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Mit Goethe durch das Jahr 2020

Goethe und die Musik – zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven Herausgegeben und mit einem Essay von Jochen Klauß

Dudenverlag Berlin

GK_2020_Inhalt.indd 3 30.04.19 09:43 Umschlagmotive: Ludwig van Beethoven, Gemälde von Joseph Karl Stieler, 1820, Beethoven-Haus, Bonn Johann Wolfgang Goethe, Gemälde von Joseph Karl Stieler, 1828, Neue Pinakothek, München

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Gestaltung: nxt.digital, Düsseldorf Umschlaggestaltung: Sauerhöfer Design, Neustadt/Weinstraße Druck: Pustet Grafischer Großbetrieb, Gutenbergstraße 8, 93051 Regensburg ISBN 978-3-411-16058-7 kartoniert ISBN 978-3-411-16059-4 Kassette www.duden.de

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Goethe war vor allem ein Augenmensch, aber auch dem Tastsinn maß er große Bedeutung bei. Der Mu- sik als der abstraktesten der Künste näherte er sich vor allem durch Nachdenken, weniger durch Genuss beim Hören. Freimütig gestand Goethe das in einem Brief an seinen Freund, den Komponisten und Leiter der Sing-Akademie zu Berlin, Carl Friedrich Zelter, vom 19. Juni 1805: »Ich habe nur leider nie das Glück gehabt, neben mir einen tüchtigen Tonkünstler zu besitzen, mit dem ich gemeinschaftlich gearbeitet hätte, und daher habe ich mich immer in solchen Fällen an das Stoppeln und Zusammensetzen halten müssen …« Bereits ein gutes halbes Jahr vorher, am 27. Februar 1804, hatte er gegenüber Zelter bedau- ernd zugegeben, er habe diesen Winter »fast gar kei- ne Musik vernommen, und ich fühle, welch ein schö- ner Teil des Lebensgenusses mir dadurch abgeht.« Dabei gab es schon für den Heranwachsenden immer wieder Berührungspunkte mit dieser Kunst: Der Vater Johann Caspar liebte und spielte die Lau- te, die Mutter Catharina Elisabeth das Klavier, die Schwester Cornelia sang. Die beiden Musiklehrer, der Frankfurter Cembalist Johann Andreas Bismann, der Goethe von 1763 bis 1766 Klavierunterricht er- teilte, und der Straßburger Cellist Basch, bei dem Goethe von 1770 bis 1771 Unterricht nahm, erfüll- ten die in sie gesetzten, zum Teil hohen Erwartungen nicht; nachhaltige Begeisterung für Musik konnten diese Lehrer nicht wecken. Nur in , wo Goethe von 1765 bis 1768 studierte und im Haus der be -

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Entwurf zur Familie Goethe (Johann Caspar Goethe und Catharina Elisabeth Goethe), Zeichnung von Johann Conrad Seekatz, o. J.

rühmten Musikerfamilie Breitkopf ein und aus ging, spielte er gelegentlich die Flöte. Bereits in dieser frühen Zeit verfestigte sich Goe- thes Neigung, Musik vor allem zu rezipieren anstatt sie aktiv zu pflegen. Der Mangel an guten Beratern oder der fehlende Umgang mit kongenialen Geistern verstärkte diesen Zug noch. In Italien konnte er sich für die damals schon im Niedergang begriffene erns- te Opera seria und ihr geistliches Pendant, die Opera sacra, nicht erwärmen. Allein die komischen Opern Domenico Cimarosas, eines Zeitgenossen, dessen Musik Goethe bereits vor der Italienreise bei einer

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Johann Wolfgang von Goethe, Glockentasse mit Miniaturbild von Julius Ludwig Sebbers, 1826

Aufführung der Bellomo’schen Theatergesellschaft 1783 in kennengelernt hatte, begeisterten ihn. Auch der italienische Volksgesang und die frühe Kirchenmusik eines Palestrina oder Allegri fesselten ihn. Wieder zurück in Weimar fand Goethe nach 1788 nur musizierende Dilettanten vor. Auch die professi- onellen Musiker der Hofkapelle konnten das Defizit an musikalischen Hochgenüssen nicht ausgleichen. So ließ sich der von der großen Musik Abgeschnit- tene gern von durchreisenden Musikern und von Künstlern des Weimarer Zirkels vortragen. Durch-

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Johann Caspar Goethe (links) und Catharina Elisabeth Goethe (rechts), jeweils Pastell auf Leinwand von Hermann Philipp Ludwig Friedrich Junker, 1880 und 1885

aus respektable, ja berühmte Namen fi nden sich unter ihnen, so Felix Mendelssohn, Carl Maria von Weber, Niccolò Paganini, die polnische Komponistin Maria Szymanowska oder Clara Wieck, die spätere Frau Robert Schumanns, die 1831 zwölfjährig dem 82-jährigen Goethe vorspielte. Werke von Johann Sebastian Bach, Carl Philipp Emanuel Bach, Georg Friedrich Händel, Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, Johann Nepomuk Hummel oder Ludwig van Beethoven erklangen bei Goethes Hauskonzerten am Frauenplan, im Residenzschloss oder auf der Bühne des Hoftheaters. Die Vokalmusik dominierte bei die- sen Konzerten. Es war vor allem Mendelssohns Ver-

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dienst, Goethe für die neue »absolute« Instrumen- talmusik zu öffnen. Für den Dichterfürsten hatte die Musik bis dahin nur eine dienende Rolle eingenom- men, um den Ausdruck von Dichtung zu verstärken oder eine Gesellschaft zu unterhalten. Zeitgenössischen Komponisten wie Hector Ber- lioz oder vor allem Franz Schubert und dessen »durch- komponierten« Vertonungen seiner Gedichte stand Goethe auch aus diesem Grund teils mit Unverständ- nis gegenüber. Seine Ablehnung von Franz Schubert war – wie es Gero von Wilpert formulierte – »ein be- dauerlicher Fall von Unkenntnis, Unverständnis und Nichtbeachtung«. Zu seinem negativen Urteil trugen konservative Berater bei, wie etwa Philipp Christoph Kayser, später Johann Friedrich Reichardt und vor allem Carl Friedrich Zelter, der musikalische Berater des alten Goethe. Bezeichnend für Goethes theoreti- sches Herangehen an musikalische Fragen war sein Unterfangen, eine Tonlehre ähnlich der Farbenlehre zu entwickeln, das er bis 1810 verfolgte. Anlässlich eines Konzerts in Eger um das Jahr 1822 – so vom beteiligten Musiker Joseph Player überliefert – soll der Dichter postuliert haben: »Wer Musik nicht liebt, verdient nicht, ein Mensch genannt zu werden, wer sie nur liebt, ist erst ein halber Mensch, wer sie aber treibt, ist ein ganzer Mensch.« Hierzu passt das traurige Schicksal des Enkels Walther von Goethe, dessen bescheidenes musikalisches Talent für ein ei- genes Künstlerdasein nicht ausreichte, das aber ge- nügen sollte, dem Großvater an die Seite gestellt zu werden – welche Tragik, welche Verkennung und wel- che Anmaßung durch die ehrgeizige Mutter Ottilie!

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Johann Sebastian Bach, Hector Berlioz, Gemälde von Richard Denkmalentwurf für Eisenach Lauchert, 1855 von Karl Adolf Donndorf, o. J.

Musik in Goethes Elternhaus Friedrich Georg Goethé, der Großvater des Dichters väterlicherseits, wird in »Dichtung und Wahrheit«, der Autobiografie Johann Wolfgangs, weitgehend totgeschwiegen. Die Gründe für diesen erstaunli- chen Umstand – einen wohl biederen, aber cleveren und zielstrebigen Schneidermeister und späteren geschäftstüchtigen Gastwirt aus der eigenen Ah- nenreihe auszumerzen – haben Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz und Joachim Seng unlängst in der spannenden Biografie »Monsieur Göthé: Goethes unbekannter Großvater« offengelegt. Schon Goethes Vater beseitigte gründlich die Erinnerungen an den eigenen Vater bis hin zur Namensänderung, obwohl er ihm sein finanziell sorgloses Leben verdankte. Nur an ganz wenigen Stellen werden in den angeführ-

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ten Quellen Berührungspunkte mit Musik oder mit Musikern deutlich, doch ist es unzweifelhaft, dass Musik zum Lebensstil und Alltagsgeschäft des weit gereisten und weltkundigen Schneiders und späteren Gastwirts im Frankfurter »Weidenhof« gehörte. Der Großvater, so der Enkel, »pries die Hospitalität alter Zeiten, und so ungern er sonst auch etwas Unge- wohntes im Hause duldete, so übte er doch Gast - freundschaft, besonders an Künstlern und Virtuo- sen; wie denn Gevatter Seekatz immer sein Quartier bei uns behielt und Abel, der letzte Musiker, welcher die Gambe mit Glück und Beifall behandelte, wohl aufgenommen und bewirtet wurde«. Der berühm- te Frankfurter Arzt Johann Christian Senckenberg notierte noch 1755, Jahrzehnte nach Goethés Tod, dieser »sei sonst ein artiger, aber hochmütiger Kerl gewesen, der die Musik wohl verstanden, aber über seinen Hochmut von Sinnen gekommen sei«. Es gab also durchaus eine musikalische Tradition in der Familie. So war es für den Vater selbstver- ständlich, Johann Wolfgang und dessen Schwester Cornelia »in der Musik unterrichten zu lassen; (…) Dass wir das Klavier lernen sollten, war ausgemacht; allein über die Wahl des Meisters war man immer streitig gewesen«. Ein Zufall gab den Ausschlag für Johann Andreas Bismann, doch die anfängliche Eu- phorie, vom begeisterten Bruder auf die Schwester übertragen, wandelte sich bald in völlige Enttäu- schung. Ein im Haus am Großen Hirschgraben ange- stellter Hauslehrer namens Leopold Heinrich Pfeil, ein Faktotum des Vaters, steigerte diese Klavierwut, indem er, der auch Musikstunden geben musste, sich

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GK_2020_Inhalt.indd 11 16.04.19 11:48 Endlich komme ich einmal zufälligerweise in das Zimmer eines meiner Gesellen, der eben Klavier- stunde nimmt, und finde den Lehrer als einen ganz allerliebsten Mann. Für jeden Finger der rechten und linken Hand hat er einen Spitznamen, womit er ihn aufs Lustigste bezeichnet, wenn er gebraucht wer- den soll. Die schwarzen und weißen Tasten werden gleichfalls bildlich benannt, ja die Töne selbst erscheinen unter figürlichen Namen. Eine solche bunte Gesellschaft arbeitet nun ganz vergnüglich durcheinander. Applikatur und Takt scheinen ganz leicht und anschaulich zu werden, und indem der Schüler zu dem besten Humor aufgeregt wird, geht auch alles zum Schönsten vonstatten. Kaum war ich nach Hause gekommen, als ich den Eltern anlag, nunmehr Ernst zu machen und uns diesen unvergleichlichen Mann zum Klaviermeister zu geben. Man nahm noch einigen Anstand, man erkundigte sich; man hörte zwar nichts Übles von dem Lehrer, aber auch nichts sonderlich Gutes. Ich hatte indessen meiner Schwester alle die lustigen Benennungen erzählt, wir konnten den Unterricht kaum erwarten und setzten es durch, dass der Mann angenommen wurde. Das Notenlesen ging zuerst an, und als dabei kein Spaß vorkommen wollte, trösteten wir uns mit der Hoffnung, dass, wenn es erst ans Klavier gehen würde, wenn es an die Finger käme, das scherzhafte Wesen seinen Anfang nehmen würde. Allein weder Tastatur noch Fingersetzung schien zu einigem Gleichnis Gelegenheit zu geben. So trocken wie die Noten, mit ihren Strichen auf und zwischen den

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GK_2020_Inhalt.indd 12 16.04.19 11:48 fünf Linien, blieben auch die schwarzen und wei- ßen Klaves, und weder von einem Däumerling noch Deuterling noch Goldfinger war mehr eine Silbe zu hören; und das Gesicht verzog der Mann so wenig beim trocknen Unterricht, als er es vorher beim trocknen Spaß verzogen hatte. Meine Schwester machte mir die bittersten Vorwürfe, dass ich sie ge- täuscht habe, und glaubte wirklich, es sei nur Erfin- dung von mir gewesen. Ich war aber selbst betäubt und lernte wenig, ob der Mann gleich ordentlich ge- nug zu Werke ging: Denn ich wartete immer noch, die frühern Späße sollten zum Vorschein kommen, und vertröstete meine Schwester von einem Tage zum andren. Aber sie blieben aus, und ich hätte mir dieses Rätsel niemals erklären können, wenn es mir nicht gleichfalls ein Zufall aufgelöst hätte. Einer meiner Gespielen trat herein, mitten in der Stunde, und auf einmal eröffneten sich die sämtli- chen Röhren des humoristischen Springbrunnens; die Däumerlinge und Deuterlinge, die Krabler und Zabler, wie er die Finger zu bezeichnen pflegte, die Fakchen und Gakchen, wie er z. B. die Noten f und g, die Fiekchen und Giekchen, wie er fis und gis benannte, waren auf einmal wieder vorhanden und machten die wundersamsten Männerchen. Mein junger Freund kam nicht aus dem Lachen, und freute sich, dass man auf eine so lustige Weise so viel lernen könne. Er schwur, dass er seinen Eltern keine Ruhe lassen würde, bis sie ihm einen solchen vortrefflichen Mann zum Lehrer gegeben.

(Johann Wolfgang von Goethe, »Dichtung und Wahrheit«, Erster Teil, Viertes Buch, 1811)

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in seiner Vielseitigkeit für das Klavierspiel zu interes- sieren begann. Goethe dazu: »Durch diese Neigung zum Klavierspielen ward Pfeil auf die Instrumente selbst geführt, und indem er sich die besten zu ver- schaffen hoffte, kam er in Verhältnisse mit Friederici in Gera, dessen Instrumente weit und breit berühmt waren. Er nahm eine Anzahl davon in Kommission und hatte nun die Freude, nicht nur etwa einen Flü- gel, sondern mehrere in seiner Wohnung aufgestellt zu sehen, sich darauf zu üben und hören zu lassen. Auch in unser Haus brachte die Lebendigkeit die- ses Mannes einen größern Musikbetrieb. (…) Auch für uns ward ein großer Friederici’scher Flügel an- geschafft, den ich, bei meinem Klavier verweilend, wenig berührte, der aber meiner Schwester zu desto größerer Qual gedieh, weil sie, um das neue Instru- ment gehörig zu ehren, täglich noch einige Zeit mehr auf ihre Übungen zu verwenden hatte …« Die wichtigste und vielleicht auch bis dahin be- deutendste Begegnung mit einem Musikgenie hat- ten der 14-jährige Johann Wolfgang und die jüngere Schwester Cornelia, als sie in einem Kon- zert des siebenjährigen Mozart am 25. August 1763 beiwohnten. Das Ereignis verarbeitete Goethe nicht in »Dichtung und Wahrheit«, dürfte den Jugendlichen jedoch schon stark beeindruckt haben. Eckermann hat ein Gespräch mit dem alten Dichter überlie- fert, das am 14. Februar 1831 stattgefunden haben soll. Merkwürdig sei, so eröffnete Eckermann das Gespräch, dass sich das Musiktalent am frühesten zeige, »sodass Mozart in seinem fünften, Beethoven in seinem achten und Hummel in seinem neunten

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