Zeitplan noch präzise Kriterien für die gen die wir schützen wollen“, meint der seine Gastgeber enttäuschen: Im Ge- Aufnahme in die West-Allianz. Eine Li- einflußreiche demokratische Senator päck hat er den Rohentwurf einer Stu- ste potentieller Beitrittsländer aufzustel- Sam Nunn sarkastisch, der unter Präsi- die der Nato. Das vertrauliche Papier len, hatten die Außenminister den dent Bill Clinton beinahe Verteidigungs- belegt, daß es der Allianz mit der Auf- Nato-Diplomaten ohnehin verboten. minister geworden wäre. Die Nato versu- nahme neuer Partner nicht eilig ist. che, „Unüberbrückbares zu überbrük- Mit großem hatten die ken“; sie verspreche Polen, Balten und * Mit seinem polnischen Kollegen Piotr Kolod- Nato-Außenminister im vorigen De- ziejczyk im September 1994 beim Manöver der Ungarn Sicherheit vor Moskaus Militär- zember die Studie über das „Wie und Nato mit der polnischen Armee bei Posen. macht, versichere aber zugleich den Rus-

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sen, die Erweiterung richte sich nicht kauer Präsidenten Boris Jelzin Auftrieb EU der Ost-Expansion zuwenden. Die gegen sie. geben könnte. interne Absprache: Vor 1997 werden „Machen wir den anderen etwas vor“, Um den russischen Großmacht-An- keine Aufnahmeverhandlungen stattfin- fragt der Senator polemisch, „oder uns sprüchen gerecht zu werden, stellt die den. selbst?“ Nato nun eine Vorzugsbehandlung in Als von vornherein abgemacht gilt, Experten wie Nunn unterbreiten ei- Aussicht. Parallel zur Aufnahme neuer daß die Ukraine und Belorußland keine nen Gegenvorschlag, um dem Dilemma Mitglieder will die Allianz ein Sonder- Chance auf Aufnahme in die Allianz ha- Ost-Erweiterung zu entkommen: Erst verhältnis zu Moskau eingehen. Geplant ben. Für beide sieht das Bündnis Son- solle die Wirtschaftsmacht EU neue sind umfassende Konsultationen und dervereinbarungen ähnlich jenen mit Länder aufnehmen und danach erst die „gegenseitige Garantien für friedliche Moskau vor. Wirtschaftliche Verflech- Militärallianz Nato; diese Reihenfolge Beziehungen“, wie US-Verteidigungs- tung mit der EU und vertiefte Militär- könne Rußland leichter hinnehmen. minister William Perry versichert. Kooperation sollen bewirken, daß keine Falls Moskau aber aggressive Außenpo- instabile Zone zwischen Nato und Ruß- litik betreibe und die Sicherheit Europas land entsteht. tatsächlich wieder bedrohe, müsse die Östlich der Elbe Wenn es soweit ist, werden die ande- Nato „beschleunigt, notfalls sofort“, so werden keine Atomwaffen ren Staaten Mittel- und Osteuropas kei- Nunn, erweitert werden. neswegs in einem Zug aufgenommen. Rußland legt großen Wert darauf, wie der Nato stationiert Die interne Nato-Absprache sieht viel- eine Großmacht behandelt zu werden. mehr Etappen vor: Zunächst dürfen Po- Außenminister Andrej Kosyrew wettert Auch der Baltikum-Besucher Rühe len, Ungarn und Tschechen rein. Die regelmäßig wider die „hastige Erweite- setzt sich dafür ein, daß die Nato „Ruß- zweite Aufnahmewelle könnte Rumä- rung“. Sie berge „das Risiko einer neu- land an der Meinungsbildung der Alli- nien, die Slowakei, Slowenien und Bul- en Teilung Europas und Tendenzen der anz beteiligt“. Die Verhandlungen mit garien einschließen. Zuletzt kämen die Konfrontation im Westen wie im Moskau haben bereits begonnen. Bis Staaten mit dem stärksten Interesse am Osten“. Jahresende soll der Entwurf dieser Rückhalt im Westen an die Reihe – Est- Rußland leide nun mal unter „wirren, „Charta“ (Außenminister Klaus Kinkel) land, Lettland, Litauen. irrationalen Ängsten“, gibt auch Wladi- vorliegen. Nun fürchten die baltischen Länder, mir Lukin, Vorsitzender des Auswärti- Bevor sich die Nato endgültig festlegt, daß sie am Ende auf der Strecke blei- gen Ausschusses im Parlament, zu be- soll die Präsidentenwahl in Rußland ben. Denn gemäß Nato-Vertrag kann denken. „Wenn sich die Nato unseren 1996 abgewartet werden. Frühestens im jedes Mitglied die Aufnahme neuer Grenzen nähert, wird die Stärke dieses Dezember 1996 – auch der neue ameri- Partner per Veto blockieren. Was, wenn Blocks unmittelbar über Rußland schweben“, so der Reformer, „und das wird neue Psychosen auslösen.“ Die Nato-Studie sucht die Russen denn auch zu be- schwichtigen. Die Ost-Aus- dehnung, heißt es an die Adresse Rußlands, werde nur „allmählich“ und schritt- weise vollzogen. Sie solle kei- ne neuen Gräben aufreißen und werde „für kein Land ei- ne Bedrohung darstellen“. So ergibt sich aus dem Pa- pier keine Verpflichtung für neue Mitglieder, Nato-Trup- pen auf ihrem Territorium zu stationieren, es sei denn zu gemeinsamen Übungen. Ausdrücklich versichert die Allianz, es bestehe „kein Be- darf, das derzeitige nukleare Dispositiv“ zu ändern. Im Klartext: Östlich der

Elbe werden, wie mit Mos- MARTIN FEJOR kau bei den Verhandlungen Sowjetische Fallschirmjäger in Riga*: Aufnahme in Etappen über die deutsche Einheit verabredet, keine Atomwaffen der Nato kanische Präsident ist dann gewählt – sich etwa Polen, Tschechen und Ungarn stationiert. will das Bündnis sich der heiklen Frage gegen die Neuzugänge sträuben? Die USA blockten in Brüssel sogar widmen, welcher Staat wann beitreten Das Bündnis hat, so kann Rühe sei- die Forderung europäischer Partner ab, darf. nen Gastgebern in Vilnius, Riga und die Aufnahme Rußlands, das seit Juni Der lockere Zeitplan ist ganz im Sin- Tallinn versichern, dieser Sorge schon vorigen Jahres auch an der „Partner- ne der Westeuropäer. Erst nach der Re- Rechnung getragen. Die Nato-Studie schaft für den Frieden“ teilnimmt, von gierungskonferenz zur Fortentwicklung fordert von neuen Mitgliedern Wohlver- vornherein unzweideutig auszuschlie- der Maastricht-Verträge will sich die halten: Von ihnen wird „erwartet“, daß ßen. Vor der Duma-Wahl im Dezember sie weiteren Neuaufnahmen zustimmen, soll nichts geschehen, was ultralinken * Bei der Besetzung des Rundfunkgebäudes in wenn die 16 Alt-Mitglieder dies wün- wie rechtsnationalen Gegnern des Mos- der lettischen Hauptstadt 1991. schen. Y

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DEUTSCHLAND

Vereinigung „Zurück in die Kaserne“ In den großen Parteien haben die Alibi-Ossis ihre Schuldigkeit getan, in der Bonner Politik haben nur noch wenige von ihnen etwas zu sagen. Die Parteien sind zur Tagesordnung der Alt-BRD aus dem Jahre 1989 zurückgekehrt. Der Osten hat keine Stimme mehr – und die Westler merken es nicht einmal.

ls Steffi Lemke, ostdeutsche Bun- rückgekehrt – zur westli- destagsabgeordnete der Bündnis- chen. Agrünen, wieder einmal ökologisch Das Thema Wiederver- korrekt mit der Bahn reiste, veranstal- einigung ist für die bun- tete sie zum Zeitvertreib mit zwei desdeutsche Politik erle- West-Fraktionskollegen ein Ratespiel. digt. So empfinden es zu- Frage: Wie heißen die Hauptstädte der mindest die vereinigten fünf neuen Bundesländer? Ostdeutschen. „Die De- Rostock? Leipzig? Alles falsch. Die putierten aus den neuen Trefferquote lag, erinnert sich Lemke, Ländern“, sagt der Ost- bei „knapp über 50 Prozent“. Berliner Schriftsteller Keine Ahnung von den neuen Län- Rolf Schneider, „wurden dern. Dabei, sagt die Grüne, seien die durch die Mehrheit der Ökos noch vergleichsweise gut infor- Alteingesessenen amalga- miert, das Desinteresse bei den Eta- miert. Sie ergeben sich,

blierten sei viel größer. Der Westen, wie jene, dem erprobten J. H. DARCHINGER so der Verdacht, ist fünf Jahre nach parlamentarischen Einer- Genossen Thierse, Scharping der Vereinigung zur Tagesordnung zu- lei.“ „Die Dominanz wird fast totalitär“ Die ostdeutschen Politiker in den eta- blierten Bonner Parteien sind in der Bedeutungslosigkeit verschwunden, ihre Themen ebenso. Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, Abwicklung, Aufbau und Untergang Ost: Wen küm- mert’s in Bonn? Auf „Strategietreffen“ müht sich statt dessen die Union, mit einem stromli- nienförmigen Öko-Image die Bankiers- Gattinnen zu erobern. Bei den Libera- len versuchen Wolfgang Gerhardt und Guido Westerwelle den Nachwuchs der westdeutschen Besserverdienenden auf ihre Seite zu ziehen. Die SPD quält sich mit der Armani-Fraktion der Grünen bei der Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft. Statt Aufschwung Ost Rückschwung West. Manche sind richtig froh darüber. „Die Renaissance der Ökologie ist nur zu begrüßen“, sagt Antje Vollmer, die grüne Bundestagsvizepräsidentin. Ihrer Partei hatten der einheitsbedingte Um- welt-Rollback und die Wiederkehr des Nationalen schwer zu schaffen gemacht. Nun ist der Spuk vorbei. „Die alte BRD kehrt zurück“, konsta- tierte die grüne Tageszeitung und nahm dafür den Bundesparteitag der Libera- len im Juni als Indiz. Die FDP nähere sich einem „Status quo ante ’89“ an. Das auffälligste Merkmal der Delegier- ten aus dem Osten sei gewesen, „daß sie keine Rolle spielten“.

GAMMA / STUDIO X „Der Westen“, lautet die knappe Parteifreunde Maizie`re, Kohl (1990): „In den Aktenschlund hinabgetaucht“ Analyse des Hamburger Politikwis-

34 DER SPIEGEL 34/1995 Werbeseite

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senschaftlers Joachim derzahl in den Parteien Raschke, „denkt und sind sie in Vorständen verfügt herrschaftlich und Präsidien jedoch über den Osten.“ angemessen vertreten – Die DDR-Industrie ist der Zahl nach (siehe abgewickelt, die Treu- Grafik). hand auch. Die Land- Doch wenn ostdeut- nahme Ost mittels Rück- sche Spitzenpolitiker übertragung und Im- nicht wie Lothar de Mai- mobilienspekulation ist zie`re, Günther Krause, noch nicht ganz abge- Rainer Ortleb oder schlossen, die Rechtsein- Heinz Eggert negative heit ist fast vollständig Schlagzeilen machen, um

hergestellt. Fehlt was? A. SCHÖLZEL anschließend in der Ver- Die „Berliner Repu- Fusion Grüne/Bündnis 90*: „Der Westen denkt herrschaftlich“ senkung zu verschwin- blik“ – das war eine Zeit- den, bleiben sie fast aus- lang eine Vision von einem Gemeinwe- form“, so die Zwischenbilanz des Polito- nahmslos stumme Statisten. Politik, so sen, in dem Ostdeutsche und Westdeut- logen Claus Leggewie, habe dazu ge- scheint es, ist eine zu ernste Sache, als sche zusammen eine neue politische führt, „daß die Vereinigung ein staats- daß man sie den Ostlern überlassen Kultur beginnen könnten. Doch nicht rechtlicher Torso und eine Investitions- könnte. einmal eine gemeinsame Verfassung für ruine geblieben ist“. Mecklenburg-Vorpommerns Wirt- diese neue Republik ist zustande ge- Und Wolfgang Thierse, stellvertre- schaftsminister Harald Ringstorff ist kommen. tender Bundesvorsitzender der SPD, Vorsitzender des SPD-Parteirates, des „Die fast im geheimen und gewollt er- klagt: „Inzwischen wird die Dominanz höchsten Gremiums zwischen den Par- gebnislos betriebene Verfassungsre- fast totalitär in allen Bereichen exeku- teitagen. Kaum jemand kann sich je- tiert, in Kultur, Wissenschaft, Sport – doch erinnern, daß er sich jemals in sozi- überall.“ aldemokratische Kontroversen einge- Stimmen des Ostens Während beispielsweise die Medien mischt hätte. Scharping-Stellvertreter OSTDEUTSCHLAND 13524249 Wahlberechtigte 22,4% im Osten schnellstens abgewickelt oder Thierse ist keine Ausnahme von der Re- vom Westen übernommen wurden, sah gel. Er meldet sich zwar regelmäßig zu WESTDEUTSCHLAND 46927760 Wahlberechtigte 77,6% es in der Politik zunächst so aus, als wür- Wort, sein Einfluß in der SPD ist aber bei der Bundes- den die Parteien sich aus wahltaktischen ziemlich gering. Anteil des Ostens... tagswahl am Gründen eine Mindestanzahl von Alibi- Eine regelrechte West-Wende vollzo- 16. 10. 1994 Ossis halten und auch viele Ostdeutsche gen die Bündnisgrünen. Zunächst hatte ...an den Bundestagsabgeordneten in die West-Parteien integrieren. die Partei lange und leidenschaftlich um Doch die Ostler an der Basis haben eine faire Vereinigung von Grünen und Bündnis 90/ CDU/CSU sich zu großen Teilen schon wieder aus Die Grünen 14,3% 22,1% Bündnis 90 gerungen. Dann wählte sie FDP der Parteipolitik verabschiedet. Hatten nach der Fusion 1993 demonstrativ eine SPD 14,9% noch vor der Vereinigung 130 000 Ostlerin und einen Westler zu ihren 18,7% DDR-Bürger ihre Blockpartei-Auswei- Sprechern. Im Dezember vergangenen se gegen das FDP-Büchlein einge- tauscht, sind von ihnen nur noch knapp PDS 25 000 übrig. Konnte die CDU Ende Politik – eine zu ernste 83,3% 1991 in Neufünfland noch 110 000 Mit- Sache, um sie glieder zählen, so waren es drei Jahre später nur noch 77 800 – denen knapp den Ostlern zu überlassen ...an den Parteimitgliedern 600 000 West-Parteifreunde gegenüber- stehen. Jahres siegte Joschka Fischers „Dream- 11,6% Noch erdrückender wirkt das Überge- team“ aus dem Westen, der Osten ver- wicht der 822 000 West-Sozialdemokra- sank im Proporz der politischen Strö- 3,3% ten gegenüber ihren 28 000 Ost-Genos- mungen. sen. Nur die Bündnisgrünen haben ihre In der Bundesregierung werden Fra- 29,5% Basis in den fünf neuen Ländern seit gen, wie viele Ostdeutsche in Bonn ei- 1991 mehr als verdoppeln können – al- gentlich zum Führungspersonal gehö- 7,5 % lerdings auf extrem niedrigen Niveau, ren, als unpassend abgeblockt. „Im ver- Stand 31.12.1994 von 1340 auf 3200 Mitglieder. einten Deutschland unterscheiden wir Vor diesem Hintergrund fällt es der nicht mehr nach Ost und West“, wehrt ...in den Präsidien PDS leicht, sich als einzige genuine Ost- ein Sprecher des Innenministeriums ab. Partei zu profilieren. Nur: Selbst in ihre Von 27 Parlamentarischen Staatssekre- Bundestagsgruppe haben sich schon er- tären stammen 4 aus der früheren DDR, 3 16 staunlich viele Westdeutsche eingeschli- von 27 beamteten keiner. chen. Im 18köpfigen Bundeskabinett haben 2 13 Je nach Vergleichsgröße ergibt sich die Ost-Frauen Claudia Nolte und An- ein scheinbar widersprüchliches Bild der gela Merkel dank der Gunst des Kanz- politischen Repräsentanz der Ostdeut- lers etwas werden können. Beide mühen 16 1 schen im neuen Deutschland. Gemessen sich redlich und dankbar, möglichst am Wahlvolk sind sie deutlich unterre- stromlinienförmig die Politik der West- präsentiert, bezogen auf die Mitglie- deutschen mitzumachen. Mit Ost-Pro- 4 9 (Bundesvorstand) blemen belästigen sie das Kabinett nur * Im Januar 1993 in Hannover. selten.

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Und wenn sie es wagen, werden sie schnell zurechtgewiesen. So hatte die Umweltministerin Merkel in der Debat- te um den rheinischen Braunkohle-Ta- gebau Garzweiler II angemerkt, daß „mit Milliardenaufwand aus dem Steu- ertopf“ im Osten 100 000 Arbeitsplätze im Tagebau vernichtet worden seien. Auf die schlichte Bitte des Teilens – einstmals das Einheitsmotto der Chri- stenunion – reagierte eine Düsseldorfer Allparteienkoalition aus CDU, SPD und Grünen rabiat. Er sei es leid, „daß ständig Ost gegen West ausgespielt „Warum frißt die Revolution nicht endlich ihre Kinder?“ wird“, schnauzte der nordrhein-westfäli- sche CDU-Generalsekretär Herbert Reul seine Parteifreundin an. Bei der Verteilung einflußreicher Ämter in den Fraktionen und Ausschüs- sen des Parlaments haben Ost-Abgeord- nete keine Chance. Bei der letzten „Teppichhändlerrunde, wo die Posten der Union ausgekegelt werden“, so Ost- Landesgruppensprecher Paul Krüger (CDU), fiel lediglich ein Ausschußvor- sitz an die mit 65 Abgeordneten stärkste Regionalgruppe der Konservativen – der des für die Entwicklungsländer zu- ständigen Ausschusses. Zum Teil haben sich allerdings die Ost-Abgeordneten ihre Statisten- und Hinterbänklerrolle in Bonn selbst zuzu- schreiben. Der Ost-Berliner Neu-Parla- mentarier Thomas Krüger (SPD) rügt seine Kollegen aus der Ex-DDR dafür, daß sie sich „auf die moralisierende Ost- Nummer reduzieren“ ließen und der Vergangenheit fest zugewandt seien. Der ehemalige Berliner Jugendsenator fragt: „Warum frißt die Revolution nicht endlich ihre Kinder?“ Wenn Ost-Abgeordnete in den selten gewordenen Debatten zur DDR oder zu den Schwierigkeiten des Umbruchs das Wort ergreifen, gebärden sie sich gern besonders unversöhnlich. So behauptete Wolfgang Engelmann, seit 1962 Mit- glied in der DDR-CDU, in der letzten Debatte zu den Ost-Renten ebenso un- geniert wie wahrheitswidrig, die SPD beabsichtige, die Pension des früheren Stasi-Ministers Erich Mielke zu verdrei- fachen. Den SPD-Sozialpolitiker Rudolf Dreßler hielt es nicht auf seinem Stuhl. „Sie sollten sich schämen und dahin zu- rückgehen, woher Sie gekommen sind“, schleuderte der Westler dem sächsi- schen Wendehals entgegen. Attraktive Posten freilich verteidigen die Alt-BRD-Poltiker auch gegen inte- gre Ostdeutsche. Seine West-Genossen, sagt der frühere SPD-Fraktionschef in .

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der Volkskammer, Richard Schröder, um einfach geschluckt zu werden“, sagt Zugleich stellen Beobachter aus sei- erwarteten von den Ostlern: „Soldaten der Ost-Berliner Schriftsteller Friedrich ner und anderen Parteien bei den Ost- gehen nach dem Putsch zurück in die Dieckmann, „aber auch zu klein, um deutschen erste Anzeichen einer Rege- Kaserne.“ wirklich Einfluß nehmen zu können.“ neration nach dem Anschluß-Schock Als der Theologe im vergangenen Über Jahrzehnte verlor das Land fest: Die Ostdeutschen, derart allein ge- Jahr von Wolfgang Schäuble als Bun- durch fortwährende Flucht und Ausrei- lassen, könnten alsbald ihren eigenen despräsidenten-Kandidat ins Gespräch se besonders die beweglichen, jungen Weg gehen. gebracht wurde, setzte SPD-Generalse- und gebildeten Bürger. Da dieser Ex- Sachsen-Anhalts Ministerpräsident kretär Günter Verheugen stur die tradi- odus auch nach dem Fall der Mauer wei- Reinhard Höppner (SPD) schöpft dar- tionelle Parteiräson durch, die für Jo- terging und die DDR-Elite entmachtet aus sogar Hoffnung und sieht einen zu- hannes Rau sprach. „Die Chance, ei- wurde, prägen jene unschuldigen An- kunftsfähigen Prototyp heranwachsen, nem von uns bundesdeutsche Kompe- fänger aus dem Osten das Bild, die mit der auf künftige Krisen besser vorberei- tenz und Autorität zu verschaffen“, der Wende in die Politik gespült wur- tet ist als die saturierten West-Bürger. kritisiert der Wittenberger Theologe den. „Und die Talente der Bürgerbewe- „Wir sind daran gewöhnt, mit dem Man- Friedrich Schorlemmer, gel zu leben“, argumen- „wurde vertan.“ tiert Höppner. „In 40 Als noch resistenter Jahren haben wir ein Ta- gegen jegliche Verände- lent zur Improvisation rung hat sich die Spitzen- kultiviert.“ beamtenschaft der West- Auch der Münchner Republik erwiesen. Soziologe Ulrich Beck at- So sollen nur zwei der testiert den Ostdeut- fünf obersten Gerichts- schen, die sich in der höfe des Bundes in den DDR zwangsläufig zu Osten verlegt werden. „Künstlern des Informel- Das Bundesverwaltungs- len“ entwickelt hätten, gericht hofft immer noch, eine entschieden größere in West-Berlin bleiben zu „Chaosfähigkeit“. können. „Gesetzlich ist „Im Osten ist das Be- nichts geregelt“, so eine sitzstandsdenken schwä- Sprecherin, „vorher pas- cher ausgeprägt als im siert nichts.“ Westen“, sagt auch Ri- Auf Zeit spielen auch chard Schröder – ein wei- die Beschäftigten des teres Argument für Umweltbundesamts. Ih- die Zukunftsfähigkeit der ren Umzug von West- Ostler. In der Tat werden Berlin nach Dessau si- Gemeinsinn und Verlan- gnalisiert ein Schild am gen nach Gerechtigkeit Dessauer Rathaus, doch als sozialistische Relikte ein Spitzenbeamter sagt im Osten wesentlich hö- über den Aufbaustab: her eingeschätzt als in „Außer dem Bundesad- der westdeutschen Ag- ler ist eigentlich fast nie glomeration von Indivi- jemand von uns da.“ duen, deren Motor der Bei ihren trickreichen materielle Eigennutz ist. Abwehrmanövern kön- Darüber hinaus sind nen sich die Bürokraten die Ostdeutschen äußerst auf den Beistand der versiert darin, sich in ei- Bonner Abgeordneten nem politischen System, stets verlassen. So be- mit dem sie sich nicht steht die Föderalismus- identifizieren, ihre Ni-

kommission, ein Gremi- AP schen zu schaffen. Und um zur Kontrolle des Parteifreunde Kohl, Merkel: Das Gebot des Teilens vergessen was ihre Distanz zu den Umzugs der Behörden, Mächtigen anbelangt, hat nur auf dem Papier, der Bundestag ent- gung“, beklagt Dieckmann, „ließen sich sich durch die Vereinigung wenig geän- sandte bisher keine Vertreter. Und in- zudem durch die IM-Debatte lahmle- dert. zwischen ist klar, daß die Stadt Bonn gen.“ Die meisten ihrer Protagonisten Ein Ausdruck dieser Fähigkeit, sich nach dem Regierungsentzug mehr Bun- seien in den „ungeheuren Aktenschlund ein Stück richtiges Leben im falschen desbehörden beherbergen darf als ganz hinabgetaucht“. System zu erobern, war zu DDR-Zeiten Ostdeutschland. Ist das die neue Normalität? Gedeiht eine im Westen unerreichte Kultur des Die „politische Schwäche“ des im Osten, mehr noch als im Westen, ein politischen Witzes. Nachdem den Ost- Ostens, analysiert der ehemalige Bünd- alles überwuchernder Politikverdruß? deutschen zunächst das Lachen vergan- nis-90-Abgeordnete Konrad Weiß den „Ostdeutschland wird politisch noch gen war, haben sie auch diese subversive Rückschwung West, liege an seinem schwerer berechenbar“, beschreibt Poli- Form der Selbstbehauptung wiederent- wirtschaftlichen Rückstand. Für das tikwissenschaftler Raschke die Folgen deckt. Wohlstandsland Bundesrepublik (West) der westdeutschen Dominanz. Seit an- Einer der beliebtesten Witze derzeit ist der Osten nach wie vor ein Anhäng- derthalb Jahren registriert Andre´ Brie geht so: „Was ist der Unterschied sel. „eine immer stärkere Anti-Wessi-Hal- zwischen den Russen und den Wessis? Schon das quantitative Verhältnis ist tung“, die selbst dem PDS-Vordenker Die Russen sind wir wieder losgewor- eindeutig: „Der Osten ist zwar zu groß, nicht mehr geheuer ist. den.“ Y

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SPIEGEL-Gespräch „Typisch bayerische Revolution“ Schriftsteller Carl Amery über die Reaktion auf das Karlsruher Kruzifix-Urteil

SPIEGEL: Herr Amery, nach dem Kruzi- ist ein Überlebenschristentum. Das ma- fix-Urteil des Bundesverfassungsge- nifestiert sich bei allen Wallfahrten und richts hat sich die bayerische Staatsre- Bittgängen, die in einer logischen, länd- gierung schützend vor die Schulkreuze lich-bäuerlichen Tradition stehen. Sie geworfen, als gelte es, das christliche drücken nur eines aus: Die Hauptsache Abendland vor dem Untergang zu be- ist, wir überleben. Droht Gefahr, ver- wahren. Registrieren Sie das als gläubi- lobt man sich irgendeiner Heiligen oder ger Katholik mit Dankbarkeit? dem Heiligen Kreuz in Tattenhausen. Amery: Eher mit gemischten Gefühlen, SPIEGEL: Über den Verbleib der Kreuze in mir selbst widerstreiten die Meinun- in den Schulen, fordern CSU-Politiker gen. Es geht weniger um Religion oder wie Bayerns Kultusminister Hans Ze- Frömmigkeit als um Kulturgeschichte. hetmair nun, soll das Volk direkt ent- Darum reicht die Empörung über das scheiden. Das erzbischöfliche Ordinari- Kruzifix-Verbot in Bayern bis zu den at in München ruft zu einer Massende- Grünen im Landtag. Deren Abgeordne- monstration auf dem Höhepunkt des ter Sepp Daxenberger, der ist ja kein Münchner Oktoberfests auf, bei der Re- Dummkopf, hat gesagt, das Urteil habe gierungschef Edmund Stoiber an der den bayerischen Nerv getroffen. Ein Spitze marschieren soll. Ein neuer Kul- Nerv ist nicht unbedingt etwas Rationa- turkampf? les oder Intellektuelles, nicht einmal et- Amery: Ach was, es ist so eine typisch was Religiöses. bayerische Revolution, ähnlich wie SPIEGEL: Aber auf jeden Fall tut er be- SPIEGEL-Titel 33/1995 beim Biergarten-Aufstand gegen die sonders weh – warum gerade den Bay- „Wie beim Biergarten-Aufstand“ Sperrzeit, bei dem sich Herr Stoiber ern? auch aufgemandelt hat. Wenn nichts los Amery: Ich glaube, das hängt, historisch, katholisierung wurde speziell in Bayern ist, müssen vergleichsweise harmlose mit der Gegenreformation zusammen, über die Sinne betrieben. Zu dieser Anlässe herhalten. Dabei fällt es sogar die Bayern so stark geprägt hat. Die Re- sinnlichen Religiosität gehören eben leicht, Emotionen zu schüren, weil die nicht zuletzt die äußerlichen Zeichen, Sache faßbar ist. Ein Volk, das nie eine Das Gespräch führten die Redakteure Annette Ra- greifbare Glaubenssymbole wie das richtige Revolution gewagt hat, kann melsberger und Jochen Reimann. Kruzifix. Der bayerische Volksglaube hier in große Aufregung versetzt wer-

Carl Amery ist ein profunder Kenner der Kul- tur und Volkspsyche Bayerns und seiner Staatspartei CSU. Der Münchner Schriftsteller gilt als Linkskatholik. Den Protest gegen das Kruzifix-Urteil des Bundesver- fassungsgerichts hält Amery, 73, für eine Propagandaveranstaltung der Christlich-Sozialen Union, die dazu dienen soll, die meist ka- tholischen Bayern enger an die Partei zu binden. Am Donnerstag vorvergangener Woche hatte das Karlsruher Gericht seinen Be- schluß bekanntgegeben, daß künftig nicht mehr zwingend in jedem bayerischen Klassenzim- mer ein Kruzifix an der Wand hängen muß. Bayerns Kultusmini- ster Hans Zehetmair forderte dar- aufhin in der vergangenen Woche einen Volksentscheid gegen die WEBER Kreuz-Abnahme. FOTOS: W. M.

40 DER SPIEGEL 34/1995 den. Aber, so paradox das klingt: Wenn die Bayern wahrhaft christlich wären, hätten sie gar nicht soviel Angst, ihre äußerlichen Glaubenssymbole zu verlie- ren. Und wenn es der Kirche ernsthaft darauf ankäme, daß Bayern christlich bleibt oder wird, dann müßte sie zu- nächst die größte Christentums-Verhin- derungspartei im Lande, nämlich die CSU, frontal angehen. SPIEGEL: Die CSU ein Bremsklotz für das Christentum? Amery: Das war sie doch von Anfang an. Die Gründung der CSU war stark ani- miert von der Zwangsvorstellung, einen drohenden Linkskatholizismus abwen- den zu müssen, wie er sich etwa in Nord- rhein-Westfalen etablierte. SPIEGEL: Zum Schulterschluß der Christsozialen mit der Kirche reicht es aber doch noch. Amery: Ich sehe da nur ein Zweckbünd- nis auf Zeit. Im Grunde entfernt sich die CSU seit der Wahl von Franz Josef Strauß zum Parteivorsitzenden 1961 im- mer weiter von der Kirche. Ein Journa- list hat den Unterschied mal so formu- liert: Wenn es Probleme mit der Amts- kirche gab, hieß es bei der CSU früher, „Ein Volk, eine Partei – und die Kirche soll auch dazugehören“ da müssen wir mal wieder zum Kardinal hinaufgehen. Jetzt heißt es: Da muß der Kardinal her. Die Machtverhältnisse ha- ben sich verschoben. Wenn die Kirche erklärt hätte, Strauß sei der Antichrist, hätte es die CSU keine drei Prozent ge- kostet. SPIEGEL: Wieso regen sich die Bayern dann so über Karlsruhe auf? Amery: Das ist eine Frage der kulturel- len Identität. Mein literarischer Freund Oskar Maria Graf hat die bayerischen Katholiken einmal wunderbar definiert: Sie hingen nur gewohnheitsmäßig am Dogma der Kirche. Im Grunde genom- men glaubten sie allesamt an gar nichts. Aus einem fast blutsmäßigen Wissen um die Vergänglichkeit alles Irdischen seien sie die geborenen humorvollen Nihili- sten. SPIEGEL: Hat „Bavaria sancta“ Spaß daran, gegen den Rest der Republik aufzumucken? Amery: So ähnlich. Da steckt immer noch ein starkes Mißtrauen gegen die, sagen wir einmal, windigen Positionen der Norddeutschen drin, die uns die letzten äußeren Zeichen des überkom- menen Glaubens nehmen wollen. Der gemeinsame Kampf gegen die Besser- wisserei des Nordens ist ein Dauerpro- zeß, der Bayern eint. Bei jeder Fron- leichnamsprozession können Sie das be- obachten. Da sehe ich die eigentliche Werbeseite

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Problematik der bayerischen Demokra- Spiel. Das ist für die Würdenträger ein führung des alten Strafgesetzparagra- tie. Die CSU hat es wie keine andere Problem. phen gegen Gotteslästerung ruft und das Partei in Deutschland verstanden, sich SPIEGEL: Was bedeutet für Sie persön- Schulgebet reaktiviert? die kulturelle Hegemonie zu sichern. lich eigentlich das Kreuz? Amery: Die größte Gegenleistung besteht Ein Volk, eine Partei – und die Kirche Amery: Ich bin schon persönlich betrof- darin, daß sich die Kirche in Bayern nicht soll auch dazugehören. fen. In der Nazi-Zeit ging es wegen des traut, auch eine christlich-wertkonserva- SPIEGEL: Ist diese Vereinnahmung alles Kreuzes bei einer Tante von mir um tive Umweltpartei wie die ÖDP zu emp- Bayerischen der Grund dafür, daß die Kopf und Kragen. Sie war Mitglied ei- fehlen, obwohl die auf Familie und ähnli- Partei trotz aller Amigo-Affären die nes katholischen Lehrerinnenvereins, ches schwört und die Ökologie hat. Wäh- Mehrheit behält? und diese Frauen waren tapferer als die rend Herr Stoiber auf dem Auto-Gipfel Amery: Ja, aber das gelingt auch deswe- Bischöfe. Ich bin damals absichtlich bei sagt, er wende sich gegen jene Mentalität, gen, weil im altbayerischen Wesen ein der Fronleichnamsprozession mitgegan- die massive ökologische Forderungen bißchen die italienische Vorstellung von gen, um mich von der Gestapo fotogra- stellt und dann erst über die volkswirt- der Politik als einem System von Patro- fieren zu lassen. Diese Konfrontation schaftlichen Schäden nachdenkt. nagen steckt. Warum sollte man jeman- steckt mir noch heute in den Knochen. SPIEGEL: Regt die CSU sich über das den wählen, der nachgewiesenermaßen SPIEGEL: Das Verhältnis zwischen Kir- Karlsruher Urteil nicht auch deshalb so nicht mächtig ist? Die Leute in der che und Staat in Bayern scheint aus ei- auf, weil 80 Prozent ihrer Mitglieder ka- CSU, die sich bereichern, beweisen für nem System von Leistung und Gegenlei- tholisch sind? So bindet die Partei diese einen großen Teil der Wähler nur, daß stung zu bestehen. Die Leistung der Kir- Stammklientel an sich. Amery: Sie formulieren es inten- tional, so, als ob die Partei auch anders könnte. Ich sage es ein- mal zynisch: Sie muß, sie kann gar nicht anders. Wenn Karlsru- he eine solche Chance bietet, läßt eine CSU die niemals aus. Weil sie in vielen Bereichen anti-christlich handelt, muß sie ultra-christlich scheinen. Ich könnte mir sogar vorstellen, daß die CSU eines Tages das Kreuz in ihr Löwe-und-Raute-Emblem einbaut. SPIEGEL: Sie trauen das einem Technokraten wie Stoiber zu? Amery: Stoiber ist ein Fall für sich. Ich verfolge seine Karriere mit einer Mischung aus Amüse- ment und Entsetzen. Ich habe ihn kennengelernt, als er im Umweltministerium noch ein kleiner Büchsenspanner war. Wir, ein Kreis von Privatleuten, hatten ihn mal bei einem Kegel- abend als Referenten zu Gast,

W. M. WEBER und er erzählte uns, das Um- Regierungschef Stoiber, Kardinal Wetter*: „Von Gott eingesetzt“ weltministerium müsse zu einem Superministerium ausgebaut sie ihr Geschäft verstehen. Wenn Sie ei- che ist vorauseilender Gehorsam. Bei werden. Diese Ansicht hat er nicht lan- nen Neapolitaner fragen, warum es den der Einweihung der neuen Staatskanzlei ge vertreten, dann hat er gewußt, daß Leuten in seinem Viertel schlecht geht, hat der Münchner Kardinal Friedrich man mit der Umwelt in Bayern keinen wird er sagen: „Wir haben den falschen Wetter gefordert: „Jeder leiste den Trä- Blumentopf gewinnen kann, und ist hin- Santo.“ Santo ist der Patron, es ist ein gern der staatlichen Gewalt den schuldi- über in die Staatskanzlei. Heiliger, aber auch der Mafia-Mann in gen Gehorsam, denn es gibt keine staat- SPIEGEL: Wie stellt sich Ihnen Stoiber Rom. liche Gewalt, die nicht von Gott heute dar? SPIEGEL: Offenbar gefällt aber der Kir- stammt. Jede ist von Gott eingesetzt.“ Amery: Er ist ein Geschenk Gottes an che das – wie es der Soziologe und CSU- Amery: Sie können einem Kardinal nicht seine Partei, ein Saubermann für eine Experte Alf Mintzel nennt – „symbioti- vorwerfen, daß er Paulus zitiert. Sie schmuddelige Union. Der ist so trocken, sche Verhältnis“ und das „geschmeidige können ihm nur vorwerfen, daß er zu von Stoiber glaubt kein Mensch, daß er Miteinander“ mit der Staatspartei. dem Zweck in die Staatskanzlei gegan- Orgien mit dem Bäderkönig Zwick fei- Amery: Da muß man wohl zwischen gen ist. Die Okkasion war falsch – aber ern könnte wie Strauß. Er gehörte auch Amtskirche und Basiskirche differenzie- immer noch besser als unter Franz Josef zu den Leuten, die das Nacktbaden be- ren. Es gibt ja auch ganz andere Ent- Strauß. Der hat den Bischöfen bei der kämpften. Solche alten Sachen, das wicklungen, beispielsweise beim Asyl. Vereidigung jeweils gesagt, was sie zu Traditionsverbundene, stecken in ihm Da stellen sich Pfarreien hin und sagen: predigen hätten. schon noch drin. Dem glauben die Bay- Ohne uns, wir nehmen diese Leute auf. SPIEGEL: Bezahlt die Kirche sonst noch ern, wenn er sich kalkuliert aufregt. Der Ich halte das für eine sehr gute Sache, dafür, daß die CSU nach der Wiederein- eignet sich hervorragend für den Feld- die kommt von der Basis. Die Amtskir- zug gegen Karlsruhe. che kann da schlecht nein sagen, denn * Vergangenes Jahr an Fronleichnam in Mün- SPIEGEL: Herr Amery, wir danken Ih- irgendwo kommt auch Jesus Christus ins chen. nen für dieses Gespräch.

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Presse Schwache Stimme Trotz Millionen-Subventionen verlie- ren die Kirchenzeitungen ständig Leser. Katholische Bischöfe drängen deshalb stärker ins Fernsehen.

rnd Brummer pflegt einen hohen Anspruch. Sein Blatt, sagte der AChefredakteur der evangelischen Wochenzeitung Das Sonntagsblatt dem Branchendienst Text Intern, versuche beispielsweise, „den politischen und kul-

turellen Bereich“ und den „Bereich der J. SCHWARTZ Existenzphilosophie und Theologie zu- Zeitschriftenangebot in der Kirche*: Sternsinger für die Statistik sammenzuführen“. Schließlich, so Brummer, seidas Sonn- fast alle über Abonnement. Am Kiosk Auch die Wochenzeitung Rheinischer tagsblatt keine Wochenzeitung „des liegt „die antizynische Wochenzeitung Merkur kriselt. Die verkaufte Auflage McDonald’s-Typs“, sondern „das Forum in Deutschland“ (Brummer) schwer, des Flaggschiffs der Katholiken liegt der- für existentielle Fragen“. bundesweit werden dort rund 1000 Ex- zeit offiziell bei 108 000 Exemplaren, da- Mit Sein oder Nicht-Sein muß sich das emplare verkauft. von gehen 69 000 an Abonnenten. Die Renommierblatt der evangelischen Kir- Die Herausgeber schritten zur Radi- Zahlen resultieren aber vor allem aus che auch in eigener Sache beschäftigen. kalkur: Der Mitarbeiterstab wurde in- dem „sonstigen Verkauf“, etwa aus Bil- Die beiden großen Konfessionen leiden zwischen halbiert, das Druckformat des lig-Abos für konfessionelle Einrichtun- nicht nur selbst an Mitgliederschwund. Blattes ebenso. Doch die Sanierung gen. An den Kiosken werden nur rund Bei den meisten christlichen Zeitungen konnte lediglich den Abstieg bremsen. 5000 Exemplare pro Woche losgeschla- und Zeitschriften bröckeln die Auflagen Kündigten vor Jahresfrist rund 800 Le- gen. – trotz Millionen-Subventionen. ser allmonatlich, sind es jetzt nur noch Die interne Analyse der katholischen Zwei Jahre lang haben katholische Me- 100 Abbestellungen pro Monat. Bischofskonferenz verrät, daß allein von dienexperten im bischöflichen Auftrag Ohne die Kirchensteuerzahler wäre 1992 bis 1995 der Rheinische Merkur und das eigene Pressewesen durchleuchtet, längst Schluß. Der jährliche Zuschuß die alle 14 Tage erscheinende Illustrierte ausSorge, daß „dieschonheuteschwache von neun Millionen Mark ist allerdings Weltbild mit 60 Millionen Mark aus dem Stimme der katholischen Kirche“ noch bis 1996 begrenzt. Im November muß Kirchenfundus gepäppelt wurden. leiser werden könnte. die Synode der Evangelischen Kirche Schon Anfang des Jahres mahnte die Ihre Bilanz: Die in der Arbeitsgemein- entscheiden, ob die Zeitung weiter be- „Publizistische Kommission der Deut- schaft Katholische Presse e.V. zusam- steht. schen Bischofskonferenz“, die kirchli- mengeschlossenen 90 Verlage und 143 chen Zuschüsse für den Merkur müßten Zeitungen sowie Zeitschriften brachten in einer „verantwortbaren Relation zur 1993, die jüngste Zahl im Gutachten der publizistischen Effizienz stehen“. Berater, nur eine Gesamtauflage von 8,3 Angesichts der prekären Situation wol- Millionen Exemplaren auf den Markt – len die Katholiken künftig mehr in frem- 1,2 Millionen Exemplare oder 13Prozent den Häusern mitmischen. Die katholi- weniger als noch vor zehn Jahren. schen Medienexperten erwägen in ihrem Dabei täuscht die Millionenzahl über Gutachten, ob „Beteiligungen an nicht- den tatsächlichen Einfluß hinweg. Allein kirchlichen Verlagen . . . gesucht wer- die meist kostenlos verteilte Kinder-Zeit- den müssen“. Positive Beispiele der Ko- schrift Sternsinger bringt knapp eine Mil- operation gebe es „im Bereich der priva- lion für die Statistik. ten elektronischen Medien“. Die einst einflußrei- So wurden die erste Staffel und 13 neue chen konfessionellen Folgen der Sat-1-Seifenoper „Schwarz Blätter kämpfen ums greift ein“, in der ein Pfarrer Kriminalfäl- Überleben. Seit 1980 le löst, mit 2,3 Millionen Kirchen-Mark hat sich die Leserzahl gefördert. Weitere Investitionen bei Pri- des Sonntagsblatts et- vatsendern sollen folgen. wa halbiert, im zwei- Das Sponsoring macht sich allmählich ten Quartal 1995 wa- bezahlt, meint Ulrich Fischer, Sat-1-Be- ren es knapp 48 000 auftragter der Bischöfe: Die Kirche kom- verkaufte Zeitungen – me in den neuen Folgen der Serie „ein- deutig besser weg“ als in den Folgen zu- * Im westfälischen Lünen. Gefährdete Kirchenblätter: „Existentielle Fragen“ vor. Y

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Flüchtlinge „Warten macht krank“ SPIEGEL-Redakteurin Barbara Supp über die Abschiebehaft in Büren

eit gut drei Wochen starrt er jeden Tag auf diese Stockbetten, die blau- Sweiß karierte Bettwäsche, die dö- senden Mitgefangenen, das Fenster mit den Gittern dahinter, die Stahltür mit Schloß. Das hier ist eine Zelle. Das istder Knast. Ali El Moujahid denkt oft an jene Nacht vom 22. auf den 23. Juli zurück: Sie standen auf einem Rastplatz bei Solin- gen, sein Vetter und er, mit den beiden Autos, die sie gekauft hatten, um sie da- heim mit Gewinn wieder loszuwerden. Sie wollten noch mal durchschlafen vor der Rückfahrt über Spanien nach Marok- ko, sagt er. Morgens hämmerte jemand gegen die Wagentür. Worum es ging, war ihm nicht recht klar, dazu verstand er zuwenig Deutsch und der Uniformierte draußen zuwenig Arabisch, Spanisch oder Fran- zösisch. Jedenfalls steckte der marokka- nische Student kurz darauf in einer Zelle. Besonders erniedrigend fand er es, daß sich der Schlüssel nicht nur einmal im Schloß drehte, sondern zweimal. Sie hatten doch Papiere für die Autos, sie hatten sie ganz legal erworben. Sie hatten auch Papiere für sich selbst, Ar- beitsvisa für ihre Ferienjobs in Spanien. Nur die Stempel für Deutschland fehlten, aber das, hatte ein freundlicher Herr im Häftling vor der Abschiebung, Gepäck: Zur falschen Zeit am falschen Platz deutschen Konsulat von Malaga gesagt, sei kein Problem. Schließlich sei jetzt al- griffen hat: Hier ist das normal. Wer Für Flüchtlingsinitiativen und ehren- les EU. Bloß kurz nach Deutschland und hier sitzt, hat keinen Strafprozeß hinter amtliche Gefangenenbetreuer ist dies dann zurück nach Marokko, weil im Sep- sich, kein Ankläger hat ihn belastet, ei- ein Symbol der Unmenschlichkeit – ein tember an der Uni Prüfungen sind – das nen Verteidiger gab es nicht. Wer hier Ort, an dem der Rechtsstaat Unschuldi- war der Plan. sitzt, war nur zur falschen Zeit am fal- ge wie Straftäter verwahrt. Er habe doch nichts verbrochen, hat El schen Platz. Das hier ist Büren, Die Bürener Kommunalpolitiker aber Moujahid, 21, ständig gesagt, bis er be- Deutschlands größter Abschiebeknast. waren ganz zufrieden, als das Düssel- dorfer Justizministeri- um vor gut zwei Jahren Das Gefängnis Büren beschloß, daß die ehe- malige Kaserne drau- bei Paderborn istdie größteAbschie- ßen im Wald zur Ab- be-Haftanstalt in Deutschland. Aus- schiebehaftanstalt um- länder sitzen hier oft monatelang, gebaut werde. Es hät- ohne eine Straftat begangen zu ha- te, so fanden sie, viel ben. Manche verschweigen ihre schlimmer kommen Identität aus Angst; andere können können: „Mit mehr nicht abgeschoben werden, weil das oder weniger Freude“, Herkunftsland die Papiere nicht be- verkündete der CDU- reitstellt. Mindestens 20 der Häft- Fraktionsvorsitzende linge, so die Flüchtlingshilfsorgani- Reinhold Hörster, ha- sation „Pro Asyl“, haben sich seit be er „zur Kenntnis ge- Herbst 1993 umgebracht. Vergan- nommen, daß kein of- gene Woche erhängte sich ein Nige- fenes Lager entsteht“.

FOTOS: J. SCHWARTZ rianer im Gefängnis Wolfenbüttel. Da ist nichts, was Marokkaner El Moujahid: Besonders erniedrigend das Stadtbild stört. Die

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Gefangenenbusse der Ausländerbehör- Eigentlich, so will es das Ausländer- de fallen nicht weiter auf, und meistens gesetz, muß ein Häftling freigelassen verkehren sie ohnehin nachts. Ein werden, wenn die Abschiebung voraus- schlichtes weißes Schild weist auf die Ju- sichtlich „nicht innerhalb der nächsten stizvollzugsanstalt hin, die acht Kilome- drei Monate durchgeführt werden ter außerhalb im Stöckerbuscher Forst kann“. Aber wer definiert schon, was versteckt ist. wahrscheinlich ist? Der Direktor doch Die weiße Mauer drumherum ist aus nicht. geriffeltem Beton, fünfeinhalb Meter Es ist nicht einfach für einen, der in hoch und gut 700 Meter lang; Videoka- seiner Zelle liegt, Schuldige zu finden. meras sichern das Gelände, ferngesteu- Niemand ist schuld. Politiker machen erte Türen in der Eingangsschleuse, nur Gesetze. Verwaltungsgerichte leh- Metalldetektoren. Drinnen stehen die nen Asylanträge ab. Ausländerbehör- Backsteinkasernen, ein weiterer Zaun den stellen Haftanträge. Die Justizbe- riegelt einen Sportplatz auf dem Hof ab. hörden verwahren die Menschen, im Seit Januar 1994 werden hier illegal ein- Auftrag des Innenministeriums. Auslän- gereiste Ausländer interniert, abgelehn- derbeamte bringen die Häftlinge nach te Asylbewerber ohne Papiere und sol- Büren und holen sie irgendwann wieder che, von denen die Behörde glaubt, daß ab, um sie zum Flughafen zu transpor- sie untertauchen wollen. tieren. Dort übernimmt dann der Bun- Zwei bis drei Wochen nur, sagte der desgrenzschutz den Fall. damalige Düsseldorfer Justizminister Der Häftling Jat weiß das längst: Ir- Rolf Krumsiek bei einem Einweihungs- gendwann holen sie auch ihn. Freilich besuch in Büren, soll- ten die Ausländer in der JVA verbringen – ein naiver Wunsch. Eifrig beantragen Ausländerbehörden Abschiebehaft, bereit- willig unterschreiben Amtsrichter die Haft- befehle oder die Ver- längerung nach 3 oder 6 Monaten; bis zu 18 Monate Haft läßt die Rechtslage zu. Nicht nur in Büren, in der ganzen Republik sit- zen Menschen, die nicht straffällig gewor-

den sind, manchmal J. SCHWARTZ länger ein als verurteil- Gefängnisdirektor Möller: Manchmal Bauchschmerzen te Diebe oder Räuber. In seinem hellen Büro mit den freund- denkt er, wenn es geht, nicht daran. Seit lichen Aquarellblumen an der Wand, fast einem Jahr ist der stille Inder in Bü- dem Wasserspiel auf dem Schreibtisch ren, und er hat sich, auch weil er sonst und dem Blick auf die Gefängnistrakte wohl durchdrehen würde, einen Job in sitzt Direktor Peter Möller, 55, und der „Kammer“ beschafft. schaut hilflos drein. Doch, selbstver- Jeden Tag läßt er sich aus der Zelle ständlich kennt er El Moujahids Ge- begleiten von einem Vollzugsbeamten schichte. Er kennt viele solcher Ge- oder einem der privaten Wachleute, die schichten. Aber er ist es ja nicht, der be- hier angestellt wurden, weil sie billiger schließt, daß die Leute hier eingesperrt sind. Sie führen Jat dann zu einem werden. Raum im Empfangstrakt, an dessen Tür 219 Häftlinge hat er momentan in Ge- ein leicht verblaßter Zettel hängt: „Bitte wahrsam, das ist nicht viel. Es wird noch anklopfen. Sie treffen hier auf nackte gebaut; bis zu 600 Menschen, das ist die Menschen.“ Planung, soll Büren unterbringen kön- Hier kommen die Neuen an, gleich nen. 60 Tage bleibt ein Häftling durch- nachdem sie registriert und fotografiert schnittlich – „aber das sagt nichts aus“, worden sind. Von Jat kriegen sie die wie Möller sehr wohl weiß. Bei Polen Anstaltskleidung: Jeans, blaue Polo- oder Rumänen fährt der Abschiebebus hemden, im Winter blaue Pullover. Je- der Ausländerbehörde schon nach ein den Tag blickt er in die Gesichter, sieht paar Tagen vor: „Die drücken den manchmal Empörung, wie bei Ali Schnitt.“ Wer aus Algerien oder Indien El Moujahid, manchmal aufgesetzte stammt, sitzt manchmal mehr als ein Gleichgültigkeit, manchmal Angst. Pa- Jahr. Diese Länder verschleppen den nik. Jat kennt das Gefühl. Prozeß, stellen die nötigen Papiere für Es sei wichtig, sagt er, „einen richti- die Abschiebung nicht aus. gen Job zu haben“. Sieben bis acht

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In Büren, und vielleicht ist das ja schon ein Grund, stolz zu sein, hat sich immerhin noch kein Häftling umge- bracht; bundesweit hat die Hilfsorgani- sation „Pro Asyl“ 20 Selbstmorde seit Herbst 1993 registriert. Ein „angeneh- mer“ Knast? Nein, diese Formulierung verwirft der Direktor dann doch. Von „erträglich“ redet er jetzt, und was er damit meint, führt er gerne vor. Der neue Besuchstrakt beispielswei- se soll als Cafeteria eingerichtet wer- den. In jeder Zelle steht ein Fernse- her, inzwischen sogar mit indischem Eine Zelle im Keller, Klo-Loch im Boden, reißfeste Matratze

Programm. Betreuer vom Roten Kreuz bieten Töpfern und Bongo-Trommeln an. Draußen spielen Häftlinge Fußball, Gefangene bei Kabel-Montage: Tageslohn für anderthalb Päckchen Tabak im vergitterten Feld auf dem Hof. In den „Hafthäusern“ – das klingt freundli- Mark verdient er pro Tag. Wer nicht ar- Vielleicht schafft er es damit, am cher als Gefängnis – gibt es im Keller beitet, kriegt bloß 1,50 Mark Taschen- Flughafen durchzukommen. Dann wird jetzt Krafträume, Kicker, Tischtennis geld, und Jat weiß, daß er das Geld noch er in sein Dorf zurückkehren, und „am und ein paar Jobs: Ein Gruppe Chine- brauchen wird in Indien. Vielleicht Anfang“, glaubt er, „wird alles in Ord- sen montiert Kabel für eine lokale Fir- hängt sein Leben davon ab. Außerdem nung sein“. Dann wird es sich herum- ma, eine gemischte Abteilung sortiert tut es gut, nicht dauernd in der Zelle zu sprechen: Jat ist wieder da. Irgendwann bunte Aktendeckel und klebt Etiketten liegen, sagt Jat: „Das Warten macht wird die Polizei vor der Tür stehen. darauf. Der Tageslohn reicht für andert- dich krank.“ Man schlaffe ab oder ver- Dann verschwindet er vielleicht, „wie halb Päckchen Tabak. zweifle völlig an der schizophrenen Si- mein Bruder. Der kam nie mehr zu- Ein halbwegs zufriedener Häftling ist tuation, in der man steckt: „Nichts wie rück“. ein friedlicherer Häftling, aber trotzdem raus hier. Aber dann?“ Manchmal, das gibt Direktor Möller dreht manchmal einer durch. Jener Ko- Wer eine Straftat verbüßt hat, kann zu, verschaffe ihm sein Job Beklem- sovo-Albaner beispielsweise, den sie im- sich auf die Freiheit freuen. Jat nicht. Er mung, „Bauchschmerzen“ sogar. Was er mer wieder in den „bgH“ gebracht ha- gehört zur religiösen Minderheit der tun könne, sei lediglich, es den Gefan- ben, den „besonders gesicherten Haft- Sikhs, und zur Zeit häufen sich Meldun- genen „ein bißchen nett zu machen“, raum“: eine kahle Zelle im Keller, mit gen aus Indien, wonach abgeschobene sagt er und hat gleich wieder Angst, das Klo-Loch im Boden und reißfester Ma- Flüchtlinge aus Deutschland gleich am könnte bekanntwerden – viele Bürger, tratze und zwei Videokameras, die Flughafen abgegriffen werden. Wer den glaubt er, hören so etwas nicht gern. überwachen, was sich tut. Polizisten nicht 300 Der Mann wurde Mark Schmiergeld vor einem Jahr in Bü- zahlen könne, haben ren gefesselt – wie, das Inder berichtet, der hat er einer Betreuerin lande im Knast. Dort beschrieben: Arme auf ist Folter normal. dem Rücken, Beine Manche haben sie verschnürt, Arme und nicht überlebt. Beine zusammenge- Normalerweise ha- koppelt. Von „Fol- ben abgeschobene ter“ sprechen manche Flüchtlinge nur bis zu Menschenrechtler bei 150 Mark in der Ta- solcher Behandlung. sche; was sie sonst Zur Zeit ermittelt der noch besaßen, geht für Staatsanwalt gegen die Kosten der Ab- den Direktor, der Vor- schiebung drauf. Weil wurf: „Körperverlet- Jat Inder ist, darf er zung im Amt“. jetzt wenigstens 500 Möller bestreitet die Mark mitnehmen, das Fesselung nicht. Doch hat die Düsseldorfer das, sagt er, sei „zum Landesregierung be- Schutz des Gefange- stimmt. nen“ geschehen: Der Mann sei nicht anders

* Beim Krafttraining im Fit- FOTOS: J. SCHWARTZ zu beruhigen gewesen. neßraum. Wärter, Häftling*: Angst vor dem Abschlaffen Er habe den Kopf auf

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den Boden und an die Wände geschlagen Plänen zu erzählen: Der Mann glaubt an – „und die Mitarbeiter wußten einfach gar nichts mehr, sagt er. Dabei hat er nicht mehr, was sie machen sollten“. In- noch Glück. Er hat einen Anwalt, der zwischen, betont der Direktor, komme so von freiwilligen Unterstützern bezahlt etwas nicht mehr vor. wird. Überraschend freundlich jedenfalls Aber kein Anwalt habe verhindern war die Haltung der Gefangenen im können, daß sie ihn behandelt hätten Frühjahr, bei der Oster-Revolte, als 43 „like an animal“, wie ein Tier. Zusam- Häftlinge einen Teil des Hafthauses 1 be- mengesunken sitzt der 26jährige mit den setzten. Sie wollten nicht gegen das Per- Rastalocken auf seinem Stuhl, dem sonal, sondern gegen ihre Inhaftierung Schreibtisch der stellvertretenden An- protestieren, gaben die Meuterer be- staltsleiterin gegenüber, anfangs ärger- kannt. Sie wollten den Innenminister lich, dann wütend und schließlich so ver- sprechen, der Direktor nütze ihnen zweifelt, daß er schluchzt. nichts: „Der ist bloß Arbeiter vom Innen- Sie hätten ihm nicht geglaubt, sagt er, minister.“ daß er Sudanese sei. Er hat keinen Paß, Nur fand die Revolte am Wochenende aber die Ausländerbehörde hat ihn nach statt, sodaß keinwichtigerPolitikerzuer- Nigeria geschafft, weil sie glaubte, daß reichen war; nur rasteten dann doch ein er dorthin gehöre. Er zeigt auf sein paar Leute ganz aus und steckten die Zel- Handgelenk: Da, sagt er, hätten sie ihm J. SCHWARTZ Neuankömmling, Bewacher: Verwahrt wie Straftäter

le in Brand, so daß schließlich die Polizei die Spritze reingejagt, damit er still hält, den Raum stürmte, und das Anliegen der und nun fragt er, „is that right? Is that Gefangenen wurde nicht erfüllt. right?“ Nigeria schickte ihn prompt wie- Ein Teil der Botschaft kam offenbar der nach Deutschland zurück. dennoch an. Ein paar Sätze im Koaliti- Er sei nicht kooperativ, hat sich die onspapier der neuen rot-grünen Regie- Behörde beschwert. Er brauche bloß rung versprechen, daß manches besser der sudanesischen Botschaft die nötigen werden soll. Wer mindestens acht Jahre Informationen zu geben, dann bekom- in Deutschland lebe, solle nach Prüfung me er die Papiere, dann könne er flie- „jedes Einzelfalles“ eventuell bleiben gen. Er habe Angst, sagt der Afrikaner, dürfen. Mehr Geld soll es geben: nicht er sei ein Christ, und die Regierung im mehr 1,50 Mark pro Tag, sondern 80 Sudan werde ihm Übles antun. Er wolle Mark im Monat, soviel wie ein Asylbe- keinen Anwalt mehr, sagt er, ihm sei al- werber draußen erhält. Und wervier Wo- les egal, er wolle nur wissen, „is that chen sitzt, das ist das Wichtigste, soll ei- right? Do you think that is right?“ nen Rechtsbeistand bekommen. Jeder Fünf Tage später hat Ali El Mouja- Straftäter hat einen Anwalt, aber kaum hid, der Marokkaner, Deutschland ver- einAbschiebehäftling kann sich bisher ei- lassen dürfen. Er ist jetzt zu Hause, es nen leisten. geht ihm gut. Auch der Sikh Jat wurde Gute Absichten sind das, mehr nicht; abgeschoben. Nachrichten über ihn gibt auf den Gefängnisalltag wirken sie sich es nicht. noch nicht aus. Es würde ohnehin wenig Der Sudanese sitzt noch in Zelle 112. nützen, Menschen wiedem mutlosen jun- Bis er Büren verläßt, das kann dauern. genAfrikaner ausHafthaus 1vonsolchen Wie lange, weiß kein Mensch. Y

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Arbeit Gesunde Hände Wie nach Kriegsende läßt Mecklen- burg-Vorpommern DDR-Ruinen ent- sorgen – durch Trümmerfrauen.

chweine waren ihr Leben. 20 Jahre lang hat Edith Kruse, 55, im meck- Slenburgischen Zettemin Ferkel zu 37-Kilo-Läufern aufgezogen. Dann kam die Wende, ein Händler nahm die Schweine der Tierproduktion „Philipp Müller“ mit in den Westen und 50

Zetteminern die Arbeit. FOTOS: K. MEHNER In diesem Sommer schafft Edith Kru- Trümmerfrau Kruse (l.), Kolleginnen: „Wir werden gebraucht“ se wieder an alter Stätte: Sie klopft Stei- ne, zieht Nägel und schleppt Gatter. de verschwinden oder mit Brettern und voll mit Bauten aus alten Zeiten – ohne Zehn Zetteminer, so steht’s im Plan, Zäunen vor weiterem Verfall bewahrt. marode Scheunen, so hofft die BVVG, sollen ihren Schweinestall (Baujahr Den Anstoß zum Abriß gab im Juni sind die Flurstücke leichter zu vermark- 1972) binnen 62 Tagen abräumen – mit 1994 Hannelore Thate von der Schwe- ten. Hand und Hammer. „Wir sind die riner Träger-Gesellschaft Land: In vie- Den Steuer- und Beitragszahler frei- Trümmerfrauen von Zettemin“, sagt len Dörfern, registrierte die Hambur- lich kommt die Thate-Initiative teuer zu Kruse, „aber wir haben wenigstens das ger Spezialistin für beschäftigungswirk- stehen, denn abgerissen wird nach der Gefühl, wir werden gebraucht.“ same Maßnahmen, war jeder zweite chinesischen Methode: In Ivenack tra- Edith Kruse ist eine von rund 1000 ohne Job, und viele Ställe rotteten vor gen Frauen den Dung aus der Schwei- Arbeitsuchenden in Mecklenburg-Vor- sich hin. „Wie kann ich Arbeitslosen nebucht, einen Stall weiter reißen Män- pommern, die seit Jahresanfang Scheu- den Übergang in ein festes Arbeitsver- ner Asbest von der Decke. „Wenn man nen, Ställe und Silos abreißen. Für hältnis ermöglichen und sie wertschöp- einen Hammer hat und zwei gesunde dieses „Schandflecken-Beräumungspro- fend einsetzen?“ fragte sich Thate. Hände, dann geht das“, sagt ein ehe- gramm“ (Sozialstaatssekretär Michael Die Lösung lag auf dem Land. maliger Tierpfleger. Baumann) geben die Bundesanstalt für 500 000 Hektar landwirtschaftlicher In Mieckow räumen seit Mitte Juni Arbeit, die Bundesanstalt für Vereini- Flächen gehören allein in Mecklen- 25 Leute einen Kuhstall ab. „Ende Au- gungsbedingte Sonderaufgaben (BVS) burg-Vorpommern der Bodenverwer- gust steht das Gebäude nicht mehr“, und der Schweriner Sozialminister in tungs- und -verwaltungs GmbH verkündet der Bauleiter. Ein normaler diesem Jahr 55 Millionen Mark aus. Bis (BVVG), einer Tochter der Treuhand- Abrißunternehmer könnte den Stall in Silvester werden dafür rund 500 Gebäu- Nachfolgerin BVS. Die Flurstücke sind wenigen Stunden zusammenschieben. „Ich bestreite nicht“, sagt Thate, „daß es sinnvollere Arbeit gibt – aber nicht in Mecklenburg.“ 13,6 Millionen Mark stellt das Schwe- riner Sozialministerium für den Ab- bruch zur Verfügung, den Rest von 41,4 Millionen teilen sich die BVS und die Nürnberger Bundesanstalt. Die Geldgeber erhoffen sich von dem Pro- jekt eine positive Langzeitwirkung: Je- de fünfte bezahlte Abrißstunde dient der Weiterbildung; die Arbeitslosen können Tiefbau- und Landschaftsgärt- ner-Lehrgänge besuchen. Doch die meisten Älteren verzichten, die Jünge- ren machen mit, sehen aber „keine Per- spektive“, so der Tiefbauer Frank Schiermeyer. Im nächsten Jahr werde die BVS ihre Mittel halbieren, fürchtet das Schweri- ner Sozialministerium. Staatssekretär Baumann will das Programm trotzdem weiterführen: „Die Trümmerfrauen hatten für Nachkriegsdeutschland Asbestbeseitiger in Ivenack: Chinesische Methode schließlich eine positive Funktion.“ Y

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DEUTSCHLAND J. H. DARCHINGER Minister Bohl: „Wenn ich das Zimmer verlasse, vertrete ich nur noch die Meinung des Bundeskanzlers“

Minister Der Mann mit der Ölkanne SPIEGEL-Redakteur Hartmut Palmer über den Kanzler-Adlatus Friedrich Bohl

estlich beflaggt ist das gotische Rat- 36jährige CDU-Abgeordnete mit dem Bohl horcht – und gehorcht. Handle haus von Stralsund wie sonst nur an Konfirmandengesicht 1981 im Bonner so, lautet sein kategorischer Imperativ, Fhohen Festtagen. Ein Fanfarenblä- Bundestag seine erste, die Jungfernrede daß die Maxime deines Willens niemals ser im historischen Kostüm schmettert hielt. den Konsens der Koalition und damit vom Balkon des Hauses das Pommern- Immer noch staunen die Leute über die Macht des Kanzlers gefährdet. lied. So viel Ehre wird nur berühmtem den absonderlichen Kontrast zwischen Vorlagen, Gesetzentwürfe, Problem- Besuch zuteil. Amt und Person: Daß so ein Mickerling lösungen gelangen erst dann auf die Ta- Der kleine Mann mit dem Jungenge- es geschafft hat, sich nach oben zu bo- gesordnung des Kabinetts, wenn sie sei- sicht lächelt. Das Brimborium gilt ihm, xen, ist schwer zu fassen. nen Schreibtisch passiert haben. Streiti- Friedrich Bohl, 50, dem Bundesminister Von wegen „Bubi“. Neben seinem ge Kabinettsdiskussionen mit offenem für besondere Aufgaben. wuchtigen Chef wirkt er zwar immer Ausgang sind verpönt. Die Entschei- Der Chef des Kanzleramts ist – am noch wie ein Strichmännchen, aber wer dungen fallen vorher im kleinen Kreis – vorletzten Mittwoch – auf Sommertour genauer hinsieht, spürt die Härte, die und immer ist Bohl dabei. Die präsidiale an die Ostsee gekommen. Er reist als hinter der freundlichen Fassade lauert. Arbeitsweise des Kanzlers verschafft des Kanzlers Postillon und Ratgeber, als Bohls Augen blicken „aus dem jugendli- ihm eine einzigartige Machtposition. Diener und Vollstrecker. Die Honora- chen Gesicht heraus, als spähe ein wach- Bohl ist unter Kohl eine Art Premier- tioren stehen Schlange, als wäre Helmut samer Vogel aus seinem Nistkasten“ minister: direkt dem großen Kanzler un- Kohl persönlich zu ihnen herabgestie- (Rheinischer Merkur). Dieser Schmäch- terstellt, damit erheblich gleicher als die gen. tige hat Macht. anderen Kabinettskollegen. Bohl genießt das Gedränge und Ge- Was er sagt, hat Gewicht, nicht weil Er ist Kohls mobile Eingreifreserve. schubse, die Fahnen und Fanfaren, auch es klug oder originell ist, sondern weil Droht ein Konflikt zu eskalieren, hat wenn er so tut, als sei der Wirbel über- immer der Wille des Chefs dahinter ver- sich ein Schwelbrand entzündet, rückt trieben. Er ist davon überzeugt, daß die mutet wird. Widerstand gegen des er als Schlichter und Feuerwehr aus. Leute ihn zu Recht bedeutend finden. „Kanzlers Ordnungsmacht“ (Süddeut- „Was Bohl anpackt“, sagt ein CDU-Mi- „Bubi“ haben sie ihn in der Schule ge- sche Zeitung) ist meistens zwecklos. nister – halb genervt und doch beein- nannt, weil er schon damals den Ein- „Der Mann“, sagt sein Parteifreund und druckt –, „das gerät automatisch zum druck machte, als könne er – trotz gro- Kabinettskollege Klaus Töpfer, „hat Kompromiß.“ ßer Klappe – kein Wässerchen trüben. mehr Einfluß auf die Regierungsge- Bohls Machtfülle ist durch kein Ge- „Sie sehen auch aus wie eine Jungfer!“ schäfte, als mancher Fachminister setz beschränkt – das einzige Regulativ höhnte Herbert Wehner, als der damals ahnt.“ heißt Kohl. Das präsidiale Regierungs-

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Werbeseite . J. EIS Bohl, Chef Kohl: Schrumpfen zum Höfling

system funktioniert nicht nur im Urlaub. heiten gibt, trägt er sie unter vier Augen Es ist inzwischen Regierungsalltag. in Kohls Arbeitszimmer aus. „Wenn ich So viel Macht hat ihren Preis. Bohl das Zimmer verlasse, vertrete ich nur entrichtet ihn. Niemals hätte der miß- noch die Meinung des Bundeskanzlers.“ trauische Kohl seinem Kanzleichef so Kadavergehorsam? Kriechertum? viele Vollmachten gegeben, wenn der „Wenn ichdamit nicht einverstanden wä- sich ihm nicht 150prozentig unterworfen re“, antwortet Bohl kühl, „müßte ich zu- hätte. rücktreten.“ Bei den üblichen Loyalitätsbekun- Neu ist das nicht. Auch der Kanzler- dungen läßt er es nicht bewenden. Bohl amtsminister Wolfgang Schäuble wußte steigert das Ergebenheitsritual bis zur stets, wer bei Kohl recht hat und wer Karikatur. Wenn Kohl in seiner Nähe nicht. „Am Ende stelle ich meine Mei- erscheint, schrumpft der Minister zum nung immer hintenan“, hatte Schäuble Höfling. schon als Fraktionsgeschäftsführer er- klärt. Aber er ließ durchblicken, daß es auch schon einmal gravierende Mei- Ist Kohl schlecht nungsverschiedenheiten zwischen ihm gelaunt, trägt und dem Allmächtigen gab. Nur hatte er „keine Lust“, darüber zu sprechen. auch Bohl düstere Züge Tiefgreifende Differenzen sind zwi- schen Bohl und Kohl kaum vorstellbar. Niemand lacht morgens, wenn das Das Weltbild des im nordhessischen Kabinett zusammenkommt, lauter und Kirchhain bei Marburg als Sohn eines heftiger über einen Kanzlerscherz als Landwirtschaftslehrers aufgewachsenen der Kanzleramtsminister Bohl. Ist Kohl Juristen ist ebenso geordnet wie das des schlecht gelaunt, trägt auch Bohl düste- Pfälzers Kohl: Auf der guten Seite steht re Züge. Freut er sich, freut sich Bohl. dieCDU. Kommunisten, Sozialisten und Zieht er über einen Kollegen her, setzt Grüne sind die Bösen. Bohl noch einen drauf. Als aggressiv, fies und hinterhältig ha- Ein „Nickesel“ aber sei er dennoch ben altgediente Abgeordnete den Hin- nicht, behaupten die Getreuen, die ihn terbänkler Bohl aus den frühen achtziger täglich in der berühmten Kanzlerlage er- Jahren in Erinnerung. Freundlich, ver- leben. Auch Peter Struck, SPD-Freund bindlich, zuverlässig, so lauten die Bei- seit gemeinsamen Zeiten als Parlamen- worte, die heute den Minister schmük- tarischer Geschäftsführer der Fraktion, ken. hat ihn „nie servil“ erlebt: „Der sieht Der Mann war und ist vielseitig ver- zwar aus wie ein Buchhalter, ist aber wendbar: als Ekelpaket und Staatsmann, kein Aktenkofferträger.“ als Polemiker und Verfechter des Kom- Niemals würde Bohl, sagt er selbst, promisses, als Brutalo und Trostspender. dem Kanzler öffentlich Kontra geben. Immer noch macht es ihm „richtig Wenn es einmal Meinungsverschieden- Spaß“, auf alles, was ihm „links“ er-

68 DER SPIEGEL 34/1995 DEUTSCHLAND scheint, einzudreschen. Wenn eine Pres- und ihren Spendern wurden, desto un- ten geriet, hielt sich Bohl vornehm zu- severlautbarung, ein Interview oder ein entbehrlicher und ruchloser wurde rück. Barzels Rücktritt brachte jenes Fernseh-Statement die SPD richtig är- Bohl. Personalkarussell in Gang, das aus dem gert, „dann hat sich der Tag schon ge- Schlug die SPD auf Kohl oder Franz einfachen Hinterbänkler Bohl einen lohnt“. Josef Strauß ein, zauberte er Akten aus Fraktionsgeschäftsführer machte – die Zur Hochform lief er immer auf, seinem Koffer, in denen die Namen von erste Vorstufe zum Kanzleramt. wenn es galt, Kommunisten und Sozial- Helmut Schmidt und Willy Brandt auf- Alfred Dregger, der frühere Frakti- demokraten in einen Topf zu werfen. tauchten. Geriet der damalige Schatz- onschef, hat ihn kürzlich geradezu über- Im Wahljahr 1990, nach dem Zusam- meister Walther Leisler Kiep (CDU) in schwenglich als Hoffnungsträger der menbruch der DDR, polemisierte der Bedrängnis, sorgte Bohl dafür, daß auch Union gefeiert. Vier tüchtige CDU-Po- damalige Fraktionsgeschäftsführer Bohl dessen SPD-Kollege Friedrich Halsten- litiker – Schäuble, Rudolf Seiters, Jür- lautstark gegen „Wirklichkeitsverdre- berg etwas abbekam. gen Rüttgers und Bohl – seien durch hung“ und „Verdrängung“. Nicht die ihn, Dregger, nach oben gekommen: Ost-CDU oder „eine der anderen „Aber keiner von denen“, so Dregger, zwangsverblockten Parteien war der Elogen schlürft Bohl zwar „war besser als Fritz Bohl, keiner.“ Steigbügelhalter für die Machtergrei- wie Champagner, aber Bohl schlürft solche Elogen zwar wie fung der Kommunisten“, behauptete er, Champagner. Aber er genießt das dicke „sondern die SPD“. er genießt mit Vorsicht Lob mit Vorsicht. Er weiß, wie gefähr- Sein Gesellenstück legte der Jurist als lich es ist, mit so viel Lorbeer behängt Unionsberichterstatter jenes Ausschus- Als der Spendenskandal Kurs auf den zu werden. Allzuviel Auf- und Ansehen ses ab, der die Verfilzungen zwischen Kanzler nahm, war es Bohl, der durch schlägt bei dem mißtrauischen Kanzler den politischen Parteien und dem Flick- eine geschickt inszenierte Geschäftsord- schnell auf die Negativseite. Konzern zum Gegenstand hatte. Der nungsdebatte in die Bresche sprang. Andererseits weiß Bohl auch, daß gleiche Bohl, der jetzt als Ölkännchen- Kohl war im Verhör durch Otto Schily – sein politisches Schicksal derart eng mit Männchen das Räderwerk des Bonner damals noch Grünen-Abgeordneter – dem des Kanzlers verwoben ist, daß er Regierungsapparates schmiert, war da- mächtig in Bedrängnis geraten. Da be- wohl aufhören müßte, wenn Kohl geht. mals mit der Schaufel unterwegs, um schloß die Koalitionsmehrheit auf An- Nicht mehr Minister? Nicht mehr graue Sand ins Getriebe zu streuen. trag Bohls, die Sitzung zu vertagen. Spä- Eminenz? Bohl ging es nicht um Aufklärung, testens damals fiel der flinke Hesse sei- „Wenn es morgen passierte, dann sondern um Schadensbegrenzung. Je of- nem Kanzler angenehm auf. würde ich daran nicht zerbrechen“, sagt fenkundiger die anrüchigen Beziehun- Als der CDU-Bundestagspräsident er lachend. Aber die Augen flackern da- gen zwischen den Koalitionsparteien Rainer Barzel wg. Flick in Schwierigkei- bei. Y

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Abenteuer Stell dich der Angst „House Running“ nennt sich ein neuer waghalsiger Freizeitspaß, der aus den USA kommt.

uf dem Dach eines 65 Meter hohen Plattenbaus in Berlin-Mitte warten Adrei junge Menschen. Mal kichern sie nervös, mal versinken sie halbminu- tenlang in entschlossenem Schweigen. Zwar hat Sicherheitsmann Thomas Lun- ze, 25, ihnen Mut zugesprochen – aber ist es wirklich völlig gefahrlos, das Hochhaus wie Spiderman herunterzu- laufen? Techniker Lunze spricht in sein Wal- kie-talkie: „Jetzt kommt der Achim.“ Nun gibt’s kein Zurück mehr. Am Rücken per Alpinistenseil festge- zurrt, das Gesicht gen Abgrund („face your fear“, lautet das Motto, „stell dich der Angst“), läuft Achim die Hauswand hinunter. Als nächste ist „die Susanne“ dran. Nur Jörg verzichtet am Ende doch auf den versprochenen „Mega-thrill“

und trollt sich verschämt. „Die Verwei- FOTOS: S. DOBLINGER / PAPARAZZI

gerungsrate bei uns ist wesentlich niedri- ger als beim Bungeespringen“, behaup- tet Betreuer Lunze. Lunze wacht über die Freunde des jüngsten aus den USA importierten Freizeitspaßes, der unter dem Namen „House Running“ firmiert. Seit einiger Zeit ergänzt die aberwitzi- ge Mut-Erprobung auch in Deutschland die Palette der Action-Sportarten. Der- zeit wird sie in der Nähe des Berliner Alexanderplatzes, am 120 Meter hohen Henninger-Turm in Frankfurt und am 70 Meter hohen Sheraton-Tower in München angeboten. In Berlin kostet der Nervenkitzel 70, in Frankfurt und München 90 Mark. Der Stuntman und Extremsportunter- nehmer Jochen Schweizer, 38, hat sich die Warenzeichen „Bungee“ und „House Running“ gesichert und macht als Lizenzgeber in ganz Europa prächti- ge Geschäfte. Schweizer selbst spricht von „kreativer Kommunikation durch spektakuläre Events“. House Running sei eigentlich „pille palle“, meint dagegen eine junge Frau in Berlin. Den Kunden Achim, der stolz ist über den überstandenen Tapferkeits- test, stört das nicht. Er bezahlt einen weiteren Wand-Abgang und kauft sich dann ein T-Shirt mit der Aufschrift: „I „House Runner“ in Berlin: „Jetzt kommt der Achim“ did it.“ Y

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des harten Kerns nun Extremisten aus lauter Frust in den Terror abtauchen könnten. Ausreichend be- Geflügel waffnet wären manche Neonazis. So führte in der vergangenen Wo- züchten che Peter Naumann, bis Anfang der achtzi- Hartes Durchgreifen der Polizei ger Jahre Chef des

hat die Neonazi-Szene verunsichert. „Amtes Propaganda“ FOTOS: NDR der NPD-Jugendorga- Bombenleger Naumann: „Deeskalation der Szene“ Prominente Rechte geben auf oder nisation Junge Natio- naldemokraten, Er- stellen sich den Behörden. mittler zu mehreren Waffenlagern. Die Be- er Aufruf klang fast wie ein linkes amten fanden 27 Kilo- Autonomen-Info. Per Fax rief das gramm Sprengstoff, DRundschreiben eines „Koordinati- teils noch aus Wehr- onsbüros“ die rechte Szene zu „kreativ- machtsbeständen, phantasievollen“ Taten in einer „Ru- Handgranaten, Muni- dolf-Heß-Aktionswoche“ auf. tion, eine Pistole, ei- „Nationalautonome Fußballfreunde“, nen Revolver und eine so die Order, sollten in Stadien „mit Hil- Kalaschnikow. fe von prägnanten Transparenten“ auf Naumann war 1988 das Schicksal des im August 1987 im wegen eines Bomben- Spandauer Gefängnis durch Selbstmord anschlags und der ver- gestorbenen Hitler-Vize Heß hinweisen. suchten Bildung einer „Freisinnigen Radfahrern“ galt die terroristischen Verei- Empfehlung, „auszuprobieren, was die nigung zu viereinhalb Straßenverkehrsordnung so hergibt“. Jahren Haft verurteilt Enttarntes Neonazi-Waffenlager: Einseitige Abrüstung Doch der Appell für rechte Chaos-Ta- worden. Eine ultra- ge in der ganzen Republik wollte bis En- rechte Splittergruppe, die fast aus- Sprengstoffvergehens glimpflich davon- de letzter Woche nicht fruchten. Denn schließlich aus ihm selbst bestand, den zukommen. Naumann behauptet dage- durch Organisationsverbote, Prozesse „Völkischen Bund“ (Szenespott: „Völ- gen, er wolle zur „Deeskalation der Sze- und die Resignation rechter Rädelsfüh- kischer Hund“), hat er inzwischen auf- ne“ beitragen. rer ist die braune Szene in einem desola- gelöst. Mehr noch als Naumann haben Straf- ten Zustand. Mit Kontrollen und vor- Der altgediente Bombenleger habe prozesse gegen rechte Gewalttäter und beugenden Verhaftungen verhinderte einseitig abgerüstet, glauben Verfas- braune Propagandisten wie den Berliner die Polizei zudem geplante Aufmärsche. sungsschützer, um in einem bereits dro- Neonazi-Führer Arnulf Winfried Priem, Verfassungsschützer fürchten, daß Teile henden neuen Verfahren wegen eines 47, die Szene verunsichert. Der Chef des „Hauptschulungsamts Wotans Volk“ wurde im Mai zu dreieinhalb Jah- ren Haft verurteilt. Ein weiterer Schlag gegen einen Füh- rer der Berliner Neonazi-Szene gelang den Behörden vor wenigen Tagen in Norwegen. In der Nähe von Oslo ver- haftete die Polizei Lars Burmeister, 26, den früheren Landeschef der Freiheitli- chen Deutschen Arbeiterpartei (FAP). Fahndungsgrund: schwere Körperver- letzung. Der Uniformfetischist hatte sich nach dem FAP-Verbot Ende Febru- ar nach Skandinavien abgesetzt. Die Bundesrepublik hat inzwischen seine Auslieferung beantragt. In Deutschland nimmt die Polizei rechte Rabauken zunehmend sogar in Vorbeugehaft. In Thüringen sistierten Beamte am vorvergangenen Wochenen- de 45 Rechtsextremisten, im benachbar- ten Sachsen landeten mehr als 80 Jung- nazis im sogenannten Präventivgewahr- sam. Die sächsischen Nazis, teils ausgerü- stet mit Schreckschußpistolen und Tot- T. KRETSCHEL / TRANSIT Festnahme eines Jungnazis*: Frust rechter Recken * Am 13. August in Chemnitz.

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schlägern, wollten auf einem ehemali- Aber statt mit Attacken Profil zu ge- gen Übungsgelände der Nationalen Hauptstadt winnen, erweckt Stahmer Mitleid. Die Volksarmee bei Frankenberg nahe Herausforderin erscheint als Pechmarie, Chemnitz zu Skinhead-Musik des Todes ihr Wahlkampfteam stolpert von Panne von Rudolf Heß gedenken. Polizeistra- zu Pleite. tegen trieb die Sorge, ähnlich wie 1993 Nette Kaum hatte die SPD-Spitzenfrau stolz in Fulda könnte es den Rechten gelin- verkündet, nach der Regierungsüber- gen, mit einem Fahnen-Aufzug die Bun- nahme werde ihr der ehemalige Daim- desrepublik international zu blamieren. Kollegin ler-Benz-Vorstandschef Edzard Reuter Seit 1987 hatten Heß-Gedächtnismär- als Wirtschaftsberater zur Seite stehen, sche stets wachsenden Zulauf von Ex- Pleiten, Pech und Pannen – die SPD wurde der plötzlich als Verantwortlicher tremisten aus dem In- und Ausland. verpatzt den Wahlkampfauftakt in fürs Mißmanagement in Deutschlands 1990 demonstrierten im oberfränkischen größtem Industriekonzern geoutet. Wunsiedel, wo Heß begraben liegt, 1300 Berlin. Hohn und Spott handelten sich die Neonazis. 1991 veranstalteten die Natio- Berliner Sozialdemokraten auch mit ih- nalisten einen ähnlich großen Auf- ie Unglücksserie begann im Ur- rem „Wahlprogramm 1995“ ein, das die marsch in Bayreuth, im Jahr darauf zo- laub. „Gleich am ersten Tag knall- Überschrift „Sicher in die Zukunft“ gen rund 2000 Heß-Verehrer durch das Dte der Wind die Balkontür so hef- trägt. Mit demselben Slogan war Hel- thüringische Rudolstadt. tig zu“, berichtete Ingrid Stahmer über mut Kohl in den letzten Bundestags- Zu derart spektakulären Großkund- ihre Ferien in Österreich, „daß ich die wahlkampf gestartet, bei der Stahmer- gebungen sind die Neonazis jedoch linke Hand nicht schnell genug wegzie- Truppe hatte es nur keiner bemerkt. kaum noch in der Lage. Verbote gegen hen konnte und mir dabei zwei Finger „Unsere Rate Pech ist nun wohl voll“, insgesamt 11 rechtsextreme Organisa- gebrochen habe.“ Alles halb so macht sich die Kandidatin Mut, „jetzt tionen mit rund 1700 Mitgliedern haben schlimm, beruhigte die Berliner SPD- kann es nur aufwärtsgehen.“ Doch die Mitläufer verschreckt. Bürgermeisterkandidatin die Genossen Meinungsforscher sehen in den letzten Versprengte Mannen versuchte Ende vergangener Woche der frühere nieder- sächsische FAP-Landeschef Thorsten Heise, 25, zu einem Heß-Marsch im tra- ditionellen Stil zu sammeln. Rechtsradi- kale aus ganz Europa planten eine Kundgebung in der dänischen Stadt Roskilde. Doch angesichts der politischen Er- folglosigkeit packt viele rechte Recken der Frust. Der Berliner Priem kündigte vor Gericht an, er wolle sich aus der po- litischen Arbeit zurückziehen und künf- tig Geflügel züchten. Der prominente Bonner FAP-Funk- tionär Norbert Weidner, 23, wechselte von den Braunen zur Techno-Szene und neigt derzeit mehr zur Disco-Droge Ecstasy als zum Extremismus. Da sie „keinen anerkannten Führer“ und auf absehbare Zeit auch „kein orga- nisatorisches bundesweites Dach“ hät- ten, so der Hamburger Verfassungs- schutzchef Ernst Uhrlau, könnten sich

die NSDAP-Nachfahren derzeit allen- BAHLIG / ULLSTEIN falls auf „regionale Zusammenschlüsse“ Verletzte SPD-Kandidatin Stahmer: „Unsere Rate Pech ist voll“ stützen. Nun sei „die Stunde der Trou- piers“ gekommen, glaubt Uhrlau, der im Parteiorgan Berliner Stimme: „Bald Wochen die Christdemokraten im Auf- fürchtet, daß bei den Braunen bald kann ich wieder voll zulangen.“ wind. „Teile der Basis militant aus dem Ruder Denkste. „Stahmer Intensivstation“ Nachdem die Demoskopen die SPD laufen“ könnten. verkündete Bild, nachdem sich die Sozi- bis zum Frühsommer zur führenden Par- Um die „Gefahr des Rechtsterroris- aldemokratin Mitte vorletzter Woche tei erklärt hatten, erreicht die CDU mus“ zu bannen, will Uhrlau „Fenster beim Genuß einer halbgaren Bratwurst nach der jüngsten Umfrage des Forsa- öffnen und Leute zum Ausstieg bewe- eine Lebensmittelvergiftung zugezogen Instituts vom Juli 36 Prozent der mögli- gen“. Der Verfassungsschützer fordert, hatte. Welche Wirkungen die Bakterie chen Stimmen, 5 Prozent mehr als die ausstiegswillige Neonazis ähnlich wie „Staphylococcus aureus“ in den Verdau- Sozialdemokraten. Die FDP, glauben Linksterroristen mit der Kronzeugenre- ungsorganen zu entfalten vermag, konn- alle Meinungsforscher, ziehe diesmal gelung zu locken. ten die Berliner im Detail nachlesen. nicht wieder ins Berliner Abgeordneten- Der Verfassungsschutz, so Uhrlau, So braucht sich die amtierende Sozial- haus ein, PDS und Grüne sollen dafür sei dabei für Rechte eine gute Adresse, senatorin, die am 22. Oktober den zulegen. müsse er doch nicht wie etwa Staatsan- Christdemokraten Irritiert registrieren die Sozialdemo- wälte aus juristischen Gründen sofort als Regierenden Bürgermeister ablösen kraten, daß vor allem Diepgen deutlich strafrechtlich ermitteln: „Wer Gewalt will, über mangelnde Medienpräsenz an Sympathie gewinnt. Lange Zeit galt verhindern will, hat über uns die Mög- zum Auftakt des Wahlkampfes in der der ehemalige Rechtsanwalt nur als lichkeit dazu.“ Hauptstadt nicht zu beklagen. spröder Buchhaltertyp, der zwar seine

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Amtsgeschäfte ordentlich erledigt, aber Stadt zum drastischen Spa- jeden Esprit vermissen läßt. Doch genau ren zwingen – doch reden diese Eigenschaften, die ihm den Spitz- wollen CDU und SPD dar- namen „der blasse Eberhard“ eintru- über erst nach der Wahl. gen, schlagen nun positiv zu Buche. Die Die beiden Bewerber für Aktenliebe wird als Fleiß gewertet, der das Bürgermeisteramt um- Mangel an Charisma als professionelle schleichen sich lieber artig. Nüchternheit. Der CDU-Kandidat sei Es scheint, als hätten sich die Berliner „immer auf das Machbare mit dem Mann arrangiert, der sie so lan- aus“ und wisse „über alle ge regiert wie kein Bürgermeister vor Berliner Vorgänge im Detail ihm (insgesamt zehn Jahre). Der „Re- Bescheid“, lobt Ingrid Stah- giermeister“ habe „keinen Sex-Ap- mer den Amtsinhaber. Die peal“, urteilt die Wochenpost, „aber er SPD-Spitzenkandidatin sei paßt plötzlich in “. eine „kompetente, wirklich Profitiert hat Diepgen dabei von einer nette Kollegin“, revanchiert allgemeinen Stimmungsaufhellung im sich Diepgen. notorisch mißmutigen Berlin. Die quä- Wann immer die Konkur- lende Debatte um den Regierungsum- renten einmal die Schwä- zug ist vorerst beendet, die Baukräne in chen des anderen benennen, der Innenstadt signalisieren Wirtschafts- beschreiben sie sich zugleich wachstum. Und noch immer wirkt der selbst. Beiden liegt eher Zauber der Reichstagsverhüllung nach, das kleinpolitische Tagesge- als Christo die Stadt über Nacht in eine schäft als die Vorgabe lang- heitere Metropole verwandelte. „Bei fristiger Leitlinien. Von kei- uns geht die Lucy ab“, frohlockt CDU- nem ist eine große Rede er- Fraktionschef Klaus-Rüdiger Landow- halten oder ein zündender sky, „und alles Positive haftet automa- Merksatz. Wenn sie von Zu- tisch Diepgen an.“ kunft reden, meinen sie die Vergebens mühen sich die Sozialde- nächste Senatssitzung.

mokraten, ihren Anteil an der Lei- A. SCHÖLZEL So reduziert sich der Un- stungsbilanz des 15köpfigen Senats her- CDU-Bürgermeister Diepgen* terschied zwischen den Kan- auszustellen, in dem sie mit 6 Ressort- „Auf das Machbare aus“ didaten für den Wähler auf chefs vertreten sind. Seit 1991 regieren das Geschlecht. Und auch die Großparteien gemeinsam, aber die zur Koalition mit den Grünen reichen den bemühen sich die Wahlkampfstra- Konturen der beiden haben sich dabei sollte, könnten die Planspiele der Füh- tegen nach Kräften einzuebnen. So bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffen. rungsriege durcheinandergeraten. streuen Stahmers Helfer, die Sozialse- Der Vorrat an Gemeinsamkeiten ist Vorerst haben die Koalitionäre offen- natorin könne noch „härter und effek- über die Zeit aufs schönste gewachsen. bar beschlossen, den Wähler nicht noch tiver“ verhandeln als der derzeitige Auch bei längerem Nachdenken kann kurz vor dem 22. Oktober mit bitteren Bürgermeister. Und Diepgens PR- sich Senatorin Stahmer nicht an einen Wahrheiten zu behelligen. Der Berliner Truppe bringt in einer Imagebroschüre „wirklich nachhaltigen Streit“ erinnern, Haushalt weist für dieses Jahr zwar eine das Bild des fleißigen Hausmanns un- der das reibungslose Koalitionsgeschäft Deckungslücke von über einer Milliarde ters Volk: „Er kann wunderbar staub- beschädigt hätte. „Ich habe in fünf Jah- Mark auf, die Verschuldung wird die saugen.“ Y ren vielleicht viermal brüllen müssen“, sagt sie, „und mich jedesmal durchgesetzt.“ Für die CDU steht schon zu Beginn des Wahlkampfs fest, daß der alte Juniorpartner wieder der neue sein wird, und auch das sozialdemokrati- sche Spitzenpersonal sieht wenig Grund, das harmo- nische Miteinander durch schrille Töne zu gefähr- den. „Das wichtigste Wahl- ziel, nämlich die Regie- rungsbeteiligung, ist ja be- reits erreicht“, sagt ein Genosse aus Stahmers Wahlkampfteam. Nur wenn es wider Erwarten

* Mit dem Staatssekretär für

Stadtentwicklung, Wolfgang Bra- P. LANGROCK / ZENIT noner (l.). Christo-Kunstwerk Verpackter Reichstag: „Bei uns geht die Lucy ab“

DER SPIEGEL 34/1995 77 SPIEGEL-ESSAY Die Wacht am Rhein

DIETER WILD

uf den Altären der deutschen Bekenntnisethiker sche Epistel nicht hören zu wollen, wird eben eskaliert. Laut qualmt der Weihrauch, deutsche Betroffenheit rieselt BUND zieht er sich dann einen Boykott „französischer Au- A durch den Rost, und man schreitet sogar zur Tat. Die tos, Fluggesellschaften, Parfüms, Ferienreisen bzw. aller Deutschen wollen endlich wieder etwas für den moralischen französischen Produkte“ zu. Fortschritt der Welt vollbringen, nachdem sie all die Rekorde Das Feld für gute Taten ist unübersehbar. Kein Bidet an Wohlstand und Wohlfahrt, Selbstschau und Selbstsucht satt mehr in deutschen Badezimmern – diese Art gallischer Hy- haben. giene wurde hierzulande ja nie so recht heimisch –, kein Ist es da nicht reizvoll und ehrenhaft zugleich, die Franzosen Molie`re oder Anouilh mehr auf deutschen Bühnen, kein zur Vernunft zu bekehren, die sich einem abscheulichen politi- Französisch mehr an deutschen Schulen? schen Irrationalismus ergeben haben? Wie sagte noch ihr eige- Die Deutschen sind offenbar von allen guten Geistern ner Charles de Gaulle: „Die Franzosen sind Kälber.“ Und er verlassen. Graust denn niemanden, daß die noch so ehrbare mußte es doch wissen. Betroffenheit anfängt, der deutschen Nation und damit Eu- Die Gelegenheit ist um so günstiger, als sich auf dem Bal- ropa schwerstens zu schaden? Die wenigsten Deutschen kan, wo wir als Ordnungsmacht eine Vergangenheit haben, scheinen zu wissen, wie sehr im Ausland deutsch mit besser- Ordnung leider nicht schaffen läßt. Dabei hätte Serbien ja kei- wisserisch und arrogant gleichgesetzt wird. neswegs „sterbien“ müssen, wie untergangssüchtige Deutsch- Bislang haben sich die Boykott-Verweigerer, etwa unter Österreicher 1914 gewollt hatten. Und vermutlich hätte auch den Grünen, allenfalls dazu aufgerafft einzuwenden, ein kein einziger jener deutschen Bellizisten „sterbien“ müssen, Boykott treffe die Falschen, nämlich die armen Käsebauern die sich so dringend für die Erhaltung eines bosnischen Staates in der Brie und die Winzer in der Champagne, die womög- schlagen möchten. lich ihren Chirac gar nicht gewählt hätten. Das aber kann Sollten sich die serbisch-kroatischen Kriegsherren tatsäch- nicht das Problem sein. lich darauf geeinigt haben, Bosnien unter sich zu teilen, bliebe Was den deutschen Boykott gegen Frankreich so gefähr- den tapferen Bellizisten nicht mal mehr die Chance, nach dem lich macht, ist das landestypische Mißverhältnis zwischen Vorbild der Internationalen Brigaden des Spanischen Bürger- dem idealistischen Ansatz und dem realpolitischen Mittel, kriegs der guten Sache mit dem Gewehr persönlich zu dienen. die deutsche Idee umzusetzen, von dem mutmaßlichen Er- Allerdings hat sich dazu auch noch niemand – von Freimut gebnis nicht zu reden. Hier bleckt nämlich ein Saurier die Duve bis Krista Sager – erboten. Es schämt sich eben viel Zähne, der schon längst als beerdigt galt: Die deutsch-fran- leichter über die angeblich so schandbare Untätigkeit der zösische „Erbfeindschaft“ unseligen Angedenkens läßt ihren westlichen Welt, als es sich dafür schießt, es sei denn in Appel- Eishauch spüren. len an die Gewissen von Staaten, die traditionell viele Interes- Etwa wenn die sonst achtbare Journalistin Peggy Parnass sen haben, aber wenig Gewissen. den Präsidenten Chirac einen „Gangster“ heißt oder wenn Ganz anders dagegen das Aufbäumen der deutschen Moral Hamburger Wirte ihn „Verbrecher“ nennen, gefolgt von gegen den französischen Atombomben-Schwachsinn im Pazi- dem Schrei: „Der Mann muß gestoppt werden.“ fik. Hier braucht es, um die Franzosen Mores zu lehren, kei- Daß Wirte – und nicht wie in früheren Zeiten Professo- nerlei bellizistischer Attitüden – mit den Welschen werden wir ren, Industrielle oder Generäle – den frankophoben Mißton schon noch friedlich fertig. Die neue Wacht am Rhein steht. angeben, könnte ihr Engagement zur Eulenspiegelei ma- Sie muß uns, gottlob!, gar nicht vor dem Franzmann schüt- chen, würden nicht Medien vom Schlage des Stern und vom zen, vielmehr ihn vor Range der Woche den sich selbst, respektive Stammtischen begehr- seinem Präsidenten. te Parolen liefern. Etwa mit der „Ver- Das „Stoppt Chirac“ braucherentscheidung der Wirte gerät in der an der Käsetheke“, Woche zum „Stoppt die der Bund für Um- Frankreich“ – fürwahr welt und Naturschutz ein lohnendes Ziel. Deutschland (BUND) Schließlich bildet empfiehlt. Oder mit sich dieses Land ein, jenen champagner- die Aufklärung erfun- und cognacfreien Zo- den und eine angeb- nen, die hier und da lich große Revolution wuchern. Schmeckten zum Wohle der den Deutschen ihr sü- Menschheit gemacht ßer Sekt und ihr ural- zu haben. Also muß ter Asbach nicht im- man es anhalten, sei- mer schon besser? ne eigenen Ideale Wenn sich aber nicht zu verraten. der Menschenfeind Und wenn andere da- Jacques Chirac er- mit zögern, müssen frecht, auf die deut- eben die Deutschen

78 DER SPIEGEL 34/1995 gegen das Böse an die vorderste Front. Didaktische Bega- Nun aber soll das unbestreitbare Recht der Südsee-Insula- bung hatten sie doch immer schon, und in diesem Fall ner auf ein atomversuchsfreies Leben uns legitimieren, wohl scheint der missionarische Eifer sogar risikolos. gar verpflichten, diesen Nachbarn im Westen in alter Manier Risikolos? Gewiß, mit der rituell zelebrierten deutsch- fertigzumachen – vorwiegend verbal, aber doch auch per Boy- französischen Freundschaft ist es in 50 Jahren Nachkriegspo- kott. Dann werden wir wohl auch bald wieder einen Sedan- litik nie weit her gewesen. Entgegen den feierlichen Hoch- Tag feiern und den „Schandfrieden“ von Versailles bejam- ämtern in Reims, Verdun und sonstwo und entgegen dem mern, das alexandrinische Versmaß der französischen Klassik Dauer-Zirkus der Experten- und Referententreffen waren ebenso verachten wie die gewiß nicht überragenden französi- die deutsche und die französische Außenpolitik in so gut wie schen Leistungen im Zweiten Weltkrieg. Und das unter dem keiner der großen Fragen der Nachkriegszeit einer Meinung Beifall deutscher Wirte, die aufopferungsvoll keinen Champa- – im Gegenteil. gner oder Bordeaux mehr servieren mögen, und deutscher Von der Rückkehr des Saarlands und dem Ausscheiden Chefredakteure, die Gefallen an politischem Aktionismus fin- Frankreichs aus der integrierten Verteidigung der Nato über den. die Aufnahme Englands in die EG und die Atomrüstung bis zur eiligen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens durch ffenbar sind die Deutschen moralisch so unbefleckt, Bonn ziehen sich die politischen Zielkonflikte, die nur selten daß die ganze Welt von ihnen lernen kann. Hier wird Mißverständnisse waren. O ja nur höchst selten ein Ausländer umgebracht, brennt Einigkeit bestand nur über Unausgesprochenes: daß die nur hin und wieder eine Synagoge und ganz ausnahmsweise ei- wirtschaftlich starken Deutschen den Franzosen die politi- ne Moschee – angesichts der tagtäglichen multikulturellen Ag- sche Hegemonie im westlichen Teil des Kontinents überlie- gression in unseren Städten schließlich kein Wunder. Dafür ist ßen – sie hatte gar so viel nicht zu bedeuten, solange der unsere Demokratie uralt und unerschütterlich, unser tagtägli- Osten separiert war. Und mit der Kriegsschuld im Nacken cher Einsatz für die Menschenrechte uneigennützig, und unse- fiel es den Deutschen relativ leicht, in Prestigefragen groß- re Politiker regieren das Land fabelhaft. zügig zu sein. Der Wiederaufstieg Deutschlands vollzog sich So wendet man sich denn um so unbeschwerter dem sündi- schließlich unter dem moralischen Flankenschutz Frank- gen Nachbarn zu. Da verordnet der BUND in seinem Boy- reichs. kottaufruf gegen Frankreich so selbstverständlich, als sei er Als die Teilung des Kontinents zu Ende ging, stand die ein Gericht: „Umweltfeindliches Verhalten darf nicht unge- französische Diplomatie von heute auf morgen vor den straft bleiben.“ Deshalb atmet man ja auch in deutschen Städ- Trümmern ihrer gesamten Deutschland- und Europapolitik. ten kaum Benzindünste ein, rollen keine Castor-Transporte Ihre ungelenken, unintelligenten Versuche, das Rad der Ge- über die Straßen, leben die Haushalte hierzulande praktisch schichte noch anzuhalten, wurden, weil letztlich irrelevant, müllfrei. von den Deutschen großmü- Der Blitzsieg über den tig übersehen – so wie sich Weltkonzern Shell hat, so Frankreich mit dem neu- Auf wundersame Weise scheint es, die deutschen en „Reich“ überraschend Moralsoldaten besoffen ge- schnell abfand. hatten die Kriege macht. Seit sie entsagungs- Denn das war das Neue, voll an den Shell-Zapfsäulen Aufregende an der deutsch- die Feindschaft ausgelöscht vorbeifuhren, um an der französischen Nachkriegsbe- nächsten Ecke BP zu be- ziehung: So hohl bis verlo- glücken, scheint ihnen alles gen die litaneihafte Bezeugung angeblich bewährter gemein- möglich – vorausgesetzt, die eigene Bequemlichkeit muß nicht schaftlicher Politik klang, so unbezweifelbar war da emotional leiden. Kein Shell tanken? Ja, sofort. Weniger Auto fahren? etwas entstanden. Lieber nicht. Die Kriege – vom „Raub“ Straßburgs durch Ludwig XIV. Sich selbst ist man schließlich kein angemessener Boykott- über die Exzesse des genialen Blutsaugers Napoleon bis zu den gegner, kein Erfolgserlebnis steht zu erwarten, und die edle Schlachtfeldern von Sedan und Verdun – hatten außer dem Le- Absicht läßt sich nicht so schön plakatieren wie „Hamburger ben von Millionen Menschen auf fast wundersame Weise auch Wirte gegen Chirac“ oder „Wir verkaufen keine Erzeugnisse die Feindschaft ausgelöscht, in Jahrhunderten gepflegte Stereo- aus Frankreich“. type verschwanden. Nicht jeder hat eine so prächtige Gelegenheit, die Franzo- sen deutsche Mißbilligung fühlen zu lassen wie Dietrich Hahn, motional waren Deutsche und Franzosen einander viel Enkel des Atomforschers Otto, der das Offizierskreuz der Eh- näher gerückt als Deutsche und Briten und selbst als renlegion seines Großvaters dem französischen Generalkonsu- E DeutscheundAmerikaner,obschonjadieDeutschenpo- lat in München retournierte. Das sind Gesten, wie die Deut- litisch nur überleben konnten, weil die Amerikaner, nicht die schen sie mögen. Sie zeigen, daß sie keine Maulhelden sind, Franzosen, sie schützten, was wiederum dem französischen Na- sondern zu ihrer Überzeugung stehen – nicht trotz, sondern tionalstolz zu schaffen machte. geradezu wegen ihrer in dieser Hinsicht nicht zweifelsfreien Über Jahrzehnte hin erklärten die Franzosen die Deutschen Vergangenheit. zu ihren besten, verläßlichsten Freunden –und umgekehrt. Mil- Chirac, der die Serben zum Entzücken vieler Moralisten lionen Austauschschüler, Jugendwerksteilnehmer und Touri- kürzlich „Terroristen, Leute ohne Glauben und Gesetz“ ge- sten entzogen den Ressentiments früherer Generationen den nannt hat, steht heute in Gesellschaft chinesischer Kommuni- Boden. Sogesehen hat esdie deutsch-französische Freundschaft sten als Atomterrorist da. Er hat sein Land, das sich gern im tatsächlich gegeben, und es gibt sie bis heute. Einklang mit der Weltvernunft fühlt, in eine Isolation geführt, Französische Schulbücher stellen die Befreiungskriege gegen wie sie Frankreich zuletzt während des Algerien-Krieges er- Napoleon inzwischen kaum anders dar als deutsche. Und als der lebte. todkranke Staatschef Franc¸ois Mitterrand bei seinem Ab- Das ist das Verdienst der Boykott-Bewegung von Austra- schiedsbesuch Anfang Mai in Berlin den uniformierten Deut- lien bis Dänemark. Die Deutschen mußten dabei nicht die schen des Zweiten Weltkriegs eine Art Generalabsolution er- Avantgarde sein. Oder etwa doch? Jener Franzose, der seine teilte,wardasMaß der Zuwendung eigentlichvoll.Siegingman- Landsleute „Kälber“ nannte, hat über die Deutschen ebenso chem Franzosen und sogar manchem Deutschen etwas weit, Originelles geschrieben: Sie seien „Ritter der Blauen Blume, rührte aber an – und war vor allem biographisch erhellend. die ihr Bier erbrechen“. Y

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Medien Falscher Mann Streit im Springer-Verlag: Miteigen- tümer Leo Kirch und Vorstandschef Jürgen Richter kämpfen um die Welt-Macht.

ein schönstes Lächeln zeigte Jürgen Richter, 53, Anfang Juli zu Beginn Sder Hauptversammlung des Axel

Springer Verlags. Kein Aktionär störte J. GIRIBAS / GEGENDRUCK den Manager mit kritischen Fragen. Kontrahenten Kirch, Richter: „Den Sack geprügelt, den Esel gemeint“ In einer kurzen Pause setzte sich der gutgelaunte Verlagsmann zu seinem des Journalisten, der bis zum Frühjahr Kommentar des konservativen Juristen wichtigsten Aktionär, dem Münchner Chefredakteur der Stuttgarter Zeitung Rudolf Wassermann gedruckt zu ha- Filmhändler und TV-Unternehmer Leo war, durch Richter zu verhindern – mit ben, der das Ende des Jesuskreuz- Kirch, 68. Das Paar strahlte in die Ka- einem Brandbrief an den Springer-Auf- Zwangs in bayerischen Klassenzim- meras der Fotografen, nach jahrelangen sichtsrat Ernst Cramer. mern rechtlich korrekt fand. Streitereien zwischen den Springer-Er- Jahrelang hatte sich Kohl über libera- Kirch schrieb einen Brief an Sprin- ben und Kirch um die Macht in le Kommentare der Stuttgarter Zeitung ger-Aufsichtsratschef Bernhard Servati- Deutschlands größtem Zeitungsverlag geärgert, die auch in seinem Hausblatt us, 63, den er der Deutschen Presse- herrschte, so schien es, traute Harmo- Rheinpfalz gedruckt wurden. Die bei- agentur (dpa) zuleitete, bevor er den nie. den Verlage kooperieren bei der Bonn- Adressaten erreicht hatte. Darin postu- Nun ist alles anders. Das Verhältnis Berichterstattung. Kohl soll deshalb öf- lierte er, Springer sei „auf eine bürger- zwischen Richter und Miteigentümer ter bei der Rheinpfalz interveniert und liche, dem christlich-abendländischen Kirch zeigt Risse, Springer-Journalisten zu hören bekommen haben: „Da kön- Weltbild verpflichtete Grundhaltung sind verunsichert. Richters Plan, den nen wir nichts machen, das sind die aus ausgerichtet“. Seine Forderung: Verlag aus den Schlagzeilen herauszu- Stuttgart.“ „Umgehende Ablösung des Chefredak- halten, ist gescheitert, in aller Öffent- Was Kohl nicht gelang, versucht nun teurs“, die „Mißachtung der Grundpo- lichkeit streitet das Duo, wer bei Sprin- offenbar Kirch bei Springer zu besorgen sition des Verlages“ sei indiskutabel. ger publizistisch das Sagen hat. – Störenfried Löffelholz soll weg. Kauf- Noch nie habe eine Zeitung ihre Kaufmann Kirch, dem eines der größ- mann und Kanzler bildeten eine Art Stammleser so vor den Kopf gestoßen. ten deutschen Medienimperien gehört, „medienpolitische K.u.K-Monarchie“, Als Richter gegen 21 Uhr von der geriert sich als Verleger. Der konserva- befand das evangelische Sonntagsblatt. Attacke aus München erfuhr, lief die tive Unternehmer will die geistig-politi- Zunächst schlug Kirchs Anwalt Joa- Story bei Springer längst über die sche Lücke füllen, die er bei Springer chim Theye, 55, bei der Vorstellung von Druckwalzen. Die Kirch-Pressestelle ausgemacht hat. Kirch, der wahre Erbe Löffelholz im Aufsichtsrat vor, der Pu- hatte auch das Bild-Chefredaktionsmit- des 1985 gestorbenen Verlagsgründers blizistin Brigitte Seebacher-Brandt, 48, glied Kai Diekmann, 31, vorab infor- Axel Springer – so sieht er sich offenbar. einen Posten in der Chefredaktion zu miert. Zeitgleich mit dpa erhielt er ei- Seiner publizistischen Verantwortung geben. Später nörgelte Kirch in Telefo- ne Kopie des Kirch-Briefs. Bild pla- will Kirch vor allem bei Springers naten mit Richter über Artikel der Welt zierte auf Seite eins: „Kirch fordert Flaggschiff Die Welt gerecht werden. und erklärte, Löffelholz sei mit dem Job Ablösung des Welt-Chefs.“ Den Unternehmer är- überfordert. Der Kirch Eilig schoben Richter und Brief- gert, daß die Zeitung ideologisch naheste- adressat Servatius noch am späten (Auflage: 203 000 Ex- hende Fachdienst Abend eine kurze Erklärung nach, in emplare) pro Jahr Rundy schrieb, Rich- der sie Löffelholz stützten. Doch die- schätzungsweise rund ter habe einen „Pro- ses Statement erreichte nur noch einen 40 Millionen Mark vinz-Journalisten“ ge- Teil der Bild-Ausgabe. Verlust macht – und, kürt und mache „Feh- Richter, der Illoyalität haßt, droht aus seiner Sicht, vom ler am Laufband“. nun intern, die Bild-Aktion werde falschen Mann geleitet Am Freitag vorver- „personelle Konsequenzen“ haben. wird, dem seit dem gangener Woche nahm Doch Diekmann ist offenbar wenig 2. Mai amtierenden Leo Kirch schließlich vorzuwerfen. Er habe, sagt er, seine Chefredakteur Tho- ein weltanschauliches Entscheidung telefonisch von Bild- mas Löffelholz, 62. Thema zum Anlaß, ge- Chefredakteur Claus Larass absegnen Bereits Kanzler Hel- gen Löffelholz vorzu- lassen. mut Kohl, ein persön- gehen. Der religiö- Ob Kirchs Attacke tatsächlich dem licher Freund Kirchs, se Medienunterneh- Welt-Chef galt oder dem Vorstandsvor-

hatte vergebens ver- ACTION PRESS mer nahm dem Chef- sitzenden Richter, war Ende letzter sucht, die Berufung Bild-Macher Diekmann redakteur übel, einen Woche noch nicht auszumachen. Kirch

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DEUTSCHLAND

habe, sagt ein Richter-Vertrauter, wohl ger-Familie, die nach außen die Mehr- „den Sack geprügelt und den Esel ge- heit hält. Über Treuhänder soll Kirch meint“. weitere 5 Prozent besitzen. Die Zahl Am vergangenen Montag forderte der freien Aktionäre bei Springer ist so Kirch noch einmal öffentlich „den Skalp klein geworden, daß Servatius auf der von Löffelholz“, wie die Financial Times nächsten Hauptversammlung per notierte. Als nächstes will der Großak- Handzeichen abstimmen lassen will. tionär, spätestens auf der Aufsichtsrats- Springer-Vorstandschef Richter, der sitzung am 12. September, von den Ei- selbst die Ressorts Zeitungen, Personal gentümern eine Erklärung verabschie- und Elektronische Medien leitet, den lassen, die die Linie der Welt verur- scheint Kirchs Engagement unter- teilt. schätzt zu haben. Er hatte im Juni das Kirchs Angriff geht auch Kohls Koali- beste Verlagsergebnis seit Jahren vor- tionspartner zu weit. Kirch, kritisierte gelegt und glaubte offenbar, größeren FDP-Chef Wolfgang Gerhardt, lasse Handlungsspielraum zu haben. den nötigen Respekt vor der Presse- und Nun sichert sich Richter bei der Meinungsfreiheit vermissen. Und Un- Springer-Familie ab. Den Verlegeren- terstützung, verkehrte Medienwelt, er- kel Axel Sven Springer holte er für ein fahren Springer-Manager auch aus je- Jahr als Trainee in sein Büro. Auch nem politischen Lager, zu dessen Feind- bei der Belegschaft findet er Rückhalt.

bildern der Verlag einst gehörte. K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL Es sei „unerträglich“, daß Kirch nicht Der SPD-Medienpolitiker Rein- die hausinterne Kommunikation hard Klimmt klagte, Kirchs Macht gesucht habe, erklärt der Welt-Be- sei „demokratiegefährdend“. Sein triebsrat; Kirch habe dem Verlag grüner Kollege Rezzo Schlauch und der Zeitung „schweren Scha- forderte „Oberzensor Kirch“ auf, den“ zugefügt. „Die Welt auf ih- sich auf seinen „Kanzlerfunk rem schwierigen „Weg nach Sat 1“ zu beschränken. oben“, führen die Personalvertre- Der Ausgang von Kirchs Kon- ter aus, „braucht Freunde und flikt mit Richter und Servatius keine Attacke aus den eigenen wird womöglich Auskunft darüber Reihen.“ geben, ob der Münchner, der offi- Beliebtester Kalauer bei Sprin- ziell nur 35 Prozent der Aktien ger in der vergangenen Woche: hält, auch das Tagesgeschäft steu- Welt-Chef Löffelholz, Kommentar (Ausriß) „Laß doch mal den Kirch im ern kann – vorbei an der Sprin- Grundposition des Verlags mißachtet? Dorf.“ Y

chennahe Gesinnung als Chef der Abteilung Innenpolitik beim Bayeri- Unselige Verquickung schen Rundfunk und als bayerischer Warum die ARD einen Kirch-kritischen Kommentar nicht sendete ZDF-Landesstudioleiter schon öfter beweisen konnte, stoppte Kommen- tator Geyer und entschied sich für er Kommentar der ARD-„Ta- mächtig, als daß wir ihm die Ausle- das Thema Ladenschluß. Offiziell er- gesthemen“ ist gelegentlich eine gung unserer Grundrechte überlas- klärt die ARD-Redaktion die Wende DBetroffenheitsveranstaltung er- sen dürfen“. mit „dramaturgischen und inhaltli- ster Güte: ernste Mienen, staatstra- Doch Geyers Meinung durfte am chen Gründen“. gende Stimme und stumpfe Sätze der Montag vergangener Woche nicht Geyer, der sich der Vorzensur beu- Marke „Die Demokratie ist in Ge- den Nachrichten-Vortrag von Ulrich gen mußte, sendete seine Gedanken fahr“. Spannender sind da oft die Wickert stören. Zwar beschloß die am nächsten Tag auf der Hörfunk- Ränkespiele hinter der Kamera, etwa Schaltkonferenz der ARD-Oberen welle von Radio . Einen et- beim aktuellen Thema „Leo Kirch einen Kommentar „Kirch und das was sanfteren Kommentar zum in- und das Kruzifix“. Kreuz“. Doch Deutschlands größte nenpolitischen Aufreger der Woche Michael Geyer, Chefredakteur bei TV-Nachrichtenredaktion schaffte es erlaubte sich die ARD, deren Weih- Radio Bremen und ARD-Kommen- nicht, bis 16 Uhr einen Beitrag zum nachtshighlight ein von Kirch produ- tator mit hohem Polarisationspoten- Thema zu filmen, weshalb Präsenta- ziertes Bibelepos bildet, dann mit tial, wollte dem Münchner Filmhänd- tor Wickert sich dagegen sträubte, ei- Verspätung. ler danken: „Denn noch nie hat der nen Kommentar ohne erklärenden Am Mittwoch verurteilte Nikolaus Konzern-Häuptling so ungeniert und Bericht zu senden: Er müsse sonst so- Brender vom WDR, diesmal inhalt- öffentlich zu Protokoll gegeben, wie viel in der Anmoderation erklären, lich und dramaturgisch korrekt, das er Pressefreiheit buchstabiert. Ein das wirke langweilig. „inszenierte Kesseltreiben“ der Uni- Chefredakteur, der eine andere Mei- Die Wickertsche Arbeitsbelastung onspolitiker – und fand auch ein paar nung als die Leo Kirchs zur Veröf- in Grenzen zu halten, half Bernhard Worte für Leo Kirch: Der Münchner fentlichung freigibt, ist zu entlassen. Wabnitz, zweiter Chefredakteur und Filmhändler verkörpere „die unselige Basta.“ Der Journalist wollte Klar- Planungschef bei ARD-aktuell. Verquickung von politischem Einfluß text reden: Kirch sei „inzwischen zu Wabnitz, der seine unions- und kir- und Medienmacht“.

DER SPIEGEL 34/1995 81 . F. HOLLANDER / DIAGONAL Fokker-Fertigung in Amsterdam, Daimler-Benz-Chef Schrempp mit Vorgänger Reuter: Große Propaganda-Show, um die

Konzerne „Das geht an die Substanz“ Massenentlassungen und Werkschließungen – der Daimler-Tochter Dasa droht eine Brutal-Sanierung. Doch nicht der Dollar ist an der desolaten Lage des Unternehmens schuld, verantwortlich sind die Fehler des heutigen Daimler- Chefs Schrempp. Er kaufte das marode Unternehmen Fokker. Und dafür müssen die Airbus-Werke nun bluten.

eit Jürgen Schrempp vor drei Mo- kurs von 1,35 Mark Gewinne an die gro- wollte wissen, ob bei soviel Miesen naten zum Chef des Daimler-Benz- ße Mutter Daimler abliefern könn- überhaupt noch Kapital übriggeblieben SKonzerns aufstieg, hat er mit der te. Vergangenen Mittwoch mußte sei. Hinterlassenschaft seines Vorgängers Schrempp erleben, daß der Dollarkurs Die Dasa, der bei dem Fokker-Aben- Edzard Reuter schon einigen Ärger ge- um mal eben 3 Pfennig auf 1,48 Mark teuer schon runde 1,3 Milliarden Mark habt. In der vergangenen Woche aber hochschoß – 13 Pfennig über den von verlorengegangen waren, muß für wei- holten den früheren Chef der Daimler- ihm vorgegebenen Wert. tere dreistellige Millionenbeträge gera- Tochter Dasa die eigenen Fehler ein. Die ganze McKinsey-Aktion schien destehen. Schrempp und der neue Dasa- Am Dienstag verlas Erwin Hilbrink, damit fragwürdig geworden. Immerhin Chef Manfred Bischoff, ein Finanz- Gesamtbetriebsratsvorsitzender der Da- hatten die US-Berater selbst ausgerech- mann, wollen nun auch dieses Malheur sa, im Hamburger Congress Centrum net, daß schon bei einem Dollarkurs von mit dem niedrigen Dollarkurs begrün- Details aus einer geheimen, noch 1,45 Dasa-Gewinne von über 400 Millio- den. von Schrempp in Auftrag gegebenen nen Mark möglich sein würden – ohne Doch in Wahrheit stecken massive Studie des US-Beratungsunternehmens zusätzliche Massenentlassungen und Managementfehler dahinter – und McKinsey. Stillegungen. Schrempps Ehrgeiz. Der Dasa-Manager Die McKinsey-Leute schlugen der Am Donnerstag schließlich kam es wollte den großen europäischen Luft- Dasa vor, 15 000 der rund 40 000 Ar- ganz dick für den Manager Schrempp. und Raumfahrtkonzern schaffen, um beitsplätze im Bereich Luftfahrt zu strei- Die Amsterdamer Börse hatte den Han- sich bei Daimler-Benz für höhere Auf- chen. Bei Airbus solle am besten gleich del mit Aktien der niederländischen gaben zu empfehlen. Jetzt, als Daimler- die Hälfte der Mannschaft abmustern. Flugzeugfirma Fokker unterbrochen, ei- Chef, muß er die Trümmer dieser Pläne Die Werke in Speyer, Laupheim und ner Mehrheitsbeteiligung der Dasa. beseitigen. Dresden könnten geschlossen werden, Schrempp hatte die Firma 1992 für teu- Den Erwerb der Firma Fokker pries weil sie keine hochgradige technische res Geld angeschafft. Schrempp einst als strategische Großtat. Arbeit leisteten. Fokker hatte gerade das schlechteste Und dazu steht er heute noch. Kritiker Noch als Dasa-Chef hatte Schrempp Halbjahresergebnis seiner 76jährigen wunderten sich schon damals, warum verlangt, das Unternehmen so zu stut- Geschichte vorgelegt, ein Minus von 586 sich Schrempp trotz vieler Warnungen zen, daß es auch noch bei einem Dollar- Millionen Mark. Die Börsenaufsicht auf das Abenteuer Fokker einließ.

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WIRTSCHAFT

geschlagen – führen nach Ein- arden Mark Gesamtverlust bringen schätzung von Fachleuten genau dürfte, wenn er bis zum Ende seiner in die Mitte zwischen beiden Marktgängigkeit produziert wird. Wenn Möglichkeiten: Die Dasa über- das Programm DO 328 vorzeitig abge- lebt als dürres Gerippe, unfähig, brochen wird, steigt der Verlust sogar im Luft- und Raumfahrtgewer- auf 4,5 Milliarden Mark. be noch etwas zu bewegen. Generös erwarb Reuter dann die Dabei war die Dasa mit aller- Mehrheit an der Rüstungs-, Raumfahrt- höchstem Anspruch gestartet und Denkfabrik MBB in Ottobrunn. worden. Edzard Reuter hatte Gegen seinen Willen, aber mit viel Sub- Mitte der achtziger Jahre eine ventionen, wurde ihm dabei von der Daimler-Beteiligung an dem Bundesregierung auch die 37,9 Prozent Triebwerkshersteller MTU vor- starke Beteiligung am Airbus-Pro- gefunden und den Ehrgeiz ent- gramm aufgezwungen. Sie erwies sich wickelt, aus den Milliarden-Ge- als einzige profitable Großakquisition winnen des Automobilkonzerns der Reuter-Zeit. eine Technologiefirma zu ent- Der Daimler-Chef beauftragte seinen wickeln. Zögling Schrempp, der dem Schwerlast- Reuter hatte zunächst den wagen-Geschäft entstammte, aus dem maroden Elektrokonzern AEG Sammelsurium ein eigenes deutsches übernommen, der sich bald Luft- und Raumfahrt-Unternehmen zu als Milliardengrab erwies. Dann bauen, es wurde Dasa genannt. Dor- überzeugte er den damaligen nier, MBB, MTU und die Airbus-Betei- Aufsichtsratsvorsitzenden Al- ligung kamen unter das Dasa-Dach. fred Herrhausen von der Deut- Schon bald ging Schrempp daran, den

P. SEITZ / ZEITENSPIEGEL schen Bank mühsam, das ge- Airbus-Partner Frankreich zu düpieren. Regierung gefügig zu machen samte deutsche Rüstungspoten- Er ließ Pläne für ein Regionalflugzeug tial unter dem Mercedes-Stern anfertigen, plante mit der amerikani- Noch weniger aber läßt sich nachvoll- zu vereinen. Bankier Herrhausen sah – schen Konkurrenzfirma Boeing einen ziehen, warum die niederländische Fir- sehr begründet – Management-Proble- 800sitzigen Super-Jumbo und kaufte ma, trotz nahezu vollständiger Abhän- me voraus. Fokker. gigkeit vom Dollar-Raum, keine Kurs- Reuter aber kaufte der gerissenen Mit Fokker hatte Schrempp sich zum sicherung betrieben hatte. Schrempp Martine Dornier-Tiefenthaler die alte „Global Player“, zum Mitspieler auf kaufte auch dieses Risiko generös mit Flugzeugfabrik Dornier für mindestens dem Weltmarkt, erhöhen wollen. Er ein. Airbus dagegen, bemerkte Bre- eine Milliarde Mark mehrheitlich ab. kündigte an, Flugzeuge bauen zu wol- mens Bürgermeister Henning Scherf Dabei erbte er die DO 328, einen frisch len, die bedenklich nahe an den klein- spitz, habe das Dollar-Risiko „sehr in- konstruierten Turboprop, der 3,5 Milli- sten Airbus heranreichten. Vor allem telligent abgesichert“. Ohne Fokker, also ohne Schrempp, würde es bei der Dasa kaum ein Dollar- Problem geben, bestätigen Insider. Nun Schließungen in Sicht aber verwüsten die Fokker-Verluste das Produktionsstandorte Zahlenwerk der Dasa und die Dasa das für Airbus und Dornier von Daimler-Benz – ein Schneeballsy- stem eigener Art, persönlich angescho- ben vom Großen Vorsitzenden. Nordenham Hamburg Großblechfertigung und Entwicklung und Schrempp hingegen, der sich bei Schalenbau-Flugzeuge von Konstruktion; Daimler-Jobs in den USA und Südafri- Airbus und Fokker Endmontage der ka eine bemerkenswerte Hornhaut zu- A 321 und A 319 1153 1853 gelegt hat, zeigt sich nicht irritiert. Kühn 1153 Varel 1100 7100 erklärt er, der von Vorgänger Edzard Bearbeitung von 200 1200 Flugzeugteilen 2793 4600 Stade Reuter in Gang gesetzten Expansion des 2793 350 Kunststoff-Zentrum Daimler-Konzerns müsse nun die Kon- 650 Berlin der Deutschen solidierung folgen. Und da gebe es eben Bremen Aerospace Airbus nur ein einziges Thema: „Kosten, Ko- Flügelausrüstung aller Hannover sten, Kosten.“ Großraumflugzeuge von Airbus Dresden Mit diesem Credo will der Daimler- 512 Fertigung des Chef unter anderem auch die New Yor- Rumpfhecks für Speyer 0 die Fokker 100 ker Börsenaufsicht beeindrucken, bei Produktion von der er zu dem mutmaßlichen Verlust- Kabelbündeln und ausweis des Daimler-Benz-Konzerns Hydraulik-Rohren; Beschäftigte: Stellung nehmen muß. Neben der Kan- Herstellung von 674 Juni 1995 Oberpfaffenhofen nibalisierung des AEG-Konzerns ist der Frachtladesystemen 0 Januar 1998 (Dasa-Planungen) (Dornier) Dasa, und in ihr wieder der Abteilung Fertigung von Höhen- Airbus, die Schlüsselrolle zugedacht: Laupheim und Seitenleitwerk, Was nicht auf hohe Gewinne getrimmt Kunststoff-Fertigung 561 München Flügel und von Innenverkleidungen 2185 werden kann, wird dichtgemacht. 0 Rumpfheck; und Klimarohren für 2000 Endmontage der Die gegenwärtigen Pläne von McKin- alle Airbus-Flugzeuge DO 328 sey – eine andere Unternehmensbera- tung hatte der Dasa sanftere Wege vor-

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WIRTSCHAFT

Airbus-Partner Frankreich reagierte pi- gen und Rohrverkleiden befassen, ste- worden, daß keine Flugzeugfabrik der kiert. Dann forderte er die Franzosen hen zur Disposition. Das Management Welt produktiver sei als die Fabriken auch noch auf, einer Einbeziehung Fok- der Hamburger und der Bremer Werke der Dasa. Sie müßten nur genügend aus- kers ins Airbus-Reich zuzustimmen. soll zusammengelegt werden. genutzt werden – im Zweifel gar mit Se- Mit diesem Trick wollte Schrempp Die Lieferanten sollen künftig am kundärtechnik. größter Partner der europäischen Air- Dollar-Risiko beteiligt werden, und die Schrempp und Bischoff lassen sich bus-Industrie werden. Die Franzosen, verbleibenden Arbeitnehmer müssen durch solche Details nicht verwirren. Im ohne die es nie einen Airbus gegeben hät- auf einigen Komfort verzichten. Bei Münchener Dasa-Hauptquartier gilt das te, waren nicht amüsiert. Schrempp galt mehr Arbeitszeitstreß sollen betriebli- McKinsey-Programm als große Propa- fortan als Boche, als häßlicher Deut- che Zulagen auf tarifliche Lohnerhö- ganda-Show, um die Bonner Regierung scher. Die Besuche des Dasa-Stabes in hungen angerechnet und die Altersver- gefügig zu machen. Dort heißt es denn der französischen Luftfahrt-Metropole sorgung reduziert werden. Selbst für die auch klarsichtig: „Hier wird eine Druck- Toulouse ließen merklich nach. bislang gratis gestellte Barkassenfahrt Kulisse aufgebaut.“ Statt dessen nutzt Schrempp nun die über die Elbe zum Airbus-Werk Ham- Geld von Bonn aber kann im zivilen deutschen Airbus-Werke, um seine Ra- burg-Finkenwerder sollen die Arbeiter Geschäft allenfalls für Airbus abgegrif- tionalisierungsziele bei der Airbus-Mut- künftig löhnen: 4,80 Mark pro Tag. fen werden. Für Fokker zahlt Bonn ter Dasa zu erreichen. Immerhin hat die Mit den Topas- und Dolores-Pro- nichts. Da ist es praktisch, wenn die Deutsche Airbus zuletzt 259 Millionen grammen sollen die Dasa-Gewinne bald Horrorkulisse vorwiegend um Airbus Mark Jahresgewinn verbucht. „Wir lie- sprunghaft steigen: 1998 sollen es 1,1 herum errichtet wird. fern die Kohle ab“, bringt ein Airbus-Ma- Milliarden Mark sein, 1999 sogar 1,2 Doch die Bonner Ministerialen haben nager die Sache auf den Punkt, „und Herr Milliarden Mark. „Wer glaubt, daß in schon klargemacht, daß es zum Aus- Bischoff reicht sie nach Holland weiter.“ der Luftfahrtbranche ein solcher Wert gleich für den Dollar und den Wettbe- Schon seit 1992, als nach dem Ende des zu erreichen ist“, braust Betriebsrat Hil- werbsvorsprung von Boeing nichts gebe, Kalten Krieges die Rüstungsaufträge brink auf, „versteht nichts vom Geschäft es sei schon genug gezahlt worden. Nun W. V. BRAUCHITSCH M. MEYBORG / SIGNUM Dasa-Chef Bischoff, Airbus-Fertigung in Hamburg: „Druck-Kulisse aufgebaut“

ausblieben, hatte Airbus durch stramme und muß dringend noch mal auf die möchte die Schrempp-Crew wenigstens, Rationalisierungsprogramme die Dasa Schulbank.“ daß die zum Ende des Jahrhunderts fäl- herausreißen müssen. In einem „Topas“ Doch Schrempp, der damit wohl ge- ligen Rückzahlungen für die Bonner genannten Programm sollte Airbus, meint ist, sieht das ganz anders. Entwe- Anschubfinanzierung des Airbus-Pro- nachdem Konkurrent Boeing eine der die Gewinne sind da, wenn zum En- gramms hinausgeschoben werden. 25prozentige Kostensenkung bis zum de des Jahrzehnts sein Vorstandsvertrag Zudem hofft die Dasa auf Aufträge Jahre 2000 vorbereitet hatte, die eige- zur Verlängerung steht, oder Daimler- beim Bau des geplanten Eurofighters. nen Aufwendungen um 30 Prozent sen- Benz wird wieder ein ganz normales Au- Doch das Programm wurde schon mehr- ken. Insgesamt wollte die Dasa 1,6 Mil- tomobil-Unternehmen sein. Besonders fach reduziert. Des Kanzlers Interesse liarden Mark jährliche Kosten einsparen den Airbus-Leuten schwant deshalb dafür gilt als marginal. Verteidigungsmi- – beim angenommenen Dollarkurs von Fürchterliches. „Das geht an die Sub- nister Volker Rühe hält sich bedeckt: 1,65 Mark. stanz“, sagt ein Hamburger Dasa-Inge- Eine gültige Militärstrategie für die Zeit Anfang 1995 schob Schrempp mit Hil- nieur, „das nimmt den Leuten jeden nach dem Kalten Krieg sei noch nicht fe von McKinsey das auf einem Dollar- Drive.“ ausformuliert. Und auf Forschungsauf- kurs von 1,35 Mark basierende neue Daß es ums Plattmachen gehen könn- träge aus reiner Gefälligkeit kann Sparprogramm „Dolores“ nach. Noch te, entnehmen Dasa-Insider auch dem Schrempp nicht zählen. einmal sollen nun 979 Millionen Mark Schriftverkehr mit einer anderen Con- „Es rächt sich nun“, sagt Ex-Airbus- Kosten weg, 450 allein bei Airbus. Der sulting-Firma. Sie behauptet, während Chef Johann Schäffler, „daß Daimler 16 000 Mann starken Deutschen Airbus der Anlaufperiode des Airbus-Pro- den Bonnern nicht ein paar Prozent an drohen 8000 Entlassungen. Werke, die gramms, als es noch hohe Subventionen dem Geschäft gelassen hat – dann wären sich mit Sekundärtechnik wie Blechbie- gab, sei so wertvolle Technik investiert die mit im Boot.“

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Steuern Happige Aufschläge Die Verfassungsrichter fordern neue Änderungen im Steuerrecht. Die Op- fer sind vor allem Eigner und Erben großer Vermögen.

m Bayernkurier begründete Theo Waigel in der vorigen Woche kaum Iverhüllt die Pflicht zum Widerstand gegen das Bundesverfassungsgericht. Seine Sorge galt dem Kruzifix in der

Grundschule und den Werten des christ- U. BAUMGARTEN / VARIO-PRESS lichen Abendlandes in seiner bayeri- Finanzminister Waigel: Normale Eigenheimbesitzer bleiben verschont schen Heimat. Doch der Zorn auf die rotberockten gang für Grundbesitzer“ (Verfassungs- Weil Vater und Tochter aber einen Richter in Karlsruhe hat nicht nur richter Dietrich Katzenstein schon Formfehler gemacht hatten, bestritt christliche Wurzeln. Der katholische 1986) wird damit ein Ende gesetzt. das Finanzamt die „mittelbare Grund- Bayer in Waigel spricht dem Bonner Fi- Bei der Erbschaft- und Vermögen- stücksschenkung“ und beharrte auf ei- nanzminister gleichen Namens aus der steuer gelten für Immobilien Einheits- ner Geldschenkung mit der Folge einer Seele. werte, die zum letztenmal 1964 festge- Steuerschuld von 91 000 Mark. Ob Zinsbesteuerung oder Existenzmi- legt wurden. 1974 ordnete der Gesetz- Der Rechtsstreit bescherte dem nie- nimum – seit Waigel für Steuern zustän- geber einen 40prozentigen Zuschlag an. dersächsischen Finanzgericht seinen dig ist, haben ihn die Verfassungsrichter Dennoch liegen die heute üblichen Ein- Musterfall für Karlsruhe: Es könne immer wieder unter Druck gesetzt; stets heitswerte weit unter dem Preis, der doch wohl nicht mit dem Gleichheits- mußte er neue Gesetze erlassen oder al- auf dem Markt zu erzielen wäre (siehe gebot zusammenpassen, daß dieselbe te verbessern. Grafik). In 30 Jahren hat der Gesetzge- „Bereicherung“ der Beschenkten zu ei- Am Freitag der vorigen Woche traf ber entgegen den eigenen Vorgaben die ner Steuerforderung von 858 Mark der Karlsruher Bann den Finanzminister Einheitswerte nicht einmal neu ermit- oder 91 000 Mark führe, je nachdem, wieder. Die Richter erklärten die Re- telt. ob Juristen eine Geldschenkung oder geln der Erbschaft-, Schenkung- und Dieses Versäumnis bewirkt eine ver- Vermögensteuer als mit dem Grundge- fassungswidrige Ungleichbehandlung. setz nicht vereinbar. Eigner und Erben Erben von Immobilien zahlen Steuern Geschenke an die Erben von Latifundien und Villen seien gegen- auf der Basis unrealistischer niedriger Bei der Vermögensteuer, Erbschaftsteuer über den Besitzern von Geldvermögen Einheitswerte. Die Erben von Geld und Schenkungsteuer auf Immobilien oder Aktienpaketen seit Jahren wider- oder Wertpapieren dagegen werden wird der sogenannte Einheitswert rechtlich begünstigt worden. grob benachteiligt, weil ihre Steuer auf zugrunde gelegt. Die neuen Beschlüsse des Zweiten der Grundlage sehr viel höherer, aktu- Senats werden Waigel eine Menge Ar- eller Marktpreise ermittelt wird. Einheitswert als Anteil am Verkehrswert* beit machen und setzen ihm, entgegen Die hannoverschen Finanzrichter in Prozent den Bonner Hoffnungen, auch noch en- präsentierten dem Verfassungsgericht ge Fristen. Außerdem schreiben die noch im Juli einen Fall, der den Wider- Verfassungshüter unerwartet genau vor, sinn der Ungleichbehandlung aufzeigt. EIGENTUMS- 13% wie die Reformen auszusehen haben. Ein Vater schenkte seiner Tochter eine WOHNUNGEN Besitzer kleiner Vermögen, etwa im Million Mark. Darauf wäre, nach Ab- Wert eines durchschnittlichen Einfamili- zug eines Freibetrages von 90 000 enhauses, müssen von der Vermögen- Mark, eine Schenkungsteuer von rund 12,5% steuer verschont werden. Solche Ver- 91 000 Mark fällig geworden. EINFAMILIEN- mögen sollen unbehelligt vom Fiskus Soviel mochten Vater und Tochter HÄUSER auch an enge Angehörige vererbt oder dem Staat aber nicht geben. Deswegen verschenkt werden können. Das gilt im überwies der großzügige Papa der 11,5% gleichen Umfang für Häuser, Geldver- Tochter das Geld mit der Auflage, ein MIETWOHNUNGEN mögen oder Aktienbesitz. ganz bestimmtes Grundstück in Hanno- Opfer der Karlsruher Neu-Justierung ver zu kaufen. So wurde aus der Geld- sind die Eigner oder Erben großer Lu- schenkung eine „mittelbare Grund- 9% xusvillen und ausgedehnten Landbesit- stücksschenkung“. Maßstab der Be- UNBEBAUTE zes. Sie müssen künftig ein Vielfaches steuerung wurde der Einheitswert von GRUNDSTÜCKE der bisherigen Vermögen- oder Erb- 118 600 Mark. Daraus ergab sich eine *Wert des Objektes auf dem schaftsteuer überweisen. Einem „auf Schenkungsteuer von nur noch 858 derzeitigen Immobilienmarkt Dauer angelegten Begünstigungsvor- Mark.

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WIRTSCHAFT

len. „Es ist gerichtsbekannt, daß das Nahe Verwandte bevorzugt Scheitern der Bemühungen um eine Re- Erbschaftsteuer und Schenkungsteuer: Der Tarif ist abhängig von der Höhe des form der Einheitswerte auf den Wunsch Erwerbs und dem Verwandtschaftsgrad, Beispiele: interessierter Kreise zurückzuführen ist“, schrieben die Münchener Steuer- richter in einer Entscheidung. STEUERSATZ IN PROZENT Diese „interessierten Kreise“ identifi- STEUER- STEUER- STEUER- STEUER- ziert der hannoversche Finanzrichter KLASSE IKLASSE IIKLASSE IIIKLASSE IV Michael Balke als „Großgrundbesitzer Wert des und deren Lobbyisten“. Daß diese Ehegatten, Kin- Enkel und Eltern, nichtverwandte Gruppe so lange geschont wurde, dazu steuerpflichtigen der, Stiefkinder Urenkel Geschwister Erben, Stiftungen Erwerbs in Mark trug auch das Verfassungsgericht bei. Aus durchsichtigen, formalen Gründen 50 000 361120wehrten die Karlsruher Vorlagen der Fi- nanzgerichte lange als unzulässig ab und 150 000 5101728drückten sich vor der Entscheidung. 600 000 8162640 „Es ist eine bedrückende Einsicht“, urteilt der Kölner Steuerrechtler Jens 1000 000 10 20 32 48 Peter Meincke, „daß eine von allen Sei- ten als notwendig empfundene Reform 10000 000 18 33 46 60 dennoch über viele Jahre hinweg verzö- gert werden kann.“ Damit ist es jetzt vorbei. Vor wenigen Wochen hatte Theo Waigel sich noch in der Hoffnung gewiegt, das Karlsruher Gericht werde ihm für eine aktuelle Be- wertung der rund 30 Millionen Grund- eine Grundstückschenkung konstruier- auf Geld; es erbt 500 000 Mark und muß stücke in der Bundesrepublik zehn Jah- ten. dafür 30 750 Mark Erbschaftsteuer zah- re Zeit lassen. Mit höheren Freibeträ- Die Ungereimtheiten, die aus den len. gen und niedrigeren Steuersätzen werde niedrigen Einheitswerten resultieren, Das eheliche Kind dagegen zahlt er eine von Karlsruhe gebotene Reform wirken sich genauso bei der Vermögen- überhaupt keine Erbschaftsteuer. Es ohne Verluste für Erben und Eigentü- steuer und der Erbschaftsteuer aus. Die darf vom Einheitswert (180 000 Mark) mer, aber auch ohne Steuereinbußen hannoverschen Finanzrichter führen die des Grundstücks die Überweisung von gestalten. Verfassungswidrigkeit solchen Rechtes 500 000 an den Halbbruder zum Nenn- Das wird so wohl nicht gehen. Zwar an einem zweiten Exempel vor: Ein wert abziehen. Da bleibt nichts mehr zu gaben die Richter dem Bonner Steuer- Mann hinterläßt ein Grundvermögen im versteuern, obwohl ebenfalls ein Erbe minister fünf Jahre Frist, die Immobi- Wert von einer Million Mark sowie ein im Wert von 500 000 Mark angetreten lien neu zu bewerten. Doch keineswegs eheliches und ein uneheliches Kind. Der wird. darf der alte Schlendrian in dieser Zeit Einheitswert des Grundstücks beträgt Die grobe Verfassungswidrigkeit der weitergehen. Bereits vom 1. Januar 180 000 Mark. Das nichteheliche Kind niedrigen Einheitswerte war dem Bun- 1997 an müssen die Einheitswerte der aber hat nur einen Erbersatzanspruch desfinanzhof schon vor Jahren aufgefal- Immobilien für die Berechnung der Ver- mögensteuer annähernd so hoch sein wie ihr Markt- wert. In der Übergangszeit von fünf Jahren kann Wai- gel die jetzigen Einheits- werte durch happige Auf- schläge unbürokratisch re- geln. Wenn er die allerdings nur auf 40 Prozent des Ver- kehrswertes der Grundstük- ke liftet, wie intern geplant, genügt er den Karlsruher Vorgaben nicht; die verlan- gen nämlich ausdrücklich den „Verkehrswerten nahe- kommende Einheitswerte“. In diesem und im näch- sten Jahr darf die Vermö- gensteuer noch nach dem alten, Immobilienbesitzer schonenden Maßstab ermit- telt werden. Für die Erb- schaftsteuer aber gelten an- dere Regeln. In Erwartung des Karls- ruher Spruchs hatte in den

G. SAGORSKI / DIAGONAL vergangenen Monaten be- Villen in Hamburg-Blankenese: Der Run auf die Notare hat begonnen reits ein Run auf die Notare

86 DER SPIEGEL 34/1995 eingesetzt, viele wollten noch schnell ih- Vom nächsten Jahr an gelten Schen- 38,9 Prozent aller Wohnungen in re Nachkommen beschenken. kung- wie Erbschaftsteuerbescheide ein Deutschland werden von den Eigentü- Erben ist in der Bundesrepublik nach Jahr lang nur vorläufig. Endgültig fest- mern genutzt. Das sei, belehrten die 50 Jahren Frieden, trotz extrem unglei- gesetzt werden sie im Jahr darauf, wenn Verfassungsrichter Waigel, „die ökono- cher Vermögensverteilung, kein Privileg die Finanzbeamten mit den neuen Ein- mische Grundlage individueller Frei- einer ganz kleinen Schicht mehr. Die heitswerten hantieren können. Ein Im- heit“. Diese sei von jeder Vermögen- BBE-Unternehmensberatung in Köln mobilienvermögen von 20 Millionen und Erbschaftsteuer freizuhalten. Der ermittelte, bis zum Jahr 2000 werde es in Mark kostet den erbenden Sohn dann Wert eines durchschnittlichen Einfamili- Deutschland zu 1,7 Millionen Erbfällen nicht mehr rund 200 000 Mark Steuern, enhauses wird in Bonn auf 375 000 Mark kommen. Im gleichen Zeitraum würden sondern vier Millionen. geschätzt. 2,6 Billionen Mark vererbt, davon 995 Den Anspruch, das Steuerrecht ver- Bisher gelten bei der Vermögensteuer Milliarden Mark in Grundvermögen. fassungsgemäß umzugestalten, wo im- für die Eheleute Freibeträge von zusam- Die Steuersituation für Grundbesitz- men 240 000 Mark, bei der Erbschaft- vererber, das war allen Kundigen klar, steuer für den überlebenden Ehepartner konnte durch den Karlsruher Spruch Wer sparen will, von 250 000 Mark, für die Kinder von nur schlechter werden. Deshalb be- muß den Nachwuchs 90 000 Mark. Diese Freibeträge sind glückten steuerscheue Eltern ihre Kin- nach dem Karlsruher Raster zu niedrig. der im Vorgriff auf das Erbe mit Grund- schnell beschenken Einen höheren Freibetrag muß Wai- stücksübertragungen. Dazu bliebe noch gel nach dem Karlsruher Votum aber immer reichlich Zeit, wenn auch bei der mer klagende Bürger und vorlegende Fi- nicht nur dem Hauserben, sondern auch Erbschaft- und Schenkungsteuer die al- nanzgerichte ihnen Gelegenheit dazu ge- dem „Inhaber anderer Vermögenswer- ten Einheitswerte bis Ende 1996 gelten ben, stellten die Karlsruher Richter auch te“ einräumen. würden. diesmal wieder unter Beweis. Sie be- Das macht die Sache teuer. Weit Dieses Schlupfloch wollte der Zweite schieden sich nicht damit, die geltenden mehr als die Hälfte der Erbschaften lie- Senat den Eigentümern großer Immobi- Gesetze als verfassungswidrig zu ächten; gen unter 400 000 Mark. Da ist künftig lienschätze jedoch nicht lassen. Wer sie setzen gleichzeitig feste Wegmarken für den Finanzminister nichts mehr zu partout Steuern sparen will, muß noch für die fällige Neuorientierung. holen. Will Waigel sein Versprechen in diesem Jahr den Nachwuchs beschen- Die wichtigste Botschaft: Bürger mit halten, den Erbschaftsteuerertrag der ken. Eilige Millionentransfers aber sind kleinem Vermögen in Form des selbstge- Länder (1994: 3,5 Milliarden Mark) nicht ohne Risiko für die großzügigen nutzten normalen Hauses oder mit einem nicht zu schmälern, bleibt ihm keine an- Eltern, der Nachwuchs könnte sich als Wertpapierbesitz von ähnlichem Wert dere Wahl – er muß die Steuersätze für undankbar erweisen. haben vom Fiskus nichts zu fürchten. Großerben drastisch erhöhen. Y

DER SPIEGEL 34/1995 87 . M. GLUFKE Hauptversammlungsredner Hermann Kronseder*: Der Firmenchef flog nach Brasilien, Sohn Harald verkaufte Aktien

Eine junge Behörde hat den Fall auf- Nur selten wurden Insider aufge- Börse gerollt, das Bundesaufsichtsamt für den spürt. Die Skandale belegten, daß die Wertpapierhandel in Frankfurt. Die freiwillige Regelung wenig wert war. Strafe ergibt sich aus dem neuen Wert- Der bisher wohl größte Insider-Fall papierhandelsgesetz, kurz WPhG ge- wurde 1973 publik. Der Thyssen-Kon- Lücke im nannt. zern hatte den Rheinstahl-Aktionä- Amtspräsident Georg Wittich freut ren ein Übernahmeangebot gemacht. sich über seine „ersten Erfolge“. Rheinstahl-Chef Toni Schmücker Gesetz Schließlich sei der Insiderhandel kein kannte die Offerte, etliche Bankhäuser Kavaliersdelikt, sondern richte erhebli- ebenfalls. Sie deckten sich zu günstigen Erstmals wird in Deutschland ein chen Schaden an. Es gebe bereits, sagt Kursen mit Aktien ein. Insider bestraft: Er hat Aktien der der Präsident, einen „Bewußtseinswan- 1985 vereinnahmte Daimler-Benz del“. Der ist wohl auch vonnöten. Jahr- den Elektrokonzern AEG. Klaus Krones AG verkauft, bevor ein miß- zehntelang galt die Bundesrepublik als Kuhn, damals Aufsichtsratsvorsitzen- ratenes Geschäft publik wurde. Paradies für Insider. Kleinaktionäre wie der der AEG, erfuhr vorzeitig von ausländische Investoren beklagten, so dem Geschäft und orderte 700 Aktien. Wittich, daß an deutschen Börsen kein An dem folgenden Kurssprung hat er arald Kronseder, 39, stammt aus fairer Handel herrsche. zunächst gut verdient. einer angesehenen Unternehmer- Zwar gab es seit 1970 eine Art Ehren- Etlichen Wirbel machte 1993 der IG- Hfamilie. Quasi aus dem Nichts hat kodex für Insider, ihren Wissensvor- Metall-Vorsitzende Franz Steinkühler, sein Vater Hermann Kronseder das sprung nicht zu nutzen. Doch mangels zugleich Mitglied im Aufsichtsrat bei „Wunder von Neutraubling“ (Manager griffiger Gesetze blieben die Profiteure Daimler-Benz. Als Steinkühler von der Magazin) geschaffen: die Krones AG, ungeschoren. geplanten Fusion mit der Mercedes- Weltmarktführer für Etikettier- Automobil-Holding erfuhr, maschinen. kaufte er für fast eine Million Doch nun erhielt Sohn Ha- 4.11.1994 1380 Mark Aktien. Wie erwartet rald Post vom Strafrichter. Er 1400 stieg der Kurs steil an, als der solle 600 000 Mark Geldbuße Abgezockt Zusammenschluß bekannt wur- Kursverlauf der Krones- zahlen, hieß es in dem Schrei- 1300 de. ben, und fortan „ein gesetzmä- Vorzugsaktien im Solche Insider kommen künf- ßiges und geordnetes Leben“ November 1994 tig nicht mehr ungestraft davon. führen. 1200 Seit einem Jahr gilt das neue Kronseder wird ein Vergehen Recht. Danach drohen Geldbu- vorgeworfen, das erst seit kur- 1100 ßen oder Freiheitsstrafen bis zu zem strafbar ist: Insiderhandel. fünf Jahren. Er habe frühzeitig gewußt, daß 1000 30.11.1994 Derzeit untersucht das die Aktienkurse der väterlichen 17. 11. 1994 865 Frankfurter Aufsichtsamt zehn Firma Krones wegbrechen wür- Fälle, darunter durchaus promi- 900 780 den, gleichwohl über 1000 Pa- nente Firmen wie die Krones piere aus den Familiendepots AG aus dem bayerischen Neu- abgestoßen. So wurden abseh- 800 traubling. bare Verluste auf ahnungslose Mit rund 8300 Mitarbeitern Käufer abgewälzt. 700 und 1,6 Milliarden Mark Um- 1. 7. 14.21. 28. satz gilt Krones als Marktführer Quelle: Datastream * Am 20. Juli in Neutraubling. bei Maschinen für die Geträn-

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WIRTSCHAFT

keindustrie. Patriarch Hermann Krons- Besserwisser des Unternehmens. Über eder, inzwischen 70, leitet noch heute Arbeitnehmer 150 Vorschläge hat er in seinen 31 Be- den Konzern, drei Söhne helfen ihm. triebsjahren bei Opel eingereicht – und Volker etwa kümmert sich um die Fi- mehr als eine halbe Million Mark dafür nanzen, Norman sitzt im Aufsichtsrat, kassiert. und Harald verwaltet die Aktiendepots Besser „Es gibt nichts, was nicht verbessert der Familie. werden könnte“, sagt Häberle zufrieden Viele Jahre lang liefen die Geschäfte und freut sich, daß 80 Prozent der Feh- prächtig, zumeist mit zweistelligen Zu- als Lotto ler von Ingenieuren auf dem Reißbrett wachsraten; die Aktienkurse kletterten gemacht werden. Erst in der Produktion schier unaufhaltsam – bis zum Herbst Unternehmen belohnen ihre Mitar- sind die Unzulänglichkeiten zu sehen. vergangenen Jahres. beiter für Verbesserungsvorschläge. Doch auch kleinere Korrekturen, wie Ein südamerikanischer Großauftrag etwa die Optimierung des Papierkrie- schlug fehl, ein kräftiger Gewinnein- Ein Opel-Lackierer hat es damit zu ges, bringen ein paar Mark im Porte- bruch war absehbar. Anfang November einem kleinen Vermögen gebracht. monnaie. Seitdem weiß der 52jährige: flog Firmenchef Hermann Kronseder „Mit Knochenarbeit ist kein Geld zu zur Niederlassung in Brasilien, Sohn verdienen, aber mit Köpfchen.“ Harald rief bei der Hausbank in Luxem- ackierermeister Heiko Häberle aus Die Weisheit teilt er nur mit einer burg an. Wanne-Eickel begann seine Karrie- kleinen Gruppe von Beschäftigten, wie Die Commerzbank International, so Lre als Werksschlaumeier mit einem das in Frankfurt am Main ansässige sein Auftrag, solle möglichst „kursscho- heftigen Wutanfall. Deutsche Institut für Betriebswirtschaft nend“ Vorzugsaktien aus den Familien- Zornig zerrte er an den frisch lackier- (DIB) ermittelte. Eine Umfrage bei 266 depots verkaufen. ten Karosserien, die sich wieder einmal Unternehmen mit insgesamt 3,1 Millio- Über Luxemburg, Frankfurt und auf dem Fließband im Bochumer Opel- nen Mitarbeitern ergab, daß sich im vo- München wurden zwischen Allerheili- Werk verkeilt hatten. Nur mit Mühe rigen Jahr lediglich acht Prozent der gen und Buß- und Bettag insgesamt 1140 Krones-Aktien zum Stückpreis von 1100 bis 1378 Mark abgestoßen. Erst am 17. November 1994 gab der Vorstand das mißratene Geschäft bekannt. Prompt stürzte der Kurs auf 780 Mark ab (siehe Grafik). Auch gegen die Commerzbank wird ermittelt

Sich und seinen Familienangehörigen, so die Beschuldigung, habe Harald Kronseder somit Wertverluste von min- destens 480 000 Mark erspart. Harald Kronseder gestand und kam mit einem Strafbefehl ohne Gerichtsverfahren da- von. „Wegen des geringen Ermittlungs- aufwands“, so empfahl die Staatsanwalt- schaft, sollen nur 50 000 Mark in die Staatskasse fließen, 550 000 Mark an

wohltätige Einrichtungen, vor allem für J. SCHWARTZ drogenabhängige Jugendliche. Opel-Arbeiter Häberle: „Es gibt nichts, was nicht verbessert werden könnte“ Die Ermittlungsverfahren gegen sei- nen Vater und die Brüder wurden frei- konnte er sich zügeln, um nicht gegen Mitarbeiter, also nur etwa jeder zwölfte, lich eingestellt. Ihnen ist keine vorsätz- den stählernen Mitholer zu treten, der am betrieblichen Vorschlagswesen betei- liche Insiderstraftat nachzuweisen. schuld war an der Misere. Das ver- ligt hatten. Staatsanwalt Klaus-Dieter Benner mo- dammte Ding schob die Wagen zu weit Verständlich ist das nicht, schließlich niert eine Lücke im Gesetz: Vorteile aus nach vorne. Sie rollten weg, verloren die geht es um eine Menge Geld: 1994 wur- dem Geschäft können nur beim Täter Arretierung oder fuhren aufeinander den laut Umfrage 218Millionen Mark für abgeschöpft werden. auf. Kurz: Die Sache war Pfusch. knapp 544 000 Vorschläge ausgeschüt- Völlig ungestraft kommen sie womög- Ein zweiter Mitholer, vorne ange- tet, der Prämiendurchschnitt lag bei 907 lich doch nicht davon. Nach dem Gesetz bracht, könnte dem ständigen Ärgernis Mark. Der größte Coup gelang einem hätte der Krones-Vorstand den Gewinn- ein Ende setzen, dachte der aufgebrach- Mercedes-Mitarbeiter: Er kassierte fast einbruch „unverzüglich“ bekanntma- te Häberle. Er schrieb die Idee nieder 350 000 Mark für seinen Geistesblitz. chen müssen. Das Aufsichtsamt regt und reichte sie bei seinem Vorgesetzten Ungleich höher liegt der Nutzen für deshalb an, ein weiteres Bußgeldverfah- ein. Wochen später bekam er Bescheid die Unternehmen: Mindestens 1,14 Mil- ren einzuleiten. von der Geschäftsführung: Verbesse- liarden Mark sparten sie 1994 durch die Auch gegen die Commerzbank wird rungsvorschlag angenommen, wir gratu- Verbesserungsideen ihrer Angestellten ermittelt: Wundersamerweise haben ei- lieren zur Prämie von 50 000 Mark. ein. nige ihrer Kunden kurz vor dem Kurs- Fünfundzwanzig Jahre liegt das zu- Bis zu zehn Vorschläge reicht der pas- sturz ihre Krones-Papiere abgestoßen. rück, und heute ist Häberle anerkannter sionierte Taubenzüchter Häberle pro

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Jahr ein, rund ein Drittel davon wird an- len.“ Täglich läuft der Spätschicht-Lei- regen, ihnen sogar hilfreich zur Seite zu genommen. Dreimal schon erhielt er die ter der Lackiererei durch die riesigen stehen, als Vorbild und Vorgesetzte. Höchstbelohnung von 100 000 Mark. Werkshallen, immer auf der Suche Die Einschätzung wird von den Män- „Zum Beispiel hierfür“, sagt Häberle, nach Makeln. Mit den Jahren hat Hä- nern am Fließband nicht geteilt. „Bei und deutet auf eine schlichte Schraub- berle eine Art Technik entwickelt: uns laufen täglich 1200 Astra vom Band, zwinge. Vorsichtig löst er das zehn Zenti- „Man darf sich auf keinen Fall vorneh- da haben wir keinen Kopf, uns großartig meter lange Teil vom Türrahmen der men: So, heute brauch’ ich eine Idee. Gedanken zu machen“, knurrt ein Po- frisch lackierten Karosserie, wienert es Wenn man verkrampft, fällt einem lierer. „Für uns bleiben die kleineren auf Hochglanz und legt es auf die flache nichts ein.“ Ideen, die Sahnestücke fallen für die Hand wie eine wertvolle Perle. Entdeckt er einen lukrativen Miß- beiden ab.“ „Die habe ich zum Abstandshalter um- stand, dann heißt es vor allem: Erre- Häberle indes hat noch niemals funktioniert, damit die Türen nicht zu- gung zügeln. Gemütlich in Richtung „Mißgunst oder gar Neid“ verspürt. klappen.“ So werden Lackschäden am Höchstens seitens der Vorgesetzten, die Türeinstieg verhindert, die teure Nach- sich blamiert fühlen, wenn ihr Unterge- bearbeitung fällt weg. „Wenn man bener Vorschläge hat, die eigentlich ih- Einen weiteren Hauptgewinn brachte verkrampft, fällt einem nen selbst einfallen sollten. Die blok- der Vorschlag zu einem Fließbandsy- kierten dann schon mal den Vorgang, stem, dasAutos, diedoppelt lackiert wer- nichts ein“ ließen geniale Ideen in der Schublade den müssen, automatisch zurücktrans- verschwinden. „Da muß man am Ball portiert. Vor dieserErfindung hatten vier Büro schlendern, ja keine Aufmerksam- bleiben und Druck machen“, sagt der Kollegen die Wagen zurückgeschoben. keit erregen. Erst wenn man um die Ek- ehrgeizige Häberle. „Die haben an anderer Stelle Arbeit be- ke ist, darf gerannt werden. Schnell den Doch er ist ja nicht nachtragend, und kommen“, beteuert Häberle. „Wegen Vorschlag formulieren, und ab zum seit es bei Opel einen Vorschlagskoordi- mir wurde noch keiner entlassen.“ Vorgesetzten damit. nator gibt, hat sich dieser Konflikt ent- Bis zu 30Prozent der Jahreseinsparung „Wenn dir der liebe Gott eine Idee spannt. Völlig ungehemmt darf er nun des Unternehmens erhält er pro ange- gibt, dann schreib sie auf, zwei Minuten vorschlagen, was die Unzulänglichkei- nommenem Vorschlag, bis zur Ober- später hat sie ein anderer“, erklärt Lo- ten hergeben. grenze von 100 000 Mark. thar Herrmann, 55. Er ist wie Häberle Nur ein Problem hat er noch nicht ge- „Es istmir ein Rätsel, warum so wenige Schichtleiter und scharfer Konkurrent löst: „Wir haben einen hohen Kranken- der Kollegen mitmachen“, sagt er. im Ideenwettbewerb. stand. Wenn man da einen Verbesse- „Verbesserungsvorschläge sind tausend- Beide Chefvorschläger beteuern, ihre rungsvorschlag hätte, ja, dann wäre ich mal gewinnträchtiger, als Lotto zu spie- Kollegen ständig zum Mitmachen anzu- reich.“

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WIRTSCHAFT TRENDS

stellten die Münchener Assekuranz-Manager ein neues Tarifsystem vor, das erstmals Alter und Schadenshäufig- keit bestimmter Autotypen oder die Fahrgewohnheiten des Halters berücksichtigt und den Versicherten Rabatte zwischen fünf und zehn Prozent gewährt. Das neue Sy- stem wollen die Versicherungsmanager demnächst in einer großangelegten PR-Kampagne der Öffentlichkeit vorstel- len. Der vertrauliche Leitfaden für die Versicherungsver- treter macht deutlich, wie die Allianz die Tarife dazu nut- zen will, der Konkurrenz Kunden abzujagen. „Wenn Sie Chancen zur Abwerbung sehen“, heißt es in dem Heft,

K. ANDREWS / DIAGONAL „machen Sie gleich einen Termin.“ Die Vertreter sollen Versicherungsschaden notfalls alte Kundenkarteien durchkämmen. In den näch- sten Tagen erhalten die Allianz-Beauftragten von der Allianz Zentrale Listen früherer Allianz-Versicherungsnehmer, die sie aufspüren und als Kunden zurückgewinnen sollen. Als Köder dient dabei das neue Tarifsystem. Dessen gün- Jagd auf die Konkurrenz stigere Tarife gelten nur für Neuabschlüsse; wer bereits ei- ne Police besitzt, muß weiter die alten, höheren Preise be- Der Münchener Allianz-Konzern versucht mit recht unge- zahlen. Vertreter, die sich überfordert fühlen, können die wöhnlichen Methoden, seine Position im heißumkämpften Telefonnummer 0180/3334777 wählen. Dort meldet sich Kfz-Versicherungsgeschäft zu verbessern. Das geht aus ei- ein „anonymer Trainingspartner“, der im Auftrag der ner internen Anweisung für die Außendienstmitarbeiter Allianz die Überredungskünste des Vertriebsmannes hervor, die dem SPIEGEL vorliegt. Vergangene Woche testet.

VW Schatzsuche Pie¨ch hebt ab Aktien für Abenteurer Ferdinand Pie¨ch droht Ärger mit einer Risikofreudige Anleger können ihr rund 30 Millionen Mark teuren An- Kapital neuerdings auf dem Meeres- schaffung. Der VW-Konzern hat auf grund arbeiten lassen. An der Londo- Wunsch seines Chefmanagers einen ner Börse gibt im September erstmals dreistrahligen Jet vom Typ Falcon 900 ein Unternehmen Aktien aus, dessen des französischen Herstellers Dassault Geschäft die Schatzsuche ist. Die Ca- angeschafft. Damit Pie¨ch sich auf den ribbean Marine Recovery (CMR), ei- Langstreckenflügen wohl fühlt, wurde ne Firma, die weltweit nach wertvollen die luxuriös ausgestattete Kabine mit Schiffswracks sucht, zeichnet die An- speziell angefertigtem feuerfesten Le- teile für die Bergung eines angeblich der sowie Marmor im Badeabteil ausge- mit Gold und Silber beladenen spani- stattet. Bei Landungen auf deutschen schen Schiffes, das im frühen 17. Jahr- Flughäfen ist das Personal oft erstaunt, hundert vor den Bermudas gesunken

ist. Die gewerblichen Schatzsucher AP vermuten in dieser Küstenregion rund Bergung eines Silberschatzes 200 alte Schiffswracks, darunter ein Pi- ratenschiff sowie ein britisches Skla- eine fünf Jahre geltende Konzession, venschiff. Die CMR hat von den Re- das Territorium nach Beute abzusu- gierungen der Bermudas und Antiguas chen.

Immobilien te lang keine Miete zu zahlen; in Frank- furt, wo derzeit fast 600 000 Quadrat-

KNIPPERTZ Geschenke für Mieter meter leerstehen, sind in der Regel die Pie¨ch ersten drei Monate mietfrei. Immo- Manchen Bauherren, die in Berlin Bü- bilienexperten wie Michael Koch, wenn der Maschine mit dem Kennzei- rohäuser hochgezogen haben, droht Deutschland-Chef des Großmaklers chen VR-CBG der Wolfsburger Kon- ein Fiasko: Derzeit stehen in der deut- DTZ Zadelhoff, registrieren „ein hohes zernchef entsteigt. Denn dieFalcon von schen Hauptstadt 650 000 Quadratme- Maß an Kompromißbereitschaft bei VW, mittlerweile der dritte firmeneige- ter Bürofläche leer – fünf Prozent des vielenVermietern“.Die wird wohlnoch ne Jet, ist nicht in Deutschland zugelas- gesamten Bestands. Weitere 800 000 weiter zunehmen: In fast allen Ballungs- sen. VR-C ist das internationale Flug- Quadratmeter werden bis Ende des zentren wächst das Angebot an Büros kürzel für die steuersparenden Cayman Jahres hinzukommen. Die Mieten stärker als die Nachfrage; in diesem Islands. Im Management hat die An- bröckeln weiterhin, und darüber hin- Jahr stieg die Leerstandsquote in Dres- schaffung einigen Ärger ausgelöst. aus locken die Eigentümer mit miet- den um 90, in Leipzig um 80 Prozent – Pie¨chs strenges Sparprogramm für den freien Zeiten. Wer derzeit in Berlin ein und dort werden, wie in anderen Groß- Konzern, heißt es intern, gelte offenbar Büro bezieht, braucht bei einem Zehn- städten, weitere Bürohäuser im näch- nur für die Belegschaft. Jahres-Vertrag im Schnitt sechs Mona- sten Jahr bezugsfertig.

DER SPIEGEL 34/1995 91 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Ausländer Staubige Bosse Vermittler locken Arbeiter mit einem Trick nach Deutschland: Als formal Selbständige, so die Lüge, dürften sie hier jobben.

ie acht Fahnder hatten ihre Dienst- wagen mit den verräterischen Be- Dhördenkennzeichen vorsichtshal- ber eine Straßenecke weiter geparkt. Dann setzten sie Helme auf und steuer- ten die Großbaustelle im Berliner Stadt- teil Buckow an – von zwei Seiten, um Flüchtende abfangen zu können. Tomas R., 20, verstand nicht viel, als ihn die Kontrolleure nach seinen Papie- ren fragten. Der Arbeiter aus dem slo- wakischen Kos˘ice stellte die Gipsplatte ab, zog seinen Paß aus der Tasche und dazu ein merkwürdiges Papier mit dem Titel „Verklaring/Erklärung“. Das Zertifikat wies ihn als Gesell- schafter der belgischen Firma Euro- Bouw-Concept aus. Er sei als Unterneh- mer tätig, glaubte der Slowake, und da- mit befreit von Auflagen wie Arbeitser- laubnis und Aufenthaltsgenehmigung. Papiere wie bei der Kontrolle Anfang des Monats bekommen Beamte auf Baustellen immer öfter zu sehen. Phan- tasievolle Schieber, in Holland und Bel- gien „Koppelbazen“ genannt, locken Zehntausende von Ausländern als An- teilseigner in Scheinfirmen. Als solche, werben die Vermittler, dürften die Ar- beiter in Deutschland problemlos Geld scheffeln. „Scheinselbständigkeit“ nennen die Behörden das juristisch wirkungslose Produkt der Koppelbazen. „Es ist eine ausgesprochene Wachstumsbranche“, sagt Hans von Lüpke, 54, zuständiger Referent bei der Nürnberger Bundesan- stalt für Arbeit. Republikweit sind nach Erkenntnis- sen der Ermittler allein 80 000 Briten als Pseudounternehmer tätig, dazu Iren, Portugiesen, Polen und andere Osteuro- päer. Allein in Berlin werken nach Schätzung der Behörden 20 000 Schein- selbständige – bei 14 000 arbeitslosen einheimischen Bauarbeitern. Juristischer Hintergrund sind kompli- zierte arbeitsrechtliche Vorschriften. Danach brauchen etwa Ausländer, die in Deutschland befristet als geschäfts- führende Mitglieder einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts tätig sind, keine Aufenthaltsgenehmigung oder Arbeits-

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WIRTSCHAFT

Facharbeiter für 38,50 Mark pro Stunde an, 65 Mark wären es für Deutsche. Zu kurz kommen in diesem Super- markt der Arbeitskräfte Fiskus und So- zialkassen. Allein durch die Tätigkeit holländischer Vermittler fließen nach Schätzung des Düsseldorfer Landesar- beitsamts jährlich 3,5 bis 4 Milliarden Mark unversteuert in die Niederlande. Auch viele der Schwarzarbeiter gehen leer aus: In britischen Konsulaten spre- chen monatlich bis zu 200 geprellte eng- lische Bauarbeiter vor – ohne Geld, weil ihnen die „Gangmasters“ (The Guar- dian) den Lohn vorenthalten. Viele le- ben zudem eng zusammengepfercht in Mini-Containern. Auf der Baustelle bil- det die zunehmende Zahl von „Halbne- gern“ (Süddeutsche Zeitung) ein Sicher- heitsrisiko. „Die Unfallzahlen steigen

K. MEHNER rapide“, sagt Dieter Lasar vom Bundes- Baustellenkontrolle*: Papiere vom Koppelbazen vorstand der IG Bau-Steine-Erden. Die Hintermänner stammen oft aus erlaubnis. Was die windigen Vermittler ner Innenausbau-Unternehmen Falkin- der Rotlichtszene: „Das ist halbseidenes verschweigen: Der Trick schützt nicht ger und Wutz. Die Bayern sollen nach Milieu“, sagt Ermittler Rack. Auch der vor Sanktionen. Erkenntnis der Behörden über hundert niederländische Bau-Baas Kornelis Anfang Juni bestätigte das Oberver- Phantom-Selbständige aus Osteuropa Bosch, 43, gegen den die Duisburger waltungsgericht in Bautzen ein Urteil einsetzen, einige angeblich für Stunden- Staatsanwaltschaft ermittelt, schätzt die von Dresdner Verwaltungsrichtern, das löhne um fünf Mark. Insignien der Halbwelt: goldene Uhr, den Deal zwischen Koppelbazen und Falkinger-Geschäftsführer Siegfried Siegelring und Halskette. Jobsuchenden für nichtig erklärt hatte. Falkinger, 57, hat etwa mit der belgi- Engagiert wurde Bosch unter ande- Es liege „auf der Hand“, daß solch ein schen „Verklaring“ des Polen Piotr W., rem für eine Baustelle des Hochtief- Vertrag einzig geschlossen werde, um 28, seine ob der vielen Ausländer skep- Konzerns; 16 Polen schufteten dank sei- Einreise- und Arbeitsbeschränkungen zu umgehen. Zu Dutzenden werden Ausländer deshalb auf den Baustellen gefaßt und abgeschoben. Nach Ämterschätzung behalten die Menschenmakler meist die Hälfte der rund 40 Mark, die Auftraggeber für ei- nen Arbeiter pro Stunde zahlen, für sich ein. Oft werden die Malocher auch ge- prellt. Bei manchen ist der versprochene Arbeitsplatz anderweitig vergeben, bei anderen macht sich der Vermittler mit den Löhnen aus dem Staub. Allein beim Landesarbeitsamt Nord- rhein-Westfalen laufen derzeit 700 Er- mittlungsverfahren gegen dubiose Ver- mittlungsfirmen. „Die Tendenz ist stei- gend“, sagt Peter Rack, 41, Leiter des Referats für die Bekämpfung der illega- len Beschäftigung. Die Szene werde be- herrscht von Firmen mit teils „beträcht- licher krimineller Energie“, so der

Berliner Arbeitsamtskontrolleur Jürgen TRANSIT Schmalenbach, 38. Wohncontainer für Schwarzarbeiter (bei Leipzig): „Halbseidenes Milieu“ Die belgische Euro-Bouw etwa ist ei- ne Scheinfirma. Den Briefkasten beim tischen Bauherrn beruhigt. Der Pole war ner Hilfe etwa im letzten Jahr als Selb- Unternehmenssitz Tavernierkaai 2 in mit weiteren scheinselbständigen Lands- ständige beim Bau einer Fabrik im ba- Antwerpen benutzen 18 weitere Fir- leuten auf einer Baustelle im sächsischen den-württembergischen Tuttlingen. men. Das Büro im zweiten Stock be- Göbschelwitz tätig – woran sich Falkin- Den Hochtief-Verantwortlichen, die treibt als Hauptmieter ein „Automatic ger nicht mehr erinnern kann: „Ich kenn’ einen preisgünstigen Subunternehmer Answering Centre“ – ein Telefondienst die Leute gar nicht.“ eingeschaltet hatten, war angeblich für unbemannte Unternehmen. Von den billigen Jobsuchenden aus eu- nichts aufgefallen. Eine übliche Reakti- Euro-Bouw vermittelt seine staubigen ropäischen Elendsecken profitieren on beim Auftraggeber, spöttelt Jürgen Bosse, die als Pseudochefs noch schip- deutsche Bauunternehmen. „Gute Qua- Haas, 45, Illegalen-Fahnder beim pen müssen, an Firmen wie das Münch- lität zum guten Preis“ offeriert etwa die Arbeitsamt Villingen-Schwenningen, Firma J.A.R.L. Construcöes aus dem „wenn er die günstigen Stundensätze * Anfang des Monats in Berlin-Buckow. portugiesischen Barcelos und bietet sieht“. Y

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Werbeseite .

WIRTSCHAFT

Spekulation Vor die Wölfe In seiner Zelle kämpft Milliarden- Zocker Nick Leeson um seine Auslieferung nach Großbritannien. Die Chancen stehen schlecht.

ie britische Punk-Rockband „Bol- lock Brothers“ plante einen Hit – DMarkterfolg garantiert. Den Sina- tra-Song „My Way“ wollten sie heraus- bringen, gesungen von Nick Leeson, dem Mann, der Anfang des Jahres mit seinen Spekulationen die Traditions-

bank Barings ruiniert hatte. PA / DPA Das Marketing-Kalkül ging auf. Die Leeson-Ehefrau Lisa: „Nick ist kein Krimineller“ Band, auf hochdeutsch: „Hoden-Brü- der“, genoß ein gewaltiges Medienecho Leeson auf britischem Boden keine „Ich bin ein ganz gewöhnlicher briti- – und diesmal waren es bessere Schlag- Straftaten begangen habe. Die Strafver- scher Bürger, der einige sehr dumme zeilen als 1987 nach einem Konzert folger in Singapur dagegen sind begierig Fehler gemacht hat“, schrieb Leeson in Hamburg, wo die Truppe eine so lau- darauf, dem Jungbanker den Prozeß zu aus der Haft an den britischen Pre- sige Darbietung bot, daß die Fans sie machen. „Leeson mußte als Sündenbock mierminister John Major. Wenn er erst mit Bierflaschen bewarfen und herhalten“, befürchtet Pollard, „weil der nach Hause dürfe, bot er den Behör- dann die Lautsprecheranlage abfackel- einst saubere Finanzplatz durch ihn sei- den an, werde er sich in insgesamt sie- ten. nen Ruf verloren hat.“ ben Punkten für schuldig erklä- Das Problem bei der Plattenprodukti- Sündenbock oder Bösewicht? Die ren. on: Der aus Singapur geflüchtete Milli- Frage beschäftigt die Briten noch im- In einem weiteren Brief wandte sich arden-Zocker Nicholas William Leeson, mer. Gleich vier Bücher, die in aller- Leeson, der in seiner Frankfurter Zelle 28, stand für einen Besuch im Tonstu- nächster Zeit erscheinen, wollen sich der einen Laptop hat, direkt an die briti- dio nicht zur Verfügung. Er sitzt derzeit Geschichte vom Börsenyuppie, der das sche Öffentlichkeit. Die Behörden in Frankfurt-Höchst in Auslieferungs- ganz große Rad drehte und eine altehr- wollten ihn „vor die Wölfe schmei- haft. würdige Londoner Bank an den Rand ßen“, klagte er. „Ich möchte nur zu- Per Telefon, so berichtete der Stern, des Konkurses trieb, annehmen; die rück, meine Strafe absitzen und dann habe Leeson deshalb seinen Part aufs Verlage rechnen mit guten Geschäften. mein Leben weiterführen.“ Band eines Hamburger Tonstudios ge- Auch Leeson selbst will seine Version, Verlesen wurde das Schreiben auf sungen. „Die Wächter dachten übri- aufgeschrieben von dem Journalisten einer Pressekonferenz in London von gens, er singt seinen Kindern was Edward Whitley, unters Volk bringen. Lisa Leeson, 26. Die junge Frau, selbst vor.“ Und der Erlös der CD, so wußte Die Rechte könnten ihm bis zu 500 000 eine gelernte Bankerin, tourt derzeit Bild, „soll Obdachlosen zugute kom- Pfund bringen. Leeson braucht das rastlos durch britische Zeitungsredak- men“. Geld, um seine aufwendige Verteidi- tionen und TV-Studios, um PR für ih- Schnickschnack. „Herr Leeson hat gung bezahlen zu können. Er hofft aber ren Mann zu machen. „Nick ist kein nicht gesungen“, sagt sein Londoner auch auf Verständnis bei seinen Lands- Krimineller. Er hat nie Geld in die ei- Anwalt Stephen Pollard. leuten. gene Tasche gesteckt.“ In seiner gegenwärtigen Lage In Singapur hätten sie keines- wäre für Nick Leeson nichts wegs auf großem Fuß gelebt, mit schädlicher, als sich auch noch Bediensteten, Porsche und eigener mit seinen Taten zu brüsten. Der Jacht, wie es die Zeitungen nach Brite, der seinem früheren Ar- dem Zusammenbruch der Bank beitgeber einen Verlust von 827 geschrieben hätten, versichert sie. Millionen Pfund (1,8 Milliarden Ohne jeden Glamour sei der All- Mark) bescherte, bemüht sich tag in der Wirtschaftswunderstadt derzeit verzweifelt um eine Aus- gewesen. Nach zwölf Stunden Ar- lieferung in sein Heimatland. beit habe sich der Gatte am Abend Nach Singapur, wo er bis zu sei- erschöpft vor die Glotze gesetzt. ner Flucht drei Jahre für Barings Und sie habe ihm dann sein Lieb- gearbeitet hatte, will er keines- lingsessen serviert – „Bangers and falls zurück. mash“, Bratwurst mit Kartoffel- Doch Großbritannien will den brei. Börsenhändler nicht haben. Die Auch heute kümmert sich Lisa Behörden sind der Ansicht, daß Leeson rührend um ihren Nick. Obwohl sie zweimal wöchentlich

* Am 2. März auf dem Frankfurter Flugha- SIPA im Teehaus eines Onkels in Maid- fen. Verhafteter Leeson*: Bratwurst mit Kartoffelbrei stone, Kent, kellnern muß, reist

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WIRTSCHAFT

sie jeden Donnerstag morgen um kurz mut solle sich was schämen, wird da nach acht von London-Gatwick nach Importe Jacques Chirac zitiert. Ob er denn nicht Frankfurt. Nachmittags um fünf geht wisse, daß in den Ländern, in denen die es dann zurück, mit Schmutzwäsche ih- Deutschen ihre Bananen kaufen, in res Mannes im Gepäck und Tränen in Ecuador etwa, „die übelsten Kolonial- den Augen. Perverses systeme nach-kolumbianischer Zeit Unterdessen kämpfen Leesons An- herrschten“. wälte dafür, daß die junge Frau, die „Moral ist eine Sache“, antwortete nun wieder bei ihren Eltern wohnt, in System Kohl nach den Notizen seiner Beamten den kommenden Jahren nicht nach dem lieben Jacques leicht gereizt, aber Singapur fliegen muß, wenn sie ihren Die Bananenverordnung droht zum „Geschäft eine andere“. Und im übri- Mann sehen will. ernsten Konflikt in der EU zu gen müsse der Freund einsehen, daß er Verteidiger Pollard pocht darauf, mit seiner Bananenpolitik die Deut- daß Leeson seine Londoner Vorgesetz- werden. Die bisherige Regelung schen hart treffe. ten mit gefälschten Zwischenbilanzen ist nicht mehr zu halten. Nach nur zwei Jahren ist es geschafft: zur Herausgabe weiterer Millionen für Die Bananenmarktordnung der Euro- die Spekulationsgeschäfte veranlaßt ha- päischen Union, die am 1. Juli 1993 den be. „Der Betrug ist ganz klar in die- igentlich ist nichts Besonderes dran Bananenhandel in allen EU-Mitglieds- sem Land geschehen, und hier will sich an den Bananendampfern, die in ländern gleichgeschaltet hat, verursacht mein Mandant verantworten.“ Ediesen Wochen wie eh und je an internationale Konflikte. Das „perverse Der Anwalt hat jetzt erreicht, daß Schuppen 45 der Hamburger Hafen- System“ (Weltbank), das sich Brüssels das Serious Fraud Office, die zentrale und Lagerhaus-Gesellschaft aufgedek- Beamte auf Druck vor allem der Fran- Ermittlungsbehörde bei schwerer Wirt- kelt werden. Bananen aus Südamerika zosen ausdenken mußten, ist zudem da- schaftskriminalität, seinen Mandanten für den europäischen Markt – das ist in bei, einen ernsten Verfassungsstreit zwi- doch noch verhören will. Ob die An- wälte aber Leesons Auslieferung nach Singapur wirklich noch abwenden kön- nen, ist mehr als zweifelhaft. Voraussichtlich im September wird das Oberlandesgericht Frankfurt über das 1000 Seiten umfassende Ersuchen des Stadtstaates entscheiden. Dem Ge- richt liegt zudem ein Bericht der deut- schen Botschaft in Singapur vor, in dem das dortige Rechtssystem als fair bezeichnet wird. Die Haftbedingungen entsprächen westlichen Standards. Angeklagt werden soll Leeson in Singapur wegen insgesamt zwölf Delik- ten der Urkundenfälschung, des Be- trugs und der Untreue. Die maximale Gesamtstrafe beträgt 14 Jahre. „Mehr kann er dort dann auch nicht kriegen“, sagt Oberstaatsanwalt Eckert, „das ha- ben die uns schriftlich versichert.“ Wenn es Leeson nicht doch noch ge- lingt, die britischen Behörden zu ei- nem eigenen Auslieferungsantrag zu bewegen, ist die Bundesregierung seine

letzte Hoffnung. Nach einem Ausliefe- H. SCHWARZBACH / ARGUS rungsbeschluß des Frankfurter Gerichts Bananenimporteur Port: „Dann sind wir am nächsten Tag in Karlsruhe“ müßte Bonn die Überstellung nach Singapur diplomatisch bewilligen. Deutschland seit Jahrzehnten alltägli- schen der Bundesrepublik und der EU Wäre Leeson ein Deutscher, dürfte ches Importgeschäft. auszulösen. er nicht ausgeliefert werden. Wäre er Doch seit kurzem sind Schiffe aus „Es ist kaum zu glauben“, so ein ho- im März nicht in Frankfurt verhaftet Ecuador, die Bananen im Hamburger her Kohl-Mitarbeiter in Bonn, „an der worden, sondern hätte damals – wie Hafen löschen, ein Politikum. Europäi- Banane hängt jetzt ein Stück europäi- angeblich von ihm beabsichtigt – nach sche Regierungschefs streiten über sie, scher Zukunft.“ London weiterfliegen können, stünden der US-Präsident befaßt sich mit ihnen, Der Streit um die Verordnung 404 seine Chancen heute besser. höchste Richter legen ihretwegen die entzündete sich zunächst – relativ harm- Aber wegen eines jungen Briten, Roben an. los – an ökonomischen Problemen. Um dessen Heimatland ihn nicht haben Erst unlängst, auf dem jüngsten Tref- die Bananenbauern in ihren ehemaligen will, wird die Bundesregierung kaum fen des französischen Staatspräsidenten Kolonien zu schützen, setzten Englän- Ärger mit der Regierung des autoritä- mit dem deutschen Bundeskanzler am 9. der und Franzosen eine strikte Begren- ren Stadtstaats riskieren wollen. Juni in Paris, spielte neben Bosnien und zung der Einfuhren aus Süd- und Mittel- Vorerst darf der einstige Börsenstar Währungsunion die Banane eine tragen- amerika durch. im Frankfurter Gefängnis noch für ei- de Rolle. Für zwei Millionen Tonnen sogenann- nige Zeit Prospekte eintüten – eine Ein Gesprächsprotokoll des Bundes- ter Dollar-Bananen wurden Importli- Arbeit, die ihm 4,50 Mark je 700 Stück wirtschaftsministeriums dokumentiert zenzen vergeben. Diese Menge wurde bringt. die bemerkenswerte Szene: Freund Hel- überdies nur zu 66,5 Prozent den tradi-

98 DER SPIEGEL 34/1995 . BURKHARD / BILDERBERG H.-J. Bananenplantage in Costa Rica: Die Brüsseler Regulierer kommen unter Druck aus Übersee

tionellen Importeuren der lateinameri- Hamburg Bananen ausgeladen – wider- ropa mit Sanktionen, falls die Gatt-wid- kanischen Frucht zugesprochen. Eine rechtlich, wie die Kommission in Brüs- rige Regelung nicht beseitigt wird. Bis Quote von 3,5 Prozent ging an Neu-Im- sel rügt. zum 17. Oktober gibt Präsident Bill porteure, 30 Prozent erhielten jene Für die Kommission und ihren Agrar- Clinton den Europäern Zeit, ihr Bana- Händler vornehmlich in Frankreich und Kommissar Franz Fischler stellt sich ei- nenregime zu überdenken. Danach will England, die noch nie mit Dollar-Bana- ne fast unlösbare Aufgabe. Lassen sie die EU vor der Welthandelsorganisation nen gehandelt hatten und auch nicht dar- den deutschen Rechtsbruch durchge- WTO anklagen lassen. an dachten, es in Zukunft zu tun. hen, dann können sie ihre Bananen- In einem internen Papier der Kom- Es trat ein, was zu erwarten war: Fran- rechtsordnung einstampfen. Das Kon- mission wird das wahrscheinliche Ergeb- zosen und Engländer verkauften zu hor- tingentsystem für die Dollar-Bananen nis vorweggenommen. Die Gemein- renden Preisen ihre Lizenzen vornehm- wäre außer Kraft. schaft habe großes Interesse daran, lich an deutsche Importeure, deren Ge- Beharrt Brüssel auf Einhaltung der nicht vor die WTO zitiert zu werden, schäft mangels Bananen existenzgefähr- Verordnung, dann landet der Bananen- heißt es da, eine Niederlage sei sicher. dend schrumpfte. Denn jede Tonne li- fall vor dem Verfassungsgericht. Den Vertraulich hat EU-Kommissar Fisch- zenzloser Bananenimport wird nach Ver- Richtern bliebe nichts anderes übrig, als ler dem Bonner Wirtschaftsminister ordnung 404 mit einem prohibitiven Im- – in Anlehnung an ihre bisherige Recht- Günter Rexrodt brieflich angedeutet, portzoll von fast 2000 Mark belegt – wie er sich die Lösung des Problems vor- mehr, als die Ware kostet. stellt. Er ist bereit, auf alte deutsche Dummerweise haben die Brüsseler Die Bananen-Regulierer Forderungen einzugehen. Das Kontin- Beamten seinerzeit ignoriert, daß ein sol- stehen vor einer gent an Dollar-Bananen könnte bei ei- cher Zoll gegen die Bestimmungen des ner solchen Lösung derart stark angeho- Allgemeinen Zoll- und Handelsabkom- fast unlösbaren Aufgabe ben werden – zum Beispiel auf jährlich mens Gatt verstößt. Dort sind Gewichts- drei Millionen Tonnen –, daß es seine zölle dieser Höhe verboten, maximal 20 sprechung – mit einem höchstrichterli- regulierende Wirkung in der Praxis ver- Prozent Wertzoll ist erlaubt. chen Spruch die Anwendung von gelten- lieren würde. Wenn gleichzeitig der Die Hamburger Bananenimportfirma dem EU-Recht in Deutschland zu unter- 30prozentige Lizenzanteil derjenigen Hajo Port mobilisierte deshalb ihre Juri- sagen. „Da droht ein Präzedenzurteil“, Importeure, die keine Dollar-Bananen sten. Artikel 234 der Unionsverträge so ein Bonner Regierungsjurist, „das die verkaufen, auf die ursprüngliche Im- sieht ausdrücklich vor, daß Rechte und Beziehung Deutschlands zu Europa ver- portmenge festgeschrieben würde, kä- Pflichten aus Übereinkünften, „die vor ändern würde.“ me zudem ein deutlich höherer Anteil Inkrafttreten dieses Vertrages geschlos- Eine Flut von ähnlichen Entscheidun- der zusätzlichen Menge den deutschen sen wurden“, durch den neuen EU-Ver- gen stünde an. Die bisher übliche Auto- Importeuren zugute. trag nicht berührt werden. Die Gatt-Ver- matik, wonach europäisches nationalem Noch legt sich der Franzose Chirac einbarung aber hat Deutschland lange Recht vorgeht, wäre ausgehebelt, das quer, er will seine Bananenbauern nicht vor den EU-Verträgen unterschrieben. Bundesverfassungsgericht als Schieds- der überlegenen Konkurrenz aus Süd- Diese Argumentation leuchtete den richter in EU-Sachen etabliert. „Was amerika aussetzen. Doch für den Ham- Richtern des Hamburger Finanzgerichts das für die Währungsunion bedeutet, burger Bananenhändler Port und seine ein. Sie erklärten die EU-Richtlinie 404, daran mag ich gar nicht denken“, sorgt Kollegen ist schon jetzt alles Banane. die zuvor in einer Klage Bundesrepublik sich ein Beamter in Theo Waigels Fi- Gestützt auf das Hamburger Finanzge- Deutschland gegen EU vom Europäi- nanzministerium. richt, bringen sie tonnenweise die Lieb- schen Gerichtshof als gültiges europäi- Zusätzlich kommen die Brüsseler Ba- lingsfrüchte der Deutschen ins Land. sches Recht anerkannt worden war, fürin nanenregulierer immer mehr unter Wenn jemand versuchen sollte, das Deutschland nicht anwendbar. Druck aus Übersee. Auf Betreiben zu stoppen, so der streitbare Port, Seither werden Woche für Woche, oh- des US-Bananenproduzenten Chiquita „dann sind wir am nächsten Tag in ne EU-Lizenz und frei von Strafzöllen, in droht die amerikanische Regierung Eu- Karlsruhe.“ Y

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GESELLSCHAFT

Jubiläen Ewige Lust an Ludwig Ein Ober-Bayer ist nicht totzukriegen: Zum 150. Geburtstag des Märchenkönigs Ludwig II. schwappt eine einträgli- che Nostalgie-Woge über den Freistaat. Mit Freßorgien, Konzerten und Wallfahrten feiern Fremdenverkehrsvereine und Königstreue das Jubiläum. Das Rätsel um Ludwigs Ableben bleibt ungelöst – den Wittelsbachern sei Dank. ARGUM FOTOS: J. OBERHEIDE / Ludwig-Double Blüml, Ludwig-Fans im „Gay-Shop“, Ludwig-Büste aus Butter: Alles, was kitschig und teuer ist

eden Mittwoch, wenn die Motor- jobt, erläutert unbeirrt den Schauplatz: hat“, lenkt sie, Schloß Berg in Sicht, er- schiffe „Tutzing“ und „Bayern“ auf „Wir sehen, da badet jemand. Es gehen leichtert ab. „Er kam schon als Kind Jdem Starnberger See zur Sonderfahrt immer wieder Leute ins Wasser und las- häufig hier nach Berg und hat das da- ablegen, gibt’s an Bord alsbald eine sen sich neben dem Kreuz fotografieren. mals so genossen, daß er gesagt hat, Mordsgaudi um eine kapitale Wasserlei- Was damals hier passiert ist, ob es ein wenn er mal groß ist, möchte er Schiffs- che. Die Ausflügler feiern den berühm- Unfall war, Selbstmord oder Mord – Sie kapitän auf dem Starnberger See wer- testen Toten des Sees, dem zum Anden- wissen, daß sich die Geister bis heute den. Aber das konnte er sich ja dann ken ein riesiges Kreuz ins seichte Ost- darüber scheiden.“ nicht aussuchen.“ ufer gerammt worden ist. Für einige Ausflügler jedoch scheint In der Tat, freie Berufswahl hatte der „Nett vom Kapitän“, kündigt die Rei- der Fall klar. „Gehn S’, den haben sie Mann nicht. Er durfte weder Seemann seführerin an, „er macht extra langsam doch umgebracht seinerzeit“, tönt es aus noch – was er auch mal wollte – Zirkus- und fährt extra nahe ran.“ Die Passagie- der Menge, „ein Verbrechen ist’s gewe- direktor werden. Er mußte, schon mit re drücken nach Steuerbord, das voll be- sen“, „er wollte fliehen und ist erschos- 18, die Rolle eines Königs von Bayern ladene Schiff kriegt Schlagseite. sen worden.“ übernehmen. Die spielte er dann aber Die Touristikmanagerin Andrea Das Thema will die Reiseleiterin lie- 22 Jahre lang ganz fabelhaft – als Lud- Hähnle, 32, die in der Hauptsaison bei ber nicht vertiefen. „Vor lauter Tod ver- wig II., besser bekannt als „Märchenkö- der staatlichen Bayrischen Schiffahrt gißt man, daß er hier ja auch gelebt nig“ der deutschen Alpenregion.

100 DER SPIEGEL 34/1995 . F. HELLER / ARGUM AKG Ludwig-Gemälde (von Ferdinand Piloty), Touristen-Führung im Ludwig-Schloß Herrenchiemsee: Eine Art Reliquie für das gemeine Volk

Zum 150. Mal jährt sich am 25. Au- „wie ein Goldfasan zwischen all den König hätte „gar nicht gewinnbringen- gust die Geburt des spinnerten „Kini“, Haushühnern“ ausnahm, ohne Zweifel. der ums Leben kommen können“. Die dem die Bayern und der Rest der Welt Doch wo immer und wie immer der Teilnehmer eines Medienworkshops der eine kolossale Kultfigur verdanken: Wittelsbacher in seinem Jubiläumsjahr Münchner Volkshochschule brachten Wagner-Groupie und Dream King, der abgefeiert wird, die Lust an Ludwig lebt den Nutzwert des Verblichenen auf die von den Amis samt seiner Gralsritter- vornehmlich von seinem atemberauben- Kurzformel: „König Ludwig hält eine burg Neuschwanstein nach Disneyland den Ableben. Den letzten Kick, der Region über Wasser, weil er im Wasser verschleppt wurde; Urahn aller Ausstei- dem Exzentriker zu Mythos und un- ihres Sees ertrunken ist.“ ger und Hippies, weil er sich soviel in sterblichen Legenden verhalf, brachte Das Königsdrama läuft seit eh und je den Bergen verkroch und angeblich in der geheimnisvolle Tod im See. nach demselben Grobmuster ab, auf den Hindukusch auswandern wollte; Ohne die sogenannte Königstragödie Volksbühnen wie in der massenhaften zeitweise auch großes Popidol und gäbe es den Ludwig-Kult wohl längst Ludwig-Literatur, die inzwischen auf schubweise Hohepriester der intellektu- nicht mehr. Der Wasser-Tod war ein annähernd 6000 Titel angewachsen ist: ellen Homophilie. „Bilderbuchabgang“, urteilt der Literar- Der Monarch hat beim Bau seiner Schwul war der in jungen Jahren be- historiker Eduard Hanslik, Herausgeber Prachtschlösser Neuschwanstein, Lin- rückend schöne Ludwig, der sich an sei- einer Gedichtesammlung über Ludwig derhof und Herrenchiemsee gigantische nem Hof nach Diplomatenberichten („Auf zur Sonne, Königsschwan!“), der Schulden angehäuft, haust entrückt und

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einsam in seinen Alpenresidenzen und das Alpenglühen und das Oktoberfest und Bergfeuer gefeiert und abgebrannt, weigert sich stur, die Finger von weite- eingeführt hat. Schloßkonzerte und Königs-Serenaden ren Projekten zu lassen. In Sorge, des Im Herzen seiner Verehrer existiert vorgetragen, Denkmalseinweihungen Königs Bauwut könnte den Staatssäckel nur der frühe Ludwig, der fesche Kerl in und Dia-Vorträge abgespult. Beim lan- ruinieren, beschließt sein Kabinett, ihn der Paradeuniform. Nur dem eifern desweit beliebten Volkstheater zu entmündigen und absetzen zu lassen. auch die immer wieder auftauchenden Flintsbach am Inn, wo „Das Märchen Deshalb wird Ludwig wegen einiger, Ludwig-Doubles nach wie derzeit etwa vom Märchenkönig“ in der klassischen von Lakaien kolportierter schrulliger der Münchner Schauspieler Georg Komplott-Version aufgeführt wird Lebensgewohnheiten mittels psychiatri- Blüml, der sich privat gern in einem kö- (Spielleiter Martin Goldes: „Bei uns scher Ferndiagnose kurzerhand für ver- niglichen Lotterbett räkelt. wearda derschossen“), hat der Milliar- rückt erklärt. Bilder des älteren Königs – aufge- där und Ludwig-Fan Friedrich Karl Eine sogenannte Fangkommission schwemmter Koloß mit stierem Blick Flick eine Separatvorstellung gebucht, kassiert den angeblich Übergeschnapp- und fauligen Zähnen – müssen Fäl- für sich und seine Entourage. ten in Neuschwanstein und schafft ihn schungen sein. Daß es zudem einen Für die Gastronomie ist der Monarch wie einen Verbrecher nach Berg. An- Vorvorgänger Ludwig I. sowie einen ein gefundenes Fressen. „König-Lud- derntags dümpeln zwei Leichen im See: Nachnachfolger Ludwig III. gab, wissen wig-Wildwochen“, „Galadiners“ oder Ludwig und der Irrenarzt Bernhard von höchstens ein paar Geschichtskundige. „Geburtstagsmenüs“ sind an der Tafel- Gudden, der das psychiatrische Gutach- Volkes Ludwig hat seinerzeit den ordnung. Ein entfernter Verwandter des ten abgefaßt hatte. Preußen gezeigt, wo der Barthel den Königs, Prinz Luitpold von Bayern, Bei der Geschichte ist nur niemals Most holt, was nach ihm erst Franz Josef dem die Schloßbrauerei Kaltenberg und restlos geklärt worden, ob der König Strauß wieder wagte – unterschlagen einiges mehr gehört, darf dabei original wirklich ausgeflippt war. Und rätselhaft wird, daß der Monarch sich vom späte- königliche Hof-Speisekarten auflegen, blieb, wie der Doktor und sein Patient ren Reichskanzler Otto von Bismarck die einst Ludwigs wirklich verrückter ums Leben gekommen sind. regelrecht bestechen ließ, einen Preu- Bruder Otto gesammelt hat. Etwa bei einem Gerangel, bei dem ßen als Deutschen Kaiser anzunehmen. Zum Höhepunkt der Völlerei wird Ludwig den Arzt unter Wasser drückte, Doch so etwas stört nur. Die Legende von den Veranstaltern die „König-Lud- als der ihn vom Selbstmord zurückrei- ist es, die das Geschäft belebt. Alle Ge- wig-Geburtstagsfahrt mit Galadiner“ ßen wollte? Oder durch doppelten Herzinfarkt beim hitzigen Handgemen- ge im kalten Wasser? Oder waren viel- leicht doch gedungene Heckenschützen am Werk, welche die Flucht des Mon- archen per Kahn ans andere See-Ufer zu seiner Cousine „Sisi“, der Kaiserin von Österreich, vereitelten und dabei versehentlich auch Gudden erwischten? Bis heute liegt die Wahrheit im Ne- bel – zum Wohl aller Ludwig-Verwer- ter. Die machen im Jubeljahr Geld mit al- lem, was kitschig und teuer ist – mit Bierseideln und Bettvorlegern, Auto- aufklebern und Ansichtskarten, Büsten aus Butter und Porzellan. Die Verkäu- fer im Münchner „Weißblauen-Gay- Shop“ preisen ihre Artikel im Ludwig- Outfit an. Eine Auswahl der ausgefal- lensten Devotionalien zeigt derzeit das Münchner Valentin-Musäum. Hauptat- traktion ist ein Klodeckel mit des Kö- nigs Konterfei. Dutzende von Denkmälern und Mu- seen, vor allem aber die phantastischen

Paläste, die Ludwig erbauen ließ, zie- F. HELLER / ARGUM hen Bewunderer aus aller Welt an. „Da Ludwig-Gedenkkreuz im Starnberger See: Schlagseite an Steuerbord streichen Frauen“, hat der Bamberger Historiker Karl Möckl beobachtet, meinden des bayerischen Oberlands, die emporgejubelt, die am 25. August auf „heimlich über seinen Bettstoff.“ mit dem Kini auch nur mal in Berührung dem Starnberger See abgeht. Der längst Im Alpenfilmtheater zu Füssen, nahe gekommen sind, spannen zum Jubiläum ausverkaufte Freßtrip (Preis: 175 Mark) Neuschwanstein, läuft nonstop seit 1956 das Fabelwesen Ludwig für sich ein. auf dem Flaggschiff „MS Seeshaupt“ be- jeden Freitag der rührselige Filmklassi- „Auf König Ludwigs Spuren“, wo im- ginnt mit „König-Ludwig-Sekt“ und ker „Ludwig II.“ von Helmut Käutner, mer Majestät einst kutschiert, geritten schließt mit „Richard-Wagner-Eis“. mit O.W. Fischer in der Hauptrolle. oder auf Kufen geglitten sind, bewegt Richtige Auferstehung feiert Ludwig Für das gemeine Bayernvolk ist Lud- sich für die Urlauber fast alles: Busse leider voraussichtlich erst 1997 – weil wig immer noch eine Art Reliquie, die und Boote, Gondeln, Kaleschen und die der Liedermacher und Ludwig-Fan auf die Kommode oder in den Herr- „königlich-bayerische Radlpost“. Konstantin Wecker den Geburtstag des gottswinkel gehört, eben der leutselige Ob in Prien am Chiemsee oder in Traumkönigs verschlafen hat. Erst seit Märchenkönig, der vielen einfachen Garmisch-Partenkirchen, in Schwangau kurzem brütet er über einer Partitur Menschen zu Arbeit und Brot verhol- oder in Berchtesgaden: Bis in den spä- für ein großes Ludwig-Musical, das fen, möglicherweise sogar den Föhn, ten Herbst hinein werden Bergmessen ein „phantastisches Gesamtkunstwerk“

102 DER SPIEGEL 34/1995 . AKG Aufgebahrter Leichnam Ludwigs II.: Bilderbuchabgang im See

Neuschwanstein-Werbung in Amerika, Japan, Todesmeldung: So bekannt wie Petersdom und Pyramiden

(Wecker) werden soll. Der Komponist an. Die Stadt Füssen hat den Dabei überragt Neuschwanstein heu- hat sich mit einer eigens für das Spekta- Bauplänen bereits zugestimmt. Vorge- te schon alles andere Königszeugs turm- kel gegründeten Dream King Musical sehen sind erst mal 2000 Aufführun- hoch. Das Schloß über der Pöllat- Produktions GmbH verbündet. Die Fir- gen, auf fünf Jahre verteilt. schlucht, gedacht als „ein würdiger ma plant ein auf 30 Millionen Mark ver- Sollte alles klappen, wird Bayerns Tempel für den göttlichen Freund“ (O- anschlagtes Projekt: Am Forggensee im Märchenkönig endgültig zum postmo- Ton Ludwig) Richard Wagner, ist längst Allgäu, zu Füßen von Neuschwanstein, dernen Dauerbrenner. „Wenn Ludwig weltweit zur Chiffre für Bayern gewor- soll für Weckers Opus die passende Mu- II. ins Wasser geht“, so stellen sich die den. Es prangt auf buchdicken japani- sic-Hall ins Grüne gebaut werden, ein Musical-Macher das Schlußbild vor, schen Reisebroschüren und beherrscht Mittelding zwischen Oberammergauer „öffnet sich die Rückwand des Fest- die Reiseberichte in amerikanischen Passionsspielbühne und dem Grünen spielhauses und gibt den Blick über Zeitungen über das süddeutsche Grenz- Hügel von Bayreuth. den Forggensee auf Schloß Neu- land und „the crazy king“. Thomas Man ahnt: Hier steht ein spektakulä- schwanstein frei, wo man ihn weiterle- Wöhler, Vizepräsident der Staatlichen rer Konkurrenzkampf mit Bayreuth und ben sieht“ – schaurig-schöne Vision. Schlösserverwaltung, sagt voller Stolz:

DER SPIEGEL 34/1995 103 Werbeseite

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„Den Vergleich mit dem Petersdom, der steskrank, wahnsinnig, blödsinnig er- Akropolis und den Pyramiden hält Neu- klärt“ werden können. schwanstein leicht aus.“ Auch Gauweiler hält den Kabinetts- Fast anderthalb Millionen Besucher, chef Lutz für den Drahtzieher. Doch die bis zu 10 000 pro Tag, bestürmten letz- Beweislage ist gleich Null. Alle mögli- tes Jahr die Burg. Das Schloß brachte chen Belege für eine mögliche Erschie- netto 7,5 Millionen Mark herein. Neu- ßung – etwa der Rock, den Majestät zu- schwanstein allein hält Ludwigs Königs- letzt auf dem Leib hatte, oder Zeugen- schlösser finanziell über Wasser. aussagen über Schüsse oder unterdrück- Der König, der einst wegen seiner te Leichenbefunde – sind entweder ver- Bauwut geschaßt wurde, macht sich po- schwunden oder haben sich als obskur stum bezahlt, vor seinem Tempel stehen erwiesen. die Leute stundenlang Schlange. Jeweils Bleibt nur der Sarkophag. Unermüd- 80 werden in einer Viertelstunde durch lich wie kein anderer rüttelt an ihm aus- die Räume getrieben. Die Führer sind gerechnet ein Berliner, der Schriftsteller froh, wenn Japaner drankommen, weil Peter Glowasz, 59, Ehrenmitglied meh- sie dann nicht reden müssen, sondern ei- rerer Ludwig-Vereine. Glowasz hat sich ne CD abspielen dürfen. „Das ist“, sagt schon um den Nachweis bemüht, daß Schloßverwalter Josef Enzensberger, der Schrein ohne Gefährdung des In- „fast Akkordbetrieb.“ halts durchleuchtet werden könne. An- Keiner regt sich darüber mehr auf als geblich hat ihm die Bundesanstalt für Hannes Heindl, 59, Vorsitzender des Materialforschung und -prüfung mitge- König-Ludwig-Clubs München. Er for- teilt, daß dies möglich sei; für eine sol- dert seit langem einen „Ruhetag für den che Prozedur kämen Röntgenstrahlen König“, einmal in der Woche sollten mit einer Energie von 420 Kiloelektro-

auch die Schlösser ihre Türen schließen. T. EINBERGER / ARGUM nenvolt in Betracht. Aber nix is’: „Nicht mal an seinem To- Ludwig-Forscher Gauweiler Das Problem ist nämlich: Ludwig ist destag machen sie zu.“ „Juristisch irrelevant“ verschalt wie eine Zwiebel. Erst kommt Die „Königstreuen“ oder auch „Pa- als Außenhaut dicke, kupferbeschlage- trioten“ Bayerns, ein unüberschaubares Wittelsbacher hinabsteigen und am Sar- ne Eiche, dann ein Mahagonikasten, in Gestrüpp von konkurrierenden Verei- kophag Ludwigs II. einen Kranz nieder- dem schließlich ruht der verlötete Zink- nen und Dachverbänden, insgesamt legen. Es folgen ein von der bayerischen sarg mit den königlichen Gebeinen. wohl 6000 an der Zahl, haben im Jubilä- Staatsregierung genehmigter „Festakt“ Aber liegen die überhaupt noch drin? umsjahr anderes im Sinn als Galamenüs in der Residenz und ein „patriotischer Ein anderer Ludwig-Forscher, der frü- und Kutschenfahrten. Selbstredend Abend“ im Hofbräuhaus. here Neuschwanstein-Verwalter Julius werden sie Majestät zum Geburtstag die Dabei werden – das ist sicher – wieder Desing, 67, sagt, er habe unlängst „von Ehre erweisen: finstere Pläne geschmiedet: Vehemen- ganz vertrauenswürdigen Leuten, kei- ter denn je fordern Königstreue in die- nen Spinnern“ erfahren, daß der Zink- sem Jahr die Öffnung des Sarkophags, sarg während der Bombenangriffe im damit endlich die Wahrheit ans Licht Zweiten Weltkrieg vorsorglich entnom- komme, ob der Mann da drin von Ku- men und in die Residenz verbracht wor- geln durchbohrt ist oder nicht. Das An- den sei. Nach dem Krieg habe man den sinnen ist vom Chef des Hauses Wittels- Toten heimlich auf dem Andechser Klo- bach Herzog Albrecht, 90, bislang stets sterfriedhof eingebuddelt. brüsk zurückgewiesen worden. Wo immer der Leichnam ans Licht Wer damals den angeblichen Mord- geholt werden sollte, mit dem wäre, auftrag, den auch einige seriöse Histori- meint Desing, ohnehin nichts mehr an- ker nicht ganz ausschließen, aus wel- zufangen: „Die Weichteile sind mit Si- chem Grund gegeben haben könnte, cherheit nicht mehr da. Wo soll man da darüber gehen die Meinungen seit je eine Schußwunde hernehmen?“ auseinander. Das sehen hartnäckige Ermittler ganz Sicher ist, daß Ludwigs Kabinettschef anders. Glowasz und Lohmeier etwa Johann Freiherr von Lutz ein Interesse sind überzeugt, daß Pathologen mit der hatte, seinen Vorgesetzten rasch auszu- Leiche auch heute noch etwas anfangen schalten, weil der König noch Chancen könnten. Glowasz stützt sich auf Erfah- hatte, seine Entmündigung anzufech- rungen des Berliner Museums für Völ- ten. kerkunde im Umgang mit altperuani- Daß die Entmündigung „gesetzeswid- schen Mumien. rig und juristisch irrelevant“ gewesen Aber noch ist an Ludwig, was immer

W. M. WEBER sei, will in einem demnächst erscheinen- an ihm noch dran sein mag, nicht heran- Ludwig-Komponist Wecker den Buchbeitrag ein prominenter Lud- zukommen. 1993 prallte der letzte Ver- Den Geburtstag verschlafen wig-Verehrer beweisen, der mit den Pa- such am Hause Wittelsbach ab, obwohl trioten zwar wenig am Hut hat, sie aber Glowasz bei „Seiner Königlichen Ho- Eine vom Ober-Patrioten und Schrift- sicherlich beflügeln wird. Peter Gauwei- heit Prinz Franz von Bayern untertä- steller Georg Lohmeier geführte Abord- ler, Münchner CSU-Chef und Jurist, nigst“ angeklopft hatte. „Was den Sar- nung wird sich, eskortiert von sechs be- kommt nach gründlichem Studium der kophag König Ludwigs II. anbelangt, rittenen Königssoldaten in Traditions- früheren Rechtslage zu dem Resultat: wurde dieser bisher nie geöffnet“, laute- uniformen, zur Kirche Sankt Michael in Ludwig hätte nach der damals herr- te die harsche Auskunft. „Hierbei wird der Münchner Fußgängerzone begeben, schenden Rechtsauffassung nur durch es nach dem Willen des Königlichen in die dort befindliche Fürstengruft der Beschluß eines Amtsgerichts „für gei- Hauses auch weiterhin bleiben.“

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„Von hint’ derstessen“ Rudolf Augstein über eine zweifelhafte Männerfreundschaft zwischen Ludwig II. und Bismarck BAYERISCHE VERWALTUNG DER STAATLICHEN SCHLÖSSER Ludwig II. auf nächtlicher Schlittenfahrt*: „Geschäftlich klarer Regent von national deutscher Gesinnung“

Bayern ist vielleicht das einzige Land, dem es wie uns der Rippenstoß von hinten her Der Eindruck, den er mir machte, war ein durch materielle Bedeutung, durch die beweist. sympathischer, obschon ich mir mit eini- bestimmt ausgeprägten Stammeseigentümlichkeiten und durch die Die erste Version ist ebenso falsch ger Verdrießlichkeit sagen mußte, daß Begabung seiner Herrscher gelungen ist, ein wie die zweite absurd. Ein winziges mein Bestreben, ihn als Tischnachbarn wirkliches und in sich selbst befriedigtes Körnchen Wahrheit steckt in beiden. angenehm zu unterhalten, unfruchtbar Nationalgefühl auszubilden. blieb. Otto Fürst Bismarck Man muß sich als erstes die amtliche Stellung der beiden vor Augen halten. er berühmteste Wittelsbacher war Bismarck, der preußische Chefpolitiker Ludwig habe sich nur durch hastiges (und blieb bis heute) KönigLudwig in noch nicht absolut gefestigter Posi- Champagnertrinken an der ihn nicht wei- DII., 1886 im Starnberger See ertrun- tion; Ludwig, der unangefochtene, ter interessierenden Tafel zum Sitzen- ken. Der berühmteste Preuße seines „absolute“ Erbe eines Thrones, dessen bleiben genötigt fühlen können. Von sei- Jahrhunderts war (und blieb bis heute) Land Bayern nun freilich irgendwann nem Lieblingsgetränk verstand Bismarck Fürst Otto von Bismarck. das traurige Schicksal ereilen mußte, in viel. Dann der Lügner: Beide, der „unpolitische“ Märchenkö- dem größeren Kleindeutschland Bis- Es war dies das einzige Mal, daß ich den nig und der von der Politik aufgefressene marcks aufzugehen. Zwischen Ludwig König Ludwig von Angesicht gesehen ha- Staatsmann, hatten, so sollte man mei- und sein katholisches Gottesgnaden- be, ich bin aber mit ihm, seit er bald nen, wenig miteinander zu tun. Dem war tum würden sich also zwei menschliche nachher (10. März 1864) den Thron be- nicht so. Wir begegnen zwei Legenden: Individuen, die Protestanten Wilhelm stiegen hatte, bis an sein Lebensende in i Ludwig und Bismarck hegten fürein- und dessen Großknecht Bismarck, als günstigen Beziehungen und in verhält- ander Hochachtung und eine fast ins höhere Instanzen schieben. nismäßig regem brieflichen Verkehre Persönliche gehende Freundschaft. Der schon erfahrene 47jährige Höf- geblieben und habe dabei jederzeit von ling Bismarck, gerade eben Minister- ihm den Eindruck eines geschäftlich kla- i Der Doktor Gudden und der Bismarck, präsident und Außenminister seines ren Regenten von national deutscher den man auch den „Falschen Kanzler“ Landes geworden, saß bei der ersten Gesinnung gehabt, wenn auch mit vor- nennt, und letzten persönlichen Begegnung im wiegender Sorge für die Erhaltung des sie hab’n ihn in’n See ’neig’stessen, August 1863 neben dem 30 Jahre Jün- föderativen Princips der Reichsverfas- indem sie ihn von hint’ ang’rennt. geren, damals noch Kronprinzen. Dazu sung und der verfassungsmäßigen Privi- Feiger Kanzler, deine Schande der ehrliche Bismarck 1898: legien seines Landes. traget dir ganz g’wiß kein Ehrenpreis, denn du stund’st ihm nicht in off’nem Wo zwei solche Prinzipien aufeinan- Kampfe, * Gemälde von R. Wenig, um 1880. derstoßen, sind die Geld- und Goldsu-

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cher nicht fern. So würde man sich als Napoleon, der von seiner Frau, weniger naiven Anarchisten Michail Ba- doch sehr wundern, hier nicht das ver- der Habsburg-Tochter Marie Louise, kunin auf den Barrikaden stand. quere Wälsungenpaar Richard und Co- verlangte, sich täglich die Zähne So beschwor er seinen König in zwei sima Wagner vorzufinden. Richard zu putzen.) ebenso rührenden wie unverschämten zockte den König ab, Bismarck hinge- Selten sind Gelder so lukrativ ange- Briefen („Neue Menschen! Neue Men- gen instrumentierte den Komponisten, legt worden wie die für Ludwigs Bauten schen!“), Ludwig solle den „unabhängi- ohne daß der je von Berlin Geld er- und für Wagners Bayreuth. Nur hatten gen“ Fürst Chlodwig zu Hohenlohe hielt. Sogar die Witwe Cosima bekam alle daran beteiligten Halunken davon Schillingsfürst, Prinz von Ratibor und von Wilhelm und Bismarck keinen gewiß keine Ahnung. Bismarck war der Corvey, den Bismarck ihm unter den Pfennig. Mäzen Ludwigs und Ludwig der Mäzen Fuß hatte geben lassen, zum Ministerpräsidenten ernennen (Hoftratsch: „Lola-Montez-Mi- nisterium“). Ludwig, was er immer tat, wenn Wagner von Politik anhub, blickte zur Decke und pfiff sich eins. Aber nach Königgrätz und vor Abschluß des Prager Friedens mußte Ludwig in- nerlich Bismarcks Kandidaten akzeptieren*. Ohne und mit Chlodwig, ohne und mit Wagner: Bayern mußte sich 1870 am Krieg gegen Frank- reich beteiligen. Seine Soldaten wurden sogar als die allerwü- tigsten berüchtigt. Wagner be- hauptet, Ludwig habe sich seit 1866 nicht mehr für Politik in- teressiert. Das ist, sieht man es pauschal, richtig. Aber die Vorrechte der Krone verteidigte er fast bis zu- letzt. Sein Briefwechsel mit Bis- marck ist höchst einseitig. Bis- marck bat scheinbar und schein-

ULLSTEIN heilig um einen Rat. Ludwig ant- Ludwig, Mutter Marie, Otto (1867): „Mein Bruder kann nie regieren“ wortete ihm formal. Aber auch

Die günstigen Beziehungen erschöpf- Wagners; der antike Maecenas ten sich in den Geldern aus dem Repti- soll auch nicht gerade eigenes lienfonds, den Bismarck sich, sozusa- Geld ausgeteilt haben. gen zur eigenen Verfügung, aus den Nur benutzte Bismarck in sei- Gütern des von ihm illegitimerweise ab- nem Schicksalsjahr 1866 den gesetzten blinden Königs Georg V. von ihm persönlich nicht bekannten Hannover geraubt hatte wie Alberich Richard Wagner, um in Bayern das Rheingold. Dieser Welfenfonds ein neues, reichsfreundliches wurde alsbald „Reptilienfonds“ gehei- Ministerium zu installieren. ßen, weil Bismarck seine Feinde 1869 Wagner sollte seinen Einfluß „bösartige Reptilien“ genannt hatte. auf Ludwig geltend machen, da- Offiziell mischte Bismarck sich in mit Bayern während des unver- Bayern nicht ein, das verbot ihm seine meidlichen Waffengangs mit Stellung, er stand immer nur in der Ku- Österreich wenigstens neutral lisse. Aber die Zeitung, die Ludwig am blieb. liebsten las, die Süddeutsche Presse, be- Bismarck wollte den österrei- kam Geld; ebenso sein später schlimm- chisch gesinnten Ministerpräsi- ster Feind, der Oberststallmeister Max denten Ludwig von der Pfordten Graf von Holnstein. weg haben, und das wollte auch Das von Ludwig verabscheute Bis- Wagner. Pfordten war nämlich marck-Reich wurde in Versailles mit 1848/49 in Dresden Kultusmini- den durch Holnstein für Ludwig ausge- ster gewesen, als der naive Ka- handelten Beträgen – 300 000 Gold- pellmeister Wagner neben dem mark pro Jahr, 1884 noch ein Nach- schlag von einer Million – gegründet. * Der Aristokrat allerältester Schule Den „Kaiserbrief“ Ludwigs, des ange- wurde 1874 Bismarcks Botschafter in Paris und 1894 des jungen Kaisers Wil- sehensten, „zweitmächtigsten“ Bundes- helm II. ältester Reichskanzler, „Onkel fürsten, schrieb Bismarck vor, und Chlodwig“. 1900, bei seinem Abtreten, war er 81 Jahre alt, lethargisch, aber Ludwig, unter Zahnschmerzen im Bett AKG pro-russisch eingestellt. Beide Eheleu- liegend, schrieb ihn ab. (Ein dentales te huldigten der Devise: „Qui va a`la Ludwig II., Wagner Vorbild für Kinder war er nicht, anders chasse perd sa place“. „Neue Menschen! Neue Menschen!“

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da, wo er als Allerhöchstderselbe un- terschrieb, weiß man nicht, welcher Se- kretär den Brief wirklich verfaßt hat. 1870, so klar sah er es im Gegensatz zu seinem jüngeren Bruder und poten- tiellen Nachfolger Otto denn doch noch, wären beide weggefegt worden, hätten sie den Krieg kurzerhand verbo- ten. Ob einer seelisch gestört, aber noch bei Verstand sein kann, mögen die Gelehrten unter sich ausmachen. Die Bandbreite ist da „ein weites Feld“, um mit Fontane/Fonty zu sprechen. Im Ringkampf hätte Ludwig den kör- perlich großen Bismarck, den er noch um einen Kopf überragte, vermutlich mit seinen Bärenkräften bezwungen. Ludwig ritt gern und sehr viel besser als der im Sattel mediokre Kanzler. Er onanierte zeitlebens, und das lief auf eine schwere seelische Störung hinaus.

Einen „hervorragendsten Platz“ ULLSTEIN (sic!) hat Ludwig dem Bismarck unter Bayerische Infanterie in Frankreich (1870): Als allerwütigste berüchtigt den großen Männern des Jahrhunderts – sein Geld so gut wie in der Tasche – mannes, verlobte, schob Ludwig die war! „Sisi“, Sophies Schwester, Kaiserin schriftlich zuerkannt. Und der „vielge- Heirat so lange hinaus, bis ihm Vater von Österreich, empörte sich: „Es gibt liebte Oheim“, König Wilhelm? Er Max eine Frist setzte. Zwar konnte So- keinen Ausdruck für ein solches Beneh- spielt in der Rubrik Geisteskrankheiten phie, die mit Ludwig die Leiden- men.“ Soviel zur Freundschaftslegende bei bayerischen Patrioten eine große schaft für Wagner teilte, vorzüglich zwischen „Sisi“ und Ludwig. Rolle. Ludwigs Mutter, Marie von reiten, aber das ersetzte ja die Trauung In sein Tagebuch notierte er: „Sophie Preußen, über die der König wie über nicht. abgeschrieben.“ Ein Gemütsmensch. den Bruder Otto wie über fast alle Der Bräutigam geriet in helle Wut. Das war 1867. Der König retirierte in Menschen schnöde urteilte, war eine Onkel Chlodwig mußte ihn beruhigen. die Berge und besichtigte seine Bauten. Cousine jenes Hohenzollern-Königs War er verrückt? Die Bauwut sagt Friedrich Wilhelm IV., der in Umnach- nichts. tung starb. Der König fiel nicht seiner Bauwut al- Ludwig haßte Preußen („ein Greu- lein zum Opfer. Er kannte kein Maß el“) und den Eisernen Kanzler („frevel- und kein Ziel. Es waren die viel zu ho- haft“). Den Oheim empfing er nicht in hen Geldsummen, die seinen Feinden der Landeshauptstadt München, er ver- Gelegenheit gaben, sich des „Hans- mied jeden Antrittsbesuch in Berlin. wursts“ – so Preußens Gesandter in Als seine Mutter Marie am 32. Hoch- München – zu entledigen. zeitstag – ihr Mann, Maximilian II., Nach 1871, als Bismarck sich in Bay- war früh verstorben – zum katholischen ern ziemlich direkt einmischte, sah das Glauben übertrat, macht der König die anders aus. Plötzlich war der König in Mitteilung auf ungewöhnliche Weise den Berichten des preußischen Gesand- und an ungewöhnlichem Ort: In seinem ten kein feiger, doppelzüngiger Hans- Königszelt auf dem Oktoberfest (richti- wurst mehr. Auch an der „Entmündi- ge Bayern hat er also wohl auch gese- gung“ des Königs mit Todesfolge hen). Hier gab er sie dem Apostoli- scheint Bismarck nicht ganz unbeteiligt schen Nuntius und den Prinzen Luit- gewesen zu sein. Daß er sich „nie“ in die pold und Adalbert bekannt. Keinen inneren bayerischen Angelegenheiten Zweifel ließ dieser verschmockte Erz- einmische, wie er beteuert hat, war je-

katholik daran, daß er die Konversion BPK denfalls eine krasse Lüge. seiner Mutter mißbilligte. „Falscher Kanzler“ Bismarck (1886) Zuvor traf den Hof in München aller- Kaiser Wilhelm I., der als Cousin Ziemlich direkt eingemischt dings ein herber Schicksalsschlag: Prinz während der prokurativen Trauung in Otto, des Königs Bruder und Nachfol- Berlin neben ihr am Altar gekniet hat- Des Königs Abschiedsbrief an die Braut ger, wurde echt verrückt. 1873 eröffnete te, machte ihr bittere Vorwürfe. Man würde jeden Briefsteller zieren: „Ge- Ludwig dem Schriftsteller Felix Dahn denke, ein Mitglied des preußischen liebte Elsa! Dein grausamer Vater reißt („Ein Kampf um Rom“): „Mein Bruder Königshauses! Und das mitten im uns auseinander. Ewig Dein Heinrich.“ kann nie regieren.“ Kulturkampf! Ottochen, ick hör’ dir Wer war Elsa? Die „süße reine Otto wurde in Nymphenburg isoliert. trapsen. Braut“ aus dem „Lohengrin“. Und wer 1875 entkam er seinen Bewachern und Aber Exzentriker auf Thronen war war Heinrich? Jener König der Deut- führte beim Fronleichnams-Festgottes- man gewöhnt. Dieser hier aber über- schen, auch aus dem „Lohengrin“, der dienst des Erzbischofs in der Frauenkir- trieb es ein wenig. Als Ludwig sich mit in Antwerpen Gerichtstag hält. che vorm Altar eine groteske Szene der Tochter des beliebten Herzogs Max Bayern kam um das größte aller Fe- auf. 1880 wurde er bis zu seinem Tod in Bayern, des wegen seines Zither- ste. Ein Landeskind! Nach drei evange- 1916 in Schloß Fürstenried dauerhaft spiels „Zittermaxl“ genannten Lebe- lischen Königinnen eine, die katholisch interniert. Seine Liebe zu den Ballett-

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mädchen konnte nicht mehr bedient Bismarck wußte, daß die Landesre- ler erhob keine Einwendungen (!) ge- werden. gierung mit dieser Sache keinesfalls gen die Absichten des Prinzen Luit- Als „König Otto I.“ regierte er mithin vor den Landtag treten würde, weil pold und des Ministeriums. Aber nach dem Starnberger Debakel in völli- man sie in diesem Fall weggefegt hät- „sichtlich traurig gestimmt“ war er ger Isolation viele Jahre, während derer te. Er wußte ebenso, daß der men- schon. Offiziere, Beamte und Geistliche auf schenscheue König dazu gar nicht Dr. Peter Gauweiler will festgestellt ihn vereidigt wurden. Das führt uns zu- mehr in der Lage war. haben, daß die Entmündigung Ludwigs rück zu König Ludwig, seinem Vorgän- Der Kanzler hatte den König abge- II. gesetzwidrig war. Das glauben wir ger. Dessen Krankheit wurde 1886 vor- schrieben wie der zuvor seine Braut. ihm gern. Es gab eine Gesetzeslücke in züglich mit Hilfe der ja offenkundigen Aber er verlangte, und mußte verlan- Bayerns Verfassung. Mit Hilfe einer Krankheit des Bruders Otto „nachge- gen, „daß man ihn ganz aus der Sache solchen „Lücke“ war Bismarck selbst wiesen“, den andere Psychiater, nicht herauslasse“, ein moderner Pilatus. 1863 gegen den Landtag zur Macht ge- der angesehene Professor Gudden, un- Lerchenfeld erfuhr im April von kommen. tersucht hatten. Graf Kuno von Rantzau, Bismarcks Die Absetzung des Königs war in Hätte Ludwig das Königreich Hanno- der Verfassung Bayerns ebensowenig ver erobert, dessen König abgesetzt und vorgesehen wie Geisteskrankheit des den Welfenschatz für sich annektiert: Der Kanzler hatte Monarchen. Bismarck, auf seine Repu- vielleicht wäre er nie „entmündigt“ wor- den König abgeschrieben tation bedacht, warnte vor diesem den. Aber seine Schulden und Geldfor- „Vorgehen von oben, aufgrund des ir- derungen überstiegen die Vorstellungs- wie der König seine Braut renärztlichen Zeugnisses“. Das Wort kraft all seiner Minister. Staatsstreich hing in der Luft, aber Bismarck, obwohl er in der Kulisse Schwiegersohn und Privatsekretär, der Bismarck griff es nicht auf. Wohl aber geruhsam abwarten konnte, wußte be- sich ohne dessen Erlaubnis kaum auf sprach er vom bösen Schein einer stens Bescheid. Sein Gewährsmann in dem Stuhl umgedreht hätte, „man „Palastrevolution“. München, der Ministerpräsident Johann müsse hoffen, daß die Katastrophe so- Nur, wie sollte man ohne Staats- von Lutz, hielt ihn stets über den Ge- bald als möglich eintrete, da unter den streich auskommen? Wie dem König, sandten Bayerns in Berlin, Hugo Graf jetzigen Umständen das monarchische ohne seine Mitwirkung, „völlige Regie- von Lerchenfeld, a` jour. Prinzip schwer geschädigt werde“. rungsunfähigkeit“ nachweisen? Für Nachdem Bismarck dem bedrängten Einen Monat später sagte Bismarck diesen Fall sah die Verfassung die König 1884 noch einmal eine Million zu Lerchenfeld, er habe den Zustand „Reichsverweserschaft“ vor. Wer hätte Goldmark (heute bis zu 100 Millionen des Königs „nicht für so schlimm ge- Reichsverweser werden müssen? Prinz Mark) als Soforthilfe überwiesen hatte – halten und an Intriguen gedacht“. Was Otto, der aber unheilbar geisteskrank aus welchem Topf wohl? –, lehnte er hatte Lerchenfeld ihm vorgelegt? Das war. Deswegen mußte er nach dem 1886 die Hilfe an Ludwig unter Beru- „Belastungsmaterial“. Der Reichskanz- rätselhaften Tod Ludwigs und des im fung auf haushalts- und fi- übrigen untadeligen Profes- nanzrechtlich einwandfreie sors Gudden im Starnber- Gründe ab. Er bereinigte sei- ger See als „König Otto I.“ ne Akten. den Thron besteigen, was Bismarck verlangte Sicher- in diesem Fall hieß, nicht heiten (die der König nicht ge- besteigen. ben konnte), Zinsen und Ludwigs und Ottos Onkel Rückzahlung durch einen Luitpold nahm die „traurige Baustopp (was nicht in Lud- Pflicht“ auf sich, „die Reichs- wigs Auffassung von Realität verwesung zu übernehmen“, paßte), er lehnte korrekt ab. nannte sich fortan aber Es handelte sich um schlichte „Prinzregent Luitpold“. Er sechs Millionen Goldmark. starb 1912. An wen verwies der Kanzler Unter der Nicht-Herrschaft den entnervten König? An von König Otto I. trug sich den Landtag, in dem das Zen- Wilhelm II. 1891 in das Gol- trum, Reichsfeinde also, die dene Buch der Stadt Mün- Mehrheit hatte, und die SPD, chen mit den goldenen, aber eine „bedrohliche Räuber- taktlosen Worten ein: „Su- bande“ (Bismarck), auch eini- prema lex regis voluntas.“ ge Abgeordnete. Hatte also alles so kommen Die Landesvertretung ins- müssen? Nicht, wenn man gesamt aber, so versicherte dem soeben von Wilhelm II. Bismarck mit unschuldigem unsanft aus seinem Amt ge- Augenaufschlag, werde aus drängten Otto von Bismarck Anhänglichkeit „nicht nur die glaubt. Er sagte 1890: „Bei Rückstände der Cabinettskas- richtiger Führung wäre er se, sondern auch die Mittel für (Ludwig) kaum ein Narr ge- den Abschluß der begonne- worden.“ nen Bauten bewilligen“. Es gab so einen richtigen Führer, nur nicht für Ludwig * Zeitgenössische Illustration der und nicht in Bayern. Es war Todesnacht am 13. Juni 1886, auf ebender, der den Stein ins der die Bärenkräfte Ludwigs II. deut- Rollen gebracht hatte. Bild- lich werden. Die These, Gudden ha- be den König in den See gestoßen, SÜDD. VERLAG lich gesprochen also: „den Ki- wird anschaulich widerlegt. Ludwig II., Dr. Gudden (1886)*: „An Intriguen gedacht“ ni von hint’ derstessen“.

110 DER SPIEGEL 34/1995 Ludwig-Schloß Herrenchiemsee, Vorbild Schloß Versailles (u.): Sehnsucht nach der absoluten Monarchie F. HELLER / ARGUM

NACIVET / SCHAPOWALOW Geisterfahrer der Geschichte SPIEGEL-Redakteur Michael Mönninger über die gebauten Privatutopien des Bayernkönigs Ludwig II.

uf der Jagd nach der Vergangen- eingehalten wird, denn wenn es nicht Weil ihm auch die Fertigstellung von heit gönnte sich der König keine geschieht, ist die ganze Arbeit vergeb- Herrenchiemsee zu lange dauerte, gab AAtempause. Ludwig habe „den lich.“ Ludwig Befehl, in den Fensterhöhlen Zappel“ und sei „beständig unterwegs“, Zur gleichen Zeit ließ er 17 Kilometer schon mal Puppen, die Persönlichkeiten wunderte sich Kaiserin Elisabeth 1875. entfernt den Grundstein für sein künfti- vom Hofe Ludwigs XIV. darstellten, „in Nur noch von Februar bis April hielt es ges Schloß Neuschwanstein bei Füssen getreu nachgemachten Kostümen por- Ludwig II. in seiner „unseligen Haupt- legen. Aber auch dieser Neubau „im trätähnlich herausschauen zu lassen“. stadt“ München aus, den Rest des Jah- echten Styl der alten deutschen Ritter- Und im Garten mußten abgeschlagene res eilte er zwischen seinen elf Berghüt- burgen“ befriedigte den König nicht. Fichten und bemalte Heckenkulissen ten und drei Großbaustellen umher. 1873 kaufte er die Insel Herrenwörth im aufgestellt werden, damit der König von Er beschwor den zeitlosen Glanz der Chiemsee, wo er unverzüglich mit den Anfang an den Eindruck der Voll- absoluten Monarchie und dehnte seine Planungen für seinen Traum von einem endung genießen konnte. Ahnensuche bis zu den byzantinischen „Neuen Versailles“ begann. Auf Neuschwanstein wollte Ludwig Kaiserpäpsten und römischen Cäsaren Der König wurde immer hektischer. II. die Fertigstellung sogar ein Jahr vor- aus – und hatte doch wenig Geduld. Auf Herrenchiemsee richtete er sich verlegen und kommandierte 1882 einen Bereits sein erstes Projekt, die königli- gleich 1874 eine Wohnung ein, ließ Trupp von Münchner Historienmalern che Villa Linderhof bei Oberammer- durch die Baumwipfel eine Gasse schla- herbei, die wie Sträflinge Tag und Nacht gau, hatte Ludwig vor Baubeginn 1868 gen und beobachtete die Arbeiten mit die Wände bemalen mußten. Aber weil im Geiste so vollendet, „wie Minerva dem Feldstecher. Als er dem Rohbau ei- die Mauern noch zu feucht waren, muß- fix und fertig aus Jupiters Kopf nen Besuch abstattete, mußten seine ten die Künstler Teppiche bemalen und sprang“. Arbeiter vorher die unvollendeten Ge- hinterher aufhängen. Als zwei Jahre später das Schloß mächer provisorisch mit aufgemaltem In solchem Höllentempo konnten noch nicht fertig war, herrschte Ludwig Parkett sowie Pseudokaminen aus Holz nicht umständliche Akademieprofesso- seinen Hofsekretär an: „Mit dem An- und Gipsmöbeln ausstaffieren, damit ren, sondern nur Spezialisten arbeiten, bau könnte es viel rascher gehen, trei- dem König der Anblick von nacktem die von Haus aus Zeitdruck und Illusi- ben Sie unausgesetzt, damit der Termin Mauerwerk erspart blieb. onskunst gewöhnt waren: Theatermaler

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und Kostümbildner. Aber gerade von ihnen forderte Ludwig das fast Unmög- liche: Er wollte keine bloßen optischen Täuschungen, sondern höchste wissen- schaftlich-historische Detailtreue. Der überaus belesene Monarch war ein Spezialist für Architekturgeschichte und schickte seine Künstler auf Recher- chereisen in alle Welt, um an Original- schauplätzen Zeichnungen und Fotos anzufertigen und Quellenstudien zu be- treiben. Alles bloß „Theatralische“ war ihm verhaßt, und seine Wutausbrüche über „Gehudel“ und „Farbengepatz“ kosteten so manchen Maler die Anstel- lung. Alles mußte brandneu sein und trotzdem uralt aussehen. Denn Ludwig wollte keine Antiquitäten sammeln, sondern eine ideale Welt erschaffen. Bei König Ludwig II. von Bayern handelte es sich nicht bloß um einen Spinner und Sonderling, der mit seinen Phantasieschlössern und Theaterallüren das Vorbild für Walt Disneys syntheti- sche Freizeitparks schuf. Er war viel- mehr ein hellwacher Geisterfahrer der Geschichte, der mit Vollgas gegen den Fortschritt ansteuerte und sein Heil in Ludwig-Schloß Neuschwanstein (Idealentwurf von 1869): „Im echten Styl der alten fernen, aber authentisch rekonstruier- ten Vergangenheiten suchte. Von Kunsthistorikern jahrzehntelang ignoriert und von Millionen Touristen als verrückter Operettenkönig ver- kannt, holt ihn der bayerische General- konservator Michael Petzet jetzt endgül- tig aus dem Unterhaltungsfach in die Kunstgeschichte zurück*. Petzet bewun- dert Ludwigs Lebenswerk als „Höhe- punkt des Historismus“, ja sogar als „Inbegriff einer letzten glanzvollen Epo- che bayerischer und europäischer Kul- turgeschichte“, dem eigentlich längst die höchste denkmalpflegerische Ehre zu- teil werden müßte: die Eintragung in die Unesco-Liste des Weltkulturerbes. Auch wenn Petzet keinen aktuellen Bedarf sieht, die drei bestens gepflegten Königsschlösser solcherart unter Kura- tel zu stellen, so pocht er dennoch dar-

auf, daß sie eines der wichtigsten SEEGER-PRESS Unesco-Kriterien erfüllen: den unüber- Thronsaal in Neuschwanstein: „Den Herrscher vom Hof getrennt“ sehbaren Einfluß auf die künstlerische und kulturelle Entwicklung. Das soll mächtiger Konkurrenzbauten. So ließ bei Danzig, dem Pantheon der Provin- nicht heißen, daß Ludwigs Baustil an- der Preußenkönig Friedrich Wilhelm zen Preußens, können Ludwigs Bauten dernorts kopiert worden sei. Vielmehr IV. von 1850 an das Stammschloß der nicht konkurrieren, mit der bis 1890 schuf er, so Petzet, „weltweit das Phan- Hohenzollern im württembergischen wiederhergestellten Wartburg bei Ei- tasiebild einer idealen Burg“, das über Hechingen restaurieren. Gegenüber senach auch nicht. Denn bei Ludwigs Film, Werbung und Disneyland-Repli- Ludwigs zweitrangigen Künstlern ge- Schlössern handelt es sich nicht um na- ken zum „kollektiven Archetypus“ aller staltete dort der weitaus bedeutendere tionaldynastische Staatsdenkmäler oder Kulturen geworden sei. Baumeister Friedrich August Stüler die reparierte Geschichtsmonumente, son- Bloße Architekturqualität allein kann Ruine in englisch-französischer Gotik zu dern um funktionslose, ahistorische nicht der Grund sein, daß Ludwigs Neu- einem preußischen Geschichtsdenkmal Neubauten ohne politische Propaganda. schwanstein zum Spitzenmodell gewor- um. Das Bildprogramm von Adlertor, Nicht einmal der Geschichte der Wit- den ist. Denn es entstammt der Blüte- Wehrhaus-Büsten, Stammbaumhalle telsbacher wollte Ludwig II. Tribut zol- zeit des Denkmal- und Burgenbaus im und Bischofsreliefs in Hechingen strahl- len, obwohl das angesichts der bedrohli- 19. Jahrhundert und hatte Dutzende te zudem eine klare Botschaft aus: daß chen Übermacht der Preußenherrscher die Hohenzollern die geborenen Füh- mehr als verständlich gewesen wäre. rungskräfte für das Vaterland waren. Auf die Frage eines Hofsekretärs, war- * Michael Petzet, Achim Bunz: „Gebaute Träume. Die Schlösser Ludwigs II. von Bayern“. Hirmer Ver- Auch mit dem von 1882 an restaurier- um es in Herrenchiemsee keine Wittels- lag, München; 306 Seiten; 148 Mark. ten Deutschordensschloß Marienburg bacher-Wappen gebe, erwiderte Lud-

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wig, im Versailles des Sonnenkönigs „Ludwig ernst zu nehmen“, erinnert Ludwig XIV. hätten schließlich auch sich Petzet, „war damals eine große Pro- keine Bayern-Abzeichen gehangen. vokation.“ Was die Ludwig-Schlösser ein Jahr- Schnell erhielt Ludwig II. das Image hundert lang für die Kunstwelt so anrü- des Aussteigers und Bürgerschrecks, chig machte, ist ihre totale, gnadenlose was den Beatniks und Hippies wie geru- Verständlichkeit und bildhafte Über- fen kam. Illustrierte Zeitungen erklär- deutlichkeit. Ihr Besuch setzt keine he- ten Ludwig zum „Popkönig“ und ließen raldischen und ikonographischen Fach- Motorradrocker und Musikbands in kenntnisse voraus. Obwohl sie von ei- Neuschwanstein fotografieren, wodurch nem einzelnen unter Ausschluß der Öf- der historische Prunk zur psychedeli- fentlichkeit geplant wurden, sind es an- schen Staffage umgedeutet wurde. tielitäre, fast populäre Monumente, die Zur gleichen Zeit fand auch die aka- sich bis ins Detail an die Spielregeln kul- demische Kunstgeschichte am verpön- tureller Überlieferung halten. Und ten Historismus und seiner Extremfigur wenn etwas zu sehr auf Konvention und Ludwig wieder Gefallen. Der Münchner Nachahmung beruht, ergibt sich der Architekturprofessor Winfried Nerdin- Vorwurf von Vulgarität und Trivial- ger erinnert sich: „Damals kursierte die kunst von selbst. Parole ,Die Phantasie an die Macht‘, Die erste Wiederentdeckung Ludwigs und im Kampf gegen die Zweckrationa- fiel ausgerechnet in die wilden sechziger lität galt der Historismus als etwas Jahre der Popkultur und Jugendrevolte. Nicht-Vernutztes, das sogar utopische Schon damals war Denkmalpfleger Pet- Momente enthielt.“ zet mit seiner großen Ausstellung Soviel Verständnis und Anerkennung „Ludwig und die Kunst“ in der Münch- hatte der König zu Lebzeiten nie erfah- ner Residenz vorneweg. Er präsentierte ren. Zwar wurden während der Histo-

HISTORISCHES FARBARCHIV C. ELSLER den vermeintlichen Kitschier als gran- rismus-Blüte im 19. Jahrhundert über- deutschen Ritterburgen“ diosen Mäzen und Märtyrer der Kunst. all Walhalla-Tempel, Feldherrenhallen, SPICHTINGER / ZEFA DISNEY Ludwig-Schloß Neuschwanstein, Kopie in Euro Disneyland: Trivialkunst als Utopie

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antike Propyläen und go- Berliner Baumeister Karl tische Dome gebaut. Friedrich Schinkel hatte Aber Ludwigs minutiöse von 1805 an zehn Jahre Nachahmung nicht nur lang als Panoramenmaler von früheren Bau-, son- gearbeitet und eigene dern auch von Lebenssti- Bühnenbilder zeitlebens len war eine hochpoeti- als Experimentierfeld für sche Kunstleistung – ohne seine Berliner Großbau- inneren Bezug zur kriege- ten benutzt. Und noch rischen und nationalisti- der Wiener Architekt Ca- schen Reichsgründerzeit. millo Sitte, einer der in- „Er ist kein schlimmer ternational einflußreich- Fürst“, schrieb der Pari- sten Städtebautheoreti- ser Figaro 1874, als Lud- ker der Jahrhundertwen- wig in Versailles das Vor- de, bezog seine baukom- bild für sein Schloß Her- positorischen Regeln aus renchiemsee studierte, den Landschaftsszenen „er hat seine Soldaten nie und Bühnenbildern, die anders begleitet als auf er bei den Bayreuther dem Klavier.“ Trotz der Wagner-Festspielen von Animositäten gegenüber 1876 an bewundert hatte. Frankreich und der Und schließlich war schweren Kriegsverwü- selbst der restaurierte stungen, die der Sonnen- Festsaal der thüringi- könig Ludwig XIV. einst schen Wartburg, so woll- in der Pfalz angerichtet te es Preußenkönig Fried- hatte, sah der Bayern- rich Wilhelm IV., nach könig im französischen dem Bühnenbild des Herrscherhaus das leuch- zweiten Aktes von tende Vorbild eines abso- „Tannhäuser“ in der Ber- luten Königtums, das er liner Aufführung von in seinen Bauten verewi- 1856 gestaltet worden.

gen wollte. WINDISCH / SCHAPOWALOW Doch Ludwig trieb die Weil er unfähig war, Ludwig-Schloß Linderhof: „Ideal-monarchisch-poetische Höhe“ wörtliche Rückverwand- selber große Kunst her- lung von flüchtigen Thea- vorzubringen, so der Publizist Erich Ku- Wagner den König sogar als „Mitschöp- terdekorationen in massive Architektur by, wurde Ludwig zum „Erfinder eines fer“ seiner Werke. bis ins Extrem. In Neuschwanstein ließ autobiographischen Gesamtkunstwer- Doch weil die Liebe des Königs zum er „Tannhäusers“ Sängersaal und kes“. Das Stück seines Lebens war die Musikavantgardisten und Revolutionär „Lohengrins“ Burghof wiederauferste- Götterdämmerung der Monarchie, in öffentliches Mißfallen erregte und ihr hen und die Wände mit „Tristan“- und dem er als Hauptdarsteller, Regisseur Plan für ein großes Wagner-Festspiel- „Parsifal“-Szenen bemalen – allerdings und Zuschauer in einer Person fungierte haus auf den Isarhöhen scheiterte, brach noch stärker historisierend als die Büh- und für das er in seinen Schlössern Büh- der junge König aus der wittelsbachi- nenbilder, weil er die Sagen-Vorlagen ne und Zuschauerraum zu einem Total- schen Tradition aus. Anstelle absoluti- durch eigene Recherchen komplettierte. theater verschmelzen ließ. stischer Staatsbauten, deren Höhepunkt So mußte der geplante Neugotikbau Die drei Bau- und Schauplätze seines die klassizistische Erneuerung Mün- schließlich romanisch ausgeführt wer- Lebens widmete er den großen Epochen chens durch Ludwig I. markierte, baute den, um keine Geschichtsklitterung zu des echten Königtums: Die Zeit der mit- Ludwig II. lieber Landresidenzen. betreiben. Für den byzantinischen telalterlichen Heldensagen und der sali- Ein ebenso gewichtiges Motiv seiner Thronsaal in Neuschwanstein – eine Mi- schen, staufischen und byzantinischen Stadtflucht war die Sorge, unter dem niatur der Hagia Sophia – ließ er sogar Kaiser lebte in Neuschwanstein wieder Ansturm Preußens und der deutschen die gleichen Marmorsorten wie in Kon- auf; Herrenchiemsee verkörperte das Reichsgründung zum rechtlosen „Schat- stantinopel herbeischaffen. Versailles des französischen Sonnenkö- tenkönig“ zu werden und an einem völ- Auch im Rokokoschloß Linderhof – nigs; und dem Rokoko von Ludwig XV. lig verbürgerlichten Hof zum ersten An- nach dem Vorbild des Lustschlößchens und XVI. setzte er mit Schloß Linderhof gestellten seines Landes abzusteigen. So Trianon von Ludwig XV. – fielen die In- ein Landschaftsdenkmal. ließ er 1872 seinen Musikgott Wagner terieurs noch prächtiger aus als beim Seitdem der 15jährige Kronprinz 1861 wissen, „daß ich in mir die Berechtigung Original. Die wuchernden Blumenorna- in München die erste Oper seines Le- fühle, in meiner Sphäre zu bleiben, mich mente an Wänden und Möbeln und die bens gehört hatte, Richard Wagners nicht herabziehen lassen zu müssen in Phantasiefarben lassen Denkmalpfleger „Lohengrin“, kannte seine Begeisterung den Strudel der Alltagswelt, die mich Petzet an „verblüffende Vorboten des für die „göttlichen Werke“ und „heili- anwidert, sondern in meiner ideal-mon- späteren Jugendstils“ denken. gen Ideale“ des sächsischen Dichter- archisch-poetischen Höhe und Einsam- Den größten „Blow-up“-Effekt schuf komponisten keine Grenzen. Sofort keit zu verharren“. Ludwig mit Schloß Herrenchiemsee. nach seiner Thronbesteigung 1864 ließ Daß er fortan Bühnenbilder als Inspi- Die Anlage sollte anfangs nichts als eine er Wagner nach München umsiedeln. rationen für den Neubau von Schloß Totalkopie von Versailles werden. Al- Ohne Ludwigs großzügige Finanzie- Neuschwanstein benutzte und den lerdings war das Pariser Original wäh- rung wären „Tristan“, „Meistersinger“, Münchner Theatermaler Christian Jank rend der Französischen Revolution ge- „Parsifal“ und „Ring des Nibelungen“ die Anlage entwerfen ließ, war eine im plündert worden. So mußte der König in wohl nie entstanden. Wegen seiner hi- 19. Jahrhundert durchaus übliche Syn- Archiven nach alten Plänen suchen und storisch-literarischen Anregungen lobte these aus Mal- und Baukunst. Schon der zahlreiche Prachtmotive – etwa die be-

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rühmte Gesandtentreppe – nachbauen Herrscher bei Reisen durch sein Welt- Im Vergleich zu solchen Schaustellern lassen, die in Versailles längst nicht reich beeindruckt hatte. Aber erst mit und Antiquitätensammlern war Ludwig mehr existierten. Aber warum der Bay- dem 19. Jahrhundert begann die wahre II. ein kreatives Genie, ein Monstrum ex- ernbau – obwohl nur im Mitteltrakt fer- Blüte der Künstlerhäuser, Wohnmu- zessiver Selbstverwirklichung, das nie- tiggestellt – während des Kopierens und seen, Kunstkammern, Privatklöster und mand anderen als sich selbst beeindruk- Rekonstruierens schließlich in allen De- der Mausoleumsbauten zu Lebzeiten. ken wollte. Zwar war aus dem strahlen- tails und Raummaßen knapp zehn Pro- Mal war es ein Architekt wie der Lon- den Adonis im Lauf der Jahre ein aufge- zent größer geworden ist als das echte doner John Soane, der sich in seinem schwemmter Falstaff mit faulen Zähnen Versailles, gibt den Konservatoren bis Wohnhaus eine labyrinthische Gruft geworden. Aber wenn er in seinen insge- heute Rätsel auf. Diese Vergrößerungs- voller Sarkophage, Säulen und Kunst- samt 209 „Separataufführungen“ sich als ästhetik ist sonst nur der Weltsicht von schätze einrichtete, mal ein Schriftstel- einzigem Zuhörer sämtliche Wagner-, Kindern oder Pop-Artisten vorbehalten. ler wie der Engländer William Beckford Mozart- und Weber-Opern vorführen Ludwigs Kultstätten der Monarchie mit seinem gotischen Klosterneubau ließ, mit dieser Filmmusik im Kopf seine brachen völlig mit der höfischen Reprä- Fonthill in Wiltshire. Oder es entschä- Prachtbauten durchschritt und sich von sentationskultur, deren Häuser immer seinem Münchner Theaterdirektor Franz auch öffentliche Ausstellungsbauten wa- Seitz die Kostüme auslieh, war er schon ren. Nachdem die Französische Revolu- „Im Paradies, wo hienieden dort, wovon andere erst nach tion die Trennung von Hof und Staat mich kein Erdenleid ihrem Ableben träumen: im „Paradies, durchgesetzt hatte, so urteilt der Kölner wo mich kein Erdenleid erreichen soll“. Historiker Ludwig Hüttl, habe Ludwig erreichen soll“ Mit ihrer bloßen Architekturpracht den letzten logischen Schritt getan, be- und Dekorationsfülle läßt sich die Anzie- vor 1918 das Königtum ganz abgeschafft digte sich der österreichische Erzherzog hungskraft von Ludwigs Schlössern auf wurde: „Er isolierte sogar noch die Per- Maximilian mit seinem Phantasieschloß seine heutigen Besucher nicht erklären. son des Herrschers vom Hof.“ Miramare bei Triest für seine Abschie- Was die suchen, ist nicht der Abglanz von Besuchern verwehrte der König den bung vom Wiener Hof. Neuromanik oder Spätrokoko, die es in Zutritt zu seinen Schlössern. Ihre Blicke Zu den letzten Exemplaren dieser authentischen Baudenkmälern zur Ge- sollten seine Werke nicht „entweihen“ Einsamkeits- und Stilisierungskünstler nüge gibt. Es ist die Ahnung von Ludwigs und „besudeln“. Sein Rückzug in selbst- gehörte der Dichter und Erste-Welt- genialischer Konsequenz und Ursprungs- geschaffene, asoziale Environments – kriegs-Held Gabriele D’Annunzio. Auf sehnsucht, eine regressive Privatutopie eine Art von vorelektronischen Simula- dem Hanggrundstück seiner Villa Vitto- zu leben. tionsapparaten – entsprach dem immer riale über dem Gardasee stellte er zahl- Was noch in jedem Eigenheimbau- intimer und privater werdenden Kunst- reiche Militaria – komplette Kriegsschif- herrn rumort, der Wunsch nach einer genuß des Bürgertums. fe, Flugzeuge und U-Boote – auf und selbstgeschaffenen, unverwechselbaren In der langen Ahnenreihe der ge- ließ sich im selbstgebauten Mausoleum Miniaturwelt, das hat Ludwig exempla- bauten Privatutopien bilden Ludwigs gleich nebenan begraben. Und der ame- risch geschafft. Lange vor dem Hoff- Traumschlösser einen absoluten Höhe- rikanische Zeitungsfürst William Hearst nungs-Philosophen Ernst Bloch hat er es punkt. Zwar hatte sich schon der römi- ließ sich auf seiner kalifornischen Ranch vermocht, durch die Naturnähe und sche Kaiser Hadrian von 118 an bei Ti- bei San Simeon 20 000 Container mit Menschenferne seiner oberbayerischen voli eine synthetische Villen- und Bä- Bruchstücken alter europäischer Klöster Denkmallandschaften den linken Begriff derlandschaft bauen lassen, die alles an zu seinem Privatschloß zusammenba- der „Utopie“ mit dem rechten Begriff antiker Architektur enthielt, was den steln. „Heimat“ zu versöhnen. Y C. SEGHERS / PHOTO RESEARCHERS Hearst-Privatschloß (in Kalifornien): Monster der exzessiven Selbstverwirklichung

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Werbeseite Werbeseite

Werbeseite . PANORAMA

Sambia Demokratie hat nicht den erhofften Aufschwung gebracht: Kaunda dage- Sehnsucht nach dem gen verspricht, wie früher Nahrungs- mittel zu subventionieren und die Priva- alten Chef tisierung von Staatsbetrieben zu dros- seln. Der Polit-Rentner ließ sich erneut zum Vorsitzen- den seiner einstigen Ein- heitspartei Unip küren und will bei der Präsidentschafts- wahl im nächsten Jahr gegen seinen Nachfolger Frederick

Chiluba antreten. Dessen Y. GELLIE / GAMMA / STUDIO X Regierung von „Gaunern, Koka-Ernte in Kolumbien Dieben und Drogenhänd- lern“ (Kaunda)istalarmiert. Lateinamerika Sie ließ den Ex-Präsidenten bereits zweimal verhaften, Ende des Koka-Booms weil er öffentliche Reden oh- ne Genehmigung hielt. Nun Der Preisverfall für Kokablätter und will Chiluba seinen Heraus- Kokapaste, Rohstoff für die Herstel- forderer per Verfassungsän- lung von Kokain, reißt Zehntausende derung disqualifizieren: Nie- von Bauern aus den Andenländern in

AFP / DPA mand soll für das Präsiden- den Ruin. In Peru wird ein Korb Koka- Kaunda tenamt kandidieren dürfen, blätter (11,5 Kilogramm) mit 2,20 US- dessen Eltern nicht in Sam- Dollar gehandelt, ein Kilogramm Ko- Er wedelte immer mit einem weißen Ta- bia geboren wurden. Kaundas Eltern kapaste kostet 180 Dollar. Das ist der schentuch und brach auf Kundgebun- aber stammen aus dem heutigen Mala- niedrigste Stand seit 20 Jahren. Noch gen oft inTränen aus: Kenneth Kaunda, wi. Einem schon 1991 beschlossenen vor einem Jahr kauften Drogenhändler 71, hat Sambia 27 Jahre regiert und her- Gesetz zufolge darf überdies nicht als einen Korb Kokablätter für 60 Dollar, untergewirtschaftet – erst 1991 konnten Präsidentschaftskandidat antreten, wer ein Kilo Kokapaste brachte 545 Dollar. ihn die Bürger des afrikanischen Kup- bereits zwei Legislaturperioden amtiert Der Preis für Kokain in den USA ist da- ferstaates abwählen. Doch nun wün- hat. Kaunda ist bislang sechsmal Präsi- gegen stabil: Die Drogenhändlerkartel- schen sich viele „KK“ zurück. Denn die dent gewesen. le haben das Rauschgiftangebot künst- lich verknappt. Der Koka-Boom geht zuEnde, weil auf dem Weltmarkt inzwi- Frankreich schen zuviel Kokapaste angeboten wird. In Kolumbien betreiben die Kar- telle eigene Plantagen und kaufen im- Wasserstoffbomben auf Mururoa mer weniger Blätter und Paste in den Nachbarländern. Frankreich wird auf dem Mururoa- Atoll Anfang September den „Big Bang“ des Atomzeitalters entfesseln: Osteuropa Wasserstoffbomben. Das gab Jacques Bouchard, Chef der militärischen Pro- Wende zum Besseren gramme der französischen Atomener- gie-Behörde, freimütig zu, als er vor- Die wirtschaftliche Schocktherapie in letzte Woche ausländische Journali- Polen hat sich gelohnt: Erstmals seit sten über das Testgelände im südlichen acht Jahren sind die Preise im Juli ge- Pazifik führte. Im Mittelpunkt der fallen. Der Export steigt dieses Jahr Tests stehen Sprengköpfe des Typs TN voraussichtlich um beachtliche 30 Pro- 75 (TN = thermonucle´aire), die gegen- zent gegenüber dem Vorjahr, die Indu- wärtig auf den französischen Atom-U- strieproduktion um über 10 Prozent, Booten installiert werden. Auch die das ist etwas mehr als in Tschechien weniger explosionsstarken Waffen, die (9,6 Prozent). In den ehemaligen Ost- auf Mururoa getestet werden sollen, blockstaaten zeichnet sich eine gene- sind Abkömmlinge von H-Bomben. relle Besserung der Wirtschaftsdaten Offiziere bezeichneten sie als „fusions- ab: Auch Rußland meldet neuerdings verstärkt“. Sie enthalten eine Ladung Produktionsanstieg und ein Sinken der der Wasserstoff-Isotope Deuterium Inflationsrate. Der Umsatz im Außen- und Tritium, was die Wirkung der handel erhöhte sich binnen eines Jah- Bombe um ein Vielfaches erhöht. Mit res um rund ein Sechstel auf fast 47 diesem „Boosting“ soll Plutonium ge- Milliarden Dollar. In der Ukraine, die spart werden, gaben die Offiziere an. GAMMA / STUDIO X jetzt erst mit Marktreformen beginnt, Die Sprengkraft der mindestens sieben sank die monatliche Geldentwertung

Versuchswaffen soll zwischen 5 und A. DUCLOS / von 21,1 Prozent im Januar auf 5,4 150 Kilotonnen betragen. Französisches Atom-U-Boot Prozent im Juli.

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Großbritannien Parteischelte für Labour-Chef Labour-Führer Tony Blair, 42,gerätzu- nehmend unter Beschuß prominenter Parteifreunde. Der smarte und telegene Politiker mit besten Chancen, bei den nächsten Wahlen 18 Jahre Konservati- ven-Vorherrschaft zu brechen, hatte in den vergangenen Monaten mit eiserner Faust den Einfluß der Labour-Linken und der Gewerkschaften zurückge- drängt – und damit, klagen seine Kriti- ker, die Partei ihrer Identität beraubt. Für den Linken Richard Burden sind die gewendeten Sozialdemokraten zu „einer rücksichtslos-effektiven Wahl- maschine“ verkommen. Sein Parla- mentskollege Ronald Campbell warf Blair vergangene Woche gar vor, „die Bürger zu betrügen“: Er wolle mit der dreisten Übernahme von Thatcher-Pa- rolen dem wahlentscheidenden konser- vativen Mittelstand vortäuschen, „daß Labour eine wählbare Partei sei“.

Sibirien Konterrevolutionär als Werbemagnet In Irkutsk am Baikalsee wird einem Verfemten auf ungewöhnliche Weise späte Ehre zuteil. Eine ortsansässige Brauerei vertreibt seit kurzem ein Bier namens „Admiral Koltschak“ –mit dem Konterfei des ehemaligen Zarenadmi- rals auf dem Label. Der Offizier, 1918/19 Reichsverweser und „Höchster Oberbefehlshaber“ antibolschewisti- scher Truppen, war im Februar 1920 in

Etikett der Biermarke Koltschak

Irkutsk von den Roten erschossen wor- den. In der Stadtverwaltung treffen Ge- tränkemarke und Werbung auf Gegen- liebe, denn Koltschak habe seinerzeit viel für Irkutsk getan, heißt es. Wegen der „Verwendung von Baikalwasser“ – ein Qualitätssiegel – soll das Kol- tschak-Starkbier seine Käufer finden.

DER SPIEGEL 34/1995 119 . E. COSKUN / SIPA PRESS General Hussein Kamil Hassan, Präsident Saddam (1993): Gold im Wert von zehn Millionen Dollar ins Asyl mitgenommen

Irak „Reif für den Wandel“ Machtkampf in Bagdad: Verunsichert durch die Flucht seiner engsten Vertrauten ins jordanische Exil, versucht Saddam Hussein, seine Herrschaft zu retten. Um sich Luft zu verschaffen, bemüht sich der Tyrann vom Tigris jetzt sogar um den Ausgleich mit dem bisherigen Erzfeind Iran.

ie Aufnahmen von der Hinrich- waltherrscher wie ihn gibt es tung sollen Saddam Hussein be- kein friedliches Exil. Er muß Drührt haben wie wenig sonst: ein seine Macht bis zum äußer- erschöpfter Mann, von Soldaten aus ei- sten verteidigen –gerade das nem Schützenpanzer gezerrt; ein Arzt, macht ihn hoch gefährlich. der dem Todgeweihten noch einmal den Bislang konnte er sich auf Blutdruck mißt; die Ehefrau mit ver- seinen innersten Führungs- kniffenem Mund auf der Anklagebank; kreis wie auf eine verschwo- und zum Schluß eine entstellte Leiche rene Mafia-Gemeinschaft im Staub. verlassen; schließlich haben Zum Tode verurteilt von einem Mili- seine engsten Helfer selbst tärgericht und erschossen: So endeten Blut an den Händen. Doch im Dezember 1989 der rumänische nun, nach der spektakulären Staatschef Nicolae Ceaus¸escu und seine Flucht seiner Schwiegersöh- Frau Elena. Der irakische Staatschef ne, wankt die Macht des fürchtet, daß es ihm ebenso schmählich Diktators wie nie zuvor wäh- ergehen könnte. rend seiner Alleinherrschaft Tief erschüttert, berichten Vertrau- seit 16 Jahren; sein frühe- ensleute aus seiner Umgebung, habe rer Geheimdienstchef Wafik sich der irakische Diktator immer wie- Samarraı¨ gibt ihm höchstens der das seinerzeit vom rumänischen sechs Monate (siehe Inter- Fernsehen ausgestrahlte Video ange- view Seite 122). schaut. Die Machtbasis, auf die Wie Ceaus¸escu vom eigenen Volk ge- sich Saddam stützen kann, jagt, gestellt und getötet zu werden sei ist bedrohlich schmal gewor- geradezu „ein Alptraum Saddams“. den: Nachdem er Töchter, Wird er nun bald Wirklichkeit? Schwiegersöhne, Halbbrü-

Saddam weiß, daß er einen erfolgrei- AFP / DPA der und andere Verwandte chen Umsturz nicht überleben würde; Diktator Saddam, Sohn Udai verloren hat, sind ihm vor al- für einen international verfemten Ge- Schon als Kind ein kleiner Gott lem seine zwei Söhne geblie-

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ben – die womöglich noch ruchloser sind gene US-Emissär Robert Pelletreau: Bagdads Hauptgeschäftsstraße Schari als er. „Saddam Hussein spielt wieder ver- el-Saadun zur Bettelmeile, muß der Mit- Mit Generalleutnant Hussein Kamil rückt.“ telstand Schmuck, Möbel und Hausrat Hassan und Oberst Saddam Kamil Has- Doch sosehr der Hasardeur sich in der verschleudern. san setzten sich zwei Mitstreiter ab, wel- Vergangenheit auch schon verrechnete – Nach Schätzungen des Kinderhilfs- che die inneren Machtverhältnisse be- ein Amokläufer ist er nicht. Die Aktivitä- werks Unicef sind mindestens 2,5 Mil- stens kennen – und nun den Verfolgern ten der irakischen Streitkräfte – mal wur- lionen stillende Mütter, Schwangere des Diktators wertvolle Aufklärung ge- den sie angeblich unmittelbar an der jor- und Säuglinge „ernsthaft unterernährt“. ben können. Hussein Kamil, der alsIndu- danischen Grenze gesichtet, mal nahe an Ein Lehrer kann von seinem Gehalt strie- und Rüstungsminister diente, war der neugezogenen Kuweit-Grenze – sind (5000 Dinar) auf dem freien Markt verantwortlich für die irakische Bewaff- wohl kaum mehr als ein Ablenkungsma- kaum die Zutaten für ein einziges Mit- nung, chemische Kampfstoffe inklusive; növer. Zudem erschweren die Truppen- tagessen seiner Familie bezahlen. Nur sein Bruder kennt als Chef der Leibgarde bewegungen etwaige Putschvorbereitun- staatliche Bezugsscheine für Grundnah- die Verstecke des Staatschefs wie kaum gen, wie der in Prävention von Aufstän- rungsmittel sichern den meisten Famili- ein anderer. den wohlerfahrene Saddam weiß. en das Überleben. König Hussein von Jordanien, der sich Dessen Unterdrückungsapparat ist Doch selbst die Notrationen werden während der Kuweit-Krise nicht gegen nach wievor sostark, daß eine organisier- kleiner. Erwachsene erhalten neuer- Bagdad gestellt hatte und nun die Ab- te Opposition keine Chance hat. Vor al- dings statt neun nur noch fünf Kilo trünnigen aufnahm, glaubt offenbar an lem seit seiner Demütigung im Kuweit- Mehl; auch die Zuteilung von Reis, einen baldigen Umsturz in Bagdad: Feldzug hat der Despot seine Kontroll- Zucker und Pflanzenöl wurde fast hal- „Jetzt ist die Zeit reif für den Wandel.“ mechanismen verschärft: Sechs Geheim- biert. Fleisch, Hühner, Salz und Rasier- Und Palästinenserführer Jassir Arafat, dienste schnüffeln hinter den Bürgern klingen, vor einem Jahr noch gegen der mit seiner Parteinahme für den Kuweit-Aggressor die PLO ins Abseits manövriert hatte, ist sicher: „Das ist das Ende.“ Die Erschütterungen in Bag- dad lösten auch in Washing- ton Alarm aus. Aufgeschreckt durch Satellitenaufnahmen von „ungewöhnlichen Truppenbe- wegungen“ im Irak, beorderte der US-Präsident den Flug- zeugträger „Theodore Roose- velt“ vor die israelische Küste. Die schwimmende Festung soll Jordanien vor eventuellen Ver- geltungsangriffen des Irak schützen. Verteidigungsmini- ster William Perry versicherte, die USA hätten genug „Toma- hawk“-Marschflugkörper in der Region, um jeder „Herausfor- derung“ Saddams zu begegnen. Insgesamt 22 000 US-Soldaten werden in die Krisenregion ver-

legt. J. FERRARI / SIPA PRESS Sollte der in die Enge Getrie- Invasion irakischer Truppen in Kuweit-Stadt (am 2. August 1990):„Die Zeichen stehen auf Sturm“ bene tatsächlich die USA durch einen neuen Waffengang herausfordern? her, drei Sicherheitsdienste sind allein Vorlage des Berechtigungsausweises Und könnte der innenpolitisch ange- für die Unversehrtheit des Präsidenten zum Vorzugspreis erhältlich, sind ganz schlagene Bill Clinton versucht sein, mit verantwortlich. Nach Angaben von von der Subventionsliste gestrichen. einem Feuerzauber über Bagdad zu voll- Überläufern beschäftigt die irakische Wer schwarz handelt, muß mit grausi- enden, wasseinem Vorgänger versagt ge- Stasi fast eine halbe Million Menschen. gen Strafen rechnen – etwa der Amputa- blieben war? Zehntausende von Verdächtigen und tion von Händen oder Füßen. Fieberhafte Spannung bemächtigte Mißliebigen sperrte das Regime in Ker- Doch es war wohl kaum die Sorge um sich jedenfalls der Nachbarstaaten. Im ker und Konzentrationslager, in denen das Wohlergehen des Volkes, die Hus- jordanischen Grenzort Ruweischid fühl- systematisch gefoltert wird. Amnesty sein Kamil Hassan und seinen Bruder ten sich die Menschen an den Aufmarsch International berichtete von einem In- zur Flucht bewog – bei der sie Gold- vor Ausbruch des Golfkriegs erinnert. ternierungscamp, in dem Gefangene le- schmuck im Wert von zehn Millionen Amerikanische Soldaten bezogen dies- bendig verbrannt wurden. Dollar mitführten. Die beiden hatten mal Stellung im Wüstental Wadi Ram un- Die Repression soll ein Volk ruhig- eher persönliche Gründe, Bagdad in ei- weit vom Roten Meer, US-Hubschrau- halten, dessen Leidensdruck fast uner- ner Autokolonne den Rücken zu keh- ber patrouillierten durch den Luftraum träglich gewachsen ist. Denn Saddams ren: Machtkämpfe innerhalb der Sad- im Grenzgebiet von Kuweit und Saudi- Kriegsabenteuer – erst der achtjährige dam-Hussein-Familie, die sich immer Arabien. Feldzug gegen Iran, dann der Kuweit- wieder blutig zuspitzen. Das Saudi-Fernsehen schwelgte in Überfall – haben den einst reichen Öl- Als unberechenbarster Mann des Irak Filmreportagen über die US-Kriegsschif- staat in Massenarmut gestürzt. Während gilt nicht der Clan-Fürst selbst, sondern fe. „Die Zeichen stehen auf Sturm“, be- sich Saddam nach dem Golfkrieg über sein Erstgeborener Udai. Vor dem hauptete der eilends nach Amman geflo- 40 neue Paläste bauen ließ, verkommt 31jährigen, der unter anderem Vorsit-

DER SPIEGEL 34/1995 121 AUSLAND „Der Countdown hat begonnen“ Interview mit Ex-Geheimdienstchef Wafik Samarraı¨ über die kritische Situation im Irak

Samarraı¨, 47, war einer der engsten für politische Manöver. Für Iraker Samarraı¨: Im Krieg passieren immer Vertrauten von Saddam Hussein. ist der Verrat nur ein Beweis mehr schreckliche Dinge. In Kuweit war Als herauskam, daß er eine Opposi- dafür, daß die Saddam-Clique eine der eigentliche Verbrecher Ali Has- tionsgruppe innerhalb der Sicher- verlogene Bande von Abenteurern san el-Madschid, der ehemalige In- heitsdienste aufgebaut hatte, floh ist, die notfalls einander denunzie- nenminister und Geheimdienstchef. er im Januar nach Damaskus. ren und sogar umbringen, um die ei- SPIEGEL: Kompromittiert sich nicht gene Haut zu retten. Da belauert die Opposition, wenn sie einen Mit- SPIEGEL: Hat Saddam Husseins letzte nur noch jeder jeden. schuldigen an Saddams Verbrechen Stunde geschlagen? SPIEGEL: Saddam hat die Niederlage in ihren Reihen akzeptiert? Samarraı¨: Die Flucht seiner Töchter im Golfkrieg, den Aufstand der Samarraı¨: Ich freue mich, daß Hus- und Schwiegersöhne war sicher nicht Schiiten im Süden und den Verlust sein Kamil offen mit der Vergangen- der allerletzte Fanfarenstoß. Ich ken- der Kontrolle über das Kurdenge- heit gebrochen hat. Jeder Saddam- ne Saddam Hussein und weiß, daß er biet im Norden überlebt. Umsturz- Gehilfe, der dessen Sturz anstrebt schon viele Krisen, auch sehr ernste, und sich – wenn auch spät – zu den überlebt hat. demokratischen Prinzipien bekennt, SPIEGEL: Die Geflohenen waren muß willkommen sein. Wenn wir wichtige Stützen des Regimes, jetzt Kriegsverbrecherprozesse ankündi- ruft Hussein Kamil zum Umsturz auf. gen, wird das dazu führen, daß wir König Hussein von Jordanien warf alle Verantwortlichen in der Umge- Saddams Sohn Udai hinaus, als dieser bung Saddams, die bereit sind, sich die Auslieferung der Geflohenen ver- der Opposition anzuschließen, vor langte. Wie lange kann der Diktator den Kopf stoßen und zur Verteidi- sich noch mit Gewalt an der Macht gung des Regimes zwingen. halten? SPIEGEL: Wie ernst ist die zersplit- Samarraı¨: Blutbäder und Folter kön- terte Opposition überhaupt zu neh- nen seinen Sturz nicht verhindern, men? sondern nur noch eine begrenzte Zeit Samarraı¨: Sie ist nicht zersplittert, hinausschieben. Saddam hat nicht sondern in Fraktionen mit unter- nur beimseitJahrenschwer geprüften schiedlichen politischen Ansichten irakischen Volk an Glaubwürdigkeit geteilt. Alle Saddam-Gegner haben verloren. Die Flucht des Schwieger- sich aber auf einen gemeinsamen sohns und ersten Mitstreiters, wie Nenner geeinigt: Im Irak von mor- Saddam den über Nacht vom Leut- gen muß eine wirkliche Demokratie nant zum Stabsgeneral beförderten mit Meinungsvielfalt und rechts- Hussein Kamil Hassan öffentlich Saddam-Gegner Samarraı¨ staatlichen Institutionen herrschen. rühmte, hatjetztauch dem letzten Ar- „Die Prätorianer retten ihn nicht“ Die Kurden haben Anrecht auf eine meeoffizier klargemacht, daß selbst echte Selbstverwaltung, und unsere seine engste Umgebung das Vertrau- versuche hat es immer wieder gege- Beziehungen zu unseren Nachbarn en in den Präsidenten und Führer ver- ben – bisher ohne Erfolg. dürfen nie wieder von Hegemonie- loren hat. Samarraı¨: Die Fluchtder Töchter,der bestrebungen überschattet werden. SPIEGEL: Rechnen Sie mit einem bal- Loyalitätsbruch des wichtigsten Ge- SPIEGEL: Warum haben Sie dem Re- digen Militärputsch? heimnisträgers, die immer schlimme- gime so lange die Treue gehalten? Samarraı¨: Der Countdown hat be- ren Lebensbedingungen der Bevöl- Samarraı¨: Ich war gezwungen wie al- gonnen, Saddam kann sich höchstens kerung – das alles kommt für Saddam le anderen, meine Funktionen wahr- noch sechs Monate halten. Ob eine in bedrohlicher Weise zusammen. Es zunehmen. Innerlich befand ich Blitzaktion der Armee, ein Aufstand kann jederzeit zur Explosion kom- mich schon lange in Opposition. der Bevölkerung oder beides zusam- men. SPIEGEL: In Ihrer Position als Ge- men ihn fällt, istohne Bedeutung. Für SPIEGEL: Können Sie sich Hussein heimdienstchef hätten Sie Saddam Saddam wird jedenfalls kein Iraker Kamil Hassan als Nachfolger seines doch den wahnwitzigen Überfall auf sein Leben mehr aufs Spiel setzen. Schwiegervaters vorstellen? Kuweit ausreden können. SPIEGEL: Auch nicht die Republika- Samarraı¨: Es geht weniger um seine Samarraı¨: Wenn ich ihm dazu offen nische Garde oder die neu geschaffe- Person. Wer die Führung übernimmt, geraten hätte, wäre ich umgebracht nen Saddam-Fedajin, die mit einem sollte der Entscheidung des Volks worden. Meine Freunde und ich ha- Bluteid auf den Präsidenten einge- überlassen werden. ben ihn aber immer auf die Gefahr schworen sind? SPIEGEL: Hussein Kamil gilt unter eines Zusammenstoßes mit Amerika Samarraı¨: Wenn Volk und Armee Oppositionellen als Kriegsverbre- hingewiesen. Das war schon zuviel. sich erheben, ist alles gelaufen, die cher. In Kuweit und in Kurdistan soll Ich mußte fliehen, meine Freunde Prätorianer können ihn nicht retten. er ebenso gnadenlos vorgegangen leben noch – Saddam hat ihre Na- Saddam hat keinen Spielraum mehr sein wie sein Gönner Saddam. men nie erfahren.

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zender des Nationalen Olympischen Ko- mitees, Präsident des Journalistenver- bandes und Chefredakteur der Tageszei- tung Babil ist, zittern die höchsten Wür- denträger des Landes. Der Saddam-Älteste trat schon als Kind wie „ein kleiner Gott“ auf, erinnert sich der nach Syrien ausgewichene lang- jährige Pressechef Saddams, Hassan Ala- wi. Udai brachte die Ehemänner von Frauen um, die er für sich begehrte. Ho- tels und Restaurants gerieten in seinen Besitz, Rechenschaft brauchte er nie ab- zulegen. In Bagdad ist es ein offenes Ge- heimnis, daß Udai sämtliche von der Uno genehmigten Nahrungsmittellieferungen in die nördliche Kurdenregion mit einer Sonderabgabe von 20 Prozent belegt. Nur einmal schien er zu weit gegangen zu sein –alser den Leibkoch seines Vaters im Rausch erschlug und dafür pro forma zum Tode verurteilt wurde. Doch Sad- dam zahlte das nach islamischem Recht festgelegte Blutgeld und ließ den Mißra- tenen wieder frei.

Udai, aber auch sein etwas unauffälli- GAMMA / STUDIO X ger agierender Bruder Kussei, der einen Chinesische Marine: „Der Indische Ozean ist nicht der Ozean der Inder“ der Sicherheitsdienste leitet, tyrannisie- ren seit Jahren auch die eigene Familie. dungen zu alten Feinden – den Schii- Über zehn Blutsverwandte sollen die Ge- ten, die von der politischen Macht China schwister schon aus dem Weg geräumt weitgehend ausgeschlossen sind, ob- haben. wohl sie die Bevölkerungsmehrheit Kurz vor der Flucht nach Jordanien stellen, und ihren Glaubensbrüdern in war es wieder einmal zu einer Schießerei Teheran. Unser Besitz im Familienkreis gekommen. Ein „unbe- Erstmals hat Saddam einen Schiiten absichtigter Streifschuß“, so Udai, traf zum Oberkommandierenden der Streit- Die Volksrepublik schockiert ihre das Bein von Watban Ibrahim, einem der kräfte ernannt – seit der Staatsgrün- Nachbarn und die Welt: Sie testet drei Halbbrüder Saddams. Die Runde dung 1921 hatte es das noch nie gege- hatte angeblich nur „Freudenschüsse“ ben. Und vor wenigen Tagen entließ Atombomben und feuert Raketen in anläßlich des islamischen Prophetenge- der Staatschef, der sich neuerdings als Gewässer vor Taiwan. burtstages abgegeben. Nachfahre des besonders von den „Die Schüsse galten in Wahrheit mir“, Schiiten verehrten Propheten-Vetters berichtete Überläufer Hussein Kamil ei- Ali Ibn Abi Talib ausgibt, 2340 schi- er Kommentator der Parteizeit- nem jordanischen Geschäftsfreund in itische Schriftgelehrte aus Internie- schrift Liaowang wütete wie einst Amman. Der Schwiegersohn hatte sich rungslagern. In Haft waren sie gekom- Ddie Prawda zu Hoch-Zeiten des dagegen gewehrt, daß Udai inletzter Zeit men, als nach dem Rückzug aus Ku- Kalten Krieges. „Wer den Vorsatz klammheimlich nach dem Amt des Ver- weit ein schiitischer Volksaufstand im hegt, China eindämmen zu wollen, der teidigungsministers griff. Süden ausbrach. Schon loben Prediger hängt einem unrealistischen Wunsch- Für geflohene Ex-Vertraute Saddam den „bekehrten Saddam“ in ihren Frei- traum nach“, giftete das Journal zu Husseins steht inzwischen fest, daß der tagsgebeten. Beginn letzter Woche. „Wer gar auf verhaßte Udai zu einer gefährlichen Be- Auch mit dem früheren Kriegsgegner den konterrevolutionären Umsturz lastung für das Regime geworden ist, de- Teheran sucht Saddam ein Zweckbünd- hofft, der ist ein Traumwandler.“ Daß ren sich Überlebenskünstler Saddam nis gegen den „Großen Satan“ in Wa- dies nicht die Worte eines Papiertigers schon bald entledigen könnte. „Udai shington. Schnell und geräuschlos wird er opfern wie ein Festtagslamm“, schlossen der Irak und Iran ein Ab- Kampfbereite Militärflotten sagt ein Ex-Minister. kommen über den seit Jahren überfälli- In der Ansprache, die er vorige Woche gen Gefangenenaustausch. an „das liebe irakische Volk“ richtete, Wie gerufen zur Ablenkung von der ließ Saddam durchblicken, daß er „Kor- inneren Krise kam dem Regime die CHINA TAIWAN ruption und Vetternwirtschaft“ ausmer- Rückkehr der ersten 100 irakischen U-Boote 40 4 zen werde – auch im engsten Familien- Kriegsgefangenen aus Iran. Weitere kreis. Das habe kein Geringerer als der 7000 sollen in den nächsten Wochen Zerstörer 16 22 Prophet vorgemacht. Sicher ist, daß die eintreffen. Immer wieder zeigte das Fregatten 39 12 ausgehungerte und zum großen Teil mit- Staatsfernsehen jubelnde Mütter und Korvetten 0 1 tellos gewordene Bevölkerung die Ent- Väter, die den „Helden“ einen begei- Schnellboote 456 132 machtung des „wütenden Ungeheuers“ sterten Empfang bereiteten und natür- (Hassan Alawi) Udai dankbar begrüßen lich auch gleich den „Präsidenten und Minensuchschiffe 62 24 würde. Führer“ hochleben ließen – vielleicht Landungsschiffe 148 424 Um sich Entlastung zu verschaffen, eine der letzten großen Ovationen für Truppentransporter 9 10 knüpft Saddam bereits umsichtig Verbin- Saddam.

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sind, sondern einer skrupellosen Ein- parteiendiktatur auf dem Weg zur ag- gressiven Großmacht, stellte Peking am Donnerstag früh Punkt neun Uhr Orts- „Greenfreeze in Peking“ zeit drastisch unter Beweis. Ungeachtet der weltweiten Proteste Der künftige Greenpeace-Chef Thilo Bode über neue Aufgaben in China gegen geplante französische Atomtests auf dem Mururoa-Atoll und einen Tag nachdem Greenpeace-Aktivisten wegen Der Deutsche Bode, 48, wurde ver- wollen wir dazu Kampagnen star- ihres spektakulären Protests auf dem gangene Woche aus China ausge- ten. Platz des Himmlischen Friedens des wiesen, weil er auf dem Pekinger SPIEGEL: Die chinesische Bevölke- Landes verwiesen worden waren, zün- Platz des Himmlischen Friedens rung wird davon aber nicht viel deten die Genossen bei Lop Nor in der gegen Atomtests demonstriert hat- mitbekommen. Wüste von Xinjiang eine unterirdische te. Er wird ab September als Ge- Bode: Da gibt es vor allem im Sü- Atombombe – schon der zweite Test in schäftsführer Greenpeace leiten. den schon eine Menge TV-Satelli- diesem Jahr. tenschüsseln auf den Dächern. Zu- Zynischer hätte das Datum nicht ge- SPIEGEL: Peking hat jetzt trotz Ihres dem haben wir Kontakte zu wählt werden können, um der Welt vor- Protestes eine Atombombe gezün- deutsch-chinesischen Unternehmen, zuführen, daß sich auch ein China auf det. War alles umsonst? die Umwelttechnik anbieten wol- Marktwirtschaftskurs „einen Teufel dar- Bode: Das ist eine ungeheuerliche len. Für High-Tech im Öko-Be- um schert“, so ein australischer Diplo- Provokation. Darauf wollten wir reich sind die asiatischen Partner mat, „ein verläßlicher Partner zu wer- aufmerksam machen, nachdem Auf- sehr aufgeschlossen. den und sich in die Weltgemeinschaft einzugliedern“. In derselben Woche nämlich jährte sich das Ende des Zwei- ten Weltkrieges im Pazifik zum 50. Mal und mit ihm der atomare Holocaust von Hiroschima und Nagasaki. Nach offizieller Lesart Pekings soll der Jahrestag genutzt werden, um den „Kampf gegen Faschismus und Hege- moniestreben“ zu stärken. Es vergeht kaum ein Tag, an dem die staatlich ge- lenkten Medien nicht über japanische Kriegsgreuel berichten. Den Schulkin- dern wird eingetrichtert, daß „wir nie vergessen, wie Ausländer und japani- sche Teufel uns gedemütigt haben“. Daß die Propagandashow aber noch ganz andere Ziele verfolgt, offenbart ein streng geheimes Zirkular des ZK, das dem SPIEGEL vorliegt. „Der Jahres- tag“, heißt es in den Richtlinien für die

R. SOGTROP / SIGNUM Chefredakteure aller chinesischen Me- China-Rückkehrer Bode (M.)*: „Sträflich vernachlässigt“ dien, „muß genutzt werden, um den Na- tionalismus und das Nationalgefühl un- klärungsfotos vom Testgebiet Lop SPIEGEL: Aber auch für den zügigen serer Bevölkerung zu stärken.“ Nor ausgewertet worden waren. Ausbau der Atomkraftwerke. Wie Hohn muß klingen, was Außen- China ist bislang von uns sträflich Bode: Sicher, deshalb müssen wir in amtssprecher Chen Jian gleich nach dem vernachlässigt worden. Aber in der Europa mit gutem Beispiel vorange- Test der vermutlich über 100 Kiloton- wirtschaftlich boomenden Volksre- hen und aus dieser Dinosauriertech- nen mächtigen Bombe verkündete: publik warten noch andere große nik aussteigen. In China liegt eine China stünde für das vollständige Ver- Aufgaben. Riesenchance für den Export von bot aller nuklearen Gefechtsköpfe. SPIEGEL: Welche? profitabler Umwelttechnologie. Wir „Der Besitz von nuklearen Waffen dient Bode: Die Einführung von sparsa- hatten bei Greenpeace in Hamburg dem Zweck der Selbstverteidigung“, be- men Automodellen oder FCKW- schon ganz interessierte chinesische hauptete Chen. „Er stellt keine Bedro- freien Kühlschränken etwa vom Wirtschaftsdelegationen zu Besuch, hung für andere Länder dar.“ Typ „Greenfreeze“, die Sanierung einschließlich Hafenrundfahrt. Schwer zu glauben. Schon heute ist der verseuchten Flüsse oder die SPIEGEL: Und woher kennen Sie China mit etwa 300 Sprengköpfen die Luftreinhaltung sind wichtig. Gro- China? Nummer vier unter den Atommächten. ßes Interesse findet bei der chine- Bode: Ich habe 1982 drei Monate als Das Arsenal untersteht einer Armee, sischen Bevölkerung aber auch Berater für die Weltbank in Peking die von keinem Parlament kontrolliert gesunde Nahrung, insbesondere un- gearbeitet. Wir haben damals zwei wird – die KP-Machthaber regieren un- belastete Babykost. Von unse- Kohlekraftwerke allerdings ohne Fil- umschränkt. rem neuen Büro in Hongkong aus teranlagen finanziert. Damals gab es Wer das Ansehen der aufstrebenden dreimal die Woche Peking-Oper und Großmacht mit „kriminellen Handlun- * Mit Greenpeacelern Harald Zindler und einmal Peking-Ente. Dafür blieb gen“ beschmutzt, wird zum Tode verur- Heinz Laing vergangene Woche in Hamburg. diesmal keine Zeit. teilt: 16 „Rowdys, Mörder und Einbre- cher“ (Nachrichtenagentur Xinhua) traf die Höchststrafe. So soll der geordnete

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Verlauf der bevorste- henden vierten Welt- frauenkonferenz (4. bis 15. September) in Pe- king „gesichert“ wer- den. Noch drei weitere Atombomben wollen die KP-Bosse in den kommenden Monaten zünden, wie Bilder von US-Spionagesatelliten nahelegen. Erst 1996 wird die Volksrepublik wohl einem Teststopp- abkommen beitreten – aber nur, weil Chinas Militärs dann, wie Ame- rikaner, Russen, Briten und Franzosen auch, Explosionen am Com- puter simulieren kön- nen. Ziel der Volksbe- freiungsarmee bleibt, stärkere atomare Ge- fechtsköpfe zu entwik-

keln. GAMMA / STUDIO X Für Chinas Nachbarn Offizierskurs für den atomaren Ernstfall: „China ist eine friedliebende Macht“ eine bedrohliche Zu- kunftsperspektive: Denn daß die Volks- das ZK schon genehmigt, von Rußland litärs letzten Monat insgesamt sechs Mit- republik eine „friedliebende Macht“ sei, wurden U-Boote der Kiloklasse bestellt. telstreckenraketen bis zu 65 Kilometer wie Verteidigungsminister Chi Haotian Das Modernste ist gerade gut genug: Al- vor das Hoheitsgebiet des Landes. Und unlängst verkündete, „die keinen Zenti- lein 50 Prozent des Militäretats werden seit Tagen schlagen nun Mittelstrecken- meter ausländischen Boden bean- für High-Tech-Ausrüstung verwendet. raketen aus der chinesischen Provinz Fu- sprucht“, hat sich längst als historische Die Strategie ist klar: China möchte jian in den Gewässern nahe der Insel ein. Lüge entlarvt. ganz Asien von sich abhängig machen. Die Volksrepublik hat formal nie darauf Mit einem Aufgebot militärischer „Wir können den Indischen Ozean nicht verzichtet, Taiwan militärisch heimzuho- Stärke unterstrich Chinas Marine kürz- mehr nur als Ozean der Inder akzeptie- len. Jetzt geht man in Peking schon so lich erst den völkerrechtlich umstritte- ren“, sagte der frühere Logistikchef der weit, einen Schlag anzudrohen, „wenn nen Anspruch auf die Spratly- und ande- Armee in einer Geheimrede vor hohen die Wiedervereinigung sich zu lange hin- re Inseln, die über tausend Kilometer Militärs. Längst schickt Peking Raketen zögert“. Die Militärs rüsten wohl auch für von seinen Küsten entfernt liegen. und Nukleartechnologie nach Pakistan den Machtkampf nach dem Tod des KP- Durch die Gewässer führen nicht nur und Iran. Im Golfkrieg weilten chinesi- Patriarchen Deng Xiaoping. die Schiffahrtslinien für Japan, Taiwan sche Militärberater nicht nur in Saudi- Überall in Asien wächst die Besorgnis und Südkorea, dort werden auch reiche Arabien, sondern auch in Bagdad. über Chinas Hegemoniestreben. Wich- Ölvorkommen vermutet. Chinas Nachbarland Burma steht tigstes Thema bei der Sitzung der südost- Während die Großmächte USA und schon unter der Knute von Pekings Mili- asiatischen Staatengemeinschaft Asean Rußland abrüsteten, verdoppelten die tärs. Die amtierende Junta des General- Ende Juli: Wie verhält man sich gegen- chinesischen Genossen im vergangenen leutnants Khin Nyunt wird mit Waffen über der angehenden Großmacht. Auch Jahrzehnt ihre Rüstungsausgaben. Prio- aus chinesischen Beständen an der Washington ist beunruhigt. Mit der Aus- rität besitzt der Ausbau einer Kriegsflot- Macht gehalten. Peking errichtet in Bur- weisung von zwei US-Militärattache´s we- te. Den Kauf eines Flugzeugträgers hat ma Marine-Stützpunkte, Siedler und gen Spionage und dem Streit um den in Geschäftsleute aus Yunnan kontrollie- China verhafteten amerikanischen Men- Chinesische Gebietsansprüche ren weite Teile der Wirtschaft. Ähnliche schenrechtler Harry Wu sind die Bezie- Ziele verfolgen Chinas Generäle in der hungen auf ihren tiefsten Punkt seit 20 CHINA HONG- TAIWAN KONG unabhängigen Mongolei. Ein Papier der Jahren gesunken. VIET- NAM Pekinger Militärakademie erklärte den Im Westen ist eine Debatte darüber LAOS dünnbesiedelten Nach- ausgebrochen, wieman mit dem aggressi- Paracel- Inseln barstaat einfach zu ven Peking umgehen sollte: Für strategi- THAILAND XIN- „unserem Besitz“. sche „Eindämmung“ (containment) statt JIANG Peking KAMBO- Die bittersten Er- „Einbindung“ (engagement) sprechen DSCHA Lop Nor fahrungen mit einem sich Experten aus. China seimit Deutsch- CHINA Spratly- PHILIP- übermächtigen Peking land gegen Ende des 19. Jahrhunderts Inseln PINEN s e macht gerade der klei- vergleichbar: Werde der Expansions- h c is ne, prosperierende In- drang nicht gestoppt, drohten dauerhafte s MALAYSIA e MALAYSIA in selstaat Taiwan, den Konflikte. ch üd r China als abtrünnige Die Antwort der KP-Führer folgte S ee M Provinz ansieht. Von prompt. „Keine Macht auf Erden kann der Zentralprovinz Ji- China stoppen“, schrieb die Tageszei- INDONESIEN angxi feuerten die Mi- tung Guangming Ribao. Y

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Rußland „Alles scheiterte an Dudajew“ Interview mit Moskaus Nationalitätenminister Wjatscheslaw Michailow über seine Friedensmission im Kaukasus

SPIEGEL: Wjatscheslaw Alexandro- treter Arkadij Wolski sogar mit Dudajew witsch, Präsident Jelzin droht den Tsche- getroffen, um seine Haltung auszuloten. tschenen wieder mit Krieg. Waren Ihre Dabeiwurde klar: Er würde nur torpedie- Verhandlungen vergebens? ren. Ich will keinen Hehl daraus machen, Michailow: Sie waren erfolgreich und un- daß wir uns während der Verhandlungen ser Präsident droht niemandem mit an andere Kräfte, zum Beispiel an die Krieg. In 45 Tagen haben wir die friedli- Feldkommandeure, herangetastet ha- che Beilegung des militärischen Konflikts ben, die kompromißbereiter sind als Du- ausgehandelt: Waffenruhe, Entwaff- dajew. nung von illegitimen Kampfverbänden, SPIEGEL: Billigen Sie Dudajew wieder ei- Rückzug der russischen Truppen inEtap- ne politische Zukunft zu? pen. Auf diese Vereinbarung haben wir Michailow: Es gibt keine Hoffnung, mit sogar gemeinsam ein Glas Sekt getrun- ihm in grundlegenden Fragen ins Beneh- ken. men zu kommen. SPIEGEL: Aber in und um Grosny wird SPIEGEL: Aber Dudajew besitzt nach wie weiter geschossen. Gefangenenaus- vor reale Macht, sonst würden Siemit sei- tausch, Entwaffnung und Truppenabzug nen Vertretern doch gar nicht verhan- kommen nicht voran. Haben Sie zu früh deln. gefeiert? Michailow: Er hat Einfluß auf einen Teil Michailow: Jedenfalls haben wir ziemlich der Kommandeure, auf die Unversöhnli- bald bemerkt, daß es mit der Umsetzung chen. Die kontrollieren heute noch etwa hapert. Zum Beispiel vermuteten wir 56 ein Viertel des tschetschenischen Territo- Gefangene bei den Tschetschenen, ihr riums. Verhandlungsführer sprach sogar von 84. SPIEGEL: Erschwert es nicht Ihren Ver-

Doch alsder Austausch nach dem Prinzip P. KASSIN handlungsauftrag, wenn Präsident Jelzin „Alle gegenalle“ beginnen sollte, präsen- und Premier Tschernomyrdin die Tsche- tierte die Gegenseite plötzlich nur noch 7 Wjatscheslaw Michailow tschenen-Führer als Banditen beschimp- Mann. Inzwischen sind es wenigstens fen? schon wieder 25. Bislang hat auch der wurde Anfang Juli Jelzins Minister Michailow: Als Vertreter der Exekutive Austausch militärischer Daten und Kar- für Nationalitäten, nachdem sein muß ich mit allen verhandeln, mit Ver- ten – etwa über Minenfelder – noch nicht Vorgänger wegen des tschetscheni- brechern, Banditen, sogar mit dem Teu- begonnen. Die Tschetschenen schieben schen Terroranschlags in der Stadt fel, wenn es um die friedliche Beilegung technische Gründe vor . . . Budjonnowsk entlassen worden von Konflikten geht. SPIEGEL: . . . an die Sie nicht glauben? war. Seitdem handelte er im zer- SPIEGEL: Bisher blieb unklar, welchen Michailow: Dudajew hat inzwischen in bombten Grosny das Militärabkom- Grad an Unabhängigkeit die Tschetsche- seinem Verteidigungsrat die Verhand- men aus, das Rußland und Tsche- nen-Republik künftig haben soll. Wann lungsergebnisse um 180 Grad herumge- tschenien am 30. Juli schlossen. und wie wollen Sie dieses heikle Problem dreht. Danach sollen nur Dudajew-Geg- Doch das Ergebnis ist schon wieder lösen? ner ihre Waffen abgeben. Das gesamte gefährdet – wegen drohender Ulti- Michailow: Unserer Auffassung nach Kommando von Schamil Bassajew . . . maten aus Moskau und wachsender kann von „Unabhängigkeit“ nur im Rah- SPIEGEL: . . . des Geiselnehmers in der Unversöhnlichkeit in Tschetsche- men eines einheitlichen Staates die Rede russischen Stadt Budjonnowsk, der durch nien. sein. Über Besonderheiten des Status der seine Aktion die Verhandlungen er- Tschetschenischen Republik soll nach zwang . . . Neuwahlen entschieden werden – ent- Michailow: . . . wurde von der Liste der ben. Das ist bei unserem Abkommen sprechend dem Selbstbestimmungsrecht gesuchten Verbrecher gestrichen und auf der Fall. und den internationalen Menschen- die Ehrenliste der „Ewigen Söhne und SPIEGEL: War nicht das eigentliche Ziel rechtsnormen, in Übereinstimmung mit Töchter der tschetschenischen Nation“ Ihrer Gespräche in Grosny, den zum der russischen Föderationsverfassung gesetzt. russischen Staatsfeind erklärten Präsi- und mit der Verfassung der Tschetscheni- SPIEGEL: Haben Sie ernsthaft geglaubt, denten Dudajew zu isolieren, inner- schen Republik. die Tschetschenen würden sich an der tschetschenische Zwistigkeiten auszu- SPIEGEL: Fühlt sich die russische Armee Fahndung nach Bassajew beteiligen, ob- nutzen und mit willigeren Partnern zu durch das Abkommen nicht um den Sieg wohl er als Nationalheld gilt? annehmbaren Ergebnissen zu kommen? betrogen? Von bedingungsloser Kapitu- Michailow: Mir liegt ein von Dudajew ei- Michailow: Die Staatsanwaltschaft hat lation der Tschetschenen kann ja keine genhändig unterschriebenes Papier vor eine landesweite Fahndung nach Duda- Rede sein. über die Zusammensetzung der tsche- jew eingeleitet. Vor einer Gerichtsent- Michailow: Manche sind in der Tat dieser tschenischen Delegation. Darin bestätigt scheidung darf Dudajew nicht als Staats- Meinung. Doch das Wort vom gestohle- er, daß er jedes Ergebnis akzeptiert, dem verbrecher bezeichnet werden. Vor den nen Sieg geht auch auf tschetschenischer seine fünf Beauftragten zugestimmt ha- Verhandlungen hat sich mein Stellver- Seite um.

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SPIEGEL: Ihr Stellvertre- Staat würden zulassen ter Arkadij Wolski sprach oder auch nur erwägen, oft von einer „Kriegspar- einen Teil ihres Staatsge- tei“ in Moskau. Verraten biets in die Selbständig- Sie uns, wer an der Spitze keit zu entlassen. dieser Partei steht? SPIEGEL: Von Ihnen war Michailow: Leider weiß zu hören, die Russische das niemand, es ist eben Föderation sei kein Zim- eine sehr eigentümliche mer, das man einfach be- Partei. In der Duma ha- treten und wieder verlas- ben 89 Abgeordnete da- sen könne. Halten Sie für gestimmt, den „Feind nicht viel vom Selbstbe- im eigenen Nest zu ver- stimmungsrecht kleiner nichten“. Soll man die da- Völker? zurechnen? Michailow: Selbstbestim- SPIEGEL: Verbreiteter ist mung muß einem Volk in Rußland die Meinung, die volle Entfaltung er- ein Kompromiß mit den möglichen, jedoch im Tschetschenen wäre auch Rahmen eines einheitli- ohne Krieg zu erreichen chen Staates. In Rußland gewesen. leben 156 Völkerschaf- Michailow: Ja, 1991/92 ten. Sollen etwa ebenso wäre ein Kompromiß viele neue Staaten entste- möglich gewesen. Doch Russischer Soldat in Grosny: „Unsere Truppen taten ihre Pflicht“ hen? in dem Maße, in dem SPIEGEL: Wer diesen Tschetschenien sich be- Weg gehen will, muß es waffnete, verringerten versuchen dürfen. sich diese Chancen. Du- Michailow: In Rußland dajew wollte nur noch mit besteht die Bevölkerung Ebenbürtigen, also mit zu 82 Prozent aus Rus- Jelzin oder wenigstens sen. Nach internationa- mit Tschernomyrdin ver- len Standards sind wir ein handeln. Und zwar aus- mononationaler Staat. schließlich als Vertreter SPIEGEL: Siehaben schon eines unabhängigen Staa- im ZK der KPdSU Natio- tes. Alles scheiterte an nalitätenfragen bearbei- Dudajew. tet. Hätten Sie damals ge- SPIEGEL: Zehntausende dacht, daß die angeblich vonToten ineinem bruta- ewige Freundschaft der len Krieg gegen ein klei- Sowjetvölker sich so nes Volk – gibt es da in rasch in ethnischem Streit Moskau wirklich nieman- und Blutvergießen auflö- den, der zur Rechen- sen würde? schaft gezogen werden Michailow: Offen gestan- muß? den, nein. Doch das Michailow: Die Bezeich- Grundprinzip ist bis heu-

nung „Krieg“ ist unge- FOTOS: K. MILLER te nicht erschüttert wor- nau. Die Föderations- Zerstörtes Tschetschenien: „Jedes Detail untersuchen“ den. Auch in Tschetsche- truppen erfüllten ihren nien haben wir es nicht Auftrag – die Entwaffnung der illegiti- Michailow: Ihre Zahl kann ich weder be- mit einer ethnischen Auseinanderset- men Kampfverbände. Sie taten ihre stätigen noch widerlegen, aber sie wird zung zu tun. Viele Russen mußten aus Pflicht. Was aber die Menschenrechts- häufig genannt. In den dramatischen Ta- Tschetschenien fliehen, weil es soziale, verletzungen betrifft, gibt es eine Menge gen der terroristischen Geiselnahme von wirtschaftliche und politische Fehlent- zuverantworten und zubestrafen. Früher Budjonnowsk schlug Schamil Bassajew wicklungen gab – und nicht, weil die oder später wird jedes Detail dieses Dra- unserem Premier telefonisch vor, in Ruß- Freundschaft zwischen Russen und mas untersucht werden müssen. Dazu land ein Referendum darüber abzuhal- Tschetschenen aufgekündigt worden wä- gibt es einen Beschluß der Staatsduma. ten, ob Tschetschenien Mitglied der Fö- re. Der Konflikt in Tschetschenien ist ei- SPIEGEL: Das scheintuns nichtsehr wahr- deration bleiben solle oder nicht. Ein gentlich ein reiner Verfassungskonflikt, scheinlich in Rußland, wosowenig aufge- schlauer Schachzug: Es könnte sein, daß ausgelöst durch einen Militärputsch un- klärt und viel verschleiert wird. heute mehr als 50 Prozent der Russen da- ter der Fahne der Unabhängigkeit gegen Michailow: OpferunterderZivilbevölke- für stimmen würden, Tschetschenien die Integrität des russischen Staates. rung sind bereits Gegenstand staatsan- auszuschließen . . . SPIEGEL: Empfinden Sie den Untergang waltschaftlicher Untersuchungen. SPIEGEL: . . . warum also nicht, wenn die der UdSSR als historischen Verlust? SPIEGEL: 40 Millionen Dollar pro Kriegs- Mehrheit beider Völker es so will? Michailow: Die Auflösung der Sowjet- tag hat das Tschetschenien-Abenteuer Michailow: MiristeinsolcherStandpunkt union war nicht unvermeidlich. Den er- den russischen Staat gekostet. Warum fremd. Für mich ist und bleibt Rußland sten und größten Fehler hat damals Ruß- dieser riesige Aufwand, um einer der ein einheitliches Land. Die Geschichte land gemacht, indem es sein nationales ärmsten Regionen der ehemaligen So- hat es so gewollt, daß der Kaukasus zu ei- Gesetz über das der Union stellte. Heute wjetunion den Weg in die staatliche Un- nem Teil Rußlands wurde. Weder die weiß man: Ihr Verlust ist ein Verlust für abhängigkeit zu verlegen? USA noch Frankreich noch ein anderer alle. Y

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Indisches Militär beim Einsatz gegen Demonstranten in Kaschmir, Kaschmir-Hauptstadt Srinagar: „Wenn es ein Paradies auf

Indien Jeder Schatten ist verdächtig SPIEGEL-Redakteur Tiziano Terzani über den Guerrillakrieg in Kaschmir

chöner kann eine Landschaft kaum ren hölzernen Moscheen und Patrizier- nur beweisen, daß wir kleine Fliegen sein.Das Kaschmir-Tal,einAmphi- häusern am Jhellum-Fluß, mit ihren sind, die sie zerquetschen können.“ Stheater desHimalaja, erscheint dem Märkten, in denen Handwerker Schals, Ganze Stadtviertel werden plötzlich Besucher wie ein seltenes Beispiel natür- Teppiche und bemalte Kunstobjekte von Sicherheitskräften abgeriegelt. Ge- licher Vollkommenheit. Seine Berge ver- aus Papiermache´ herstellen, ist zu ei- wöhnlich beginnt die Razzia im Morgen- lieren sich in schimmernden Höhen, sei- nem bedrohlichen Militärlager gewor- grauen. Lautsprecher wecken die Schla- ne Flüsse sind klar wie Glas, und in den den. fenden und befehlen den Männern, sich Seen spiegeln sich Pappeln und Weiden An jeder Straßenkreuzung stehen mit auf einem bestimmten Platz einzufin- so majestätisch wie Kathedralen. Sandsäcken geschützte Bunker, aus de- den. Dort muß jeder langsam an abge- Die Mogul-Kaiser, die im 16. Jahrhun- ren Schießscharten Gewehrmündungen stellten Militärjeeps vorbeidefilieren, dert aus dem öden Zentralasien kamen ragen. Schulen, Krankenhäuser, Kinos aus denen vermummte Gestalten äugen. und Indien eroberten, legten an den und Hotels sind vom Militär belegt; das Das sind die gefürchteten „Katzen“: ab- Ufern des Dal-Sees die schönsten Gärten Leben dieses „Venedigs im Himalaja“, gesprungene Guerrilleros, die jetzt als Asiens an. Als Kaiser Jehangir, Vater des dieser „in Diamanten gefaßten Perle“, Spitzel ihre früheren Kameraden und Erbauers des Taj Mahal in Agra, 1627 im wie Srinagar besungen wurde, ist völlig Sympathisanten für die Inder identifizie- Sterben lag und nach seinem letzten gelähmt. ren. Jeder Verdächtige kommt in ein Wunsch gefragt wurde, flüsterte er nur: Soldaten haben sich in den Gärten Verhörzentrum, das er oft nur als Leich- „Kaschmir, Kaschmir!“ Ein berühmter und alten Forts der Mogul-Kaiser ein- nam wieder verläßt. Vers aus dem letzten Jahrhundert lautet: genistet, sie haben den Schrein von 220 „Eines Morgens lagen fünf Tote in „Wenn es ein Paradies auf Erden gibt – vor Christus besetzt, der auf einem Hü- meiner Gasse“, berichtet ein Geschäfts- dann ist es hier.“ gel über der Stadt wacht, sie kampieren mann in Srinagar. „Einer davon war der Vorbei. Das „glückliche Tal“, wie die sogar auf der künstlichen Insel im Dal- Sohn meiner Nachbarin, der tags zuvor englischen Kolonialherren es nannten, See, auf der die Mogulen bei Vollmond aus Bombay gekommen war, um seine wurde zu einem Tal der Angst und des ihre Picknicks veranstalteten. Mutter zu besuchen.“ Nach Angaben lo- Terrors. Seit sechs Jahren ist Kaschmir Touristen kommen kaum noch. Die kaler Menschenrechtler (Amnesty In- Schlachtfeld in einem grausamen Kon- Geschäfte sind leer, und die Bevölke- ternational verweigern die Inder den flikt: Auf der einen Seite steht die indi- rung lebt in ständiger Furcht. „Du Zugang) sind seit 1989 über 1500 Men- sche Armee, auf der anderen eine wu- gehst aus und weißt nicht, ob du wieder schen in der Haft umgekommen; 15 000 chernde Guerrillabewegung, die das nach Hause kommen wirst“, sagt der bis 20 000 sitzen noch ein. Land von Indien befreien will und dabei Schriftsteller Muhammed Zahir, 55. Die Regierung in Neu-Delhi wendet vom indischen Erzfeind Pakistan unter- Die Inder haben ihn vor ein paar Tagen in Kaschmir dieselbe Doppelstrategie stützt wird. von seinem Motorroller gezerrt und an, mit der sie schon sezessionistische Srinagar, die Sommerhauptstadt des stundenlang geschlagen. „Sie wollten Bewegungen im Nagaland und im Pan- StaatesDschammur und Kaschmir mit ih- von mir nichts wissen. Sie wollten mir dschab erfolgreich unterdrückt hat: gna-

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bald ein Krieg ausbre- Kaschmir wurde zum Opfer der Schei- chen könnte, der nicht dung zwischen Indien und Pakistan, „wie nur die regionale Sicher- ein Kind, das beide Seiten für sich ver- heit, sondern die der langten“, so der pakistanische Historiker ganzen Welt bedrohen Eqbal Ahmad. Sofort kam eszueinem er- würde. Seit fast einem sten Krieg. Ende 1947 ließ Neu-Delhi sei- halben Jahrhundert ist ne Armee einrücken und klagte sodann Kaschmir Zankapfel vor der Uno gegen die pakistanische Ag- zwischen Indien und Pa- gression. Die Vereinten Nationen schlu- kistan, dreimal haben gen einen Waffenstillstand vor, schickten die beiden Länder des- Beobachter und erkannten das Recht der wegen Krieg gegenein- Kaschmiri auf Selbstbestimmung an; die ander geführt – und in- Bevölkerung sollte frei wählen, wem sie zwischen sind sie ver- sich anschließen wollte. mutlich mit Atomwaf- Doch die Soldaten blieben, die ver- fen gerüstet. sprochene Volksbefragung fand nie statt. Das Unheil begann 41 Blauhelme der Uno befinden sich im- 1947, als London sein mer noch auf sieben Beobachtungspo- indisches Imperium in sten entlang der Waffenstillstandslinie. die Unabhängigkeit ent- Nach 48 Jahren ist Kaschmir „die älteste ließ. Zwei Staaten wur- ungelöste Streitfrage vor der Uno“, so den aus dem alten Bri- deren Generalsekretär Butros Butros

FOTOS: D. LUDWIG tisch-Indien geboren: Ghali. Erden gibt – dann ist es hier“ Indien mit seiner mehr- Kaschmirs Bewohner fühlen sich ver- raten. Ihr alter Traum von der Unabhän- gigkeit blieb unerfüllt. Wie schon seit vier Jahrhunderten werden sie weiter von Fremden regiert. Unter all den oft grausamen Unter- drückern hatten sich die Einheimischen immer friedfertig verhalten. Gewalttätig- keit war ihrem Charakter und ihrem Be- kenntnis zum Sufitum – einer mystischen Variante des Islam – fremd. Geschah dennoch einmal Mord, fürchteten sie, der Himmel werde sich rot verfärben. Sie be- saßen keine Waffen, die Ruder ihrer Shikara-Gondeln waren herzförmig ge- schnitzt. So weibisch fand sie der Mogul- Kaiser Akbar, daß er sie lange, weite Kleider tragen ließ – wie Frauen. Unter diesem Gewand verstecken heu- te die jungen Kaschmiri ihre Kalaschni- kow. Den Wendepunkt brachten die Wah- len von 1987. Die Oppositionspartei, die für die Unabhängigkeit eintrat, hätte wahrscheinlich gesiegt, wenn nicht Neu- Flüchtlingslager in Pakistan: „Du weißt nicht, ob du wiederkommen wirst“ Delhi die Ergebnisse gefälscht hätte. „Um das Recht zur Selbstbestimmung zu denlose Verfolgung der bewaffneten heitlich hinduistischen Bevölkerung erhalten, blieb uns nichts anderes übrig, Kämpfer, rücksichtsloses Einschüchtern und das vorwiegend moslemische Paki- als zu den Waffen zu greifen“, sagt Yasin der Bevölkerung. stan. Den Maharadschas der 562 indi- Malik, 29, Präsident der Dschammu und In Kaschmir aber wirken diese Me- schen Fürstentümer stand es frei, zwi- Kaschmir Liberation Front (JKLF), in thoden nicht. Auch unter denen, die schen beiden Staaten zu wählen. seiner Wohnung im alten Srinagar, in die sich nichts als Frieden und Normalität Am schwersten tat sich der Mahara- er, nach vier Jahren Gefängnis, schwer wünschen, wächst der Zorn auf die In- dscha von Kaschmir, Hari Singh. Als gezeichnet zurückkehrte. der, die nur noch als brutale Besat- Hindu herrschte er über ein Völkerge- Er hatte 1988 mit einer Gruppe von zungsmacht gesehen werden. „Sobald misch, das zu 80 Prozent moslemisch Teenagern und Studenten die ersten ich wieder gehen kann, nehme ich ein war. Einer seiner Vorfahren hatte das Guerrilla-Angriffe in Srinagar geführt. Gewehr und ziehe mit der Guerrilla Tal 1846 für 7,5 Millionen Rupien von Noch immer ist JKLF die angesehenste los“, sagt ein junger Lehrer und zeigt den Engländern gekauft. Am Tag der Befreiungsbewegung – aber sie ist nicht auf die Brandwunden, die Stromkabel Unabhängigkeit, dem 15. August 1947, mehr die einzige. Zahllose andere Grup- auf seinen Schenkeln hinterlassen ha- hatte der Maharadscha noch immer kei- pen sind in den letzten sechs Jahren ent- ben. Er war mit seiner kranken Frau aus ne Entscheidung getroffen. Zwei Mo- standen, etliche werden von Pakistan be- der Provinz in die Hauptstadt gekom- nate lang blieb Kaschmir unabhängig. waffnet und finanziert. men, während einer Razzia geschnappt Erst als pakistanische Freischärler ein- Zwölf Kilometer östlich von Pescha- und drei Tage lang gefoltert worden. fielen, um das Territorium zu annektie- war, Pakistans Grenzstadt zu Afghani- Niemand sieht einen Ausweg; die ren, entschied sich der Herrscher für stan, steht ein unzugängliches, weiß ge- Furcht wächst, daß in Kaschmir schon Indien. strichenes Gebäude, das als Hauptquar-

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indische Soldaten die Nacht, um in den Läden zu plündern. Charakteristisch für die neuen, von Pakistan unterstützten Guerrilla-Grup- pen ist, daß sie von der Dschihad-Ideo- logie geprägt sind. Mehr als für die Un- abhängigkeit Kaschmirs scheinen sie für eine fundamentalistische Auslegung des Islam zu kämpfen. Indien, das sich als asiatisches Bollwerk gegen eine Kette islamischer Staaten von Afghanistan bis Indonesien sieht, kann deshalb die Un- terdrückung des legitimen Unabhängig- keitsbestrebens in Kaschmir leicht als Abwehr einer islamisch-fundamentali- stischen Verschwörung ausgeben, die

SYGMA auch den Westen bedrohe. „Al-Faran“-Rebellen, westliche Geiseln*: Kopf abgeschlagen Über 30 verschiedene sezessionisti- sche Gruppen haben sich zur sogenann- Die Geiselnahme „Wenn unsere Forderungen nicht erfüllt ten Hurriyet-Konferenz vereinigt, die werden, erleiden die anderen Gefange- sich Indien als Verhandlungspartner von fünf westlichen Touristen rückte nen dasselbe Schicksal.“ empfiehlt. Aber Neu-Delhi hat bis jetzt den Krieg in Kaschmir ins Bewußtsein Nun begannen fieberhafte Bemühun- jeden Kontakt verweigert. „Die einzi- der Weltöffentlichkeit. Moslemische gen, die vier zu retten. Die Botschaften gen indischen Beamten, mit denen ich Freischärler kidnappten am 8. Juli den Großbritanniens, der USA und der Bun- je zu tun gehabt habe, sind die Aufse- Erfurter Studenten Dirk Hasert, 27, und desrepublik verhandelten mit der indi- her in den Gefängnissen“, sagt Ali seinen norwegischen Reisegefährten schen Regierung. Die weigerte sich an- Shah Gilani, 65, Vertreter der „Dscha- Hans Christian Ostro, 27. Zuvor hatten fangs, inhaftierte Rebellen freizulas- maat-i-Islami“. Gilani hat zehn Jahre die Rebellen schon zwei Engländer und sen. Doch am vergangenen Donners- Haft hinter sich. einen Amerikaner in ihre Gewalt ge- tag wurden 24 Kaschmir-Separatisten Shabir Shah, Vorsitzender der bracht. Eine bis dahin unbekannte auf freien Fuß gesetzt – freilich nicht People’s League, hat 20 seiner 40 Le- Gruppe namens „Al-Faran“ kündigte die 15 von den „Al-Faran“-Rebellen be- bensjahre in indischen Gefängnissen an, die Geiseln hinzurichten, wenn nannten Kämpfer. verbracht und tritt heute für eine fried- nicht 15 Gesinnungsgenossen aus in- Gleichzeitig mit den diplomatischen liche Lösung ein. „Das Gewehr ist ein discher Haft freigelassen würden. Bemühungen liefen Vorbereitungen für Teil der Lösung, aber nicht die Lösung Die Drohung wurde nicht ernst genom- eine gewaltsame Befreiung. Zu der selbst“, sagt er in Srinagar. „Das men, denn bislang hatten sich die indischen Kommandogruppe „Black Kaschmir-Problem muß politisch ent- Kriegsparteien kaum an Fremden ver- Cats“ waren Ende vergangener Woche schärft werden.“ Wegen seiner gemä- griffen. Doch am vorletzten Sonntag westliche Anti-Terror-Experten nach ßigten und versöhnlichen Haltung gilt fanden Dorfbewohner die Leiche des Kaschmir gereist: Mitglieder der er manchen schon als Kaschmirs Nelson Norwegers Ostro. Die Entführer hatten GSG-9, Spezialisten von Scotland Yard Mandela. der Geisel den Kopf abgeschlagen und und der amerikanischen Delta-Force. Die Mitglieder der Hurriyet-Konfe- die Worte „Al-Faran“ auf den Leib ge- renz sind zerstritten. Einige befürwor- ritzt. Auf einem Zettel drohten sie: * Norweger Ostro (M.) ten die Angliederung an Pakistan; an- dere fordern einen neuen Teilungsplan – das Kaschmir-Tal soll an Pakistan, tier des „Kaschmir Dschihad“, des krieger ausgeben, in Wirklichkeit aber der Rest an Indien fallen. Wieder ande- „Heiligen Kriegs um Kaschmir“, gilt. die echten Guerrilla-Kämpfer verfolgen re wollen aus Dschammu und Kaschmir Hier leiten Funktionäre der fundamen- und ermorden. eine islamische Republik machen. Ei- talistischen „Dschamaat-i-Islami“ Re- Als die Gruppe „Al-Faran“ im Juli krutierung und Training der „Hisb ul- auftauchte und fünf westliche Touristen Mudschahidin“, die inzwischen zur entführte, wußte niemand zu sagen, Der Krieg hat in wichtigsten Kampfgruppe in Kaschmir welche Interessen dahintersteckten. Ist Kaschmir schon aufgestiegen ist. Sie verfügt über große Al-Faran eine pro-pakistanische Grup- Waffendepots und hat 4000 bis 5000 pe, die das Kaschmir-Problem mit einer 30 000 Tote gefordert Männer im Einsatz – junge Kaschmiri, Schreckenstat vor die Aufmerksamkeit die sich über die Waffenstillstandslinie der Welt bringen will? Oder ist es eine nigkeit besteht nur in einem Punkt: In- geschlichen und in Pakistan eine militä- von Indien unterstützte Gruppe, welche dien muß seine Truppen abziehen. rische Ausbildung bekommen haben. die Unabhängigkeitskämpfer als Terro- Die Regierung in Neu-Delhi dagegen Ihre Anführer sind Veteranen des risten diskreditieren will? betrachtet Kaschmir als innere Angele- Afghanistan-Kriegs. Wenn sich nach Sonnenuntergang die genheit und hält die Uno-Resolutionen Viele arbeitslos gewordene Freiwilli- indischen Soldaten in Srinagar verschan- über die Selbstbestimmung für über- ge aus Afghanistan werden heute vom zen, ist jeder Schatten verdächtig. holt. Das Problem löse sich von selbst, pakistanischen Geheimdienst benutzt, Durch das Labyrinth der Gassen schlei- sobald Pakistan aufhöre, das Land mit um neue Guerrilla-Gruppen auszubil- chen Bewaffnete, klopfen an Haustüren Waffen und „Söldnern“ zu über- den, die unter verschiedenen Namen in und verlangen Spenden für den Dschi- schwemmen. Kaschmir operieren. Niemand weiß, had. Junge Kerle geben sich zum Schein Offiziell hält Pakistan seine Armee wer wen kontrolliert. Denn auch die In- als Freiheitskämpfer aus, um Bürger be- aus dem Guerrilla-Krieg heraus. Wer der haben kleine militante Gruppen zu- stehlen und erpressen zu können. Kauf- aber heute in Muzaffarabad, der Haupt- sammengestellt, die sich als Befreiungs- leuten in Srinagar zufolge nutzen auch stadt des sogenannten Freien Kaschmir,

130 DER SPIEGEL 34/1995 AUSLAND auf pakistanischer Sei- Srinagar hat jedes Stadtviertel inzwi- te ankommt, merkt so- schen einen eigenen kleinen Märtyrer- fort, daß diese kleine unter friedhof. Viele sind schon überfüllt, chinesischer Provinzstadt, 30 Kilo- INDIEN weshalb die neuen Toten auf der riesi- meter von der Waf- unter Verwaltung gen Idqa-Wiese begraben werden. Über fenstillstandslinie ent- pakistanischer frischen Gräbern mahnt ein Schild: Verwaltung fernt, zum wichtigen „Flüchtet nicht vor dem Gewehr, ihr Stützpunkt für den Waffenstillstandslinie Jungen, denn der Befreiungskampf ist Dschihad geworden K a s i r noch nicht gewonnen!“ ist. Im Krankenhaus c h m Die Allgegenwart der Gewalt und die werden verwundete Srinagar unter Radikalisierung des Islam verändern die Guerrilla-Kämpfer ge- Islamabad Pahlgam indischer traditionelle Ethik und Lebensweise der Verwaltung pflegt, alle militanten Gesellschaft. Unter dem Druck der Gruppen haben hier PAKISTAN Ort der Entführung und Fundamentalisten tragen immer mehr Fundort der Leiche eine Niederlassung, Dschammu Frauen den Burka – einen Schleier, der und es genügt ein Tele- den gesamten Körper verhüllt und nur fonanruf, um einige CHINA für die Augen zwei kleine blattförmige der in Kaschmir von Amritsar Gitterchen offenläßt. den Indern gesuchten 200 km INDIEN Fünfmal am Tag rufen die Muezzin Anführer zu treffen. zum Gebet. Die Mullahs beginnen, das Sie befinden sich in Sufitum zu kritisieren, und auch die Muzaffarabad, weil sie Rekruten und dar Abdul Kayum, der Premierminister kleine Moschee in Srinagars altem Kriegsmaterial in Empfang nehmen. von Asad Kaschmir. „Man muß damit Stadtviertel Kangyar, wo Generationen Um das Einsickern von Untergrund- rechnen, daß seine Truppen eines Tages von Touristen das vermeintliche Grab kämpfern zu erschweren, verstärken die die Waffenstillstandslinie überrennen, Christi besuchten, wird heute von einem Inder ihre Granatwerferangriffe über um die unfertige Geschichte der Tren- jungen Fundamentalisten bewacht, der die Grenze. Uno-Beobachtern zufolge nung mit Gewalt zu einem Ende zu brin- von der alten Legende nichts wissen gab es allein im Juli 150 solcher Waffen- gen.“ will. stillstandsverletzungen – die höchste Eine halbe Million indische Soldaten „Alles, was wir geliebt haben, wird Zahl seit dem Krieg von 1971. und Polizisten ist in Kaschmir statio- zerstört“, sagt eine Lehrerin in Srinagar. „Indien hat sich noch nicht mit der niert, der Krieg hat schon 30 000 Tote „Unser Schicksal ist es, daß Kaschmir Existenz Pakistans versöhnt“, sagt Sa- gefordert, in der Mehrzahl Zivilisten. In mit seiner Eigenart untergeht.“ Y

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schen Wunder des späten 20. Jahrhun- kern ein Krieg zu führen ist. Zusammen USA derts so nutzen, daß sie künftig blitz- mit den Nachrichtendiensten der Ar- schnelle, unsichtbare und vernichtende mee, der Marine und der Luftwaffe hat Angriffe auf das Militär und die zivile die National Security Agency (NSA) er- Infrastruktur des Gegners führen kön- forscht, wie besonders bösartige Compu- Schweiß nen. Admiral William Owens, stellver- terviren in die Rechner eines feindlichen tretender Vorsitzender der Vereinigten Landes eingespeist werden können. Stabschefs: „Das ist Amerikas Beitrag Geschickt plazierte „Trojanische Pfer- schnuppern zur modernen Kriegführung.“ de“ würden bis zu einem bestimmten Schon beim letzten Waffengang der Zeitpunkt untätig bleiben, bevor sie be- Pentagon-Offiziere planen den Krieg USA waren Anfänge eines Computer- ginnen, Daten des Gegners zu zerstören. der Zukunft. Er wird am Computer kriegs zu erkennen. Am ersten Tag des Die elektronischen Killer könnten einge- Golfkriegs machten die Präzisionswaf- setzt werden, um etwa die wichtigsten entschieden – unblutig. fen amerikanischer Tarnkappenbomber Computer der Luftabwehr oder der Zen- den irakischen Diktator reaktionsunfä- tralbank des Gegners auszuschalten. n einem abhörsicheren Raum, den die hig, indem sie das Telefonsystem und Die CIA verfügt über ein Programm, Führungsstelle für Aufklärung und Si- Bagdads Elektrizitätswerke zerstörten. mit dem zerstörerische Computerchips Icherheit bei der US-Armee im Norden Doch das war erst der Anfang. An der in Waffensysteme eingebaut werden von Virginia für geheime Besprechungen Entwicklung des Computerkriegs arbei- könnten, die ein ausländischer Herstel- benutzt, zeichnet Oberst Mike Tanksley ten bereits Expertenteams aller Waffen- ler in ein möglicherweise feindliches die Umrisse eines neuen Armageddons gattungen mit Hochdruck. Professoren Land exportiert. „Wenn das Waffensy- nach. der National Defense University in Wa- stem dann im Ernstfall gegen uns ein- Sollte der Beherrscher irgendeines shington haben in aller Stille die ersten gesetzt werden soll“, erklärt ein CIA- modernen Babylon (Bagdad, Teheran 16 Abschlußdiplome an Cyber-Kampf- Experte, „explodiert der Sprengkopf oder Tripolis etwa) in nächster Zukunft Spezialisten ausgegeben. Die sollen nun nicht.“ einen US-Verbündeten bedrohen (Riad Verteidigungsstrategien gegen Angriffe Daß es im Krieg von Bits und Bytes be- vielleicht, Kairo oder Jerusalem), wür- auf US-Computer entwickeln oder über reits exotischere Waffen als Computervi- den die Vereinigten Staaten nicht wieder den Einsatz von virtueller Realität bei ren gibt, enthüllt der Rüstungsexperte sofort ganze Heerscharen in Bewegung Manövern nachdenken. des Nachrichtenmagazins Time, Douglas setzen wie 1990 gegen Saddam Hussein. Noch in diesem Jahr wollen Offiziere Waller. Wissenschaftler des National La- Statt dessen würde der Präsident die Ag- im Verteidigungsministerium die Resul- boratory von Los Alamos in New Mexico gressoren mit einem zeitgemäßen Äqui- tate von mehr als einem Dutzend gehei- haben ein koffergroßes Gerät entwik- valent biblischer Plagen bestrafen. mer Computerkriegssimulationen aus- kelt, das einen starken elektromagneti- Schon bald wird solches Unheil aller- werten, die in den vergangenen zwei schen Impuls (EMP) erzeugt. Eine Spe- dings mit Hilfe von PC-Mäusen, Compu- Jahren stattfanden. Die Planer werden zialeinheit der Streitkräfte könnte damit terkeyboards und Bildschirmen entfes- darüber entscheiden, wie militärische in die Hauptstadt eines gegnerischen selt: Da wird zunächst ein Computervirus Taktik künftig auszusehen hat. Landes vordringen, den EMP-Koffer im in die Schaltzentralen des gegnerischen Auch die Geheimdienste untersuchen Zentrum abstellen und das Gerät ein- Telefonsystems eingespeist, um alle derzeit, ob mit Hilfe von Computerhak- schalten. Der Impuls würde dann alle Fernsprecheinrichtungen lahmzulegen. Heimtückische Software-Programme, die sogenannten Trojanischen Pferde des Lautlose Attacke Methoden und Angriffsziele im Computerkrieg Datenzeitalters, zerstören die Rechen- zentralen des Eisenbahnnetzes. Sind auf diese Weise erst einmal die Stellwerke Störung aus dem Äther ausgeschaltet, bricht der Nachschub zu- Von Spezialflugzeugen ausgestrahlte Des- sammen. information verwirrt die Abläufe im feind- An der Front befolgen die feindlichen lichen Militärapparat; durch TV- und Ra- Offiziere zwar noch Befehle, die sie über diopropaganda wird die Bevölkerung Sprechfunk erhalten. Aber wasdie Kom- beeinflußt. mandeure nicht wissen: Ihre Orders sind gefälscht, die Truppen verlaufen sich als- Elektromagnetische Impulse (EMP) bald in der Wüste. US-Flugzeuge stören Eine aktenkoffergroße EMP-Bombe, die derweil die Fernsehsender des Gegners von Spezialeinheiten in der Nähe von und strahlen eigene Propaganda aus, um elektronischen Kommunikationssyste- die Bevölkerung gegen den Tyrannen men plaziert wird, detoniert und friert aufzuwiegeln. sämtliche Datenströme ein. All das geschieht, ohne daß auch nur ein Schuß gefallen ist. Auf diese Weise, Computerviren hofft Oberst Tanksley stolz, ließe sich ein werden von Spezialisten in die Netze „Krieg beenden, bevor er überhaupt be- eingeschleust. Sie legen den Telefon- gonnen hat“. verkehr und das Transportsystem lahm. „Information warfare“, Krieg der Computer, heißt das neueste Konzept des Pentagon. Die Cyber-Krieger am Po- Trojanische Pferde tomac hoffen, künftige Schlachten ge- Software-Programme mit Zeitzündung nauso grundlegend zu verändern, wie es lösen zu einem genau berechneten Zeit- Maschinengewehre im Ersten und Pan- punkt Fehlfunktionen in Computern aus; denkbare Ziele: Banken, Elektrizitätswerke. zer im Zweiten Weltkrieg getan haben. Die Strategen wollen die technologi-

132 DER SPIEGEL 34/1995 . PENTAGON Zukunftskrieger, Ausrüstung: „Vor der wirklichen Schlacht werden Staatenlenker virtuelle Kriege ausfechten“

elektronischen Geräte der Umgebung sen hat. Entdeckt der Computer eine Skeptiker innerhalb und außerhalb zerstören. Gefahr, sendet er ein Alarmsignal für des Pentagon halten die angeblichen Andere Entwicklungen kombinieren den Offizier vom Dienst. Vorzüge des Computerkriegs denn biologische und elektronische Waffen. Bis zum Jahre 2010, so hofft die U.S. auch für maßlos übertrieben. „Die Im Auftrag des Pentagon wollen Wis- Army, werde „das Schlachtfeld der Zu- Leute in Bosnien bringen sich gegensei- senschaftler Mikroben züchten, die das kunft vollkommen digitalisiert sein“. tig mit Küchenmessern um“, sagt etwa Isoliermaterial und andere Bauteile des Alle Soldaten und Waffensysteme wä- der Verteidigungsexperte William Ar- Computers auffressen können. ren dann miteinander vernetzt. kin. „Computerviren werden solche Auch die Feindaufklärung wird sich Ein Forscherteam des Elektronik- Konflikte nicht beenden.“ durch den Cyber-Krieg grundlegend konzerns Motorola will gemeinsam mit Erfahrene Pentagon-Offiziere be- verändern: Im Massachusetts Institute Experten der Streitkräfte im nächsten fürchten außerdem, daß mögliche Fein- of Technology arbeiten Wissenschaftler Jahr den Prototyp einer Ausrüstung für de Computerwaffen ebenso leicht ge- an einem Flugobjekt von der Größe ei- den „Krieger des 21. Jahrhunderts“ gen die USA verwenden könnten. Die ner Zigarettenschachtel. Der Miniflie- vorstellen. Dessen Helm verfügt über dafür benötigte Technologie ist nicht ger soll Bilder von gegnerischen Trup- ein eingebautes Mikrofon und Kopfhö- besonders teuer, schon Computer und penbewegungen liefern. rer. Nachtsichtgeräte und Wärmebild- Modem reichen aus. „Elektronische Kleinstsensoren werden den Feind sensoren, mit denen der Soldat auch in Kriegführung ist der große Gleichma- künftig sogar riechen. Aus Flugzeugen der Dunkelheit sehen kann, sind eben- cher“, sagt der Futurologe Alvin Toff- heraus könnten Aerosole über gegneri- falls integriert. Ein durchsichtiges Ge- ler. „Niemand muß groß und reich sche Truppen versprüht werden, Bio- lände-Display, das wie ein Visier vor sein, um bei einem solchen Krieg mit- Sensoren würden anschließend aus der seine Augen geklappt wird, zeigt dem zumischen.“ Luft jede ihrer Bewegungen melden. GI, wo er sich gerade befindet. Über Die Gefahr ist durchaus real. Com- Thomas Baines vom Argonne National diesen Bildschirm wird er ständig mit puterhacker könnten die neuen Söldner Laboratory in Illinois sagt: „Wir können neuesten Aufklärungsdaten versorgt. sein, die sich gegen Höchstgebot jedem Ortsveränderungen am Atem oder am So soll sich der Krieg von morgen Diktator zur Verfügung stellen. Penta- Schweiß der Soldaten erschnuppern.“ den Science-fiction-Vorstellungen von gon-Mitarbeiter berichten, daß eine Experten der Johns-Hopkins-Univer- heute immer weiter annähern. „Eines Gruppe holländischer Cyber-Freaks sität testen derzeit ein höchst komplexes Tages werden Staatenlenker virtuelle während des Golfkriegs Irak anbot, für Computersystem, das Radarsignale in Kriege ausfechten, bevor sie sich ent- eine Million Dollar den US-Aufmarsch ein dreidimensionales Monitorbild ver- scheiden, wirklich in die Schlacht zu im Nahen Osten elektronisch zu stören. wandelt. Statt verwirrender Symbole ziehen“, sagt Generalleutnant Jay Gar- Doch Saddam lehnte das Angebot ab. bekommt beispielsweise der komman- ner, der Armee-Chef für Weltraumfra- Auch außerhalb des Pentagon und dierende Admiral einer Flugzeugträger- gen. seiner militärischen Installationen gruppe grafische Darstellungen gegneri- Einige Zukunftsforscher glauben so- könnte ein elektronischer Angriff auf scher und eigener Flugzeuge zu sehen. gar, daß Nationen ihre Kriege künftig die USA katastrophale Folgen haben. Mit seiner PC-Maus kann er die Bedro- nur noch im Computer simulieren und Die NSA ist besorgt, daß die heute hungslage aus jeder Perspektive studie- auf blutige Gefechte auf dem Schlacht- vorhandenen Computer der Banken, ren. feld vollständig verzichten könnten – der großen US-Börsen und der Flug- Der Computer empfiehlt Angriffszie- was für Militärs von heute allerdings leitstellen verhältnismäßig einfach le und beobachtet sogar den Himmel für unvorstellbar ist. Garner: „Ich glaube lahmgelegt werden könnten. „Wir sind den Kommandeur, wenn der einen Au- nicht, daß der Krieg zum schmerzlosen die verwundbarste Nation der Erde“, genblick lang den Gefechtsstand verlas- Videospiel wird.“ fürchtet NSA-Chef John McConnell. Y

DER SPIEGEL 34/1995 133 .

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Bosnien „Ein heimtückisches Spiel“ Der Arzt Jacques Milliano über die Vertreibung von Kroaten und Bosniern aus Banja Luka

Milliano ist der Vorsitzende von „Ärzte Jeden Tag sehe ich neue Gesichter auf Es ist ein heimtückisches Spiel, das ohne Grenzen“ in den Niederlanden der Straße, jeden Tag neues Elend. Vor auf ihre Weise auch die Kroaten betrei- und betreut die Flüchtlingshilfe im ser- ein paar Tagen brachte ein serbischer ben. Offiziell beteuert die Regierung in bisch besetzten Bosnien. Dem SPIE- Soldat ein blindes Mütterchen in unser Zagreb zwar, jeder Flüchtling werde GEL übermittelte er folgenden Bericht: Büro. „Hier habt ihr sie“, sagte er grin- aufgenommen. Aber ich werde den Ver- send, „ich will sie nicht mehr sehen.“ dacht nicht los, daß für die moslemi- weitausend Menschen kampieren Die alte Frau, verwirrt und mittellos, schen Bosnier dieses Schlupfloch mei- auf dem Fußballfeld. In drückender sagte kein Wort, es schien ihr egal, was stens geschlossen bleibt. Die Kroaten ZHitze harren sie aus, ohne Lebens- nun mit ihr geschehen würde. Unsere wollen nur Kroaten, Bosnier sind ihnen mittel, ohne sauberes Trinkwasser, oh- Hilfsmöglichkeiten sind beschämend ge- verdächtig, Zagreb hat kein Erbarmen ne frische Kleidung. ring: Wir konnten sie medizinisch be- mit ihnen. Obwohl Kroaten und Mos- Manche sind schon seit Tagen hier, treuen, ihr eine warme Mahlzeit geben lems gleichermaßen Opfer der Serben andere gerade erst dazugekommen; und dafür sorgen, daß auch sie so sind, bleiben sie einander fremd. Des- aber keiner weiß, wann sie wie Strand- schnell wie möglich über die Save geru- halb schlagen sich immer mehr Bosnier gut weitergetrieben werden. Vielleicht dert wurde. in einem langen Fußmarsch von Banja müssen sie noch Tage und Wochen war- Selbst Schwerbehinderte haben keine Luka auf eigene Faust nach Zentralbos- ten, vielleicht gehören sie schon morgen Rechte. Wie Vieh werden sie zusam- nien durch. Hin und wieder sollen die zu den Glücklichen, die ein Bus ans ret- mengetrieben, ins Stadion gepfercht Serben eine Busfahrt nach Tuzla geneh- tende Save-Ufer bringt – wo schon Tau- und nach Gutdünken der serbischen Mi- migen – für sehr viel Geld. sende vor ihnen mit kleinen Ruderboo- litärs irgendwann in Gruppen von 70 Es schmerzt, mit anzusehen, wie die ten auf die andere Seite, nach Kroatien, Personen an der 50 Kilometer entfern- Menschenwürde ständig mit Füßen ge- übersetzten. ten Save-Grenze ausgesetzt. Die Über- treten wird. In den meisten Fällen erlau- Tag für Tag bekommen wir die glei- fahrt im Ruderboot organisieren serbi- ben die serbischen Behörden in Banja chen Szenen in Banja Luka zu sehen: sche und kroatische Mafiosi, die von Luka keine Familienzusammenführung. Kroaten und Bosnier werden gewaltsam den Vertriebenen noch einmal 100 Mark Frauen und Kinder werden über die aus ihren Häusern und Wohnungen ge- kassieren. Wer nicht zahlt, kommt auch Save gehetzt, während die Männer wei- worfen. Da stehen auf einmal Polizisten nicht in Freiheit. terhin zur Zwangsarbeit an die Front oder irgendwelche serbischen kommandiert werden und Gangs vor der Tür und erklä- Schützengräben für die Serben ren den Bewohnern: Weg mit ausheben müssen. Erst wenn euch, wir brauchen Platz für Frauen, Kinder und Großel- unsere Landsleute. Und dann tern nachweislich in Kroatien unterschreiben Kroaten und oder Zentralbosnien einge- Bosnier in Windeseile ihre troffen sind, dürfen die Män- Verzichtserklärung, die wie ner nachkommen. Die Serben eine letzte Verhöhnung wirkt: wollen auf diese Weise ganz si- Gern gehen wir und kommen cher gehen, daß keine Kroa- nie mehr zurück. Beflissen be- ten und Bosnier in ihrem teuern sie Verständnis für Herrschaftsgebiet zurückblei- die Neuankömmlinge, für die ben. Tausende aus der kroatischen Das alles geschieht vor un- Krajina vertriebenen Serben, seren Augen, und ich muß die nun in Banja Luka ein mich immer wieder fragen, neues Leben beginnen wol- was wir Ärzte gegen all diese len. Grausamkeit noch ausrichten Seit drei Jahren vollzieht können. Unsere Erfolge sind sich die teuflische Logik der angesichts des Leidens lächer- ethnischen Säuberungen nach lich: Nach zähen Verhandlun- diesem Schema. Von einst gen bekamen wir das Recht, 500 000 Kroaten und Bosniern auf dem Fußballfeld ein Zelt im Großraum um Banja Luka für Erste Hilfe aufzubauen. sind noch knapp 50 000 übrig Erschöpfte Erwachsene und – und die letzten machen sich Kleinkinder werden nun jetzt auf und davon. Mit zwei, notdürftig behandelt, manch- drei Plastiktüten in den Hän- mal gibt es auch eine warme den, so lautet das ungeschrie- Mahlzeit. Immerhin gelang bene Gesetz, haben sie zu es uns, zwei Toilettenanla-

verschwinden und ihren ge- REUTERS gen aufzustellen – für 2000 samten Besitz zurückzulassen. Vertriebene an der Save: Gesamte Habe zurückgelassen Menschen. Y

134 DER SPIEGEL 34/1995 Werbeseite

Werbeseite .

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SPIEGEL-Gespräch „Sie zelebrieren das Chaos“ Malaysias Premier Mahathir Mohamad über asiatische Werte und den Niedergang des Westens

wir nicht mit allem einver- standen sind, was sie sagen. Wenn mich einige deshalb als schrill empfinden – schade. Ich bin eigentlich ein sanfter Mensch. SPIEGEL: Ist es denn wirklich so, daß asiatische Gesell- schaften die Antwort auf alle Zukunftsfragen haben? Rückt nach fast 500 Jahren westlicher Vorherrschaft der Schwerpunkt der Welt tat- sächlich nach Fernost? Sehen Sie Malaysia als Entwick- lungsland, Deutschland als Rückentwicklungsland? Mahathir: Es gehört nicht zu meinen Denkkategorien, daß

A. BRADSHAW / SABA Asien demnächst den Westen Mahathir beim SPIEGEL-Gespräch*: „Beispiellose Heuchelei korrumpierter Demokratien“ dominiert. Ich glaube nur, wir können eine gleichbe- SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, Sie ha- mand prangert den Niedergang des We- rechtigte Rolle beanspruchen, uns die ben einmal gesagt, Journalisten sollte stens, seinen angeblichen wirtschaftli- Verantwortung teilen. Wir wollen mit- man am besten erschießen, und Siehaben chen und moralischen Verfall schärfer bestimmen, aber man läßt uns nicht. die westlichen Medien als „vielköpfiges an. So sind Sie zum „Champion der Drit- Asien braucht den Westen; aber das gilt Monster mit faulem Atem“ bezeichnet. ten Welt“ geworden, zum Sprecher des eben auch umgekehrt – und wird bei Ih- Warum sehen Sie die freie Presse als dä- Südens. Gefällt Ihnen die Rolle? nen immer noch nicht akzeptiert. monische Bedrohung? Und welchem Mahathir: Ich habe diese Rolle nicht ge- SPIEGEL: Doch. Daß das 21. Jahrhun- Umstand verdanken wir denn dieses In- sucht. Aber wenn ich eine Fehlentwick- dert das Zeitalter der Pazifischen Regi- terview? lung sehe, dann fühle ich mich verpflich- on wird, können Sie überall lesen. Un- Mahathir: Ich habe die Hoffnung nicht tet, Kritik zu üben. Und dann handle ich. bestritten sind auch die asiatischen Wirt- aufgegeben, einmal Journalisten zu tref- SPIEGEL: Indem Siebeispielsweise, wenn schaftserfolge, etwa Malaysias erstaunli- fen, die meine Position fair darstellen. Ei- Sie sich von der britischen Presse unfair ches Wirtschaftswachstum von durch- ne freie Presse gibt es meiner Meinung kritisiert fühlen, britische Firmen von schnittlich etwa sieben Prozent im letz- nach allerdings nicht: Irgendwer kontrol- staatlichen Ausschreibungen ausschlie- ten Jahrzehnt . . . liert immer die Inhalte, entweder die Ei- ßen und diesen Quasi-Wirtschaftsboy- Mahathir: . . . dieses Jahr werden es gentümer, die Anzeigenkunden oder die kott so lange weiterführen, bis man in wieder mindestens acht Prozent werden. Regierung. Von diesen Gremien ist in ei- London einknickt, wie 1994 geschehen. Aber dennoch: Während Europa seine nem demokratischen Land nur dieRegie- Mahathir: Mit Großbritannien ist längst Union bilden kann, Amerika seine rung gewählt und kann für sich in An- alles wieder inOrdnung. Die Briten dach- Nafta, will man uns die Formierung des spruch nehmen, im Namen des Volkes zu ten, sie könnten mit uns umspringen, wie EAEC, des Ostasiatischen Wirtschafts- handeln. sie wollten, sie könnten sich alles erlau- ausschusses, unmöglich machen. Wir SPIEGEL: Die Rolle der Presse in einem ben. Wir wollten ihnen klarmachen, daß sind formal zwar unabhängige Staaten, demokratischen Staat besteht nach unse- rem Verständnis darin, die Regierenden zu kritisieren und zu kontrollieren. Wo- Mahathir Mohamad tisch, wurde nach der Unabhängigkeit möglich sind wir da schon an einem zen- Malaysias Abgeordneter und 1974 Er- tralen Punkt: Sie sind ein Autokrat, wir ist die wichtigste Stimme eines neuen, ziehungsminister. Seit jetzt 14 Jahren glauben an ein anderes Wertesystem. selbstbewußten Asien, das den Westen ist er Regierungschef in Kuala Lumpur; Mahathir: Ich bin ein Demokrat. Gibt es im Niedergang und sich selbst im Zen- Malaysia hat wirtschaftlich einen ra- denn nur eine Form der Demokratie oder trum der Welt sieht. Der 69jährige Ma- santen Aufschwung genommen und ge- nur einen Hohenpriester, der sie inter- hathir, als Sohn eines indischen Leh- hört neben Singapur zu den fernöstli- pretiert – den Westen? rers und einer malaiischen Mutter im chen „Tiger“-Staaten, die sich vom We- SPIEGEL: Niemand beschwört den Auf- damals britischen Kolonialgebiet Nord- sten nichts mehr sagen lassen wollen. stieg Asiens selbstbewußter als Sie, nie- Malaya geboren, ist promovierter Me- Die Diskussion um die „asiatischen diziner. Der gläubige Moslem enga- Werte“ wird zur Herausforderung für * Mit Redakteuren Erich Follath und Birgit gierte sich schon als Jugendlicher poli- die liberale westliche Demokratie. Schwarz in seinem Amtssitz.

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aber immer noch will der Westen ent- scheiden, was wir tun und lassen. SPIEGEL: „Das Asien, das nein sagen kann“, heißt ein Buch, das Sie gemein- sam mit dem japanischen Ultranationa- listen Shintaro Ishihara geschrieben ha- ben. Es ist eine Kampfansage: als wolle Asien, ein halbes Jahrhundert, nach- dem es seine Unabhängigkeit erlangte, seine ehemaligen Kolonialherren end- gültig in die Schranken weisen. Mahathir: Nein, nein. Ich bin kein asia- tischer Chauvinist, wie Sie mir unter- stellen. Wir wollen unsere Produkte verkaufen, Ihre kaufen – Konfrontation bringt keinen weiter. Ich denke nur, Sie im Westen müssen erkennen, daß wir einiges anders, vielleicht besser machen als Sie. Es gibt zu viele Beispiele für westliche Doppelmoral – die kann man doch nicht unwidersprochen lassen. SPIEGEL: Welche denn? Mahathir: Die größte Schande: Die westlichen Demokratien sind weder willens noch fähig, wirksam auf dem Balkan einzugreifen. SPIEGEL: Sie erklären das mit der Füh- rungsschwäche der „korrumpierten De- mokratien“. Mahathir: Was der Westen mit den

Bosniern treibt, ist eine beispiellose S. SHERIDAN / ASIA VISUALS Heuchelei, indem er den Moslems so- Zukunftsstadt Kuala Lumpur: „Wir machen einiges besser als Sie“ gar die Waffen zur Selbstverteidigung verweigert. In Kuweit, als es ums Öl SPIEGEL: Es fällt auf, ging, hat die Führungsmacht USA wie selektiv Sie die Uno- Aufschwung Ost schnell eine Allianz gegen Saddam Charta benutzen. Da Durchschnittliches jährliches Wirtschaftswachstum Hussein zusammengeschweißt und los- gibt es beispielsweise von 1990 bis 1994 geschlagen, aber die Bosnier läßt man auch die universell gülti- im Stich. Was für eine Welt ist das, in gen Menschenrechte. der wir uns aus Angst um die eigene Sie wollen diese Men- CHINA 10,1% Unversehrtheit nicht mehr einmischen, schenrechte gern neu wenn ein Mensch erschlagen werden definieren und dabei die soll? der „westlichen Deka- MALAYSIA 8,6% SPIEGEL: In der Dritten Welt, auch bei denz“ angeblich überle- den islamischen Staaten, war aber au- genen „asiatischen Wer- ßer moralischer Empörung ebenfalls te“ stärker berücksich- SINGAPUR 7,7 % nicht viel von Unterstützung für die tigt wissen. Welche sind Bosnier zu spüren. denn das genau? Mahathir: Das stimmt. Aber wir in Ma- Mahathir: In einer asia- zum Vergleich: laysia wollen tun, was wir können. Wir tischen Demokratie DEUTSCH- * 2,6% sind bereit, Waffen zu liefern. Sollte es müssen Minderheiten LAND Malaysia zu einem Abzug der Unprofor-Truppen und auch Individuen Freiheiten genießen, vom Balkan kommen, überlegen wir, 2,0% ob wir unsere 1500 Mann starke Blau- aber diese Freiheiten USA helm-Truppe dort stationiert lassen und dürfen nicht über die aggressiver bewaffnen, wenn die Bos- Rechte der Mehrheitge- *nur alte Bundesländer nier das wollen. stellt werden. Wir for- SPIEGEL: Sie haben eine Kampagne ins dern Achtung für die alten Menschen, in- SPIEGEL: Nach neuen Umfragen in asia- Leben gerufen, Uno-Generalsekretär takte Familienstrukturen, Respekt vor tischen Ländern sind die Familien in Butros Butros Gali zu stürzen . . . der Gemeinschaft. Asien aber auch nicht so heil, wie sie Mahathir: . . . Butros Ghali hat ver- SPIEGEL: So weit würde das noch je- scheinen. In Thailands Städten besuch- sagt, er hat es nicht fertiggebracht, die der Politiker im Westen unterschrei- ten ein Viertel aller Ehemänner im ver- von der Uno deklarierten Sicherheits- ben. gangenen Jahr Prostituierte, mehr als zonen zu schützen. Er repräsentiert Mahathir: Es tut mir leid, das sagen zu zwei Drittel aller verheirateten Chine- nicht die Dritte Welt, er wurde damals müssen: Aber es stimmt einfach nicht, sen finden außereheliche Affären ak- vom Westen mit Tricks in sein Amt ge- daß SieimWesten die Familie noch alset- zeptabel. Malaysias Scheidungsrate ist hievt, ohne daß wir darauf hätten Ein- was Wichtiges ansehen. Das unterschei- so hoch wie die im Westen. fluß nehmen können. Die Uno-Charta det Sie von uns – wir haben noch intakte Mahathir: Aber wir würden nie zulas- gesteht im übrigen jedem Staat das Großfamilien und legen großen Wert sen, daß Männer Männer heiraten, Recht auf Selbstverteidigung zu. darauf. Frauen Frauen. Selbst Inzest scheint bei

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Ihnen kein Tabu mehr zu sein. Bald daß Demokratie automatisch zu Instabi- dazu, Regeln aufzustellen, nach denen wird es so weit kommen, daß Väter ihre lität, zu Anarchie führen muß, wie Sie sich die ganze Welt richten soll? Töchter ehelichen dürfen, Mütter ihre unterstellen. SPIEGEL: Es ist keinesfalls so, daß Sie Söhne . . . Mahathir: Chaostage haben Sie, Radi- als einziger das asiatische Wertesystem SPIEGEL: Das ist eine extreme Interpre- kale können das Chaos bei Ihnen gera- vertreten. Der südkoreanische Opposi- tation dessen, was im Westen passiert. dezu zelebrieren. Sie sind so tolerant, tionspolitiker Kim Dae Jung glaubt Woher beziehen Sie Ihre Informatio- daß Sie diesen Krawallmachern erlau- zwar auch nicht, daß man einer Gesell- nen? ben, Steine auf Polizisten zu werfen, öf- schaft ein fremdes System überstülpen Mahathir: Vom Fernsehen. fentliches Eigentum niederzubrennen, kann, aber er denkt – im Gegensatz zu SPIEGEL: Offensichtlich von Satelliten- Autos zu demolieren. Ist das ein Zei- Ihnen – daß westliche Demokratievor- programmen, die Sie Ihren Landsleuten chen von Demokratie? Sind wir unde- stellungen asiatischen Kulturen nahe- bisher per Gesetz verbieten . . . mokratisch, weil wir solche Vorgänge stehen, womöglich in ihnen wurzeln. Mahathir: . . . da laufen doch alle diese verhindern? Und auch andere führende Asiaten sogenannten liberalen Diskussionen. Da SPIEGEL: Keine Versammlungsfreiheit haben kritisiert, daß Sie mit Ihren erfahre ich, in Deutschland erlaubt unter freiem Himmel, eine zahme Pres- Äußerungen Menschenrechtsdiskussio- man, daß Türken niedergeschossen und se, weil Zeitungslizenzen immer nur um nen abwürgen. ihre Häuser abgebrannt werden. ein Jahr verlängert werden: Bei Ihnen Mahathir: Die haben ein Recht auf ihre SPIEGEL: Das erlaubt man keinesfalls. zählen doch nur Stabilität und Wirt- Meinung, wenn ich auch glaube, daß Würde die Polizei von geplanten Taten schaftswachstum – parieren und profi- sie nicht recht haben. Ich habe mich nie deutscher Rechtsradikaler oder kurdi- tieren. als Sprecher Gesamtasiens aufgespielt; wenn man mich dazu macht, muß ich das wohl akzeptieren. SPIEGEL: Noch einmal: Sie plädieren dafür, die Menschenrechte neu zu definieren? Mahathir: Die Menschen- rechtskonvention ist eine Erfindung des Westens. Wir hatten keine Möglich- keit, ihre Inhalte mitzu- bestimmen; sie wurden uns aufgezwungen. Einige Aspekte sollte man in der Tat neu überdenken. SPIEGEL: Zum Beispiel? Mahathir: Europäer und Amerikaner glauben im- mer, sie seien die besseren Menschen. Auch wir sind tolerant – mit Einschrän- kungen. Wenn bei uns ei-

DPA ner nackt über die Straße Chaostage in Hannover: „Wir stoppen jeden, der zur Gewalt neigt“ läuft, wird er verhaftet; Sie lassen ihn laufen. Es scher Terroristen erfahren, müßte sie al- Mahathir: In der Tat ist Stabilität ein ist für uns nicht akzeptabel, wenn soge- les tun, diese zu verhindern. wichtiger Faktor. Die internationale nannte Menschenrechte dazu führen, Mahathir: Ich glaube, Sie wissen in Geschäftswelt beispielsweise hat das daß eine Minderheit eine Mehrheit ter- Deutschland, wer die gewalttätigen begriffen, sonst würde sie wohl kaum rorisiert. Wenn Wohlstand und Stabili- Gruppen sind. Ein Toter hat nicht mehr so begeistert in Malaysia investieren. tät gefährdet sind, wieso sollen wir das viel davon, wenn Sie ihm sagen, sorry, Und das Volk hat ja die Gelegenheit, gutheißen? ich ahnte, daß diese Gewalttäter dich mich und meine Partei abzuwählen. SPIEGEL: Was macht Sie so tolerant umbringen wollten, ich konnte nur vor- Das will es offensichtlich nicht, dieses gegenüber asiatischen Ländern? Die her nichts dagegen tun, weil unsere Ge- Jahr erhielt ich bei den Parlaments- Volksrepublik China haben Sie bei ei- sellschaft und unsere Rechtsprechung wahlen eine Zweidrittelmehrheit . . . nem Besuch in Peking für ihre „starke das irgendwie untersagen. SPIEGEL: . . . die Ihnen jetzt auch Regierung“ gelobt, gegenüber Japan ha- SPIEGEL: Was würden Sie denn der noch erlaubt, die Verfassung ohne Zu- ben Sie „Verständnis“ geäußert, daß deutschen Regierung raten? stimmung der Opposition zu ändern. sich das Land nicht mit seinen Kriegs- Mahathir: Wir in Malaysia haben eine Doch trotz all dieser Machtfülle sind greueln auseinandersetzt. potentiell unstabile Gesellschaft mit ras- Sie nicht souverän genug, einer aner- Mahathir: Die Japaner haben sich doch sischen Spannungen. Wir stoppen je- kannten internationalen Menschen- schon entschuldigt. Aber ganz ehrlich: den, der zur Gewalt neigt. rechtsorganisation wie Amnesty Inter- Ich bin lieber mit Chinesen und Japa- SPIEGEL: Sie haben dafür ein drakoni- national ein Büro in Kuala Lumpur zu- nern befreundet, als mich auf amerika- sches Gesetz, den „Internal Security zugestehen. nischen Schutz zu verlassen. Glauben Act“, der unbeschränkten Arrest ohne Mahathir: Amnesty vertritt das westli- Sie, die Amerikaner würden uns im An- Gerichtsverfahren erlaubt. So etwas ist che Wertesystem. Sie sitzen auf dem griffsfall zu Hilfe kommen? Schauen Sie nicht mit westlichen demokratischen hohen Roß und glauben, sie könnten auf Bosnien – die Amerikaner interes- Vorstellungen vereinbar. Außerdem der Welt erzählen, wie sie sich zu ver- sieren sich doch in Wirklichkeit gar glaubt man im Westen einfach nicht, halten hat. Wer gibt ihnen das Recht nicht für Menschenrechte.

138 DER SPIEGEL 34/1995 . ACTION PRESS Moslem-Frauen in Kuala Lumpur: „Wer sich aufreizend kleidet, nötigt die Männer“

SPIEGEL: Wird der nächste Weltkrieg Mahathir: Ich senke in der Tat den SPIEGEL: Mit mehr Wohlstand und ei- ein Krieg zwischen unterschiedlichen Blick. Aber was ich mit diesem Beispiel nem höheren Bildungsniveau wird Kulturen sein, wie Harvard-Professor sagen will: Sie im Westen genießen Frei- auch in Malaysia die Forderung nach Samuel Huntington meint? heiten oder was Sie dafür halten, die für mehr individueller Freiheit und politi- Mahathir: Ach, dieser Professor in sei- mich als Asiaten und Moslem nicht ak- scher Mitsprache wachsen. Es könnte nem Elfenbeinturm. Typisch für das zeptabel sind. Ich habe meine eigenen bei Ihnen, wie in Südkorea und Tai- westliche Denken: Da gibt es nur Moralvorstellungen. wan, zu einer Erosion des asiatisch-au- schwarz oder weiß, da muß alles in einer SPIEGEL: Moral ist nicht unbedingt eine tokratischen Regimes kommen. Konfrontation enden. Wir glauben an feste Größe. In Europa haben sich die Mahathir: Vergleichen Sie uns nicht eine Zusammenarbeit unter Gleichbe- Vorstellungen davon, was akzeptabel mit ehemaligen Militärregimen. Malay- rechtigten. Wir wollen niemanden do- ist, über die Jahrzehnte erheblich verän- sia ist schon eine Demokratie. Im Jahr minieren, aber auch von keinem domi- dert. Das trifft doch auch auf Asien, auf 2020 wird Malaysia ein voll entwickel- niert werden. Wir wollen nur immer Malaysia zu. ter Industriestaat sein; dann werden besser, harmonischer leben. Mahathir: Da haben Sie vermutlich unsere Wachstumsraten wohl sinken. SPIEGEL: Kann es sein, daß zumindest recht. Aber man kann zumindest gegen- Das ist eine ganz normale Entwick- in Sachen Massenkultur der weltweite steuern. Wir fördern gesunde Aktivitä- lung. Und vielleicht werden wir dann Kampf ohnehin schon entschieden ist – ten für junge Leute wie Sport, Bergwan- als Gesellschaft liberaler, in Ihrem zugunsten des Westens? Spielen nicht dern, Musizieren. Wir wollen ihnen Sinn. auch malaysische Jugendliche am Mac- Grundwerte vermitteln. Wir wollen ih- SPIEGEL: Aber dann wollen Sie nicht intosh, essen bei McDonald’s, tanzen zu nen klarmachen, daß der Niedergang mehr die Staatsgeschäfte führen – son- Michael Jackson? des Westens dem Werteverfall zuzu- dern vielleicht der Uno als Generalse- Mahathir: Das mag sein, aber diese schreiben ist. Daß die Rechte des Indivi- kretär vorstehen? Trends muß man verlangsamen. Wenn duums nicht über denen der Gemein- Mahathir: Nein, nein, daran bin ich ich Hamburger esse, heißt das doch schaft stehen, sondern umgekehrt. nicht interessiert. Mir reicht es, wenn nicht, daß ichmein Wer- ich mein Land im tesystem über Nacht än- Griff habe. Ich habe dere. keinen Ehrgeiz, ein SPIEGEL: Wie meinen Welt-Führer zu wer- Sie das? den. Ich genieße Mahathir: Wenn etwa es... eine Frau in Hot pants SPIEGEL: . . . auch und mit halb entblößter weiterhin dem Westen Brust umherstolziert, die Leviten zu lesen? muß sie sich nicht wun- Mahathir: Man mag dern, wenn Männer auf- mich nicht im Westen, dringlich werden. Wenn weil man meine Aus- eine Frau sich derart sagen nicht mag. Aber aufreizend kleidet, eine Menge netter Sa- dann nötigt sie. Das ist chen, die ich von mir für mich sexuelle Belä- gebe, werden in den stigung. Wie soll ich Zeitungen des Westens mich da auf die Arbeit nicht gedruckt. konzentrieren können? SPIEGEL: Herr Mini- SPIEGEL: Vielleicht sterpräsident, wir dan-

schauen Sie einfach S. SHERBELL / SABA / REA ken Ihnen für dieses weg. Moderne Chip-Produktion: „Malaysia begeistert Investoren“ Gespräch. Y

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Peru Schweine des Meeres Weil Brigitte Bardot protestierte, will die Regierung gegen den Delphin- fang vorgehen – Haupteinnahme der kleinen Fischer.

ste´ban Francia, Fischer im Hafen von Cerro Azul, schimpft auf die be- Ekannteste Tierschützerin der Welt. „Wer ist die Dame, daß sie uns so böse Briefe schreibt?“ fragt er empört. „Und was hat sie mit unseren Chanchos zu schaffen?“ „Chanchos marinos“ (Meeresschwei- ne) nennen Perus Fischer die possierli- chen Schwarzdelphine, deren festes, le- berfarbenes Fleisch sie als herzhaftes und billiges Mittagessen schätzen. Jetzt will ihnen Frankreichs Brigitte Bardot das Delphinsteak vom Speiseplan streichen. Anfang Juni protestierte der einstige Filmstar in einem Brief an Perus Fische- reiminister gegen den Fang der Meeres- säuger. Der Handel mit Delphinen ist durch das Washingtoner Artenabkom- men geschützt, doch die Übereinkunft wurde in Peru bisher kaum beachtet. Offiziell ist der Fang seit 1990 verbo- ten; den Fischern droht gar eine Haftstra- fe von bis zu drei Jahren, wenn sie mit ei- nem erlegten Delphin erwischt werden. Aber dieHafenpolizei schreitet nicht ein. „Mit einer Kiste Seezungen oder ein paar Dosen Bier für den Hafeninspektor läßt sich das Problem regeln“, sagt einer von ihnen. Seit Jahrzehnten stellen die Peruaner den Delphinen nach. Tonnenweise wird das Fleisch auf den Märkten der Hafen- städte verkauft. Als Spezialität gilt „muchame“, ein Gericht, das italienische Einwanderer einst einführten: Aus der Rückenfinne schneiden die Fischer Strei- fen, die sie wie Stockfisch salzen und trocknen. Speisekarten vieler Restau- rants in Lima priesen muchame noch vor kurzem als Delikatesse an. Die Fischer behaupten, daß ihnen die Tiere zufällig ins Netz gehen, wenn sie hinter Sardinenschwärmen herjagen. Ex- perten halten das für eine Ausrede: „Aus dem anfangs unbeabsichtigten Fang der Delphine ist längst eine gezielte Jagd ge- worden“, heißt es in einer Studie des bel- gischen Forschers Koen van Waerebeek für die Vereinten Nationen. Van Waere- beek leitet das peruanische „Zentrum für die Erforschung von Meeressäugetie- ren“. Die Wissenschaftler schätzen, daß . LLER / TAFOS FOTOS: T. MÜ Gefangene Schildkröte, ausgeweidete Delphine, Verkauf von Delphinfleisch: „Gezielte Jagd auf Meeressäuger“

in Peru jährlich mehr als 10 000 Delphine verwirren die Tiere. Sie übersehen dann teinhaltigen Fleischersatz, der oft sogar gefangen werden. das Netz, verheddern sich und erstik- noch billiger ist als Fisch. Die einst rei- In der Abenddämmerung fährt Pablo ken. Wenn sie nicht schon im Wasser chen Gründe vor der peruanischen Kü- aus dem Dorf Tambo de Mora zum „Tier- verenden, verstopfen ihnen die Fischer ste sind nahezu leergefischt, seit die Re- fang“ aufs Meer, wie die Fischer die Jagd das Atemloch mit feuchtem Zeitungspa- gierung in Lima ausländische Fangflot- auf Delphine, Stachelrochen und Schild- pier oder Plastiktüten. ten in ihre Gewässer läßt. Mit den Li- kröten nennen. Er führt dafür ein beson- Jose´ aus der Hafenstadt Chimbote hat zenzgebühren bessert Präsident Alberto ders großmaschiges Netz mit, das kleine mehr Erfolg: In seinem Boot liegen eine Fujimori die Devisenreserven auf. Rie- Fische durchschlüpfen läßt. Mit einem Delphinmutter mit Baby und ein weite- sige japanische, koreanische und chile- Kollegen steuert Pablo das kleine hölzer- res ausgewachsenes Tier. Die Beute hat nische Trawler durchkämmen den kal- ne Motorboot in die Nacht. Die Hälfte er bereits auf hoher See ausgenommen, ten Humboldtstrom, der einst zu den er- des Fangs muß er dem Bootseigner über- in Stücke geschnitten und auf Eis ge- giebigsten Revieren der Welt zählte. lassen, von dem Rest zahlt er den Treib- legt. „Früher machten wir das auf der Mit Schleppnetzen und industriellen stoff und seinen Kompagnon. Das Boot Mole“, berichtet er. „Aber seit die Jagd Fangmethoden haben sie zahlreiche Ar- hat weder Funk noch Kompaß, die Fi- verboten ist, landen wir nur noch das ten nahezu ausgerottet. scher orientieren sich an den Sternen und Fleisch an.“ Auf dem Markt von Chim- Schwimmende Fischfabriken aus den Lichtern der Küste. Ein Delphin bote wird es an großen Ständen offen Fernost beuten die Bestände an Riesen- bringt etwa 30 Soles, das sind rund 14 angeboten. „Wir haben schon immer kraken vor der nordperuanischen Küste Dollar – kaum genug für den Diesel. Delphine gejagt und gegessen“, sagt Jo- aus. Die alteingesessenen selbständigen Heute hat Pablo ei- se´. „Warum stempelt Fischer der kleinen Hafenstädte führen nen speziellen Auftrag: man uns jetzt zu Krimi- einen Überlebenskampf, der immer här- Eine reiche Dame aus nellen?“ ter wird. seinem Heimatort hat Das verdanken sie au- Weil sie Seelöwen und Robben als ge- für eine Familienfeier ßer Brigitte Bardot vor fräßige Konkurrenten verabscheuen, Schildkröte bestellt. allem Olga Rey de Mi- spritzen die Fischer Insektenvertilgungs- Wie ein Fallensteller chell, einer reichen Un- mittel auf Fischreste, um die Robben zu setzt der Fischer die ternehmergattin, die ihr vergiften. „Warum gibt die Regierung gelben Plastikschwim- Herz für die Delphine nicht die Robben zum Abschuß frei und mer mit dem 5000 Dol- entdeckt hat. Vor einem erteilt Fangquoten für Delphine?“ fragt lar teuren Killernetz ins Jahr begann sie eine Esteban Francia in Cerro Azul. „Das Wasser. Für die großen Kampagne zum Schutz sind die einzigen Tiere, die es hier im Tiere fischt er „a flor de der Tiere, in Fernseh- Überfluß gibt.“ agua“, dicht unter der spots und auf riesigen Doch die internationalen Proteste ha-

Wasseroberfläche. AFP / DPA Plakatwänden ruft sie ben Perus Regierung bewogen, endlich Im Morgengrauen Tierschützerin Bardot zum Boykott des Flei- energischer gegen die Schlächterei vor- beginnt einer der gel- sches auf. zugehen. Vor kurzem kam Fischereimi- ben Plastikschwimmer heftig zu zucken. Ihren „Kreuzzug für das Leben“ lei- nister Jaime Sobero Taira nach Cerro Vorsichtig rudert Pablo heran. Eine rie- tet Olga Rey von einem Büro in Limas Azul. Dort las er den Bewohnern das sige Meeresschildkröte hat sich in die vornehmem Stadtteil San Isidro aus. Schreiben von Brigitte Bardot vor und Nylonstricke verwickelt und versucht „Wir wollen die Verbraucher aufrüt- ließ überall im Dorf Plakate kleben, die verzweifelt sich freizustrampeln. Der Fi- teln, damit die Fischer keine Abnehmer vor dem Delphinfang warnen. scher jubelt: „Die Kundin wollte zwar mehr finden.“ Mit ihrem BMW flitzt sie Die Fischer wehren sich. Die meisten eine kleinere Schildkröte, weil die bes- von einem Luxusrestaurant zum ande- Plakate haben sie wieder abgekratzt, die ser schmeckt, aber mit dem dicken Tier ren und überprüft, ob irgendwo noch Proteste des Stars aus Frankreich halten hier verdiene ich mehr und habe auch das verbotene muchame auf dem Spei- sie für ungerecht. die Spritkosten drin.“ seplan steht. „Bevor die sich in unsere Fischerei Delphine gehen ihm in dieser Nacht Doch der größte Teil des Delphinflei- einmischt, sollte sie erst mal die Atom- nicht ins Netz: „Heute ist kein Voll- sches landet auf den Tellern der Ar- versuche in der Südsee stoppen“, for- mond“, erklärt Pablo. Die Lichtreflexe men. Die verzehren „chancho“ als pro- dert Esteban. Y

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TECHNIK

Brückenbau „Ein gewisses Gottvertrauen“ Es bröselt, rostet und reißt – viele Brücken in Deutschland sind vorzeitig verschlissen. Die Fehler entstanden im Bauboom nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Spannbetonbauer wußten zuwenig über die Tücken dieser eleganten Bauweise, sie bauten zu schnell und nicht selten schlampig.

napp 34 000 Brücken überspannen i 1979 wurde die erst 20 Jahre alte land gebaut worden, die meisten von Deutschlands Flüsse und Täler, Stadtautobahnbrücke im Berliner ihnen nach einem Verfahren, das die KGleisanlagen, Feldwege und Kanä- Stadtteil Schmargendorf (Länge: 300 deutschen Brückenbauer ohne viel Er- le. Sie sind nach Ansicht des Bundesver- Meter, Baukosten: 6 Millionen fahrung gleichsam direkt aus der Erfin- kehrsministeriums (BMV) die „emp- Mark) abgerissen und durch einen derwerkstatt übernommen hatten: die findlichsten und kostspieligsten Be- 71 Millionen Mark teuren Neubau Technik des Spannbetonbaus. standteile“ des 622 600 Kilometer lan- ersetzt. Entwickelt wurde diese Bauweise gen Netzes von Land-, Kreis-, Bundes- i 1980 krachte das Spannbetondach von dem französischen Ingenieur Eu- straßen und Autobahnen. der Berliner Kongreßhalle (Baujahr ge`ne Freyssinet. Er baute seine ersten Rund 400 Millionen Mark werden in 1957) zusammen und erschlug einen Spannbetonbrücken in Deutschland, diesem Jahr für die Erhaltung der Brük- Rundfunk-Reporter. „Eine größere 1938 über die Autobahn bei Oelde und kenbauwerke aufgewendet. Doch reicht Anzahl“ der Stahltrossen, die das 1942 über die Glatzer Neiße im heuti- diese Summe? Fachleute bezweifeln es. flügelhaft gespannte Betondach in gen Polen. Beide Brücken zeigen bis In den zuständigen Ministerien und Bauverwaltungen ist die Rede vom „erkrankten Ver- kehrskörper“, vom „Patienten Brücke“ und von „Zeitbomben aus Stahl und Beton“. Dem Straßenverkehr drohe, wenn schadhafte Brücken gesperrt werden müssen, der Kollaps, in dessen Folge Deutschlands Au- tofahrer „lernen müssen, mit dem Stau zu leben“. Die Volks- wirtschaft tue gut daran, sich auf „schwerwiegende Behinde- rungen“ einzustellen. Zwar sei keine Brücke in Deutschland „derzeit eine To- desfalle“, sagt Albert Treit-

wein, Professor für Stahlbeton DPA und Spannbeton an der Münch- Eingestürzte Berliner Kongreßhalle, beschädigte Inntal-Autobahnbrücke: „Jeder zweite ner Fachhochschule. „Tatsa- che“ sei jedoch, daß es „sehr, sehr viele der Schwebe hielten, war gerissen – heute, sagt der Brückenbauer Philipp malade Brücken“ gebe. so die Analyse der Unfallforscher. Schreck aus dem Münchner Vorort Andere Experten äußern sich noch wi- i 1988 brach schon beim Bau einer Au- Neubiberg, „keine Alterserscheinun- dersprüchlicher. „Akut ist wohl keine tobahnbrücke über den Main bei gen, der Beton ist fest, ohne Risse und Brücke vom Einsturz bedroht“, versi- Aschaffenburg ein 24 Meter langes die Vorspannung intakt“. chert Johannes Vielhaber, Ingenieur der Teilstück ab, ein Mann kam dabei Freyssinet hatte in die Brückenträger Bundesanstalt für Materialforschung und ums Leben. unter den Fahrbahnen Hüllrohre ver- -prüfung (BAM) in Berlin. „Anderer- i 1990 sackte die Inntal-Autobahn- legt, in denen Stahlseile verlaufen. Sie seits“, so Vielhaber, „auszuschließen ist brücke bei Kufstein ein, die Repara- wurden nach dem Erhärten des Betons es auch nicht.“ tur dauerte zwei Jahre und kostete gespannt und gegen diesen verankert, Welche Gefahren und Kosten mit dem knapp 50 Millionen Mark. wobei sich die Zugkräfte der Seile auf plötzlichen Einbruch von Brücken und Die Vergangenheit, so scheint es, be- den Beton übertrugen. Um die Vor- vergleichbaren Betonbauwerken ver- ginnt Deutschlands Brückenbauer ein- spannung zu festigen, wurde zudem bunden sind, machen vergangene Bei- zuholen: Was mittlerweile an vielen Zementmörtel in die Hüllrohre gepreßt spiele deutlich: Stellen bröselt, rostet und wegbricht, (siehe Grafik Seite 143). i 1976 mußte die damals erst 18 Jahre al- wurde meist in den ersten Jahrzehnten Die Spannbetonbauweise bot eine te Autobahnbrückeam Heerdter Drei- der Bundesrepublik errichtet. Reihe von Vorteilen, von denen sich eck durch Hilfstützen vor dem „Bei- Mehr als 10 000 Brücken sind seit En- aus heutiger Sicht die Nachkriegsbau- nahe-Einsturz“ bewahrt werden. de des Zweiten Weltkriegs in Deutsch- meister offenbar blenden ließen. Ge-

142 DER SPIEGEL 34/1995 . AP Eingestürzte Autobahnbrücke bei Aschaffenburg: „Baun ¯mer mal, dann schaun ¯mer mal“

Brückenschlag im Takt Die einzelnen Abschnitte der Spannbetonbrücke werden im Taktschiebeverfahren von der Fertigungsstelle aus mit hydraulischen Pressen auf die Pfeiler geschoben. Ein Vorbauschnabel ist am Brückenkopf befestigt, um die Abschnitte während des Schiebens auf dem jeweils nächsten Pfeiler abzustützen.

Verschiebe- richtung Vorbau- schnabel

Abschnittlänge: ca. 30 Meter Die in Hüllrohren verlaufenden Stahlseile werden hydraulisch vorgespannt und gegen den Beton ver- ankert. Der auf diese Weise „vorgespannte“ Beton AP kann höhere Zugkräfte aufnehmen als Schaden entsteht bei der Bauausführung“ die „schlaffe Bewehrung“ ein- facher Stahlbeton-Brücken. genüber herkömmlichen Stahlkonstruk- Prinzip der sogenannten Einfeld- tionen waren die Brücken aus Spannbe- trägerbrücke: Die Länge der ein- ton um etwa 40 Prozent billiger. Und im zelnen Fahrbahnabschnitte, die Hohlraum Vergleich zu den klobigen Stahlbeton- am Boden vorgefertigt und vorge- brücken, deren Fahrbahnbeton mit spannt und dann in die Tragkon- Drahtmatten gefestigt wurde (Fachjar- struktion verlegt wurden, bemaß Hüllrohr mit gon: „schlaffe Bewehrung“), erlaubte die sich nach dem jeweiligen Abstand Stahlseilen neue Technik ästhetisch schöne Brücken- der Brückenpfeiler. Diese Metho- schläge großer Spannweiten. de sicherte eine rißfreie Herstel- Kühn und elegant nahmen sich fortan lung der Fertigteile, die danach zumeist senslücken“ (Vielhaber) und ohne aus- die Konstruktionen auf den Reißbrettern auch frei von Rissen blieben. Auf je- reichende Kenntnis der „chemisch-phy- der Brückenarchitekten aus. Doch bei weils zwei Pfeilern ruhend, konnte sich sikalischen Grundlagen“ (Treitwein), der baulichen Umsetzung der Entwürfe jedes Teil unter den „Lastfällen“ (Inge- die dem neuen Verfahren anhafteten, war „häufig ein gewisses Gottvertrauen nieur-Jargon) Temperatur, Wind und schlugen die Nachkriegsbaumeister unumgänglich“, sagt der Münchner Be- Verkehr innerhalb des zulässigen Spiel- frohgemut Hunderte von Brücken, tonbauprofessor Treitwein. raums frei verformen. meist nach dem Motto: „Baun ’mer mal, Freyssinet war bei seinen Brücken um- Bei der Anwendung des Spannbetons dann schaun ’mer mal.“ sichtig auf strenge Sicherheit bedacht ge- schritten die deutschen Brückenbauer Besonders eifrig war der Stuttgarter wesen. Seine Bauten beruhten auf dem forsch voran. Trotz „erheblicher Wis- Massivbauprofessor Fritz Leonhardt. Er

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entwickelte die Technik der „Hohlka- sten-Durchlaufträgerbrücken im Takt- schiebeverfahren“. Bei dieser Methode wird der Brückenträger samt Fahrbahn, ähnlich einer Lasagne-Schlange aus der Pasta-Maschine, abschnittweise um et- wa 30 Meter verlängert und mit hydrau- lischen Pressen über die Stützpfeiler der Brücke vorgeschoben. Als ein Problem dieser Bauten gilt in- zwischen, daß der unter der Fahrbahn verlaufende Brückenträger vergleichs- weise groß bemessen ist – Risse im Be- ton ließen sich dadurch nicht vermei- den. Sie entstanden einerseits durch un- sachgemäße Vorspannung, andererseits durch die Temperaturunterschiede zwi- schen der Ober- und Unterseite des Brückenträgers, die durch die Abbinde- wärme des Betons und durch die Son- nenbestrahlung hervorgerufen wurden. Darüber hinaus taten sich Risse in den vorgespannten Durchlaufträgern beid- seits der Stellen auf, wo diese auf den Pfeilern auflagen. Ein Riß im Brückenbeton aber, macht Brückenbauer Schreck unter Hinweis auf die Erfahrungen im Flugzeugbau geltend, ist „der Anfang vom Ende – er leitet den Dauerbruch ein“. Durch die Betonritzen, die sich durch das Temperaturgefälle und die Ver- kehrsbelastung beständig öffnen und zu- sammenziehen, dringt Wasser ein, mal als Regen, mal als mit Chemikalien ver- setztes Tauwasser. Die Feuchtigkeit kriecht in den Betonkörper und führt allmählich zur Korrosion der Beweh- rung. Das Nagewerk des Rostes zeigte sich beispielhaft bei der Reparatur der von „Brückenpapst“ Leonhardt konzipier- ten Inntal-Autobahnbrücke: Alle Spannstähle waren durchgerostet. Daß es um andere Talbrücken des Bundesautobahnnetzes möglicherweise nicht besser bestellt ist, zeigte sich schon Anfang der achtziger Jahre. Im Rahmen einer „Risikostudie“ hatten die Bonner Ministerien für Verkehr und für For- schung (BMFT) eine Reihe von Tal- brücken untersuchen lassen. Die Studie, deren Veröffentlichung über einen Vorabdruck zum Dienstge- brauch nicht hinauskam, gelangte zu dem Ergebnis, daß alle 55 inspizierten „Durchlaufträgerbrücken im Hohlka- stenquerschnitt“ durchschnittlich alle zwölf Meter Risse aufwiesen. Gerissen waren zudem sämtliche Koppel- und Arbeitsfugen der Brückenträger. Die gemessenen Rißbreiten hätten, so Schreck, eigentlich eine „sofortige Sper- rung dieser Brücken“ erforderlich ge- macht. Doch die Bauherren und die Er- bauer steuerten trotzig dagegen. „Ohne Risse geht es nicht“, befand etwa Bau- meister Leonhardt und erklärte „solche Risse“ für „unschädlich“.

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Hilflos bis naßforsch äußerten sich baren Belastungen ausgesetzt werden Mitglieder des Normenausschusses Bau- wie am vorgesehenen Standort. Den wesen zu der Forderung, Spannbeton- „Lastfall Sonnenbestrahlung“, be- brücken müßten rissefrei gebaut wer- schreibt BAM-Prüfer Vielhaber die den. Die Einlassungen reichten, wie der Versuchsanordnung, „simulieren wir Münchner Wirtschaftswissenschaftler mit der Einhausung eines Brückenab- und Buchautor Armin Witt schreibt, schnitts“: Auf die Betondecke wird auf von der Aussage „Wir können doch die einer Fläche von zehn Quadratmetern Erkenntnisse der Physik nicht in die ein unten offener Holzkasten gesetzt. Vorschriften aufnehmen“ bis hin zu der Eingeblasene Heißluft erwärmt die verblüffenden Feststellung: „Wenn wir Oberfläche auf rund 60 Grad, eine die Temperaturlastfälle in die Vorschrif- Temperatur, wie sie im Hochsommer ten aufnehmen, können wir keine auf Fahrbahnabdeckungen entsteht. Atomreaktordruckbehälter mehr aus In einem zweiten Versuchsabschnitt Spannbeton bauen.“ wird dann der „Lastfall Verkehr“ Entsprechend dem schlechten Zu- nachgestellt. Zwei servohydraulische stand, in dem sich ungezählte Brücken- Prüfzylinder senken sich auf die Beton- bauwerke befinden, ist der Finanzbe- decke und belasten die Brücke mit ei- darf für Reparaturen hoch. Allerdings nem Gewicht von je zehn Tonnen. Die klafft zwischen den veranschlagten Mit- wechselnden Lastfälle von Wärme, teln, die für die Erhaltung der „Brücken Kälte und Druck werden von Instru- und anderer Ingenieurbauwerke der menten erfaßt, die an den Rissen befe- Bundesfernstraßen“ erforderlich wären, stigt sind. und den tatsächlich dafür aufgewende- Mit diesem Versuch soll, so Vielha- ten Beträgen seit Anfang der achtziger ber, geklärt werden, ob Schrecks Be- Jahre eine Lücke von durchschnittlich griff vom „Dauerbruchvorgang, der

40 Prozent. ROGER-VIOLLET sich durch Risse ankündigt“ und der Zur Erhaltung der 1000 kommunalen Spannbetonbauer Freyssinet (1923) aus der Flugzeugtechnik bekannt ist, Brücken in Hamburg hatte die Baube- Auf Sicherheit bedacht auch im Bauwesen greift. Darüber, daß Risse die Lebensdauer eines Bauwerks verkürzen, besteht un- ter den Experten, soweit sie von der deutschen Beton-Lobby unabhängig sind, kein Zweifel mehr. „Selbstverständlich“ seien Brücken „ohne Risse zu bauen“, hatte auch das Frankfurter Oberlandesgericht in einer Mängelklage gegen eine Brückenbau- firma befunden und festgestellt, die Risse im Beton der Blasbachtalbrücke hätten „die auf 60 Jahre angesetzte Le- bensdauer der Brücke auf 2 bis 5 Jahre verringert“. Für die Ewigkeit hatten die Baumei- ster des Römischen Reiches die Brük- ken ihres 80 000 Kilometer langen Straßennetzes konzipiert. Die ehrwür- digen Bauwerke wankten nicht einmal, als im Zweiten Weltkrieg ganze Pan- zerregimenter über sie hinwegrassel- ten.

K. GREISER Von solchen zeitlichen Dimensionen Spannbetonbrücke im Bau: Stahlseile in Hüllrohren verpreßt sind die deutschen Nachkriegsbauten offenbar weit entfernt. Immerhin: Eine hörde der Hansestadt für das laufende BMFT bis Ende letzten Jahres für Si- Lebenszeit von 100 Jahren müßten, so Jahr rund 43 Millionen Mark angesetzt. cherheitsfragen im Brückenbau zustän- der Bonner Regierungsdirektor Pohl, Bewilligt wurden aber nur 23 Millionen. dig. Licht in dieses Dunkelfeld wollen auch moderne Brückenkonstruktionen „Der Fehlbetrag“, sagt Vielhaber von nun Ingenieure der Bundesanstalt für erreichen. Wenn aber, wie es nun vie- der BAM, „wird nach vorne rausgescho- Materialforschung mit einem Versuch lerorts geschieht, „Brücken abgerissen ben. Den müssen unsere Kinder bezah- bringen, der in den nächsten Wochen werden müssen, weil sie den physikali- len.“ Das Aufwand-Schubverfahren anlaufen soll. schen Anforderungen nicht genügen“, wird schon seit vielen Jahren angewen- In der großen BAM-Prüfhalle in Ber- so ist das nach Pohls Auffassung „eine det. In Hamburg summiert sich der lin steht eine 18 Meter lange und 35 ausgemachte Schlamperei“. Fehlbetrag zwischen Soll und Ist mittler- Tonnen schwere Fußgängerbrücke. Sie Deren Ausmaß ist aktenkundig. Aus weile auf 180 Millionen Mark. war vom Auftraggeber, der Deutschen einer BMV-Dokumentation über Einigkeit herrscht unterdes bei den Bahn, nicht akzeptiert worden, weil im „Schäden an Brücken und anderen In- Kritikern der hemmungslosen Beton- Brückenträger haarfeine bis millimeter- genieurbauwerken“ geht hervor, daß gläubigkeit, daß die „wissenschaftliche breite Risse klafften. „50 Prozent aller festgestellten Schä- Bauforschung in Deutschland stark un- Um die Auswirkung dieser Schäden den während der Bauausführung ent- terbelichtet ist“, so Hartmut Pohl, im zu erforschen, soll die Brücke vergleich- standen sind“. Y

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TECHNIK

Blaupunkt bis Telefunken, Hörfunk sind hoffnungsfroh: Der Bedarf an Geräten, die für den DAB-Empfang ge- braucht werden, könnte Radio mit sich bis zum Jahr 2010 auf eine halbe Milliarde Stück summieren. Bildern Ende dieser Woche zur 40. Internationalen Funk- Nicht nur guten Ton, sondern auch ausstellung (IFA) in Ber- Texte und Bilder wird es beim digita- lin, die sich schon wieder- holt als Startrampe für len Hörfunk DAB geben, der in der Rundfunkinnovationen be- währt hat, geht DAB erst- kommenden Woche startet. mals auf Sendung.

W. M. WEBER Die Medienanstalt Ber- ie Hauptstadt der Bewegung ist – DAB-Promotor Müller-Römer, DAB-Autoradio* lin-Brandenburg startet zu- mal wieder – München. Dort hat Quantensprung wie bei der CD sammen mit der Deutschen DsichunterihremVorsitzenden,dem Telekom „das erste von al- ehemaligen Technischen Direktor des UKW soll durch ein besseres, multi- len deutschen DAB-Pilotprojekten“. Bayerischen Rundfunks, Frank Müller- funktionales Digitalradio ersetzt wer- Andere Landesmedienanstalten folgen Römer, die deutsche DAB-Plattform den. Nicht gleich morgen, aber über ei- den Hauptstädtern, nächstes Jahr sollen e.V. formiert. nen Zeitraum von 15 bis 20 Jahren. sich bereits etwa 10 000 deutsche Mu- Erklärtes Ziel des Vereins ist nichts Die Chancen, daß es so kommt, daß stermänner und -frauen mit speziellen Geringeres als die Abschaffung des alle, die heute UKW hören, statt dessen DAB-Empfängern testweise in die neue UKW-Rundfunks, der bislang mit 1337 eines Tages „Digital Audio Broadca- Welle einhören können. Sendern allein in Deutschland die Haupt- sting“ (DAB) einschalten werden, ste- Digital Audio Broadcasting ist minde- last der Hörfunkversorgung trägt. hen nicht schlecht. Die Radiobauer, von stens so revolutionär wie vor 46 Jahren der damals neue Ultrakurzwellen-Emp- fang. Dessen Audioqualität machte sei- Qualität im Äther Funktionsweise von DAB (Digital Audio Broadcasting) nerzeit den Hörern erstmals bewußt, wie dürftig der Klang der Mittelwellen- Der digitale Hörfunk liefert eine Empfangsqualität, die der CD-Wiedergabe nahekommt. Die sender war, denen sie seit Beginn des digitalen Radiosignale können im Auto, im Gebirge oder am Strand, aber auch in dichtbe- Rundfunkzeitalters gelauscht hatten. bauten Städten störungsfrei empfangen werden. Zum Empfang genügt eine bleistiftlange Den nächsten Quantensprung erleb- Stabantenne. Auch Walkman-kleine Mobilradios sind beim DAB-System möglich. ten die Musikhörer, als 1981 die Com- pact Disc (CD) eingeführt wurde: Die Programme revolutionäre Digitaltechnik, die Musik 1 nicht länger als Wellenbewegung erfaßt, sondern jeden Ton mathematisch analy- 2 siert, bescherte bei nur geringen Mehr- 3 1536 kosten kaum noch zu überbietenden Trägerfrequenzen Stereosound. 4 Der Erfolg der CD ermunterte die In- genieure der Unterhaltungselektronik 5 (UE), den guten Digitalton auch auf an- 6 * Prototyp mit Datensichtschirm.

COFDM-Übertragungsverfahren Bei der Übertragung mit sogenannter COFDM- Störfestigkeit Herkömmlicher Rundfunk (UKW) Technik werden in der Sendestation jeweils Die vom Sender ausgestrahlten sechs DAB-Programme in digitale Teilinformatio- Wellen werden an vielen Stellen Beim UKW-Hörfunk ist für nen zerlegt und auf mehr als 1500 Trägerfre- reflektiert, direkte und reflektier- jedes Programm eine eige- quenzen verteilt. Derart verschachtelt, werden te Wellenteile treffen zeitversetzt ne Sendefrequenz nötig, um die Audiosignale in einem 1,5 Mhz breiten Fre- an der Empfangsantenne ein. gegenseitige Störungen zu quenzband ausgestrahlt. Beim analogen Rundfunk ent- vermeiden. Wird, etwa bei einem Unwetter, der Datenfluß stehen dadurch Rauschen, Ver- Gute Sendequalität setzt ei- gestört, gleichen intelligente Korrekturverfahren zerrungen und Löcher im Signal. ne hohe Abstrahlungslei- den Fehler wieder aus, so daß der Hörer nichts Beim DAB-System werden Feh- stung voraus; der Sendebe- bemerkt. ler dieser Art korrigiert. trieb ist entsprechend teuer. Um eine Vielzahl von Sen- dern zu ermöglichen, wird Gleichwellenbetrieb für jede Sendefrequenz nur Im gesamten Verbreitungsgebiet eines DAB-Programmpakets nutzen alle Sender für je- eine geringe Bandbreite weils sechs Programme dieselbe Trägerfrequenz (Gleichwellenbetrieb). So muß zum Bei- (0,3 Mhz) verwendet. Dies spiel ein Autofahrer nicht mehr wie beim UKW sein Radio neu einstellen, wenn er den erschwert einen klaren Ausstrahlungsbereich eines Senders verläßt. Empfang.

146 DER SPIEGEL 34/1995 Werbeseite

Werbeseite TECHNIK

dere Audiobereiche zu übertragen. Und dann am DAB-Radio auf einem Bild- schon seit Jahren basteln die Entwickler schirm zu besichtigen sind. „Das Bild in den Hinterzimmern der UE-Fabriken war das einzige, was dem Radio bisher am ultimativen digitalen Rundfunk. Das noch fehlte“, begeistert sich For- Resultat ist das technisch raffinierte, schungsleiter Dr. Gert Siegle von terrestrisch ausgestrahlte DAB (siehe Bosch. Grafik Seite 146). Auf der IFA am Berliner Funkturm „Die Vorteile der digitalen Rund- wird gezeigt, was den Benutzer am Ra- funktechnik“, so umschreibt Promotor dio mit Bild in Zukunft erwartet: Stand- Müller-Römer den wichtigsten DAB- bilder von Orchestern und Dirigenten Nutzen, „liegen in der überlegenen als Beigabe zu einem Klassikprogramm Empfangsqualität, die von einer CD- oder auch die Anzeige des gerade lau- Wiedergabe nicht zu unterscheiden ist.“ fenden Titels, der Interpreten und der Besondere Eigenschaften des Sender- Bestellangaben für die CD. netzes und zusätzliche elektronische Auch dezidierte Verkehrshinweise Korrekturverfahren sorgen dafür, daß mit Warnungen vor Staus oder belegten das digitale Radiosignal in den Straßen- Parkplätzen werden auf Radiobildschir- schluchten der dichtbebauten Städte ge- men zu lesen sein, ebenso Nachrichten nauso störungsfrei zu empfangen ist wie oder Wetterberichte, Hotel- und Immo- in Gebirgslandschaften, „im stationären bilienangebote mit Bild, womöglich Betrieb wie im bewegten Fahrzeug“. auch digitales Fernsehen im Auto. Erste Vorüberlegungen zu der neuar- Überdies könnte über Digitalfunk der tigen Sendetechnik hatte es bereits 1980 gesamte Inhalt einer Tageszeitung über- beim Institut für Rundfunktechnik in tragen werden; im Haus des Abonnen- München gegeben. Zwei deutsche Tech- ten decodiert ein DAB-Computer die niker, Wolfgang Klimek von der Deut- digitalen Signale und druckt sie auf ei- schen Gesellschaft für Luft- und Raum- nem PC-Drucker aus, komplett mit Text fahrt und Hans-Georg Musmann von und Bildern. der Technischen Universität Hannover, In Berlin strahlen die DAB-Sender am Alexanderplatz und am Schäferberg freilich vorerst fast ins Leere. Zwar hat Ein Bild des Dirigenten die Telekom bei Bosch-Blaupunkt in reitet auf der Hildesheim 1000 DAB-Radios für das Berliner Pilotprojekt bestellt, doch zur digitalen Welle mit IFA stehen nicht mehr als zwei Dutzend Vorführgeräte zur Verfügung. hielten ein Jahr später auf einem Sym- Besser vorbereitet wollen die Münch- posium beim Bayerischen Rundfunk ei- ner in die Digitalfunk-Ära starten, wenn nen Vortrag über ihre Ideen. sie wenige Wochen später mit Aplomb Ein erster Ausstrahlungsversuch 1985 ihre DAB-Premiere feiern. Das Pilot- in München bestätigte den eingeschlage- projekt Bayern ist mit 42 Millionen nen Pfad. 1986 gelang es der europäi- Mark üppig ausgestattet. schen UE-Industrie, das Vorhaben als Bayern hat ein Netz mit elf Sendern Eureka-Projekt 147 in Brüssel festzuma- aufgebaut, das knapp drei Viertel des chen: Förderungsmillionen flossen. Freistaates mit landesweiten DAB-Pro- Ursprünglich hatten die öffentlich- grammen versorgen kann, dazu je ein lo- rechtlichen Rundfunkanstalten schon kales Sendernetz in München, Nürnberg vor zwei Jahren mit DAB-Pilotsendun- und Ingolstadt. Mehr als 4000 Testhörer gen beginnen wollen. Doch angesichts sollen in Kürze eines der Zukunftsradios knapper Mittel und anhaltender Gebüh- geschenkt bekommen, hergestellt bei rendiskussionen schien es den Intendan- Grundig am Bayern-Standort Fürth. ten der falsche Zeitpunkt für die teure Ehe DAB bundesweit in den Regel- Einführung eines neuen Radiosystems. betrieb geht – geplant ist dies zur näch- Mittlerweile ist in Deutschland ein flä- sten IFA 1997 –, sind noch etliche ge- chendeckendes Sendernetz im Aufbau, setzgeberische Probleme zu lösen. Of- geeignete Frequenzen wurden zugeteilt, fen ist zum Beispiel die Frage, ob Bild- in 20 weiteren Ländern laufen Feldver- schirme, wie sie zum DAB-Autoradio suche. gehören, im Sichtbereich des Fahrers Während anfangs bei den Diskussio- geduldet werden können. In manchen nen über DAB allein die Tonqualität im Staaten der USA ist das aus Gründen Vordergrund stand, wird jetzt bei den der Verkehrssicherheit prinzipiell ver- Pilotprojekten eine zweite Besonderheit boten. des Digital Audio Broadcasting hervor- Schon im Vorfeld hatten sich die inno- gehoben: DAB ist nicht nur Hörfunk, vativen Radiobastler aus Hildesheim zu sondern – kurioserweise – auch Radio diesem Punkt etwas einfallen lassen: Bei zum Sehen. einem Autoradio, mit dem man auch Auf der digitalen Welle können – fernsehen kann, bleibt der Bildschirm ähnlich wie der Videotext beim Fernse- dunkel, solange nicht die Handbremse hen – Schrifttafeln, aber auch Lauftexte angezogen ist: Glotze im Auto geht nur, und sogar bewegte Bilder mitreiten, die wenn der Wagen steht. Y

148 DER SPIEGEL 34/1995 Werbeseite

Werbeseite .

WISSENSCHAFT PRISMA

Medizin „wahrscheinlich häufigste Mutation bei menschlichen Tumoren über- Tumor-Gen auf haupt“, so der Leiter des Forscher- teams, Jörn Bullerdiek. Dafür, daß Chromosom 12 dieses Tumor-Gen, das auf Chromo- som 12 liegt, so häufig Zellwucherun- Eine Art Super-Gen, dessen Defekt gen auslöst, haben die Wissenschaftler verschiedene gutartige Geschwülste eine Erklärung: Normalerweise rich- auslösen kann, haben Wissenschaftler ten Genmutationen kaum Schäden an. der Bremer Universität entdeckt. Bei Bei dem neuentdeckten Gen aber dem Genfehler, der zu gutartigen Tu- liegt die „molekulare Sollbruchstelle“ moren der Lunge und der Kopfspei- (Bullerdiek) so ungünstig, daß die de- cheldrüse, zu Polypen der Gebärmut- fekten Zellen fehlerhafte Eiweiße her- terschleimhaut, aber auch zu Ge- stellen, die eine unkontrollierte Tei-

schwülsten im Fettgewebe (Lipomen) P. MEYER / FORUM lung auslösen und so zur Bildung eines führen kann, handelt es sich um die Genforscher Bullerdiek Tumors führen.

Vormenschen Kühlmittel Frühstart auf zwei Beinen Gefährlicher Ersatzstoff Schon vor 4 Millionen Jahren, rund 500 000 Jahre früher als bisher angenommen, hatten die Vorfahren des Men- Fluorchlorkohlenwasserstoffe, einst schen den aufrechten Gang erfunden. Bei Ausgrabungen Treibgase von Spraydosen und Kälte- an zwei Fundstätten in Kenia, so verkündete ein interna- mittel in Kühlschränken, wurden ver- tionales Anthropologenteam im Fachblatt Nature, habe boten, weil sie die Ozonhülle zerstö- man insgesamt 21 Knochenfragmente vom Australopithe- ren. Doch einige der gebräuchlichen cus anamensis, einer bislang unbekannten Hominidenspe- Ersatzstoffe können nach Ansicht

NATIONAL GEOGRAPHIC SOCIETY zies, entdeckt. Die Vermessung eines Schienbein-Bruch- amerikanischer Atmosphärenchemi- Vormensch-Fossilien stücks ergab, daß sich die Vormenschen bereits damals auf ker ebenfalls Schaden anrichten. Zu zwei Beinen fortbewegten. Aus den Knochenfunden re- den möglicherweise gefährlichen Al- konstruierten die Forscher ein Körpergewicht von 46 bis 55 Kilogramm; Schädel und Skelettbruchstücke zeigen ein Mosaik aus primitiven und bereits menschen- ähnlichen Eigenschaften. Nach Ansicht der Wissenschaftler könnte es sich bei diesen bislang ältesten Überresten aufrecht gehender Hominiden um die Vorfah- ren von Australopithecus afarensis und eine Schwesterspezies der bislang älte- sten, 4,4 Millionen Jahre alten Hominidenart Ardipithecus ramidus handeln.

Umwelt Baumart, die in manchen Ländern auch zur Papierherstellung und Gewin- Eukalyptus nung von Eukalyptusöl angebaut wird. Der Eukalyptusbaum schluckt gegen Auspuffgase 1000mal soviel Stickoxid wie zum Bei- spiel Reispflanzen.

Nicht nur die Katalysatoren im Auto- GRAFFITI auspuff, auch Eukalyptusbäume kön- nen die bei der Verbrennung von Ben-

zin entstehenden schädlichen Stickoxi- J. RÖTTGERS / de aus der Luft filtern. Dieses überra- Kühlschrank-Entsorgung schende Resultat ergaben Forschungs- arbeiten einer Studiengruppe an der ternativstoffen zählt HFC-134a, ein in Universität von Hiroschima. Die Wis- neuen Gefriergeräten und Klimaanla- senschaftler untersuchten rund 300 ver- gen weithin verwandtes Kühlmittel. schiedene Pflanzen, von Grassorten bis Gelange das Gas in die Atmosphäre, zu Bäumen, auf ihre Fähigkeit, Stick- so die Forscher, zersetze es sich in Tri- oxide wie das von Automotoren produ- fluoressigsäure, ein womöglich starkes zierte NO2 aufzunehmen. Fast alle Pflanzengift. Zwar seien die Konzen- Pflanzen absorbieren Stickoxide und trationen normalerweise gering; ver- verwenden sie zum Aufbau von Amino- schmutzte Stadtluft fördere jedoch die säuren fürihrWachstum. Alsbesonders Entstehung von Trifluoressigsäure, die effektiv bei der NO2-Verwertungerwie- etwa so aggressiv ist wie Salzsäure. sen sich bei den Laborversuchen in Ja- WILDLIFE Vom Regen zu Boden gewaschen, pan Blumen aus der Familie der Chrys- könne sich das Gift vor allem in

anthemen sowie der aus Australien M. HARVEY / Feuchtgebieten sammeln und von dort stammende Eucalyptus globulus, eine Eukalyptusbäume in den Nahrungskreislauf gelangen.

150 DER SPIEGEL 34/1995 Werbeseite

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WISSENSCHAFT

Medizin Fröhlich mit neunzig Melatonin, das Hormon aus der Zir- beldrüse, macht in den USA Karriere – als Jungbrunnen und Allheilmittel.

ussel Reiter, Zellbiologe an der University of Texas, hat einen RTraum, den er sich mit einer un- scheinbaren Pille zu verwirklichen ge- denkt. Allabendlich schluckt der Wis-

senschaftler ungefähr ein Milligramm SABA Melatonin, denn: „Ich möchte so spät Melatonin-Forscher Reiter wie möglich jugendlich sterben und Heißeste Pille des Jahrzehnts? glaube, daß dieses Hormon mir dazu verhilft.“ rem soeben in den USA erschiene- Der 58jährige Forscher propagiert mit nen Buch „Das Melatonin-Wunder“*: Leidenschaft die wundersame Wirkung „Melatonin kann den Abstieg stoppen.“ einer chemischen Substanz, die er schon Vorerst gründen sich die Verspre- seit drei Jahrzehnten erkundet. Als na- chungen, in die auch Forschergruppen türliches Schlafmittel war das im Gehirn aus Kanada und Israel einstimmen, auf gebildete Melatonin bereits erfolgreich, Tierexperimente und Beobachtungen in vor allem im Einsatz gegen den „Jet- Arztpraxen und Kliniken. Dennoch lag“. Nun sehen Reiter und andere Wis- scheint dem Melatonin, ähnlich wie zu- senschaftler in dem Stoff geradezu eine vor dem Vitamin E, eine Karriere als Wunderdroge. medizinische Modedroge sicher. Eine kleine Dosis täglich soll vor „Mit oder ohne Beweis“ sei Melato- mannigfachen Übeln schützen, vom nin auf dem Weg, „eine der heißesten Krebs bis zum grauen Star, und zugleich Pillen des Jahrzehnts“ zu werden, urteil- jung erhalten: „Niemand braucht im Al- te das amerikanische Nachrichtenmaga- ter zum Greis zu werden“, prophezeien zin Newsweek. In amerikanischen Drug- die Immun- und Alternsforscher Walter stores ist das Hormon, als Dragee oder Pierpaoli und William Regelson in ih- Kapsel, ohne Rezept und billig zu ha- ben. Die Hersteller verzeichnen steil an- steigende Umsätze. * Walter Pierpaoli, William Regelson: „The Mela- tonin Miracle“. Simon & Schuster, New York; 256 Der vielseitige, unlängst von briti- Seiten; 21 Dollar. schen Wissenschaftlern erstmals synthe- H. CHRISTOPH / DAS FOTOARCHIV Versuchsperson im Schlaflabor: Taktgeber aus der Drüse

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Werbeseite WISSENSCHAFT tisierte Stoff kann offenbar biologische im Zellkern selbst gibt“ – eine Voraus- Prozesse beeinflussen, die Wohl und setzung für die Hypothese, Melatonin Wehe des Organismus maßgeblich be- könne auch die Erbanlagen vor dem Zu- stimmen: Melatonin, so glauben die drei griff der Freien Radikalen schützen. Forscher, stärke durch Wechselwirkung Daß die vielfältigen Effekte des mit anderen Körpersäften die Immun- „Überhormons“ bald „therapeutische kräfte. Konsequenzen“ haben würden, hatte Auch könne das Hormon die Attak- bereits Mitte der achtziger Jahre Ri- ken der sogenannten Freien Radikalen chard Wurtmann vorausgesagt, Melato- abwehren, Substanzen, die durch Sauer- nin-Forscher am Massachusetts Institute stoffeinwirkung Zellmembran und Zell- of Technology in Cambridge. Wurt- kern schädigen und so den Organismus mann hatte damals, mit Megadosen von anfällig für Altersgebresten wie die Alz- 240 Milligramm, an Freiwilligen gete- heimersche Krankheit, Krebs oder stet, ob sich die mysteriöse Substanz als Herzleiden machen. Schlafmittel verwenden ließe. Bislang war das von der erbsengroßen Tatsächlich gelang es in späteren Stu- Zirbeldrüse im Gehirn abgesonderte dien, mit Melatonin in das Bio-Uhrwerk Melatonin vor allem als Taktgeber von beispielsweise bei Flügen über verschie- Biorhythmen bekannt. Die Ausschüt- dene Zeitzonen einzugreifen. Auch bei tung des Wirkstoffs wird übers Auge ge- anderen Schlafstörungen erwies sich die Melatonin-Kur als wirksam. Eine abend- Zirbel- Zeitzünder für Biorhythmen liche Dosis von 2,5 bis drüse 10 Milligramm verhalf Gelangt Licht auf die beispielsweise Kin- Netzhaut, wird die dern, die unter Epilep- Melatoninproduktion sie, Down-Syndrom, in der Zirbeldrüse gedrosselt Autismus oder an- Bei Dunkelheit wird das deren neurologischen Hormon Melatonin ver- Störungen litten, zur mehrt ausgeschüttet normalen Nachtruhe. Begeisterte Eltern hät- ten berichtet, daß ihre 125 Kinder zum erstenmal Melatoninmenge im menschlichen durchgeschlafen hät- 100 Blut; nächtliche Durchschnittswerte ten, erinnert sich in Pikogramm (billionstel Gramm) 75 James Jan, Arzt am pro Milliliter Children’s Hospital im 50 kanadischen Vancou- ver. 25 Melatonin als „na- 0 türliche Schlafpille“, Quelle: Newsweek Alter 10 20 30 40 50 60 70 80 90 so glauben nun viele Ärzte in den USA, mache nicht süchtig steuert, sie ist reichlich während der und unterdrücke auch nicht, wie manch Dunkelheit, Licht hingegen bremst die anderes Schlafmittel, die erholsamen Freisetzung. REM-Phasen. Auf diese Weise reguliert Melatonin Als wahrhaft revolutionär jedoch be- bei Menschen und anderen Säugern die zeichnen sie die vermutete Fähigkeit des innere Uhr, aber auch den Takt ganzer Hormons, den Niedergang des altern- Lebensphasen wie Pubertät, Wachstum den Organismus aufzuhalten. Das Nach- oder Fruchtbarkeit. Dabei bildet die lassen der körpereigenen Abwehrkräf- Zirbeldrüse in jungen Jahren die größ- te, die weniger leicht als in jugendlichen ten Mengen Melatonin, mit zunehmen- Jahren mit Viren und krankmachenden dem Alter nimmt die Produktion ab Bakterien fertig werden, könne mit Me- (siehe Grafik). latonin verhindert werden, meinen die Wie und wo Melatonin-Moleküle auf Mediziner Pierpaoli und Regelson, die die Zelle wirken, müssen Grundlagen- etliche Studien über ihr Wundermittel in forscher erst noch herausfinden; den den Annalen der New York Academy of verheißenen Wunderwirkungen stehen Sciences veröffentlicht haben. sie meist skeptisch gegenüber. Nahezu Frankensteinsche Dimensio- Vorerst konnten nur Rezeptoren lo- nen hat ein Experiment, bei dem Pier- kalisiert werden, die es dem Melatonin paoli jeweils zehn jungen und zehn alten ermöglichen, an den Zellmembranen Labormäusen die melatoninproduzie- festzumachen. Immerhin, so Horst- renden Zirbeldrüsen herausoperieren Werner Korf, Melatonin-Forscher und und sie anschließend der anderen Mäu- Anatom an der Universitätsklinik segruppe einpflanzen ließ. Frankfurt, „verdichten sich die Hinwei- Bald nach der Transplantation hum- se, daß es zusätzlich auch Rezeptoren pelten die mit der Senioren-Drüse aus-

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WISSENSCHAFT

gestatteten Jungnager träge umher, ihr tor, Mitarbeiter der Zeitschrift National Fell wurde schadhaft, grauer Star trübte Meeresbiologie Geographic und US-Vertreter bei der die Augen. Die mit jugendfrischen Zir- Internationalen Walfangkommission, beldrüsen beglückten Altmäuse hinge- stellt den schaurigen Erzählungen und gen zeigten sich lebendiger, mit dickem, Mythen, die überliefert sind, die Ergeb- glänzendem Haarkleid und vermehrter Saugende nisse der modernen Tiefseeforschung Muskelmasse. gegenüber. Sein Fazit: Viele einst sa- Bei der Autopsie der Mäuse fanden genhafte Monster existieren tatsächlich. die Experimentatoren, was sie als Ursa- Tentakeln Es sei nur natürlich, schreibt Ellis, che für die Veränderungen ansehen: daß Menschen zu allen Zeiten an der Der hinter dem Brustbein gelegene Thy- Ein Amerikaner hat Hunderte von Existenz solcher Kreaturen, auch wenn mus, eine für die Immunfunktion wichti- Berichten über Seeungeheuer aus- sie real waren, gezweifelt und einschlä- ge Drüse, hatte sich bei den alten Tieren gige Berichte für Übertreibungen gehal- gekräftigt, bei den Jungen war der Thy- gewertet. Ergebnis: Die meisten ten hätten. „Manche Meerestiere sind mus nach Einpflanzen der abgeschlaff- gibt es wirklich. so unglaublich, daß man sie leichter für ten Zirbeldrüse verschwunden. Fabelwesen hält als für real.“ Der Verlust der Abwehrzentrale Thy- Andererseits wimmelt es in den An- mus, so das Fazit, gehe auf den künst- rei Meilen vor der Küste Neu- nalen seefahrender Nationen von un- lich herbeigeführten Melatonin-Mangel fundlands machten Daniel Squires glaubwürdigen Nachrichten über abstru- zurück. Andere Zellforscher verspotten Dund Theophilus Piccot eine grau- se Meeresgeschöpfe: das Experiment: Es sei mit einem sige Entdeckung. War es ein Wrack- i Olaus Magnus, schwedischer Erzbi- Zuchtmäusestamm gemacht, der gar teil, das da vor ihrem Boot aus dem schof und Urheber einer einflußrei- nicht imstande sei, Melatonin zu bilden. Atlantik ragte, war es ein verwesender chen Naturgeschichte, will im Jahr Auch aus Labors an italienischen, is- Fisch oder eine riesige Qualle? Mit 1555 eine sechs Meter dicke See- raelischen und schweizerischen Institu- dem Bootshaken stach Squires in die schlange mit Mähnenkopf beobachtet ten kommen indessen Berichte, daß ei- Gallertmasse, um sie an Bord zu hie- haben, die in einer Höhle nahe der ne nächtliche Dosis Melatonin dem von ven. Stadt Bergen hause. Seine Bleibe ver- Alter, Medikamenten oder Streß ge- Plötzlich schoß ein Fangarm aus dem lasse das genießerische Monster aber schwächten Immunsystem wieder auf- Wasser. Das armdicke Tentakel legte nur in schönen Sommernächten. helfen könne. Die Fähigkeit von Mäu- sich um das Boot und begann, es lang- Dann jage es Kälber und Hummer. sen, schwere Hirninfektionen zu überle- sam in die Tiefe zu ziehen. Der zwölf- i Vom „größten Ungeheuer aller Zei- ben, hätte sich nach Gabe von Melato- jährige Tom, Piccots Sohn, rettete der ten“ berichtet Erik Pontoppidan, nin verdoppelt. Besatzung das Leben. Geistesgegen- ebenfalls skandinavischer Bischof und Reiter und seine Mitarbeiter erregten wärtig ergriff der Junge eine Axt und Autor der 1755 erschienenen Natur- Aufsehen mit Versuchen, in denen sie hieb den Fangarm ab. geschichte von Norwegen. Eineinhalb Schutzwirkungen nachzuweisen ver- Das Organ, sechs Meter suchten, die auf die Eigenschaft des Me- lang und besetzt mit Hunder- latonin als „Radikalen-Fänger“ zurück- ten von münzgroßen Saugnäp- gehen sollen. Ob krebsauslösende Che- fen, lieferten die Heringsfi- mikalien, radioaktive Strahlung oder scher noch am selben Tag, es Giftsubstanzen, die grauen Star auslö- war der 17. Oktober 1873, sen können – Ratten, die mit Melatonin beim Pfarrer in der Provinz- behandelt worden waren, blieben von hauptstadt St. John’s ab. Der den Übeln weitgehend verschont. schickte es zur Untersuchung Nebenwirkungen, die dem Melato- an die Yale University in New nin-Fan Reiter den Appetit auf seine Haven (Connecticut). tägliche Dosis verderben könnten, wa- Zoologieprofessor Addison ren bisher nicht nachzuweisen. Behörd- Verrill identifizierte den liche Wissenschaftler, die den Auftrag furchterregenden Fund als Teil erhielten, in Tierversuchen die tödliche eines unbekannten Riesenkra- Menge zu ermitteln, blieben erfolglos: ken und beschrieb ihn im Ame- Selbst mit Riesenmengen des Hormons rican Journal of Science.Es gelang es nicht, auch nur eine Maus um- war das erste überprüfbare In- zubringen. Nur über Magendrücken und diz dafür, daß gewaltige, un- geringfügige Schlafstörungen klagten entdeckte Meerestiere doch freiwillige menschliche Versuchsteilneh- mehr sein könnten als bloße mer, die einen Monat lang täglich die gi- Ausgeburten von Angst und gantische Dosis von sechs Gramm Mela- Phantasie. tonin gefuttert hatten. Hunderte solcher Berichte So scheuen sich die aufs Melatonin von unheimlichen Begegnun- eingeschworenen Ärzte Pierpaoli und gen in den Ozeanen hat der Regelson nicht, ihren Lesern ungeahnte New Yorker Richard Ellis in Aussichten zu prophezeien. seinem soeben erschienenen Melatonin-Esser, so die Autoren, Buch „Monsters of the Sea“ dürften sich auf einen fröhlichen 90. Ge- zusammengestellt**. Der Au- burtstag freuen – mit einem Squash- Spiel am Nachmittag, mit Dinner und * Illustration nach dem Bericht der Jazz-Klub am Abend. „Am Tag danach Heringsfischer Squires und Piccot. ** Richard Ellis: „Monsters of the

warten Ihre Urenkel auf die versproche- Sea“. Alfred A. Knopf, New York; 432 FREE LIBRARY OF PHILADELPHIA ne gemeinsame Rollerblade-Fahrt.“ Seiten, 30 Dollar. Kampfszene mit Kraken*: Gallert vorm Bug

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Daß derlei Untersee-Monstren noch dingfest gemacht werden, ist sowenig wahrscheinlich wie ein Filmporträt über „Nessie“, das nebulöse Ungeheuer im schottischen Loch Ness, für dessen Er- greifung die ehrwürdige New York Times 1976 eine wissenschaftliche Expedition ausrüstete – ergebnislos. Und doch bilden die Weltmeere ein schier unerschöpfliches Reservoir für Überraschungen. Auf einem Gebiet, das annähernd zwei Drittel der Erdoberflä- che umfaßt, reichen die Ozeane tiefer als 1000 Meter –einvonden Biowissenschaf- ten bisher kaum erforschtes Universum. „Wir kennen höchstens die Hälfte der

R. ELLIS Tiefseeorganismen“, schätzt Hjalmar Ozeanforscher Ellis Thiel, Leiter der Tiefseeforschung am „Manche Meerestiere sind unglaublich“ Bremerhavener Alfred-Wegener-Insti- tut. „Und über die wissen wir wenig ge- englische Meilen messe das Monster, nug.“ Letztes Jahr sichtete der Wissen- „das Seefahrer Kraken, Kraxen oder schaftler vier Meter lange Haie dort, wo Krabben nennen“. Manchmal stünden kein Meereskundler sie vermutet hätte: seine Hörner und Fangarme so hoch 500 Meter tief im Roten Meer. wie Schiffsmasten aus dem Wasser. „Wir forschen zu sehr mit den Metho- i Eine mysteriöse Seeschlange versetzte den des 19. Jahrhunderts“, klagt auch der im August 1817 das amerikanische amerikanische Meeresforscher Frede- Ostküstenstädtchen Gloucester in rick Grassle. „Schleppnetze, Sonden, Schrecken. Mehrmals sei die gewaltige Unterwasserkameras und Tauchboote, Bestie mit Haifischmaul im Hafen auf- die nur wenige Stunden in der Tiefe blei- getaucht, beeideten mehrere hundert ben können, reichen nicht aus. Mit den- respektable Bürger vor einem Unter- selben Methoden hätten wir an Land suchungsausschuß. Eine Armada von nicht einmal die Elefanten entdeckt.“ Booten stellte dem Biest nach, erfolg- Nur ein halbes Dutzend U-Boote welt- los. weit können tiefer als 6000 Meter tau- chen. Mit einem davon arbeitet BruceRobison, Direktor amOze- an-Institut im kalifornischenPaci- fic Grove. Von den einsamen Reisen mit seinem Einmann-Vehikel brachte der Meeresökologe die ersten Aufnahmen von Schnepfenaalen mit, meterlangen, leuchtenden Fischen mit Vogelkopf. Und vor wenigen Monaten fand der For- scher nahe der kalifornischen Kü- ste riesige sogenannte Staatsqual- len. Die von Robison entdeckten Nesseltiere werden länger als ein Blauwal – 40 Meter – und würden jedem Sammelband von Märchen und Sagen zur Zierde gereichen. Solche Abmessungen übertref- fen sogar noch die von Riesenkra- ken, jenen Fabelwesen, die bei Geschichtenerzählern aller Jahr-

TRONDHEIM hunderte vorkamen. So erzählt Homers „Odyssee“ von der Scyl- la, einem Untier, dessen zwölf Fangarme nicht weniger als sechs Schlünde bedienten und ihnen Delphine, Haie sowie die Matro- MUSEUM UNIVERSITY OF sen vorbeiziehender Schiffe dar- reichten. Ihre wohl schaurigsten Auftrit- te hatten Kraken in zwei Roma- nen des 19. Jahrhunderts: Ver- ZOOLOGICAL DEPARTMENT / Architeuthis-Fund*: Farbe gewechselt * 1954 in Norwegen.

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WISSENSCHAFT

zweifelt wehrt sich der Held von Victor eine U-Boot-Expedition vor den Ber- Hugos „Les travailleurs de la mer“ gegen muda-Inseln im Sommer 1992 endete er- Umwelt eine Bestie, deren krallenbesetzte Saug- gebnislos. Niemand weiß, in welcher näpfe langsam in seinen Körper eindrin- Tiefe Architeuthis lebt und wie groß gen und ihn allmählich zersetzen. In Jules ausgewachsene Tiere werden. Vernes U-Boot-Epos „Zwanzigtausend Neuen Auftrieb erhielt die Vermu- Liebe Meilen unter dem Meer“ verschlingt ein tung, daß manche Exemplare bis zu 75 Acht-Meter-Ungetüm die Seeleute des Meter messen könnten, im Mai 1988. wackeren Kapitäns Nemo. Damals entdeckte der Fischer Teddy zum Gift Vernes Phantasie-Oktopus wird von Tucker ein riesiges, tonnenschweres Ge- der Realität, wie sie die moderne For- webestück am Strand von Mangrove Botaniker experimentieren mit schung dokumentiert, noch übertroffen: Bay auf den Bermudas. Die faserige Ei- Pflanzen, die Schwermetalle fres- Mindestens zweieinhalbmal so groß wie weißmasse, etwa einen Meter dick, äh- das Jules-Verne-Geschöpf ist der – real nelte „einer Gestalt mit fünf Beinen“, so sen – ein neuer Weg zur Bodensa- existierende – Riesenkrake Architeuthis. Tucker. Meeresbiologen kamen inzwi- nierung? Einem solchen Tier waren 1873 die neu- schen zu der Ansicht, es handele sich fundländischen Heringsfischer begegnet. um einen überdimensionalen Hai. Der Fangarm, den sie nach Hause brach- „In der Tiefsee könnten durchaus ei- uf einem Schrottplatz hat der Bio- ten, war der erste handgreifliche Beweis, nige riesige, bisher unentdeckte Lebens- loge Roland Megnet sie entdeckt. daß es den sagenhaften Meeresbewohner formen existieren“, kommentierte der ABis zu vier Meter hoch schossen die tatsächlich gibt. Londoner Zoologe Paul Cornelius. Etli- Pflanzen mit den schneeweißen Blüten Fast 30 Zentimeter Durchmesser hat- che seiner Kollegen halten die Hypothe- aus dem Giftboden. Das Erdreich war ten die Augen eines toten Exemplars, das se für wahrscheinlich, derzufolge in eini- so stark mit Schwermetallen verseucht, 1880 in der neuseeländischen Island Bay gen tausend Metern Tiefe ein Schrek- daß kein anderes Kraut dort wuchs. strandete. Ein Hauptherz und zwei Ne- kensduo sein Unwesen treibt: Fußball- Das zählebige Gewächs entpuppte benherzen pumpten Blut in die zwölfMe- feldgroße Riesenkraken, so die Vermu- sich als Riesenknöterich, der vor Jahr- ter langen Fangarme. tung, liefern dort Carcharodon mega- hunderten aus Rußland eingewandert Mit den zahnbewehrten Saugnäpfen lodon, einer überdimensionalen Haiart, war. Megnet zupfte ein paar Pflanzen seiner Tentakel packt Architeuthis seine erbitterte Kämpfe. heraus und härtete sie in seinem Labor Beute und reißt sie mit dem mächtigen Unbestritten ist, daß der 20 Meter an der Uni Oldenburg weiter ab. Der Kiefer in Stücke. Werden die Tintenfi- lange Fisch, ein naher Verwandter des Wissenschaftler zog Tausende von sche selbst angegriffen, wechseln sie in- Weißen Hais, noch vor einigen tausend Pflanzenzellen in einer mit Cadmium Jahren die Meere be- und Blei getränkten Nährlösung auf. völkerte: So alt sind Nur die Stärksten kamen durch. riesige Reißzähne die- Mit seiner Brachial-Zucht hat Megnet ses Tieres, die auf aus dem Riesenknöterich einen Metall- dem Pazifikgrund ge- fresser gemacht, der noch 50 Prozent funden wurden. Sie mehr Zink und Blei schlucken kann als lassen auf ein Maul die Wildpflanze. Die Gewächse spei- schließen, mit dem die chern die dem Boden entzogenen Bestie mühelos eine Schwermetalle in ihren Wurzeln und Kuh hätte verschlin- Blättern. Wie Freilandversuche erga- gen können. ben, vermögen die schnell wachsenden Auch See-Autor El- Kräuter pro Hektar jährlich 1,3 Kilo- lis spekuliert über den gramm Cadmium, 24 Kilogramm Blei Großräuber: Mögli- und 322 Kilogramm Zink aus dem Erd- cherweise habe die reich herauszuholen. gängige Bibelausle- Die Pflanzen mit der Liebe zum Gift gung doch unrecht, es sollen deshalb helfen, verseuchte Böden sei nämlich viel wahr- zu reinigen. Die Oldenburger Firma Pic- scheinlicher, daß Jona coplant (gegründet von Megnets ehema- sich in den Eingewei- liger Mitarbeiterin Elke Haase) hat da- den eines solchen Un- mit begonnen, den russischen Riesen-

THE GRANGER COLLECTION tiers wiederfand als in knöterich als Giftfresser zu verkaufen. Meeresungeheuer*: Schaurige Auftritte denen eines plankton- Haase: „Wir haben viele Anfragen.“ fressenden Wals. Einer ihrer ersten Kunden ist die nerhalb von tausendstel Sekunden die Seit jenen biblischen Zeiten ist nir- Bundeswehr. Die Wehrwissenschaftli- Hautfarbe. Schrillbunte Streifen sollen gendwo mehr von dem weißen Super- che Dienststelle im niedersächsischen den Gegner verwirren – und die Ge- hai die Rede. Für jene, die trotzdem Munster hat die Piccoplant-Gewächse schlechtspartner faszinieren, bevor bei an seine Existenz glauben und mit sei- auf einem arsenverseuchten Truppen- der Paarung das Männchen dem Weib- nem allfälligen Auftauchen rechnen, übungsplatz angepflanzt, wo während chen mit den Fangarmen seine Samen- beweist das wenig: Hatte doch erst der beiden Weltkriege Chemiewaffen pakete reicht. 1976 ein amerikanisches Schiff zufällig abgefüllt wurden. Zwei Jahre nach der Noch niemand hat ein lebendes, voll- einen bis dahin völlig unbekannten Anpflanzung war der Giftstoff im Bo- ständiges Architeuthis-Exemplar gese- tonnenschweren Hai aus dem Ozean den „nicht mehr nachweisbar“, berich- hen. Die Biologen sind auf Strandfunde gehievt. tet Bundeswehrforscher Klaus Feller. angewiesen: Den Treibnetzen der For- Megachasma pelagios tauften die Der Riesenknöterich ist nicht das ein- scher entwischt der schnelle Tintenfisch, Forscher damals die neuentdeckte Art, zige Grünzeug, das große Mengen von zu deutsch: das Riesenmaul der Tief- Schwermetallen vertilgen kann. Indi- * Holzschnitt aus Frankreich, 16. Jahrhundert. see. scher Senf beispielsweise mag gern Blei

158 DER SPIEGEL 34/1995 . P. FRISCHMUTH / ARGUS Biologin Haase, Riesenknöterich: Unkräuter werden zu Erzminen

und Chrom, das alpine Hellerkraut be- Mikroorganismen zugrunde; der Boden vorzugt Zink und Cadmium, Hibiskus ist nach der Sanierung biologisch tot. reichert in seinen Blättern Kobalt an. Ein weiterer Vorteil der pflanzlichen Mehr als 200 Forscher, so stellte sich Bodenreinigung: Werden die mit Metal- vor einigen Wochen auf einer Konfe- len angereicherten Gewächse nach der renz im amerikanischen Columbia her- Ernte verbrannt, lassen sich aus ihrer aus, fahnden inzwischen weltweit nach Asche die Rohstoffe zurückgewinnen – Pflanzen, die extrem hohe Mengen von Unkräuter werden zu Erzminen. Schwermetallen aufnehmen können. In der kalifornischen Sierra Nevada „Das Interesse an der pflanzlichen Bo- haben Forscher auf nickelhaltigen Bö- densanierung hat in den letzten Jahren den versuchsweise Senfpflanzen ausge- explosionsartig zugenommen“, sagt der sät. Der an dem Projekt beteiligte Che- Botaniker Norman Terry von der Uni- miker Larry Nicks schätzt, daß die Ge- versity of California in Berkeley. wächse „bis zu elf Gramm Nickel pro Viele Ökofirmen wittern ein großes Quadratmeter speichern“ können. Geschäft: Der Anbau von Pflanzen ko- Hochgerechnet auf einen Quadratkilo- stet zehnmal weniger als herkömmliche meter Anbaufläche macht das elf Ton- Sanierungsverfahren – und ist zudem nen Nickel – wofür man auf dem Welt- weit schonender. markt rund 13 000 Mark erhalten würde. Bislang wird schwermetallverseuchtes Für ihren eigenen Stoffwechsel benö- Erdreich erst ausgehoben und dann in tigen die Gewächse nur einen Bruchteil riesigen Waschmaschinen gereinigt oder solcher Mega-Konzentrationen. Damit in Spezialöfen bei bis zu 800 Grad Hitze die überschüssigen Metalle die Pflanzen verbrannt. Dabei gehen Millionen von nicht vergiften, werden die Schadstoffe in den Vakuolen – Speichertanks, die in den Pflanzenzellen schwimmen – endge- lagert. Vor kurzem haben amerikanische Bo- taniker erstmals aufgeklärt, weshalb ei- nige Gewächse in ihren Zellen hochpro- zentige Schwermetall-Cocktails aufbe- wahren: Die Pflanzen verwenden diese schädlichen Stoffe als C-Waffen gegen gierige Schmarotzer. Die US-Forscher setzten Insektenlar- ven auf die Blätter von Senfpflanzen, die auf unterschiedlichen Böden wuch- sen: Der eine Teil wurzelte in normaler, der andere in nickelhaltiger Blumener- de. Nach zwei Wochen waren in dem nor- malen Beet die Senfpflanzen kahlgefres- sen. In dem Nickelbeet hingegen lagen fast alle Insekten tot auf den Blättern. Y T. RAUPACH / ARGUS Anbau von Riesenknöterich* * Auf dem Truppenübungsplatz der Bundeswehr Verseuchter Boden gereinigt in Munster.

DER SPIEGEL 34/1995 159 .

TITEL

Dichter und Kritiker: ein Paar Selten hat ein Buch schon vor seinem Erscheinen soviel Aufsehen erregt wie „Ein weites Feld“, der Deutschland- Roman von Günter Grass. Seit Kritiker Marcel Reich-Ranicki im April dieses Jahres dem Autor bei einer Lesung daraus applaudierte, wartet alle Welt gespannt auf sein Urteil – es wurde ein Brief von grimmiger Melancholie.

ichts Geringeres der Grass-Kollege als Bei der ersten Lesung aus dem Ro- als den Roman stiller Begleiter durch man im April dieses Jahres spendete der Nseiner Epoche die Seiten. Und auch Kritiker Marcel Reich-Ranicki, der wollte er schreiben: eine andere Idee wur- Grass nach Frankfurt eingeladen hatte, „Dies eine Mal wußte de beim Indien-Auf- stehend Beifall. Seither wartet die Lite- ich, was ich wollte und enthalt 1986/87 gebo- raturwelt auf kein Urteil zum neuen Ro- was ich mir aufgab.“ ren: den Romanhelden man so gespannt wie auf das des „Frank- Thomas Mann saß in aus Hans Joachim furter Rezensenten“ (so Grass einmal in Amerika und mühte Schädlichs „Tallhover“ Anlehnung an Lichtenberg). Der Chef- sich immer noch mit (1986) wiederauferste- kellner der Kritik serviert diese Woche dem „Doktor Fau- hen zu lassen – mit im SPIEGEL (siehe Seite 162). stus“, als der Zweite Wissen Schädlichs. „Wer hier auf boshafte Witze und auf Weltkrieg zu Ende Aber erst die sich hämische Seitenhiebe wartet, der soll ging, erst in Europa, anbahnende politische nicht auf seine Rechnung kommen“, dann in Asien. Vereinigung Deutsch- schreibt Reich-Ranicki, 75, einleitend in Deutschland war das lands, so berichtet der einer harschen Kritik, die in der Form Thema des entstehen- Autor, habe dem Ro- eines bekenntnishaften Briefes an den den Romans. Der da- manprojekt Ziel und Kritisierten daherkommt. mals 70jährige Autor Richtung gegeben. Die Abweichung vom Rezensionsritu- war stolz darauf, daß Und so bilden sie nun al erklärt sich aus der langen gemeinsa- „das Deutsche zur ein literarisches Paar: men – und verzwickten – Geschichte der Grund-Conception des Neuer Grass-Titel Fonty, der ehema- beiden Heroen. Seit dem Debütroman Buches gehört und sei- lige DDR-Bürger, der „Die Blechtrommel“ (1959) folgt der nen tiefsten Gegenstand bildet“. Das nach der Wende als Bote in der Treu- sperrige Buch, im Januar 1947 abge- handanstalt arbeitet, und Tallhover, den schlossen, konnte dort, im geschlagenen Grass zu Hoftaller wendet, Spitzel wie Land, erst 1948 erscheinen, in einer eh und je, mit Fontanes ebenso wie mit Startauflage von immerhin 30 000 Fontys geheimsten Schicksalswegen aus Stück. Stasi- und anderen Geheimdienstakten Fast 50 Jahre danach wieder ein Wäl- vertraut. zer über Deutschland, diesmal gleich Die beiden plaudern, flanieren durch mit einer Startauflage von 100 000 Ex- Berlin und Umgebung und können nicht emplaren an deutsche Buchhandlungen einmal jetzt voneinander lassen, wo die ausgeliefert: „Ein weites Feld“*. DDR nicht mehr ist. Während die bei- Sein Autor ist Günter Grass, 67, der den im Trabi sitzen oder gemeinsam berühmteste lebende deutsche Schrift- wassertreten, reden sie vor allem über steller, seit Jahren auf der Vorschlagsli- Deutschland. Berichtet wird das alles ste für den Literaturnobelpreis. Nahezu von Mitarbeitern des Potsdamer Fonta- fünf Jahre hat Grass für das Schreiben ne-Archivs („wir vom Archiv“). des voluminösen Opus gebraucht: „Ein weites Feld“ spielt kurz nach knapp 800 Seiten sind es geworden, und dem Mauerfall, greift aber zugleich weit leicht hätten es 2000 werden können, zurück ins vorige Jahrhundert. Vor al- wie er dem SPIEGEL verriet: „Ich habe lem sei es ihm darauf angekommen, so viel weggelassen.“ Grass, „den gegenwärtigen Prozeß der Der Titel des Romans zitiert Theodor deutschen Einheit vor dem Hintergrund Fontanes Roman „Effi Briest“. Fontane der ersten Einheit von 1870/71 ablaufen (1819 bis 1898) spielt auch, verkleidet in zu lassen“. einen heutigen Wiedergänger namens Ein Kraftakt. Entsprechend haut, seit Theo Wuttke alias Fonty, die Hauptrol- Monaten, der Steidl Verlag auf die Wer- le im Buch. Schon im Kalkutta-Tage- bepauke. Das Wort vom „Jahrhundert- buch „Zunge zeigen“ (1988) geisterte roman“ machte die Runde, als noch

nicht einmal eines der 4500 Vorabexem- TEUTOPRESS * Günter Grass: „Ein weites Feld“. Steidl Verlag, plare an Buchhändler und Kritiker ver- Grass-Kritiker Reich-Ranicki Göttingen; 784 Seiten; 49,80 Mark. schickt war. Wenig Trost für den Dichter

160 DER SPIEGEL 34/1995 . M. ZUCHT / DER SPIEGEL Autor Grass: Die Zwangsehe mit dem Kritiker mündet immer wieder in Enttäuschung

Kritiker den Spuren des Dichters. Grass Die zunehmende Härte in der Aus- Mahners Günter Grass führte den sieht darin eine Art Zwangsehe. einandersetzung zwischen Autor und Schriftsteller in den sechziger Jahren an Die Liaison litte´raire begann gleich Rezensent hatte (und hat) nichts mit die Seite der SPD, 1965 wurde er erst- mit einer Fehlzündung, denn Reich-Ra- Antipathie zu tun; sie verrät, im Gegen- mals auch zum SPD-Wahlredner nicki mochte die „Blechtrommel“, den teil, eine tiefgründige wechselseitige („Loblied auf Willy“). späteren Welterfolg, nicht besonders Hochachtung. Das jeweilige Enttäuscht- Schon 1967 plädierte er für eine bal- und mäkelte kleinkariert daran herum. sein des einen vom anderen resultiert dige Konföderation beider deutscher Später hat er eine selbstkritische Revisi- aus ungewöhnlich hochgespannten Er- Staaten: „Es gilt einen Anfang zu wa- on dieses Fehlurteils verfaßt. wartungen auf beiden Seiten. gen, denn die Zeit arbeitet nicht für Auf Reich-Ranicki konnte sich Grass Reich-Ranicki hoffte stets, Grass wer- uns.“ Und 1970 schien es ihm gewiß zu nie verlassen. Da mochte der Kritiker de eines Tages der Repräsentant der sein: „Es wird keine Vereinigung der noch so sehr die Novelle „Katz und deutschen Nachkriegsliteratur sein – ne- DDR und der Bundesrepublik unter Maus“ (1961) oder den Gedichtband westdeutschen Vorzeichen geben.“ „Ausgefragt“ (1967) loben, schon mit Als dann 1989 die Berliner Mauer ge- dem Roman „Örtlich betäubt“ (1969) Der Schreckensort öffnet wurde, fürchtete er öffentlich, sah er den Schriftsteller „auf einem Tief- Auschwitz verbietet daß nun in der Bundesrepublik „das punkt seines Weges“ angelangt. Und so Wiedervereinigungsgeschrei wieder los- ging es weiter: „Der Butt“ (1977) war den Einheitsstaat geht“. Je deutlicher die Auflösung der für ihn „ein künstlerischer Fehlschlag“, DDR sich abzeichnete, desto schriller „Die Rättin“ (1986) fand er „ungenieß- ben Heinrich Böll, und, nach dem Tod wurde die Widerrede von Grass. Zuletzt bar“, die Erzählung „Unkenrufe“ des Kölner Nobelpreisträgers, auch an – 1990 – beschwor er gar Auschwitz als (1992) ein „Malheur“. Bölls Stelle. Grass seinerseits träumte „Ort des Schreckens“, der einen deut- Da blieb dem Dichter wenig Trost: vom Segen des prominentesten deut- schen Einheitsstaat verbiete. Als der Freundliches zur Erzählung „Das Tref- schen Literaturkritikers, dessen Plä- dann doch kam, geißelte der Autor das fen in Telgte“ (1979) und insgesamt, bei doyers sogar bei der Stockholmer No- „menschenverachtende“ Treiben der aller Kritik, die wiederkehrende, aber belpreis-Jury wahrgenommen werden Treuhand. eben auch ein wenig gönnerhafte Be- und dessen Urteile in der ZDF-Sen- Hat sein politisches Engagement den teuerung des Rezensenten, Grass zähle dung „Das literarische Quartett“ Tau- Schriftsteller Grass beschädigt? Ist er zu den „größten Meistern der deutschen sende von Buchhändlern (und Lesern) über den politischen Ärger auch als Ro- Sprache unserer Zeit“. mobilisieren. Am Donnerstag dieser mancier übellaunig geworden? Wie der Romanheld Fonty seinen Woche wird sich das TV-Quartett auch Der Roman „Ein weites Feld“ ist, wie „Tagundnachtschatten“ Hoftaller nicht über den neuen Grass-Roman beu- Reich-Ranicki darlegt, von den politi- abschütteln kann, so blieb Reich- gen. schen Ansichten des Autors nahezu er- Ranicki an der Seite von Grass als treu- Wie das Beispiel Böll lehrt, ist in drückt worden. Am Ende, so scheint es, er, wenn auch häufig unbequemer und Deutschland die Rolle des ersten lite- ist dem Erzähler Grass gerade die Aus- unerwünschter Begleiter. Das seltsame rarischen Repräsentanten nicht ohne sicht, der erste literarische Repräsentant Paar ist längst in die deutsche Literatur- auffällige politische Zwischenrufe zu des Landes werden zu können, zum geschichte eingegangen. haben. Die Karriere des politischen Verhängnis geworden.

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TITEL ...undesmuß gesagt werden Ein Brief von Marcel Reich-Ranicki an Günter Grass zu dessen Roman „Ein weites Feld“

ein lieber Günter Grass, es gehöre „zu den schwierig- sten und peinlichsten Aufgaben des Me´tiers“ – mein- Mte Fontane –, „oft auch Berühmtheiten, ja, was schlimmer ist, auch solchen, die einem selber als Größen und Berühmtheiten gelten, unwillkommene Sachen sagen zu müs- sen“. Aber – fuhr er fort – „schlecht ist schlecht, und es muß gesagt werden. Hinterher können dann andere mit den Erklä- Grass-Kritiker Reich-Ranicki, Autor Grass*: „So müssen wir rungen und Milderungen kommen“. Das ist, ziemlich genau, meine Situation. ben denn als Erzähler, als Romancier. Kritik und Publikum Ich halte Sie für einen außerordentlichen Schriftsteller, haben Ihre „Rättin“ und Ihre „Unkenrufe“ und auch zwei mehr noch: Ich bewundere Sie – nach wie vor. Doch muß ich oder drei kleinere Bücher mit großer Entschiedenheit und sagen, was ich nicht verheimlichen kann: daß ich Ihren Roman meist auch sehr schroff abgelehnt. Das mag einer der Gründe „Ein weites Feld“ ganz und gar mißraten finde. Das ist, Sie Ihrer Krise sein. Ein anderer hat wohl mit der Politik zu tun. können es mir glauben, auch für mich sehr schmerzhaft. Sie In den sechziger Jahren (nicht etwa früher!) wurden Sie aus haben ja in dieses Buch mehrere Jahre schwerer und gewiß einem im Grunde apolitischen Künstler ein leidenschaftlicher auch qualvoller Arbeit investiert. Sie haben, das ist unver- kennbar, alles aufs Spiel gesetzt: Es ist das umfangreichste Werk Ihres Lebens geworden. Was soll ich also tun? Den tota- len Fehlschlag nur andeuten und Sie schonen, Sie also wie ei- nen „matten Pilger“ (auch ein Fontane-Wort!) behandeln? Nein, das nun doch nicht. Nur eins verspreche ich Ihnen: Wer hier auf boshafte Witze und auf hämische Seitenhiebe wartet, der soll nicht auf seine Rechnung kommen. Denn schließlich geht es um eine todernste Sache – jedenfalls für Sie. Wollten Sie einen Roman über Fontane schreiben? Wohl kaum. Sie wissen doch, daß es längst einen solchen Roman gibt und daß ein Konkurrenzkampf mit jenem, der ihn verfaßt hat, leichtsinnig, wenn nicht aussichtslos wäre. Und das ist kein anderer als Fontane selber: Aus seinen Briefen und Erin- nerungen, Tage- und Reisebüchern, auch aus seinen Kritiken und nicht zuletzt aus seinen Romanen und Novellen ergibt sich ein Autoporträt, dem sich beides entnehmen läßt – wie er war und wie er gesehen werden wollte. Nein, nicht über Fontane, vermute ich, wollten Sie schreiben, sondern zunächst und vor allem über Deutschland und Berlin in den Jahren des Unter- gangs der DDR und also der Wiedervereinigung. Wie beinahe alle erfolgreichen Autoren gelten auch Sie – diesen Ruf verdanken Sie natürlich Ihren Kollegen – als grö- ßenwahnsinnig. Ich bin da ganz anderer Ansicht. Nicht Grö- ßenwahn, so will es mir scheinen, hat Ihre literarische Produk- tionskraft in den achtziger und in unseren neunziger Jahren stark beeinträchtigt, sondern eher Unsicherheit, genauer: mangelndes Selbstvertrauen. Fast habe ich den Verdacht, daß Sie jetzt mehr an Ihr Talent als Zeichner und Graphiker glau- DPA * Im April in Frankfurt am Main. Autor Grass, Politiker Brandt (1965): Bitter enttäuscht

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halten sollte. Statt alle Skrupel und Hemmungen zu überwin- den (ich weiß schon: solche Skrupel und Hemmungen sind bei einem weltberühmten Autor, der nicht mehr der Jüngste ist, besonders groß) und über Personen, Schauplätze und Bege- benheiten so direkt und deftig, so süffig und saftig zu schrei- ben, wie nur Sie es können, statt sich also für die Flucht nach vorn zu entscheiden, hielten Sie einen weiten Umweg für nö- tig. Und jetzt sind wir wieder bei Fontane. Sie lieben Fontane. Wer liebt ihn nicht? Zugleich imponiert er Ihnen als Kollege vom Fach. Weil er ein ganz großer Kön- ner ist, einer, der sein Handwerk scheinbar spielend be- herrscht? Gewiß, aber da ist noch etwas anderes. Der alte Stechlin – sagt Pastor Lorenzen in seiner Totenrede – sei das Beste gewesen, was wir sein können: „ein Mann und ein Kind“. Man hat diese Worte oft auf Fontane selber bezogen und zu Recht. Was bedeuten sie, wenn wir an seine Schriftstel- lerei denken? Daß er beides auf einmal war: kritisch und naiv. Und beides in höchstem Maße. Die Synthese aus Kritizismus und Naivität ist das Geheimnis seiner Unmittelbarkeit und Gelassenheit, seiner Unbekümmertheit und Souveränität – und damit zugleich das Geheimnis seines Erzählens. In einigen Kapiteln Ihrer „Blechtrommel“ und in „Katz und Maus“ ist diese Naivität sehr wohl zu spüren. Später verküm- merte sie und kam Ihnen schließlich abhanden – und das ist, vielleicht, die Krux Ihrer Epik. Fonta- ne, mögen Sie gedacht ha- ben, wäre Ihrem Thema

DPA schon gerecht geworden, stöhnend in Kauf nehmen, daß Sie sich ständig wiederholen“ etwa mit der Geschichte einer Berliner Familie so Amateurpolitiker. Diese Vokabel sollte Sie nicht kränken: zwischen 1987 und 1992. Schriftsteller, die sich der Politik zuwenden, agieren so gut wie Doch er und sein Werk – immer als Amateure – und wenn Sie Berufspolitiker werden, sie sind in jeder Hinsicht dann schaden Sie der Literatur, ohne der Politik zu nützen. Produkte des 19. Jahrhun- Nein, Ihren Beruf wollten Sie im Ernst nie wechseln, aber an der derts. Auch in der Phan- Anerkennung als Politiker war Ihnen doch sehr gelegen. In der tasie lassen sie sich nicht Tat: Willy Brandt suchte Ihren Ratschlag – und hat Sie bald bit- in unsere Zeit übertragen. ter enttäuscht. Denn er brauchte Sie, solange er um die Macht Aber solche Gedanken- kämpfte – und als er Bundeskanzler war, wollte er von Ihnen spiele haben Sie mögli- nichts mehr wissen. Irre ich mich, wenn ich vermute, Sie hätten cherweise auf die Idee ge- dies nie ganz verwunden? bracht, den Schwierigkei- Es waren auch nur Enttäuschungen, die Ihnen die deutsche ten zum Trotz Fontane zu

Politik danach bereitet hat – zumal in der Zeit um 1990. Alles Hilfe zu rufen. BPK veränderte sich, und zwar viel schneller, als wir es uns je haben Sie haben alles getan, Autor Fontane* vorstellen können. Sie standen nicht abseits, Sie nahmen an den was in Ihrer Macht war, Geschehnissen teil – als Redner und Publizist. Einladungen zu um aus Ihrem Theo Wuttke, der Fonty genannt wird, nun nicht Interviews und Diskussionen lehnten Sie nicht ab. Das ehrt Sie. gerade eine Wiedergeburt, doch immerhin eine Art Doppelgän- Allerdings vertraten Sie Anschauungen, für die die Mehrheit ger unseres Fontane zu machen: Wie sein Vorbild ist Fonty in kein Verständnis hatte. Sieblieben allein. Das spricht noch nicht Neuruppin geboren und sogar am gleichen Tag, wenn auch hun- gegen Sie. Aber das hat Ihnen einen Schmerz zugefügt, mit dem dert Jahre später. Seine Ehefrau und seine Kinder erinnern an Sie nicht zu Rande kommen konnten. Und haben Sienicht gera- jene Fontanes, wenn sie ihnen nicht gleichen. Er ist Bürobote in de damals mit der Arbeit an Ihrem Roman „Ein weites Feld“ be- der Treuhandanstalt, dennoch kleidet er sich wie Fontane und gonnen? Man hüte sich, schrieb Schiller, „mitten im Schmerz wird ihm mit der Zeit immer ähnlicher. Er identifiziert sich mit den Schmerz zu besingen“. ihm auf so ungewöhnliche Weise, daß er von dessen Romanen oder Balladen spricht, als seien es seine eigenen Arbeiten. Wäh- ie auch immer: Sie waren offensichtlich Ihrer literari- rend einer Krankheit entwirft er in Fieberdelirien neue Schlüsse schenMittelnichtsichergenug,umdas,wassichvoral- zu mehreren Romanen Fontanes. Was soll das? Wollten Sie uns WleminBerlinabgespielthat,ohnevieleUmständezum etwa beweisen, daß Sieesnichtbesser machen können alsFonta- Hintergrund einer Geschichte zu machen: Ihnen haben – und ne? Da hatten wir ohnehin keine Zweifel. wer dürfte Ihnen das verübeln? –Kraft und Mut gefehlt und jene Mit seiner Besserwisserei in Sachen Fontane und mit der ewi- Risikobereitschaft, die nötig ist, wenn man vor einem leeren gen Zitiererei geht der Bürobote Fonty allen auf die Nerven – Blatt Papier sitzt und erzählen möchte. Erzählen ist doch – da- wie jetzt ich Ihnen, mein lieber Grass. Dagegen läßt sich nichts von bin ich überzeugt – die Gegenwart erleben und das Erlebte machen. Weil ich ein professioneller Besserwisser bin? Nicht vergegenwärtigen. Aber wem sage ich das? nur. Sie können ja beinahe alles besser als ich. Doch gibt es et- Sie, mein lieber Günter Grass, meinten, Sie seien, um das Er- was, was ich mit Sicherheit besser kann als Sie – nämlich Ihr lebte vergegenwärtigen zu können, auf einen zentralen, auf ei- Buch beurteilen. Der Grund ist sehr einfach: Ich habe es nicht nen möglichst originellen, wenn nicht gar skurrilen Einfall ange- wiesen, einen Einfall, der Ihren Roman tragen und zusammen- * Gemälde von Carl Breitbach (1889).

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geschrieben. Sie wissen ungefähr oder vielleicht sogar genau, worauf Sie es abgesehen haben; und Sie können nicht verges- sen, wie das Ganze in jahrelanger Arbeit entstanden ist. Die- ses Wissen aber muß Ihre Sicht einschränken, es trübt Ihren Blick auf das in 781 Seiten vorliegende Ergebnis. Ich denke nicht daran, Ihnen zu unterstellen, Ihr betagter Bote sei ein leibhaftiger Anachronismus nur infolge eines schriftstellerischen Betriebsunfalls geworden. Nein, so haben Sie ihn gewollt. Sie lassen ja über ihn sagen: „Im Prinzip lebt Vater alles noch mal durch, was längst schon verschütt ist.“ Und: „Man denkt, draußen kutschieren se noch mit ner Pfer- debahn. Und nur Petroleumfunzeln gibt’s, kein bißchen Elek- trisch.“ Aber ist Ihnen nicht aufgefallen, daß dieser Bote, der seit vielen Jahren im selben Gebäude arbeitet (wo einst das Reichsluftfahrtministerium war, in DDR-Zeiten das Haus der Ministerien und dann die Treuhandanstalt), der das Bleibende verkörpern soll und die Tradition, daß er nichts anderes als ei- ne mühselige Konstruktion ist? Bei Lichte betrachtet, gibt es eine Figur namens Fonty in dem Roman „Ein weites Feld“ überhaupt nicht. Nur diesen Namen gibt es.

ndes: Ein Schweißfuß – diese Volksweisheit, die ich aus ei- CINETEXT nem Stück von Brecht kenne, wird Ihnen zusagen –, ein Grass-Figur Oskar Matzerath*: Wiederkehr als Ratzemath? ISchweißfuß kommt selten allein. Da in Ihrem Roman sehr wenig geschieht und Sie Hunderte von Seiten mit Reflexionen ten? Was bleibt übrig, fragten wir uns, wenn Hoftaller weg- und Mitteilungen, mit Diskussionen und Briefen füllen, fällt?“ Und etwas weiter: „Hoftaller war nicht sterblich!“ – brauchten Sie für Ihren Fontane-Narr Fonty einen ständigen sehr richtig: Was nicht lebt, kann nicht sterben. Und daß die Begleiter, einen Gesprächspartner. Um hoch zu greifen: Ih- Geschichte zweistimmig gesungen sein wollte, stimmt nicht. rem Miniatur-Faust wollten Sie einen kleinen Mephisto an die Denn eine Geschichte gibt es hier eben nicht, leider. Seite stellen. Den haben Sie aber nicht erfinden wollen, viel- Vor bald 30 Jahren meinte ich, im Grunde seien Sie, obwohl mehr haben Sie sich ihn aus dem 1986 erschienenen Roman es ein Roman war, der Sie berühmt gemacht hat, doch vor al- „Tallhover“ des Kollegen Hans Joachim Schädlich geholt. lem ein Geschichtenerzähler. Früher habe ich es bedauert, Dessen unverwüstlicher, nämlich schon 1819 geborener Ti- daß Ihnen in Ihren Romanen (anders als in Ihren glänzenden telheld personifiziert die politische Polizei, die der jeweiligen Erzählungen „Katz und Maus“ und „Das Treffen in Telgte“) Staatsmacht treu dient, die sie beschützt – vom alten Preußen keine Ganzheit gelingen will, daß Sie meist nur Bilder, Szenen über das Kaiserreich und das nationalsozialistische Deutsch- und Episoden aneinanderreihen. Jetzt bedauere ich, daß wir land bis zur DDR. Eine Märchenfigur also und wiederum eine in dem „Weiten Feld“ derartige in sich geschlossene Abschnit- Konstruktion. Nur hat dieser Tallhover bei Schädlich einen te vergeblich suchen. guten Sinn, eine klare Funktion. Mit seiner Hilfe verbindet Ihr Fonty, lesen wir, vertraute dem Ich-Erzähler an, „daß er Schädlich auf einleuchtende Weise sich leergeschrieben habe“. Um Gottes willen, sollte das für Episoden, die in verschiedenen Sie selber gelten? Fonty gesteht knapp: „Mein Wörtersack ist Epochen spielen. leer . . . Kein Funke will springen.“ Aber nein: Ihr Wörter- In Ihrem Buch jedoch kann Tall- sack ist nicht leer, er ist sogar prallvoll, sein Inhalt purzelt un- hover, den Sie „Hoftaller“nennen, unterbrochen heraus. Doch in der Tat will kein Funke sprin- diese übergreifende Funktion gen. Bescheidener ausgedrückt: Meist ergeben die klangvollen nicht haben. Bei Ihnen fungiert er Wörter und Wendungen erstaunlich wenig oder gar nichts. als Fontys „Schrittmacher und Deshalb müssen wir, Ihre mittlerweile leidgeprüften Leser, Aufpasser“, er ist sein „Tagund- stöhnend in Kauf nehmen, daß Sie sich ständig wiederholen. nachtschatten“. Gewiß hat Schäd- Darstellungen werden uns vorenthalten, mit Feststellungen lich Ihnen die Verwendung seiner werden wir überhäuft. Wie oft kann man uns mit der Auskunft nicht unoriginellen Figur (gern belästigen, daß die gute Stube in Fontys Familie der „Poggen- oder ungern) gestattet. Mit Ver- puhlsche Salon“ genannt wird? Mit der weltbewegenden Fra- laub: Wie hätten Sie wohl reagiert, ge, ob der Paternoster im Haus der Treuhand abgeschafft wenn ein deutscher Schriftsteller oder, wie Fonty meint, doch erhalten werden müsse, langweilt gewünscht hätte, zum Helden sei- er die Menschen seiner Umgebung. Warum müssen auch wir nes Romans den Oskar Matzerath darunter leiden? Wozu nennen Sie beinahe alle bekannten aus Ihrer „Blechtrommel“ zu ma- DDR-Schriftsteller, wenn Sie über selbige, ob es nun Becher chen – vielleicht unter dem Namen ist oder die Seghers oder Bredel, Bobrowski, Fühmann oder „Ratzemath“? Hacks, wortwörtlich nichts zu sagen haben, wenn wir mit sol-

P. PEITSCH Jedenfalls war es eine fatale chen Mitteilungen abgespeist werden wie: „die noch kürzlich Autor Schädlich Idee, neben das künstliche Ge- vom Parteikollektiv gerügte Wolf“? Nur über Heiner Müller schöpf im Mittelpunkt, neben Fon- finden sich einige (wenn auch nicht unbedingt gerechte) Sätze. ty also, noch eine Marionette hinzustellen. Das Unglück, das Rundheraus gesagt: Sie überfordern die Geduld selbst Ihrer schon geschehen war, wurde verdoppelt. Ein sosorgfältig kalku- gutwilligsten Leser. Und ganz schlimm wird es, weil Ihr mögli- lierender Artist wie Sie, Günter Grass, mußte irgendwann die cherweise etwas seniler Oberlangweiler Fonty nicht aufhören Fragwürdigkeit, ja die Unmöglichkeit dieser Konzeption schon kann, über die Romane und Novellen des von ihm so geliebten merken. Sie schreiben: „War Fonty ohne seinen Tagundnacht- Fontane zu sprechen, richtiger: zu plappern. Er kennt sie alle, schatten vorstellbar? Hätte dessen Abwesenheit nicht sogleich eine Geschichte beendet, deren Pointen vom Echo lebten und, * David Bennent in Volker Schlöndorffs Verfilmung der „Blechtrommel“ mehr oder weniger mißtönend, zweistimmig gesungen sein woll- (1979).

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seinen zahllosen Briefen. Mit Fontane- Zitaten hat man schon viel Unheil ange- richtet, übrigens auch im Dritten Reich. Kurz und gut: Es wäre besser, Sie spiel- ten mit offenen Karten, dann könnten wir nie auf die unangenehme Idee kom- men, Sie wollten uns, sich bei Fontane reichlich bedienend, ein wenig übers Ohr hauen. Freilich könnten Sie sich auf Thomas Mann berufen: Er habe in seiner „Lotte in Weimar“ authentische Äußerungen Goethes mit eigenen ver- bunden, ohne dies je erkennbar zu ma- chen. Schon wahr, nur lautete meine Antwort: Leider, leider. Denn auch Thomas Mann hat mit dieser allzu be- quemen Methode zur Verwirrung beige- tragen. Das Unglück Ihres Romans besteht wohl darin, daß Sie sich zwar unentwegt auf Fontane berufen, daß Sie ihn zitie- ren und imitieren und mitunter auch plündern, daß es Ihnen aber nicht gelin- gen will, das, worauf es hier ankommt

M. ZUCHT / DER SPIEGEL und was gerade er wie kaum ein ande- Autor Grass (auf der Insel Møn): „Was heißt hier Unrechtsstaat!“ rer deutscher Schriftsteller gekonnt hat, von ihm zu lernen – nämlich: Gedankli- er informiert uns, die wir diese Romane ebenfalls und meist ches ins Sinnliche zu übertragen, Geistiges also sichtbar und an- schon in unserer Jugend gelesen haben, über einzelne Figuren schaulich zu machen. und Motive. Aber, mein lieber Günter Grass, ich kann es ein- Das heutige Deutschland, das Ihnen ganz und gar mißfällt, sei fach nicht fassen: In Ihrem „Weiten Feld“ finden sich Tausen- zurEinheitunfähig,der alten DDR weinenSieeine kleineTräne de von Sätzen über Fontanes Epik – und darunter, sage und nach, die Zukunft der Nation sehen Sie in düstersten Farben. schreibe, kein einziger, der originell oder geistreich wäre. Wie Schon gut. Aber alles wird nur behauptet und nicht erzählt, nur ist das möglich? Ich gebe zu, ich bin ratlos, ich habe keine verkündet und nicht gezeigt. Von wem? Sie selber sagen über Antwort auf diese Frage. diese und ähnliche Themen nichts –und wie sollten Sie es, da Sie Natürlich zitieren Sie Fontane ausgiebig – und so, wie die ja in dem Roman nicht vorkommen und niemand den Erzähler Dinge liegen, muß ich sagen: Je mehr in Ihrem Buch von ihm im Buch mit Ihnen verwechseln wird. Sie lassen den alten Büro- stammt, desto besser für uns und für Sie. Die Sache ist aber boten Fonty reden und den ewigen Spitzel Hoftaller, der (unter die, daß Sie die entliehenen Texte, woher Sie sie auch genom- anderem) für das Reichssicherheitshauptamt gearbeitet hat und men haben (am häufigsten wohl aus seiner Korrespondenz), dann einMann desStaatssicherheitsdiensts war –und der zu ver- meist nicht kenntlich machen. Ihr Fonty verfaßt also viele und stehen gibt, es irgendwie weiterhin zu sein. Jedenfalls sei er, sagt lange Briefe, die in Wirklichkeit von zwei Autoren geschrie- uns Fonty, „kolossal auf dem laufenden“ und habe den „richti- ben wurden – von Ihnen und von Fontane. Aber wer hat was gen Riecher“. geschrieben? Ein Fontane-Forscher kann das vielleicht erken- Warum also ist die DDR zusammengebrochen? Hoftaller er- nen, ich kann es nicht immer. Denn, erstens, umfaßt das Werk klärt es: „Die drüben haben uns fix und fertig gemacht. Kein Fontanes Zehntausende von Seiten, und, zweitens, imitieren Wunder! Die gaben das Tempo an, wir mußten Schritt hal- Sie seinen Stil, zumal den Plauderton, gar nicht übel. ten . . . Wettlaufen, wettrüsten, biswiraußer Puste, ausgelaugt, leergeschrappt waren. Nun ist das ganze schöne Volkseigentum ahrscheinlich sind Sie auf diese Leistung besonders stolz, ich hingegen würde auf sie gern verzichten. WSeit bald 40 Jahren habe ich eine Schwäche für Ihre hämmernde, Ihre unverwechselbare Diktion in der Prosa und auch in der Lyrik, und es tut mir leid, daß es Ihnen jetzt offen- bar Spaß macht, bisweilen mit verstellter Stimme zu sprechen. Überdies entsteht durch diese Textmischung ein etwas riskan- tes Durcheinander. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. In einem Brief Ihres Fonty heißt es: „Alles, was sich deutsch nennt, wird vom Mittelmaß beherrscht.“ Das ist dumm und ärgerlich. Nun bin ich in dieser Hinsicht besonders empfindlich: Seit mir zum ersten Mal ein antisemitischer Satz an den Kopf ge- schmissen wurde – ich war noch ein Kind, und es war in einer deutschen Schule –, fürchte ich nationale und ähnliche Verall- gemeinerungen. Wir wissen ja, wohin das geführt hat. Jetzt, mein lieber Günter Grass, werden Sie vielleicht triumphieren: Ätsch, ätsch – reingefallen. Denn dieser Satz über die deut- sche Mittelmäßigkeit, werden Sie eventuell sagen, ist gar nicht von mir, sondern von unserem großen Fontane. Mag ja sein, ich bin da nicht sicher. Nur: Unsinn bleibt Unsinn.

Fontane war ein Schnellschreiber, dem (gar nicht so selten) ULLSTEIN AKG auch ein törichtes Wort aus der Feder geflossen ist, zumal in Autoren Mann, Goethe: Verwirrung mit Klassikern

168 DER SPIEGEL 34/1995 . VG BILD-KUNST, BONN, 1995 Grass-Zeichnung der Romanfiguren Fonty und Hoftaller: „Was nicht lebt, kann nicht sterben“

für die Katz . . .“ Und die Maueröffnung? Die sei von der Stasi ein Professor, der inDDR-Zeiten Ärger mit der Partei hatte und längst geplant gewesen, aber die Greise in Wandlitz wollten dem nun westliche Professoren Kummer bereiten, weil sie „sich nichts davon hören. Wassoll der Blödsinn? Solltedamit etwa die anmaßen, seinen wissenschaftlichen Rang zu evaluieren“. Er Mentalität der Staatssicherheitsleute charakterisiert werden? glaubt, es handle sich um antisemitische Schikanen, er verübt Der andere Zeitkritiker in Ihrem Roman, der alte Fonty, re- Selbstmord, denn: „Für Juden ist hier kein Platz.“ Seiner Frau det nicht vernünftiger, beispielsweise: „War siebzig-einund- empfiehlt er, nach Israel zu emigrieren. Lieber Günter Grass, siebzig nicht anders. Deutsche Einheit ist immer die Einheit der haben Siekeine Ahnung, wieesden Juden inder DDR ergangen Raffkes und Schofelinskis.“ Hier spätestens weiß man, daß der ist, haben Sienicht gehört, daß Tausende von Juden aus der ehe- alte Fonty ein hoffnungsloser Wirrkopf ist, der von der histori- maligen Sowjetunion (und auch aus anderen Ländern) in den schen Entwicklung in den letzten zehn Jahren nichts kapiert hat. letzten Jahren in der Bundesrepublik Asyl gefunden haben? Ich Die Treuhand hält er für ein Gesamtkunstwerk, ein Gegenstück habe keine Lust, mich hier über dieses Thema zuverbreiten, nur zu Bayreuth, das „Götterdämmerung en suite im Programm“ eines ist für mich sicher: Sie wissen nicht, wovon Sie reden. habe. Wer in den Mittelpunkt eines Romans einen dummen Doch kommt es noch schlimmer in Ihrem Roman: Ähnlich Menschen stellt,muß damit rechnen, daß dessen Dummheit sich wie Freundlich will auch Fonty nach der Wiedervereinigung ausbreitet und das Ganze infiziert. nicht mehr in Deutschland leben. Seiner Enkeltochter schreibt Eine knappe Beurteilung der DDR kann man im „Weiten er: „Alles sagt mir: Nichts wie raus aus dem Land, indem füralle Feld“ ebenfalls finden: „Was heißt hier Unrechtsstaat! Inner- Zeit Buchenwald nahe Weimar liegt, das nicht mehr meines ist halb dieser Welt der Mängel lebten wir in einer kommoden Dik- oder sein darf.“ Ganz abgesehen davon, daß Buchenwald auch tatur.“ Auch dies sagt Fonty. Niemand widersetzt sich seiner zu DDR-Zeiten nicht weit von Weimar lag, kommt mir das be- Ansicht, nirgends wird sie korrigiert. Im Gegenteil, in diesem kannt vor. Haben Sie nicht, lieber Günter Grass, vor einigen Roman gibt es zahlreiche, mehr oder weniger beiläufige Äuße- Jahren, als eines Ihrer Bücher von bösen Kritikern verworfen rungen über die DDR, undsiesind stets von diesem Geist, etwa: wurde, lauthals erklärt: Jetzt nichts wie raus – und sind nach In- So schlimm war es ja wieder nicht, die Leistungen sollte man dien geflogen? Und werden Sie sich jetzt wieder einmal von nicht übersehen, und auch in Wuppertal oder Bonn wird nur mit Deutschland abwenden wollen? Wasser gekocht. Aber daß ich es nicht vergesse. Da gibt es in Ihrem Buch eine Mein lieber Günter Grass:Ich möchte nichtmitIhnen überIh- Episode, die völlig aus dem Rahmen fällt. Sie schildern ein Tref- re politischen Ansichten, die ich, verzeihen Sie, nicht immer fen mit Uwe Johnson. Sieschildern es wunderbar. Das kann kei- ganz ernst nehmen kann, hier diskutieren. Es ist nicht meine Sa- ner besser als Sie. Aber es sind nur fünf Seiten von 781. che, Sieüber dieDDR zubelehren.Aber esistmein Recht, mich Es grüßt Sie in alter Herzlichkeit zuwundern. Siewissen so gut wie ich, daß das SED-Regime Mil- Ihr Marcel Reich-Ranicki lionen Menschen unglücklich gemacht, daß es Unzähligen, dar- unter, beispielsweise, unseren Kollegen Walter Kempowski und ErichLoest, Jahreihres Lebensgeraubt hat.Siewissen,bes- ser als ich, daß und wie die Literatur indiesem Land unterdrückt wurde. Sie wissen sehr wohl, daß die DDR ein schrecklicher Staat war, daß hier nichts zu beschönigen ist. Doch Ihr Roman kennt keine Wut und keine Bitterkeit, keinen Zorn und keine Empörung. Ich gebe zu, ich kann das nicht begreifen, es ver- schlägt mir den Atem. Und ich kann es um so weniger begreifen, als Sie zur generel- len und, wie ich meine, ungeheuerlichen Verurteilung der Bun- desrepublik nach der Wiedervereinigung sehr wohl fähig sind. Zu Fontys Bekanntenkreis gehört ein Jude namens Freundlich,

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KULTUR M. DARCHINGER Liebermann (M.) SPIEGEL-Redakteure*: „Ich fühle mich wie eine Marionette geführt – zu meinem Glück“

SPIEGEL-Gespräch „Beiß die Aida“ Der Komponist Rolf Liebermann über sein Comeback und seine Erfahrungen in der Opernkulisse

SPIEGEL: Herr Professor Liebermann, in werke hört, verliert die Lust, sich auszu- SPIEGEL: Und dazu dient nun das Urauf- Hamburg vermissen noch heute viele drücken. Nach 50 „Don Giovanni“-Vor- führungs-MarathoninHamburg:einKla- Musikfreunde in der Staatsoper einen stellungen bildet man sich schon ein, vier-Konzert, ein Orchester-Werk und stadtbekannten Schlohkopf, der regel- diese traumhafte Musik selbst geschrie- „Freispruch für Medea“, Ihre fünfte mäßig in der ersten Reihe rechts, Platz ben zu haben. Jetzt muß ich darum Oper. Was reizt Sie an dem Stoff? drei, hockte . . . kämpfen, als Kreativer wahrgenommen Liebermann: Ich variiere den antiken My- Liebermann: . . . mein Stammsitz als In- zu werden. thos. Es geht um den Einbruch der Män- tendant. Da habe ich 17 glückliche Jahre ner in eine friedliche Frauenwelt – der fast jeden Abend mit den Sängern gelit- Geschlechterkampf als eine Form von ten und gejubelt. Das war meine Passion. Rolf Liebermann Kolonialisierung. Deshalb istes natürlich Wenn im „Figaro“ die Gräfinden zweiten auch ein Stück über Gewalt. Musikalisch Akt mit dieser irrsinnig schwierigen Ka- meldet sich, nach Jahren schöpferi- habe ich das so gelöst: Die harmonische vatine eröffnete, dann hörte ich schon scher Abstinenz, als Komponist zu- Frauen-Gemeinschaft der Medea wird durch den geschlossenen Vorhang das rück. Ende September wird in Ham- durch ein asiatisches Gamelan-Orchester Herz der Sängerin vor Aufregung klop- burg – zu Ehren seines 85. Geburts- untermalt. Erst wenn der Eindringling fen. tages – seine Oper „Freispruch für Jason, der moderne Macho, mit seiner SPIEGEL: Jetzt feiern Sie mit fast 85 in Medea“ uraufgeführt. Der gebürtige Männerhorde das Matriarchat zerstört Hamburg ein Comeback – als Kompo- Schweizer kam 1959 als Intendant und die Frauen brutal vergewaltigt, setzt nist. Was hat Sie motiviert? zur Hamburgischen Staatsoper und mit schrillen Mißklängen das traditionel- Liebermann: Ich habe als Komponist 30 führte sie bis 1973 zu Weltruhm. le Orchester ein. Jahre lang geschwiegen und das Gefühl, Anschließend übernahm er die de- SPIEGEL: Kein gemütlicher Opernabend. unheimlich viel versäumt zu haben. Ich solate Pariser Grand Ope´ra, die er Läßt sich der „Tosca“-Liebhaber mit sol- hätte ja, statt Intendant in Hamburg und mit internationalen Stars zu neuer chen Kakophonien ins Theater locken? später inParis zusein, vielleicht 50Stücke Blüte brachte. Als Komponist hat Liebermann: Das ist eine reine Erzie- schreiben können. Aber ichwarimmer in sich Liebermann mit moderat mo- hungsfrage. In Hamburg habe ichdrei bis der Oper, und wer jeden Abend Meister- dernen Opern wie „Die Schule der vier Jahre gebraucht, um die Leute daran Frauen“ (1955) einen Namen ge- zu gewöhnen. In das Repertoire habe ich * Joachim Kronsbein und Peter Stolle im Schwei- macht. jedesJahrzweizeitgenössischeStücke ge- zer Urlaubsort Sils-Maria. schmuggelt.Der Rest bestandausden üb-

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KULTUR

randaliert. Am Ende saßen sie wie ver- steinert und rührten keine Hand. Schwei- gen. Ich habe mich dann mit zwei Freun- den furchtbar besoffen und aus Wut die drei großen Portale der Scala angepißt. SPIEGEL: Sie haben als Intendant Ihre ei- genen Stücke nie gespielt . . . Liebermann: . . . weil es unredlich ist. Der Chef darf sich nicht in die eigene Ta- sche wirtschaften. Das hat mich immer an diesem Piano-Glücksritter gestört – wie heißt er noch? Seit ich zufällig im Fernse- hen sah, wie er Haydns Trompeten Kon- zert mit Autohupen spielen ließ, hab’ ich den Namen augenblicklich verdrängt. SPIEGEL: Sie meinen den PR-Posauni- sten Justus Frantz? Liebermann: Ja, ja. Der hat sichdochpau- senlos selbst auf seinen Festivals enga- giert. Das finde ich degoutant. Ein Inten- dant soll sich nicht selbst beweihräu- chern, sondern für seine Künstler dasein. SPIEGEL: Brauchen Sänger eine beschüt- zende Werkstatt? F. PEYER Liebermann-Oper „Die Schule der Frauen“ (1958): „Der hat diesen Vogel“

lichen Schnulzen. Die Leute wa- ren ein bißchen ungnädig, aber mit der Zeit haben sie eingese- hen: Der hat eben diesen Vogel. SPIEGEL: Sie haben in Ihren Hamburger Jahren 23 Opern ur- aufgeführt. Die sind alle verges- sen. Liebermann: O nein. Fast alle Stücke wurden nachgespielt. SPIEGEL: Das ist aber lange her. Liebermann: Es waren mit Sicher- heit veritable Meisterwerke dar- unter, etwa Mauricio Kagels „Staatstheater“. Ich denke, erst im nächsten Jahrtausend wird sich zeigen, was Bestand hat für die Ewigkeit. SPIEGEL: Wenn es dann noch

Opernhäuser gibt. AFP / DPA MELANCON / METROPOLITAN OPERA NY Liebermann: Die Oper ist schon Maler Dalı´ (1955), „Turandot“-Sängerin Nilsson in der Met: „30 Schafe auf der Bühne“ so oft totgesagt worden. Die Leu- te sind zwar durch den Klangstandard der Liebermann: Es ist immer diffizil gewe- Liebermann: Mein Gott, die haben ei- CD verwöhnt. Aber esistviel amüsanter, sen, Zeitgenössisches unters Volk zu nen der schwersten Berufe, die es gibt. in einer Live-Aufführung zu sitzen, als zu bringen. In den Schönklang-Idyllen Das sind arme Hascherln. Wenn die Hause eine seelenlose Hi-Fi-Produktion Österreich und Italien gelingt das immer Agathe im „Freischütz“ ihre zweite, zu konsumieren. Das geht den Leuten noch nicht. Die Wiener Staatsoper ver- schrecklich schwere Arie vorträgt, weiß langsam auf die Nerven. Ich bin gegen weigert sich ja bis heute dem modernen ich, daß sie vorher vor Angst einen trok- diesen modischen Kulturpessimismus. Klassiker Benjamin Britten. kenen Hals bekommt. Ich muß immer Die europäische Kultur wird so lange le- SPIEGEL: Mit Ihrer Oper „Leonore aufbauen und manchmal auch exotische ben, wie es Phantasie gibt. 40/45“ sind Sie aber schon bis in die Mai- Wünsche erfüllen. SPIEGEL: Aber für den gemeinen Abon- länder Scala vorgedrungen. SPIEGEL: Welche? nenten hört der moderne Spaß beim Liebermann: Eine Katastrophe. Wäh- Liebermann: Einmal hatte sich unsere „Rosenkavalier“ auf. rend der Aufführung haben dieLeute nur Star-Sopranistin Birgit Nilsson in den

172 DER SPIEGEL 34/1995 Werbeseite

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Kopf gesetzt, den berühmtesten Puff Liebermann: Verhindern. Karajan, beim Verbrechen. Niemand hat je wieder von von Hamburg, die Herbertstraße, zu be- Salzburger Festival, war ein abschrek- der Dame gehört. sichtigen. Ein Besuch mit kuriosen Fol- kendes Beispiel. Er hat es fertiggebracht, SPIEGEL: Karajan hat sich ja sonst nur mit gen. Denn in dem Puff residierte eine in einer Saison etliche Talente zu ver- Weltstars abgegeben. Genau wie Sie in Madame, wie wir Schweizer sagen, die schleißen, darunter ein junges, hochbe- Ihrem Pariser Opern-Leben. ihren Pensionärinnen ein Opern-Abon- gabtes Mädchen, das ich nach Hamburg Liebermann: Dem mondänen französi- nement spendiert hatte. engagiert hatte. Die junge Frau sollte schen Publikum kann man nichts anderes SPIEGEL: Sollten die von ihrer Berufs- kollegin in der „Traviata“ lernen? Liebermann: Sie waren richtige Fans, und wenn sie in ihren schwarzen Kleid- chen, dezent geschminkt, anrückten, lauerte unsere ganze Belegschaft. Und so hatten sie Birgit auch schon einmal als Aida bewundert. Und als ich nun mit Birgit durch die Herbertstraße schlende- re, entdeckt gleich das erste Mädchen, das da im Fenster sitzt, die Sängerin und fängt an zu applaudieren. Und dann klatscht plötzlich die ganze Straße. So sind wir im Triumphmarsch durchs Bor- dell geschritten. SPIEGEL: Ein wahrhaft lustvolles Publi- kum. Nicht alle Intendanten sind so strapazierfähig wie Sie. Die regieführen- den Opernchefs sind ständig unterwegs, selten im eigenen Haus . . . Liebermann: . . . die gehören alle er- schossen. Aber ich muß Ihnen unbe- dingt noch eine andere Anekdote über die Nilsson erzählen. Sie hat vor Jahren mal an der New Yorker Met mit Franco Corelli „Turandot“ gesungen. Bekannt- lich gibt es im Schluß-Duett des zweiten Akts für beide ein sehr langes hohes C. Die Nilsson hatte ja diese enorme Röhre und hielt den Ton viel länger als Corelli. SPIEGEL: Der Sensibilissimus war sicher beleidigt. Liebermann: Der wollte überhaupt nicht mehr weitersingen. Mein Kollege Ru- dolf Bing war verzweifelt, hatte aber ei- ne rettende Idee. Er schlug Corelli vor: „Beiß ihr doch bei der Liebesszene im dritten Akt einfach kräftig ins Ohr. Sie kann sich auf offener Bühne doch nicht „Karajan hat viele junge Talente verschlissen“ wehren.“ Der Italiener freute sich die- bisch, und er hat es tatsächlich ge- tan. SPIEGEL: Wäre die Met-Intendanz nicht die Krönung Ihres Lebens gewesen? Liebermann: Die Frage hat sich nicht ernsthaft gestellt, denn das ist der übel- ste Job der Theaterwelt. Dort muß man für jede Inszenierung mit irgendeiner noch nichts singen, nur zuhören und in bieten. Das Haus war total runtergekom- blaugefärbten alten Dame poussieren, Ruhe Rollen einstudieren, das hatte ich men; um es wieder ins Gespräch zu brin- damit sie eine Spende rausrückt. Und mit ihr vereinbart. gen, habe ich zum Beispiel mit dem Ver- wenn dann tatsächlich 100 000 Dollar SPIEGEL: Aber dann kam der Magier. band der Luxus-Couturiers ein Arrange- fließen, verlangt sie als Gegenleistung Liebermann: Er hat sie beschwatzt, die ment getroffen. Wir haben kostenlos Pre- einen japanischen Bühnenbildner, in Elisabeth im Salzburger „Don Carlos“ mierenkarten geliefert, und sie schickten den sie sich mal vergafft hat. zu singen, eine Partie, der sie stimmlich uns ihre schönsten Mannequins in den SPIEGEL: Was muß ein Opern-Manager überhaupt noch nicht gewachsen war. aufwendigsten Roben und dem teuersten noch können? Das Resultat: Sie war fertig, kaputt. Ein Schmuck. Damit paradierten sie in den

174 DER SPIEGEL 34/1995 Foyers. Die Bourgeoisie war entzückt. SPIEGEL: Ließ er ab von seinem Furor? nenbildner für Massenets „Don Qui- Aber die Bühnenstars haben mich immer Liebermann: Nein, er ging nun auf die chotte“ engagieren. Der Meister wohnte wieder zur Verzweiflung getrieben. Bühne, stellte sich vor die Gräfin Mar- in einem Pariser Hotel und war sofort be- SPIEGEL: Wer hat Sie denn gequält? garet Price und sang auch noch lauthals geistert. Ich hatte alles bis ins Detail Liebermann: Georg Solti und Giorgio ihre Partie – übrigens gar nicht so durchgeplant, die Probenpläne erarbei- Strehler, die im Versailler Schloßtheater schlecht. Da gab’s wieder Krach. Ich tet, und dann sagte Dalı´: „Brauchen den „Figaro“ machen sollten. Das Pro- hab’ Strehler dann in den Arm genom- Sie alles gar nicht, ich führe auch Re- gie.“ SPIEGEL: Eine surreale Entwicklung. Liebermann: Ich hab’ mich noch ganz friedlich erkundigt, wie er sich den Ab- lauf vorstellt. Sagt er: „Das müssen Sie wissen, ich telefoniere Ihnen die Regie durch. Ins Theater komme ich nicht, das kann ich nicht ausstehen. Auf jeden Fall müssen Sie mir 30 Schafe beschaffen.“ SPIEGEL: Ein bizarres Beispiel für den Übermut der Ausstatter. Liebermann: Ja. Mittlerweile finde ich, daß dieser ganze Aufwand großer Quatsch ist. Bei Kostümen und Bühnen- bildern könnten die Theater Millionen einsparen. SPIEGEL: Auch die superteuren Gold- kehlen? Liebermann: Niemals. An Jessye Nor- man, Domingo oder Pavarotti verdienen die Theater. Preise rauf und abkassieren. Was wirklich ins Geld geht, ist die Mittel- klasse. SPIEGEL: Wieso? Liebermann: Wenn jemand im Ensemble krank wird, müssen Sie die Rolle mit ei- nem Gast besetzen. Dann nutzt der Agent die Notlage und treibt die Gage hoch, und Sie müssen zahlen. Bei näch- ster Gelegenheit kann der Sänger dann sagen: „In Hamburg habe ich 8000 Mark bekommen.“ Und so dreht sich die Spira- le immer weiter. SPIEGEL: Und wasistmit dem immer wie- der geforderten Gagen-Stopp? Liebermann: Er funktioniert nicht. Ein typisches Beispiel hat einmal ein Inten- dant geliefert, dessen Namen ich nicht nennen möchte.Er hatdiese alberne Ver- einbarung unterschrieben, wonach der Sänger X pro Abend höchstens 10 000 Mark verdienen durfte. Der Trick geht dann so: Der Intendant schließt zwar mit dem Künstler einen Vertrag über 30 Abende a` 10 0000 Mark, also insgesamt über 300 000 Mark. Aber heimlich wird abgesprochen, daß X nur 15 Vorstellun- gen bestreiten muß. Niemand kommt dieser Mauschelei so leicht auf die Schli- che. SPIEGEL: Krumme Touren, Kräche, Ei- telkeiten hinter den Kulissen. War das den Verzicht auf die Komponisten-Kar- riere wert? blem war: Die Herren konnten sich nicht men und gesagt: „Laß ihn jetzt in Ruhe Liebermann: Es hat sich so gefügt. Ich ausstehen. Beide wollten die Proben be- dirigieren, das ist seine Probe.“ Es wur- fühle mich wie eine Marionette geführt – herrschen. Strehler postierte sich bei den de dann trotz dieser Querelen eine über- zu meinem Glück. Und bei der „Medea“ Orchesterproben hinter Solti und sang irdisch schöne Produktion. wird sich zeigen, ob meine Kreativität die Melodie mit, immer in ganz leicht ver- SPIEGEL: Manchmal haben Sie auch ver- noch ausreicht. Wenn ichnur noch Routi- ändertem Tempo. Als wir ihm das verbo- geblich um die Stars gebuhlt. ne produziere und verblödet bin, gehöre ten, knurrte er renitent: „Ciao, ich fahr’ Liebermann: Mit Exzentrikern und Ge- ich aufs Altenteil. nach Milano.“ Bevor es dazu kam, konn- nies erlebt man immer wieder Pleiten. SPIEGEL: Herr Liebermann, wir danken te ich ihn besänftigen. So wollte ich mal Salvador Dalı´ als Büh- Ihnen für dieses Gespräch. Y

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Pop Tanz in der Küche Mit dem Album „100 % Fun“ gelang dem US-Songwriter Matthew Sweet, demnächst auf Deutschlandtour, der lang prophezeite Durchbruch.

s gibt Menschen, denen Matthew Sweet unheimlich ist. Der Mann Elacht nie, sagen sie. Der Blick sei- ner großen Augen macht sie nervös, und seine dunklen Liebeslieder lassen sie er- schauern. Offenbar packte auch den Hollywoodstar Winona Ryder der Gru-

sel: Vor Jahren veröffentlichte Sweet REDFERN das Lied „Winona“, eine sanft psycho- Popmusiker Sweet: Verdacht auf geballte Depressionen pathische Liebeserklärung an „irgendei- nen Filmstar namens Winona“ – Miss auch die Plattenfirmen, die Sweet im- friend“ wurde nicht nur von der Kritik Ryder, so wurde dem Musiker berich- mer wieder vor die Tür setzten. gefeiert, sondern verkaufte sich tet, war nicht amüsiert. Aufgewachsen ist der Musiker in Ne- 500 000mal. „100% Fun“ verspricht nun Nun aber hat Matthew Sweet be- braska, mit 18 aber zog er nach Athens noch größeren Erfolg. Selbst bei David schlossen, dem Spuk um sein finsteres im US-Bundesstaat Georgia. Und weil Letterman durfte Sweet vor ein paar Image ein Ende zu machen. Seine jüng- Sweet die Byrds schätzte und seine Haa- Wochen auftreten; und vor der Show ste CD heißt „100% Fun“, und das Co- re wie ein Beatle trug, wurde der musi- schwärmte der Star-Talkmaster: „Ich ver zeigt den Künstler lächelnd in unge- kalische Lokalheld der Stadt, Michael tanze zu der Platte jeden Morgen in der wohnt sonniger Pose – allerdings Stipe von R.E.M., schnell sein Freund. Küche, ein großer Spaß!“ stammt das Bild aus Kindergartentagen. Mit R.E.M. spielte Matthew in kleinen Die Texte, zu denen Sweet seinen un- „Ich dachte mir, die Menschen wer- Klubs die Hitparaden der Vergangen- gestümen Gitarrenpop losdonnern läßt, den sagen: Oh, 100% Fun, das klingt heit nach, bis seine Freunde die Stadt lassen allerdings nach wie vor auf geball- wahnsinnig nett“, erklärt Sweet, „und verließen, um reich und berühmt zu te Depressionen schließen. „Wenn die wenn sie die CD gekauft haben, dürften werden. „Sie waren eben sehr viel ehr- Liebe erloschen ist, kann sie jemals wie- sie einen ordentlichen Schreck bekom- geiziger als ich“, sagt Sweet. der aufflammen?“ quält sich der Autor men – weil da wieder nur der traurige Trotzdem wurden Talentjäger bald etwa. Oder er verkündet gleich im er- Matthew Sweet zu hören ist.“ auch auf den schüchternen Sweet auf- sten Song der Platte, der den Sweet-ty- Der Spaß funktioniert; die Platte hat merksam, seine ersten Platten aber wa- pischen Titel „Sick Of Myself“ trägt: sich in den USA schon ein paar hundert- ren Flops. Und plötzlich ging es ihm so „Ich kotze mich selber an, wenn ich et- tausendmal verkauft. Und sie bescherte schlecht, wie seine Texte schon zuvor was so Wunderschönes sehe wie dich.“ dem ewigen Geheimtip Matthew Sweet immer vermuten ließen – zumal sich Immerhin leidet der Künstler mittler- endlich den Erfolg, den ihm Kritiker seit auch noch seine Frau aus dem Staub weile nicht mehr im stillen. Er habe ge- Jahren verheißen: Die New York Times machte und ein Wasserrohrbruch seine lernt, sagt er, daß ein einziger Song so verglich seine Komposi- Gitarren und seine Plat- bedeutsam sein könne wie der erste tionen mit den besten tensammlung wegspülte. Blickkontakt mit dem wunderbarsten von Lennon/McCartney Sweet beschloß, sein Le- Mädchen der Welt. „Ein echter Pop- und Neil Young, und der ben zu ändern, und be- song darf nur wenige Minuten dauern“, amerikanische Rolling warb sich als Verkäufer lautet Sweets philosophische Definition, Stone bescheinigte ihm bei der örtlichen Filiale „er benötigt schöne Harmonien und ein „brillanten und leiden- des Spielzeugkaufhauses Gitarrenriff, das ,Pop‘ macht!“ schaftlichen Gitarren- „Toys’R’Us“. Ohne Er- Im Oktober will Matthew Sweet pop“. folg. „Als sie erfuhren, durch die Bundesrepublik touren. Vor- Derlei Lob ist Mat- daß ich Musiker bin, her ist er in den USA zusammen mit thew Sweet gewohnt, sagten sie nur ,o Gott‘ den Kuschel-Grunge-Rockern von Soul nur genützt hat es ihm und schickten mich nach Asylum unterwegs. Eine prekäre Kom- lange Zeit nichts. „In Hause.“ bination: Soul-Asylum-Sänger Dave der Zeitung liest du, daß Heute machen sich Pirner ist mit Winona Ryder liiert. Und du ein kleines Genie diese Niederlagen ver- wenn es um seine Freundin geht, gilt bist“, klagt er, „um so dammt gut in seiner Bio- Pirner als ziemlich aufbrausend. Des- peinlicher, wenn du graphie, denn natürlich halb hat sich Sweet vorgenommen, Wi- dann nicht ein paar Mil- bekam er am Ende doch nona selbst die Sache mit dem Song

lionen Platten ver- GAMMA / STUDIO X noch eine Chance: Sein „Winona“ zu erklären: „Ich hoffe sehr, kaufst.“ So sahen das Sweet-Idol Ryder 1991er Album „Girl- daß sie Spaß versteht.“ Y

176 DER SPIEGEL 34/1995 Werbeseite

Werbeseite ..

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Bildsprache der neuen chinesischen sche Satzfetzen, arabische Ziffern, Kunst eingegangen. selbstgemalte Cartoons und alles ge- Für den chinesischen Maler und Bild- krönt von immer wiederkehrenden Sil- hauer Ye Yongqing, 37, bilden die houetten mit Maos Kopf. Wandzeitungen nicht nur die Verbin- Er ist einer der herausragenden Ver- dung alter kalligraphischer Traditionen treter der neuen chinesischen Avant- mit der modernen Regimekritik. Er garde und präsentiert seine Werke zum sieht in diesen vertikalen Sprach- und ersten Mal außerhalb Chinas dem- Bildzeichen ebenso die großen Plakate nächst in einer Augsburger Galerie*; der maoistischen Kulturrevolution ver- seine Arbeiten betrachtet er als Brücke körpert, aber auch verblüffende An- zwischen chinesischer Überlieferung klänge an die kommerziellen Reklame- und westlichen Kunstformen. Während wände des Westens. der Mainstream chinesischer Gegen- wartskünstler frühmoderne Vor- bilder zwischen Klimt und Miro´ nachahmt und mit gefälligen, postkartenähnlichen Motiven den amerikanischen und japani- schen Kunstmarkt bedient, be- zieht sich Ye Yongqing auf sper- rigere Inspirationsquellen: auf den Materialmix von Joseph Beuys und den Neoexpressionis- mus von Baselitz, Kiefer oder Lüpertz. Ye Yongqing hat nicht nur mit der Vulgärkunst der gängigen chinesischen Halbmoderne we- nig gemein, sondern auch mit der kleinen Gruppe von neuen

J. OBERHEIDE / ARGUM Aktionskünstlern in China, bei deren Provokationen das Ein- schreiten der Polizei fast schon Ausstellungen Bestandteil der Kunstwerke ist. Er will mit seinen Bildrollen und Installationen eine ruhigere, fast meditative Öffentlichkeit Eingerollt in schaffen. Und er appelliert an das „kulturelle Gedächtnis“ der Betrachter, das von den moder- Neonröhren nen Bildmedien ausgelöscht zu werden droht. Der chinesische Avantgardemaler Er teilt den Stolz vieler chine- Ye Yongqing feiert, zum ersten Mal sischer Künstler darauf, daß ihr Land jahrtausendelang weitaus außerhalb seines Landes, in Augs- fortschrittlicher war als der We- burg Reklame als Volkskunst. sten. Von einer Vermischung östlicher und westlicher Kunst hält Ye Yongqing wenig. Den- ine Gruppe von ehemaligen Rot- noch sieht er zwischen alten gardisten machte den Anfang. Aus Bildrollen, Wandzeitungen und EUnmut über ihre Verbannung aufs der modernen Reklame durch- Land klebten sie in Peking 1979 an eine aus Ähnlichkeiten: Sie seien Mauer der städtischen Feuerwehr ein „gleichermaßen nichtindividuell, Protestplakat. Danach nutzten verlasse- verständlich und repetitiv“ und ne Mütter, verärgerte Parteikader und darin der anonymen Volkskunst auch Oppositionelle die Wand ebenfalls verwandt. als Anschlagtafel, und wenig später ka- Nur ein überdeutliches Zuge- men Künstler hinzu, die an die soge- ständnis an westliche Standards nannte Mauer der Demokratie ihre Bil- Künstler Ye Yongqing, Wandzeitungen hat er gemacht: Früher wurden der hängten. Appelle an das kulturelle Gedächtnis die traditionellen Fahnen und Hergeleitet aus traditionellen Schrift- Plakate auf Holzstäben aufge- und Bildrollen und der Kalligraphie, All diese Wandzeichen hat Ye Yong- rollt, weil sie dadurch einfacher zu la- dienten die Wandzeitungen vom „Pe- qing, Professor von der Sichuan-Kunst- gern und zu transportieren waren. Heu- kinger Frühling“ Ende der siebziger akademie in Chongqing im Südwesten te dagegen wickelt Yongqing seine Jahre bis zum Studentenaufstand 1989 Chinas, jetzt in einem Zyklus aus 25 Werk-Tücher um Neonröhren. als Medium der politischen Kommuni- Bildrollen verarbeitet. Die Siebdrucke kation. Inzwischen werden sie immer auf Seidenstoff simulieren ein babyloni- * Vom 8. bis 25. Oktober in der Galerie für chine- mehr von Fernsehen und Zeitungen ver- sches Sprachgewirr: Faksimile-Texte sische Kunst Martin Oswald, Hallstr. 12, Augs- drängt. Dafür sind sie mittlerweile in die aus chinesischen Tageszeitungen, engli- burg, Telefon 0821-36992.

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Fernsehen Seife fürs Ohr Erst Serienstars, nun Pophelden: Die Band aus der RTL-Serie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ versucht sich im realen Musikgeschäft.

in paar Schritte vor, ein paar zur Seite, die Arme vorstrecken, mit Eden Schultern schaukeln und dazu „I love to see you smile“ singen – so schwer kann das doch nicht sein. „Stopp!“ ruft Charles, wedelt unzufrie- den mit den Armen und stellt die Musik leiser. Dieses leidenschaftslose Nach- tanzen seiner Choreographie will er nicht länger mitansehen. Nein, der schwarze New Yorker Tän- zer ist nicht zufrieden mit seinen vier Schülern, mit Sabine, Denise, Daniel und Matthias. Er steht vor dem großen Spiegel im Trainingsraum des Berliner Ballettcentrums im Kurfürstendamm- karree und sieht die vier mit finsterem Blick an: „Wenn ihr mich lächeln sehen wollt“, sagt er, „dann will ich euch auch lächeln sehen.“ Das kann dauern. Vier Monate lang haben Charles’ Schüler schon fast täg-

lich Tanzen, Singen und Schauspielen P. FUCHS trainiert, und jetzt wäre ihnen ein Lob Sänger Daniel, Sabine, Denise, Matthias: „Take That“ auf Teutonenart

lieber oder wenigstens eine aufmuntern- de Bestätigung, daß sie ihrem Ziel näher gekommen sind: Popstars zu sein. Doch sie müssen nicht nur den Forde- rungen von Charles Wynn, 41, und dem eigenen Erwartungsdruck entsprechen – an ihrem Erfolg sind noch andere inter- essiert: Sabine, 25, Denise, 19, Daniel, 23, und Matthias, 19, sind von der australisch-deutschen Produktionsfirma „Grundy Ufa TV“ und dem Berliner Musikproduzentenpaar Sylvia und Lutz Fahrenkrog-Petersen ausgesucht wor- den, um die Pophelden der Serie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ zu werden. Sie sollen beweisen, daß TV-Welt und Realität zu einer Wirklichkeit ver- schmolzen sind, in der Produzenten und Autoren das Drehbuch mit Happy-End vorgeben: Liebe, Haß und Hits – und vor allem viel Geld. „Just Friends“ heißt die Gruppe, und sie ist bereits in der täglichen Seifenoper auf RTL zu sehen: Sabine, Denise, Da- niel und Matthias finden sich darin als Band zusammen, gewinnen bei einem

RTL Wettbewerb einen Plattenvertrag und – TV-Auftritt der Band „Just Friends“: Liebe, Haß und Hits da geht die Fiktion in die Realität über –

DER SPIEGEL 34/1995 179 KULTUR bringen Mitte September ihr Debütal- denn diesmal wollen die Grundy-Leute bum auf den Markt, mit dem sie dann nicht nur vom Imagegewinn profitieren, durch Deutschland touren. sondern auch vom kommerziellen Er- In den sechziger Jahren hatten Laien- folg. Und natürlich drängt es die Vierer- darsteller in den USA die Symbiose von Bande auch selbst nach oben. „Erfolg ist Fernsehfiktion und realem Musikmarkt mir sehr wichtig“, sagt Matthias, „für erfunden: Als Mitglieder der Popband die Band habe ich schließlich die Schule „The Monkees“ waren sie die Helden aufgegeben.“ Wovon seine Eltern, Ber- einer Fernsehserie, gingen dann aber liner Tiefbau-Unternehmer, nicht gera- auch auf Tournee und belegten monate- de begeistert waren. lang die Spitzenposition der Charts. Und das, obwohl sie fast keine Note selbst gespielt hatten – sie mimten nur zum Playback. BESTSELLER Just Friends allerdings sind weniger als Monkees-Nachfolger konzipiert BELLETRISTIK denn als deutsche Antwort auf Englands Teenieband „Take That“ – „Make Gaarder: Sofies Welt (1) That“ nach Teutonenart. 300 000 bis 1 Hanser; 39,80 Mark 400 000 Mark hat die Musik- und Star- produktion bisher gekostet, schätzt Fah- Allende: Paula (2) renkrog-Petersen, und natürlich soll sich 2 Suhrkamp; 49,80 Mark diese Investition lohnen. Die Kalkulation begann mit der Aus- Grisham: Die Kammer (4) wahl der Darsteller. Wie in einer guten 3 Hoffmann und Campe; 48 Mark Fernsehserie sind die vier Freunde beim Casting unter dramaturgischen Krite- Gordon: Die Erben rien und mit Blick auf die Zielgruppe 4 des Medicus der 12- bis 16jährigen ausgesucht wor- Droemer; 44 Mark den: Sabine als die Patente, Denise als die Süße; Daniel ist der Wilde und Mat- Gaarder: Das (3) thias der Sanfte. Für jede Fan-Phantasie 5 Kartengeheimnis ist eine Projektionsfläche vorhanden. Hanser; 39,80 Mark Daß allein Sabine eine ausgebildete Sängerin ist, hat die Produzenten nie ge- Tamaro: Geh, wohin dein (5) stört: Die anderen sehen eben einfach 6 Herz dich trägt gut aus. Schließlich wurden sie von einer Diogenes; 32 Mark Model-Agentur zum Vorsingen vorbei- geschickt, den Rest lernen sie bei drei Buchheim: Die Festung (6) Gesangslehrern und bei Charles. Ähnli- 7 Hoffmann und Campe; che Konzepte haben die Jungs – und die 78 Mark Manager – von Take That und East 17 zu Multi-Millionären gemacht. Eco: Die Insel des (7) Ein weiterer Pflasterstein auf dem 8 vorigen Tages Weg zum Happy-End ist eine clevere, Hanser; 49,80 Mark leichte Teenie-Musik, die ein bißchen nach Abba klingt und nach den siebziger Fosnes Hansen: Choral (8) Jahren und auch ein bißchen nach Seife 9 am Ende der Reise fürs Ohr. Fahrenkrog-Petersen, der frü- Kiepenheuer & Witsch; her mal Bassist bei Nena und Herwig 45 Mark Mitteregger war und heute unter ande- rem für Juliane Werding und die „Ein- Høeg: Fräulein Smillas (9) stürzenden Neubauten“ Songs ab- 10 Gespür für Schnee mischt, hat einige Stücke deshalb auch Hanser; 45 Mark mit einem 20 Jahre alten Siemens-Sitral- Mischpult produziert. 11 Proulx: Schiffsmeldungen (10) Und schließlich gehört eine zielge- List; 39,80 Mark naue PR-Kampagne dazu, und das ist der leichteste Teil, denn wenn Just 12 Noll: Die Apothekerin (12) Friends in „Gute Zeiten, schlechte Zei- Diogenes; 36 Mark ten“ zu sehen sind, machen sie sich Abend für Abend etwa vier Millionen 13 Walters: Die Bildhauerin (11) Zuschauern bekannt. Für die holländi- Goldmann; 39,80 Mark sche Popband „Caught in the act“ haben ein paar meist wortlose Auftritte in der 14 Morgan: Traumfänger (13) Serie schon gelangt: Sie erreichte mit Goldmann; 36 Mark der Single „Love is everywhere“ Platz Haslinger: Opernball zehn der deutschen Hitparade. (14) 15 S. Fischer; 44 Mark Dahin, auf die Top-Plätze der Charts, sollen die vier Freunde es auch schaffen, Auch die anderen haben investiert: 25“, sagt sie, „bin ich den meisten Pro- Denise, Tochter zweier Ost-Berliner duzenten zu alt.“ Ärzte, hat ihre Abiturprüfungen zwar Sabine hat seit Jahren an ihrer Musi- gerade noch zwischen ein paar Drehter- ker-Karriere gearbeitet: Noch vor der mine gequetscht, schiebt aber nun ihr Wende zog sie von Hoyerswerda nach Publizistikstudium auf. Daniel, das Sis- Ost-Berlin, schlug sich als Background- ley-Model, geht doch nicht nach Barce- Sängerin durch und studierte an der lona; und Sabine hält das Freunde-Pro- Hanns-Eisler-Schule Gesang. „Wäre die jekt für ihre letzte große Chance, als Mauer nicht gefallen“, sagt sie, „wäre Popsängerin bekanntzuwerden: „Mit ich im Osten sicher weiter, als ich es jetzt hier bin.“ Aber sie wäre nicht die Patente, wenn sie nicht hinzufügen wür- de: „Na ja, jetzt ist es eben so gekom- men, auch in Ordnung.“ Ein bißchen schade ist es allerdings, daß sie immer SACHBÜCHER noch nicht singen kann, was sie möchte – früher durfte es keiner hören, heute Wickert: Der Ehrliche (1) will es keiner hören. 1 ist der Dumme Es liegt also vor allem an den übrigen Hoffmann und Campe; dreien, daß Just Friends noch keine pro- 38 Mark fessionelle Teenie-Band ist: Denise Ehrhardt: Gute Mädchen (2) bringt zum Fototermin völlig zerknüllte 2 kommen in den Himmel, böse überall hin Genau der Star-Traum, W. Krüger; 29,80 Mark auf den die Teenager Carnegie: Sorge dich (3) 3 nicht, lebe! immer gewartet haben Scherz; 44 Mark Carnegie & Assoc.: Der (4) Klamotten mit und hat auch ans Bügel- 4 Erfolg ist in dir! eisen nicht gedacht, Daniel kommt oft Scherz; 39,80 Mark zu spät, und Matthias wippt beim Tan- zen nicht lässig in den Knien. „Das sind Paungger/Poppe: Vom (5) eben Kids“, sagt Fahrenkrog-Petersen 5 richtigen Zeitpunkt entschuldigend, „aber wir haben ja Hugendubel; 29,80 Mark Zeit.“ Fünf, sechs Jahre lang, so hofft Kelder: Die Fünf „Tibeter“ (6) er, soll sich die Gruppe auf dem Markt 6 Integral; 19 Mark behaupten und in dieser Zeit ständig Friedrichs, mit Wieser: (7) besser werden. Für das erste Jahr hat er 7 Journalistenleben jedenfalls einen Vertrag mit Grundy. Droemer; 38 Mark Die Kids müssen dagegen selbst se- hen, wie sie durchkommen. Denise sagt: Paungger/Poppe: Aus (9) „Das ist ja unverschämt nett“ in der 8 eigener Kraft McDonald’s-Kinoreklame fürs Sparme- Goldmann; 39,80 Mark nü, Daniel modelt weiter, Sabine hofft Preston: Hot Zone (8) auf ein paar 150-Mark-Jobs als Back- 9 Droemer; 39,80 Mark ground-Sängerin, Matthias bekommt Ogger: Das Kartell (10) Geld von seinen Eltern. Und doch 10 der Kassierer scheint es, als verkörperten die vier ge- Droemer; 38 Mark nau den Star-Traum, auf den Deutsch- lands Teenager immer gewartet haben. 11 Carnegie: Wie man (13) Daniel hat schon Fan-Anrufe bekom- Freunde gewinnt men, und Matthias hat aus dem Briefka- Scherz; 44 Mark sten eine anonyme Liebeserklärung ge- Este´s: Die Wolfsfrau (11) holt, die kein Drehbuchschreiber hätte 12 Heyne; 48 Mark besser erfinden können: „Ich habe mich in Dich verliebt“, steht da in krakeligen Gorbatschow: (14) 13 Erinnerungen Druckbuchstaben, „ich kenne Dich Siedler; 78 Mark zwar kaum, aber es kam einfach so.“ Wenn die Just-Friends-Story in der Jong: Keine Angst (12) Realität vielleicht doch ohne ein Ende 14 vor Fünfzig gut, alles gut mit Geld und Glück und Hoffmann und Campe; 44 Mark Ruhm auskommen muß, dann haben Mandela: Der lange (15) die vier Akteure den Autoren von 15 Weg zur Freiheit Grundy aber einen neuen Serienstoff S. Fischer; 58 Mark verschafft: die Geschichte einer Teenie- Band, die von smarten Produzenten er- Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom funden und zum Erfolg trainiert wird. Fachmagazin Buchreport Eine fröhliche Seifenoper, diesmal mit garantiertem Happy-End. Y .

KULTUR

Das Jammern gehört zum Image der Kino Autoren, seit es überhaupt Drehbücher gibt: Schon Billy Wilder behauptete, er sei nur deshalb Regisseur geworden, da- mit kein anderer seine Gags und Dialo- König des Eispickels ge verhunzte. Doch Black und Eszterhas haben so- Vier Millionen Dollar für vier Manuskriptseiten – nach den mageren Jahren viel Macht wie zuvor kein Schreiber in Hollywood – der Lohn eines Kampfs, kämpfen Hollywoods Drehbuchautoren mit den Studios und Produzenten den Autoren, Agenten und Gewerk- erfolgreich um mehr Geld und ein besseres Image für ihren Beruf. schaften derzeit mit besonderer Härte führen. „Es könnte sein“, sagt Cheryl Rhoden, die Sprecherin der Writers Guild, der Autoren-Gewerkschaft, in Los Angeles, „daß jetzt das goldene Zeitalter beginnt.“ Der jüngste Erfolg der Drehbuchschreiber hat in der Industrie viel Ärger ge- macht: Die Writers Guild hatte mit dem Dachver- band der Film- und TV- Studios ausgehandelt, daß der Autoren-Credit im Vorspann künftig direkt vor dem Namen des Regis- seurs plaziert werden muß – dort also, wo bisher der Produzent genannt wurde. Die Produzenten, ange- führt von Arnold Kopelson („Outbreak“) und Richard Zanuck („Driving Miss Daisy“) fühlten sich in „fundamentalen Rechten“ verletzt. Ihre Klage blieb erfolglos.

JAUCH UND SCHEIKOWSKI Was jenseits von Holly- Hollywood-Actionfilm „Lethal Weapon“: Ein perfektes Skript spart Ärger und Geld wood wie eine Lappalie wirken mag, symbolisiert enn Shane Black in seinem rie- das neue Selbstbewußtsein einer bisher sigen Garten sitzt und auf seine geknechteten Kaste. „Wir Schreiber Wschicke neue Villa schaut, dann wurden seit jeher als die Nigger des stellt er gern existentielle Fragen: Filmgeschäfts betrachtet“, sagt Joe Esz- „Was nützt dir das ganze Geld, wenn terhas. Der gebürtige Ungar sieht sich du keine Kontrolle über deine Visio- als Kämpfer für die Rechte seiner nen hast? Dann hast du ein Haus und Zunft: Er legt sich gern mit den Mächti- ein Auto, aber mehr nicht.“ gen an und treibt konsequent die Preise Black, 33, ist Autor – und halb Hol- nach oben. Schon 1991 kassierte er drei lywood beneidet ihn: Vor einem Jahr Millionen Dollar für das Skript von hat er sein Drehbuch „The Long Kiss „Basic Instinct“. Goodnight“ für den Rekordpreis von Sein Serienkiller-Drehbuch „Fore- vier Millionen Dollar verkauft. Jetzt play“ hat Eszterhas für 3,5 Millionen wartet die Branche voller Spannung Dollar verkauft, was aber nur der auf sein nächstes Skript. Aber Black Grundpreis ist. Hinzu kommt, was in kann das Jammern nicht lassen. Hollywood „First Dollar Gross“ heißt: Auch Joe Eszterhas, 50, hat miese Von jedem eingespielten Dollar erhält Laune. Der Autor von „Flashdance“, Eszterhas zweieinhalb Cents – und das „Basic Instinct“ und „Sliver“ erholt bevor der Film die Gewinnzone erreicht sich noch immer von seiner schwersten hat, bevor das Studio also seine Kosten Niederlage: „Blaze of Glory“, sein abziehen kann. großangelegtes Epos über den Soulsän- Den Unterschied zur normalen Ge- ger Otis Redding, hat er nach einer winnbeteiligung verdeutlicht der Fall Woche vom Markt genommen – kein von Winston Groom. Der hatte die Studio wollte das Buch. „Wenn ich an Rechte an seinem Roman „Forrest eine Geschichte glaube, muß ich sie Gump“ für nur 350 000 Dollar an Para-

auch schreiben“, sagt er. „Aber es be- SALTONSTALL / ONYX mount verkauft und sich dafür eine Ge- steht immer das Risiko, daß niemand Drehbuch-Schreiber Black winnbeteiligung garantieren lassen. Von sie kauft.“ „Regisseure kriegen die Mädchen“ der hat er noch keinen Cent gesehen:

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Das Studio rechnet ihm immer wieder Welt ist das, wo man für vier Seiten 4 vor, es habe mit „Forrest Gump“ (welt- Millionen Dollar kriegt?“ Aber dann weites Einspielergebnis: gut 660 Millio- vergleicht er sich mit Stars wie Mel Gib- nen Dollar) noch keinen Gewinn ge- son, der für eine Unterschrift zuletzt macht. über 20 Millionen Dollar und First Dol- Der First Dollar Gross war bislang lar Gross erhalten hat. Und er weiß, daß nur Stars der Schwarzenegger-Klasse sein Kampf noch lange nicht zu Ende vorbehalten – er gilt in Hollywood als ist: „Wenn Schauspieler diese Beträge Adelsprädikat und als sicherer Weg in verlangen können, sollten Autoren das- den Reichtum. „Niemand hat damit ge- selbe kriegen.“ rechnet“, sagt Eszterhas, „daß ein Am schlechten Ansehen der Schrei- Schreiber das schaffen kann.“ ber, so fürchten viele, wird sich durch Solche Erfolge gelingen nur denen, ein paar teuer verkaufte Drehbücher die ein Buch als Spekulation, ohne Auf- nichts Wesentliches ändern: „Der Au- trag eines Studios verfassen. Diese tor“, klagt Shane Black, „ist doch der Skripts werden also auf Auktionen ver- verwirrte Typ in der Ecke, der scheue steigert – oder eben nicht, wie Eszterhas Junge mit dem fetten Hintern. Regis- bei „Blaze of Glory“ erfahren hat. seure werden immer cooler sein, und sie „Nur ganz selten führen die Studios kriegen immer die Mädchen.“ einen Preiskrieg um ein Drehbuch“, Zumindest bekommen sie den soge- sagt David Koepp, 31, der an „Jurassic nannten possessory credit, wonach der

Park“ mitgeschrieben hat. Der Alltag J. SPAGNOLI / OUTLINE Zuschauer einen „Film by John McTier- besteht aus Auftragsarbeit. „Das Sy- Erfolgsschreiber Eszterhas nan“ sieht, so als hätte der Regisseur stem“, sagt Koepp, „läuft weiterhin ge- „Wir nutzen die Publicity“ den Film ganz allein hergestellt. gen die Autoren.“ Die übli- chen Verträge enthalten kei- nerlei Mitspracherecht für die Autoren: Bestenfalls werden sie bei den Dreharbeiten igno- riert, schlimmstenfalls kommt ein neuer Autor dazu, um Handlung und Dialoge zu än- dern. Hin und wieder müssen die Gerichte entscheiden, wer überhaupt im Vorspann ge- nannt werden darf – weil zu viele Autoren an einem Film geschrieben haben. Niemand in Hollywood kä- me auf die Idee, ein Drehbuch als fertiges Kunstwerk zu be- trachten – und die schlichte Er- kenntnis, daß ein perfektes Skript viel Geld und Ärger spart, wird immer wieder ver- gessen. Was Starschreiber wie Eszterhas und Black von schlechter bezahlten Kollegen

unterscheidet, ist weder Inspi- KINOARCHIV ENGELMEIER ration noch Perfektion. Es ist Eszterhas-Film „Basic Instinct“: „Wir sind die Nigger des Geschäfts“ das Gespür für kassenträchtige Themen, die Gabe, sich selbst zu ver- Joe Eszterhas wird seit dem Erfolgs- Dieser Mythos allerdings wird so kaufen – und die Tatsache, daß sie in thriller „Basic Instinct“ „König des Eis- schnell nicht zu dementieren sein, und entscheidenden Momenten einfach pickels“ genannt, Kritiker werfen dem die Abschaffung des „possessory credit“ Glück hatten. Spezialisten für mörderischen Sex vor, ist bisher nicht gelungen. Im Augenblick Als Shane Black „The Long Kiss er schreibe immer wieder den gleichen kämpft die Writers Guild erst einmal da- Goodnight“ auf den Markt brachte, hat- Film. Eszterhas weiß, daß so ein für, daß sein Gebrauch in Zukunft ein- te er, dank „Lethal Weapon“ und „Last schlechter Ruf viel wert ist. „Shane und geschränkt wird. Boy Scout“, schon einen Ruf als Liefe- ich – wir spielen ein Spiel“, sagt er. „Wir Derweil hat David Koepp ganz eigene rant von Action-Hits. Dann las die nutzen die Publicity, und wir machen Konsequenzen gezogen: „Alle Kolle- Schauspielerin Geena Davis („Thelma die Rekorde unter uns aus.“ gen, die angeblich kein Interesse am Re- & Louise“) das Buch – und mußte unbe- Derzeit herrscht Gleichstand. Im ver- gieführen haben, erzählen nicht die dingt die Hauptrolle haben: den Part ei- gangenen Oktober verkaufte Eszterhas Wahrheit“, sagt er – und bereitet den ner Killerin mit Gedächtnisschwund. Ihr vier Manuskript-Seiten für vier Millio- Thriller „Trigger Effect“ vor, sein Re- Mann, der Regisseur Renny Harlin, nen Dollar: „One Night Stand“ soll der giedebüt nach eigenem Drehbuch. Und wollte das Werk inszenieren; die Pro- Film heißen, und im Expose´ steht nicht Shane Black kündigt an, daß er für sein duktionsfirma New Line konnte nicht viel mehr, als daß ein verheirateter neues Drehbuch nur einen Spottpreis widerstehen: Der Preis stieg auf vier Mann eine Affäre mit einer schönen verlangen wird – höchstens eine Million Millionen Dollar, und Shane Black er- Frau beginnt. Solche Preise erscheinen Dollar. „Der Haken dabei ist“, sagt er, hielt Einfluß als Koproduzent. auch Eszterhas absurd: „Was für eine „daß ich es selbst verfilmen will.“ Y

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KULTUR

er berufsbedingt abwesend, nämlich im Film Krieg (in Deutschland, in Indochina, in Algerien), und auf Urlaub ist er allemal mehr zu verzeihen bereit, als sie hätte sündigen können. Schmalz des Doch immer ist da Mathias, den Jeanne 1945 in Berlin kennen- und lie- benlernt. Der hübsche, auch in dieser Schicksals Trümmerkulisse stets untadelig geklei- dete sowie über ein Auto und eine Villa „Eine französische Frau“. Spielfilm verfügende Deutsche (Gabriel Barylli) von Re´gis Wargnier. Frankreich verliebt sich so ein für allemal in Jeanne und wirft sich ihr, da er offenbar sonst 1995. nichts zu tun hat, alle paar Jahre wieder so berauscht an den Hals, daß irgend- er berühmte schöne Busen ist na- wann (etwa Ende der fünfziger Jahre) türlich immer wieder schön, und sogar der schafsgeduldige Kommißkopf Ddavon abgesehen ist Emmanuelle Louis ausrastet: Er drischt den deut- Be´art eine Schauspielerin, die sich mit schen Schwärmer zusammen, und für Inbrunst über alle Schmelz- und Siede- diesen großen Augenblick sind die anti- punkte der Verzückung oder des ken Ruinen von Apameia in Syrien dem Schmerzes hinaus zu exaltieren vermag, Film gerade groß genug. die Lippe bebend, Tränen im Blick, eine Ein paar Jahre später stirbt Mathias, Primadonna des Orgasmus, wie es weni- weil das die Macht des Schicksals so ge gibt. will, und Jeanne stirbt ihm nach. Wir Diesmal, leider, stellt sie ei- nen Wertgegenstand dar, dem das Etikett „Une femme fran- c¸aise“ aufgeprägt ist wie ein Gütesiegel der Erlesenheit, vergleichbar einer Magnumfla- sche Champagner oder einem Poulet de Bresse. Die Bezeich- nung „Une femme franc¸aise“ verheißt: ganz Körper, ganz Seele, ganz Sinnlichkeit – und bedeutet, im vorliegenden Fall, auf platt deutsch: außer Männern nix in der Birne. Die französische Jeanne, Jahrgang 1919, deren Schick- sal dieser Film abfeiert, ist also die Idealfassung der Män- nerphantasie von einer Frau in Samt und Seide, deren alleini- ger Daseinsinhalt das Bewun- dert-, Umschwärmt- und Ge- liebtwerden ist. Niemals steigt der Film vom hohen Roß sei- ner Verlogenheit ins Alltägli- che herab, wo seine Heldin als Hausfrau und Mutter bei ir- gendeiner schlichten, vernünf- tigen oder gar nützlichen Tä- tigkeit zu sehen wäre – nein,

unentwegt wird diese Jeanne JAUCH UND SCHEIKOWSKI von großen Leidenschaften Be´art als „Französische Frau“ hingerissen, mitgerissen, um- Hingerissen, mitgerissen, weggerissen gerissen, weggerissen, und so erscheint ihr ganzer Lebenslauf als ein wollen, da die Autopsie keinen anderen Crash-Kurs der Ekstasen. Befund hergibt, gern glauben, daß sie Die provinzbürgerlich mißgünstigen an gebrochenem Herzen gestorben ist, Frauen ihrer Familie (Mutter, Schwe- und wir wollen sie als schön in Erinne- ster, Tanten) finden das nicht korrekt, rung behalten. Wenn sie im Beichtstuhl doch der vielbetrogene Ehemann, der kniete, um ihre Seele freizumachen für Berufsoffizier Louis, der Jeanne 1939 neue Sünden, schimmerten unter dem geheiratet hat und sich für den Vater ih- schwarzen Vorhang nur ihre Waden rer drei Kinder hält (Daniel Auteuil), hervor, Fleisch wie Seide, und man sah, verliert bewundernswert selten die wie schön auch ihre Waden waren. Selbstbeherrschung: Die meiste Zeit ist Urs Jenny Werbeseite

Werbeseite . SZENE

Fotografie VEB-Zelluloid konnte man alles ab- bilden, was erlaubt war – nur, so weiß der ostdeutsche Fotograf Harf Der Film zur Republik Zimmermann von der Agentur Ost- kreuz, „niemals farbneutral“. Frische Ob Jugendweihe in Kyritz, FKK auf Schluß: „Original Wolfen“ (Orwo) hat Farbabzüge vom Orwo NC 19 sahen Rügen oder die Datsche an der Dahme ausgedient. immer aus, als hätten sie Wochen in – die Erinnerung hat ihre eigenen Far- In Wolfen werden künftig keine Filme der prallen Sonne gelegen. Für Zim- ben: nie ganz natürlich und immer mehr produziert, die Verhandlungen mermann haben die Bilder den leicht verblaßt, gern gelbstichig und mit einem britisch-amerikanischen In- Charme „der Agfa-Color-Filme der mit einem Rot von revolutionärer vestor über den Verkauf der Filmfa- fünfziger Jahre“. Kraft. Was auch in der DDR auf Film brik sind endgültig gescheitert. Damit Vor 85 Jahren wurde die Filmfabrik gebannt wurde, das Zelluloid kam aus geht ein Herzstück realsozialistischer Wolfen als „Agfa“ gegründet. Hier Sachsen-Anhalt. Doch damit ist Ästhetik verloren. Denn mit dem wurde die gängige Farbfilmtechnolo- gie erfunden. Als Eastman noch an seinem Color rumbastelte, berserker- te 1941 Marika Rökk schon in Farbe durch den Agfacolor-Film „Frauen sind doch bessere Diplomaten“. Auch nach dem Krieg behielt Agfa Ost vorerst seinen Namen und ko- operierte mit dem Klassenfeind in Leverkusen. Die Mauer war schon hochgezogen, da kündigte der DDR- Ministerrat 1963 die Zusammenarbeit auf und verpaßte dem VEB das neue Warenzeichen Orwo – nur die Genos- sen auf den Fotos sahen farbmäßig weiterhin aus wie Hans Albers in „Münchhausen“. Dafür sang Nina Hagen in den siebziger Jahren über den Farbfilm, den „Michael auf Ost- seeurlaub vergaß“, und landete damit in der volkseigenen Hitparade. Orwo war der Film zur Republik:

OSTKREUZ spottbillig und nur im Prinzip immer vorrätig. Die Packungsbeilage hatte den Charakter von Parteitagsbe- schlüssen, die DIN-Angabe war das

H. ZIMMERMANN / Plansoll, das selten erreicht wur- Farbaufnahme in Orwo-Qualität (Eisenhüttenstadt) de.

Musikmarkt Yorker Bertelsmann-Tochter BMG wandten. Jetzt folgt, als „Out Clas- hatte ja schon einige Platten mit Pot- sics“, eine Steigerung: ein musikali- Schwule Klassik pourris symphonischer Waberlohe auf scher Tribut an „die größten schwulen den Markt geworfen: „Sensual Clas- Komponisten der Welt“. Als solche Gilt es, das Geheimnis eines Genie- sics“, die sich (nach den Paarungen auf geoutet werden nicht nur mutmaßli- werks zu entschlüsseln, greift die fort- dem jeweiligen Cover zu schließen) che, bekannte oder bekennende Ho- schrittliche Musikwissenschaft nur nicht nur an ein Hetero-Publikum mos wie Tschaikowski, Britten, Cop- dann zur Partitur, wenn sie vorher Er- land, Barber und Bernstein; auch kenntnisse an Hosenlatz und Umge- Saint-Sae¨ns, Chopin und Schubert sind bung gewinnen konnte. Erst die sexu- von BMG ungefragt gleichgeschlechts- elle Identität des Komponisten liefert geneigt gleichgeschaltet worden, unter für Susan McClary, Anführerin der Hinweis auf die „unermeßlichen Bei- neuen musikologischen Denkschule, träge, die schwule Komponisten der den Schlüssel zum verborgenen Sub- Menschheit geleistet haben“. „Uner- text von Sonaten oder Symphonien. meßlich“ sind solche Lobpreisungen Mrs. McClary hat dies den Amerika- wirklich – im Sinne von nicht meßbar: nern 1991 in einem Essay vorgeturnt, Bei der Mehrheit aller genialen Kom- der im Andante con moto der „Unvoll- ponisten der Vergangenheit ist eine endeten“ das Triebleben Franz Schu- Neigung von Mann zu Mann nun ein- berts zu dechiffrieren vorgab – als un- mal nicht überliefert. Dafür tritt Ber- terdrückt und gleichgeschlechtlich. Al- telsmanns Neigung zur kommerziellen so gibt es schwule Klassik? Ausbeutung der Homosexualität ganz Ein musikalisch weltoffenes Haus wie ungeniert zutage. „Out Classics“ ver- Bertelsmann kann da nicht gleichgültig marktet wohlbekannte Musik mit dem bleiben. Der Klassik-Ausstoß der New CD „Out Classics“ Pathos einer Subkultur.

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KULTUR

Literatur Schokolade hergestellt, die Singles, die bei der Blutbad in Berliner Firma „Multi- werk“ in Silikon-Matri- Svartvattnet zen gegossen werden: fünf Millimeter dick, 100 Gramm schwer und

Die skandinavische Literatur ist popu- OSTKREUZ lär in Deutschland. Die Norweger Jo- 100 Prozent aus erlese- stein Gaarder („Sofies Welt“) und ner Halbbitter-Kuvertü- Erik Fosnes Hansen („Choral am En- re. Mehr als 20 Titel –

de der Reise“) sowie der Däne Peter H. ZIMMERMANN / vom Hochzeitsmarsch Hoeg („Fräulein Smillas Gespür für Lardong bis zu Peter Alexanders Schnee“) belegen Spitzenplätze auf „Kleiner Kneipe“ – lie- den belletristischen Hitlisten. Ein wei- Produkte gen in riesigen Kühlschränken auf La- teres schöngeistiges Nordlicht könnte ger. Der gelernte Handformer Peter sich nun dazugesellen – die Schwedin Zum Reinbeißen Lardong, 50, hat die Schokoplatte Kerstin Ekman, 62. Ihr Roman „Ge- schon 1987 erfunden. Für die Dauer- schehnisse am Wasser“, der in dieser Legt man sie auf den Plattenspieler, nutzung per Ohr taugt das tönende Woche in den deutschen Buchhandel hört man Songs wie den „Babysitter Naschwerk allerdings nicht: Spätestens kommt und in Schweden längst ein Boogie“. Beißt man rein, schmecken nach dem zwölften Anhören leiern die Bestseller ist, überzeugt mit einer raffi- sie süßlich-bitter. Denn sie sind aus Plattenrillen aus. Dann heißt es essen. nierten Mixtur aus derbem Sex und blutigem Crime, aus Theater Kriminal- und Ent- wicklungsroman. Es Verbotene Äpfel aus China geht, vordergrün- dig, um einen bruta- Am Ende der Aufführung müssen die Zuschauer, vor allem die auf den besten len Mordfall aus den Plätzen, in Deckung gehen. Dann schleudern die Schauspieler ganze Apfelladun- siebziger Jahren. In gen in eine Windmaschine, und das Obst fliegt zerstückelt in die vorderen Sitzrei- der kleinen schwe- hen: Die Pekinger Truppe „Xi Ju Che Jian“ räumt auf mit dem barocken Farben- dischen Gemein- rausch des traditionellen chinesischen Theaters. Nirgendwo folkloristisches Ge- de Svartvattnet tue. Es ist der Ausbruch in das Land des bitteren Lachens. Ihr Stück „File O“, mit (Schwarzwasser) dem die Chinesen von Dienstag an beim Hamburger Sommertheater-Festival auf Kerstin Ekman wird ein Camping- dem Kampnagel-Gelände gastieren, erzählt von der elenden Partei-Bürokratie „Geschehnisse Pärchen in seinem mit ihrer perfekten Überwachungsmaschinerie im heutigen China. Regisseur am Wasser“ Zelt regelrecht ab- Mou Sen, 31, hat Lebensgeschichten von Schauspielern und Kollegen auf die Neuer Malik Verlag geschlachtet. Auf Bühne gebracht, gespickt mit allerlei Anspielungen auf aktuelle politische Ereig- 544 Seiten; 48 Mark dem Weg zu einer nisse. Die zerhackten Final-Äpfel symbolisieren das Aufbegehren der Bürger ge- Landkommune, der gen den Staat. Chinesischen Behörden geht das schon zu weit: Mou Sen darf „File sie sich anschließen O“ in der Heimat nicht zeigen. will, entdeckt die Musiklehrerin Annie Raft die Leichen und beobachtet in der Nähe des Tatorts einen verdächtigen dunkelhaarigen jungen Mann. Nach 18 Jahren sieht sie den mutmaßlichen Mordbuben wieder – in den Armen ih- rer verliebten Tochter. Kunstvoll kom- biniert die Autorin die unterschiedli- chen Zeitebenen. In langen Rückblen- den, mit viel Ironie und Sarkasmus, entfaltet sie ein Panorama der fort- schrittsgläubigen siebziger Jahre, mit all ihrer lächerlichen Kommunen-Se- ligkeit, den leichtfüßigen Hippies und ihrer unbeschwerten Promiskuität. Und sie beschreibt, im scharfen Kon- trast, die behäbigen, wohlstandsfixier- ten neunziger Jahre, das idyllische Nest Svartvattnet und seine verstörten Kleinbürger, die sich nun wieder mit der unaufgeklärten Bluttat von damals beschäftigen müssen. Kerstin Ekman verknüpft dabei sehr präzise und sensi- bel die Milieu- und Naturbeschreibung mit kriminalistischer Spannung. Bei al-

ler Kolportage, die auch darin steckt: FT ein appetitlicher Schwedenhappen. „File O“-Szene

DER SPIEGEL 34/1995 187 Werbeseite

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SZENE

Statistik abendländischem Bewußtsein, Die Deutschen im UNDP-„Bericht über die und es sagt: Wir alle müssen Uno ist nullo menschliche Entwicklung 1995“ (Auszug) sterben. Japanern (Platz 1) ist das mangels Kreuz an der War nicht Goethe ein großer Dich- Gesamtposition Wand vielleicht nicht so klar. ter? Wollte nicht Schiller das Men- unter 174 rang Letzter Rang beim Kinderkrie- schengeschlecht erziehen? Haben wir Ländern 15 gen – aber wer zählt unsere nicht mit Otto Rehhagel dem Fußball Hunde und lobt die windel- die kontrollierte Offensive geschenkt? freie Lebensabschnittspartner- Es hat alles nichts genutzt. Die Lage Kultur von Sylt bis München? ist ernst: Deutschland ist im Bereich Daß sich Harald Juhnke wie- „menschliche Entwicklung“ auf den der in der nüchternen Welt zu- 15. Platz in der Welt zurückgefallen. rückgemeldet hat, konnten die Das hat die vom ehemaligen pakista- Uno-Statistiker natürlich noch nischen Entwicklungsminister Mah- Sparen 1 nicht berücksichtigen (siehe bub ul Haq geleitete Uno-Unterorga- Grafik). Aber was soll diese lä- nisation UNDP ausgerechnet. Da cherliche Verachtung des Al- nützt kein kalauerndes Na unp. Da kohols? Er hilft uns schließlich heißt es Einkehr halten und sich auf zu verstehen, was deutscher das Positive besinnen. Alkoholkonsum 2 Humor seinem Wesen nach Der Deutsche ist ja zunächst einmal bedeutet. ein Mensch geworden und nicht mehr Warum sind denn unsere Fuß- fremdenfeindlich. Schließlich ist ballfans so witzig und kreativ? Klausi Beimer von der „Lindenstra- Warum mögen uns denn die ße“ kein Fascho mehr, geht Onkel Lebenserwartung 16 Ausländer, wenn wir als Tou- Franz mit einem deutschen Schäfer- ris in ihren Hotels die Gläser hund zum Griechen und hat sich Sän- heben? Herrn Mahbub ul Haq ger Heino in Bild vom Nationalen und all den anderen von den zum Sozialisten verändert: „Ich schä- Vereinten Nationen sei auf gut me mich nicht, daß ich von unten eine Chance: Darf nicht Frank Elstner deutsch gesagt: Uno ist bei uns eben komme. Ich hab’ Bäcker gelernt.“ immer noch auf den Bildschirm, hat nullo. Auf einem Bein kann man nicht Und der schwarze Sänger Billy Mo ist Kohler keinen Platz bei Meister Dort- stehen. seit Jahren der deutscheste Tiroler mund gefunden? Gibt es nicht immer Beim Sparen sind wir Weltmeister. mit Hut, ohne daß sich bis heute ir- noch ein Fernsehballett? Tausend Jah- Das soll so bleiben. Wir werden uns gend jemand daran stört. re „Derrick“, und niemand hat’s ge- mit Soldaten für Uno-Einsätze zurück- Der Uno-Michelin weist uns Michels merkt – das macht uns keiner nach. halten und trotzdem an den Brenn- einen hinteren Platz bei der Lebens- Und auch die Kruzifix-noch-und-noch- punkten der Welt bis zum letzten Fran- erwartung an. 76 Jahre gleich 16. mal-Debatte lehrt: Der Deutsche als zosen kämpfen. Rang. Dabei geben wir dem Greisen Bayer marterlt sich mit christlich- Nikolaus von Festenberg

KINO IN KÜRZE „Bunte Hunde“. „Kaum gestohlen, schon in Polen“ ist die te Hunde“ gefällt sich als feine, gepflegte Genre-Stilübung Parole eines Trios von jungen norddeutschen Autoschiebern in hartgesottener Sentimentalität. (Peter Lohmeyer, Til Schweiger, Jan-Gregor Kremp), die leider nicht clever genug sind, um sich lange in der freien „Congo“. Eine Gruppe amerikanischer Wissenschaftler Marktwirtschaft zu behaupten. Erst im Knast erreicht ihre fahndet im afrikanischen Urwald nach einer verschollenen Expedition, die auf der Suche nach riesigen Diamanten- Vorkommen war. Dabei entdeckt der Suchtrupp die mythenumrankte Kongo-Stadt Zinj und wird von einer Hor- de mörderischer Menschenaffen attackiert. US-Regisseur Frank Marshalls Verfilmung des gleichnamigen Romans von Bestseller-Autor Michael Crichton („Jurassic Park“) wirkt wie ein mißglücktes Revival des Abenteuer-Klassikers „Indiana Jones“. Zoologisch interessierte Kinogänger ler- nen immerhin: Auch der Hominide entspannt sich gern mit einem kräftigen Joint und einem gepflegten Martini.

„Homerun“. Er ist ein Zyniker, ein Tyrann und ein versof- fener Rassist und auch im hohen Alter noch eine amerikani-

KINOWELT sche Baseball-Legende: Nun, dem Tode nah, wünscht sich Szenenfoto aus „Bunte Hunde“ Ty Cobb (Tommy Lee Jones) eine Biographie, die ihn in den höchsten Tönen preist. Er engagiert den Sportreporter kriminelle Energie Höchstform. Der Ausbruch mit Geisel- Al Stump (Robert Wuhl) und treibt ihn in Gewissensqualen: nahme hat Show-Wert. Liebe zu den wortkargen Attitüden Soll er Cobb tatsächlich als Idol oder – realistisch – als Ekel und Männer-Ritualen des guten alten Film Noir hat der beschreiben? US-Regisseur Ron Shelton hat die authenti- Hamburger Regisseur Lars Becker, 41, schon in seinem De- sche Geschichte des Baseballers Cobb (1886 bis 1961) ein- bütfilm „Schattenboxer“ gezeigt; auch sein Zweitling „Bun- drucksvoll aufbereitet.

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KULTUR

Performance Alltägliche Sensation Der Berliner Szene-Artist Käthe Be pflegt eine neue Kunstform – das „öffentliche Wohnen“.

uch nach Sonnenuntergang weicht die Hitze kaum aus den Wohn- Ablocks der Berliner Mitte, und so verschaffen sich Einheimische und Tou- risten flanierend ein wenig Kühlung – doch am Rand der Rosenthaler Straße, am Eingang der Hackeschen Höfe, ver- harren die Passanten plötzlich und star-

ren in ein Schaufenster. S. DOBLINGER / PAPARAZZI Sie blicken in ein hellbeleuchtetes Aktionskünstler Be: Im Niemandsland zwischen Alltag und Kunst Wohn- und Schlafzimmer, dessen Ein- richtung ironische Zuneigung für die Kameras beobachten ihn auch in den In seiner West-Berliner Zeit hatte er siebziger Jahre verrät: In knalligem von außen nicht einsehbaren Räumen seit den achtziger Jahren mit oft wilden, Orange leuchten Telefon, Bettdecke, seiner Ladenwohnung in der Rosentha- immer zumindest witzigen Performan- Plastikstühle und zwei Taucherflossen, ler Straße: in der Dusche, in der Küche ces von sich reden gemacht. Mal ließ er die auf dem Boden herumliegen; eine oder in der Toilette. Die Bilder werden sich im Szene-Cafe´ „Swing“ nackt von Plastikuhr und zwei kleine Gummitier- von einem Monitor im Schaufenster brennenden Kerzen mit Stearin beträu- chen am Fenster ergänzen das Mobilar. übertragen. feln („weil zu ’ner Performance immer „Hier lebt einer inne Wohnung“, er- Käthe Be betreibt, wie inzwischen ’n nackter Mann gehört“), mal las er nur klärt eine Frau mit rheinischem Akzent viele andere in Berlin, ein Performance- aus seinem Adreßbuch vor. 1986 fand ein „Käthe-Be-Fan-Club“ zusammen, dessen rund 300 Mitglieder, darunter auch die Popstars Paul Simon und Madonna, mit ihrer Unterschrift versicherten, „ein für allemal und mit Haut und Haaren persönliches Eigen- tum von Käthe Be“ zu sein. Bei den Se- natswahlen 1989 forderten Plakate in den U-Bahnstationen zur Wahl des selbsternannten „Medienhengstes“ auf. Ein anderer Glatzkopf machte dann das Rennen. Als er erfuhr, daß der Regisseur Det- lev Buck an einem Berlin-Film arbeitet, fragte er höflich nach einer Rolle und erfuhr verblüfft, er sei bereits fest einge- plant. Geld verdient Käthe Be anson- sten mit Postkarten, Fernsehinterviews und Werbung. Seine Glatze fordert in Japan zum Kauf von Elektrogeräten auf. „Die Japaner“, sagt der Künstler, „fahren total auf mich ab.“

LICHTBLICK Bei Käthe Be wird das Alltägliche zur Sensation. Wenn er sich in der Küche

S. SAUER / ein Brot schmiert oder auf seinem Sech- Schaufenster-Akteur Be: „Die Japaner fahren total auf mich ab“ ziger-Jahre-Plattenspieler ein Musik- stück auflegt, reagieren die Zuschauer ihrer Begleiterin. Eine Weile betrachten Gewerbe, das sich verspielt in einem so verzückt, als handle es sich um die sie mit Wohlgefallen den glatzköpfigen Niemandsland zwischen Alltag und Regungen eines besonders possierlichen Berliner Aktionskünstler Käthe Be, der Kunst herumtreibt und dabei zum All- Tierchens. Und wenn er unter der Du- auf seinem Bett sitzt und in Briefen her- tag wie zur Kunst sorgsam Distanz sche steht, kommt im Publikum gar eine umblättert. hält. „Kunst ist das eigentlich nicht, was Art Begeisterung auf. Schon seit Mitte Juni lebt der aus Ek- ich hier mache“, sagt Herr Be, „aber Auf die Idee, öffentlich zu wohnen, kernförde stammende Performer sein das wahre Leben ist es erst recht sei er gekommen, als ihm seine Freun- Privatleben in der Öffentlichkeit. Vier nicht.“ din erzählte, daß sie sich am wohlsten in

190 DER SPIEGEL 34/1995 ihrem fensterlosen Badezimmer fühlen würde. „Das ist doch krank, daß man sich nur noch dort wohlfühlt, wo man nicht beobachtet wird“, findet Be. So wollte er mal das Gegenteil ausprobie- ren, ließ sich vom Elektrokonzern Grundig Kameras und Monitor zur Ver- fügung stellen und mietete die Laden- wohnung für rund 400 Mark im Monat. Wer will, mag bei seiner Aktion an die totale Überwachung denken („Dar- auf kommen vor allem die Ostler“) oder komplizierte Theorien bilden über die Grenzen der Intimsphäre. „Ich kann das nicht so schick erklären“, sagt der Künstler und trötet ein wenig auf der Spielzeugklarinette. Er schwärmt da- von, „wie toll das sein kann und wie ein- fach, wenn man mit Leuten, die man nicht kennt, ins Gespräch kommt“. Die ersten Tage sei er noch recht ner- vös gewesen. Da habe er sich kaum aufs Klo getraut oder gar nackt, „wie’s nor- mal ist“, aus der Dusche ins Zimmer zu treten; „mit der Zeit habe ich mich aber daran gewöhnt“. Und inzwischen hat Be neue Freunde gewonnen. Zwei junge Mädchen zum Beispiel, die vor Wochen noch ganz schüchtern zum ersten Mal in sein Zimmer traten, besuchen ihn inzwischen regelmäßig. Morgens klopfen ihn oft betrunkene „Dich besuchen immer so Super-Frauen – gib doch mal eine ab“

Passanten aus dem Bett. „Wenn du öf- fentlich wohnst, denken manche Leute, sie könnten alles mit dir machen.“ Kürz- lich nahm Be sich ein Wochenende frei, um seine Mutter in Eckernförde zu besu- chen, die „Beburtstag“ hatte, wie er sei- ne Fans durch einen Zettel am Fenster entschuldigend wissen ließ. Die Aktion, die Be noch bis Oktober weiterführen möchte, ist durchaus volks- tümlich. Zuweilen sitzen Bauarbeiter beim Künstler, die wollen vor allem wis- sen, wie es kommt, daß ihn „immer so Super-Frauen besuchen – gib doch mal eine ab“. Stolz führen Anwohner ihre Gäste zum Wohn-Artisten, unter dem Motto: „Gleich kommste zu Käthe.“ Schon plant der gelernte Melker und Mechaniker eine Performance „Schlafen bei Käthe Be“. Erste Anmeldungen gibt es bereits. Manchmal allerdings, gesteht der Künstler, sei er „fix und fertig“ von den Blicken und Fragen der Leute. Dann denke er daran, seinen Fanklub aufzulö- sen, weil inzwischen ganz unironische Käthe-Be-Verehrer in den Klub drän- gen. Und manchmal, so sagt er, „fürchte ich mich vor der Zeit, in der ich wieder ganz allein und für mich wohnen wer- de“. Y

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SPORT A. HARDER Familie Graf (1986): „Ein Strafprozeß Graf gegen Graf ist nicht auszuschließen“

Tennis „Sehr raffiniertes System“ Die Probleme der Steffi Graf lassen sich nicht mit dem Tennisschläger vertreiben. Etliche Millionen der Einnahmen fehlen, und ihr Vater Peter, Hauptsünder im Steuerfall Graf, trägt zur Aufklärung wenig bei. Steffis neue Berater suchen jetzt das Geld der Familie, die 1985 heimlich ihre Steuerflucht nach Monte Carlo plante.

hilip Maurice de Picciotto ist selbst Er soll die „ordnende Hand“ für Steffis men für Sportler. Mit Charme und Ein- in der eitlen Tenniswelt eine auffal- „weitere Karriere“ (Focus) sein. satz versucht Picciotto, ein Meister der Plende Erscheinung. Der 40jährige Aber der Neuanfang ist so einfach eleganten Einflußnahme, die Regie zu ist sportlich und hager, recht elegant. nicht. Denn der Neue ist der Alte – und übernehmen. Ein amerikanischer Prachtkerl, sonnig, da liegt ein Problem. Seit ihren ersten Auf der anderen Seite agieren zwei mit Grübchen in der Seele – der Traum Profijahren kümmert sich Picciotto um deutsche Profis: der Vizepräsident von vom smarten Schwiegersohn. Steffi, und er tauchte sogar im Handels- General Motors Europe, Hans Wilhelm Der Asket, von dem viel professionel- register als Direktor für eine von Peter Gäb, und der Berliner Anwalt von Steffi le Freundlichkeit ausgeht, hat an der Grafs Briefkastenfirmen auf. Graf, Peter Danckert. Beide verhinder- Universität von Pennsylvania Jura stu- Ist also der umtriebige und bienenflei- ten in den letzten Tagen die Machtüber- diert, zuvor hatte er am Amherst-Col- ßige Amerikaner der Richtige für Steffis nahme durch die Amerikaner, und sie lege in Massachusetts den Abschluß in Comeback? Oder sind jetzt nicht eher setzen erkennbar auf Zeitgewinn. Anthropologie hingelegt. Das ist die Experten für das komplizierte deutsche Nach ihren Plänen sollen die größten Lehre von den Eigenschaften und Ver- Steuerrecht gefragt? deutschen Sponsoren, Opel und Adidas, haltensweisen der Menschen. Hinter den Kulissen tobt längst ein er- Steffi Graf bei der Findung eines neuen Um einen Menschen kümmert sich bitterter Kampf. Es geht um Macht und Chefberaters unterstützen. Im Septem- der Managing Director der Washing- Profit, verschwundene Millionen und ber soll die Entscheidung fallen. Gute toner Sportmarketing-Agentur Advan- rätselhafte Fonds. Der Steuerfall Graf Chancen werden deutschen Spezialisten tage International in diesen Tagen fast hat sich längst zu einem Wirtschaftskri- wie dem Berater von Boris Becker, dem rund um die Uhr: Picciotto betreut die mi mit einer verworrenen Handlung, Münchner Anwalt Axel Meyer-Wölden deutsche Tennis-Königin Steffi Graf. zweifelhaften Charakteren und mächti- eingeräumt. Steffi Graf, die als 26jähri- Als die Wimbledonsiegerin vorige Wo- gen Interessenvertretern ausgewachsen. ge der Abhängigkeit vom Vater ent- che beim Turnier in Toronto schon in Das Stück ist Synonym für den Sport als kommen will, soll schließlich die Ent- der ersten Runde ausschied („Ich kann Teil des beinharten Kapitalismus. scheidung fällen. Irgendwie. nicht mehr“), war er an ihrer Seite. Auf der einen Seite kämpfen Picciotto Noch scheint die Tennis-Lady reich- Mancher sieht in ihm den Mann, von und Advantage International, eines der lich arglos. Die bestverdienende deut- dem jetzt „alles abhängt“ (Sport-Bild). weltweit größten Marketingunterneh- sche Sportlerin aller Zeiten, deren Ein-

192 DER SPIEGEL 34/1995 künfte auf weit über hundert Millionen Mark geschätzt werden, hat offenbar von den eigenen Vermögensverhältnis- sen keinen blassen Schimmer. Rund 250 000 Mark hat sie auf einem Konto in der badischen Heimat, das weiß sie genau. Die Vermögensanlagen, die Verträge kennt sie angeblich nicht. Dröge Bilanzzahlen waren bislang nicht ihre Welt. Das internationale Wäh- rungssystem ist ihr Hekuba, und von der Vielfältigkeit des Finanzgeflechts hat sie keine Vorstellungen. Die notori- sche Ahnungslosigkeit könnte ihr im Steuerstrafverfahren aus der Klemme helfen. Die deutschen Berater und Anwälte sind jetzt dabei, eine Art Inventur des Grafschen Reiches zu erstellen. Kein leichtes Unterfangen – viele Transaktio- nen liefen an der oberen Grenze der Dubiosität. Fest steht: Derzeit fehlen noch etliche Millionen der Graf-Ein- nahmen. Sind sie versickert oder in fernen Ländern angelegt worden? Peter Graf hat bisher zur Aufklärung wenig beigetragen, er hat in seinem chaotischen Finanzreich wohl den Überblick verloren. Steffis deutsche Vertraute haben sich deshalb weltweit, von Amerika bis hin zur Antilleninsel Curac¸ao, auf Geldsuche begeben. Das Verhältnis zwischen Vater Graf und Tochter Steffi ist auch durch das rätselhafte Millionenspiel tief gestört. Steffi Grafs Anwalt Peter Danckert je- denfalls schließt „einen Strafprozeß Graf gegen Graf“ nicht mehr aus. Man- che Frage wird sich nur vor Gericht klä- ren lassen. Wem gehörten eigentlich die über 20 Millionen Mark wirklich, die auf einem Konto in Vaduz auftauchten (SPIEGEL 32/1995) und dann wieder verschwan- den? Kontoinhaber war eine rätselhafte Firma namens „Avantage“, die häufiger in dem Graf-Krimi mitspielt. Weder Fahnder noch die Vertrauten der Steffi Graf wissen, wer sich hinter der Liechtensteiner Gesellschaft ver- birgt. Sicher ist nur: Peter Graf hat sei- ne Hände im Spiel, die Fahnder fanden bei ihm Hinweise auf Avantage. Es fällt auf, daß sich Avantage so ähnlich wie „Advantage“ schreibt – eben jene Agentur in Amerika. Ein Wort ist englisch, das andere franzö- sisch, doch die deutsche Übersetzung ist in beiden Fällen gleich: „Vorteil“. Überall Vorteil Graf – ein böser Trick? „Wir haben damit nichts zu tun“, sagt Picciotto. Möglicherweise „will uns da jemand reinreißen“. Nach außen mimte Peter Graf den vornehmen Steuerzahler, der als Patriot dem Staat selbstverständlich seinen Tri- but zollt. Hermann Josef Kühn, 49, ein Kaufmann aus dem rheinischen Berg- heim, kennt ihn anders. Als Geschäfts- führer von Advantage Deutschland hat Advantage-Ratschläge: „Nach deutschem Recht unrechtmäßig“

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Das System ist geblieben: Ein paar Nullen sind dazugekommen – zur neuen Größe des alkoholkranken Graf paßt auch der Wechsel von Mariacron zu Hen- nessy. Graf wollte seine Tochter als vorbildli- che Deutsche präsentieren – in der Nach- folge alter Sportstars wie dem vaterlands- treuen Boxidol Max Schmeling. Gleich- zeitig wollte er Steuern sparen, und das nicht zu knapp. Die Heuchelei wurde ihm nun zum Verhängnis. Der ganze Schwin- del fliegt auf. Bislang galt als halbwegs sicher, daß Peter Graf niemals wie Becker mit dem Umzug nach Monaco liebäugelte. Ein Umzug seinie in Frage gekommen, hat er Reportern stolz versichert. Neu aufgetauchte Dokumente belegen das Gegenteil. Gleich zweimal, in den Jahren 1984 und 1985, ließ er sich von den amerikanischen Advantage-Experten, darunter auch Picciotto, den Umzug ins Steuerparadies vorbereiten. Es war der Zeitpunkt, als die ganz gro- ßen Zahlen erstmals am Himmel auf- tauchten –dem Graf-Clanund der Entou- Graf-Entscheidung für Monte Carlo: „Müssen extrem vorsichtig sein“ rage von Advantage war klar, daß dank Steffi, die soeben erstmals das Achtelfi- nale von Wimbledon erreicht hatte, die flotte Geldvermehrung bevorstand. Bei den US Open 1984 trafen sich W. Dean Smith, seinerzeit Managing Direc- tor von Advantage, und Vater Graf in New York. Peter Graf wollte seinen Her- zenswunsch besprechen. Die Familie müsse Steuern sparen. Nicht zu knapp. Smith sagte seine Unterstützung zu. Er beriet sich mit den Fachleuten der Wirt- schaftsprüferagentur Arthur Andersen und schrieb dem „lieben Peter“ am 12. September 1984 einen vierseitigen Brief nach Brühl, mit Durchschrift an Phil de Picciotto. „Das Ziel istnatürlich“, heißt esindem Schreiben, das dem SPIEGEL vorliegt, „Steffi’s Steuerhaftung auf ein Minimum zu beschränken oder aufzuheben“. Smith diskutierte „zwei herkömmliche Wege“, die Änderung des Wohnsitzes und die Advantage-Anweisungen: „Appartement mit zwei Schlafzimmern“ Gründung von Gesellschaften, die nicht „im Eigentum des Steuerzahlers“ seien, denen aber „das ganze diesbezügliche Einkommen“ übertragen werde. Smith riet von der Gründung einer sol- chen Gesellschaft ab, der Trick wäre „nach deutschem Recht unrechtmäßig“. Da dieGrafs und Advantage sich „mit der Wirklichkeit eines sehr raffinierten Steu- ersystems in Deutschland“ auseinander- Graf-Rückzieher: „Will seine eigenen Methoden probieren“ zusetzen hätten, bliebe, so Smith, keine Wahl: „Wir müssen sobald wie möglich er Anfang der achtziger Jahre mit Peter mit der Zahlung von 40 000 Mark, und Schritte unternehmen, um Steffi außer- Graf oft über Geld gesprochen. „Immer ein Sticker bei Olympia in Los Angeles halb Deutschlands anzusiedeln.“ Die ging es ums Steuernsparen“, erinnert brachte 750 Dollar. Graf sammelte das Wahl fiel, nach AuflistungallerSteueroa- sich Kühn. Geld und versuchte, es durch Spesen- sen von Andorra bis St. Helena, auf Mo- Am Anfang waren es natürlich keine schiebereien zu mehren: Er steckte naco. Riesensummen. Die Firma Krüger zahl- fremdbezahlte Flugtickets ein oder die Peter Graf grübelte und zögerte. Er te 20 000 Mark für eine Getränkewer- Essensrechnung, obwohl er selbst Gast hatte, so erinnern sich Vertraute von da- bung, Adidas begann die Partnerschaft war. mals, Angst vor der Fremde: Er sprach

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„Wegen Steffis Bedeutung für Advantage und der Schwierig- keit, mit Peter Graf zu verhan- deln, müssen wir extrem vorsich- tig sein und sicherstellen, daß al- les reibungslos geht.“ Detailliert trug Smith seinen europäischen Adjutanten auf, et- wa „ein Appartement mit zwei Schlafzimmern in Monaco“ zu su- chen, ein Bankkonto zu eröffnen oder mit Steffi und ihrer Mama zum Vorstellungsgespräch beim Polizeichef von Monaco vorbei- zugehen. Ende 1985 schließlich, es war alles vorbereitet, blies Peter Graf die Aktion endgültig ab. Er woll- te, heißt es im Umfeld der Fami- lie, die Kontrolle über Steffi nicht verlieren. Und als gäbe es für seine Fami- lie keine Gesetze und keine Grenzen, plante Peter Graf den Doppelschlag: Frech wie Boris Becker sollte sie dem deutschen Fiskus mit Hilfe ausländischer Firmen entwischen – brav wie

SVEN SIMON Uwe Seeler sollte sie dennoch in Vater und Tochter Graf (1984) Deutschland wohnen bleiben. „Ein Umzug kam nie in Frage“ Illegal? Ganz egal. In jenen Jahren muß in Graf der Glaube schlecht Englisch und überhaupt kein gewachsen sein, ihm könne keiner, weil Französisch. Und in dem hundertfünf- alle ihn schützen. Ein frustrierter Ad- undneunzig Hektar umfassenden mone- vantage-Mitarbeiter in Deutschland gassischen Territorium wäre ein Graf meldete damals per Telex der Zentrale gar nicht aufgefallen. Mancher Mone- in Washington: „Monte Carlo: (Graf) gasse hätte es wohl auch an der gebote- will seine eigenen Methoden probie- nen Reverenz dem berühmten Tennis- ren.“ vater gegenüber fehlen lassen. Der Autodidakt und notorische Bes- Die Berater aber drängten weiter. Al- serwisser Graf wollte fortan das Image le Einkünfte, die vor einem Umzug nach des guten Deutschen bewahren und zu- Monte Carlo erzielt würden, müßten gleich über Steueroasen abkassieren. noch zehn Jahre lang in Deutschland Steffi blieb in Brühl, und in Holland versteuert werden, warnten sie. „Wir wurde, am 27. Mai 1987, die Firma Sun- fühlen, daß es ein Fehler wäre, das The- park Sports B.V. gegründet. ma auszulassen“, schrieb Smith. Und Die Sunpark Sports B.V. war, das der damalige Deutschland-Mitarbeiter steht mittlerweile fest, die Tochterfirma der Firma, Klaus Wawer, empfahl dem der Sunpark Sports N.V., die am 4. Juni Grafen einen „Berater des Fürstenhau- 1987 in Curac¸ao auf den Niederländi- ses“, der gern bereit sei, „für Sie dort tä- schen Antillen eingetragen wurde. Ein tig zu werden“. Auch durch „Übernah- ähnliches Modell hatte der Rumäne Ion me einer Patenschaft“ könne Steffi in Tiriac vor Jahren für Boris Becker ent- der Steueroase untergebracht werden. wickelt – legal, weil Becker damals in So ging es ein Jahr lang hin und her. Monaco lebte. Advantage empfahl den steuerschonen- Das Modell Graf funktionierte acht den Umzug, Graf sagte zu und traute Jahre lang. Sponsoren wie etwa Opel sich doch nicht recht. Mal ließ er durch oder Südmilch zahlten an Sunpark B.V. seinen Anwalt mitteilen: „Die steuerli- in Amsterdam; diese leitete Gelder wei- che Beratung von Steffi Graf wird die ter an Sunpark N.V. – und in Curac¸ao, Familie eigenverantwortlich in die Hän- Postanschrift 58 A de Ruyterkade, nah- de nehmen.“ men die Grafs ihre Reichtümer, abzüg- Dann wieder, im September 1985, lich 7,5 Prozent Steuern, in Empfang. wies Graf seine amerikanischen Helfer Die Konstellation der Firma war un- an, nun doch alles vorzubereiten – und gewöhnlich. Während Peter und Steffi zwar zügig. Mutter Heidi solle mit der Graf jeweils nur zehn Prozent der An- minderjährigen Steffi schon Neujahr teile an Sunpark N.V. hielten, standen übersiedeln. ihnen gemeinsam 100 Prozent der Aus- Prompt mobilisierte Smith seine Mit- schüttungen auf den Antillen zu. Diese arbeiter mit einem Memorandum: Gelder hätten in den Steuererklärungen

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Picciotto-Unterschrift im Handelsregister, Manager und Klientin (1989): „Womöglich will uns ja jemand reinreißen“

der Familie auftauchen müssen, doch sol- vergangener Jahre oder auch che gaben die Grafs vier Jahre lang erst die Zusage an, daß Sunpark im- gar nicht ab. mer legal gearbeitet habe. Wie um den Nebel noch ein wenig zu Die Schreiben scheinen ihn verdichten, taucht auch die Liechtenstei- heute zuentlasten; sielesen sich ner Firma Avantage, ohne „d“, im Ge- aber auch wie maßgeschneidert flecht um Sunpark wieder auf. Die nie- für schwere Tage. derländische ABN-Bank gab 1987, im Adressat Lier, damals inNew Zuge der Sunpark-Gründung, für Avan- York und inzwischen wieder in tage eine Bürgschaft in Höhe von 40 000 Amsterdam tätig, sagte am Gulden ab. Im Zuge einer Bankfusion, so Freitag nur, Picciotto sei „kein erklärte jetzt eine Sprecherin dem SPIE- direkter Klient“ von ihm gewe- GEL, seien „die betreffenden Unterla- sen. Ansonsten verweigert gen verschwunden“. Lier, der seinerzeit offenbar in Die Sunpark-Gesellschaften entspre- Sachen Sunpark tätig war, jegli- chen exakt jener Konstruktion, vor der chen weiteren Kommentar. Advantage die Grafs 1984 so vehement Sollte die Agentur oder auch gewarnt hatten. Picciotto erklärte am nur der Privatmann Picciotto al- Freitag vergangener Woche, er habe von len Dementis zum Trotz stärker den Sunpark-Geschäften „keine Ah- involviert sein, könnte dieses nung“ gehabt. Es gebe „keinen einzigen Geschäftsgebaren Advantage Geschäftsvorgang von Sunpark“, an dem möglicherweise die Kundin er oder seine Firma mitgewirkt habe. Graf kosten. „Das ganze alte Doch da findet sich eine Unterschrift. Umfeld“, sagt ein Freund, der Am 2. Januar 1989 wurde dem „Handels- die Tennisspielerin aus den register van de Kamer van Koophandel Wirren der letzten Wochen her- en Fabrieken“ in Haarlem ein Formular ausführen will, „muß weg.“ vorgelegt, das Picciotto als Direktor der Es scheint nicht ganz ausge- Firma Sunpark Sports B.V. angibt; er sei schlossen, daß die Amerikaner

seit Oktober 1988 im Amt. Und an der REUTERS das Spiel des Peter Graf tole- Stelle, wo die Unterschrift zu folgen hat, Verliererin Graf in Toronto riert haben könnten, weil Steffi „die durch den Direktor, den kommissa- „Ich kann nicht mehr“ schließlich nicht nur Papas Ka- rischen Vertreter oder Gläubiger unter pital war. Wer die Graf unter die Textstücke, die das Unternehmen ser Widerspruch gehört zuden vielen My- Vertrag hat, das istGesetz imDamenten- betreffen, gesetzt wird“, steht seine sterien, die sich rund um die Sunpark- nis, der bestimmt die Spielregeln; der schwungvolle Signatur. Klitsche vom Museumplein zu Amster- richtet die besten Turniere aus; der hat Diese Unterschrift, sagt Picciotto, sei dam noch immer auftun. die Macht. Geht der aber auch alle Risi- für ihn „provisorisch“ gewesen. „Nicht In dieses Zeittableau passen auch jene ken ein? bindend“ ohne eine weitere notariell be- Briefe nicht, die Picciotto im November Der Profi Picciotto ist ein ehrenwerter glaubigte Unterschrift. Er sei nie han- 1990 und im Januar 1991 an den Steuerbe- Mann, aber er beherrscht wie kaum je- delnder Direktor der Sunpark gewesen rater Peter Lier geschrieben hat. „Bevor mand sonst in seiner Branche die Kunst, und bereits 1989 ausgeschieden. icheine endgültige Zusage mache, Direk- aus einem Elefanten eine Mücke zu ma- Aber biszum1.Januar1994,so weist es tor von Sunpark Sports B.V. zuwerden“, chen. wiederum das Handelsregister aus, ist heißt es darin, „bestehe ich auf folgen- Fein gefinkelte Vertragswerke sind ei- Picciotto offiziell als einer von zwei Di- dem.“ Und dann fordert Picciotto „alle ne Stärke der Washingtoner Sportmarke- rektoren eingetragen gewesen. Und die- nötigen Informationen“, die Bilanzen ting-Manager. Manipulationen von so

196 DER SPIEGEL 34/1995 SPORT peinlicher Durchsichtigkeit, wie sie Graf Ein Trust für Steffi ist bislang aller- Steuerfälle solchen Kalibers von Docto- in Serie unterlaufen sind, traut Advan- dings nicht entdeckt worden. Autodi- res mit erstklassigen Adressen bearbei- tage niemand zu. dakt Graf fragte gern Experten um Rat tet. An Ideen mangelte es aber auch der und bastelte dann sein eigenes, dilettan- Seit zwei Wochen sitzt Peter Graf in Washingtoner Firma nicht. In den Akten tisches Modell. Sicher ist, daß er dem Gefängnis-Hospital zu Hohenas- finden sich auch Advantage-Verträge schließlich seine Millionen auf zwei We- perg. Keine Hand rührt sich bislang, ihn über Showturniere mit Steffi Graf in gen um den Globus schickte: Mal war aus der ehemaligen Trutzburg zu befrei- Deutschland, die an eine Vaduzer Firma Sunpark in Amsterdam, mal Escrow in en. Sein Gesundheitszustand ist, bis auf vergeben werden, die ihrerseits eine klei- Washington für die Grafs als Geldsam- eine leichte Gicht, passabel. Er liest den ne deutsche Gesellschaft mit der Durch- melstelle aktiv. SPIEGEL sowie andere Periodika und führung beauftragt. Die Einnahmen soll- Kleinliche Zweifel bei all dem Ge- fällt durch Anflüge von ausgesuchter ten über Liechtenstein auf den von Ad- schiebe waren Peter Graf fremd. Beim Höflichkeit auf. Die Staatsanwaltschaft vantage verwalteten „Escrow Fund II“ will ihn in die normale U-Haft bringen bei der National Bank ofWashington flie- lassen, um den Druck auf den angebli- ßen. „Der Name Graf chen Steuersünder zu erhöhen. Der Escrow Fund ist eine Advantage- soll aus den Derzeit sind die Ermittler dabei, die Spezialität, er existiert in diversen Varia- Flüsse der Sponsorengelder nachzuvoll- tionen. In diesen Fonds wird das Geld Büchern verschwinden“ ziehen. Von Interesse ist beispielsweise, vieler Athleten gesammelt und anschlie- warum Adidas im besten Jahr der Steffi ßend weiterverteilt. Wie das geht, hat der Bundesamt für Finanzen ist der Brühler Graf, 1988, die offiziellen Zahlungen Rheinländer Kühn, ehemals mit Klaus Kaufmann in Erinnerung geblieben, weil über 1,5 Millionen plötzlich um über ein Wawer bei Advantage Deutschland und er für Zahlungen an die Sunpark in Hol- Drittel kürzte. Adidas verweigert seit im Streit geschieden, erfahren. Die Wa- land eine Freistellung von der fälligen Wochen genauere Erklärungen. Der shingtoner Agenturherren empfahlen Quellensteuer verlangte. Als sein Antrag Verdacht liegt nahe, daß der stolze Rest ihm, einen „sehr diskreten“ Trust auf den abgelehnt wurde, tobte der Graf. auf Umwegen den Grafs zugute Bermudas zu gründen, dorthin könnten In seiner Umgebung duldete er nur Ja- kam. Gewinne dann transferiert werden. Sein sager und Claqueure, diedenWeihrauch- Schon in frühen Telexen von Advan- Gegenüber, der damalige Advantage- kessel schwangen. Der getreue Joachim tage findet sich ein kryptischer Satz über Chef Dean Smith, habe ihm angedeutet, Eckardt, gegen den auch ermittelt wird, die Firma, die sich jetzt so um Steffis über so einen Trust auch für Steffi nach- weil er sich um Grafs Steuern mühte, ist Zukunft sorgt: „Graf möchte versu- zudenken – und dabei habe Smith „mit gelernter Steuerfachgehilfe. Ein ehrba- chen, Steffis Namen aus den Adidas- den Augen gekniept“. rer Beruf, aber normalerweise werden Büchern herauszuhalten.“ Y .. REGISTER

Gestorben Hörspiels „Krieg der Welten“ nach H. G. Wells für gewaltige Aufregung Mickey Mantle, 63. Keiner konnte den gesorgt. Koch hatte das Stück als dra- Baseball so hart schlagen wie er. Noch matische Funkreportage angelegt und heute gilt sein Weitenrekord über 172 die Hörer mit der Meldung in Panik ver- setzt, daß Marsmenschen in New Jersey gelandet seien, die sich auf dem Vor- marsch nach New York befänden. Hun- derttausende von New Yorkern bega- ben sich, angetrieben von der kalten Reporterstimme Orson Welles’, auf die Flucht. Der amerikanische Autor, der Drehbücher schrieb für „Der Herr der sieben Meere“ (mit Errol Flynn), „Das Geheimnis von Malampur“ nach der Vorlage von Somerset Maugham (mit Bette Davis) und „Sergeant York“

REUTERS (mit Gary Cooper), erhielt für die genia- Meter von 1953. Erst zwei Jahre zuvor len Dialoge in dem hatten die New York Yankees den da- später zum Kultfilm mals 19jährigen Sohn eines Bergarbei- avancierten „Casa- ters aus Spavinaw (Oklahoma) in ihre blanca“ 1943 den Mannschaft geholt. Trotz zahlreicher Oscar. Während Verletzungen machte Mantle eine der McCarthy-Ära

Ausnahmekarriere. Mit dem legendä- stand der Linkslibe- AP ren Team von der Ostküste gewann er rale auf der soge- bis zum Ende seiner Karriere sieben- nannten Schwarzen Liste. Howard mal die World Series, erreichte 536 Koch starb vergangenen Donnerstag in Home Runs und wurde dreimal zum Kingston (New York) an einer Lun- „wertvollsten Baseball-Spieler“ ge- genentzündung. wählt. Erst im vergangenen Jahr äu- ßerte sich Mantle in einem aufsehener- Vermißt regenden Artikel in Sports Illustrated zu seiner jahrzehntelangen Alkoholab- Alison Hargreaves, 33. Sie hatte nach hängigkeit. Mickey Mantle starb am Reinhold Messner als erste Frau ohne 13. August in Dallas an Krebs. Scherpas und ohne Sauerstoffgerät den höchsten Berg der Welt, den Mount Milton Katz, 87. Als ihm 1950 von dem Everest, bezwungen. Die zierliche amerikanischen Präsidenten Harry S. Schottin, Mutter von zwei Kindern, Truman der wichtige Posten des Son- die ausgeglichen und überhaupt nicht derbeauftragten zur Realisierung des vom Ehrgeiz getrie- ben wirkte, stellte Marshallplans in Paris übertragen wur- sich vor allem aus de, kannte den in Harvard ausgebilde- purer Freude am ten Juristen und dort tätigen Professor Klettern und an kaum einer. Nachdem er knapp zwei den Bergen stets Jahre die Aufsicht über die Verteilung neuen Herausforde- von 12 Milliarden Dollar im danieder- rungen. „In den Ber- liegenden Nachkriegseuropa führte gen fühle ich mich und Koordinator von 18 Teilnehmer- weniger einsam als ländern war, hatte er sich eine solche

REUTERS auf den belebten Reputation erworben, die ihn für wei- Straßen Londons. tere internationale Projekte prädesti- Ich habe das Gefühl, daß dort jemand nierte. So war er später Vorsitzender auf mich schaut.“ Nachdem sie bereits des Finanz- und Wirtschaftsausschus- Aufsehen erregt hatte, als sie, im sech- ses der Nato und Mitglied des Exeku- sten Monat schwanger, die Eiger-Nord- tivkomitees der World Peace Founda- wand bestieg, war das nächste Ziel der tion. Milton Katz starb am 9. August Frau, nach dem Mount Everest den in Brookline, Massachusetts. zweit- und den dritthöchsten Berg der Welt, den K-2 und den Kangchenjunga, Howard Koch, 93. Der Satz von zu besteigen. Alison Hargreaves, die Humphrey Bogart an Ingrid Bergman von sich behauptete, ein Ego so groß „Ich schau’ dir in die Augen, Kleines“ wie der Everest zu haben, wurde vor- machte ihn zum bekanntesten Unbe- vergangenen Sonntag beim Abstieg kannten in der Filmbranche. Dabei vom K-2 mit ihren vier Begleitern von hatte er schon vorher als Autor des einer Lawine in die Tiefe gerissen.

198 DER SPIEGEL 34/1995 Werbeseite

Werbeseite . PERSONALIEN

idel Castro, 68, Kubas Staats- und FRegierungschef, erhielt erstmalig nach dem Zusammenbruch der So- wjetunion wieder Liebesgrüße aus Moskau. Eine Gruppe konservativer Schriftsteller verlieh dem Revolutionär der Karibik den Scholochow-Preis. Die nach dem Autor des Kosaken- und Bürgerkriegsepos „Stiller Don“ be- nannte Ehrung sei, so der sibirische Schriftsteller Jurij Bondarew in seiner Laudatio, Castro zuerkannt worden als einer „riesenhaften“, in einer „Epoche allgemeinen Verrätertums“ aus der „Menge politischer Pygmäen herausra- genden Figur“. Der kubanische Hüne bedankte sich mit „brüderlichem Gruß“: Die Dichter-Auszeichnung aus „dem Lande Lenins“ werde ihm Kraft

geben, „weiter vorwärtszuschreiten bis VARIO-PRESS zum siegreichen Ende“. Töpfer mit Ton-Drachen

oschka Fischer, 47, einer der beiden laus Töpfer, 57, Bundesbauminister, ignorierte das Kanzleramt. Kurz vor JSprecher der Bundestagsfraktion KAbreise ins sächsische Görlitz am Montag vergangener Woche, wo Töpfer von Bündnis 90/Die Grünen und heim- Sanierungsmaßnahmen an historischen Bauten begutachten wollte, erreichte licher Oppositionsführer, klagte über ihn die Aufforderung aus dem Kanzleramt, die Reise abzusagen, da Kanzler- Langeweile in der ersten Reihe. Den amtsminister Friedrich Bohl am Dienstag die deutsch-polnische Grenze in Gör- 49 Abgeordneten der Bündnisgrünen litz besichtigen wolle. Töpfer, seit geraumer Zeit auf Distanz zum Kanzler, ver- stand bislang nur ein Platz im innersten zichtete zwar auf den Besuch der Grenzstation, hielt aber ansonsten den Ter- Kreis der Plenarsaal-Bestuhlung zu. minplan mit kleinen Umstellungen ein. So mußte die Landskron-Brauerei – ein Fischer, der gewöhnlich dort thront, Baudenkmal – zum Leidwesen des passionierten Biertrinkers bereits morgens mußte sich zur Konversation entweder um neun besichtigt werden, so daß keine Gelegenheit für eine intensive Verko- weit nach links recken zum CDU-Kol- stung blieb. Weitere Belohnung des Reisenden: Ein acht Kilogramm schwerer Ton-Drache der Görlitzer Dachziegelfabrik, der aber im Töpfer-Ministerium zur Aufstellung kommen muß. „Meine Frau“, so Töpfer, „wäre wohl ziemlich böse, wenn ich ihn mit nach Hause brächte.“

duard Stimmelmayer, 75, Nachbar ndrea Guglieri, 59, italienischer Edes neuen Münchner Flughafens, ASenator und Bürgermeister im Ri- hat Chancen, als Michael Kohlhaas viera-Badeort Diano Marina, ist ein vom Erdinger Moos zu enden. Der alte Feind öffentlich zur Schau gestellter Bauer ficht trotz dreier verlorener Pro- Zellulitisschenkel und Schwabbelbäu- zesse und sieben von ihm verschlisse- che. Dicken Frauen untersagte der nen Anwälten weiter gegen das Milli- Ästhet den Bummel im Bikini außer- ardenprojekt nordöstlich von Mün- halb des Strandes, sofern sie ihre kör- chen. 5724 Klagen wurden gegen den

KARWASZ Flughafen angestrengt, Stimmelmayer Fischer ist einer der letzten, die immer noch nicht aufgeben. Selbst Justizministerin legen Wolfgang Schäuble oder auf die Sabine Leutheusser-Schnarrenberger andere Seite zu den SPD-Plätzen. beschäftigte er mit seinem Kampf ge- Noch unbequemer war die Kontakt- gen die Flughafengesellschaft – auch aufnahme zur eigenen Fraktion. Den wenn die ihn kühl beschied, sie mische fülligen Leib mußte der Grüne dann sich nicht in Prozesse ein. Doch der erst mal um 180 Grad nach hinten dre- Bauer will rächen, was ihm – aus seiner hen. Mit seiner Bitte um einen weite- Sicht – vor gut 23 Jahren angetan wur- ren Platz in der ersten Stuhlreihe für de. Denn für seine Grundstücke, die er die Bündnisgrünen stieß Fischer jetzt dem Flughafen verkaufen mußte, be- bei SPD-Fraktionsgeschäftsführer Pe- kam Stimmelmayer gerade mal 6,50 ter Struck auf koalitionswilliges Entge- Mark pro Quadratmeter – insgesamt genkommen. Nachdem er sich bei sei- 112 645 Mark für seine 17 330 Qua- nem Vorsitzenden Scharping rückver- dratmeter Land. Später gab es bis zu sichert hatte, veranlaßte Struck den 26 Mark für den Quadratmeter. Und Umbau der Bestuhlung. Folge: Künf- soviel Geld treibt selbst den gemütlich- tig gibt es in der ersten SPD-Reihe sten Bayern um. „Solange ich noch ein

nicht mehr für alle sozialdemokrati- offenes Auge hab’“, prophezeit Stim- EPA schen Fraktionsspitzen einen Platz. melmayer, „gebe ich nicht auf.“ De Salvo, Guglieri

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perlichen Nachteile nicht oder nur schaft an.“ Solch deutschnationale Pa- spärlich bedecken. Die Ortspolizei rolen sind nun dem Populisten ver- überwacht. Daß Guglieri aber keines- dächtig: Jedes „Element der Deutsch- wegs ein Feind des Bikinis ist, bewies tümelei“ müsse „der Vergangenheit er bei der Wahl der „Miß Diano Mari- angehören“, statt dessen gelte es, na“. Selbstverständlich, so der hagere „eine starke österreichische Identität Schöngeist, dürfe Siegerin Denise de zu gewährleisten“, verkündete er jetzt. Salvo, 19, im Ort auch in ihrem Wett- Hintergrund des Haider-Schwenks: bewerbsaufzug spazierengehen, ohne Nach Einschätzung von österreichi- bestraft zu werden. schen Wahlsoziologen lassen sich nur mehr rund fünf Prozent der Wähler elson Mandela, 77, Staatspräsident durch Themen der Ewiggestrigen mo- Nvon Südafrika, ist mit Erzbischof bilisieren, die Viva- und MTV-Gene- Desmond Tutu über Kreuz in Fragen ration kennt nicht einmal mehr den der Kleiderordnung. Der Kirchenfürst Ausdruck Deutschnationalismus. Hai- äußerte vor Gläubigen Verdruß über der verordne seiner Partei, spottete die Mandelas Vorliebe für farbenfrohe, österreichische Tageszeitung Kurier, weitgeschnittene Hemden. „Er sieht so jetzt „Österreich-Tümelei“. elegant und würdig in Anzügen aus“, mbrose McGinn, 36, Marketing-Di- Arektor der britischen Bank Abbey National, rief zur ersten „Stoff-freien Modenschau“, um eine neue Dienstlei- stung seines Hauses vorzustellen. Mo- dels trugen dabei nichts weiter auf dem Leib als Kleider aus aneinandergeket- telten Plastikkärtchen, genauer, aus Abbeys neuen sogenannten Multi- functional Cards, die nicht nur Scheck-, Kredit- und Bargeldkarte in REUTERS Mandela

klagte Tutu, „ich habe ihm gesagt, daß ich ihn nicht besonders mag mit seinen Hemden.“ Vergangenen Dienstag trug Mandela auf Dienstrei- se ein grün-blaues ornamentreiches Seidenhemd. Ob er Tutu „eins auswi- schen“ wolle, wurde Mandela von ei- nem Journalisten im Begleittroß ge- fragt. Er habe mit dem Kirchenmann über seine Garderobe gesprochen, antwortete der Politiker: „Ich sagte dem Erzbischof, daß ich seine An- sichten respektiere, aber daß wir kei- ne Diskussion beginnen sollten, wo es keine Lösung gibt.“

örg Haider, 45, rechtslastiger Vorsit- ABBEY NATIONAL Jzender der österreichischen Freiheit- Abbey-National-Model lichen, stellt seine alte Klientel in die Ecke. Im noch geltenden Parteipro- einem sein sollen, sondern, wie zu se- gramm von 1985, damals hießen die hen war, auch noch die Funktion des Freiheitlichen noch FPÖ, steht zu le- Kleiderstoffs übernehmen können. sen: „Die bei weitem überwiegende „Wake up to fresher banking“, lautet Mehrheit der Österreicher gehört der denn auch das schmissige Werbe-Mot- deutschen Volks- und Kulturgemein- to der einst ehrwürdigen Bank.

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MONTAG 21.8.

16.00 – 17.00 Uhr RTL Hans Meiser Thema: „Wenn die Liebe Rost an- setzt“. Bewährtes Rostschutzmittel: weniger Talkshows sehen, nicht so viel kalt Duschen.

19.30 – 20.00 Uhr Arte Sportlegende Während seine Team-Kameraden schon in der Halle an ihrer Wurftech-

nik feilen, sitzt Mahmoud Abdul-Rauf RÖHNERT noch in der Kabine und bindet sich die „Die wahre Geschichte“-Darsteller Heinze, Kirchberger Schuhe. Für den Aufbauspieler der Basketball-Mannschaft „Denver Nug- 20.15 – 22.10 Uhr Kabel 1 22.15 – 23.50 Uhr ZDF gets“ eine Prozedur, die 60 Sekunden, Love Story Die wahre Geschichte von aber auch eine ganze Stunde dauern Männern und Frauen kann. Der knapp zwei Meter große „Lieben bedeutet, nie um Verzeihung Basketballer leidet unter dem kaum bitten zu müssen“, haucht in diesem be- . . . erzählt der Regisseur Robert van erforschten Tourette-Syndrom, einer rühmten Tränenspiel (USA 1969, Re- Ackeren („Die flambierte Frau“): eine Nervenkrankheit, die ihn dazu zwingt, gie: Arthur Hiller) die leukämiekranke Geschichte der Unwahrheit, der fal- alles bis zur Perfektion zu betreiben. Heldin (Ali MacGraw) ihrem Lover schen Erwartungen. Fünf Damen sind Nur mit völliger Konzentration schafft (Ryan O’Neal) kurz vor dem Exitus ins vor ihren Männern zu einer Therapeu- es der zum Islam konvertierte Sport- Ohr. Verzeihung: Der Satz klingt ir- tin geflohen, um ihre Identität als Frau- ler, seine Zuckungen und Schreianfälle gendwie schön und ist doch nichts als en zu finden. Männer haben keinen Zu- zu kontrollieren. Durch die Krankheit Schmock. Schmalz im Film bedeutet tritt. Die Ausgesperrten wollen die Ba- avancierte Abdul-Rauf zu einem der halt, nie nach dem Sinn fragen zu müs- stion stürmen, beseelt von ihren Projek- sichersten Schützen der Nationalen sen. Und die Verfilmung eines Bestsel- tionen der Weiblichkeit. Darstellerin Basketball-Liga. Reporter Sven Har- lers von Erich Segal war einer der größ- Sonja Kirchberger beflügelt besonders tung beobachtete den Sportler. ten Kassenerfolge in den Siebzigern. die männlichen Phantasien.

DIENSTAG 22.8. wurde, der infantilen Kinoerwartung „das Leben dort erfassen, wo es ist“. der Fünfziger sei Dank, nie erwachsen. So entstand eine einzigartige Samm- 15.00 – 16.00 Uhr RTL lung mit Bildern aus aller Welt. Ilona Christen 20.15 – 21.40 Uhr 3Sat Sisi „Ich bin unsterblich“. Gottes Strafe für das Karlsruher Kruzifix-Urteil. Sissi ohne Klischee: Christoph Böll verfremdet die Geschichte der jungen 19.25 – 21.00 Uhr ZDF österreichischen Kaiserin. Bad Ischl, Vater, Mutter und neun Kinder in dem der österreichische Kaiser Franz seine Verlobung mit Sissi (die Eigentlich sind es zehn. Denn Heinz hier, historisch richtig, Sisi mit einem s Erhardt, lustiger Mittelpunkt dieser heißt) zelebriert, liegt im Hamburger deutschen Filmkomödie von 1958, Jenisch-Park. Schloß Schönbrunn ist das Rathaus der Hansestadt und könn- te auch Schönbrust heißen, denn ent- blößte Busen bedrängen in Bölls Wien den jungen Kaiser (Nils Tavernier), so daß er in homoerotischer Verschüchte- rung zu versinken droht. Kein Wun- der, daß er als Braut die hochbusige Helene (Sonja Kirchberger) ver-

schmäht und als Antitt-These die kind- REUTERS lich-knabenhafte Sisi heiratet. Kerkeling

20.40 – 21.45 Uhr Arte 21.05 – 21.35 Uhr ARD Transit: Der Planet Albert Kahn Total normal Der aus dem Elsaß stammende Ban- Als Königin Beatrix verkleidet, ließ kier Albert Kahn bereiste am Beginn der Komiker Hape Kerkeling Bundes-

TELE BUNK dieses Jahrhunderts die ganze Welt wehrsoldaten strammstehen. Wieder- Erhardt und wollte auf Fotografien und Filmen holung der schönsten Folgen.

202 DER SPIEGEL 34/1995 .

21. August bis 27. August 1995

MITTWOCH 23.8. sich ihre Schwester (Kim Zimmer), 22.15 – 23.00 Uhr ZDF Mutter einer kleinen Tochter, einfach Kennzeichen D 20.15 – 22.10 Uhr RTL aus dem Staub gemacht hat. Als Spurlos verschwunden – Wo ist Schwager Ron (Joe Penny) der Polizei Zeugen ohne Zivilcourage – Skin- meine Schwester? erzählt, seine Frau sei verschwunden, heads überfallen Behinderte / Jugend stellt Corrine Ermittlungen an, ent- baut auf – deutsche Hilfe in Mostar / Der US-Fernsehthriller (1994) beruht deckt schwarze Flecken auf der Weste Test the West – Frauenbilder in Kon- auf einem authentischen Fall: Corrine Rons und schafft es, daß er verurteilt trast (Ann Jillian) kann nicht glauben, daß wird. 23.00 – 0.35 Uhr ARD Schatten der Wüste Der deutsche Regisseur Jürgen Bret- zinger drehte seinen Film (1989) zwar in der Wüste, doch konnte er das deutsche Beziehungsgespräch nicht trockenlegen. Der Entwicklungshelfer Kai (Oliver Stokowski) und der Aben- teurer Adam (Hannes Jaenicke) dür- sten nach einer Autopanne vor sich hin und reden – obwohl dem Tode na- he – über Bier, autogenes Training, Motoren und Frauen. Die Süddeut- sche: „Wenn uns das kleine, alltägli- che Elend auf der großen Leinwand begegnet, dann sieht das Vertraute plötzlich fremd aus, die gewöhnlichen „Spurlos verschwunden“-Darsteller Penny mit Alexandra Purvis Sätze klingen ungewöhnlich dumm.“

DONNERSTAG 24.8. 21.00 – 21.45 Uhr ARD sier des öffentlich-rechtlichen Fernse- Monitor hens. Um 22.15 Uhr, ZDF, richtet der 20.15 – 20.59 Uhr ARD eilige Vater des geschriebenen Wortes, Sommergeschichten Krajina – kroatischer Sieg mit deut- Marcel Reich-Ranicki, mit dem litera- schen Waffen? / Kurden verschwinden rischen Quartett über den Wälzer, und Rassige Bulgarin bringt Ehe zwischen in der Türkei / Die Steuermilliarden SPIEGEL-Leser kennen schon sein Lehrerin und bodenständigem Land- für den Tabakrauch Urteil (siehe Titel). Um 23.00 Uhr, arzt in Gefahr. Doch ein altersweiser ARD, porträtiert Adalbert Wiemers Doktor (Rolf Hoppe) führt den unflot- 22.15 – 0.30 Uhr ZDF/ARD den knorzigen Kaschuben, und an- ten Dreier aus seinen Gefühlsverwir- Grass, Grass, Grass schließend 23.45 Uhr, ARD, wird – rungen. Der Schmäh spielt rund um Kultur ist Fernseh-Nachtschicht – das ostdeutsche Memleben an der Un- Das weite Feldgeschrei an diesem eine Rezension nachgereicht. Titel: zucht, äh nein, an der Unstrut. Abend: der neue Grass-Roman im Vi- „Comeback eines Abgeschriebenen“.

FREITAG 25.8. bil, die Greenpeace-Rechercheurin zuvor in einer Talkshow ein Bild von (BarbaraAuer)immer nur vollerunver- Papst Johannes Paul II. zerrissen hat- 20.40 – 22.10 Uhr Arte wüstlicher moralischer Sendung. Ein- te. Verbotene Zone mal zitiert der am Ende entlarvte böse Atombombenbauer den Dichter Kleist, Atombauer, Bomben, Bonzen – Re- und wir erinnern uns voller Wehmut, gisseur Markus Fischer läßt es in die- daß es eine innere Welt der Figuren ge- sem vorab aufgeführten ZDF-Thriller ben könnte hinter den actiongeilen Bil- krachen, vor allem optisch. Plutonium, dern. das Teufelspulver, staubt giftig auf, Umweltpiraten erklimmen Stricklei- 23.15 – 0.40 Uhr West III tern und dringen in Laboratorien ein. Rocklife Special Wachhunde zerfleischen das Bein eines grünen Kämpfers. Mal sieht Der WDR zeigt in zwei Teilen (zweiter der Zuschauer das Geschehen „live“ Teil: nächsten Freitag, 23.15 Uhr) den in schauerlich-edlen Farben, mal „Bob Dylan Tribute“ vom 16. Oktober schwarzweiß und verwackelt durch die 1992 aus dem New Yorker Madison Optik der Videokamera, mit der die Square Garden. Der schönste und tap- Aktivisten ihr edles Tun festhalten. ferste Auftritt der glatzköpfigen iri- Die optische Raserei hat aber ihre Ko- schen Sängerin Sinead O’Connor, ob- sten: Die Protagonisten erstarren zu wohl sie nach 15 Minuten ausgepfiffen

Abziehbildern. Der bärtige Kamera- die Bühne räumen mußte. Das Publi- PHOTO SELECTION mann (Ernst Sigrist) ist immer nur la- kum war ihr böse, weil sie wenige Tage Sängerin 0¯Connor

DER SPIEGEL 34/1995 203 .

FERNSEHEN

SAMSTAG 26.8. DIENSTAG 23.00 – 23.40 Uhr Sat 1 12.00 – 22.10 Uhr TM3 SPIEGEL TV REPORTAGE Start des neuen Frauensenders Am 30. September 1955 starb 24jährig Nach dem gestrigen Startschuß bei der der Schauspieler James Dean bei ei- Internationalen Funkausstellung zeigt nem Autounfall in Kalifornien. Mit den der private Münchner Frauensender heute in geballter Form, womit er das weibliche Publikum an sich binden will. „Ultima“ wird das tägliche Talk- magazin heißen (Moderatorinnen: Bettina Rust, Susanne Rohrer). The- ma: „Sterilisation bei Männern“. Dann gibt es ein Modemagazin („Planet Fashion“), ein Elternmagazin („Kin- derella“ mit Amelie Fried), ein Life- style-Magazin, ein Gesundheitsmaga-

zin und schließlich – Magazinitis ist CINETEXT nicht alles – steht ein Katja-Riemann- Midler Porträt der Filmerin Vera Tschechowa an. Weitere Eigenproduktionen des 20.15 – 22.05 Uhr RTL ersten Sendetages: die Dokumentati- Die unglaubliche Entführung der

onsreihe „Frauen dieser Welt“ und die verrückten Mrs. Stone D. STOCK / MAGNUM / FOCUS Polit-Sendung „TM3 – Das Magazin“, Dean moderiert von TM3-Chefredakteurin Die reiche,fette, zickigeBarbara (Bette Anna Doubek, 48. Der neue Sender Midler) wird entführt. Ihr Mann (Dan- Klassikern „Jenseits von Eden“ und kann über den Eutelsat Hotbird I bun- ny DeVito) denkt nicht im Traum dar- „Denn sie wissen nicht, was sie tun“wur- desweit empfangen werden und wird in an, seine verhaßte Gattin freizukaufen. de er weltberühmt. Auch 40 Jahre nach Bayern, Hessen und Nordrhein-West- Die Komödie (USA 1986) von erlesener seinem Tod lebt der Mythos James Dean falen ins Kabel eingespeist. Geschmacklosigkeit. weiter. SPIEGEL TV REPORTAGE zeigt ein Porträt der Legende.

SONNTAG 27.8. 22.00 – 23.30 Uhr ZDF MITTWOCH Allein gegen die Mafia 22.10 – 23.00 Uhr Vox 20.15 – 22.05 Uhr Pro Sieben SPIEGEL TV THEMA Hexen hexen Mafia-Jäger Corrado Cattani (Michele Placido) starb den Filmtod. Commissa- Warum die Frauen aus den neuen Län- Die Verwandlung in eine Maus war für rio Davide Licata ging dahin, weil sein dern so erfolgreich sind. den kleinen Luke als Strafe gedacht. Darsteller, Vittorio Mezzogiorno, ei- Doch der kostet es erst einmal in vol- nen tödlichen Herzinfarkt erlitt. Da FREITAG len Zügen aus, sein Spielzeug, von der müssen eben die Frauen ran. Patricia 22.00 – 22.40 Uhr Vox Lego-Achterbahn bis zum Modellflug- Millardet spielt die couragierte Richte- rin Silvia Conti in der bisher letzten, SPIEGEL TV INTERVIEW der siebten Staffel. Doch das Wichtig- Beachvolleyball ist Trendsportart. Axel ste an den sechs 90-Minütern dürfte Hager und Jörg Ahmann gehören zu den wieder die Musik von Ennio Morrico- besten Teams der Welt. SPIEGEL TV IN- ne werden. Seine Melodien wissen im- TERVIEW traf die Sportler. mer schon vorher, wenn die Schurken dräuen. SAMSTAG 21.50 – 23.40 Uhr Vox 23.00 – 0.30 Uhr ARD Eiserne Engel SPIEGEL TV SPECIAL Der Kampf um die BrentSpar:SPIEGEL TV Autor Thomas Schadt flog für diese SPECIAL dokumentiert die entscheiden- Reportage zwei Wochen lang bei Ein- den Tage. sätzen mit dem ADAC-Rettungshub- schrauber „Christoph 25“ mit, der auf SONNTAG dem Gelände eines Siegener Kranken- 22.05 – 22.50 Uhr RTL Szenenfoto hauses stationiert ist. Mit den Mitteln des „Cinema directe“, also ohne sensa- SPIEGEL TV MAGAZIN zeug, aus einer neuen Perspektive zu tionslüsterne Kommentierung, fing Gegen den Teufel auf Erden – die Mun- erleben. Danach bleibt noch genug Schadt, der zugleich Kameramann ist, Kirche in der Ost-Offensive / Schalke- Gelegenheit, es den als freundliche die harte Arbeit der Luftretter ein, die Tapeten und Borussen-Parfüm – Bundes- Omas getarnten fiesen Hexen heimzu- immer wieder in kürzester Zeit am Un- liga-Klubs auf dem Sponsor-Trip / zahlen. Als Oberhexe brilliert Anjelica fallort medizinische Entscheidungen Geschwindigkeitsrausch auf rollenden Huston in Nicolas Roegs vergnügli- treffen müssen. Der Film zeigt den Schuhen – Skating-Weltmeisterschaft in chem Special-effects-Spektakel. Streß der Rettungsteams. Lausanne.

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Werbeseite HOHLSPIEGEL RÜCKSPIEGEL

Aus der Dresdner Morgenpost: „TV- Zitat Mann und Galopp-Experte Arnim Ba- sche prüft Bundestagspräsidentin Rita Der Wiener Kurier zum Bericht von Süssmuth auf ihren Pferdever- SPIEGEL-Reporter Jürgen Neffe über den stand.“ Krebsheiler Ryke Geerd Hamer „Ich bin der Jäger – nicht der Gejagte“ Y (Nr. 32/1995): Das Interview ist ein erschütterndes Do- kument einer Geisteskrankheit: Krebs, sagt der untergetauchte „Heiler“ Geerd Hamer in dem SPIEGEL-Interview, ist ein biologisch sinnvolles Sonderpro- gramm der Natur, Tumore sind bloß ein Teil des Heilungsprozesses. Keine schulmedizinische Behandlung, keine Chemotherapie, allein die Lösung der Konflikte mache Krebspatienten wieder vollkommen gesund. Aber Chemomafia und Schulmedizin hätten sich selbst um Aus der Kaltenkirchener Umschau den Preis von Menschenleben gegen ihn verschworen, um die „Neue Medizin“ Y zu verhindern. Aus dem Hamburger Abendblatt: „Bis zum 1:0 lief das Spiel auf ein 0:0 hinaus, dann gab der Schiedsrichter einen um- Der SPIEGEL berichtete . . . strittenen Elfmeter für Lurup – der Weg zum Sieg.“ . . . in Nr. 14/1995 ZEITGESCHICHTE – ARCHÄOLOGIE DES TERRORS über neue Y Unterlagen, die gegen den Konstrukteur der V2-Rakete Wernher von Braun, den „Vater der Raumfahrt“, vorliegen und das geschönte Bild des nur der Wissenschaft ergebenen Physikers zerstören. Der SS- Mann von Braun hatte seinem Diensther- ren Adolf Hitler bedingungslos zugear- beitet und sich dabei um die Produkti- Aus der Aachener Volkszeitung onsbedingungen – beim Bau der unterir- dischen Produktionsstätten starben mas- Y senweise Zwangsarbeiter – wenig ge- Aus der Welt: „Da ist der meterlange schert, sondern sich selbst um Fachper- Oberarmknochen eines Mammuts, etwa sonal unter den KZ-Häftlingen bemüht. so dick wie der Oberschenkel von Lo- thar Matthäus. Das gute Stück wurde Der Ortsbeirat von Groß Karben in letztes Jahr in der Friedrichstraße gefun- Hessen hat aufgrund des Berichts ver- den.“ gangene Woche beschlossen, eine Wohnstraße, die seit 25 Jahren den Na- Y men Wernher von Brauns trägt, in Chri- stinenstraße umzubenennen.

. . . in Nr. 28/1991 RÜCKSPIEGEL, daß Entwicklungshilfeminister Carl-Dieter Spranger beim Bonner Landgericht ge- gen den damaligen Geschäftsführer des Vereins der Freunde und Förderer der Al- fons-Goppel-Stiftung, Wolfram Ruhen- stroth-Bauer, Strafanzeige wegen Be- trugsverdachts gestellt hat. Aus der Dithmarscher Landeszeitung Die Staatsanwaltschaft beim Landge- richt München hat das gegen Ruhen- Y stroth gerichtete Ermittlungsverfahren nach über dreijähriger Untersuchung Aus dem Anzeigenblatt Baden-Baden am 8. November 1994 mangels Tatver- Impressionen: „Wolfram Siebeck ist dachts eingestellt. Die vom Ministerium der Gourmet unter den deutschen nachgeschobene Schadensersatzklage Journalisten. Er goutiert mit seinen über 1,4 Millionen Mark wurde vom ständigen Beiträgen die Leser der Zeit, Landgericht Bonn nunmehr durch Ver- Stern und Feinschmecker.“ zichtsurteil abgewiesen.

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