69. Jahrgang, 35–37/2019, 26. August 2019

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE Das letzte Jahr der DDR

Ilko-Sascha Kowalczuk Martin Sabrow VON DER REVOLUTION „1989“ ALS ERZÄHLUNG ÜBER DEN MAUERFALL Mandy Tröger ZUR EINHEIT DIE TREUHAND UND Dieter Segert DIE PRIVATISIERUNG VERPASSTE CHANCEN DER DDR-PRESSE IM 41. JAHR Elke Kimmel Greta Hartmann · Alexander Leistner WEST-. UMKÄMPFTES ERBE. STIMMUNGSBILDER ZUR AKTUALITÄT VON „1989“ AUS DEM LETZTEN JAHR ALS WIDERSTANDSERZÄHLUNG

ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung Das letzte Jahr der DDR APuZ 35–37/2019

ILKO-SASCHA KOWALCZUK MARTIN SABROW VON DER REVOLUTION ÜBER DEN „1989“ ALS ERZÄHLUNG MAUERFALL ZUR EINHEIT So epochal die Bedeutung des Umbruchs von In das Jahr 1989 gingen die meisten Ostdeut- 1989 ist, so diffus ist sein Platz im Gedächtnis schen hoffnungslos. Nur eine kleine Minderheit unserer Zeit. „1989“ ist ein prominenter wie engagierte sich für Veränderungen. Am Ende des zugleich bis heute vieldeutiger und unscharf Jahres war die Freude grenzenlos – die Hoff- markierter Erinnerungsort. Wie ist dieser Befund nungslosigkeit hatte sich in Glück verwandelt, zu erklären? für die absolut meisten Menschen ohne eigenes Seite 25–33 Zutun. Seite 0 4 –11 MANDY TRÖGER DIE TREUHAND UND DIE PRIVATISIERUNG DIETER SEGERT DER DDR-PRESSE VERPASSTE CHANCEN IM 41. JAHR Auch das Pressewesen war Teil des Volkseigen- Nach den Feierlichkeiten der SED-Führung zum tums, das von der Treuhand privatisiert werden 40. Jahrestag der Republik begann am 7. Okto- sollte. Bei der Umwandlung wurden allerdings ber 1989 das 41. Jahr der DDR. In diesem Jahr nicht wie geplant ehemalige SED-Zeitungsmo- wurden mit dem raschen Beitritt nach Art. 23 nopole aufgespaltet, sondern von westdeutschen GG Chancen vertan – nicht nur für Ostdeutsch- Verlagen größtenteils weitergeführt. land, sondern für das ganze Deutschland. Seite 34–39 Seite 12–17

ELKE KIMMEL GRETA HARTMANN · ALEXANDER LEISTNER WEST-BERLIN. STIMMUNGSBILDER UMKÄMPFTES ERBE. ZUR AKTUALITÄT AUS DEM LETZTEN JAHR VON „1989“ ALS WIDERSTANDSERZÄHLUNG Schon in den ersten Tagen nach der Mauer- „1989“ als Legitimationssymbol für Proteste öffnung zeigte sich in West-Berlin, dass die ist bis heute von besonderer Bedeutung. Diese Umsetzung der Vereinigung mit dem Ostteil zeigt sich nicht zuletzt bei Straßenprotesten, der Stadt nicht ohne Einbuße zu haben war. Zu die in Form von „Montagsdemonstrationen“ diesen gehörte auch, dass die „Mauerstadt“ einen stattfinden und bei denen die Parole „Wir sind Teil ihrer Identität verlor. das Volk“ skandiert wird. Seite 40–46 Seite 18–24 EDITORIAL

Mit dem offiziellen Jubiläumsfest zum 40. Jahrestag der Republik beginnt am 7. Oktober 1989 das letzte Jahr der DDR. Wirtschaftsprobleme und Massen- flucht setzen das SED-Regime unter Druck. Seit dem Sommer treffen sich republikweit immer mehr Bürgerinnen und Bürger, um gegen die Herrschen- den zu protestieren. Am 9. Oktober sind es 70 000 Menschen in Leipzig, am 4. November 500 000 auf dem Berliner Alexanderplatz. Fünf Tage später fällt die Mauer. Die ersten freien Wahlen in der DDR im März 1990 gewinnt die von der CDU geführte Allianz für Deutschland, die für einen schnellen Weg zur deut- schen Einheit steht. Nach fast 41 Jahren Teilung endet am 2. Oktober 1990 das letzte Jahr der DDR. Diese chronologische Auflistung ist Teil einer tradierten Erfolgsgeschichte, in der kaum abgebildet wird, dass der Ausgang der friedlichen Revolution ungewiss war. Nicht wenige – vor allem in Westdeutschland – meinen, im Herbst 1989 sei der Osten geradlinig auf die deutsche Vereinigung zugesteuert. In den Hintergrund tritt oft, dass in der verschwindenden DDR unterschied- liche Positionen um die Zukunft des Landes konkurrierten. Ebenso war im Erfolgsnarrativ wenig Platz für die erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen, die mit dem Vereinigungsprozess einhergingen. Das hat sich in jüngster Zeit geändert. Wofür steht die friedliche Revolution heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall? Wem „gehört“ die Revolution, wer darf sich auf sie berufen? Die gesellschaftli- che Auseinandersetzung mit diesen Fragen findet derzeit auf unterschiedlichen Ebenen statt: zum Beispiel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ unter Historikern, DDR-Bürgerrechtlern und Leserinnen und Lesern in einer Debatte über den Einfluss der Oppositionellen auf die Revolution. Auf politischer Ebene taucht selbst der seinerzeit von der SED zur Einhegung der Proteste instru- mentalisierte Topos einer „Wende“ wieder auf, etwa wenn in Wahlkämpfen in Ostdeutschland Parallelen zwischen der Situation von 1989 und heutigen Ver- hältnissen gezogen werden.

Lorenz Abu Ayyash

03 APuZ 35–37/2019

DAS ENDE DER DDR 1989/90 Von der Revolution über den Mauerfall zur Einheit Ilko-Sascha Kowalczuk

Die Mauer fiel nicht einfach 1989. Die kommu- was verändern lassen. Jahrelang hatte die SED nistische Diktatur war an ihr Ende gekommen. versprochen, Morgen, in der Zukunft, wür- Angefangen hatte es mit der mächtigen freien Ge- de alles „noch“ besser werden. „Morgen“ blieb werkschaftsbewegung Solidarność in Polen am in den Vorhersagen der Ideologiewächter nicht Anfang des Jahrzehnts. Die Welt schaute dann nur stets weit weg von der Gegenwart, Mitte der im Herbst 1989 atemlos nach Ostdeutschland, 1980er Jahre entrückte die verheißungsvolle Zu- nach Ost-Berlin. „Wahnsinn“ war der meist ge- kunft immer stärker ins Nimmerland. Der ge- brauchte Ausruf. Es begann eine Zeit, als die Re- fühlte Abstand zum Westen und seine offenkun- alität fast täglich die Fantasie überholte. Bis dahin digen Verheißungen, wie sie via TV allabendlich war kaum einem Zeitzeugen bewusst geworden, in Millionen ostdeutsche Wohnzimmer flimmer- dass er sich inmitten eines rasanten historischen ten, wurden immer größer. Gleichzeitig schwan- Prozesses befand. 01 Noch eben gerade, so schien den die Hoffnungen auf die Zukunft, je mehr es vielen, auf der Standspur verharrend, befanden sich die Crew um Honecker gegenüber der so­ sich auf einmal gleich mehrere Gesellschaften im wje­tischen Reformpolitik abschirmte. Sie regier- Ostblock auf der Überholspur, und das mit über- te nicht nur gegen die Mehrheit der Bevölke- höhtem Tempo. rung, sie verlor auch immer mehr Terrain unter jenen, auf die sie sich bislang verlassen konnte: VON DER KRISE die 2,3 Millionen Mitglieder der SED und die ZUM AUFBRUCH nochmals knapp 500 000 Mitglieder der eng mit der SED verknüpften vier Blockparteien (CDU, Die Inthronisierung Michail Gorba­ ­tschows im LDPD, DBD, NDPD). Zur Diktaturwirklichkeit März 1985 zum Führer des Weltkommunismus gehörte, dass Millionen Menschen das System ak- war der Versuch, das Projekt des Kommunis- tiv unterstützten und mittrugen. mus zu retten. Gorba­ ­tschow war nicht Refor- Die Revolution von 1989 lässt sich nicht mo- mator wider Willen, aber er wurde wider Willen nokausal erzählen oder erklären. Die DDR trug zum Sargnagel des kommunistischen Systems. in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre viele Züge Das bislang geschlossene System hatte seine Lo- einer Zusammenbruchsgesellschaft. Zugleich war gik. Der verschweißte Deckel hatte die Explosi- die Gesellschaft stark fragmentiert und zerrissen, on verhindert. Die leichte Öffnung des Deckels was durch die unterschiedlichen Positionen zur durch Gor­ba­tschow aber ließ den Dampf in alle und Erfahrungen mit der SED-Herrschaft gekom- Richtungen heraus, unkontrolliert, unbeabsich- men war. Zudem hatte sich der Lebensstandard tigt und nicht mehr steuer- und kontrollierbar. seit Ende der 1950er Jahre zwar erheblich ver- Deshalb war die Abwehrhaltung gegenüber Glas- bessert. Aber die Menschen wurden nicht zufrie- nost und Perestroika von SED-Chef Erich Ho- dener, weil der Abstand zum Westen zusehends necker nicht widersinnig, sondern systemlogisch. wuchs. Honecker erfand 1971 eine Wirtschafts- Offenbar war ihm die Kesseltheorie eingeschrie- und Sozialpolitik, die im Kern von dem Gedan- ben, nämlich dass eine leichte Öffnung unweiger- ken getragen wurde: „So wie wir heute leben, wer- lich zur Explosion führe. den wir morgen arbeiten müssen.“ Die Menschen Gor­ba­tschows Reformpolitik entfachte Hoff- sollten sozial befriedet werden. Offiziell verband nungen in der DDR-Gesellschaft. Wenn in Mos- sich damit ein sozialpolitisches Programm, das kau Reformen möglich waren, so die Meinung die Lebensbedingungen der Menschen verbessern vieler, so müsse sich doch auch in der DDR et- und die entbehrungsreiche Nachkriegszeit been-

04 Das letzte Jahr der DDR APuZ den und auf einer modernen und effizienten Wirt- programmatisch gegen die kommunistische Ideo- schaft basieren sollte, die die großzügige Sozialpo- logie standen. Mit ihren Synoden und ökumeni- litik wie im Selbstlauf finanzieren würde. schen Versammlungen wurden sie zu Orten, wo Heute neigen Wirtschaftshistoriker dazu, die demokratische Regeln und Verhaltensweisen ein- DDR als Schwellenland einzustufen. 02 Die Ar- geübt wurden. Es war kein Zufall, dass im Herbst beitsproduktivität der DDR erreichte gegen Ende 1989 so viele Pfarrer und Theologen zu den Wort- der 1980er Jahre nur noch rund ein Drittel der führern der Bürgerrechtsbewegungen avancierten. bundesdeutschen. Die internationale Verschul- dung wuchs und führte die DDR an den Rand ANFÄNGE der Zahlungsunfähigkeit. Die Investitionsquote DER REVOLUTION schrumpfte in den 1980er Jahren. Die Menschen wurden satt, aber die Kosten dafür waren extrem. Der Fall der Berliner Mauer begann am 2. Mai 1989 Die Subventionen für die Agrarproduktion stie- in Ungarn. An diesem Tag kündigte die ungarische gen, die Nahrungsmittelpreise aber blieben kon- Regierung an, die Grenzbefestigungen zu Öster- stant. Die SED-Sozialpolitik wurde teuer erkauft. reich abzubauen. Außenminister Gyula Horn und Für den Staat war sie teuer, weil viele Ressour- sein österreichischer Amtskollege Alois Mock cen, die dringend in Investitionen hätten umgelei- zerschnitten am 27. Juni in einer öffentlichen In- tet werden müssen, für zukunftslose Subventio- szenierung symbolisch den ungarischen Stachel- nen und Sozialprogramme verschleudert wurden drahtzaun. In den Jahren und Monaten zuvor war und so genau das Gegenteil des politisch-ideolo- die Zahl derjenigen, die aus der DDR flüchteten, gischen Ziels – die Legitimierung des Systems – einen Ausreiseantrag gestellt hatten oder „offizi- bewirkten. Die Menschen nahmen am Ende der ell“ ausreisen durften, ständig gestiegen. Im ersten 1980er Jahre die Sozialleistungen des SED-Staa- Halbjahr hatten bereits rund 100 000 Menschen tes als Selbstverständlichkeit hin, ihre Legitimati- der DDR für immer den Rücken gekehrt. Darun- onskraft war verbraucht. Die Kehrseite der Sozi- ter waren vor allem junge, gut ausgebildete und alpolitik stand vor aller Augen: Man wusste, dass gut verdienende Männer und Frauen. billige Mieten zugleich eine heftig umstrittene Im Mai 1989 feierte auch die Opposition ih- Wohnungsbaupolitik als Schattenseite zur Folge ren ersten großen Erfolg. Die SED veranstaltete hatten. Die Menschen spöttelten: „Ruinen schaf- am 7. Mai eine Wahlfarce wie in all den Jahrzehn- fen ohne Waffen“. Günstige Fahrpreise konnten ten zuvor. Aber erstmals konnten Oppositions- die zerrüttete Infrastruktur, billige Bücher Zen- gruppen nachweisen, was ohnehin viele wussten: sur oder Mediengleichschaltung nicht kompen- Die Ergebnisse der landesweiten Kommunalwah- sieren. Hunderttausende Menschen hatten zwar len waren systematisch gefälscht worden. Die Em- einen festen Arbeitsplatz, ohne aber einer sinn- pörung über die plumpe Fälschung reichte bis vollen Arbeit nachgehen zu können. Die Lebens- weit in die SED-Reihen hinein und trug wesent- erwartung nahm seit Beginn der 1980er Jahre ent- lich dazu bei, dass auch innerhalb systemnaher gegen einem internationalen Trend leicht ab. Die Kreise die Zweifel an der SED-Politik zunahmen. Umwelt war ein besonderes Krisensymptom ge- Die verbreitete Empörung wuchs noch an, als die worden. Die DDR zählte in den 1980er Jahren zu DDR-Regierung die brutale militärische Nieder- den größten Umweltsündern Europas. schlagung der chinesischen Oppositionsbewegung Die Bundesrepublik als Schaufenster in den Anfang Juni 1989 lautstark begrüßte. Die Men- Westen wirkte wie ein Pfahl im Fleische. Auch schen in der DDR verstanden die Botschaft: Auch die Kirchen erfüllten diese Funktion bereits durch ihnen würde bei Massenprotesten und einem Auf- ihr bloßes Vorhandensein. Sie waren die einzigen stand die Niederschlagung mit Panzern drohen. Großinstitutionen, die im Weltanschauungsstaat Fortan war die Angst vor der „Chinesischen Lö- sung“ präsent. Im Sommer verschärfte sich die Krise durch 01 Siehe die umfassende Darlegung Ilko-Sascha Kowalczuk, mehrere Faktoren. Die SED-Führung schien sich 3 Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2015 . in den Urlaub verabschiedet zu haben. Bis Ok- 02 Siehe z.B. André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirt- schaftsgeschichte der DDR, Berlin 2007; ders. (Hrsg.), Überholen tober waren keine neuen Töne vernehmbar. Zu- ohne einzuholen. Die DDR-Wirtschaft als Fußnote der deutschen dem verabschiedeten sich Zehntausende Men- Geschichte?, Berlin 2006. schen für immer: Sie flüchteten über Ungarn

05 APuZ 35–37/2019 und bundesdeutsche Botschaften in die Freiheit. DER REVOLUTIONSTAG: Und die kleine Opposition suchte nach alterna- 9. OKTOBER 1989 tiven Handlungsformen. In rascher Folge kamen Gründungsaufrufe für neue Bewegungen heraus. Am Montag, 9. Oktober, herrschte eine unglaub- Bislang hatten sich viele Menschen gefragt, ob sie liche Anspannung im gesamten Land. Es gab nur sich dem Flüchtlingsstrom anschließen sollten. ein Thema: Kommt heute Abend in Leipzig die Nun gab es eine Alternative, die nicht mehr nur „Chinesische Lösung“ oder kommt sie nicht? In Hierbleiben oder Weggehen, sondern nun auch vier Leipziger Kirchen hatten sich am Nachmit- Einmischen oder weiter Schweigen hieß. Und na- tag Tausende Bürgerinnen und Bürger zum Mon- türlich auch: weiterhin das Regime zu unterstüt- tagsgebet eingefunden. Als sie etwa eine Stunde zen. Die meisten verhielten sich, wie bei jeder Re- später die Kirchen verließen, warteten draußen volution, passiv, warteten ab, hofften im Stillen. bis zu 70 000 Demonstranten. Zehntausende skan- Revolutionen sind immer Kämpfe von Minder- dierten: „Wir sind das Volk!“ Um 18.35 Uhr ent- heiten um die Mehrheit. schieden Leipziger SED-Funktionäre, nicht ein- Die Opposition erschien mit ihren verschie- zugreifen. Um 19.15 Uhr rief der ZK-Sekretär für denen Aufrufen eigentümlich zersplittert. Aber Sicherheitsfragen Egon Krenz in Leipzig an und im September erwies sich dies als ein kaum zu segnete diese Entscheidung nachträglich ab. überschätzender Vorteil. Gerade weil die meisten Von diesem Tag an war klar, dass die Revolu- Oppositionellen bis auf wenige Ausnahmen weit- tion friedlich verlaufen würde, das Regime hatte hin unbekannt waren, trug dieses Gründungsfie- de facto kapituliert. Der 9. Oktober 1989 in Leip- ber erheblich zur Mobilisierung der Gesellschaft zig war zum symbolischen „14. Juli“ der ostdeut- bei. Denn die rasch aufeinanderfolgenden Nach- schen Revolution geworden. Initiiert worden war richten von immer neuen Aufrufen – der für das er von einer kleinen Gruppe Oppositioneller, die Neue Forum war der berühmteste und wirk- seit Jahren aktiv war. Sie hatten seit dem 4. Sep- mächtigste – erweckten in der Öffentlichkeit den tember den Rufen „Wir wollen raus“ von Aus- Anschein, dass an vielen Orten ganz unterschied- reisewilligen ihr trotziges „Wir bleiben hier“ ent- liche Personen völlig unabhängig voneinan- gegengesetzt. Ihnen schlossen sich erst Dutzende, der nicht mehr schweigend der Krise zuschauen dann Hunderte, schließlich Tausende und Zehn- wollten und andere Handlungsoptionen als die tausende an. Am 18. Oktober gab die SED den Flucht wählten. Das mobilisierte ungemein. Die Rücktritt Honeckers bekannt. Die Maueröffnung Westmedien trugen entscheidend dazu bei, dass am 9. November war von der SED-Führung be- die Aufrufe bekannt wurden und sich bald jeder reits in einem Planspiel im August 1989 erson- fragen musste, wo er eigentlich selbst steht. Das nen worden: den Kessel kurzzeitig öffnen, um hatte zur Folge, dass ab Mitte September 1989 die ihn dann wieder hermetisch abzuschließen. Nach DDR von einer wochen-, ja monatelangen Flut dem 9. November gelang dies nicht mehr, ob- von Aufrufen, Resolutionen, offenen Briefen und gleich auch noch solche Ideen erwogen wurden. bald auch immer wieder neuen Vereinsgründun- Die Inszenierung der Maueröffnung durch Egon gen überzogen wurde. Krenz und dem ZK-Sekretär für Informationswe- Mitte September begann Zeit in der DDR ei- sen Günter Schabowski war ein großes Schauspiel nen neuen Wert anzunehmen, was sich ab Mit- zweier politischer Dilettanten, die nicht einmal te Oktober geradezu dramatisch verstärken soll- ansatzweise mit diesen Folgen gerechnet hatten. te. Zeit war fast die einzige Sache, die es in der DDR zuhauf gab; sie schien bis zum Sommer VOM RUNDEN TISCH 1989 stillgestanden zu haben. Nun auf einmal ZU FREIEN WAHLEN raste alles. überholte sich dauernd selbst, so schien es jedenfalls. Ab Anfang September tra- Nach dem Mauerfall war das Schicksal von SED fen sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger in und DDR besiegelt. Die DDR war nur als poli- Leipzig und bald auch in anderen Städten zu re- tische, ökonomische, gesellschaftliche Alternati- gelmäßigen Demonstrationen. Die Gesellschaft ve zur Bundesrepublik denkbar. Mitte November war in Bewegung geraten, aber noch Mitte Okto- schien aber noch vieles ungewiss. Die Blockpar- ber wagte sich nur eine kleine Minderheit auf die teien profilierten sich von Tag zu Tag stärker als Straßen und in die Kirchen. eigenständige politische Kräfte. Mit der Wahl des

06 Das letzte Jahr der DDR APuZ

Rechtsanwalts Lothar de Maizière zum Partei- Adresse von Kohl richtete. Der hatte das durchaus chef am 10. November begann die Ost-CDU auf verstanden: Die deutsche Einheit war zu haben, Reformkurs einzuschwenken, die LDPD hatte aber zugleich müsse Europa gestärkt daraus her- damit schon Mitte Oktober vorsichtig begonnen. vorgehen. Kohl eilte am 19. Dezember nach Dres- Die Oppositionsgruppen blieben für die Massen- den, um vor Mitterrand in der DDR politische mobilisierung zuständig. Nun, da die Zukunft Zeichen zu setzen. Zehntausende Dresdner emp- wieder offen schien, zeigten sich alle – ganz na- fingen ihn mit einem Fahnenmeer. Immer wieder türlich – überfordert. Die SED versuchte die un- skandierte die Menge „Deutschland, Deutsch- übersichtliche Situation zu nutzen, um selbst in land“ und feierte den Kanzler. Der zeigte sich tief die Offensive zu kommen. Nachdem bis Ende bewegt und forcierte anschließend das Tempo zur Dezember rund 900 000 Mitglieder die Partei ver- Einheit. Auch Kohl erlag dem Druck der Straße. In lassen hatten, betrug ihre Mitgliederzahl offiziell Ost-Berlin demonstrierten am nächsten Tag eben- immer noch 1,463 Millionen. Daneben kontrol- falls Zehntausende, nun aber, um gegen die „dro- lierte sie bis auf die Tageszeitungen der Block- hende“ Wiedervereinigung und Kanzler Kohl, der parteien alle DDR-Medien. Die gesamte Par- immer stärker zur Zielscheibe der Einheitsgegner teistruktur mit Zehntausenden hauptamtlichen und -kritiker wurde, zu protestieren. Funktionären sowie die flächendeckende Infra- Bis zum Wahltag am 18. März 1990 sah es so struktur waren komplett intakt. Den Oppositi- aus, als würden die Sozialdemokraten überle- onsgruppen stand davon nichts zur Verfügung. gen gewinnen. Alle Prognosen deuteten darauf Zwei Wochen vor seinem Rücktritt kündigte hin. Der Wahlkampf war allein geprägt von der Honeckers Nachfolger Krenz am 22. November an, Frage, wie die deutsche Einheit gestaltet werden sich an einem „Runden Tisch“ zu beteiligen – eine könnte. Die Allianz für Deutschland aus CDU, Forderung, die von der Opposition seit Wochen er- Deutscher Sozialer Union (DSU) und Demokra- hoben worden war. Die erste Sitzung des Zentralen tischem Aufbruch (DA) stand für den schnells- Runden Tisches, an dem Regierung und Opposition ten Weg zur Einheit. Ihre Formel lautete: „Sofor- über die Machtübergabe zu verhandeln begannen, tige Einführung der DM.“ Mehr konnte niemand fand am 7. Dezember statt. Die Einberufung be- bieten. Damit waren Wahlversprechen verbunden deutete einen politischen Sieg der Opposition. Der wie die Umstellung der Löhne, Renten und vor Zentrale Runde Tisch wollte die „Offenlegung der allem Sparkonten im Verhältnis von 1 : 1 (DDR- ökologischen, wirtschaftlichen und finanziellen Si- Mark zu D-Mark). Die Versprechen waren un- tuation in unserem Land“ bewirken und Vorschlä- haltbar. Heute nennt man so etwas Populismus. ge zur Krisenüberwindung vorlegen. Als Kontroll- Als am Wahlabend im Fernsehen die ersten organ forderte er „von der Volkskammer und der Hochrechnungen bekannt gegeben wurden, über- Regierung, rechtzeitig vor wichtigen rechts-, wirt- raschte lediglich die hohe Wahlbeteiligung nie- schafts- und finanzpolitischen Entscheidungen in- manden. Sie lag nach dem amtlichen Ergebnis bei formiert und einbezogen zu werden“. In diesem 93,4 Prozent. Die Allianz erhielt 48 Prozent der Selbstverständnis wird deutlich, wie sehr sich die op- Stimmen (CDU 40,8 Prozent, DSU 6,3 Prozent, positionellen Teilnehmer bewusst waren, dass ihnen DA 0,9 Prozent). Der prognostizierte Wahlsieger eine demokratische Legitimation fehlte, sie nur de- SPD lag bei 21,9 Prozent. Die SED/PDS folgte mokratische Wahlen vorbereiten könnten und daher mit 16,4 Prozent, fast 1,9 Millionen Wahlberech- Kontrollaufgaben wahrnehmen und die Öffentlich- tigte hatten sich für die Kommunisten und Post- keit informieren müssten. kommunisten entschieden. Das liberale Bündnis Der Wahlkampf begann am 19. Dezember. brachte es auf 5,3 Prozent. Die Bürgerrechtsbewe- Bundeskanzler Helmut Kohl hatte erfahren, dass gung ging unter. Die britische Premierministerin der französische Staatspräsident François Mitter- Margaret Thatcher gratulierte Kanzler Kohl zum rand am 20. Dezember zu einem offiziellen Staats- Wahlsieg, was den Nagel auf den Kopf traf. besuch nach Ost-Berlin kommen werde. Sein Auffällig am Wahlergebnis waren ein deutli- Besuch galt weniger Hans Modrow – das SED- ches Nord-Süd-, ein Stadt-Land-Gefälle sowie Politbüromitglied war seit 13. November Minis- Unterschiede zwischen „Hand- und Kopfarbei- terpräsident – und der DDR, sondern verdeutlich- tern“ im Wahlverhalten; je kleiner die Städte und te seine kritische Haltung zur Wiedervereinigung. Gemeinden, desto höher war der Anteil der Stim- Es war eine Machtdemonstration, die sich an die men für die Allianz. In fast 100 von 237 Stadt- und

07 APuZ 35–37/2019

Landkreisen, vor allem im Süden, erhielt die Alli- ronie ist nicht komisch, sondern tragisch: Denn anz über 50 Prozent der Stimmen. In 13 Kreisen ausgerechnet jene Wählergruppe, die der CDU erhielt die SPD weniger als zehn Prozent, davon ganz entscheidend zu den Wahlsiegen verhalf, war lagen zwölf im Bezirk Dresden. Mehr als 30 Pro- im Transformationsprozess jene soziale Gruppe, zent errang sie in 40 Stadt- und Landkreisen, da- die am meisten „verlor“: Wie sich schnell zeigte, runter alle elf Ost-Berliner Stadtbezirke, 15 von war keine Gruppe so von Arbeitslosigkeit und 19 Potsdamer Kreisen und neun von zwölf in „Strukturumbrüchen“ betroffen wie die Arbeiter. Frankfurt/Oder. Hinzu kamen die Städte Mag- deburg, Rostock und Wismar sowie die Kreise NEUE ERFAHRUNGEN Templin, Prenzlau und Grevesmühlen. Die SED/ PDS wurde in 35 Kreisen (Schwerpunkte der thü- Der Wahlausgang am 18. März bedeutete eine po- ringische Bezirk Erfurt und der sächsische Bezirk litische, wirtschaftliche und sozialpolitische Rich- Karl-Marx-Stadt) mit weniger als zehn Prozent tungsentscheidung. Die eingeschlagene Richtung Wähleranteilen abgestraft. Das beste Ergebnis mit wurde durch die Verträge, die zum 1. Juli 1990 die 38,4 Prozent erhielt sie in Berlin-Hohenschön- Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion einleite- hausen, wo besonders viele MfS-Mitarbeiter und ten, bestätigt und durch den Einigungsvertrag lang- SED-Funktionäre wohnten. In weiteren acht fristig befestigt. Die „Schockwirkungen“ 03 dieser Kreisen votierten mindestens 30 Prozent für die Entwicklungen wurden ab Sommer 1990 sichtbar, SED, darunter neben Frankfurt/Oder-Stadt, Neu- erstreckten sich über die nächsten Jahre und spitz- brandenburg-Stadt und Ueckermünde fünf wei- ten sich sozial immer weiter zu. Die Revolution tere Ost-Berliner Stadtbezirke. Die Listenverbin- hatte ihr institutionelles Korsett gefunden. Künf- dung Bündnis 90 (Neues Forum, Initiative Frieden tige Historikerinnen und Historiker werden darü- und Menschenrechte, Demokratie Jetzt) erhielt ber zu befinden haben, wann die Vereinigungsge- nur in den elf Ost-Berliner Stadtbezirken sowie schichte „beendet“ war – wahrscheinlich im ersten den Städten Leipzig und Dresden mehr als fünf Dezennium des 21. Jahrhunderts. 04 Prozent Stimmenanteile. Die höchsten verbuchte Der DGB-Vorsitzende Heinz-Werner Meyer sie im Prenzlauer Berg mit 8,5 Prozent. brachte Anfang August 1990 auf den Punkt, was Die Stimmen für die Allianz verteilten sich sich seit 1. Juli 1990 in der DDR abspielte: Ihm käme nach Männern und Frauen etwa gleich, bei den Al- es so vor, als würde versucht werden, während einer tersgruppen votierten überdurchschnittlich viele rasanten Autofahrt die Reifen zu wechseln. 05 Die aus den Gruppen der 40- bis 59-Jährigen für die soziale Problemlage baute sich in der DDR schnel- Allianz, obwohl die Differenzen zu den Jüngeren ler auf als erwartet – aber der allgemein herrschen- wie den Älteren nicht sonderlich signifikant ausfie- de zukunftsorientierte Optimismus in der ostdeut- len. Doch die eigentliche Sensation bot die Wahl- schen Gesellschaft schien ungebrochen. Dies wurde analyse bezogen auf die soziale Zusammensetzung befördert durch Bilder von rasch „blühenden Land- der Wähler: Die Allianz „als Partei der Arbeiter“ schaften“ im Osten und dem noch im Sommer 1990 war unerwartet, überraschend, sensationell. Mehr von der Bundesregierung gebetsmühlenartig wie- als jeder zweite Wähler der Allianz war Arbeiter derholten „Versprechen“, die Lohn- und Lebensni- oder Arbeiterin – aber ebenso wählte mehr als je- veauanpassung an die alte Bundesrepublik würde in der zweite von ihnen die Allianz. Die Unterschie- drei bis fünf Jahren erreicht sein. de zum alten Bundesgebiet waren dramatisch, vor 1989 wies die DDR 9,7 Millionen Beschäftigte allem was die SPD anbelangte. Bereits bei den ers- auf, Ende 1993 waren es noch 6,2 Millionen. Be- ten freien Wahlen 1990 zeigte sich also, dass der reits im Laufe des ersten Halbjahres 1990 stieg die Osten anders tickt – ganz anders sogar. Zahl an Arbeitslosen rasch. Waren im Januar of- Zunächst aber gehörte es vielleicht zur beson- fiziell 7440 Menschen arbeitslos, lag deren Zahl deren Ironie der Geschichte, dass der „Arbeiter- und-Bauern-Staat“, die SED-Diktatur, den demo- 03 Jan Priewe/Rudolf Hickel, Der Preis der Einheit. Bilanz und kratisch legitimierten Todesstoß ausgerechnet von Perspektiven der deutschen Vereinigung, Frank­furt/M. 1991, S. 91. jenen erhielt, in deren Namen das Gesellschaftsex- 04 Vgl. ausführlich Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019. periment jahrzehntelang gegen Widerstände, Wi- 05 Zit. nach Ulrike Füssel, Ein Reifenwechsel in voller Fahrt. derwillen und mit vielen Opfern durchgepeitscht Die Lage in den DDR-Betrieben ist schlimmer als befürchtet, in: worden war. Die andere Seite dieser Geschichtsi- Frankfurter Rundschau, 8. 8. 1990.

08 Das letzte Jahr der DDR APuZ im Juni schon bei 142 096. Dieser Trend verstärkte 15 Prozent noch arbeiteten, berücksichtigt keine sich ab 1. Juli 1990. Ende Juli stieg die Zahl der Ar- Statistik. Weitere Phänomene waren die hohe Zahl beitslosen auf 272 017, im September auf 444 856 befristeter Arbeitsverträge sowie Teilzeitbeschäfti- und zum Jahresende auf 642 000. Auf Kurzarbeit gungsverhältnisse. Hinzu kam, dass noch 1990 der waren Ende September bereits 1 728 749 Men- Ausbildungsmarkt im Osten dramatisch einbrach schen. Der Anteil der Facharbeiter bei den Ar- und so ein Teil der Jugendlichen und jungen Er- beitslosen betrug etwa zwei Drittel, hinzu kamen wachsenen statistisch unberücksichtigt blieb. Mit noch rund 20 Prozent un- oder angelernte Arbei- anderen Worten: Die Arbeitslosenstatistiken spie- ter. Über die Hälfte der Arbeitslosen waren weib- geln nur einen Teil jener Problemlage, die für die lich, im Laufe des Jahres 1991 begann der Anteil sozialgeschichtliche Betrachtung des Transforma- zwei Drittel zu erreichen, sodass doppelt so vie- tionsprozesses entscheidend ist. Ganz zu schwei- le Frauen erwerbslos gemeldet waren als Männer. gen davon, was das bisher unbekannte Damokles- Die Verlierer(innen) waren Arbeiterinnen. schwert reale oder drohende Arbeitslosigkeit für Dieser Arbeitsmarktrend wurde dadurch die betroffenen Familien psychisch hieß, selbst noch verschärft, dass im Herbst 1990 die Arbeits- wenn nur eine Person betroffen war. Es gab wohl losenquote im alten Bundesgebiet auf den nied- kaum eine ostdeutsche Familie, die in den 1990er rigsten Stand seit 1981/82 sank, zugleich die Kon- Jahren nicht davon betroffen war: ein Phänomen, junktur im Westen deutlich angekurbelt wurde, das in keiner Lebensplanung vorgesehen war. das Bruttoinlandsprodukt stieg, während es im Die Sozialstruktur Ostdeutschlands veränder- Osten dramatisch einbrach. Der arbeitsmarkt- te sich grundlegend: „Nach der Vereinigung hat politische Kontrast zwischen Ost und West hätte sich das Wachstum des tertiären Sektors [Dienst- 1990/91 größer kaum sein können – ein Kontrast, leistungsbereich] zu Lasten des sekundären Sektors der in den 1990er Jahren bestehen blieb, obwohl [Industrie und Handwerk] und des bereits stark ge- es ab 1993 im alten Bundesgebiet ebenfalls zum schrumpften primären Sektors [Landwirtschaft] Konjunktureinbruch und zum signifikanten An- fortgesetzt. Die erhebliche Tertiärisierungslücke der stieg der Arbeitslosenzahlen kam. DDR – diese hinkte um ca. 25 Jahre hinter der Bun- Hinzu kommt noch, dass die statistisch er- desrepublik her – wurde quasi über Nacht beseitigt. rechnete Arbeitslosenquote für den Zeitraum 1990 Im Zuge der schmerzlichen Krisen der ostdeutschen bis 1994 die reale Arbeitslosigkeit nur sehr unzu- Industrie und Landwirtschaft wurde eine Entwick- reichend erfasst: Letztere war jedoch entscheidend lung, die in Westdeutschland 25 Jahre gedauert hatte, für ostdeutsche Wahrnehmungen des Einheitspro- innerhalb von drei Jahren nachgeholt.“ 06 zesses. Einerseits setzte sie die Erwerbstätigen 1989/90 galt in Ostdeutschland etwa die Hälf- erheblich unter Stress, weil Arbeitslosigkeit als te aller Beschäftigten als „Arbeiter“. Schnell war es Gefahr über fast allem schwebte. Andererseits be- weniger als ein Viertel – der ostdeutsche Arbeiter deuteten gerade Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen war bereits bis 1994 aus seiner sozialstrukturellen (ABM), Umschulungsmaßnahmen oder Kurzar- Dominanzrolle zur sozialstrukturellen Minorität beit in der ersten Hälfte der 1990er Jahre oft nichts geschrumpft, deren Zukunftsaussichten nicht son- anderes, als real arbeitslos zu sein oder zu werden. derlich rosig waren. Diese Entwicklung entspricht Die Maßnahmen brachten oft nichts und frustrier- einem Trend in westlichen Industriegesellschaften. ten nur noch mehr, Hunderttausende durchwan- Der Transformationsprozess hat diese Entwick- derten mehrere ABM oder Umschulungen, um lung radikal befördert, ist dafür aber nicht allein nach Auslaufen der „Förderungen“ endgültig und verantwortlich. Hier zeigte sich bereits eine andere nunmehr offiziell arbeitslos zu werden. Tendenz: In Ostdeutschland hatte sich der Wandel Besondere Formen der Arbeitslosigkeit, die in einer radikalen Beschleunigung gezeigt, wie es für den mentalen Teil des Vereinigungsprozesses bislang in der westlichen Welt untypisch war. Erst meist unterschätzt werden, finden gar keinen Ein- Jahre später sollte sich erweisen, dass das Tempo gang in die Statistiken: Die Vorruhestandsregelun- der Veränderungen in Ostdeutschland nicht etwas gen zum Beispiel haben ganze Jahrgänge der über ganz Spezifisches gewesen war, sondern im Zeit- 55-Jährigen aus dem Arbeitsprozess herausgelöst, alter von Globalisierung und Digitalisierung all- sodass sie in den offiziellen Statistiken gar nicht als arbeitslos gelten. Aber auch Männer und Frauen 06 Rainer Geißler, Die Sozialstruktur Deutschlands. Aktuelle Ent- im Rentenalter, von denen in der DDR 1989 etwa wicklungen und theoretische Erklärungsmodelle, Bonn 2010, S. 16.

09 APuZ 35–37/2019 gemein typisch werden sollte. 07 Die nachholende Der Wahlausgang am 18. März 1990 war ein Modernisierung war so auch zu einem vorausge- Hinweis, wie stark die ostdeutsche Gesellschaft be- henden Entwicklungstrend geworden, zumindest reit war, die Diktatur gegen neue Heilsversprechen was die Geschwindigkeit anbelangte. einzutauschen. Ganz offenkundig hatte der Osten die „Schnauze voll“ von „Zukunft“. Kaum jemand HOFFNUNGEN hatte Lust, erneut auf den Sankt-Nimmerleins-Tag UND ERWARTUNGEN zu warten. Die Zukunft sollte jetzt und heute be- ginnen. Kanzler Kohl war der gute Onkel aus dem Kohls aus Anlass der Währungs-, Wirtschafts- Westen, der die Geschenke verteilen würde. Frei- und Sozialunion am 1. Juli 1990 in einer Fern- heit und Demokratie hieß für die meisten lediglich, sehansprache geäußerte Zuversicht, es würde nie- „richtiges Geld“ zu besitzen. Im Prinzip war das mandem schlechter gehen als zuvor und überall eine Situation, in der Kohl als neuer Patriarch agie- würden „blühende Landschaften“ entstehen, ent- ren musste – selbst wenn er es nicht gewollt hätte. sprach exakt den Vorstellungen der allermeisten In das Jahr 1989 gingen die meisten Ostdeut- Menschen im Osten, die am 18. März 1990 für die schen hoffnungslos – ohne Hoffnung, dass sich Allianz gestimmt hatten. Genug der Experimen- bald etwas ändern würde. Nur eine kleine Min- te, genug der Schaufenster, nun endlich wollte eine derheit engagierte sich für Veränderungen. Eine übergroße Mehrheit selbst im Schaufenster leben. größere Minderheit war so hoffnungslos, dass sie Im Prinzip hätte man bereits an diesem Wahl- wegging, flüchtete und große Gefahren für das ei- abend ahnen können, was das eigentlich für die Zu- gene Leben in Kauf nahm. Von diesem Staat war kunft des Landes hieß: Wenn eine Gesellschaft sich nichts zu erwarten, so der weitverbreitete Tenor. der Diktatur entledigt, ein großer Teil befreit wird, Am Ende des Jahres war die Überraschung, Freu- nur der kleinere Teil sich selbst befreit hat und zu- de bei allen, ob aktiv oder passiv, schier grenzen- gleich dem großen Teil die neue Freiheit schenkt, los – die Hoffnungslosigkeit hatte sich in pures ohne dass dieser etwas dafür tun musste, ohne dass Glück verwandelt, für die absolut meisten Men- dieser anschließend irgendetwas tun muss, dann schen ohne eigenes Zutun. kann das nicht folgenlos bleiben. Demokratie, Frei- Die Gesellschaft ging dementsprechend in das heit und Rechtsstaatlichkeit hatten 1990 in Ost- Jahr 1990 und die folgende Wiedervereinigung ganz deutschland von Anfang an einen schweren Stand, anders als in das Jahr zuvor mit sehr, sehr hohen Er- weil die offene Gesellschaft als Geschenk „von wartungen. Sie waren gespeist von einem traditio- oben“ für die Mehrheit daherkam und „von un- nellen Etatismus. Dieser neue Staat versprach dann ten“ sie nur von einer Minderheit angestrebt wor- auch das Blaue vom Himmel herunter: „D-Mark“, den war. Hinzu kam, dass die ersten Erfahrungen „blühende Landschaften“, „es wird niemanden mit dem neuen Staat für viele Menschen unerfreu- schlechter gehen“ – die Hochglanzkataloge der Ver- lich waren: Arbeits- und Sozialämter sowie Institu- sandhäuser und das Westwerbefernsehen schienen tionen des Rechtsstaats. Zudem saßen in fast allen nicht mehr nur Schaufensterversprechen zu sein, wichtigen Führungspositionen bald schon Personen sondern alsbald Lebensrealität. Der bundesdeut- aus dem Westen, die nicht selten wenig Verständ- sche Staat würde dafür sorgen. Für Ostdeutsche nis für die anders gelagerten Erfahrungen der ihnen änderte sich alles. Die kaum Grenzen kennenden nun unterstellten Ostdeutschen aufbrachten. 08 Sozi- Hoffnungen bargen ein sehr hohes Enttäuschungs- alpsychologisch gesehen, geht der Mensch mit dem potenzial bereits in sich, weil sich viele einer Täu- Selbsterrungenen, dem Selbsterkämpften sorgsamer schung hingaben: Der Staat würde es richten. um, ist es eher bereit zu verteidigen, als wenn ihm Für viele Ostdeutsche wurde der Westen tat- etwas geschenkt wird. Hinzu kam, dass Millionen sächlich zum Glück, zum Erfolg, zum erträumten Menschen sich nun in einem System zurechtfinden oder wenigstens erwarteten Leben in Freiheit und mussten, das ihnen nie jemand erklärt hat, und auch Wohlstand. Für viele andere trat das nicht ein. Sie später vielen nie erklärt wurde. wurden tief enttäuscht, nicht nur, weil sie über- spannte Erwartungen gehegt hatten, sondern weil sie gar keine Chance bekamen, ein Leben jenseits 07 Vgl. etwa Hartmut Rosa, Beschleunigung, Frankfurt/M. 200511; ders., Unverfügbarkeit, Wien- 2018; ders., staatlicher Alimentierungen zu entfalten. Und vie- Beschleunigung und Entfremdung, Berlin 20186. le Gruppen wurden enttäuscht: Opfer der Kom- 08 Siehe dazu ausführlich Kowalczuk (Anm. 4). munisten, weil sie der Rechtsstaat nicht gebüh-

10 Das letzte Jahr der DDR APuZ rend zu würdigen und entschädigen wusste. Treue und wahrgenommene Missachtung können in Ge- SED-Systemgänger, weil sie sich benachteiligt walt münden. 10 Und Anerkennung ist eine oft un- und gedemütigt vorkamen. Arbeiter, weil sie kei- terschätzte Vorbedingung für Freiheit, die „als eine ne Arbeit mehr fanden. Kinder, weil ihre Eltern Art von nach innen gerichtetem Vertrauen zu ver- aufgrund sozialer Nöte mental abwesend waren. stehen“ ist, „das dem Individuum Sicherheit so- Wissenschaftler, weil ihr Wissen niemand mehr zu wohl in der Bedürfnisartikulation als auch in der benötigen schien. Bauern, weil die Landwirtschaft Anwendung seiner Fähigkeiten schenkt“. 11 Überall ohne sie auskam. Bürgerrechtler, weil die Bürger auf der Welt sehen wir große Gesellschaftsgruppen, ihren Rat und ihr Engagement nicht würdigten, die sich nicht anerkannt fühlen, die sich als zurück- nicht benötigten. Die Liste ließe sich lange fortset- gesetzt wahrnehmen, die sich als ausgegrenzt be- zen. Wie vor 1989 erscheint Ostdeutschland auch zeichnen. Es geht nicht einmal um die Frage, ob es heute als eine stark fragmentierte, tief gespaltene, so ist oder nicht – und meistens stimmt das durch- in sich zerrissene und zerstrittene Gesellschaft. 09 aus –, denn tatsächlich ist die Macht von Emotio- Keine Frage: Dies ist der Normalfall menschlicher nen wirkungsvoller als jede Sozialstatistik. 12 Emo- Gesellschaften, aber auch ein Problem, wenn eine tionen verbinden, Statistiken sind kalt. solche Gesellschaft in die Zukunft aufbricht. Heu- Ostdeutschland hat bis heute einen vergebli- te fehlt dem Osten die Jugend und damit der Zu- chen Kampf um Selbstanerkennung geführt. Die kunft wichtigster Garant. in der DDR existierende Spaltung der Gesellschaft schien 1989/90 kurzzeitig aufgehoben zu sein – ANERKENNUNG doch diese Wahrnehmung war eine Illusion. Noch UND MISSACHTUNG 1990 ist die alte Spaltung öffentlich geworden, die sich nun rasch durch neue Spaltungstendenzen auf- Der größte politische Irrtum in Deutschland und grund der gesellschaftspolitischen Entwicklungen Europa liegt am Beispiel Ostdeutschlands offen: erweiterte, verfestigte und zugleich von ihnen über- Die Annahme, wer sozial befriedet und zufrieden lagert worden ist. Deswegen kann die heutige Situ- sei, werde Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat, ation in Ostdeutschland auch nicht allein mit den sprich die westlichen Werte, wie von selbst stützen, Jahren seit 1990 erklärt werden. 13 Die ostdeutschen stimmt nicht. In dem Maße, in dem die Ostdeut- Erfahrungsräume im 20. Jahrhundert parzellierten schen sozial im Westen angekommen waren, fingen die Gesellschaft – je nachdem, wie man wo in den sie an, sich von ihm zu distanzieren. Zunächst nutz- verschiedenen Staatssystemen stand. Der Transfor- te dafür ein Drittel bis zur Hälfte der Gesellschaft mationsprozess hat das verstärkt, weil die hinzuge- die PDS beziehungsweise Die Linke und andere tretenen Führungskräfte fast durchweg mit ande- Populisten, seit Mitte der 2010er Jahre die AfD und ren Erfahrungen, Einstellungen, Vorstellungen und deren Umfeld. Dieses Reaktionsmuster ist kein ty- Herangehensweisen Takt und Richtung vorgaben. pisch ostdeutsches. Es lässt sich so oder ähnlich in Eine „Durchmischung“ Ost und West fand in der vielen Regionen der Welt beobachten. Anerken- Breite nicht statt, „Westler“ traten vorwiegend als nung und Missachtung gehen Hand in Hand. Fehlt Vorgesetzte in Erscheinung. Die „Ostler“ nahmen Anerkennung, wird das als Missachtung wahr- sich häufig als unterlegen, deklassiert und Befehls- genommen. Anerkennung ist eine Bedingung für empfänger war. Die Rolle hatten die Ostdeutschen Selbstanerkennung. Fehlende Selbstanerkennung zwar lange genug gelernt. Ihnen ist aber seit 1990 unentwegt mitgeteilt worden, sie seien nun selbst die Macher. Das wurden sie aber nicht: Weil die ei- 09 Exemplarisch steht dafür der jüngste Streit um die Fragen, nen nicht konnten, die anderen nicht durften, die ob Gregor Gysi am 9. Oktober 2019 in Leipzig eine Festrede nächsten nicht wollten und diejenigen, die es aus- halten sollte oder wie der Charakter der Revolution von 1989 einzuschätzen sei. Siehe hierzu www.havemann-gesellschaft.de/ füllten, in den Augen der anderen Ostdeutschen themen-dossiers/streit-um-die-revolution-von-1989. alsbald nicht mehr als Ostdeutsche galten. 10 Vgl. Amin Maalouf, Mörderische Identitäten, Frank­furt/M. 2000. ILKO-SASCHA KOWALCZUK 11 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen ist Historiker mit dem Forschungsschwerpunkt verglei- Grammatik sozialer Konflikte, Frank­furt/M. 19982, S. 278 f. 12 Vgl. Didier Eribon, Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitä- chende Widerstands- und Revolutionsgeschichte. Er ist ten, Wege, Frank­furt/M. 2017. Autor zahlreicher Bücher über die DDR. Gegenwärtig 13 Vgl. Kowalczuk (Anm 5.). schreibt er eine Biografie über Walter Ulbricht.

11 APuZ 35–37/2019

ESSAY VERPASSTE CHANCEN IM 41. JAHR Dieter Segert

Nach den pompösen Feierlichkeiten der SED- Nebeneinanders zweier demokratischer deut- Führung zum 40. Jahrestag der Republik be- scher Staaten gewesen? Eine dadurch mögliche gann am 7. Oktober 1989 das 41. Jahr der DDR. 01 behutsamere Vereinigung zweier unterschiedli- Was weiß man heute noch von dem Jahr, das am cher Gesellschaften, Kulturen und Wirtschafts- 2. Oktober 1990 endete? Was bleibt unbeachtet? systeme hätte den DDR-Bürgerinnen und -Bür- Im Folgenden geht es vor allem um vergessene gern Zeit gegeben, ihre Interessen zu artikulieren. Alternativen deutscher Entwicklung. Dabei han- Das hätte im Osten zu einer lebendigeren Zivilge- delt es sich nicht allein um verpasste Gelegenhei- sellschaft geführt. ten für die DDR oder Ostdeutschland. Auch für Die Argumente gegen diese Alternative sind das ganze Deutschland boten sich in jenem Jahr bekannt: Die DDR-Bürger selbst hätten das nicht Chancen. geduldet. Sie wollten damals so schnell wie mög- lich in die reichere Gesellschaft kommen. An- ALTERNATIVE dernfalls hätte eine noch stärkere Auswande- ZUM BEITRITT? rungsbewegung gedroht. Als Beleg hierfür gilt zum Beispiel die auf Demonstrationen geäußerte Ab Frühjahr 1990 schien es nur zwei Szenarien Parole „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt für die Zukunft zu geben: Eine Vereinigung bei- sie nicht, geh’n wir zu ihr“. der deutscher Staaten nach Art. 23 GG („Beitritts- Man kann dieser Sichtweise Folgendes ent- artikel“) und eine Vereinigung nach Art. 146 GG gegenhalten: Politik ist durchaus in der Lage zu (Ablösung des Grundgesetzes durch eine gesamt- gestalten. Die berechtigten Erwartungen der Be- deutsche Verfassung). Die zweite Option wur- völkerung auf eine Verbesserung ihrer Lebens- de bekanntlich ausgeschlagen. Sie wäre mit einer bedingungen hätten auch eine andere Antwort umfassenden Verfassungsdiskussion verbunden finden können. Diese hätte mehr auf die eige- gewesen, in die die Erfahrungen der DDR-Be- nen Anstrengungen gesetzt, zwar einige Zumu- völkerung hätten einfließen können. Weil die tungen bedeutet, aber langfristig hätte sie durch- Diskussion ausblieb, sind vor allem die west- aus Erfolg versprochen. Man kann das an dem deutschen Bürgerinnen und Bürger ihrer Mit- Erfolg der polnischen oder tschechischen Wirt- wirkungsmöglichkeiten verlustig gegangen. Der schaftstransformation ablesen. Es gab Teile der damalige DDR-Bildungsminister Hans Joachim politischen Klasse der DDR im 41. Jahr, die eine Meyer (CDU) brachte es auf den Punkt: „Ich hät- weniger hektische Gangart der deutsch-deutschen te es begrüßt, wenn damals im Westen mehr Leu- Annäherung vorgezogen hätten. Hierzu gehörten te die Chance gesehen hätten, diese vierzig Jah- etwa die besonders Aktiven der DDR-Zivilge- re alte Bundesrepublik bei der Gelegenheit auch sellschaft, die den Wandel in den späten 1980er ein wenig rundzuerneuern.“ Er ergänzte resig- Jahren vorangetrieben hatten, aber auch die Mit- niert: „Sieger denken halt nicht über ihre Fehler glieder der SED, die sich für eine Demokratisie- nach.“ 02 rung und Reform von Staat und Gesellschaft im Die nicht realisierte Alternative im 41. Jahr Herbst und Winter 1989/90 engagiert hatten. Am meint nicht etwa die Verewigung der deutschen Zentralen Runden Tisch hatten sich beide Grup- Zweistaatlichkeit, sondern eine langsamere Ent- pen ab Anfang Dezember 1989 organisiert. In der wicklung des Vereinigungsprozesses. Letzteres DDR-Volkskammer waren jene Politiker nach war ursprünglich auch vonseiten der Mitglieder der Wahl im März 1990 in der Minderheit ge- der letzten DDR-Regierung erwartet worden. 03 blieben. Doch immerhin war die SPD der DDR Was wäre der Gewinn dieser längeren Phase des als neue Partei (zunächst SDP), die sich für einen

12 Das letzte Jahr der DDR APuZ

Beitritt nach Artikel 146 GG eingesetzt hatte, bis wicklung nicht verhindern können. Deshalb ist es Ende August Teil der Koalitionsregierung unter rückblickend auch abwegig, zu behaupten, dass Lothar de Maizière (CDU). Und auch in anderen es nur ein kleines Zeitfenster für die Wiederver- Koalitionsparteien jener letzten DDR-Regierung einigung gegeben hätte und die Einheit entweder gab es Politikerinnen und Politiker, die eine sich zeitnah oder gar nicht hätte stattfinden können. behutsamer erneuernde DDR bevorzugten. 04 Mit Unterstützung von bundesdeutschen Politikern WENDEPUNKTE wäre eine langsamere Gangart möglich gewesen.­ Als weiteres Argument gegen den zeitintensi- Im 41. Jahr der DDR gab es drei entscheidende veren Vereinigungsprozess wird die internationa- Ereignisse, die den weiteren Verlauf bestimmten: le Konstellation genannt. So habe eine reaktionä- erstens der Besuch einer DDR-Regierungsdele- re Wende in der Sowjet­ ­union gedroht, wenn nicht gation unter dem Vorsitzenden des Ministerrates, schnell genug gehandelt worden wäre. Tatsächlich Hans Modrow, in Bonn im Februar 1990, in der putschten im August 1991 in Moskau konservati- auch Vertreterinnen und Vertreter der DDR-Op- ve Mitglieder der KPdSU gegen den so­wje­tischen position mitgereist waren. Im Gedächtnis blieb Staatschef Michail Gor­ba­tschow – unter anderem die würdelose Behandlung jener DDR-Politiker mit dem Argument, er sei gegenüber dem Wes- durch Bundeskanzler Helmut Kohl. Ihre Bit- ten zu nachgiebig in der deutschen Frage gewe- te um einen Überbrückungskredit wurde abge- sen. Die politische Führung der So­wjet­union war schmettert. 05 Die West-CDU war sich angesichts nicht zuletzt durch die US-amerikanische Regie- der bevorstehenden DDR-Parlamentswahl am rung und deren Wunsch, das vereinigte Deutsch- 18. März und der sich abzeichnenden deutlichen land in der NATO zu halten, unter Druck gera- Niederlage der reformierten Staatspartei PDS sie- ten. De facto verlangten die Amerikaner damit gessicher, und sie wollte den Kräften, die für eine von der sowje­ ­tischen Seite, eine Revision der Er- reformierte, aber souveräne DDR eintraten, kei- gebnisse des Zweiten Weltkriegs zu akzeptieren. nen Spielraum verschaffen. Dass Gorba­ ­tschow darauf einging, trug im eige- Das zweite Ereignis war das im selben Monat nen Land zum Widerstand konservativer Kräfte durch Kohl verkündete Angebot einer baldigen gegen ihn bei. Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Die Der erfolglose Ausgang des Putsches zeigt, Übernahme der Währung ohne wirtschaftlichen wie schwach die konservativen Beharrungskräfte Anpassungsprozess ab Juli 1990 hatte weitrei- in der So­wjet­union waren. Sie hätten die Einheit chende und widersprüchliche soziale Konsequen- Deutschlands auch bei deren langsamerer Ent- zen. Einerseits brachte sie den DDR-Bürgern rasch den Zugang zur ersehnten starken Wäh- rung, andererseits leitete sie den Niedergangs- 01 Das 41. Jahr der DDR wurde vom damaligen Rektor der Humboldt-Universität, Heinrich Fink, in einem Gespräch mit dem prozess der DDR-Wirtschaft ein und schadete so Verfasser als besonderer Zeitraum mit vielen neuen Möglichkei- den langfristigen Interessen der Bevölkerung. Die ten des Gestaltens hervorgehoben. In diesem Sinn kann das „41. Strategie der Bundesregierung bestand darin, die Jahr“ als Symbol für die damalige Suche und das tatkräftige En- im März gewählte DDR-Regierung an der kur- gagement für eine gewandelte DDR stehen. Vgl. Dieter Segert, zen Leine zu führen. Die westdeutschen Berate- Das 41. Jahr. Eine andere Geschichte der DDR, Wien 2008, S. 195. rinnen und Berater spielten dabei eine wichtige 02 Zit. nach Olaf Jacobs (Hrsg.), Die Staatsmacht, die sich Rolle. Sie sollten nicht zuletzt die nach der Ein- selbst abschaffte. Die letzte DDR-Regierung im Gespräch, Halle gliederung der DDR-Wirtschaft durch die Wirt- 2018, S. 371. schafts- und Währungsunion möglichen Auswir- 03 Siehe hierzu die Äußerungen Lothar de Maizières, seines kungen auf die Bundesrepublik kontrollieren. 06 Außenministers Markus Meckel, des Innenministers Peter-Mi- chael Diestel sowie der letzten Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl, in: Jacobs (Anm. 2), S. 28, S. 59, S. 67, S. 185, 05 Siehe Holger Schmale, Treffen von Hans Modrow und S. 230, S. 283. Helmut Kohl 1990. Die Delegation aus Ost-Berlin fühlte sich 04 Siehe v. a. die Berichte über häufig vergebliche Bemühun- gedemütigt, 15. 2. 2015, www.berliner-zeitung.de/treffen-von- gen von DDR-Ministern, sinnvolle Regelungen aus der DDR zu hans-modrow-und-helmut-kohl-1990-die-delegation-aus-ost- erhalten, etwa in den Interviews mit den Ministern Schirmer berlin-fuehlte-sich-gedemuetigt-3307722. (Kultur, CDU), Schmidt (Familie und Frauen, CDU), Pollack (Land- 06 Vgl. Alle meine Kumpels. Viele West-Beamte gehen den wirtschaft, parteilos – SPD nominiert) und Meyer (Bildung, CDU), unerfahrenen Ost-Regierenden zur Hand, 14. 5. 1990, www. in: Jacobs (Anm. 2), S. 203, 232, 237, 258, 360. spiegel.de/spiegel/print/​​​d-13498963.html.

13 APuZ 35–37/2019

Auch die Verträge zur deutschen Einheit wur- neue DDR abgebrochen wurden, war ein ech- den stark durch die westdeutsche Seite bestimmt. ter Mangel. Demokratie steht für das bewusste Regierung und die Interventionen der westdeut- Parteiergreifen für und damit auch gegen mögli- schen Lobbygruppen sorgten dafür, dass sich che Zukunftsentwürfe. Vielfältige Informationen kaum jemals andere Regelungen als die bestehen- sind nötig, man muss lernen, zwischen sicheren den altbundesdeutschen durchsetzten. 07 Kenntnissen und wohlmeinenden Vermutungen Drittes wichtiges Ereignis war der Bruch der zu unterscheiden, zwischen ernsthaften Angebo- DDR-Regierungskoalition Ende August 1990. ten und hohler Werbung. Demokratie zu lernen, DDR-Ministerpräsident de Maizière entließ benötigt Zeit. Diese fehlte gerade, als der Weg zur den sozialdemokratisch nominierten parteilo- deutschen Vereinigung radikal verkürzt wurde. sen Landwirtschaftsminister Peter Pollack sowie Viermal wurde in diesem kurzen 41. Jahr den sozialdemokratischen Finanzminister Wal- der DDR gewählt: ein wirklicher Wahlmara- ter Romberg und provozierte damit den Ausstieg thon, aber ohne ausreichende Vorbereitung. Zu- der SPD aus der Regierung. Dieser Bruch erfolgte erst wurden die Parlamentswahlen von Anfang nach Einschätzung damaliger Politiker auf Druck Mai 1990 auf den 18. März vorgezogen. So schon der bundesdeutschen CDU, die sich dadurch bes- wurde die Zeit, in der sich die Bürger mit den sere Wahlchancen für die anstehende Bundestags- politischen Alternativen vertraut machen konn- wahl ausrechnete. 08 ten, deutlich verkürzt. Die souveräne Entschei- Die frühe Währungsunion vom 1. Juli redu- dung der Bürgerinnen und Bürger der DDR zierte den Handlungsspielraum der DDR-Regie- wurde auch beeinträchtigt dadurch, dass die Par- rung erheblich. Die wichtigsten Entscheidungen teien der Bundesrepublik auf den Wahlkampf zur wurden von nun an im Bonner Finanzministeri- DDR-Volkskammer am 18. März massiv Einfluss um getroffen. Zumindest hätte bei einer alternati- nahmen. So wurde die Bildung von Wahlallian- ven Regelung – bei einem Vorrang der Sanierung zen durch CDU beziehungsweise CSU (zur Al- von bestehenden Unternehmen vor der schnellen lianz für Deutschland aus CDU, DSU und DA) Privatisierung – der wirtschaftliche Umbau nicht sowie FDP (Bund Freier Demokraten aus DFP, so sehr als ein „Vermögenstransfer von Ost- nach LDP und F. D. P.) vorangetrieben. Auf zentralen Westdeutschland“ ablaufen müssen. 09 Es gab of- DDR-Wahlveranstaltungen traten westdeutsche fenbar auch Bemühungen von DDR-Landwirt- Spitzenpolitiker, so Helmut Kohl, Willy Brandt schaftsminister Pollack für einen anderen Um- und Hans-Dietrich Genscher auf. Der Zentrale gang mit dem Bodeneigentum, verbunden mit Runde Tisch hatte sich am 5. Februar mehrheit- Absprachen mit dem Treuhandchef Detlev Roh- lich gegen eine solche Wahlkampfhilfe ausgespro- wedder, die mit seiner Ermordung jedoch obso- chen. 11 Am 6. Mai fanden die Kommunalwahlen let wurden. 10 statt. Schließlich mussten die ostdeutschen Län- der gebildet werden. Vorgesehen war ihre Bil- LERNPROZESS dung per Gesetz der DDR-Volkskammer für den ABGEBROCHEN 14. Oktober. Sie wurde auf den 3. Oktober vor- gezogen, den Tag des Beitritts der ostdeutschen Der Sprung aus der „unrenovierten“, autoritären Länder zur Bundesrepublik nach Art. 23 GG. DDR in die demokratische Ordnung der Bundes- Am 2. Dezember fand schließlich die erste ge- republik führte zu einem Freiheitsgewinn für die samtdeutsche Bundestagswahl statt. Diese Abfol- Ostdeutschen. Die hohe Geschwindigkeit dieses ge brachte es mit sich, dass die ostdeutschen Bür- Prozesses entwickelte sich jedoch zu einem zen- ger insgesamt nur oberflächliche Kenntnisse über tralen Problem. Dass die anfänglichen autonomen das Wahl- und Parteiensystem ausbildeten. Le- Lernprozesse auf dem Weg von der alten in eine diglich eine Minderheit konnte auf Kenntnissen beruhende Entscheidungen treffen.

07 Vgl. dazu Jacobs (Anm. 2), S. 203, S. 232, S. 237, S. 258, S. 360. 08 Vgl. ebd., S. 164, S. 263. 11 Siehe Hannes Bahrmann/Christoph Links, Chronik der Wen- 09 Petra Köpping, Integriert doch erst mal uns! Eine Streit- de, Bd. 2, Stationen der Einheit, Die letzten Monate der DDR, schrift für den Osten, Berlin 2018, S. 29. Berlin 1995, S. 104; Otto Langels, Eine Schule der Demokratie, 10 Siehe das Interview mit Landwirtschaftsminister Pollack in: 1. 1. 2015, www.deutschlandfunk.de/runder-tisch-in-ost-berlin-ei- Jacobs (Anm. 2), S. 257 f. ne-schule-der-demokratie.724.de.html?dram:article_id=307547.

14 Das letzte Jahr der DDR APuZ

Demokratie ist mehr als nur die Chance, an daran, notfalls im sozialen Netz aufgefangen zu freien Wahlen teilzunehmen. Sie wird erst da- werden. Von denen, die flexibler waren, wurden durch lebendig, dass sich die Wählenden auf neue Berufsfelder in kurzer Zeit erschlossen. Die- Grundlage solider Kenntnisse sachkundig zwi- se Lebensleistung ist übrigens in Westdeutsch- schen Alternativen entscheiden können. Diese land bisher kaum gewürdigt worden. Die Ost- Möglichkeit aber war einer Mehrheit der Ost- deutschen wurden besonders eifrige Schüler des deutschen aufgrund der Geschwindigkeit der Flexibilitätsmantra, gerade Jüngere. Ganze Abi- Veränderungen nicht gegeben. Vielleicht hätten turklassen gingen zur Arbeitssuche in den deut- die Bürger der alten Bundesländer eine stärker schen Südwesten. Ältere dynamische Ostdeut- sachpolitisch ausgerichtete Wahlentscheidung ge- sche reihten sich in das größer werdende Heer troffen – sie waren aber erst gar nicht gefragt, son- von Berufspendlern ein. dern vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Auf der anderen Seite, in den alten Bundes- ländern, wirkte sich die unkritische Selbstbestä- TRANSFORMATION tigung des eigenen Modells ebenfalls negativ aus. UND SELBSTBESTÄTIGUNG Die einen, die schon länger eine größere inter- nationale Rolle Deutschlands angestrebt hatten, Warum wurden damals eigentlich die Verwer- wurden durch die Überwindung der deutschen fungen, die mit den Umbrüchen von 1989/90 Teilung und damit der Nachkriegsordnung in verbunden waren, von der Mehrheit übersehen? diesem Bemühen bestärkt. Die anderen, vor allem Meine These ist, dass dafür im Osten ein naiver linke Intellektuelle, „waren von milder Melan- ethnischer Nationalismus mitverantwortlich ist. cholie angesichts des Ablebens der ‚Bonner Re- Viele Ostdeutsche glaubten offenbar, ihre Zuge- publik‘ erfüllt“. 13 Beide sahen aber keinen Ände- hörigkeit qua Geburt zu einer mythischen Na- rungsbedarf an der institutionellen Konstruktion tion würde eine Art umfassende, familiäre Hilfe der Altbundesrepublik. der Westdeutschen möglich machen. Jener naive ethnische Nationalismus („Wir sind ein Volk!“) VERGLEICHSFOLIE hatte langfristige negative Folgen. Heute wird er OSTEUROPA in den ethnisch-nationalistischen Überzeugun- gen einer relevanten ostdeutschen Minderheit re- Das 41. Jahr ist für seine Bürger in beiden deut- aktiviert: Sie will „unvermischt“ deutsch bleiben. schen Staaten gegensätzlich gelaufen. Während Viele Ostdeutsche waren selbst in den Westen die Deutschen im Osten sich völlig umstellen und migriert, in fröhlicher Hoffnung auf den Schutz sich in kurzer Zeit in eine über Jahrzehnte ge- durch eine „Einheit der Nation“. Allerdings hat- wachsene Ordnung hineinfinden mussten, blieb te diese erste Migrationsbewegung die Ostdeut- für die Deutschen im Westen scheinbar alles beim schen überfordert. Ab 2015 zeigte sich, dass man Alten: „Im Westen hat sich nichts verändert, au- sich der Unsicherheit einer weiteren massenhaf- ßer vielleicht den Postleitzahlen. Im Osten alles“, ten Migrationsbewegung nicht aussetzen wollte. so Thomas de Maizière. 14 Jenes „Alte“ wurde Die Vorstellung, dass alles so werden sollte durch den Zusammensturz der Konkurrenzord- wie im Westen, war auch mit der Übernahme ei- nung der DDR zudem glanzvoll bestätigt. Aber ner sozialen und wirtschaftlichen Ordnung ver- das ist nicht die ganze Wahrheit: Die radikale bunden, die gerade auf dem Weg hin zu einem Transformation des Ostens veränderte auch den anderen Typ Kapitalismus war, den man heu- Westen. Ursprünglich war der neoliberale Typ te den „neoliberalen“ beziehungsweise „markt- des Kapitalismus in den USA und Großbritanni- liberalen“ nennt. In der Industrie wurden Mil- en entstanden. In Osteuropa setzte er sich nach lionen Arbeitsplätze vernichtet. Auf dem Land verschwanden bis zu zwei Drittel aller Arbeits- Thomas Gensicke, Die neuen Bundesbürger. Eine Transformation möglichkeiten. 12 Viele Ältere gewöhnten sich ohne Integration, Opladen 1998, S. 30 ff.; Jörg Roesler, Ostdeut- sche Wirtschaft im Umbruch 1987–2004, Bonn 2003. 13 Axel Schildt, Politischer Aufbruch auch im Westen Deutsch- 12 Zu den Zahlen vgl. u. a. Jürgen Kühl/Reinhard Schaefer/ lands?, in: APuZ 24–26/2014, S. 22–26, hier S. 23. Jürgen Wahse, Beschäftigungsperspektiven von Treuhandun- 14 Zit. nach Rüttelt an den Thronen!, 10. 12. 2018, www. ternehmen und Ex-Treuhandfirmen, in: Mitteilungen aus der Ar- zeit.de/2018/51/ostdeutschland-rechtsruck-demokratie-dunja- beitsmarkt- und Berufsforschung 4/1992, S. 519, Tabelle S. 521; hayali-thomas-de-maiziere.

15 APuZ 35–37/2019

1989 als Verwirklichung des „Washington Kon- Die Ostdeutschen blieben jedoch auf Grundla- sens“ in einer radikalen Variante durch. Libera- ge der Währungsunion und dank des deutschen lisierung, Deregulierung und Privatisierung als Sozialstaates von unmittelbaren sozialen Härten Elemente jenes Programms erschienen danach verschont. Es gab keine erhebliche Inflation wie auch als Patentrezepte für wirtschaftliche Refor- etwa in Polen, wo die Sparguthaben innerhalb men in den alten EU-Mitgliedsländern. Der His- von drei Jahren fast völlig vernichtet wurden. Die toriker Philip Ther prägte für jene wechselseitige Renten waren in Ostdeutschland zunächst durch- Beeinflussung von Transformationsprozessen in aus ausreichend für den Lebensunterhalt. Für die Ost und West den Begriff „Kotransformation. 15 erste Generation Ostdeutsche, die in der Bundes- Eine angemessene Vergleichsfolie für die Ent- republik in die Rente eintrat, war die Lage sogar wicklung, die die ehemaligen DDR-Bürger zu sehr günstig – vor allem, weil die Frauen in der durchlaufen hatten, findet sich allerdings nicht DDR häufiger und länger berufstätig waren als im Westen Deutschlands, sondern in den anderen die Frauen in Westdeutschland. Zudem war der postsozialistischen Transformationsgesellschaften. Umrechnungsfaktor günstig. Auch Arbeitslo- Während die Transformation Ostdeutschlands als sigkeit traf die Menschen in Ostdeutschland ver- Sprung in die Institutionen des „ready-made-sta- gleichsweise weniger hart, weil sie deutlich mehr te“ der alten Bundesrepublik zu bezeichnen wäre, Arbeitslosengeld erhielten als die Bürger des öst- als Transfer eines fertigen Institutionensystems lichen Europas. nach Osten, war der Weg der anderen Staaten des Kurzum: Eine ähnliche wirtschaftliche Rezes- ehemaligen sowje­ tischen­ Einflussbereiches eigen- sion wurde nicht durch die damit in Osteuropa ständiger und langwieriger. 16 Jener Kurs wurde verbundenen unmittelbaren sozialen Härten be- zwar ebenso durch externe Leitbilder beeinflusst, gleitet. Damit befanden sich die Ostdeutschen aber anders als der ostdeutsche nicht direkt durch im Verhältnis zu den anderen poststaatssozialis- externe Eliten gesteuert. 17 Die jeweiligen internen tischen Gesellschaften eindeutig in einer komfor- Eliten in Osteuropa starteten einen Prozess der tableren Lage. Allerdings fanden sie sich schon Suche nach den besten Lösungen und stützten sich bald in der unangenehmen Situation eines abhän- dabei vor allem auf eigene Ressourcen. gigen Klienten reicher Verwandter wieder. Oder Wenn man den ostdeutschen und den ost- genauer: Sie mussten lernen, dass diese von ihnen europäischen Weg vom Staatssozialismus zum selbst als „Verwandtschaftsbeziehung“ betrach- neoliberalen Kapitalismus vergleicht, so kann teten Verhältnisse sie nicht vor unangenehmen im Großen und Ganzen folgende Bilanz gezo- Erfahrungen einer kapitalistischen Eigentums- gen werden: Die wirtschaftlichen Auswirkun- ordnung schützten. Aus einer Gesellschaft des gen in Form eines Einbruchs der Wirtschaftsent- bürokratisierten Staatseigentums kamen sie in wicklung und eines radikalen Strukturwandels eine knallharte Eigentümergesellschaft. Und heu- waren ähnlich drastisch, in Ostdeutschland auf te laufen sie, wie der Publizist Wolfgang Engler Grundlage der größeren Konsequenz und Ge- und die Autorin Jana Hensel zu Recht feststell- schwindigkeit dabei aber deutlicher spürbar. 18 ten, durch wundervoll renovierte Stadtzentren, schauen dabei aber einen Reichtum an, der nicht ihrer ist. 19 15 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Die Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014, Kap. 9. Die Erfahrungen, dass Betriebe zuguns- 16 Vgl. Richard Rose/Christian Haerpfer, The Impact of a ten der westdeutschen Konkurrenz abgewi- Ready-Made-State. Die privilegierte Position Ostdeutschlands in ckelt wurden, die entstehende große Gruppe der postkommunistischen Transformation, in: Helmuth Wiesenthal der Langzeitarbeitslosen, der umfassende Eli- (Hrsg.), Einheit als Privileg: Vergleichende Perspektiven auf die tenwechsel in vielen Bereichen zugunsten West- Transformation Ostdeutschlands, Frank­furt/M. 1996, S. 105–140. 17 In einigen Staaten (u. a. im Baltikum, in Ex-Jugoslawien, der deutscher, der Wegzug junger Menschen aus ih- Ukraine) spielte allerdings die antikommunistische Diaspora eine rer ostdeutschen Heimat in den Westen und wesentliche Rolle. Süden: All das führte in Ostdeutschland unge- 18 Das Bruttosozialprodukt pro Kopf brach in Ostmitteleuropa achtet der positiven Wirkungen des bundesdeut- um 25 bis 30 Prozent ein, in Ostdeutschland betrug der Einbruch schen Sozialstaates zu traumatischen Wende- dagegen ca. 50 Prozent, ebenso viel wie im postso­wje­tischen oder im ex-jugoslawischen Raum, wo dieser Einbruch durch den Zerfall des stärker integrierten Wirtschaftsraumes der betreffen- 19 Vgl. Wolfgang Engler/Jana Hensel, Wer wir sind. Die Erfah- den föderalen Staaten verursacht war. rung ostdeutsch zu sein, Berlin 2018, S. 98, S. 233–240.

16 Das letzte Jahr der DDR APuZ erlebnissen. Insofern kam es in Osteuropa und extremer Parteien in Ostdeutschland eine kühne Ostdeutschland im Ergebnis des Systemwech- Behauptung zu sein. Nachvollziehbar wird die- sels trotz unterschiedlicher Abläufe der Trans- ses Urteil, wenn man in den Wahlergebnissen formation zu einer ähnlichen Verunsicherung. der AfD nicht allein verfestigte rassistische und Politische Apathie, ein anhaltendes Misstrauen antidemokratische Haltungen, sondern eben- in die Institutionen der repräsentativen Demo- so den Protest gegen die Vernachlässigung ost- kratie sowie der Aufstieg nationalpopulistischer deutscher Erfahrungen erkennt. 22 Ich sehe in der Parteien waren die Folgen. jetzigen Situation die Möglichkeit, dass aus dem erfahrungsgesättigten Vergleich von staatssozia- SCHLUSS listischer Mangelgesellschaft und kapitalistischer Konsumgesellschaft Lehren für eine nachhaltige Die Transformation vom Staatssozialismus zum Gesellschaft der Zukunft gezogen werden könn- neoliberalen Kapitalismus ist eine abgeschlosse- ten: Auch aus dem Überfluss an Konsummög- ne Phase der Geschichte. Wichtig wäre es aber, lichkeiten erwächst nicht automatisch ein gutes diese Geschichte besser aufzuarbeiten. Der Vor- Leben. Geld ist ein Mittel zum Leben, es taugt schlag, der dazu im Buch der sächsischen Staats- aber nicht als Lebensziel. 23 ministerin für Gleichstellung und Integration, Zusammenfassend zwei Schlussfolgerungen Petra Köpping, gemacht wird, lautet: „Wir müs- aus der Analyse des 41. Jahres und seiner verpass- sen über die damals erlittenen Kränkungen, De- ten Gelegenheiten: Erstens ist eine nachhaltige mütigungen und Ungerechtigkeiten reden – und Demokratie nicht reduzierbar auf die von Groß- die Meinungen und Argumente vieler Westdeut- parteien reibungslos gemanagten freien Wahlen. scher dabei ernst nehmen.“20 Das könnte mittels Sie entsteht und reproduziert sich nur als politi- politischer Bildung und örtlicher Geschichts- sche Praxis, die von immer mehr Menschen be- werkstätten geschehen. Sie plädiert weiter auch wusst formuliert, ausgehandelt und aktiv ver- für die bisher ausstehende Anerkennung von Be- fochten wird. rufsabschlüssen und Rentenregelungen spezieller Zweitens hängt die in Ostdeutschland ent- DDR-Berufe. 21 Vor allem aber geht der Auftrag standene Entfremdung vom politischen System an die Bürger selbst: Nur in einer selbstbewussten nicht allein mit dem Diktatur-Erbe zusammen. Bürgergesellschaft, in der besonders auf kommu- Entscheidend ist auch die unzureichende öffent- naler Ebene und in den Unternehmen viele ihre liche Anerkennung ostdeutscher Lebensleistun- eigenen und gemeinschaftlichen Interessen aktiv gen nach 1990. Für eine solche Aufarbeitung der und hörbar vertreten, kann die Demokratie sich Defizite der Transformation nach 1989 fehlte es krisenfest verankern. lange Zeit in der ostdeutschen Gesellschaft, in der Dem möchte ich meine Überzeugung hin- fast überall westdeutsche Eliten dominieren, an zufügen, dass viele Ostdeutsche auf die erfor- kulturellen Dolmetschern. 24 Solche kulturellen derliche Reform des politischen Gemeinwesens Mittler aus den Reihen der Ostdeutschen, die die gut vorbereitet wären. Das scheint angesichts Zumutungen der Nachwendeentwicklung erfolg- des Widerhalls rechtspopulistischer und rechts- reich verarbeitet haben, gibt es inzwischen in aus- reichender Zahl.

20 Köpping (Anm. 9), S. 129. 21 Vgl. ebd., S. 158 ff. 22 Vgl. Engler/Hensel (Anm. 19), S. 113. 23 Vgl. Dieter Segert, Transformation und politische Linke. Eine ostdeutsche Perspektive, 2019, Kap. 1. 24 Angela Merkel formulierte zwar eine ähnliche These: So wurzele die Frustrationen in Ostdeutschland unter anderem darin, dass es für die Ostdeutschen „immer noch zu wenige DIETER SEGERT positive Rollenmodelle und Vorbilder gibt“. Man muss aber war Professor am Institut für Politikwissenschaft der hinzufügen, dass sie zu diesem Defizit selbst beigetragen hat, Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte weil sie die eigene DDR-Biografie in öffentlichen Auftritten sind Transformationsanalyse Osteuropas, lange kaum erwähnt hat. Siehe „Parität erscheint mir logisch“, Interview von Jana Hensel mit Angela Merkel, 23. 1. 2019, www. Geschichte und Erbe des Staatssozialismus sowie zeit.de/2019/05/angela-merkel-bundeskanzlerin-cdu-feminis- Demokratieforschung. mus-lebensleistung. [email protected]

17 APuZ 35–37/2019

UMKÄMPFTES ERBE Zur Aktualität von „1989“ als Widerstandserzählung Greta Hartmann · Alexander Leistner

Die Frage, wer sich legitimerweise als Erbe der rung, die nicht wenige von ihnen im National- friedlichen Revolution sehen darf und wie die sozialismus noch als „Volksschädlinge“ verfolgt damaligen Ereignisse jeweils eingeordnet und hatte. Das System der militarisierten Herr- gedeutet werden, war stets umkämpft – bis heu- schaftssicherung stalinistischer Prägung hatte te. Mit der Zäsur „1989“ wandelte sich in Ost- einen entsprechenden und durch die Ereignis- deutschland zudem generell die Art der Aus- se des Arbeiteraufstandes von 1953 gefestigten einandersetzung um die Deutung historischer Stellenwert. Der Grad der Militarisierung der Ereignisse: Mit der Entmachtung der SED war DDR-Gesellschaft 02 hatte damit eine doppel- auch deren geschichtspolitisches Monopol und te Stoßrichtung: Sie war einerseits nach außen Diktat gebrochen, und es wurde möglich, was gerichtet, da die DDR potenzielles Aufmarsch- für pluralistische Gesellschaften charakteristisch gebiet im Kalten Krieg war, und zugleich nach ist: über Erinnerungen und die Deutung histo- innen gerichtet, um die eigene Gesellschaft zu rischer Ereignisse zu streiten. 01 Diese vielstim- disziplinieren und beherrschen. migen Aushandlungsprozesse um das (legitime) An dieser Militarisierung entzündeten sich Erbe von „1989“ sind Thema des Beitrags. Aus- spätestens ab den 1970er Jahren erste Proteste. gehend von der Unterscheidung zweier idealty- Es entstand zunächst die unabhängige Friedens- pischer Formen geschichtspolitischer Bezugnah- bewegung als Vorläufer weiterer oppositioneller men fragen wir nach der Bedeutung von „1989“ Bewegungen, die sich bis zum Ende der 1980er als Legitimationssymbol für Proteste in Ost- Jahre in vier Strömungen auffächerten: 03 erstens deutschland der vergangenen Jahre. Wir zeich- zunächst als Kriegsablehnungsbewegung, die im nen den Wandel politischer Aneignungen von Rückblick auf den Zweiten Weltkrieg und an- Geschichte durch Protestbewegungen nach, der gesichts der atomaren Bedrohung gesellschaft- sich zunehmend als geschichtspolitischer Rechts- liche Pazifizierungsprozesse anmahnte.Zwei - ruck deuten lässt. Oder anders: Wie kommt und tens formierte sie sich als Reformbewegung mit wohin führt es, dass sich Menschen heute wieder dem Anspruch auf umfassende, im Kern reform- am Vorabend einer Revolution wähnen und wel- sozialistische Veränderungen. Vor allem in den che Bedeutung hat dabei der Bezug auf „1989“? 1980er Jahren trat sie drittens als Protestbewe- Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Blick auf gung auf, in der sich innenpolitische Konflik- die Ereignisse des Revolutionsherbstes und des- te sowie Veränderungsbegehren bündelten und sen Vorgeschichte nötig. sich die Abkehr vom „real existierenden Sozia- lismus“ artikulierte – zuletzt in Form massen- REVOLUTION hafter Ausreiseanträge. Viertens schließlich war DER VIELEN die Opposition in der DDR auch eine Emanzi- pationsbewegung – eine Bewegung auf der Su- Wechselseitige Distanz und Misstrauen zwi- che nach kulturellen Freiräumen und alternati- schen den Regierenden und den Regierten wa- ven Lebensperspektiven. ren konstitutiv für die DDR-Gesellschaft. Der Das Nebeneinander dieser Strömungen war Staat entstand als Kriegsfolgengesellschaft, auf spannungsreich, die Oppositionsbewegung selbst den Trümmern und im Schatten des „Dritten heterogen. Der Unmut in der Bevölkerung war Reiches“. Die Durchsetzung der Herrschaft war gegen Ende der 1980er Jahre freilich größer als die von den Folgen des Krieges geprägt. Die neuen schmale Mobilisierungsbasis der oppositionel- SED-Machthaber*­innen regierten eine Bevölke- len Gruppen und Szenen. Deren Anspruchshori-

18 Das letzte Jahr der DDR APuZ zonte einer erneuerten reformierten DDR waren der Straßenproteste im Herbst 1989. Aus der Op- weit – die realen Erwartungen auf Veränderungen position, aber auch aus der elitenkritischen und noch im Sommer 1989 aber eher bescheiden. Der misstrauisch-politikabstinenten „Halbdistanz“ 05 Zeithorizont, in dem oppositionelle Aktivitäten heraus strömten die Menschen landesweit auf die geplant wurden, war groß und Ausdruck dafür, Straße. Faktisch und im überraschenden Ergeb- wie man die Stabilität des Systems damals ein- nis wurde die entstandene Bewegung durch den schätzte: als zementierte Herrschaft, der Verbes- Sturz der SED-Diktatur damit zu einer Entmach- serungen mühsam und auf Jahre hin abzuringen tungsbewegung. Die Versammlungsdemokratie sind. Basisdemokratie war eine beliebte wie dif- transformierte sich für eine kurze Zeit in eine di- fuse Forderung innerhalb der Opposition, wobei rekte Verhandlungsdemokratie der überregiona- oftmals unklar blieb, wie diese mit dem Parteien- len und lokalen Runden Tische. Diese mündete system einer repräsentativen Demokratie verein- schließlich mit der Wiedervereinigung in die Im- bar sein könnte. Die Wiedervereinigung war we- plementierung von Institutionen und Verfahren der Ziel der Bewegung noch realistisch überhaupt der repräsentativen Demokratie. In diesem Pro- absehbar. zess wurden die Oppositionellen marginalisiert, Die Massendemonstrationen ab dem Herbst und die Wegbereiter der friedlichen Revolution 1989 entfalteten dann aber eine charismatische wurden von der Geschichte überholt. Schon die wie rasante Eigendynamik. 04 In den Herbsttagen Ergebnisse der ersten freien Volkskammerwahl standen die Demonstrierenden auf der Straße ei- waren für die neuen Bürgerbewegungen verhee- nem übermächtigen und waffenstrotzenden Si- rend. Sie war zugleich ein Plebiszit für die Wie- cherheitsapparat gegenüber, der explizit der Be- dervereinigung und die Währungsreform. Auf kämpfung innerer und äußerer Feinde diente. Das die Phase des unverhofften Umbruchs folgte eine situative Charisma der Ereignisse gründet dabei Phase populistisch genährter Wohlstandserwar- in der Eigendynamik des politischen Umbruchs, tungen mit ebenso verheerenden Enttäuschun- in der Ungewissheit von Verlauf (friedlich) und gen. Ausgehend von dieser zunächst diffusen, Ausgang (unverhoffter Systemzusammenbruch) ergebnisoffenen und unklaren Situation der Re- und schließlich auch in der Erfahrung der Akti- volution und ihren Folgen stellen sich im Nach- onsmacht massenhaften Straßenprotestes. hinein verschiedene Fragen: Was ist das Erbe von „1989“? Welche Ereignisse werden geschichtspo- STREIT litisch besonders akzentuiert? Wie sieht die all- DER OPPOSITIONELLEN tagskulturelle Erinnerung an „1989“ aus? Innerhalb des offiziellen gesamtdeutschen Der politische Transformationsprozess von erinnerungskulturellen „Inventars“ variiert der 1989/90 lässt sich idealtypisch als Abfolge un- Stellenwert der genannten Phasen. Die Erinne- terschiedlicher Modi politischer Beteiligung be- rung an die Runden Tische ist gegenüber den schreiben. Der Umbruch nimmt seinen Aus- charismatischen Ereignissen des Herbstes wei- gangspunkt bei der Versammlungsdemokratie testgehend marginalisiert. Die Erinnerung an den Aufbau der parlamentarischen Demokratie mit der Wiedervereinigung ist retrospektiv überlagert 01 Vgl. Edgar Wolfrum, Erinnerungskultur und Geschichtspoli- tik als Forschungsfelder, in: Jan Scheunemann (Hrsg), Reformati- von den wirtschaftlichen Schieflagen des Trans- on und Bauernkrieg. Erinnerungskultur im geteilten Deutschland, formationsprozesses: Deindustrialisierung, Ab- Leipzig 2010, S. 13–47. wanderung, biografischer Entwertung. Auch er- 02 Siehe das Themenheft „Militarisierter Sozialismus“ der innerungskulturell ist „1989“ und die „Politik der Berliner Debatte Initial 6/1997. Straße“ aufgewertet. Das dominante, geschichts- 03 Vgl. Alexander Leistner, Soziale Bewegungen. Entstehung und Stabilisierung am Beispiel der unabhängigen Friedensbewe- politisch opportune Narrativ war und ist zuge- gung in der DDR, Konstanz 2016, S. 230 ff. spitzt dieses: „1989“ war die Selbstbefreiung ei- 04 Im Begriff „Charisma“ verdichten sich die Außeralltäglichkeit nes gefangenen Volkes. des Ereignisses, die euphorischen Erfahrungen der Beteilig- ten, die nachträgliche symbolische Aufladung als historischer Schlüsselmoment (und Wendepunkt) sowie die Zuschreibung 05 Karl-Siegbert Rehberg, Dresden-Szenen. Eine einleitende besonderer Qualitäten (wie etwa der entwaffnend friedliche Situationsbeschreibung, in: ders./Franziska Kunz/Tino Schlinzig Charakter der Proteste). Vgl. dazu Max Weber, Wirtschaft und (Hrsg.), PEGIDA – Rechtspopulismus zwischen Fremdenangst und Gesellschaft, Tübingen 1980 (1922), S. 654 ff. „Wende“-Enttäuschung?, Bielefeld 2016, S. 15–50, hier S. 32.

19 APuZ 35–37/2019

Der Streit um das Erbe von „1989“ begann Reformimpulse. Oder, wie der Theologe Heino früh – zunächst vor allem innerhalb der verschie- Falcke schrieb: „Sie ist unabgegolten, sie steht an denen Fraktionen ehemaliger Bürgerrechtler*­ unter veränderten Verhältnissen. Sie liegt vor uns. innen und Oppositioneller, die sich lange Zeit als Das Gedenken weist nach vorn.“ 08 die legitimen Erben wähnten oder einander die- sen Status streitig machten. Besonders eindrück- MISSBRAUCH lich waren für solche Statuskonflikte die Debat- DES ERBES? ten um die Kandidatur des einstigen Rostocker Pfarrers Joachim Gauck als Bundespräsident. Konkurrierende Deutungen des Erbes von Dessen Status als Bürgerrechtler wurde von alten „1989“ blieben aber nicht nur auf die ehemalige Weggefährt*innen­ aus dem Neuen Forum entwe- Opposition beschränkt, sie fanden auf verschie- der heftig bestritten, weil Gauck als Anhänger der denen Ebenen statt: in den Feuilletons großer Wiedervereinigung die Revolution verraten und Zeitungen, in den Parlamenten, aber eben auch in beendet habe, oder wie von Heiko Lietz, ehe- Straßenprotesten. Die Prägekraft der Ereignisse maliger Sprecher des Neuen Forums, an die Be- manifestierte sich dabei auch in den vielfältigen dingung geknüpft, dass Gauck in seinem neuen und eigensinnigen Bezugnahmen unterschiedli- Amt ein wesentliches, nicht realisiertes Projekt cher neuerer Protestbewegungen auf die Massen- des Zentralen Runden Tisches angehen solle: die demonstrationen des Herbstes 1989. So rekurrier- Verabschiedung einer Verfassung für das geein- ten seitdem verschiedene Protestbewegungen auf te Deutschland. „So wie im Verfassungsentwurf die Form der Montagsdemonstrationen: „Mon- des Zentralen Runden Tisches der DDR aus dem tagsdemonstrationen“ gegen die Hartz-IV-Re- Jahr 1990, dem ‚Vermächtnis der DDR-Bürger- formen, „Montagsmahnwachen“ im Kontext des bewegung‘, müsse laut Lietz die neue Verfassung russisch-ukrainischen Krieges und zuletzt auch einklagbare wirtschaftliche, soziale und kulturel- die Demonstrationen von Pegida und den zahl- le Menschenrechte enthalten. Wenn Gauck die- reichen Ablegern dieser Bewegung. Die Mon- se Diskussion vorantreibe, würde er das Etikett tagsdemonstrationen gegen die Hartz-IV-Refor- ‚Bürgerrechtler‘ inhaltlich füllen, das ihm derzeit men entwickelten sich im Sommer 2004 spontan zu Unrecht angeheftet wurde.“ 06 und daher vorerst ohne feste organisatorische Es lassen sich somit idealtypisch zwei ge- Struktur. Sie gingen auf den Protest eines ein- schichtspolitische Bezugnahmen auf die friedliche zelnen Arbeitslosen in Magdeburg zurück, brei- Revolution unterscheiden: Erinnerungskulturell teten sich rasch aus und verfestigten sich. Der dominant war lange Zeit ein konservatorischer Gipfel der Proteste war schließlich der 30. Au- Bezug auf „1989“. Er ist das Ergebnis erinne- gust, als sich allein in Leipzig 30 000 Demonst- rungskultureller Sedimentierung, die das politi- rierende den Sozialprotesten anschlossen. 09 Die sche Engagement in den oppositionellen Gruppen Proteste fanden über einen Zeitraum von einigen auf Widerstand und Protest gegen die SED-Dik- Monaten wöchentlich in verschiedenen Städten, tatur reduziert. Aus dieser Perspektive hat sich vor allem in Ostdeutschland, statt wobei Magde- die friedliche Revolution mit der Wiedervereini- burg, Leipzig, Berlin und Dortmund ihre Zen- gung selbst erfüllt – Ende der Geschichte. Dage- tren bildeten. gen artikulierten Teile der ehemaligen Oppositi- Neben der Protestform „Montagsdemons- on aktualisierende Bezugnahmen auf „1989“. 07 trationen“ lassen sich gerade in Leipzig weitere Aus ihrer Sicht ist die friedliche Revolution eine Arten der Bezugnahme auf den Herbst 1989 fin- unabgeschlossene Geschichte steckengebliebener den. Ein zentraler Akteur der Proteste 2004 war das Sozialforum Leipzig, das namentlich und von

06 Andreas Frost, „Das Etikett Bürgerrechtler hat er zu Un- der Idee her an den Gedanken des „Forums“ an- recht“, 28. 2. 2012, www.tagesspiegel.de/6261414.html. 07 Der Begriff „Aktualisierung“ zielt auf unterschiedliche verschiedene geschichtspolitische Strategien: appellative Erinne- 08 Heino Falcke, Wo bleibt die Freiheit? Christ sein in Zeiten rungen an uneingelöste politische Forderungen, Parallelisierun- der Wende, Freiburg 2009, S. 115. gen zwischen den historischen Ereignissen und gegenwärtigen 09 Vgl. Dieter Rink, Die Montagsdemonstrationen als Protest- gesellschaftlichen Zuständen und schließlich Vereinnahmungen paradigma. Ihre Entwicklungen von 1991–2016 am Beispiel der für politische Zwecke. Gemeinsam ist diesen Strategien die Inten - Leipziger Protestzyklen, in: Leviathan 45/2017, S. 282–305, hier tion einer politischen Mobilisierung. S. 286.

20 Das letzte Jahr der DDR APuZ knüpfte und das ehemalige Oppositionelle im Or- zu sozialen Einrichtungen wie Kinderkrippen, ganisationsteam hatte. Im Unterschied zum 1989 Kindergärten, Betriebskollektiven und Ferienhei- gegründeten Neuen Forum ging es dem Sozial- men, aber auch die der Gleichheit in der „arbeiter- forum, wie der Name bereits ausdrückt, um das lichen Gesellschaft“, haben Wahrnehmungs- und Sichtbarmachen sozialer Anliegen, wobei es in Beurteilungsmuster gegenüber staatlichem Han- Leipzig mit der Initiierung und Anmeldung der deln geprägt, die nach der Transformation in den Montagsdemonstrationen eine Schlüsselfunktion neuen Bundesländern fortbestanden. Eine Befra- für die (überregionale) Organisation der Proteste gung Demonstrierender, die im September in den einnahm. Die Forderung des Sozialforums, Par- Städten Berlin, Dortmund, Leipzig und Magde- teien keine Stimme zu geben, knüpfte ebenso an burg durchgeführt wurde, zeigte jedoch auch, die 1989er Proteste an. Die Organisationsform als dass nicht nur spezifische Erwartungshaltungen Forum führte jedoch auch dazu, dass das Sozial- dafür sorgten, dass die Proteste vor allem in den forum eher im Hintergrund blieb und wenig als neuen Bundesländern stattfanden – die eigene Be- eigenständiger politischer Akteur in Erscheinung troffenheit war ebenso maßgeblich. 12 So bildeten trat. Trotzdem brachten die symbolischen Bezug- Arbeiter*­innen und Angestellte die große Mehr- nahmen den Anti-Hartz-IV-Protesten den Vor- heit der Protestierenden. In den vier Städten ga- wurf des Missbrauchs des Erbes von „1989“ ein, ben zusammengenommen 43 Prozent der Befrag- was zu kontroversen Diskussionen führte. 10 So ten an, arbeitslos zu sein. Der Anteil derjenigen, wurde der Bezug auf „1989“ von namhaften Op- die die Auswirkungen der Hartz-Reformen di- positionellen wie Wolf Biermann, Vera Lengsfeld rekt in ihrem Umfeld zu spüren bekamen, lag oder Joachim Gauck scharf als „geschichtsver- sogar bei 87 Prozent. Auch wenn es vereinzelte gessen“ kritisiert. Diese Kritik wurde wiederum Versuche seitens rechtsextremer Gruppierungen zum Anlass einer „Erklärung von Angehörigen wie der NPD oder des Thüringer Heimatschut- ehemaliger DDR-Oppositionsgruppen“, in der zes gab, den Protest als „Volksprotest“ umzu- sich 60 Aktivist*­innen mit den Anliegen der Pro- deuten, 13 zeigte sich in der Befragung der groß- teste identifizierten und den Demonstrierenden städtischen Demonstrierenden eine deutliche die Absolution für die Verwendung des Begriffs Linkslastigkeit in der politischen Selbsteinord- „Montagsdemonstration“ erteilten. nung. Anders das Bild in einzelnen ostdeutschen Doch auch neben den öffentlich zur Schau Kleinstädten: Hier gelang es – wie im sächsischen getragenen symbolischen Anknüpfungspunkten Freital – rechtsextremen Gruppen teilweise, die an die Montagsdemonstrationen lassen sich Ver- Proteste zu übernehmen. gangenheitsbezüge bei den Protesten gegen die Auch die etwa zehn Jahre später im Okto- Hartz-IV-Reformen erkennen. Einerseits gab es ber 2014 beginnenden Pegida-Demonstrationen bereits Anfang der 1990er Jahre Arbeits- und So- bezogen sich explizit auf die Proteste des Re- zialproteste, die sich gegen Betriebsschließun- volutionsherbstes von 1989, und nicht zuletzt gen und Massenentlassungen richteten und sich eigneten sich die Dresdner „Abendspaziergän- in wilden Streiks, Demonstrationen und weite- ger“ „gegen die Islamisierung des Abendlandes“ ren Protestformen niederschlugen. Die Stärke der ebenfalls die Protestform der Montagsdemons- Proteste in Ostdeutschland wird zudem auf an- trationen symbolisch an. Teil dieser legitima- dere Erwartungshaltungen an den Staat zurück- torischen Aneignung ist das Rufen der Parole geführt, die sich aus den Erfahrungen der Ver- „Wir sind das Volk“, die im Kontext von Pe- gangenheit speisen, in der der Staat in der DDR gida teils aggressiv und kämpferisch vorgetra- ein besonderes Maß an „Fürsorge“ gegenüber der gen wurde. Auch wenn die Ergebnisse von Be- Bevölkerung übernommen hat. 11 Die Erfahrung fragungen bei den Pegida-Demonstrationen mit dieses „Fürsorgeprinzips“, etwa in dem Zugang Vorsicht interpretiert werden müssen, was vor allem mit der Verweigerungshaltung, teils auch aggressiver Ablehnung der Forschenden durch 10 Vgl. Dieter Rink/Axel Philipps, Mobilisierungsframes auf den Anti-Hartz-IV-Demonstrationen 2004, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 20/2007, S. 52–60, hier S. 55. 12 Vgl. Dieter Rucht/Mundo Yang, Wer demonstrierte gegen 11 Axel Philipps, „Weg mit Hartz IV!“. Die Montagsdemonstra- Hartz IV?, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen 17/2004, tionen in Leipzig zwischen 30. August und 4. Oktober 2004, in: S. 21–27. Berliner Debatte Initial 16/2005, S. 93–104. 13 Rink/Philipps (Anm. 10), S. 57.

21 APuZ 35–37/2019 die Demonstrationsteil­ nehmer*­ innen­ begründet jahr herzustellen. Ein Beispiel hierfür ist die Er- ist, lässt sich aufgrund der (sich größtenteils de- klärung „Wir haben es satt“, 15 die 2001 im Zuge ckenden) Ergebnisse der insgesamt fünf Studi- der Verschärfung der Sicherheitsgesetzgebung en ein gewisses Bild der Teilnehmenden erken- nach dem 11. September von etwa 40 ehemali- nen: 14 Der typische Pegida-Demonstrant gehört gen Mitgliedern der DDR-Opposition veröf- nicht wie zunächst angenommen sozialökono- fentlicht wurde. In dieser werden explizit Paral- misch zu den „Abgehängten“. Er ist männlich, lelen zwischen der Situation des Herbstes 1989 mittleren Alters und geht einer Erwerbstätig- und aktuellen politischen Verhältnissen gezogen. keit nach. Bei Pegida liegt der Anteil der Ar- Die Verfasser*innen­ betonen ihre eigene Erfah- beitslosen mit gerade einmal zwei Prozent weit rung in der Diktatur und schlussfolgern daraus, unter dem Bevölkerungsdurchschnitt. Neben dass sie sich mit dem Aufruf nicht an Politiker*­ Arbeiter*innen­ , die auch hier die größte Gruppe innen, Parteien oder die Regierung wenden wol- der Demonstrierenden bilden, finden sich viele len, sondern an „einfache Bürger wie wir“. Damit Selbstständige. Die Demonstrierenden, die rech- vollzogen die Autor*­innen semantisch den eige- te, rechtspopulistische oder ausländerfeindliche nen Ausstieg aus der parlamentarischen Demo- Parolen skandierten und teilweise wöchentlich kratie und adressierten ein widerständiges Kol- zusammen mit einschlägigen Rechtsextremis- lektiv, das es 2001 im Unterschied zu 1989 in der ten und Hooligans auf die Straße gingen, gehö- Form allerdings nicht mehr gab. Aus dem Pro- ren also eher der ökonomischen Mittelschicht test gegen den „Krieg gegen den Terror“ wurde an. Bei der Frage, welche Partei die Teilnehmen- eine düstere Prophetie gesellschaftlichen Schei- den wählen würden, entschieden sich mit Ab- terns. So heißt es in dem Aufruf weiter: „‚Die stand die meisten für die AfD. Gleichzeitig zeigt Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft sich jedoch, dass im Allgemeinen eine geringe ist offensichtlich gestört.‘ Das war 1989 so. Und Bindung an Parteien besteht und auch auf mit- das gilt heute wieder.“ Deutliche Kritik an dem geführten Schildern und Transparenten immer Aufruf gab es von damaligen Weggefährten wie wieder Kritik am politischen System insgesamt, Martin Böttger, Mitbegründer der Initiative für an Parteien oder auch an einzelnen Politiker*­ Frieden und Menschenrechte und Gründungs- innen, wie Angela Merkel und Joachim Gauck, mitglied des Neuen Forums, der aus dem Auf- geübt wurde. Diese Distanz und Kritik wird ruf Enttäuschung und Ohnmacht herauslas und schließlich mit der Forderung nach mehr Mitbe- feststellte, dass mit „Satthabern“ keine Politik zu stimmung und der Forderung nach direkter De- machen sei. 16 Ebenso wie die Straßenproteste be- mokratie verbunden – der Form nach ein Bezug zog sich auch der Aufruf „Wir haben es satt!“ ex- auf die eingangs erwähnte Versammlungsdemo- plizit auf den Herbst 1989. Die Verfasser*innen kratie. Das geforderte Mehr an Demokratie wird betonen besonders die eigenen Erfahrungen als allerdings mit der Vorstellung einer exklusiven Mitglieder der DDR-Opposition, und der Auf- Demokratie für ein homogenes Volk verknüpft, ruf wird mit vermeintlichen Parallelen zwischen als dessen Stimme sich die Proteste imaginieren. den gesellschaftlichen Verhältnissen in der End- Dass dieses Volk mit nationalistischen und pat- phase der DDR und den gegenwärtigen Verhält- riotischen Vorstellungen zusammenhängt, zeigt nissen begründet. das Schwenken der Deutschlandfahnen und das Wie die unterschiedlichen Bewegungen und ritualisierte Singen der Nationalhymne während der Aufruf zeigen, sind die Modi der Bezugnah- der Abschlusskundgebungen. men vielfältig und erfolgen aus unterschiedli- Neben solchen Straßenprotesten, die sich mit chen politischen Richtungen. Einerseits erfolgen unterschiedlichen Anliegen und Themen aus ver- sie auf Ebene der Straßenproteste – etwa weil sie schiedenen politischen Richtungen mithilfe sym- als Montagsdemonstrationen stattfinden oder die bolischer Bezugnahmen selbst in die Tradition Parole „Wir sind das Volk“ skandiert wird, die der Proteste gegen das SED-Regime stellen, gibt in verändertem Demonstrationskontext ihre Be- es diskursive Versuche, Analogien zum Wende- deutung wandelt. Die symbolischen Bezüge ori-

14 Vgl. Hans Vorländer/Maik Herold/Steven Schäller, PEGIDA. 15 Der Aufruf findet sich unterhttp://emanzipationhumanum.de /​ Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungs- downloads/satt.pdf. bewegung, Wiesbaden 2016. 16 Die Tageszeitung, Beilage vom 28. 3. 2002, S. 3.

22 Das letzte Jahr der DDR APuZ entieren sich besonders an den charismatischen formkommunistische Revolution) war sehr viel Ereignissen der Massendemonstrationen, also stärker Gegenstand parteipolitischer Auseinan- an der Phase der Versammlungsdemokratie des dersetzungen, und das rechtskonservative La- Herbstes 1989. Andererseits werden Kontinui- ger, allen voran Viktor Orbán, forcierte das Ge- täten teilweise über Persönlichkeiten der DDR- schichtsbild eines nationalen Aufstands gegen Opposition und die damit einhergehende Rolle die kommunistische Fremdherrschaft. Mit die- im Protestgeschehen von 1989 erzeugt. So be- ser Auslegung wurden nun die aktuellen gesell- tonen die Autor*­innen des Aufrufs „Wir haben schaftlichen Verhältnisse Ungarns (und dessen es satt!“ besonders die Wichtigkeit ihrer eigenen Stellung in der EU) parallelisiert und die Not- Erfahrungen. wendigkeit einer erneuten Revolution begrün- Die geschichtspolitischen Bezugnahmen auf det. Die Aktualisierung bestand hier in einem „1989“ kreisten zunächst um die Frage nach der Widerstandsnarrativ, begleitet von gewaltsamen Aktualität der Reformanliegen der friedlichen und antiparlamentarischen Protesten gegen die Revolution und erinnerten an die weitreichen- amtierende ungarische Regierung im Jahr 2006, den Forderungen vieler oppositioneller Grup- die mittelfristig in die Machtübernahme Orbans pen – ein Diskurs, der letztlich als Deutungskon- (und in deren Folge zum staatlichen Rückbau kurrenz der Revolutionsveteranen marginalisiert von zeitgeschichtlichen Forschungsinstituten) blieb. Die symbolischen Bezugnahmen auf die münden sollten. Straßenproteste führten dazu, dass sich die Pro- Auch in Ostdeutschland lassen sich der- testform der Montagsdemonstration in Ost- zeit Tendenzen feststellen, die in eine ähnli- deutschland etablieren und bald schon von den che Richtung weisen könnten. Aktuell zeich- Trägergruppen ehemaliger Oppositioneller lösen net sich ein Kampf um die geschichtspolitische konnte. Damit einher gingen Neuinterpretatio- Hegemonie ab – mit ungewissem Ausgang. nen des Erbes von „1989“ und teilweise auch Par- Die Landtagswahlkämpfe der AfD in Sachsen, allelisierungen zwischen der gesellschaftlichen Si- Thüringen und Brandenburg sind semantisch tuation damals und heute. vom Widerstandsnarrativ von „1989“ geprägt. Diese Protestmobilisierungen hatten aber we- Sie stehen unter dem Motto „Wende 2.0“ be- nig Einfluss auf das dominante Revolutionsnarra- ziehungsweise „Wende vollenden“. 18 In Wahl- tiv, demzufolge sich das „gefangene Volk“ selbst kampfreden wird die politische Situation von befreit hat. Es beherrscht nach wie vor die offizi- „1989“ in Erinnerung gerufen, die anstehen- elle Erinnerungskultur. Das Spontane, Ungeplan- de Wahl als „friedliche Revolution“ bezeich- te der Revolution, ihr zunächst ungewisser Aus- net und zum Widerstand aufgerufen: „Ja, liebe gang und ihre Vielstimmigkeit sind in eine glatte, Freunde, es fühlt sich wieder so an wie damals hegemoniale Erzählung gegossen, die mit der in der DDR. Aber das versprechen wir uns heu- Wiedervereinigung zu enden scheint. te hier gemeinsam: Wir werden uns nie wieder in eine neue DDR führen lassen, wir werden ERNEUTE uns nicht beugen. (…) Der Osten steht auf! REVOLUTION Holen wir uns unser Land zurück“, heißt es beispielsweise in einer Rede von Björn Hö- Wie schnell sich die Machtverhältnisse in sol- cke, die er auf einem Treffen der Gruppierung chen geschichtspolitischen Deutungskämp- „Der Flügel“, die sich innerhalb der AfD für fen verschieben können, zeigt das Beispiel Un- die Stärkung völkischer und nationalistischer garn. 17 Anstelle des Jahres 1989 ist dort vor allem Inhalte einsetzt, hielt. der Arbeiteraufstand von 1956 der erinnerungs- Dies ist mehr als bloß eine wahltaktische In- kulturelle Kristallisationspunkt. Dessen Inter- strumentalisierung. Im aktualisierten Wider- pretation (als nationaler Aufstand oder als re- standsnarrativ verlängert sich jenes Misstrauen zwischen Regierten und Regierenden, das auch

17 Vgl. Thomas von Ahn, Demokratie oder Straße? Fragile Stabilität in Ungarn, in: Osteuropa 10/2006, S. 89–104; Victoria 18 Höcke wird als Star gefeiert. AfD will „Wende 2.0“ – erst Harms, A Tale of Two Revolutions: Hungary’s 1956 and the Un- im Osten, dann im ganzen Land, 14. 7. 2019, www.zeit.de/ doing of 1989, in: East European Politics and Societies 3/2017, news/2019-07/13/die-afd-blickt-auf-die-wende-der-osten-steht- S. 479–499. geschlossen.

23 APuZ 35–37/2019 für die DDR prägend war; es bedient eine his- Das Jubiläumsjahr 2019 hat damit eine be- torisch tradierte Distanz und innere Abwehr ge- sondere Brisanz bekommen: Es markiert auch genüber sogenannten herrschenden Eliten. Das die Renaissance einer „Demokratie der Straße“, 20 Deutungsmuster hat in den vergangenen Jahren die – legitimiert durch die „Eigenvollmacht“ des an Attraktivität und Resonanz gewonnen, weil es auf der Straße angeblich versammelten und re- anschlussfähig für kollektivistische Homogeni- präsentierten „Volkswillens“ – (wieder) auf die tätsbegehren („das Volk“) und fatalistische Welt- Entmachtung politischer Repräsentanten zielt. 21 sichten ist. Anders als „1989“ ist das heutige Widerstands- Ein Teil der Resonanz dürfte auch – so unsere narrativ aber sehr viel gewaltgeladener. 22 Die Stra- These – darin gründen, dass es innerhalb der ost- ßenversammlung ist gleichermaßen Legitimati- deutschen Bevölkerung konkurrierende Vorstel- onsbasis wie Drohkulisse geworden. Man mochte lungen von Demokratie gibt, die auf die Erfahrun- vielleicht noch schmunzeln und verwundert den gen in der DDR und auf die Ereignisse von 1989 Kopf schütteln, als Pegida-Demonstrant*­innen bezogen sind. Die offizielle, erinnerungskulturelle anstimmten: „Merkel hat das Land gestohlen, Dominanz der Befreiungs- und Entmachtungser- gib es wieder her. Sonst wird dich der Sachse ho- zählung und die politisch-historische Erinnerung len mit dem Luftgewehr“. Spätestens nach dem an die Straßenproteste haben die „Politik der Stra- Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter ße“ selbst charismatisch aufgeladen und die Erin- Lübcke ist einem das Schmunzeln vergangen. nerung an die Demokratisierungsprozesse „1989“ tendenziell vereinseitigt. Derlei Vereinahmun- gen blieben vonseiten ehemaliger Oppositioneller nicht unwidersprochen. Schon mit dem Aufkom- men von Pegida gab es deutliche Abgrenzungen – ebenso, wie auch zuletzt, gegenüber dem Wahl- kampf ostdeutscher AfD-Landesverbände. Allein die Resonanz öffentlicher Abgrenzungserklärun- gen dürfte bescheiden sein – auch das unterschei- det die heutige Gesellschaft von der DDR, wo ein in westdeutschen Medien veröffentlichter Appell von Oppositionellen ein machtvolles Instrument gewesen war. 19

19 Siehe DDR-Bürgerrechtler kritisieren Pegida. „Jesus hätte gekotzt“, 23. 12. 2014, www.deutschlandfunk.de/ddr- buergerrechtler-kritisieren-pegida-jesus-haette-gekotzt.2852. de.html?dram:article_id=307060; Florian Gathmann, DDR-Bür- GRETA HARTMANN gerrechtler wehren sich gegen AfD-Vereinnahmung, 7. 8. 2019, ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin www.spiegel.de/politik/deutschland/​a-1280723.html. am Institut für Kulturwissenschaften der Universität 20 Weber (Anm. 4), S. 868. Leipzig. Sie arbeitet im BMBF-Verbundprojekt „Das 21 Angesichts dieser aktuellen rechtspopulistischen Verein- nahmungen und vor dem Hintergrund der Entwicklungen der umstrittene Erbe von 1989. Aneignungen zwischen vergangenen Jahre in Ungarn irritiert der Vorstoß des Sozio- Politisierung, Popularisierung und historisch- logen Detlef Pollack. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ politischer Geschichtsvermittlung“. insistierte er im Sommer 2019 darauf, dass die Revolution dem [email protected] „Volk“ gehöre und nicht etwa der Opposition, deren Einfluss auf die friedliche Revolution er für überbewertet hält. Die veröf- fentlichten und unveröffentlichten Beiträge dieser Kontroverse ALEXANDER LEISTNER hat die Robert-Havemann-Gesellschaft dokumentiert: www. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für havemann-gesellschaft.de/themen-dossiers/streit-um-die-revolu- Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Er tion-von-1989. arbeitet im BMBF-Verbundprojekt „Das umstrittene 22 Vgl. Franz Erhard/Alexander Leistner/Alexander Mennicke, Erbe von 1989. Aneignungen zwischen Politisie- „Soldiers for Freedom, Nation and Blood“. Der Wandel von Anerkennungsordnungen kollektiver Gewaltausübung durch rung, Popularisierung und historisch-politischer Fußballhooligans im Zuge der _GIDA-Bewegungen, in: Zeit- Geschichtsvermittlung“. schrift für Fußball und Gesellschaft 1/2019, S. 46–68. [email protected]

24 Das letzte Jahr der DDR APuZ

„1989“ ALS ERZÄHLUNG Martin Sabrow

Das Datum „1989“ ist eine Chiffre. Wie die Fran- „Achtundsechziger“ zu Exponenten des Werte- zösische Revolution von 1789 markiert es ein his- wandels in einer sich liberalisierenden Bundes- torisches Schlüsseljahr, das zum Wendepunkt ei- republik werden. Aber eine gesamtdeutsche Ge- ner weltgeschichtlichen Epoche wurde. Die Kette neration der „Neunundachtziger“ hat sich nicht der weltumstürzenden Ereignisse des Jahres 1989 herausgebildet, 01 und die Absetzbewegung einer zieht sich vom ersten Bröckeln des kommunisti- zeitweilig vielbeschworenen „Dritten Generati- schen Machtmonopols in Ungarn im Januar über on“ beschränkt sich auf das prononcierte Interes- den Sieg Tadeusz Mazowieckis bei den halbfreien se an der eigenen Herkunft und die Einforderung Wahlen in Polen im Juni hin zum Fall der Berli- einer Auseinandersetzung um die beschwiegene ner Mauer am 9. November und dem Sturz von Familienvergangenheit in Ostdeutschland. 02 Bulgariens Staats- und Parteichef Todor Schiw- „1989“ ist also ein so prominenter wie zugleich kow tags darauf, und sie offenbarte mit der Hin- bis heute vieldeutiger und unscharf markierter Er- richtung des rumänischen Diktators Nicolae innerungsort. Wie ist dieser Befund zu erklären? Ceaușescu und der Wahl des Bürgerrechtlers Vá- clav Havel zum tschechoslowakischen Präsiden- ZEITGENÖSSISCHE ten im Dezember, dass in jenem Jahr der sozia- SPRACHLOSIGKEIT listische Weltentwurf Moskauer Prägung sein historisches Ende gefunden haben sollte. Einen ersten Fingerzeig liefert die Rasanz der Er- eignisse des Herbstes 1989 selbst. Der Fall einer ge- DIFFUSER mauerten Systemgrenze, die für fast ein halbes Jahr- ERINNERUNGSORT hundert die Welt in eine westliche und eine östliche Hemisphäre geordnet hatte, war ein so unerhörter Doch so epochal die Bedeutung ist, die diesem und unerwarteter Vorgang, dass den Zeitgenossen Jahr zukommt, so diffus ist sein Platz im Gedächt- buchstäblich die Worte fehlten und das Familien- nis unserer Zeit. „1989“ wird im Rückblick durch gespräch verstummte. „Am Tage des Mauerfalls“, unterschiedlichste Begriffe gefüllt, die allein im erinnerte sich die damalige Schülerin aus Dessau deutschen Fall von der protestantischen, nachho- Lisa Cersowsky, „saß ich mit meinen Eltern vor lenden, „friedlichen Revolution“ oder auch „Ker- der Flimmerkiste, was selten vorkam. Alle starrten zenrevolution“ über das Kunstwort „Refolution“ still und gespannt auf den Fernseher. Am Ende der (Timothy Garton Ash) und unpathetische Kenn- Nachrichten sprangen meine Eltern auf, ließen al- zeichnungen wie „Wende“ oder „Systemwechsel“ les stehen und liegen und rannten zu den Nachbarn. zu Termini wie „Implosion“, „Umbruch“ und Ich blieb wie versteinert sitzen und verstand, dass ir- „Zusammenbruch“ sowie im regimeverbundenen gendwas Gutes und Bedeutendes passiert sein muss- Diskurs auch „Konterrevolution“ reichen. te, aber nicht, welche Folgen es haben sollte.“ 03 Die Zäsur von 1989 hat jedenfalls in Deutsch- Die Wort- und Fassungslosigkeit des zeitgenös- land keine generationelle Prägekraft entfaltet. sischen Miterlebens galt für Herrschende wie Be- Das 19. Jahrhundert kannte die Generation der herrschte gleichermaßen. Die einen suchten ihr Heil „Achtundvierziger“, die nach der verlorenen im historischen Vergleich und erörterten, wie Erich Schlacht um die deutsche Demokratisierung un- Mielke, Minister für Staatssicherheit der DDR, in behaust blieb und erst mit der deutschen Reich- einer Führungsbesprechung des MfS vom 31. Au- seinigung ihren Frieden mit den Verhältnissen gust 1989, ob es so sei, „daß morgen der 17. Juni im Staat Bismarcks machte. Das 20. Jahrhundert ausbricht“, 04 oder fanden wie SED-Politbüromit- brachte die strebsame Wiederaufbaugeneration glied Kurt Hager am 10. November, die Situation der „Fünfundvierziger“ hervor, und es ließ die sei „schärfer, ernster als 1953“. 05 Mit einem ande-

25 APuZ 35–37/2019 ren Ausdruck suchten die plötzlich in die Freiheit bensordnung erfuhr – und abwehrte: „Ich dachte entlassenen DDR-Bürger ihrer Eindrücke Herr zu nicht nach vorn. Ich lebte von Tag zu Tag, in der werden, als sie noch ungläubigen Schrittes die so mikroskopischen Zeit makroskopischer Ereignis- unvermutet geöffnete Schranke zwischen Ost- und se, von denen ich in der Kaserne nur ferne Echos West-Berlin passierten: „Das meistgebrauchte Wort hörte, das Blätterrieseln der Ulmen war realer.“ 09 dieser Tage war ‚Wahnsinn‘“. 06 Um Worte und Ver- stehen rang auch die Zeitungswelt, deren Berichter- SEMANTISCHE stattung über die Grenzöffnung nicht nur die Bür- BEMÄCHTIGUNGSVERSUCHE ger der eben noch hermetisch getrennten Hälften , sondern auch sich selbst porträtierte: „Der Der kurze Moment der Sprachlosigkeit unter- beispiellose Wandel, der sich gegenwärtig östlich brach allerdings nur die konfliktreichen Bemü- der Elbe vollzieht, verschlägt allen den Atem. Man- hungen von Akteuren und Beobachtern, sich des chem verschlägt er die Sprache.“ 07 atemberaubenden Richtungswechsels der histori- Um ihre Fassung gebracht sahen sich in die- schen Entwicklung zu bemächtigen, indem man sen Tagen auch viele Oppositionelle in der DDR, ihm einen Namen gab. Im Ringen um diese Deu- wie Bärbel Bohley nur Tage nach dem Mauer- tungsmacht war zunächst der neugewählte SED- fall mit drastischen Worten kundtat: „Die Men- Generalsekretär Egon Krenz erfolgreich gewesen, schen sind verrückt, und die Regierung hat den den der eben gestürzte Vorgänger Erich Honecker Verstand verloren.“ 08 Wer wiederum die Eupho- in seiner letzten öffentlichen Erklärung um jeden rie dieser Aufbruchstage fernab glückstrunkener Kredit eines politischen Erneuerers gebracht hatte, Menschenmengen und außerhalb des aufgeheiz- indem er ihn dem ZK und der Volkskammer zu sei- ten Klimas des gesellschaftlichen Veränderungs- nem Nachfolger vorschlug. Der auf diese Weise mit drangs erlebte, dem mochte es ergehen wie dem einer unbeabsichtigten Kontinuitätsversicherung Schriftsteller Uwe Tellkamp, der „1989“ als Ein- ins Amt gelangte Krenz versuchte sich in seiner ers- bruch des Unwirklichen in seine gewohnte Le- ten Fernseh- und Rundfunkansprache am Abend des 18. Oktober 1989 mit der Ankündigung eines Neuanfangs von seinem Vorgänger abzusetzen: 01 Vereinzelten Bemühungen, paradoxerweise von rechtskon- „Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende servativer Seite eine Generation der 89er auszurufen, blieb der einleiten, werden wir vor allem die politische und Erfolg versagt. Vgl. Roland Bubik (Hrsg.), Wir ’89er. Wer wir sind 10 und was wir wollen, Berlin 1995. Vgl. Susanne Gaschke, Claus ideologische Offensive wiedererlangen.“ allein zu Haus. Die 89er-Generation stellt sich vor in zwölffacher Dieser Versuch, im Umbruch das Steuer des Gestalt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 1. 1996. Auch der Staatsschiffs in der Hand zu halten, scheiterte be- programmatische Titel einer diesem Befund entgegenstehenden kanntlich binnen weniger Wochen, und die von Studie von Claus Leggewie findet sich im Fazit deutlich relati- Krenz geprägte Erneuerungsparole verkehrte sich viert: „Die 89er werden zerredet, bevor sie richtig als politische Generation zur Welt gekommen sind.“ Claus Leggewie, Die 89er. noch vor dem Mauerfall erst in eine uneingelös- Portrait einer Generation, Hamburg 1995, S. 300. te Forderung an ihren Erfinder und dann in ein 02 Vgl. Michael Hacker/Stephanie Maiwald/Johannes Sta- Schmähwort. „In Bonn heißt ‚Wende‘ im konkreten emmler, Dritte Generation Ost. Wer wir sind, was wir wollen, in: stets auch Machtwechsel. Daran ist in der DDR der- dies. et al. (Hrsg.), Dritte Generation Ost. Wer wir sind, was wir zeit nicht zu denken“, notierte die „Die Zeit“ schon wollen, Berlin 2012, S. 9–16, hier S. 13. 03 Linda Bunckenburg, Jugend im Aufbruch. Wendejugendliche zehn Tage nach der Ablösung von Honecker durch 11 erinnern sich an ihren Herbst 1989, in: ebd., S. 39–46, hier S. 39 f. Krenz. Mit Sorge beobachtete auch der „Tages- 04 Dienstbesprechung beim Minister für Staatssicherheit spiegel“ Anfang November 1989, dass Honeckers (Auszug), 31. 8. 1989, zit. nach Armin Mitter/Stefan Wolle (Hrsg.), Erben in der SED-Führung mit der „Gnade des neu- Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS, en Gesichts“ ein falsches Selbstbewusstsein an den Januar–November 1989, Berlin 19903, S. 113–140, hier S. 125. 05 Zit. nach Hans-Hermann Hertle/Gerd-Rüdiger Stephan, Das Ende der SED: Die letzten Tage des Zentralkomitees, Berlin 09 Uwe Tellkamp, Lichtmaschinen, in: Renatus Deckert (Hrsg.), 20125, S. 79. Die Nacht, in der die Mauer fiel. Schriftsteller erzählen vom 06 Renate Rauch, November 1989. Vor und hinter dem Bran- 9. November 1989, Frank­furt/M. 2009, S. 61–72, hier S. 66. denburger Tor, in: Sonntag, 19. 11. 1989. 10 Rede des Genossen Egon Krenz. Generalsekretär des Zent- 07 Erwin Häckel, Vorsicht mit den Worten, 12. 1. 1990, www. ralkomitees der SED, in: Neues Deutschland, 19. 10. 1989. zeit.de/1990/03/vorsicht-mit-den-worten. 11 Theo Sommer, Schafft Krenz den neuen Anfang? Seine 08 Zit. nach Ehrhart Neubert, Unsere Revolution. Die Geschich- schwierige Aufgabe: Aufräumen, Abräumen, Umräumen, in: Die te der Jahre 1989/90, München–Zürich 2008, S. 234. Zeit, 27. 10. 1989.

26 Das letzte Jahr der DDR APuZ

Tag legten und das Volk am langen Lasso bereits wie- men über die Grenzen der semantischen Verortung der eingefangen wähnten: „Man glaubt schon, an der des Geschehens hinweg und würfelten zeitgenössi- Spitze der Wende, in der Vorhut gesellschaftlicher sche Beobachter unterschiedlichste Bezeichnungen Veränderungen zu stehen.“ 12 Einen Tag später er- wie „Krise“ und „Bankrott“, „Aufbruch“ und „Zu- klärte Christa Wolf das Wende-Wort öffentlich zum sammenbruch“ unbefangen ­durcheinander. 15 Unwort: „Verblüfft beobachten wir, daß die Wen- Schon bald aber spitzte sich der Gegensatz digen, im Volksmund Wendehälse genannt, die laut zwischen den beiden von Christa Wolf gegen- Lexikon sich rasch und leicht einer gegebenen neuen übergestellten Leitbegriffen zu. Alltagssprachlich Situation anpassen, sich in ihr mit Geschick bewe- etablierte sich nicht der pathoshaltigere Begriff „Re- gen, sie zu nutzen verstehen“. Dies rief sie am 4. No- volution“, sondern der nüchternere Begriff „Wen- vember 1989 den 500 000 Hörerinnen und Hörern de“. Seiner taktischen Funktion in Krenz’ Strate- zu, die die zu Unrecht in den Hintergrund getrete- gie der Machtsicherung entkleidet, entwickelte er ne Protestdemonstration auf dem Berliner Alexan- sich rasch zu der mit Abstand gebräuchlichsten Be- derplatz zur größten nicht staatlich gelenkten Pro- zeichnung für die Ereignisse des Herbstes und Win- testversammlung in der Geschichte der DDR und ters 1989/90. Die Akzeptanz des Wende-Worts ver- zu dem vielleicht entscheidenden Auftriebsmoment dankte sich dabei nicht zuletzt seiner semantischen im Kampf gegen das alte Regime machten. „Mit Nutzungsbreite, mit der sich die Hoffnung auf eine dem Wort Wende habe ich meine Schwierigkeiten. gezielte Einhegung des Umbruchs ebenso zum Ich sehe da ein Segelboot, der Kapitän ruft: ‚Klar zur Ausdruck bringen ließ wie die Begeisterung für die Wende!‘, weil der Wind sich gedreht hat (...). Und Erfüllung eines politischen Traums. „Rückhaltlose die Mannschaft duckt sich, wenn der Segelbaum Offenheit und Ehrlichkeit“ forderte die Ost-Berli- über das Boot fegt. Stimmt dieses Bild noch? Stimmt ner „BZ am Abend“ nach dem Rücktritt des SED- es noch in dieser täglich vorwärts treibenden Lage? Politbüros am 8. November 1989 ein, um „Garan- Ich würde von revolutionärer Erneuerung sprechen. tien [zu] schaffen, daß die Wende unumkehrbar ist, Revolutionen gehen von unten aus.“ 13 im Sozialismus“. 16 Wenn hingegen eine West-Ber- liner Zeitung nach dem Rücktritt der tschechoslo- „1989“ wakischen KP-Führung am 24. November 1989 ALS WENDE von der „Wende in Prag“ sprach, tat sie es, um die wundersame Veränderung der Lage zu unterstrei- Damit war das Begriffspaar geboren, das als Kon- chen; 17 und als der Publizist Landolf Scherzer im kurrenz von Wende-Gedächtnis und Revolutions- Januar 1990 den von ihm wenige Jahre zuvor port- Gedächtnis den narrativen Umgang mit dem Epo- rätierten Ersten Sekretär der SED-Kreisleitung 18 im chenjahr im Weiteren prägen sollte. In den ersten thüringischen Salzungen wieder aufsuchte, nutzte beiden Jahrzehnten wurde es noch von einer An- er das Wende-Wort, um die unaufhaltsame Wucht schluss-Erinnerung begleitet, die vor allem von den des Wandels in der DDR einzufangen. 19 entmachteten Eliten des SED-Staats gepflegt wur- de und den Umbruch als eine historische Niederlage 15 Exemplarisch Dietrich Löffler, Als der Stein ins Rollen begriff, die folgerichtig in die „Übernahme“ durch kam. Aus Dokumenten des Aufbruchs wurden Zeugnisse des den Bonner Staat mündete. 14 Nur kurze Zeit glitt der Zusammenbruchs, in: Die Zeit, 28. 9. 1990. Vgl. auch Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, Mün- öffentliche Sprachgebrauch noch unvoreingenom- chen 2009, S. 536 f. 16 Carola Heimann, Ehrlichkeit und Wende, in: BZ am Abend, 12 Joachim Bölke, Adieu, in: Der Tagesspiegel, 3. 11. 1989. 8 . 11. 19 8 9. 13 Christa Wolf auf der Berliner Großdemonstration am 17 „Wer sich nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt- 4. November 1989, in: Konrad H. Jarausch/Helga A. Welsh Staaten in der ČSSR die Prophezeiung gewagt hätte, daß der (Hrsg.), Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern, Bd. 10, ‚Prager Frühling‘ sich dennoch durchsetzen und der verfemte Ein Deutschland in Europa 1989–2009, Deutsches Historisches Parteichef Dubček nach 20 Jahren auf dem Wenzelsplatz vor Institut Washington, DC 2003–2012, http://germanhistorydocs. 300 000 Menschen sprechen werde, der wäre als Phantast und ghi-dc.org/pdf/deu/Chapter1_Doc7German.pdf. Spinner abgestempelt worden.“ Unsere Meinung: Wende in 14 Vgl. Martin Sabrow, „Wende“ oder „Revolution“? Zur Debatte Prag, in: Der Tagesspiegel, 25. 11. 1989. um den Umbruch 1989/90, in: Wolfgang Küttler/Matthias Middell 18 Landolf Scherzer, Der Erste. Protokoll einer Begegnung, (Hrsg.), Nation und Revolution. Ernst Engelberg und Walter Rudolstadt 1988. Markov zum 100. Geburtstag, Leipzig 2011, S. 45–56; ders., Wem 19 „Scherzer hat seinen Buchhelden, den Funktionär Fritschler, gehört „1989“?, in: ders. (Hrsg.), Bewältigte Diktaturvergangen- in den vergangenen Wochen wiedergesehen. Für die ZEIT hat heit? 20 Jahre DDR-Aufarbeitung, Leipzig 2010, S. 9–20. [er] diese Begegnungen protokolliert – eine Fortsetzung seines

27 APuZ 35–37/2019

Massendemonstration in Berlin am 4. November 1989 © dpa – Report, Foto: Thomas Lehmann

Viele der oppositionellen Träger des gesell- on“ den Ereignissen gerecht“, 21 während die „re- schaftlichen Aufbegehrens hingegen sahen sich staurativ gemeinte“ Rede von der Wende 22 eine mit dieser semantischen Anleihe bei der Herr- „Lüge des frisch gekürten Generalsekretärs des schaftssprache eines überwundenen Regimes, SED, Egon Krenz,“ nachbete, 23 deren gedanken- die die Weltzäsur von 1989 in eine Reihe mit ei- lose Nutzung und Verbreitung mit Ehrhart Neu- ner Wende am Arbeitsmarkt oder der von Hel- bert der „größte Erfolg“ sei, den die Postkom- mut Kohl ausgerufenen „geistig-moralischen munisten nach 1989 errungen hätten. 24 Das vom Wende“ von 1982 stellte, um den Verdienst und DDR-Oppositionellen Neubert überspitzte Ur- Rang der ostdeutschen Volkserhebung betro- teil übersah, dass der letzte SED-Generalsekretär gen: „Wer also (…) für die Ereignisse von 1989 nicht nur für die Popularität des Wende-Begriffs den Begriff ‚Wende‘ benutzt, der degradiert den verantwortlich war, sondern auch das Komposi- Sturz der SED-Herrschaft in der DDR zum blo- tum „friedliche Revolution“ in Umlauf brachte, ßen Regierungswechsel.“ 20 In dieser Sicht auf als er mit ihm in Anlehnung an eine Formulie- „1989“ wird allein die Bezeichnung „Revoluti- rung des Regierenden Bürgermeisters West-Ber-

Erfolgsbuches und Bericht darüber, wie die SED die Wende 21 Elke Kimmel, 20 Jahre friedliche Revolution und deutsche erleidet.“ Einleitung zu: Landolf Scherzer, Das letzte Gefecht. Einheit, in: DA 3/2008, S. 523 ff., hier S. 523. Wie der SED-Sekretär Hans-Dieter Fritschler die Wende in der 22 Annette Simon, Wende? Revolution! 1989 geschah in der DDR erlebt, in: Die Zeit, 12. 1. 1990. DDR eine Revolution, keine Wende. Warum hat sich dieser Be- 20 Rainer Eppelmann/Robert Grünbaum, Sind wir die Fans von griff im Alltag trotzdem durchgesetzt?, in: Die Zeit, 23. 10. 2014. Egon Krenz? Die Revolution von 1989/90 war keine „Wende“, in: 23 Rainer Eckert, Gegen die Wende-Demagogie – für den Deutschland Archiv (DA) 5/2004, S. 864–869, hier S. 869. Seine Revolutionsbegriff, in: DA 6/2007, S. 1084 ff., hier S. 1084. erste selbstständige Veröffentlichung im vereinten Deutschland 24 Michael Richter, Die Wende. Ein Plädoyer für eine umgangs - hatte Eppelmann allerdings selbst noch mit dem Wende-Wort sprachliche Benutzung des Begriffs, in: DA 5/2007, S. 861–868, betitelt: Wendewege: Briefe an die Familie, Bonn 1992. S. 862.

28 Das letzte Jahr der DDR APuZ lins, , 25 einen Monat nach dem stärker öffentliche Geltungsdominanz. Der Ter- Sturz Honeckers seine Politik am 17. November minus „friedliche Revolution“, beziehungsweise 1989 auf einer Pressekonferenz zu charakterisie- in großschreibender Anlehnung an die Französi- ren versuchte: „Und Sie werden feststellen, wir sche Revolution häufig auch „Friedliche Revolu- machen eine friedliche Revolution, und ich bin tion“, bestimmt heute die Sprache der politischen froh und glücklich darüber, daß unser Volk eine Bildungsträger wie die des staatlichen Gedenkens. solche Stimmung hat, auf die Straße geht, aber daß es auch nicht vergißt zu arbeiten. Und das ist FREIHEIT das Wichtigste, denn ohne Arbeit kann man kei- VERSUS TRAUMA ne Revolution machen.“ 26 Gleichwohl hat der Revolutions-Begriff das Wen- REVOLUTIONSNARRATIV de-Wort nie verdrängen können. 28 In ihrer Gegen- sätzlichkeit repräsentieren beide Bezeichnungen Von dieser Zähmung zu einem arbeitspolitischen zusammen die schon 1990 einsetzende und seit- Mobilisierungsappell vermochte sich der Begriff her fortbestehende Aufspaltung in unterschiedli- der „friedlichen Revolution“ allerdings rasch zu che Gedächtnisse, die „1989“ von Anfang an zu ei- emanzipieren. Unter Berufung auf eine Äußerung nem ambivalenten Erinnerungsort machten. 29 Die des von ostdeutschen Oppositionellen ansonsten damit verbundenen Bemächtigungskämpfe haben eher selten als Referenz angeführten Sowjetrevo- mittlerweile an Brisanz verloren, wenngleich die lutionärs Lenin warb etwa der ehemalige DDR- alte Diskussion um die Besitzrechte an der fried- und spätere Bundesminister Rainer Eppelmann lichen Diktaturüberwindung periodisch immer für einen Begriff der „friedlichen Revolution“, wieder aufflackert. 30 Insgesamt aber ist die syn- der wissenschaftliche Angemessenheit mit ge- chrone Zeitachse, die sich auf die von Warschau schichtspolitischer Wünschbarkeit verbinde. Tat- über Berlin bis nach Bukarest laufende Welle der sächlich konnte sich die scheinbar selbstwider- Befreiung vom diktatorischen Joch konzentriert, sprüchliche Wortverbindung von protestantisch im Laufe der Jahre durch eine diachrone Perspek- geprägter Friedfertigkeit und entschlossenem tive ergänzt worden, die sich stärker für das Da- Umsturzwillen in der öffentlichen Erinnerung vor und Danach interessiert und das „Wunder mit den Jahren immer mehr durchsetzen. von 1989“ stärker in die alle Systemgrenzen über- Während sich 1999 die Erinnerung an den ge- steigende Geschichte der Globalisierung und der waltlosen Machtübergang auf einem von verschie- Postindustrialisierung einordnet. 30 Jahre danach denen Institutionen getragenen „Geschichtsfo- geht es trotz der anhaltenden Scharmützel über rum 1949–1989–1999“ in Berlin noch hinter das den Anteil der DDR-Oppositionellen am Zusam- 50-jährige Jubiläum der doppelten deutschen menbruch der SED-Diktatur nicht mehr vorran- Staatsgründung zurückgedrängt sah und zum gig um die Deutungshoheit über den Charakter 15. Jahrestag des Mauerfalls nicht wenige ehemali- des Umbruchs in der DDR und dessen eher nach- ge Bürgerrechtler das Deutungsmuster der friedli- geordnete Stellung im Gefüge der Umwälzungen chen Revolution noch aus einer Defensivposition im so­wje­tischen Satellitengürtel. 31 Mehr und mehr heraus gegen eine Welle der Ostalgie glaubten ver- 27 teidigen zu müssen, erlangte der Terminus mit 28 Im Wikipedia-Eintrag „Wende und friedliche Revolution in wachsendem Abstand zu den Ereignissen immer der DDR“ (Stand: 8. 7. 2019) ist ausdrücklich vermerkt: „Die vor- liegende Darstellung sieht davon ab, einen von beiden Begriffen, die in der Entgegensetzung politisch aufgeladen erscheinen, 25 Hierzu Bernd Lindner, Begriffsgeschichte der Friedlichen exklusiv zu setzen.“ Revolution. Eine Spurensuche, in: APuZ 24–26/2014, S. 33–39, 29 Vgl. Konrad Jarausch, Der Umbruch 1989/90, in: Martin Sab- hier S. 36. row (Hrsg.), Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 526–535. 26 Wir arbeiten für eine friedliche Revolution. Egon Krenz 30 Siehe zuletzt die Debatte zwischen u. a. Detlef Pollack und antwortete auf Fragen der Weltpresse Berlin, in: Neues Deutsch- Ilko-Sascha Kowalczuk ab 12. Juli 2019 in der „Frankfurter land, 18. 11. 1989. Auch Krenz’ erste Buchveröffentlichung nach Allgemeinen Zeitung“. dem Ende des SED-Regimes trägt den Revolutions-Begriff im 31 Vgl. Claudia von Salzen, Polen ärgern sich über EU-Video Titel: Wenn Mauern fallen. Die friedliche Revolution. Vorge- zum Mauerfall, 22. 5. 2009, www.zeit.de/online/2009/22/polen- schichte – Ablauf – Auswirkungen, Wien 1990. mauerfall-einheit; Mieczyslaw F. Rakowski, Es begann in Polen. 27 Tobias Hollitzer, 15 Jahre Friedliche Revolution, in: APuZ Der Anfang vom Ende des Ostblocks, Hamburg 1995; Jan Puhl, 41–42/2004, S. 3–6. Vergessener Kampf, in: Der Spiegel, 3. 8. 2009, S. 92 f.

29 APuZ 35–37/2019 hat sich stattdessen ein Erzählmuster Gehör ver- ersten Jahrhunderthälfte im eisernen Griff des schafft, das „1989“ nicht mehr als punctum im Sin- Ost-West-Konflikts gehalten hatte“. 35 Derselbe ne von Roland Barthes, sondern als studium ver- Erzählmodus dominierte auch die Aneignung des steht. Es begreift den revolutionären Umbruch Umbruchs von 1989 in den großen zeitgeschicht- weniger als unerhörtes Ereignis, das „nicht durch lichen Filmproduktionen, die – etwa in Mar- Vereinnahmung und Relativierung kaputt ge- garethe von Trottas „Das Versprechen“ (1995), macht werden“ dürfe, 32 sondern als Teilaspekt ei- Frank Beyers Adaption von Erich Loests Ro- nes zeitlich übergreifenden Geschehens, das hinter man „Nikolaikirche“ (1995) oder auch Christian der herausragenden Zäsur vielfache und zunächst Schwochows zweiteiliger Verfilmung von Tell- übersehene Kontinuitätslinien offenbart. Diese kamps „Der Turm“ (2012) – den Fall der Berliner neue Erzählung von „1989“ reagiert auf die Po- Mauer als glückliches Ende einer Geschichte von larisierung der zeitgenössischen Erfahrung, in der Unterdrückung und Trennung inszenieren. sich die Verehrung des Aufbruchs von 1989 und Wie zahllose Äußerungen zum 20. Jahres- die Verbitterung über den Abbruch eigener Er- tag unterstrichen, verblassten hinter der epo- werbs- und Entwicklungsbiografien gegenüber- chalen Kraft der Freiheitserzählung fortbeste- stehen, dem so viele Ostdeutsche in der Zeit da- hende Probleme. Das 25-jährige Jubiläum des nach ausgesetzt waren. Der staatlich gestützten Mauerfalls 2014 markierte den Höhepunkt, Erzählung vom alles überstrahlenden Fluchtpunkt aber auch bereits den Wendepunkt dieses Frei- Freiheit steht die biografisch fortwirkende Last ei- heitsnarrativs. Ein von Hunderttausenden ge- ner gesellschaftlich bis heute nicht hinreichend an- feiertes Lichterfest ließ mit seinen Tausenden erkannten Enttäuschung gegenüber. Nicht nur, in den Himmel strebenden Heliumballons noch aber besonders in Ostdeutschland haben sich so- einmal die euphorische Leichtigkeit aufsteigen, ziale und politische Marginalisierung der Nach- mit der ein Vierteljahrhundert zuvor das eben wendezeit ihre eigenen Kommunikationskanäle noch unüberwindlich scheinende Bollwerk der geschaffen, und sie geben der Unzufriedenheit mit Freiheit überwunden worden war, und eupho- den Verhältnissen durch einen wutbürgerlichen risierte auch die Presse: „Selten fühlte sich ein Habitus Ausdruck, den der amerikanische Publi- Gedenktag in Deutschland so leicht an wie die- zist Jonah Goldberg treffend als „ekstatische Scha- ser.“ 36 Bundeskanzlerin Angela Merkel feierte denfreude“ gekennzeichnet hat. 33 bei der Eröffnung einer neuen Dauerausstellung der Gedenkstätte Berliner Mauer am 9. No- „1989“ ALS vember 2014 die Macht der nur scheinbar Ohn- GLÜCKLICHER ENDPUNKT mächtigen; 37 Wolf Biermann sang im und nutzte die Gunst der Revolutionsfeierstun- Im zeithistorischen Erfolgsnarrativ steht der de für einen Seitenhieb auf die Linkspartei als Herbst 1989 in der Tradition der deutschen Frei- heitsgeschichte: „Was 1848 noch scheiterte (und 1953 blutig niedergeschlagen wurde), fand 1989 35 Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Ge- ein glückliches, erfolgreiches Ende.“ 34 Es deu- schichte der Wiedervereinigung, München 2009, S. 12. Ebenso tet „1989“ als glücklichen Ausgang aus dem 1914 auch die Darstellung bei Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 2, Deutsche Geschichte vom „Dritten begonnenen Katastrophenjahrhundert und End- Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 20025, S. 517. punkt einer Epoche, „die Europa und die Welt 36 Annett Meiritz/Christoph Sydow, Mauerfall-Jubiläum. Berlin nach den verheerenden Kriegen und Krisen der erinnert, Berlin jubelt, 9. 11. 2014, https://www.spiegel.de/politik/ deutschland/a-1001910.html. 37 „Es ist eine Botschaft der Zuversicht, heute und künftig 32 Maria Nooke, Leserbrief an die FAZ zum Artikel von weitere Mauern einreißen zu können – Mauern der Diktatur und Detlef Pollack in der FAZ vom 12. 7. 2019 und seine Erwiderung der Gewalt, der Ideologien und der Feindschaften. Zu schön, um auf Ilko-Sascha Kowalczuks Beitrag (FAZ vom 15. 7. 2019) am wahr zu sein? Ein Tagtraum, der wie eine Seifenblase zerplatzt? 16. 7. 2019, 17. 7. 2019, www.havemann-gesellschaft.de/filead- Nein, der Mauerfall hat uns gezeigt: Träume können wahr wer- min/robert-havemann-gesellschaft/themen_dossiers/Streit_um_ den. Nichts muss so bleiben, wie es ist – mögen die Hürden auch die_Revolution_von_1989/190717_Leserbrief_M.Nooke.pdf. noch so hoch sein.“ Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel 33 „Reine Demokratie erscheint mir als autoritäre Idee“, Inter- zur Eröffnung der neuen Dauerausstellung der Gedenkstätte view mit Jonah Goldberg, 1. 3. 2018, www.nzz.ch/feuilleton/reine- Berliner Mauer am 9. November 2014 in Berlin, 9. 11. 2014, demokratie-erscheint-mir-als-autoritaere-idee-ld.1355883. www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von- 34 Eppelmann/Grünbaum (Anm. 20), S. 867. bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-794850.

30 Das letzte Jahr der DDR APuZ der „elende Rest dessen, was zum Glück über- ergibt sich aus dem Umstand, dass die oppositi- wunden ist“. 38 onellen Vorkämpfer des Umbruchs 1989 in ihrer Die Öffentlichkeit aber sah sich schon Tage Mehrheit nicht auf die Abschaffung, sondern auf zuvor durch die Aktion des Zentrums für poli- die Erneuerung der DDR hinarbeiteten. Ihr Ziel tische Schönheit polarisiert, das unbemerkt ei- war nicht die nationale Wiedervereinigung, sondern nige Mauerkreuze am Spreeufer entwendet hat- die gesellschaftliche Demokratisierung, und ihr ge- te, um sie unter dem provokativen Titel „Erster meinsamer Glaube bestand in der Auffassung, dass Europäischer Mauerfall“ an einer Außengrenze der Sozialismus in der DDR „nicht verloren gehen der EU aufzustellen. „Darf man das?“, fragte der [darf], weil die bedrohte Menschheit (…) Alterna- „Tagesspiegel“ noch ein halbes Jahr später, wäh- tiven zur westlichen Konsumgesellschaft braucht, rend Bundestagspräsident Norbert Lammert die deren Wohlstand die übrige Welt bezahlen muß“. 41 Tat als „blanken Zynismus“ verurteilte. 39 Sie aber bildeten nur eine kleine Minderheit, wie In den folgenden Jahren bestätigte sich, dass sich in den folgenden Wochen herausstellen soll- das Erzählmuster, das die Euphorie des Aufbruchs te. Nachdem sich laut einer am 15. November 1989 von 1989 beschwört, den Glanz verloren hat. vom Leipziger Institut für Jugendforschung veröf- Selbst Joachim Gauck, der als Bundespräsident das fentlichten Umfrage noch 86 Prozent der befragten Pathos der Freiheit so entschieden verkörperte wie DDR-Bürger für „den Weg eines besseren, refor- kein zweiter Repräsentant der Berliner Republik, mierten Sozialismus“ der DDR und nur fünf Pro- brachte am Ende seiner Amtszeit zum Ausdruck, zent für einen „kapitalistischen Weg“ ausgespro- dass sich auch sein Bild von „1989“ verändert habe: chen hatten, befürworteten Anfang Februar 1990 „Es ist auch vieles einfach anders gelaufen, als wir schon 79 Prozent die Wiedervereinigung. 42 Mit uns das vor einem guten Vierteljahrhundert vor- der „Wende in der Wende“ 43 verwandelte sich die gestellt hatten – damals, wir erinnern uns, als die Hoffnung auf einen wirklichen deutschen Sozia- Berliner Mauer fiel und wir den Traum von ei- lismus in den Ort einer vergangenen Zukunft, die nem Europa der freien und liberalen Demokrati- die Spruchbänder der Leipziger Montagsdemons- en hegten. Ich erinnere mich noch gut an die allge- tration vom 27. November so rasch wie möglich meine Euphorie, natürlich auch an meine eigene. hinter sich zu lassen verlangten: „Der Sozialismus, Der Siegeszug des westlichen Gesellschaftsmodells von Ochs und Esel gemacht, hat uns an den Rand galt als vorgezeichnet. Ein ‚neues Zeitalter der De- des Abgrunds gebracht! Keine Experimente mehr mokratie, des Friedens und der Einheit‘, wie es die – Wiedervereinigung jetzt!“ 44 Charta von Paris zeichnete, erschien auch mir fast Der Wille zur Wiedervereinigung hat mit der naturnotwendig.“ 40 teleologischen Ordnungskraft des „Mythos Ein- heit“ die Idee eines „dritten Wegs“ überraschend DRITTER WEG gründlich aus dem Gedächtnis ihrer einstigen Ver- UND DESILLUSIONIERUNG fechter getilgt. 45 Nur wenige der Akteure von da- mals hielten an dem Konzept eines „verbesser- Dass dieser Glaube Illusion war, sollte sich erst in lichen Sozialismus“ fest; viele andere hingegen den vergangenen Jahren deutlicher manifestieren. verbannten die peinlich gewordene Erinnerung an Im Rückblick aber zeigt sich, dass die Geltungs- macht der Revolutionserzählung auf der Verdrän- 41 Aufruf zur Einmischung in eigener Sache. Flugschrift der gung zweier Erfahrungswelten beruhte. Die eine Bürgerbewegung Demokratie jetzt, 12. 9. 1989, in: Die ersten Texte des Neuen Forums, Berlin 1990, S. 3. 42 Umfrage des Zentralinstituts für Jugendforschung Leipzig, 38 Mauerfall-Gedenken Bundestag: Biermann beschimpft veröffentlicht am 15. 11. 1989, in: Peter Förster/Günter Roski, Linke als Drachenbrut, 7. 11. 2014, www.zeit.de/politik/deutsch- DDR zwischen Wende und Wahl, Berlin 1990, S. 53. land/2014-11/biermann-mauerfall-gysi-bundestag. 43 Hartmut Zwahr, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und 39 Zit. nach Tiemo Rink, Ein Zeichen für die Flüchtlinge. Wie die Revolution in der DDR, Göttingen 1993, S. 139. die Mauerkreuze verschwanden, 16. 6. 2015, www.tagesspie- 44 Wolfgang Schneider, Leipziger Demontagebuch, Leipzig- gel.de/11663960.html. Weimar 1990, S. 128 f. 40 Joachim Gauck, Rede zum Ende der Amtszeit zu der Frage 45 Vgl. Martin Sabrow, Mythos Einheit? Die deutsche Wieder- „Wie soll es aussehen, unser Land?“ aus der Antrittsrede vom vereinigung als zeitgeschichtliche Herausforderung; in: ders./ 23. März 2012,18. 1. 2017, www.bundespraesident.de/Shared- Alexander Koch (Hrsg.), Experiment Einheit. Zeithistorische Docs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2017/01/170118-Amts- Essays, Göttingen 2015, S. 9–25, hier S. 14 f.; ders., Der verges- zeitende-Rede.html. sene „Dritte Weg“, in: APuZ 11/2010, S. 6–13.

31 APuZ 35–37/2019 ihre unreife „Utopisterei“ 46 in die Schattenwinkel und vergangenheitspolitischer Unzulänglichkeit. ihrer Biografie oder machten wie der Bürgerrecht- Vor allem aber schüttete sie die gesellschaftlichen ler Jens Reich ihren Frieden mit einer Bewegung, Gräben nicht zu, sondern riss sie eher noch wei- die sich von ihren Initiatoren ­emanzipierte. 47 ter auf und sorgte für ein Klima der Verunsiche- Für eine gesellschaftlich weitreichende Enttäu- rung durch die langen Schatten des Ministeriums schung sorgte allerdings eine andere mit 1989/90 für Staatssicherheit und die heimlich getragenen verknüpfte Erfahrung, die sich als Erzählung über Lasten der eigenen Lebensgeschichte. Die deut- Jahrzehnte vor allem auf das eigene Milieu- und Fa- sche Einheit „war nicht die Auseinandersetzung miliengedächtnis zurückgedrängt sah, obwohl sie um eine gemeinsame Grundlage, war nicht das Er- das gesellschaftliche Klima in Ostdeutschland schon gebnis einer gesamtdeutschen Revolution“, 49 son- in den 1990er Jahren weithin bestimmte. Mit dem dern ein ostdeutscher Beitritt zu einem westdeut- Anwachsen des Rechtspopulismus findet in jüngs- schen Gemeinwesen, dessen „Kotransformation“ ter Zeit die Skepsis stärkeres Gehör, dass die auf die sich erst später und dann unter den ganz anders friedliche Revolution zulaufende Freiheitserzäh- gelagerten Herausforderungen der Globalisierung lung aus ostdeutscher Perspektive von doktrinärer entwickeln würde. 50 Der Soziologe Heinz Bude Einseitigkeit ist. Die tief greifenden Umbrüche in konnte in einer Studie zu Wittenberge belegen, der Erfahrungswelt der Ostdeutschen, die sich mit dass für viele Ostdeutsche „die erste Zeit der Ei- dem Sturz in die Einheit innerhalb kürzester Zeit nigung wirklich eine Zeit der ganz großen Erwar- ihrer gewohnten Ordnung beraubt und zur Neu- tungen gewesen ist“, die dann ab 1993/94 in „die orientierung in praktisch allen Lebensbereichen ge- Zeit des ewigen Wartens überging“. 51 So erstick- zwungen sahen, lassen sich im Feierkalender der te das „bunte Leben im ersten Jahr der deutschen Diktaturüberwindung nicht abbilden. Dies betrifft Einheit“ 52 – und hinterließ eine ungestillte Sehn- besonders nachdrücklich den Wandel der Arbeits- sucht, die sich dann in der nostalgischen Wieder- welt: Drei Jahre nach der Wiedervereinigung hatte belebung einer mit der DDR vergangenen Lebens- nicht einmal jeder dritte Ostdeutsche noch seinen welt niederschlug. 53 alten Arbeitsplatz. Der mit der Währungsumstel- lung einhergehende Zusammenbruch der ostdeut- RELATIVIERTER schen Wirtschaft ließ die Hoffnung auf „blühende FLUCHTPUNKT Landschaften“ vielerorts in die Erfahrung lebens- weltlicher Brachen umschlagen, und die zur Priva- Die gebrochenen Hoffnungen auf einen selbst- tisierung geschaffene Treuhandanstalt wurde zum bestimmten Neuanfang haben dazu beigetra- Symbol einer gezielten Vernichtung ostdeutscher gen, dass „1989“ immer eine mehrdeutige Er- Wirtschaftssubstanz, sodass noch heute die For- zählung blieb. Aber diese Erklärung reicht nicht derung nach einem Untersuchungsausschuss des

Deutschen Bundestags besteht, um „das Treuhand- 49 Ist der Osten anders? Gregor Gysi und Heinz Bude über 48 Trauma des Ostens“ ­aufzuarbeiten. die Entwicklungen und Brüche in Ost- und Westdeutschland, Die rasch und wuchtig einsetzende politi- in: Jens Bisky/Enrico Lübbe/Torsten Buß (Hrsg.), Ist der Osten sche wie juristische und historische Aufarbeitung anders? Expertengespräche am Schauspiel Leipzig, Berlin 2019, von Unrecht und Versagen, die vielen Opfern der S. 15–27, hier S. 16. 50 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. SED-Diktatur zu später Gerechtigkeit und Ge- Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Frank­furt/M. 2014, nugtuung verhalf, hinterließ gleichwohl auf al- S. 97. Vgl. auch Frank Bösch, Geteilte Geschichte. Plädoyer für len Seiten ein bitteres Empfinden von geschichts- eine deutsch-deutsche Perspektive auf die deutsche Zeitge- schichte, in: Zeithistorische Forschungen 1/2015, S. 98–114; ders. (Hrsg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 46 Bernd Gehrke, 1989 und keine Alternative?, in: ders./ 1970–2000, Göttingen 2015. Wolfgang Rüddenklau (Hrsg.), … das war doch nicht unsere 51 Bude (Anm. 49), S. 18; vgl. ders./Thomas Medicus/Andreas Alternative. DDR-Oppositionelle zehn Jahre nach der Wende, Willisch (Hrsg.), ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenber- Münster 1999, S. 417–440, hier S. 430. ge: Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft, Hamburg 2011. 47 Was hat die Revolution 1989 gebracht? Wir haben die 52 Barbara Bollwahn, Von Einsichten in die Notwendigkeit, in: Bürgerrechtler Ulrike Popp, Jens Reich und die Pfarrerin Ruth Alltag Einheit. Porträt einer Übergangsgesellschaft, Berlin 2015, Misselwitz gefragt, in: Die Tageszeitung, 9. 11. 2015. S. 72–75, hier S. 73. 48 Untersuchungsausschuss: Linke will Waigel, Köhler und 53 Elke Sieber, Erinnerung an die DDR. Zwischen (N)Ostalgie Sarrazin über Treuhand befragen, in: Frankfurter Allgemeine und Totalverdammung, in: Jahrbuch für Historische Kommunis- Zeitung, 4. 5. 2019. musforschung 2014, S. 17–28.

32 Das letzte Jahr der DDR APuZ hin, um zu verstehen, warum die Vorbereitun- Als Fluchtpunkt einer auf den Sieg der De- gen zum 30-jährigen Jubiläum 2019 im Vergleich mokratie zulaufenden Zeitgeschichtserzählung zur Gedenkeuphorie 2014 deutlich weniger Be- hat der Umbruch von 1989 an Geltungskraft ein- geisterung wecken, sondern sich analog zu der gebüßt, und er wird immer stärker von der Er- sich hinschleppenden Errichtung eines deutschen kenntnis bedrängt, dass Erinnern immer auch Freiheits- und Einheitsdenkmals auf der Berli- Vergessen bedeutet und die befreiende Aufarbei- ner Schlossinsel nach dem Eindruck mancher Be- tung nicht von der weiter lastenden Hypothek trachter eher von einer „Unfähigkeit, dankbar zu der Vergangenheit zu trennen ist. In dieser neu- sein“ zeugen 54 – und der Bundesregierung sogar en Erzählung des Umbruchs von 1989 werden den Vorwurf der lustlosen Pflichtübung eintru- Licht und Schatten zugleich sichtbar, und sie öff- gen. 55 Entscheidend ist vielmehr, dass der fach- net Raum für die Frage, ob der Grenzzäune nie- liche wie öffentliche Rückblick auf „1989“ sich derreißende Sprechchor von 1989 „Wir sind das zunehmend von einer isolierten Jubliäumspers- Volk“ 30 Jahre später deswegen zu der Grenzzäu- pektive zu lösen begonnen hat und um eine Di- ne errichtenden Parole des deutschen Rechtspo- mension erweitert, die die Vor- und Nachge- pulismus werden konnte, weil beide Bewegungen schichte des Umbruchs von 1989 hervorhebt und in ihrem emphatischen Volksbegriff und in ihrer den kritischen Anschluss an die sozialwissen- Obrigkeitsverachtung mehr verbindet, als viele schaftliche Transformationsforschung sucht. 56 Zeitgenossen in ihrer Freude über den Sieg der li- Zunehmend werden die dramatischen Ereignis- beralen Demokratie und ihres Wertehimmels lan- se des revolutionären Herbstes in eine „lange Ge- ge Zeit wahrhaben mochten. schichte der ‚Wende‘“ eingebettet 57 und gewinnt im öffentlichen Bewusstsein die soziale Revoluti- on von oben Konturen, die der politischen Um- wälzung von unten folgte und die euphorische Hochstimmung der ostdeutschen Selbstbefreier in eine „tiefe Sinnkrise“ umschlagen ließ. 58 Aus dem wachsenden zeitlichen Abstand heraus prä- sentiert sich die Überwindung der SED-Herr- schaft von 1989/90 nicht nur als glücklicher Ab- schluss eines „kurzen“ 20. Jahrhunderts, sondern zugleich als problembehafteter Anfang eines „langen“ 21. Jahrhunderts.

54 Christoph von Marschall, Gedenkjahr 2019. Die Unfähig- keit, dankbar zu sein, in: Der Tagesspiegel, 8. 5. 2019. 55 Tom Sello, Berliner Beauftragter zur Aufarbeitung der SED- Diktatur, kritisiert, die Bundesregierung würde das Mauerfall- Jubiläum „nicht so richtig ernst nehmen.“ Stefan Strauß, 30 Jahre Mauerfall. Der vergessene Oktober-Aufstand, in: Berliner Kurier, 5. 6. 2019. 56 Zum Verhältnis von Zeitgeschichte und Transformations- forschung: Christopher Banditt, Quantitative Erforschung der ostdeutschen Transformationsgeschichte, 18. 3. 2019, https:// zeitgeschichte-online.de/thema/quantitative-erforschung-der- ostdeutschen-transformationsgeschichte. 57 Anja Schröter/Clemens Villinger, Anpassen, aneignen, abgrenzen: Interdisziplinäre Arbeiten zur langen Geschichte der Wende, 18. 3. 2019, https://zeitgeschichte-online.de/themen/ anpassen-aneignen-abgrenzen-interdisziplinaere-arbeiten-zur- MARTIN SABROW langen-geschichte-der-wende. ist Professor für Neueste Geschichte und Zeitge- 58 So schon Konrad H. Jarausch, Die unverhoffte Einheit schichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und 1989–1990, Frank­furt/M. 1995, S. 303 ff.; vgl. auch Christoph Lorke, Die Einheit als „soziale Revolution“. Debatten über soziale Direktor des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Ungleichheit in den 1990er Jahren, 18. 3. 2019, https://zeitge- Forschung Potsdam (ZZF). schichte-online.de/thema/die-einheit-als-soziale-revolution. [email protected]

33 APuZ 35–37/2019

DIE TREUHAND UND DIE PRIVATISIERUNG DER DDR-PRESSE Mandy Tröger

Am 12. Februar 1990 forderte Wolfgang Ullmann, ter Haftung (GmbH) umgewandelt werden. Mo- Mitglied des Zentralen Runden Tisches, die Ernen- drow zufolge war das Ziel, die vorhandenen nung einer treuhänderischen Anstalt zur Wahrung DDR-Wirtschaftsgüter in ihrer Substanz zu be- der Rechte der Bevölkerung bei der Umwandlung wahren, vor kapriziösen Übernahmen zu schüt- des DDR-Volkseigentums in Privateigentum. Das zen und Betrieben zu ermöglichen, sich bei Ab- DDR-Volkseigentum sollte „zugunsten der Bürge- schluss von Partnerschaftsvereinbarungen auf die rinnen und Bürger der DDR“ privatisiert werden, neuen Bedingungen der privaten Marktwirtschaft damit diese ihren Teil in „den vielfältigen Formen einzustellen. 04 der Kapitalbeteiligung im Sinne der Marktwirt- Nach den Volkskammerwahlen am 18. März schaft“ erhielten. 01 Ein Teil dieses Volkseigentums 1990 wurde Lothar de Maizière für das konser- war das Zeitungsverlagswesen, das im November vative Bündnis Allianz für Deutschland offizi- 1989 in der DDR stark konzentriert war. ell erster Mann im Staat, und er führte den Kurs In diesem Beitrag beleuchte ich die Rolle der weiter. Der Plan: für den Privatisierungsprozess Treuhandanstalt (kurz Treuhand) bei der Priva- Wettbewerbsrichtlinien mittels eines Gesetzes tisierung des DDR-Pressewesens vom Fall der ausarbeiten und umsetzen. Das Gesetz zur Pri- Berliner Mauer am 9. November 1989 bis zur Pri- vatisierung und Reorganisation des volkseigenen vatisierung der großen ehemaligen SED-Bezirks- Vermögens (Treuhandgesetz) wurde am 17. Juni zeitungen im April 1991 und danach. In dieser beschlossen. Nach diesem fiel das gesamte DDR- Zeit wurden nicht, wie einst als DDR-Reform- Volkseigentum ab dem 1. Juli unter das Treu- ziel gedacht, ehemalige SED-Zeitungsmonopo- handgesetz. Bis zum 1. August sollten alle Betrie- le aufgespalten, sondern von finanzstarken west- be in GmbHs umgewandelt werden, die dann im deutschen Verlagen größtenteils weitergeführt. Eigentum der Treuhand standen. Darunter fielen Bereits 1992 schlussfolgerte der Medienwissen- zunächst 8500 Betriebe mit rund vier Millionen schaftler Walter Mahle, die Gliederung des Pres- Beschäftigten. 05 Nach Einschätzung des damali- semarkts in den neuen Bundesländern sei „den gen Treuhand-Direktors und ehemaligen Leiters Grenzziehungen der SED nachgebildet (…) na- des Stahlkonzerns Hoesch, Detlev Rohwedder, türlich nicht aus politischen Gründen, sondern war „der ganze Ramsch 600 Milliarden D-Mark aus wirtschaftlichen Gründen“. 02 Monopole be- wert“. 06 stünden weiter. Die „Leidtragenden waren“, so Schon im August 1990 wies Günter Nooke, Gottfried Müller, Minister für Medienpolitik der Mitglied im Verwaltungsrat der Treuhand und DDR im Kabinett von Lothar de Maizière, „klei- Vertreter der DDR-Opposition, auf Probleme nere Blätter und vor allem auch die Lokalpres- hin, die sich der Treuhand stellten: Die benötig- se“, 03 sie gingen bankrott. ten Daten, um die Sanierungs- und Marktfähig- keit der Betriebe zu bewerten, lagen nicht vor. 07 GRÖẞTER VERWALTUNGSAPPARAT Der Treuhand fehlte ferner die Rechtsgrundla- DEUTSCHLANDS ge, die eine Bewertung der Vermögenswerte und Schulden ermöglichte. Obwohl die Treuhand die Am 1. März 1990 folgte unter der Regierung Hans offizielle „Eigentümerin“ des ehemaligen DDR- Modrow der Beschluss zur Gründung einer An- Volkseigentums war, bestand ihr Hauptzweck stalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volks- darin, Eigentumsfragen durch Verkauf zu regeln. eigentums. Darüber hinaus sollten Volkseigene Das hieß, so Nooke, „solange die Eigentumsver- Betriebe (VEB) in Gesellschaften mit beschränk- hältnisse nicht geklärt sind, sitzt der potentiel-

34 Das letzte Jahr der DDR APuZ le Investor am längeren Hebel und wartet, bis er 90 Prozent der Druckkapazitäten und der Pa- den Betrieb billig bekommen kann“. 08 Obwohl pierzuteilung entfielen auf Zentrag. 13 von 15 die Treuhand also verschiedene Angebote einho- Druckereien in der DDR wurden von ihr kon- len konnte, war ihr Wirkungsfeld rechtlich und trolliert. Von der gesamten Produktion von Ta- wirtschaftlich begrenzt. geszeitungen in der DDR – 1987 lag die Auflage Schließlich wurde die Treuhand in Artikel 25 bei 9,7 Millionen Exemplaren – hielt die SED rund des Einigungsvertrags verankert. Zur deutschen 70 Prozent (6,5 Millionen). Zu den SED-Zeitun- Einheit am 3. Oktober 1990 war sie jedoch kaum gen gehörten 14 Bezirkszeitungen mit einer Auf- funktionsfähig – es mangelte an Personal und Ein- lage von jeweils 200 000 bis 700 000 (mit den da- richtungen. Innerhalb eines Jahres beschäftigte sie zugehörigen Lokalausgaben für über 200 Kreise), dann 3000 neue Mitarbeiter, 1993 waren es 4600. 09 das landesweit vertriebene „Neue Deutschland“ Die Treuhand wurde zum größten Verwaltungsap- (1,2 Millionen) und die verschiedenen Titel des parat Deutschlands und für manche zum Symbol Berliner Verlags. Die SED besaß somit 16 von 39 dafür, wie „Regierungen privatisieren“. 10 Mod- Tageszeitungen in der DDR. 12 row kritisierte bereits 1991, dass ihr ursprüngli- Reformziel im Herbst 1989 war, diese Kon- cher Auftrag fehlgeschlagen war. „Privatisierung zentration und Monopolisierung im Pressewesen statt Sanierung und Erhalt“ war jetzt die Agen- zu beenden. Am 21. Dezember 1989 ratifizierte da. 11 Diese Neudefinition der Aufgaben führte, so der DDR-Ministerrat den „Beschluß zur Neu- Modrow, zu einem Zusammenbruch der gesamten gründung von Zeitungen und Zeitschriften“. Er industriellen und landwirtschaftlichen Produktion unterstützte damit den im Dezember gegründe- und zu einem Verkauf von Wirtschaftsgütern zu ten Zentralen Runden Tisch und sicherte allen Dumpingpreisen. Zu diesen Wirtschaftsgütern ge- an ihm vertretenen Gruppen Zugang zu Medi- hörte auch die ehemalige SED-Presse. en, die Zuteilung von Papier, Druckkapazitäten und Lizenzen sowie von Kommunikations- und ZERSCHLAGUNG POLITISCHER Vertriebsressourcen zu. Der Beschluss garantier- MONOPOLE te Informationsfreiheit, indem er diese weit defi- nierte und die nötigen Infrastrukturen (zum Bei- Die Produktion der Tages- und Wochenpresse spiel Technologieimporte) einbezog. Ziel war es, war in einigen Konglomeraten organisiert, die als den neuen politischen Parteien und Oppositions- Vereinigung Organisierter Betriebe (VOB) be- gruppen Zugang zu Medien und Informationen zeichnet wurden. Der wichtigste, VOB Zentrag, in „ihrer gesellschaftlichen Arbeit“ zu sichern. 13 gehörte der SED. Kurz darauf, am 5. Februar 1990, verabschie- dete die Volkskammer der DDR den Beschluss zur Meinungs-, Informations- und Medienfrei- 01 Ergebnisse der 16. Sitzung des Rundentischgespräches am 12. März 1990, Privatisierung von Volkseigentum, 12. 3. 1990, heit. Damit wurde Neuerscheinungen ein recht- S. 4, Archiv Grunes Gedachtnis/​B. V.3 – Grune Partei DDR, Box 7. licher Rahmen bei den großen finanzstarken 02 Walter Mahle (Hrsg.), Pressemarkt Ost, Nationale und inter- Verlagen geboten, und alte Monopolstrukturen nationale Perspektiven, München 1992, S. 13. wurden angegangen. Jegliche Art der Zensur war 03 Gottfried Müller, Kommentare zum Ministertagebuch verboten. Die Presse sollte frei sein von politi- (18. Mai 1990), E-Mail an die Autorin vom 30. 1. 2017. 04 Vgl. Hans Modrow, Die Treuhand – Idee und Wirklichkeit, schen und wirtschaftlichen Monopolen und da- Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR, IPW mit frei sein, um eine Plattform öffentlicher De- 7–8/1991, S. 39; Marcus Böick, Die Treuhand, Göttingen 2018. batten und freier Meinungsbildungsprozesse 05 Vgl. Dieter Grosser, Treuhandanstalt, o. D., www.bpb.de/​ mündiger Bürger zu werden. Jede natürliche und 202195. juristische Person in der DDR hatte das Recht 06 Zit. nach Treuhand – Ein Ding der Unmöglichkeit, 11. 8. 2006, www.handelsblatt.com/2691746.html?ticket=ST- zur Veröffentlichung von Printmedien. Die Li- 200672-A0vxtCf​0GuiyBB7Dhlqa-ap1. zenzierung wurde abgeschafft, nur eine Regis- 07 „Daten reichen nicht aus“, Interview mit Günter Nooke, trierung war nötig. 14. 8. 1990, https://taz.de/!1756163. 08 Ebd. 09 Vgl. Grosser (Anm. 5). 12 Siehe Axel Springer Verlag AG, DDR am Wendepunkt, 10 Mark Cassell, How Governments Privatize: The Politics of Di- November 1989, S. 70–74, Verlagsarchiv Axel Springer SE. vestment in the United States and , Washington, DC 2002. 13 Ministerrat, „Beschluß zur Unterstützung des Runden Tisches,“ 11 Modrow (Anm. 4), S. 39. 21. 12. 1989, S. 9, Archiv Grunes Gedächtnis, Box 31–38, Akte 38.

35 APuZ 35–37/2019

Es folgte eine Flut an Neuerscheinungen auf kauf von Werbung bis hin zum Druck der Zei- dem Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt, womit tungen durch die Partner in der Bundesrepublik. sich in Ostdeutschland die Hoffnung auf Presse- „Überwiegend wurden allerdings auch Kapital- vielfalt verband. Laut einer Umfrage des DDR- beteiligungen vollzogen oder in Vorverträgen Nachrichtendienstes ADN gab es bereits Anfang geregelt.“ 19 Diese Allianzen waren „im Fluss“ – Februar 1990 16 Neuerscheinungen in der DDR, Kooperationen also ständig in Verhandlung. 20 von denen vier westdeutsche Investoren hatten. Offiziell lag die Zustimmung über deutsch-deut- Andere Titel wurden von basisdemokratischen sche Presse-Joint-Ventures beim MKR. Dieser Bürgergruppen oder politischen Parteien heraus- erlaubte Minderheitsbeteiligungen westdeutscher gegeben. Wieder andere waren lokale Initiativen Verlage. Inoffiziell aber wurden Verträge und ostdeutscher Journalisten und Bürger, teilweise in Kooperationen an allen staatlichen Einrichtun- Zusammenarbeit mit Verlagen der Bundesrepu- gen vorbei ausgehandelt. blik. 14 Bis Juli wurden so rund 120 neue Zeitun- Diese Prozesse liefen so schnell, dass nur die gen in der DDR gegründet. Zu diesem Zeitpunkt Beteiligten wussten, wer mit wem verhandelte. befassten sich gleich drei verschiedene DDR-In- Im Mai 1990 versuchte sich die DDR-Regierung stitutionen allein mit der Reform der DDR-Me- darüber einen Überblick zu verschaffen. Danach dien: der basisdemokratische Medienkontrollrat hielt der Axel Springer Verlag (inklusive Tochter- (MKR), basierend auf dem Beschluss vom 5. Fe- gesellschaften) mit insgesamt elf Zeitungen Ko- bruar, das nach den März-Wahlen gegründete Mi- operations-, Joint-Venture- oder Kaufgespräche. nisterium für Medienpolitik sowie der Ausschuss Die Bauer Verlagsgruppe hatte fünf Joint-Venture- für Presse und Medien der Volkskammer. Abkommen geschlossen, und fünf weitere waren in Vorbereitung. Gruner + Jahr plante ein Joint MARKTAUFTEILUNG Venture mit der „Sächsischen Zeitung“ (Aufla- ge 544 700) und wollte zwei Zeitschriften kaufen. Parallel zu diesen politischen Initiativen wurde der Die WAZ-Gruppe plante Joint Ventures mit vier DDR-Pressemarkt früh wirtschaftlich durch west- Zeitungen, darunter die „Leipziger Volkszeitung“ deutsche Verlage erschlossen. Schon im Februar (Auflage rund 500 000). 21 1990 problematisierte die „Tageszeitung“ das „Ein- Vor allem die 14 großen ehemaligen SED-Be- steigen bundesdeutscher Großverlage über Joint- zirkszeitungen, wozu die „Sächsische Zeitung“ ventures in [die ostdeutsche] Presselandschaft“. 15 und die „Leipziger Volkszeitung“ gehörten, stan- Zwei Monate später, im April 1990, gab es keine den bei den großen finanzstarken Verlagen hoch im DDR-Zeitungen mehr, „bei denen nicht bereits Kurs. Mit hohen Auflagenzahlen und den nach wie Kaufverhandlungen laufen“. 16 Die Deutsche Pres- vor bestehenden strukturellen Privilegien (etwa bei se-Agentur (dpa) schlussfolgerte, alle westdeut- der Papierversorgung und beim Druck) hielten sie schen Verlage versuchten, „sich mit Beteiligungen in ihren jeweiligen Bezirken eine quasi-Monopol- an DDR-Verlagen eine günstige Ausgangsposition stellung und waren damit die „Filetstücke“ unter für den Wettbewerb zu verschaffen“. 17 den DDR-Zeitungen. 22 Hier gaben sich, schrieb Diese deutsch-deutschen Kooperationsver- der Journalist und Verleger Peter Turi im Mai 1990, handlungen liefen in einer rechtlichen Grauzone „die Großverlage die Klinke in die Hand“. 23 und waren laut dem Medienwissenschaftler Horst Insbesondere die „Großen Vier“ – Springer, Röper „sehr vielgestaltig“. 18 Sie reichten von der Burda, Gruner + Jahr und Bauer – waren aktiv da- Gewinnung von Anzeigenkunden und dem Ver- mit beschäftigt, ihre Ansprüche in der DDR an- zumelden. Laut Andreas Ruppert, Vertreter von Gruner + Jahr, hatten die Großverlage bereits im 14 Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst, Neue Periodika und Verlage in der DDR, 5. 2. 1990, Bundesarchiv (BArchiv), DC9/1052. Mai 1990 die DDR-Zeitungen und -Zeitschriften 15 „Der Postminister übte Zensur aus“, Interview mit Konrad Weiss, 10. 2. 1990, https://taz.de/!1780897. 19 Ebd. 16 Zit. nach Aschenputtel auf dem Ball, 24. 4. 1990, https:// 20 Ebd. taz.de/!1770939. 21 Tabelle, Kooperationsbeziehungen im Pressebereich, 17 Deutsche Presse-Agentur, Hintergrund. Pressemarkt der 15. 5. 1990, S. 1–4, BArch, DC9/1050. DDR, 10. 8. 1990, S. 1–17, hier S. 10, BArch, DC9/1050. 22 Röper (Anm. 18), S. 35. 18 Horst Röper, Treffer sind Glücksache, in: Journalist 6/1990, 23 Peter Turi, Schlechte Karten, in: Journalist 5/1990, S. 40 f., S. 32–35, hier S. 34. hier S. 41.

36 Das letzte Jahr der DDR APuZ untereinander aufgeteilt. Es kursierten Listen, auf hatten. Der Verlag leistete technologische Unter- denen kauffreudige westdeutsche Verlage neben stützung (etwa Lieferung von Redaktionstechnik „ihren“ hilfsbedürftigen DDR-Partnern positio- und Kopiergeräten) und zielte auf die Modernisie- niert waren. Letztere waren, so Ruppert, auf fi- rung der veralteten Druckereien seiner Partner. nanzielle Hilfe angewiesen – sie alle steckten in Der Hauptkonkurrent von Bauer war der Axel den roten Zahlen und brauchten Investitionen. 24 Springer Verlag. Mit seinen Tochtergesellschaften Tatsächlich kämpften DDR-Zeitungen mit und Beteiligungen unter anderem an der „Märki- schlechter Papier- und Druckqualität, Papier- schen Volksstimme“, der „Norddeutschen Zei- knappheit und der Streichung von Subventionen. tung“ und der „Ostsee-Zeitung“ hielt er Anteile an Vor allem aber massive Importe westdeutscher 30 Prozent der DDR-Gesamtauflage. 29 Laut dem Presseprodukte und die Dumpingpreise westdeut- Vorstandsvorsitzenden Peter Tamm war das Ziel, scher Zeitungen ab März 1990 setzten sie früh unter „die Stellung als führendes Pressehaus und bedeu- hohen wirtschaftlichen Druck. 25 Begünstigt wur- tendes Medienunternehmen in ganz Deutschland de diese Entwicklung durch den Bau eines exklu- durch das starke Engagement in der DDR zu si- siven DDR-Vertriebssystems der „Großen Vier“ chern“. 30 Das hieß, Joint-Venture-Vereinbarungen für westdeutsche Produkte, wovon 70 Prozent aus wurden auch in rechtlichen Grauzonen eingegan- eigener Produktion stammten. 26 Trotz staatlicher gen. Minister Müller betonte zwar, diese Koope- Teilung war der deutsche Pressemarkt im Mai 1990 rationen seien rechtlich nicht bindend, das letzte faktisch vereint, mit der Folge, dass DDR-Verla- Wort hätte die Treuhand, aber Bauer und andere ge, die durch planwirtschaftliche Strukturen wei- Großverlage erwarteten die baldige „Umwand- terhin eingeschränkt waren, frühzeitig in direkter lung von Absichtserklärungen in endgültige Ver- Konkurrenz zu westdeutschen Verlagen standen, träge“. 31 Sie sollten Recht behalten. die wiederum in einem rechtlichen Vakuum nach privatwirtschaftlicher Logik agierten. Der MKR TREUHAND forderte vergeblich eine „Schonfrist“. 27 Auch der ÜBERNIMMT Zentrale Runde Tisch und die DDR-Regierung sahen diese Entwicklung kritisch. Medienminis- Bevor die Treuhand ab Oktober 1990 die treuhän- ter Gottfried Müller schrieb in sein Ministertage- derische Verwaltung der SED-Presse übernahm, buch, „das alte SED-Monopol bei Bezirkszeitun- konsultierte sie im Juli das Amt für Wettbewerbs- gen“ ginge zusammen „mit neuem Monopol aus schutz der DDR und das Ministerium für Medi- dem Westen.“ 28 enpolitik, um „offizielle und rechtlich gesicher- Beispiel Bauer: Der Verlag hatte sich bis Au- te Aussagen“ zu westlichen Kapitalbeteiligungen gust 1990 ein großes Stück des DDR-Kuchens ge- und Kooperationsvereinbarungen mit DDR-Ver- sichert. Bis Juni 1990 hielt Bauer 49 Prozent der lagen zu erhalten. 32 Nach der vorsichtigen Schät- Eigentumsanteile an den „Brandenburgischen zung beider lag (mit einer Ausnahme) von west- Neuesten Nachrichten“, der „Märkischen Oder- deutscher Seite „kein Antrag auf ausländische zeitung“, den „Norddeutschen Neusten Nach- Beteiligung an den [nun in GmbHs] gewandelten richten“, dem „Nordkurier“, der „Schweriner Unternehmen vor“. 33 Zwei DDR-Verlage hatten Volkszeitung“ und der „Volksstimme“, die eine ausländische Beteiligung beantragt. „Offiziell lie- Gesamtauflage von rund 1,2 Millionen Exemplaren gen keine weiteren Anmeldungen vor“, so das Amt. 34 Allerdings gebe es Hinweise darauf, dass

24 Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst, Medienexper- te: DDR-Medienmarkt ist aufgeteilt – Interesse an regionalen 29 Genauer 2 177 000 von 7 213 000 Exemplaren. Siehe Röper Zeitungen, 29. 5. 1990, ID-Archiv im Internationalen Institut für (Anm. 18). Sozialgeschichte, MKR, Akte 35d. 30 Zit. nach Axel Springer Verlag mir Rekordinvestitionen, in: 25 Westdeutsche Presseprodukte wurden nicht zum 1 : 3-Um- Die Welt, 14. 6. 1990. tauschkurs verkauft sondern im 1 : 1-Verhältnis. 31 Deutsche Presse-Agentur, Neuorganisation der DDR-Verla- 26 Vgl. Mandy Tröger, Pressefrühling und Profit: Wie westdeut- ge bringt viele Arbeitsplätze, 20. 6. 1990, IISG/ID-Archiv, MKR, sche Verlage 1989/1990 den Osten eroberten, Köln 2019 (i. E.). Akte 35e. 27 Gerhard Bächer, Notizen, März 1990, Archiv Grunes 32 Report, Zum Presse-Grosso, Amt für Wettbewerbsschutz der Gedächtnis, Box 27–30, Akte 30. DDR, Juli 1990, BArch, DE10/16. 28 Gottfried Müller, Ministertagebuch (April–Mai 1990), 33 Ebd. 18. Mai 1990, E-Mail an die Autorin vom 30. 1. 2017. 34 Ebd.

37 APuZ 35–37/2019

Axel Springer und andere Verlage weitere Koope- NIEMAND IST rationen anstrebten. 35 Auf dieser Grundlage ging VERANTWORTLICH die Treuhand an ihre Arbeit und war für die ehe- malige SED-Presse zuständig. Im Vorfeld der Verkaufsentscheidung vom April Letztlich erhielt die Treuhand rund 80 Kauf- 1991 hatte Peter Hoss, Geschäftsführer des Verban- Anfragen für 40 Verlage – die wichtigsten waren des der Lokalpresse, dem Dachverband der lokalen die für die ehemaligen SED-Bezirkszeitungen. Zeitungsverleger, „mit größter Sorge“ beim Bun- Deren Eigentümerschaft mit 8000 Mitarbei- desministerium des Innern (BMI), dem Bundes- tern und einer Gesamtauflage von 2,7 Millionen wirtschaftsministerium sowie beim Treuhand-Ver- Exemplaren wurde offiziell am 13. April 1991 waltungsrat und Vorstand gegen die Übertragung an „ausgewählte Erwerbsinteressenten“ über- der Zeitungen „an wenige westdeutsche Großver- tragen. 36 Der Treuhand-Verwaltungsrat stimm- lage“ protestiert. 39 Seit November 1990 hatte er te dem vorläufigen Verkauf von zehn ehemaligen wiederholt gefordert, die Entscheidung „so lange SED-Bezirkszeitungen an zwölf westdeutsche zurückzustellen, bis alle noch offenen Möglichkei- Presseunternehmen zu. Der Preis: 850 Millio- ten einer Beteiligung mittlerer und kleiner Verlage nen D-Mark und ein Investitionsvolumen von vorgetragen und geprüft worden sind“. 40 1,3 Milliarden D-Mark. 37 Zwar stand noch die Hoss’ Bitten blieben erfolglos. Das BMI ant- Prüfung privater Restitutionsansprüche aus, aber wortete erst ein halbes Jahr später und berief sich das Geschäft war besiegelt. auf den „Grundsatz der Staatsferne der Medi- Laut Birgit Breuel, nach der Ermordung en“. 41 Die Verantwortung läge vollständig bei der Detlev Rohwedders neue Treuhand-Vorsitzen- Treuhand. Ähnlich argumentierte der Bundes- de, hatte Vorstandsmitglied Karl Schirner im minister für Wirtschaft, Jürgen Möllemann. Die April 1991 diese „Gesamtlösung“ entwickelt. 38 Treuhand hätte einstimmig beschlossen, „an be- Sie wurde zum Kernelement eines Umstruk- stimmte Verlage aus den alten Bundesländern“ zu turierungsprozesses, bei dem profitable Verla- verkaufen, und dabei „alle relevanten Kriterien“ ge der ehemaligen DDR systematisch auf west- beachtet. 42 Er hätte keinen Einfluss darauf neh- deutsche Interessengruppen aufgeteilt wurden, men können. die ihre Ansprüche bereits geltend gemacht hat- Ein Blick in die interne Kommunikation of- ten. Damit folgte die Treuhand ihrem politischen fenbart jedoch anderes: Es gab keine kohärente Auftrag: dem wirtschaftlichen Erhalt der DDR- Linie oder Vorgehensweise verschiedener Bun- Verlage und ihrer Arbeitsplätze. Ihr Auftrag war desbehörden bezüglich der Privatisierung ehema- nicht, über Eigentümerschaft für Pressevielfalt liger SED-Bezirkszeitungen. Konflikte zwischen zu sorgen. Wettbewerb (also im Pressebereich den Behörden, Kompetenzstreitigkeiten und ge- auch der Wettbewerb der Meinungen) sollte al- genseitiges Zuschieben von Verantwortung be- lein nach den Kriterien des Kartell- und Wettbe- stimmten den Kurs. 43 Eine Initiative des BMI, werbsrechts festgelegt werden. Das heißt, jeder der Treuhand zu empfehlen, „die bisherigen Be- finanzstarke westdeutsche Verlag durfte inner- zirkszeitungen in kleinere Einheiten zu entflech- halb einer Region nur eine auflagenstarke DDR- ten und die Möglichkeit des Erwerbs von Teilein- Zeitung kaufen. Breuel unterstrich allerdings, die westdeutschen Verlage selbst hatten im Vor- 39 Brief, Treuhandvergabe der ehemaligen DDR-Parteipresse, feld der Entscheidung durch Berichterstattung Hoss, Standortpresse GmbH, Verband der Lokalpresse pro und/oder finanziellen Druck ihre Macht zu ih- lokalzeitung e. V., an BMI, Bundesminister des Innern, 11. 4. 1991, ren Gunsten ausgespielt. S. 1, BArch, B/106/156193. 40 Ebd. 41 Brief, Neusel, Bundesminister des Innern, an Hoss, Standort- 35 Ebd. presse GmbH, Verband der Lokalpresse pro lokalzeitung e. V., 36 Brief, Wolf Klintz, THA, an Ministerialrat Homann, Bun- 6. 5. 1991, BArch, B/106/156193. desminister für Wirtschaft, SM 10 – 344 242-2/1, 17. 12. 1991, 42 Brief, Möllemann, Bundesminister für Wirtschaft, an Hoss, BArch, B/106/156193. Verband der Lokalpresse pro lokalzeitung e. V., 14. 5. 1991, 37 Brief, Lage der Lokalpresse im Beitrittsgebiet, Merk, Bundes- BArch, B/106/156193. minister des Innern, an Seiters, Bundesminister des Innern, SM 43 Brief, Privatisierung von Presseunternehmen durch die 10 – 344 242-2/1, 20. 12. 1991, BArch, B/106/156193. Treuhandanstalt, Besprechung am 4. Februar 1991 im BMI, Bun- 38 Hier und im Folgenden Birgit Breuel, Verleger kennen ihre desminister des Innern an Chef des Bundeskanzleramtes et al., Macht, in: Treuhand intern. Tagebuch, Berlin 1992, S. 232–239. SM 10 – 344 242-2/1, 4. 2. 1991, S. 2, BArch, B/106/156193.

38 Das letzte Jahr der DDR APuZ heiten auch für kleinere und mittlere Verlage zu schloss sich der Kreis des gegenseitigen Verant- öffnen“, scheiterte. 44 Der Staatssekretär im Bun- wortung-Zuschiebens. deswirtschaftsministerium, Dieter von Würzen, entschied, „der Treuhand bei der Privatisierung PRESSEMONOPOLE der Tageszeitungen keine Vorgaben zu machen“. 45 IM OSTEN Jegliche Einflussnahme würde nur eine „weitere Verzögerung der Privatisierung“ mit sich brin- Regionalmonopole ehemaliger SED-Bezirkszei- gen. 46 So beschloss die Bundesregierung, den poli- tungen standen bereits frühzeitig im Visier fi- tischen Auftrag der Treuhand nicht zu erweitern. nanzstarker westdeutscher Verlage, wurden unter Um einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten diesen aufgeteilt und letztlich von ihnen über- und kleine Verlage zu schützen, nahm der Treu- nommen. So wurden Monopolstrukturen der hand-Verwaltungsrat stattdessen eine „Wohlver- DDR nicht, wie ursprünglich gedacht, zerschla- haltensklausel“ in alle Privatisierungsverträge auf. gen, sondern mit wirtschaftlichem Kalkül wei- Käufer wurden verpflichtet, „in wirtschaftlich tergeführt. Laut dem Verband der Lokalpres- vertretbarem Umfang“ die Entfaltung „von klei- se haben westdeutsche Verlage einen „nach den nen Lokalzeitungen nicht zu behindern“. 47 Eine Gesetzen des staatlichen Zentralismus als Mono- Prüfung dieser Auflage durch die Treuhand, das pol aufgebauten Markt in unveränderter Struktur BMI oder sonstige staatliche Stellen gab es jedoch übergeben bekommen, sich danach zunehmend nicht. Laut Hoss wurde die Klausel vielerorts ig- konsolidiert und den Markt weiter zementiert.“ 51 noriert und damit zur Farce. Aggressiver Wettbe- Diese Art der „Übergabe“ lag aber nicht allein werb bestimmte den Markt, 48 und die Treuhand an der Marktlogik, sondern benötigte politische sah es nicht als ihre Aufgabe an, „das Wohlverhal- Rahmenbedingungen. Laut dem Historiker Kon- ten der ausgewählten Erwerbsinteressen“ zu prü- rad Dussel war sie der politischen Entscheidung fen. 49 Auch das BMI fühlte sich nicht verantwort- der Bundesregierung „gegen jedes Experiment“ lich, fürchtete Konflikte und finanzielle Hürden geschuldet. 52 Die Treuhand hatte hier nur einen und verwies zurück auf die Treuhand. 50 Damit begrenzten Einfluss. Die Folge waren Pressekonzentration und Zeitungssterben: Innerhalb von zwei Jahren ging 44 Ebd. die Zahl der Zeitungen in Ostdeutschland dras- 45 Brief, Privatisierung von Presseunternehmen durch die Treuhandanstalt, Plessing, Bundesministerium für Wirtschaft, tisch zurück. Von den ursprünglich 120 Zeitun- an Bundesminister des Innern et al., SM 10 – 344 242-2/1, gen, die bis Mitte 1990 neu gegründet worden 8. 2. 1991, BArch, B/106/156193. waren, waren im Mai 1992 nur noch etwa 65 Zei- 46 Ebd. tungen aus etwa 50 Verlagen übrig. Bis Novem- 47 Rede von Bundesminister Wolfgang Schäuble vor dem ber fiel die Zahl auf 50 Zeitungen aus 35 Verla- Kongress der deutschen Lokalpresse in Bonn-Bad Godesberg, Der Bundesminister des Innern, Bonn, 12. 11. 1991, S. 18, BArch, gen. Bei der Lokalpresse sah es nicht anders aus: B/106/156193. Lokalzeitungen waren von 98 auf 24 Zeitungen 48 Brief, Hoss, Standortpresse GmbH, Verband der Lokalpres- aus 23 Verlagen zurückgegangen. Bis November se pro Lokalzeitung e. V., an BMI, Bundesminister des Innern, 1992 fiel diese Zahl auf 30 Zeitungen von 19 Ver- 28. 11. 1991, BArch, B/106/156193. legern. 53 Der Verband der Lokalpresse nannte es 49 Brief, Wolf Klintz, THA, an Ministerialrat Homann, Bun- 54 desminister für Wirtschaft, SM 10 – 344 242-2/1, 17. 12. 1991, ein „trauriges Ergebnis“. Letztlich war es eine BArch, B/106/156193. verpasste Chance, Pressevielfalt im Osten neu zu 50 Brief, Lage der Lokalpresse im Beitrittsgebiet, Merk, Bundes- gestalten. Die „Medienrevolution“ der DDR – minister des Innern, an Seiters, Bundesminister des Innern, SM die Zerschlagung der Monopolstrukturen zu- 10 – 344 242-2/1, 20. 12. 1991, S. 4, Barch, B/106/156193. gunsten einer basisdemokratischen Presseviel- 51 Ebd. 52 Konrad Dussel, Deutsche Tagespresse im 19. und 20. Jahr- falt – blieb aus. hundert, Münster 2004, S. 245. 53 Memorandum, „Notwendige Maßnahmen für einen gleichbe- rechtigten Marktzutritt lokaler Zeitungen in einen früher nach den MANDY TRÖGER Gesetzen des staatlichen Zentralismus geschaffenen und heute in ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für der Struktur unverändert fortgeführten Pressemarkt in den neuen Bundesländern bis zur Feststellung realer Chancengleichheit,“ Kommunikationswissenschaft und Medienforschung Verband der Lokalpresse, 21. 5. 1992, S. 2, BArch, B/106/156193. der Ludwig-Maximilians-Universität München. 54 Ebd, S. 3. [email protected]

39 APuZ 35–37/2019

WEST-BERLIN Stimmungsbilder aus dem letzten Jahr Elke Kimmel

Das 41. Jahr West-Berlins war ein langes Jahr – Bürgermeister (CDU) war es reichte von Mai 1989 bis in den Winter 1990. mit Verboten gescheitert und hatte den Markt Zugleich wurden in diesem Jahr in verschiedenen lediglich vorübergehend verdrängt. Anwohner- Bereichen die Weichen für die zukünftige Ent- klagen blieben lange wirkungslos; eine Lösung wicklung Berlins gestellt, und langfristige Trends deutete sich nicht an. Der „Polenmarkt“ war mit deuteten sich an. Auch wenn in West-Berlin seit rechtsstaatlichen Mitteln anscheinend kaum zu dem Mauerbau der Verlust des Ostteils themati- unterbinden. siert worden war, und die Vereinigung mit dem Auf energischen Widerstand stieß zudem die Osten als politisches Ziel in aller Munde war, so Verkehrspolitik des rot-grünen Senats. Die Ein- zeigte sich doch schon in den ersten Tagen nach führung eines Tempolimits auf der Avus, die der Maueröffnung, dass die Umsetzung dieses Einrichtung von Busspuren und die geplante Ziels nicht ohne Abstriche zu haben war. Es lohnt Sperrung der Havelchaussee für den privaten Au- deshalb, sich die turbulentesten Wochen dieses toverkehr wurden von vielen West-Berlinerinnen Jahres genauer anzusehen. 01 und -Berlinern als unzumutbare Schikanen ange- sehen. 03 Leserzuschriften in der „Berliner Mor- AUFTAKT genpost“ spekulierten über angebliche Gefahren für ältere Menschen durch die Busspuren, und 1. Mai 1989 – der rot-grüne Senat des Regieren- Geschäftsleute beklagten dramatische Umsatz- den Bürgermeisters Walter Momper (SPD) war rückgänge. Immer wieder wurde der Vorwurf gerade sechs Wochen im Amt, als ihm mit der „re- laut, die AL plane eine autofreie Stadt. 04 volutionären 1.-Mai-Kundgebung“ eine schwe- Ein weiteres Problem – auch angesichts der re Prüfung ins Haus stand. Wie würden sich die stetig steigenden Zahl von Zuwanderern aus der Mitglieder der Alternativen Liste für Demokra- DDR, aus Polen und Rumänien – war die Woh- tie und Umweltschutz (AL), die später im Bünd- nungsnot. Im Sommer 1989 scheiterten die Ver- nis 90/Die Grünen Berlin aufgegangen ist, verhal- suche der Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD), ten, wenn es um die Durchsetzung von Recht und zumindest einen Teil der Zuwandernden ins Bun- Ordnung gegen die „eigene“ Klientel ging? Der desgebiet zu lenken. Zwar gab es im Aufnahme- Senat verordnete der Polizei eine Deeskalations- verfahren einen Verteilungsschlüssel für Über- strategie, die allerdings – wie Plünderungen vor siedler, aber dessen Missachtung blieb ohne laufenden Kameras zeigten – nicht aufging: Zwar Konsequenzen. Beginnend mit dem Abbau der fühlten sich die grünen Senatorinnen verpflichtet, Grenzanlagen an der österreichisch-ungarischen andere Politik zu machen, für die linke Szene aber Grenze im Mai 1989 und der einsetzenden Mas- ging es weiter gegen „das System“, für das in ih- senzuwanderung ging es immer mehr darum, ren Augen nun auch die AL stand. 02 wenigstens ausreichend Notunterkünfte bereit- Auch dem sogenannten Polenmarkt gegen- zustellen. Wie angespannt die Lage war, belegen über fiel es dem Senat schwer, einen stringenten die Überlegungen Walter Mompers, Bauland in Kurs zu finden: Seit 1988 gelangten polnische Brandenburg zu erwerben, um dort neue Exkla- Bürgerinnen und Bürger nach West-Berlin und ven für Wohnungssuchende einzurichten. 05 Se- verkauften dort alle möglichen Güter an Touris- natorin Stahmer appellierte an die Bundesregie- ten und Einheimische, deren Haltung zwischen rung, die finanziellen Mittel zur Bewältigung des Ablehnung und Faszination schwankte. Schon Zustroms aufzustocken – ohne dies seien die He- der Vorgängersenat unter dem Regierenden rausforderungen nicht zu bewältigen. Die Sig-

40 Das letzte Jahr der DDR APuZ nale aus Bonn blieben indes verhalten. 06 Anfang Nebeneinander zu machen, etwa was zusätzli- November stellte sich West-Berlin mit Notun- che Grenzübergänge anbelangte. 08 Momper regte terkünften auf Hunderte von DDR-Flüchtlingen etwa die Einrichtung eines Gesamtberliner „Run- ein, die über Ungarn und die Tschechoslowakei den Tisches“ an, 09 selbst die deutsche Einheit einfliegen sollten. 07 Auch auf dem Arbeitsmarkt schien wieder denkbar. In Frankreich warnte der machte sich der Zuzug bemerkbar. Zwar fanden Diplomat François Puaux im „Figaro“ Anfang sich die Neuankommenden meist rasch in die November 1989, dass diese eine Verschiebung neuen Verhältnisse ein, aber die Zahl der Arbeits- des europäischen Gefüges zur Folge haben wer- suchenden stieg, und nicht alle Ankommenden de. 10 Sogar der Abriss der Berliner Mauer schien besaßen die geforderten Qualifikationen. im Bereich des Möglichen. SPD-Politiker Jürgen Als störend wurden indes andere Zuwanderer Schmude setzte sich für diesen Fall dafür ein, Tei- wahrgenommen. Besonders im überfüllten Auf- le der Mauer als Denk- und Mahnmal zu erhal- nahmelager Berlin-Marienfelde stießen Über- ten. Er wurde daraufhin in Leserbriefen aufgefor- siedler auf Asylsuchende aus Subsahara-Afrika dert, er solle doch „sein Anwesen einmauern und und Sri Lanka, die über den Ost-Berliner Flugha- unter Denkmalschutz stellen“; sein Ansinnen sei fen Schönefeld nach West-Berlin gelangten, und eine „Unverfrorenheit“. 11 Andere meinten gar, Konflikte eskalierten mitunter. Dass die Ableh- Schmude sei wohl „krank im Kopf“ 12 oder zu- nung gegenüber den Zuwanderern bereits weit mindest „verwirrt“, sein Vorschlag ein „absurder in die West-Berliner Gesellschaft reichte, zeig- Gedankenflitzer“. 13 Kurzum: Wesentliche Verän- ten die Abgeordnetenhauswahlen am 28. Janu- derungen lagen gleichsam „in der Luft“. Auf die ar 1989: 7,5 Prozent der West-Berliner Wahlbe- Geschwindigkeit der Ereignisse aber war kaum rechtigten hatten für die fremdenfeindlichen und jemand vorbereitet. in Teilen rechtsextremen Republikaner gestimmt. Obschon die Partei sich schon im Laufe des Jah- AUSNAHMEZUSTAND res heillos zerstritt, verschob sich der öffentliche Diskurs nach rechts. Angesichts der historischen Bedeutung der Mau- West-Berlin war außerdem stärker noch als eröffnung erschienen die vergangenen Diskussi- die Bundesrepublik als Ganzes abhängig von onen und Auseinandersetzungen kleinlich. Noch den Entwicklungen in Ost-Berlin. Der erzwun- heute wirken nicht nur die politischen Akteure gene Rücktritt des schwerkranken Erich Hone- in den Fernsehaufnahmen dieser Tage wie besof- cker von allen Ämtern und die Auftritte des „ju- fen vor Freude. Tausende Menschen trafen sich gendlichen“ Nachfolgers Egon Krenz ebenso wie an neu eröffneten Grenzübergängen, sammelten die Ankündigungen eines liberaleren Reisegeset- sich an der Mauer am Potsdamer Platz oder liefen zes für DDR-Bürger bestärkten die Verantwort- mehr oder weniger ziellos am Kurfürstendamm, lichen darin, sich Gedanken über das zukünftige an der Gedächtniskirche und am Bahnhof Zoo herum. 01 Als Basis dafür dient eine Durchsicht insbesondere der In diesen Tagen zeigte sich West-Berlin quer „Berliner Morgenpost“ (im Folgenden BM abgekürzt), ergänzend durch alle Milieus den ostdeutschen Besucherin- des „Berliner Tagesspiegel“ (BT) und der „Tageszeitung“ (taz). nen und Besuchern gegenüber gastfreundlich. So Aussagekräftig ist insbesondere die BM, da hier täglich Leserzu- schriften in großer Anzahl abgedruckt wurden. mancher beherbergte für eine Nacht Gäste aus 02 Vgl. „Wir machen nicht aus Spaß Krawall“. Spiegel-Inter- view mit den Kreuzberger Autonomen Alex und Ronnie über ihre 08 Vgl. Uwe Dannenbaum, Krisensitzung bei BVG und Senat: Strategie der Gewalt, in: Der Spiegel, 8. 5. 1989, S. 115–120. So soll der Ansturm von „drüben“ bewältigt werden, in: BM, 03 Vgl. 800 Unterschriften gegen Busspur in der Königsberger, 8. 11. 1989, S. 3. in: BM, 3. 11. 1989, S. 12; Leserzuschrift „Existenzen werden be- 09 Vgl. Michael L. Müller, Momper für „Runden Tisch“ in Berlin, droht“ von Jan M. Dittmann aus Berlin, in: BM, 3. 11. 1989, S. 28. in: BM, 9. 11. 1989, S. 2. 04 Vgl. Leserzuschrift „Autofreie Stadt“ von Sven Nießen aus 10 Vgl. Berlin bald wieder Zentrum Europas?, in: BM, Berlin, in: BM, 7. 11. 1989, S. 22. 9. 11. 1989, S. 1. 05 Vgl. Berlin: Mompers Landsuche in der DDR, in: Der Spiegel, 11 Leserzuschrift „Unverfrorenheit“ von Gerhard Kiank, in: BM, 25. 9. 1989, S. 14. 5. 11. 1989, S. 44. 06 Vgl. Michael L. Müller, Fluchtwelle bringt dramatische 12 Leserzuschrift „Krank im Kopf“ von M. Freyer, in: BM, Probleme für Berlin mit sich, in: BM, 8. 11. 1989, S. 1 f. 12. 11. 1989, S. 86. 07 Vgl. Ursula von Bentheim, Berliner Millionär: Flüchtlinge 13 Vgl. Leserzuschrift „Gedankliche Verwirrung“ von Walter können in meinem Park wohnen, in: BM, 7. 11. 1989, S. 5. Schaumann aus Berlin, in: BM, 12. 11. 1989, S. 86.

41 APuZ 35–37/2019

Willy Brandt und Walter Momper auf der Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus © dpa – Fotoreport

Ost-Berlin oder der restlichen DDR. Für kurze vereinzelt wurden die „Brüder und Schwestern“ Zeit kannte die Großzügigkeit keine Grenzen – schon jetzt als „leichte Beute“ ausgemacht, Men- Kaffee, Kuchen, Schokolade und Bananen wur- schen, denen man überteuerte Südfrüchte 17 und den gratis an die Ostdeutschen verteilt, und Mu- jedweden Ramsch andrehen konnte. 18 seen und Theater verzichteten darauf, Eintritt Schon für den Abend nach dem Mauerfall von ihnen zu kassieren. 14 Die Berliner Sparkas- lud der Senat zu einer „Freiheitskundgebung“ se und andere Geldinstitute erklärten sich bereit, am Rathaus Schöneberg, dem Sitz des West- die 100 D-Mark Begrüßungsgeld auszuzahlen, Berliner Parlaments, ein (Abbildung). Allem und entlasteten damit die zuständigen Sozialäm- Anschein nach sollte die Wahl des Veranstal- ter. 15 Über 150 Millionen D-Mark Begrüßungs- tungsortes auch an jene Versammlung im Augs- geld flossen in den ersten Tagen nach dem Mauer- ut 1961 erinnern, auf der der damalige Regie- fall – Geld, das in den meisten Fällen direkt dem rende Bürgermeister Willy Brandt (SPD) gegen West-Berliner Einzelhandel zugutekam. Nach den Mauerbau am 13. August protestiert hatte dem Weihnachtsgeschäft hoffte dieser Anfang Ja- – allerdings sollte die Veranstaltung am 10. No- nuar 1990, mit der Auszahlung des 1990er-Begrü- vember unter umgekehrten Vorzeichen stehen. ßungsgeldes gar auf einen weiteren Boom. 16 Nur Sie sollte der euphorischen Stimmung angemes- senen Ausdruck geben, sollte dafür stehen, dass

14 Vgl. Volksbühne vergibt Karten, in: BM, 10. 11. 1989, S. 4; man gemeinsam die historische Stunde feierte. vgl. auch Sabine Puthz, Am Obststand bekam ein Ehepaar Während indes Willy Brandt und Bundesau- feuchte Augen, in: BM, 11. 11. 1989, S. 4; Christoph Lang, ßenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) Freibier, Oper, Fußball für die Ost-Besucher, in: BM, 11. 11. 1989, S. 8. 15 Vgl. Noch vor Mitternacht strömten Tausende von Ost- 17 Vgl. Wucherpreise für Weintrauben, in: BM, 15. 11. 1989, Berlinern nach West-Berlin, in: BM, 10. 11. 1989, S. 1 f. S. 4. 16 Vgl. Christoph Lang, Begrüßungsgeld – ein Motor für die 18 Vgl. Händler locken mit Ramsch aus ganz Europa, in: BM, West-Berliner Wirtschaft, in: BM, 14. 11. 1989, S. 4. 19. 11. 1989, S. 5.

42 Das letzte Jahr der DDR APuZ mit Beifall bedacht wurden, gingen die Worte Die Berliner Mauer als das sichtbarste Zei- des bei vielen West-Berlinerinnen und -Berli- chen der Teilung stand ein ums andere Mal im nern unbeliebten Bundeskanzlers Helmut Kohl Mittelpunkt des Interesses. Gerade in den ers- (CDU) in einem gellenden Pfeifkonzert unter. 19 ten Tagen wurde jede weitere Grenzöffnung, je- Kohl reagierte auf diese Störung dünnhäutig des weitere Loch in der Mauer begeistert gefei- und wehrte Versuche Mompers, die Menge zu ert. Mitte Dezember 1989, als sich der erste Jubel beschwichtigen, unwirsch ab. 20 Als „flegelhaft“ gelegt hatte, sorgte die Öffnung der Mauer am verurteilte ein auswärtiger Leser der „Berliner symbolträchtigen Brandenburger Tor für einen Morgenpost“ das Verhalten dieser „Berliner“ Höhepunkt, für das „schönste Weihnachtsge- (die er wohlweislich, weil sie angeblich keine schenk an alle Berliner“, wie Oppositionsführer „echten“ Berliner seien, in Anführungszeichen Diepgen meinte. 26 Parteizugehörigkeiten waren setzte). 21 Bis in den Dezember 1989 hinein äu- in der Auseinandersetzung über die Zukunft der ßerten weitere Leserinnen und Leser der „Berli- Mauer nebensächlich: Auch Momper hätte es ner Morgenpost“, die dem Bundeskanzler eher am liebsten gesehen, dass die ostdeutsche Regie- nahe stand, Scham und Unverständnis für die rung die Mauer stückweise verkauft und rasch Szenen vor dem Schöneberger Rathaus. Nicht abbaute. Wenn sich Teile davon verkaufen ließen wenige vermuteten, dass es sich um „bestell- – umso besser. Stimmen für den Erhalt von Teil- te“ (möglicherweise von „Ost-Berlin“ gelenk- stücken kamen aus der Kulturszene, etwa vom te) Proteste gehandelt habe, ohne dies zu prä- späteren Kultursenator Ulrich Roloff-Momin zisieren. „Es war ein Meer des Glücks. Es gab und dem Direktor des im Aufbau befindlichen keine Parteien, es gab nur Deutsche, die zuein- Deutschen Historischen Museums Christoph ander gehörten“, beschrieb der Leser U. Man- Stölzl. 27 Die West-Berliner Fachleute erörterten teufel die Situation, die die „Chaoten“ gestört die Denkmalwürdigkeit des Bauwerks ebenfalls, hatten. 22 Wenig erstaunlich angesichts solcher erinnerten aber daran, dass in dieser Angelegen- Hochgefühle war, dass die Parole „Nie wieder heit Ost-Berlin zu entscheiden habe. 28 Im All- Deutschland!“, mit der linke Wiedervereini- tag nahmen außerdem Hunderte von „Mauer- gungskritiker wenig später auf die Straße gin- spechten“ den Betonwall in Eigeninitiative aufs gen, auf völliges Unverständnis traf. 23 Selbst Korn – mit Werkzeugen aller Art schlugen sie die Worte Mompers, der vom „Volk der DDR“ kleine und größere Brocken aus der Mauer, wo- sprach, stießen auf Kritik. 24 Man müsse, im Ge- bei ihr Interesse vor allem der bemalten West- genteil, die Gelegenheit beim Schopf ergreifen, seite galt. 29 Die West-Berliner Polizei schritt nur alles Notwendige zur Vereinigung anstreben sporadisch ein. 30 Es überwog der Stolz darauf, und die Mauer baldmöglichst beseitigen. Abwä- dass auch Prominente, wie die TV-Moderatorin gendere Stimmen waren selten. 25 Carolin Reiber, Mauerbrocken mit nach Hause nahmen. 31 19 Vgl. Frank Langrock, Ein Tag, auf den die Berliner 28 Jahre In diesen ersten euphorischen Tagen gab es lang gewartet haben, in: BM, 11. 11. 1989, S. 2. nur wenige Missklänge. Lediglich die enormen 20 Vgl. Kanzler beschwert sich über Pfiffe, in: BM, 12. 11. 1989, zusätzlichen Kosten, für die West-Berlin auf- S. 16. zukommen hatte, etwa für Notunterkünfte und 21 Vgl. Leserzuschrift „Wie flegelhaft“ von Dieter Karbenk aus Hattingen, in: BM, 1. 12. 1989, S. 28. Versorgung von Übersiedlern, von denen sich 22 Leserzuschrift „Es war wie ein Meer des Glücks“ von U. Manteufel aus Berlin, in: BM, 24. 11. 1989, S. 29. 1987 hatte 26 „Das schönste Weihnachtsgeschenk an alle Berliner“, in: BM, der damalige Regierende Bürgermeister Diepgen im Zusam- 20. 12. 1989, S. 3. menhang mit den Ausschreitungen am 1. Mai in Kreuzberg von 27 Vgl. Susanne Holl, Schandfleck oder Kulturdenkmal? Zu- „Antiberlinern“ gesprochen: West-Berliner-Sein und zugleich kunft der Mauer ist umstritten, in: BM, 19. 11. 1989, S. 5. „Chaot“ war in dieser Sichtweise, die sich auch die Morgenpost 28 Vgl. Rainer Stache, Denkmalschützer denken über die und ihre Leser zu eigen machten, nicht möglich. Mauer nach, in: BM, 14. 11. 1989, S. 6. 23 Leserzuschrift „Krenz und die Karte Momper“ von Horst 29 Vgl. Rüdiger Scharf, „Mauerspechte“: Das große Geschäft Stutz, Berlin, in: BM, 18. 11. 1989, S. 14. mit den kleinen Steinen, in: BM, 16. 11. 1989, S. 4; ders., 24 Vgl. Leserzuschrift „Die Chance war nie so groß“ von Daniel Ein Stück Mauerkrone für den Garten in Texas, in: BM, Coybes aus Berlin und „Verfassungseid nicht beiseite schieben“ 17. 11. 1989, S. 4. von Joachim F. Schultz aus Berlin, in: BM, 1. 12. 1989, S. 28. 30 Vgl. Kurz notiert: Behörden verboten Handel mit Mauer, in: 25 Vgl. Leserzuschrift „Freiheit lassen“ von Jürgen Kohlschmidt, BM, 30. 11. 1989, S. 7. in: BM, 18. 11. 1989, S. 14. 31 Vgl. Ein Brocken für Carolin Reiber, in: BM, 3. 12. 1989, S. 6.

43 APuZ 35–37/2019 weiterhin täglich bis zu 500 meldeten, 32 oder für häufig würden Autos falsch geparkt, zudem habe die Verkehrsbetriebe, bereiteten den Verantwort- die Gefahr für Radfahrende durch die unsicheren lichen Sorgen. 33 In der Frage zusätzlicher Sub- Verkehrsteilnehmer zugenommen. 42 ventionen vom Bund waren sich sogar die an- „Normalität“ bedeutete aber auch, dass sich sonsten erbitterten Kontrahenten Momper und die kurzzeitig verdrängten Alltagsprobleme und Diepgen einig, 34 aber erst Ende November kamen -ärgernisse wieder in den Vordergrund schoben. positivere Signale aus Bonn. 35 Eine Spitzenposition unter diesen nahm nach wie vor der „Polenmarkt“ ein. Anwohnerinnen und „NEUE NORMALITÄT“ Anwohner beschwerten sich wiederholt über Dreck, Prostitution und Kriminalität, die im Um- Für die „Berliner Morgenpost“ herrschte ab dem feld des Marktes herrschten. Bürgermeister Mom- 21. November eine „neue Normalität“, 36 die sich per wies – wenig geschickt – darauf hin, dass man äußerlich kaum von den vorangegangenen Tagen es mit Problemen zu tun habe, die das Metropo- unterschied. Aber nun klagten einzelne über die lendasein mit sich bringe. 43 Eine neue Stoßrich- drangvolle Enge in der Straßenbahn oder über tung erhielt die Kritik dadurch, dass sie sich mit die Abgase von Trabant und Wartburg auf den den ostdeutschen Klagen über polnische „Speku- West-Berliner Straßen. 37 Es könne nicht angehen, lanten“ traf, die angeblich massenhaft ohnehin so der Tenor, dass West-Berliner von Fahrver- knappe und zudem stark subventionierte Waren boten bedroht würden, Ostdeutsche aber nicht. aufkauften, um sie anschließend in West-Berlin „Gleiches Recht für alle“ lautete auch die Paro- anzubieten. 44 Berichten zufolge machten sich die le, wenn es um die Forderung nach Beseitigung in erster Linie gegen Polen gerichteten ostdeut- der Visumspflicht für West-Berliner bei Reisen in schen Ausfuhrbestimmungen am Reichpietschu- die DDR und nach Ost-Berlin ging. Gerade für fer durch eine „Flaute“ und eine zwischenzeitlich Rentnerinnen und Rentner seien die geforder- geringere Anzahl von Anbietern bemerkbar. 45 ten 25 D-Mark „Zwangsumtausch“ schwer auf- Ungeachtet der Vorbehalte kamen auch ostdeut- zubringen. 38 Der Senat griff diese Forderungen sche Besucher, einige verkauften zeitweise Tafel- Ende November 1989 auf. 39 geschirr oder Modelleisenbahnen auf dem „Po- Verkehrssenator Horst Wagner (SPD) und lenmarkt“; 46 andernorts begann der Handel mit Umweltsenatorin Michaele Schreyer (AL) riefen Devotionalien der Nationalen Volksarmee. 47 die Ostdeutschen wiederholt auf, mit öffentli- Polen und Polinnen blieben nicht die einzi- chen Verkehrsmitteln nach West-Berlin zu kom- gen, die sich das unmittelbare Nebeneinander men. 40 Nicht allein die Umweltbelastung wurde von zwei Währungen so unterschiedlicher Stär- dabei angesprochen. 41 Ebenfalls zur Sprache kam ke zunutze machten. Nicht wenige Ostdeutsche die „Überforderung“ ostdeutscher Fahrerinnen nutzten die teils chaotischen Verhältnisse bei der und Fahrer mit dem West-Berliner Verkehr. Allzu Ausgabe des Begrüßungsgeldes, um mehrfach zu kassieren. Andere versuchten, wie etwa die Ost- 32 Vgl. Rüdiger Scharf, 500 pro Tag: Zahl der Übersiedler Berliner Rentner, ihre knappen Einkünfte we- pendelt sich ein, in: BM, 21. 11. 1989, S. 5. nigstens vorübergehend aufzubessern. Die 100 33 Vgl. Frank Langrock, Senat besteht auf erhöhter Bundeshil- D-Mark Begrüßungsgeld wurden „schwarz“ in fe, in: BM, 18. 11. 1989, S. 12. 34 Vgl. Michael L. Müller, Momper will 785 Millionen zusätzlich aus Bonn, in: BM, 1. 12. 1989, S. 9. 42 Vgl. Radfahrer fürchten Auto-Fahrer von drüben, in: BM, 35 Vgl. Waigel will Finanzhilfe an Berlin prüfen, in: BM, 30. 11. 1989, S. 7; Christoph Lang, „Noch gibt’s keine Strafzettel 29. 11. 1989, S. 15. für falsch geparkte Trabis“, in: BM, 5. 12. 1989, S. 4. 36 Titel einer Rubrik, die die BM ab 21. 11. 1989 einführte. 43 Vgl. Leserzuschrift: „Politikern sollten mit Anwohnern 37 Vgl. Leserzuschrift „Lebensgefährliches Gedränge“ von tauschen“ von Heinz Schlischka aus Berlin 42, in: BM, 3. 12. 1989, Hertha Schütze aus Berlin 47, in: BM, 15. 12. 1989, S. 20. S. 44. 38 Vgl. Leserzuschrift „Keinen Pfennig“ von Günter Förster aus 44 Vgl. Leserzuschrift „Mehrzahl der Polen sind Touristen“ von Berlin 42, in: BM, 22. 11. 1989, S. 43. Uwe Skodowski, in: Berliner Zeitung, 25. 11. 1989, S. 3. 39 Vgl. Michael L. Müller, Momper fordert Ende des Zwangs- 45 Vgl. Flaute auf dem Polenmarkt, weil DDR den Billig-Kauf umtauschs, in: BM, 24. 11. 1989, S. 1. erschwerte, in: BM, 26. 11. 1989, S. 1. 40 Vgl. Senator Wagner appelliert: Laßt die Autos zu Hause, 46 Vgl. Polen bekommen auf dem Polenmarkt Konkurrenz, in: in: BM, 16. 11. 1989, S. 4. BM, 18. 11. 1989, S. 5. 41 Vgl. Rainer Stache, Nein zum Auto auch nach der Mauer- 47 Vgl. Lutz-Peter Naumann, An der Mauer floriert der Ost- öffnung, in: BM, 25. 11. 1989, S. 3. West-Handel mit DDR-Militaria, in: BM, 9. 12. 1989, S. 4.

44 Das letzte Jahr der DDR APuZ

Ostmark getauscht, wobei die Rentner vom rasch ALLTAG EINHEIT fallenden Kurs der DDR-Mark profitierten. Die offenen Grenzen begünstigten zudem die Es überwogen die optimistischen Stimmen: Dass Schwarzarbeit von Ost-Berlinern im Westteil. 48 ein geeintes Berlin Hauptstadt der Bundesrepu- Sorgte sich die West-Berliner Politik vor allem blik sein werde, daran zweifelte hier kaum je- um die Konkurrenz auf dem ohnehin angespann- mand. Die Pläne aber reichten weiter, und ins- ten Arbeitsmarkt, so befürchtete die Ost-Berliner besondere ein Gedanke gewann in Ost- und Verwaltung eine weitere Schwächung ihrer Be- West-Berlin rasch prominente Unterstützer: Bei- triebe. DDR-Regierungschef Hans Modrow be- de Stadthälften sollten gemeinsam die Olympi- fürchtete durchaus zu Recht, dass die wirtschaft- schen Sommerspiele 2004 ausrichten. Der Bun- lichen Folgen der offenen Grenze für die DDR destag mit Ausnahme der Grünen setzte sich für katastrophal sein könnten. Anders als vor 1961 die Bewerbung ein, der US-amerikanische Prä- bemühten sich aber nun West und Ost gemein- sident George H. W. Bush und der so­wje­tische sam , das illegale „Grenzgängertum“ zu bekämp- Regierungschef Michail Gorba­­tschow hatten fen. 49 In diesem Sinne war auch die Idee, (ar- Zustimmung signalisiert. Nicht nur in diesem beitslose) West-Berliner Ärzte nach Ost-Berlin Kontext war es verständlich, dass ein Verzicht einzuladen, zu verstehen. 50 Als eher randständi- auf den Ausbau des Flughafens Tegel (wie er zu- ges Problem erschien es, dass sich vietnamesische vor erörtert worden war) nicht mehr infrage kam. „Vertragsarbeiter“ aus Ost- nach West-Berlin ab- Stattdessen schien eine Erweiterung der Flugka- setzten, solange es bei Einzelfällen blieb. 51 pazitäten zwingend notwendig, ob dies nun den Die Aufnahme von Übersiedlern aus Ost- Ausbau Schönefelds beträfe oder die Entwick- Berlin wurde Streitthema. Ende November 1989 lung eines weiteren Standortes. „schob“ der Senat erstmals einzelne von ih- Intensiv diskutiert wurde auch die Planung der nen ins Bundesgebiet „ab“. 52 Nicht nur bei der Innenstadt. Schon wenige Tage nach Maueröff- CDU-Opposition sorgte dies für Empörung: nung erörterte die „Berliner Morgenpost“ Pläne Eberhard Diepgen äußerte Unverständnis da- zur Bebauung des Potsdamer Platzes. Als Basis da- rüber, dass Innensenator Erich Pätzold (SPD) für dienten Planungen aus dem Jahr 1983. Der zu zwar selbst abgelehnten Asylbewerbern Aufent- Mauerzeiten vernachlässigte Stadtraum sollte so halt gewähre, den „eigenen Landsleuten“, denen, wiederbebaut werden, dass seine Ergänzung nach „die hier in Berlin aufgewachsen und zur Schule Osten kein Problem darstelle – allein die Verkehrs- gegangen sind“, aber ähnliches verweigere. 53 Die führung war in diesem Konzept offen. 55 Erörtert Gegenüberstellung Diepgens ist insofern sym- wurden Vorschläge, den nun obsolet gewordenen ptomatisch, als der Prozess der Ausgrenzung Grenzstreifen in eine Autobahn umzuwidmen; 56 von Fremden, seien dies nun „Asylanten“ oder die neue Metropole schien mit der Verringerung „Gastarbeiter“, fortschritt. Ingrid Stahmer und des Individualverkehrs nicht mehr vereinbar. Barbara John (CDU) als Ausländerbeauftragte Berlin sollte zukünftig als westliche Metro- machten insbesondere unter den Zuwandernden pole noch stärker nach Ost- und Südosteuro- aus der DDR und Osteuropa fremdenfeindliche pa ausstrahlen. Nach dem Mauerfall wurde das Tendenzen aus. 54 Umland immer stärker in diese Überlegungen miteinbezogen. 57 Dazu gehörte auch, dass fin- 48 Vgl. Rüdiger Scharf, Schwarzarbeit: Schnelle Mark mit dige West-Berliner mittels „Strohmann“ ab No- einem West-Job?, in: BM, 21. 11. 1989, S. 5. vember versuchten, Immobilien im Umland, 49 Vgl. Momper und Krack wollen Schwarzarbeit bekämpfen, aber auch in Dresden und Leipzig zu erwerben. 58 in: Berliner Zeitung, 22. 12. 1989, S. 1. 50 Vgl. Martina Fischer, 500 Ärzte wollen in Ost-Berlin arbei- ten, in: BM, 21. 11. 1989, S. 5. 55 Vgl. Michael Dieterici, Berlin Mitte: Scharnier zwischen Ost 51 Vgl. Chris Sommer, Vietnamesen nutzten offene Grenzen, und West, in: BM, 14. 11. 1989, S. 11. in: BM, 16. 11. 1989, S. 8. 56 Vgl. Ost-Berliner Planer schlägt vor: Stadt-Autobahn statt 52 Vgl. Rüdiger Scharf, Aufnahmebeschränkung für Umsiedler, der Mauer, in: BM, 26. 11. 1989, S. 1. in: BM, 30. 11. 1989, S. 7. 57 Vgl. Michael L. Müller, Neue CDU-Pläne zum „Großraum 53 Michael L. Müller, Diepgen: Senat darf Berlin nicht „noch Berlin“: Berlin – wichtigste Metropole zwischen Paris und Mos- mal teilen“, in: BM, 30. 11. 1989, S. 7. kau, in: BM, 24. 11. 1989, S. 4. 54 Vgl. „Schiefes“ Bild von Ausländern?, in: BM, 30. 11. 1989, 58 Vgl. Christoph Lang, Von Strohmännern, Erbtanten und S. 8. Immobilienspekulanten, in: BM, 24. 11. 1989, S. 7.

45 APuZ 35–37/2019

Mancher West-Berliner tauchte auch unvermit- soziale Probleme, die durch den Wegzug von telt vor einem Eigenheim in Kleinmachnow Unternehmen entstanden. oder anderswo auf und machte Besitzansprüche Der „Polenmarkt“ machte eine neue von Ost- ­geltend. 59 europa ausgehende Armuts- und Arbeitsmigra- West-Berlin „wuchs“ auch in anderen Berei- tion bereits vor der Wende deutlich. In den fol- chen nach Ost-Berlin und ins Umland. Die Frei- genden Jahrzehnten setzte sich diese Tendenz gabe des Gebrauchtwagenimports in die DDR fort. Überfüllte Pendlerzüge von der polnischen Anfang 1990 erlaubte es nicht nur Hunderten von Grenze nach Berlin sprechen bis heute eine deut- DDR-Bürgern sich den Traum vom eigenen Auto liche Sprache. 62 zu erfüllen, sondern es begannen auch goldene Aber nicht nur aus Polen kommen die Berufs- Zeiten für windige Geschäftemacher. Schon vor pendler: Tausende von Menschen pendeln heu- der Währungsunion verkauften sie etliche, meist te täglich aus dem „Speckgürtel“ in die Innen- überteuerte und teils schrottreife West-PKW stadt, die Metropolenregion Berlin wächst Jahr nach Ost-Berlin und in die DDR. Sekten wie die um Jahr. Damit steht Berlin im krassen Gegen- Scientology-Kirche rekrutierten ebenso Anhän- satz zu West-Berlin, das auch seine Besonderheit ger wie die fremdenfeindlichen Republikaner. 60 als Insel mit begrenztem Wachstum auszeichnete. Selbstverständlich trieb viele West-Berliner auch Der Mauerfall leitete nicht nur das Ende der Iso- schlichte Neugier ins Umland. lierung vom Umland ein – er war auch ein Zei- Andere wurden von den Freiräumen im Os- chen dafür, dass von den „Roten“ keine existen- ten angezogen: Junge Leute aus West-Berlin be- zielle Gefahr mehr ausging. Gleichzeitig verlor setzten leer stehende Häuser in Ost-Berlin. Teils die „Mauerstadt“ einen Teil ihrer Identität. Der organisierten sie sich gemeinsam mit Ost-Ber- Kampf um den Erhalt von West-Berliner Nischen liner Gleichgesinnten, teils herrschte aber auch dauert bis heute an – auch unabhängig von spora- Unverständnis wegen der unterschiedlichen disch verkündeten Revivals. 63 „Besetzerkultur“. Nicht selten meinten auch die- se „Wessis“, den „Ossis“ erst beibringen zu müs- sen, wie man etwas „richtig“ macht. 61 Die Ost- Berliner Stadtregierung stand den Besetzungen hilflos gegenüber, ebenso wie den illegalen Clubs und Bars. Letztlich war es die West-Berliner Po- lizei, die die Mainzer Straße im November 1990 räumte. Der rot-grüne Senat zerbrach über die- ser Auseinandersetzung endgültig, und bis auf Weiteres standen die Zeichen in der nun verein- ten Stadt für politische „Experimente“ schlecht. Denn im Laufe des Jahres 1990 deutete sich be- reits an, dass die Einheit mit einem Verzicht auf Subventionen, die an den bisherigen Sonder- status der Stadt geknüpft gewesen waren, ver- bunden war. Hinzu kamen wirtschaftliche und

59 Vgl. Klaus-Jürgen Warnick zit. nach Elke Kimmel, Lebens- geschichte Einheit. Eine Interviewcollage, in: Stiftung Deutsches Historisches Museum (Hrsg.), Alltag Einheit. Porträt einer Über- gangsgesellschaft, Berlin 2015, S. 62 f. 60 Vgl. Warnung vor Sektenaktivitäten, in: Neue Zeit, 25. 11. 1989, S. 3. 61 Vgl. Dirk Moldt zit. nach Kimmel (Anm. 59), S. 66 f. 62 Mathias Schulz, Völkerwanderung am Freitag. Spiegel- ELKE KIMMEL Redakteur Mathias Schulz über die neuen Gastarbeiter aus dem Osten, in: Der Spiegel, 21. 11. 1994, S. 54–60. ist promovierte Historikerin, Kuratorin und Leiterin 63 Vgl. Elke Kimmel, West-Berlin. Biografie einer Halbstadt, des Barnim Panoramas in Wandlitz. Berlin 2018, S. 215. [email protected]

46 Herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung Adenauerallee 86, 53113 Bonn Telefon: (0228) 9 95 15-0

Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 16. August 2019 Nächste Ausgabe REDAKTION 38–39/2019, Lorenz Abu Ayyash (verantwortlich für diese Ausgabe) 16. September 2019 Anne-Sophie Friedel Johannes Piepenbrink VENEZUELA Frederik Schetter (Volontär) Anne Seibring [email protected] www.bpb.de/apuz twitter.com/APuZ_bpb

Newsletter abonnieren: www.bpb.de/apuz-aktuell Einzelausgaben bestellen: www.bpb.de/shop/apuz

GRAFISCHES KONZEPT Charlotte Cassel/Meiré und Meiré, Köln

SATZ le-tex publishing services GmbH, Leipzig

DRUCK Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH & Co. KG, Mörfelden-Walldorf

ABONNEMENT Aus Politik und Zeitgeschichte wird mit der Wochenzeitung ausgeliefert. Jahresabonnement 25,80 Euro; ermäßigt 13,80 Euro. Im Ausland zzgl. Versandkosten. FAZIT Communication GmbH c/o InTime Media Services GmbH [email protected]

Die Veröffentlichungen in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ sind kei- ne Meinungsäußerungen der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Für die inhaltlichen Aussagen tragen die Autorinnen und Au- toren die Verantwortung. Beachten Sie bitte auch das weitere Print-, Online- und Veranstaltungsangebot der bpb, das weiterführende, er- gänzende und kontroverse Standpunkte zum Thema bereithält.

ISSN 0479-611 X

Die Texte dieser Ausgabe stehen unter einer Creative Commons Lizenz vom Typ Namensnennung-Nicht Kommerziell-Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland. AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE www.bpb.de/apuz