Wortprotokoll Bildjugfam 16/61
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Wortprotokoll BildJugFam 16/61 16. Wahlperiode Plenar- und Ausschussdienst Wortprotokoll Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie 61. Sitzung 24. Juni 2010 Beginn: 13.00 Uhr Ende: 16.04 Uhr Vorsitz: Christa Müller (SPD) Punkt 1 der Tagesordnung Aktuelle Viertelstunde Siehe Inhaltsprotokoll. Punkt 2 der Tagesordnung Bericht des Senators aus der Kultusministerkonferenz bzw. der Jugendministerkonferenz Siehe Inhaltsprotokoll. Vorsitzende Christa Müller: Wir kommen zu Punkt 3 der Tagesordnung a) Besprechung gemäß § 21 Abs. 3 GO Abghs "Aufarbeitung der Schicksale ehemaliger Heimkinder in Berlin" 0469 (auf Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen) BildJugFam b) Antrag der Fraktion der SPD und der Linksfraktion 0502 Aufklärung des Schicksals von ehemaligen Berliner Heimkindern, Fürsorge- zöglingen, Schülerinnen und Schülern – Benennung einer Anlauf- und Bera- tungsstelle für Opfer von Gewalt und Missbrauch Drs 16/3277 Dazu begrüße ich ganz herzlich unsere Gäste: Frau Ingrid Stahmer von Deutschen Zentralinstitut für Soziale Fragen, Herrn Michael Piekara – ihn bräuchte ich gar nicht vorzustellen, er ist uns allen als Vorsitzender des Unterausschusses Hilfen zur Erziehung und Familienpolitik beim Landesjugendhilfeausschuss wohl bekannt Redaktion: W. Schütz, Tel. 2325 1461 bzw. quer (99407) 1461 Abgeordnetenhaus von Berlin Seite 2 Wortprotokoll BildJugFam 16/61 16. Wahlperiode 24. Juni 2010 - stz/krü - – und Herr Prof. Manfred Kappeler von der Berliner Regionalgruppe ehemaliger Heimkinder. – Herzlich willkommen und herzlichen Dank, dass Sie uns mit Ihrer Fach- und Sachkenntnis zur Verfügung stehen! Es wird die Begründung gewünscht, ist mir signalisiert worden. – Frau Dr. Barth, bitte! Dr. Margrit Barth (Linksfraktion): Frau Vorsitzende, meine Damen und Herren! Wir haben uns im Zu- sammenhang mit den Ereignissen am Canisius-Kolleg mit den Fällen befasst, und spätestens zu diesem Zeit- punkt ist uns klar geworden, dass wir bei diesem Thema auch auf die Geschichte der Heimkinder der 40er bis in die späten 70er zurückblicken müssen. Wir haben dazu in der letzten Plenarsitzung einen Antrag ein- gebracht, der Ihnen vorliegt. Wir sind als Mitglieder des Landesjugendhilfeausschusses von der Berliner Regionalgruppe ehemaliger Heimkinder und Unterstützerinnen schriftlich auf die Notwendigkeit von Lö- sungsvorschlägen für die Rehabilitation und Unterstützung hingewiesen und gebeten worden, im zuständigen Ausschuss zu einer öffentlichen Anhörung aufzufordern. Eine dritte Bemerkung: Wir sehen uns auch in der Pflicht, weil auf der Bundestagsebene mit der Gründung des Runden Tisches Heimerziehung die Länder aufgefordert wurden, sich der Verantwortung zu stellen, und in diesem Zusammenhang hat sich natürlich auch Berlin mit den ganz besonderen Bedingungen, die wir hier haben, zu befassen. Wir freuen uns schon heute sehr, dass wir mit der Gewinnung der Anzuhörenden Fach- leute aus der Jugendhilfe haben, die die besondere Situation in der Jugendhilfe gerade in dieser Zeit sehr genau analysieren können und kennen. Wir erhoffen uns heute von der Anhörung, dass wir für unseren An- trag, den wir im Plenum eingebracht haben, den einen oder anderen Hinweis weiterhin mitnehmen können. Die Fragen würde ich dann in der zweiten Runde stellen. Vorsitzende Christa Müller: Vielen Dank, Frau Dr. Barth! – Frau Jantzen, bitte! Elfi Jantzen (Grüne): Kurzer Hinweis: Bei der Begründung hätten Sie nach a) und b) vorgehen sollen, aber ich will hier nicht vor den Anzuhörenden streiten. Ich freue mich jedenfalls, dass es doch noch vor der Sommerpause gelungen ist, dass wir das Thema hier im Ausschuss auf der Tagesordnung haben und die Anhörung durchführen können, die ja auf unseren Antrag hin durchgeführt wird. Ich freue mich auch, dass die verschiedenen Aktivitäten auch der Gruppe um die ehemaligen Heimkinder dazu geführt haben, dass die Koalition einen Antrag zum nächsten Mal eingebracht hat, der zu beurteilen ist. Wie wir ihn qualifizieren können, darüber können wir sicherlich noch nach der Anhörung sprechen. Mich interessiert vor allem – ich denke, das gilt für uns alle –, was das Land Berlin inzwischen getan hat, um Akten sicherzustellen, um die Betroffenen zu begleiten und dabei zu helfen, ihre eigene Geschichte, die Wege ins Heim und die Erfahrun- gen in den Heimen aufzuarbeiten, wie weit Berlin die Ostperspektive schon einbezogen hat oder einbeziehen sollte und wie wir die Arbeit des Runden Tisches von Berlin aus besser Unterstützen können, obwohl da nicht mehr viel zu tun ist, weil es bis zum Jahresende den Abschlussbericht gibt, und inwieweit von hier aus Hinweise in die Beratung zum Runden Tisch oder zur Bundesebene gehen können, was die Entschädigung angeht. Dafür sind wir nicht direkt zuständig, aber ich denke, wir sollten uns im weiteren Verlauf der Dis- kussion dazu eine Meinung bilden. Ich bin sehr gespannt auf und dankbar für die Ausführungen, die die An- zuhörenden machen werden. – Vielen Dank! Vorsitzende Christa Müller: Vielen Dank, Frau Jantzen! – Bevor wir mit der Anhörung beginnen, noch mal die Feststellung, dass es bei Anhörungen üblich ist, ein Wortprotokoll zu fertigen. Ich gehe davon aus, dass das auf Ihre Zustimmung trifft. Das ist der Fall. – Dann bitte ich Sie, zu beginnen. Wenn Sie keine be- sonderen Vorlieben haben, möchte ich Herrn Prof. Kappeler bitten, die Runde zu eröffnen! Prof. Manfred Kappeler (Institut für soziale Fragen): Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Vorsit- zende! Ich bedanke mich für diese Einladung. Ich bin gern gekommen. Zunächst ein paar Sätze zu meinem Hintergrund: Ich bin 1960 als junger Erzieher in die Heimerziehung gegangen und habe mich in den 60er und 70er Jahren überwiegend mit der Heimerziehung befasst, als Gruppenleiter, als Heimleiter in einem Heim hier in Berlin, als Aus-, Fort- und Weiterbildner für Erzieher und Erzieherinnen. Ich habe die berufs- begleitende Erzieherausbildung des Berliner Senats in den Jahren 1968, 1969 geleitet. Ich habe in Berlin die Heimkampagne mit initiiert, die zur Skandalisierung und Veröffentlichung der Verhältnisse in den Heimen geführt hat, und ich habe später als Universitätsprofessor am Institut für Sozialpädagogik in diesem Bereich Abgeordnetenhaus von Berlin Seite 3 Wortprotokoll BildJugFam 16/61 16. Wahlperiode 24. Juni 2010 - stz/krü - auch gelehrt und geforscht. Ich blicke also auf eine fünfzigjährige Beschäftigung mit diesem Thema zurück. Ich bin seit fünf Jahren emeritiert und jetzt im Rahmen von bürgerschaftlichem Engagement in verschiede- nen Fachorganisationen tätig, aber auch in der Unterstützung der Initiative der ehemaligen Heimkinder, über die wir heute sprechen. Ich habe mir überlegt, was ich in diesen fünf Minuten Sinnvolles sagen kann – vieles wird dann in der Frage- runde zur Sprache kommen –, und bin zu dem Schluss gekommen, Ihnen einige Zitate aus der Situation um 1969, 1970 vorzulesen, und zwar aus Berichten der damaligen Berliner Heimaufsicht des Senators für Ju- gend und Sport, wie die Behörde damals hieß, und aus einem Brief einer Ehemaligen, die hier in Berlin in einem staatlichen Kinderheim gelebt hat. Ich beginne mit einem Zitat aus einem Bericht von Peter Wiedemann, der von 1969 bis 1975 in der Heim- aufsicht des Berliner Senats tätig war. Ich erinnere mich an große Festungen, an Mauern und an Stacheldraht, an Gitter, die regelmäßig nach- zusehen waren, ob sie noch haltbar sind. In allen Heimen gab es Pförtner, die ohne Nachweis keinen rein- oder rausließen. Da waren die Zellen, die Bunker, die zum Teil keine Toiletten hatten. Die Kin- der und Jugendlichen mussten sich durch Klingeln bemerkbar machen. Manche Heime waren in Bara- cken untergebracht. Schlimmer noch empfanden wir diesen riesigen Neubau des Hauptkinderheims, wo mehr als 400 Kinder, auch Säuglinge, untergebracht waren. Ein klinischer Bau, ein Labyrinth, wo man nicht so recht den Ein- und Ausgang fand, wo Sachbeschädigungen, Bambulen der Kinder keine seltenen Ereignisse waren. Fast überall waren die Bauten und Räume in einem furchtbaren Zustand. Es gab kaum Wohneinheiten. Die Versorgung war weitestgehend zentralisiert. Ich erinnere mich an die antiquierten Werkstätten, den 20-Pfennig-Stundenlohn, an die Macht der Diagnostiker und Gutachter, die tatsächlich glaubten, man könne die Kinder in eingesperrter Situation authentisch erleben und ih- nen näher kommen. Ich sehe vor mir unsichere, devote, distanzierte Erzieher im Büro sitzen, die vie- len Schlüssel, das Auf- und Zusperren, die Dienstbücher, Wäschebücher, Entweichungsbücher, Straf- bücher, die Bücher für besondere Vorkommnisse. Es gab auch blau-grüne Anstaltskleidung. Exempla- risch für dieses Zurichten in den Heimen waren Strafen wie Einsperren, Lohnentzug, Taschengeldent- zug, Ausgangssperre, zwangsweises Haarschneiden, Bartschneiden, der morgendliche Appell. Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre nahmen die Sachbeschädigungen in den Heimen und die tätlichen Angriffe von Jugendlichen und Kindern auf Erwachsene zu. Ein furchtbares Kapitel waren die zwangsweisen Untersuchungen der entwichenen Mädchen auf Geschlechtskrankheiten. Im Hauptpfle- geheim stürzten sich verzweifelte Mädchen aus dem Fenster. Unsere Arbeitsbelastung war unbe- schreiblich. So weit Peter Wiedemann, stellvertretender Leiter der Heimaufsicht des Berliner Jugendsenats 1970/71. Ich lese Ihnen jetzt ein Zitat aus dem Brief einer Ehemaligen aus einem staatlichen Berliner Kinderheim vor: Ich wurde 1956 in Berlin als Tochter einer Prostituierten geboren. Nur allein diese Tatsache bestimmte unmittelbar für 17 Jahre mein Schicksal in unterschiedlichen Heimen, mittelbar