Apuz 35-37/2019: Das Letzte Jahr Der
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69. Jahrgang, 35–37/2019, 26. August 2019 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Das letzte Jahr der DDR Ilko-Sascha Kowalczuk Martin Sabrow VON DER REVOLUTION „1989“ ALS ERZÄHLUNG ÜBER DEN MAUERFALL Mandy Tröger ZUR EINHEIT DIE TREUHAND UND Dieter Segert DIE PRIVATISIERUNG VERPASSTE CHANCEN DER DDR-PRESSE IM 41. JAHR Elke Kimmel Greta Hartmann · Alexander Leistner WEST-BERLIN. UMKÄMPFTES ERBE. STIMMUNGSBILDER ZUR AKTUALITÄT VON „1989“ AUS DEM LETZTEN JAHR ALS WIDERSTANDSERZÄHLUNG ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Das letzte Jahr der DDR APuZ 35–37/2019 ILKO-SASCHA KOWALCZUK MARTIN SABROW VON DER REVOLUTION ÜBER DEN „1989“ ALS ERZÄHLUNG MAUERFALL ZUR EINHEIT So epochal die Bedeutung des Umbruchs von In das Jahr 1989 gingen die meisten Ostdeut- 1989 ist, so diffus ist sein Platz im Gedächtnis schen hoffnungslos. Nur eine kleine Minderheit unserer Zeit. „1989“ ist ein prominenter wie engagierte sich für Veränderungen. Am Ende des zugleich bis heute vieldeutiger und unscharf Jahres war die Freude grenzenlos – die Hoff- markierter Erinnerungsort. Wie ist dieser Befund nungslosigkeit hatte sich in Glück verwandelt, zu erklären? für die absolut meisten Menschen ohne eigenes Seite 25–33 Zutun. Seite 0 4 –11 MANDY TRÖGER DIE TREUHAND UND DIE PRIVATISIERUNG DIETER SEGERT DER DDR-PRESSE VERPASSTE CHANCEN IM 41. JAHR Auch das Pressewesen war Teil des Volkseigen- Nach den Feierlichkeiten der SED-Führung zum tums, das von der Treuhand privatisiert werden 40. Jahrestag der Republik begann am 7. Okto- sollte. Bei der Umwandlung wurden allerdings ber 1989 das 41. Jahr der DDR. In diesem Jahr nicht wie geplant ehemalige SED-Zeitungsmo- wurden mit dem raschen Beitritt nach Art. 23 nopole aufgespaltet, sondern von westdeutschen GG Chancen vertan – nicht nur für Ostdeutsch- Verlagen größtenteils weitergeführt. land, sondern für das ganze Deutschland. Seite 34–39 Seite 12–17 ELKE KIMMEL GRETA HARTMANN · ALEXANDER LEISTNER WEST-BERLIN. STIMMUNGSBILDER UMKÄMPFTES ERBE. ZUR AKTUALITÄT AUS DEM LETZTEN JAHR VON „1989“ ALS WIDERSTANDSERZÄHLUNG Schon in den ersten Tagen nach der Mauer- „1989“ als Legitimationssymbol für Proteste öffnung zeigte sich in West-Berlin, dass die ist bis heute von besonderer Bedeutung. Diese Umsetzung der Vereinigung mit dem Ostteil zeigt sich nicht zuletzt bei Straßenprotesten, der Stadt nicht ohne Einbuße zu haben war. Zu die in Form von „Montagsdemonstrationen“ diesen gehörte auch, dass die „Mauerstadt“ einen stattfinden und bei denen die Parole „Wir sind Teil ihrer Identität verlor. das Volk“ skandiert wird. Seite 40–46 Seite 18–24 EDITORIAL Mit dem offiziellen Jubiläumsfest zum 40. Jahrestag der Republik beginnt am 7. Oktober 1989 das letzte Jahr der DDR. Wirtschaftsprobleme und Massen- flucht setzen das SED-Regime unter Druck. Seit dem Sommer treffen sich republikweit immer mehr Bürgerinnen und Bürger, um gegen die Herrschen- den zu protestieren. Am 9. Oktober sind es 70 000 Menschen in Leipzig, am 4. November 500 000 auf dem Berliner Alexanderplatz. Fünf Tage später fällt die Mauer. Die ersten freien Wahlen in der DDR im März 1990 gewinnt die von der CDU geführte Allianz für Deutschland, die für einen schnellen Weg zur deut- schen Einheit steht. Nach fast 41 Jahren Teilung endet am 2. Oktober 1990 das letzte Jahr der DDR. Diese chronologische Auflistung ist Teil einer tradierten Erfolgsgeschichte, in der kaum abgebildet wird, dass der Ausgang der friedlichen Revolution ungewiss war. Nicht wenige – vor allem in Westdeutschland – meinen, im Herbst 1989 sei der Osten geradlinig auf die deutsche Vereinigung zugesteuert. In den Hintergrund tritt oft, dass in der verschwindenden DDR unterschied- liche Positionen um die Zukunft des Landes konkurrierten. Ebenso war im Erfolgsnarrativ wenig Platz für die erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen, die mit dem Vereinigungsprozess einhergingen. Das hat sich in jüngster Zeit geändert. Wofür steht die friedliche Revolution heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall? Wem „gehört“ die Revolution, wer darf sich auf sie berufen? Die gesellschaftli- che Auseinandersetzung mit diesen Fragen findet derzeit auf unterschiedlichen Ebenen statt: zum Beispiel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ unter Historikern, DDR-Bürgerrechtlern und Leserinnen und Lesern in einer Debatte über den Einfluss der Oppositionellen auf die Revolution. Auf politischer Ebene taucht selbst der seinerzeit von der SED zur Einhegung der Proteste instru- mentalisierte Topos einer „Wende“ wieder auf, etwa wenn in Wahlkämpfen in Ostdeutschland Parallelen zwischen der Situation von 1989 und heutigen Ver- hältnissen gezogen werden. Lorenz Abu Ayyash 03 APuZ 35–37/2019 DAS ENDE DER DDR 1989/90 Von der Revolution über den Mauerfall zur Einheit Ilko-Sascha Kowalczuk Die Mauer fiel nicht einfach 1989. Die kommu- was verändern lassen. Jahrelang hatte die SED nistische Diktatur war an ihr Ende gekommen. versprochen, Morgen, in der Zukunft, wür- Angefangen hatte es mit der mächtigen freien Ge- de alles „noch“ besser werden. „Morgen“ blieb werkschaftsbewegung Solidarność in Polen am in den Vorhersagen der Ideologiewächter nicht Anfang des Jahrzehnts. Die Welt schaute dann nur stets weit weg von der Gegenwart, Mitte der im Herbst 1989 atemlos nach Ostdeutschland, 1980er Jahre entrückte die verheißungsvolle Zu- nach Ost-Berlin. „Wahnsinn“ war der meist ge- kunft immer stärker ins Nimmerland. Der ge- brauchte Ausruf. Es begann eine Zeit, als die Re- fühlte Abstand zum Westen und seine offenkun- alität fast täglich die Fantasie überholte. Bis dahin digen Verheißungen, wie sie via TV allabendlich war kaum einem Zeitzeugen bewusst geworden, in Millionen ostdeutsche Wohnzimmer flimmer- dass er sich inmitten eines rasanten historischen ten, wurden immer größer. Gleichzeitig schwan- Prozesses befand. 01 Noch eben gerade, so schien den die Hoffnungen auf die Zukunft, je mehr es vielen, auf der Standspur verharrend, befanden sich die Crew um Honecker gegenüber der so- sich auf einmal gleich mehrere Gesellschaften im wje tischen Reformpolitik abschirmte. Sie regier- Ostblock auf der Überholspur, und das mit über- te nicht nur gegen die Mehrheit der Bevölke- höhtem Tempo. rung, sie verlor auch immer mehr Terrain unter jenen, auf die sie sich bislang verlassen konnte: VON DER KRISE die 2,3 Millionen Mitglieder der SED und die ZUM AUFBRUCH nochmals knapp 500 000 Mitglieder der eng mit der SED verknüpften vier Blockparteien (CDU, Die Inthronisierung Michail Gorba tschows im LDPD, DBD, NDPD). Zur Diktaturwirklichkeit März 1985 zum Führer des Weltkommunismus gehörte, dass Millionen Menschen das System ak- war der Versuch, das Projekt des Kommunis- tiv unterstützten und mittrugen. mus zu retten. Gorba tschow war nicht Refor- Die Revolution von 1989 lässt sich nicht mo- mator wider Willen, aber er wurde wider Willen nokausal erzählen oder erklären. Die DDR trug zum Sargnagel des kommunistischen Systems. in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre viele Züge Das bislang geschlossene System hatte seine Lo- einer Zusammenbruchsgesellschaft. Zugleich war gik. Der verschweißte Deckel hatte die Explosi- die Gesellschaft stark fragmentiert und zerrissen, on verhindert. Die leichte Öffnung des Deckels was durch die unterschiedlichen Positionen zur durch Gor ba tschow aber ließ den Dampf in alle und Erfahrungen mit der SED-Herrschaft gekom- Richtungen heraus, unkontrolliert, unbeabsich- men war. Zudem hatte sich der Lebensstandard tigt und nicht mehr steuer- und kontrollierbar. seit Ende der 1950er Jahre zwar erheblich ver- Deshalb war die Abwehrhaltung gegenüber Glas- bessert. Aber die Menschen wurden nicht zufrie- nost und Perestroika von SED-Chef Erich Ho- dener, weil der Abstand zum Westen zusehends necker nicht widersinnig, sondern systemlogisch. wuchs. Honecker erfand 1971 eine Wirtschafts- Offenbar war ihm die Kesseltheorie eingeschrie- und Sozialpolitik, die im Kern von dem Gedan- ben, nämlich dass eine leichte Öffnung unweiger- ken getragen wurde: „So wie wir heute leben, wer- lich zur Explosion führe. den wir morgen arbeiten müssen.“ Die Menschen Gor ba tschows Reformpolitik entfachte Hoff- sollten sozial befriedet werden. Offiziell verband nungen in der DDR-Gesellschaft. Wenn in Mos- sich damit ein sozialpolitisches Programm, das kau Reformen möglich waren, so die Meinung die Lebensbedingungen der Menschen verbessern vieler, so müsse sich doch auch in der DDR et- und die entbehrungsreiche Nachkriegszeit been- 04 Das letzte Jahr der DDR APuZ den und auf einer modernen und effizienten Wirt- programmatisch gegen die kommunistische Ideo- schaft basieren sollte, die die großzügige Sozialpo- logie standen. Mit ihren Synoden und ökumeni- litik wie im Selbstlauf finanzieren würde. schen Versammlungen wurden sie zu Orten, wo Heute neigen Wirtschaftshistoriker dazu, die demokratische Regeln und Verhaltensweisen ein- DDR als Schwellenland einzustufen. 02 Die Ar- geübt wurden. Es war kein Zufall, dass im Herbst beitsproduktivität der DDR erreichte gegen Ende 1989 so viele Pfarrer und Theologen zu den Wort- der 1980er Jahre nur noch rund ein Drittel der führern der Bürgerrechtsbewegungen avancierten. bundesdeutschen. Die internationale Verschul- dung wuchs und führte die DDR an den Rand ANFÄNGE der Zahlungsunfähigkeit. Die Investitionsquote DER REVOLUTION schrumpfte in den 1980er Jahren. Die Menschen wurden satt, aber die Kosten dafür waren extrem. Der Fall der Berliner Mauer begann am 2. Mai 1989 Die Subventionen für die Agrarproduktion stie- in Ungarn. An diesem Tag kündigte die ungarische gen, die Nahrungsmittelpreise