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CORNELIA ZUMBUSCH Dämonische Texturen. Der durchkreuzte Wunsch in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahren

„Der alternde Goethe“, so stellt Fritz Mauthner nicht ohne Ironie fest, „liebte die Worte Dämonen und dämonisch.“ Insbesondere im Gespräch mit Ecker- mann habe sich sein „Aberglaube an freundlich gesinnte Dämonen [...] gern und oft redselig“ geäußert: je höher ein Mensch, desto mehr stehe er unter dem Einfluß der Dämonen; Raphael, Mozart, Napoleon, auch Lord Byron, werden dämonisch genannt; das Dämonische werfe sich gern an bedeutende Figuren; in einer klaren prosaischen Stadt, wie Berlin, fände es kaum Gelegenheit sich zu manifestieren (1831). Sehr drollig ist es, wenn die subalternen Freunde mit einer Art von Echolalie Goethes Greisenworte wiederholen, und z.B. Eckermann eine kleine Abhandlung über das Dämonische zum besten gibt.1 Das Material für seine Bemerkungen zu Goethes Greisenstil und Eckermanns Echolalie findet Mauthner in den Gesprächen Eckermanns mit Goethe aus dem Jahr 1831. Diese Unterhaltungen werden parallel zur Überarbeitung des Schlussteils von geführt, in dem Goethe mehrfach auf das Dämonische zu sprechen kommt. Den Auftakt zum zwanzigsten und letz- ten Buch seiner Autobiographie, die von der Zeit zwischen seiner ersten Schweizer Reise und dem Aufbruch nach erzählt, bildet ein Passus, in dem Goethe die Erzählung des eigenen Lebens zum Bildungsroman formt. Man habe „im Verlaufe dieses biographischen Vortrags umständlich gesehn, wie das Kind, der Knabe, der Jüngling sich auf verschiedenen Wegen dem Übersinnlichen zu nähern gesucht“. Was Kind, Knabe und Jüngling dabei ge- funden haben, wird zunächst ohne Namen eingeführt. Es bleibt ein „etwas“, dem weder „Begriff“ noch „Wort“ angemessen scheinen, wohl weil es sich durch eine irreduzible Zweideutigkeit auszeichnet: „Es war nicht göttlich, denn es schien unvernünftig, nicht menschlich, denn es hatte keinen Verstand, nicht teuflisch, denn es war wohltätig, nicht englisch, denn es ließ oft Scha- denfreude merken.“2 Seine fortsetzbare Differentialdiagnostik – dies ist es nicht, das auch nicht – sistiert Goethe schließlich in einer forcierten Namens- gebung: „Dieses Wesen, das zwischen alle übrigen hineinzutreten, sie zu son- dern, sie zu verbinden schien, nannte ich dämonisch.“3

1 Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philosophie [1907], Bd. 1, 2. Aufl., ,1923, S. 261- 263. 2 Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: Ders., Sämtli- che Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 1. Abt., Bd. 14, hg. v. Klaus-Detlef Müller, am Main, 1986, S. 839. 3 Ebd., S. 840.

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Mit der Vorstellung von einem dämonischen Wesen, in dem sich ein dazwi- schentretendes, zugleich trennendes und verbindendes Prinzip verkörpern soll, greift Goethe die antike Auffassung vom daimon als einem Zwischenwesen, Boten und Vermittler auf.4 Das Konzept vom Dämonischen als Verbindungs- glied zwischen materieller und immaterieller Welt wird im Verlauf des Textes allerdings doppelt modernisiert, insofern das Dämonische einerseits als Chiff- re für eine mitgegebene Persönlichkeitsprägung fungiert, andererseits als Kon- tingenzbewältigungsmetapher einspringt. Goethe leitet von den allgemeinen Reflexionen aufs Dämonische zunächst zur Deutung des über, in dem das Dämonische „von beiden Seiten im Spiel“ gewesen sei.5 An die Deutung des eigenen Jugendwerks knüpft der Erzähler nun ein Stück spät gewonnener Altersweisheit an. Er wolle „um mancher geliebten Leser willen“ sich selbst „vorgreifen“ und etwas „aussprechen“, von dem er sich „erst viel später über- zeugte“.6 Was folgt, ist eine weitere Unterscheidung innerhalb des ohnehin schon mehrdeutigen Dämonischen. Einerseits erscheine es als überpersönli- ches Prinzip, das sich in allem „Körperlichen und Unkörperlichen manifes- tieren“ könne, andererseits zeige es sich in besonderen Individuen, die durch ihre „ungeheure Kraft“ über ihre Mitmenschen eine entsprechend „unglaubli- che Gewalt“7 ausüben. Diese und andere Inkongruenzen in Goethes Begriffsverwendung sind in der Forschung immer wieder notiert worden. Hat man nur mit einem dämoni- schen Prinzip zu rechnen oder mit vielen Dämonen, sind sie im Menschen an- zutreffen oder handelt es sich um überpersönliche Mächte, sind deren Kräfte

4 Als Grundbestimmung scheint sich (auf der zwar nicht ganz gesicherten etymologischen Ba- sis einer Ableitung von daiesthai, teilen, zuteilen) angeben zu lassen, dass „der Dämon als Zuteiler von Gutem und Bösem gegolten haben dürfte“, als „Mittelwesen zwischen Göttern und Menschen, das kosmische Vorgänge und menschliches Schicksal positiv oder negativ be- einflußt.“ Georges Tavard, „Dämonen“, in: Theologische Realenzyklopädie, hg. v. Horst Ro- bert Balz, Stuart G. Hall u.a., Bd. VIII, Berlin, New York, 1981, S. 270-300, hier: S. 270. Während die Geschichte der „Dämonen“ nicht zuletzt eine der christlichen Dämonisierung gewesen ist, in der Dämonen schließlich nur noch als boshafte und schädliche Kräfte aufge- fasst werden konnten, greift Goethe mit seiner ambivalente Rede vom „Dämonischen“ auf die antike Vorstellung vom daimon als „neutrale Wirkkraft“ zurück. Christoph Daxelmüller, „Dämon“, in: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und verglei- chenden Erzählforschung, hg. v. Hermann Bausinger, Wolfgang Brückner u.a., Berlin, New York, 1981, S. 223-259, hier: S. 224. Goethes Rekurs auf die antiken Prägungen hat Angus Nicholls ausführlich rekonstruiert in Goethe’s Concept of the Daemonic. After the Ancients, Rochester, 2006. 5 Goethe, Dichtung und Wahrheit, S. 841. Die Fährte, die Goethe im anschließenden Absatz im Verweis auf die Geschichte der Niederlande und den Egmont auslegt, hat einigen Deutungen des Dramas den Weg gewiesen. Konrad Schaum, „Dämonie und Schicksal in Goethes ‚Eg- mont‘“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 10 (1960), S. 139-157; Georges A.Wells, „Egmont and ‚Das Dämonische‘“, in: German Life and Letters 24 (1970/71), S. 53-67; Arjan van Dyck, „Das Dämonische als moderne Rezeptionskategorie. Dargestellt an Goethes Eg- mont und “, in: Neophilologus 83 (1999), S. 427-443. 6 Goethe, Dichtung und Wahrheit, S. 841. 7 Ebd.