Soziale Arbeit Soziale gesellschaftlicher psychischen Erkrankungen T eilhabe vonMenschenmit Wohnungs­losigkeit Soziale Gemeinwesenarbeit 11.2020 und Corona Arbeit inZeiten ­Umbrüche Wohnen inder | | | |

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Nachruf Bezirksamt­ Charlottenburg in der Familienfürsorge tätig. 1971 wechselte sie in die Senatsverwaltung für ­Jugend und Sport und übernahm dort die Leitung der Arbeitsgruppe Aufsicht und Beratung für Kinder- tagesstätten. Daneben absolvierte sie 1971 bis 1976 berufsbegleitend die Ausbildung zur Trainerin für Gruppendynamik und übernahm auch zahlreiche Lehraufträge an der Pädagogischen Hochschule ­ und der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege. Ab 1976 wurde Ingrid Stahmer in ver­ schie­dene Funktionen in der SPD gewählt, sie gehörte dem Kreisvorstand Charlottenburg an, wurde Abtei- lungsvorsitzende, Landesdelegierte, Vorsitzende des Fachausschusses für Soziales und stellvertretende Prof. Ingrid Stahmer Landesvorsitzende.1981 und erneut 1985 wurde sie Bürgermeisterin a.D. und Senatorin a.D. zur Stadträtin für Sozialwesen und stellvertretenden Bezirksbürgermeisterin von Charlottenburg gewählt. Am 30. August 2020 starb plötzlich und uner­ Von 1989 bis 1991 gehörte sie als Bürgermeisterin wartet Prof. Ingrid Stahmer, kurz vor Vollendung und Senatorin für Gesundheit und Soziales dem rot- ­ihres 78. Lebensjahres. Die frühere Bürgermeisterin grünen Senat von an, nach der Bil- von Berlin und Senatorin war mit Beschluss des Ber- dung der Großen Koalition 1991 gab sie das Bürger- liner Senats vom 27. Februar 1990 in das Amt der meisteramt und das Gesundheitsressort an Ost-Ber­- Vorstandsvorsitzenden der Stiftung Deutsches Zen­ liner Senatsmitglieder ab, blieb aber Senatorin für tralinstitut für soziale Fragen (DZI) berufen worden Soziales. Im November 1994 übernahm sie zusätzlich und übte dieses Amt bis zu ihrem Tod aus. Keine*r das Jugendressort. 1995 unterlag sie bei der Abgeord­ 402 ihrer 18 Vorgänger*innen,­ zwei Frauen und 16 Män- netenhauswahl als Spitzenkandidatin der SPD der ner, trug die Verantwortung für das 1893 gegründete von geführten CDU und wurde Institut auch nur annähernd so lange wie sie. Senatorin für Schule, Jugend und Sport. Mit der Wahl 1999 schied sie aus dem Senat aus und arbeitete „Als Vorstandsvorsitzende hat sie das DZI zu seitdem freiberuflich als Gruppendynamikerin in ­einer höchst angesehenen Institution entwickelt. Mit ­Organisationen und im Coaching. 2003 wurde sie der Einführung des Spenden-Siegels hat Professorin zur Honorarprofessorin an der Alice Salomon Hoch- Stahmer den Spendenmarkt und die Welthungerhilfe schule Berlin ernannt.1 nachhaltig geprägt“, schreiben im Kondolenzbuch die Vorstände der Deutschen Welthungerhilfe, Matthias Ingrid Stahmer war Zeit ihres Lebens auch vielfäl- Mogge und Christian Monning. Die Diözesancaritas- tig ehrenamtlich engagiert. Neben dem Vorstands- direktorin im Erzbistum Berlin Prof. Dr. Ulrike Kostka vorsitz beim DZI engagierte sie sich seit 2002 im Auf­ stellt heraus, Ingrid Stahmer habe „in ihren vielen trag des Abgeordnetenhauses als Vorsitzende des verschiedenen Funktionen viel zur Solidarität und Kuratoriums für die jährlich vergebene Louise-Schrö- zur Entwicklung des Sozialstaates beigetragen. Sie der-Medaille, die das Berliner Parlament verdienten hat vielen konkret geholfen und auch im Land Berlin ­Frauen und Institutionen verleiht. Über Jahrzehnte viele wichtige Prozesse zur Schaffung einer innova­ ­- gehörte sie dem Vorstand des Instituts für soziale ti­ven, bedarfsgerechten Infrastruktur ange­stoßen und Demokratie (August-Bebel-Institut) an, bis zu ihrem begleitet. Das DZI lag ihr immer besonders am Herzen Tod als dessen Vorsitzende. Von 2009 bis 2019 war und sie hat sich sehr für diese ­wichtige Institution sie Sprecherin der Berliner Landesarmutskonferenz.­ eingesetzt“. Das vielfältige soziale und politische Enga­gement ­Ingrid Stahmers bringt Elke Breitenbach, die heutige Ingrid Stahmer machte 1962 Abitur in Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, in ihrer und trat 1964 in die SPD ein. Nach der Ausbildung Würdigung auf den Punkt: „Berlin verliert eine auf- Soziale Arbeit 11.2020 zur Sozialarbeiterin war sie von 1966 bis 1971 im 1 Brüning, Andreas: Soziale Arbeit ist politisch. In: Alice 7.2004, S. 4-6. rechte Frau, die immer gegen Armut und Aus­gren­ Ingrid Stahmer wird in vielen Schilderungen und zung gekämpft hat. Bis zu ihrem Lebensende hat den nicht wenigen zu ihr veröffentlichten biografi- ­Ingrid Stahmer den Ausgegrenzten eine Stimme ge- schen Texten als starke, zielstrebige, zugleich humor- geben und sich für die Rechte der Frauen eingesetzt.“ volle und auf Partizipation und Kooperation zielende Persönlichkeit beschrieben. Eine starke Frau – so In den rund 30 Jahren des gemeinsamen Wirkens selbstbewusst, dass sie keinen vordergründig macht- im DZI für die Soziale Arbeit und für ein vertrauens- bewussten, „straffen“ Führungsstil benötigte, um würdiges, transparentes Spendenwesen haben viele zu gestalten und zu führen. So stark auch, dass sie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter „ihre“ Vorsitzende Autorinnen wie Charlotte Wiedemann 1995 eine bril- auch von der privaten Seite kennenlernen dürfen – lante biografische Nahaufnahme3 erlaubte, erschie- bei Gesprächen am Rande von Veranstaltungen wie nen in „Die Woche“ und nachgedruckt 1996 in der dem jährlichen Spenden-SiegelFORUM, beim 2010 „Emma“, in der offen und ehrlich nachgezeichnet eingeführten DZI-Sommerfest und sogar bei dem ein wird, wie das Familienumfeld, Kindheit und Jugend oder anderen Betriebsausflug, den die Vorsitzende Ingrid Stahmer zu der unabhängigen, liebenswürdi- mitgemacht und bei dem sie sich viel Zeit für Gesprä­ gen und erfolgreichen Frau haben werden lassen, che genommen hat. Auch die Geburtstagsfeiern je- als die wir im DZI und die vielen Wegbegleiter*innen weils im September in der Stahmerschen Wohnung sie erleben durften. eröffneten neben anregenden Gesprächen innerhalb des großen, bunten persönlichen Netzwerks von Das DZI hat Ingrid Stahmer so viel zu verdanken. ­Ingrid Stahmer auch die Anteilnahme an privaten Die mutige, von Kontroversen begleitete Einführung Gedanken, Ärgernissen, Traurigkeiten und vielen des Spenden-Siegels 1992 hat sie überzeugt und Freuden, die ihre Augen dann förmlich blitzen ließen. überzeugend gefördert und unterstützt; fast „neben- her“ wurde die seit Jahrzehnten überfällige Grund­ Kunst und Kultur, auch dies eine Leidenschaft, sanierung des Institutsgebäudes in der Bernadotte- der Ingrid Stahmer mit Leichtigkeit und Akribie zu- straße finanziert und durchgeführt. Als die Berliner gleich nachkam, und die sie über all die Jahrzehnte Haushaltskrise zehn Jahre später die Finanzierung 403 ­ihrer glücklichen Ehe mit Günter Stahmer mit diesem des DZI seitens des Landes Berlin gefährdete, sicherte verband. Sein Tod im Jahr 2003 traf Ingrid Stahmer sie mit ihren Verbindungen, ihrem Willen und ihrer tief, doch sie kämpfte sich aus der Trauer heraus, mit Überzeugungskraft die Aufrechterhaltung der so der ihr eigenen Kraft, ihrem Willen und ihrer Lebens- ­genannten „Sitzlandquote“ und hielt damit der freude. Wie froh war sie, dass sie mit Wolf-Dieter ­Geschäftsführung und dem hauptamtlichen Team ­Tuchel in ihren letzten Lebensjahren einen neuen den Rücken frei, um in den folgenden Jahren die Lebens­partner fand. Eigene Kinder blieben Ingrid und ­Eigenfinanzierung deutlich auszubauen und mit dem Günter Stahmer versagt; dass sie sich auch deshalb Bundesentwicklungsministerium einen dritten gro- in die Politik warf 2, ist nur die halbe Wahrheit. Denn ßen Zuwendungsgeber zu gewinnen. Bei alldem trat zugleich kümmerten sich beide viele Jahre lang um Ingrid Stahmer stets für das Neben- und Miteinander ihre „Vizekinder“, die Kinder von Nachbarn und beider großer Arbeitsbereiche des DZI ein, der Sozia- Freunden und natürlich ihren Neffen und ihre Nichte. len Literatur und der Spenderberatung. Als 2015 der Susanne Gerull, renommierte Professorin für Soziale Stiftungs­beirat neu konzipiert wurde, war klar: es Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin, be- wird weiter nur einen Beirat für das gesamte DZI schreibt die liebevolle, familiäre Art Ingrid Stahmers ­geben, und nicht etwa zwei Fachbeiräte für jeden in ihrem Nachruf mit einer wunderbar sympathischen der beiden Themenbereiche. Anekdote: „Sie war mit meinen Eltern befreundet (…) Gern hat sie bei unserer späteren beruflichen Das DZI sagt: Danke, Ingrid Stahmer! Wir werden Zusammenarbeit einem Fachpublikum oder auch ihr stets ein ehrendes Andenken bewahren. der versammelten Presse mitgeteilt, dass ich früher auf ihrem Schoß gesessen habe, denn so war sie: Burkhard Wilke ­immer spontan und frei heraus, ­dabei empathisch Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter und zugewandt.“ des DZI Soziale Arbeit 11.2020

2 Foster, Helga: Ingrid Stahmer. Die soziale Demo­ 3 Wiedemann, Charlotte: Frauen-Geschichten. kratin und ihre Behörde, die Senatsverwaltung für In: Emma, 4/1996, S. 83 f. Gesundheit und Soziales. In: Foster, H.: Frauen mit Macht. Pfaffenweiler 1995, S. 83-88.