Plenarprotokoll 12/213

Deutscher Bundesta g

Stenographischer Bericht

213. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Inhalt:

Glückwünsche zu den Geburtstagen der der Leitzinsen und durch eine euro- Abgeordneten Dr. Franz-Josef Mertens päische Konjunkturinitiative aus der (Bottrop) und Klaus Lennartz . 18347A, 18374 B Rezession führen (Drucksachen 12/5362, 12/6665) Wahl des Abgeordneten Torsten Wolf- gramm (Göttingen) als ordentliches und b) Aktionsprogramm II für mehr Wachs- Dr. als stellvertretendes Mit- tum und Beschäftigung glied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats 18347 B — Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Erweiterung der Tagesordnung 18347 B Bundesregierung über den Stand der Umsetzung der Maßnahmen zur Zukunftssicherung des Standortes Nachträgliche Überweisungen von Gesetz- entwürfen sowie einer Unterrichtung an Deutschland und des Aktionspro- Ausschüsse 18347 C gramms für mehr Wachstum und Beschäftigung (Drucksache 12/6907) Absetzung des Zusatzpunktes 1 a und b von — Erste Beratung des von den Fraktio- der Tagesordnung 18409 C nen der CDU/CSU und F.D.P. einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes Tagesordnungspunkt 3: zur Änderung des Umwandlungs- steuerrechts (Drucksache 12/6885) a) Sicherung des Zukunftsstandortes Deutschland — Erste Beratung des von den Abge- ordneten Dirk Fischer (), — Beratung der Unterrichtung durch Dr. , weiteren Abgeord- die Bundesregierung: Jahreswirt- neten und der Fraktion der CDU/ schaftsbericht 1994 der Bundesre- CSU sowie den Abgeordneten Ekke- gierung (Drucksache 12/6676) hard Gries, , weiteren — Beratung der Unterrichtung durch Abgeordneten und der Fraktion der die Bundesregierung: Jahresgut- F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines achten 1993/94 des Sachverständi- Gesetzes über den Bau und die genrates zur Begutachtung der ge- Finanzierung von Bundesfernstra- samtwirtschaftlichen Entwicklung ßen durch Private (Fernstraßenbau- (Drucksache 12/6170) privatfinanzierungsgesetz) (Druck- sache 12/6884) — Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für — Unterrichtung durch die Bundesre- Wirtschaft zu dem Antrag der Abge- gierung: Bericht der Bundesregie- ordneten Dr. Uwe Jens, Hermann rung über das Programm zur Schaf- Bachmaier, weiterer Abgeordneter fung zusätzlicher Teilzeitarbeits- und der Fraktion der SPD: Die deut- plätze im öffentlichen Dienst sche Wirtschaft durch Senkungen (Drucksache 12/6936) II Deutscher — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

— Beratung der Unterrichtung durch Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekre die Bundesregierung: Förderung tär BMF 18404 A von Teilzeitbeschäftigung bei den Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) fraktions Bundesressorts (Drucksache 12/6868) los 18405A — Beratung der Unterrichtung durch Dr. Ulrich Janzen SPD 18405 C die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zur Verringerung Dr. Ulrich B riefs fraktionslos 18406B von Beteiligungen und Liegen- Ortwin Lowack fraktionslos 18407 D schaften des Bundes (Drucksache 12/6889) Tagesordnungspunkt 13: — Unterrichtung durch die Bundes- Überweisungen im vereinfachten Verfah- regierung: Aktionsprogramm für ren mehr Wachstum und Beschäftigung a) Erste Beratung des von der Bundesre- Bericht der Bundesregierung zur gierung eingebrachten Entwurfs eines Intensivierung des Dialogs zwi- Gesetzes zur Änderung von Vorschrif- schen Wirtschaft, Wissenschaft und ten über die Deutsche Bundesbank Staat zu Forschung, Technologie (Drucksache 12/6909) und Innovation (Drucksache 12/ 6934) b) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister Gesetzes zu dem Vertrag vom 16. De- 18349A BMWi zember 1992 zwischen der Bundesrepu- Hans Büttner (Ingolstadt) SPD 18351 C blik Deutschland und der Russischen , Ministerpräsident des Föderation über die Zusammenarbeit Saarlandes 18352D und die gegenseitige Unterstützung der Zollverwaltungen (Drucksache 12/ Dr. F.D.P. 18354 B 6906) Dr. CDU/CSU . . . 18355B - c) Erste Beratung des von der Bundesre- Rainer Haungs CDU/CSU 18360A gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom Siegmar Mosdorf SPD 18361A 16. September 1988 über die gerichtli- Dr. F.D.P. 18364C, 18374B, che Zuständigkeit und die Vollstrek- 18375A, 18388B kung gerichtlicher Entscheidungen in Dr. PDS/Linke Liste 18368A, 18374 C Zivil- und Handelssachen (Drucksache 12/6838) () BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 18371C, 18374 D d) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines , Bundesminister BMV 18375 B Gesetzes zu dem Abkommen vom Ingrid Matthäus-Maier SPD 18376 A 25. Juni 1993 zwischen der Bundesre- publik Deutschland und der Republik Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) F.D.P. 18376D Georgien über den Luftverkehr (Druck- Dr. Uwe Jens SPD 18377 D sache 12/6849) Uta Würfel F.D.P. 18380 B e) Erste Beratung des von der Bundesre- Ernst Hinsken CDU/CSU 18381 B gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom Ernst Schwanhold SPD 18382 A 29. Juni 1993 zwischen der Regierung Jürgen Timm F D P 18384 C der Bundesrepublik Deutschland und Detlev von Larcher SPD 18385 C der Regierung der Sozialistischen Re- publik Vietnam über die Seeschiffahrt SPD . . . . 18386A, 18388D (Drucksache 12/6850) Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA . 18389A f) Erste Beratung des von der Bundesre- Hans-Eberhard Urbaniak SPD 18390C gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom Ottmar Schreiner SPD 18392 A 10. Juni 1993 zwischen der Regierung Dr. F.D.P. 18392 D der Bundesrepublik Deutschland und Friedhelm Ost CDU/CSU 18394A der Regierung der Ukraine über die Seeschiffahrt (Drucksache 12/6851) Dr. Uwe Jens SPD 18395 D g) Erste Beratung des von der Bundesre- Ernst Schwanhold SPD 18397 B gierung eingebrachten Entwurfs eines Erich Maaß (Wilhelmshaven) CDU/CSU 18399D Gesetzes zu dem Europäischen Über- einkommen vom 16. Oktober 1980 über Klaus Lennartz SPD 18401 B den Übergang der Verantwortung für Dr. Maria Böhmer CDU/CSU 18402 D Flüchtlinge (Drucksache 12/6852) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 III

Zusatztagesordnungspunkt 1 c: g) Beratung der Beschlußempfehlung des Beratung des Antrags der Fraktio- Haushaltsausschusses zu der Unterrich- nen der CDU/CSU, SPD und F.D.P.: tung durch die Bundesregierung: Über- Aktionsprogramme SOKRATES und planmäßige Ausgabe bei Kapitel 17 04 LEONARDO (Drucksache 12/6939) . . 18409C Titel 681 23 — Sonderleistungen für Zivildienstleistende nach Maßgabe Tagesordnungspunkt 14: des Unterhaltssicherungsgesetzes — (Drucksachen 12/6523, 12/6762) Abschließende Beratungen ohne Aus- sprache h) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrich- a) Zweite und dritte Beratung des von den tung durch die Bundesregierung: Über- Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. planmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr eingebrachten Entwurfs eines Dritten 1993 bei Kapitel 10 04 Titel 682 04 Gesetzes zur Änderung des Bundeszen- (Von den EG nicht übernommene (Drucksachen 12/ tralregistergesetzes Marktordnungsausgaben) (Drucksa- 6380, 12/6912, 12/6913) chen 12/6524, 12/6763) Zweite und dritte Beratung des von der b) i) Beratung der Beschlußempfehlung des Bundesregierung eingebrachten Ent- Haushaltsausschusses zu der Unterrich- wurfs eines Gesetzes zur Änderung tung durch die Bundesregierung: Über- von Vorschriften über das Schuldner- planmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 12 (Drucksachen 12/193, 12/ verzeichnis Titel 616 31 — Zuschuß an die Bundes- 6914) anstalt für Arbeit — (Drucksachen c) Beratung der Beschlußempfehlung und 12/6503, 12/6764) des Berichts des Innenausschusses zu j) Beratung der Beschlußempfehlung des der Unterrichtung durch die Bundesre- Haushaltsausschusses zu der Unterrich- gierung tung durch die Bundesregierung: Über- — Mitteilung der Kommission an das planmäßige Ausgabe bei Kapitel 25 02 Europäische Parlament und den Rat Titel 893 01— Prämien nach dem Woh- über den transeuropäischen Tele- nungsbau-Prämiengesetz und nach der matikverbund von Verwaltungen Verordnung zur Einführung des Bau- — Vorschlag für eine Entscheidung des sparens in dem in Artikel 3 des Eini- Rates über Leitlinien für den trans- gungsvertrages genannten Gebiet — europäischen Telematikverbund (Drucksachen 12/6522, 12/6765) von Verwaltungen k) Beratung der Beschlußempfehlung des — Vorschlag für eine Entscheidung des Haushaltsausschusses zu der Unterrich- Rates über eine mehrjährige Ge- tung durch die Bundesregierung: Über- meinschaftsaktion zur Unterstüt- planmäßige Ausgabe im Haushaltsjahr zung des transeuropäischen Tele- 1993 bis zur Höhe von 28 643 838,75 matikverbunds für den Datenaus- DM bei Kapitel 60 03 Titel 671 02 (1992) tausch zwischen Verwaltungen — Einmaliger Pauschalausgleich für (IDA) (Drucksachen 12/5749 Nr. 3.2, einigungsbedingte Sonderlasten der 12/6793) Kirchen — (Drucksachen 12/6494, 12/6766) d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raum- 1) Beratung der Beschlußempfehlung des ordnung, Bauwesen und Städtebau zu Petitionsausschusses: Sammelüber- der Unterrichtung durch das Europäi- sicht 141 zu Petitionen (Drucksache sche Parlament: Entschließung zu den 12/6886) Regionen mit geringer Bevölkerungs- m) Beratung der Beschlußempfehlung des dichte (Drucksachen 12/5181, 12/6820) Petitionsausschusses: Sammelüber- e) Beratung der Beschlußempfehlung und sicht 143 zu Petitionen (Drucksache des Berichts des Ausschusses für Wirt- 12/6888) 18410B schaft zu der Verordnung der Bundesre- (Fortsetzung): gierung: Aufhebbare Dreißigste Ver- Tagesordnungspunkt 2 ordnung zur Änderung der Außenwirt- Fragestunde schaftsverordnung (Drucksachen 12/ — Drucksache 12/6892 vom 25. Februar 6068, 12/6890) 1994 — f) Beratung der Beschlußempfehlung des Befürchtungen des Auswärtigen Amtes Haushaltsausschusses zu der Unterrich- wegen der Teilnahme des Dalai Lama an tung durch die Bundesregierung: Über- der 1200-Jahr-Feier der Stadt Frankfurt/ planmäßige Ausgabe bei Kapitel 18 03 Main Titel 642 07 — Ausgaben nach § 8 Abs. 2 des Unterhaltsvorschußgesetzes MdlAnfr 11 —(Drucksachen 12/6505, 12/6761) Ortwin Lowack fraktionslos IV Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Antw StMin'in Ursula Seiler-Albring AA 18412C Exportgenehmigungen für Kriegsschiffe ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos . . . 18412D seit 1990 MdlAnfr 39 ZusFr Claus Jäger CDU/CSU 18413B Norbert Gansel SPD ZusFr SPD 18413 C Antw PStSekr Dr. Reinhard Göhner ZusFr Norbert Gansel SPD 18413 D BMWi 18420A ZusFr Norbert Gansel SPD Nichtteilnahme des Dalai Lama an der 18420B 1200-Jahr-Feier der Stadt Frankfurt/Main; ZusFr Jürgen Koppelin F.D.P...... 18420 C Beteiligung des Auswärtigen Amtes Erfahrungen mit der Anwendung des Sach- MdlAnfr 12, 13 leistungsprinzips im Rahmen des Asylbe- Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN werber-Leistungsgesetzes bei sog. privile- Antw StMin'in Ursula Seiler-Albring AA 18413D, gierten Asylbewerbern 18415 B MdlAnfr 42, 43 ZusFr Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ SPD NEN 18414A, 18415B Antw PStSekr'in Roswitha Verhülsdonk ZusFr Ortwin Lowack fraktionslos 18414C, 18415 C BMFuS 18420D, 18422C ZusFr Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU . 18414 D ZusFr Gernot Erler SPD . . 18421A, 18422 D ZusFr Claus Jäger CDU/CSU 18415A ZusFr Christel Hanewinckel SPD 18422A, 18423B ZusFr Jan Oostergetelo SPD 18415 A ZusFr Andrea Lederer PDS/Linke Liste . 18422 B Zusatztagesordnungspunkt 2: Schutz mittelständischer Kfz-Recyclingfir- men vor dem Aufbau eines flächendecken- Aktuelle Stunde betr. Haltung der Bun- den Netzes von Kfz-Recyclingzentren desregierung zum ersten NATO-Kampf- durch die Autoindustrie einsatz seit 1949 und zur Beteiligung - der Bundeswehr MdlAnfr 34, 35 Klaus Harries CDU/CSU Andrea Lederer PDS/Linke Liste . . . 18423 C Antw PStSekr Dr. Reinhard Göhner CDU/CSU 18425A BMWi 18416A, B SPD 18426A ZusFr Klaus Hames CDU/CSU . . 18416B, C Jürgen Koppelin F.D.P. 18427 A Dr. BÜNDNIS 90/ Abschaffung freiwilliger Demarkationsver- DIE GRÜNEN träge für leitungsgebundene Energien; 18428 A Auswirkung auf die Versorgungssicherung, Dr. , Bundesminister AA . 18429A insbesondere mit Erdgas Dr. Friedbert Pflüger CDU/CSU 18430 C MdlAnfr 36, 37 Dr. SPD 18431 C Horst Jaunich SPD Ulrich Irmer F.D.P. 18432 C Antw PStSekr Dr. Reinhard Göhner BMWi 18417A, C Volker Rühe, Bundesminister BMVg . 18433B ZusFr Horst Jaunich SPD 18417B, D Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . 18434 D ZusFr Horst Kubatschka SPD ...... 18418 B Heidemarie Wieczorek-Zeul SPD . . . 18435 C Dr. Karl-Heinz Hornhues CDU/CSU . . 18436C Beteiligung deutscher Staatsbürger am Bau Dieter Schloten SPD 18437B von geheimgehaltenen Tunnelanlagen oder an der Entwicklung von ABC-Waffen Tagesordnungspunkt 4: in Libyen a) Erste Beratung des von der Bundesre- MdlAnfr 38 gierung eingebrachten Entwurfs eines Norbert Gansel SPD Gesetzes zur Sicherung des Einsatzes Antw PStSekr Dr. Reinhard Göhner von Steinkohle in der Verstromung BMWi 18418B und zur Änderung des Atomgesetzes (Drucksache 12/6908) ZusFr Norbert Gansel SPD 18418C b) Erste Beratung des von der Fraktion der ZusFr Rudolf Bindig SPD 18419B SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge- ZusFr Gernot Erler SPD 18419B setzes über die weitere Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der ZusFr Horst Kubatschka SPD 18419C Elektrizitätswirtschaft und zur Einfüh- ZusFr Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ rung einer Energiesteuer (Drucksache NEN 18419D 12/6382) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 V c) Beratung der Großen Anfrage der Abge- Dr. R. Werner Schuster SPD 18471D ordneten Dr. und Ulrich Irmer F.D.P. 18472 B der Gruppe der PDS/Linke Liste: Ent- sorgungssituation der bundesdeut- Rudolf Bindig SPD 18472 C schen Atomanlagen (Drucksachen Joachim Graf von Schönburg-Glauchau 12/5385, 12/5900) CDU/CSU 18473 C d) Beratung des Antrags der Abgeordne- Alois Graf von Waldburg-Zeil CDU/ ten Reinhard Weis (Stendal), Siegrun CSU 18474A Klemmer, weiterer Abgeordneter und Hans-Günther Toetemeyer SPD 18474 C der Fraktion der SPD: Endlager für schwach- und mittelradioaktive Ab- Tagesordnungspunkt 6: fälle Morsleben (FRAM) (Drucksache Erste Beratung des von den Abgeordne- 12/6422) ten Dr. Eckhart Pick, , e) Beratung der Beschlußempfehlung und weiteren Abgeordneten und der Frak- des Berichts des Ausschusses für Um- tion der SPD eingebrachten Ent- welt, Naturschutz und Reaktorsicherheit wurfs eines Gesetzes zur Regelung zu der Unterrichtung durch die Bundes- der Arbeitnehmerhaftung (Drucksache regierung: Vorschlag für einen Be- 12/5551) schluß des Rates zur Änderung des Dr. Eckhart Pick SPD 18475 D Beschlusses 77/270/Euratom zwecks Ermächtigung der Kommission, im Hin- Andreas Schmidt (Mülheim) CDU/CSU 18477 C blick auf einen Finanzbeitrag zur Ver- Detlef Kleinert (Hannover) F.D.P. . . . 18479A besserung des Wirkungsgrads und der Sicherheit von Kernkraftanlagen in Tagesordnungspunkt 7: bestimmten Drittländern Euratom-An- Erste Beratung des von den Abgeordne- leihen aufzunehmen (Drucksachen ten , Wolfgang Zeitl- 12/4491 Nr. 2.30, 12/6641) mann und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Dr. Burkhard Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister- BMWi 18438C Hirsch, Wolfgang Lüder und der Frak- tion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs Volker Jung (Düsseldorf) SPD 18440 B eines Gesetzes über das Ausländerzen- Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU 18443 B tralregister (Drucksache 12/6938) . . 18480A Klaus Beckmann F.D.P. 18444 D Tagesordnungspunkt 8: Dr. Dagmar Enkelmann PDS/Linke Liste 18447 B Beratung der Großen Anfrage der Abge- ordneten Dr. , Klaus Joseph Fischer, Staatsminister des Landes Daubertshäuser, weiterer Abgeordneter Hessen 18449B, 18455 D und der Fraktion der SPD: Gefahrgut Dr. Kurt Faltlhauser CDU/CSU . . . . 18450 C beförderung im zusammenwachsen- Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMU 18452 C den Europa (Drucksachen 12/4381, 12/5357) 18480B Hans Berger SPD 18456B Heinrich Seesing CDU/CSU 18458 D Tagesordnungspunkt 9: Beratung der Großen Anfrage der Abge- Reinhard Weis (Stendal) SPD 18460 A ordneten Dr. , Dr. Hans Johannes Nitsch CDU/CSU 18461 A Modrow, weiterer Abgeordneter und Klaus Harries CDU/CSU 18462 A der Gruppe der PDS/Linke Liste: Lage der Kommunen in der Bundesrepublik Tagesordnungspunkt 5: Deutschland unter besonderer Beach- tung der Situation der Städte, Gemein- Vereinbarte Debatte zur Lage im den und Landkreise in den neuen Bun- Sudan desländern (Drucksachen 12/4964, Friedrich Vogel (Ennepetal) CDU/CSU . 18463B 12/6223, 12/6537 [Berichtigung]) . . 18480C Dr. Jürgen Schmude SPD 18464 C Nächste Sitzung 18480D Dr. Michaela Blunk (Lübeck) F.D.P. . . 18466A Dr. PDS/Linke Liste . . 18467 A Anlage 1 Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ Liste der entschuldigten Abgeordneten . 18481* A DIE GRÜNEN 18467 D Anlage 2 Helmut Schäfer, Staatsminister AA . . 18468D Zu Protokoll gegebene Rede zu Tagesord- 18469 C Freimut Duve SPD nungspunkt 6 (Gesetzentwurf zur Regelung Friedrich Vogel (Ennepetal) CDU/CSU 18470 B der Arbeitnehmerhaftung) Alois Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU 18470 C Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär BMA . 18481* C VI Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Anlage 3 Anlage 7 Zurücknahme der Einladung an den Dalai Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- Lama zur 1200-Jahr-Feier der Stadt Frank- nungspunkt 7 (Entwurf eines Gesetzes über furt/Main auf Drängen der Bundesregie- das Ausländerzen tralregister) rung; Antwort der Volksrepublik China auf CDU/CSU 18482* C eine Intervention des Bundeskanzlers zur Freilassung von politischen Gefangenen Gerd Wartenberg (Berlin) SPD 18483* A und auf eine Intervention des Auswärtigen Amtes wegen der Verhaftung von Tibe- Cornelia Schmalz-Jacobsen F D P 18484* C tern Konrad Weiß (Berlin) BÜNDNIS 90/ MdlAnfr 14, 15 — Drs 12/6892 — DIE GRÜNEN 18484' D Dr. Klaus Kübler SPD

Ulla Jelpke PDS/Linke Liste 18485* C SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring AA 18498' B Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 18486* A

Anlage 4 Anlage 8 Unterstützung der Gründung der „Af rican Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesord- Christian Democratic Party" in Südafrika nungspunkt 8 (Große Anfrage: Gefahrgut beförderung im zusammenwachsenden MdlAnfr 17, 18 — Drs 12/6892 —

Europa) Hans - Günther Toetemeyer SPD Dr. Margrit Wetzel SPD 18486* D SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring AA 18498' D Michael Jung (Limburg) CDU/CSU . . 18489' B - Horst Friedrich F D P. 18490* A Anlage 9 , Parl. Staatssekretär BMV 18491* C Rüstungsexporte nach Indonesien ange- sichts der Ermordung von 200 Personen in Osttimor

Anlage 5 MdlAnfr 19 — Drs 12/6892 —

Dr. Elke Leonhard - Schmid SPD Zu Protokoll gegebne Reden zu Tages- ordnungspunkt 9 (Große Anfrage: Lage SchrAntw StMin'in Ursula Seiler-Albring der Kommunen in der Bundesrepublik AA 18499* A Deutschland unter besonderer Beachtung der Situation der Städte, Gemeinden und Landkreise in den neuen Bundesländern) Anlage 10 Dr. Dietmar Keller PDS/Linke Liste . . 18492' D Rechtfertigung der Überwachung der „Re- publikaner" in Niedersachsen durch das Rudolf Meinl CDU/CSU 18493* D Bundesamt für Verfassungsschutz Manfred Hampel SPD 18494* D MdlAnfr 20, 21 — Drs 12/6892 — Hans Schuster F.D.P. 18496* B Ingrid Köppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekre Antw PStSekr Dr. Horst Waffenschmidt tär BMI 18496e D BMI 18499* B

Anlage 6 Anlage 11 Wert der im Jahre 1993 von Bundesressorts Unterschiedlicher Verdienstausgleich bei in Auftrag gegebenen Anzeigen in Lokal- Selbständigen und Angestellten des öffent- zeitungen bzw. in regionalen und überre- lichen Dienstes im Falle der Übernahme gionalen Zeitungen der neuen Bundeslän- einer ehrenamtlichen Tätigkeit der MdlAnfr 22 — Drs 12/6892 —

MdlAnfr -- Drs 12/6892 — Dr. Elke Leonhard - Schmid SPD Dr. Egon Jüttner CDU/CSU SchrAntw PStSekr Dr. Horst Waffenschmidt SchrAntw StSekr Dieter Vogel BK . . . . 18497* D BMI 18500* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode -- 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Anlage 12 Anlage 18 Beratung des Entwurfs eines Altenpflege- Schadstoffbelastungen der Flußökosy- gesetzes im Bundeskabinett; Unterschied steme, insbesondere in den Überschwem - zum hessischen Gesetzentwurf mungsgebieten der neuen Bundesländer MdlAnfr 40, 41 — Drs 12/6892 — (Köln) SPD MdlAnfr 52 — Drs 12/6892 — Susanne Kastner SPD SchrAntw PStSekr'in Roswitha Verhüls donk BMFuS 18500* C SchrAntw PStSekr Ulrich Klinkert BMU . 18502* C

Anlage 13 Schaden für das deutsche Transportge werbe durch unerlaubte Kabotagefahrten Anlage 19 osteuropäischer Unternehmen; Höhe der Strafen Erhaltung der Lebensräume des Weiß- storchs MdlAnfr 44, 45 — Drs 12/6892 — Dr. CDU/CSU MdlAnfr 53, 54 — Drs 12/6892 -__ SchrAntw PStSekr Manfred Carstens Kuhlwein SPD -Eckart BMV 18500* D SchrAntw PStSekr Ulrich Klinkert BMU . 18502* D Anlage 14 Erneute Untersuchung des Flugzeugun- glücks vom 31. Mai 1987 auf dem Flugplatz Lübeck angesichts des neuen Verdachts im Anlage 20 Zusammenhang mit dem Tod von Dr. Dr. Barschel - Sicherung der Überlebenschancen des Weißstorchs MdlAnfr 46 ---- Drs 12/6892 Dr. (München) CDU/CSU MdlAnfr 55, 56 -- Drs 12/6892 SchrAntw PStSekr Manfred Carstens BMV 18501' B Ulrike Mehl SPD

Anlage 15 SchrAntw PStSekr Ulrich Klinkert BMU 118504* A Pläne der Schweiz zur ausschließlichen Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene ab dem Jahre 2004; Anpassung der deutschen Verkehrspolitik an diese Verän- Anlage 21 derung, z. B. durch Ausbau der Bahnzulauf strecken und Stärkung der Containerbahn- Reduzierung der Dieselrnotoremissionen höfe in Singen und Ravensburg auf die Euronormen 2 bis 4 MdlAnfr 47, 48 — Drs 12/6892 — MdlAnfr 57 — Drs 12/6892 — SPD Rudolf Bindig Horst Kubatschka SPD SchrAntw PStSekr Manfred Carstens BMV 18501* C SchrAntw PStSekr Ulrich Klinkert BMU 18604*C Anlage 16 Fertigstellungstermine für die Bahnpro- jekte Deutsche Einheit MdlAnfr 49 — Drs 12/6892 — Anlage 22 Dr. Ulrich Janzen SPD Analyse der G.E.O.S. Freiberg Ingenieur- gesellschaft mbH betr. geologische Pro- SchrAntw PStSekr Manfred Carstens BMV 18502* A bleme im Zusammenhang mit dem Grund- wasserentzug durch den Braunkohlentage- Anlage 17 bau Turow (Polen); Folgen für den Raum Zittau; Schadenersatzleistungen Privatfinanzierung von Straßenverkehrs- projekten MdlAnfr 58, 59 — Drs 12/6892 — MdlAnfr 50, 51 — Drs 12/6892 — Christian Müller (Zittau) SPD Elke Ferner SPD SchrAntw PStSekr Manfred Carstens BMV 18502* B SchrAntw PStSekr Ulrich Klinkert BMU . 18505* A

Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18347

213. Sitzung

Bonn, den 3. März 1994

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen 3. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. Ich verlese Bericht der Bundesregierung zum Stand der EG-Harmoni- sierung des Exportkontrollrechts für Güter und Technolo- zunächst die amtlichen Mitteilungen: Der Kollege glen mit doppeltem Verwendungszweck (Dual-use-Waren), Dr. Franz-Josef Mertens (Bottrop) feiert heute seinen Stand Ende Oktober 1993 — Drucksache 12/6187 — 60. Geburtstag. Ist er hier im Raum? — Das ist nicht der Fall. Wir wollen ihm trotzdem von hier aus Von der Frist für den Beginn der Beratung soll herzliche Glückwünsche aussprechen. — soweit es erforderlich ist — abgewichen werden. (Beifall) Außerdem mache ich auf nachträgliche Überwei- sungen im Anhang zur Zusatzpunktliste aufmerk- Dann hat die Fraktion der F.D.P. mitgeteilt, daß der sam: Kollege Dr. Bruno Menzel als ordentliches Mitglied Der in der 208. Sitzung des Deutschen Bundestages am 3. 2. 1994 und die Kollegin Dr. Cornelia von Teichman als überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem stellvertretendes Mitglied in der Parlamentarischen Finanzausschuß zur Mitberatung überwiesen werden: Versammlung des Europarats ausscheiden. Als neues Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und F.D.P. ordentliches Mitglied wird der Kollege Torsten Wolf- zur Neuordnung des Postwesens und der Telekommunikation gramm (Göttingen) und als neues stellvertretendes (Postneuordnungsgesetz) — Drucksache 12/6718 — Mitglied der Kollege Dr. Rainer Ortleb vorgeschla- Der in der 210. Sitzung des Deutschen Bundestages am 24 2. 1994 gen. Sind Sie damit einverstanden? — Dazu höre ich überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträglich dem Aus- keinen Widerspruch. Damit sind die Kollegen Torsten schuß für Gesundheit zur Mitberatung überwiesen werden: Wolfgramm (Göttingen) als ordentliches und Dr. Rai- ner Ortleb als stellvertretendes Mitglied der Parla- Gesetzentwurf der Fraktion der SPD Zweites Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer mentarischen Versammlung des Europarats ge- Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität (2. OrgKG) wählt. — Drucksache 12/6784 — Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- Die in der 202. Sitzung des Deutschen Bundestages am 13. 1. 1994 dene Tagesordnung zu erweitern. Die Punkte sind in überwiesene nachfolgende Unterrichtung soll nachträglich dem Aus- wärtigen Ausschuß zur Mitberatung überwiesen werden: der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bundesbericht For- 1. weitere Überweisungen Im vereinfachten Verfahren (Ergän- schung 1993 — Drucksache 12/5550 — zung zu TOP 13) Der Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Egon Jüttner, F.D.P. zum Bundesbericht Forschung 1993 auf Drucksache Dr. , Erhard Niedenthal, weiterer Abgeord- 12/6562 soll ebenfalls dem Auswärtigen Ausschuß zur Mitbera- neter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord- tung überwiesen werden. neten Wolfgang Lüder, Gerhart Rudolf Baum, Dr. Burk- hard Hirsch, Heinz-Dieter Hackel und der Fraktion der Die Punkte ohne Aussprache werden vor der Frage- F.D.P.: Abschließende Regelungen zur Wiedergutma- stunde aufgerufen. Sind Sie damit einverstanden? — chung von NS-Unrecht — Drucksache 12/6748 — Das ist der Fall. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Wolfgang Ullmann, Konrad Weiß (Berlin) und der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rehabilitierung, Entschädi- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf: gung und Versorgung für die Opfer der NS-Militärjustiz — Drucksache 12/6418 — a) Sicherung des Zukunftsstandortes Deutsch- c) Beratung des Antrags der Frak tionen der CDU/CSU, land SPD und F.D.P.: Aktionsprogramme SOKRATES und LEONARDO — Drucksache 12/6939 — — Beratung der Unterrichtung durch die Bun- desregierung 2. Aktuelle Stunde auf Verlangen der Gruppe der PDS/Linke Jahreswirtschaftsbericht 1994 der Bundes- Liste: Haltung der Bundesregierung zum ersten NATO- regierung Kampfeinsatz seit 1949 und zur Beteiligung der Bundes- wehr — Drucksache 12/6676 — 18348 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth Überweisungsvorschlag: — Erste Beratung des von den Abgeordneten Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Wolf Bauer, Finanzausschuß Dr. Dionys Jobst, weiteren Abgeordneten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Ausschuß für Forschung, Technologie und Abgeordneten , Horst F ried- Technikfolgenabschätzung rich, Roland Kohn, weiteren Abgeordneten Haushaltsausschuß und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Bau und Beratung der Unterrichtung durch die Bun- - die Finanzierung von Bundesfernstraßen desregierung durch Private (Fernstraßenbauprivatfinan- Jahresgutachten 1993/94 des Sachverstän- zierungsgesetz — FStrPrivFinG) digenrates zur Begutachtung der gesamt- — Drucksache 12/6884 — wirtschaftlichen Entwicklung Überweisungsvorschlag: — Drucksache 12/6170 — Ausschuß für Verkehr (federführend) Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Ausschuß für Wirtschaft Finanzausschuß Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Forschung, Technologie und — Unterrichtung durch die Bundesregierung Technikfolgenabschätzung Haushaltsausschuß Bericht der Bundesregierung über das Pro- gramm zur Schaffung zusätzlicher Teilzeit- — Beratung der Beschlußempfehlung und des arbeitsplätze im öffentlichen Dienst Berichts des Ausschusses für Wirtschaft — Drucksache 12/6936 — (9. Ausschuß) zu dem Antrag der Abgeord- neten Dr. Uwe Jens, Hermann Bachmaier, Überweisungsvorschlag: Holger Bartsch, weiterer Abgeordneter und Innenausschuß (federführend) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung der Fraktion der SPD Beratung der Unterrichtung durch die Bun- Die deutsche Wirtschaft durch Senkungen — der Leitzinsen und durch eine europäische desregierung Konjunkturinitiative aus der Rezession füh- Förderung von Teilzeitbeschäftigung bei ren den Bundesressorts — Drucksachen 12/5362, 12/6665 — — Drucksache 12/6868 — Berichterstattung: Überweisungsvorschlag: Abgeordneter Dr. Hermann Schwörer Innenausschuß (federführend) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung b) Aktionsprogramm II für mehr Wachstum und — Beratung der Unterrichtung durch die Bun- Beschäftigung desregierung — Beratung der Unterrichtung durch die Bun- Bericht der Bundesregierung zur Verringe- desregierung rung von Beteiligungen und Liegenschaf- ten des Bundes Bericht der Bundesregierung über den Stand der Umsetzung der Maßnahmen — Drucksache 12/6889 — zur Zukunftssicherung des Standortes Überweisungsvorschlag: Deutschland und des Aktionsprogramms Haushaltsausschuß für mehr Wachstum und Beschäftigung Unterrichtung durch die Bundesregierung — Drucksache 12/6907 — — Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Überweisungsvorschlag: Beschäftigung Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Finanzausschuß Bericht der Bundesregierung zur Intensi- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung vierung des Dialogs zwischen Wirtschaft, Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Wissenschaft und Staat zu Forschung, Reaktorsicherheit Technologie und Innovation Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung — Drucksache 12/6934 — Haushaltsausschuß Überweisungsvorschlag: Erste Beratung des von den Fraktionen der Ausschuß für Forschung, Technologie und — Technikfolgenabschätzung (federführend) CDU/CSU und F.D.P. eingebrachten Ent- Ausschuß für Wirtschaft wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Umwandlungssteuerrechts Nach einer Vereinbarung im Al testenrat sind für die — — Drucksache 12/6885 gemeinsame Aussprache vier Stunden vorgesehen. — Überweisungsvorschlag: Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Finanzausschuß (federführend) Rechtsausschuß Ich eröffne die Aussprache. Es beginnt der Bundes- Ausschuß für Wirtschaft minister Rexrodt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18349

Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: umgehen, und wir sind überzeugt, daß dieses Wachs- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es tumsziel erreicht werden kann. waren die Prognosen nicht weniger Auguren des politischen Geschehens, das Superwahljahr 1994 Von daher ist beispielsweise das Gerede des Herrn werde zu einem Stillstand der Politik führen, und Bundestagsabgeordneten Jens, im vorigen Jahr notwendige Entscheidungen würden blockiert. Nicht besonders laut, es gäbe hier reines Wunschdenken erst nach Vorlage des Jahreswirtschaftsberichts und und Schönrechnen, nur Polemik. unseres Aktionsprogramms für mehr Wachstum und (Dr. Uwe Jens [SPD]: Haben Sie einmal etwas Beschäftigung kann eindeutig festgestellt werden: von Herrn Murmann gehört? Haben Sie die Für den Verantwortungsbereich der Bundesregierung DIHT-Prognosen gelesen? Ich würde den trifft dies nicht zu. DIHT ernst nehmen!) (Dr. Uwe Jens [SPD]: Torschlußpanik!) Herr Jens wird in der Öffentlichkeit wenig gehört. Da Für einige Länder sehe ich das allerdings anders. muß er schon einmal überziehen, damit er überhaupt wahrgenommen wird. Es hat noch nicht viele Bundestagsdebatten über den Jahreswirtschaftsbericht gegeben, bei denen auf (Zurufe von der SPD: Murmann! Mur eine so entschlossene und so schnelle Verwirklichung mann!) eines so konkreten Handlungsrahmens hätte verwie- sen werden können wie heute. — Herr Murmann spricht über die Arbeitslosenzah- len. Die Arbeitslosenzahlen werden von ihm so einge- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schätzt, wie wir das auch tun, und darauf komme ich Es gibt viele, die die Bundesregierung und die Koali- gleich zu sprechen. tion über Monate hinweg gescholten haben, sie tue (Ernst Schwanhold [SPD]: Er spricht auch nichts. Dann wird etwas gemacht, mit sehr gravieren- über das Wachstum! Nicht gelesen!) dem Inhalt, und das Ganze wird als Aktionismus abgetan. Ich überlasse es dem Betrachter, wie er Wir betreiben keinen Zweckoptimismus, meine darüber zu urteilen hat. Damen und Herren. Wenn wir von 1,5 % Wachstum beim Bruttoinlandsprodukt sprechen, verstehen das (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU- — wenige Menschen. Wir sagen aber ungeschminkt: Im Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Gute Idee!) Durchschnitt des Jahres 1994 wird es etwa 450 000 Zur gesamtwirtschaftlichen Lage und Prognose der Arbeitslose mehr geben als im Durchschnitt des Entwicklung in diesem Jahr: Die aktuelle Konjunktur Jahres 1993. zeigt deutliche Anzeichen einer allmählichen Erho- (Detlev von Larcher [SPD]: Und das bei lung. Dazu zählen die erheblich verbesserten dieser Bundesregierung! — Weitere Zurufe Geschäftserwartungen — das ist noch einmal durch von der SPD) die Ifo-Veröffentlichung bestätigt worden —, die Sta- bilisierung der Industrieproduktion, die gestiegenen — Was heißt da gesundbeten? Das ist die bittere Auftragseingänge, vor allem aus dem Ausland, und Wahrheit, die wir auch aussprechen, weil wir nur auf eine erstaunlich kräftige Baunachfrage. Für die wei- diese Weise die Instrumentarien einsetzen können tere konjunkturelle Entwicklung gibt es handfeste und einsetzen werden, um mit diesem Problem fertig- Gründe zur Zuversicht. Die Konstitution der Weltwirt- zuwerden. schaft hat sich insgesamt verbessert. Wir werden davon profitieren können, daß die angelsächsischen Auch und gerade bei der Arbeitslosigkeit gibt es Länder eine boomartige Entwicklung durchmachen. inzwischen weitgehenden Konsens, daß der eigentli- che Kern des Problems, die zunehmende Sockelar- Zweitens. Der erfolgreiche Abschluß der GATT beitslosigkeit, strukturell bedingt ist, und zwar nicht hat die Chancen für Wachstum und -RundeBeschäfti- nur bei uns in Deutschland, sondern in der gesamten gung eröffnet. Durch das Standortsicherungsgesetz Europäischen Union, in den OECD-Staaten insge- haben wir so niedrige Steuersätze für gewerbliche samt. Einkommen wie noch nie zuvor in der Bundesrepublik Deutschland. Alle wissen wir, daß sich der Preisauf- Niemand kann versprechen, daß er die Arbeitslo- trieb spürbar abgeschwächt hat, und die Zinsen am senprobleme in Ostdeutschland oder Westdeutsch- Kapitalmarkt liegen heute nahezu am tiefsten Punkt land mit Patentlösungen rasch beheben könne — auch seit 30 Jahren. die Opposition nicht. Ich will hier gar nicht polemisie- ren. Sie sagen das ja auch nicht. Wir alle wissen: Wer (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) das Patentrezept anbietet, ist ein Scharlatan. Für 1994 erwarten wir 1 % bis 1,5 % Wachstum in (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Gesamtdeutschland — 0,5 % bis 1 % im Westen, 6 % Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Ich sage nur: bis 8 % im Osten. Unsere Projektionen liegen Lafontaine!) bekanntlich auf der Linie der Mehrheit der Wirt- schaftsforschungsinstitute. Verschiedene Mitglieder Um so entschlossener müssen wir die Strukturfehler des Sachverständigenrates, der ja in seinem Gutach- korrigieren, die für den wachsenden Sockel von ten zunächst etwas zögerlich war, haben inzwischen Arbeitslosen verantwortlich sind. Das ist zentrales Korrekturen vorgenommen und nähern sich unseren Anliegen der Politik der Bundesregierung, und es ist Prognosen an. Wir sind überzeugt, daß wir objektiv auch Kernthema unseres Jahreswirtschaftsberichts. nach bestem Wissen und Gewissen mit diesen Zahlen Die wichtigsten Teile unseres Aktionsprogramms, mit 18350 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt dem wir den Standortbericht ausfüllen und umsetzen SPD, den ich als den verstaubten, den vorgestrigen wollen, sind: erstens konsequente Fortsetzung der Teil bezeichnen möchte. Konsolidierungspolitik; zweitens Festlegung der steu- (Widerspruch bei der SPD — Dr. Jürgen erpolitischen Grundlinie für die nächste Legislaturpe- Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist doch aber der riode: Unternehmensteuerreform, Freistellung des ganze!) Existenzminimums und Erleichterung der Beschäfti- gung in privaten Haushalten durch Steuervereinfa- Da gibt es den Herrn Ehrenberg, der will sogar chung; drittens Existenzgründungs- und Innovations zusätzliche umfangreiche kreditfinanzierte Ausga- offensive im Mittelstand, auf den wir setzen, den wir benprogramme; das steht beispielsweise in der fördern wollen und der Motor und Lokomotive beim „Frankfurter Allgemeinen" vom 17. Februar. Die Herauskommen aus der Rezession sein kann; viertens Zinszahlungen sollen dabei aus Bundesbankgewin- Verbesserung des arbeitsmarktpolitischen Instrumen- nen erfolgen, die derzeit zur Verringerung der Alt- tariums. Hier haben wir Entscheidungen getroffen schulden eingesetzt werden. Er übersieht dabei völlig, oder eingeleitet, die gravierender Natur sind, die dazu daß das natürlich höhere Zinsen für Altschulden angetan sind, die Probleme am Arbeitsmarkt zu bedeutet und damit nicht ein einziger Pfennig gespart erleichtern — nicht zu lösen, aber Schritt für Schritt zu werden kann. So der Herr Ehrenberg. Herr Scharping erleichtern. sprach sich demgegenüber st rikt gegen eine höhere Neuverschuldung In der vergangenen Woche habe ich, meine Damen (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Sehen Sie und Herren, im Kabinett einen Zwischenbericht zur einmal! — Hans-Ulrich Klose [SPD]: Im Umsetzung der Maßnahmen zur Zukunftssicherung Unterschied zur Bundesregierung!) und des Aktionsprogramms vorgelegt. Er zeigt, daß die Bundesregierung und die sie tragende Koalition und gegen klassische Konjunkturprogramme aus: die Dinge voranbringen. Er weist aus, daß von 90 Maß- „Kölner Stadtanzeiger". nahmen, die im Bereich des Bundes vorgesehen sind, Wo sollen die 40 Milliarden DM denn auch herkom- 62 bereits verwirklicht oder auf den Weg gebracht men, die immer wieder von einigen von Ihnen gefor- worden sind. Auch das letzte Drittel werden wir in dert werden, wenn nicht durch eine Erhöhung der dieser Legislaturperiode noch umsetzen. Darunter Nettoneuverschuldung? Da geht man her und fordert sind wichtige, sensationelle Maßnahmen. Es ist kom- ein neues Konjunkturprogramm — ein Strohfeuer, wie pliziert, vielfach auch nicht transportierbar.- Aber es wir wissen — und eine Aufstockung der Nettoneuver- wird sich in einer besseren Entwicklung der Wirt- schuldung um 40 Milliarden DM, schaft auszahlen. Das Planungsvereinfachungsge- setz, das Investitionserleichterungs- und Wohnbau- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Fordert doch landgesetz, die Novelle des Gentechnikgesetzes, was keiner! — Detlev von Larcher [SPD]: Herr wir bei Bahn und Post in Gang gebracht haben und Rexrodt, gegen wen reden Sie eigentlich?) was wir jetzt am Arbeitsmarkt tun: Ich möchte Sie, und auf der anderen Seite, Frau Matthäus-Maier, meine Damen und Herren Abgeordneten, und den kritisiert m an die angeblich unsolide Haushaltsfinan- Bundesrat bitten, diese Gesetze jetzt zügig zu beraten zierung. und zu verabschieden. (Detlev von Larcher [SPD]: Bauen Sie doch (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — keinen Popanz auf!) Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Da Sie wissen doch gar nicht, wovon Sie reden. kann die Opposition Farbe bekennen! — (Lachen bei der SPD) Dr. Uwe Jens [SPD]: Zwölf Jahre Zeit gehabt!) Dann stellen Sie sich hin und sprechen davon: Ihr müßt sparen, Ihr müßt bei den Subventionen hinse- Unsere Initiativen zur Standortsicherung haben hen. Was ist denn, wenn wir die Kohlesubvention auch der wirtschaftspolitischen Diskussion in der herunterfahren wollen? Wo ist denn Herr Rau zu Öffentlichkeit eine positive Wende gegeben. Wir hören? Wenn wir die Werftsubventionen abbauen haben die Zeichen gesetzt, und wir haben die Diskus- wollten: Wo ist denn Herr Schröder? sion vorangebracht; sie ist Allgemeingut geworden. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Da Die Menschen, auch die einfachen Menschen, sonst baut der U-Boote!) nicht übermäßig an Politik und Wirtschaft interessiert, wissen, was wir mit der Standortdiskussion meinen: Was sagen Sie denn, wenn wir an die Landwirtschaft daß es um Arbeitsplätze geht, daß es um ein Auflösen heranwollten? der Erstarrungen in dieser Gesellschaft geht, daß viele (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Tun Sie ja umdenken müssen, auch die in der Opposition, wenn nicht!) wir die Probleme lösen wollen. Oder wenn wir den Aufbau Ost weniger finanzieren (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — wollten? Wo sind denn da Ihre Beiträge? Nichts als Detlev von Larcher [SPD]: Erstarrt ist doch Polemik. Das Jahr 1994, meine Damen und Herren, die Bundesregierung!) findet statt. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Das haben wir zustande gebracht. Herr Thierse hat vorgeschlagen, daß die Bundesan- Forderungen nach kurzatmigen Ausgabenpro- stalt für Arbeit die noch bestehenden Lohndifferenzen grammen kommen heute nur noch aus dem Teil der in den neuen Bundesländern mindestens teilweise Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode -- 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18351

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt ausgleichen sollte. Frau Matthäus-Maier wiederum fördernde Strukturverbesserung muß an diesen bei- erklärt im Mitteldeutschen Rundfunk am 23. Oktober den Hebeln ansetzen. 1993: Von staatlichen Lohnkostenzuschüssen halte ich Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, nichts, aus einem ganz einfachen Grunde: Wenn gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten noch so gut gewillte Tarifpartner das Gefühl Büttner? haben, sie vereinbaren etwas Teures, und ein Dritter, nämlich der Staat, wird im Zweifelsfall für Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: die Bezahlung eintreten, dann verführt das die Ja, gerne. Menschen dazu, daß sie etwas Hohes vereinba- ren, weil sie wissen, ein Dritter zahlt. Hans Büttner (Ingolstadt) (SPD): Herr Minister, Sie Wunderbar, wohl wahr. haben gerade gesagt, Sie träten auch für die geringere (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Besteuerung von politischen Leistungsträgern ein. CDU/CSU — Dr. Wolfgang Weng [Gerlin Sind Sie ernsthaft der Ansicht, daß auch Sie zu diesen gen] [F.D.P.]: Wenn sie auch nur so handeln politischen Leistungsträgern gehören? würde!) (Widerspruch bei der F.D.P. und der CDU/ Auch Herr Scharping unterstrich vor kurzem, daß CSU) die Belastung der breiten Massen mit Steuern und Abgaben schon jetzt zu hoch sei. Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: (Detlev von Larcher [SPD]: Wer ist eigentlich Oh Gott. dafür? — Hans-Ulrich Klose [SPD]: 12 Jahre (Dr. [F.D.P.]: Nicht Regierung Kohl!) darauf antworten! Lohnt sich nicht! — Klaus Beckmann [F.D.P.]: Primitiver geht es nicht! Ich füge hinzu: nicht nur der breiten Masse. Von — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ihnen, von Herrn Jens und anderen, höre ich von Primitiver geht es wirklich nicht! — Klaus dieser Stelle immer wieder den Ruf nach einer Mehr- Beckmann [F.D.P.]: Das ist Ihr Niveau!) besteuerung der sogenannten Besserverdienenden und zusätzlichen Steuern dafür, daß sogenanntes- Ich würde mir ja gerne ein Vorbild an Ihnen nehmen; leistungsloses Einkommen erzielt wird. Was ist aber das Niveau ist gegeben. Haben Sie noch eine eigentlich „leistungsloses Einkommen"? Frage, Herr Abgeordneter? — Das ist gut. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — (Detlev von Larcher [SPD]: Ihr Einkommen Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Eine ist das! — Weitere Zurufe von der SPD — Schande für das Parlament! — Dr. Wolfgang Beifall und Lachen bei der SPD — Ing rid Schäuble [CDU/CSU]: Ein Argument für die Matthäus-Maier [SPD]: Da lacht sogar die Verkleinerung!) Koalition!) Meine Damen und Herren, auf der Kostenseite geht Meine Damen und Herren, mit Polemik und mit es nicht um die Kosten der Arbeit allein. Es geht auch Vorschlägen, die Steuern an Stellen, wo unsere Lei- um die Belastung mit Steuern und Abgaben, um stungsträger betroffen sind, zu erhöhen, werden Sie Regulierungskosten, um Strom und Telekommunika- das Gegenteil dessen erreichen, was in diesem L ande tionstarife und vieles mehr. Deshalb richtet sich zur Zeit angesagt ist. unsere Politik der Standortverbesserung auf all diese (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Kostenbestandteile. Deshalb wollen und werden wir ein steuerpolitisches Konzept vorlegen. Deshalb wer- Was wir brauchen, ist eine Stärkung der Leistungsträ- den wir gegen Ihre Widerstände bei der Postreform ger: der Leistungsträger im Mittelstand, in der Wirt- vorankommen. Deshalb habe ich versucht, einen schaft, in den freien Berufen und auch in der Politik. Energiekonsens herbeizuführen, um von daher Entla- Da vermisse ich Leistungsträger, solche mit wirt- stung zu bringen. Aber das ist durch den ideologisier- schaftlicher Kompetenz, insbesondere in Ihren Rei- ten Teil der SPD unmöglich gemacht worden. hen, meine Damen und Herren. Im gegenwärtigen Zeitpunkt kommt es darauf an, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) daß die Tarifpartner ihre Verantwortung wahrneh- Wo sind denn Ihre Wirtschaftspolitiker? Wo sind denn men. Sie entscheiden nicht nur über Löhne und den Ihre Vorschläge? Es kommt nichts als blauer Dunst. Großteil der Lohnzusatzkosten. Mit den tariflichen Regelungen zur Arbeitszeit entscheiden sie im (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Da wesentlichen auch über Produktivität. Zur Verbesse- wird Oskar eingeflogen!) rung der Relation zwischen Kosten und Produktivität Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einige muß die Tarifpolitik entscheidend beitragen. Es Positionen des Jahreswirtschaftsberichts kurz erläu- kommt darauf an, daß wir Zurückhaltung bei den tern. Strukturelle Fehlentwicklungen, die ich für die Löhnen üben und daß wir mehr Flexibilität bei den zunehmende Sockelarbeitslosigkeit verantwortlich Arbeitszeiten erreichen. Das Produktivitätssteige gemacht habe, gibt es sowohl bei den Kosten als auch rungs- und Kostensenkungspotential einer besseren bei der Produktivität. Das Zusammenspiel dieser bei- Auslastung teurer Produktionsanlagen durch flexib- den Faktoren, das Verhältnis zwischen Kosten und lere Arbeitszeiten ist gerade bei uns auf Grund der Produktivität entscheidet über die Wettbewerbsfähig- besonders kurzen Wochenarbeitszeiten sehr hoch zu keit des Standorts Deutschland. Die beschäftigungs- veranschlagen. 18352 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Wir machen deshalb das Beschäftigungsgesetz von grunder brauchen weniger Hindernisse. Wir müssen 1994. Wir führen arbeitspolitische Maßnahmen durch, sie aus dem Weg räumen. Wenn dort eine Deregulie- mit denen wir von staatlicher Seite einen Beitrag zur rung stattfände, dann würden wir am wirkungsvoll- Flexibilisierung leisten. Ich erwarte, daß das in den sten Innovation, Strukturwandel und zusätzliche tariflichen Abschlüssen, die noch vor uns liegen, Beschäftigung fördern. seinen Niederschlag finden wird, in gleicher Weise (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) wie beispielsweise bei den Abschlüssen der Chemie- industrie, die den richtigen Weg gezeigt haben. Zum Ausräumen von Hindernissen gehört auch der erleichterte Zugang zum Kapitalmarkt. Wir wollen (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) das mit der kleinen AG und mit der erleichterten Pauschale Regelungen für die Situation des einzel- Umwandlung von Unternehmen erreichen. Wenn es nen Unternehmens müssen wegfallen. Wir brauchen Ihnen bei der SPD mit einer Erleichterung des Struk- eine Differenzierung und Individualisierung. Das gilt turwandels durch mittelständische Anpassungsflexi- für den Osten wie für den Westen. biltiät ernst wäre, dann müßten Sie in diesen Punkten mitziehen. Dafür möchte ich werben und Sie bitten, (Beifall des Abg. Dr. Wolfg ang Weng [Gerlin den Gesetzentwürfen zuzustimmen. gen] [F.D.P.] — Detlev von Larcher [SPD]: Ein einsamer Klatscher!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Jahreswirtschaftsbericht und Standortbericht gehö- Nichts ist derzeit schlimmer als die Aussicht auf ren zusammen. Ich sage noch einmal: 62 von 90 Maß- einen Streik. Wer heute auf einen Streik zusteuert nahmen sind auf den Weg gebracht. Wir tun etwas. — unverantwortlich auch deshalb, weil die beiden Wir machen unsere Schularbeiten. Parteien nicht einmal wissen, was die jeweils andere will —, der schadet dem sich abzeichnenden Auf- (Detlev von Larcher [SPD]: Das Ergebnis schwung. Ein Streik ist das letzte, was wir derzeit sehen wir!) gebrauchen können. Wir erwarten, daß auch andere Gruppen der Gesell- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schaft das tun und daß das erstarrte Besitzstandsden- ken auch in bestimmten politischen Parteien über- Ich appelliere an die Tarifpartner, daß sie so schnell wunden wird. Wir haben gravierende Veränderungen wie möglich einen Kompromiß finden, um auch Ruhe angestoßen. Wir erwarten Umdenken bei den Unter- und Sicherheit in die Politik, in den Arbeitsmarkt- und nehmen, bei den Gewerkschaften und bei der Politik. in die wirtschaftliche Entwicklung zu bringen. Wir müssen Erstarrungen auflösen und scheinbar (Detlev von Larcher [SPD]: Sie haben doch zu Selbstverständliches in Frage stellen. Wir machen dieser Situation beigetragen!) unsere Schularbeiten. — Wozu haben wir beigetragen? (Detlev von Larcher [SPD]: Sie machen Ihre Schularbeiten schlecht! — Ernst Schwanhold (Detlev von Larcher [SPD]: Zum Beispiel [SPD]: Sie müssen schon fast nachsitzen!) dazu, was die Arbeitgeber jetzt durchsetzen wollen!) Sie werden sich wundern, und wir werden Erfolg haben. Freuen Sie sich nicht zu früh. Die Weichen in — Wir haben wohl dazu beigetragen — da haben Sie der Wirtschaftspolitik sind richtig gestellt. Von Ihnen recht —, daß auch der Tarifpartner Arbeitgeber Flexi- kommt keine Alternative als die, die Besserverdienen- bilität durchzusetzen versucht. Wir haben das aber den höher zu besteuern nicht getan, weil wir in irgendeiner Weise parteilich sind, (Detlev von Larcher [SPD]: Das Ergebnis (Widerspruch bei der SPD) Ihrer Politik sieht man!) und 40 Milliarden DM zusätzlich Schulden zu sondern deshalb, weil es das Gebot der Stunde ist. machen. Wo ist Ihre wirtschaftspolitische Kompe- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) tenz? Bei Ihrem Denken aus der Vergangenheit, daß Besitz- (Detlev von Larcher [SPD]: Wo ist denn stände nicht in Frage gestellt werden sollen, daß a lles Ihre?) so bleiben muß, wie es ist, Wir haben angestoßen, wir haben aufgezeigt, was (Detlev von Larcher [SPD]: Das ist doch gemacht werden muß. Quatsch!) (Ernst Schwanhold [SPD]: 20 Jahre machen laufen den Gewerkschaften die Leute weg, und auch Sie es! 20 Jahre!) Ihnen werden die Leute weglaufen, weil die Men- Sie ziehen nach, und wenn Sie nachziehen, ziehen Sie schen gemerkt haben: Erstarrungen müssen aufgelöst sogar schlecht nach. Das merkt der Bürger. werden. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Ernst Schwanhold [SPD]: Gucken Sie sich einmal Ihre Mitgliederentwicklung an!) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht der Ministerpräsident des Saarlandes, Herr Lafon- Meine Damen und Herren, zum Aufbrechen der taine. Erstarrungen gehören viele Maßnahmen im Bereich der Deregulierung und der Entbürokratisier ung. Davon würde insbesondere der Mittelstand profitie- Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland): ren. Kleine und mittlere Unternehmen sowie Existenz Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18353

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) Herren! Angesichts der großen Besorgnis in der Bevöl- war, konzentrieren sich die Schwächetendenzen kerung über den Anstieg der Arbeitslosigkeit kon- jetzt auf den privaten Verbrauch und die Investi- zentriert sich die Bewertung des Jahreswirtschaftsbe- tionstätigkeit. richts auf eine Frage — das interessiert sicherlich Wenn sich die Schwächetendenzen auf den privaten diejenigen, die uns hier im Saale zuhören, ebenso wie Verbrauch und die Investitionstätigkeit konzentrie- diejenigen, die uns draußen zuhören —: Welche ren, dann wäre eigentlich zu erwarten, daß die Wirt- wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen schafts- und Finanzpolitik jetzt alles unternimmt, um schlägt die Bundesregierung vor, um den Anstieg der den privaten Verbrauch und die Investitionstätigkeit Arbeitslosigkeit in diesem Jahr zu bremsen — ich zu stärken. formuliere: den Anstieg der Arbeitslosigkeit in diesem Jahr zu bremsen — und die Arbeitslosigkeit mittelfri- (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Steuersen stig zurückzuführen? kung!) Festgestellt werden muß: Die Bundesregierung Tatsächlich aber trägt die Wirtschafts- und Finanz- selbst geht in ihrem Jahreswirtschaftsbericht nicht politik der Bundesregierung diesem Erfordernis nur davon aus, daß ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik zu eingeschränkt Rechnung. einem Rückgang der Arbeitslosigkeit führen wird. Im Beginnen wir mit dem privaten Verbrauch: Wir Gegenteil: Sie rechnet für dieses Jahr mit einem haben immer wieder darauf hingewiesen, die Erhö- Anstieg der Arbeitslosigkeit um rund eine halbe hung der Verbrauchsteuern und die Kürzung sozialer Million und mit einer Arbeitslosenquote von 10 %. Leistungen schmälern den privaten Verbrauch und (Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]: Unverant sind daher Gift für die Konjunktur. wortlich!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dabei ist von besonderer Bedeutung, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung ein sogenann- Auch die Finanzierung der notwendigen Maßnahmen für die deutschen Einheit, wesentlich über die Sozial- tes Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung zum integralen Bestandteil des Jahres- versicherungsbeiträge, ist wirtschaftspolitisch der fal- wirtschaftsberichtes erklärt hat. Der aufmerksame sche Weg. Statt den p rivaten Verbrauch zu stabilisie- auf Leser stellt aber zu seinem Erstaunen fest: Keine der ren, haben Sie Steuer- und Abgabenbelastungen im Aktionsprogramm vorgestellten Maßnahmen hat neue Rekordhöhen gebracht und die Preise nach oben - eben. Das sind auch wesentliche Gründe dafür, dazu geführt, daß die im Be richt vorgelegte Jahres- getri projektion zu Investitionen, Beschäftigung und weshalb im Jahre 1993 die realen Nettoeinkommen Wachstum nach oben korrigiert worden wäre. Die der westdeutschen Arbeiter spürbar gesunken sind. Bundesregierung geht also selber davon aus, daß das (Dr. Wolfg ang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Sie auch von Herrn Bundeswirtschaftsminister angespro- wollten doch noch mehr!) chene Aktionsprogramm 1994 keine nachhaltigen Wirkungen auf Wachstum und Beschäftigung haben Daß die Bundesregierung nicht erkannt hat, daß sich rivaten Ver- wird. die Schwächetendenzen jetzt auf den p brauch konzentrieren, beweist eine weitere Passage Dieser Einschätzung der Bundesregierung schlie- des Jahreswirtschaftsberichtes. Auf Seite 5 heißt es: ßen wir uns an, schließt sich auch die kritische Öffentlichkeit an. Dieses Aktionsprogramm — das ist Der Bund strebt in den Tarifverhandlungen 1994 keine Erfindung der SPD, Herr Bundeswirtschaftsmi- eine Nullrunde für den öffentlichen Dienst an. nister — wird in der kritischen Öffentlichkeit als Nach Adam Riese wären damit weitere reale Ein- politischer Aktionismus bewertet. kommensverluste programmiert, da die Bundesregie- (Beifall bei der SPD) rung ja bei Steuer- und Abgabenerhöhungen und bei der Inflation — wenn ich richtig orientiert bin — keine Es ist — etwas locker formuliert — mehr oder weniger Nullrunde vorgesehen hat. weiße Salbe. Es ist offenkundig, daß die Bundesregierung nicht (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Dann nur die konjunkturpolitische Bedeutung des Tarifab- können Sie zustimmen!) schlusses im öffentlichen Dienst, sondern auch die Es kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Auswirkungen ihrer Vorgaben auf die übrigen Tarif- Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung verhandlungen — ich formuliere zurückhaltend — seit langem eine ordnungspolitisch klare und tragfä- nicht ausreichend bedacht hat. hige Orientierung fehlt. Dabei könnte die Bundesre- (Detlev von Larcher [SPD]: Das haben wir ja gierung bei der Bundesbank nachlesen, wo sie anset- gerade gehört!) zen müßte, wenn Wachstum und Beschäftigung wirk- lich vorangebracht werden sollen. Die Bundesbank Kennzeichnend für die unstete Poli tik dieser Bun- schreibt in ihrem neuesten Monatsbericht: desregierung ist aber auch, daß ihre Festlegungen keinen Bestand haben. Ich unterstelle einmal, daß Für das Anhalten der Rezession sind vor allem auch der Herr Bundeskanzler ganz persönlich Zeit heimische Faktoren gefunden hat, im Jahreswirtschaftsbericht bis Seite 5 — vor allem heimische Faktoren — zu lesen, wo er mit seinem Kabinett eine Nullrunde für den öffentlichen Dienst gefordert hat. verantwortlich. Während der Konjunkturein bruch zunächst von einem Absacken der Aus (Dr. Uwe Jens [SPD]: Er liest zur Zeit landsnachfrage ausgelöst und verstärkt worden noch!) 18354 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) Dies hinderte ihn aber nicht daran, einige Wochen Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland): später eine Sockellohnerhöhung im öffentlichen Herr Abgeordneter, ich habe dies bereits mehrfach Dienst zu empfehlen. getan.

(Hans-Ulrich Klose [SPD]: Er ist nur bis (Zuruf von der CDU/CSU: Wiederholen Sie Seite 4 gekommen!) es doch noch einmal hier und jetzt! — Wei — Er ist nur bis Seite 4 gekommen. Ich vermag hier tere Zurufe von der CDU/CSU) natürlich nicht verbindlich zu erklären, bis zu welcher Seite unser Bundeskanzler ganz persönlich gekom- — Nun halten Sie doch einmal die Luft an! Ich wollte es men ist. gerade noch einmal wiederholen, auch für diejenigen, die nicht immer dazu kommen, zu lesen oder zuzuhö- (Heiterkeit bei der SPD) ren. Ich will darauf hinweisen, daß er mit der Sockel- lohnempfehlung natürlich auch das Thema der Bes- Ich halte in der gegenwärtigen konjunkturellen serverdienenden aufgegriffen hat, allerdings von der Situation angesichts des Rückgangs des privaten anderen Seite. Verbrauchs die Empfehlungen zu Nullrunden und zu Lohnkürzungen konjunkturell nicht für verantwort- Nur, meine Damen und Herren: Wenn Sie ord- bar. nungspolitische Klarheit wollen, dann sollten Sie nicht an dem vorbeigehen, was nun seit 20 Jahren kritisch (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten zu den Folgewirkungen der Sockellohnpolitik im der PDS/Linke Liste — [CDU/ Hinblick auf eine Beschäftigung zu niedrigen Löhnen CSU]: Da sprechen Sie wider besseres Wis in unserer Republik überall gesagt wird. Wenn Sie sen! Das ist reiner Populismus!) also beispielsweise so sehr gegen Besserverdienende polemisieren — — Meine Damen und Herren, zu Ihrer unsteten Politik, (Zurufe von der CDU/CSU: Wir doch nicht! — die dadurch gekennzeichnet ist, daß der Bundeskanz- Weitere Zurufe und Lachen bei der CDU/ ler wenige Wochen nach Erscheinen des Jahreswirt- CSU und der F.D.P.) schaftsberichts eine wichtige Festlegung selbst wie- der einsammelt, sage ich: Entweder hätte der Bundes- — Meine Damen und Herren, die Freude sei Ihnen kanzler wissen müssen, daß es unklug und wirkungs- gegönnt: Ich habe mich versprochen. - los sein würde, eine solche Formel in den Jahreswirt- Wenn Sie so sehr gegen die Forderung nach einer schaftsbericht zu schreiben. Dann hätte er verhindern gerechteren Beteiligung auch der Besserverdienen- müssen, daß der Satz mit der Nullrunde im öffentli- den an den Belastungen aus der Finanzierung der chen Dienst in den Jahreswirtschaftsbericht aufge- deutschen Einheit polemisieren, ist zumindest diese nommen wird. Oder aber der Bundeskanzler hat diese Empfehlung des Herrn Bundeskanzlers in sich nicht Formel bei den Beratungen im Kabinett für richtig konsequent. gehalten. Dann hätte er sie aber nicht selbst schon wieder in Frage stellen dürfen, als die Drucker- (Beifall der Abg. Ingrid Matthäus-Maier schwärze des Jahreswirtschaftsberichts noch nicht [SPD]) trocken war. Im übrigen sage ich Ihnen noch einmal, wenn Sie es nicht begreifen wollen: Wer soziale Leistungen kürzt, Inkonsequenter geht es doch nicht mehr, meine wer Verbrauchssteuern erhöht, wer soziale Versiche- Damen und Herren! Hier liegen die Ursachen der rungsbeiträge über Gebühr anhebt, wer Unterneh- Ergebnisse Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik. menssteuern stolz um 11 % gesenkt hat, der kann nicht für sich in Anspruch nehmen, daß er eine (Beifall bei der SPD) gerechte Verteilung der Lasten der deutschen Einheit Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben einige vornimmt. kritische Bemerkungen an die Leistungsträger in der (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ SPD gemacht. DIE GRÜNEN — Zurufe von der CDU/ CSU) (Zuruf von der CDU/CSU: Da gibt es doch gar keine!) Heiner Geißler hat auf Ihrem Bundesparteitag gesagt: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Ministerpräsi- Nur wer sich selbst imponiert, imponiert anderen. dent, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- neten Hirsch? (Heiterkeit bei der SPD) Ich mache Sie vorsorglich darauf aufmerksam, Herr Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland): Mit Bundeswirschaftsminister, daß dies kein Naturgesetz großem Vergnügen. Bitte sehr. ist. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren, Heiner Geißler hat Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Ministerpräsi- nämlich an anderer Stelle gefordert, man könne das dent, würden Sie uns das Vergnügen machen, uns Ihre Bundeswirtschaftsministerium ja auch abschaffen. Ob Position zu der Frage der Nullrunde und der — wie Sie dies ein Kompliment an die Leistungsträger in Ihren es nennen — Sockellohnerhöhung darzustellen? Reihen ist, werfe ich zumindest als Frage auf. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18355

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) Auch ein anderer, der ehemalige Bundeskanzler Abschlüsse im öffentlichen Dienst ist und ob das I , hat eine ähnliche Äußerung Saarland bei diesen Verhandlungen auf der Arbeitge- gemacht. berseite eine abweichende Auffassung, ein Sondervo- (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Den tum, gegenüber den übrigen Verhandelnden ver- sollten Sie nicht zitieren! Das ist der mit den tritt? Sekundärtugenden!) (Saarland): Man kann seine Kritik an der Wirtschafts- und Ministerpräsident Oskar Lafontaine Finanzpolitik natürlich auf verschiedene Art und Herr Abgeordneter, bei Tarifverhandlungen ist es Weise ausdrücken; aber ein Kompliment an die Lei- immer so, daß die Tarifpartner zunächst von zwei stungsträger in Ihren Reihen, meine Damen und Maximalforderungen ausgehen. Herren, ist diese öffentliche Diskussion nun bei Gott (Zuruf von der F.D.P.: Aha!) nicht. Das wollen wir doch einmal festhalten. Dies ist Ihnen sicherlich bekannt. Auf der anderen (Beifall bei der SPD) Seite wäre es dumm, töricht und absurd — um ein berühmtes Wort aufzugreifen —, wenn ich von hier Wenn von der Bundesregierung selber die konjunk- aus Festlegungen träfe, wie das Endergebnis der turelle Notwendigkeit übersehen wird, den privaten Tarifverhandlungen aussehen wird. Genau dies kriti- Verbrauch zu stärken, dann wundert es nicht, wenn auch einzelne Arbeitgeberverbände übersehen, daß siere ich bei Ihnen. Tarifverträge auch den konjunkturellen Erfordernis- (Beifall bei der SPD) sen Rechnung tragen müssen. Ich wiederhole noch einmal: Pauschale Lohnkürzungen und Nullrunden Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Gestatten Sie eine passen nicht in die konjunkturelle L andschaft. Sie weitere Zwischenfrage? würden den privaten Verbrauch weiter schwächen und die Arbeitslosigkeit noch weiter erhöhen. Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland): Ja, Es wäre daher notwendig, daß die Bundesregierung bitte. Dann aber würde ich bitten, im Zusammenhang das falsche Signal, das sie beim öffentlichen Dienst mit vortragen zu dürfen. ihrem Jahreswirtschaftsbericht den Tarifpartnern gegeben hat, korrigiert. Sie muß deutlich machen, daß Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das können Sie sie selber im Jahreswirtschaftsbericht an einer- ande- entscheiden. ren Stelle von einem moderaten Anstieg der Brutto- lohn- und gehaltssumme ausgegangen ist und daß Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland): dieser Anstieg Voraussetzung für das von ihr progno- Bitte sehr. stizierte Wachstum ist. Wenn dieser nämlich nicht kommt, können Sie die Zahlen korrigieren oder in den Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Unter Hinweis auf Wind schreiben, wie immer Sie das formulieren wol- den Sachverhalt, daß Sie meine Frage nicht beantwor- len. tet haben, wiederhole ich: Ist es also richtig, wenn ich Meine Damen und Herren, ich stimme Ihnen zu, daß Ihrer Antwort entnehme, daß das Saarl and kein Son- wir jetzt, in dieser labilen Lage der Konjunktur, keinen dervotum eingenommen und ausdrücklich den Aus- Streik gebrauchen können. Wir sollten aber all dieje- gangspunkt einer Nullrundenforderung akzeptiert nigen einfangen, die an der falschen Stelle mit über- hat? zogenen Forderungen operieren. Pauschale Lohnkür- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zungen und Nullrunden passen tatsächlich nicht in die konjunkturelle Landschaft. Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland): (Beifall bei der SPD) Unter Hinweis, Herr Abgeordneter, darauf, daß Sie meine Antwort nicht verstanden haben, wiederhole Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Ministerpräsi- ich: Es ist töricht, öffentlich Ergebnisse von Tarifver- dent, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeord- handlungen festklopfen zu wollen. neten Faltlhauser? (Beifall bei der SPD) Pauschale Lohnkürzungen und Nullrunden wären Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland): sozialpolitisch nicht vertretbar. Sie würden die Gerne, wenn es mir nicht auf die kostbare Redezeit schwierige Lage der einkommensschwächeren Ar- angerechnet wird. beitnehmer noch weiter verschärfen. Über die netto (Dr. Wolfg ang Schäuble [CDU/CSU]: Viel lohnbezogene Rentenformel würden sie auch dazu geht da von Ihrer Zeit nicht verloren!) führen, daß es im nächsten Jahr erstmals zu einer — Herr Abgeordneter Dr. Schäuble, auf Sie komme Kürzung der Renten kommt. Diese Gefahr droht erst ich bei Gelegenheit noch zu sprechen. Sie können sich recht angesichts der Steuer- und Abgabenerhöhung, darauf freuen. die die Bundesregierung vorsieht. Bitte schön. Wer solche Maßnahmen vorschlägt, meine Damen und Herren, muß der Öffentlichkeit auch die Konse- quenzen darlegen. Nachdem Sie an zwei Stellen Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Herr Ministerprä- sident, könnten Sie mir und diesem Hause im Zusam- schwere Fehler begangen haben, indem Sie gesagt menhang mit Ihrer Ablehnung der Nullrunde Aufklä- haben, es gebe keine Steuererhöhungen, dann aber rung darüber geben, wie die Haltung des Saarlandes eine Steuererhöhungsorgie durchgeführt haben, bei den gegenwärtigen Verhandlungen über die (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Genau!) 18356 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) indem Sie weiter gesagt haben, es werde keine Arbeitnehmer sind, die den Wohlstand durch ihre Kürzung sozialer Leistungen geben — ich zitiere den Arbeit geschaffen haben. Herrn Bundeskanzler: Von Kürzungen sozialer Lei- stungen kann gar keine Rede sein —, dann aber (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ul rich soziale Leistungen in großem Umfang gekürzt haben, Briefs [fraktionslos] — Zurufe von der CDU/ ermahne ich Sie, den Rentnerinnen und Rentnern die CSU und der F.D.P.) Wahrheit zu sagen und die Konsequenzen Ihrer Poli tik Deshalb ist es eine ordnungspolitische Fehlorientie- nicht zu verschweigen. rung Ihrer Regierung, daß Sie bei Leistungsträgern immer nur an diesen einen Teil denken. (Beifall bei der SPD) Über diese Konsequenzen und über diese Verant- (Anhaltende Zurufe von der CDU/CSU und wortung müssen sich Bundesregierung und Tarifpart- der F.D.P.) ner im klaren sein. Wir brauchen jetzt dringend Das sehen Sie ja auch an der Kompensationsdebatte. konjunkturgerechte Tarifabschlüsse. Ich appelliere Ich will das Thema jetzt hier nicht noch einmal an beide Tarifparteien, aufeinander zuzugehen und aufwärmen. Wenn Sie die Kompensationsdebatte zu einem vernünftigen Kompromiß zu finden. wirklich ordnungspolitisch klar geführt hätten, dann hätten Sie darauf hinwirken müssen, daß die Lohnne- Beim privaten Verbrauch ist nachgewiesen, daß die benkosten nicht weiter steigen, daß auch die Arbeit- Bundesregierung durch ihre Entscheidungen die rezessiven Tendenzen eher verstärkt hat. Bliebe die nehmer nicht weiter und zusätzlich belastet werden; Hoffnung, daß ausreichende Maßnahmen ergriffen denn nicht nur die Leistungsträger in der Wirtschaft, unter denen Sie Unternehmer und Selbständige ver- werden, um die Investitionstätigkeit zu fördern. Dabei wird als bekannt vorausgesetzt, daß der Rück- stehen, müssen entlastet werden, auch die Arbeitneh- gang der Gesamtnachfrage die Investitionstätigkeit mer können nicht ständig mit steigenden Steuern und nicht gerade anregt. Insbesondere bei der Förderung Abgaben belastet werden. der Investitionstätigkeit muß sich die Bundesregie- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf- rung Versäumnisse vorwerfen lassen. Daß das Prinzip gang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]) Rückgabe vor Entschädigung die Investitionen in den neuen Ländern entscheidend behindert hat, ist mitt- Das Gesetz zur Förderung der Stabilität und des lerweile nicht mehr bestritten. Wachstums der Wirtschaft sieht in § 26 für Investitio- nen einen Abzug von der Einkommensteuer in Höhe (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Wohl wahr!) von 7,5 % vor, der anzuwenden ist, „wenn es zu einem Die Bundesregierung trägt hierfür die Verantwor- erheblichen Rückgang der Nachfrage nach Investi- tung. tionsgütern oder Bauleistungen kommt". Diese Lage ist ohne Frage gegeben. Aber auch die Steuerpolitik der Bundesregierung Jetzt müßte alles getan werden, um die Unterneh- hat die Aufgabe, die Investitionen der Unternehmen men zu mehr Investitionen zu bringen. Die Bundesre- zu fördern, nicht ausreichend erfüllt. Es nimmt sich im gierung hat durch ihre nachhinein wie ein wirtschaftspolitischer Treppen- Schuldenpolitik ihren Hand- lungsspielraum so eingeengt, daß konjunkturell gebo- witz aus, daß die Bundesregierung beim Standortsi- tene Maßnahmen zur Förderung der privaten Investi- cherungsgesetz eine Verschlechterung der Abschrei- tionen auf ernstzunehmende finanzpolitische Ein- bungsbedingungen für Investitionen vorgeschlagen wände stoßen. Das zeigt: Die Finanzpolitik der Bun- hat. Wir haben das im Bundesrat verhindert. So desregierung wird auch zum Investitionshindernis. konnte diese Bestrafung der investierenden Unter- Solange die Bundesregierung keine glaubwürdige nehmen gerade noch abgewendet werden. Konsolidierungsperspektive vorlegt — und daß Sie die Um die Investitionskraft der Unternehmen zu stär- nicht haben, bescheinigen Ihnen alle Sachverständi- ken, wollen wir auch die Lohnnebenkosten senken. gen und die Bundesbank —, liefert sie auch der Wir wollen eine wirtschaftspolitisch vernünftige Bundesbank die Argumente für eine zurückhaltende Strukturreform: auf der einen Seite Senkung der Geldpolitik. Es wäre außerordentlich wünschenswert, Arbeitslosenversicherungsbeiträge und im Gegen- wenn die Bundesbank in der gegenwärtigen Situation zug eine gerechte und systematisch saubere Steuerfi- die Zinsen mutiger senken könnte, um damit zu einem nanzierung. Aufschwung in Deutschland und in Europa beizutra- gen. Diese Forderung wird auch aus dem Kreis der G 7 (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Und erhoben. gleichzeitig Steuersenkungen!) Tatsache ist aber, daß die Bundesbank nach eige- Diese Senkung der Lohnnebenkosten würde alle nem Bekunden diese notwendigen geldpolitischen Arbeitnehmer und alle Unternehmen entlasten. Das Maßnahmen nicht ergreifen kann, weil die Bundesre- käme nicht zuletzt auch den kleinen und mittleren gierung nicht in der Lage ist, einen vertrauensbilden- Unternehmen zugute. den Konsolidierungspfad darzulegen, auf den sich die Meine Damen und Herren, auch hier eine kritische Märkte verlassen können. Bemerkung an Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister; (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht um zu polemisieren. Wenn Sie von Leistungsträ- gern sprechen, dann dürfen Sie nicht nur an den Im Gegenteil, der Anstieg der Staatsverschuldung Mittelstand, an selbständige Unternehmer oder Politi- wird immer mehr zu einer Belastung für die wirtschaft- ker denken, dann müssen Sie endlich erkennen, daß liche Entwicklung unseres Landes. Die sprunghaft die Leistungsträger in unserer Volkswirtschaft die steigende Staatsverschuldung ist auch die Hauptursa- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18357

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) che für die gegenwärtige Vertrauenskrise bei Investo- chen. Jetzt versuchen Sie, diesen Fehler zu korrigie- ren und Verbrauchern. ren. Ich wiederhole: Was ist das für eine unstete Vor allem der Anstieg der Zinsbelastung ist besorg- Wirtschafts- und Finanzpolitik, niserregend. Die Zinsausgaben des Bundes und seiner (Beifall bei der SPD) Nebenhaushalte lagen 1982 noch bei 28 Milliarden DM; in diesem Jahr sind es über 100 Milliarden DM. die übersieht, welchen Beitrag das Handwerk zur 1997 sind es nach den Planungen der Bundesregie- Stabilität der Beschäftigung überall bei uns geleistet rung rund 130 Milliarden DM. hat und in Zukunft leisten muß! (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Trifft das Im Gegensatz zu dem früheren Zuschußprogramm für das Saarland auch zu?) sind die jetzt vorgesehenen Darlehen aber nur ein — Ich will Ihnen das gerne beantworten, Herr Abge- halbherziger Versuch. ordneter, da Sie mir das immer wieder entgegenhal- ten. Im Saarland wurde 1985 zum ersten Mal eine Das ist keine glaubwürdige Mittelstandspolitik. Opposition aus dem Stand heraus in eine absolute Dieses Hin und Her, diesen Aktionismus kann sich der Mehrheit gewählt und mit der Regierungsbildung wirtschaftliche Mittelstand und kann sich der Standort beauftragt. Warum? — Weil die Wirtschaft katastro- Deutschland nicht leisten. Gerade die kleinen und phale Ergebnisse hatte und die Finanzen total zerrüt- mittleren Unternehmen und die Existenzgründer tet waren. brauchen klare und berechenbare Rahmenbedingun- (Beifall bei der SPD) gen. Wenn ich an die nächsten Monate denke: So etwas Meine Damen und Herren, wenn Sie Ihre Steuerpo- wiederholt sich; davon können Sie mit Sicherheit litik der letzten Jahre selbst als klar und berechenbar ausgehen, meine Damen und Herren. bezeichnen, dann weiß ich wirklich nicht, was wir (Beifall bei der SPD) unter klar und berechenbar verstehen. Dieser sprunghafte Anstieg der Zinsbelastung führt (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Aber es war eine den Bund in die Handlungsunfähigkeit. Die Finanz- Politik für den Mittelstand! — Widerspruch politik muß — damit zitiere ich — durch bei der SPD) Säen und Jäten alles daransetzen, die Handlungsfä- higkeit des Staates wiederherzustellen. Die Grenzen Bei dieser Bundesregierung ist die mittelständische der Staatsverschuldung sind zweifelsfrei erreicht. Wirtschaft mehr und mehr zum Stiefkind geworden. Deshalb müssen wir jetzt mit einem mittelfristig ange- Die Unternehmenssteuersenkungen der letzten legten Sanierungskonzept eine glaubwürdige Konso- Jahre, meine Damen und Herren, haben teilweise den lidierungsperspektive schaffen. Nachteil gehabt, daß sie den kleinen Bet rieben relativ Konjunktur und Arbeitsmarkt werden auch dadurch wenig gebracht haben. Wir haben in Verhandlungen belastet, meine Damen und Herren, daß der Bundes- immer wieder darauf hingewiesen, beispielsweise bei regierung in der Mittelstandspolitik eine klare Orien- den Lohnnebenkosten etwas zu tun. Dies hätte allen tierung fehlt. Sie hat 1991 das Eigenkapitalhilfepro- Betrieben, auch dem kleinsten Bet rieb, etwas gramm in Westdeutschland abgeschafft. Jetzt, kurz gebracht, und wenn er nur eine Halbtagskraft vor den Wahlen, will sie es wieder einführen. Was ist beschäftigt hätte. Aber Sie haben diese Forderungen denn das für eine unstete Wirtschafts- und Finanzpo- immer wieder in den Wind geschlagen und teilweise, litik! eben bei der Vermögensteuer, in erster Linie die (Beifall bei der SPD) Betriebe entlastet, die sowieso nebenher noch Finanz- anlagen großen Umfanges vorhalten. Wundern Sie sich dann noch, daß nichts mehr draußen ankommt, was Sie vielleicht jetzt in guter Absicht (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ul rich wieder beschließen? Briefs [fraktionslos]) Die jetzt geplante Abschaffung des Rabattgesetzes, Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Ministerpräsi- meine Damen und Herren, wird vom Mittelstand ganz dent, gestatten Sie eine Zwischenfrage? entschieden abgelehnt. Wie die Bundesregierung mit Preisklarheit und Preiswahrheit der Beseitigung von den Standort Deutschland stärken will, ist nach Mei- Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland): nung der großen Mehrheit des Handels und der Nein, ich würde jetzt bitten, daß ich nicht ständig von Fachinstitutionen ihr Geheimnis. Die Folge wird eher Fragen unterbrochen werde; ich habe das vorhin sein, daß die Großbetriebe die kleinen und mittleren angedeutet. Ich würde gerne im Zusammenhang Einzelhandelsbetriebe noch mehr vom Markt ver- vortragen. drängen. Jetzt, kurz vor den Wahlen, will sie dies wieder Es darf daher niemanden überraschen, daß nach einführen. Wir begrüßen das, meine Damen und einer Meinungsumfrage des Europaverbandes der Herren. Das kommt aber leider viel zu spät. Die Selbständigen 96 % der Klein- und Mittelbetriebe mit Chancen, rechtzeitig Maßnahmen zu mehr wirtschaft- der Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung unzu- licher Dynamik zu beschließen, sind vertan. frieden sind. Um dies zu korrigieren, meine Damen Ein weiteres Beispiel: Sie selbst, meine Damen und und Herren, haben wir die Anhebung des Freibetra- Herren, haben die Aufstiegsfortbildung nach dem ges für die Klein- und Mittelbetriebe durchgesetzt AFG für angehende Handwerksmeister völlig gestri- und immer wieder auch eine steuerstundende Inve- 18358 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) stitionsrücklage gefordert, um die Investitionstätig- Es kann von uns nicht bestritten werden — ich halte keit der Klein- und Mittelbetriebe zu fördern. nichts von pauschalen Urteilen —, daß die Bundesre- gierung, was die öffentliche Infrastruktur angeht, (Beifall bei der SPD) enorme Anstrengungen in den neuen Bundesländern Sie sind viel zu spät darauf eingegangen. Sie haben es unternommen hat. Aber genauso richtig ist es, daß Sie nur anders genannt. Aber wir begrüßen, daß Sie es versäumt haben, einen Schwerpunkt auf den Ausbau dann aufgenommen haben. der Forschungsinfrastruktur in den neuen Ländern zu legen. Dies wäre dringend geboten gewesen, meine Die Wirtschaftspolitik muß sich stärker als bisher Damen und Herren. den berechtigten Anliegen des wirtschaftlichen Mit- telstandes zuwenden. Die kleinen und mittleren (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ul rich Unternehmen sind das Rückgrat unserer Volkswirt- Briefs [fraktionslos]) schaft: Sie erbringen in den alten Ländern rund 50 % Entscheidende Voraussetzung für Wohlstand und der gesamten Wirtschaftsleistung, sie stellen rund Beschäftigung in Deutschl and ist die Qualifikation der 70 % der Arbeitsplätze, und sie übernehmen rund Menschen. Bildungsinvestitionen sind die wichtig- 85 % der gesamten Ausbildungsleistungen unserer sten Investitionen in die Zukunft unseres Landes. Volkswirtschaft. Sie hätten es wirklich verdient, stär- Deshalb wollen wir beispielsweise dafür sorgen, daß ker in den Mittelpunkt unserer Wirtschafts- und auch der Bund seine Verpflichtung beim Hochschul- Finanzpolitik gestellt zu werden. bau erfüllt. Damit wollen wir eine der wichtigsten Forderungen des Bildungsgipfels in die Tat umset- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ulrich zen. Briefs [fraktionslos]) Wir wollen auch dafür sorgen, daß die BAföG Es muß ebenfalls darauf hingewiesen werden: Für den Leistungen an die steigenden Lebenshaltungskosten Standort Deutschland ist es lebensgefährlich, daß bei angepaßt werden. Das jetzt von der Bundesregierung dieser Bundesregierung Forschung, Bildung und Wis- geplante Einfrieren bis 1996 würde dazu führen, daß senschaft vernachlässigt werden. sich die Studienzeiten eher verlängern, weil sich die (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Transra Studenten eben mehr einem Nebenerwerb widmen pid — was macht ihr da?) müssen. Diese Maßnahme würde auch bedeuten, daß - das Studium wieder mehr zum Privileg der Begüter- Auch bei ihrer jüngsten Kürzungsrunde hat die Bun- ten wird. desregierung den Forschungsetat als Steinbruch (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Unfug!) benutzt. — Herr Abgeordneter Solms, Sie rufen hier „Transrapid" dazwischen. Sehen Sie, Sie haben bei Wir dürfen aber nicht zulassen, daß die Intelligenz und der Forschungspolitik des Bundes — das war nicht nur die Leistungsfähigkeit der Kinder aus sozial schwä- diese Bundesregierung, sondern, das füge ich fairer- cheren Familien ungenutzt bleiben. weise hinzu, das waren auch Vorgängerregierun- (Beifall bei der SPD) gen — schon manches Milliardengrab anfinanziert Meine Damen und Herren, auch hier ein Beispiel für und dann ohne Ergebnis liegenlassen. die unstete Politik dieser Regierung: Es war noch nicht (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: In vom Kabinett beschlossen, da hat es der neu gewählte bester Absicht!) Minister schon in Frage gestellt. Was wollen Sie den Menschen eigentlich noch glaubwürdig erzählen, — In bester Absicht, selbstverständlich. Ich unterstelle wenn Sie all das kassieren, was Sie einige Wochen Ihnen beim Transrapid auch keine schlechte Absicht. vorher mit großer Begründung nach draußen posaunt Darum geht es nicht. Aber ich sehe einfach nicht, daß haben? sich Gesamteuropa auf dieses System umstellt; und nur dann hätte es einen Sinn. Wenn das aber nicht (Beifall bei der SPD) erfolgt, bleibt es eine Einzelmaßnahme, die in sich Um die internationale Wettbewerbsfähigkeit unse- unschlüssig und inkonsequent ist. res Standorts zu stärken, brauchen wir auch eine ökologische Modernisierung. Ökologie ist ein Gebot (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ul rich der ökonomischen Vernunft. Wir müssen die Rahmen- Briefs [fraktionslos]) bedingungen dafür setzen, daß die deutsche Wirt- Aber Sie wollen aus Fehlern nicht lernen. Sie wollen schaft auf den Zukunftsmärkten für energiesparende auch die kritischen Stimmen der Öffentlichkeit nicht Produkte und Umweltschutz erfolgreich ist. hören. Deshalb werden die Wählerinnen und Wähler Die Bundesregierung hat sich in bezug auf die diesen falschen Kurs korrigieren müssen. Stabilisierung des privaten Verbrauchs und die För- Wenn die internationale Wettbewerbsfähigkeit der derung der Investitionstätigkeit keine großen Meriten deutschen Wirtschaft dauerhaft gesichert werden soll, erworben. Da könnte man vielleicht erwarten, daß über die müssen wir mehr in Forschung, Entwicklung, Bildung Arbeitsmarktpolitik der Versuch unternom- men würde, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Aber und Wissenschaft investieren. Wir müssen die anwen- dungsorientierte Forschung stärken. Wir müssen auch hier ist die Bilanz eher negativ. Zum falschen auch für eine schnellere Umsetzung neuer Technolo- Zeitpunkt wurden bei der Bundesanstalt für Arbeit die gien in marktgängige Produkte und Produktionsver- Mittel für Beschäftigung, Aus- und Weiterbildung fahren sorgen. Wir müssen vor allem auch dafür gekürzt. Dadurch wurde die Arbeitslosigkeit in unse- rem Lande weiter erhöht. sorgen, daß in den neuen Ländern eine leistungsfä- hige Forschungslandschaft aufgebaut wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18359

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) Wenn wir den sozialen Sprengstoff der Massenar- Nach diesen Einsichten und nach dieser Feststellung beitslosigkeit entschärfen wollen, müssen wir die blieb dem Fragesteller Ulrich Wickert nur noch die aktive Arbeitsmarktpolitik nachhaltig stärken. Die verblüffte Feststellung: Leitidee der aktiven Arbeitsmarktpolitik muß sein, die Sie haben ja in Ihrer Rede fast wie ein Opposi- Mittel, die jetzt vor allem noch für die Bezahlung von tionsführer geredet. Sie haben von jahrzehnte- Arbeitslosigkeit ausgegeben werden, künftig ver- langen Verwerfungen gesprochen ... Nun regie- stärkt zur Finanzierung sinnvoller Arbeit einzuset- ren Sie schon zwölf Jahre. zen. Tatsache ist, meine Damen und Herren: Allen Der reguläre Arbeitsmarkt hat Vorrang. Wir brau- Beobachtern fällt auf, daß diese Bundesregierung chen aber auch einen öffentlich geförderten Arbeits- nach zwölf Jahren Regierungstätigkeit plötzlich in die markt als Beschäftigungsbrücke in den regulären Rolle der Opposition schlüpfen möchte. Arbeitsmarkt. Wenn wir die Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen wollen, führt an einer intelligenteren (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ und gerechteren Verteilung der Arbeit kein Weg CSU) vorbei. Wir brauchen mehr Flexibilität und Verkür- Auch wenn es unsere erklärte Absicht ist, Sie in Ihrem zung der individuellen Arbeitszeit. Wir brauchen Begehren, in die Opposition zu kommen, nach Kräften eine umfassende Teilzeitoffensive. Überall müssen zu unterstützen, so müssen wir Sie doch, solange Sie mehr Teilzeitarbeitsplätze geschaffen werden: in der noch in der Regierungsverantwortung sind, an eben privaten Wirtschaft, auch im öffentlichen Dienst. Der diese Regierungsverantwortung erinnern. Sie haben Staat muß dabei Hilfestellung leisten. zwölf Jahre lang die Richtlinien der Wirtschafts- und Auch hier ein Beispiel für Ihre mangelnde länger- Finanzpolitik bestimmt. Deswegen tragen Sie auch fristige ordnungspolitische Orientierung: Noch vor die politische Verantwortung für den desolaten einiger Zeit geißelte der verehrte Herr Bundeskanzler Zustand von Wirtschaft und Finanzen unserer Repu- alle Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung als blik. dumm, töricht und absurd, wie er zu sagen pflegt. Um (Beifall bei der SPD) seinen Vorbehalt gegen diese Forderung bildhaft Herr Bundeswirtschaftsminister, Sie haben hier deutlich zu machen, vergriff er sich in der Wortwahl echauffiert vorgetragen: Ihnen laufen die Leute weg. und sagte dem erstaunten Volk, daß Deutschland kein Ich weiß nicht, wen Sie mit „Ihnen" gemeint haben. Freizeitpark werden dürfe. Die Bundesregierung sah Sie haben das zur linken Seite des Hauses gesagt. die Arbeitszeitverkürzung als eines der gravierenden Aber wenn man sich draußen im Lande umsieht, stellt Standortprobleme an und leistete damit Fehlentwick- man fest, daß uns eher die Leute zulaufen, und Ihnen lungen der Wirtschaft erheblichen Vorschub. laufen sie weg. Denn die Leute haben allmählich gemerkt, was die Folgen Ihrer Wirtschafts- und (Beifall bei der SPD) Finanzpolitik sind. Nun aber — meine Damen und Herren, wir begrüßen (Beifall bei der SPD) dies — wurde Saulus Kohl zum Paulus der Arbeitszeit- verkürzung. Ich zitiere den Herrn Bundeskanzler Meine Damen und Herren, das Urteil, das die ganz persönlich: Bundesbank in ihrem Monatsbericht gefällt hat, ist richtig: „Für das Anhalten der Rezession sind vor Wir haben jetzt etwas über 4 Millionen Arbeits- allem heimische Faktoren verantwortlich." Statt die lose in Deutschland. Das ist viel zuviel. Binnenkonjunktur zu stärken, verursacht die Bundes- regierung mit Steuer - und Abgabenerhöhungen und Wo er recht hat, hat er recht. mit Nullrunden eine weitere Schwächung des priva- ten Verbrauchs. Statt die Investitionstätigkeit zu för- Aber wir haben vor der Haustür ja das Beispiel mit dern, schlägt die Bundesregierung Maßnahmen vor, den Niederländern. Die sind mit uns vergleich- die das Gegenteil bewirken. bar. Und in den Niederlanden sind 34 % der Arbeitsplätze Teilzeitarbeitsplätze. Und bei uns Statt mit einer glaubwürdigen Konsolidierungsper- sind es gerade 14 %. Wir haben zweieinhalb spektive die Vertrauenskrise zu überwinden, wird die Millionen Leute, die gerne Teilzeitarbeitsplätze Bundesregierung mit ihrer Finanzpolitik mehr und haben würden, die schon arbeiten. Das heißt, wir mehr zur Belastung für Konjunktur und Arbeitsmarkt. können schnell umwandeln ... Der Staat — ich Statt mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik alle muß das auch zu uns sagen, Bund, Ländern und Anstrengungen zum Abbau der Arbeitslosigkeit zu Gemeinden —, die Firmen, die Gewerkschaften unternehmen, beschneidet die Bundesregierung die müssen jetzt versuchen, diejenigen, die das wol- Möglichkeiten der Bundesanstalt für Arbeit und len, möglichst rasch auf diese Möglichkeit umzu- behindert eher eine beschäftigungsorientierte Lohn- setzen, neue Plätze zu schaffen. politik. Statt sich in Brüssel für eine europäische Wachstumsinitiative einzusetzen, blockiert die Bun- Recht hat der Bundeskanzler. Nur: Diese Einsicht desregierung Vorschläge der Kommission und verhin- kommt leider viel zu spät. Seine langjährige Weige- dert damit ein abgestimmtes Vorgehen der europäi- rung, eine intelligente Verteilung der Arbeit anzuge- schen Wirtschaft, um mehr Wachstum und Beschäfti- hen, ist mit Ursache dafür, daß wir diese hohen gung zu erreichen. Arbeitslosenzahlen haben. Der Jahreswirtschaftsbericht zeigt: Diese Bundesre- (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ gierung hat kein überzeugendes Konzept, um die CSU) Arbeitslosigkeit, die die Menschen so sehr bedrückt, 18360 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Ministerpräsident Oskar Lafontaine (Saarland) endlich zurückzuführen. Wenn der Bundeskanzler niedrigere Zinsen kommen, hat er erstens übersehen, nach Meinung der Journalisten selbst schon wie ein daß wir ein historisch niedriges Zinsniveau haben, Oppositionsführer redet, spürt er offensichtlich, daß die Ara Kohl zu Ende geht. Angesichts der Rekord- (Detlev von Larcher [SPD]: Sie können nicht zahlen bei Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung einmal zuhören!) spüren immer mehr Menschen, daß die Zeit für einen und er hat zweitens vergessen, daß die Bundesbank Neubeginn in der deutschen Wirtschafts- und Finanz- die Tarifpartner zu Recht ermahnt, in der jetzigen politik gekommen ist. Aber Ihnen trauen die Men- Situation keine hohen Lohnforderungen zu stellen schen das nicht mehr zu. und niedrige Tarifverträge abzuschließen, damit wir (Anhaltender Beifall bei der SPD sowie Bei die Probleme der nächsten Jahre bewältigen. fall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das war es Meine Damen und Herren, zum Jahreswirtschafts- nicht, Herr Lafontaine! — Gegenruf von der bericht — der Bundeswirtschaftsminister hat ihn vor- SPD: Das war doch nicht schlecht! — Zuruf gestellt — kann man sagen: Die Konjunktur hat die von der CDU/CSU: Sie sind sehr bescheiden Talsohle durchschritten. Dies ist nicht die Behauptung geworden!) der CDU, sondern die positiven Anzeichen für einen moderaten Aufwärtstrend sind unübersehbar. So haben vor allem die deutschen Anlagen- und Maschi- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht nenbauer, die als erste von der Krise gepackt wurden, der Kollege Rainer Haungs. festgestellt: Sie haben seit Jahresfrist einen höheren Auftragseingang, nämlich um 15 % höher. Es sind vor allem die Auslandsbestellungen, die nach dem klassi- Rainer Haungs (CDU/CSU): Frau Präsidentin! schen Muster eines Aufschwungs über den Export Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn dies wieder zur Belebung der Konjunktur beitragen. die konzeptionelle Rede des wirtschaftspolitischen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Sprechers der SPD-Fraktion für die Gestaltung des Industriestaates Deutschland und für die Lösung sei- Die Frühjahrsumfrage des DIHT bei 20 000 west- ner Probleme deutschen und 5 000 ostdeutschen Unternehmen (Detlev von Larcher [SPD]: Die Sie geschaf- zeigte ein klares Bild: Die Rezession in der westdeut- fen haben!) schen Wirtschaft ist zum Stillstand gekommen; in im kommenden Jahrzehnt sein soll, dann kann uns Ostdeutschland gewinnt der Aufholprozeß an Tempo und Breite. Und wenn Sie nach den Reaktionen in der nicht bange werden. Wirtschaft zur Politik der Koalition fragen, dann kann (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ich Ihnen sagen — es ist ja sehr gut nachzulesen —, In dieser Rede hat er nur eine richtige Frage gestellt: daß sich nicht zuletzt der DIHT-Präsident Stihl ausge- Welche Maßnahmen müssen wir ergreifen, um den sprochen positiv über all die Maßnahmen in unserem Anstieg der Arbeitslosigkeit zu bremsen und mittel- Programm für Wachstum und Beschäftigung und in fristig zurückzuführen? Aber er hat keine Antwort auf unserem Aktionsprogramm geäußert hat. diese Frage gegeben. Sie, Herr Ministerpräsident, haben in Ihrer Rede ein (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — paar Dinge abgeschrieben, bei denen wir bereits Zuruf von der SPD: Sie haben nicht zuge dabei sind, sie durchzusetzen. Sie haben übersehen, hört!) daß alle entscheidenden Punkte, die wir hier durch- Er hat eine richtige Antwort gegeben, nämlich den setzen können, in dem Aktionsprogramm enthalten Appell an die Tarifpartner gerichtet, in dieser wirt- sind. schaftlichen Situation nicht zu streiken. Nur war dieser Appell nicht hilfreich; denn er war damit Ich füge hinzu: Dieses Aktionsprogramm wird den verbunden, aus konjunkturpolitischen und beschäfti- Anstieg der Arbeitslosigkeit bremsen. Wir werden in gungspolitischen Gründen — so habe ich ihn verstan- den nächsten Monaten einige hunderttausend neue den — auf möglichst starke Lohnerhöhungen zu Arbeitsplätze schaffen, und Sie werden uns daran drängen. messen können. Uns allen ist klar, daß der Arbeits- markt erst 1995 — also mit einem zeitlichen Verzug (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Un zum Aufschwung der Konjunktur — wieder so greifen glaublich!) wird wie in der Vergangenheit. Wenn dies die wirtschaftspolitische Kompetenz sein soll, den Unternehmen, die im Wettbewerb stehen, zu Aber, meine Damen und Herren, wir haben über- helfen, ihre Strukturprobleme zu lösen, wenn m an aus haupt keinen Grund, an unseren Maßnahmen zu opportunistischen Gründen jetzt dies sagt — denn wer zweifeln, weil uns der erste klassische Konjunkturauf- von den Arbeitnehmern hätte nicht gern mehr Geld in schwung in den 80er Jahren ebenfalls drei Millionen der Tasche —, dann ist dies die alte opportunistische neue Arbeitsplätze geschaffen hat. Ich habe in Ihren Politik der SPD, von der Hand in den Mund zu ganzen Reden und Ausführungen außer dem Hinweis, leben. daß man die Unternehmenssteuern nicht senken sollte — es gab eine deutliche Kritik an Unternehmens- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) steuersenkungen — und daß man die Löhne erhöhen Wenn er die Bundesbank zitiert, indem er sie sollte, keinen Beitrag gehört, wie Sie die Wettbe- ermahnt, sie möge doch endlich dafür sorgen, daß werbsfähigkeit der Unternehmen sichern und damit Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18361

Rainer Haungs die Voraussetzungen für neue Arbeitsplätze schaffen um kurzfristig den Anstieg der Arbeitslosigkeit zu wollen. bremsen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, ich habe darauf hinge- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter wiesen, daß der Export wieder anzieht. Besonders gilt Haungs, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- dies für die Märkte in Südamerika, in Nordamerika ordneten Mosdorf? und in Südostasien. Diesen Unternehmen, die sich dort im harten Wettbewerb neue Märkte auch mit neuen Produkten erschließen, können Sie bei Gele- Rainer Haungs (CDU/CSU): Bitte schön. genheit dann auch erklären, daß Sie aus kurzfristigen opportunistischen Gründen — Sie nannten es: aus konjunkturellen Gründen — einen Anstieg der Lohn- Siegmar Mosdorf (SPD): Erstens haben wir, wie Sie kosten brauchen. sich erinnern, Unternehmenssteuern gesenkt, und Der Siemens-Chef Herr von Pierer hat auf dem zweitens möchte ich die Frage an Sie richten, ob Sie Parteitag der CDU in Hamburg sehr plastisch darge- das, was Sie eben gesagt haben, noch einmal quanti- stellt, mit welchen Problemen ein Weltunternehmen fizieren könnten. wie Siemens, das an verschiedenen Standorten produ- Ich erinnere mich an eine Diskussion, die hier ziert, dadurch zu kämpfen hat, daß wir in der Bundes- stattgefunden hat, wo es Herr Schäuble und auch Herr republik die absolut höchsten Lohn- und Personalko- Lambsdorff abgelehnt haben zu sagen, wieviel hun- sten haben. Jeder, der Wirtschaftspoli tik verantwor- derttausend Arbeitsplätze das Aktionsprogramm in tungsbewußt betreibt, weiß, daß wir uns hier keine diesem Jahr bringen soll. Ich habe das damals positiv Zuwächse mehr erlauben können. bewertet, weil es natürlich falsch wäre, das zu quan- Unser Programm für Wachstum und Beschäftigung tifizieren. Sie haben eben gesagt, es seien mehrere ist ein optimistisches Programm. Es bejaht den Wan- hunderttausend. Können Sie das einmal präzise quan- del. Es fordert allerdings auch die tifizieren? Bereitschaft zum Wandel. Nur wer bereit ist, die Probleme von morgen schon heute zu lösen, wird die Herausforderungen der Rainer Haungs (CDU/CSU): Ja. Ohne jetzt in einen Zukunft meistern können. intensiven Dialog über das, was Sie tun oder nicht tun, Hier liegen die große Verschleierung und die Ver- einzutreten, kann ich Ihnen gerne beide Fragen weigerung der SPD. Diese Rede war eine Rede aus beantworten. wahltaktischen Gründen, um den Status quo zu Der Ministerpräsident des Saarlandes hat die Unter- zementieren. Sie verschließen die Augen vor dem nehmenssteuersenkung vorhin in seiner Rede als weltweiten Wandel und auch vor der Realität. sozial ungerecht kritisiert, und ich nehme diesen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Hinweis auf und sage: Wir werden im Rahmen unserer Detlev von Larcher [SPD]: Der kann nicht Steuerreform in einer Art Standortsicherungsgesetz zuhören!) Nr. 2 zu weiteren Senkungen des Risikos kommen, genauso wie wir zu Senkungen des Risikos im Exi- Sonst könnten Sie dieses Ritual der Tarifverhand- stenzminimumbereich der Arbeitnehmer kommen, lungen mit Extremforderungen und Kämpfen in der indem wir rechtzeitig eine Steuerreform durchführen. heutigen wirtschaftspolitischen Situation nicht so Dazu gehören die von Ihnen kritisierten Unterneh- vehement verteidigen. menssteuersenkungen. Das müssen Sie der Wirtschaft Meine Damen und Herren, Teilzeitarbeit: Natür- erst einmal erklären, wie Sie hier Ihre Kompetenz lich, Sie haben den Bundeskanzler richtig zitiert. Das darlegen können. waren übrigens die besten Passagen. Sie haben zwar Das zweite: Sie baten mich um eine Präzisierung der ein kabarettistisches Talent, aber trotz allem haben Chancen für den Bereich der Arbeitsplätze durch Sie den Bundeskanzler wörtlich zitiert. Das waren die unser Aktionsprogramm. besten Passagen Ihrer Rede. Ich bin davon überzeugt — ich gebe Ihnen die Aber ich erwarte von Ihnen auch einen Beitrag, Antwort gern —, daß wir, wenn wir bei allen Unwäg- wenn Sie so realistisch sein wollen, zur Jahresarbeits- barkeiten des Arbeitsmarktes all dies, von der Teil- zeit. Reden Sie doch einmal mit den Tarifpartnern, zeitarbeit bis hin zu Existenzgründungen, von der oder geben Sie Ihre Empfehlungen. Freuen Sie sich Saisonarbeit bis zu den AB-Maßnahmen — Sie haben nicht, wenn S treit entsteht, wenn wir am Bau das sicher unser Aktionsprogramm studiert —, durchge- einzig Richtige und Vernünftige machen, nämlich führt haben, auf dem besten Wege sind, einige hun- eine Jahresarbeitszeit einführen. Bringen Sie Ihren derttausend neue Arbeitsplätze schaffen werden. Konsolidierungsbeitrag, indem Sie sagen: Das Daß die Arbeitslosigkeit gewissermaßen immer den Schlechtwettergeld war eine Lösung der 60er Jahre, Saldo zwischen Zuzug von Arbeitskräften und Schaf- ist aber heute nicht unbedingt notwendig. fung von Arbeitsplätzen darstellt, wissen Sie so gut (Detlev von Larcher [SPD]: Haben Sie gele- wie ich. Damit habe ich Ihnen die Frage beantwortet: sen, was die Arbeitnehmer sagen?) Unser Aktionsprogramm ist die einzige realistische Ihre ganzen Forderungen, angefangen bei der Alternative, BAföG-Erhöhung — ich will gar nicht weitergehen — , (Lachen bei der SPD — Detlev von Larcher waren alles nur Möglichkeiten, wie Sie den Bundes- [SPD]: Annes Land!) haushalt weiter überfordern können. Dann sprechen 18362 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Rainer Haungs Sie pathetisch von einem langfristigen Konsolidie- Ihren Kollegen Rappe auch wieder nicht gehört habe. rungspotential. Deshalb loben wir ihn. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) Ich habe in Ihrer ganzen Rede nicht einen Ansatz zur Konsolidierung gehört. Ihre Verweigerung im Ich hoffe, daß dieses Beispiel ansteckend wirkt und Bundesrat ist ja ähnlich. daß vor allem der öffentliche Dienst seine Verantwor- tung in einer schwierigen Zeit wahrnimmt. Auf wel- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und che Weise wir unsere Probleme der Arbeitslosigkeit, der F.D.P.) der zu geringen Investitionstätigkeit der Unterneh- men und der zu hohen Staats- und Steuerquote in den Ich habe auch nichts von Ihrer Verantwortung als Griff bekommen wollen und werden, haben wir, die öffentlicher Arbeitgeber im Saarland gehört. Mir ist es CDU/CSU-Fraktion, in unserem Aktionsprogramm verständlich, daß Sie als Ministerpräsident und das aufgezeigt. Saarland in doppelter Weise die rote Laterne im Vergleich der Bundesländer haben. Darüber hinaus hat die Bundesregierung im St and- ortbericht aufgezählt, was sie konsequent und zügig Ich glaube, es ist zu einfach, im Jahre 1994 hier zu umsetzen will und wird. stehen und diese Rede zu halten. Sehr geehrte Kollegen von der SPD, lieber Uwe (Beifall des Abg. [CDU/ Jens, Ihre Vorstellungen von einem Mittelstandspro- CSU]) gramm haben Sie doch passagenweise bei uns abge- schrieben. Teilweise sind sie auch veraltet. Wir machen es uns nicht so einfach. (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei Wir tragen mit unseren Programmen zu einer Auf- der SPD) bruchsstimmung bei, die man nicht verordnen Sie fordern ein Eigenkapitalhilfeprogramm, eine ver- kann. stärkte Förderung von Innovationen — alles richtig, (Detlev von Larcher [SPD]: M an merkt nichts aber haben Sie denn unser Aktionsprogramm nicht davon!) gelesen? - (Zuruf von der SPD: Sie haben das doch vor — Das ist aber wirklich Ihr Problem, daß Sie nichts Monaten im Wirtschaftsausschuß noch abge merken. Sie sitzen seit einer Stunde da und machen lehnt! — Weitere Zurufe von der SPD — seltsame Zwischenrufe und beschweren sich bei mir, [CDU/CSU]: Wahrschein daß Sie nichts merken. lich haben Sie beim Abschreiben noch Fehler (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und gemacht!) der F.D.P.) Sie haben bei der Betrachtung unserer Wirtschafts- politik wahrscheinlich vergessen, daß wir in der Durch die praktische Deregulierungs - und konse- Zwischenzeit die Wiedervereinigung unseres Vater- quente Privatisierungspolitik — der Bundesfinanzmi- nister hat einen beeindruckenden Be richt über die landes hatten, und Sie wissen ganz genau, daß wir alle bereits realisierten und laufenden Privatisierungsakti- Mittel für die Eigenkapitalhilfe und die Existenzförde- vitäten vorgelegt — schaffen wir mehr Dynamik für rung in den neuen Bundesländern konzentriert neue Arbeitsplätze. Ihre Kommentare beschränken haben, wo es überhaupt keinen Mittelstand gab, und sich beim Verkauf von Bundesbeteiligungen in der daß wir zu dem Zeitpunkt, wo es wieder geht, nämlich Regel auf den Satz: Wiederum wurden Filetstücke jetzt, unsere Mittel auch als einen Beitrag zum Zusam- veräußert oder das Tafelsilber hergegeben. Das sind menwachsen Deutschlands wieder in ganz Deutsch- in der Regel Ihre Beiträge zur Privatisierung. land einsetzen. Aber wenn Sie Ihre Prioritäten anders setzen, indem Sie sagen, man hätte in den neuen (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Bundesländern noch viel länger warten können und Jämmerlich! — Eduard Oswald [CDU/CSU]: sollen, um statt dessen vehement in den alten Bundes- Jämmerlich und unsinnig!) ländern zu investieren, zu helfen und billige Kredite zu geben, dann werden sich die sachkundigen Zuhö- Auch die Bahn- und Postreform, die wir durchge- rer wohl ihren Reim darauf machen. führt haben, wurde von Ihnen höchstens ab und zu wohlwollend begleitet. Ich habe nicht festgestellt, daß Meine Damen und Herren, anstatt die Rahmenbe- von Ihnen große Aktivitäten im Bereich der Privatisie- dingungen zu verbessern, anstatt wirklich zu konsoli- rung ausgegangen sind. dieren, wollen Sie als Sozialdemokraten wieder wei- tere Milliardenprogramme ganz nach dem alten Darf ich auch einen Satz zum Streik sagen? Ich Denken auflegen. meine, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze kann man nicht erstreiken. Das hat noch keine Gewerkschaft (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das hätten Sie wohl gern?) geschafft. Unsere Hauptaufgaben im internationalen Wettbewerb sind die Ausschöpfung von Kostensen- — Ja, Moment, ich sage es Ihnen ja gerade. Es wurde kungspotentialen und die Erschließung neuer ja auch von Herrn Lafontaine vorhin genannt: Märkte. Die Verantwortung der Tarifpartner wurde Beschäftigungs- und Wachstumsmaßnahmen mit an uns eindrucksvoll im Chemiebereich gezeigt, wobei -deren EU-Partnern in Höhe von 15 bis 20 Millarden ich von der SPD-Fraktion viele lobende Worte über DM; Zukunftsinvestitionsprogramm „Ökologische Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18363

Rainer Haungs Modernisierung" 10 Milliarden DM; Modernisie- — Darauf wird Ihnen der Kollege Hinsken noch die rungsdarlehen zugunsten privater Industrieunterneh- gebührende Antwort geben. Ich habe meine Rede men in den neuen Bundesländern über unsere umfas- etwas breiter angelegt. senden Maßnahmen hinaus; Hilfen für Exportförde- rung durch Sonderkreditplafond; Handelsentwick- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und lungsgesellschaften 9 Milliarden DM; Einführung der F.D.P.) einer Wertschöpfungszulage 4 Milliarden DM; noch Die bürokratischen und ungerechtfertigten Rechts- mehr finanzielle Mittel für den Ausbau der For- schranken müssen beseitigt werden. Dem Bürger muß schungsinfrastruktur in den neuen Bundesländern; die Möglichkeit gegeben werden, seine Kreativität zu zusätzliche Subventionen für die Stahlregionen mit entfalten. Nur dadurch kommen neue Unternehmen mindestens 2 Milliarden DM. Meine Damen und nach Deutschland, die hier investieren und Arbeits- Herren, wer soll denn das bezahlen? plätze schaffen. Die zusätzlichen Steuererhöhungen, die Sie anstreben, auch wenn Sie es öffentlich bestrei- (Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben ja das ten — mal so, mal so —, werden risikofreudige und Geld!) kreative Bürger demotivieren.

— Wir haben ja genug. Deregulierung — ich sage das noch einmal — ist bei uns kein Schlagwort und, im Gegensatz zu der Wir sagen Ihnen, liebe Kollegen von der SPD, wie Behandlung bei Ihnen, wir alte Montanregionen modernisieren: indem wir Subventionen für alte Industrien in Zukunft zielge- (Kurt J. Rossmanith [CDU/CSU]: Im Gegen richtet für neue, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze satz zu Lafontaine!) verwenden, um den Menschen eine Perspektive für auch kein Schimpfwort. Wir lassen den Worten Taten eine technologische Erneuerung zu geben. Und was folgen. Um die Deregulierung weiterzuentwickeln, tun Sie? Sie polemisieren auf unverantwortliche hat die Bundesregierung die Einsetzung einer unab- Weise und hetzen uns mit den falschen Argumenten hängigen Expertenkommission beschlossen, die Vor- die Kumpel an den Hals, und dann sprechen Sie von schläge zur Beschleunigung, Verkürzung und Verein- Konsolidierung. fachung von Planungs- und Genehmigungsverfahren Meine Damen und Herren, Sie wollen durch höhere erarbeiten soll. Eine weitere Kommission soll Mög- Steuern für Unternehmen und Besserverdienende- lichkeiten zur Kostensenkung und Deregulierung im den Standort weiter gefährden und die Leistung Wohnungsbau aufzeigen. bestrafen. Jetzt bekennen Sie doch endlich einmal Meine Damen und Herren von der Opposition, wie Farbe und sagen Sie, wo die Besserverdienenden sind, der alternativlose trotz mangelnden wo sie anfangen; denn dann würde der Mehrzahl der Eigenprofils und immer noch meisterhaft verborgener Wähler klarwerden, wen Sie wirklich meinen: nicht Sachkompetenz, so schreibt es „Focus" sehr richtig, die Reichen und Superreichen, wo auch immer, son- vor allem mit den GRÜNEN eine regierungsfähige dern all diejenigen, die durch harte Arbeit mittler- Koalition bilden will, bleibt uns schleierhaft. Vielleicht weile zu einem bescheidenen Wohlstand gekommen können Sie das einmal mit Ihrem möglichen Koali- sind. Dies ist keine verantwortungsvolle Wirtschafts- tionspartner abklären. Wie stellt sich die SPD das vor? politik. Nicht genau zu sagen, was man will, ist Die GRÜNEN haben Ihnen gegenüber den Vorteil, überhaupt keine verantwortungsvolle Politik. Ihren daß sie immerhin das sagen, was sie machen wollen konkreten Beitrag zur Konsolidierung fordere ich ein — während Sie es verschleiern. und bin gespannt, was die nachfolgenden Redner der Opposition dazu sagen. Ich lese folgende Forderungen der GRÜNEN von ihrem Parteitag des Wochenendes, die sie mit Ihnen, In letzter Zeit vermeiden Sie es — wir merken es den Sozialdemokraten, als gewünschtem Koalitions- sehr wohl —, über die Ausgabenwirksarnkeit Ihrer partner durchsetz en wollen: Investitionsabgabe von schönen Programme zu reden. Dahinter verbirgt sich Unternehmen, die nicht im Osten investieren, Stille- nicht nur die Konzeptionslosigkeit in der praktischen gung aller deutschen Atomkraftwerke innerhalb von Wirtschaftspolitik, indem Sie Gegenfinanzierungs- zwei Jahren. vorschläge vermeiden. Ganz konkret und wirkungs- Ich gehe davon aus, daß die SPD der deutschen voll machen wir es mit unserem Aktionsprogramm, Öffentlichkeit in den nächsten Tagen und Wochen ein das kein Aktionismus ist, sondern das von heute in die klares, deutliches Zeichen im Hinblick auf eine ratio- nächsten Jahre hinein die Konsequenzen haben wird, nale Energiepolitik geben wird. die ich hier schon angesprochen habe. (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl! — Weite Noch einmal zusammengefaßt: nicht durch Sonder- rer Zuruf von der CDU/CSU) kreditplafonds, nicht durch Ausgleichfonds, nicht durch Handels entwicklungsgesellschaften, sondern — Ja, das ist zu befürchten. — Wo bleibt Ihr eindeu- durch eine Stärkung der Marktwirtschaft, durch tiges Ja zu einem Energiemix? Wissen Sie, daß dies Dynamisierung, durch Deregulierung, durch Stär- alles leeres Gerede ist, wenn Sie ein D rittel unserer kung des Mittelstandes. Ich vergieße ja Tränen, wenn Energieversorgung stillegen? Es soll Lohnsubventio- ich die Worte, die Sie über den Mittelstand gespro- nen des Staates geben. Großverdiener, Kapitalerträge chen haben, mit der Praxis vergleiche. und Grundeigentum sollen stärker besteuert werden, dirigistische Steuerungsinstrumente eingeführt, die (Dr. Uwe Jens [SPD]: Das hat Sie aber getrof- Mineralölsteuer zunächst um 50 Pfennig und dann fen! Das ärgert Sie!) noch mehr erhöht werden usw., usf. 18364 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Rainer Haungs Wenn in Deutschland weiter eine vernünftige Wirt- chen, daß wir die einzige berechenbare Alte rnative schaftspolitik bet rieben werden soll, dann nur mit sind und daß wir Deutschland aus dieser Krise der dieser Koalition, der CDU/CSU und der F.D.P. Arbeitsplätze herausführen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen. Zu dieser Wirtschaftspolitik gibt es keine Alterna- (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und tive. der F.D.P. — Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das war eine gute Rede! — Kurt J. Rossmanith Was wir in den letzten Jahren für die Wirtschaft, für [CDU/CSU]: Das war eine sehr gute Rede!) die Menschen, die Bürger in unserem Land erreicht haben, ist vielen gar nicht klar. Ich gehe davon aus, daß das in den nächsten Monaten schon etwas klarer wird. Es geht um die richtigen Weichenstellungen, die Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht uns über die Folgelasten von 40 Jahren sozialistischer der Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff. Planwirtschaft in Ostdeutschland und die Folgen der weltweiten Rezession sowie der strukturellen Verän- derungen im internationalen Bereich hinweghelfen Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Frau Präsidentin! werden. Nur damit wird die Basis für neue und Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Verehr- wettbewerbsfähige Arbeitsplätze geschaffen. ter Herr Haungs, die GRÜNEN, die Sie zitiert haben, haben doch recht gehabt. Die SPD frißt heute offen- Ich komme zum Schluß sichtlich alles. (Detlev von Larcher [SPD]: Das ist gut!) (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ und will Ihnen stichwortartig noch einmal einige der CSU) nennen: Steuerände- Leistungen der letzten Jahre In ihrem Drang zur Macht kann man ihr also auch alles rungsgesetz 1991 mit Sonderabschreibungen und zumuten. Investitionszulage; Steueränderungsgesetz 1992 mit erhöhtem Freibetrag und einer Gewerbesteuer-, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Gewerbekapital- und Vermögensteueraussetzung in Das sieht dann so aus — ich will noch ein paar den neuen Bundesländern; Zinsabschlagsgesetz mit Forderungen hinzufügen —: Wiederherstellung des der Verzehnfachung der Sparerfreibeträge; Föde- früheren Asylrechts; rales Konsolidierungsprogramm; Standortsicherungs- gesetz mit deutlicher Senkung der gewerblichen (Detlev von Larcher [SPD]: Das muß ein Graf Spitzensteuersätze; MiBbrauchsbekämpfungsgesetz; Lambsdorff sagen!) Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramm, die Bundeswehr wird abgeschafft; heraus aus der das den Bundeshaushalt um 20 Milliarden entlastete. NATO; Verbot jeglicher Form der Gentechnologie; Das ist praktische Konsolidierung; Arbeitszeitverkürzung auf 30 Wochenstunden; ge- setzlicher Mindestlohn; Sockellohnerhöhung für un- (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Hört! Hört!) tere Einkommen — die hat allerdings erstaunlicher- Ihre Zustimmung dazu haben wir nicht gehört. Auch weise auch der Bundeskanzler vorgeschlagen. Wenn die verstärkte Mittelstandsförderung zeigt, daß Worte die Unternehmen dadurch in ihrer Existenz gefährdet und Taten bei uns nicht auseinanderfallen. Die werden, gibt es Lohnsubventionen durch den Staat. Novelle zur Handwerksordnung haben wir in erstaun- Das hat der Bundeskanzler bisher nicht vorgeschla- lich schneller Zeit durchgebracht. gen. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Haben wir (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Ist gemeinsam gemacht!) damit noch zu rechnen?) Genauso wie unsere Politik für Industrie und Handel Hier, meine Damen und Herren, möchte ich dem von Herrn Stihl gelobt wird, wird diese Politik vom Ministerpräsidenten Lafontaine ein Wort zu seinen Handwerkspräsidenten Späth gelobt. Ausführungen über Nullrunde, pauschale Lohnkür- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — zung und Kaufkrafttheorie sagen: Selbstverständlich Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Zu Recht!) ist das Thema Verbraucherausgabemöglichkeiten ein volkswirtschaftlicher Faktor, der für die konjunktu- — Ja, zu Recht. relle Entwicklung wichtig ist. Aber wenn Sie in einer Meine Damen und Herren, die entschlossene Fort- bestimmten Wettbewerbssituation vor dem Problem führung der Standortpolitik, die die bestehenden stehen, die Kosten so weit zu steigern, daß derjenige, Arbeitsplätze sichert, und das Aktionsprogramm für dessen Lohn Sie erhöhen wollen, dadurch seinen Wachstum und Beschäftigung, dem Sie nichts, aber Arbeitsplatz verliert und dann gar keine Kaufkraft auch gar nichts entgegenzusetzen haben, verbessern oder nur noch die der Arbeitslosenunterstützung hat, die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes, konsoli- dann müssen Sie die Entscheidung, so bitter sie ist, dieren die öffentlichen Haushalte. Eine Existenzgrün- treffen, auf weitere Lohnerhöhungen über ein Maß dungsoffensive wird begonnen, die Entbürokratisie- hinaus, das vertretbar ist, zu verzichten. rung weiter fortgesetzt. A ll dies sind beachtliche (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Leistungen einer Regierung, die bei weitem nicht am Ende ihres Lateins oder — wie Sie es hoffen — am Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Exportsi- Ende ihrer Kräfte ist. Wir schaffen die Voraussetzun- tuation gen für diese Erfolge. Es wird unsere Anstrengung (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: sein, dem Bürger in den nächsten Monaten klarzuma- Insbesondere für die öffentliche Hand!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18365

Dr. Otto Graf Lambsdorff und die Tatsache, daß wir ein Leistungsbilanzdefizit in pier, Kleistertopf und Poliertuch zum Meister der Deutschland haben. Profillosigkeit wird: Meine Damen und Herren, außen- und sicherheits- (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ politisch haben die GRÜNEN — das BÜNDNIS 90 CSU) ist ja längst untergebuttert; das gibt es ja gar nicht auf der sicherheitspolitischen Tagung in München mehr — — den NATO-Partnern bündnistreue Außen- und (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Sicherheitspolitik der SPD vorgaukeln, in der Partei GRÜNEN]: Na!) selber aber den Fraktionsvorsitzenden Klose in die- sem Problembereich gnadenlos versenken, Herrn — Na, hören Sie einmal. Sie gucken mich so an, Herr Dreßler die Halbierung der Arbeitslosigkeit innerhalb Schulz. Das kommt mir doch vor wie die berühmte von vier Jahren versprechen lassen, Geschichte vom Joint-venture zwischen Huhn und Schwein. Was machen wir zusammen? Wir machen (Dr. Uwe Jens [SPD]: Herr Solms!) zusammen „ham and eggs". Da sagt das Schwein: selber davor warnen, sich im Regierungsprogramm Dabei werde ich doch geschlachtet. Da sagt das Huhn: konkret festzulegen. Im Bundesrat enthält sich die Beim Joint-venture wird immer einer geschlachtet. — Regierung Scharping bei der Kohlefinanzierung der So sind Sie geschlachtet worden. Stimme; das war abgesprochen. Aber in Dortmund Kohlesubventionen versprechen und in Hannover am (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der selben Wochenende die Abschaffung des Kohlepfen- CDU/CSU) nigs zusagen, das ist schon gekonnte Akrobatik. Außen- und sicherheitspolitisch, meine Damen und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Herren, haben die GRÜNEN den Ho rizont eines Hühnerhofes. Wirtschaftspolitisch machen solche Es ist wie beim Meisterjongleur Rastelli: Wir sind Vorstellungen in kurzer Zeit aus einem der wichtig- gespannt, auf wieviel Kugeln es Herr Scharping bei sten Industrieländer der Erde ein Volk von Jägern, diesem Spiel noch bringen wird. Sammlern und Fallenstellern. Mit Näherrücken des Wahltermins verspricht die (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ SPD jedem Bürger sein eigenes Förderprogramm — CSU) frei zur Auswahl. Das geht von Forschung und Tech- - nologie über die Sanierung ostdeutscher Unterneh- Umweltpolitisch — das will ich nun ausdrücklich an men, über einheitliches Kindergeld, über die Entla- die Adresse der GRÜNEN sagen — ist die Absage an stung der reinvestierten steuerlichen Gewinne bis zu die Nutzung moderner Techniken angesichts der einem Zukunftsinvestitionsprogramm „Ökologische Bevölkerungsexplosion in der Welt der zügellose Modernisierung statt Arbeitslosigkeit", was immer Egoismus einer Gruppierung rücksichtsloser Fanati- das ist. ker und nichts anderes. (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Gutes!) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Während die SPD sonst nur von Ergänzungs- und Aber dann das Tollste: ein Bündnisangebot auf Arbeitsmarktabgaben, von Erhöhung von Grund- dieser Grundlage an die Sozialdemokraten. Rot-Grün steuer, Vermögensteuer, Erbschaftsteuer und Ein- sei's Panier. Man setzt berechnend und berechtigt auf kommensteuer spricht — Herr Poß hat das gerade in die Machtgeilheit der SPD. diesen Tagen wieder getan —, (Lachen bei der SPD und der PDS/Linke Liste (Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [F.D.P.]: — Detlev von Larcher [SPD]: Ist hier eigent Deswegen darf er heute nicht zuhören!) lich eine Wahlversammlung?) hat sie jetzt die kleinen und mittleren Unternehmen entdeckt. Toll! Als wenn der Mittelstand nicht wüßte, Wenn Gerhard Schröder dem Herrn Trittin freien daß er die versprochenen Wohltaten doppelt und Auslauf läßt, warum dann nicht das gleiche von Rudolf dreifach bezahlen wird. Größter Profiteur der Subven- Scharping erwarten? Sie, meine Damen und Herren tionswirtschaft ist sowieso nicht der Mittelstand, son- von der SPD, haben es weit gebracht, wenn Ihnen dern sind immer die Großunternehmen. Das lehrt die solche Offerten zugemutet werden. Wenn Sie jetzt Erfahrung. dagegen protestieren, daß man Sie dafür in Anspruch nimmt: Sie hatten eine halbe Woche Zeit, sich dage- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — gen zur Wehr zu setzen. Was ist geschehen? — Der Detlev von Larcher [SPD]: Das ist Ihre Poli Eiertanz des Monats von SPD-Bundesgeschäftsführer tik!) Verheugen Das beste Mittelstandsprogramm ist nicht ein Sam- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) melsurium von Förderungen, wie es die SPD ver- spricht, sondern sind stabile und verläßliche Rahmen- und eine einzige klare Absage; das war die von Herrn bedingungen, niedrige Steuern und niedrige Abga- Rappe. Alles andere war Schweigen im Walde: Viel- ben. leicht machen wir es ja doch, wollen wir einmal sehen usw. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Trotz alledem, was Sie, Herr Lafontaine, hier heute Aber so, meine Damen und Herren, ergeht es eben verkündet haben — Sie haben teilweise einen richtig jemandem, der wie Herr Scharping mit Schmirgelpa- konservativen Haushalts- und Konsolidierungspoliti- 18366 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Dr. Otto Graf Lambsdorff ker dargestellt —: Ihre schauspielerische Begabung ist Schweinereien" hat die SPD damals gesprochen — völlig unbestritten. und dann dafür gestimmt.

(Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ CDU/CSU) CSU) Sie zitieren Schiller, nicht F riedrich, aber Karl; auch Meine Damen und Herren, - Grün, das ist pro- das gehört zur schauspielerischen Darstellung. Sie Rot vinzielles Denken, Mief und Muff in einer Welt, die haben ihn spät begriffen, aber das neueste Buch Offenheit — sehr unbequeme Offenheit allerdings — gelesen. Ich begrüße das. verlangt. Gegen Rot-Grün ist der bayerische Minister- (V o r s i t z: Vizepräsident Helmuth Becker) präsident Edmund Stoiber geradezu ein Weltbür- ger. Aber Sie bleiben, meine Damen und Herren, eine ideologisch orientierte Steuer- und Umverteilungs- (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/CSU partei. Der Streit über die SPD-Wirtschaftspolitik — es — Ernst Hinsken [CDU/CSU]: So gut wie Sie ist nicht gut, daß er gerade heute in die Zeitungen ist er aber auch!) gekommen ist — zeigt: Sie können sich über nichts einigen, wie Sie das alles finanzieren wollen, was Sie — Verehrter Herr Hinsken, ich muß schon sagen: versprechen. Das ist auch vollständig klar. Auch wer Wenn ich aus CSU-Munde höre, ich sei so gut wie Herr Ihre heutige Rede nachliest, wird am Ende der Veran- Stoiber — das kann ich dem ja entnehmen —, ist das staltung zu einem beachtlichen Saldo kommen. Für wohl ein Lob. Im übrigen will ich Sie mit Herrn Stoiber mich heißt der Saldo: SPD wählen heißt teuer wäh- ja gar nicht weiter zwicken. Herr Stoiber zwickt Herrn len. Gauweiler und Herr Gauweiler Herrn Waigel. Lassen wir das doch. Nur, Weltbürger im Vergleich zu den (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Grünen ist er. Daß die Regierung Lafontaine im übrigen mit Geld nicht gut umgehen kann, hat Ihnen der Rechnungshof Aber diese Welt, meine Damen und Herren, sieht des Saarlands am 24. Februar bestätigt. 8 Milliarden rundum nicht besonders erbaulich aus. Das gilt für fast DM trägt der Bund zur Teilentschuldung des Saar- alle Gebiete. 1990 hat Hans - Dietrich Genscher lands bei, und Sie verschärfen die Haushaltsnot-- gesagt: Nichts mehr wird so sein, wie es früher war. — lage. Das war weise Voraussicht. Diese Bemerkung — das haben wir inzwischen wohl begriffen — reicht weit (Zustimmung bei der F.D.P. und der CDU/ über das Thema „Deutsche Einheit und ihre Folgen" CSU) hinaus. Sie gilt auch für die wirtschafts- und sozial- Wir haben es mit einem Ministerpräsidenten zu tun politische Welt, nicht zuletzt für unser eigenes — ich bitte um gütige Nachsicht —, der nicht einmal Land. im kleinsten Flächenland der Bundesrepublik die Herr Lafontaine, von Ihnen war kein Wort darüber Anwendung der Steuergesetze, so der Rechnungshof, zu hören — da hatte Herr Haungs recht —, daß wir sicherstellen kann. Und Sie sollen wir nach Bonn nicht allein auf dieser Welt — auch wirtschafts- und holen? sozialpolitisch —leben, sondern daß wir in dieser Welt (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der in Abhängigkeiten eingebunden sind: als eines der CDU/CSU — Detlev von Larcher [SPD]: Kön weltoffensten — das müssen wir sein —, als eines der nen Sie einmal etwas zur Sache sagen?) exportabhängigsten Länder und als eines der Länder, in dem sich — gerade auch im Zuge der deutschen — Herr von Larcher, das Sammelsurium Ihrer Zwi- Vereinigung — die Probleme der Welt, der neuen schenrufe von heute morgen kann ich nur als so internationalen Arbeitsteilung wie in einem Brenn- kleinkariert bezeichnen, daß meine einzige Antwort glas zusammenfassen. Dazu fehlen Ihre Antworten, darin besteht: Auf Pepita kann man nicht Schach dazu war heute nichts zu hören. Wenn Sie das nicht spielen. Deswegen kann ich darauf nicht antworten. korrigieren, sind Sie den GRÜNEN ähnlich, die mit (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ dem Horizont eines Trauringes Politik betreiben wol- CSU) len. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, selbst Herr Scharping kriegt es inzwischen wohl mit der Angst zu tun, wenn Dabei empfiehlt es sich, meine Damen und Herren, er die Großzügigkeit seiner Genossen betrachtet. Wie wenn man in die Welt sehen will, nicht so sehr auf anders ist der Appell denn wohl zu verstehen, sich Europa zu schauen, so erfreulich wir es finden, daß die nicht mit neuen finanziellen Versprechungen zu Erweiterungsgespräche jetzt zu guten Ergebnissen befassen? Wie ist zu verstehen, daß er vor voreiligen geführt haben. Es empfiehlt sich, nicht nur auf Europa Zusagen warnt, von der jetzigen Regierung durch- zu schauen, wo viele Staaten wie Deutschland mit gesetzte „soziale Ungerechtigkeiten" zurückzuneh- gesellschaftlicher Verkrustung, staatswirtschaftlicher men? — Das tut Herr Dreßler jeden Tag. — Heißt das, Einflußnahme und Umverteilungsmentalität zu daß Herr Scharping den ach so geschmähten Sozial- kämpfen haben. Es lohnt sich ein Blick über Europa abbau letztlich doch unterstützt, daß er froh war, daß hinaus. Er lohnt sich nicht nur, er ist notwendig. — Bei diese Bundesregierung dafür geradestand? Heißt das, „notwendig" fällt mir ein, ob dieses Wort der deut- daß die SPD-geführten Länder im Bundesrat hier nur schen Sprache eigentlich schon immer gemeint hat, Theaterdonner aufgeführt haben? Von „sozialen daß erst die Not wirklich etwas wendet. Muß das Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode -- 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18367

Dr. Otto Graf Lambsdorff eigentlich so sein, oder können wir auch aus Einsicht Wer einseitig dem Zeitgeist folgt und das Markenzei- etwas wenden, bevor die Not uns zwingt? chen Soziale Marktwirtschaft opfert, wer den Umbau des Sozialstaates propagiert und dabei auf umlagefi- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nanzierte Pflegeversicherung und auf Kinderlosen Meine Damen und Herren, wir müssen in die USA steuern setzt, wer behauptet, daß die Bereiche Kohle, und nach Japan sehen. Während wir Strukturwandel Landwirtschaft und Werften nicht nach marktwirt- durch Subventionen, Regulierungen und Korporatis- schaftlichen Kriterien beurteilt werden können, wer mus verzögern, ist dort der Strukturwandel dynamisch hier sogar von Zukunftsgestaltung spricht, der hat sich fortgeschritten. USA und Japan sind in vielen High- von ziemlich weit entfernt. Tech-Bereichen führend, während wir Produkte von Herr Haungs, Ihre Ansichten heute zur Frage des gestern verteidigen. Während wir in Europa immer Abbaus der Kohlesubventionierung werden von uns selbstbezogener werden und uns vom Weltmarkt — das wissen Sie — längst mitgetragen. Aber bitte zurückziehen, setzen sich USA und Japan dem inter- ersetzen Sie nicht die eine Subvention durch die nationalen Wettbewerb aus und sind weitaus stärker andere, sondern nehmen Sie die frei werdenden konkurrenzfähig. Die Exportstärke Deutschlands mißt Mittel und verbessern Sie die Rahmenbedingungen sich nicht an unseren Leistungen im Binnenmarkt; sie für neue Technologien, für neue Innovationen! mißt sich an unseren Leistungen in der Welt außerhalb des Europäischen Binnenmarktes, und das ist nicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne mehr so berühmt. ten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Schaffen Sie nicht ein neues Subventionskarussell. Wenn wir uns da einigen könnten, wäre das besser. Kritik verdient allerdings die Haltung der USA im akuten Handelsstreit mit Japan. Ich sage nur — soweit reicht mein Gedächtnis im Zusammenhang mit der Bundesrepublik und ihrer Während wir Arbeitnehmern durch tarifvertragli- wirtschaftspolitischen Geschichte zurück —: Die che Wohltaten vorgaukeln, es sei alles so wie gestern F.D.P. hat Ludwig Erhard schon gegen Konrad Ade- und es sei alles noch gut, werden dort neue Organi- nauer unterstützt. Kartellgesetz und Korea-Krise sind sationsformen eingesetzt, die die Unternehmen billi- ger, qualitativ besser und flexibler produzieren lassen. die Stichworte. Während wir in der Ideologie der Industriegesell-- Wir setzen auf den Bürger, der in Privatinitiative, schaft verharren und diese gleichzeitig in eine Kosten- Eigenverantwortung und p rivater Risikoübernahme krise treiben, gibt es dort einen leistungsfähigen einen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beitrag Dienstleistungsbereich mit einer Vielzahl neuer leistet. Arbeitsplätze. Während wir uns Sockellohnpolitik Wir setzen auf offene Märkte und Wettbewerb, weil und vielleicht auch noch Streik leisten, konnte der sie die Abstimmung der zahllosen Wünsche und Dienstleistungsbereich dort neben Teilzeitarbeit auch Produktionsentscheidungen in Individualität und Arbeit für die schlechter Ausgebildeten, für die weni- Freiheit ermöglichen. ger Anpassungsfähigen bereitstellen. Wir setzen auf den Markt als Entdeckungsverfah- In den USA sind die realen Durchschnittslöhne von ren; denn dies ist das erfolgreichste Forschungs- und 1980 bis 1992 in der niedrigsten Einkommensgruppe Technologieprogramm zur Zukunftssicherung in um real 8 % gefallen, in Deutschland jedoch allein von Deutschland. Wir setzen nicht auf Technologieräte in 1983 bis 1988 um real 28 % gestiegen. — irgendwelchen Sälen, sei es auch hier in Bonn. (Zuruf von der SPD: Das hat der Regierungs Wir setzen auf die Soziale Marktwirtschaft, weil sie wechsel bewirkt!) Grundlage für effizientes Wirtschaften und ein frei- Da können wir uns sehr freuen. — Aber wir müssen heitliches Zusammenleben in einer offenen demokra- auch die Konsequenz aus dieser Entwicklung sehen: tischen Gesellschaft ist. Die Beschäftigung stieg in den USA von 1970 bis 1992 Wir setzen auf die soziale Verantwortung des um 50 %, während wir es in Deutschland im gleichen Staates da, wo es gilt, demjenigen soziale Absiche- Zeitraum nur auf magere 9 % brachten. Das sind die rung zu bieten, der aus eigener Leistung und Kraft ökonomischen Zusammenhänge, die man nicht durch nicht in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt zu politische Ideologie beiseite schieben kann. bestreiten. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wir wissen, daß die Grenzen der Sozialpolitik dort Hohe Wachstumsraten und niedrige Arbeitslosen- gezogen werden müssen, wo soziale Rahmensetzung quoten über die letzte Dekade hinweg sind Marken- und Einkommensumverteilung die gesamtwirtschaft- zeichen dieser Politik in den USA. Das ist der Weg, den liche Leistungsfähigkeit gefährden, weil sie das wirt- wir nach meiner, nach unserer Überzeugung auch in schaftliche Anreizsystem schwächen und weil sie die Deutschland gehen müssen. Mehr Soziale Marktwirt- Eigenverantwortlichkeit der Bürger und der Unter- schaft wagen muß daher Motto bleiben. Hierzu steht nehmungen untergraben. die F.D.P. Die F.D.P. setzt auf einen starken Staat, einen Staat, Es stimmt uns nachdenklich, daß die CDU auf ihrem der häufiger als in der Vergangenheit nein sagen muß. Hamburger Parteitag Anstalten gemacht hat, sich von Er muß da nein sagen, wo er überfordert ist. diesem Erfolgskonzept zu trennen. Die deutsche Wirtschaft war dem internationalen (Dr. Uwe Jens [SPD]: Von der F.D.P. abzuset Wettbewerb nie zuvor so ausgesetzt wie heute. In zen!) einem härter werdenden Standortwettbewerb wird 18368 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Dr. Otto Graf Lambsdorff aber die Fähigkeit von Staat und Gesellschaft, Pro- dung dafür war eine wirtschaftliche. Jetzt möchte ich bleme zu lösen, immer mehr zum zentralen Standort- einmal wissen: Was haben wir von dem Geldbetrag, faktor. Nie zuvor mußten sich Politik und Gesellschaft den Sie, Herr Graf Lambsdorff, den der Bundeswirt- dem Wettbewerb der Systeme so stellen wie heute. schaftsminister und den ich dabei eingespart haben, Das zieht der Poli tik enge Grenzen. Die Jahre sind investiert? Welchen Arbeitsplatz haben wir damit vorbei, in denen man der Poli tik mit einiger Aussicht geschaffen? — Überhaupt keinen. Wir haben einfach auf Erfolg einen Wunschzettel gesellschaftlicher For- unseren eigenen Lebensstandard verbessert — das ist derungen zur Erledigung überreichen konnte. die Tatsache —, während wir in der gleichen Zeit den Sozialhilfeempfängerinnen undd Sozialhilfeempfän- Soziale Marktwirtschaft war das Erfolgsrezept der gern, den Umschülerinnen und Umschülern, den Bundesrepublik. Allem Zeitgeist zum Trotz: Sie wird Beschäftigten im Rahmen von ABM, den Arbeitslosen das Erfolgskonzept auch des vereinten Deutschlands sein. und den Lohnabhängigen Gelder genommen haben. Diese Ungerechtigkeit führt zu Unzufriedenheit in der Das Motto des Sachverständigengutachtens „ Zeit Bevölkerung — wie ich meine, völlig zu Recht. zum Handeln — Auftriebskräfte stärken" ist ein gutes Motto. Mit dem Jahreswirtschaftsbericht und dem Die heutige Aussprache zum Jahreswirtschaftsbe- Beschluß zur Umsetzung des Aktionsprogramms für richt der Bundesregierung findet in einer Zeit harter mehr Wachstum und Beschäftigung zeigt diese Bun- Tarifauseinandersetzungen statt. Wir alle appellieren desregierung, zeigt diese Koalition, daß sie verstan- — auch die SPD —, daß es möglichst nicht zum Streik den haben, daß Zeit zum Handeln ist. Die F.D.P. kommt. Ich weiß nicht: Wann paßt denn ein Streik in Fraktion wird sie dabei unterstützen. die Wirtschaft? Wann je würde eine Bundesregierung dazu aufrufen und sagen, heute ist die Zeit zum Streik? Ich danke Ihnen. Ich kann mir so etwas schlecht vorstellen, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der PDS/Linke Liste) und ich glaube, daß deshalb die Argumente, die Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und dagegensprechen, immer irgendwie herangezogen Herren, ich erteile jetzt dem Kollegen Dr. Gregor Gysi werden. Aber ich glaube, daß die Kolleginnen und das Wort. Kollegen in der Metallindustrie und im öffentlichen - Dienst und die bei der Post Beschäftigten durchaus Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! begriffen haben, daß sie jetzt einen Arbeitskampf, Meine Damen und Herren! Graf Lambsdorff, nach nicht nur gegen die Arbeitgeberseite, sondern auch dem, was Sie gesagt haben, beschäftigen mich zwei gegen die Politik dieser Bundesregierung, führen. Fragen. Die erste Frage bezieht sich auf das Verhält- Denn wer sonst als diese Regierungskoalition hat mit nis zur Macht, das Sie der SPD vorgeworfen haben. Ich der Standortdiskussion den Arbeitgebern klar gesagt, würde gerne wissen, wie sich das Verhältnis der F.D.P. man müsse jetzt die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- zur Macht gestaltet. Soviel ich weiß, stellt die F.D.P. nehmer zum Lohnverzicht auffordern? Wer hat denn seit 25 Jahren z. B. den Bundeswirtschaftsminister versucht, den Arbeiterinnen und Arbeitern und Ange- und war noch nie bereit, sich von dieser Art Verant- stellten weiszumachen, daß sie weit über ihre Verhält- wortung zu trennen, um eine Oppositionsrolle zu nisse leben würden? Und wer sonst hat zur Bekämp- übernehmen. Irgendwie muß man, finde ich, nach fung der Massenarbeitslosigkeit nichts anderes 25 Jahren auch zu der Wirtschaftsentwicklung stehen, getan, als die Marktkräfte zu beschwören, den sich die man in dieser Form mit verantwortet hat, und kann selbst tragenden Aufschwung herbeizureden, Sozial- hier nicht solche Reden halten, als ob seit 10, 15 Jahren abbau zu betreiben und Lohnreduzierungen zu predi- ganz verschiedene Geister regieren, gegen die man gen? Die aktuellen Tarifauseinandersetzungen finden jetzt vorgehen müßte, obwohl Sie es doch immer selbst also nicht nur in einer konjunkturellen und strukturel- waren, die regiert haben. len Krise statt, sondern auch in einem gesellschaftli- chen Klima, das diese Bundesregierung erst geschaf- Die zweite Frage: Ich finde es nicht fair, auch nicht fen hat. gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, immer den Eindruck zu erwecken, als ob Unternehmensteuern Die Kolleginnen und Kollegen und ihre Gewerk- und Steuern für Vermögende, Reiche und Besserver- schaften wissen sehr gut, was nicht nur für sie auf dem dienende etwas Identisches seien. Das eine belastet Spiele steht. Sie streiken für die Durchsetzung ihrer Unternehmen, bei dem anderen geht es um Vermö- nur allzu berechtigten Forderungen nach einem Infla- gen, das aus den Unternehmen längst abgezogen ist, tionsausgleich. Das ist nicht maßlos überzogen, son- um den persönlichen Verdienst, der überhaupt nicht dern das absolute Minimum, um wenigstens einen investiert wird. Das hat mit Arbeitsplätzen und mit Teil der Preissteigerungen, Steuer- und Abgabener- Wirtschaftstätigkeit nichts zu tun. Hier geht es einfach höhungen und Mietsteigerungen kompensieren zu um ein anderes Verhältnis zur Solidarität, in einer können. Aber Null ist den privaten und öffentlichen Gesellschaft, die sich in einer K rise befindet und in der Arbeitgebern immer noch zuviel. Denn eigentlich es darauf ankommt, daß in erster Linie die Vermögen- wollen die Gewerkschaften nur Null erreichen, wenn den und Reichen ihren Beitrag zur Lösung der Pro- man genau hinsieht, nämlich einen Ausgleich für die bleme, der Krise leisten und nicht etwa die sozial Kostensteigerung. Schwächsten, wie es die Bundesregierung organi- Die Gewerkschaften kämpfen erneut für Arbeits- siert. zeitverkürzung, sind bereit, über flexiblere Arbeits- Machen wir es doch einmal konkret: Wir haben den zeitvarianten zu verhandeln, um erstens weitere Mas- Solidaritätszuschlag wieder abgeschafft. Die Begrün- senentlassungen zu vermeiden und die bestehenden Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18369

Dr. Gregor Gysi Arbeitsplätze zu sichern und um zweitens mit Hilfe sowie sogenannten Investitionshemmnissen, z. B. den der Arbeitszeitverkürzung die gesellschaftliche Ar- staatlichen Genehmigungsverfahren. Mit anderen beit neu und auf breiteren Schultern zu verteilen. Es Worten: Wenn der Staat nur die richtigen Rahmenbe- sind die Gewerkschaften, die derzeit an vorderster dingungen setze, dann werde auch wieder investiert Stelle den Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit und würden mit Investitionen auch neue Arbeitsplätze führen, die eine aktive Arbeitsmarktpolitik fordern, geschaffen werden. während sich die Bundesregierung — außer ihren Nun hat diese Krise verschiedene Ursachen, auch ideologischen Beschwörungsritualen — durch ihr globaler Natur; aber keineswegs ist es so, daß der Nichtstun auszeichnet. deutsche Standort durch die Kostenlasten erdrückt Die diesjährige Tarifrunde steht ganz im Zeichen worden wäre. Die Fakten sprechen eine ganz andere entscheidender Abwehrkämpfe gegen die Kapital- Sprache. Von 1980 bis 1992 sind die privaten Netto- seite und gegen die Politik der Bundesregierung, die gewinne in den alten Bundesländern von 240 Milliar- die wirtschaftliche K rise und das allgemeine politi- den DM auf 570 Milliarden DM gestiegen, die Netto- sche Klima im Lande nutzen wollen, um die bereits investitionen aber nur von 123 Milliarden DM auf erreichten und zum Teil hart erkämpften materiellen 192 Milliarden DM. Das Geldkapital oder das soge- und sozialen Sicherungen der Arbeiterinnen und nannte frei vagabundierende Kapital, das Kapital Arbeiter sowie Angestellten zu demontieren oder also, das nicht reinvestiert wurde, hat sich auf über drastisch zurückzuschrauben. 700 Milliarden DM angehäuft. Dem Arbeitgeberverband geht es erklärtermaßen Daß in den 80er Jahren die Gewinne nur in relativ um Kostensenkungen in einer Größenordnung von bescheidenem Umfang reinvestiert wurden, hat über- 10 % bis 15 %. Das wollen sie einerseits durch eine haupt nichts mit den Kosten zu tun. Es war in Wirk- Nullrunde erreichen, weiter durch Kürzen oder Strei- lichkeit so, daß die Unternehmen in der langen chen des Urlaubsgeldes und der übertariflichen — Wachstumsphase von ihrer Substanz lebten, und zwar also der sogenannten freiwilligen — Leistungen. sehr gut lebten, weil sie ihre Waren und Dienstleistun- Schließlich wollen die Unternehmen ihre Kosten gen absetzen konnten, ohne in nennenswertem mittels flexibler Arbeitszeitregelungen ohne Lohn- Umfang zu investieren oder Innovationen zu schaffen. ausgleich senken. Die Metallarbeitgeber streben Das erkennt, etwas verschämt, auch der vorliegende maßgeschneiderte, auf die mikroökonomische Ebene Jahresbericht der Bundesregierung an. zugeschnittene, höchst flexible Arbeitszeitregelun- Hinzu kam noch die deutsche Einheit. Sie bescherte gen für die Beschäftigten an, was wiederum zu weite- vielen westdeutschen Unternehmen unerwartete ren Lohnsenkungen führen muß. Der Mensch wird zu Sonderprofite. Sie hatten es nicht nötig, in neue einem reinen Kostenfaktor degradiert. Die Maschinen Produktionen und Dienstleistungen zu investieren; sie dienen nicht dem Menschen, sondern die Beschäftig- brauchten nur die bestehenden Kapazitäten an den ten haben sich den modernen Maschinentaktzeiten westdeutschen Standorten zu erweitern bzw. voll unterzuordnen. auszulasten. Aber es geht in Wirklichkeit noch um etwas ande- Ich sage Ihnen, ich habe es auch ein bißchen satt, res. Mit den von den Arbeitgebern angestrebten, immer von der maroden Wirtschaft im Osten zu hören, individuell zugeschnittenen Arbeitszeitregelungen wo jetzt soviel investiert werden muß. Stellen Sie sich sollen die bestehenden Branchentarifverträge de- doch einmal vor, die Wirtschaft im Osten wäre wirk- montiert werden. Alle großen Automobilkonzerne in lich höchst effektiv und produktiv gewesen, hätte nur diesem Land haben sich mit ihren sogenannten Haus- qualitativ hochwertige Produkte erzeugt. Ein west- ja bereits aus der Flächentarifvereinba- tarifverträgen deutsches Unternehmen nach dem anderen wäre im rung verabschiedet. Wer aber die Flächentarifver- Konkurrenzkampf pleite gegangen! Das hätte viel- zerstört, will britische oder japanische Verhält- träge leicht erst zu Spannungen in dieser Bundesrepublik nisse herbeiführen und letztlich die Kampfkraft der Deutschland geführt! Gewerkschaften schwächen. Das heißt, es geht letztlich um die Sicherung der (Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Tarifautonomie. Es stehen die tarifvertraglichen Liste) Beziehungen samt ihren Spielregeln auf dem Spiel. So hat sich ein weiterer Binnenmarkt für die westdeut- Daß sich die IG Metall, die ÖTV und die Postgewerk- schen Unternehmen erschlossen, und sie konnten schaft sowie Tausende ihrer Kolleginnen und Kolle- unheimlich viel Profit machen. Das ist doch die Wahr- gen dagegen zur Wehr setzen, findet unsere volle heit! Unterstützung. Schauen Sie sich, zweitens, einmal die Entwicklung (Beifall bei der PDS/Linke Liste) der Betriebe in Polen, Ungarn und der Tschechischen Der Jahreswirtschaftsbericht dieser Bundesregie- Republik an. Sie werden nicht bestreiten können, daß rung ist ein Offenbarungseid. Die Diagnose für die die Wirtschaft dort zumindest nicht weniger marode krisenhaften Entwicklungen in unserem L and lautet war als in der DDR. Trotzdem haben wir dort nicht so erstens, der Standort Deutschland sei zu teuer, und viele Betriebsschließungen, haben wir dort nicht die zweitens, es werde zuwenig erneuert und investiert. Massenarbeitslosigkeit wie in den neuen Bundeslän- Die Therapie, die die Bundesregierung ihrem Stand- dern — ganz einfach deshalb, weil es dort nicht wie bei ort seit einiger Zeit verabreicht, lautet: Konsolidierung uns war, wo die ostdeutsche Wirtschaft der westdeut- der Staatsfinanzen durch s trenges Sparen und eine schen angepaßt wurde. Denn genau das war der Entlastung der Wirtschaft von Kosten und Abgaben eigentliche Auftrag der Treuhandanstalt, den sie 18370 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Dr. Gregor Gysi erfüllt hat, bis es kaum noch Industrien in den neuen verursacht haben, mit; sie tragen vielmehr die Haupt- Bundesländern gab. last der Kosten dieser K rise. (Bundesminister Matthias Wissmann: Und (Josef Grünbeck [F.D.P.]: Glauben Sie das wie ist das Lohnniveau?) selber?) — Wissen Sie, in diesem Zusammenhang von Lohn- Schließlich leisten ausgerechnet die über 4 Millionen niveau zu reden ist deshalb etwas abwegig, weil nur Menschen, die erwerbslos sind, aber auch diejenigen, noch so wenige beschäftigt sind, daß sich in den neuen die in Maßnahmen nach dem Arbeitsförderungsge- Bundesländern in erster Linie die Frage stellt, wie setz beschäftigt sind, einen erheblichen Beitrag. Rund hoch das Arbeitslosengeld ist, wie hoch das Entgelt für 20 Milliarden DM hat die Bundesregierung ihnen in Umschülerinnen und Umschüler und für diejenigen den letzten Monaten genommen. ist, die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind. Und Hinzu kommt noch, daß Sie immer dann, wenn Sie gerade dieses Entgelt senken Sie. Und außerdem den sozial Schwachen etwas nehmen, zugleich verur- wissen Sie, daß die Kosten in den neuen Bundeslän- sachen, daß die Kaufkraft zurückgeht, daß weniger dern, was Mieten, Waren und Dienstleistungen konsumiert wird, was die Umsätze im Handel, im betrifft, enorm angestiegen sind und die Lohnent- Dienstleistungsbereich und in der Produktion redu- wicklung nicht mitgehalten hat, sondern nach wie vor ziert und zu weiterem Arbeitsplatzabbau führt. Die auf einem wesentlich niedrigeren Niveau stehenge- Folge davon ist, daß weniger Steuern gezahlt werden. blieben ist, was viele soziale Probleme verursacht. Darm kürzen Sie wieder die Sozialleistungen. Die Übrigens ist es auch nicht wahr, daß sich in den ganze Spirale setzt sich ewig so fort. letzten Jahren und Jahrzehnten eine Schere in dem Wenn Sie dem Bundeskanzler, Herrn Rexrodt, Sinne entwickelt hätte, daß die Löhne schneller als die Herrn Lambsdorff, Herrn Klose und mir 100 DM Gewinne gestiegen wären. Die Wahrheit sieht wie wegnehmen, konsumieren wir keine einzige Mark folgt aus: Die Nettoeinkünfte der abhängig Beschäf- weniger, wir sparen höchstens weniger. Wenn wir tigten stiegen zwischen 1980 und 1992 um 47,5 %, die weniger sparen, organisieren wir bei den Banken Nettogewinne in der gleichen Zeit jedoch um 132,1 %. Geldknappheit. Wenn wir bei den Banken Geld- Der Anteil der Löhne und Gehälter am gesellschaftli- knappheit organisieren, machen sie eine andere Zins- chen Gesamteinkommen fiel auf das Niveau von 1990 und Kreditpolitik. Das heißt, es ist eine wirtschaftspo- zurück. litische Wahrheit: Nehmen Sie den Armen, lähmen Sie In unserem Lande leben 97 Milliardäre, anderer- Wirtschaftstätigkeit! Nehmen Sie den Reichen, bele- seits aber 10 % der Bevölkerung, darunter immer ben Sie Wirtschaftstätigkeit, weil Sie die Banken zu mehr Kinder, unterhalb der Armutsgrenze — Tendenz einer anderen Kredit- und Zinspolitik treiben! Im steigend. 1 Million Menschen sind inzwischen ob- übrigen leisten Sie dann noch einen Beitrag zu mehr dachlos. In den kalten Wintertagen sind obdachlos sozialer Gerechtigkeit, was Ihnen ganz gut anstünde, gewordene Menschen in einem der reichsten Länder solange Sie das Wort „sozial" so oft im Munde führen, dieser Erde erfroren; das muß man sich einmal über- aber nichts davon realisieren. legen. Dann sagen Sie, daß es zu Ihrer Politik keine Dem deutschen Standort mangelt es nicht an weite- Alternative gibt. — Wissen Sie, das kenne ich. Solche ren Kostensenkungen, sondern an einem Mindestmaß Alleinvertretungsansprüche kommen mir aus einem an sozialer Gerechtigkeit; denn diese Bundesregie- früheren System sehr bekannt vor. Die haben auch rung hat sich längst von der Sozialen Marktwirtschaft immer erklärt, daß es keine Alternative zu dem gibt, verabschiedet. Sie ist zur reinen Umverteilungsma- was sie so betreiben. schine des erarbeiteten Reichtums geworden. (Beifall bei Abgeordneten der PDS/Linke Mit der Reform der Unternehmensteuern von 1990 Liste) hat dieser Staat auf jährliche Einnahmen in Höhe von Es hat sich übrigens als falsch herausgestellt. Solche 720 Milliarden DM verzichtet und die Kosten der Sätze deuten immer darauf hin, daß man sich kurz vor Unternehmen bereits erheblich entlastet. Mit einer dem Ende befindet. weiteren Reform der Einkommen- und Körperschaft- steuer im letzten Jahr sparen die Vermögenden und Das zeigt auch Ihr Aktionismus. Sie haben jetzt das die Unternehmen zusätzlich 14 Milliarden DM jähr- Aktionsprogramm I vorgestellt. Nun kommt Aktions- lich. Während ein Unternehmer oder eine Unterneh- programm II. In der nächsten Woche soll das Aktions- merin im Schnitt etwa 20 % Steuern zahlt, sind die programm III kommen. -- Es kommen keine Aktionen, Haushalte der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie es kommen nur Programme. Das ist ein bißchen Angestellten mit weit über 40 % belastet. wenig. Im Grunde genommen hat die Bundesregierung (Zuruf von der CDU/CSU: Von euch kommt gar nichts!) eine Drei - Klassen - Gesellschaft geschaffen. Die gro- ßen Unternehmen haben sich aus der Finanzierung Ich will Ihnen auch sagen, worin die Alternativen der deutschen Einheit längst verabschiedet. Sie bestehen. Wir haben genügend finanzielle Ressour- schrumpfen sich gesund und bezahlen auch den Staat cen. Wir könnten Arbeitsplätze schaffen, wirksam nicht mehr. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Ange- etwas gegen Massenarbeitslosigkeit tun, und zwar auf stellten sowie die mittelständischen Unternehmen, zwei Wegen: erstens auf dem Weg der Arbeitszeitver- einschließlich der Handwerksbetriebe, finanzieren kürzung, um die Arbeit gerechter zu verteilen, und nicht nur die Defizite, die die großen Unternehmen zweitens, indem wir die Einnahmen des Staates orga- wegen ihrer gesunkenen Steuer- und Abgabenquoten nisieren, Ausgaben reduzieren und mit den dadurch Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18371

Dr. Gregor Gysi gewonnenen Mitteln Arbeitsplätze im Bereich der Gesellschaft einmal die Solidarität der Reichen mit Bildung, Kultur, Wissenschaft, Forschung und Ökolo- den Armen organisieren und nicht umgekehrt die gie schaffen, wo es sehr viel Arbeit gibt, aber gering Solidarität der Armen mit den Reichen; sonst spalten bezahlte. Genau das könnte man ändern. Sie diese Gesellschaft in einer Art und Weise, die zu einer Eruption führen wird, die letztlich dem Rechts- Die 97 Milliardäre und über 200 000 Einkommens- extremismus in die Hände spielt und die Demokratie millionäre könnten viel stärker als bisher besteuert gefährdet. Das ist die wirkliche Gefahr, der es zu werden. Besserverdienende könnten eine Ergän- begegnen gilt. zungsabgabe zahlen, und solchen Menschen, die ich hier vorhin aufgezählt habe, sind höhere Einkommen- Danke schön. steuern durchaus zuzumuten. Das Ehegattensplitting (Beifall bei der PDS/Linke Liste — Abg. kann aufgehoben werden, und daneben könnten die, Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.] meldet sich die in den neuen Bundesländern nachweislich ver- zu einer Kurzintervention) dient, aber nicht investiert haben, bef ristet eine Inve- stitionshilfeabgabe zahlen. Die Vermögensteuer und unter Beibehaltung von Freibeträgen auch die Erb- schaftsteuer könnten erhöht werden. Die Vermögen- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Graf steuer könnte auch progressiv gestaltet werden. Auch Lambsdorff, Sie können erst nach der ersten Runde besserverdienende Beamte, Freiberufler und Selb- eine Intervention machen, und die ist erst abgeschlos- ständige müßten herangezogen werden. Es wäre auch sen, wenn jetzt unser Kollege Werner Schulz hier ein Beitrag zu mehr sozialer Gerechtigkeit, zu der gesprochen hat. eben auch gehört, daß die Reichen in einer Solidarge- meinschaft für die wirtschaftlich Schwächeren aufzu- (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Aber ich kommen haben. bleibe bei meiner Anmeldung!) Lassen Sie mich dann darauf hinweisen, daß es Veränderungen geben kann, um wirklich zu mehr Finanzen zu kommen. Lassen Sie mich dafür nur zwei Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Beispiele nennen. Erstens. Das Grundgesetz sieht vor, NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich daß wir auf das frei vagabundierende Kapital- von bin darüber erfreut, wie intensiv sich die Damen und über 700 Milliarden DM auf den Banken zurückgrei- Herren von der Koalition mit unserem Programm fen. Warum tut das diese Bundesregierung eigentlich beschäftigt haben. Es zeigt, wie ernst es um Sie steht; nicht? denn früher konnten Sie sich immer den Luxus erlau- Zweitens. Überall in der Indust rie und im Handwerk ben, uns zu ignorieren. besteht Umsatzsteuerpflicht, nur beim Finanzkapital (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: nicht. Wissen Sie, daß das Geschäft mit Aktien, Nie!) Options- und Warentermingeschäfte, der Devisen- Es ist eben doch nicht so, daß die GRÜNEN ein handel und andere Transaktionen im Bereich des vorübergehendes Phänomen dieser Republik gewe- Finanzkapitals im letzten Jahr in der Bundesrepublik sen sind; sie kommen erstarkt zurück. insgesamt einen Wert von 6 Billionen DM umfaßt haben? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: 6 Milliar Und Sie werden, wenn Sie sich etwas intensiver und den!) genauer mit unseren wirtschaftspolitischen Vorstel- lungen beschäftigen, auf überraschende Entdeckun- — Nein, 6 Billionen, alle anderen Verkäufe zusam- gen stoßen. Ich nenne als Beispiel die Investitionshil- men. — Wenn der Staat darauf eine Umsatzsteuer von feabgabe. Herr Haungs hat sich ja leider schon nur 2 % nähme, hätte er schon eine Mehreinnahme verdrückt und kann das nicht mehr hören; aber von 120 Milliarden DM. vielleicht übermitteln ihm das die wenigen Kollegen, (Zuruf des Abg. Dr. Otto Graf Lambsdorff die noch hier sind. Er kennt offenbar seine eigenen [F.D.P.]) Wurzeln nicht. Bei der Investitionshilfeabgabe sind wir Schüler von Ludwig Erhard. Hier haben wir eine — Ich sage Ihnen eins, Graf Lambsdorff: Solange wir Anleihe aufgenommen; das gab es bereits in den 50er das Finanzkapital im Vergleich zu Industriekapital Jahren. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist nämlich auch derart fördern, ist das Ergebnis, daß die Menschen ihr eine Frage von Unterkapitalisierung, weil es genü- Geld zur Bank bringen und genau nicht investieren, gend Vermögende gibt — vor allem im Westen —, die um Arbeitsplätze zu schaffen. ihr Geld offensichtlich lieber auf der Bank als in der So gäbe es noch viele andere Möglichkeiten — die ostdeutschen Baugrube arbeiten lassen. Das ist auch kann ich Ihnen leider jetzt nicht mehr aufzählen, weil ein Riesenproblem, das gelöst werden muß. meine Redezeit zu Ende ist —, um die Finanzsituation Graf Lambsdorff, Sie sind ja heute richtig grün-rot, zu verbessern. rotgrün vor Eifer und Sorge um dieses Land gewor- Ich sage Ihnen auch: Wir brauchen eine Umstellung den. So kennen die Leute Sie überhaupt nicht. Bisher im Steuer- und Abgabensystem zwischen den hoch- waren Sie mehr dafür bekannt, daß Sie sich um sich produktiven Bereichen mit wenig Beschäftigten und selbst gesorgt haben, um die Zahl Ihrer Nebenjobs, den beschäftigungsintensiven Bereichen. Das heißt, um die Nebeneinnahmen, die es in diesem Parlament wir müssen auch über eine Maschinensteuer nach- auch noch zu verzeichnen gibt. Aber ich will Ihnen denken. Aber in erster Linie müssen wir in dieser sagen, was aus Ihnen spricht: Es ist die Angst, es ist die 18372 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Werner Schulz (Berlin) pure Angst, daß es der Mehrheitsbeschaffer F.D.P. sichtigt, die ihr in den Kram paßten. Analysen des nicht mehr schafft. Sachverständigenrates wurden weitgehend ignoriert. Die marktwirtschaftliche Rhetorik diente allenfalls zur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dekoration einer Wirtschafts- und Finanzpolitik, die sowie bei Abgeordneten der SPD und der die mächtigen Klientelinteressen nie aus dem Auge PDS/Linke Liste) verlor. Wir haben zum erstenmal die Situation, daß es zu einem Regierungswechsel zu Rot-Grün kommen Der Bundeskanzler will auch in dieser Hinsicht kann ohne die Flatterpartei F.D.P., ohne daß Sie seinem Idol Adenauer folgen. Der wollte seinerzeit die vorher ein taktisches Wendemanöver einleiten, um Einrichtung des Sachverständigenrates verhindern, den nächsten Koalitionspartner zu erschließen, weil weil er in dem unabhängigen Beratungsgremium sich nämlich die Leute ernsthaft fragen — ich will unliebsame Kontrolle witterte. Der neue Rat für For- diese Beleidigung, die Sie in Richtung unserer Partei schung, Technologie und Innovation soll dem Kanzler ausgeteilt haben, gar nicht zurückgeben —: Wozu solche Probleme nicht bereiten. Er möchte keine brauchen wir diese verantwortungslose, zukunftsver- unbequemen Wahrheiten hören, sondern sich nur mit gessene Selbstbereicherungspartei noch? den Experten abgeben, die die Regierungspolitik unterstützen. Das kennen wir seit Jahr und Tag: Die Wenn man Herrn Rexrodt gehört und aufmerksam Bundesregierung nimmt Probleme erst wahr, wenn sie verfolgt hat, dann hört sich seine Rede wie die Gefahr läuft, darüber zu stolpern. Erfolgsbilanz der DDR an: Aktionsprogramm I, II, III, IV. Ich erinnere mich an einen Spruch in der DDR; da Vor dem Hintergrund der schlimmsten K rise in der hieß das immer: 8, 9, 10, Klasse! Bloß, ich glaube, bei Geschichte der Bundesrepublik liest sich der wohl Ihnen läuft der Countdown etwas anders. Die Zahlen- letzte Jahreswirtschaftsbericht dieser Regierung als reihe läuft jedenfalls rückwärts. ein Report der Tauben und Blinden. Der Wirtschafts- minister ignoriert alle Expertenbefunde und redet sich Es ist richtig, wenn Sie sagen, daß die Arbeitslosig- selbst einen neuen Aufschwung ein. Der Finanzmini- keit ein strukturelles Problem ist. Bloß leitet sich aus ster hat den Schuldenberg in der Finsternis seiner dieser richtigen Erkenntnis bei Ihnen nichts ab. Es Schattenhaushalte aus den Augen verloren. Er dürfte kommt kein Handeln. Gerade Sie, Herr Minister, nicht mehr Theo, sondern er müßte Ch risto Waigel hatten ja die großen Möglichkeiten gehabt, als Vor- heißen. standsmitglied der Treuhandanstalt eine vernünftige Strukturpolitik mitzubestimmen. Aber was ist denn (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN passiert? Sie haben im Grunde genommen mit der sowie bei Abgeordneten der SPD) schnellen Privatisierungsstrategie dieser Anstalt ei- gentlich einen riesengroßen Ausverkauf eröffnet, Aber ein Wirtschaftswachstum ist entgegen aller ohne die Möglichkeit einer sinnvollen Regionalpoli- prognostizierten Aufschwünge nicht in Sicht. Die tik, Strukturpolitik und Erneuerung im Osten wirtschaftliche Stagnation treibt die Arbeitslosigkeit Deutschlands, d. h. ohne die Möglichkeit, dort eine auf über 4 Millionen, und die finanzpolitische Misere wirklich moderne, effiziente Wirtschaft aufzubauen, wird sich in diesem Jahr im vollen Umfang zeigen. von der Sie immer reden. Der Jahreswirtschaftsbericht beschreibt eigentlich Wenn die derzeitige Wirtschaftslage von Ihnen eine gescheiterte Politik. Er belegt nachdrücklich, daß analysiert wird, dann vergessen Sie sehr gerne einen der Bundeskanzler und die Koali tion zu Recht das Kardinalfehler, der in der Anfangsphase gemacht Vertrauen der Wähler und Wählerinnen verloren worden ist, auch wenn der Kanzler mittlerweile dazu haben. Von den 10 Millionen Arbeitsplätzen, die es bereit ist, hier so ein pauschales Fehlereingeständnis 1989 in Ostdeutschland gegeben hat, ist etwa nur noch hinzulegen. Neuerdings hört sich das wie eine Haf- die Hälfte übriggeblieben. Die Bundesregierung hat tungsgesellschaft an. Er ist ja der Meinung, nicht nur zugelassen, daß die Zerstörung der natürlichen er, sondern alle hätten sich geirrt. Im Grunde genom- Lebensgrundlagen nahezu ungebremst weitergeht. men sei das alles nicht voraussehbar gewesen. Sie hat dazu beigetragen, daß sich die Armut in Zu Beginn der deutschen Einheit ist ja auch ein Deutschland immer mehr ausbreitet und die Einkom- Fehler gemacht worden, der dazu geführt hat, daß wir mensentwicklung weiter auseinanderläuft. in einer solchen Krise stecken. Man hat damals den Dieser ignorante Zweckoptimismus des Wirt- gesamten wirtschaftspoli tischen Sachverstand ausge- schaftsministers kann nicht verdecken, daß die Bun- schlagen. Es haben viele gewarnt, nicht der Bundes- desregierung ohne jedes Konzept dasteht, mit dem sie bankpräsident allein oder der Vorsitzende des Sach- die wirtschaftliche Krise und die Massenarbeitslosig- verständigenrates. Zum Beispiel Lothar Späth, damals keit beenden könnte. Die Papierflut aus dem Bundes- noch Ministerpräsident von Baden-Württemberg, hat wirtschaftsministerium offenbart nur eines: Diese im Juni 1990 darauf hingewiesen: Wir marschieren Regierung ist ratlos und gerät in Panik. Die verschie- durch ein tiefes Tal, wir bekommen in Ostdeutschland denen Aktionsprogramme und Berichte sind völlig Beschäftigungsverluste in der Größenordnung von unkoordiniert und widersprüchlich. Sie belegen einen 3 Millionen, und dann müssen wir die Menschen eigentümlichen Rollenwechsel: Der Bundeskanzler auffangen. und seine Minister haben sich zu Kritikern ihrer Es hat also nicht an Warnungen gefehlt, sondern eigenen Politik gemausert. Man gewinnt den Ein- man hat diese alle in den Wind geschlagen und sich druck, daß die Koali tion in vorauseilender Anpassung statt dessen seinen Blütenträumen hingegeben. Diese an das Wählervotum schon einmal die Opposi tions- Bundesregierung hat immer nur die Experten berück- rolle üben will. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18373

Werner Schulz (Berlin) Da wird eine neue Steuerpolitik und die Konsolidie- eine verhängnisvolle Verschuldungsfalle getrieben, rung der öffentlichen Haushalte gefordert, als sei die aus der es nun kein Entrinnen mehr gibt. Es ist CDU schon seit Jahr und Tag in der Opposition. bekannt und hat sich herumgesprochen: Allein die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Zinszahlungen werden in der Zukunft fast jede vierte Steuermark auffressen. sowie bei Abgeordneten der SPD) Der Kanzler tut so, als habe seine Politik nichts, aber Noch steht der Offenbarungseid aus, obwohl schon auch gar nichts mit der wirtschaftlichen und sozialen seit 1990 klar war, daß diese Politik zu katastrophalen Misere in Deutschland zu tun. Diese Regierung hatte Folgen führen würde. Die Koalition hat mit Steuerlü- elf Jahre Zeit; in elf Jahren hat sie genau die Probleme gen, mit Versprechungen versucht, sich über die Zeit geschaffen, die sie jetzt lösen will. zu retten, und sie hat die Schuld natürlich auf andere abgewälzt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Ernst Schwanhold [SPD]: Der Gipfel an Unver Jetzt versucht die Regierung, die von ihr angekün- schämtheit war Lambsdorff!) digte Konsolidierung der Staatsfinanzen auf Kosten der Schwachen in der Gesellschaft durchzusetzen. Die Bundesregierung traut sich nicht einmal mehr, Der Sachverständigenrat hat diese T ricks der Regie- sich ernsthaft mit dem Sachverständigenrat auseinan- rung deutlich kritisiert. Schon im letzten Gutachten derzusetzen. Der Sachverständigenrat hat unmißver- wurde die mißbräuchliche Verwendung der Gelder ständlich festgestellt, daß diese Regierung kein Kon- der Bundesanstalt für Arbeit und der Rentenversiche- zept mehr hat, um aus der Krise und aus der Massen- rung für die Finanzierung der deutschen Einheit als arbeitslosigkeit herauszufinden. finanzpolitisch verfehlt und sozial ungerecht kritisiert. (Detlev von Larcher [SPD]: Recht hat er!) Aus dem neuen Gutachten geht hervor, daß die Konsolidierung der öffentlichen Finanzen insgesamt Kein Wunder, wo schon die Analyse falsch ist. Denn verfehlt worden ist. nach Lesart der Bundesregierung sind die Arbeitneh- mer die Hauptschuldigen der sogenannten Kosten- Ebensowenig ist das Sparprogramm der Regierung krise. Das böse Kanzlerwort vom kollektiven Freizeit- ein Beitrag zu einer solidarischen Lastenverteilung. Es park lenkt von den wirklichen Problemen in diesem erschöpft sich lediglich in dem Versuch einer klien- Land auf groteske Weise ab. Natürlich geraten in der telorientierten Konsolidierung des Bundeshaushaltes Rezession viele Unternehmen in die Lage,- daß die auf Kosten anderer Ebenen des Staates. Kosten die Erträge übersteigen. Aber es macht doch Doch die Lasten müssen gerecht verteilt werden. keinen Sinn, angeblich zu hohe Kosten für die Rezes- Wir haben einen neuen Lastenausgleich vorgeschla- sion verantwortlich zu machen. gen, der die Menschen in der Bundesrepublik ent- Die Probleme des Standorts Deutschland liegen sprechend ihrer Leistungsfähigkeit am wirtschaftli- doch ganz woanders. Die wirtschaftliche Vereinigung chen und sozialen Aufbau in den neuen Bundeslän- ist von dieser Regierung erschreckend schlecht gestal- dern beteiligt. Ein neuer Lastenausgleich zielt auf eine tet worden: Aufschwung Ost, Solidarpakt, Solidari- gerechte Belastung von Einkommen und Vermögen. tätsprogramm, Aktionsprogramm — das alles sind Die hohen Einkommen und Vermögen und auch die hilflose und konzeptionslose Versuche, die eigenen Gewinner der deutschen Einheit müssen für diese Fehler auszugleichen oder zu verdecken. Ziele einen höheren Beitrag als bisher leisten. Mit der überstürzten Währungsunion und einer Marktwirtschaftliche Rhetorik hat die Regierung unseligen Treuhandanstalt, die lange Zeit wie ein bisher nie daran gehindert, einen wirtschafspoliti- Konkursverwalter die verwertbaren Aktiva liqui- schen Aktivismus besonderer Art zu entwickeln, dierte, statt die Sanierung ihrer Unternehmen zu wenn es darum ging, besonders treue Wählerschich- fördern, hat die Bundesregierung erheblich dazu ten — nicht nur die zahlenden — mit kleinen Aufmerk- beigetragen, daß jetzt der Neuaufbau im Standort samkeiten zu versehen. Deshalb verwundert es auch Ostdeutschland von einer äußerst schmalen Basis nicht, daß die staatlichen Subventionen in dieser Zeit ausgehen muß. nicht gesunken sind. Nach einer Berechnung des DIW sind die Subventionen, die Finanzhilfenzuschüsse Die Chancen, die gerade auch für Ostdeutschland in und die Steuervergünstigungen von 1980 bis heute bewußt beschleunigter, ökologischer Erneuerung lie- nahezu kontinuierlich gestiegen. Die Bundesregie- gen, haben die Wirtschaftsminister im Kabinett Kohl rung hat entgegen ihren Ankündigungen keinen dagegen nicht erkannt oder nicht erkennen wollen. Kurswechsel in ihrer Subventionspraxis vollzogen. Überhaupt liegt bei der Förderung wirklicher Innova- tionen in diesem Land ein Problem, ein Standortpro- Wir wissen alle noch, mit welchen vollmundigen blem, wenn Sie so wollen. Erst langsam dämmert es Versprechungen Herr Möllemann damals als Wirt- den Verantwortlichen in Wirtschaft und Politik, daß es schaftsminister angetreten ist. Er hat gesagt, er trete nicht so weitergeht wie bisher und daß neue Problem- zurück, wenn er die Subventionen nicht in einem Jahr lösungen, Produkte und Verfahren in Ost und West um 10 Milliarden DM zurückgefahren habe. Er ist gesucht werden müssen. Risikokapital für diese neuen zurückgetreten, aber ich glaube, eben wegen verfehl- Entwicklungen ist in diesem Land nicht leicht zu ter Subventionspolitik. Auch das ging in die falsche bekommen. Das muß anders werden. Richtung, auch das ging wieder in die Familie. Auch die Finanzpolitik der Koalition ist gescheitert; Die Bundesregierung hat nicht nur ein unbeschreib- zu Recht betont dies der Sachverständigenrat. Die liches Steuerchaos ange richtet, sie hat auch dafür Bundesregierung hat die Gutachten der letzten bei- gesorgt, daß das Steuersystem ökologisch unverträg- den Jahre ignoriert. Die Regierung hat sich selbst in lich ist. Mit etwa 80 Milliarden DM tragen die ener- 18374 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Werner Schulz (Berlin) giebezogenen Steuern und Abgaben nur mit etwa Herrn Schulz habe ich zugehört. In seinem Rede- 11 % zum Steueraufkommen bei. Der Anteil der Lohn- beitrag war nicht ein einziges Wort, mit dem er über und Einkommensteuer am gesamten Steueraufkom- die deutschen Grenzen hinausgeschaut hätte. Damit men stieg dagegen zwischen 1989 und 1990 von 33 % ist Wirtschaftspolitik in Deutschl and und in dieser auf 40 %. Welt nicht zu machen. Das Mißverhältnis zeigt sich besonders bei der (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Mineralölsteuer. Dazu muß ich einmal deutlich ten der CDU/CSU) sagen: Wir fordern nicht eine Anhebung auf 5 DM, wie das die ,,Bild"-Zeitung kolportiert. Das ist eine Forde- Vizepräsident Helmuth Becker: Zu einer Erwide- rung der Enquete-Kommission dieses Hauses, die aus rung gemäß § 27 Abs. 2 der Geschäftsordnung erhält Sachverständigen zusammengesetzt war. Wir leiten nun der Kollege Dr. Gysi das Wort. lediglich die Konsequenz ab, die sich daraus ergibt, daß die Mineralölsteuer in den nächsten Jahren erhöht werden muß, weil nämlich Preise auch die Dr. Gregor Gysi (PDS/Linke Liste): Graf Lambsdorff, ökologische Wahrheit sagen müssen und weil der erstens haben wir bestimmte Steuern und andere Preisindex für die Mineralölsteuer heute niedriger ist Abgaben, die in anderen Ländern nicht erhoben als 1985. Auch das gehört dazu. Aber wir setzen die werden. Dennoch fließt mehr ausländisches Kapital Mineralölsteuer nicht als ein Abschöpfinstrument nach Deutschland als deutsches Kapital ins Ausland. ein, Das heißt, daß wir nach wie vor für ausländisches Kapital durchaus attraktiv sind, was zum Teil andere (Zuruf von der CDU/CSU: Als was denn Ursachen hat. sonst?) Zweitens habe ich gar nicht davon gesprochen, daß um die Staatskasse zu füllen, sondern wir wollen das nur in Deutschland eingeführt werden sollte. Ich damit natürlich den ökologischen Umbau finanzie- bin sehr dafür, dies im Rahmen der Europäischen ren. Union einzuführen. Die Bundesregierung hat einen Dieses Land braucht eine Politik der ökologischen beachtlichen Stellenwert in dieser Europäischen Umorientierung, eine Politik der finanzpolitischen Union. Wann nutzt sie eigentlich einmal ihren Einfluß, Solidarität und eine Politik der sozialen Gerechtigkeit. um solche Dinge europaweit durchzusetzen? Ich bin ja Meine Damen und Herren, dieses L and- braucht vor gar nicht dafür, das nur auf Deutschland zu beschrän- allen Dingen eine neue Regierung. ken. Alle führenden Industriestaaten stehen vor dem Problem, daß es sich in erster Linie lohnt, Geld zur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bank zu tragen, und daß es sich viel weniger lohnt, sowie bei Abgeordneten der SPD und der Geld zu investieren und Arbeitsplätze zu schaffen. PDS/Linke Liste) Wenn wir uns nicht überlegen, wie wir Finanzkapi- tal entprivilegieren, wird es bei diesem Zustand bleiben. Das Geld auf den Banken wird sich immer Vizepräsident Helmuth Becker: Meine sehr verehr- weiter anhäufen, wir werden kein Investitionsklima ten Damen und Herren, wir sind damit am Ende der bekommen und irgendwann, wenn dieses Geld dann ersten Diskussionsrunde zum Jahreswirtschaftsbe- doch auf den Markt kommt, einen Schwarzen Freitag richt angekommen. erleben, im Vergleich zu dem derjenige aus dem Jahre Bevor ich die zweite Runde aufrufe, möchte ich 1929 ein harmloses Vorspiel war. unserem Kollegen Klaus Lennartz herzlich gratulie- (Beifall bei der PDS/Linke Liste) ren. Er hat heute 50. Geburtstag.

(Beifall) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Dann möchte ich gern dem Wunsch des Kollegen Herren, bevor wir jetzt in die zweite Runde der Graf Lambsdorff zu einer Kurzintervention gemäß § 27 Debatte eintreten, gibt es noch eine Kurzintervention. Abs. 2 unserer Geschäftsordnung nachkommen. Bitte Herr Kollege Schulz, bitte. schön. Werner Schulz (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Herr Präsident, ich habe ja die Möglichkeit zu Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Vielen Dank, erwidern, weil Graf Lambsdorff mich angesprochen Herr Präsident. hat. Wir haben eben zwei Redebeiträge gehört, die noch Graf Lambsdorff, Ihre Kurzintervention hatte, bezo- einmal deutlich gemacht haben, daß m an über Wirt- gen auf die BÜNDNISGRÜNEN, keinen Krümel schaftspolitik nicht vernünftig und verantwortlich dis- sachliche Substanz, wie Ihre Ausfälle schon in Ihrer kutieren kann, wenn man nicht über die Grenzen Rede. Ich glaube, daß Sie im Denken begrenzt sind. hinaussieht. Denn wer heute die Wirtschaft auf Umweltverträg- Wenn Herr Gysi vorschlägt, in Deutschland eine lichkeit umstellt, Graf Lambsdorff, der wird nicht nur 2 %ige Umsatzsteuer auf Börsentransaktionen zu die ökologische Dividende ernten, sondern darüber erheben, so ist dies ein Förderungsprogramm für die hinaus weltweite Wettbewerbsvorteile erzielen. Börsenplätze Zürich und London. Dann gehen die Wenn Sie das immer noch nicht verstanden haben, Geschäfte nämlich dorthin, und hier wird gar nichts dann bezeugen Sie, daß Ihre Partei einfach keine getätigt. Das ist — verzeihen Sie, Herr Gysi — schlicht wirtschaftliche Kompetenz mehr hat. ökonomischer Unsinn. (Lachen bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18375

Werner Schulz (Berlin) Das ist vorbei. Sie hatten das einmal in den fünfziger unserer Verkehrswege in den neuen Bundesländern Jahren. Ihr Image verblaßt, Graf Lambsdorff. Nehmen in den letzten Jahren ein gewaltiges Stück vorange- Sie das doch endlich einmal zur Kenntnis. kommen sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sowie bei Abgeordneten der SPD) 35 Milliarden DM zum Auf- und Ausbau in den neuen Bundesländern: Das ist keine hohle Theo rie, Darauf möchte nun Vizepräsident Helmuth Becker: das ist praktische Wirtschafts- und Verkehrspolitik. noch einmal Graf Lambsdorff gemäß § 27 Abs. 2 Oder wie es der Vorstandsvorsitzende von Rolls unserer Geschäftsordnung antworten. Royce bei der Gründung des gemeinsamen Werks mit (Detlev von Larcher [SPD]: Nein, das geht BMW in Dahlewitz bei Berlin vor einigen Wochen doch nicht!) gesagt hat: Ohne die dort geschaffene gesunde Infra- — Er kann das; ich lasse das auch zu. struktur wären wir nicht in der Lage gewesen, p rivates Bitte sehr. Kapital zum Aufbau eines neuen Betriebs, eines hochmodernen Werks zu bekommen. Dies müssen wir in den neuen wie in den alten Bundesländern weiter- Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Präsident! Herr Kollege Schulz ist heute in der Zuerkennung von treiben. 1 Milliarde DM für den Verkehrswegebau Farbwirkungen großzügig. Erst hat er gesagt, ich sehe eingesetztes Kapital schafft und sichert im Schnitt rot-grün aus. Jetzt sehe ich verblaßt aus. 12 000 Arbeitsplätze. Wir reden also nicht nur über Infrastrukturinvestitionen, wir reden auch über die (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Er Folgewirkungen im Interesse von Beschäftigung. sieht blaß aus und ist auch grün!) Ich kann vielleicht nicht denken, Herr Schulz, aber (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ich kann lesen, was in Mannheim beschlossen worden Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und ist. Kollegen, jeder von uns weiß, daß die zentrale Her- Was Herrn Gysi anlangt: Ich habe bewußt einen ausforderung dieser Zeit die Überwindung der Finanzplatz erwähnt, der nicht der Europäischen Arbeitslosigkeit ist. Aber die Vernünftigeren, die nicht Union angehört, nämlich den in Zürich. So ganz nur parteitaktisch operieren, wissen auch: Auf einem einfach geht es wohl nicht. Wenn Sie hier Wünsche weltweit verbundenen Markt gibt es keine Insellösun- angemeldet haben, von deren politischer Nichtdurch-- gen. Dort wird sich der behaupten, der die intelligen- setzbarkeit Sie selber überzeugt sind, dann brauchen testen Produkte besitzt, der am meisten die Innovation wir uns nicht zu streiten. fördert, der die günstigsten Rahmenbedingungen für unsere Tüftler, Erfinder, Ingenieure und Facharbeiter (Helmut Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das schafft und der auch den Mut hat, große Technologie- war schwach!) entscheidungen in einem Land, in dem die Bedenken träger manchmal zu überwiegen scheinen, durchzu- Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und setzen. Herren, nachdem auch die Bundesregierung ange- sprochen worden ist, kann sie, wenn sie will, jetzt Natürlich weiß ich, daß es Einwände gibt. Kein etwas dazu sagen; denn es erhält jetzt das Wort der Konzept löst nicht auch Widerspruch aus. Aber ich Bundesminister für Verkehr, unser Kollege Matthias sage vor diesem Haus auch ganz offen: Ich fände es Wissmann. unverständlich, wenn das Konzept des Transrapid, das das Bundeskabinett gestern beschlossen hat, im parteipolitischen, kleinkarierten Taktieren versickern Matthias Wissmann, Bundesminister für Verkehr: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir würde. Wir sind fest entschlossen, es gemeinsam durchzusetzen. über den Standort Deutschl and und die künftige wirtschaftliche Entwicklung sprechen, dann, glaube (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) ich, ist es gegenüber unseren Mitbürgern überzeu- Und das nicht, weil es uns um ein Prestigeprojekt geht, gender, wenn sich Debattenbeiträge nicht auf Klagen, sondern weil wir der Meinung sind: In Zeiten knapper Schimpfen, Jammern und Kritisieren beschränken, Kassen darf man alles abschneiden, Herr Lafontaine, sondern wenn wir sagen, was wir tun und was die bloß nicht die Blutzufuhr zum Kopf. einzelnen politischen Kräfte in diesem Hause vorha- ben. (Beifall bei der CDU/CSU) (Dirk Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Sehr In Zeiten knapper Kassen muß man alles dafür tun, richtig!) daß unsere Ingenieure, unsere Erfinder, unsere Tech- Wenn es ums Tun geht, dann muß auch von den niker gerade dann, wenn sie mit ihren Entwicklungen Infrastrukturinvestitionen gesprochen werden, die wie beim Transrapid fünf Jahre vor den Japanern Teil einer überzeugenden wirtschaftspolitischen Stra- liegen, auch die Chance bekommen, dieses Produkt in tegie sind. Das Bundesverkehrsministerium investiert Deutschland zu verwirklichen. im Jahre 1994 26 Milliarden DM in die Verkehrswege Ich hoffe, daß der Ratschlag von Herrn Voscherau in Ost und West. Herr Kollege Schulz, bei allem, was und von Herrn Klose für den Transrapid in Ihrer Partei uns besorgt, bei allem, was wir gerade in den neuen auf fruchtbaren Boden fällt. Bundesländern zu bewältigen haben: Ich glaube, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in den neuen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bundesländern wissen sehr genau, daß wir neben den Ich will dieses Thema nicht in die parteipolitische Problemen beispielsweise beim Ausbau und Neubau Auseinandersetzung führen. Ich sage nur: Wir können 18376 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Bundesminister Matthias Wissmann es uns nicht länger erlauben, bei einem großen schwindigkeitsstrecke ICE bauen. Da sage ich ganz Technologieprojekt nach dem anderen den Beden- klar: Wenn wir diesen Innovationssprung an einer kenträgern das Feld zu überlassen. Wir können die Stelle in Deutschland mit der Chance, die sich daraus großen Technologien nicht ins Museum schieben. Wir auf den Weltmärkten ergeben kann, nicht mehr schaf- können nur dann auf Dauer ein Land mit hohen fen und uns scheuen, dabei auch ein Risiko in Kauf zu Löhnen bleiben, wenn wir technologieintensiven Pro- nehmen, dann sind wir nicht in der Lage, unsere dukten eine Gasse bahnen. Ich glaube, das sollten wir führende Stellung in der Welt als Technologie- und uns bei dieser Standarddebatte gemeinsam ins Industrienation zu behaupten. Bewußtsein rufen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — (Beifall bei der CDU/CSU) Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Milliardenri siko!) Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, Deswegen lade ich Sie ein, lösen Sie sich bitte von gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Kollegin Vorurteilen. Matthäus-Maier? (Zuruf von der CDU/CSU: Das schaffen die nicht!) Matthias Wissmann, Bundesminister für Verkehr: Ich bin zu jeder Information jederzeit, auch in Ihrer Ja. Fraktion, bereit. Mir liegt nicht daran, die Konfrontation zu suchen. Bitte, Frau Kollegin Vizepräsident Helmuth Becker: Mir liegt daran, mit aufgeschlossenen Geistern auch Matthäus-Maier. in Ihren Reihen — ich hoffe, es gibt sie in großer Zahl — dieses Konzept gemeinsam durchzusetzen. Ingrid Matthäus-Maier (SPD): Herr Bundesver- kehrsminister, ich halte den Transrapid für eine tech- (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Ändern Sie nologisch beeindruckende Entwicklung, und ich das Finanzierungskonzept!) wünschte ihm allen wirtschaftlichen Erfolg. Aber meine Frage an Sie ist: Ist es nicht doch so, daß das Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Minister, Finanzierungskonzept wirklich unsolide ist, daß es zu gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen einem Milliardengrab für den Bundeshaushalt wird, Dr. Weng? daß in einer Zeit, in der Sie heute morgen- einen Gesetzentwurf vorlegen, der Mautgebühren mit Matthias Wissmann, Bundesminister für Verkehr: Mauthäuschen für den Autofahrer vorsieht — weil die Ja, bitte. Finanzen durch Sie an die Wand gefahren sind —, gleichzeitig zusätzliche Milliarden für den Transrapid Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte sehr, Herr benötigt werden? Wäre es nicht besser, daß diejenigen Kollege. — wie Ihre Koalition und die Wirtschaft —, die immer von Privatisierung reden, den Transrapid als Anwen- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Mini- dungsfall für Privatisierung nehmen und ihn wirklich ster, teilen Sie meine Auffassung, daß die Glaubwür- privat durchführen und finanzieren? digkeit einer Fragestellung, wie sie Frau Matthäus (Beifall bei der SPD) Maier hier gerade unter Aspekten der Finanzierung vorgebracht hat, doch sehr fragwürdig ist, wenn m an Matthias Wissmann, Bundesminister für Verkehr: sich vor Augen hält, daß die SPD schon vor einigen Frau Kollegin Matthäus-Maier, ich kann das ganz Jahren eine Referenzstrecke in Nordrhein-Westfalen ruhig beantworten. Hein rich von Pierer, der Vor- mit ganz anderen Begründungen verhindert hat? standsvorsitzende von Thyssen Industrie Dr. Roh- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der kamm, viele andere Experten haben dieses Konzept CDU/CSU — Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: mit uns zusammen erarbeitet. Dieses Konzept sieht als Das trifft mich nicht! — Gegenruf von der erstes großes Infrastrukturprojekt in Deutschland vor, F.D.P.: Hat er recht, oder hat er nicht daß der gesamte Betrieb des Transrapid ausschließ- recht?) lich privatwirtschaftlich finanziert wird. Es gibt keine staatlichen Garantien. Um es klar zu sagen: Der Vizepräsident Helmuth Becker: Eigentlich ist das Transrapid wird mit Strom angetrieben und nicht mit eine unzulässige Dreiecksfrage, aber bitte, Herr Mini- Subventionen. ster. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich halte das für einen großen Fortschritt, den auch Sie Matthias Wissmann, Bundesminister für Verkehr: konstatieren sollten. Herr Kollege Weng, ich lese heute im „Handelsblatt": Daß wir für den Bau der Strecke des Transrapid In der Frage des Transrapid scheiden sich in der SPD öffentliche Gelder aufbringen, ist nur zu selbstver- die Geister. ständlich. Ich habe die Freude, in wenigen Monaten (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Eine gespal den Baubeginn der ICE-Strecke Nürnberg-Ingol- tene Partei!) stadt-München zu vollziehen. Dort nehmen wir eben- Es ist in der Tat so: Die Politik anerkannter sozialde- falls öffentliche Gelder in Anspruch. mokratischer Forschungsminister wurde von unseren Würden wir den Transrapid auf der Strecke Ham- Kollegen überzeugend fortgeführt. Heinz Riesenhu- burg-Berlin nicht verwirklichen, müßten wir wegen ber hat dieses Projekt auf die Schiene gesetzt. Ich wäre des hohen Passagieraufkommens eine Hochge- froh, wenn die Sozialdemokraten in der Tradition Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18377

Bundesminister Matthias Wissmann ihrer ehemaligen Forschungsminister blieben und Ich glaube, das ist eine gute Entscheidung. sich nicht aus opportunistischen Gründen von der Wir werden insgesamt in der Wirtschafts- und selbst einmal eingeschlagenen Linie verabschiede- Verkehrspolitik viel stärker auf private Initiative, auf ten. privates Kapital, auf mehr Markt und weniger Staat (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge setzen müssen. Deswegen haben wir die Bahnreform ordneten der F.D.P.) durchgesetzt und sind jetzt dabei, sie konsequent umzusetzen. Deswegen privatisieren wir die Gesell- Meine Damen und Herren, es ist gerade zu Recht schaft für Nebenbetriebe der Autobahnen. Deswegen gesagt worden: Heute liegt auch ein Entwurf zu einer haben wir die Organisationsprivatisierung der deut- verbesserten Privatfinanzierung im Verkehrswege- schen Flugsicherung durchgeführt, und jeder Flug- bau vor. Wir gehen diesen Weg einer verstärkten gast weiß, daß die wesentlich geringere Zahl von Mobilisierung privaten Kapitals im Verkehrswegebau Verspätungen, die wir heute im Flugverkehr in auch deswegen, weil wir die dringend notwendigen Deutschland gegenüber der Zeit vor zwei Jahren Investitionen für Bahn und Straße brauchen. haben, auch ein Ergebnis dieser von meinem Vorgän- Allein 5 200 Kilometer Ortsumgehungen sind in ger durchgesetzten Organisationsprivatisierung bei Deutschland im Bundesverkehrswegeplan vorgese- der deutschen Flugsicherung ist. hen, und danach rufen die Bürger. Ich habe jeden Tag (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Bürgerinitiativen zu Gast, die mir sagen, wie dringend Zuruf von der SPD: Na, na, na!) ihre Ortsumgehung sei. Wir können diese Investitio- Deswegen gehen wir den Weg der Privatisierung der nen nur leisten, wenn wir mehr p rivates Kapital Lufthansa und tun das in einer sehr sorgfältigen Weise mobilisieren. und auch in Kooperation mit den Gewerkschaften. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und In einer Zeit knapper Kassen darf die Ordnungspo- der F.D.P.) litik nicht leiden, sondern müssen wir konsequenter Wir haben im letzten Jahr — ich bin dem Bundesfi- als je zuvor auf marktwirtschaftliche Instrumente nanzminister dankbar, daß wir den Weg gemeinsam setzen und darauf, daß wir Privaten den Vorrang vor ention geben. In einer solchen beschreiten konnten — die ersten zwölf Privatfinan- bürokratischer Inte rv zierungsprojekte in Deutschland freigegeben. Wir Zeit kann man nicht in erster Linie auf Subventionen für die alten Industrien setzen, sondern muß Rahmen- brauchen die vierte Elbtunnelröhre in Hamburg,- die bedingungen für Zukunftstechnologien schaffen. Das so dringend notwendig ist, den Engelbergtunnel in tun wir in der Verkehrspolitik, das tun wir zusammen meiner Heimat Stuttgart mit dem Bundeswirtschaftsminister in der Wirtschafts- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: politik; das ist das Ziel der Bundesregierung. Gerlingen!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe hier — und andere Projekte, Herr Kollege Weng, die wir — Sie werden das gespürt haben — nicht vom nicht aus den Staatskassen finanzieren könnten, die Wünschenswerten geredet, ich habe nicht geschimpft wir sonst 20 bis 30 Jahre lang warten lassen müssen. und kritisiert. Die Menschen erwarten von uns nicht Das sind Projekte ohne Maut. Reden, Kritisieren und Schimpfen, sie erwarten von uns Entscheidungen und Handlungen — und von der Heute legen wir ein Gesetz vor, das dann, wenn Opposition klare Alternativen. Davon würde ich heute Regionen und private Kapitalgeber zu der Überzeu- gerne mehr hören. Bisher habe ich davon leider wenig gung gelangen, daß ein nicht im Bundesverkehrswe- gehört. geplan vorgesehenes Projekt — ich denke an die verschiedenen Ideen vom Ruhrtunnel — auf privatem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Kapital aufbauend realisiert werden soll, die Möglich- Detlev von Larcher [SPD]: Dann haben Sie keit eröffnet, dafür eine Refinanzierung über Gebüh- nicht zugehört!) ren vorzusehen. (Zuruf des Abg. Klaus Lennartz [SPD]) Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Uwe — Lieber Kollege Lennartz, die Vorschläge zum Jens das Wort. Ruhrtunnel sind keineswegs Vorschläge, die nur aus einer politischen Ecke kommen. Sie kommen aus der Industrie, sie werden zum Teil von Sozialdemokraten Dr. Uwe Jens (SPD): Herr Präsident! Meine sehr mitgetragen. verehrten Damen und Herren! Ich habe das Gerede vom Transrapid gerne gehört. Bei uns gibt es unter- Ich finde, der Bundesverkehrsminister hat die schiedliche Meinungen zu diesem Thema. Das gebe Pflicht und Schuldigkeit, dafür Rahmenbedingungen ich gerne zu. Aber wenn jemand glauben sollte, das zu schaffen. Die werden durch den heute von den Problem, das uns unter den Nägeln brennt, nämlich Koalitionsfraktionen vorgelegten Gesetzentwurf er- die Massenarbeitslosigkeit, werde mit diesem Vorha- möglicht. Ziel ist nicht, eine allgemeine Maut einzu- ben irgendwie gelöst, dann irrt er sich ganz gewaltig. führen. Ziel ist, die Voraussetzungen dort zu ermögli- Frühestens im Jahre 2005, wahrscheinlich erst im chen, wo ein Projekt sonst 30 Jahre warten müßte und Jahre 2010 wird dieses Projekt realisiert. Es ist wie- die Menschen in der Region sich entscheiden: Dieses derum ein von der Regierungskoalition vorgelegtes Projekt muß sein, und wir sind bereit, dafür auch Thema, das dafür sorgen soll, von den eigentlichen Gebühren zu zahlen. Problemen der Menschen abzulenken. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der SPD) 18378 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Dr. Uwe Jens Ich glaube auch, meine Damen und Herren, die Wirtschaftsminister vor allem bei den Arbeitgeberver- Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande verstehen bänden völlig falsche Erwartungen geweckt hat. mehr von Wirtschaft und von Wirtschaftspolitik, als Finanzminister Waigel meint nach Angaben der die Politiker hier im Raum sich manchmal vorstellen. „Wirtschaftswoche", es sei falsch, mit niedrigen Zin- Ich kann Ihnen nur empfehlen, sich einmal dieses sen die Konjunktur anzukurbeln. Bei solchen Aussa- Aktionsprogramm für Wachstum und Beschäftigung, gen muß man sich unwillkürlich fragen, was dieser wie es so schön heißt, anzugucken. Da steht in etwa Finanzminister eigentlich für ökonomische Kennt- das drin, was Graf Lambsdorff 1982 in seinem Lambs- nisse hat. dorff - Papier vorgeschlagen hat. Jetzt, ein halbes Jahr vor der Wahl, wird das alles aufgelistet und soll (Zuruf von der SPD: Wenig! Wenig!) realisiert werden. Sie haben Angst, Sie haben Tor- Die Leitzinsen der Bundesbank sind leider immer schlußpanik! Das ist die Realität. noch 2 % höher als in früheren Rezessionsphasen, bei (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ja unglaub denen es wesentlich einfacher war, die Wirtschaft lich!) wieder anzukurbeln. Es ist ein unerträglicher Zustand, daß mit dem Kauf von Finanzanlagen Die Sachen, die Sie dort vortragen, lösen unsere wesentlich leichter Geld verdient werden kann als Probleme wirklich überhaupt nicht. Man kann das durch Investition in Sachkapital. eigentlich mit der Überschrift „Zurück in das vorige Jahrhundert! " versehen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Der Finanzminister ist offenbar Gefangener einer völlig verfehlten Finanzpolitik. Ich sage Ihnen, mit Gerede und mit Propaganda werden Sie den heißersehnten Aufschwung nicht (Beifall bei der SPD — Dr. herbeiführen. Der Deutsche Indust rie- und Handels- [CDU/CSU]: Wie soll man es denn machen? tag schätzt das gesamtwirtschaftliche Wachstum — Gegenruf von der SPD: Vernünftig!) bestenfalls auf 0,5 %, und der Präsident der Bundes- Meine Damen und Herren, die Regierung ist schon vereinigung der Arbeitgeberverbände, Murmann, wieder dabei, diese Gesellschaft zu spalten. stellt gerade heute wieder fest, daß die Arbeitslosig- keit in diesem Jahr um weitere 500 000 zunehmen (Dr. Albert Probst [CDU/CSU]: Wie sollen wir wird. Die Arbeitslosigkeit wird also kräftig- steigen, es denn machen, Herr Jens? Kommt das die Konjunktur wird nur schleppend Tritt fassen. jetzt?) Das, meine Damen und Herren von der Regierung, Sie hat sich eifrig darum bemüht, unsere Gesellschaft liegt nicht an irgendwelchen bösen Mächten. Das liegt langsam, aber sicher kaputtzumachen. auch an einer verfehlten und inkompetenten Wirt- (Dr. Albert Probst [CDU/CSU]: Erzählen Sie schaftspolitik dieser Bundesregierung. doch, was wir machen sollen!) (Beifall bei der SPD) Der Streit zwischen Arbeitgebern und Arbeitneh- Die Prognosen der Experten gelten im übrigen mern, latent immer vorhanden, ist also gefördert unabhängig davon, ob es zu einem Streik im öffentli- worden und nicht kleiner geworden. Der erste Punkt, chen Dienst oder in der Metallindustrie kommt. Ich der die Spaltung belegt, ist: Hilfen für die Beteiligung sage das, weil es bekanntlich Regierungsmitglieder der Arbeitnehmer am Produktivkapital sind abge- gibt, die jetzt schon wieder kräftig vorbauen — nach schafft worden, Mitbestimmungsregelungen sollen in dem Motto: Wenn die Konjunktur nicht anspringt, Zukunft beseitigt werden. dann sind die Gewerkschaften schuld. Für diese Der zweite Punkt. Es gibt relativ viele, denen es am Regierung und vor allem für Herrn Rexrodt sind die Ende dieser zwölfjährigen Regierungszeit der jetzi- Gewerkschaften ja immer schuld, und zwar ganz gen Koalition deutlich bessergeht. Aber einem Drittel alleine. Diese einseitige und verbohrte Politik muß dieser Gesellschaft geht es leider deutlich schlechter. dringend beendet werden. Auch daran sehen wir eine Spaltung der Gesellschaft Ich möchte deshalb festhalten: Extrem niedrige durch diese Regierung. Tarifabschlüsse werden sich negativ auf die Konjunk- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) tur auswirken. Die Kaufkraft der von der Industrie Drittens. Es kommt zur Spaltung — dies vor allem gezahlten Löhne und Gehälter ist in den beiden wollte ich sagen — letzten Jahren bekanntlich um 51 Milliarden DM gesunken. Das hat mit massivem Stellenabbau, mit (Dr. Albert Probst [CDU/CSU]: Gespalten ist niedrigen Tarifabschlüssen, mit Kürzungen von nur die SPD!) Extras und anderem mehr zu tun. Extrem niedrige zwischen denen, die Geldkapital besitzen, und denen, Tarifabschlüsse werden im übrigen dafür sorgen, daß die um einen Arbeitsplatz kämpfen. Dies wird die die Renten im nächsten oder im übernächsten Jahr dynamische Wirtschaftsentwicklung dauernd hin- gesenkt werden müssen. Auch das sollten wir den dern. Die statischen Werte, um mit Schumpeter zu Rentnern einmal deutlich sagen. Dann haben sie sprechen, wollen hohe Realverzinsung. Wer dagegen vielleicht ein wenig mehr Verständnis für die schwie- junge Unternehmer fördern, wer die dynamischen rige Position der Gewerkschaften. Kräfte beleben und Arbeitsplätze schaffen will, der Ein Streik wäre in der Tat, wie immer, volkswirt- muß für niedrige Zinsen sorgen. Wenn wir also wieder schaftlich nicht sonderlich sinnvoll. Aber die Tarifrun- einmal Investition und Innovation wollen, dann muß den sind leider extrem verhärtet, weil der amtierende auch die verfehlte Geldpolitik dringend geändert Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18379

Dr. Uwe Jens werden. Der wichtigste Schlüssel dafür — auch das Wir Sozialdemokraten werden alles tun, um die sage ich aus voller Überzeugung — liegt allerdings in Arbeitslosigkeit zu verringern. Bonn und nicht in Frankfurt. (Uta Würfel [F.D.P.]: Wir auch!) (Beifall bei der SPD) Das wird unser erstes und wichtigstes wirtschaftspoli- Insgesamt sechs Millionen Menschen suchen in tisches Ziel sein. diesem Lande einen Arbeitsplatz und finden keinen. Auf Rekordhöhe sind allerdings auch seit langem

In diesem Jahr werden es mindestens noch einmal die Staatsquote mit 51,5 % und die Steuer - und eine halbe Million Menschen mehr sein. Die Anzahl Abgabenquote mit 44 %. Um diese Quoten zu senken der Unternehmenszusammenbrüche hat einen neuen und die Arbeitslosigkeit zu verringern, brauchen wir Rekord erreicht. In Deutschland hat der Pleitegeier vor allem und zuerst einen deutlichen Anstieg des 1993 20 000 Firmen — das entspricht einem Zuwachs Bruttosozialprodukts. Wir werden deshalb alle wirt- von 30 % — in den Konkurs ge trieben. In den neuen schaftspolitischen Maßnahmen darauf ausrichten, daß Bundesländern gab es den traurigen Zuwachs von es zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum in 120 %. Auch 1994 wird die Anzahl der Unterneh- unserer Gesellschaft kommt. Wir brauchen mehr For- menszusammenbrüche weiter steigen. — Aber was schung und Bildung. Da darf es keine Kürzungen soll's? Diese Regierung merkt immer noch nicht, daß geben, wie Sie es gemacht haben. ihre Politik falsch angelegt ist. Wir brauchen mehr Investitionen und Innovationen. Bundeskanzler Kohl hat auf dem Parteitag der CDU Diese Bundesregierung hat auf diesen Feldern auch in in Hamburg 90 Minuten zu den Delegierten gespro- den 80er Jahren versagt. Warum sollte sie also in chen, Zukunft auf diesen Feldern irgend etwas leisten? Mit Transrapid und Technologierat werden jetzt (Zuruf von der CDU/CSU: Eine hervorra gewissermaßen Beruhigungspillen verabreicht. Aber gende Rede!) diese sind keine Hinweise auf eine grundlegend neue und zwar, wie wir gelesen haben, offenbar mit tollem Politik. Es sind nur Zeichen von Angst vor den Erfolg. Anschließend hat er sechseinhalb Minuten Wahlbürgern, aber Angst ist bekanntlich ein schlech- Beifall von den CDU-Delegierten bekommen. ter Ratgeber. (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!)- Angst macht sich offenbar auch in den Ministerien breit, wie ich gerade gestern gehört habe. Dort gibt es Innerhalb seiner gesamten Rede hat er doch zum nämlich noch schnell Beförderungen von bewährten Thema Arbeitslosigkeit nur einen Satz gesagt, und der Helfern dieser Regierung in die Positionen der Mini- dauerte genau 15 Sekunden. sterialdirektoren und -di rigenten, (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nicht rich (Zuruf von der SPD: Wird alles privatisiert!) tig!) um auf diese Art und Weise sicherzustellen, daß Sie Der CDU und ihrer Koalitionsregierung ist das Schick- auch nach dem Regierungswechsel einigermaßen gut mit Informationen versorgt werden. sal von sechs Millionen arbeitslosen Menschen und denjenigen, die demnächst noch zusätzlich arbeitslos (Zurufe von der SPD) werden, offenbar völlig egal. Aber das, meine Damen und Herren, ist kein gutes (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der Zeichen. CDU/CSU — Dr. Wolfgang Weng [Gerlin (Zuruf von der SPD: Doch, aus unserer Sicht gen] [F.D.P.]: Blöder geht es wirklich nicht! — ist das eigentlich ein gutes Zeichen!) Uta Würfel [F.D.P.]: Quatsch!) Da sollten Sie einmal bei den relevanten Ministerien Wie hatte der Bundeskanzler doch in den neuen aufpassen, daß so etwas möglichst unterbleibt. Bundesländern noch vor der letzten Bundestagswahl (Bundesminister : Ihr merkt lautstark getönt: Es wird vielen bessergehen und auch alles!) niemandem schlechter. Damit auch jeder weiß, was der Bundeskanzler damit meint, fiel ihm das Bildnis Es bringt ja, meine Damen und Herren, meistens von den blühenden Landschaften ein. nicht allzuviel ein, darüber zu streiten, wer zuerst da war — die Henne oder das Ei. Aber die CDU will das (Uta Würfel [F.D.P.]: Der Mann hat Phantasie Eigenkapitalhilfeprogramm in den alten Bundeslän- und Kreativität!) dern wieder einführen. Gut so, sagen wir. Wir haben das jahrelang gefordert. In der Tat: Auf den ausgewiesenen Gewerbeflächen, auf denen keiner siedeln will, oder den stillgelegten Die CDU spricht neuerdings von der ökologischen

Industriebrachen blühen demnächst wunderschöne und sozialen Marktwirtschaft — auch das ist richtig. Hundeblumen. Nur, davon können die Menschen in Das haben wir auch schon lange gefordert. Sie ent- den neuen Bundesländern nicht leben, und von Almo- deckt die Teilzeitarbeit, und Kanzler Kohl übernimmt sen aus den alten Bundesländern wollen sie nun sogar die Idee eines Technologierats und wird sein wirklich auch nicht mehr leben, meine Damen und eigener Präsident. Herren. Graf Lambsdorff hält überhaupt nichts davon. (Uta Würfel [F.D.P.]: Also: Strengen Sie sich Allerdings: Der Bundeskanzler als Vorsitzender an !) dieses Technologierats — für mich ist das geradezu 18380 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Dr. Uwe Jens lächerlich, muß ich hinzufügen. Nein, so kann man Dr. Uwe Jens (SPD): Unsere Soziale Marktwirt- wirklich keine vernünftige Politik gestalten. Alle Bei- schaft, auf die Sie immer so gern zurückgreifen, spiele waren seit langem Forderungen der Sozialde- zeichnet sich dadurch aus, daß das Benutzen der mokraten — auch der Technologierat. Schön, daß Sie Infrastruktur, von Straßen und Tunneln oder Brücken, das machen. Daß Sie das aber falsch machen, ist nicht für die Menschen eigentlich kostenlos war. so schön. (Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [F.D.P.]: Wenn die CDU jetzt das tut, was wir für richtig Telefon auch?) halten, dann wollen wir das grundsätzlich natürlich Das ist auch sinnvoll. Das andere hat eben erhebliche nicht kritisieren. Nachteile für die wirtschaftliche Entwicklung zur (Zuruf von der F.D.P.: Das wäre ja ein Folge. Deshalb bitte ich Sie herzlich: Prüfen Sie diesen Ding!) ganzen Unsinn noch einmal, und hören Sie wirklich Nur, der Wähler weiß eben genau: Man sollte stets das damit auf! Ich wiederhole das aus voller Überzeu- Original wählen und nicht das Abziehbild. gung: Hören Sie damit auf, daß demnächst an bestimmten Brücken oder Tunneln abkassiert wird! (Beifall bei der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Dirk Ich will noch einmal einige Politikbereiche nennen, Fischer [Hamburg] [CDU/CSU]: Das ist doch wo wir uns von der CDU und der Regierungskoalition eine SPD-Forderung!) deutlich unterscheiden. Wie ist es um die Seriosität dieser Regierung bestellt? Das zeigt das Fernstraßen- Wir brauchen — auch davon bin ich überzeugt — bauprivatfinanzierungsgesetz — ein Wortungetüm. bei unseren viel zu hohen Zinsen, wenn sie nicht Aber was verbirgt sich dahinter? Hinter diesem Wort- endlich deutlich nach unten gehen, z. B. ein neues ungetüm verbirgt sich, daß in Zukunft Tunnel oder Kreditprogramm. Damit sollten in den neuen Bundes- Brücken privat finanziert werden sollen und daß bei ländern Modernisierungs- und Erweiterungsinvesti- Durchfahrt auch abkassiert werden soll. tionen begünstigt werden. In Gesamtdeutschland geht es vor allem um die Bereitstellung von Risikoka- (Uta Würfel [F.D.P.]: Bezahlt!) pital. Machen Sie das endlich, und lassen Sie sich Man versucht, Haushaltslöcher im Etat des Bundes- nicht dauernd dazu auffordern! verkehrsministers durch Anzapfen p rivater Gelder zu Eine ökologische Steuerreform muß dafür sorgen, stopfen. Heraus kommt dann ein Flickenteppich.- daß, wie Ernst-Ulrich von Weizsäcker es vorgeschla- Während überall sonst die Benutzung der Infrastruk- gen hat, ökologisch schädliche Produkte verteuert tur ohne Maut möglich ist, entstehen in den betroffe- werden. Wenn wir das hereinkommende Geld, so nen Regionen Zusatzkosten, die diese Standorte meine Sicht, benutzen, um die Lohnnebenkosten zu zusätzlich belasten. Es ist ein untauglicher Versuch senken, würde der Faktor Arbeit billiger werden. Das mit untauglichen Mitteln. würde die deutsche Volkswirtschaft wettbewerbsfähi- (Beifall bei der SPD) ger machen. Das würde vor allem auch mehr Beschäf- Sie haben bei der Forschung, bei der Bildung und tigung in unserem Land bedeuten. Hier sollten wir mit auch beim Mittelstand kräftig gekürzt. Ich weiß, das gutem Beispiel notfalls auch alleine vorangehen. Die bringt Sie zum Jaulen. Das ist ja eigentlich Ihre Zeit ist wirklich reif für eine Umweltpolitik mit markt- angestammte Klientel. Dringend notwendig ist aller- wirtschaftlichen Instrumenten. dings, wie Kollege Lafontaine schon gesagt hat, daß (Beifall bei der SPD — Dirk Fischer [Ham gerade für den Mittelstand, der Arbeitsplätze sichert burg] [CDU/CSU]: Jawohl! Das setzen Sie und der Innovationen tätigt, wesentlich mehr getan einmal in Ihrer Partei durch!) wird als bisher. Da kann sich der Mittelstand diesmal Wenn wir wirklich die Innovationskraft unserer auf uns verlassen und nicht mehr auf die F.D.P. oder Volkswirtschaft steigern wollen, dann müssen wir uns die CDU. über die Verbindungen zwischen Kreditwirtschaft (Beifall bei der SPD — Widerspruch bei der und Industrie unterhalten. Dann gilt es, diese Ver- CDU/CSU und der F.D.P.) flechtungen bloßzulegen. Hier liegt eine Wachstums- bremse ersten Ranges. Wir haben immer wieder gefordert und fordern es auch in Zukunft, daß die Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Beteiligung von Banken an Nichtbanken verringert Dr. Jens, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kolle- und daß die Anzahl der Aufsichtsratsmandate einer gin Würfel? — Bitte, Frau Kollegin Würfel. Person wesentlich stärker als bisher begrenzt wird. Diese Bundesregierung, die sonst immer gern von Deregulierung spricht, könnte auf diesem Feld wirk- Uta Würfel (F.D.P.): Herr Kollege, zum Jaulen brin- lich die Innovationskraft der Volkswirtschaft steigern. gen Sie mich nicht. Aber ich möchte Sie trotzdem Aber sie tut es nicht. Sie schafft es einfach nicht. Sie ist etwas fragen. Glauben Sie wirklich, daß es der Bevöl- mit den Interessen vor allem eben der Großwirtschaft kerung gefällt, wenn Sie als Vertreter der Sozialde- zu eng verflochten. Aber, meine Damen und Herren, mokraten immer solche Kampfbegriffe wie ,,Abkas- das geht wiederum zu Lasten der kleinen und mittle- sieren" und andere im Munde führen? Ist es denn ren Unternehmen, zu Lasten aber auch der gesamt- nicht so, daß die Bevölkerung durchaus bereit ist, für wirtschaftlichen Entwicklung. Aber auch hier ge- eine erbrachte Leistung auch einen entsprechenden schieht etwas offenbar erst, wenn die Regierung Obolus zu entrichten? endlich gewechselt hat. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18381

Dr. Uwe Jens Wir Sozialdemokraten würden eine neue Außen- hieb- und stichfest ist und nicht bekrittelt werden wirtschaftspolitik konzipieren. Dabei geht es selbst- muß. verständlich zunächst darum, daß die GATT (Beifall bei der CDU/CSU) vom Dezember 1993 zügig umgesetzt -Beschlüsse Meine Damen und Herren, stellen Sie sich vor, so werden. ein Ministerpräsident möchte nach Bonn kommen und Dringend notwendig ist aber auch der Aufbau einer Bundesfinanz- oder Bundeswirtschaftsminister wer- internationalen Wettbewerbsordnung, wie Immenga den. Wie arm wären wir dran! das soeben in der „FAZ" vorgeschlagen hat. Warum kümmern Sie sich nicht darum? Warum unternimmt (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ diese Bundesregierung eigentlich nichts gegen CSU: Unmöglich! — Freimut Duve [SPD]: extrem diskriminierende Währungspraktiken? Warum Herr Kohl hat Sie nicht genommen, Herr bemüht sie sich nicht um die Einhaltung von sozialen Hinsken! — Weiterer Zuruf von der SPD: Er und ökologischen Mindeststandards? Es ist aus unse- wird seine Gründe gehabt haben!) rer Sicht verfehlt, wenn Baden-Württemberg und Meine Damen und Herren: Nordrhein-Westfalen eine Repräsentanz in Singapur aufbauen. Das wäre die ureigenste Aufgabe der Gott sei Dank gibt es den Jahreswirtschaftsbe- Bundesregierung, damit sie der deutschen Wirtschaft richt, der kein schönes Bild zeigt, der jedoch ein insgesamt, auch den neuen Bundesländern, auf diese sehr realistisches Bild unserer voraussehbaren Art und Weise helfen kann. Aber Bundeswirtschafts- ökonomischen Entwicklung vermittelt. Es ist ein- minister Rexrodt versteht von diesen ganzen Sachen fach nicht seriös, wenn man so tut, als hätte diese nichts, oder sie passen nicht in sein verzerrtes Welt- Bundesregierung alles das zu verantworten, was bild. Ich weiß, dies ist ein schweres Geschäft; aber es auf uns zukommt. geht eben nicht, daß sich diese Regierung um dieses (Lachen bei der SPD — Klaus Lennartz [SPD]: Problem überhaupt nicht kümmert, wie es bisher der Was denn?) Fall gewesen ist. — Hören Sie bitte mit dem Lachen auf. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch gar nicht wahr! Sie haben doch gar keine ... In einer marktwirtschaftlichen Ordnung Ahnung!) haben wir eine Fülle von Trägern der Wirtschafts- Bürger haben in unserem Lande für die -Politik der politik. Bundesregierung mittlerweile kein Verständnis mehr. (Zuruf von der SPD: Aha!) Sie ist einseitig und ideologisch, sie ist zur Lösung der brennenden Probleme zuwenig geeignet. Hier will Ein Träger ist die Bundesregierung. Aber es gibt man Antworten von Ihnen hören. daneben ... auch die Tarifvertragsparteien. Es gibt auch die Deutsche Bundesbank, und es gibt Vor kurzem las ich in einem Leserbrief — ich natürlich auch die großen Unternehmen, die sich zitiere —: meines Erachtens ebenfalls sehr viel Verantwor- Rexrodt führt die unsinnige F.D.P.-Politik der tung für die wirtschaftliche Entwicklung insge- Verdrängung des Mittelstandes munter weiter. samt auf ihre Schultern gelastet haben. (Zuruf von der SPD: Ja!) (Dr. Albert Probst [CDU/CSU]: Sehr richtig! Recht hat der Schreiber gehabt, meine Damen und — Ministerpräsident Oskar Lafontaine [Saar Herren. land]: Da hat er recht!) (Albert Pfuhl [SPD]: Wo ist er denn, der Herr Meine Damen und Herren, diese Sätze sprachen Minister?) Sie, verehrter Herr Professor Jens, nicht vor wenigen Dem muß endlich ein Ende bereitet werden! Wochen, sondern in der Debatte zum Jahreswirt- (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ schaftsbericht am 19. Februar 1981 in diesem Hohen CSU: Was denn, ist schon Schluß? — Das war Haus. es? — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Der (Dr. Albert Probst [CDU/CSU]: Hört! Hört!) SPD ist die Luft ausgegangen!) Ich möchte mir ersparen, weiter zu zitieren, sonst würden Sie gegebenenfalls in Lachsalven ausbre- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und chen. Herren, so lustig das in diesem Fall auch ist, die Debatte geht aber ernst weiter. Deswegen hat der (Widerspruch bei der SPD — Detlev von Kollege Ernst Hinsken das Wo rt. Larcher [SPD]: Und wir dachten schon, Sie hätten eine richtige Erkenntnis!) Aber ich meine schon, daß auch dies einmal gesagt (CDU/CSU): Herr Präsident! Ver- Ernst Hinsken werden muß. ehrte Kolleginnen und Kollegen! Es ist meiner Mei- nung nach schon ein dreistes Stück von Ihnen, verehr- (Freimut Duve [SPD]: Wirtschaftspolitik als ter Herr Ministerpräsident Lafontaine, wenn Sie nach Archivforschung!) Bonn kommen und die hohe Schuldenlast des Bundes Wenn man sich einmal so geäußert hat, dann darf dies beklagen, obwohl Sie den in Ihrem eigenen Haushalt nicht in Vergessenheit geraten, Lande viermal abgelehnt bekommen haben und Sie vom Landesrechnungshof mehrmals animiert worden (Freimut Duve [SPD]: Der Wirtschaftspoliti sind, in Zukunft einen Haushaltsplan aufzulegen, der ker guckt ins Archiv!) 18382 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Ernst Hinsken und man darf sich gegen diese hervorragende Wirt- normalen Rezession zu tun, sondern auch mit zu schafts- und Finanzpolitik der Bundesregierung nicht lange aufgestauten Strukturproblemen. so hartnäckig aussprechen, wie das heute von der SPD Es wird weiter festgestellt: und den übrigen Oppositionsparteien gemacht wor- den ist. Neue Konkurrenten haben auf dem Weltmarkt gegenüber Deutschland aufgeholt. Deshalb muß die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Hins- ken, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Deutschland langfristig und durchgreifend ver- bessert werden. Dafür brauchen wir eine Gene- Schwanhold? ralinventur unserer Gesellschaft. Wir müssen umdenken, neue Wege einschlagen, flexibler Ernst Hinsken (CDU/CSU): Gerne, aber ich möchte werden und neue Handlungsspielräume gewin- noch einen Satz hinzufügen, Herr Präsident, weil der nen. ehemalige Bundeswirtschaftsminister Graf Lambs- (Beifall bei der CDU/CSU) dorff vorhin einiges von sich gegeben hat, Soweit die Bundesregierung in ihrer Vorlage. Ich (Lachen bei der SPD) meine, die Bundesregierung liegt mit diesem Aktions- was ich nicht ganz so verstanden habe. Ich habe das programm und dieser Vorlage, die uns allen auf dem sehr wohl in der Jahreswirtschaftsdebatte des Jahres Tisch liegt, richtig. 1981 nachgelesen und mußte feststellen: Auch bei Unbestritten, verehrte Kolleginnen und Kollegen: dem, was damals gesagt wurde und was heute gesagt Die Rezession hat unser Land erfaßt. wird, paßt nicht mehr alles zusammen. — Jetzt bitte die Zwischenfrage. (Freimut Duve [SPD]: Was Sie nicht sagen!) (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Aber, Herr Erste Lichtblicke, daß es in diesem Jahr konjunkturell Hinsken, Graf Lambsdorff ist lernfähig!) wieder aufwärtsgehen wird, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir uns in einer Kosten-, Struk- Ernst Schwanhold (SPD): Herr Kollege Hinsken, ich tur- und Innovations- sowie einer Bewußtseinskrise möchte vorwegschicken: Die klugen Bemerkungen befinden. des Jahres 1981 von meinem Kollegen Jens teile ich Nicht nur die Automobilindustrie ist gerädert, auch vollständig. Darf ich daraus für Sie die- Erkenntnis Vorzeigebranchen wie Maschinen- und Werkzeug- ableiten, die Sie mir vielleicht expressis verbis bestä- bau, Elektrotechnik und Elektronik und selbst die tigen könnten, daß es zwar die Bundesbank, die Chemie sehen sich einem gewaltigen Konkurrenz- Gewerkschaften und andere Akteure gibt, aber daß druck ausgesetzt. Viele Produkte lassen sich zwischen der verbleibende Rest tatsächlich auf die Bundesre- Tschechien, Ungarn, Hongkong, Japan und den USA gierung zurückzuführen ist? zu Kosten herstellen, die vielfach zwei D rittel unter den deutschen liegen. Ernst Hinsken (CDU/CSU): Ich pflichte dem letzte- Der Bestsellerautor Konrad Seitz hat meines Erach- ren bei. Die Regierung hat deshalb mehrere Pro- tens recht, wenn er sagt: gramme aufgelegt, insbesondere das jüngste 30- Punkte-Aktionsprogramm. Sie wird die ganzen Pro- Die deutsche Industrie läuft Gefahr, zwischen die bleme bewältigen, wird die Rahmenbedingungen Mühlsteine der Niedriglohnländer einerseits und verbessern, damit sich die Wirtschaft erholen kann der Hochtechnologieländer USA und Japan und wir möglichst bald aus dieser Rezessionsphase andererseits zu geraten. herauskommen. Es ist doch unbestreitbar, daß schlichte Massenware (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge schon längst überall preiswerter hergestellt wird als ordneten der F.D.P.) bei uns in Deutschland. Im High-Tech-Bereich bre- Im übrigen verstehe ich nicht, Herr Kollege chen unsere Märkte mehr und mehr weg. Weltspitze Schwanhold, daß Sie vorhin gelacht haben, als ich den sind wir dagegen in der Abgabenlast, den Lohnstück- Kollegen Professor Jens zitierte, und jetzt diese Zwi- kosten, in der kurzen Arbeitszeit und der langen schenfrage stellen. Auch das paßt nicht ganz zusam- Ausbildungsdauer. men. (Gudrun Weyel [SPD]: Wer regiert denn?) Im Rahmen dieser Generaldebatte zur Wirtschafts- Deshalb muß alles getan werden, eine Trendwende politik möchte ich mich mit den momentanen Proble- zu mehr Wachstum und mehr Beschäftigung herbei- men und Gegebenheiten auseinandersetzen, nämlich zuführen. die Zukunftssicherung des Standorts Deutschland beschreiben. Die Bundesregierung hat meines Erach- (Beifall bei der CDU/CSU — Ernst Schwan tens richtig angesetzt, wenn sie in dem Bericht, der hold [SPD]: Das ist das Ergebnis eurer Poli uns allen vorliegt, schreibt: tik!) Zentrale Aufgabe der kommenden Monate und Hier sind alle gefordert, insbesondere die Tarifpar- Jahre ist es, am Standort Deutschland die teien. Sie vor allem bestimmen den Preis für die Beschäftigung zu sichern und neue Arbeitsplätze Arbeit. Setzen sie ihn zu hoch, bleiben Arbeitsu- zu schaffen. Zwar sprechen die aktuellen Kon- chende auf der Strecke. Überall dort, wo sich der Preis junkturdaten dafür, daß die Talsohle der Rezes- der Arbeit dem Markt anpaßt, herrscht dagegen sion durchschritten ist und sich ein neuer Aufstieg Vollbeschäftigung. Das beste Beispiel dafür liefern die abzeichnet. Wir haben es aber nicht nur mit einer grassierende Schattenwirtschaft und das Vorhanden- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18383

Ernst Hinsken sein von Wanderarbeitern aus Polen, Tschechien oder Deshalb möchte ich gerade bei dieser Jahreswirt- Rumänien. schaftsdebatte darauf verweisen, daß die kleinen und mittleren Unternehmen die unverzichtbaren Träger Ich möchte auch heute von diesem Platz aus an die des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fort- Gewerkschaften appellieren, gerade bei den jetzt schritts sind. Sie stehen für Kreativität, für Leistungs- anstehenden Tarifverhandlungen Einsicht zu zeigen. bereitschaft, für unternehmerischen Wagemut und für Es gibt in der gegenwärtigen Situation fast nichts zu dynamische Anpassungsfähigkeit. Sie sind die An- verteilen. Auch alles Gerede über Gerechtigkeitslük- triebskräfte der Sozialen Marktwirtschaft. Je mehr ken ändert nichts an der Binsenweisheit, daß alles, Gewinn die Unternehmer erwirtschaften, desto mehr was der Sozialstaat verteilt, zunächst erwirtschaftet Sozialleistungen und Umweltschutz kann es geben. werden muß. Meine Damen und Herren von der rot-grünen Seite, (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) nehmen Sie das zur Kenntnis. Verweigern die Gewerkschaften ihren Beitrag zur Allerdings sind wir im Deutschen Bundestag Standortsicherung, wird es noch weniger Direktinve- gezwungen, die Rahmenbedingungen für die Wirt- stitionen in Deutschland geben, sich der Exodus schaft zu verbessern. Es war schon rührend, wie lohnintensiver Betriebe aus Deutschland fortsetzen Professor Jens einerseits und Ministerpräsident Lafon- und die Arbeitslosigkeit weiter steigen. taine andererseits in den vorhin gehaltenen Reden den Mittelstand umworben haben. Ich hoffe, es bleibt Es gleicht schon langsam einem Treppenwitz, daß nicht nur bei Worten, sondern wir werden Sie auch an gleichzeitig Arbeit in Hülle und Fülle vorhanden ist. den Taten messen, sei es im Wirtschaftsausschuß oder Ich möchte nicht fordern, daß das deutsche Lohnni- sonstwo. veau auf den Level der osteuropäischen Staaten abgesenkt wird, aber mehr Flexibilität und Einfalls- (Beifall bei der SPD — Zuruf von der SPD: Sie reichtum muß dieser Tarifrunde schon abverlangt werden an den Taten gemessen!) werden. Gleiches gilt in dem Fall wie für die Arbeit- Meine Damen und Herren, der Jahreswirtschaftsbe- nehmer auch für die Arbeitgeber. richt wird in einer Zeit zwischen Verzagtheit und In diesem Zusammenhang sei mir auch ein Blick Zuversicht debattiert. Es gibt deutliche Anzeichen, über die Grenzen zu unseren österreichischen Nach- daß die deutsche Wirtschaft allmählich aus der Tal- barn erlaubt. Dort vereinbarten im vergangenen- Jahr sohle herausfindet. Das ist eine Feststellung, die die Tarifpartner in der Metallindustrie eine Öffnungs- übereinstimmend von den meisten Wirtschaftsinstitu- klausel, durch die Arbeitgeber und Betriebsrat von ten, der Bundesregierung und führenden Wirtschafts- der betrieblichen Lohnerhöhung abweichen können. managern getroffen wird. Zurückzuführen ist dies Bedingung ist nur, daß die eingesparten Lohngelder auch auf die Maßnahmen, die die Bundesregierung in beschäftigungsfördernd verwendet werden müssen. dieser schwierigen Übergangszeit seit der Wiederver- einigung getroffen hat. Ich kann mich auf das bezie- Meine Damen und Herren, ich meine, „Umdenken" hen und berufen, was mein Kollege Haungs in seiner heißt das Gebot der Stunde: die Unternehmer, die vorhin hervorragend vorgetragenen Rede bereits aus- durch neue Produkte wettbewerbsfähig bleiben und geführt hat. sich neue Absatzmärkte erschließen müssen; die Gewerkschaften, die einsehen sollten, daß Sozialstaat (Beifall bei der CDU/CSU) nicht gleich Solidarität ist; wir alle, der Staat, der Das jüngst aufgelegte 30 - Punkte - Aktionspro- seinen vermeintlichen Finanzbedarf drosseln muß, gramm für mehr Wachstum und Beschäftigung ist ein wie das mehr und mehr gerade in letzter Zeit gesche- Schritt in die richtige Richtung. Man ist wieder zuver- hen ist; und Sie von der SPD, daß Sie nicht zu viel sichtlicher als noch vor einem halben Jahr. Das stellt versprechen und nur das versprechen, was Sie zu auch der Präsident des Deutschen Industrie- und halten in der Lage sind. Handelstages, Hans-Peter Stihl, fest, wenn er sagt: (Zurufe von der SPD) Mit ihrem Aktionsprogramm hat die Regierung wirklich wichtige Schritte eingeleitet, damit wir Wer meint, meine Damen und Herren, den Lei- schnell aus unserer schwierigen Lage herausfin- stungsträgern der Gesellschaft immer höhere Aufga- den. ben aufbürden zu können, höhlt das System der Sozialen Marktwirtschaft aus und treibt den Mittel- Und er sagt weiter: stand in die politische Radikalisierung. Das Beste, was Diese Bundesregierung hat Dinge bewegt, die wir für die Beschäftigung in der momentanen Situa- viele Regierungen vor ihr nicht geschafft haben, tion überhaupt tun können, ist die Förderung von z. B. Privatisierung von Post und Bahn, die Ein- Eigeninitiative, Selbständigkeit und Unternehmer- richtung der Europäischen Zentralbank für geist. Frankfurt oder den GATT-Abschluß. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Daher sein Urteil, das ich gerne zitiere: ordneten der F.D.P.) Für mich ist die wirtschaftspolitische Kompetenz Dazu benötigen wir einen starken Mittelstand. Hand- der Bundesregierung höher als die der SPD. werk, kleine und mittlere Unternehmen, Selbstän- Ich wiederhole: Hans-Peter Stihl, Präsident des Deut- dige, Freiberufler und leitende Angestellte tragen schen Indus trie- und Handelstages. neben der Industrie entscheidend zur Bewältigung der Herausforderungen an die deutsche Wirtschaft (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf von der bei. SPD: Eine einsame Stimme!) 18384 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Ernst Hinsken Meine Damen und Herren von der rot-grünen Seite Sie werden ihr auch das Vertrauen schenken, daß dies womit beweisen Sie Ihre wirtschaftspolitische Kompe- alles so eingelöst werden kann. tenz? Sie reden von wettbewerbsfähigen Arbeitsplät- Ich darf mich für die Aufmerksamkeit herzlich zen, propagieren aber gleichzeitig einen zweiten bedanken. Arbeitsmarkt als alleinseligmachende Lösung. Sie versprechen die Sicherung des Wirtschaftsstandorte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutschland, doch schon bei der Verlängerung dei Maschinenlaufzeiten fa llen Sie um. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht Es muß doch jedem Bundesbürger zu denker der Kollege Jürgen Timm. geben, wenn Sie sich des weiteren zwiespältig äußern: Jürgen Timm (F.D.P.): Frau Präsidentin! Verehrte Erstens. Sie sprechen von überhöhten Bundesschul- den, haben aber in den von Ihnen regierten Bundes- Kolleginnen und Kollegen! Wissenschaft, Forschung ländern die höchste Schuldenlast. und Technologie gehören zum Wirtschaftsstandort Deutschland. Sie gilt es von staatlichen Belastungen Zweitens. Sie lamentieren über die hohe Staats- zu befreien, und zwar von Belastungen jeglicher quote, sind aber gegen Privatisierung. Art. Drittens. Sie fordern mehr Arbeitsplätze, sind aber Jetzt wissen wir es alle: Es wird einen Rat für gegen die Zukunftstechnologien, wie den Transra- Forschung, Technologie und Innovation geben. Die pid. SPD jubelt darüber — wenn auch als Opposition (Beifall bei der CDU/CSU) gedämpft; sie darf nicht lauter. Herr Kollege Jens vermutet trotzdem Verrat, weil er sich in der Urheber- (Vorsitz: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth) funktion glaubt, da —jedenfalls rein rheto risch — sein Viertens. Sie fordern die Sicherung von Arbeitsplät- seit langer Zeit gewünschter Technologierat irgend- zen, sind aber z. B. gegen eine Änderung des Außen- wie beim Bundeskanzler berücksichtigt worden ist. wirtschaftsgesetzes wegen der Dual-use-Güterex- Auch die Kollegen der CDU/CSU freuen sich, zusam- porte. men mit Herrn Teufel aus Baden-Württemberg, weil Fünftens. Sie fahren alle mit dem Auto, sind aber auch ihre Vorstellungen in dem Kabinettsentscheid gegen den Bau von Straßen. berücksichtigt sind. Nur die böse F.D.P. hat offensicht- lich irgend etwas gegen einen solchen Rat. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich kann Sie da beruhigen — ich sehe das alles ganz Sechstens. Sie predigen steuerliche Entlastung, gelassen —: Es wird keine Räterepublik bei uns sind aber für eine enorme Erhöhung der Mineralöl- geben. Entscheidend ist, in allem gebotenen E rnst: steuer. Bildung, Wissenschaft und Forschung brauchen eine viel größere Lobby, als sie sie bisher in unserem Staat Siebtens. Sie versprechen eine Halbierung der Zahl erfahren haben. der Arbeitslosen, sind aber gegen die Maßnahmen der Bundesregierung im Arbeitsförderungsgesetz. (Zuruf von der SPD: Und mehr Geld!) Achtens. Sie versprechen den Kumpeln den Erhalt Es gab und gibt immer vollmundige Forderungen ihrer Arbeitsplätze, verhindern aber den hierzu erfor- zur Wichtigkeit und Zukunft dieser Bereiche. Ich derlichen Energiekonsens zur Kohlesicherung. meine, das reicht. Wir sind darauf angewiesen, einen Dialog zu führen, um die Situa tion für Bildung, Wis- So, meine Damen und Herren von der Opposition, senschaft und Forschung in unserem Land zu verbes- macht man keine Politik. Sie sind mit Ihren Aussagen sern. von den Bürgern längst durchschaut. Es geht dabei um einen zwischen BMFT, dem Wir setzen dem ein klares marktwirtschaftliches Wirtschaftsminister, dem Bildungsminister und uns Konzept entgegen. Darin, meine ich, setzen wir vor abgestimmten Vorschlag zur Verbesserung der Koor- allen Dingen darauf, daß die Eigenkapitalbasis der dination zwischen den Ressorts und zur Stärkung der Unternehmen verbreitert werden kann. Wir setzen mit innovativen Bereiche. Es bedarf nicht mehr der Ana- unserem Programm darauf, eine Existenzgründungs- lyse; die Probleme sind bekannt. Es ist Handeln welle in der Bundesrepublik Deutschland insbeson- gefragt, und zwar Handeln eines jeden in seinem dere im mittelständischen Bereich zu erzeugen. Verantwortungsbereich; denn bei der Verwischung Ich meine auch, wenn es uns gelingt, die bürokra- von Verantwortlichkeiten liegen die Wurzeln unserer tischen Hemmnisse beiseite zu schaffen, die als Mühl- Ablehnung jeder Art von Dirigismus oder Lenkung in stein am Halse jedes einzelnen Unternehmers hän- diesen Feldern. gen, dann sind gewisse Voraussetzungen geschaffen, Die Vergangenheit zeigt nur zu deutlich, wohin es um die Wirtschaft wieder zum Florieren zu bringen führt: In dem Moment, wo auch nur der Eindruck und in wenigen Jahren verzeichnen zu können, daß entsteht, der Staat favorisiere eine bestimmte Tech- die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist. nik, stelle womöglich sogar Geld dafür zur Verfügung, Die Bundesbürger sind mit dieser Bundesregierung setzt bei vielen Unternehmen die Kreativität aus oder unter und hervorragend wird nur noch darauf verwandt, die staatliche Förde- gefahren. rung möglichst komplett zu ergattern. Wenn das schiefgegangen ist, hat das für die weisen Lenker in (Detlev von Larcher [SPD]: Fragen Sie mal einem irgendwie gearteten Gremium nicht die gering- die Arbeitslosen!) sten Konsequenzen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18385

Jürgen Timm Meine Damen und Herren, in Deutschl and wurde Wissenschaft. Dieses Potential muß effizienter einge- das Verfahren für das Telefax-Gerät entwickelt, auch setzt werden. Die Bedeutung der Forschung muß der Ihnen sicherlich bekannte kurvengängige Pendo- hervorgehoben werden. lino-Zug. Gebaut aber wurden diese Anlagen nicht bei uns. Wir haben sie erst später wieder von außen Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Timm, gestat- einkaufen müssen. ten Sie eine Zwischenfrage? Wenn ich all das gestern in der Fragestunde und Jürgen Timm (F.D.P.): Ja, bitte. auch heute richtig verstanden habe, wenn ich den Vorstellungen insbesondere der SPD und anderer Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Bitte schön. Ideologen folgen soll, (Freimut Duve [SPD]: Was heißt denn das? Detlev von Larcher (SPD): Herr Kollege Timm, ich Ideologen?) höre Ihnen wirklich mit Vergnügen zu. Je mehr ich Ihnen jedoch zuhöre, desto mehr drängt sich mir die — das heißt das, was ich gesagt habe —, dann würde Frage auf: Wie paßt zu Ihrer Rede eigentlich die das auch bedeuten: Wir haben den Transrapid zwar zu Tatsache, daß der Forschungshaushalt zusammenge- Ende entwickelt — er ist ein hervorragendes Gerät kürzt worden ist? geworden —, er soll aber bloß nicht bei uns eingeführt werden. Wir warten erst, bis er anderswo gebaut wird, Jürgen Timm (F.D.P.): Herr Kollege von Larcher, die und kaufen ihn dann für teures Geld wieder ein; Mittel, die wir in unserem Staatshaushalt zur Verfü- anders kann es doch nicht gehen. gung haben, sind begrenzt. Sie werden jedoch an (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der vielen Stellen auch ineffektiv ausgegeben. Deswegen CDU/CSU) können wir diesem Vorgang nur dadurch begegnen, daß wir zu einer effektiveren Ordnung kommen — ich e erträgt dies alles Was mich noch stört: Die Industri komme im weiteren Verlauf noch darauf zu spre- fast klaglos. Ich denke, es gibt gar kein besseres chen —, damit die zur Verfügung stehenden Mittel Beispiel dafür: Das alles ist zu viel Staat. dort ankommen, wo Forschung be trieben wird, wo die Deshalb wird es mit der F.D.P. auch in der Zukunft Wissenschaft etwas entwickelt, was letztendlich in nicht anders gehen, Produktion umgesetzt werden kann. — Ich komme - gleich noch auf diesen Punkt zurück. (Freimut Duve [SPD]: Noch haben wir Ihnen kein Angebot gemacht!) Nur die Forschung in dem eben auch angesproche- nen Rahmen, d. h. effizienter durchgeführt und effi- als darauf zu achten, daß staatliche Forschungspolitik zienter finanziert, kann und wird die Beschäftigungs- die Rahmenbedingungen für qualitativ hochwertige situation, die Umwelt und auch den Wohlstand unse- Forschung aufstellt, Hinde rnisse beseitigt und die res Landes bestimmen. Dazu brauchen wir keine Anstrengungen aller effektiv koordiniert werden, irgendwie gearteten Beschimpfungsstrategien ge- (Freimut Duve [SPD]: Koalitionsverhandlun geneinander. Was wir brauchen, ist ein technologie- gen machen wir nicht im Plenum!) politischer Dialog zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Staat und auch eine gesellschaftspolitische um die Umsetzung der erreichten Erkenntnisse zu Akzeptanz. Es ist ja in vielen Bereichen so, daß eine beschleunigen. Hierfür ist der Dialog aller Verant- große Technologiefeindlichkeit herrscht. Wir müssen, wortlichen entscheidend. Ihm dienen die vorgestell- glaube ich, und zwar alle Verantwortlichen zusam- ten Gremien mit Wissenschaft, Forschung, Technik men, auch in der Wirtschaft mit ihrer Eigenverantwor- und Wirtschaft, ohne daß dabei die Verantwortlich- tung, die Forschung stärken und in unsere Gesell- keiten verwischt werden. Das wird dann auch helfen, schaft hineinwirken, damit erkannt wird, daß diese Wachstum und Beschäftigung zu mehren. Ressource, die wir haben, für die Menschen in unse- Wir Forschungspolitiker sind froh darüber, daß im rem Land positiv genutzt werden kann. Die Wirtschaft Forschungsausschuß alle Fraktionen ein gemeinsa- muß ihre eigenen Beiträge dazu erbringen, und der mes Strategiepapier zur Verbesserung des For- Staat muß seine Forschungsförderung effizienter schungs- und Innovationsstandortes Deutschland ein- gestalten. Zu Zeiten knapper Mittel ist das Zusam- stimmig verabschiedet haben. menführen Bleichgelagerter Forschungsvorhaben un- ter einer zusammengefaßten Administration unerläß- (Detlev von Larcher [SPD]: Mit uns Ideolo lich. Wir wollen mehr Projektförderung statt Instituts- gen!) förderung. Wir wollen die Koordinierung zwischen Das ist doch eine vernünftige Basis für die zukünftige Förderungsvorhaben der einzelnen Ressorts und wol- Zusammenarbeit auf diesem Gebiet. len, daß die Mittel, die in unserem Staat für Forschung Es ist überhaupt nicht die Rede davon, daß wir einen und Technologie ausgegeben werden, sich nicht Technologierat benötigen. Vielmehr ist die Rede genau aufteilen zur Hälfte in Forschungshaushalt und davon, daß wir den Dialog und die Zusammenarbeit zur anderen Hälfte in all den anderen Ressorts. Hier zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und Staat brau- muß es zu einer Koordinierung kommen; denn da, chen, um der Technologiepolitik eine bessere Chance Herr Kollege von Larcher, verschwinden administra- zu geben. Es geht um die Beseitigung von Schwach- tiv viel zu viele Mittel. Es wird unter Umständen sogar stellen in Forschung und Technik. Es geht um die doppelt geforscht. Förderung der Grundlagenforschung. Es geht um die Unsere Wirtschaft muß in die Lage versetzt werden, bessere Organisation des Technologietransfers. Un- ohne großen Aufwand von den Forschungsergebnis- sere oberste Ressource ist die Intelligenz und die sen für ihre Produktion Gebrauch zu machen. Das 18386 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Jürgen Timm heißt, wir brauchen auch hier eine Koordinierung. Es Ich will versuchen, Ihnen dazu einige Sätze zu sagen. kann nicht angehen, daß ein mittelständischer Unter- Das heißt im übrigen, daß Sie bei Fortsetzung dieser nehmer allein deshalb vor der Nutzung von For- grundlegend falschen Politik sehenden Auges in Kauf schungsergebnissen zurückschreckt, weil er einen nehmen, daß die Massenarbeitslosigkeit in Deutsch- Stapel von Papier und Bürokratie, der damit verbun- land weiter ansteigt. den ist, vor sich sieht, den er selber gar nicht bewäl- Nun hat Graf Lambsdorff vor weiteren, wie ich tigen kann. Er muß eine Koordinierungsstelle haben, verstanden habe, erheblichen Steigerungen der zu der er hingehen und aus der er seine Möglichkeiten Löhne und der Lohnkosten gewarnt, weil dies im schöpfen kann. Es ist also ernst mit dem Vorhaben, Ergebnis zu einer Gefährdung der Arbeitsplätze und daß die Spitzenstellung der deutschen Forschung und damit zu weiteren Beschäftigungseinbrüchen führen der Technologie im internationalen Wettbewerb gesi- könnte. chert werden muß und zu verbessern ist. Ich meine, der Forschungsstandort Deutschland darf nicht kurz- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) atmigem Parteiengeplänkel preisgegeben werden. Ja, ja, ob das sehr richtig ist, sei dahingestellt. Und Ich fordere alle Verantwortlichen hier im Parlament, zwar unter Hinweis — das ist ja immer wieder der aber auch an anderer Stelle auf, dafür zu sorgen, daß Vortrag — auf die angeblich zu hohen Arbeitskosten Forschungsergebnisse in vernünftiger Weise und in der Bundesrepublik Deutschland. zügig umgesetzt werden können. Wir brauchen keine Ich will einen früheren Abteilungsleiter im Bundes- Laufzeiten von über 20 Jahren, wie wir es bisher in wirtschaftsministerium, Professor Wilhelm Hankel, manchen Bereichen gehabt haben. zitieren, der in einem Aufsatz vom 28. Januar dieses Vielen Dank. Jahres zu diesen Grundthesen wie folgt formuliert (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) hat: Die von Arbeitgebern, großen Teilen der Wissen- schaft und auch in der Öffentlichkeit weitgehend Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster hat das akzeptierte These von der „Kostenkrise" hat hier Wort der Kollege Ottmar Schreiner. in der rezessiven Entwicklung ihren eigentlichen Grund; denn von einer Explosion der Lohnstück- kosten kann nicht die Rede sein. Explodie rt sind Ottmar Schreiner (SPD): Verehrte Frau -Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da sich der Bundes- im letzten Jahrzehnt (bis 1992) die Ge- arbeitsminister weigert, hier zu reden — er scheint in winne, . . . einen Individualstreik getreten zu sein —, Soweit Professor Hankel. Hankel fährt dann eine Seite (Lachen und Zurufe) weiter fort, die gegenwärtige Beschäftigungskrise habe ihre wesentlichen Ursachen auch in den Lohn- kann ich auch schlecht auf ihn antworten. enthaltungen: (Zurufe von der CDU/CSU) ... denn Lohnenthaltungen bedeuten weder, daß — Aber das ist normalerweise üblich. — Aber dann die betrieblichen Lohnersparnisse" automatisch will ich mich, da es vielleicht nicht schaden kann, investiert werden, also Arbeitsplätze schaffen wenn Arbeits- und Sozialpolitiker im Rahmen dieser oder sichern; sie verstärken in der Krise (einer Debatte mit den Wirtschaftspolitikern kommunizie- Zeit hoher betrieblicher Liquidität) lediglich die ren, erst einmal an Graf Lambsdorff versuchen. Meine Firmenkasse für Schuldentilgung, Finanzanlagen erste Behauptung, Graf Lambsdorff, bet rifft die öko- oder Spekulationen. Noch kann von Lohn er nomisch-soziale Kernpolitik der Bundesregierung. sparnissen" eine Verstärkung der volkswirt- Umverteilung von unten nach oben, Sozial- und schaftlichen Nachfrage und damit eine Verbesse- Lohnabbau und Deregulierung sind die zentralen rung des Konjunkturklimas erwartet werden — ökonomisch-sozialen Botschaften dieser Koalition. im Gegenteil: Nachfrage, Kapazitätsauslastung (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist und Produktivität werden sinken! Schreinersche Demagogie; sonst ist das gar Das ist genau der Kern der Kritik, die wir seit Jahren nichts!) an der Politik der Bundesregierung hier vorzutragen — Sind Sie Geschäftsführer oder Zwischenrufer vom haben, Dienst hier? (Beifall bei der SPD) (Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Ich kann ja diesmal aus dem Munde des früheren Abteilungslei- auch Zwischenrufe machen!) ters im Wirtschaftsministerium unter Führung damals Die drei zentralen ökonomisch-sozialen Botschaften von Professor Schiller, den Sie heute ebenfalls in — Umverteilung von unten nach oben, Ihrem Redebeitrag in die Debatte erneut eingeführt haben. (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) Es wird nicht bestritten, auch von uns nicht, daß wir Sozial- und Lohnabbau und Deregulierung — sind seit 1992 eine vergleichsweise kritische Lohnstückko- wesentliche Gründe dafür, daß der Anstieg der stenentwicklung haben. Diese kritische Lohnstückko- Arbeitslosigkeit in Deutschland im westeuropäischen stenentwicklung seit 1992, Graf Lambsdorff, ist im Vergleich seit 1991 mit Abstand am stärksten war und wesentlichen von der Bundesregierung selbst poli- ist. tisch verursacht worden. Seit dem Frühjahr 1991 sind (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ einigungsbedingte Leistungen, die von der gesamten CSU: So ein Schmarren!) Gesellschaft, also steuerfinanziert zu regulieren Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18387

Ottmar Schreiner gewesen wären, völlig einseitig den sozialen Siche- Ich will aber nur daran erinnern, Graf Lambsdorff, rungssystemen aufgebrummt worden daß das im Spätwinter vergangenen Jahres der Öffentlichkeit präsentierte Beschäftigungs- und (Beifall bei der SPD) Wachstumsweißbuch der EG-Kommission als zwin- mit einem Volumen von immerhin 4 % der Bruttolöhne gende gesellschaftspolitische Zielsetzung der EG- und einem absoluten Volumen von rund 50 Milliarden Kommission bis zum Jahr 2000 ebenfalls die Halbie- DM allein im Jahre 1993. Das ist aus politischen rung der westeuropäischen Massenarbeitslosigkeit Erwägungen eine ganz massive zusätzliche Aufgabe. gefordert hat. Also so ganz isoliert sind die Stimmen Weil die Bundesregierung zu feige war, es steuer- aus der SPD nicht. Wir sind in bester Gesellschaft. politisch zu regulieren, hat sie aus politischen Erwä- Wenn ich es richtig sehe, ist das Weißbuch der gungen den Arbeitskosten diese zusätzlichen Verteu- EG-Kommission auch mit Zustimmung der Bundesre- erungen aufgebrummt. Das könnten Sie morgen kor- gierung zustande gekommen. Es kann doch nicht sein, rigieren. Das ist bis zur Stunde nicht geschehen. daß eine EG-Kommission der Öffentlichkeit gegen die Widerstände nationaler Regierungen in grundlegen- Zweiter Grund, auch darauf wird von Ökonomen den Fragen Dokumente präsentiert, und zwar mit immer wieder hingewiesen: Wir haben eine Kapazi- erheblichen Wirkungskreisen. tätsauslastung der Produktionsstätten in Deutschland in Höhe von etwa 77 bis 78 %, also eine massive Unterauslastung. Bei annähernd gleicher Beschäfti- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Abgeordneter gungsgröße führt dies natürlich zu einer massiven Schreiner, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Graf Verteuerung der Lohnstückkosten. Das hängt aber Lambsdorff? wiederum wesentlich damit zusammen, daß die Nach- frage, gerade auch die private Nachfrage nach Pro- dukten, auf Grund der Umverteilungspolitik zu Lasten Ottmar Schreiner (SPD): Bitte schön, aber vielleicht der schwächeren Einkommen erheblich abgesunken kann ich erst den nächsten Punkt ansprechen; denn ist. Das heißt, die betrieblichen Unterkapazitätspro- Sie, Herr Lambsdorff, sind noch einmal an der bleme sind nicht nur, aber mit eine Folge des sozial- Reihe. politischen Lohn- und Sozialabbaus dieser Bundesre- (Heiterkeit bei der SPD — Lachen bei der gierung in den letzten Jahren. CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dann wollte ich zum Wirtschaftsminister überge- hen. Dritter Punkt: Wir werden von Experten immer wieder darauf hingewiesen, daß eine Aufwertung der Graf Lambsdorff, Sie haben auf das sogenannte hingewiesen. D-Mark bei einer Größenordnung von 10 %, bezogen amerikanische Beschäftigungswunder auf die Kostensituation der Unternehmungen, gleich- Wenn ich mir Ihre Zahlen richtig aufgeschrieben zusetzen wäre mit einer Lohnerhöhung von über 30 %. habe, dann haben Sie gesagt: In den zehn Jahren von Wenn man sich die Aufwertungsprozesse der letzten 1982 bis 1992 sind in den niedrigsten Lohngruppen, Jahre anguckt, wird man mit einer Annahme von 10 % Einkommensgruppen der USA die Reallöhne um etwa kaum hinkommen. Das hat die deutschen Exportgüter 8 % gefallen. Ich bin nicht sicher, ob Sie genau wissen, — und wir sind eine extrem exportabhängige Volks- worüber Sie reden. wirtschaft — in hohem Maße verteuert und trägt In der Sozialwissenschaft wird das amerikanische umgekehrt dazu bei, daß die nach Deutschland impor- Beschäftigungswunder mit einem Aufwuchs von tierten Güter dann natürlich auf eine wesentlich Niedrigsteinkommensverhältnissen erklärt; das Stich- günstigere Konkurrenzlage, bezogen auf die im wort heißt „arme Erwerbsarbeit". Das sind Einkom- Inland produzierten Güter, treffen. Das sind die mensverhältnisse, die deutlich unterhalb der von der wesentlichen Gründe für die außerordentlich besorg- Europäischen Kommission definierten Armutsgrenze niserregende Entwicklung auf dem Arbeits- und liegen. Das sind Einkommen, von denen die Men- Beschäftigungssektor. Wenn Sie Ihre Politik in dem schen nicht leben können. Wenn man amerikanische heute morgen vorgetragenen Maße fortsetzen, wer- Einkommensverhältnisse anstrebt, dann muß m an den Sie die Beschäftigungskrise weiter dramatisch dazusagen, ob man bereit ist, amerikanische Gesell- verstärken. schaftsverhältnisse mit in Kauf zu nehmen; (Zuruf von der F.D.P.: Wie würden Sie es (Detlev von Larcher [SPD]: So ist es!) denn machen?) denn die extreme Einkommensdifferenzierung in den USA zu Lasten der schwächsten Einkommen ist ein Graf Lambsdorff hat dann zum zweiten unter wesentlicher Grund dafür, daß in Amerika von der Namensnennungen kritisiert, daß aus den Reihen der „Ghettoisierung von Armut und Wohlstand" gespro- sozialdemokratischen Fraktion und der Partei das Ziel chen wird. formuliert worden sei, die Massenarbeitslosigkeit innerhalb von vier oder fünf Jahren zu halbieren. Man (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Warum schreien kann in der Tat mit guten Gründen darüber reden, ob Sie denn so?) es einen Sinn macht, dies öffentlich anzukündigen. — Damit auch Sie es verstehen, weil Sie angeblich Drei Meter oder dreieinhalb Meter von mir entfernt beim Telefonieren sind. — Da ist die Frage, ob wir das sitzt jemand, der das 1983 gemacht hat. Er hat damals besorgniserregende Ausmaß amerikanischer Gewalt- gesagt, innerhalb von zwei Jahren wolle er die Mas- quoten in den Großstädten, amerikanischer Alltags- senarbeitslosigkeit halbieren. Davon war im Ergebnis kriminalität mit in Kauf nehmen wollen. Das ist der keine Rede. Preis für diese Einkommensdifferenzierung zu Lasten 18388 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Ottmar Schreiner der Schwächsten der Gesellschaft. Wir sind auf dem Man kann dieses Zerrbild von Amerika zeichnen. Ich besten Wege dazu. teile das aber nicht. Alle, die die gesellschaftspolitischen Tendenzen in Ich bin mit Ihnen darin einig, daß es in Amerika der Bundesrepublik Deutschland beobachten, weisen einen Bereich niedriger Einkommen gibt, die wirklich uns immer wieder auf die Amerikanisierung der kaum ausreichen, die Lebenshaltungskosten zu dek- deutschen Gesellschaft hin. Wenn man noch mehr ken, so daß sich die Frage auftut, wie man durch Kriminalität, noch mehr Unsicherheit, noch mehr zusätzliche Maßnahmen den Menschen helfen kann, Gewaltbereitschaft, noch mehr Ausländerfeindlich- das Existenzminimum zu erreichen. Dennoch, Herr keit, noch mehr Rassismus verhindern will, muß man Schreiner, ist es immer noch besser, solche Arbeits- für gerechte Einkommensstrukturen auch in diesem plätze zu haben, als überhaupt keine Arbeitsplätze zu unserem Lande kämpfen. haben, (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ul rich (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Briefs [fraktionslos]) als die Arbeitsplätze so zu verteuern — auch in den untersten Einkommensbereichen —, daß sie nicht Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Schreiner, Ihre Redezeit ist zu Ende. mehr zur Verfügung gestellt werden. Dieses Problem haben Sie im Prinzip richtig angesprochen. Wir wer- den uns damit auseinanderzusetzen haben. Aber Ottmar Schreiner (SPD): Ich habe eigentlich erst einfach die Antwort zu geben: wir erhöhen die Kosten, angefangen, Frau Präsidentin. gleichgültig, ob dadurch die unteren Einkommen und die damit verbundenen Arbeitsplätze völlig wegfal- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ihre Redezeit ist len, und wir überlassen das alles dem Staat, das geht trotzdem zu Ende. nicht. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Ottmar Schreiner (SPD): Sie ist zu Ende? Zuruf des Abg. Ottmar Schreiner [SPD])

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ja, gucken Sie.

Ottmar Schreiner (SPD): Ja, dann ist- sie halt zu Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Im Rahmen einer Ende. — Schönen Dank, Frau Präsidentin. Kurzintervention hat jetzt Herr Schreiner Gelegenheit (Heiterkeit — Beifall bei der SPD sowie des zu antworten. Abg. Dr. Ulrich Briefs [fraktionslos] — Wolf gang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt wollte er erst etwas sagen!) Ottmar Schreiner (SPD): Ich will nur zwei Sätze dazu sagen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort zu einer Kurzintervention hat Graf Lambsdorff. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er spricht über ein PDS-Mikrofon!) Dr. Otto Graf Lambsdorff (F.D.P.): Herr Kollege — Sie sind wirklich ein Kindskopf! Das ist ja unglaub- Schreiner, ich möchte gern zu zwei Teilen Ihrer lich! Ausführungen kurz Stellung nehmen. Graf Lambsdorff, bislang hat niemand von unseren Erstens. Sie werden sich vielleicht daran erinnern, Rednern einer weiteren Erhöhung der Arbeitskosten daß ich hier in diesem Hause das Weißbuch, das in das Wort geredet. Ganz im Gegenteil. Die SPD- Kopenhagen von der Europäischen Kommission vor- Fraktion und die SPD insgesamt hat seit dem Frühjahr gelegt worden ist, bereits kritisiert habe, und zwar 1991 bis heute die grundlegende ordnungspolitische dem Inhalt nach — ich habe ausdrücklich mein Fehlentscheidung, einigungsbedingte Leistungen Bedauern zum Ausdruck gebracht, daß die Bundesre- über die Sozialversicherungssysteme zu transportie- gierung dies nur sehr zurückhaltend getan hat —, vor ren und zu finanzieren, massiv kritisiert. Das Gegen- allem aber den Finanzierungsvorschlägen nach. An teil war also der Fall. Von uns ist immer wieder den Finanzierungsvorschlägen ist es dann auch im — zuletzt heute morgen von Oskar Lafontaine — nächsten Europäischen Rat zunächst einmal geschei- darauf hingewiesen worden, daß die Arbeitskosten tert, weil niemand sagen kann, woher die Beträge problematik nicht nur eine ökonomische Standortpro- genommen werden sollen, es sei denn, wir würden der blematik ist, sondern gleichzeitig auch ein Problem in Europäischen Gemeinschaft die Möglichkeit des dem Sinne darstellt, daß sich Nettoeinkommen und Erhebens eigener Steuern oder die Möglichkeit der Bruttoeinkommen in einem Maße voneinander ent- Aufnahme eigener Kredite einräumen und damit alle fernt haben, daß von vielen Arbeitnehmerinnen und Geldmengenpolitik der nationalen Notenbanken un- Arbeitnehmern ernsthaft die Frage aufgeworfen wird: terlaufen. Was das Unterlaufen der Geidmengenpoli- Lohnt sich unsere Arbeit eigentlich noch? Wir haben tik angeht, so können Sie sich die Folgen an H and der also ein doppeltes Interesse, den Faktor Arbeit in gestrigen Börsenentwicklung weltweit betrachten. erträglichen Grenzen zu halten. Die Behauptung, die Zweitens. Ich finde es doch etwas wei treichend, wie Sozialdemokratie habe das Gegenteil gepredigt, ist Sie die amerikanische Gesellschaft schildern. So sieht falsch; das Gegenteil ist richtig. es in Amerika glücklicherweise nicht aus. (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ (Zustimmung der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) CSU) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18389

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich weise darauf hin: Die Renten folgen den Löhnen, sie folgen den Trotz aller Erregung — „Kindskopf" ist kein parla- Nettolöhnen. Das ist unsere gemeinsame, im Renten- mentarischer Ausdruck. konsens festgelegte Rentenmaxime. (Ottmar Schreiner [SPD]: Ich habe „Hins (Freimut Duve [SPD]: Schreiben Sie auch kopf" gesagt! — Gegenrufe von der CDU/ bitte alle mit!) CSU: Das ist ja noch schlimmer!) — Auch für Sie ganz besonders sage ich das. — Ich hatte „Kindskopf" verstanden. Die Renten im Westen folgen den Löhnen in einem (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Und Sie heißen Abstand von einem Jahr. M an müßte also ein Jahr nicht Schreiner, sondern „Schreier"! — Ott weiter sein, um sagen zu können, wie 1995 im Westen mar Schreiner [SPD]: Jetzt hat er mich belei die Renten steigen. Die Renten im Osten steigen digt! — Dr. Jürgen Rüttgers [CDU/CSU]: Das parallel zu den aktuellen Löhnen. Man müßte ein war keine Beleidigung, das war die Wahr Wahrsager sein oder etwas ähnliches, ein Zauberer, heit! — Zuruf von der SPD: Jetzt kommt mal zur Sache!) (Ernst Schwanhold [SPD]: Oder ein Kaffee satzleser wie Sie!) Als nächster spricht der Bundesarbeitsminister, Dr. Blüm. wenn man die Rentenerhöhung im Osten angeben könnte. Wenn damit allerdings gemeint sein sollte — das war ja offenbar der Hintergrund —, daß die Rentner an einer Lohnerhöhung nach dem Motto „Je Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und höher, desto besser" interessiert sein müßten, dann ist Sozialordnung: Frau Präsidentin, ist es erlaubt, mei- das ein großer Irrtum. Denn wir haben ja eine netto nen Kollegen mit „Herr Kollege Schreier" anzuspre- lohnbezogene Rente. Wenn durch eine falsche Lohn- chen? politik die Arbeitslosigkeit steigt, gibt es nur zwei (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut! Jawohl! Möglichkeiten. Entweder steigen die Beiträge — Zuruf des Abg. Ottmar Schreiner [SPD]) — wenn die Beiträge in der Arbeitslosenversicherung — Lieber Kollege Schreiner, ich bin ja ganz freundlich. steigen, sinken die Nettoeinkommen der Arbeitneh- Ich wollte nur erklären, warum ich Sie vorgelassen mer, und dann sinken auch die Renten; eine falsche habe. Es war der Respekt vor Ihnen. - Lohnpolitik dämpft also die Rentenerhöhung des nächsten Jahres —, oder es gibt keine Beitragserhö- (Heiterkeit bei der CDU/CSU) hung, sondern der Staat verschuldet sich. Dann steigt Auf eines sollten wir uns einigen: Ich habe niemals die Inflation. Und von einer Inflation haben die Arbeitsplatzziele angegeben und damit auch keine Rentner am wenigsten. Arbeitslosenzahlen vorausbestimmt, weil das ein (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Staat nicht machen kann. Der Staat ist weder Besitzer ordneten der F.D.P.) noch Beschaffer von Arbeitsplätzen. Er kann natürlich die Rahmenbedingungen festlegen. Diese liegen in Was haben sie eigentlich von einer Rentenerhöhung seiner Verantwortung. von 3 %, wenn die Preise um 4 % steigen? (Beifall bei der CDU/CSU — Zustimmung der (Ernst Schwanhold [SPD]: Das ist eure Poli Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) tik!) Nur in einer Staatswirtschaft kann man so reden, wie Das ist das, wie ich meine, Betriebsgeheimnis oder die der Kollege Dreßler geredet hat: als könnte man Klugheit des Rentensystems, daß alt und jung in einem Arbeitslosenzahlen für zwei Jahre verbindlich nen- Boot sitzen. Das ist die Rentensicherheit. Insofern nen. Das können erstrebenswerte Ziele sein — in der müssen auch die Rentner an einer vernünftigen Lohn- Marktwirtschaft geht das nicht. Ich sage dies ohne politik interessiert sein. Es wäre kurzsichtig zu sagen: jede Aggression. Ich will dies nur darstellen. Weil dies Je höher die Lohnabschlüsse, desto besser ist unsere so ist, habe ich Arbeitsplatzziele auch niemals ver- Rentenanpassung. Wir würden unser System gefähr- bindlich — von Staats wegen, von Amts wegen — den, denn es basiert auf Beschäftigung. vorgegeben. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Ich wollte noch zu ein paar Bemerkungen aus der ordneten der F.D.P. — Zuruf von der SPD) Diskussion von heute morgen Stellung nehmen. Der — Noch einmal zum Mitschreiben: Nettolohn bedeu- von mir geschätzte Herr Ministerpräsident Lafon- tet, daß, wenn die Beiträge steigen, die Rentenanpas- taine sung sinkt, es also eine niedrige Rentenanpassung (Zuruf von der CDU/CSU: Wo ist er denn?) gibt. Wenn die Beiträge nicht steigen, weil der Staat hat heute morgen ja noch das Rententhema ange- einspringt, dann steigen die Verschuldung und die schnitten und die Rentenanhebung des Jahres 1995 Inflation, und dann sinkt die Kaufkraft der Renten. angesprochen. Dazu muß ich sagen: Wir schreiben Lassen Sie mich zusammenfassen: Unsere gute alte heute den 3. März 1994. Wir sind am 3. März 1994 Rentenversicherung hat zwei Weltkriege überlebt nicht fähig, die Rentenerhöhung vom 1. Juli 1994 und zwei Inflationen. anzugeben. Wieso man den Ehrgeiz haben sollte, das für 1995 voraussagen zu wollen, das weiß ich nicht. (Freimut Duve [SPD]: Sie hat die Kohl Das könnte möglicherweise darauf zurückzuführen Regierung überlebt!) sein, daß man das Rentensystem noch einmal erklären — Sie hat alle Regierungen überlebt, sogar die muß, ganz langsam zum Mitschreiben: Schmidt- und Brandt-Regierung. Lassen Sie doch die 18390 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Kalauer weg! Also, wenn schon, dann sage ich: Sie hat Hans-Eberhard Urbaniak (SPD): Herr Minister, ich zwei Weltkriege, zwei In flationen überlebt, und sie kann mich gut daran erinnern, wie wir 1992 die hat 4 Millionen Rentner aus der DDR übernommen. Rentenreform, bezogen auf die Perspektive bis in das Eine Sozialversicherung, die das alles überlebt hat, nächste Jahrhundert, erörtert haben. Nun können wir wird auch das Bellen von wadenbeißenden Renten- doch davon ausgehen, daß — bezogen auf das Ren- dackeln überleben, tensystem — die bisherigen Lohn- und Gehaltsbewe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge gungen, die von den Tarifpartnern bewirkt worden ordneten der F.D.P. — Dr. Uwe Jens [SPD]: sind, eigentlich immer im Rahmen geblieben sind. Dem Rexrodt müssen Sie das sagen!) Darum können doch Löhne und Gehälter hier keine Problematik auslösen. Ist es nicht eigentlich so, daß auch wenn sie in Rudeln auftreten. uns die Rahmenbedingungen und die falschen ord- Können wir die Aufregung wieder zurücknehmen nungspolitischen Entscheidungen der Bundesregie- und sagen, es gilt unser Rentenkonsens? Das ist das rung gerade auf diesem Feld in ganz große Schwie- beste Programm für Rentensicherheit. Sind wir darin rigkeiten bringen? Und dies geben Sie ja offensicht- einig? Rentensicherheit ist das höchste Gebot, und lich nicht zu. dafür stehen wir, auch, wie ich hoffe, alle in diesem Haus vertretenen Parteien. Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Das Net Sozialordnung: Ich habe gar nichts zuzugeben. Ich toprinzip haben Sie gut gelernt, wenn auch habe das System darzustellen und mache darauf spät!) aufmerksam, daß eine falsche Lohnpolitik nicht nur — Graf Lambsdorff, ich weiß noch viele lohnende die Arbeitsplätze der aktiven Arbeitnehmer gefähr- Objekte, bei denen Sie noch etwas lernen können. det, sondern auch die Rentensicherheit und die Ren- Insofern sollten wir uns gemeinsam auf den Weg tenanhebung dämpft. begeben. (Beifall bei der CDU/CSU) Übrigens, damit Sie gleich etwas lernen, muß ich Das ist System, noch nicht mal Norbert Blüm. Ludwig Erhard gegen Ihr Mißverständnis in Schutz Jetzt aber doch zu dem Hauptthema: Kampf der nehmen. Arbeitslosigkeit. Meine Damen und Herren, ich (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: -Das tun meine, das Schlüsselwort, das Lösungswort für Krise Sie mal!) heißt Innovation, Er soll nach Ihnen gesagt haben, Soziale Marktwirt- (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Richtig!) schaft und Umlagesystem wären nicht unter einen Hut und zwar auf allen Feldern: neue Produkte, neue zu bringen. Beschäftigungsfelder, neue Arbeitsorganisation. (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Das habe Und damit wir nicht abstrakt reden: Transrapid ist ich nicht gesagt!) ein neues Produkt. Wir brauchen Zugmaschinen, die — Ich bin ja noch nicht fertig, langsam! die Phantasie beflügeln! Der Ludwig Erhard hat das umlagefinanzierte (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeord Krankenversicherungssystem verteidigt. Und nun, neten der F.D.P.) Graf, erklären Sie mir mal den Unterschied zwischen Wenn wir den Industriestandort Deutschland halten Krankheit und Pflege! Das Risiko der Pflege ist sogar wollen, werden wir es nicht auf der Grundlage einer noch höher. Das Schicksal eines Pflegebedürftigen ist rot-grünen Philosophie tun. in völliger Nachbarschaft zur Krankheit. Das geht Ich meine, das umweltschonendste Gefährt ist ineinander über. Sagen Sie einmal, wie sich ein wahrscheinlich die Postkutsche. Zurück zur Postkut- Langzeitkranker in der Realität von einem Pflegebe- sche! Das werden selbst die Grünen nicht mitmachen, dürftigen unterscheidet! Und da der Ludwig Erhard dann erreichen sie nämlich nicht mehr die Demonstra- das umlagefinanzierte Krankenversicherungssystem tionen, da kommen sie nämlich mit dem Zug oder mit verteidigt hat, bin ich ganz sicher, daß er sich mit mir dem Auto angereist. und durch mich gegen Ihr Mißverständnis wehren würde. (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Sie sollten Ich habe den Kollegen Oskar Lafontaine heute lieber lebende Zeugen für Ihre Pflegeversi morgen zu diesem Thema in einer großen Tradition cherung bringen!) gehört, in einer Tradition der Technikängstlichkeit, — Sie können es ja noch werden. Man soll der Gnade ich will nicht Technikfeindschaft sagen, aber Gottes keine Grenzen setzen. -ängstlichkeit. Als erstes hat er mal einen Flop für den Transrapid angekündigt. Ich komme aus der Opelstadt Rüssels- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, heim. Dieser alte Adam Opel hat erst Fahrräder gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Urba- gebaut. Dann wollte er sich auf Nähmaschinen niak? umstellen. Da hat ganz Rüsselsheim und Umgebung geschrien: „Flop! Das wird nie funktionieren." Die Schneidermeister haben ihn mit Prügeln bearbeitet. Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Es war kein Flop. Er hat gute Geschäfte gemacht. Und Sozialordnung: Bitte, Herr Kollege Urbaniak. dann hat er auf Automobilproduktion umgestellt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18391

Bundesminister Dr. Norbert Blüm „Flop" war die allgemeine Redensart. Alle haben Ich glaube im übrigen: Auch die Pflege schafft neue gesagt: „Das wird nie funktionieren! " Wenn der nicht Beschäftigungsfelder. Es gibt einen großen Bedarf an Adam Opel geheißen hätte, sondern Oskar Lafon- Pflegediensten. Das ist im übrigen nicht nur wirt- taine, würden die in Rüsselsheim heute noch Fahrrä- schaftlich wichtig, sondern wir lassen damit auch die der herstellen. Chancen wachsen, daß die Menschen in ihren vier vertrauten Wänden bleiben können. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Der Hauptpunkt dessen, was ich heute vortrage, ist die neue Arbeitsorganisation. Wir haben in unseren Allerdings hätten sie mit Sicherheit keine 30 000 Betrieben auch Modernitätsverspätungen in der Beschäftigte! Arbeitsorganisation. Wir haben zuviel Hierarchie und (Zuruf von der CDU/CSU: Die wären arbeits zuviel Hackordnung. Manche Bürokratien in Groß- los!) konzernen sind kein Jota besser als die überwu- chernde staatliche Bürokratie. Wenn er Oskar Lafontaine geheißen hätte, hätten sie vielleicht auch Blaupausen hergestellt. Nur, glaube (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ich, mit Blaupausen ist kein Industriestandort zu der F.D.P.) halten. Das ist Butter ohne Brot! Können Sie sich Insofern brauchen wir auch hier eine Entbürokrati- vorstellen, wir könnten die Blaupausen vom Transra- sierung. Kooperation ist das neue Wort, nicht die alten pid in Sao Paulo verkaufen, wenn wir ihn in Deutsch- Hierarchien. Ein moderner Betrieb funktioniert nicht land nicht bauen? mehr nach dem alten Motto Stramm stehen, Befehl (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) von oben. Motivation halte ich für den wichtigsten Produktionsfaktor. Arbeit ist nicht nur Broterwerb. Ich Das wäre, als würde ein Automobilverkäufer seine glaube sogar, daß die Menschen mit wachsender Kunden auf dem Fahrrad besuchen. Das funktioniert Freizeit empfindlicher gegen die Zwänge der Arbeit nie. Oder haben Sie schon einmal eine Kneipe gese- geworden sind. hen, die sich halten kann, wenn sie statt Essen Der größte Zwang ist unsere fast militärische Ord- Kochrezepte verteilt? nung der Arbeitszeit: Alles im Gleichschritt marsch! (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der Insofern ist das Thema Teilzeit fast zu niedlich formu- F.D.P.) - liert, als ginge es nur um ein bißchen Arbeit teilen. Das Deshalb: Wer den Industriestandort halten will, der ist viel zu defensiv. Es geht eher um eine Arbeitszeit muß auch im eigenen Land das produzieren, was er á la carte als um eine Arbeitszeit von der Stange. Es nach draußen exportieren will. Darauf warten die geht nicht nur um ein bißchen Rumbasteln an der Arbeitnehmer, im übrigen auch in Nordrhein-Westfa- Vollerwerbsarbeit, sondern es geht darum, die neuen len, Chancen zu nutzen, die die neue Technik bietet. Zur Zeit der Dampfmaschine und des Fließbands (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) war der Mensch Lückenbüßer eines Maschinenparks. was eine gute Strecke hergegeben hätte für den Dort, wo die Maschine die Lücke gelassen hat, hat er Transrapid, gescheitert an der Ängstlichkeit einer sie gefüllt. Das war das Schicksal der Arbeiterschaft. sozialdemokratischen Regierung. Der Mikrochip ist die Symboltechnologie einer neuen Zeit. Sie läßt Individualisierung zu. Sie l äßt Arbeits- Das ist die Kernfrage: neue Produkte. Haben wir zeiten ganz anderer Art als in der alten Kolonne zu. Sie den Mut, auch wirklich innovativ Neues auszuprobie- entzerrt die Arbeit sowohl räumlich als auch zeit- ren. Natürlich ist das mit einem Risiko verbunden. Das lich. Neue war immer mit großem Risiko verbunden, weil es dafür keine Erfahrungen gibt. Aber keine neuen Fünf Gründe für eine solche neue Arbeitszeitord- Erfahrungen sammeln zu wollen, das ist das größte nung: Wir könnten die Betriebe viel besser nutzen. Risiko. Wir achten ja fast verkrampft nur auf die individuelle Arbeitszeit. Dort werden ganze Weltanschauungs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schlachten geführt. Es geht um die Betriebslaufzei- der F.D.P.) ten. Neue Beschäftigungsfelder: Ich glaube, daß im Es geht auch um den Samstag. Das alte IG Metall Haushalt ein neues, unentdecktes Beschäftigungsfeld Blatt: „Samstag gehört Vati mir" halte ich für veraltet. liegt. Mir ist es relativ egal, wo jemand Beschäftigung Das Eis schmilzt ja auch in Kaiserslautern. Wir brau- findet. Hauptsache, er findet Beschäftigung. chen eine stärkere Auslastung der Kapazitäten, was (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und doch gar nicht heißt, daß die individuelle Arbeitszeit der F.D.P.) dadurch wachsen müßte. (Zuruf von der SPD: Sonntag!) Nur wegen ideologischer Bretter sollten wir uns Beschäftigungschancen im Haushalt entgehen las- sen, zumal sie gewachsen sind? Vieles von dem, was Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Minister, früher die Großfamilie von Amateuren besorgen ließ, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten muß heute professionell über den Markt erbracht Schreiner? werden. Warum öffnen wir nicht den Haushalt auch für neue Beschäftigungschancen? Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Sozialordnung: Um das Stichwort „Sonntag" abzu- der F.D.P.) handeln: Ich bin nicht dafür, daß der Sonntag in die 18392 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Bundesminister Dr. Norbert Blüm Arbeitsflexibilisierung einbezogen wird, weil ich Im übrigen sollten wir das den Gewerkschaften und glaube, dann entsteht ein Zeitbrei. Der Mensch den Arbeitgebern überlassen. Die alte Arbeitszeitord- braucht Orientierung. Es muß einen Tag geben, der nung konnte das nicht. Sie stammt aus dem Jahre anders ist als sechs graue Arbeitstage. 1938. Da gab es keine Gewerkschaften. Da mußte der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Staat so handeln. Aber diesen Staat haben wir Gott sei Dank hinter uns gelassen. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Vom Sonntag zur Der Sonntag bleibt ein Sonntag, mit Ausnahmen, Frage? aber er bleibt generell der Ruhetag. Das werde ich auch gegen jedermann verteidigen. Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und (Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker) Sozialordnung: Bitte schön. Ich will nur noch die Vorteile einer neuen Arbeits- zeitordnung deutlich machen. Auch bildungspolitisch Ottmar Schreiner (SPD): Ich wollte Sie fragen, da Sie haben wir uns ja daran gewöhnt, Bildung ins erste mehr Flexibilität der Arbeitszeit und vor allen Dingen Drittel des Lebens zu zwängen. Wieso können wir mehr Flexibilität bei den sogenannten Maschinen- nicht Teilzeitarbeit für ältere Arbeitnehmer auch mit laufzeiten oder Betriebsnutzungszeiten gefordert ha- Qualifikation verbinden? Neu auftanken! Partner- ben, ob es zutrifft, daß wir in der Bundesrepublik schaft! Mann und Frau teilen sich die häusliche Arbeit. Deutschland mit einem Wochenschnitt von 73 Stun- Vielleicht braucht man auch dazu neue Arbeitszeitfor- den Maschinenlaufzeiten im EG-Vergleich an der men. Spitze liegen und daß die seit 1989 verbreitete Zahl (Dr. Otto Graf Lambsdorff [F.D.P.]: Aber von 53 Wochenstunden auf manipulative Statistiken keine Gesetze, bitte!) zurückzuführen ist und daß insoweit überhaupt kein Nachholbedarf auf die Maschinenlaufzeiten bezogen — Keine Gesetze, nur das Angebot, daß man durch eine neue Arbeitszeitordnung den Lebensrhythmus besteht? stärker selbst bestimmt und ihn nicht nur in Abhän- Zweitens möchte ich fragen, ob es richtig ist, daß in gigkeit vom Arbeitsrhythmus gestaltet. dem in den nächsten Wochen in dritter Lesung zur Verabschiedung stehenden Arbeitszeitgesetzentwurf Ich sehe im übrigen dann auch die Raumordnung der Bundesregierung zum erstenmal seit Bestehen der entlastet. Unsere Arbeitszeiten belasten die Infra- Bundesrepublik und seit Bestehen von arbeitszeitli- struktur gezeitenhaft, Ebbe und Flut. Hätten wir eine chen Regelungen der Sonntag von dieser Bundesre- entkrampfte Arbeitszeit, hätten wir nicht diese Stoß- gierung aus ökonomischen Gründen als Ruhetag zeiten. Um 5 Uhr sind die Straßen wie Parkplätze, zwei enttabuisiert wird. Stunden später können sie als Spielplätze genutzt werden. Infrastrukturen liegen zeitweise brach, zu anderer Zeit sind sie überfüllt. Dr. Norbert Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Erstens zur Statistik: Nach der mir Ich glaube, daß wir — Gewerkschaften, Arbeitgeber vorliegenden Zahl liegen wir in Deutschl and 13 Stun- und Politiker — sehr viel mehr Kreativität entwickeln den unter dem Durchschnitt der europäischen müssen, um aus der Krise nicht eine Defensive zu Maschinenlaufzeiten. machen, sondern einen neuen Aufbruch zu neuen Arbeitszeitformen. Wir sollten die Diskussion nicht so (Ottmar Schreiner [SPD]: Dann sind Sie hin- führen, als ginge es nur darum, Mangel zu verwalten. ter dem Mond mit Ihren Erkenntnissen!) Es geht darum, neue Chancen, die in der Entwicklung — Dann kommen Sie hinter dem Mond hervor, und liegen, zu nutzen und gleichzeitig Arbeit zu schaf- dann betrachten wir uns gemeinsam Europa! Da fen. brauche ich gar keine Statistik. Die Italiener, die Spanier, die Belgier hatten immer ein viel lockereres (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Verhältnis, sie waren von ihrer Natur her gar nicht so trainiert, in diesen Kolonnen zu marschieren, in denen Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und wir offenbar unsere Arbeitszeit organisiert haben. Herren, ich erteile jetzt unserer Frau Kollegin Dr. Gi- Ich wollte den Vorteil dieser neuen Arbeitszeitfor- sela Babel das Wort. men auch als ein humanes Angebot verstanden wis- sen. Wieso arbeiten 60jährige genauso lange wie (F.D.P.): Herr Präsident! Meine 20jährige? Warum gleiten wir nicht in den Ruhestand Dr. Gisela Babel Damen und Herren! Ich bin in diese Debatte geeilt, hinüber? Warum haben die Maurer im Dezember, weil ich hörte, daß der Kollege Schreiner hier reden wenn das Wetter schlecht ist, dieselbe Arbeitszeit wie würde. Ich erhoffte mir von ihm eine Lösung des im Sommer? Warum arbeiten Automobilbauer in ganz Rätsels, wie es der SPD denn gelingen könnte, bestimmten Monaten für die Halde, und anschließend werden diese Halden wieder dem Käufer zugeführt? (Zuruf von der CDU/CSU: Mehr Schulden! — Eine Verschwendung! Warum atmen unsere Arbeits- Friedhelm Ost [CDU/CSU]: Hoffnungslos!) zeiten nicht sehr viel stärker? Mit sozialem Schutz, welche Rezepte sie anwenden würde, um ihre Pro- nicht mit Willkür! gnose und ihre Ankündigung wahrzumachen, die Um Ihre Frage zu beantworten: Ich glaube, daß der Zahl der Arbeitslosen zu halbieren. Ich habe es mir Gesetzgeber gar nicht für diese Arbeitszeitkontin- schon vorher gedacht, und es war auch so, daß an gente zuständig ist, daß er lediglich feststellen sollte, Rezepten wirklich überhaupt nichts angeboten wann Ruhepausen sein müssen, wie groß die wurde. Das einzige, was ich wieder hören konnte, war, Abstände zwischen zwei Arbeitszeiten sein müssen. wir hätten das alles falsch angefaßt, und m an müsse Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18393

Dr. Gisela Babel die Arbeitskosten dadurch entlasten, daß man das Dr. Gisela Babel (F.D.P.): Nein, lassen Sie mich bitte über die Steuern regelt. im Zusammenhang sprechen. Ich kenne die Fragen von Herrn Schreiner sowieso schon. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe den Eindruck, daß die Sozialpolitiker manchmal die (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Der weiß finanz- und haushaltspolitischen Debatten völlig ver- sowieso nichts! — Friedhelm Ost [CDU/ passen. Sie sind dann wahrscheinlich in ihren Schreib- CSU]: Der schreit auch so!) stuben und hören nicht zu. Sie sollten zur Kenntnis nehmen, daß alle Haushaltsmittel voll ausgeschöpft Meine Damen und Herren, ein zweiter Punkt. Wir sind. Das ist alles ausgereizt reden von der Lohnbelastung. In der Tat: Alle Sozial- versicherungssysteme hängen dem Lohn wie ein (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Mühlstein um den Hals. Auf Grund der nettolohnbe- und überhaupt kein gangbarer Weg. zogenen Rente merken mittlerweile auch die Rentner — die F.D.P. ist nach wie vor sehr stolz, daß sie die Ich gebe zu: Auch die F.D.P. vertritt mittlerweile den nettolohnbezogene Rente erreicht und damit die Dis- Standpunkt, daß wir uns überlegen sollten, inwieweit proportion von Rente und Lohn beseitigt hat —, daß es richtig ist, arbeitsmarktpolitische Instrumente sich eine stetige Erhöhung von Lohnnebenkosten auf allein über die Beitragszahler zu finanzieren, die Rente auswirkt. (Detlev von Larcher [SPD]: Aha!) Ich sage in diesem Hause eine sehr unbequeme und ob langfristig nicht eine Umsteuerung richtiger Wahrheit: Gerade die alten Menschen freuen sich ja wäre, dergestalt, daß der Steuerzahler diese arbeits- auf die Pflegeversicherung und fordern sie vehement. marktpolitischen Instrumente mit einsetzt. Daß wir Aber ich bin mir nicht darüber im klaren, ob den das aber nicht heute, nicht kurzfristig tun können, das Rentnern vor Augen steht, daß die Pflegeversicherung würde ein Blick auf die Haushaltskasse eigentlich alle natürlich auch die Anpassung der Renten beeinflus- lehren, meine Damen und Herren. Damit kommen Sie sen wird. Die Renten werden niedriger ausfallen, weil nicht weiter. sich die Pflegeversicherung, wie gesagt, in der netto- lohnbezogenen Rente auswirkt. Insofern sind alle Die Frage ist also nach wie vor offen: Die SPD weiß diese umlagefinanzierten Sozialversicherungssy- nicht, wie sie die Beschäftigung anregen kann. steme von uns als F.D.P. immer außerordentlich kri- - (Detlev von Larcher [SPD]: Aber die Regie- tisch betrachtet worden. rung weiß, wie sie die Arbeitslosigkeit Nun gibt es in den Verhandlungen ja neue Bewe- geschaffen hat!) gung. Sie ist vielleicht noch nicht allen offenbar, aber Das hören wir von Ihnen nicht; im Gegenteil: Die sie entlädt sich in der SPD in mehr oder weniger arbeitsmarktpolitischen Instrumente, die wir zur Ver- heftigen Diskussionen. Es geht um die Überlegung, fügung haben und die wir einvernehmlich richtig daß eine Finanzierung auch dadurch möglich werden finden — Maßnahmen der AB, die Regelungen nach kann, daß sich nicht nach altem Modell Arbeitnehmer § 249h AFG, jetzt ausgedehnt auf den Westen —, und Arbeitgeber die Beiträge teilen, sondern daß der werden mit der SPD doch in einer geradezu hanebü- Arbeitnehmer die volle Beitragslast trägt. Ich hätte es chenen Weise blockiert, weil sie der Auffassung ist, für unmöglich gehalten, in diesem Hause einen sol- die Anwendung dieser Maßnahmen könne nur inner- chen Gedanken überhaupt zu äußern. Aber mittler- halb der Grenzen der Tarifhoheit geschehen. Es ist weile zeichnet sich ab, daß die Diskussion einer nicht möglich, daß sich ein p rivates Unternehmen solchen Lösung zustrebt. Ich sage Ihnen: Das wird wirksam an den Maßnahmen nach § 249h AFG dazu beitragen, daß die Transparenz unserer Rechts- beteiligt; denn der Unternehmer ist an die Ta rife ordnung, was soziale Wohltaten anlangt, zunimmt. gebunden, kann sich also an der jetzt vorgesehenen Absenkung der Zuschüsse nicht beteiligen. Es gibt (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: keine Öffnungsklauseln, die ihm erlauben würden, Sehr gut!) eine Maßnahme mitzutragen, mit seinen Arbeitskräf- Es wird nämlich jedem Arbeitnehmer deutlich, wie ten hier einzusteigen, was nach § 249h AFG ja gerade groß seine Arbeitskraft sein muß, um das alles zu gewollt ist. Dies kann den Arbeitslosen also nicht tragen. Ich bin nicht dafür, daß sich der Arbeitgeber da zugute kommen, weil ihm diese Tarifbindung aufer- herausstiehlt; ein solches Ergebnis wird in die Lohn- legt wird. Das ist völlig unbegreiflich. Man sollte es verhandlungen sicher einfließen. Aber der Arbeitneh- doch möglich machen, daß es in dieser Frage nun mer erkennt nun ganz deutlich, was von seinem einmal, zumindest im Osten, ein kooperatives Verhal- verdienten Geld in diese Systeme abfließt. ten gibt. Hier stoßen wir an sture Grenzen, die ich überhaupt nicht verstehe. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) ( Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Abg. Ottmar Schreiner [SPD] meldet sich zu Ich verspreche mir von einer solchen Umsteuerung einer Zwischenfrage) durchaus ein Bewußtsein bei Arbeitnehmern dafür, was Sozialstaat kostet und was es ihn kostet. Ich könnte mir denken, daß auch der Gesetzgeber in Zukunft etwas zaghafter ist, Vizepräsident Helmuth Becker: Frau Kolle- (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: gin — — Und die Umverteiler da drüben!) 18394 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Dr. Gisela Babel wenn es um das permanente Verbessern sozialer nur ein Zehntel oder 20 % oder 30 % dessen aufweist, Wohltaten geht, die dem Arbeitnehmer im Grunde aus was wir hier haben. Wir müssen uns umorientieren — der Lohntüte genommen werden. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) nicht dadurch, daß wir jetzt sagen, entsprechend müssen die Löhne herunter, sondern wir müssen Meine Damen und Herren, ich glaube, daß wir uns intelligenter wirtschaften, wir müssen anders wirt- in der Diskussion der kommenden Wochen mit diesen schaf ten. Aspekten noch einmal intensiv auseinandersetzen müssen. Aber insgesamt bin ich doch überrascht, daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — sich Sozialdemokraten einem solchen Gedanken Zurufe von der SPD) nähern. Ich halte das insgesamt für positiv. — Ja, wenn Sie das so einsehen, dann würde ich nicht Ich bedanke mich. alles so ausbremsen. Sie haben Bedenken gegen alles: (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gegen Transrapid, gegen Gentechnologie. (Dr. Uwe Jens [SPD]: Gegen den Bundes- kanzler!) Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt dem Vorsitzenden des Wirtschaftsausschusses des Deut- Sie haben Bedenken gegen moderne Energietechno- schen Bundestages, unserem Kollegen Friedhelm Ost, logie. Wo sind denn die großen technischen Werke in das Wort. der Energie abgerissen worden? Der Hochtempera- (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt kommt turreaktor in Hamm-Uentrop: Liegt das auf dem wieder etwas Sachliches!) Mond, oder liegt das in Nordrhein-Westfalen? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Friedhelm Ost (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Abriß des Schnellen Brüters in Kalkar: Wo liegt das verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wer das Sach- denn? Auch in Nordrhein-Westfalen. verständigengutachten, den Jahreswirtschaftsbericht Wenn ich ein Energiezentrum Nordrhein-Westfalen und das Aktionsprogramm der CDU/CSU-F.D.P.- bilden will, dann muß ich ja sagen zum Konsens Kohle Koalition aufmerksam durchliest, wird gerade nach und Kernenergie. Da kann ich nicht dauernd zap- den Beiträgen der sozialdemokratischen -Kolleginnen peln. und Kollegen festgestellt haben: Es gibt gar keine Alternative zu diesen Vorlagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU) Natürlich müssen Sie sehen, daß die SPD überhaupt Wir sind auf dem richtigen Kurs, und wir haben auch keinen Vorschlag gemacht hat, lieber Herr Kollege wirksame Rezepte anzubieten. Jens. Ich habe das zumindest von Ihnen erwartet, von Es ist richtig: Nach über einem Jahrzehnt eines anderen nicht. ununterbrochenen Aufschwungs haben wir 1993 in (Dr. Uwe Jens [SPD]: Wozu?) Westdeutschland eine Delle bekommen, einen Ein- bruch. Aber bereits zu Beginn dieses Jahres zeichnet Sie sind ja ein studierter Ökonom. sich zumindest eine Stabilisierung und — sicherlich — (Dr. Uwe Jens [SPD]: Wozu?) ein mühsamer, langsamer Aufstieg aus der Talsohle ab. Wir haben gute Chancen, in diesem Jahr rund 1 % — „Wozu?" Das kommt jetzt. Ich meine einen intelli- reales Wachstum in Westdeutschland zu erreichen, genten Vorschlag, wie wir in der Tat innovative und wir haben beste Chancen, diesen Aufschwung Kreativität in Deutschland entwickeln. Sind Sie 1995 zu verstärken. bereit, mitzugehen, nicht nur bei der Entwicklung und Forschung — selbst da zappeln Sie hin und her —, (Dr. Uwe Jens [SPD]: Bei den Arbeitslo sondern auch bei der Realisierung. Denn wir müssen sen!) schneller realisieren als bisher, sonst werden wir in — Lieber Herr Kollege Jens, Sie wissen ganz genau, der Tat daß Wachstum zwar nicht alles ist, aber ohne Wachs turn ist alles nichts — auch für den Arbeitsmarkt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) den dritten, vierten, fünften, zwölften oder gar keinen Platz in der internationalen Konkurrenz erreichen. Ich sage einmal ganz deutlich: Es gibt natürlich nicht nur die konjunkturellen Probleme. Es gibt struk- Nun sage ich Ihnen noch eines: Der Herr Scharping turelle Probleme. Niemand kann leugnen — viel- reist jetzt schon immer als SPD-Möchtegernkanzler leicht sollten das auch sozialdemokratische Experten durch die Gegend und stiftet nur Verwirrung. Ich studieren —, daß wir seit Anfang der 90er Jahre durch selber und viele andere wissen ja gar nicht, was er

die von uns allen begrüßte Öffnung Mittel - und überhaupt will. Will er etwa die Steuern erhöhen? Da Osteuropas eine völlig veränderte Lage in Europa sagt er: Insgesamt nein, aber wer schon über 2 000 DM haben, aber auch eine völlig veränderte Lage in der Steuern zahlt — das sind auch Facharbeiter, das sind Weltwirtschaft. Wir müssen uns neu orientieren. In Mittelständler —, der soll dann noch einmal 10 % wenigen Wochen ist das nicht möglich. Wir müssen drauflegen. Herr Klose schlägt vor, die Mineralöl- auch zur Kenntnis nehmen, daß neue Standorte in der steuer noch einmal kräftig zu erhöhen. Herr Scharping Konkurrenz zum deutschen Standort entstanden sind, hat da vielleicht etwas Bedenken, aber so ganz klar die ein Kostenniveau vorweisen, das teilweise eben formuliert er das auch nicht. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18395

Friedhelm Ost Dann kommen Sie mit den „leistungslosen Einkom- — Sie halten nicht einmal Konsolidierung für ein men". Sind denn Sparguthaben, auch Aktiendepots Thema. Das ist wichtig. Sie haben die Schulden oder Anleihendepots nicht in der Tat entstanden, weil verfünffacht. Sie haben im Schnitt 5 % Inflation Leute vorher wirklich große Leistungen erbracht gehabt. haben? Brauchen wir das nicht? Sie wollen — da (Dr. Uwe Küster [SPD]: Versiebenfacht hat haben Sie besonders forsche Damen; die forscheste ist einer von da drüben!) nicht mehr hier — das Bankgeheimnis aufheben. Denken Sie nicht an die Konsequenzen, die dadurch — Sie haben 5 % Inflation produziert und die Schulden entstehen? Werden Sie das Geld dadurch nicht scheu verfünffacht: Damit Sie es genau hören. Und Sie machen? Es ist scheu wie ein Reh. Wird da nicht viel haben keine Wiedervereinigung gehabt. Kapital flüchten? Werden die Zinsen, für deren Her- (Dr. Wolfgang Weng [Gerungen] [F.D.P.]: absetzung Sie sich, Herr Kollege Jens, immer stark Nicht einmal das! — Dr. Uwe Küster [SPD]: einsetzen, Unglaublich!) (Dr. Uwe Jens [SPD]: Sie müssen auch her Wir haben die Schulden in unserer gesamten Regie- unter!) rungszeit einschließlich der Wiedervereinigung, weil wir gut und solide gearbeitet haben, wenn durch die Aufhebung des Bankgeheimnisses Kapital abfließt, nicht steigen? (Detlev von Larcher [SPD]: „Gut und solide"? — Lachen bei der SPD) (Dr. Uwe Jens [SPD]: Dadurch gibt es keinen Kapitalabfluß!) etwas mehr als verdoppelt. Fünffach ist doch mehr als zweifach. Sie können doch gar nicht rechnen. — Natürlich bekommen Sie den. — Mit Schnüffeln und Schröpfen à la SPD werden Sie eine enorme (Dr. Uwe Küster [SPD]: Die Regierung kriegt Kapitalflucht bekommen. Das ist keine zukunftsorien- doch keine Mark mehr!) tierte Politik, sondern der Weg zurück in den soziali- Sehen Sie sich die Zahlen an! stischen Klassenkampf. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Ost, Dr. Uwe Jens [SPD]: Durch Ihr Zinsab gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen schlagsgesetz! Durch Ihre Gesetzgebung ist Dr. Jens? die Kapitalflucht da!) - — Nein, lieber Herr Kollege Jens. Friedhelm Ost (CDU/CSU): Ja, bitte. (Dr. Uwe Jens [SPD]: Das läßt sich doch nicht leugnen!) Vizepräsident Helmuth Becker: Bitte, Herr Die SPD betreibt, auch jetzt in den Wahlkämpfen, Dr. Jens. Wundertütenpolitik. Sie blasen immer neue heiße Luft in die Tüte, produzieren Null- und Luftnummern und enttäuschen das Publikum, selbst wenn es via Satellit Dr. Uwe Jens (SPD): Da ich annehme, Herr Ost, beglückt wird, auch Sie können lesen: Können Sie so nett sein, alle (Dr. Elke Leonhard-Schmid [SPD]: Die Nebenhaushalte in diese Sache einzubeziehen? Wür- Umfragen sehen anders aus!) den Sie mir, wenn Sie die Zahlen dann richtig lesen, zustimmen, daß die Verschuldung des Bundes seit Wir, CDU, CSU und F.D.P., wollen eine Leistungs- 1982 mit etwa 380 Milliarden DM einschließlich aller gesellschaft, in der sich Leistung lohnt, in der dyna- Nebenhaushalte, die Sie geschaffen haben, um dieses mische Kräfte entfesselt werden. Wir müssen — das ist Problem zu verniedlichen, mittlerweile auf etwa 1 500 richtig — die Staatsquote und die Abgabenquote nicht Milliarden DM gestiegen ist? weiter erhöhen, sondern senken. Deshalb hat die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte für uns (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Dann haben absolute Priorität. Sie die Länderschulden mitgerechnet!) An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen, steht so — Ihr könnt nicht lesen. schön in der Bibel. (Dr. Uwe Jens [SPD]: In der Tat!) Friedhelm Ost (CDU/CSU): Lieber Herr Kollege Jens, das ist nicht ganz richtig. Sie können es im Schauen Sie sich einmal an — ich habe es fast nicht Sachverständigengutachten nachlesen. Selbst wenn geglaubt —: Sie haben in zehn Jahren SPD-geführter Sie die Nebenhaushalte, die teilweise durch die Wie- Regierung, von 1972 bis 1982 — Sie können diese dervereinigung entstanden sind, hinzunehmen, hat Zahlen nachlesen; in den Sachverständigengutachten sich der Schuldenstand lediglich verdreifacht. Ver- ist das nachzulesen —, die Schulden des Bundes von fünffacht ist immer noch mehr als verdreifacht. Das 62 Milliarden DM auf über 300 Milliarden verfünf- werden Sie bei einfachster Anwendung der Mengen- facht. Das können Sie doch nachlesen. Sie haben das lehre selbst feststellen. sogar vor sich auf dem Tisch. Lesen können Sie bei den Sozialdemokraten doch alle, denke ich, Lieber Herr Kollege Jens: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. (Detlev von Larcher [SPD]: Wir wissen doch, was Sie gemacht haben! — Dr. Uwe Küster (Dr. Uwe Küster [SPD]: So ist es!) [SPD]: Bleiben Sie sachlich! Kommen Sie Wir können das am Einzelbeispiel sehen. Der Haus einmal zum Thema!) halt des Saarlands — ich will Nordrhein-Westfalen gar 18396 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Friedhelm Ost nicht erwähnen — ist zum viertenmal hintereinander müssen wir zur Kenntnis nehmen. Früher gab es vom Landesrechnungshof gerügt worden. Er stimmt solche tollen Alternativen gar nicht. Aber heute über- nicht mit Recht und Gesetz überein, und dann preisen legt ein Drittel der deutschen Unternehmen den Sie uns Herrn Lafontaine mit großen Worten noch als Schritt in Richtung Mittel- und Osteuropa. Deshalb den Finanzminister für die gesamte Na tion an. Es kann ich alle, die sich jetzt in Solidarität mit den reicht nicht einmal für die Kreisklasse, nicht für die Streikenden oder denen, die den Arbeitskampf pla- Regionalliga, und da wollen Sie ihn in der Bundesliga nen, sozusagen zu Kompagnons machen, nur warnen. spielen lassen. Er steigt sowieso gleich wieder ab. Lassen Sie uns sehr offen auch aus dem Bundestag heraus sagen: Wer jetzt streikt, streikt noch mehr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Arbeitsplätze kaputt und schafft keine Arbeits- Detlev von Larcher [SPD]: Diese Polemik hilft plätze. euch auch nichts!) Natürlich reden Sie plötzlich auch über Preisstabili- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich tät. Preisstabilität ist in der Tat wich tig. denke, daß es nicht richtig ist, wenn die SPD jetzt mit dem neuen Slogan „Sicherheit statt Angst" startet. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Dünne Wo rte!) Das ist Etikettenschwindel; das ist absoluter Etiketten- Im Schnitt haben Sie in den zehn Jahren der SPD- schwindel. Denn was haben Sie denn in den letzten geführten Regierung eine Inflationsrate von über 5 % Jahren getan? Sie schüren Angst, Sie schüren Miß- gehabt, mit flotten Sprüchen des früheren Kanzlers trauen, Sie erzeugen Unsicherheit und operieren Helmut Schmidt. permanent mit Neidparolen. (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Genauso war (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das Gegenteil!) es!) — Ja, doch. Wir liegen im Schnitt bei etwa 3 %. Wir haben jetzt 3,3 %. (Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast [SPD]: Sie (Dr. Uwe Jens [SPD]: Nun vergleichen Sie sind schuld, daß die Leute Angst haben! — noch die Arbeitslosenquote! — Wolfgang Detlev von Larcher [SPD]: Sind über 4 Millio Zöller [CDU/CSU]: Drei Millionen neue nen Arbeitslose eine Tatsache, oder ist das Arbeitsplätze! Ist das nichts?) herbeigeredet?) - — Lieber Herr Kollege Jens, ich werde Ihnen das Der Inhalt hält nicht, was die Parole verspricht. Sie einmal sagen. In der Tat haben wir — Sie haben auch sind so unverfroren, daß Sie den Bürgern die Räuber hierzu die Zahlen; Sie können sie ja nachlesen — seit von gestern als Leibwächter von heute anpreisen. 1990 einen Anstieg der Löhne in Deutschland um 25 %. Die Produktivität ist nur um 8 % angestiegen. (Detlev von Larcher [SPD]: Sind die 4 Millio Die Folge war ein Plus bei den Arbeitslosen um eine nen Arbeitslosen herbeigeredet?) Million. Wir haben vorhin über leistungslose Einkommen (Widerspruch des Abg. Detlev von Larcher gesprochen. Ich bin schon der Meinung, bei den [SPD]) Leistungen von Scharping und Lafontaine sollte man — Lesen Sie doch einmal nach. Herr von Larcher, darüber nachdenken, ob die leistungslosen Einkom- früher in der Schule habe ich gelernt: M an sagt nur men für diese Ministerpräsidenten wesentlich zu hoch etwas, wenn man gefragt wird. Vielleicht sollten auch sind. Sie sich das einmal hinter die Ohren schreiben. (Heiterkeit bei der CDU/CSU) (Detlev von Larcher [SPD]: Ich habe jetzt gar Natürlich wäre eine rotgrüne Koalition hier in nichts gesagt! — E rnst Schwanhold [SPD]: Bonn Gift für die wirtschaftliche Entwicklung, ein Man redet nur, wenn m an etwas zu sagen Alptraum für Unternehmer und Arbeitnehmer, vor hat!) allem für den Mittelstand. — Er hat ja nichts zu sagen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Ernst Schwanhold [SPD]: Ich meinte Sie!) Sie selber singen ab und zu, meistens etwas Ich nenne Ihnen die Zahlen. Von 1982 bis 1989 sind kakophonisch, das schöne Lied „Brüder, zur Sonne, Löhne und Produktivität in etwa im Gleichschritt zur Freiheit". gestiegen. Erfolg für uns: drei Millionen neue Arbeits- plätze. (Dr. Uwe Jens [SPD]: Sie singen: „Deutsch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) land, Deutschland über alles"!) Das zeigt doch ganz deutlich, liebe Kollegen, welche Was Sie indessen an konkreter Politik anbieten, das Verantwortung vor allem die Tarifpartner haben. haben wir heute gemerkt. Es war dekuvrierend. Das Falsche Abschlüsse gehen zu Lasten der Beschäfti- reicht nicht einmal für „Brüder zum Mond" — dahin gung, vor allem vor dem Hintergrund, daß wir im kommen Sie nie, weil Sie ja die Technologie ableh- Wettbewerb neue Alternativen zum Standort nen —, und es reicht nicht für „Freiheit", sondern, wie Deutschland haben. Wo arbeitsintensiv gearbeitet Friedrich von Hayek gesagt hat, zur Knechtschaft. Sie wird und wo die Lohnkosten weiter steigen, nehmen versprechen den Bürgern wieder einmal Rücknahme die Überlegungen zu, etwa in die Tschechei, in die aller möglichen Sparbeschlüsse. Sie versprechen den Slowakei, nach Polen oder Ungarn zu gehen. Das Bürgern Pudding, bevor Sie überhaupt eine Ahnung Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18397

Friedhelm Ost haben, woher Sie das Geld für die Milch bekom- Bei der Inflationsrate, die übrigens deutlich über men. 3 % liegt, macht der DIHT mit pessimistischer Betrach- (Ernst Schwanhold [SPD]: Wie lange darf der tung folgende Aussage: Wir würden uns glücklich eigentlich noch schwafeln? — Dr. Uwe Jens schätzen, wenn es bei 3 % Preissteigerung bliebe. [SPD]: Die Gags sind ja alle witzig!) Das sind also alles Voraussetzungen und Aussagen, die Ihre Annahmen aus dem Jahreswirtschaftsbericht Deshalb: CDU und CSU treten für Freiheit und nicht bestätigen. Eigenverantwortung, für die Entfesselung dynami- scher Kräfte von Unternehmen und auch Arbeitneh- Der Geschäftsführer Franz Schoser führt weiter aus, mern ein, nicht mit mehr Staat, sondern mehr pri- daß die geringe Kaufkraft die wirtschaftliche Entwick- vat. lung bremse und die Konjunkturerwartungen insbe- sondere des Handels verdüstere. Auch im Dienstlei- Herzlichen Dank. stungsbereich hätte die Rezession die Zukunftsper- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — spektive eingetrübt. Das bisher frostige Investitions- Detlev von Larcher [SPD]: Für so ein Niveau klima habe sich noch nicht entscheidend erwärmt. klatscht ihr! — Dr. Elke Leonhard-Schmid In den Aussagen Ihrer Klientel werden Erwartun- [SPD]: Das war eine richtige Stammtisch gen formuliert, die Sie zu erfüllen nicht in der Lage rede!) sind, die Sie auch nicht erfüllen wollen. Jedenfalls ist das mein Eindruck. Sie nehmen noch nicht einmal zur Kenntnis, was Sie Vizepräsident Helmuth Becker:Meine Damen und Herren, ich will Sie auf etwas aufmerksam machen in den letzten 25 Jahren uneingeschränkter Wirt- — die drei Fraktionen sind hier noch vertreten, die schaftspolitik der F.D.P. und in den letzten 12 Jahren beiden Gruppen nicht mehr —: Es war heute morgen uneingeschränkter Finanzpolitik der CDU/CSU ange- eine vierstündige Debatte vereinbart. Wir sind jetzt richtet haben. Hier ruft der Brandstifter der letzten weit über diese Zeit. Wenn die Debatte so weitergeht, Jahre nach der Feuerwehr und meint, er müsse noch dauert sie noch eine Stunde. Ich setze einfach das das Wasser liefern, obwohl schon längst alles abge- Einverständnis voraus, daß wir so weiterdebattie- brannt und der See ausgetrocknet ist. ren. (Beifall bei der SPD — Abg. Ernst Hinsken Ich erteile nun dem Kollegen Ernst Schwanhold- das [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischen Wort. frage)

Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Ernst Schwanhold (SPD): Herr Präsident! Meine Schwanhold, gestatten Sie eine Zwischenfrage? sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst eine Bemerkung zu Ihnen, Herr Ost, Ernst Schwanhold (SPD): Nein, ich gestatte keine machen: Sie haben erst gar nicht den Versuch unter- Zwischenfrage. nommen, mit uns ernsthaft über Wirtschaftsthemen der Zukunft zu diskutieren. Vielmehr haben Sie sich Nein. Es tut mir leid, gleich dahin geflüchtet, mit Kalauern und auf einem Vizepräsident Helmuth Becker: Niveau unterhalb Ihrer Möglichkeiten billige Effekt- Kollege Hinsken. hascherei zu betreiben. Ich finde dies angesichts der Dramatik des Themas beschämend. Ernst Schwanhold (SPD): Ich möchte die Diskussion nicht unnötig verlängern. (Beifall bei der SPD — Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Das war eine gute Rede!) (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich ließe die Zwischenfrage schon zu!) — Wenn Sie mit dem Niveau zufrieden sind, Herr Hinsken, würde ich Sie bitten zusammenzupacken. — Das ist auch nett von Ihnen. Sie kriegen das nächste Die Menschen, die draußen am Fernseher sitzen, Mal auch von mir wieder eine Zwischenfrage zuge- erwarten mehr als so ein Geflapse und solche blöden lassen, Herr Hinsken. Reden von Ihnen. Im Jahre 1994 hatten wir laut Sta tistik über 4 Mil- (Beifall bei der SPD) lionen Arbeitslose, mit steigender Tendenz. Sie selber gestehen 4,5 Millionen ein. Tatsächlich fehlen uns Lassen Sie mich etwas zur wirtschaftspolitischen 6 Millionen Vollzeitarbeitsplätze. Erwartung des DIHT nach der Umfrage, die er bei den Daß die Arbeitslosen nicht kurzfristig wegzumani- 20 000 Betrieben Westdeutschlands und den 5 000 pulieren sind, daß es keine kurzfristigen Lösungsme- Betrieben Ostdeutschlands angestellt hat, sagen. Der chanismen gibt, ist uns allen klar. Niemand hat DIHT erwartet ein gesamtdeutsches Wirtschafts- Patentrezepte in der Tasche. wachstum von etwa 0,5 %, von sehr niedrigem Niveau ausgehend. Es liegt also deutlich unterhalb von dem, Aber mein Vorwurf ist, daß Sie heute durch Ihre was uns die Bundesregierung aus den schöngerede- Ignoranz die Chance vertun, in den nächsten Jahren ten Prognosen des Jahreswirtschaftsberichtes mit den diese Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Dazu müssen Zahlen von 1,0 % bis 1,5 % vorgaukeln will. heute Grundsteine gelegt werden. Sie haben nur Worthülsen produziert. Bei den 20 000 westdeutschen Unternehmen wollen 5 % ihre Beschäftigtenzahl in diesem Jahr erhöhen, (Beifall bei der SPD) und — Herr Ost, hören Sie genau zu — 44 % kündigen Ich will den Versuch unternehmen, Ihnen ein paar an, weitere Entlassungen vorzunehmen. Dinge dazu zu sagen. 18398 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Ernst Schwanhold Gestatten Sie mir allerdings noch den Hinweis winnungssysteme, die dem Prinzip der Nachhaltigkeit darauf, daß die Arbeitslosigkeit dieses nie gekannten folgen, und auch die Biotechnologie. Ausmaßes und eine Schuldenpolitik, die von Ihnen verursacht wurde, noch die Zins- und Tilgungslasten (Friedhelm Ost [CDU/CSU]: Sie bremsen für mehrere Generationen unserer Kinder beinhaltet. alles aus!) Auch denen nehmen Sie Zukunftschancen. Niemand In keinem dieser Bereiche haben Sie es geschafft oder in diesem Land traut dieser Regierung wirklich noch den Willen gezeigt, Rahmenbedingungen zu setzen, eine Lösung zu, weder Gewerkschaften noch Unter- die es Wissenschaft, Forschung und Industrie ermög- nehmen, noch Sie sich selbst, sonst hätten Sie den lichen, Entwicklungen planungssicher voranzutrei- Versuch unternommen, hier Lösungsansätze zu bie- ben. Durch Ihre Untätigkeit auf diesem Gebiet gefähr- ten. den Sie schon heute die Chancen zur mittel- und langfristigen wirtschaft lichen Konsolidierung. (Friedhelm Ost [CDU/CSU]: Ich habe Ihnen das einmal erklärt!) Ich will Ihnen dazusagen, daß es nicht um Techno- logiegläubigkeit geht. Wenn ich diese neuen Techni- Konjunktur- und Strukturkrise haben sich zu einer ken initiieren will, dann muß ich die Rahmenbedin- explosiven Mischung verdichtet. Ich will den langfri- gungen dafür nennen. Ich habe eine genannt: Nach- stigen Aspekt der Strukturkrise ansprechen. Wir sind haltigkeit. heute allenfalls auf dem tiefsten Punkt der Rezession — allenfalls —, obwohl die Stimmung noch sehr Die zweite, die dazugehört, ist die Akzeptanz. Wer schlecht ist. Ein tragfähiger Aufschwung wird nicht ein Forschungsprogramm einsetzt, um neue Werk- ohne Lösung der dringendsten Strukturprobleme zu stoffe entwickeln zu lassen, und nicht am Anfang der erreichen sein. Eine langfristige Sicherung des Stand- Entwicklung auch die Entsorgungswege und die Wie- ortes Deutschland und die damit einhergehende lang- derverwertungswege mitentwickeln läßt, schafft fristige Wiedererreichung der Vollbeschäftigung muß keine Technologieakzeptanz, sondern Verunsiche- deshalb heute eingeleitet werden. rung innerhalb der Bevölkerung. Das ist das schlech- teste, was wir in Forschung, in Entwicklung und Wer sich in der Zukunft auf den Weltmärkten innerhalb der Wirtschaft gebrauchen können. Aber behaupten will, muß heute die Produkte und Verfah- das haben Sie mit Ihrem Forschungsprogramm zu ren von morgen entwickeln. Eine Schlüsselrolle dabei verantworten. nimmt die Forschungs- und Technologiepolitik ein, (Beifall bei der SPD) (Friedhelm Ost [CDU/CSU]: Die haben Sie Es geht übrigens nicht in erster Linie um die doch schon gestern verzögert!) Bereitstellung von Geldern. Da kann die Wirtschaft manches von sich aus organisieren. Es geht zuallererst eine zweite die Bildung und Ausbildung von qualifi- darum, deutlich zu machen, welches die Entwick- zierten Fachkräften. Anstatt in diesen Bereich zu lungslinien sein sollen, um diese dann auch durchzu- investieren und zu klotzen, streichen Sie das Hoch- halten. Ihnen gelingt es noch nicht einmal, eine schulausbauprogramm zusammen. Im Bereich von Abstimmung zwischen den Ressorts innerhalb dieser Forschung und Technologie haben Sie über mehrere Bundesregierung vorzunehmen. Jahre die Ausgaben eingefroren und damit de facto (Dr. Uwe Küster [SPD]: Dafür brauchen Sie reduziert. Im Haushaltsplan 1994 ist der Ansatz gegen einen Staatssekretär!) anders lautende Ankündigung im Bereich F und T um 250 Millionen DM gekürzt worden. Wie anders ist denn zu erklären, daß das Wirtschafts- ministerium, das Forschungs- und Technologiemini- Das sind Zeichen und Signale, die in einem ganz sterium und das Umweltministerium völlig isoliert wichtigen Feld zukünftiger wirtschaftlicher Entwick- voneinander etwas in die Gegend hineinblasen, was lung deutlich gegen die Notwendigkeiten der Bun- man beim besten Willen nicht auf einen Nenner desrepublik stehen. Das muß nega tive Konsequenzen bringen kann? für die Grundlagenforschung haben, ebenso für die anwendungsorientierte Forschung. Wer so tut, als ob (Friedhelm Ost [CDU/CSU]: Sie schaffen dies nicht der Fall sei, hat mindestens zu verantwor- doch nicht einmal die Ems-Vertiefung!) ten, daß in den letzten zehn oder zwölf Jahren viel Akzeptanz für neue Technologie und Innovationen zuviel dafür ausgegeben worden ist. Denn eines geht werden wir innerhalb der Bundesrepublik nur dann nur. Man kann nicht auf der einen Seite sagen, wir erreichen, wenn nicht nur neue wirtschaftliche Ch an können sparen, und auf der anderen Seite die Haus- -cen geschaffen werden, sondern auch Fortschritte zur haltslücke nicht beklagen. Genau in diesem Bereich Erreichung von sozialer Stabilität absehbar sind und der Forschung und der anwendungsorientierten Ent- ökologische Risiken gemindert oder zumindest wicklung benötigen wir aber kurz- bis mittelfristige begrenzt werden. Wir brauchen eine zukünftige Wirt- Ergebnisse, damit wir Forschungsergebnisse in neue schaftspolitik, die das Ziel der Vollbeschäftigung bei Technologien und marktfähige Produkte umsetzen möglichst großer Energie- und Stoffeffizienz erreicht. können. Das sind Stichworte, die Sie überhaupt nicht wahrneh- men. Die Stichworte dazu sind schnell genannt. Ich will sie wiederholen — ich sage aber auch etwas zu den Wer heute die Entwicklung neuer Werkstoffe för- begrenzenden Rahmenbedingungen —: neue Kom- dert — das will ich Ihnen noch nicht einmal vorhal- munikationstechniken, neue Werkstoffe, neue Trans- ten —, muß die Entsorgung entscheidend berücksich- portsysteme, auch Verkehrsleitsysteme, Energiege- tigen. Das Signal „Wir müssen Schluß machen mit der Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode -- 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18399

Ernst Schwanhold Umweltpolitik" gefährdet genau diesen Standort. nik. Dort gibt es 600 000 Beschäftigte. Ich will Ihnen Denn nur wenn wir integrierten Umweltschutz bei einmal sagen, wie es im Bereich der Umwelttechnik Forschung und Entwicklung tatsächlich einbeziehen, wirken muß, wenn das wirtschaftspolitische Signal bekommen wir Zukunftschancen. Diese Koordination kommt: Wir brauchen ein Moratorium. Dieses Mora- und diese Aussage fehlen völlig in Ihrem Konzept. torium bedeutet natürlich auch hohe Forschungs- und Entwicklungskosten und fehlende zusätzliche (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Schwerpunktsetzung. Die Regierung ist bisher nicht in der Lage, diese Koordinationsleistungen wirklich voranzutreiben. Wir Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- alle wissen, daß der Individualverkehr sich nicht so geordneter Schwanhold, Sie haben Ihre Redezeit weiterentwickeln kann, wie er sich bisher entwickelt schon überschritten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn hat. Wir werden nicht die Flächen zur Verfügung Sie zum Ende kämen, zumal wir in der Planung haben, um Ausweitungen des Autoverkehrs zulassen insgesamt bereits eine Stunde zurückliegen. zu können. Wir werden nicht die Ressourcen haben, um weiter Autos wie bisher produzieren zu können. Ernst Schwanhold (SPD): Es ist mir schon klar, daß Wir werden nicht die Senken haben, um am Ende der ich die Zeit überschritten habe. Ich danke Ihnen für Nutzungsdauer die Abfälle in den Boden packen zu den Hinweis, Herr Präsident. Ich hatte das bisher können. Wir werden nicht die Senken haben, um die übersehen. Ich will damit auch zum Ende kommen, aus dem Individualverkehr resultierenden CO2 - Emis- zumal die Zeit vorher genutzt worden ist. sionen dauerhaft ohne Schaden für Mensch und Ich bitte Sie sehr herzlich, darüber nachzudenken, Umwelt aufzunehmen. ob wir im Bereich der Zukunftssicherheit von Arbeits- Daraus folgt eigentlich als Konsequenz, heute nicht plätzen und der Entwicklung von zukünftigen auf die Restrukturierung oder uneingeschränkte Neu- Arbeitsplätzen die gegenseitigen Vorwürfe nicht bes- belebung der Automobilindustrie der bisherigen Zeit ser unterlassen. Dazu gehört aber zunächst einmal, hinzuwirken, sondern genau jene Systeme zu entwik- daß Sie Ihre Fehler zur Kenntnis nehmen und sie auch keln, die nachhaltig notwendig sind. Welche Impulse eingestehen. Aus dieser Verantwortung werden wir haben Sie da gesetzt? Welche Chancen für den Sie nicht entlassen, nicht nur bis zur Wahl, sondern Arbeitsmarkt der Zukunft haben Sie in diesen zwölf auch über die Wahl hinaus, wenn wir Regierungsver- Jahren Ihrer Regierungszeit geschaffen? Nichts und antwortung zu tragen haben. wieder nichts ist erkennbar. Sie verspielen heute (Beifall bei der SPD) schon die Chancen. (Friedhelm Ost [CDU/CSU]: Das ist falsch!) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort hat nun der Abgeordnete E rich Maaß. — Sie haben kein einziges Beispiel dazu genannt. Allein die Aussage, das sei falsch, reicht nicht. Sie Erich Maaß (Wilhelmshaven) (CDU/CSU): Herr Prä- erinnert an Ihre Rede von eben: Sie ignorieren das, sident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte was Sie getan haben. Sie ignorieren die Verantwor- mich ausschließlich auf den Bereich Rat für For- tung für den desolaten Zustand dieser Wirtschaft. schung, Technologie und Innovation einlassen. Ich (Friedhelm Ost [CDU/CSU]: Wir handeln, Sie begrüße es ausdrücklich — das ist die Auffassung der reden!) CDU/CSU-Bundestagsfraktion —, daß dieser Rat nun auf Grund eines Kabinettsbeschlusses in der vergan- — Sie handeln so, daß dabei am Ende sechs Millionen genen Woche geschaffen wird. Das ist die Forderung fehlende Arbeitsplätze herauskommen, die Massen- der Fraktion, das ist die Forderung der Partei, und das armut zunimmt, die Menschen in Deutschland auf der ist auch die Forderung der „Zukunftskommission Straße leben, Sozialhilfeempfänger aus den Müllei- Wirtschaft 2000" des Landes Baden-Württemberg. mern leben. Das ist das Ergebnis Ihrer Wirtschaftspo- litik, die wir zur Zeit haben. (Dr. Uwe Jens [SPD]: Das ist unser Antrag, den Sie verwirklicht haben!) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ul rich — Mein lieber Herr Kollege Jens, ich werde auf die Briefs [fraktionslos]) graduellen Unterschiede gleich noch eingehen. Es schafft neue Arbeitsplätze und Marktchancen, Ich möchte jetzt versuchen, die Auswirkungen der genau den Weg einzuleiten, den ich gerade beschrie- verbalen Nebelkerzen, die den ganzen Morgen hier ben habe. Wer diese ökologisch vertretbareren Auto- geworfen worden sind, zu beseitigen und sichtbar zu mobile nicht heute entwickelt, wird nach meiner machen, wo die gravierenden Unterschiede sind. Meinung in spätestens 15 bis 20 Jahren keine Fahr- (Dr. Elke Leonhard-Schmid [SPD]: Das wird zeuge auf den Weltmärkten mehr absetzen können. Ihnen nicht gelingen!) Deshalb darf die Botschaft auch nicht sein: Wir brau- Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wollen wir chen ein Moratorium im Bereich der Umweltpolitik. damit erreichen? Wir brauchen in einer Phase der Nein, wir brauchen die festen Rahmenbedingungen, strukturellen Rezession einen Motivationsschub in an denen sich Innovations- und Technologieent- unserer Republik. Wir müssen deutlich machen, wo scheidungen der Unternehmen orientieren können. die Defizite liegen, und sichtbar machen, daß wir Nebenbei bemerkt — Herr Ost, vielleicht hören Sie bereit sind zu mobilisieren. Wer kann das besser als zu; es muß aber nicht sein, Sie können ja alles der Kanzler, wenn er sich an die Spitze der Bewegung nachlesen oder auch schon wissen —: Die einzige stellt? Dieser Aufforderung der Fraktion ist er nachge- Branche, die Zukunftsraten hat, ist die Umwelttech- kommen. 18400 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Erich Maaß (Wilhelmshaven) Das ist nicht so ganz abwegig, meine sehr verehrten Grundlagenforschung, wo wir exzellent sind, sollten Damen und Herren der Opposition, wenn m an ver- wir beibehalten. Wir sollten aber den Mut haben, auch gleicht, wie es die anderen Länder machen, die unsere im Bereich der angewandten Forschung umzustruk- Mitbewerber sind. Schauen Sie sich die Situation in turieren, und zwar auf die Notwendigkeiten hin, was den USA an: Was macht Herr Clinton im Augenblick? der Markt in den nächsten 10 oder 15 Jahren erfordert. — Er geht zu einer Technologie- und Innovationsof- Wir müssen bereit sein, national zu emotionalisieren fensive über. Er stellt sich an die Spitze der Bewegung. und dann die Wettbewerbsmöglichkeiten herauszu- Die Japaner machen es ähnlich. finden, die unsere Wirtschaft stärken. Die Ame rikaner Deshalb ist die Kritik, die Sie, Herr Kollege Jens, tun es, auch die Jap aner durch ihr MITI. Nur wir hier anbringen — Ihre Pressemeldung besteht ja nur lernen nicht dazu. aus Polemik —, völlig abwegig. Sie merken nicht, daß Lassen Sie mich, wenn ich mir die Debatte von heute zu einer gezielten Forschungs-, Technologie- und morgen angucke, in der krampfhaft versucht wurde, Innovationspolitik auch Psychologie gehört. Das ver- sich an Themen vorbeizumogeln, einen weiteren kennen Sie. Deshalb sind Sie in dieser Frage nicht der Punkt ansprechen: Wir befinden uns nicht nur in einer entsprechende Berater. strukturellen Krise, in einer strukturellen Rezession, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sondern auch in einer Identitätskrise. Wir müssen endlich einmal klären — da tragen auch Sie Verant- Was wollen wir? Ich greife hier die Ausführungen wortung —, wie wir aus dieser negativen Haltung, die von Graf Lambsdorff auf: Wir wollen keinen staatli- unsere Republik beschleicht, herauskommen. Da chen Dirigismus, keine Bevormundung durch den trägt das Parlament Verantwortung, da tragen auch Staat gegenüber der Wirtschaft, sondern ein Zusam- andere, gesellschaftlich relev ante Gruppen Verant- menführen und eine Bündelung unserer Kräfte. Wir wortung. Ich habe es vor wenigen Tagen deutlich wollen den Rat der Wirtschaft und Wissenschaft und gesagt: Auch unsere Medien tragen hier Verantwor- wollen von der Politik her flankierend unterstützen. tung. Wir können neue Technologien nicht permanent Das ist unser Konzept. Das entspricht auch den For- niederreden oder versuchen, mit Angst dem Bürger derungen, die führende Wirtschaftspolitiker und den Weg in neue Technologien kaputtzureden. Damit -manager in den letzten Tagen und Wochen in der bekommen wir eine Blockadepolitik und merken Öffentlichkeit immer wieder geäußert haben. nicht, daß wir dabei die Wettbewerbsfähigkeit verlie- Wir gehen sogar so weit — das muß im Grunde ren. genommen ein Armutszeugnis für die Opposi tion Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen sein —, daß wir selbst in der Lage sind, aus Fehlern zu Sie mich einen weiteren Punkt ansprechen: Deregu- lernen, und bereit sind, auch in schwierigen Situati- lierung. Das wird ja auch hier immer wieder hochge- onen umzusteuern. Eigentlich ist es die Aufgabe der zogen. Wir haben eine exzellente Forschung; deren Opposition, massiv die Fehler aufzuzeigen und deut- können wir uns rühmen. Was uns verlorengegangen lich zu machen, was sie wi ll. Von Ihnen habe ich dazu ist, ist die Identifizierung mit diesen Forschungsergeb- heute morgen leider noch nichts gehört. Vielmehr sind nissen, daß wir stolz auf die Produkte sind, die wir wir in dieser Phase der Rezession bereit und fragen, herstellen. wie wir es besser organisieren können. (Zuruf von der SPD) Fangen wir bitte bei uns an: Wie können wir die jeweiligen Ressortzuständigkeiten im Kabinett neu — Stolz auf die Produkte, die wir herstellen. Andere organisieren, damit exzellente Forschungsergebnisse Länder machen es uns vor. Bei uns wird es teilweise als durch gezielte Steuer- und Wirtschaftspolitik auch Makel hingestellt. Bei uns ist Mäkeln an der Tages- relativ schnell umgesetzt werden können? Das ist die ordnung. Voraussetzung, damit wir einen weiteren Auf- (Widerspruch bei der SPD) schwung propagieren können. — Doch, das ist die Wahrheit, meine sehr verehrten Meine sehr verehrten Damen und Herren, jetzt Damen und Herren. Wenn ich mir angucke, wie uns kommt ein weiterer Punkt: Wo unterscheiden wir uns? das andere Länder vormachen, dann muß ich sagen: Was uns vorgehalten wird, wir wollten eine neue Wir müssen uns sputen, daß wir in diesen Wettbewerb „Räterepublik" installieren, ist falsch. Wenn Sie mit eintreten können. Gucken Sie sich bitte die meine Ausführungen gehört haben, können Sie das Diskussion der letzten Tage und Wochen über das beurteilen. Chemikaliengesetz an, was uns hier präsentiert wor- So wie es die Opposition, die SPD, haben will, den ist. Hier müssen wir dringend eine Entrümpelung kommt es für uns überhaupt nicht in Frage. Sie wollen vornehmen. einen großen Rat installieren, der mit großem Brimbo- Nehmen Sie bitte das Tierschutzgesetz. Gehen Sie rium alle zwei Jahre ein Gutachten übergibt. Das ist bitte in Ihre eigene Fraktion hinein, die nicht einmal in eine Verschiebung der Ak tionen, die wir eigentlich der Lage war, die dringenden Notwendigkeiten sei- brauchen: Wir brauchen Handlungsaktivitäten, die tens der Forschungsklientel hier mit umzusetzen. Sie jetzt umgesetzt werden müssen. Deshalb wollen wir haben sich der Stimme enthalten. Da sind doch die den Vorschlag, den Sie unterbreitet haben, nicht in wahren Bremser in unserer Republik. dieser Form annehmen. Ich darf einen weiteren Punkt ansprechen. Meine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — sehr verehrten Damen und Herren, warum besitzen Zurufe von der SPD) wir nicht die Bereitschaft, zu lernen, wie es die Meine sehr verehrten Damen und Herren, darf ich Mitkonkurrenten machen? Den großen Bereich an einen weiteren Punkt ansprechen: Transrapid. Heute Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18401

Erich Maaß (Wilhelmshaven) morgen stellt sich im Frühstücksfernsehen Ihr richts so, als stünde die Bundesregierung erst am umweltpolitischer Sprecher hin und sagt: Um Gottes Anfang der Regierungsarbeit, meine Damen und willen, der Lärmpegel dieses Transrapid ist ja so Herren. Tatsächlich stehen Sie nicht nur am Ende gewaltig, deshalb wollen wir ihn nicht haben. Eine einer Legislaturperiode, sondern auch am Ende Ihres Stunde später lese ich eine Presseerklärung Ihres Lateins und — die Spatzen pfeifen es doch vom forschungspolitischen Sprechers, der sich hinstellt Dach — auch am Ende Ihrer Regierungszeit. und sagt: Die Technologie ist ja gut, aber die Strecke (Beifall bei der SPD) paßt uns nicht, und deshalb wollen wir ihn nicht haben. Eine Stunde später stellt sich Herr Lafontaine Herr Maaß, Sie sprechen davon, es gäbe eine Krise, hier hin und sagt: Die Option für die Zukunft ist so wenn wir an die Regierung kämen. Wer hat denn die katastrophal, lassen wir es lieber gleich sein! höchste Arbeitslosigkeit nach dem Zweiten Weltkrieg verursacht? Wer hat denn die höchste Verschuldung Wenn die Reichsbedenkenträger bei Ihnen weiter- nach dem Zweiten Weltkrieg verursacht? Wer hat hin solche Urständ feiern, dann werden Sie zum denn die höchste Zahl an Insolvenzen seit dem Zwei- Risiko, zum Risiko dieses Standorts Bundesrepublik ten Weltkrieg und die höchste Kriminalitätsrate nach Deutschland. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. Da dem Zweiten Weltkrieg verursacht? Sie sind doch tragen Sie mit Verantwortung. diejenigen, die die Ursachen dafür mit geschaffen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — haben. Das ist doch das Ergebnis Ihrer Politik von Zurufe von der SPD) zwölf Jahren. Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ müssen wir bitte anfangen. Ich habe jetzt bewußt CSU) versucht, so extrem zu polarisieren. Da tragen auch Sie Verantwortung. Dieser Verantwortung müssen Sie tun hier in Ihren Reden so, als fingen Sie erst heute Sie gerecht werden. an. Gehen Sie bitte nach Niedersachsen, und überlegen Die Bundesregierung ignoriert die Tatsache, daß Sie sich folgendes. Vor einem Jahr noch wollte Herr der Markt für Umwelttechnik in der Bundesrepublik Schröder bundesweit Rot-Grün machen. Jetzt stellt er mit einer jährlichen Wachstumsrate von 6 % stark sich hin und sagt: Nein, wir wollen allein regieren. expandiert. Diese Rate, meine Damen und Herren, Wenn er aber in Technologiefragen kritisiert wird, könnte noch viel höher sein. sagt er: Ich kann nicht, ich habe ja einen Koalitions- Unser Land verdankt seinen Wohlstand auch den partner! hohen Umweltstandards, die Innovationen gefördert So ein Liebeswerben um diesen Koalitionspartner haben. Jede Mark, die in den Umweltschutz investiert beginnen Sie auch bundesweit. Wenn ich mir die wird, bringt einen volkswirtschaftlichen Nutzen von Beschlüsse der GRÜNEN und des BÜNDNISSES 90 5 DM. Es ist ein Armutszeugnis, daß die Bundesregie- angucke, die diese vor wenigen Tagen auf ihrem rung diesen positiven Umwelttrend nicht verstärkt, Parteitag gefaßt haben, dann kann ich nur feststellen: sondern heute noch mehr als in den vergangenen Wenn so etwas in dieser Republik Wahrheit wird, Jahren deutlich verhindert, meine Damen und Her- dann gute Nacht, diese Republik! Das wird zum ren. Risiko. Damit sichern wir nicht den Standort und So muß der Jahreswirtschaftsbericht verschleiern schaffen wir keine Arbeitsplätze. und vertuschen, daß diese Regierung fast alle in der (Ernst Schwanhold [SPD]: Deswegen wi ll Regierungserklärung versprochenen umweltpoliti- Schröder allein regieren!) schen Ziele nicht erreicht, sondern längst aufgegeben Ich bitte Sie, das zu bedenken. hat. Das ist die Wahrheit. Herzlichen Dank. Wir wollen, meine Damen und Herren, eine ökolo- gische Steuerreform, um neue Produkte zu fördern (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und neue Marktchancen zu eröffnen. Sie haben das finanzpolitische Instrumenta rium bisher nicht für den Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Umweltschutz genutzt. Wir wollen eine st rikte Durch- nunmehr dem Abgeordneten Klaus Lennartz das setzung des Verursacherprinzips, des Vorsorgeprin- Wort. zips und des Kooperationsprinzips. Sie haben die regierungsamtliche Umweltpolitik wirklich zum Re- paraturbetrieb verkommen lassen, die nur auf Klaus Lennartz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr Umweltschäden reagiert, statt Vorsorge zu be treiben verehrten Damen und Herren! Der Jahreswirtschafts- und Weichen für eine umweltgerechte Industriege- bericht der Bundesregierung zeigt deutlich, daß die sellschaft zu stellen. Bundesrepublik von einer ökologischen Umorientie- (Beifall bei der SPD) rung unserer Volkswirtschaft meilenweit entfernt ist. Die volkswirtschaftliche Krise ist auch darauf zurück- Wir wollen ein Bundesbodenschutzgesetz. Sie zuführen, daß die Bundesregierung die Zukunft ver- schaffen es seit Jahren nicht, einen ordentlichen schlafen hat. Die Modernisierung unserer Volkswirt- Gesetzentwurf überhaupt vorzulegen. Wir wollen schaft, die von Unternehmensverbänden und auch eine wirksame Klimaschutzpolitik, die Ihr eigenes von der F.D.P. mit Nachdruck eingefordert wird, Versprechen, die CO2-Emissionen bis zum Jahr 2005 findet sich im Jahreswirtschaftsbericht nur mit einer um ein Viertel bis ein D rittel zu senken, auch umsetzt. Aneinanderreihung von Worthülsen wieder. So klingt Dies ist im nationalen Interesse und auch für unsere der umweltpolitische Teil Ihres Jahreswirtschaftsbe- internationale Glaubwürdigkeit gut. 18402 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Klaus Lennartz Für Sie spielt dieses Ziel nur in Sonntagsreden eine Stromwirtschaft noch weiter zu beschleunigen und so Rolle. Die großen Versprechungen, die Sie in Rio eine gestaltende Energiepolitik in Zukunft noch durch Bundesumweltminister Töpfer gemacht haben, schwieriger als heute zu machen. sind doch längst Makulatur. Nein, meine Damen und Herren, zu oft hat diese Wir wollen eine inte rnationale Harmonisierung der Regierung in den vergangenen Jahren mit bunten Umweltschutzstandards, und zwar auf hohem Ni- Sträußen in der Umweltpolitik Aktionismus vorgegau- veau. Sie haben den deutschen Einfluß in der EG nicht kelt, statt sachlich etwas zu bewegen. Nun stehen Sie genutzt, um Umweltdumping in den anderen Mit- vor dem Scherbenhaufen einer Umwelt- und Wirt- gliedsländern und damit die Wettbewerbsnachteile schaftspolitik, die ihren Namen wahrhaftig nicht ver- für deutsche Unternehmen zu verhindern. Dies ist von dient. Weil Sie nichts vorzuweisen haben, zieht der Ihnen zu keiner Stunde, zu keinem Tag in Europa Umweltminister jetzt durch die Lande und verkauft genutzt worden. einen geringfügigen Rückgang von CO2-Emissionen, der eindeutig, Herr Ost, durch Wirtschaftsk rise und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Arbeitslosigkeit verursacht wurde, als Erfolg der Kli- Wir wollen, daß alle, die Energie sparen, auch maschutzstrategie der Bundesregierung — welch ein steuerlich entlastet werden. Sie haben in den vergan- Hohn zu Lasten der Arbeitslosen, meine Damen und genen Jahren die steuerliche Förderung von Ener- Herren. giesparmaßnahmen und Energieeffizienz doch fast (Beifall bei der SPD) gegen Null gefahren. Sie haben es zu verantworten, Hinzu kommt: Man schämt sich nicht, eine derartige daß die großen Wettbewerbschancen gerade auf die- Politik hier noch als Erfolg zu verkaufen. sen Sektoren von der deutschen Indust rie wirklich nicht genutzt werden konnten. Das ist Ihre Politik, und Sie haben auf dem Hamburger Parteitag versucht, Ihre Politik hat das zu verantworten. den Begriff der ökologischen Marktwirtschaft in das Parteiprogramm der CDU aufzunehmen. Doch Sie Die traurige Wahrheit in Deutschland ist, daß die lassen den Worten keine Konzepte und erst recht jahrelangen Versäumnisse der Bundesregierung in keine Taten folgen. Wenn man sich ansieht, wer dort der Umweltpolitik den Wirtschaftsstandort Deutsch- wofür gestimmt hat, dann weiß man doch, daß das land unmittelbar schädigen. Das geistige Vermögen reine Makulatur ist. Es ist das Papier nicht wert, auf unserer Ingenieure und Erfinder vergammelt doch in dem diese Worte geschrieben sind, meine Damen und den Schubladen des Bundespatentamtes, da diese Herren. Regierung sich nicht darum kümmert, die Entwick- (Beifall bei der SPD) lung und die Markteinführung neuer Techniken zu So wird das Ende Ihrer Regierungszeit vom Ergeb- koordinieren und zu fördern. nis der umweltpolitischen Klausurtagung der CDU/ So beklagt beispielsweise die deutsche Automobil- CSU-Fraktion im letzten Jahr gekennzeichnet, wo- industrie — gestern waren Michael Müller und unsere nach bis Oktober 1994 kein Umweltgesetz und keine Arbeitsgruppe bei einem großen deutschen Automo- Umweltverordnung mehr angefaßt werden. Das ist bilkonzern — , daß für ein Unternehmen allein bei- eine traurige Bilanz, meine Damen und Herren, die spielsweise die Entwicklung eines Keramikmotors zu allerdings in das Gesamtbild paßt: Lähmung, Stagna- teuer ist. Währenddessen, Herr Maaß, zwingt das tion, Rückschritt. japanische Handelsministe rium Forschung und Lehre Die Menschen im Land haben in diesem Jahr des an einen Tisch mit den japanischen Autobauern und öfteren Gelegenheit zu zeigen, was sie von dieser Art koordiniert und finanziert deren gemeinsame Ent- Politik halten. Wir sind überzeugt, daß sie es sehr wicklung eines Keramikmotors mit. Das ist eine ver- deutlich zeigen werden; denn weder Natur noch nünftige, zielorientierte Industriepolitik. Daran soll- Wirtschaft kann diese Regierung weiter zugemutet ten Sie sich ein Beispiel nehmen. Das ist eine Politik, werden, meine Damen und Herren. die auch von uns in dem Sinne mit übernommen werden müßte. Visionen, neues Handeln, neues Denken für das 21. Jahrhundert und praktische Politik für die Men- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schen heute und am morgigen Tag sind gefragt; aber So sehen eine aktive Industriepolitik und eine dazu ist diese Regierung nicht mehr fähig. ökonomische Umweltpolitik aus, meine Damen und (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ul rich Herren. Lassen Sie es mich einmal lax formulieren: Bei Briefs [fraktionslos]) Ihnen muß das Erfinden ja neuerdings neu erfunden werden, so wie Sie mit unseren Techniken und mit unserer Forschung umgehen. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort erteile ich nun der Abgeordneten Frau Dr. Maria (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Böhmer. Umweltfreundliche Produktionsverfahren und Pro- dukte werden zu wenig oder gar nicht steuerlich genutzt. Erneuerbare Energien: Dieser Markt der Dr. Maria Böhmer (CDU/CSU): Herr Präsident! Zukunft stagniert hier bei uns im wahrsten Sinne des Meine Damen und Herren! Es würde mich schon Wortes und fristet ein Exotendasein, weil diese Bun- reizen, muß ich sagen, dem Kollegen Lennartz einiges desregierung kein Interesse daran hat, die Marktein- mit auf den Weg zu geben, was die Umweltpolitik führung erneuerbarer Energien zu unterstützen. Statt anbetrifft. Gerade weil Sie den letzten Parteitag der dessen setzt Wirtschaftsminister Rexrodt alle Hebel in CDU erwähnt haben, wo wir die Weichenstellung hin Bewegung, um den Konzentrationsprozeß in der zur ökologischen und sozialen Marktwirtschaft vorge- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18403

Dr. Maria Böhmer nommen haben, kann ich Ihnen nur eines mit auf den lehnt. Die Gewerkschaften müssen sich heute fragen Weg geben: Ihre Rede zeichnet sich dadurch aus, daß lassen, ob sie damit wirklich die Interessen der Arbeit- Sie Entwicklungen und Fakten ignorieren und nicht nehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten haben. Ich zur Kenntnis nehmen wollen. meine, nein. (Beifall bei der CDU/CSU — Klaus Lennartz (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) [SPD]: Zwölf Jahre hatten Sie Zeit!) Gefordert werden mehr Flexibilität und mehr Krea- Wir haben heute sehr viel darüber gehört, daß tivität. Wer die Zukunft unter dem Gedanken sieht, Innovation ein ganz zentrales Element ist, um den daß Computer- und Glasfasertechnik weitere Verbrei- Standort Deutschland zu sichern — Innovationen tung finden werden, sieht hierin auch die Ch ance für sicherlich nicht nur im Bereich Forschung und Ent- eine stärkere Lösung der örtlichen und zeitlichen wicklung, sondern Innovation auch im Bereich der Bindung des Arbeitsplatzes. Wir sollten nicht beim Arbeitszeitmodelle. Auf diesen Punkt möchte ich Reden stehenbleiben und neue Modelle nicht nur unter einem ganz besonderen Aspekt eingehen. Wir freudig begrüßen und um publizistische Aufmerksam- haben heute immer allgemein über die Arbeitslosig- keit für sie werben, sondern jetzt geht es darum, in die keit und deren Bekämpfung gesprochen. Aber: Zwei konkrete Umsetzungsphase zu kommen. von drei Arbeitslosen sind Frauen; und die Weichen- Ich verstehe, daß dies für manchen mittelständi- stellungen, die wir vornehmen müssen, müssen auch schen Unternehmer gar nicht so einfach ist. Deshalb dazu geeignet sein, die Arbeitslosigkeit von Frauen brauchen wir hier mehr Information und mehr Bera- konkret zu bekämpfen. Ich sehe hier eine große tungshilfen. Chance bei dem Beitrag, den der öffentliche Dienst im Hinblick auf mehr Arbeitszeitflexibilisierung leisten Ich will überwechseln in den Bereich, in dem wir in kann, und zwar im Sinne einer Vorreiterfunktion, die der Tat eine Vorreiterfunktion wahrnehmen müssen, es zu übernehmen gilt. nämlich in den öffentlichen Dienst. Wenn Teilzeitar- beit dort ein Privileg für weibliche Angestellte und für (Beifall der Abg. Dr. Margret Funke-Schmitt Beamtinnen des mittleren Dienstes ist, so ist dies eine Rink [F.D.P.]) klare Verkennung der Chancen. Wenn es in der Hälfte Da wir in diesem Bereich von der Opposition heute der Ressorts im höheren Dienst gar keine Teilzeitbe- schäftigten gibt, so müssen wir diesen Bereich endlich oft mit leeren Formeln konfrontiert worden- sind, möchte ich Ihnen einen Rat geben: Wer nach einem enttabuisieren. Es darf nicht nur Teilzeitarbeit für Programm zur Schaffung von mehr Teilzeitarbeits- Sekretärinnen geben, es muß auch Teilzeitarbeit für plätzen fragt, sollte sich ganz genau den Entwurf für die Chefinnen und für die Chefs geben. das Zweite Gleichberechtigungsgesetz der Bundesre- (Beifall der Abg. Dr. Margret Funke-Schmitt gierung ansehen. Rink [F.D.P.]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU Ich wünsche mir auch, daß wir möglichst schnell zu sowie der Abg. Dr. Margret Funke-Schmitt konkreten Ergebnissen bei der Umsetzung des Zwei- Rink [F.D.P.] und des Abg. Dr. Uwe Jens ten Gleichberechtigungsgesetzes kommen. Dies ist [SPD]) konkreter Bestandteil des Aktionsprogramms der Hier werden Nägel mit Köpfen gemacht; hier wird Bundesregierung und bedeutet, daß wir keine zeitli- Ernst gemacht mit der Umsetzung von mehr Flexibi- che Begrenzung für Teilzeitarbeit mehr haben, wenn lität im öffentlichen Dienst. sie auf Grund familiärer Verpflichtungen in Anspruch genommen wird, und daß wir dafür sorgen wollen, daß Ich denke, daß wir mit Recht sagen können: Die es für diejenigen, die sich für Teilzeitarbeit entschei- Bundesregierung verfährt schon jetzt entsprechend den, keinen Karriereknick mehr gibt. Die Realität war dieser Vorschläge für zukunftsweisende Regelungen in der Vergangenheit leider oft eine andere. Deshalb zur Teilzeitarbeit im öffentlichen Dienst. Es ist eine ist es wichtig, daß im Aktionsprogramm für mehr Vorreiterrolle, die ihr zukommt, für die Wirtschaft, Wachstum und Beschäftigung festgeschrieben ist: aber auch für den Bereich des öffentlichen Dienstes Teilzeitarbeit darf das berufliche Fortkommen nicht der Länder und der Kommunen. Da hoffe ich, daß beeinträchtigen. gerade in den Ländern, in denen die SPD an der Regierung ist, endlich einmal Farbe bekannt und nicht Ich sage Ihnen: Ich wünsche mir keine Verhältnisse nur geredet wird. wie in den Niederlanden, wo es zwar einen hohen Anteil Teilzeitbeschäftigter gibt, wo aber die in vielen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Fällen nicht sozialversicherungspflichtig abgesi- Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Das cherte Teilzeitarbeit dringend verbesserungsbedürf- wird vergebliches Hoffen sein!) tig ist. Wir wollen in eine andere Richtung: Wir wollen Teilzeitbeschäftigung darf auch nicht so aussehen, attraktive, sozialversicherungspflichtig abgesicherte daß Teilzeitbeschäftigte die Stiefkinder des Arbeits- Teilzeitarbeitsplätze haben, und wir wollen alle Mög- markts sind. Wer die neue Studie von McKinsey liest, lichkeiten ausschöpfen, die hier ergriffen werden sieht sehr wohl, welch große Ch ance hier liegt. Über können. Dafür ist ein Bündnis der Tarifpartner not- zwei Millionen Arbeitsplätze mehr bietet die Flexibi- wendig, dafür ist es notwendig, die Ideen, die von dem lisierung. Aber das bedeutet auch, daß wir von starren Aktionsprogramm ausgehen, so schnell wie möglich Denkmustern wegkommen müssen, daß endlich das umzusetzen. Dafür ist es notwendig, daß die Initiati- greift, was wir schon seit vielen Jahren fordern und ven, die die Bundesregierung für ihren eigenen was im gewerkschaftlichen Bereich oft auf Betonmau- Bereich ergriffen hat, wirken und möglichst viele ern stieß. Dort wurde mehr Flexibilisierung abge- Nachahmer finden. Dann, denke ich, haben wir heute 18404 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Dr. Maria Böhmer nicht nur in einigen Bereichen Forderungen aufge- ich Sie schätze —, und Oskar Lafontaine heute auf stellt, sondern wir sind auch bereits in einer Phase, in einmal meinen, ihr Herz für den Mittelstand entdek- der man sagen kann, daß sich in bezug auf mehr ken zu sollen, Arbeitsplätze in Deutschland schon konkret etwas (Rudolf Bindig [SPD]: Weil Sie eine mittel geändert hat. standsfeindliche Politik machen! — Dr. Uwe Ich danke Ihnen. Jens [SPD]: Das sage ich schon seit 20 Jah (Beifall bei der CDU/CSU) ren!) dann wundert mich das schon sehr. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Ich bringe Ihnen in Erinnerung: Welcher Wider- nunmehr dem Parlamentarischen Staatssekretär d von Ihnen regte sich gegen die Nichteinführung Dr. Joachim Grünewald das Wort. stan der Gewerbekapital- und der Vermögensteuer in den neuen Ländern und gegen die Reduzierung der Sätze Dr. Joachim Grünewald, Parl. Staatssekretär beim dieser Steuerarten in den alten Bundesländern! Ich Bundesminister der Finanzen: Der Regierungschef bringe Ihnen weiter in Erinnerung: Wir hatten es im des Saarlandes, eines Landes, das sich nach den Kompromißwege kaum geschafft, die Freibeträge bei Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts in der Vermögensteuer — sie sind für den Mittelstand einer extremen Haushaltsnotlage befindet und das von existentieller Bedeutung — und für den Erbfall seit Jahren kontinuierlich verfassungswidrige Haus- auch bei der Erbschaftssteuer in das Gesetz hineinzu- halte fährt, schreiben, da haben Sie Überlegungen angestellt, sie (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wie lange hat die wieder zu kassieren. Ich denke an die leidvolle CDU dort regiert? — Weiterer Zuruf von der Diskussion um die notwendige Senkung der Steuer- SPD: Erblast der CDU-Regierung!) sätze. hat heute morgen in der ihm eigenen Art der Bundes- (Zuruf von der CDU/CSU: Immer dage regierung Unstetigkeit in der Finanz- und Steuerpoli- gen!) tik vorgeworfen. Da kamen mir Erinnerungen an die stundenlangen und nächtelangen Verhandlungen um Wir wollten den Körperschaftsteuersatz und den Ein- und in Vermittlungsverfahren dieser Legislaturpe- kommensteuersatz unter 45 % einheitlich senken. Im riode — allein sechs aus dem steuerpolitischen- Kompromißwege haben wir ganz mühsam einen Satz Bereich —, die wir gemeinsam geführt und begleitet von 45 % bei der Körperschaftsteuer und einen Satz haben. Er hat überwiegend teilgenommen, und ich von 47 % bei der Einkommensteuer erreicht. Für neun hatte einen Sperrsitzplatz. Dann kam mir der Ver- von zehn mittelständischen Unternehmen ist die Ein- dacht: Das einzig Unstetige ist die finanzpolitische kommensteuer überhaupt d i e Unternehmensteuer. Denke von Oskar Lafontaine, der sich immer wieder Diese Steuersätze haben wir Gott sei Dank, wenn auch zu populistischen Äußerungen gerade in Fragen der mühsam, für den Mittelstand durchsetzen können. Unternehmensteuerreform hinreißen läßt. Dabei will Oder noch ein anderes Beispiel: Die eigenkapital- ich ihm gar nicht einmal einen so großen Vorwurf schonende Ansparabschreibung, die wir erdacht machen, denn mit den Ländern — auch das sei einmal haben, könnte jetzt schon, seit 1. Januar 1994, in Kraft gesagt — war es in diesem Vermittlungsverfahren sein. Nein, im Vermittlungsverfahren mußten wir uns noch besser als mit der Bank der Bundestagsabgeord- auf den Kompromiß einlassen, sie erst zum 1. Januar neten. Mit ihnen alleine hätten wir diese guten 1995 einzuführen. Ergebnisse überhaupt nicht erreichen können. Oder die Diskussion um die Spargesetze: Es war Aber beim FKP war das etwas anders. Da rangen doch abenteuerlich, wie dort polemisiert worden ist. uns die Länder nicht nur 7 Prozentpunkte bei der Von sozialem Kahlschlag und von allem möglichen Mehrwertsteuer ab, nachdem sie uns vorher für die war da die Rede. Wie wollte man refinanzieren? In der Konversion schon 2 Prozentpunkte abgerungen hat- Diskussion war doch nur, den Solidaritätszuschlag ten — insgesamt also 9 —, sondern sie lasteten uns zeitlich nach vorn zu ziehen oder/und die Mineralöl- auch noch über 400 Milliarden DM Erblastschulden steuer über die 16 Pfennig pro Liter hinaus nachhaltig an, 230 Milliarden DM Treuhand, 140 Milliarden DM zu erhöhen, also immer nur weitere Belastungen für Kreditabwicklungsfonds, 31 Milliarden DM kommu- unsere Wirtschaft. naler und genossenschaftlicher Wohnungsbau. Dann geht man hier und heute her und wirft uns, dieser Lassen Sie mich hinzufügen: Wir müssen konse- Regierung, eine zu hohe Verschuldung vor. Sie ist quent — so schwierig der Weg auch ist — an unseren natürlich zu hoch; aber wir haben sie, wie allein an Überlegungen hinsichtlich der Unternehmensteuern diesem Beispiel klar wird, doch nicht zu vertreten. festhalten. Das werden wir tun. Wir müssen die Gewerbekapitalsteuer weghaben, wir müssen die Ich kann immer nur wieder sagen: Unsere Steuer- Gewerbeertragsteuer vermindern, die in das europäi- strategie und Steuerphilosophie ist geradlinig. Sie läßt sche Konzept überhaupt nicht mehr hineinpaßt, und sich auf eine einzige Feststellung zurückführen, näm- lich möglichst niedrige Steuersätze bei möglichst wir müssen auch von den zu hohen, immer noch gesplitteten Steuersätzen herunter. Das können wir wenigen Ausnahmen haben zu wollen. Ich räume ein, daß wir diese Geradlinigkeit nicht haben durchhalten natürlich erst dann leisten, wenn wir den Haushalt können, aber doch nur deshalb nicht, weil wir in den konsolidiert haben. Vermittlungsverfahren immer wieder zu unglaubli- Eigentlich sollte ich hier zum Umwandlungssteuer- chen Kompromissen gezwungen worden sind. Wenn recht sprechen. Dazu nur noch einen Satz. Auch das ist dann Sie, lieber Herr Kollege Jens — Sie wissen, daß ja gerade für die mittelständischen Unternehmen von Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18405

Parl. Staatssekretär Dr. Joachim Grünewald ganz großer Bedeutung. Es macht überhaupt gar Dr. Ulrich Janzen (SPD): Herr Kollege Krause, keinen Sinn, wenn wir ein neues Umwandlungsrecht würden Sie mir bitte mal interpretieren, was Sie unter schaffen, aber das gleichzeitig mit Nachteilen, etwa „mitteldeutsch" verstehen? der Versteuerung stiller Reserven oder aber der Ein- bußen von Verlustvorträgen, verbinden. Deswegen müssen wir dieses Umwandlungsrecht mit dem steu- Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Min- erlichen Umwandlungsrecht begleiten, damit wir destens Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen; der auch in diesem Bereich ein Mehr an dringend notwen- Rest ist Norddeutschland in den Ländern der ehema- diger Flexibilität für unsere Unternehmen erwirken. ligen DDR. Ich lade Sie herzlich ein, dabei mitzumachen. Demontage der mitteldeutschen Industrie — was Schönen Dank. sich da an menschlichem Leid in einer Weise auftut, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge für die es in der DDR-Zeit seit den letzten Zwangsaus- ordneten der F.D.P.) siedlungen 1961 keine Übung mehr gab! Man muß sagen, das ist nicht nur Morgenthau, das ist schon Abendrot ohne Chancen auf Wiederbeschäftigung. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Was braucht Deutschland, damit dies nicht so wei- hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Krause (Bonese). tergeht? Wir brauchen, wie andere Hochsozialländer auch, eine protektionistische Handelspolitik, ähnlich Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Herr wie sie die USA in ihrem § 301 des Handelsgesetzbu- Präsident! Liebe 22 anwesende Kolleginnen und Kol- ches haben. Allerdings sind die USA noch lange kein legen! Meine Damen und Herren! Der Wirtschaftsbe- Sozialstaat. richt ist eine Bilanz. Die Wirtschaftsbilanz der Bundes- Aber nicht nur Deutschl and braucht das. Wir kön- regierung 1993/94 ist die folgende: nen das mit einigen anderen gemeinsam machen, mit Erstens — das wurde von einigen Rednern der SPD den Beneluxländern, mit Dänemark z. B. auch. Aber schon gesagt —: steigende Arbeitslosigkeit ohne darüber hinaus mit allen zu teilen — ich komme gleich konkrete Programme für Beschäftigung in arbeitsin- im einzelnen darauf —, das geht auf die Dauer nur mit tensiven Wirtschaftszweigen. ständig steigender Arbeitslosigkeit. Zweitens: nahezu eine Verdoppelung der- Staats- Die Hauptursachen für diese Negativbilanz sehe ich verschuldung auf über 2 Billionen DM bei ständig im Abschnitt D dargelegt: „Mit offenen Märkten die steigenden Nettozahlungen an das Ausland. Ich Vorteile der internationalen Arbeitsteilung ausschöp- denke nur an die enorme Steigerung der Nettozah- fen" . Nein, es fehlt hier im Be richt völlig eine Kritik, es lung an die EG in diesem Jahr. fehlen Alternativen. Es ist eine Lobeshymne, wie ich Drittens: Steigerung der Kriminalität — es ist sehr sie aus Zeitungen über Günter Mittags Reden auf makaber, das zu sagen — um jeweils eine Million SED-Parteitagen kenne. Straftaten pro Innenminister. Der jetzige, der dritte Es fehlt völlig, welche Marktanteile bei uns in Innenminister hat alle Chancen, diese Steigerung um Deutschland in Zukunft an Billigimporteure abgege- eine Million auch noch zu erreichen. Warum gehört ben werden sollen. Wer soll denn als nächster abge- das hier in diesen Bericht? Massenkriminalität ist ein wickelt und arbeitslos werden? Wenn ich hier z. B. Wirtschaftsfaktor geworden. lese, die Zölle wurden durch GATT um ein Drittel Viertens: Immigration von einer Million Menschen gesenkt, dann gilt das aber natürlich nicht nur für allein 1993 ohne Beschäftigungsmöglichkeiten. Sie deutsche Waren für andere Länder. Sie werden bei belastet die deutsche Wirtschaft gegenüber ausländi- diesen niedrigeren Zöllen natürlich auch Billigim- schen Konkurrenten, die nicht mit annähernd glei- porte aus Billiglohnländern hereinnehmen und nicht chen Soziallasten für diese zusätzlichen Menschen unbedingt in dem teuren Hochlohnland Deutschl and — Deutsche wie Nichtdeutsche — fertig werden kaufen. müssen. Der neue Antidumpingkodex, wo ist er? Dumping- Fünftens: die Demontage der mitteldeutschen preise, Dumpinglöhne und Dumpingumweltbedin- Industrie, und zwar eine gründlichere Demontage, als gungen in Europa kommen über die Grenze des freien sie der angloamerikanische Bombenterror des Zwei- Marktes herein. Ganz konkret wird es, wenn ich hier ten Weltkrieges und die darauffolgenden Demonta- von der längerfristigen Bildung einer Freihandelszone gen 1946 bis 1955 zusammen fertiggebracht haben. zwischen Europäischer Union und Rußland, vorher Das ist die nackte Wahrheit. noch mit den anderen Ländern, lese. Verbunden damit sind bis zu 80 % Gewerbeabmel- Hier wird die Arbeitsbilanz mit dem Handel für uns dungen gegenüber Neuanmeldungen in einigen mit- immer negativer. Wir werden immer mehr Billigpro- teldeutschen Regionen mit bisher ungekanntem dukte mit hohen Arbeitsstunden einführen, mit glei- menschlichen Leid. cher Technologie, oft von den gleichen deutschen Firmen im östlichen Ausland gefertigt. Hier werden nur noch einige wenige Produktionszweige bleiben, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr die sowieso nur wenig Arbeitsplätze bieten. Dr. Krause, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Janzen zu beantworten? Wenn es so mit Freihandel und Billiglohnländern weitergeht, dann wird der Verfall des Sozialstaats, wie er sich jetzt in den neuen Bundesländern schon Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): Ja, sehr drastisch zeigt, auf dreierlei Weise vorangehen. bitte. Ich habe das hier schon des öfteren gesagt. 18406 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) Erstens. Alles, was anderswo billig produziert Jetzt setzt die Wirtschaft selbst noch eins drauf. Ein werden kann, wird immer mehr importiert werden. weiterer Anstieg der offenen erfaßten Arbeitslosig- Dienstleistungen werden ausgeflaggt. keit auf 4,5 Millionen wird inzwischen allein im Laufe Zweitens. Investitionen schaffen in der Regel keine dieses Jahres erwartet. Dann würden uns inzwischen neuen Arbeitsplätze, sondern mit höherer Technolo- also sage und schreibe 6,5 bis 7,5 Millionen Arbeits- gie wirken sie sich sogar negativ auf den Arbeitsmarkt plätze fehlen. Das ist das Ergebnis. aus, wobei die Subventionen für neue Investitionen Vor diesem Hintergrund und vor dem Hintergrund die anderen deutschen Wirtschaftszweige anteilig der größten und offensichtlich folgenreichsten Kon- noch belasten. junktur- und Strukturkrise der Nachkriegszeit ist die Drittens. Dauerarbeitslosigkeit — das sehen wir Zurückhaltung dieser Bundesregierung in bezug auf gerade z. B. im fleißigen Sachsen-Anhalt — bei hoch Maßnahmen zur Überwindung der Lähmung in der qualifizierten und arbeitswilligen Menschen führt zu Wirtschaft schon sehr befremdlich. Die Bundesregie- stabilen Handwerks- und Dienstleistungsbranchen rung geht mit ihren wirklich sehr verhaltenen Bemü- des grauen Marktes ohne Lohnnebenkosten. Wenn hungen um eine Belebung der Wirtschaftstätigkeit jemand vorher neben seiner Arbeit 30 bis 40 Schweine das Risiko ein, daß der Arbeitsmarkt und die Wirt- mit Kiepe und Karre gefüttert hat und jetzt mit 40 oder schaft dieses Landes einen Grabenbruch erleiden, 45 Jahren gezwungen ist, den ganzen Tag zu Hause eine Verwerfung, von der sie sich womöglich nie zu bleiben, braucht man sich nicht zu wundern, wenn wieder richtig erholen können. drei oder vier Wohnungen ohne eine Mark Lohnne- Was j etzt her muß, ist vor allem ein Konjunktur- und benkosten ausgebaut werden. Beschäftigungsprogramm bisher nicht gehabten Um- Die fleißigen Menschen, die durch die gesellschaft- fangs. Die 250 Milliarden Dollar der japanischen lichen Rahmenbedingungen zur Arbeitslosigkeit ge- Regierung zur Konjunkturankurbelung geben einen zwungen werden, werden sich heute genauso, wie es Eindruck davon, wie in vergleichbaren Ländern die in der DDR nach Feierabend möglich war, zumal es Krise wahrgenommen und beantwortet wird. keinerlei Zulieferungsbeschränkungen durch Bau- Vor allem muß — das fordert zu Recht z. B. die märkte oder irgend etwas gibt, einen grauen Markt Arbeitsgruppe „Alternative Wirtschaftspolitik" — die schaffen, der die größte Gefahr für die Beibehaltung Nachfrage angekurbelt werden. Öffentliche Aufträge unseres Sozialstaates darstellt. - müssen erhöht und vorgezogen werden. Die Soziallei- Die Zukunft braucht die Renationalisierung der stungen müssen stabilisiert werden, statt weiter Wirtschaft und vor allem der Handelspolitik. Deutsch- gekürzt zu werden. Die Lohn- und Gehaltsentwick- land muß in allen seinen Regionen wieder Wirt- lung muß stabilisiert werden. Die Erhöhung der Kauf- schaftsstandort werden — kraft der Konsumenten ist kein Allheilmittel — das muß man immer wieder betonen —, aber sie ist unerläßlich zum Durchstarten, und es muß jetzt end- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- geordneter Dr. Krause, Ihre Redezeit ist abgelaufen. lich konjunkturpolitisch durchgestartet werden. (Rudolf Bindig [SPD]: Apfelsinenplantagen Angesichts der unbestreitbaren Strukturprobleme in Deutschland!) der Wirtschaft — Maschinenbau, sonstiger Anlagen- bau, sonstige Investitionsgüterindustrie, also Fahr- zeugbau, Chemie, Elektronik- und Elektroindustrie — Dr. Rudolf Karl Krause (Bonese) (fraktionslos): — müssen die Forschungs- und Entwicklungsleistungen und nicht nur eine Absatzkolonie internationaler Han- ausgebaut werden — diese Bundesregierung kürzt delsimperien. die entsprechenden Ansätze —, müssen Synergie- Wir brauchen deshalb eine Umkehr der bisherigen effekte von öffentlicher Forschung und privatwirt- Wirtschafts- und Freihandelspolitik. schaftlicher Entwicklungstätigkeit systematisch ge- Ich danke für die Aufmerksamkeit. fördert werden, müssen Hochschuleinrichtungen und deren Zusammenarbeit mit den Betrieben ausgebaut (Rudolf Bindig [SPD]: Unausgegorenes werden. Zeug!) Um die Innovationsprobleme der Wirtschaft besser zu lösen als bisher, müssen Beteiligungsmöglichkei- Ich erteile Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: ten für die Beschäftigten geschaffen werden, vom nunmehr dem Abgeordneten Dr. Ulrich Briefs das betrieblichen Vorschlagswesen bis zum Patentrecht Wort. und bis hin zu technologischen Initiativrechten z. B. für die betrieblichen Interessenvertretungen. Solche Dr. Ulrich Briefs (fraktionslos): Herr Präsident! Ansätze müssen geschaffen bzw. verbessert wer- Meine Damen und Herren! Heute ist irgendwie der den. Tag, an dem man ein wenig auf Namen anspielt. Das Um den Wagemut, die Risikobereitschaft in der war wirklich krauses Zeug. Wirtschaft zu erhöhen, muß der kalte Griff der Banken (Zuruf von der CDU/CSU: Der hat seinem und des sonstigen Finanzkapitals, die sich ja am Namen alle Ehre gemacht!) liebsten hundertprozentige Sicherungen geben las- Die Hiobsbotschaften vom Arbeitsmarkt kommen sen und zugleich für das nicht oder kaum vorhandene inzwischen leider immer öfter. Die von uns seit länge- Risiko saftig kassieren, auf die produzierende Wirt- rem befürchtete Arbeitsmarktlücke von etwa 6 bis schaft gelockert werden. Nicht umsonst gelten deut- 7 Millionen Arbeitsplätzen wird inzwischen auch von sche Finanzierungsinstitute im internationalen Ver- der Wirtschaft befürchtet und bestätigt. gleich als besonders risikoscheu. Aber auch der Staat Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18407

Dr. Ulrich Briefs muß hier, wenn das deutsche Finanzkapital mauert, in Die tiefe depressive Wirtschaftslage macht ökologi- die Bresche springen und Innovationsrisikokapital sche Radikalformeln, nicht jedoch eine Zug um Zug zur Verfügung stellen, für kleine und mittlere betriebene bewußte und behutsame Ö kologisierung Betriebe, aber auch für Alternativprojekte, für ökolo- der Wirtschaftspolitik obsolet. gische und soziale Initiativen und — wichtig ist das (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Was ist z. B. in Berlin — für Frauenprojekte. obsolet?) Einiges, allerdings noch viel zuwenig, geschieht Schon gar keine Lösung bringt das kurzatmige Auf- zum Glück auf Landes- und Kommunalebene. Aber stellen von tiefgreifenden Forderungen nach wirt- was nutzt alles Bemühen auf der Länderebene und in schaftspolitischen Veränderungen wenige Monate den Gemeinden, wenn die Bundesregierung nicht vor den Bundestagswahlen, get rieben von der Hoff- mitzieht, wenn sie nicht vorangeht, zumal und obwohl nung, damit die notwendigen Stimmen zum Wieder- sie ja ganz andere und viel umfangreichere Mittel zur einzug ins Bundesparlament herbeizuschaffen. Wer Verfügung hat? wirklich etwas beeinflussen will, muß von Anfang an am Ball bleiben. Bei vernünftiger Argumentation ist Der Verzicht dieser Bundesregierung auf konjunk- man dann vielleicht auch eher geneigt, hier und da die tur- und beschäftigungsstimulierende Ankurbelungs- roten Socken, die ja unübersehbar sind, maßnahmen, das einseitig angebotsorientierte Her- umfingern an den sogenannten Rahmenbedingungen (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions — ein völlig unzureichendes Ersatzhandeln — mit der los]: Sehr wahr!) Konsequenz des massiven Sozialabbaus und des zu übersehen. Abbaus von Schutzrechten der Beschäftigten lasten Kontinuierliche, konzeptionelle, kompetente wirt- auf der Wirtschaft dieses Landes und lähmen ihre über schaftspolitische Arbeit und ihre Durchsetzung auf die Nachkriegszeit hinweg immer wieder bewiesene breiter Basis sind notwendig, um wirklich einen Aus- Bereitschaft, Auswege aus Krisensituationen zu fin- weg aus der jetzigen Wirtschaftsmisere zu finden. — den. Dieses Mal steht jedoch zu befürchten, daß es Herr Präsident, ich komme zum letzten Satz. — womöglich bei einer Dauerdepression in weiten Gelingt das nicht, gerät womöglich das ganze, ehe- Bereichen der Wirtschaft bleibt. dem so stabile politische und wirtschaftliche Gefüge Weil in der Vergangenheit die Wirtschaft — das dieses Landes ins Rutschen und stürzt wie das sprich- muß man auf der anderen Seite auch sehen —- bei der wörtliche Kartenhaus in sich zusammen. Ich denke, Krisenbewältigung immer wieder Entwicklungen in das ist ein Risiko, das wir alle nicht haben wollen Gang gesetzt hat, die neue Krisenbedingungen können. geschaffen haben, z. B. in Form moderner, teurer, Herr Präsident, ich danke Ihnen. heute großenteils urausgelasteter Überkapazitäten, müssen industriepolitische Ansätze her. Deshalb Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nunmehr müssen Absprachen, verbindliche Konsensbildungs- erteile ich dem Abgeordneten Ortwin Lowack das prozesse, Konzertationsstrukturen her, bei denen der Wort. Staat eine aufgeklärt moderierende, informierende, indikative Rolle zu spielen hat. Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Präsident! Lie- Deshalb dürfen diese Krise und der Ausweg aus ihr bes sachverständiges Kollegium! Meine Damen und nicht allein der Wirtschaft überlassen bleiben. Es steht Herren! Ich gehe davon aus, daß in dieser Debatte nur einfach zuviel auf dem Spiel. Das diffuse Hoffen auf noch die Guten übriggeblieben sind. die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft hilft hier ein- fach nicht weiter. (Rudolf Bindig [SPD]: Schmeichler! Er kriegt aber trotzdem keinen Beifall!) Zu all den Markt-, Nachfrage-, Auslastungs- und in Die Situation in Deutschl and wird insgesamt tatsäch- der Folge dann auch Kosten- und Beschäftigungs- lich immer gespenstischer. Während die Angst problemen kommen ja auch noch die ökologischen umgeht, und zwar eine ganz reale und nicht hinweg- Probleme, die ja nicht dadurch verschwinden, daß zudiskutierende Angst um Arbeitsplätze, leider auch man vor der weiteren Belastung und Vergiftung von in immer höher qualifizierten Bereichen — denken Sie Luft, Wasser, Boden und der weiteren Aufheizung der an unsere Flugzeugindustrie —, die Angst vor der Atmosphäre die Augen verschließt. Zukunft und den ungeheuren Belastungen, die hier Und dennoch — das sage ich ganz bewußt als aufgebaut werden, die Angst vor einer inneren und jemand, der nach wie vor zum grün-alternativen äußeren Unsicherheit, die immer stärker wird, die Lager zählt —, erste Aufgabe muß es sein, den Angst vor einer konfusen Rechtssituation, wobei nun Wirtschaftskreislauf wieder richtig in Gang zu brin- auch das europäische Recht mit all seinen Unwägbar- gen, die Beschäftigung drastisch zu erhöhen, die keiten und Unsicherheiten herüberschwappt, legt die Massenarbeitslosigkeit ebenso drastisch abzubauen. Bundesregierung jede Woche ein neues Programm, Ein ökologischer Umbau z. B. über eine umfassende neue Initiativen vor. Sie merkt nicht, daß es längst zu ökologische Steuerreform oder eine konsensorien- einem Programm der Zukunftsverunsicherung, der tierte Wende in der Energiepolitik können doch erst Hektik, der Instabilität verkommen ist. richtig in Gang kommen, wenn sich eine durchgrei- Die ordnende Hand fehlt. Lieber Herr Ost, Ihre fende Besserung am Arbeitsmarkt und in der Wirt- Beiträge sind ja immer wieder zuhörenswert. Ich schaft insgesamt abzeichnet. Wie wollen wir denn würde mir nur wünschen und erhoffen, daß auch die solche Dinge sonst den Menschen in diesem Lande Bundesregierung Ihnen einmal zuhört und wenig- überhaupt verständlich machen? stens einen Teil von dem umsetzt, was Sie hier 18408 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Ortwin Lowack richtigerweise als Forderung artikulieren. Es fehlt die mehr aushält? Was da an unternehmerischem Geist Übersicht, es fehlt die Mo tivation, vor allen Dingen die kaputtgemacht wurde, werden wir in den nächsten motivierende Kraft, die von einer Regierung ausgehen Jahren noch präsentiert bekommen. muß, wenn sie in der Lage sein will, den Karren aus Meine sehr verehrten Damen und Herren, ein dem Dreck herauszuziehen. Mittelstand hat nur dann die Chance, sich zu entwik- Hier ist vieles über die Bedeutung des Mittelstandes keln und dazu beizutragen, das Rückgrat unserer gesagt worden. Ich möchte das noch betonen: Der wirtschaftlichen Entwicklung zu sein, wenn er welt- Mittelstand ist unsere Zukunft, in den Gemeinden und weit operieren kann. Aber gerade hier frage ich: Wo überall. Er ist der Träger der wirtschaftlichen Kraft. gibt es eine Initiative dieser Bundesregierung oder der Gleichzeitig muß ich aber feststellen: Niemand wurde Koalition, es beispielsweise einem Unternehmen in mehr betrogen, mehr getäuscht, mehr enttäuscht als Deutschland zu ermöglichen, sich über weltweite der Mittelstand — und das, meine sehr verehrten Forschung, Technologie und Lizenzen innerhalb kür- Damen und Herren, von allen Parteien. zester Zeit zu informieren, wenn man neue Produkte und Leistungen anbieten will? Es gibt noch nicht hat eine Mittelstandsvereinigung. Das ist Die Union einmal Ansätze dazu. Es herrscht heute ein fürchter- der größte Verein innerhalb der Fraktion überhaupt. liches Tohuwabohu. Auch ich habe mich dafür ja einmal eingesetzt, bis ich festgestellt habe: In dieser Mittelstandsvereinigung Ich frage: Wo sind die Forschungsmittel auch für die werden nicht nur Bet riebe mit zwei Mitarbeitern kleinen und mittleren Be triebe, die oft ein unglaublich repräsentiert, sondern auch solche mit 20 000. Wie kreatives Innovationspotential hätten, die aber kei- wollen Sie da eine Mittelstandspolitik betreiben, die nerlei Unterstützung von der öffentlichen Hand tatsächlich hilft, die tatsächlich wirksam ist? bekommen? Die Sozialdemokratie hat es immer fertiggebracht, Meine sehr verehrten Damen und Herren, letztlich ihre Klientel in den Großbetrieben, weil sie gewerk- frage ich doch: Wie lange wollen wir die Belastungen schaftlich nun einmal stärker organisiert war, mit des deutschen Steuerzahlers, die ja durchschlagen einer Subventionitis zu unterstützen. Diese Milliar- auf unsere Wirtschaft, durch die sogenannte Europäi- dentransfers haben woanders dringend gefehlt, wenn sche Union hinnehmen? Ich freue mich, daß die es darum ging, so manchen mittelständischen Betrieb Bundesbank dieses Thema vor drei Monaten auf die dazu zu bringen, erst einmal zu investieren und sich Tagesordnung gebracht hat. Seit zweieinhalb Jahren erhalten zu können. spreche ich darüber. Die Ungerechtigkeit der Finan- zu Lasten Die Freien Demokraten haben ihre Klientel leider zierung der Europäischen Gemeinschaft immer so berücksichtigen wollen, daß bei den letzten der deutschen Betriebe muß abgebaut werden. Wer Steuerveränderungen gerade die bedacht wurden, zahlt denn die 93,3 Milliarden DM in die europäische die nichts mit dem Mittelstand zu tun haben. Kasse ein, damit wir 27 Milliarden DM für die Betriebe oder für Strukturen in den neuen Bundesländern (Beifall des Abg. Jan Oostergetelo [SPD]) bekommen, wenn nicht in erster Linie der Mittel- Die Masse der Betriebe, die heute investieren will, hat stand? deshalb eher unter Steuerverschlechterung zu leiden, Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer zahlt als daß sich Verbesserungen ergeben hätten. für die sinkende Investitionsbereitschaft unserer Kom- Alle drei Parteien haben — leider — an wirtschaft- munen? Wieder der Mittelstand, den zu unterstützen licher Kraft verteilt, haben viele Transfers beschlos- Sie hier so wunderschön vorgetragen haben. sen, was überhaupt noch nicht erwirtschaftet war. Das Letztlich, liebe Kolleginnen und Kollegen: Was ist das Grundübel unserer Zeit: daß durch die Poli tik helfen uns Projekte wie die Magnetschwebebahn mit laufend etwas verteilt wird, was überhaupt noch nicht all ihren Zweifeln und auch technischen Problemen, erwirtschaftet wurde, und so neue öffentliche Lasten die tatsächlich noch nicht gelöst sind, über die längere angehäuft werden. Strecke? Was hilft uns das, wenn eine Bundesregie- Ich frage: Wo ist denn eigentlich die aufkommens- rung sich gleichzeitig nicht geniert und so dumm ist, neutrale Investitionsanleihe, die die Mittelstandsver- eine 12-Milliarden-Unterstützung für unsere Werftin- einigung der Union fordert? Kein Wort darüber heute dustrie, die gerade in Norddeutschland ja sehr viele in dieser Debatte. Investitionen tätigen müßte, zu blockieren? Aber das Transrapid-Vorhaben will sie mit Hilfe der deutschen (Dr. Uwe Jens [SPD]: Doch, ich habe das Steuerzahler bezahlen. gesagt!) Es ist Unsinn, was hier geschieht. Die Chancen, die — Gut, dann können wir uns darüber gleich noch ein wir haben, werden nicht wahrgenommen. Sie werden bißchen unterhalten. blockiert, aber zu Lasten der Steuerzahler werden Warum hat man denn die Abschreibungen ausge- neue Riesenprojekte aufgelegt. ebe verschlech- rechnet für die mittelständischen Bet ri (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Sei doch tert? Warum hat man denn für die Pioniergeneration nicht so hart!) der Unternehmer in den neuen Bundesländern mit einem Federstrich des Finanzministers zum Vertrag — Du weißt ganz genau, mein lieber Kurt, was hier für über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion am Chancen vertan wurden. Es ist nur bedauerlich, daß 1. Juli 1990 die Schulden um 1 000 % aufgestockt, für Du nicht den Mut hast, das auch einmal innerhalb der die Generation von Unternehmern, die heute zusam- Fraktion zu sagen. Du solltest dort einmal aufstehen menbricht, weil sie diese Belastung überhaupt nicht und Klarheit darüber herstellen und das auch wirklich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18409

Ortwin Lowack einmal so vertreten. Das ist das Problem. Das ist leider Interfraktionell wird vorgeschlagen, die übrigen auch der Untergang der Union, weil sie so viele in Vorlagen zum Tagesordnungspunkt 3 a und b an die ihren Reihen hat, die eben nicht den Mut haben, in der Tagesordnung genannten Ausschüsse zu über- einmal aufzutreten und auch einmal einem Bundes- weisen. kanzler Paroli zu bieten und klar zu sagen, worum es Der Bericht der Bundesregierung über den Stand wirklich geht. der Umsetzung der Maßnahmen zur Zukunftssiche- (Dr. [F.D.P.]: Das kommentie rung des Standortes Deutschland und des Aktions- ren wir jetzt nicht!) programms für mehr Wachstum und Beschäftigung Ich frage: Wo ist denn der Gemeinschaftsgeist, den — er liegt Ihnen auf Drucksache 12/6907 vor — soll wir brauchen, wenn wir die Probleme wirklich lösen zusätzlich an den Haushaltsausschuß überwiesen wollen? Es ist doch nichts Schlechtes, ein guter Euro- werden. päer und gleichzeitig auch ein guter Deutscher zu Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist offen- sein. sichtlich der Fall. Dann ist auch das beschlossen. Interfraktionell ist vereinbart worden, Zusatz- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- punkt 1 a und b von der Tagesordnung abzusetzen. Zu geordneter Lowack, darf ich Sie auf meine Zeichen Ihrer Erinnerung: Es handelt sich um Anträge der aufmerksam machen, die ich so dezent zu vermitteln Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. zu abschließen- versuche. den Regelungen zur Wiedergutmachung von NS- Unrecht sowie der Gruppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN zur Rehabilitierung, Entschädigung und Versor- Ortwin Lowack (fraktionslos): Jawohl. Ich komme zum letzten Satz. Ich habe ja auch schon eine gewisse gung für die Opfer der NS-Militärjustiz. Das sind die Steigerung eingebaut, um langsam mein Schlußwort Drucksachen 12/6748 und 12/6418. Ist das Haus damit vorbereiten zu können. einverstanden? — Das ist offensichtlich der Fa ll. Dann ist auch das beschlossen. (Heiterkeit im ganzen Hause)

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das tröstet Ich rufe Tagesordnungspunkt 13a bis g sowie mich wenig. Ich wäre Ihnen schon dankbar,- wenn Sie Zusatzpunkt 1 c auf: sehr schnell zum Schluß kämen. 13. Überweisungen im vereinfachten Verfahren

Ortwin Lowack (fraktionslos): Herr Präsident! Auch a) Erste Beratung des von der Bundesregie- für Sie — vielleicht können Sie das auch noch akzep- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- tieren — mein Appell: Nur selbstbewußte Bürger, zes zur Änderung von Vorschriften über meine sehr verehrten Damen und Herren, können die Deutsche Bundesbank damit fertig werden, daß eine Bundesregierung so viel — Drucksache 12/6909 — Schulden aufgehäuft hat, daß allein die Zinslast Überweisungsvorschl ag: bereits mehr als 90 % der Erträge aus Ersparnissen der Finanzausschuß (federführend) Menschen in dieser Republik ausmacht. Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Deswegen ganz zum Schluß: Jeder Tag ist zu viel, b) Erste Beratung des von der Bundesregie- den Sie weiter nur mit Hektik und nicht mit wirklichen rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Entscheidungen verbringen. Jeder Tag verschlechtert zes zu dem Vertrag vom 16. Dezember 1992 die Situation. Bitte machen Sie diesem Drama so zwischen der Bundesrepublik Deutschland schnell wie möglich ein Ende so wie ich jetzt mit und der Russischen Föderation über die meiner Rede. Zusammenarbeit und die gegenseitige Un- (Rudolf Bindig [SPD]: Recht hat er ja in vielen terstützung der Zollverwaltungen Punkten gehabt!) — Drucksache 12/6906 — Überweisungsvorschlag: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Finanzausschuß Damen und Herren, damit kann ich die Aussprache c) Erste Beratung des von der Bundesregie- schließen. rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- zes zu dem Übereinkommen vom 16. Sep- empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft zu dem tember 1988 über die gerichtliche Zustän- Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel „Die digkeit und die Vollstreckung gerichtlicher deutsche Wirtschaft durch Senkungen der Leitzinsen Entscheidungen in Zivil- und Handelssa- und durch eine europäische Konjunkturinitiative aus chen der Rezession führen". Die Beschlußempfehlung liegt — Drucksache 12/6838 — Ihnen auf Drucksache 12/6665 vor. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag auf Drucksache 12/5362 abzu- Überweisungsvorschlag: lehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung Rechtsausschuß des Ausschusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthal- d) Erste Beratung des von der Bundesregie- tungen? — Dann ist diese Beschlußempfehlung mit rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenom- zes zu dem Abkommen vom 25. Juni 1993 men. zwischen der Bundesrepublik Deutschland 18410 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg und der Repubik Georgien über den Luft- zur Änderung des Bundeszentralregister- verkehr gesetzes (3. BZRÄndG) — Drucksache 12/6849 — Drucksache 12/6380 — —Überweisungsvorschlag: (Erste Beratung 202. Sitzung) Ausschuß für Verkehr (federführend) aa) Beschlußempfehlung und Be richt des Finanzausschuß Rechtsausschusses (6. Ausschuß) e) Erste Beratung des von der Bundesregie- — Drucksache 12/6912 — rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 29. Juni 1993 Berichterstattung: zwischen der Regierung der Bundesrepu- Abgeordnete Hermann Bachmaier blik Deutschland und der Regierung der Jörg van Essen Sozialistischen Republik Vietnam über die Andreas Schmidt (Mühlheim) Seeschiffahrt bb) Bericht des Haushaltsausschusses — Drucksache 12/6850 (8. Ausschuß) gemäß .596 der Geschäfts- —Überweisungsvorschlag: ordnung Ausschuß für Verkehr — Drucksache 12/6913 — f) Erste Beratung des von der Bundesregie- Berichterstattung: rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Abgeordnete Thea Bock zes zu dem Abkommen vom 10. Juni 1993 Adolf Roth (Gießen) zwischen der Regierung der Bundesrepu- Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) blik Deutschland und der Regierung der b) Zweite und dritte Beratung des von der Ukraine über die Seeschiffahrt Bundesregierung eingebrachten Entwurfs — Drucksache 12/6851 — eines Gesetzes zur Änderung von Vor- Überweisungsvorschlag: schriften über das Schuldnerverzeichnis Ausschuß für Verkehr — Drucksache 12/193 — g) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Erste Beratung 21. Sitzung) rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Beschlußempfehlung und Be richt des zes zu dem Europäischen Übereinkommen Rechtsausschusses (6. Ausschuß) vom 16. Oktober 1980 über den Übergang — Drucksache 12/6914 — der Verantwortung für Flüchtlinge Berichterstattung: — Drucksache 12/6852 — Abgeordnete Joachim Gres Überweisungsvorschlag: Dr. Eckhart Pick Innenausschuß c) Beratung der Beschlußempfehlung und des ZP1 c) Beratung des Antrags der Fraktionen der Berichts des Innenausschusses (4. Aus- CDU/CSU, SPD und F.D.P. schuß) zu der Unterrichtung durch die Bun- Aktionsprogramme SOKRATES und desregierung LEONARDO — Mitteilung der Kommission an das — Drucksache 12/6939 Europäische Parlament und den Rat —Überweisungsvorschlag: über den transeuropäischen Telema- Ausschuß für Bildung und Wissenschaft (federführend) tikverbund von Verwaltungen Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Wirtschaft — Vorschlag für eine Entscheidung des Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Rates über Leitlinien für den transeuro- Ausschuß für Frauen und Jugend Ausschuß für Forschung, Technologie und päischen Telematikverbund von Ver- Technikfolgenabschätzung waltungen Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- — Vorschlag für eine Entscheidung des ten Verfahren ohne Debatte. Rates über eine mehrjährige Gemein- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen schaftsaktion zur Unterstützung des an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse transeuropäischen Telematikverbunds zu überweisen. Der Antrag der Fraktionen der CDU/ für den Datentausch zwischen Verwal- CSU, SPD und F.D.P. zu den Aktionsprogrammen tungen (IDA) Sokrates und Leonardo auf Drucksache 12/6939 soll — Drucksachen 12/5749 Nr. 3.2, zusätzlich dem EG-Ausschuß überwiesen werden. Ist 12/6793 — das Haus damit einverstanden? — Das ist dann auch Berichterstattung: beschlossen. Abgeordnete Dorle Marx Franz Heinrich Krey Wolfgang Lüder Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 a bis m auf: d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Abschließende Beratungen ohne Aussprache Berichts des Ausschusses für Raumordnung, a) Zweite und dritte Beratung des von den Bauwesen und Städtebau (19. Ausschuß) zu Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. einge- der Unterrichtung durch das Europäische brachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes Parlament Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18411

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Entschließung zu den Regionen mit gerin- j) Beratung der Beschlußempfehlung des ger Bevölkerungsdichte Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der — Drucksachen 12/5181, 12/6820 — Unterrichtung durch die Bundesregierung Berichterstattung: Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 25 02 Abgeordnete Dr. Ul rich Janzen Titel 893 01 — Prämien nach dem Woh- Hans-Wilhelm Pesch nungsbau-Prämiengesetz und nach der Verordnung zur Einführung des Bauspa- e) Beratung der Beschlußempfehlung und des rens in dem in Artikel 3 des Einigungsver- Berichts des Ausschusses für Wirtschaft trages genannten Gebiet — (9. Ausschuß) zu der Verordnung der Bun- desregierung — Drucksachen 12/6522, 12/6765 — Aufhebbare Dreißigste Verordnung zur An- Berichterstattung: derung der Außenwirtschaftsverordnung Abgeordnete Dieter Pützhofen Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) — Drucksachen 12/6068, 12/6890 — Thea Bock Berichterstattung: Abgeordneter Peter Kittelmann k) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der f) Beratung der Beschlußempfehlung des Unterrichtung durch die Bundesregierung Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der Überplanmäßige Ausgabe im Haushalts- Unterrichtung durch die Bundesregierung jahr 1993 bis zur Höhe von 28 643 838,75 Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 18 03 DM bei Kapitel 60 03 Titel 671 02 (1992) Titel 642 07 — Ausgaben nach § 8 Abs. 2 des — Einmaliger Pauschalausgleich für eini- Unterhaltsvorschußgesetzes — gungsbedingte Sonderlasten der Kirchen —

— Drucksachen 12/6505, 12/6761 — — Drucksachen 12/6494, 12/6766 — Berichterstattung: Berichterstattung: Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) Abgeordnete Adolf Roth (Gießen) Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) Dr. Konstanze Wegner Helmut Wieczorek (Duisburg) g) Beratung der Beschlußempfehlung des 1) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der tionsausschusses (2. Ausschuß) Unterrichtung durch die Bundesregierung Sammelübersicht 141 zu Pe titionen Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 17 04 — Drucksache 12/6886 — Titel 681 23 — Sonderleistungen für Zivil- dienstleistende nach Maßgabe des Unter- m) Beratung der Beschlußempfehlung des Peti- haltssicherungsgesetzes — tionsausschusses (2. Ausschuß)

— Drucksachen 12/6523, 12/6762 — Sammelübersicht 143 zu Petitionen Berichterstattung: — Drucksachen 12/6888 — Abgeordnete Susanne Jaffke Es handelt sich um Beschlußfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist. Dr. Konstanze Wegner Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 14 a, Abstim- h) Beratung der Beschlußempfehlung des mung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der F.D.P. eingebrachten Entwurf zur Änderung des Bun- Unterrichtung durch die Bundesregierung deszentralregistergesetzes. Er liegt Ihnen auf den Überplanmäßige Ausgabe im Haushalts- Drucksachen 12/6380 und 12/6912 vor. Ich bitte jahr 1993 bei Kapitel 10 04 Titel 682 04 diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuß- (Von den EG nicht übernommene Markt- fassung zuzustimmen wünschen, um das Handzei- ordnungsausgaben) chen. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — — Drucksachen 12/6524, 12/6763 — Der Gesetzentwurf ist in zweiter Lesung mit den Berichterstattung: Stimmen der Koalitionsfraktionen bei unterschiedli- Abgeordnete Bartholomäus Kalb chem Abstimmungsverhalten der SPD-Fraktion ange- Dr. Sigrid Hoth nommen. Ernst Kastning Wir kommen zur i) Beratung der Beschlußempfehlung des dritten Beratung Haushaltsausschusses (8. Ausschuß) zu der und Schlußabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Unterrichtung durch die Bundesregierung Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünschen, Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel sich zu erheben. — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? 11 12 Titel 616 31 — Zuschuß an die Bun- — Bei einer Gegenstimme und mehreren Enthaltun- desanstalt für Arbeit - gen aus der SPD-Fraktion ist der Gesetzentwurf in - Drucksachen 12/6503, 12/6764 — dritter Lesung angenommen. Berichterstattung: Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 14 b, Abstim- Abgeordnete mung über den von der Bundesregierung eingebrach- Dr. Gero Pfennig ten Gesetzentwurf zur Änderung von Vorschriften Ina Albowitz über das Schuldnerverzeichnis. Es handelt sich um die 18412 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Drucksachen 12/193 und 12/6914. Diejenigen, die Wir kommen zunächst einmal zum Geschäftsbe- dem Gesetzentwurf in der Ausschußfassung zuzu- reich des Auswärtigen Amts. Hier steht uns zur stimmen wünschen, bitte ich um das Handzeichen. — Beantwortung die Staatsministerin Frau Ursula Seiler- Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthal- Albring zur Verfügung. tung der SPD-Fraktion in zweiter Lesung angenom- Frau Staatsministerin, ich wäre Ihnen dankbar, men. wenn Sie die Frage 11 des Abgeordneten Ortwin Wir kommen zur Lowack beantworten würden: dritten Beratung Welche „Befürchtungen" hatte das Auswärtige Amt gegen die Teilnahme des Dalai Lama an der 1200-Jahr-Feier der Stadt und Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf ins- Frankfurt am Main? gesamt zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu Frau Staatsministerin, Sie haben das Wort. erheben. — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung der SPD-Fraktion mit den Stimmen der Koalitionsmehrheit angenommen. Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin im Auswärti- Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 14 c: gen Amt: Danke, Herr Präsident. Das tue ich sehr Beschlußempfehlung des Innenausschusses zum gerne. transeuropäischen Telematikverbund, Drucksache Herr Kollege Lowack, die Bundesregierung hat 12/6793. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustim- gegenüber der Stadt Frankfurt keine „Befürchtun- men wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. — gen" gegen die Teilnahme des Dalai Lama an der Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? — Bei einigen 1 200-Jahr-Feier der Stadt geäußert. Sie hat auf Anruf Enthaltungen und einigem Stimmenverzicht der SPD der Stadt Frankfurt — zunächst telefonisch, anschlie- Fraktion ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen ßend schriftlich — darauf aufmerksam gemacht, daß der Koalitionsfraktionen angenommen. politische Ehrengäste dieser Feier wie der Bundesprä- Tagesordnungspunkt 14 d: Beschlußempfehlung sident und der französische Staatspräsident so recht- des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und zeitig von der Möglichkeit eines Zusammentreffens Städtebau zu der Entschließung des Europäischen mit dem Dalai Lama unterrichtet werden müssen, daß Parlaments zu den Regionen mit geringer Bevölke- ihnen, falls sie dies für erforderlich halten, eine rungsdichte, Drucksachen 12/5181 und 12/6820. Wer Überprüfung ihrer eigenen Teilnahmeentscheidung stimmt für diese Beschlußempfehlung?- — Gegen- möglich sei. Eine solche Abstimmung ist im Umgang probe! — Enthaltungen? — Einstimmig angenom- mit Staatsoberhäuptern eine protokollarische Selbst- men. verständlichkeit. Tagesordnungspunkt 14 e: Beschlußempfehlung Auf den Hinweis, daß der Oberbürgermeister der des Ausschusses für Wirtschaft zur Änderung der Partnerstadt Frankfurts, Kanton, ebenfalls an den Außenwirtschaftsverordnung, Drucksachen 12/6068 geplanten Festveranstaltungen teilnehmen werde, und 12/6890. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung wies das Auswärtige Amt darauf hin, daß chinesische zu? — Dagegen? — Enthaltungen? — Bei Enthaltung Politiker an Veranstaltungen, zu denen auch der Dalai des Abgeordneten Lowack einstimmig angenom- Lama geladen ist, nicht teilzunehmen pflegen. men. Das Auswärtige Amt hat in diesem Telefongespräch Tagesordnungspunkt 14 f bis 14 k: Beschlußemp- und in dem anschließend übermittelten Schreiben fehlungen des Haushaltsausschusses zu überplanmä- korrekt über den gegebenen Sachverhalt aufgeklärt. ßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1993. Sie liegen Es hat der Stadt Frankfu rt keine Empfehlung für ihre Ihnen auf den Drucksachen 12/6761 bis 12/6766 vor. eigene Enscheidung gegeben. Es war nicht Sache des Wenn Sie damit einverstanden sind, was ich hoffe, Auswärtigen Amtes, der Stadt Frankfurt eine Ent- lasse ich über die sechs Beschlußempfehlungen scheidung in eigener Angelegenheit abzunehmen. gemeinsam abstimmen. — Das Haus ist einverstan- den. Dann kann ich so verfahren. Wer stimmt für die Zusatz- sechs Beschlußempfehlungen des Haushaltsaus- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: schusses? — Wer stimmt dagegen? — Enthaltungen? frage des Abgeordneten Lowack. — Bei Enthaltung der SPD-Fraktion und des Abgeord- neten Lowack angenommen. Ortwin Lowack (fraktionslos): Frau Staatsministerin, Tagesordnungspunkt 141 und 14m: Beschlußemp- es gibt andere, die sagen: Auch wenn man hier eine fehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksa- falsche Bezeichnung bringen würde, wäre es durch- chen 12/6886 und 12/6888. Es h andelt sich dabei um aus ehrenvoll, manchmal sogar noch ehrenvoller. Frau die Sammelübersichten 141 und 143. Wer stimmt Staatsministerin, glauben Sie nicht, daß der Hinweis diesen Beschlußempfehlungen zu? — Dagegen? — des Auswärtigen Amtes darauf, daß aus rotchinesi- Enthaltungen? — Bei Enthaltungen des BÜNDNIS- scher Sicht Bedenken bestünden, wenn der Dalai SES 90/DIE GRÜNEN sind die Beschlußempfehlun- Lama erschiene — das ist ja leider kein Einzelfall bei gen einstimmig angenommen worden. ihm; ich will das nicht weiter konkretisieren —, doch die Schlußfolgerung zuläßt, daß sich das Amt in der Zwischenzeit auf dem tiefsten Punkt der Würde- und Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 2 auf: Prinzipienlosigkeit und wohl auch der politischen Kurzsichtigkeit befindet, so als ob man davon aus- Fragestunde ginge, daß das kommunistische Regime in Peking von — Drucksache 12/6892 — Dauer wäre und sich nie überleben würde? Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18413

Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Herr Kol- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- lege Lowack, die Qualifizierungen, die Sie gegenüber frage des Abgeordneten Bindig. meinem Hause gemacht haben, weise ich entschieden zurück. Rudolf Bindig (SPD): Wird das Auswärtige Amt dieses „gewisse politische Problem", welches in der Zu dem Inhalt Ihrer Frage bzw. zu Ihren Ausführun- Person des Dalai Lama nach Ihren Worten liegt, auch gen, weshalb man sich über die Teilnahme des gegenüber dem Deutschen Bundestag zum Ausdruck chinesischen Gastes geäußert hat, möchte ich folgen- bringen, wenn der Dalai Lama demnächst auf Einla- des sagen: Es war die Pflicht des Auswärtigen Amtes, dung des Unterausschusses für Menschenrechte und ordnungsgemäß darauf hinzuweisen, nachdem die humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages wahr- Stadt Frankfurt das Auswärtige Amt um einen Rat scheinlich zu einer Anhörung hier sein wird? gefragt hat. Wenn wir dieses nicht erwähnt hätten, wäre das, denke ich, ein Fehler gewesen. Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Herr Kol- lege Bindig, es ist überhaupt nicht zweifelhaft, daß die Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- Bundesregierung und auch das Auswärtige Amt es frage, bitte schön. begrüßen, wenn der Dalai Lama, wie geplant — Sie haben es hier gerade dargestellt —, vom Unteraus- Ortwin Lowack (fraktionslos): Frau Staatsminister, schuß für Menschenrechte empfangen wird und do rt nachdem mir Protokolle vorliegen, in denen die tion in Tibet geführt eine Diskussion über die Situa zuständigen Referenten des Auswärtigen Amtes bei wird. Vorhaben, an denen auch China beteiligt sein könnte, Ich darf vielleicht kurz auf die Posi tion des Dalai sogar wörtlich formuliert haben: „Da müssen wir in Lama in dieser Frage eingehen. Er hat in letzter Zeit Peking nachfragen", möchte ich von Ihnen wissen: wiederholt öffentlich geäußert, daß er keine Sezession Halten Sie es nicht für erforderlich, daß von der Tibets anstrebt, sondern daß sein Ziel eine angemes- grundsätzlichen Fragestellung her, die zu beantwor- sene Autonomie innerhalb des chinesischen Staats ten ist, endlich eine koordinierte westliche Politik verbandes ist. Dies ist auch das Ziel der Bundesregie- gegenüber Rotchina herbeigeführt wird, damit die rung. Erpressungen, die natürlich auch deshalb möglich Die Bundesregierung appelliert an die chinesische sind, weil das Auswärtige Amt die Auffassung Rotchi- Regierung, die Bereitschaft des Dalai Lama zu einem nas der Stadt Frankfurt vorträgt, ein Ende- haben? Dialog ohne Vorbedingung zu nutzen und Gespräche über die Zukunft Tibets und über die Ausgestaltung Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Herr Kol- der inneren Autonomie Tibets aufzunehmen. lege Lowack, ich teile Ihre Ansicht nicht, daß es sich hier um Erpressung handelt. Deshalb habe ich auch Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Abgeord- keine Veranlassung, weiterhin auf Ihre Frage einzu- neter Norbert Gansel mit einer Zusatzfrage. gehen. Norbert Gansel (SPD): Da man sich ja versprechen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Weitere kann, Frau Staatsminister, möchte ich Sie bitten, Ihre Zusatzfrage des Abgeordneten Jäger aus Wangen. Formulierung zu korrigieren, daß der Dalai Lama ein „ gewisses politisches Problem" darstellt. Das „ge- wisse politische Problem" stellt die Volksrepublik Claus Jäger (CDU/CSU): Frau Staatsministerin, teilen Sie, teilt Ihr Haus die Auffassung, daß die China in ihrer Politik gegenüber Tibet und dem Dalai Anwesenheit des Dalai Lama als eines besonders Lama dar, aber nicht der Dalai Lama selbst. verehrungswürdigen Religionsoberhauptes in unse- Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Ich glaube, rer Welt für eine Feier, wie sie die Stadt Frankfurt Herr Kollege Gansel, Sie haben den Sinn, der hinter veranstaltet hat, eine ausgesprochene Bereicherung meinen Worten gestanden hat, sehr wohl beg riffen. und es von daher zu begrüßen gewesen wäre, wenn Aber wenn Ihnen das ein Anliegen ist, bin ich gerne seine Teilnahme dort ermöglicht worden wäre? bereit, klarzustellen, daß der Dalai Lama selbst kein politisches Problem ist. Doch in seiner Persönlichkeit Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Herr Kol- repräsentiert er diesen schrecklichen Konflikt seit lege Jäger, die Position der Bundesregierung gegen- vielen Jahren in ganz besonderer Weise. Er versucht über der Person des Dalai Lama ist völlig unbestritten. unter den zur Zeit nicht zu ändernden Bedingungen Er gilt als eine ganz große Persönlichkeit der Zeitge- für sein Volk das Beste zu erreichen. Ich habe Ihnen schichte. Das hat in diesem Zusammenhang über- vorgetragen, welchen Vorschlag die Bundesregie- haupt nichts damit zu tun, wie die Bundesregierung rung hier macht und daß sie mit dem genannten die Person des Dalai Lama einschätzt. politischen Ansatz ganz übereinstimmt. Es ging lediglich darum, daß der Herr Bundespräsi- dent wissen mußte, daß der Dalai Lama teilnimmt, der Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Damit ja in seiner Person — das wird hier niemand abstreiten kommen wir zur Frage 12 des Abgeordneten Gerd können — ein gewisses politisches Problem dar- Poppe: stellt. In welcher Weise war das Auswärtige Amt an den Vorgängen Dies mußte der Herr Bundespräsident wissen, und beteiligt, aufgrund deren sich der Dalai Lama veranlaßt sah, von der Teilnahme an den Feierlichkeiten zur 1200-Jahr-Feier der nur dies hat das Auswärtige Amt der Stadt Frankfurt Stadt Fran kfurt am Main abzusehen? mitgeteilt. Ich halte dies für einen verantwortungsvol- len Umgang mit unserem Staatsoberhaupt, auf den es Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Herr Kol- einen Anspruch hat. lege Poppe, das Auswärtige Amt wurde in der Woche 18414 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Staatsministerin Ursula Seiler-Albring vor dem 28. Januar 1994 vom Protokoll der Stadt Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Abgeord- Frankfurt angerufen. Das Protokoll wies selbst auf die neter Lowack zu einer Zusatzfrage. Problematik hin, daß der Dalai Lama zu den Fr ankfur- ter Festveranstaltungen eingeladen sei und daß Ortwin Lowack (fraktionslos): Frau Staatsministerin, gleichzeitig mit ihm der Bundespräsident und der ist dann die Mitteilung der „Süddeutschen Zeitung" französische Staatspräsident eingeladen seien. Das vom 17. Februar 1994 falsch, in der es ausdrücklich Auswärtige Amt gab die erwähnte sachliche Aufklä- heißt — ich zitiere —: rung. Das Auswärtige Amt hatte die Stadt davor gewarnt, zu ihrer 1 200-Jahr-Feier am 22. Fe- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- bruar gleichzeitig den Oberbürgermeister der frage? — Bitte schön, Herr Abgeordneter Poppe. chinesischen Schwesterstadt Kanton, Li Zilin, und das geistliche Oberhaupt der Tibeter einzuladen. Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Dies könnte Staatsminister, ich würde gerne von Ihnen wissen, wie — jetzt wird aus dem Schreiben bzw. der mündlichen sich das Auswärtige Amt in Zukunft zu verhalten Information zitiert — gedenkt, wenn öffentliche oder nichtöffentliche Ver- zu „Problemen" führen, teilte das Ministerium anstaltungen unter Teilnahme des Dalai Lama in dem Frankfurter Oberbürgermeister Andreas von Deutschland vorgesehen sind. Werden Sie mit Rück- Schoeler mündlich und schriftlich mit. sicht auf die chinesische Seite ähnliche Bedenken äußern, wie Sie das vorhin in der Antwort auf die Ich frage Sie: Ist, falls das nicht zutreffend sein sollte, Frage des Kollegen Lowack geschildert haben, oder eine presserechtliche Gegendarstellung von seiten werden Sie — im Gegenteil — die öffentlichen Auf- des Auswärtigen Amtes abgegeben worden, weil es tritte des Dalai Lama in Deutschland fördern? doch ein sehr peinlicher Vorfall wäre, und fa lls dies nicht erfolgt ist, warum nicht?

Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Daß wir die Staatsministerin: Herr Kol- öffentlichen Auftritte des Dalai Lama unterstützen, Ursula Seiler-Albring, lege Lowack, wenn das Auswärtige Amt auf jede bedarf hier keiner weiteren Erläuterung. Falschmeldung reagieren würde, müßten wir beim Es ging in diesem Fall, Herr Kollege Poppe, darum, Haushaltsausschuß erheblich mehr Personal beantra- zunächst einmal den Herrn Bundespräsidenten dar- gen. Dies wird wohl nicht der Fall sein. über zu informieren, wie sich die Situation angesichts Ich möchte noch einmal sagen: Das Auswärtige Amt dieser Einladung darstellte. Das gleiche galt gegen- hat keine Warnung abgegeben, sondern das Auswär- über dem französischen Staatsoberhaupt, dem Staats- tige Amt und seine Beamten haben pflichtgemäß über präsidenten Mitterrand. Das ist eine selbstverständli- den Tatbestand informiert. che Pflicht, die das Auswärtige Amt zu erfüllen hat. Es ist auch eine Selbstverständlichkeit, daß man auf Zusatz- mögliche Reaktionen von anderer Seite — in diesem Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: frage des Abgeordneten Dr. Pflüger. Fall des Bürgermeisters der Partnerstadt Frankfurts, nämlich Kanton — hinweist. Das Auswärtige Amt hat keinerlei Handlungsanweisung gegeben, sondern Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Mich interessiert, den Sachverhalt sachlich dargestellt. Das werden wir was genau in dieser Information gestanden hat und, auch in Zukunft tun. wenn ich das hinzufügen darf, ob diese Information auch in dem Bewußtsein erfolgt ist, daß der Bundes- präsident nach unserer Verfassung keine eigenstän- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Weitere dige Außenpolitik be treiben kann, daß dem Bundes- Zusatzfrage? — Bitte schön. präsidenten, wenn man ihn in einer bestimmten Weise informiert, also praktisch gar nichts anderes übrig Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Konnte bleibt, als den Besuch des Dalai Lama als ein Problem Ihnen nicht auf Grund früherer Begegnungen des zu sehen. Bundespräsidenten mit dem Dalai Lama klar sein, daß es von seiten des Bundespräsidenten keinerlei Beden- Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Diese Mei- ken gegen ein Zusammentreffen auf dieser Veranstal- nung, Herr Kollege Pflüger, kann ich nicht teilen. Ich tung geben würde? kann Ihnen aber selbstverständlich gerne das Schrei- ben des Auswärtigen Amtes in Kopie zur Verfügung Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Herr Kol- stellen. lege Poppe, daß der Herr Bundespräsident, wie wir (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Ich bitte alle, die Person des Dalai Lama außerordentlich sehr darum, Frau Kollegin! Ich finde nur, daß schätzt, steht überhaupt nicht zur Debatte. Es geht das nicht meine Frage beantwortet!) auch gar nicht um irgendwelche Wertschätzungen — Sie haben doch gesagt, Sie wollten den Inhalt dieses oder Qualifizierungen der Person des Dalai Lama. Es Schreibens kennenlernen. Ich stelle es Ihnen gerne geht, um es noch einmal zu sagen, um die Selbstver- zur Verfügung. ständlichkeit, daß ein Staatsoberhaupt wissen muß, wer eingeladen ist. Daß es hier möglicherweise ein (Dr. Friedbert Pflüger [CDU/CSU]: Ich habe Problem geben würde, lag durchaus auf der Hand. Die meiner Frage einen zweiten Teil angefügt, Stadt Frankfurt hat anschließend gehandelt, ohne Frau Kollegin!) jegliche Beratschlagung durch das Auswärtige Amt. — Den habe ich auch beantwortet. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18415

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Eine Zu- gelangt, die von der chinesischen Seite einerseits und satzfrage des Abgeordneten Jäger. von der französischen Seite andererseits geäußert worden wären? Claus Jäger (CDU/CSU): Frau Staatsminister, darf ich Ihren Antworten entnehmen, daß nach den Erkenntnissen und nach Auffassung der Bundesregie- Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Nein, da ist rung die Nichtteilnahme des Dalai Lama an den uns nichts bekannt. Veranstaltungen zur 1 200-Jahr-Feier der Stadt Frankfurt ausschließlich auf Maßnahmen der Stadt- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- verwaltung von Frankfurt zurückzuführen ist? geordneter Poppe, bitte achten Sie darauf, daß das Mikrophon eingeschaltet ist, weil es sonst sehr schwer Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Herr Kol- ist, Sie zu verstehen. lege Jäger, ich sage es zur Klarstellung noch einmal: Das Auswärtige Amt ist um Information bzw. auf Sie haben jetzt noch eine Zusatzfrage. — Sie ver- Grund der Tatsache, daß offensichtlich der Stadt zichten darauf. Frankfurt die protokollarischen Probleme aufgefallen Herr Abgeordneter Lowack. sind, um eine Sachdarstellung gebeten worden. Dies ist geleistet worden. Eine Qualifizierung bzw. eine Ortwin Lowack (fraktionslos): Frau Staatsministerin, Warnung ist unsererseits nicht ausgesprochen wor- in voller Würdigung dessen, daß Sie gesagt haben, es den. habe keinen Kontakt zwischen dem Auswärtigen Amt Danach hat das Auswärtige Amt mit diesem Vor- und der rotchinesischen Seite im Vorfeld der Reaktion gang nichts mehr zu tun gehabt. Die Stadt Frankfurt des Auswärtigen Amtes gegeben: Möchten Sie damit hat, was selbstverständlich ist, selber gehandelt und zum Ausdruck bringen, daß es so etwas wie vorausei- muß dies auch selber verantworten. lenden Gehorsam gegeben hat? Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Der Abge- ordnete Oostergetelo möchte noch gerne eine Zusatz- Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Nein, Herr frage stellen. Kollege Lowack, das will ich ausdrücklich nicht.

Jan Oostergetelo (SPD): Frau Staatsminister,- ist nun nach Kenntnis des Schreibens, das Sie haben, von Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Der einer Falschmeldung durch die Presse oder von einer Wunsch nach weiteren Zusatzfragen besteht nicht. Falschmeldung durch das Auswärtige Amt zu Ich teile dem Haus mit, daß die Fragen 14 und 15 des reden? Abgeordneten Dr. Kübler auf dessen Wunsch schrift- lich beantwortet werden. Die Antworten werden als Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Herr Kol- Anlagen abgedruckt. lege Oostergetelo, auch Ihnen stelle ich das Schreiben Wir kämen nun zur Frage 16 des Abgeordneten gerne zur Verfügung. Ich kenne den Artikel aus der Dr. Egon Jüttner, den ich nicht im Saal sehe. Es wird „Süddeutschen Zeitung" nicht; deshalb kann ich ihn verfahren, wie in der Geschäftsordnung vorgese- auch nicht qualifizieren. Ich kann nur noch einmal hen. sagen, daß das Auswärtige Amt die Stadt Frankfurt zu keiner Handlung veranlaßt hat. Weiter kann ich Ihnen mitteilen, daß die Fragen 17 und 18 des Abgeordneten Hans-Günther Toetemeyer Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich rufe und die Frage 19 der Abgeordneten Dr. Elke Leon- nunmehr die Frage 13 des Abgeordneten Gerd Poppe hard-Schmid auf deren Wunsch schriftlich beantwor- auf: tet werden. Die Antworten werden als Anlagen abge- Welche Kontakte des Auswärtigen Amtes gab es in der Frage druckt. der Teilnahme des Dalai Lama — vor seiner Absage — mit der Frau Staatssekretärin, ich bedanke mich bei Stadt Frankfurt am Main, mit der chinesischen Seite, mit der Ihnen. Vertretung des Dalai Lama in Europa und mit anderen interna- tionalen Gästen an den Feierlichkeiten oder deren Vertretern, Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers hier insbesondere mit der französischen Regierung? und des Bundeskanzleramts auf. Ursula Seiler-Albring, Staatsministerin: Herr Kol- Hier hat der Abgeordnete Dr. Egon Jüttner um lege Poppe, in dieser Frage gab es nur den geschil- schriftliche Beantwortung seiner Frage 1 gebeten. Die derten telefonischen Kontakt und ein Schreiben des Antwort wird als Anlage abgedruckt. Auswärtigen Amtes vom 28. Januar 1994 — das ist Ich kann nun den Geschäftsbereich des Bundesmi- hier mittlerweile mehrfach angesprochen worden —, nisteriums des Innern aufrufen. das den Inhalt des Telefongespräches festhielt. Es gab (Rudolf Bindig [SPD]: Das Innenministerium insbesondere keine Kontakte mit der chinesischen ist nicht hier! Das ist ein Skandal!) Seite, mit der Vertretung des Dalai Lama in Europa — Der Innenminister war offensichtlich vorher so gut oder internationalen Gästen, auch nicht mit der fran- unterrichtet, daß er wußte, daß alle Fragen schriftlich zösischen Regierung. beantwortet werden sollen, daß also die Frau Abge- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Zusatz- ordnete Ingrid Köppe ihre Fragen 20 und 21 schriftlich frage? — Bitte schön. beantwortet wissen wollte; gleiches gilt für die Frage 22 der Abgeordneten Frau Dr. Elke Leonhard Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sind Schmid. Die Antworten werden als Anlagen abge- Ihnen andere Einwände oder Bedenken zur Kenntnis druckt. 18416 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg Damit kommen wir nunmehr zum Geschäftsbereich Kooperation einbinden und zur umweltgerechten des Bundesministeriums für Wirtschaft. Hier steht uns Demontage anleiten will. Es besteht daher für die der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Reinhard Bundesregierung zumindest derzeit keine Veranlas- Göhner zur Verfügung. sung, sich in laufende Kooperationsgespräche zwi- Wir kommen zunächst zu Frage 34 des Abgeordne- schen Unternehmen einzuschalten. ten Klaus Harries: Die Bundesregierung geht davon aus, daß diese Sieht die Bundesregierung in den derzeitigen Aktivitäten der Zusammenarbeit mit den Verwerterbetrieben ohne Automobilkonzerne, durch Verträge mit Industriebetrieben marktbeherrschende vertikale oder horizontale Kon- (z. B. Preussag und Klöckner) zu einem flächendeckenden Netz zentrationen vonstatten geht. Ich darf noch einmal von Autodemontagezentren zu kommen, eine Benachteiligung und/oder eine Existenzgefährdung der jetzt bereits bestehenden erwähnen: Das Bundeskartellamt wird diese Entwick- und gut arbeitenden mittelständischen Autorecyclingfirmen? lung natürlich beobachten.

Parl. Staatssekretär beim Dr. Reinhard Göhner, Zusatzfrage des Bundesminister für Wirtschaft: Herr Kollege Harries, Vizepräsident Helmuth Becker Kollegen Harries. die Bundesregierung hat derzeit keine Anhaltspunkte dafür, daß die geplante Kooperation von VW mit Preussag bestehende mittelständische Autorecyc- Klaus Harries (CDU/CSU): Nachdem Sie, Herr lingfirmen in ihrer Existenz gefährden oder benach- Staatssekretär, soeben die Vokabel „derzeit" ge- teiligen würde. Das gilt auch für Kooperationen, die braucht haben: Würden Sie mir zustimmen, wenn ich derzeit laut Pressemitteilungen von anderen Firmen skeptisch sage, daß es für mittelständische Bet riebe geplant werden. natürlich sehr schwierig ist, sich noch einzuschalten, (Vorsitz: Vizepräsident Helmuth Becker) wenn Verträge abgeschlossen sind, alles flächendek- kend eingerichtet und die Sache festgezurrt ist? Freiwillige Kooperationen dieser Art zwischen Automobilkonzernen und Verwerterbetrieben wer- den von der Bundesregierung als Bestandteil einer Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr marktwirtschaftlichen Abfallpolitik im Bereich der Kollege Harries, Sie haben nach der Einschaltung der Altautoentsorgung begrüßt. Sie hat dabei die Erhal- Bundesregierung in Gespräche zwischen privatwirt- tung mittelständischer Strukturen sehr wohl im Blick. schaftlichen Unternehmen gefragt. Wenn es hier Das Bundeskartellamt wird im Rahmen seiner Aufga- marktbeherrschende Konzentrationen geben könnte, ben darauf achten, daß der Wettbewerb durch Zusam- ist dies in der Tat eine wettbewerbliche Frage, die uns menschlußvorhaben dieser A rt nicht in gesetzwidri- auf den Plan rufen muß. Ich finde aber, daß die ger Weise beeinträchtigt wird. Erklärung der beteiligten Unternehmen, die beste- (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut! Auch ich henden mittelständischen Unternehmen in eine sol- bin dafür!) che Entsorgungsstrategie einbinden zu wollen, doch darauf hoffen läßt, daß es solche, wettbewerbsrecht- Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage des lich problematische Konzentrationen nicht geben Kollegen Harries, bitte. wird.

Klaus Harries (CDU/CSU): Ist Ihnen, Herr Staatsse- Vizepräsident Helmuth Becker: Noch eine Zusatz- kretär, bekannt, daß in mittelständischen Recycling- frage des Kollegen Harries, bitte. betrieben nach Bekanntwerden der Gespräche mit den Konzernen große Unruhe entstanden ist? Klaus Harries (CDU/CSU): Gehen Sie davon aus, Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Ja, Herr Herr Staatssekretär, daß die in Vorbereitung befindli- Kollege, aber ich glaube, diese Unruhe beruht auf che Altautoverordnung Aussagen und Bestimmungen einer verständlichen Irritation. Nach bisherigen Pres- enthalten wird, die darauf hoffen lassen, daß man semeldungen ist es so, daß es auch bei den privat mittelständische Betriebe angemessen beteiligt oder beabsichtigten Kooperationen eine Einbindung be- sich überhaupt entfalten läßt? stehender mittelständischer Verwertungsbetriebe ge- ben soll. Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Nicht unmittelbar wettbewerbsrechtliche Regelungen, aber Vizepräsident Helmuth Becker: Eine weitere mittelbar werden die Bedingungen, die in dieser Zusatzfrage des Kollegen Har ries? — Keine. Verordnung festgelegt werden können, natürlich Ein- Dann kommen wir zur Beantwortung der Frage 35 fluß auch auf die Entsorgungsstruktur haben. des Kollegen Klaus Harries: Ist die Bundesregierung ggf. bereit, sich in geeigneter Weise in die laufenden Gespräche der Automobilhersteller mit den Indu- Vizepräsident Helmuth Becker: Jetzt kommt die striekonzernen mit dem Ziel einzuschalten, die mittelständi- nächste Frage, die Frage 36 des Kollegen Horst schen Betriebe, wenn sie bereit und in der Lage sind, ordnungs- Jaunich. gemäß zu entsorgen, in ihrem Bestand zu schützen? Bitte, Herr Staatssekretär. Bitte, Herr Staatssekretär. (Klaus Harries [CDU/CSU]: Ich habe noch Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr eine Frage!) Kollege Harries, wie gerade erwähnt, ist es nach den — Die Fragen sind nicht zusammen, sondern getrennt Pressemeldungen so, daß Preussag bestehende mit- beantwortet worden. Zur ersten Frage hat es eine telständische Verwerterbetriebe in die beabsichtigte Zusatzfrage gegeben. Zur zweiten Frage gibt es dann Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18417

Vizepräsident Helmuth Becker nur zwei. Ich habe ausdrücklich gefragt: Haben Sie Zusammenhang gerührt wird, natürlich Bedenken noch eine Zusatzfrage? gegen ein solches Vorhaben geäußert. Wem Mono- (Klaus Harries [CDU/CSU]: Entschuldigung, polrechte genommen werden, der wird dabei nicht in Herr Präsident, das hatte ich nicht gehört!) Zustimmung ausbrechen. -- Bitte sehr, Herr Kollege Harries, Sie haben noch Vizepräsident Helmuth Becker: Noch eine weitere eine Zusatzfrage. Zusatzfrage des Kollegen Jaunich, bitte. (CDU/CSU): Ich bedanke mich, Herr Klaus Harries Horst Jaunich (SPD): Herr Staatssekretär, welche Präsident. positiven Aspekte, insbesondere im Hinblick auf Ver- Herr Staatssekretär, rechnen Sie damit, daß die sorgungssicherheit in der Fläche z. B. mit Erdgas, Altautoverordnung noch in dieser Legislaturperiode versprechen Sie sich von einem solchen Vorhaben? erlassen wird? Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Von Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Eine einem erweiterten Wettbewerb oder überhaupt der abschließende Antwort darauf ist schwierig und, Herr Zulassung von Wettbewerb in diesem Zusammen- Kollege Harries, aus Ihrem Arbeitsgebiet mindestens hang versprechen wir uns letztlich Vorteile für den genauso gut zu beurteilen wie aus unserer Sicht. Wir Verbraucher. Die Ermöglichung von Wettbewerb ist halten aber eine Inkraftsetzung in diesem Jahr für immer etwas, was verbraucherschutzfördernd ist. wünschenswert und arbeiten daran. Vizepräsident Helmuth Becker: Nun kommen wir Vizepräsident Helmuth Becker: Nun kommen wir zur Frage 37 des Kollegen Horst Jaunich: aber zur Frage 36 des Kollegen Jaunich — ich bitte Welche Auswirkungen hätte eine solche Maßnahme auf die um Entschuldigung, ich hatte sie ja schon aufge- Versorgungssicherheit besonders mit Erdgas und auf die Kom- rufen —: munen? Ist es zutreffend, daß die Bundesregierung im Rahmen einer Bitte, Herr Staatssekretär. Novellierung des energie- und kartellrechtlichen Ordnungsrah- mens die Abschaffung freiwilliger Demarkationsverträge sowie Parl. Staatssekretär: Herr gebietsbezogener Konzessionsverträge für leitungsgebundene Dr. Reinhard Göhner, Energien plant? Kollege Jaunich, die beabsichtigte Reform wird die Bitte, Herr Staatssekretär. Versorgungssicherheit bei Strom und Gas nicht beeinträchtigen. Die vertraglichen Lieferpflichten der Unternehmen gegenüber ihren Kunden und die nach Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege Jaunich, die Bundesregierung hat bereits im dem Energiewirtschaftsgesetz im Rahmen des wirt- Standortbericht und im Jahreswirtschaftsbericht für schaftlich Zumutbaren bestehende allgemeine An- dieses Jahr wirksamen brancheninternen Wettbe- schluß- und Versorgungspflicht bleiben ja bestehen. Eine Gefährdung der Erdgasbeschaffung auf den werb für Strom und Gas sowie die Reduzierung staatlicher Aufsicht angekündigt. Das Bundeswirt- internationalen Märkten ist auch nicht zu erwarten. schaftsministerium hat dazu nach intensiver Diskus- Der Erdgasbezug ist ja durch langfristige Lieferver- sion mit der Wirtschaft, den Verbänden, den Ländern träge abgesichert. Außerdem wird der Gesetzentwurf und den Kommunen einen Gesetzentwurf für ein der Importabhängigkeit der deutschen Gaswirtschaft neues Energiewirtschaftsgesetz vorbereitet. Rechnung tragen. Nach diesem vorbereiteten Gesetzentwurf würden Für die Kommunen hat die Reform zur Folge, daß künftig folgende Verträge dem allgemeinen Kartell- Wegerechte zur Leitungsverlegung nicht mehr aus- verbot unterliegen: Absprachen zwischen Versor- schließlich vergeben werden dürfen. Für das Aufkom- gungsunternehmen, sich im Versorgungsgebiet des men aus der Konzessionsabgabe hat das allerdings jeweils anderen keine Konkurrenz zu machen, sowie keine unmittelbare Auswirkung. Die 1992 in Kraft vertragliche Verpflichtungen einer Gemeinde, Rechte getretene Konzessionsabgabenverordnung sieht ein- zur Verlegung von Leitungen in öffentliche Straßen heitliche Höchstsätze vor, unabhängig davon, ob und Plätze nur einem einzigen Versorgungsunterneh- Wegerechte als ausschließliche oder als einfache men, also z. B. dem eigenen Stadtwerk oder einem Rechte vergeben werden. Flächenversorger, einzuräumen. Über dieses Konzept Das Recht auf kommunale Selbstverwaltung wird und den Zeitplan der Verwirklichung wird die Bun- nicht verletzt; Planungshoheit der Gemeinden und desregierung in Kürze entscheiden. das Recht zur Aufstellung örtlicher Versorgungskon- zepte werden nicht beeinträchtigt. Leistungsfähige Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage des Stadtwerke werden sich auch im Wettbewerb Kollegen Jaunich, bitte. behaupten, zumal sie ja beim S trom- und Gasbezug auch neue Chancen erhalten und auch ihrerseits Horst Jaunich (SPD): Herr Staatssekretär, nach zusätzliche Kunden gewinnen können. diesem Vorlauf: Können Sie dem Haus beschreiben, welche Haltung die kommunalen Spitzenverbände zu Vizepräsident Helmuth Becker Zusatzfrage des diesem Vorhaben eingenommen haben? Kollegen Jaunich, bitte.

Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Horst Jaunich (SPD): Halten Sie es für zutreffend, Kollege Jaunich, wie nicht überraschend ist — auch was der Bundesverband der deutschen Gas- und nicht für Sie als in diesem Bereich Tätiger —, haben Wasserwirtschaft zu diesem Thema ausgesagt hat, die Betroffenen, an deren Besitzständen in diesem wonach alle Hauptlieferländer Europas beim Erdgas- 18418 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Horst Jaunich export zentralistisch mit starkem staatlichen Einfluß von im deutschen Wirtschaftsgebiet ansässigen Perso- organisiert sind, und daß eine Zersplitterung der nen in entsprechenden Projekten in Libyen. Die Nachfrage die Position der deutschen Erdgaswirt- Bundesregierung hat die entsprechenden Informatio- schaft, der Importeure, nachhaltig beeinträchtigen nen unverzüglich zur Überprüfung an die zuständigen würde? Untersuchungsbehörden weitergegeben. Über vage Hinweise hinausgehende konkrete Anhaltspunkte für Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr eine Tätigkeit von Gebietsansässigen in Deutschland Kollege, eine Zersplitterung muß nicht die notwen- in militärischen Projekten in Libyen haben sich nach dige Folge sein. Im übrigen ist es so, daß die Absiche- Kenntnis der Bundesregierung hierbei jedoch bisher rung von Leitungsmonopolen noch nicht unmittelbare nicht ergeben. Auswirkungen auf die Bezüge von Erdgas aus dem Dienstleistungen Gebietsansässiger, die sich auf Ausland haben muß. Waren des Teils I Abschnitt A der Ausfuhrliste, also auf Waffen, Munition und Rüstungsmaterial, bezie- Vizepräsident Helmuth Becker: Eine letzte Zusatz- frage des Kollegen Jaunich, bitte. hen, bedürfen, wie Sie wissen, im übrigen gemäß § 45b Abs. 1 der Außenwirtschaftsverordnung der Horst Jaunich (SPD): Herr Staatssekretär, können Genehmigung, wenn sie in Libyen erbracht werden. Sie sich, wenn diese Ihre Vorstellungen realisiert sind, Aber entsprechende Genehmigungen sind nicht vorstellen, daß dann bei der Versorgung z. B. mit erteilt worden. Erdgas ein Großkunde in einer Stadt eine besondere Belieferung durch ein Unternehmen erfährt und damit Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage des die Finanzsituation der die Allgemeinheit versorgen- Kollegen Gansel, bitte. den Betriebe, der Stadtwerke, nachdrücklich ge- schmälert würde? Norbert Gansel (SPD): Seit wann, Herr Staatssekre- tär, hat die Bundesregierung Kenntnisse über dieses Parl. Staatssekretär: Herr Dr. Reinhard Göhner, Projekt? Sind Sie insbesondere darüber informiert, Kollege, ich kann mir vorstellen, daß die Aufhebung daß, wie eine Sprecherin des Stuttgarter Landgerich- von Leitungsmonopolen in diesem Bereich dazu füh- tes bereits erklärt hat, dort wegen eines Verstoßes ren kann, daß mit diesem Wettbewerb zusätzlicher gegen das Außenwirtschaftsgesetz in diesem Zusam- Preisdruck entsteht. Ich finde, daß ein solcher Preis- menhang Anklage erhoben worden ist? Welche Maß- druck im Sinne des Verbrauchers und der Preisstabi- nahme hat die Bundesregierung ge troffen, um die lität durchaus erwünscht sein kann. deutsche Geschäftswelt, insbesondere die einschlä- gige Industr Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage des ie, davor zu warnen, sich auf ein „Rabta- Kollegen Kubatschka. 2-Projekt", bewußt oder unbewußt, einzulassen?

Horst Kubatschka (SPD): Herr Staatssekretär, hat Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr dann die Gemeinde überhaupt noch Entscheidungs- Kollege Gansel, Ihre drei Fragen darf ich wie folgt freiheit, ob eine Leitung in ihrem Gemeindegebiet beantworten — ich bitte Sie, mir zu helfen, falls ich verlegt werden kann, ja oder nein? jetzt einen Teil Ihrer Fragen vergesse —: Zunächst beziehe ich mich auf die Frage, seit wann uns Hin- Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Nicht mit weise dazu vorliegen. Die ersten vagen Hinweise, von der Möglichkeit, einen anderen Anbieter völlig aus- denen ich gesprochen habe — wenn ich es im Moment zuschließen. Die Planungshoheit selbst bleibt davon richtig sehe —, sind seit etwa anderthalb Jahren völlig unberührt. bekannt. Unverzüglich sind die notwendigen Maß- nahmen der Bundesregierung dazu ergriffen worden. Vizepräsident Helmuth Becker: Wir kommen jetzt Dazu gehörte auch, daß die zuständigen Stellen die zu den beiden Fragen des Kollegen Norbert Gansel. Staatsanwaltschaft informiert haben. Ob vor irgendei- Ich rufe Frage 38 auf: nem Gericht bereits eine Anklage erhoben worden ist, Hat die Bundesregierung Hinweise über die Beteiligung entzieht sich im Moment meiner Kenntnis. Es gibt deutscher Staatsbürger oder in der Bundesrepublik Deutschland tätiger Geschäftsleute am Bau von geheimgehaltenen Tun- jedenfalls Ermittlungsverfahren. nelanlagen oder an der Entwicklung von ABC-Waffen in Habe ich Ihre Fragen beantwortet? — Ich glaube, Libyen? ja. Herr Staatssekretär.

Parl. Staatssekretär: Herr Vizepräsident Helmuth Becker: Ich will noch einmal Dr. Reinhard Göhner, darauf aufmerksam machen: Fragen müssen kurz Kollege Gansel, der Bundesregierung liegen Informa- gestellt sein, und sie dürfen höchstens zweigeteilt tionen vor, nach denen Libyen in der Tat an der sein. Ich bitte, ein bißchen darauf zu achten. Es Entwicklung von Massenvernichtungswaffen und zu erleichtert uns die Arbeit. ihrer Ausbringung nutzbaren Trägersystemen arbei- ten und entsprechende Projekte auch in unterirdi- Der Kollege Gansel hat eine weitere Zusatzfrage, schen Tunnelanlagen errichten soll. Insbesondere soll bitte. nach diesen Informationen an einer unterirdisch angelegten zweiten Chemiewaffenanlage gearbeitet Norbert Gansel (SPD): Herr Staatsminister, — — werden. In diesem Zusammenhang gab es auch — wenn Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Keine auch vage — Hinweise auf eine angebliche Tätigkeit Adelung. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18419

Norbert Gansel (SPD): Pardon, ich hatte den ande- deutlich werden, daß wir mit dem von uns nach Rabta ren im Visier; es war eine Freudsche Fehlleistung. verschärften Exportkontrollrecht eines der strengsten Herr Staatssekretär, welche erheblichen Schwierig- und schärfsten Exportkontrollrechtssysteme in der keiten sind bei dem Bau dieses „Rabta-2-Projekts" in Welt haben, das auch in diesem Fall dazu beigetragen Libyen durch die Maßnahmen der Bundesregierung hat, daß, wenn dort tatsächlich eine unterirdische — von denen der Staatsminister beim Bundeskanzler, Chemiewaffenfabrik entsteht, dies nicht mit deut- Herr Schmidbauer, gesprochen hat — entstanden? schen Lieferungen erfolgt. Warum haben Sie nicht öffentlich die Alarmglocken Das, was hier das Problem ist und was Herr Kollege klingeln lassen, sondern statt dessen eine Diskussion Gansel in der weiteren Frage angesprochen hat, über die Liberalisierung des Rüstungsexportrechts betrifft den Punkt, inwieweit möglicherweise durch vom Zaun gebrochen? Tarnfirmen aus Drittländern Baugeräte und ähnliches für die Tunnelarbeiten aus Deutschland gekommen Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr sein könnten, aber nicht die Chemiewaffenfabrik Kollege Gansel, die Frage, welche Schwierigkeiten selbst. und wodurch sie in Libyen entstanden sind, möchte ich mit Ihrer vorherigen Frage nach den Maßnahmen Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage der Bundesregierung verbinden, die im Hinblick auf des Kollegen Kubatschka. die Information der be troffenen Wirtschaft ergriffen worden sind. Nach den Rabta-Vorgängen ist ein Horst Kubatschka (SPD): Herr Staatssekretär, Frühwarnsystem mit den beteiligten Verbänden und warum haben Sie denn nicht öffentlich Alarm geschla- Wirtschaftsorganisationen vereinbart worden. Über gen, nachdem Sie diese vagen Hinweise bekommen diesen Weg sind entsprechende Informationen sofort hatten? weitergegeben worden, als diese der Bundesregie- rung bekanntgeworden sind. Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Im übrigen ist es natürlich so, daß sich Libyen Kollege, es ist zu Recht Wert darauf gelegt worden, möglicherweise nach unseren zusätzlichen umfang- daß die zuständigen Behörden alle Möglichkeiten, die reichen rechtlichen und organisatorischen Maßnah- sich dabei ergeben, ausgeschöpft haben. Dazu men und Vorkehrungen nach Rabta darüber klar gehörte auch das, wie Sie es nennen: Alarmschlagen; gewesen ist, daß das, was unmittelbar zur Beschaffung wie ich es formuliert habe: Frühwarnsystem. Das ist einer etwaigen Chemiewaffenanlage erforderlich ist, eine Vereinbarung mit der Wirtschaft, über BDI, DIHT auch über Umwege nicht in Deutschland zu bekom- und andere Organisationen betroffene Unternehmen men ist. oder solche, die potentiell be troffen werden können, durch entsprechendes Nachfragen vorher darauf hin- (Norbert Gansel [SPD]: Warum haben Sie zuweisen und davor zu warnen, daß möglicherweise nicht öffentlich Alarm geschlagen? Das war solche Unternehmungen — etwa in Libyen — geplant doch die Frage!) werden. Es hat auch entsprechende Pressever- Vizepräsident Helmuth Becker: Keine Zwischenfra- öffentlichungen gegeben, soweit uns damals Informa- gen. Eine Zusatzfrage des Kollegen Bindig. tionen hierzu zur Verfügung standen.

Rudolf Bindig (SPD): Wer sind denn die in Ihrer Vizepräsident Helmuth Becker: Wir kommen nun ursprünglichen Antwort genannten zuständigen Un- zur Frage 39 des Kollegen Gansel. tersuchungsbehörden, an die Sie die Erkenntnisse (Gerd Poppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: weitergegeben haben? Ist das die Staatsanwaltschaft? Ich habe noch eine Zusatzfrage!) Haben Sie die Firmen angezeigt? -- Ich habe Sie nicht gesehen, Herr Poppe. Bitte eine Zusatzfrage. Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr Kollege, das ist zunächst einmal das Bundesministe- Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr rium der Finanzen, das Zollkriminalamt, das dazu Staatssekretär, sind Sie mit mir der Meinung, daß die nach Rabta eingerichtet worden ist, und bei Verdacht beschriebenen Vorgänge möglicher deutscher Betei- auf Straftaten die Staatsanwaltschaft. ligung an diesem Vorhaben die Auffassung rechtfer- tigen, daß die deutsche Außenwirtschaftsgesetzge- Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage des Kollegen Erler, bitte. bung einschließlich ihrer Restriktionen in der jetzigen Form erhalten bleiben muß und daß sie nicht, wie Gernot Erler (SPD): Herr Staatssekretär, welche mancherorts gefordert, aufgeweicht werden darf? Wirkungen hat denn die Tatsache, daß jetzt mögli- cherweise ein „Rabta 2" erneut mit deutschen Liefe- Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr ranten in der Weltöffentlichkeit in Verbindung Kollege, ich möchte noch einmal sagen, daß die gebracht wird? Welche Wirkung hat denn diese Tat- Bundesregierung nach Bekanntwerden des Baus der sache, die die Bundesregierung offenbar nicht verhin- ersten Kampfstoffabrik in Rabta in Libyen umfangrei- dern konnte, für ein Exportland wie Deutschl and und che rechtliche und organisatorische Vorkehrungen für die gegenwärtige Diskussion, die weltweit beach- zur wirksamen Verhinderung ähnlicher Vorgänge tet wird, über eine Liberalisierung der deutschen getroffen hat. Es ist nicht beabsichtigt, diese oder Rüstungsexportgesetze? andere gesetzliche Regelungen zu verändern. Der jetzt bekanntgewordene Fall bestätigt, daß wir uns Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr aus guten Gründen eines der s trengsten Exportkon- Kollege, ich denke, auch an diesem Beispiel wird trollrechtssysteme der Welt gegeben und dieses nach 18420 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Pari. Staatssekretär Dr. Reinhard Göhner dem Vorgang in Rabta noch einmal verschärft gen die NVA-Schiffe. Ich nehme an, daß das der haben. Hintergrund Ihrer Frage ist.

Vizepräsident Helmuth Becker Nunmehr kommen Vizepräsident Helmuth Becker: Jetzt stellt der Kol- wir zur Beantwortung der Frage 39 des Kollegen lege Koppelin eine Zusatzfrage. Gansel: Für welche Länder hat die Bundesregierung seit dem 1. Ok- Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Staatssekretär, darf tober 1990 welche Produktions- und Exportgenehmigungen für ich Sie fragen, ob Sie die Politik der Bundesregierung Kriegsschiffe nach dem Kriegswaffenkontroll- bzw. Außenwirt- nach wie vor für richtig halten, die 1991 den Bau eines schaftsgesetz erteilt? Hubschrauberträgers für Thailand — Wert 350 Millio- nen DM — abgelehnt hat, so daß dieser jetzt in Parl. Staatssekretär: Herr Dr. Reinhard Göhner, Spanien gebaut wird? Kollege Gansel, seit dem 1. Januar 1990 wurden für die Herstellungs- und Exportgenehmigungen Parl. Staatssekretär: Herr Länder Türkei, Po rtugal, Griechenland, Vereinigte Dr. Reinhard Göhner, Kollege, diese generelle Frage im Hinblick auf unser Arabische Emirate, Israel, Indonesien sowie Südkorea Exportrecht muß natürlich tatsächlich im Zusammen- treffen den kommerziellen erteilt. Diese Angaben be hang auch mit den Harmonisierungsbemühungen in Bereich des Kriegswaffenkontrollgesetzes. der Europäischen Union gesehen werden. Die Bun- desregierung ist dafür — soweit dies möglich ist —, Der Kollege Gansel Vizepräsident Helmuth Becker: eine Harmonisierung herbeizuführen. Sie wissen, daß stellt eine Zusatzfrage. es im Bereich der Dual-use-Güter entsprechende Richtlinienvorschläge gibt. Im übrigen Bereich des Norbert Gansel (SPD): Da ich nach den Produktions- und Exportgenehmigungen sowohl nach dem Kriegs- Exportrechtes sind wir leider noch weit von einer solchen Harmonisierung entfernt. waffenkontrollgesetz wie auch nach dem Außenwirt- schaftsgesetz gefragt habe, und dies für alle Länder Meine Damen und seit 1990, und da ich zugebe, daß die Beantwortung im Vizepräsident Helmuth Becker: Herren, wir sind damit am Ende der Beantwortung der Rahmen der mündlichen Fragestunde vielleicht etwas Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesmini- lang ausfallen würde, möchte ich Sie fragen, ob Sie sters für Wirtschaft. Ich danke Ihnen, Herr Staatsse- bereit sind, mir eine Aufstellung, unterschieden nach kretär Göhner, daß Sie hier waren. Kriegswaffenkontrollgesetzgenehmigungen und Au- ßenwirtschaftsgenehmigungen, nach Ländern und Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bun- nach Kriegsschifftypen, schriftlich zur Verfügung zu desministeriums für Familie und Senioren auf. Zur stellen. Das ist ja so allgemein, daß dadurch der Beantwortung steht uns Frau Parlamentarische Datenschutz nicht tangiert sein kann. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk zur Verfü- gung. Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Soweit Die Fragen 40 und 41 der Kollegin Anke Fuchs der Datenschutz nicht tangiert wird, kann dies erfol- (Köln) sollen schriftlich beantwortet werden. Die Ant- gen, Herr Kollege Gansel. Allerdings müssen wir worten werden als Anlage abgedruckt. dabei die bestehenden gesetzlichen Bedingungen Damit kommen wir zur Frage 42, die der Kollege beachten. Da es nur wenige Hersteller gibt, die dafür Gernot Erler gestellt hat: in Betracht kommen, müssen die Angaben so erfol- In welchen Bundesländern führt die Durchführung des Asyl- gen, daß keine Rückschlüsse auf einzelne Hersteller bewerberleistungsgesetzes zur Anwendung des Sachleistungs- möglich sind. prinzips auch für sogenannte privilegierte Asylbewerber und solche, die nicht in Sammelunterkünften untergebracht wer- den? Vizepräsident Helmuth Becker: Der Kollege Gansel stellt eine weitere Zusatzfrage. Bitte, Frau Staatssekretärin.

Norbert Gansel (SPD): Nehmen Sie es mir nicht Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin bei übel, aber wenn die U-Boote geliefert sind, weiß m an, der Bundesministerin für Familie und Senioren: Herr wo sie herkommen, es sei denn, Sie wollen wie bei der Kollege Erler, kann ich davon ausgehen, daß Sie unter „Südafrika-Kiste „ das Design so verändern, daß die „sogenannten privilegierten Asylbewerbern" den Herkunft vernebelt wird. Es sind ja große Kriegs- Personenkreis verstehen, der unter § 2 des Asylbewer- schiffe, die auf Paraden vorgeführt werden können. berleistungsgesetzes fällt, also die sogenannten Alt- Da können Sie uns doch mitteilen, an welche Staaten, fälle, deren Verfahren länger als zwölf Monate gedau- auf welcher Grundlage und zu welchem Zeitpunkt sie ert haben, bestimmte Geduldete, die auf Grund von von der Bundesrepublik geliefert worden sind. behördlichen Maßnahmen hierbleiben, und einen Teil der Bürgerkriegsflüchtlinge, die noch im Verfah- Dr. Reinhard Göhner, Parl. Staatssekretär: Herr ren sind? — Gut, dann kann ich Ihnen wie folgt Kollege Gansel, ich darf noch einmal sagen: Die antworten: erfragten Angaben habe ich Ihnen gemacht. Sie Herr Kollege Erler, auf eine Umfrage des Bundes- haben nach den Produktions- und Exportgenehmi- ministeriums für Familie und Senioren nach der Form gungen gefragt. Offensichtlich meinen Sie das, wie der Leistungen für den Personenkreis des § 2 des ich Ihrer Erläuterung entnehme, nicht kumulativ, Asylbewerberleistungsgesetzes bei den für die sondern es geht Ihnen auch um die Fälle, in denen es Durchführung dieses Gesetzes zuständigen Ländern nur um Exportgenehmigungen, also nicht um Produk- haben bisher nicht alle Bundesländer geantwortet. Ich tionsgenehmigungen geht. Das be trifft vor allen Din- sage Ihnen gleich, wer geantwortet hat: Baye rn, Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18421

Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nie- daß bei rechtswidriger Anwendung des Gesetzes die dersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thürin- Kosten vom Land nicht erstattet werden. Das heißt, es gen. ist den kommunalen Stellen mitgeteilt worden, daß sie Nach den Ergebnissen, die wir erhalten haben, bei rechtswidrigem Verhalten damit rechnen müssen, werden dem Personenkreis des § 2 Sachleistungen von den Ländern die Kosten nicht ersetzt zu bekom- sowohl in Einrichtungen als auch außerhalb von men. Einrichtungen in den Ländern Bayern, Mecklenburg Im übrigen ist es so, daß auch die Länder ihrerseits Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thürin- fachaufsichtliche Weisungen an die Sozialämter, die gen gewährt. In Bremen werden Sachleistungen an zuständigen Behörden auf der kommunalen Ebene, diesen Personenkreis erbracht, der in Einrichtungen gegeben haben. Uns liegen keine Anhaltspunkte vor, untergebracht ist. In Niedersachsen werden an den die darauf hindeuten, daß irgendwo rechtswidrig Personenkreis des § 2 unabhängig von der Unterbrin- verfahren wird. gung überwiegend Geldleistungen erbracht. Als Soweit die Länder in ihren Berichten — sie haben Sachleistungen werden allerdings teilweise Unter- einen detaillierten Fragebogen erhalten — Erfahrun- kunft, Heizung sowie Gebrauchs- und Verbrauchsgü- gen mitteilen, wie sich die einzelnen Leistungsformen ter des Haushalts gewährt. im Einzelfall darstellen, können wir feststellen, daß Die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungs- bei Wertgutscheinen offenbar positive Erfahrungen gesetz an die übrigen Leistungsberechtigten — also vorliegen. Dasselbe gilt für die Verwendung von nicht die des § 2 — , die nicht in Sammelunterkünften Kundenkontoblättern. Nur die Hansestadt Bremen untergebracht sind, werden in Form von Sachleistun- berichtet, daß es in bestimmten Fällen mit Kosten- gen und Wertgutscheinen, zum Teil auch als Geldlei- übernahmescheinen Schwierigkeiten gegeben habe. stungen erbracht. Ein detaillierter Überblick hierüber Das ist das, was ich Ihnen an Erfahrungen mitteilen liegt der Bundesregierung noch nicht vor. Das hängt kann, die uns auf unsere Anfrage hin bekanntgewor- mit der kurzen Zeitspanne zusammen, seitdem das den sind. Gesetz in Kraft getreten ist. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Erler, Herren, in der Fragestunde ist es eigentlich Vorschrift, daß Fragen kurz sein und eine kurze Antwort ermög- Zusatzfrage. - lichen müssen. Ich bitte, mich dabei zu unterstützen, Gernot Erler (SPD): Frau Staatssekretärin, wie beur- daß wir die Richtlinien einhalten können. teilt denn die Bundesregierung die Folgen für die Bitte, Kollege Erler. Betroffenen, die daraus entstehen, daß, wie aus Ihrer Antwort hervorging, eine völlig unterschiedliche Gernot Erler (SPD): Frau Staatssekretärin, Ihre Aus- Handhabung des Asylbewerberleistungsgesetzes in führungen zum Kostendruck von seiten der Länder den verschiedenen Bundesländern vorgenommen — das beobachte ich — führen eher dazu, daß der wird, zumal, wie ich hinzufüge, auch noch dadurch, Kreis derer, die Sachleistungen erhalten sollen, aus- daß die weitere Ausfüllung dieses Gesetzes teilweise gedehnt worden ist. Wie beurteilen Sie etwa die den Bundesländern überlassen wird, und durch eine Tatsache, daß in Sammelunterkünften Asylbewerber, Delegierung von Verantwortung an die Kreise und die bis zwölf Monate, und solche, die über zwölf Städte eine noch weitere Differenzierung erfolgt? Monate in der Bundesrepublik verweilen, unter- schiedslos Sachleistungen erhalten, daß darüber hin- Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin: Herr aus durch Interpretation des Gesetzes einfach jede Kollege, ich habe Ihnen ja jetzt geantwortet im Hin- — auch private — Unterkunft, in der nur eine einzige blick auf den von Ihnen als „sogenannte privilegierte Familie oder eine einzelne Person wohnt, zur Sammel- Asylbewerber" bezeichneten Personenkreis, bei dem unterkunft erklärt wird und damit unter das Asylbe- ja die folgende Sondersituation vorliegt: Es gibt keine werberleistungsgesetz im Sinne der Sachleistung abgesenkten Leistungen, sondern es gibt dieselben fällt? Ist das nach Ihrer Auffassung auch kein Verstoß Leistungen, wie sie nach dem BSHG auch deutsche gegen Sinn und Zweck des Gesetzes? Sozialhilfeempfänger erhalten. Die Mehrzahl der Länder, die bisher geantwortet haben — die anderen Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin: Ich werden das in Kürze tun —, verfahren auch bei diesem sagte ja schon, daß das Gesetz ein mehrstufiges Personenkreis so, daß sie überwiegend Sachleistun- Verfahren vorsieht, das einen Ermessensspielraum gen erbringen. In anderen Ländern differenziert man auf der kommunalen Ebene zuläßt, wobei zunächst nach der Frage, ob die Personen in Einrichtungen oder einmal Sachleistungen zu erbringen sind. Nur in den außerhalb von Einrichtungen untergebracht sind. Sie Fällen, wo Schwierigkeiten mit Sachleistungen, ins- wissen aber sicher, daß im Gesetz die Möglichkeit besondere unwahrscheinlicher Verwaltungsaufwand offengehalten worden ist, in einem mehrstufigen Ver- oder andere unzumutbare Situationen eintreten, sind fahren da, wo Sachleistungen für eine Verwaltung dann die weiteren Möglichkeiten, die ich schon kaum in einer vernünftigen Weise erbracht werden genannt habe, vorgegeben. können, Wertgutscheine oder auch in bestimmten In der Diskussion im zuständigen Ausschuß für Fällen Geldleistungen zu gewähren. Familie und Senioren ist von den Abgeordneten sehr Ich kann nur sagen, daß sich in den Unterlagen, die wohl deutlich gemacht worden, daß eine unterschied- wir bisher vorliegen haben, nirgendwo Anhalts- liche Behandlung von Personen, die in Sammelunter- punkte für eine rechtswidrige Praxis ergeben. Drei künften sind, nicht sehr sinnvoll und wünschenswert Länder haben beispielsweise darauf hingewiesen, ist, weil sie natürlich zu psychologischen Belastungen 18422 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk und zu Schwierigkeiten unter den Betroffenen führen Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin: Herr kann. Insoweit würde ich persönlich sagen, daß es Kollege Erler, der Bundesregierung liegen zur Zeit vernünftig ist, wenn Personen, die in derselben Sam- noch keine umfassenden Erfahrungen mit dem Asyl- melunterkunft sind, auch in der gleichen Weise ihre bewerberleistungsgesetz vor — ich habe es schon

Zuwendungen erhalten. gesagt — , aus denen sich gegebenenfalls ein Nach- besserungsbedarf ergeben könnte. Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage der Die Bundesregierung steht seit der Beschlußfassung Kollegin Christel Hanewinckel. über das Gesetz in Kontakt mit den Ländern und verfolgt die Umsetzung des Gesetzes. Um sich einen Christel Hanewinckel (SPD): Frau Parlamentarische genaueren Überblick und Aufschluß über den aktuel- Staatssekretärin, ich kann mich erinnern, daß der len Stand der Umsetzung zu verschaffen, hat mein Personenkreis des § 2 u. a. ja wohl die betrifft, die Haus im Dezember letzten Jahres — auch das habe ich länger als zwölf Monate im Asylbewerberverfahren in schon gesagt — einen umfangreichen Fragenkatalog der Bundesrepublik Deutschland sind. Dieser Perso- an die Länder gerichtet. nenkreis soll nach dem BSHG behandelt werden. Das Das angestrebte Informationsziel konnte jedoch heißt doch, daß sie aus dem Leistungsanspruch dieses bisher nicht erreicht werden, da, wie ich schon sagte, Gesetzes herausfallen, und das bedeutet meines lediglich acht Länder auf die einzelnen Fragestellun- Erachtens dann auch — ich frage Sie, ob das nicht gen eingegangen sind, so daß ein umfassender und auch Ihrer Meinung nach so sein müßte —, daß sie aussagekräftiger Sachstandsbericht bisher leider nach den Richtlinien des BSHG ihre Leistungen noch nicht vorliegt. bekommen und nicht nach dem Asylbewerberlei- stungsgesetz. Von einigen Ländern stehen die Antworten noch aus, andere Länder sehen sich vor allem wegen der Kürze der Zeit nach dem Inkrafttreten am 1. Novem- Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin: Die Höhe der Leistungen richtet sich in dem Fall nach dem ber 1993 bisher noch nicht in der Lage, zu berichten. BSHG. Es sind also keine verkürzten Leistungen. Ich weiß z. B., das Land Nordrhein-Westfalen hat die Fragen an die Bezirksregierungen weitergegeben, die Zur Art und Weise, wie diese Leistungen erbracht dann wiederum als Zwischeninstanz weiter nach werden: Ich sagte schon, insbesondere da, wo es sich unten recherchieren. Dieser Verfahrensweg führt um Sammelunterkünfte handelt, können es durchaus natürlich zu einem längeren Zeitraum, bevor Antwor- Sachleistungen sein. Die Länder, die berichtet haben, ten vorliegen. daß sie so verfahren, haben damit auch keine negati- ven Erfahrungen gemacht. Die Bundesregierung steht aber weiterhin in Kon- takt mit den Ländern, insbesondere auch wegen der Ich weiß, Sie waren ja selbst bei der Diskussion Frage, ob gesetzliche Änderungen notwendig sind. dabei. Wenn ich mich recht erinnere, kam auch aus Auch diese Frage ist an die Lander gerichtet wor- dem Kollegenkreis Ihrer Fraktion die Frage auf, wie den. sich die Situation psychologisch entwickelt, wenn in derselben Sammelunterkunft die einen so und die Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage des anderen so behandelt werden, die einen also einen Kollegen Erler. geringeren Geldbetrag bar ausgehändigt bekommen und die anderen über die gesamten Mittel verfügen (SPD): Frau Staatssekretärin, ist für die können. Gernot Erler Meinungsbildung der Bundesregierung ausschließ- lich relevant, welche Rückläufe von den Ländern Eine Zusatzfrage Vizepräsident Helmuth Becker: kommen, oder nimmt die Bundesregierung auch zur der Frau Kollegin Andrea Lederer. Kenntnis, welche Ereignisse im öffentlichen Raum stattfinden, z. B. teilweise flächendeckende Hunger- (PDS/Linke Liste): Frau Staatsse- Andrea Lederer streikaktionen der betroffenen Asylbewerberkreise, kretärin, ist der Bundesregierung bekannt, in welchen z. B. erhebliche Protestaktionen von Helferkreisen Ländern, in denen nach den jetzt vorliegenden Ant- aus der Bevölkerung für die be troffenen Asylbewer- worten Sachleistungen erbracht werden, klageweise ber, z. B. Klagen von Ärzten, die nicht hinnehmen gegen diese Regelung vorgegangen wird? wollen, daß sie inzwischen chronische Erkrankungen nicht mehr behandeln dürfen und überhaupt jede Parl. Staatssekretärin: Nein, Roswitha Verhülsdonk, Behandlung kostenmäßig anmelden müssen? Nimmt das ist uns nicht bekannt. Der Fragebogen, den wir die Bundesregierung solche Aktionen und Reaktio- verschickt hatten, hat die Frage nach Klagen nicht nen gar nicht zur Kenntnis? enthalten. Es ist mir also nicht bekannt, daß da Meldungen vorliegen. Das wird sicher in der Realität Parl. Staatssekretärin: Zu- so sein, aber ich kann Ihnen die Frage nicht beantwor- Roswitha Verhülsdonk, nächst einmal zur gesetzlichen Lage: Beim Asylbe- ten. werberleistungsgesetz h andelt es sich wie beim Bun- dessozialhilfegesetz um ein Bundesrahmengesetz. Nun kommen wir Vizepräsident Helmuth Becker: Die Ausführung und Durchführung dieses Gesetzes zur Frage 43 des Kollegen Gernot Erler: obliegt den Ländern bzw. den kommunalen Sozialäm- Wie beurteilt die Bundesregierung die bisherigen Erfahrun- tern. gen mit der Anwendung des Asylbewerberleistungsgesetzes, und wo sieht sie gegebenenfalls einen Nachbesserungsbe- Im Hinblick auf die Anwendung des Gesetzes sind darf? also andere zuständig. Deswegen haben wir — wie ich Bitte, Frau Staatssekretärin. schon sagte — bei denen nachgefragt, ob es Anwen- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18423

Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk dungsschwierigkeiten gibt und ob gegebenenfalls die Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie Länder einen Reformbedarf sehen. Ich habe Ihnen und Senioren. Frau Parlamentarische Staatssekretärin geantwortet, daß das bisher in qualifizierter Form oder Verhülsdonk, ich bedanke mich, daß Sie hier überhaupt in irgendeiner Form nicht geltend gemacht waren. worden ist. Meine Damen und Herren, wir sind damit gleichzei- Das hat sicher auch etwas mit dem Zeitablauf zu tun, tig auch am Ende der Fragestunde. Die noch vorlie- den ich auch gerade erwähnt habe. Natürlich nehmen genden Fragen aus den Geschäftsbereichen des Bun- wir die Pressemeldungen zur Kenntnis, die Sie zum desministeriums für Verkehr und des Bundesministe- Teil angeführt und zitiert haben. Deswegen haben wir riums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit uns an die zuständigen Behörden in der Frage werden nach unserer Geschäftsordnung schriftlich gewandt: Gibt es Anwendungsschwierigkeiten? beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Vizepräsident Helmuth Becker: Zusatzfrage des Kollegen Erler. Ich rufe nunmehr Zusatzpunkt 2 der Tagesordnung auf: Gernot Erler (SPD): Frau Staatssekretärin, was beabsichtigt denn die Bundesregierung mit diesen Aktuelle Stunde umfangreichen Fragebogenaktionen gegenüber den auf Verlangen der Gruppe der PDS/Linke Ländern? Wollen Sie das nur für Ihren Schreibtisch Liste und für Ihre Akten haben, oder werden Sie daraus Schlußfolgerungen insofern ziehen, als Sie eine Haltung der Bundesregierung zum ersten Zusammenfassung des Berichts an den zuständigen NATO-Kampfeinsatz seit 1949 und zur Beteili- Ausschuß zur Beratung geben, so daß auf diese Weise gung der Bundeswehr auch das Parlament mit den Erfahrungen, die wir Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst insgesamt mit dem Asylbewerberleistungsgesetz ha- unserer Frau Kollegin Andrea Lederer das Wort. ben, vertraut wird?

Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin: Ich denke, der Bericht, wenn er vorläge, würde mir z. B. Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Herr Präsident! die Möglichkeit geben, Ihre Fragen noch genauer zu Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will, bevor wir beantworten. Er wird uns auch in den Stand setzen, uns dem eigentlichen Thema der heutigen Aktuellen die Fragen im Ausschuß entsprechend zu behandeln. Stunde widmen, eine Bemerkung machen: Wir begrü- Er wird uns vor allen Dingen aber auch im Gespräch ßen es, daß die russische Initiative dazu geführt hat, mit den Ländern die Möglichkeit geben, Umsetzungs- einen NATO-Einsatz um Sarajevo zu verhindern, aber schwierigkeiten zu erkennen und festzustellen, ob auch dazu, daß die Waffen in und um Sarajevo diese Umsetzungsschwierigkeiten durch eine gesetz- — weitgehend wenigstens — schweigen. Wir begrü- liche Änderung oder etwa durch andere Maßnahmen ßen auch die Initiative, mit der es gelungen ist, ein behoben werden können, beispielsweise dadurch, Abkommen zwischen der kroatischen und der bosni- daß ein Informationsaustausch zwischen den einzel- schen Republik zu schließen, um so in vielen Fragen nen Ländern zustande kommt, den wir beschleunigen einer Friedensregelung vielleicht ein bißchen näher- und befördern könnten, so daß Länder, die bei ihrem zukommen. Verfahren keine Probleme feststellen, dann auch im Zweifellos ist der Verstoß gegen das Flugverbot Kreise der Vertretungen der Länder ihre Erfahrungen durch serbische Kampfflugzeuge ein eskalierender weitergeben können. Akt gewesen, ebenso wie auch die zahlreichen Ver- stöße seit dem 31. März 1993. Aber es gibt dennoch Vizepräsident Helmuth Becker: Eine Zusatzfrage einige Fragen, die, wie wir meinen, in der Öffentlich- der Frau Kollegin Christel Hanewinckel. keit diskutiert werden sollten und über die auch in dieser Woche nicht ohne Debatte hinweggegangen Christel Hanewinckel (SPD): Frau Parlamentarische werden kann. Staatssekretärin, sind Ihnen Fälle von Asylbewerbe- rinnen bekannt, die schwanger sind und einen Die erste Frage, die sich aufdrängt, ist: Warum jetzt? Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen wol- Warum der Abschuß der Maschinen, kurz nachdem len, wobei es Probleme schon im Vorfeld mit der durch die russische Initiative erstmals ein kleiner Beratung gibt, aber auch mit der Finanzierung des Hoffnungsschimmer für eine politische Lösung am Schwangerschaftsabbruches, der j a im Leistungskata- Horizont erschienen ist? Warum jetzt, nachdem es log des Asylbewerberleistungsgesetzes z. B. so nicht diese Verstöße so zahlreich gegeben hat? Heißt dies vorgesehen ist? möglicherweise, daß das Motiv darin besteht, daß die NATO-Staaten mit diesem Kampfeinsatz gegenüber Roswitha Verhülsdonk, Parl. Staatssekretärin: Ja, es Rußland die Initiative zurückgewinnen wollten? sind solche Fälle bekannt geworden, und es sind auch Wenn das der Fall wäre — und ich erwarte hier eine entsprechende Vorkehrungen getroffen worden, ins- Antwort der Bundesregierung —, dann wäre dieser besondere im Hinblick auf die Information an die Kampfeinsatz ein schlimmes machtpolitisches Spiel Länder, daß Beratungen und Schwangerschaftsab- mit dem Feuer. Wenn der Flugzeugabschuß Hand- brüche in bestimmten Fällen stattfinden können. lungsinitiative zurückerobern soll, dann kann dies auch nach sich ziehen — und das ist eben genau die Vizepräsident Helmuth Becker: Wir sind damit am Gefahr und das Risiko, das hätte einkalkuliert werden Ende der Beantwortung der Fragen aus dem müssen —, daß eine Art neue Blockkonfrontation 18424 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Andrea Lederer entsteht. Ein solcher Weg kann nicht allen Ernstes als eindeutig: Ihre Hauptdevise ist, Fakten zu schaffen — friedensfördernd be trachtet werden. Hauptsache, man ist dabei. Zweitens. Der NATO-Einsatz hat im besonderen ( [CDU/CSU]: Friedensfakten Maße auch einen innenpolitischen Aspekt. Bundesau- schaffen!) ßenminister Kinkel hat mitgeteilt, daß Bundeswehr- Dies versuchen Sie mit allen Mitteln, egal, ob es in soldaten an diesem Einsatz beteiligt waren. Wie viele diesem Parlament eine Mehrheit gibt oder nicht, eigentlich genau, wirklich nur einer, oder waren es (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Sie doch mehr? reden einen Stuß, das ist wirklich unerträg (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Kommen Sie in lich!) den Ausschuß und fragen Sie, dann erfahren egal, wie die überwiegende Mehrheit in der Bevölke- Sie das!) rung denkt, Wußte die Bundesregierung vor dem Kampfeinsatz, (Ulrich Irmer [F.D.P]: Die Mehrheit gab es daß ein Bundeswehrsoldat beteiligt werden soll? Hat doch! Die gibt es auch jetzt!) sie zu verhindern versucht, daß dieser Soldat beteiligt egal, wie Karlsruhe entscheidet, egal, wie die Grund- wird? gesetzinterpretation seit 40 Jahren ist. (Zuruf von der CDU/CSU: Haben Sie eigent (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Egal, lich die Entscheidung von Karlsruhe gelesen wie viele sterben! Das ist Ihnen völlig oder nicht?) egal!) Wann, wo und mit welchem Inhalt hat sie interve- Sie versuchen, durchzupeitschen, was Sie in Ihren niert? Gesetzentwürfen etc. vorgeschlagen haben. (Weitere Zurufe von der CDU/CSU) (Uta Würfel [F.D.P.]: Was heißt hier durch — Sie können ja gleich antworten! — Hat sie diese peitschen? Das sind Kampfparolen!) Frage im nachhinein mit den Bündnisstaaten bespro- Das wiederum ist ein eindeutiger Schritt in Richtung chen? Soll das künftig ausgeschlossen werden, zumin- Militarisierung der Außenpolitik. dest bis in der Hauptsache durch Karlsruhe entschie- den worden ist? (Widerspruch bei der CDU/CSU) - Ich will zum Schluß noch einen Aspekt anspre- Damit komme ich auf den dritten Punkt zu sprechen, chen: die verfassungsrechtliche Lage. Dieser Kampfeinsatz unter Beteiligung der Bundeswehr ist ein klarer Ver- (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Ja, komm zum stoß gegen die Verfassung. Schluß!) Mit der Beteiligung der Bundeswehr an diesem (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Das ist doch Kampfeinsatz widerspricht die Bundesregierung all Unsinn!) ihren eigenen Erklärungen, daß gerade in Jugosla- Es handelt sich erstens eindeutig um einen Kampfein- wien eine Beteiligung an Kampfeinsätzen seitens der satz, zweitens eindeutig um einen Kampfeinsatz Bundeswehr auf Grund der historischen Erfahrung außerhalb des Bündnisgebietes — und zwar den nicht in Betracht kommt. Ich zitiere den Kanzler. ersten der NATO seit ihrem Bestehen —, und an ( [CDU/CSU]: Aber rich diesem Kampfeinsatz war eindeutig die Bundeswehr tig!) beteiligt. Es bleibt aber trotzdem, auch wenn wir jetzt die (Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]: Ha Verfassungsänderung hätten, ben Sie schon einmal etwas vom Verfas — „hätten" wohlgemerkt, so die Interpretation des sungsgericht gehört, gnädige Frau?) Bundeskanzlers, wie er sie sich wünscht — Dies bedeutet: Die Bundesregierung nimmt nicht eine Frage, ob nach den historischen Abläufen einmal die einstweilige Entscheidung aus Karlsruhe der Jahre '41 bis '45 jetzt ausgerechnet die ernst, nach der nämlich, entgegen der Erklärung aus Deutschen die richtigen Partner sind. Ich komme manchen Regierungsmündern, nicht festgeschrieben auf den Punkt. Ich sage das jetzt einmal ganz ist, daß das alles wunderbar von Karlsruhe gedeckt ist. allgemein auf Kampftruppen bezogen: Ich bin Vielmehr ist eindeutig festgeschrieben: Bis zur Ent- nicht dafür. Ich habe das immer gesagt. Ich scheidung in der Hauptsache ist diese Frage offen, glaube, die Geschichte ist hier noch ganz leben- nicht geklärt. dig. (Uta Würfel [F.D.P.]: Falsch!) Auch ich glaube, die Geschichte ist ganz lebendig. Das heißt in diesem Fall: Die Bundesregierung hat offenkundig wissentlich entschieden, wiederum die Frau Lederer, Ihre schärfere Gangart einzuschlagen, also sich an Kampf- Vizepräsident Helmuth Becker: einsätzen zu beteiligen, anstatt mit solcherlei Aktivi- Redezeit ist abgelaufen, längst abgelaufen. täten zu warten, bis Karlsruhe eindeutig entschieden hat. Andrea Lederer (PDS/Linke Liste): Ich komme zum Sie wissen, daß wir derlei Kampfeinsätze ablehnen, Ende. — Diese Äußerung datiert vom 17. Februar daß wir weiterhin vehement Widerstand gegen diese dieses Jahres. Zwei Wochen später ist das Gegenteil ganze Entwicklung leisten werden. Aber es zeigt die Realität. Das ist der Kurs der Bundesregierung: Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18425

Andrea Lederer Falsche Behauptungen und anschließend versuchen, Interessant ist die Reaktion der politischen Kräfte in die Positionen durchzupeitschen, egal wie. der Bundesrepublik Deutschland im Nachklang zu Danke. diesem Einsatz. Vielleicht darf ich als ein Beispiel dafür im ernstzunehmenden Bereich — damit meine (Beifall bei der PDS/Linke Liste) ich die SPD — (Karl Lamers [CDU/CSU]: Begrenzt! Be- Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und grenzt!) Herren, machen Sie es mir doch nicht besonders schwer. In der Aktuellen Stunde, so heißt es — das den Kollegen Opel heranziehen. Die Redner der SPD kann jeder nachlesen —, darf jeder bis zu fünf haben ja Möglichkeiten, sich von seinen Äußerungen Minuten reden, nicht mehr als fünf Minuten. in dieser Debatte zu distanzieren. Nun hat als nächster unser Kollege Paul Breuer das Herr Opel führt folgendes aus. Er ist der Meinung, Wort. daß die Beteiligung der Bundeswehr an dem AWACS-Einsatz — also an dem Feuerleiteinsatz — verfassungswidrig sei. Nun wollen wir darüber nicht Paul Breuer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine weiter streiten. Lassen wir das einmal dahingestellt. Damen und Herren! Am 28. Februar 1994 haben die Völkergemeinschaft und die NATO durch einen Mili- (Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD]: Auch täreinsatz nach meiner Einschätzung die F.D.P.!) (Zuruf von der CDU/CSU: Nach unserer Er sagt: Ich bin für diesen Einsatz, ich unterstütze ihn Einschätzung!) moralisch. Aber dann sagt er etwas, was mir sehr seltsam vorkommt. Er sagt nämlich, die Verfassung ein klares politisches Signal gesetzt — das klare müsse deshalb so schnell wie möglich geändert wer- politische Signal, daß man nicht weiter bereit ist, den, und das fordere die SPD seit Monaten. ständige Überschreitungen und ständiges Vergehen gegen Resolutionen der Vereinten Nationen seitens (Freimut Duve [SPD]: Darum ist Kinkel nach der Kriegsparteien im ehemaligen Jugoslawien, hier Karlsruhe gegangen!) insbesondere seitens der Serben, zu dulden. Meine Damen und Herren Kollegen von der SPD, Frau Kollegin Lederer, ich glaube, daß im Vorder- dann lassen Sie uns doch darüber abstimmen! grund der deutschen Auseinandersetzung- nicht die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Frage der Verfassungsmäßigkeit stehen darf, auch Der Vorschlag der Koalition liegt auf dem Tisch. wenn sie natürlich eine Rolle spielen muß. Im Vorder- grund stehen muß vielmehr, ob den Menschen im Nur, wenn ich jetzt Ihren Vorschlag gewichte, der ehemaligen Jugoslawien und dem Friedensprozeß auf dem Tisch liegt, dann ist es doch wohl eindeutig, eine Chance eingeräumt werden kann. daß er einen solchen Einsatz nicht zuließe. Er ließe einen solchen Einsatz nicht zu! Ich denke, Sie müssen (Beifall bei der CDU/CSU) sich jetzt aus dem Zwielicht herausbewegen. Sie Es besteht kein Grund, meine Damen und Herren, sagen Ihren eigenen Parteileuten zum Teil — — über diesen Militäreinsatz zu jubeln — fürwahr nicht —, aber es besteht durchaus Grund zu glauben, (Freimut Duve [SPD]: Das hilft den Bos daß ein klares Signal gesetzt worden ist, daß die niern?) Völkergemeinschaft entschlossen ist, zum einen — Herr Duve, das wissen Sie doch besser als ich. Sie durch diesen Einsatz der NATO eine weitere Eskala- sagen Ihren eigenen Parteileuten zum Teil: Der Par- tion nicht zuzulassen und zum zweiten nun um so teitagsbeschluß läßt Kampfeinsätze der Bundeswehr stärker den politischen Prozeß für einen Friedensplan nicht zu. in Bosnien zu befördern. Ich weiß natürlich, daß dies in der deutschen politi- schen Diskussion manchen absolut nicht in den Kram Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege paßt. Die Frage, inwieweit ein militärischer Einsatz Breuer, Ihre Redezeit ist beendet. ein zulässiges politisches Mittel ist, ist in der deut- schen Diskussion nicht nur in der jüngsten Vergan- genheit, sondern im Prinzip in der Nachkriegsvergan- Paul Breuer (CDU/CSU): Ich bin gerade fertig. — genheit Deutschlands immer umstritten gewesen. Herr Scharping geht zur Wehrkundetagung in Mün- (Andrea Lederer [PDS/Linke Liste]: Das chen und sagt: Die Position der SPD nähert sich der der stimmt ja überhaupt nicht!) Bundesregierung an; wir sind außenpolitisch hand- lungsfähig. Aber, ich denke, daß hier an diesem Beispiel sehr deutlich wird, welche Dimension Streitkräfte als poli- Entweder kann das eine der Fall sein, oder das tisch kontrolliertes Mittel zur Beförderung eines andere kann der Fall sein. Das, was Herr Opel sagt, Friedensprozesses haben können. Das ist die Hoff- kann aber überhaupt nicht der Fa ll sein. nung, die ich mit diesem Einsatz verbinde; denn die (Beifall der Abg. Uta Würfel [F.D.P.]) Serben scheinen — das wird deutlich in den letzten Ich bitte, in dieser Debatte aufzuklären — und zwar Tagen — ein Stück weit begriffen zu haben, daß das vor der deutschen Öffentlichkeit —, wie diese Wirr- diplomatische Katz-und-Maus-Spiel, das sie ja nicht nisse innerhalb der SPD denn zu verstehen sind. nur mit ihren eigenen Landsleuten betreiben, sondern mit der ganzen Welt — nicht nur mit der westlichen Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Welt —, vorbei ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 18426 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Vizepräsident Helmuth Becker: Also, noch einmal Aber der Frieden, der jetzt seine Ch ance hat, bleibt mein Appell: bis zu fünf Minuten. ein Siegfrieden. Die serbische Seite hat die meisten Nun hat das Wort der Kollege Freimut Duve. ihrer Kriegsziele erreicht. Daß die Bitterkeit der Ver- lierer nicht zur Quelle für neue Konflikte wird, hängt (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Duve erklärt jetzt auch davon ab, wie wir jetzt mit den Bosniern, den alles! Moslimen und Kroaten, umgehen und wie wir ihnen bei der Ausführung dieses ersten Schritts von Washington helfen. Freimut Duve (SPD): Herr Präsident! Meine Damen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der und Herren! Wie wir mit den Ereignissen der letzten F.D.P.) Tage in Bosnien umgehen und was wir dazu sagen, wie wir darauf reagieren, das ist unsere Sache, Herr Der Abschluß des Föderations- und Konfödera- Breuer, und das bleibt auch unsere Sache. tionsabkommens ist erst unter dem Eindruck der festen Haltung der UNO möglich geworden. Das (Paul Breuer [CDU/CSU]: Aber die Öffent sagen uns die deutschen Partner aus dem Auswärti- lichkeit interessiert das schon!) gen Amt, die an diesen Gesprächen in Washington Die Gewehrschüsse von Sarajevo hatten den Ersten teilgenommen haben. Kroaten und Moslems haben Weltkrieg ausgelöst. Viele Kommentatoren sagen sich geeinigt — ich nenne einige wichtige Punkte —: jetzt, daß die Abschüsse von Banja Luka, die — da Erstens werden Grenzen nicht verändert. Auch die haben Sie völlig recht — niemand bejubeln darf, Krajina, jetzt von serbischem Militär besetzt, gehört vielleicht die Chancen zum Frieden verbessert haben. weiter zum kroatischen Staat. Zweitens. Zwischen der Wir reden nicht über Vorstufen zum Krieg. Wir reden Föderation und Kroatien wird ein Verbund entstehen, über die Chance zum Ausstieg aus einem Krieg, der der auf die Einverleibung der Herzegowina verzich- bald halb so lange dauert wie der Erste Weltkrieg, der tet, aber die intensive Zusammenarbeit regelt. Drit- in Sarajevo angefangen hatte. tens. Serbien ist eingeladen, die bosnischen Serben sind eingeladen, an dieser schwierigen Konstruktion Warum jetzt die allgemeine Zustimmung zu den mitzuwirken. Bisher haben wir keine total ablehnen- Ereignissen über Banja Luka? Erstens. Der Abschuß den Signale. war die Reaktion auf eine Entschließung des Weltsi- Außerdem haben wir die reale Chance, daß der cherheitsrates. Sie hatte eine genau umgrenzte- recht- liche und völkerrechtliche Grundlage, die in der Flughafen von Tuzla geöffnet wird. Sie werden ver- ganzen Welt, auch von allen Parteien in diesem Land, stehen, daß ich persönlich mich darüber besonders akzeptiert worden war. Zum erstenmal hat es eine freue, denn ich habe mir erlaubt, dies vor einem Jahr geradezu präzise Ausübung übernationalen Gewalt- als Forderung in den Bundestag einzubringen. Der monopols gegeben, das nicht weltweit kritisiert Einsatz von etwa 50 russischen Militärbeobachtern ist wurde. geplant. Ich mache darauf aufmerksam, daß dies bereits eine Planung aus dem Dezember ist. Wer da Zweitens. Der Abschuß fand unter der politischen jetzt etwas anderes unterstellt, daß die Russen da nun Kontrolle einer übernationalen Organisation statt. plötzlich sein wollen, irritiert die Situation. Es ist unter Drittens. Die Abschüsse wurden nicht, auch tech- Zustimmung von allen bereits im Dezember ausge- nisch nicht, von einem einzigen Nationalstaat ausge- macht worden, daß auf dem Flughafen von Tuzla auch führt, sondern vom integrierten Kommando einer Russen, ganz wenige, zugegen sein werden. übernationalen Organisation. Das unterscheidet die- Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. sen Einsatz nun wahrlich von anderen, über die wir in Der Frieden ist mit diesem Abkommen nicht garan- den letzten Jahren geredet haben. tiert, aber er hat eine neue Ch ance bekommen. Viertens — das ist das Wichtigste —: Die Abschüsse (Zuruf von der CDU/CSU: Jawohl!) haben die verbale Drohkulisse in ein reales Stoppzei- chen verwandelt. Wir sollten konstruktiv an dieser Chance mitarbeiten und sie nicht zerreden. (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) (Beifall des Abg. Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/CSU]) Die letzten Tage haben gezeigt, daß der neue Frieden eine Chance hat. Welche Chance? Zivile Je mehr wir dabei leisten, um so stärker werden Friedensregelungen können nicht länger von den andere zögern, ihn wieder einmal zu zerschießen. So Gewaltbereiten als zahnlos diskriminiert werden. Der bitter es auch für mich und uns alle ist: Vielleicht hätte Vertragsentwurf von Washington ist ein erstes Zei- es ohne den Abschuß der vier Maschinen über Banja chen. Der ethnische Trennungsplan von Vance/Owen Luka den Abschluß von Washington so nicht geben ist endgültig beseitigt. Der neue Vertrag ermöglicht können. Zusammenarbeit und zieht keine neuen Grenzen. Der (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der F.D.P neue Vertrag vermeidet all die tödlichen Gefahren, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) die bisher aus den Plänen drohten: Frage des Zugangs zum Meer, Auseinanderzerren von Wirtschaftsräu- Es gibt keine wirkliche Kritik an der Aktion. men, gewaltsame Trennung von Menschen unter- schiedlicher religiöser Herkunft. Der neue Vertrag eröffnet die Chance zur Rückkehr in die Zivilgesell- Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Kollege Duve, schaft. Der Vance/Owen-Plan barg das Risiko des die Redezeit ist wieder weit überschritten. Ich bitte, neuen religiösen Fanatismus. doch zum Schluß zu kommen. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18427

Freimut Duve (SPD): Ich will nur sagen: Eine Regie- den, bei der Luftüberwachung werde es nicht so rung Scharping hätte genau genommen, und der Wille der Völkergemein- (Zuruf von der CDU/CSU: ... das nicht schaft, dem Völkermord in Ex - Jugoslawien Einhalt getan!) zu gebieten, sei nicht besonders stark. Dieser Ein- druck ist nunmehr auch durch diesen Einsatz am nach meiner Überzeugung ähnlich reagiert wie das 28. Februar korrigiert worden. Ich hoffe nun, daß die Präsidium meiner Partei, nämlich zustimmend zur Chancen für einen Frieden nicht schlechter, sondern Kenntnis nehmen, was do rt jetzt an Chancen möglich besser geworden sind. Es kann nur richtig sein, wenn geworden ist. Deutschland im Kreis der demokratischen Allianzen, Ich danke für die Aufmerksamkeit. im Kreis regionaler Sicherheitsstrukturen und im (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Auftrag der Vereinten Nationen seinen bescheidenen DIE GRÜNEN) Beitrag erfüllt — und dies in Übereinstimmung mit den zivilisierten Nationen. Wer forde rt, daß wir aus dieser großen Gemeinschaft austreten, der wi ll die Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Isolierung Deutschlands. Herren, als nächstem Redner erteile ich jetzt unserem Kollegen Jürgen Koppelin das Wort. (Freimut Duve [SPD]: Das fordert doch nie mand!)

Jürgen Koppelin (F.D.P.): Herr Präsident! Meine — Na, Herr Kollege Duve! Das habe ich ganz anders Damen und Herren! In der deutschen und in der gehört. Lesen Sie einmal nach, was Ihre Fraktion internationalen Öffentlichkeit ist der Einsatz der Ver- gerade vor einem Jahr bei der Debatte zum AWACS einten Nationen und in ihrem Auftrag der NATO Beitrag gesagt hat. Das empfehle ich zur Lektüre. gegen die Verletzer des Luftraums über Bosnien auf (Michaela Geiger [CDU/CSU]: Das stimmt!) ungeteilte Zustimmung gestoßen. Zu Triumphgefüh- len besteht jedoch — das ist hier schon gesagt wor- Unser Land will nicht mit Kraftmeierei in der Welt den — überhaupt kein Anlaß, solange der unsägliche auftreten, genausowenig aber auch nicht kleinlich Krieg nicht beendet und der Friedenswille aller Betei- und verzagt sich der aktiv betriebenen Verteidigung ligten nicht glaubhaft bewiesen ist. des internationalen Rechts entziehen. Gerade in den letzten Tagen mehren sich jedoch- die Ich will bei dieser Gelegenheit diese Debatte nut- Anzeichen dafür, daß die internationalen Sanktionen zen, um Ihnen, Herr Bundesaußenminister, recht und der Wille der Völkergemeinschaft, den Krieg in herzlich für Ihr Engagement zur Lösung der Probleme Ex-Jugoslawien zu beenden, die Aggressoren aller in Ex-Jugoslawien zu danken. Seiten endlich zur Vernunft bringen könnten. Wenn die UNO- und die NATO-Bemühungen hierzu beitra- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) gen, dann sind beide Organisationen ihrer Aufgabe, Sie haben immer wieder zusammen mit Ihrem franzö- dem Frieden zu dienen, nach unserer Auffassung sischen Kollegen Initiativen ergriffen. Man kann nur überzeugend gerecht geworden. Meine Damen und hoffen, daß sich Ihre intensiven Bemühungen letztlich Herren, fest steht: Es wurde nicht frivol Kriegsspiel doch lohnen werden. Sie haben allerdings — das will getrieben — das sage ich einmal in Richtung PDS —, ich hier sagen; ich habe einiges an Interviews von sondern das war eine Aktion der UN, ausgeführt durch Ihnen nachgelesen — immer wieder deutlich die NATO, gegen Völkerrechtsverbrecher. gemacht, was auf die NATO zukommen kann. Sie Nun zur deutschen Beteiligung: In einer Entschei- haben niemanden darüber im unklaren gelassen. dung hat das Bundesverfassungsgericht im Ap ril letz- Auch das darf hier wohl gesagt werden. ten Jahres zugestimmt, daß deutsche Soldaten bei den (Beifall bei der F.D.P.) AWACS - Verbänden im Einsatz bleiben. Jedem war klar, was der AWACS-Einsatz bedeutet. Neben der Ich will auch durchaus anerkennen, was das Präsi- Observierung und Verfolgung, dem Veranlassen zur dium der SPD zum Abschuß der Kampfflugzeuge über Umkehr oder zur Landung schloß dieser Einsatz auch Bosnien-Herzegowina gesagt hat. Sie haben sich da den äußersten Fall ein: die gezielte Herstellung der sehr moderat verhalten, und der Kollege Duve hat das Kampfunfähigkeit nach entsprechender Vorwar- ähnlich getan. Herr Kollege Duve, auch auf Grund nung. Ihres Zurufes von vorhin sage ich Ihnen: Lesen Sie (Günther Friedrich Nolting [F.D.P.]: So ist es!) wirklich durch, was vor einem Jahr Ihr Kollege Günter Verheugen mit sehr schweren Vorwürfen gegen den Mit der Beauftragung der NATO durch die UNO Bundesaußenminister hier gesagt hat. und der Entscheidung des Bundesverfassungsge- richts, daß die deutschen Soldaten an Bord bleiben, (Zuruf von der CDU/CSU: Ja, „Militarisie lag ein Auftrag vor, der die Möglichkeit der Erzwin- rung der Außenpolitik" ! ) gung mit Waffengewalt einschloß, mithin also ein Kampfauftrag. Zum jetzigen Zeitpunkt vom ersten Sie können die Vorwürfe, die Sie vor einem Jahr NATO-Kampfeinsatz seit 1949 — so die PDS — zu gemacht haben, in keiner Weise aufrechterhalten. reden, ist falsch; denn dieser Einsatz findet seit Ap ril Und Herr Verheugen hat damals — das kommt ja noch letzten Jahres statt. hinzu — in der Debatte auf Befragen eines Kollegen von der CDU/CSU — ich glaube, es war der Kollege (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Lamers — gesagt: Auch wenn rechtlich alles geklärt Meine Damen und Herren, möglicherweise ist bei wäre, die SPD würde die Beteiligung deutscher Sol- den serbischen Kampfführern der Eindruck entstan- daten bei AWACS-Flügen ablehnen. 18428 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Jürgen Koppelin Er hat weiter gesagt — ich zitiere —: dort gestellt, wo sie sich schon immer befunden haben: Wohin ist die Außen- und Sicherheitspolitik unse- bei einem Verbrechen gegen den Frieden und die res Landes in den Händen dieser Regierung Menschlichkeit. geraten? (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Und Sie wollen die Ich sage Ihnen dazu: Die Außen- und die Sicherheits- Bundeswehr auflösen?) politik ist bei dieser Koalition, bei dieser Regierung in Aber der ganze Ernst unserer Lage wird uns erst den richtigen Händen. Wären wir in der Vergangen- klar, wenn wir die zweite Hälfte von Douglas Hurds heit der SPD gefolgt, wären wir garantiert in der Sentenz hören. Isolierung. (Zuruf von der F.D.P.: Sie wollen die Bundes- Vielen Dank für Ihre Geduld. wehr abschaffen?) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) — Ich glaube, wenn Sie das gehört haben, meine Herren Kollegen, werden Sie zurückhaltender mit Vizepräsident Helmuth Becker: Nunmehr hat unser billigen Zwischenrufen. Kollege Dr. Wolfgang Ullmann das Wo rt. (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sie wollen doch die NATO abschaffen!) Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Der Flugzeugabschuß dürfe die Friedensanstrengun- NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gen nicht beeinträchtigen, hat Herr Hurd gesagt. ist Krieg — nicht etwa ein innerjugoslawischer Bür- Aber ich frage uns alle — ohne daß ich die Bemü- gerkrieg, sondern es ist Krieg in Europa, Krieg in hungen des Herrn Bundesaußenministers jetzt klein- einem Land, in dem schon einmal vor einem halben reden will —: Haben diese Anstrengungen in einem Jahrhundert unter Beteiligung deutscher Truppen Greuel eines Ausmaßes verübt worden sind, daß sehr ernsthaften Sinne des Wortes eigentlich schon an kann es sich an der deutschen Betei- dieses Europa seither weiß: Krieg ist kein Mittel der begonnen? M ligung an der NATO-Aktion klarmachen. Die Politik, sondern ein Werkzeug der Barbarei, eines der in Nürnberg verurteilten Verbrechen gegen den Frie- AWACS-Spezialisten haben getan, wozu sie das Karlsruher Urteil ermächtigte, und es steht mir nicht den. an, das in Frage zu stellen; ich will es auch nicht. Wenn in einem Land mitten in einem Europa, das dieses alles sehr genau weiß, nun wieder in diesem (Beifall bei der F.D.P.) Sinne Krieg ist, dann kann man dem britischen Aber ist diese Mitwirkung denn von Ferne, was als Außenminister Douglas Hurd nur zustimmen, wenn er Friedensanstrengung von uns erwartet wird? den Abschuß von vier serbischen Kampfflugzeugen Der erste Schritt einer Friedensanstrengung wäre durch NATO-Luftstreitkräfte einen „sehr ernsten Vor- ein gerade von unserem Land, einem gegenüber den fall " nennt. Völkern des ehemaligen Jugoslawien moralisch so tief Aber — das müssen wir uns jetzt fragen, meine verschuldeten Land, mit besonderem Engagement zu Damen und Herren — wie steht es denn um unsere betreibendes UNO-Verfahren zur Verurteilung der Politik, wenn erst eine solche Kriegshandlung des Aggression gegen Bosnien, Abschusses von vier Flugzeugen nötig ist, damit wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD) begreifen, wie ernst unsere Lage ist? Sie ist schon deswegen ernst, weil es beinahe ein zur Nichtanerkennung der aus Aggression entstande- Jahr gedauert hat, bis die NATO-Streitkräfte ernst nen Grenzverschiebungen und zur Ermittlung gegen gemacht haben mit der Durchsetzung eines Flugver- die Verantwortlichen, die ja bekannt sind und die im Mazowiecki-Bericht dokumentiert sind. botes, das die UNO bereits am 31. März 1993 beschlossen hatte. Mein Kollege Poppe hat schon Ein zweiter Schritt wäre die Einberufung eines damals darauf hingewiesen, daß die Resolu tion 816 Tribunals zur Aufklärung und Ächtung jenes Miß- eigentlich viel zu spät gekommen ist, weil schon brauches, den die serbische Akademie der Wissen- damals deutlich war, daß die serbischen Aggressoren schaften — wie sie sich nennt — mit ihrer Wissenschaft ihre Eroberungsziele im wesentlichen erreicht hatten. betreibt, urn ein ganzes Volk zum Verbrechen der Heute sind sie dabei, sich den von ihnen geraubten Völkerverhetzung zu verführen. Es ist endlich in aller Territorialbesitz interna tional garantieren zu lassen. Öffentlichkeit klarzustellen, welchen Anteil die Reli- Insofern war der verbotene Flug ein Test, wie weit sie gionen an dieser Völkerverhetzung haben. mit dieser internationalen Indulgenz schon gekom- Als dritter und entscheidender Schritt wird von uns men sind. ein Engagement für die Fortführung des Helsinki- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Prozesses erwartet. Kommt nicht ein Skandal ans Insofern war es höchste Zeit, klarzustellen, daß es Licht, meine Damen und Herren, wenn wir das, was in für die Aggressoren in der Tat ernst wird, weil jetzt Korb I der Helsinki-Vereinbarungen über Sicherheit wenigstens für sie gilt, was ihnen schon längst hätte der Grenzen und Zusammenarbeit selbstbestimmter klargemacht werden müssen: Dans la guerre — Völker steht, mit der Dürftigkeit der Friedensanstren- comme la guerre. Aber leider haben sie erst jetzt gungen zur Beendigung der serbisch-kroatischen Tei- erfahren, daß sie nicht nur wehrlose Frauen zu Kon- lung Bosniens vergleichen? trahenten haben, die man nur zu vergewaltigen Nichts Geringeres als ein Helsinki II wird von uns braucht, oder spielende Kinder, die man aus dem erwartet, eine Ini tiative für Sicherheit durch Zusam- sicheren Versteck niederkartätschen kann. Die legi- menarbeit. Sie kann allein auf Helsinki-Ebene time Autorität der UNO und deren Waffen haben sie zustande kommen, weil allein hier die USA und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18429

Dr. Wolfgang Ullmann Rußland selbstverständlich und gleichberechtigt ein- Bündnisses hätten die Serben auch ihre schweren begriffen sind. Waffen um Sarajevo herum nicht abgezogen. (Zuruf von der F.D.P.: Leider ist das so!) Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Ullmann, ich Frieden und Sicherheit heißt Stärke des Rechts und muß Sie auch darauf aufmerksam machen: Ihre Rede- nicht Recht des Stärkeren. zeit ist längst abgelaufen. Bitte kommen Sie zum Schluß. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Wer dies will, muß der Völkergemeinschaft dazu Dr. Wolfgang Ullmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verhelfen, daß sie die notwendigen Handlungsinstru- NEN): Ich komme zum Schluß. Gerade die Deutschen, mentarien hat. Ich sage es wiederholt und erneut: die mit der Sowjetunion gemeinsam den Zweiten Auch wir dürfen dabei nicht abseits stehen, wenn wir Weltkrieg durch die Teilung Polens eröffneten, sollten glaubwürdig und politisch handlungsfähig bleiben die Pflicht zur Selbstprüfung gegenüber dieser Frage wollen. besonders ernst nehmen. Friedensanstrengungen Die Klärung der verfassungsrechtlichen Grundla- beginnen ernsthaft erst da, wo jede Kollaboration gen künftiger Bundeswehreinsätze bleibt deshalb durch Duldung der Aggression beendet ist. dringlich. Auch wiederhole ich: Die Kultur der Schönen Dank. Zurückhaltung hat uns gut angestanden. Wir wollen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN an ihr festhalten. Wir wollen sie nicht aufgeben. und bei der SPD) (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der SPD) Vizepräsident Helmuth Becker:Meine Damen und Aber, meine Damen und Herren, wir müssen uns erst Herren, ich erteile jetzt dem Herrn Bundesaußenmini- einmal in die Lage versetzen, und zwar im Deutschen ster Dr. Klaus Kinkel das Wort. Bundestag, ja oder nein sagen zu können. Deshalb wiederhole ich meinen Aufruf dringender denn je — er richtet sich an die SPD —: Stellen Sie sich Ihrer Bundesminister des Auswärtigen: Dr. Klaus Kinkel, Verantwortung, damit Deutschland bündnisfähig Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die bleiben kann! Erkenntnis, daß Gewalt oft in letzter Konsequenz nur mit Hilfe von Gegengewalt gestoppt werden kann, ist (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) bitter, sehr bitter sogar. Dennoch, sie entspricht leider der Realität. An der völkerrechtlichen Zulässigkeit Ich sage das ganz ruhig und gelassen an die Adresse von Herrn Scharping, der immer betont, zwischen des Abschusses von vier Jagdflugzeugen am 28. Fe- bruar besteht kein Zweifel. Grundlagen waren die SPD und Bundesregierung, Koalition, bestünden außenpolitisch keine wirk lich ernsthaften Differen- Resolutionen des UN-Sicherheitsrates Nr. 781 vom 9. Oktober 1992 und Nr. 816 vom 31. März 1993. Der zen. Ich sage ganz klar: Das ist falsch. Hier wäre Einsatz ist auf internationale Zustimmung gestoßen. wirklich ein klärendes Wo rt am Platz. Außenminister Kosyrew hat unterstrichen, daß die für (Zuruf von der SPD: Sie sind schon wieder bei den Vorfall verantwortliche Kriegspartei die alleinige Deutschland statt bei Bosnien! — Gegenruf Verantwortung dafür trage. Es deutet einiges darauf des Abg. Dr. Karl-Heinz Hornhues [CDU/ hin, daß es sich um bosnisch-serbische Maschinen CSU]: Sie zwingen uns ja dazu!) handelte. Sicher ist es inzwischen immer noch nicht. Daß dieser Appell beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN noch etwas fruchtet, bezweifle ich. Sie haben (Dr. Peter Glotz [SPD]: Sehr gut, daß das so sich auf ihrem Wahl-Parteitag in Mannheim mit den exakt gesagt wurde!) Forderungen nach Auflösung von Bundeswehr und An Bord der AWACS-Maschine, die die Verletzung NATO im wahrsten Sinne des Wortes aus der politi- des Flugverbots entdeckte, befand sich ein deutscher schen Wirklichkeit abgemeldet. Funkmechaniker. Wir waren vorher darüber nicht unterrichtet — weil die Frage gestellt wurde —, aber (Dr. Peter Glotz [SPD]: Es geht hier doch um die Bundesregierung hat am 2. April 1993 entschie- Krieg und nicht um Wahlkampf!) den, einen NATO-Beschluß zur Durchsetzung des — Ja, darum kümmere ich mich ja in der Praxis Flugverbots zu unterstützen, einschließlich deutscher sehr. Besatzungsmitglieder auf AWACS-Flugzeugen. Das (Beifall bei der F.D.P.) Bundesverfassungsgericht hat die hiergegen gerich- teten Anträge auf einstweilige Anordnung abgelehnt. Sie haben mich auch weitgehend unterstützt, aber Sie Dabei wurde der Ernstfall nicht ausgenommen und haben uns in einer ganz wesentlichen Frage bisher im konnte nicht ausgenommen werden. Stich gelassen. Sie unterstützen die Bundesregierung und die Koalition in ganz wesentlichen Fragen der Mit ihrer Bereitschaft zur Unterstützung friedenser- Außen- und Sicherheitspolitik; aber Sie haben uns haltender Maßnahmen und anderer Missionen von — das muß in diesem Bundestag gesagt werden — in KSZE und UN hat die Allianz die Antwort auf das neue der Frage der Grundgesetzänderung in einem ganz regionale Konfliktszenario gegeben, das nach dem entscheidenden Punkt im S tich gelassen. Ende der Ost-West-Konfronta tion den Frieden in Europa durch Rückkehr der Barbarei bedroht. Ohne (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — die Festigkeit und ohne die Glaubwürdigkeit des Widerspruch bei der SPD) 18430 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel Die UNO hat im Zusammenwirken mit dem Bündnis dergrund stehen. Ich bin ein klein wenig hoffnungs- sowohl bei dem Sarajevo-Ultimatum wie auch jetzt voller als vor drei Wochen. bei der Durchsetzung des Flugverbots eines ausdrück- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU lich klargemacht —ich bin froh, daß das so gekommen sowie bei Abgeordneten der SPD) ist —: Die Resolution des Sicherheitsrats stehe nicht nur auf dem Papier. Das hat ganz offensichtlich seinen Eindruck nicht verfehlt. Dieses Momentum muß nun Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und politisch weitergenutzt werden. Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Dr. Pflüger das Wort. Das stärkere amerikanische Engagement — das ich von den Amerikanern seit Monaten gefordert habe —, das auf dem Aktionsplan der Europäischen Union Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): Herr Präsident! aufbaut, zeigt jetzt erste Früchte. Die Bundesregie- Meine Damen und Herren! Ich finde, daß es gute rung und ich begrüßen nachdrücklich das vorgestern Gründe gegen militärisches Engagement im ehema- in Washington geschlossene Rahmenabkommen zwi- ligen Jugoslawien gibt. Darauf haben nicht zuletzt schen der bosnischen und der kroatischen Regierung. auch die Generäle der Bundeswehr immer hingewie- Wir erwarten, daß die Verhandlungsparteien die noch sen. Bevor man so etwas macht, muß man es sehr offenen Einzelfragen in gutem Willen und mit dem verantwortlich durchkalkulieren und auch die Frage Ziel einer dauerhaften Verständigung klären. Dann aufwerfen, ob man die Befriedung von Bürgerkriegs- muß darauf aufbauend zusammen mit den Serben gebieten von außen überhaupt möglich machen eine Gesamtlösung für Bosnien-Herzegowina gesucht kann. werden. Ich sage es noch einmal: Das Momentum, das Alle Gründe aber, die dafür vorgetragen worden jetzt in G ang gekommen ist, muß genutzt werden. sind, ein militärisches Engagement zu lassen, können, so finde ich, letztlich nicht mehr überzeugen, und zwar Wir sind politisch aktiv an den Friedensbemühun- aus zwei Gründen. gen beteiligt. Wir waren und sind in Washington Der erste Grund ist: Wir als Westen, als westliche dabei. Zusammen mit meinem Kollegen Alain Juppé Wertegemeinschaft, als NATO, als Europäische habe ich die Friedensgespräche durch unsere Initia- Union, aber auch als Vereinte Nationen machen uns tive eigentlich erst wieder in G ang gebracht. unglaubwürdig, wenn wir Beschlüsse fassen und dann - Die Einbindung Rußlands in die internationalen nicht darauf dringen, daß diese auch umgesetzt wer- Friedensbemühungen ist angesichts des russischen den. Einflusses auf die Serben von ganz erheblicher Zum Beispiel kann m an sich an den Beschluß, Bedeutung. Ich möchte noch einmal mit großem humanitäre Transporte mit allen Mitteln zu schützen, Nachdruck und ganz bewußt sagen: Es wird ohne die den die UNO gefaßt hat, kaum noch erinnern. Er ist nie Beteiligung Rußlands im früheren Jugoslawien keine umgesetzt worden. Die Schutzzonen für Muslime sind Lösung geben. durch Hungerblockaden, durch Belagerung zur Makulatur geworden. Die UNO hat schon im Oktober (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) 1992 ein Flugverbot über Bosnien verhängt, im März 1993 hat eine Resolution des Sicherheitsrates veran- Der jetzt in Washington erzielte Durchbruch zwi- kert, daß dies auch militärisch durchzusetzen sei. schen Moslems und Kroaten basiert auch auf den auf Wenn das die von uns mitgetragenen Beschlüsse der dem Petersberg vor kurzem geführten Gesprächen. Staatengemeinschaft sind und man inzwischen tau- Ich habe selber mit dem Kollegen Granic aus Kroatien, send Mal registriert hat, daß dieses Flugverbot über- bevor er nach Washington gefahren ist, stundenlange treten worden ist, dann kommt irgendwann ein Punkt, Gespräche geführt und ihn dringend gebeten, auf das, ein Rubikon, wenn Sie so wollen, wo man sagen muß: was sich jetzt abzeichnet, einzugehen. So, jetzt haben wir lange genug gewartet, zugesehen, auf friedliche Lösungen gesetzt! Jetzt muß man han- Das Treffen hoher Beamter aus den Staaten der deln! Es ist gut und richtig, daß die NATO das in Europäischen Union, den USA, Rußland, Kanada und diesen Tagen gemacht hat. der UNO vergangene Woche in Bonn hat die Prioritä- ten für die Verbesserung der humanitären Lage in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Bosnien festgelegt, die nunmehr im UNO-Sicherheits- ordneten der F.D.P.) rat beraten werden. Als Folge russischer Bemühungen Ich finde, daß wir keine Papiertiger sein dürfen. haben sich die Aussichten auf Wiedereröffnung des Wenn wir für unsere Werte in der innenpolitischen Flughafens Tuzla gebessert. Auch ich begrüße das Diskussion streiten, wenn wir uns z. B. gegen das sehr, weil es dringend notwendig ist. Das wäre ein Wiederaufleben von ethnischem und nationalisti- riesiger Fortschritt. schem Denken innenpolitisch völlig zu Recht zur Wehr setzen, dann können wir nicht zusehen, daß Wir dürfen über allem nicht die Notlage der Men- einige Kilometer vor unserer deutschen Haustür eth- schen in anderen umkämpften Gebieten vergessen. nische Säuberungen stattfinden. Ich bin dankbar Wir müssen jetzt versuchen, mosaikhaft, ausgehend dafür, daß die NATO eingegriffen hat. Ich bin wirklich von der Sarajevo-Lösung, die erst noch politisch dankbar dafür, daß es jetzt endlich dieses Signal gibt. umgesetzt werden muß, die Hauptbrandherde in den Wir müssen jetzt nur darauf achten, daß dies nicht eine Griff zu bekommen und weiter politisch in erster Linie einmalige Aktion bleibt. Vielmehr muß der Druck auf einem friedlichen Prozeß, der hoffentlich zu einer kontinuierlich weiter ausgeübt werden, weil offenbar Lösung führt, bestehen. Das muß im absoluten Vor- nur dieser in der Lage ist, die Friedensverhandlun- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18431

Dr. Friedbert Pflüger gen, die in der Tat notwendig sind, zu einem Ergebnis an der Abwehr von Aggressionen und Friedens- zu bringen. bedrohung zur Wiederherstellung des Rechtes zu beteiligen. (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Sehr richtig!) Das ist doch ein guter Weg — Das ist der erste Grund dafür, warum es notwendig ist, etwas zu tun. Vizepräsident Helmuth Becker: Herr Dr. Pflüger, Der zweite Grund ist, daß man es irgendwann — das Ihre Redezeit ist weit überschritten. geht doch jedem so — nicht mehr ertragen kann, zu hören, was dort alles passiert. Peter Schneider hat im Dr. Friedbert Pflüger (CDU/CSU): — und ein richti- „Spiegel" vor etwa zwei Wochen einen Aufsatz über ger Weg, und auf dem sollten wir gemeinsam voran- die Zustände in Sarajevo geschrieben. Er hat von schreiten. einem jungen muslimischen Ehepaar berichtet, das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sich, als sie geheiratet haben, versprochen hat, alle Wege in Sarajevo nur noch zusammen zu gehen, damit nicht einer von beiden getötet wird. Drei Vizepräsident Helmuth Becker: Ich erteile jetzt das Wochen nach der Hochzeit sind sie zu einer Wasser- Wort dem Kollegen Dr. Peter Glotz. stelle gegangen. Do rt ist die Frau von einem Granat- splitter ins Herz getroffen worden und gestorben. Dr. Peter Glotz (SPD): Herr Präsident! Meine sehr Seitdem ist der Mann geisteskrank, erkennt nieman- verehrten Damen und Herren! Wenn irgendeine poli- den mehr, geht in Sarajevo immer in ein Cafe und tische Maßnahme dazu führt, daß Menschen, die zündet sich do rt zwei Zigaretten an — die eine raucht bisher ständig beschossen worden sind, nicht mehr er selbst, die andere läßt er im Aschenbecher ausglim- beschossen werden, dann sollte man sich über diese men. Das ist eines von 200 000 Schicksalen; denn Maßnahme zuerst einmal freuen. Wie immer man zu 200 000 Menschen sind inzwischen durch diesen dem Sarajevo-Modell der NATO und der Drohung mit Krieg gestorben. Luftangriffen steht — m an kann ja skeptisch sein, ob da nicht immer Menschen getroffen werden, die (Dr. Peter Glotz [SPD]: Vergleichbare Bei eigentlich nicht getroffen werden sollten, und wie spiele gibt es in Mostar und Tuzla! ) problematisch das ist —, in Sarajevo herrscht jetzt für - Wenn man sich dann einfach nur hinstellt und sagt: die Menschen dort größere Sicherheit. Das ist mit „Es darf nicht militärisch eingegriffen werden; wir Sicherheit zu begrüßen, meine Damen und Herren. beharren auf unserer fundamenal-ethischen, manch- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der mal auch gesinnungspazifistischen Posi tion! ", dann F.D.P.) glaube ich, daß wir nicht verantwortlich handeln an Wenn wir diese Debatte führen, dann führen wir sie dem, was in der Welt vor sich geht. unter diesem Aspekt: Wie ist mehr Sicherheit für Ich glaube, Herr Duve, daß das, was Sie hier gesagt Menschen aller drei Religionen, aller drei Volksgrup- haben, richtig und gut ist; ich begrüße es auch. Nur pen zu gewinnen?, und nicht unter dem Aspekt, daß verträgt sich all das, was Sie gesagt haben, nicht mit wir uns noch einmal unsere längst bekannten unter- der nach wie vor fundamentalen Opposition der SPD schiedlichen Rechtsmeinungen zu AWACS unter die gegen friedensschaffende Maßnahmen. Ich finde in Nase reiben und den GRÜNEN-Parteitag kommentie- der Tat richtig, daß hier eine Klärung notwendig ist — ren. nicht, Herr Kollege Glotz, weil wir im Wahlkampf sind, (Beifall bei der SPD — Zuruf von der F.D.P.: sondern weil es notwendig ist, daß das, was m an im Das führt doch dazu! — Weitere Zurufe von westlichen Ausland als die deutsche Verweigerungs- der CDU/CSU und der F.D.P.) kultur inzwischen bezeichnet, überwunden wird. Ich widerspreche zweitens dem Kurzschluß, die Ich finde — wenn ich das zum Schluß sagen darf —, NATO müsse nur zum Schießen bereit sein, und schon daß die Evangelische Kirche in Deutschland mit dem seien die bosnischen Probleme lösbar. Die Wirklich- Beschluß des Rates „Schritte auf dem Weg des Frie- keit sieht anders aus. Die NATO, der Westen muß ein dens", der vor kurzem veröffentlicht worden ist, einheitliches politisches Ziel haben. Wenn sie das hat, wirklich in die richtige Richtung zeigt und daß das dann kann ihre militärische Infrastruktur, Herr Pflü- doch dazu beitragen könnte, daß wir uns in der ger, dann kann die Macht der NATO unter Umstän- Diskussion vielleicht näherkommen. Dort wird den dazu führen, daß dieses Ziel auch politisch durch- gesagt: setzbar wird. Das Problem der NATO war in den letzten Monaten nicht, daß sie nicht geschossen hat, Die belastete Vergangenheit der Deutschen kann das Problem der NATO war, daß Amerikaner und nicht dazu führen, daß es eine grundsätzliche Europäer eine unterschiedliche Position vertreten Sonderrolle Deutschlands gibt. Prinzipiell ist haben; das war der Punkt. davon auszugehen: Was für kanadische oder italienische Soldaten gilt, das gilt auch für deut- (Beifall bei der SPD — Zurufe von der CDU/ sche. Gerade weil Deutschland militärische CSU) Gewalt in verbrecherischer Weise mißbraucht hat Seit dem Herbst vorigen Jahres, meine Damen und und durch den Einsatz militärischer Gewalt von Herren, gibt es eine einigermaßen einheitliche Politik einer Schreckensherrschaft befreit worden ist, hat der Europäischen Union, die insbesondere von den das demokratische Deutschland allen Grund, sich Franzosen und von den Deutschen vorangetrieben im Rahmen der Vereinten Nationen oder der von worden ist. Auch England hat sich Schritt für Schritt ihnen beauftragten regionalen Organisationen angenähert. Diese Poli tik ist darauf hinausgelaufen, 18432 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Dr. Peter Glotz darauf zu drücken, daß sich alle drei Kriegsparteien bringen es in den Sicherheitsrat der UNO ein und klarmachen, daß der Krieg nicht gewonnen werden setzen es dort auch durch. Das muß unser Ziel sein. kann als Krieg, Kriegsoptionen zu entmutigen. Am (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Wolf deutlichsten ist das beim Petersberger Gipfel im gang Ullmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Januar gewesen. NEN])

Ich will hier deutlich sagen, ich halte diese Politik der Bundesregierung für richtig. Die Bundesregie- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und rung und der Bundesaußenminister verdienen die Herren, jetzt hat unser Kollege Ulrich Irmer das Unterstützung des Bundestages für diese Poli tik seit Wort. September vorigen Jahres. Ulrich Irmer (F.D.P.): Vielen Dank, Herr Präsident. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Meine Damen und Herren! Ich stimme dem zu, was F.D.P.) Kollege Glotz gesagt hat, daß wir uns darüber freuen müssen, wenn vielleicht durch den militärischen Man muß aber offen aussprechen, daß die Vereinig- Schlag in Bosnien die Bedrohung für Menschen gerin- ten Staaten lange Zeit anders optiert und die Kriegs- ger geworden ist. Das ist völlig richtig, und diese option einer Gruppe, nämlich der Muslime, unter- Auffassung teilen wir. stützt haben. Die Russen haben die Serben unter- Aber, Herr Glotz, wir können Sie und Ihre Partei stützt, die Amerikaner die Muslime, und die Deut- nicht aus der Verantwortung lassen, daß Sie ja schen haben die Kroaten zumindest lange vor Sank- ursprünglich dagegen waren, daß dieses geschehen tionen bewahrt. Das war der eigentliche Grund, konnte. warum wir mit den Ideen, Sarajevo und Mostar unter VN-Verwaltung zu stellen oder auch den Krieg in (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) Mittelbosnien zu stoppen, nicht weitergekommen Wir haben letztes Jahr in Karlsruhe als F.D.P.- sind. Wenn wir jetzt in einer neuen Lage stehen, wenn Fraktion geklagt, weil wir einerseits die Beteiligung wir jetzt eine Föderation bekommen können, dann Deutscher an den AWACS-Flügen für unerläßlich liegt es vor allem daran, daß seit der NATO-Drohung hielten, auf der anderen Seite aber eine ungeklärte von Sarajevo die Vereinigten Staaten ihren- Schützlin- Verfassungsrechtslage vorfanden, die wir für uner- gen dasselbe sagen, was wir unseren Schützlingen träglich gehalten haben, und zwar nicht nur für dieses schon seit Monaten sagen und was jetzt offensichtlich Parlament, sondern insbesondere auch für die Solda- auch die Russen ihren Schützlingen zu sagen begin- ten, die an dieser Aktion beteiligt werden sollten, und nen. Ich freue mich, daß es in Washington auch dazu dieses nach unserer Auffassung nur auf klarer verfas- gekommen ist, daß der bosnische Ministerpräsident sungsrechtlicher Grundlage tun sollten. Silajdzic inzwischen zugestimmt hat, was er lange (Zuruf von der SPD) nicht wollte, daß den Kroaten die Rolle eines konsti- Das war eine elegante, ungewöhnliche Verfahrens- tutiven Volkes und nicht nur einer Minderheit zuge- weise. Aber durch den Spruch des Bundesverfas- sprochen wird. sungsgerichts im vorläufigen Verfahren ist dann diese Grundlage hergestellt worden. Ich möchte von dieser Die zweite positive Veränderung liegt ohne Zweifel Stelle all den deutschen Soldaten danken, die bisher im Einfluß der Russen auf die Serben. Das hat der in den AWACS-Flugzeugen ihren Einsatz geleistet Bundesaußenminister gesagt. Das Geheimnis des haben. noch sehr wackeligen Erfolges in dieser Tragödie liegt also nicht so sehr im Schießen, es liegt darin, daß jetzt (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne die Amerikaner auf die Moslems, die Europäer, insbe- ten der CDU/CSU) sondere auch die Deutschen, auf die Kroaten und die Meine verehrten Damen und Herren, wir sollten Russen auf die Serben einwirken, und zwar in der noch ein paar Klarstellungen vornehmen. Dieses war gleichen Richtung. Wenn das von Anfang an passiert keine Aktion der NATO aus eigenem Recht — man wäre, hätten viele Tote verhindert werden können, muß das immer wieder betonen —, sondern es war ein meine Damen und Herren. Und das hätte unser Ziel Auftrag der Vereinten Nationen, bei dem die NATO sein müssen. die Ausführung übernommen hat. Und so sollte es bleiben. Die Verantwortung für Kampfeinsätze sollte (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Ullmann bei den Vereinten Nationen monopolisiert sein und [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) bleiben. (Beifall bei der F.D.P.) Wer will, kann da hinzufügen: Wenn eine solche Ein zweites, ich habe es schon gesagt und der einheitliche Linie auch militärisch bewehrt wird — da Kollege Koppelin hat darauf hingewiesen: Nicht der bin ich mit Herrn Pflüger einig —, dann ist das noch Abschuß war der Beginn des Kampfeinsatzes, sondern glaubhafter als ohne militärische Stützung. schon die Beobachtungsflüge waren auch nach unse- rer Verfassungslage ein Kampfeinsatz. Insofern ist Klar ist dabei in jedem Fall: Es genügt nicht, daß auch die verfassungsrechtliche Lage seit Beginn des man droht oder schießt, man muß auch noch ein Einsatzes völlig unverändert gewesen. politisches Konzept haben, meine Damen und Her- Ich möchte die SPD doch noch einmal etwas fragen. ren. Das hatten wir bisher nicht gemeinsam. Hoffent- Sie haben — und keiner sollte das — den Einsatz nicht lich haben wir es gemeinsam. Halten wir daran fest, bejubelt. Aber Sie haben eingeräumt, daß er eine Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18433

Ulrich Irmer positive Wirkung gehabt hat. Sie räumen auch ein, frühzeitiger diese Ultima ratio auch der Gewaltan- daß im Wiederholungsfall der Verletzung des Flug- wendung eingesetzt hat. verbotes auch erneut Abschüsse vorkommen können Ich bin einverstanden mit Ihnen, daß Schießen nicht und — konsequent — müssen. alles ist. Natürlich braucht man ein politisches Kon- Ich will Sie jetzt wirklich fragen, wenn Sie das zept. Aber das Entscheidende ist die Verbindung neuerdings so sehen, warum sperren Sie sich nach wie eines politischen Konzepts mit der militärischen vor gegen die Grundgesetzänderung? Abschreckung. Das sind, glaube ich, die Erfahrungen (Beifall bei der F.D.P. und bei Abgeordneten der letzten Wochen. Auf diesem Wege sollten wir der CDU/CSU) weiter fortschreiten. Das muß geklärt werden, und zwar in diesem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Parlament. Vom Ergebnis her stimmen Sie uns jetzt zu. Dr. Peter Glotz [SPD]: Es lag vielmehr an der Kollege Verheugen hat letztes Jahr ungefähr um diese Uneinigkeit zwischen Engländern und Fr an Zeit von dieser Stelle aus noch die Bundesregierung zosen auf der einen und den Amerikanern angegriffen und vehement beschimpft mit dem Tenor, auf der anderen Seite!) uns ginge es nicht darum, den Frieden sicherer zu — Ich glaube, daß Sie das falsch darstellten, als Sie machen, sondern uns ginge es darum, die Außenpoli- den Amerikanern und den Moslems eine Schuld tik der Bundesrepublik Deutschland zu militarisieren. gegeben haben. Die Amerikaner waren nicht bereit, Wir haben dem damals vehement widersprochen. Druck auf die Moslems auszuüben, um einem unge- Inzwischen stellt sich heraus — und Sie geben es rechten Frieden zuzustimmen. Ich finde, das war eine selbst zu —, daß wir recht gehabt haben. Wir fordern nachvollziehbare Haltung. Sie auf, ja wir flehen Sie an: Wirken Sie mit bei dem, was wir notwendigerweise tun müssen. (Dr. Peter Glotz [SPD]: Das müssen Sie mit Allerdings habe ich meine Zweifel, daß Ihnen das Außenminister Kinkel erörtern!) gelingen kann; denn Sie wollen im Herbst an die — Nein, auch Herr Kinkel hat niemals eine solche Regierung, und als Regierungspartner bieten sich Position vertreten. Wir brauchen einen gerechten Ihnen die GRÜNEN an. Frieden, denn sonst ist der nächste Krieg vorgezeich- (Freimut Duve [SPD]: Wir sind offen, ganz net. - offen!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die haben gerade gesagt, man sollte die Bundeswehr Deswegen brauchen wir eine gerechte Lösung auch auflösen, sie nach Hause schicken, aus der NATO für die Moslems in Jugoslawien. austreten. Meine Damen und Herren, da müssen Sie uns und dem Bürger rechtzeitig vor der Wahl noch Hier soll Jugoslawien im Mittelpunkt stehen. Aber sagen, wie sich das vereinbaren läßt, wenn Sie eine natürlich müssen wir die Verbindung zu unserer Rolle Koalition mit dieser Partei eingehen wollen. ziehen. Herr Duve hat gesagt, eine Regierung Schar- ping hätte die Abschüsse der serbischen Maschinen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ebenso gebilligt — ten der CDU/CSU) Diese Frage stellen wir Ihnen immer wieder — bis wir (Freimut Duve [SPD]: Wie das Präsidium der SPD!) eine befriedigende Antwort bekommen haben. Ich danke. — genau, das wollte ich sagen — wie das SPD Präsidium. ( [CDU/CSU]: Da wird der Herr Vizepräsident Helmuth Becker:Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Bundesminister der Opel ausgeschlossen!) Verteidigung, unser Kollege Volker Rühe. Wie stehen Sie zu der deutschen Beteiligung? Lassen wir die rechtliche Analyse mal außer acht! Wie stehen Sie inhaltlich zu der deutschen Beteiligung an Volker Rühe, Bundesminister der Verteidigung: den AWACS-Flügen? Der entscheidende Punkt ist Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das doch folgender: Wer immer in Deutschland in den Massaker auf dem Marktplatz in Sarajevo am 5. Fe- nächsten Jahren regieren wird, wird mit Situa tionen bruar war ein trauriger Höhepunkt des Krieges, aber konfrontiert, in denen es auch darum gehen wird, daß auch ein Wendepunkt; denn danach gab es das z. B. auch deutsche Flugzeuge — genauso wie nieder- Ultimatum der NATO. Ich glaube, daß heute jeder- ländische, amerikanische, englische und französi- mann erkennen kann, daß der Erfolg des Friedenspro- sche — unter dem Dach und im Auftrag der Vereinten zesses in Jugoslawien ganz wesentlich von dem Nationen eingesetzt werden, um solche Ak tionen Willen der Vereinten Na tionen und auch der Allianz durchzuführen, wie das am Anfang dieser Woche der abhängt, gegen Aggressoren und Gewalttäter notfalls Fall war. Tragen Sie so etwas inhaltlich mit? auch mit militärischen Mitteln vorzugehen. Herr Glotz, es ist eine historische Erfahrung, daß (Beifall bei der F.D.P. — Paul Breuer [CDU/ CSU]: Sehr gute Frage!) man Gewaltanwendung desto eher verhindern oder doch begrenzen kann, je sicherer der Einsatz von Wenn Sie das grundsätzlich ausschließen — auch Gegengewalt erwartet werden muß. Darauf hat im ich bin dafür, daß es in dieser Krise nicht von Deut- übrigen auch der Frieden dieses L andes für viele schen gemacht wird; aber ganz generell werden Jahrzehnte beruht. Vielleicht war es ein Fehler, daß solche Situationen auf uns zukommen —, dann blok- man in den Verhandlungen nicht deutlicher und kieren Sie die Friedenseinwirkungsmöglichkeiten der 18434 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Bundesminister Volker Rühe NATO und der WEU in Europa im Auftrag der UNO. Es kommt jetzt darauf an, den Friedensprozeß in Das ist die Frage, der sich die Sozialdemokraten Bosnien energisch voranzutreiben. Wir brauchen stellen müssen und zu der sie noch inhaltliche Ant- einen gerechten und fairen Frieden. Nur der wird worten geben müssen. Das wissen Sie auch, wie Sie halten. Deswegen darf es keinen falschen Druck hier angezeigt haben. geben, sondern es muß der richtige Druck ausgeübt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge werden, um zu einem gerechten und fairen Frieden zu ordneten der F.D.P.) kommen. Das Zusammenleben aller Menschen in Bosnien muß unter gleichen Bedingungen sicherge- Es ist vom Außenminister zu Recht gesagt worden, stellt werden. Die Menschen müssen ja wieder zusam- daß Rußland eine konstruktive Rolle gespielt hat und menleben können. Die Bereitschaft hierzu muß geför- daß wir diese auch weiterhin fördern und in Anspruch dert werden. Sonst nützt das schönste Verhandlungs- nehmen sollten. papier nichts. Ich möchte hier an die Leistungen der Bundeswehr Eine gewaltsame Veränderung von Grenzen ist erinnern, die trotz konkreter Gefahr für die Piloten nicht hinnehmbar. Der Kon flikt darf sich über Bosnien und auch konkreter Drohungen gegen deutsche Flug- hinaus nicht ausweiten. Und jetzt ganz konkret: Hilfe zeuge täglich die Flüge nach Sarajevo durchführt und Schutz für die bosnische Bevölkerung müssen — wir haben sie am Montag nur einmal für 24 Stunden über Sarajevo und die Hoffnung, die es für Tuzla gibt, unterbrochen, zusammen mit den anderen — und jede hinaus der Kern aller Bemühungen sein. Das muß Nacht, auch diese Nacht, die Versorgung — trotz schnell geschehen, damit die Menschen wieder serbischer Drohungen — der Bevölkerung in Bosnien zusammenleben können, damit sie in Frieden leben übernimmt. Ich glaube, das verdient, auch an dieser können. Dann hat der Friedensprozeß auch eine Stelle gewürdigt zu werden. Chance. Dann, Herr Glotz, ist wohl die Lek tion gelernt worden, daß man mit der richtigen Mischung von (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. politischer Konzeption, Diploma tie, aber auch Bereit- sowie bei Abgeordneten der SPD) schaft, militärische Mittel einzusetzen, in der Welt, Genauso verdient es der Einsatz der Ma rine beim wie sie nun einmal ist, dem Frieden am besten dienen Embargo in der Adria, gewürdigt zu werden. kann. Schon vor einem Jahr ist der UNO-Beschluß mit der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Resolution 816 gefaßt worden. Es ist so- lange nicht sowie bei Abgeordneten der SPD) geschossen worden, weil es eine solche Verletzung durch Flugzeuge bisher nicht gegeben hat. In dem Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Moment, in dem es sie gegeben hat, ist von seiten der Herren, ich erteile jetzt unserem Kollegen Chris tian NATO sofort gehandelt worden. Schmidt das Wort. Ich glaube, daß die Frage zu Recht gestellt werden kann, wie wir dastünden, wenn wir nicht als Bundes- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Präsi- regierung vor einem Jahr in einem schwierigen poli- dent! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kolle- tischen und rechtlichen Prozeß dafür gesorgt hätten, gen! Der katholische Bischof von Banja Luka, mit dem daß die deutschen Soldaten an Bord der AWACS ich gestern ein Gespräch geführt habe, hat in für mich bleiben. Wir hätten uns inte rnational isoliert. sehr eindrucksvoller Art und Weise die Hoffnung zum (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ausdruck gebracht, die die Menschen über Sarajevo und Tuzla hinaus wieder schöpfen, auch wenn es Deswegen sollten wir ohne Häme und in aller Ruhe schwierig sein mag, ihn durch die Realität in der darüber nachdenken und sind uns hoffentlich einig: Hoffnung zu bestärken, daß wir in der Frage eines Es kann in Zukunft keinen Unterschied geben zwi- fairen und gerechten Friedens schon über den Berg schen dem Einsatz von Deutschen und beispielsweise sind. Der Verteidigungsminister hat dies gerade deut- Franzosen. lich zum Ausdruck gebracht. (Widerspruch der Abg. Heidemarie Wieczo Wenn wir von dem Angriff gegen diese Menschen rek-Zeul [SPD]) sprechen, dann müssen wir von den aufgestiegenen — Sie können Ihre Posi tion nachher vertreten. Ich bin serbischen Flugzeugen sprechen. Wenn wir von nicht der Meinung, daß ein 19jähriger Franzose auf einem Akt der Humanität reden, dann müssen wir den Dauer ein größeres Risiko für den Frieden in Europa Einsatz der NATO nennen. Wenn wir den Blick auf die tragen soll als ein 19jähriger Deutscher. letzten Jahre zurück richten — ich will hier nicht nachtarocken —, dann müssen wir dabei eines noch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. einmal ganz deutlich machen: Das Prinzip der sowie bei Abgeordneten der SPD) Abschreckung, das die NATO 45 Jahre lang getragen Es ist doch nicht in Ordnung zu sagen: Es ist gut, was hat und das unseren Frieden in Europa ge tragen hat, hier geschehen ist, daß die NATO im Auftrag der UNO funktioniert noch. Dieses Prinzip der Abschreckung ist gehandelt hat; aber wir wollen uns die Finger mit so leider zwei Jahre zu spät angewendet worden. Wir etwas nicht schmutzig machen. Wenn das politisch können uns vorstellen, was mit Vukovar oder Dubrov- und moralisch richtig ist — ich entnehme Ihren Aus- nik gewesen sein könnte, als es damals darum ging, führungen, daß es moralisch richtig war, so zu han- ein deutliches Zeichen zu setzen. deln —, dann müssen sich doch auch Deutsche daran (Zustimmung bei der CDU/CSU) beteiligen. Wir tun uns — bei allem Respekt vor den persönlichen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Beiträgen des Kollegen Duve und des Kollegen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18435

Christian Schmidt (Fürth) Glotz — sehr schwer mit unserer verquasten „Verfas- Nationale Volksarmee 1968 beim Einmarsch in die sungsdiskussion". Wir können sie beim Blick in die Tschechoslowakei. Vergangenheit, bei dem ich schon noch einen Augen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge blick bleiben werde, nicht einfach hinwegwischen. ordneten der F.D.P.) Die Zwischenfrage, Kollege Koppelin, die ich dem Kollegen Verheugen gestellt habe, ist in der Tat dezidiert mit Nein beantwortet worden, nämlich die Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Frage: Sind Sie, ist die SPD bereit, diesem Einsatz der Herren, jetzt erhält das Wort unsere Frau Kollegin NATO im Rahmen von AWACS zuzustimmen? Heidemarie Wieczorek-Zeul. Ich entnehme den Äußerungen, die heute gemacht worden sind, daß zumindestens ein Diskussionspro- Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD): Liebe Kollegin- zeß in der SPD darüber im Gange ist, ob das denn der nen und Kollegen! Wir alle sind der Meinung, daß die richtige Weg war. Nun gut, das wird möglicherweise sich abzeichnenden möglichen politischen Lösungen nicht der letzte Fall gewesen sein, wo Abschreckung vor allem ein Erfolg für die Menschen in Bosnien dokumentiert werden muß. Es bleibt zu hoffen, daß es Herzegowina und im zerfallenen Jugoslawien sind. anders ist. Aber daß wir als Parlament uns selbst und (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der der Regierung den Weg versperren und jeweils den F.D.P.) Umweg über Karlsruhe nehmen müßten, das kann doch wohl nicht der Sinn und das Ziel Ihrer Politik Was mich an dieser Debatte stört, ist, daß ein Teil der sein. Hic Rhodos, hic salta! Es wird nicht anders gehen Kollegen dies offensichtlich als Beleg dafür nehmen können, als daß Sie hier und heute sagen: Sind wir nun möchte, daß militärische Lösungen wieder möglich grundsätzlich dafür, daß sich die Bundeswehr im seien. Rahmen des Bündnisses auch bei Operationen, die im (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Auftrag der Vereinten Nationen außerhalb des Ver- Nein, aber ab und zu notwendig!) tragsgebietes laufen, beteiligt oder nicht? Das ist die Ich muß sagen: Ich setze hier dagegen. Noch bei der ganz entscheidende Frage. Wehrkundetagung hat Helmut Kohl deutlich darauf Ein Vorschlag, Herr Kollege Glotz, wie wir das aus hingewiesen, warum kein militärisches Eingreifen praktiziert wird, nämlich um weiteres Blutvergießen dem Wahlkampf heraushalten: Unser Antrag- wird ja immer noch beraten. Wir könnten ja unseren Vor- zu verhindern. schlag zur Änderung des Grundgesetzes — ich (Zuruf von der CDU/CSU: Lesen Sie das doch glaube, im Rechtsausschuß liegt er noch — wieder einmal genauer!) aufnehmen und darüber gemeinsam abstimmen. Ich betone an dieser Stelle, wie der Kollege Glotz: (Dr. Peter Glotz [SPD]: Kommt nicht im Mai Hätten sich vor zwei Jahren alle Beteiligten, ein- ein Verfassungsgerichtsurteil?) schließlich USA und Rußland, Wenn der Deutsche Bundestag ihm mit großer Mehr- (Jürgen Koppelin [F.D.P.]: Und der SPD!) heit, auch mit Ihren Stimmen, zustimmte, dann hätten in dem politischen Wollen zusammengefunden, eine wir genau das, was wir brauchen: Vertrauen, Glaub- politische Lösung zu finden, sie wären gefunden würdigkeit, Fähigkeit zur Abschreckung und zum worden, und es wäre den Menschen dort vieles erspart Bündnis. geblieben. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD — Paul Breuer [CDU/ Bei den jetzigen Entwicklungen, bei der Peters- CSU]: Das hat Herr Glotz zwar gesagt, aber berg-Konferenz und bei dem wesentlichen Beitrag der er hat noch anderes gesagt!) Bundesregierung zum Zustandekommen der — hof- Das zweite, das ich ansprechen will: Es war und ist fentlich, sage ich — Friedensregelungen in Bosnien gemeinsame Überzeugung aller Parteien im Deut- mit der Konföderation und der Föderation zwischen schen Bundestag, daß die Bundeswehr in Jugosla- Serben und Moslems, will ich nicht verweilen. wien, unabhängig von jeder verfassungsrechtlichen Frage, auf keinen Fall eingesetzt werden dürfe. Auch (Freimut Duve [SPD]: Zwischen Kroaten und wir haben unsere Verantwortung. Ich fordere Sie auf, Moslems!) liebe Kolleginnen und Kollegen: Nehmen wir sie doch — Entschuldigung, da war wohl der Wunsch der Vater bitte einmal auf eigenem Boden wahr! Es kann doch des Gedankens. Es wäre ja schön, wenn wir es durch wohl nicht wahr sein, daß die Bundesregierung z. B. den Druck auch schaffen könnten, daß die Serben in Kriegsverbrecher auf unserem Boden nicht verfolgt, Bosnien sich dazu verstehen, mit in eine Föderation nicht dafür sorgt, daß sie festgenommen werden, weil einzutreten. Über Details ließe sich immer reden. Herrn Kinkel die Adressen nicht mitgeteilt worden sind, um nur einmal ein entsprechendes Beispiel zu Lassen Sie mich beim Blick in die Vergangenheit nehmen. noch einmal auf den Antragsteller dieser Aktuellen Stunde zurückkommen. Jeder, der das martialische (Beifall bei der SPD — Zuruf von der F.D.P.: Wort vom ersten Kampfeinsatz der Nato und der Sehr billig!) Beteiligung der Bundeswehr mit dem Unterton unter- Der dritte Punkt, den ich ansprechen will, und zwar legt, da wäre Militarismus im Gange, muß sich fragen abgesetzt jetzt von der Diskussion über das ehemalige lassen, unter wessen Ägide welche deutsche Armee Jugoslawien: Es ist ein grundsätzliches Problem nach dem Zweiten Weltkrieg das einzige Mal in — und jeder, der sich darüber hinwegmogeln will, aggressiver Absicht tätig geworden ist. Das war die sagt nicht die Wahrheit —, daß der UNO-Sicherheits- 18436 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Heidemarie Wieczorek-Zeul rat die NATO mittlerweile sozusagen als Regionalor- wohin sich NATO und auch deutsche Verteidigung ganisation der UNO behandelt. Das ist ein Problem, nicht entwickeln sollen. wenn man ein politisches, ein militärisches Verteidi- (Beifall des Abg. Dr. Peter Glotz [SPD] — gungsbündnis mit solchen Aufgaben be traut. Es Zuruf von der F.D.P.: Ein peinlicher Auf könnte im übrigen sehr wohl im Kon flikt stehen mit tritt!) dem Interesse von mittel- und osteuropäischen Län- dern, Mitglied der NATO zu werden. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Ich betone aber an der Stelle eines — und das Herren, es gibt noch zwei Wortmeldungen. Die erste versucht ein Teil von Kollegen geflissentlich unter den ist von Dr. Karl-Heinz Hornhues. Bitte, Kollege Ho rn Tisch fallen zu lassen, auch Herr Rühe, von dem ich -hues hat das Wort. übrigens eine andere Klarstellung erwarte —: Der NATO-Vertrag stellt eine Bündnispflicht nur zur Ver- Dr. Karl-Heinz Homhues (CDU/CSU): Herr Präsi- teidigung dar. Die Frage, ob sich ein Land an der dent! Verehrte Frau Kollegin Wieczorek, ich bin Ihnen Kriegsführung oder an den angeblichen sogenannten ausgesprochen dankbar für Ihre Klarstellung, denn neuen Sicherheitsaufgaben der NATO im Auftrag der Sie haben endlich den Nebelvorhang zerrissen, UNO beteiligt, ist absolut der eigenen Entscheidung des jeweiligen Landes überlassen. Es gibt keine (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Bündnispflicht zu einer derartigen Beteiligung. den Ihr Vorsitzender und andere hier über die wahre Position der SPD permanent aufzubauen versuchen. Für die SPD gilt: Wir wollen UNO-Blauhelm-Aktio- Wir hätten uns viel sparen können, lieber Herr Kollege nen zur Hilfe, zur Vermittlung unterstützen, aber wir Duve, lieber Herr Kollege Glotz, wenn Sie der Frau wollen keine Beteiligung von deutschen Soldaten an Kollegin Wieczorek in der Debatte den Vortritt gelas- Kriegführungen in aller Welt. Und dazu ist die Posi- sen hätten. tion absolut klar. (Beifall bei der F.D.P.) (Zuruf von der F.D.P.: Aber die anderen Dann hätten wir uns manches Nachfragen sparen und sollen es machen!) uns den zentralen Fragen zuwenden können, die uns heute bewegen müssen. Zu folgendem möchte ich jetzt die Klarstellung- von Denn, Frau Kollegin, ich empfinde es als heuchle- Herrn Riffle. Es geht den Kollegen der CDU/CSU, die risch, einerseits zu sagen, es ist schön, daß da endlich hier gesprochen haben, offensichtlich nicht um die etwas für die Menschen getan werden kann — und da Stärke des Rechts. Sonst erwarte ich, daß sich die reden Sie über die Menschen —, gleichzeitig aber Ihre Bundesregierung von den gestrigen Äußerungen des Meinung deutlich zu machen, daß Sie dafür sind, daß Generalinspekteurs Naumann in der FAZ distanziert. wir, wenn es im Ernst darum geht, eben nichts für Lesen Sie bitte, was da gesagt wird — ich zitiere —: diese konkreten Menschen tun, die — so die letzten Meldungen — inzwischen in Sarajevo wieder mit Ebenso wichtig sei, daß sich die NATO nicht Mörsergranaten — es soll vier Abschüsse gegeben grundsätzlich zum Mandatsempfänger der UN haben — beschossen werden. Die Frage, wie es denn oder der Konferenz über Sicherheit und Zusam- gelingen kann, Frieden zu schaffen, sind wir in jeder menarbeit in Europa machen lassen dürfe, weil es Konsequenz noch nicht los. Wir haben eine unglaub- Situationen geben werde, in denen weder die UN liche Chance. noch die KSZE Beschlüsse zustande bringen würde. Wir allerdings sollten zurückhaltend sein, so laut „wir" zu sagen. Denn unser Beitrag in Diskussionen, Wenn man die NATO so entwickelt, wie es Herr wie Sie sie wieder eingeführt haben, ist nicht gerade Naumann hier macht, wie es ein Teil der Regierungs- so, daß wir mit allzu gutem Gewissen, lieber Herr parteien offensichtlich will und wie es manche wollen, Kollege Duve, den Menschen dort ins Gesicht sehen dann führt das dazu, daß das Recht des Stärkeren in könnten. Vielleicht machen Sie das Ihrer Kollegin mal der Welt triumphieren wird, weil eben keine kollek- endlich klar. tive Sicherheit in irgendeiner Form bindet. Das trägt Worum es jetzt gehen muß, ist, daß wir in den dann dazu bei, die Position in diesen Fragen zu Bedrängnissen und Beklemmungen, an denen wir verunklaren. zum Teil nicht ganz unschuldig sind — ich sage nicht „wir", sondern: mancher in diesem Hause —, das Ich erwarte hier eine Klarstellung von seiten der Bestmögliche tun, um die Chance, die wir haben, die Bundesregierung, daß von der Regierung derartige die Menschen in Bosnien-Herzegowina, im ehemali- Linien nicht verfolgt werden. Sonst — das sage ich gen Jugoslawien haben, zu ergreifen, um endlich Ihnen — ist die ganze Diskussion, die Sie hier führen, Frieden zu bekommen. eine vorgeschobene Diskussion. Es geht Ihnen von der CDU/CSU nicht um die UNO, es geht manchen nicht So bitter es sein mag — ich hätte es mir auch anders um Menschenrechte, sondern — lesen Sie es bei Herrn gewünscht —: Das, was uns über lange Zeit bis heute Naumann nach — es geht für ihn darum, die NATO Sicherheit gegeben hat, nämlich eine glaubwürdige auch nach Süden — so hat er es ausgedrückt —, d. h. Gegengewaltandrohung für den Fall, daß wir ange- gegenüber der Dritten Welt, interventionsfähig zu griffen würden, war letztlich das Rezept, das in der machen. Konsequenz überhaupt Bewegung in diese scheinbar so hoffnungslos verfahrene Kiste gebracht hat. Deshalb bitte ich, daß das hier klargestellt wird und Ich stehe nicht an, hier allen zu danken, die dazu daß wir in der Diskussion auf die Punkte kommen, beigetragen haben, auch denen zu danken, die auf- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18437

Dr. Karl-Heinz Hornhues gestiegen sind und auf Befehl Flugzeuge abgeschos- geöffnet werden. Aus diesen offensichtlichen Erfolgen sen haben, auch den Soldaten der anderen Länder zu beider Maßnahmen ergeben sich unbequeme Fragen danken, die bereit gewesen sind und vielleicht noch an jene, die den Einsatz militärischer Mittel bisher bereit sein müssen, mit Gewalt der Gewalt, dem strikt abgelehnt haben. Ich gehöre zu ihnen. Morden, dem Schlachten und dem Töten ein Ende zu Wir müssen uns fragen lassen: Haben wir uns geirrt? bereiten. Wie viele Menschen mußten diesen Irrtum mit dem Ich bin sicher, daß die Bundesregierung tun wird, Leben bezahlen? Müssen wir das Waffenembargo was in ihren Kräften steht, um die angelaufenen gegenüber Bosnien überdenken? Ebenso klar müssen Prozesse zu unterstützen, zu befördern und nicht nur, wir uns aber fragen: Muß der militärische Einsatz nicht Herr Staatsminister, den Petersberg zur Verfügung zu Teil und notwendiges Instrument eines klar formulier- stellen. Ich gehe davon aus — es klang ein bißchen ten politischen Lösungskonzeptes für Bosnien-Herze- komisch —, daß das ein Licht-unter-den-Scheffel- gowina und darüber hinaus für die Krajina, für Ost- Stellen ist. Die Bundesregierung tut viel mehr. Man slawonien oder sogar im Hinblick auf den Kosovo sollte nicht sagen, man würde gerne die Fazilitäten zur sein? Verfügung stellen, sondern weiter konkret am Frie- den arbeiten. Ein klares Konzept gibt es leider immer noch nicht. Zwei Drittel Bosniens sind — zum Teil völkerrechts- Es ist gelungen, in gemeinsamer Aktion vorzuge- widrig — in serbischer Hand. Bei aller politischer und hen, vor allen Dingen auch Rußland zu bewegen, moralischer Empörung darüber: Zu glauben, den mitzumachen und mit dabei zu sein. Das ist auch für Zustand vor Ausbruch des Krieges wiederherstellen Europa insgesamt, für unsere Entwicklung eine aus- zu können, wäre wirklichkeitsfremd. gesprochen große und günstige Perspektive. Wir werden nach dem, was die Frau Kollegin (Dr. Peter Glotz [SPD]: Ja!) Wieczorek-Zeul gesagt hat, damit leben müssen, Aber es gibt Zeichen der Hoffnung. Ich meine den meine sehr geehrten Damen und Herren, daß diese erfolgreichen Abschluß muslimisch-kroatischer Ver- Politik in ihrer Konsequenz wohl von uns allein handlungen in Washington. Hier wurde unter ameri- getragen werden muß. Das ist schade. Es wäre besser kanischer Schirmherrschaft und mit deutscher Betei- gewesen, wenn wir endlich Gemeinsamkeit hätten ligung ein Abkommen erzielt, welches einen födera- erreichen können. Diese Chance haben Sie vor weni- len, demokratischen Rechtsstaat auf dem Ter ritorium gen Minuten zerschlagen, denn von denen aus Ihrer Bosnien-Herzegowinas errichten will. In ihm sollen Fraktion, die gesprochen haben, sind Sie für mich die ethnisch-religiöse Mehr- und Minderheiten ohne Maßgebliche, denn Sie sind als Vertreterin von Herrn Beeinträchtigung miteinander leben können. Scharping die wichtigste Funktionsträgerin der SPD, Es war leider kein Zufall, daß die Serben andere die sich hier zu Wort gemeldet hat. muslimische Städte und Enklaven wie Bihac, Maglaj (Beifall des Abg. Michael Glos [CDU/CSU]) und Tuzla unter verstärkten Beschuß mit Panzerkano- Schade, daß eine große Chance zum gemeinsamen nen und Artillerie genommen haben, während die Bemühen um Frieden hier vertan worden ist. Ich hoffe Washingtoner Verhandlungen liefen, und das noch auf Nachbesserung. Die letzte Chance liegt immer in immer tun. Die Leiden der Zivilbevölkerung in diesen der nächsten Debatte. Wir werden uns weiter damit eingekesselten Städten gleichen denen in Sarajevo beschäftigen müssen. vor Ablauf des Ultimatums. Herzlichen Dank. Es bedarf jetzt dringend einer Verzahnung von (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Verhandlungsoptionen und militärischem Nach- druck, um die Bestialitäten dieses Krieges zu been- den. Der NATO kommt hier eine große Verantwor- Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und tung zu. Sie muß ihre neue Rolle als im Auftrag der Herren, als letztem Redner in der Aktuellen Stunde Vereinten Nationen handelnde Organisation gründ- erteile ich unserem Kollegen Dieter Schloten das lich reflektieren. Aber jetzt sollte sie gegenüber ande- Wort. ren Belagerungsringen um bosnische Städte eine vergleichbare Entschlossenheit zeigen wie im Falle von Sarajevo. Dieter Schloten (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolle- ginnen und Kollegen! Zwischen dem NATO-Ultima- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ tum zum Abzug der schweren Waffen um Sarajevo CSU und der F.D.P.) und dem Abschuß von vier Bombenflugzeugen in der Die Bundesrepublik Deutschl and sollte die Chance Flugverbotszone steht ein untrennbarer Zusammen- nutzen, den in Teilbereichen begonnenen Friedens- hang. Die UNO und in ihrem Auftrag die NATO haben prozeß durch ihr diplomatisches Know-how und das sich entschlossen gezeigt, Beschlüsse auch mit militä- fortgesetzte Angebot guter Dienste tatkräftig weiter rischen Mitteln durchzusetzen. zu unterstützen. Darüber hinaus muß die Bundesrepu- Die Ergebnisse sind: Die Menschen in Sarajevo blik eine konstruktive Rolle beim Wiederaufbau des können wieder etwas freier atmen. Sie gehen auch zerstörten Landes übernehmen. Das ist angesichts der wieder auf die Straße, obwohl es heute nacht Rück- jüngeren Geschichte hilfreicher als das Auftreten in schläge gegeben hat. Sie haben aber wieder ein Uniform. wenig Hoffnung und nicht nur Angst. (Zustimmung bei der SPD) Zweitens. Einige Zufahrtswege für humanitäre Hil- Nun gestatten Sie mir zum Schluß eine persönliche fen sind wieder offen. Der Flughafen von Tuzla soll Meinung: Wo Völkerrecht gebrochen wird, darf 18438 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Dieter Schloten zukünftig die militärische Option im Rahmen der Vorschlag für einen Beschluß des Rates zur Bündnisse nicht völlig ausgeschlossen werden. Änderung des Beschlusses 77/270/Euratom (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zwecks Ermächtigung der Kommission, im der F.D.P.) Hinblick auf einen Finanzbeitrag zur Verbes- serung des Wirkungsgrads und der Sicherheit Eine Politik, die sich diesen Bündnisverpflichtungen von Kernkraftanlagen in bestimmten Drittlän- entzöge, wäre isolationistisch und für uns Deutsche dern Euratom-Anleihen aufzunehmen ein verhängnisvoller Fehler. — Drucksachen 12/4491 Nr. 2.30, 12/6641 — Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Berichterstattung: (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Abgeordnete Klaus Harries F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Dr. Klaus Kübler NEN) Gerhart Rudolf Baum Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und — Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist Herren, die Aktuelle Stunde ist damit beendet. dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst dem Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 auf: Herrn Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt das Wort. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in der Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister für Wirtschaft: Verstromung und zur Änderung des Atomge- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die kon- setzes junkturelle Erholung bedarf der Fl ankierung durch — Drucksache 12/6908 politisches Handeln, das diesen Trend unterstützt. Das gilt auch für die Energiepolitik; denn Energiepolitik ist —Überweisungsvorschlag: Standortpolitik, und Energiepolitik ist in diesem Ausschuß für Wirtschaft (federführend) - Finanzausschuß Zusammenhang Kostensenkungspolitik. Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Der Entwurf eines Artikelgesetzes zur Kohle und Haushaltsausschuß Kernenergie ist ein zentrales Element in einem glaub- b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD würdigen wirtschaftspolitischen und energiepoliti- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über schen Konzept. Es kommt darauf an, Planungssicher- die weitere Sicherung des Einsatzes von Stein- heit für Investitionen in einem auch weiterhin ausge- kohle in der Elektrizitätswirtschaft und zur wogenen Energiemix zu gewährleisten. Energiever- Einführung einer Energiesteuer sorgungsstrukturen auf die Zukunft ausrichten heißt — Drucksache 12/6382 — auch, Technologien weiterzuentwickeln, heißt, zu- mindest die Option für die Entwicklung zukunfts- Überweisungsvorschlag: orientierter Technologie offenzuhalten. Über all diese Ausschuß für Wirtschaft (federführend) Finanzausschuß Fragen eine breit getragene Verständigung herbeizu- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit führen war Ziel der Energiekonsensgespräche im Haushaltsausschuß gemäß § 96 GO vorigen Jahr. c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- Die Bundesregierung — das möchte ich auch heute ten Dr. Dagmar Enkelmann und der Gruppe der noch und mit Nachdruck sagen — hält nach wie vor PDS/Linke Liste am Ziel eines parteiübergreifenden Energiekonsen- Entsorgungssituation der bundesdeutschen ses fest. Für sie sind aber Kohle und Kernenergie Atomanlagen unverzichtbare Bestandteile eben dieses Mixes. Das — Drucksachen 12/5385, 12/5900 — vorliegende Gesetz schafft hierzu die Grundlage. Es ist bewußt so an- und es ist bewußt so ausgelegt. d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rein- Der einschneidende Anpassungsprozeß im Stein- hard Weis (Stendal), Siegrun Klemmer, Diet- kohlenbergbau wird sich auch in den nächsten Jahren mar Schütz, weiterer Abgeordneter und der fortsetzen. Zur Notwendigkeit ausgabenseitiger Kon- Fraktion der SPD solidierung habe ich immer wieder das Stichwort Endlager für schwach- und mittelradioaktive Subventionsabbau genannt. Auch der Steinkohlen- Abfälle Morsleben (ERAM) bergbau wird seinen Beitrag beim Subventionsabbau — Drucksache 12/6422 leisten müssen. —Überweisungsvorschlag: (Zuruf von der SPD: Leistet er schon!) Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit — Das ist richtig. Aber er wird gesteigert werden (federführend) Rechtsausschuß müssen, und so haben wir das ausgelegt. Ausschuß für Wirtschaft Der Gesetzentwurf der Bundesregierung bringt die e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Interessen der Bergleute auf der einen Seite und der Berichts des Ausschusses für Umwelt, Natur- Unternehmen an Planungssicherheit mit unseren nur schutz und Reaktorsicherheit (17. Ausschuß) zu begrenzt zur Verfügung stehenden Finanzspielräu- der Unterrichtung durch die Bundesregierung men auf der anderen Seite in Übereinstimmung. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18439

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Der Bergbau erhält einen gesicherten Finanzrah- sorgungsstrukturen auf Ostdeutschland richtig war. men mit einem Plafond für 1996 von 7,5 Milliarden Ich habe auch da eine ganz spezielle Meinung, aber DM und bis zum Jahre 2 000 von 7 Milliarden DM pro das Ganze ist 1990 von der Übergangsregierung Jahr. Das ist eine Begrenzung, wie es sie vorher nicht angeleiert und unter Dach und Fach gebracht wor- gegeben hat. Das ist deutlich Ausdruck dessen, daß den. wir das System umgestellt haben, daß wir auf das Heute kommt es darauf an, die riesigen anstehen- Mengengerüst Druck entstehen lassen möchten. den Investitionen zu tätigen. Investitionen in Höhe Nach dem Jahre 2 000 sollen und müssen die Subven- von 30 Milliarden DM liegen dort tionen weiter gesenkt werden. an. Wenn die Länder und die Kommunen hier Forderungen stellen sollten, (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der die zu rechtlichen Auseinandersetzungen führen, CDU/CSU) dann wird es mit Sicherheit dazu kommen, daß die Die Verstromungshilfen sind also langfristig degres- Lösung im Sinne einer verstärkten Investitionstätig- siv ausgestaltet — ein wichtiger Aspekt im übrigen keit weiter auf sich warten läßt. Unsicherheiten laufen auch für die Genehmigung durch die Brüsseler Kom- gegen die Interessen der Investitionen im Osten mission. Dieser Aspekt fehlt im SPD-Entwurf völlig. Deutschlands. Damit wäre er auch zum Scheitern verurteilt. Die Ich habe von der Elektrizitätswirtschaft, mit der ich Bergbauunternehmen werden dadurch noch stärker vor kurzem gesprochen habe, die Zusicherung erhal- als in der Vergangenheit dazu gebracht, Rationalisie- ten, daß sie an der Neubauplanung für die Kraftwerke rungsspielräume auszuschöpfen. Der Bundesrat hat kapazitätsmäßig in vollem Umfang festhalten will. — wie sollte es anders sein, meine Damen und Auch sollen alle wirtschaftlich vertretbaren Möglich- Herren — am 4. Februar 1994 den Entwurf der keiten ausgeschöpft werden, um ostdeutschen Braun- Bundesregierung zunächst einmal abgelehnt. kohlenstrom zusätzlich in Ost- und in Westdeutsch- Die Diskussion läßt mich hoffen, daß wir im weiteren land abzusetzen. Wichtig ist, daß die kommunale Gesetzgebungsverfahren zu einer sachlichen, zu Eigenerzeugung auf die vereinbarte Größenordnung einer pragmatischen Behandlung dieser wichtigen von 30 % beschränkt bleibt. Angelegenheit kommen werden. Entscheidend für die Schaffung neuer Industriean- Die neuen Bundesländer werden 1996 erstmalig in siedlungen und die Abfederung des weiteren Rück- die Finanzierung der Steinkohlenverstromung einbe- gangs von Arbeitsplätzen im aktiven Bergbau ist die zogen. Die Bundesregierung hat aber eine Über- Weiterführung der Altlastensanierung in der Braun- gangsregelung vorgeschlagen. In den neuen Bundes- kohle — ein großes Problem und eine teure Angele- ländern soll 1996 ein ermäßigter Kohlepfennig gelten. genheit. Die Bundesregierung hat einen konkreten Er wird gegenüber den alten Bundesländern um 25 % Vorschlag vorgelegt, damit die zunächst bis 1997 gesenkt, d. h. er wird nur 6,4 % des Rechnungsbetra- befristete Altlastensanierung auf der Basis der bishe- ges ausmachen. rigen Zusammenarbeit mit den neuen Bundesländern Meine Damen und Herren, die ostdeutsche Braun- fortgesetzt werden kann. Danach wird es Lösungen kohle ist von einem schmerzhaften Anpassungspro- geben, um diese dringend erforderlichen Arbeiten zeß betroffen. Der wichtigste Absatzbereich — Ver- weiterzuführen. stromung — ist aber jetzt durch Nachrüstungs- und Meine Damen und Herren, im Energiemix zur Neubauentscheidungen für die Zukunft weitgehend Stromerzeugung brauchen wir ein Gegengewicht zur stabilisiert. Die Privatisierung kommt gut voran. Wir teuren deutschen Steinkohle, um die ökonomischen haben einen Durchbruch erzielt. und ökologischen Auswirkungen abzumildern. Die Ich bin sehr froh, daß die MIBRAG privatisiert ist weitere Nutzung der Kernenergie trägt — wir sind und daß darüber hinaus 11 von 14 regionalen Strom- davon überzeugt — zu einer preisgünstigeren S trom- versorgungsunternehmen veräußert worden sind. erzeugung bei. Das umweltpolitische Ziel einer Über die restlichen 3 Unternehmen finden derzeit Reduktion von CO2 ist ohne den Beitrag der Ke rn Veräußerungsverhandlungen statt. Ich bin sicher, daß -energie nicht erreichbar. in absehbarer Zeit auch die restlichen 3 privatisiert (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) werden können. Auch die Sicherung des Technologiestandorts Ich begrüße außerordentlich, daß jetzt auch die Deutschland, die auch die Opposition immer wieder LAUBAG, also die Braunkohle in der Lausitz, und die anmahnt, läßt nicht zu, daß wir unsere Führungsposi- VEAG, das Verbundunternehmen im Osten Deutsch- tion in der Reaktortechnik, in der Reaktorsicherheit lands, privatisiert werden können, weil eine Einigung und im Brennstoffkreislauf einfach aufgeben, schon über den Kaufpreis bei der VEAG erreicht worden gar nicht aus ideologischen Gründen. Aber wenn das ist. denn so ist, wenn wir diese Führungsposition bewah- Zu klären bleibt, wie dem kürzlich vorgetragenen ren wollen, dann frage ich mich, warum bestimmte Wunsch nach Berücksichtigung der Interessen der Teile und bestimmte Mehrheiten im Präsidium der ostdeutschen Länder und Kommunen Rechnung SPD Herrn Schröder, der einen Ausgleich suchte, eine getragen werden kann. Ich gehe davon aus — ich Option wenigstens offenhalten wollte, haben im hoffe; so muß ich es ausdrücken —, daß das Käufer- Regen stehenlassen. Das war nämlich der Fall. Zudem Konsortium der VEAG und die interessierten L ander wären wir nicht fähig, einen wirksamen Beitrag zur eine Lösung finden, damit nicht neue Unsicherheiten Verbesserung der Sicherheit der Kernkraftwerke in entstehen. Man kann sich lange darüber unterhalten, Mittel- und Osteuropa zu leisten, wenn wir uns von ob die Übertragung der westdeutschen Energiever- dieser Technologie verabschieden würden. 18440 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Bundesminister Dr. Günter Rexrodt Aus all diesen Gründen gehört die Kernenergie in denen wir einen Konsens in Einzelfragen finden das Artikelgesetz. Mit der Einführung eines zusätzli- können. Das haben Sie nicht gemacht. Sie haben chen Sicherheitsziels für künftige Kraftwerksgenera- wertvolle Zeit nutzlos verstreichen lassen. Damit tionen setzt die Bundesregierung dabei ein Zeichen: haben Sie sich selber in eine Zeitnot hineinmanö- ein Zeichen, das beim Kernenergieeinsatz Sicherheit vriert, die es heute höchst unwahrscheinlich erschei- als oberstes Gebot erscheinen läßt. Das bedeutet aber nen läßt, in der drängenden kohlepolitischen Frage auch, daß die Tür für die Kernenergienutzung tatsäch- noch vor dem Ende dieser Legislaturperiode eine lich offenbleibt. Wir können das nicht fordern, wir Lösung zu finden. können nicht erwarten, daß unsere Industrie Millio- nen und Abermillionen — dreistellige Millionenbe- (Beifall bei der SPD) träge — in neue Technologien investiert, wenn sie Mehr noch: Mit diesen taktischen Spielereien nicht einmal die Option haben sollte, diese Investitio- haben Sie sich im Prinzip selbst gespalten, und das in nen eines Tages zu amortisieren, und zwar auch hier mehrfacher Hinsicht. Sie sind gespalten in der Frage, in unserem Land. ob für die Verstromung heimischer Steinkohle über- Im Interesse des Wirtschaftsstandorts Deutschland haupt noch so hohe Fördermittel zur Verfügung müssen wir gemeinsam Klarheit in diesen drängen- gestellt werden sollen. Einige Ihrer Landesregierun- den Fragen schaffen. Dies setzt die Fähigkeit zum gen, besonders im Osten und im Süden des Landes, Kompromiß bei allen Parteien voraus. Der Entwurf der folgen Ihnen da nicht mehr. Bundesregierung ist ein wohlabgewogener Ausgleich der Interessen. Der Gesetzentwurf der SPD schafft Sie sind gespalten in der Frage, wie diese öffentli- diesen Interessenausgleich nicht. Er ist kein Beitrag chen Mittel gegenfinanziert werden sollen. Bundesfi- zum Subventionsabbau, er ist kein Beitrag zur Siche- nanzminister Waigel besteht darauf, daß keine Mark rung des Technologiestandorts Deutschl and. Er sattelt aus dem Bundeshaushalt kommen darf, sondern der drauf, wo Konsolidierung angesagt ist und wo Degres- Kohlepfennig weiter erhoben wird, obwohl er genau sion angezeigt ist. weiß, daß dies auf Dauer keine Gnade mehr in Brüssel (Beifall des Abg. Hermann Rind [F.D.P.]) finden wird, obwohl er weiß und auch immer wieder gesagt hat, daß dadurch die Strompreise übermäßig Er geht an den entscheidenden wirtschaftspolitischen belastet werden, und obwohl er auch weiß, daß auf Notwendigkeiten vorbei. Wirtschaftspolitisch not- dieser Grundlage die Energieversorgungsunterneh- wendig ist, daß jetzt über die Dinge entschieden- wird, men nach dem Auslaufen des Jahrhundertvertrages bei denen im Interesse des Wirtschaftsstandorts keine langfristigen Bezugsverträge mehr abschließen Deutschland, im Interesse eines Energiemixes, im werden. Interesse einer Kostensenkung zur Erhaltung von Arbeitsplätzen in unserem Land jetzt dringender Sie sind gespalten in der Frage, wie mit einem Handlungsbedarf besteht. Energiepolitik gehört gerade noch vertretbaren Kohlepfennig das notwen- dazu. Es muß einen sinnvollen Energiemix aus Kohle dige Finanzvolumen bereitgestellt werden kann, um und Kernenergie geben. Das wollen wir mit diesem den Absatz der vereinbarten Kohlemengen zu stützen. Artikelgesetz. Dazu ist Ihnen nun eingefallen, den Kohlepfennig für Schönen Dank. das Jahr 1996 auf die neuen Bundesländer auszudeh- nen, obwohl auch Sie wissen, daß dies die ohnehin (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) schon höheren Strompreise im Osten abermals erhö- hen würde. Vizepräsident Helmuth Becker Meine Damen und Herren, nächster Redner ist unser Kollege Volker (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das rich Jung. ten wir schon!) Darum haben die ostdeutschen Regierungen ihre Volker Jung (Düsseldorf) (SPD): Herr Präsident! Zustimmung im Bundesrat verweigert. Meine Damen und Herren! Herr Bundeswirtschafts- In Ihrer Gegenäußerung haben Sie nun nachgebes- minister, in der letzten Debatte über die Energiepoli- sert und einen abgesenkten Kohlepfennig für Ost- tik, als Sie Ihr Artikelgesetz angekündigt haben, habe deutschland angeboten. Sollten die ostdeutschen L an ich Sie gefragt, ob Sie im Ernst daran glauben, auf der -desregierungen und die Abgeordneten hier im Bun- Grundlage dieses Gesetzes Investitions- und Pla- destag dem zustimmen — was ich mir eigentlich gar schaffen zu können. Darauf sind Sie nungssicherheit nicht vorstellen kann —, dann werden Sie die weitere uns seinerzeit die Antwort schuldig geblieben. Auch Frage zu beantworten haben, wie Sie das ausfallende das, was Sie heute ausgeführt haben, war keine Finanzvolumen ersetzen wollen. Antwort. Es liegt doch auf der Hand — man hört es überall —: Weder die Elektrizitätswirtschaft noch der Einig sind Sie sich offenbar nur in der Frage, daß die Bergbau, weder die Beschäftigten in der Kernenergie Kohlehilfen in Zukunft degressiv gestaltet werden noch die Bergleute, ja, noch nicht einmal die Ihnen sollen. Der Bundeswirtschaftsminister hat das noch gewogene Presse glauben daran, daß Sie mit diesem einmal unterstrichen. Der wirtschaftspolitische Ar- Gesetzentwurf auch nur eines Ihrer energiepoliti- beitskreis der CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat ge- schen Ziele durchsetzen können. stern sogar gefordert, die Kohlesubventionen nach Ich habe Sie seinerzeit auch aufgefordert, diese dem Jahr 2000 ganz abzubauen. Das heißt mit ande- taktischen Spielereien zu unterlassen und mit uns ren Worten: Der einzige Punkt, der Sie in der Kohle- gemeinsam nach Ansatzpunkten zu suchen, bei politik heute noch einigt, ist die Absicht, die von Ihnen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18441

Volker Jung (Düsseldorf) in der Kohlerunde von 1991 eingegangenen Ver- einer allgemeinen Energiesteuer, und zwar ohne pflichtungen nicht einzuhalten. Degression. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Falsch! Wir haben sogar darüber verhandelt, mit dem Unglaublich! Das muß zurückgewiesen wer Aufkommen aus dieser Steuer die Altlastensanierung den!) der ostdeutschen Braunkohle und einen Einstieg in eine Energiesparstrategie zu finanzieren. Aber dieser Das hat der Bundeskanzler mit seinem Wort auf Vorschlag ist vom Bundesfinanzminister kassiert wor- Ihrem Parteitag noch einmal abzuwenden versucht. den, bevor er überhaupt ins Kabinett gelangt ist. Aber das haben Sie ja wohl, wenn ich das richtig mitbekommen habe, in der CDU/CSU-Bundestags- Statt dessen schlägt die Bundesregierung nunmehr fraktion wieder in Frage gestellt. Das heißt, Sie vor, den Kohlepfennig um ein Jahr bis zum Jahr 1996 scheuen noch nicht einmal davor zurück, den Bundes- zu verlängern und auf die neuen Bundesländer aus- kanzler in den Wortbruch zu treiben. zudehnen. Für die Jahre 1997 bis 2000 wird zwar ein (Widerspruch bei der CDU/CSU — Klaus Finanzplafonds von 7 Milliarden DM vorgeschlagen, Beckmann [F.D.P.]: Das geht zu weit, finde der aber nicht gedeckt ist. ich!) Steinkohlenbergbau und Stromwirtschaft erhalten Meine Damen und Herren, um die Liste komplett zu damit eben nicht, wie Wirtschaftsminister Rexrodt machen: Sie sind auch gespalten in der Frage, ob man heute wieder behauptet hat, die notwendige Pla- jetzt — aus der Sicht der Kernenergiebefürworter nungssicherheit, um langfristige Investitionsentschei- ganz konsequent — ohne Not Konzessionen bei der dungen treffen zu können. weiteren Nutzung der Kernenergie machen sollte. Das Artikelgesetz ist in unseren Augen deshalb eine (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Aber Kampfansage an die Erklärungen, die wir überein- natürlich!) stimmend im Bundestag abgegeben haben, nämlich Es kann deshalb niemanden verwundern, wenn die die Bemühungen um einen neuen energiepolitischen jetzt laufenden Vertragsverhandlungen zwischen Konsens fortzusetzen. Wenn Sie das ernstgemeint dem Steinkohlenbergbau und der Stromwirtschaft haben, dann hätten Sie ein solches Gesetz nicht bislang ohne Ergebnis geblieben sind. Die Stromwirt- vorlegen dürfen. - schaft hat auf dieser unzureichenden Basis nämlich Die Bundesregierung hält ihre in der Kohlerunde keine Zehnjahresverträge angeboten. Es ist bis heute 1991 eingegangenen Verpflichtungen, eine Jahres- noch nicht einmal gelungen, Dreijahresverträge abzu- fördermenge von 50 Millionen Tonnen heimischer schließen. Der Bergbau kann seine Kosten auch nicht Steinkohle bis zum Jahr 2005 abzusichern, nicht ein. senken, wenn die Politik keine überschaubaren Rah- Sie hatten sich in der Kohlerunde 1991 nach schwie- menbedingungen setzt. rigen Verhandlungen auf einen Kompromiß geeinigt, der die Lebensfähigkeit des deutschen Steinkohlen- Das Artikelgesetz bietet dem westdeutschen Stein- bergbaus langfristig sichern sollte. Eckpunkt dieses kohlenbergbau keine sichere Zukunft. Es muß viel- Kompromisses war die Vereinbarung, eine feste För- mehr befürchtet werden, daß er zum Auslaufbergbau dermenge von 35 Millionen Tonnen Steinkohle in der verdammt wird. Verstromung und 15 Millionen Tonnen Kokskohle in Die Bundesregierung ist deswegen allein verant- der Stahlerzeugung politisch zu gewährleisten, und wortlich, wenn Hunderttausende von Arbeitsplätzen das heißt eben, finanziell abzustützen. an Rhein, Ruhr und Saar gefährdet werden. Mit Der Absatz heimischer Steinkohle sollte von 73 Mil- diesem Gesetzentwurf befördern Sie nicht den not- lionen Tonnen 1991 schrittweise bis zum Jahr 2000 auf wendigen Strukturwandel, sondern riskieren viel- diese 50 Millionen Tonnen verringert werden. Das ist mehr die wirtschaftliche Talfahrt ganzer Regionen. bereits eine klare Förderdegression, meine Damen und Herren. Alles andere ist zusätzliches Draufsat- (Beifall bei der SPD) teln. Das Artikelgesetz enthält auch bei der Kernenergie (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nicht, wie Herr Rexrodt und Herr Töpfer immer wieder Bis Ende 1993 haben der Bergbau, die Bergleute behaupten, das Zwischenergebnis, das wir in den und ihre Gewerkschaften ihre Verpflichtungen aus Konsensgesprächen erreicht hatten. Wir hatten schon dem Kohlekompromiß Punkt für Punkt eingehalten sehr konkret darüber gesprochen, die am Netz befind- und den Rückgang der Förderung sowie den Abbau liche Generation von Kernkraftwerken nur noch befri- von über 30 000 Arbeitsplätzen mitgetragen. Aber die stet zuzulassen. Es ist zu keiner Einigung gekommen, Bundesregierung hat ihre Verpflichtungen nicht ein- aber wir haben sehr konkret darüber gesprochen. Von gehalten. Sie hat eben kein Finanzierungskonzept dieser Befristung ist in Ihrem Artikelgesetz nicht die vorgelegt, das bis zum Jahr 2005 reicht. Rede. Den Beteiligten an der Kohlerunde war bereits 1991 Im Gegenteil: Sie wollen mit neuen, unzureichen- klar, daß eine Verlängerung des Kohlepfennigs keine den Sicherheitskriterien gerade die unbefristete Nut- Lösung mehr sein kann. Deshalb hat Wirtschaftsmini- zung der Kernenergie festschreiben. Das heißt, Sie ster Rexrodt — auch daran muß man heute erinnern — haben in das Artikelgesetz eigentlich nur das hinein- in den Konsensgesprächen eine Kohlefinanzierung- geschrieben, was Sie wollen, und nicht, was wir steuer vorgeschlagen. Das ist eine andere Va riante unbeschadet der noch offenen Fragen in den Konsens- 18442 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Volker Jung (Düsseldorf) verhandlungen gemeinsam für möglich gehalten Frage in der jeweils angemessenen Form sprechen haben. können. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das hat der (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Ein Stück Herr Schröder anders gesehen!) chen von der Wurst!) Wenn Wirtschaftsminister Rexrodt behauptet, die Wenn Sie bei dem Junktim bleiben, werden wir Ihren weitere Nutzung der Kernenergie sei notwendig, um Gesetzentwurf ablehnen. Darüber sollten Sie sich eine preisgünstige Stromerzeugung zu sichern, dann keine Illusionen machen. ignoriert er nicht nur die Sicherheitsprobleme, über Meine Damen und Herren, wir haben einen alter- die wir in den Konsensgesprächen lange diskutiert nativen Gesetzentwurf zur Finanzierung der Stein- haben und — das ist ganz entscheidend — deren kohlenverstromung und zur Einführung einer allge- Kosten im Grunde kein seriöser Fachmann abzuschät- meinen Energiesteuer vorgelegt. Wir wollen die zen wagt, sondern dann unterschlägt er auch die noch öffentlichen Zuschüsse direkt an die Bergbauunter- völlig unbekannten Kosten der Entsorgung. nehmen zahlen, damit diese den Elektrizitätsversor- gungsunternehmen heimische Steinkohle zu Welt- Sie schlagen in Ihrem Gesetzentwurf vor, die Mög- marktpreisen anbieten können. Damit bleibt auch, lichkeit der direkten Endlagerung von atomarem was hier vom Wirtschaftsminister eingefordert worden Abfall zu eröffnen. Darüber wird man in der Zukunft auf dem Bergbau erhalten. weiterreden können. Ich bin der Auffassung, darüber ist, der Kostendruck wird man weiterreden müssen. Zur Finanzierung wollen wir im Vorgriff auf eine europäische Lösung eine allgemeine Energiesteuer Nach meiner Überzeugung würde sich dieser Ent- auf alle Energieträger außer erneuerbaren Energie- sorgungsweg ohnehin durchsetzen, weil er ungleich quellen einführen. Die Erfahrung bei der Entwicklung kostengünstiger ist als die Wiederaufarbeitung abge- des Energieverbrauchs hat doch gezeigt, daß die brannter Brennelemente. Das haben unter der Hand Verbraucher dann am stärksten in Energieeinsparung auch die Vertreter der Stromwirtschaft zu verstehen investieren, wenn die Energiepreise hoch sind. gegeben. Das würde aber in absehbarer Zeit zum Gegenwärtig liegt das Energiepreisniveau bei der Ende der Plutoniumwirtschaft führen. Ob das bei Leitwährung Öl — wenn man das so bezeichnen Ihnen Konsens ist, das wage ich allerdings zu bezwei- kann — um 30 bis 40 % niedriger als 1990. Dadurch feln. - spart die deutsche Volkswirtschaft jährlich über In den Konsensgesprächen haben wir auch über 20 Milliarden DM an Energiekosten. Dieser Spielraum eine katastrophenfreie Reaktortechnik gesprochen. könnte genutzt werden. Die Kehrseite dieser Entwick- Das ist kein Geheimnis geblieben. Aber es ist doch lung ist das Versiegen fast aller Anstrengungen zum auch deutlich geworden, daß erheblich mehr Zeit Energiesparen, sowohl in der Industrie als auch beim gebraucht wird, um die Kriterien, die Machbarkeit privaten Verbrauch. Deshalb sind die Klimaschutz und vor allem die Kosten solcher Konzepte zu klä- ziele der Bundesregierung, die eine Reduzierung des ren. Kohlendioxyd um 20 bis 30 % bis zum Jahre 2005 vorsahen, heute trotz anderslautender Behauptungen Die entscheidende Frage bleibt, ob es einen kata- praktisch schon Makulatur. strophenfreien Reaktor geben kann — was ich nicht glaube — Die überfällige ökologische Strukturreform — nicht nur in der Energiewirtschaft, sondern in der (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Restrisi ganzen Volkswirtschaft — kommt so einfach nicht kophilosoph!) voran. In Zeiten fallender Energiepreise ist es daher geboten, mit dem Einsatz fiskalischer und ordnungs- und, wenn das von allen Experten bejaht werden politischer Instrumente den Energieverbrauch zu sollte, ob er dann auch wirtschaftlich betrieben wer- begrenzen und damit die klimaschädigenden Emis- den kann. Davon werden nämlich die Entscheidungen sionen zu senken. Deshalb wollen wir aus dem Auf- abhängig gemacht. kommen der Energiesteuer nicht nur den Einsatz (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist die heimischer Steinkohle sichern, sondern auch die öko- Trickkiste der SPD! Restrisikophilosoph!) logische Umstrukturierung der ostdeutschen Braun- kohlegewinnung finanzieren und Investitionen zur Diese Frage ist völlig ungeklärt. Energieeinsparung und zur Entwicklung erneuerba- Ich kann deshalb überhaupt nicht verstehen, daß rer Energiequellen fördern. Sie in Ihrem Gesetzesvorschlag diesen Diskussions- Meine Damen und Herren, unsere energiepoliti- prozeß jetzt einseitig abbrechen wollen. Statt vor- sche Leitlinie heißt: Energiesparreform plus Versor- schneller gesetzlicher Regelungen sollten wir ein gungssicherheit. Wir stellen sie gegen Ihre Leitlinie, Verfahren finden, um diese offenen Fragen diskutie- die ich als Kernenergie und Auslaufbergbau interpre- ren und klären zu können. tiere. Es macht also überhaupt keinen Sinn, meine Damen Ich glaube nach wie vor, daß ein Konsens zwischen und Herren, diese beiden Fragen, die drängende den Parteien notwendig ist. Für uns wäre er unter Frage der Kohlefinanzierung auf der einen Seite und folgenden Bedingungen möglich: Sicherung der Ver- die ungeklärte Frage der Kernenergiesicherheit auf sorgung mit heimischen Energieträgern auf der Basis der anderen Seite, in einem einzigen Gesetzentwurf der Kohlerunde von 1991 und Hilfen für die ostdeut- sozusagen verwursten zu wollen. Trennen Sie die sche Braunkohle bis zur Erreichung der Wettbewerbs- Fragen voneinander ab, dann werden wir über jede fähigkeit, Einführung einer allgemeinen Energie- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18443

Volker Jung (Düsseldorf) Steuer auf alle fossilen Energie träger und S trom, aufrechterhalten wird: Kohle — Steinkohle und Förderung von Energiesparmaßnahmen bei Industrie, Braunkohle —, Kernenergie und alternative Energien Gewerbe und privatem Verbrauch, ökologische zusammen. Wir wollen zum anderen bei der Kohle Umstrukturierung des Kraftwerkparks sowie eine sicherstellen, daß sie eine Zukunft hat, daß sie auch massive Förderung erneuerbarer Energieträger, da- finanziert wird. Herr Jung, natürlich wird sie ab 1997 mit diese endlich ihre Marktanteile ausweiten kön- finanziert. Es ist eine rein finanztechnische Frage, wie nen, und schließlich Vereinbarungen über die befri- man diese 7 Milliarden DM garantiert. Bis zum Jahre stete Nutzung der Kernenergie. Wir sind bereit, über 2000 sind 7 Milliarden DM garantiert. Es gibt viele, die die Ausgestaltung dieser Konsensansätze zu spre- sachlich sagen, das sei vielleicht ein bißchen zuviel, chen. auch in Ihren eigenen Reihen. Hier also von Verunsi- Die Frage, die in der knappen Restzeit dieser cherung zu reden ist sicherlich nicht angebracht. Legislaturperiode allerdings noch einer dringenden Wir wollen auch sicherstellen, daß die Kernenergie Entscheidung bedarf, ist, ob wir dem heimischen in diesem Mix bleibt. 67 % seines Stroms bezieht Steinkohlenbergbau gemeinsam eine Perspektive Hessen aus Kernenergie, 66 % sind es in Baye rn, 87 % sichern wollen oder ein weiteres Jahr nutzlos verstrei- in Schleswig-Holstein, in ganz Deutschland 30 %. chen lassen, indem ein weiterer Teil des Sockels Wollen wir da heraus? Das wäre ein Wahnsinn. Das wegbricht. Wenn Sie das auch nicht wollen sollten wäre das Ende einer sicheren Energieversorgung. Wir — woran ich meine Zweifel habe —, dann trennen Sie wollen das nicht. Im Artikelgesetz ist die Zukunft die Frage der Kernenergie ab und ergreifen die sichergestellt. Initiative, damit wir in der Kohlepolitik noch bis zur Sommerpause zu Potte kommen. Was setzt die Opposition, meine Damen und Her- Wir werden uns jedenfalls Gesprächsangeboten ren, diesem klaren Konzept entgegen? Ich meine, nur nicht verweigern. Widersprüchlichkeit, Doppelbödigkeit, Illusionismus und Verantwortungslosigkeit. Wenn ich die Energie- Wenn Sie allerdings meinen sollten, meine Damen politik der SPD in diesem Lande in Praxis und Pro- und Herren, unser Kotau vor Ihrer Kernenergiepolitik grammatik beobachte, dann bleibt nur die Überschrift sei die Voraussetzung dafür, daß Sie noch einen Chaos übrig. Finger in der Kohlepolitik rühren, dann möchte ich Ihnen ganz ruhig, aber bestimmt sagen: Den Wort- (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Peter Struck bruch in der Kohlepolitik haben Sie zu verantworten. [SPD]: Na, na!) Das ist bei den interessierten Beobachtern bereits Ich will Ihnen das an einigen Beispielen belegen. entschieden; daran müssen wir gar nicht mehr arbei- ten. Reaktorsicherheit und SPD-Energiepolitik: Es gibt Ohne ernsthafte Konsensbemühungen auch auf in diesem Haus den Antrag auf Drucksache 12/4783 Ihrer Seite ist Ihre Kernenergiepolitik sowieso zum zu Hilfen zur Stillegung der Reaktoren in Rußland, der Scheitern verurteilt, gleichgültig, wer in diesem Ukraine und Litauen. Darin ist ausdrücklich gesagt, Lande weiterregieren sollte. Ohne Konsens wird in daß die Entschärfung der tickenden atomaren Zeit- Deutschland kein Kernkraftwerk mehr gebaut. Das ist bomben ein zentrales Anliegen Deutschlands sein allen Beteiligten klar. muß, um Sicherheit auch für uns zu schaffen. Dem Wenn Sie in der Endphase Ihrer Regierungszeit stimmen wir zu. noch die Basis für die Kohle zerstören, dann können Aber gleichzeitig will die SPD nicht nur Atomkraft- Sie sich darauf verlassen, daß jedes zukünftige Kon- werke in der administrativen Praxis abschalten, son- sensgespräch erheblich belastet wird und daß die dern sie will auch aus der technologischen Entwick- Aussichten dann sehr düster sind. lung der Kernkraft heraus. Anstatt also einen Beitrag (Beifall bei der SPD) für mehr Sicherheit sowohl im Osten als auch bei uns zu leisten, weil ja da keine Grenzen gelten, schaffen Vizepräsident : Das Wort hat der Herr Sie eine Verweigerungshaltung in der Programmatik Kollege Dr. Kurt Faltlhauser. und in der administrativen Praxis. Ich meine, daß das eine nach Jonas im klassischen Sinne unverantwortli- Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Herr Präsident! che Politik ist. Dies kann man nicht verantworten Meine Damen und Herren! Der 25. Oktober 1993 war gegenüber den Menschen, die von den Kernkraftwer- ein Unglückstag für den Wirtschaftsst andort Deutsch- ken im Osten und im Westen bedroht sind. land. An diesem Tag hat die SPD-Delegation im Energiekonsens die Konsensrunde abbrechen müs- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sen, weil das SPD-Präsidium ein Verbot beschlossen Ein Zweites, zu Investitionen und Arbeitsplätzen hat, über die zukünftige Generation von Kernkraft- und der SPD-Energiepolitik: Heute früh hat Minister- werken überhaupt zu reden und zu diskutieren. Das präsident Lafontaine von diesem Pult aus noch einmal war das Ende der Konsensgespräche. betont, es wäre ganz wichtig, Investitionsförderung Ich meine, der Konsens war eine große Ch ance für zur Schaffung von Arbeitsplätzen in diesem Land zu unser Land. Die SPD hat diese Chance vertan. Wir betreiben. Gleichzeitig schaffen SPD-geführte Regie- können deshalb nicht untätig bleiben. Wir brauchen rungen milliardenschwere Investitionsfriedhöfe quer eine berechenbare, planbare, kalkulierbare, sichere über das Land: in Kalkar liegen 7 Milliarden DM still, Energie, und deshalb liegt dieses Artikelgesetz vor in Hamm-Uentrop 5 Milliarden DM. Das Kernkraft- Ihnen. werk Mülheim-Kärlich gilt als das modernste Kern- Wir wollen mit diesem Artikelgesetz zum einen kraftwerk Europas, aber die Mainzer Umweltministe- sicherstellen, daß der Mix in der Energieversorgung rin Martini — das ist die Umweltministerin des Kanz- 18444 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Dr. Kurt Faltlhauser lerkandidaten der SPD, von Herrn Scharping — ver- derselben Stelle eine CO2-intensive Anlage, nämlich weigert derzeit die Dauerbetriebsgenehmigung. In ein Kohlekraftwerk, zu bauen. Niedersachsen behindert Ministerpräsident Schröder Nebenbei bemerkt, Herr Jung, soll dies selbstver- den Fortgang der Arbeiten bei Gorleben. Innerhalb ständlich nicht mit Ihrer nordrhein-westfälischen der SPD wird gegen das Endlager Morsleben demon- Steinkohle oder der saarländischen beschickt werden, striert. sondern mit der billigeren Importkohle. Das ist also Ich frage die SPD: Liebe Kollegen, wie wollen Sie sehr nützlich. die Entsorgung des vorhandenen Plutoniums und der Sie sind natürlich mit dramatischen Worten gegen abgebrannten Kernbrennstoffe sicherstellen? Wie die Abholzung des Tropenwaldes, wie wir. stellen Sie sich das vor, wenn Sie hier blockieren? Sie (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) müssen die Blockade im Interesse der Sicherheit aufgeben. Gleichzeitig aber sind Sie gegen das deutsch-brasili- anische Nuklearabkommen, also gegen Kernkraft- Weitere Beispiele Ihrer Blockadehaltung: in Bruns- werke in Brasilien. Wie reimt sich das eigentlich im büttel seit August 1992 Stillstand, in Krümmel seit Hinblick auf den Klimaschutz zusammen? August 1993. Nach Aussage der Hamburgischen Elec- (Zuruf von der SPD: Sie wissen aber, daß der tricitäts-Werke haben diese Blockaden bisher bereits Urwald nicht wegen der Energieversorgung 140 Millionen DM gekostet. Sie können noch die abgeholzt wird!) Behinderungen durch Umweltminister Fischer, der hier hinten freundlich lächelt, hinzuzählen, als Bei- Wie sieht es schließlich mit der Steuerbelastung und spiel das MOX-Brennelemente-Werk in Hanau. Ihrer Energiepoli tik aus? Scharping und Lafontaine sagen täglich: keine zusätzlichen Steuerbelastungen. Heute trägt Herr Fischer eine ganz neue Krawatte; Sie haben sogar einen entsprechenden Gesetzentwurf er wird immer bürgerlicher. Seine politischen Absich- mit der Energiesteuer vorgelegt. Alle in Ihren Reihen ten aber werden nicht bürgerlicher. — ich verweise auf Beschlüsse von Landesparteitagen (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE und auf Meinungen einzelner Abgeordneter — sagen, GRÜNEN]: Das ist dümmlich!) 20 Milliarden muß das in etwa bringen. Sicherlich, auch wir haben eine zu hohe Abgabenquote zu — Sie wissen, daß ich das Outfit des Herrn Fischer seit beklagen; aber sie ist vorübergehend hoch zur Bewäl- längeren Jahren in besonderer Weise beobachte, weil tigung einer einmaligen historischen Aufgabe, näm- dies eine Methode der Täuschung der Öffentlichkeit lich der Finanzierung der Aufgaben in den neuen ist: vom Turnschuhminister zum Staatsmann, aber die Bundesländern. Inhalte bleiben dieselben. (Beifall bei der CDU/CSU) Gestern mußte Minister Töpfer die Stillegung von Sie wollen durch Ihre ökologische Umsteuerung eine Biblis A durch bundesaufsichtliche Weisung gegen- dauerhafte Erhöhung der Belastung der Bürger her- über der SPD-Regierung in Hessen verhindern. Es war beiführen, und das gilt es zu verhindern. nur zu Revisionszwecken abgestellt; turnusmäßig mußte dort überprüft werden. Krampfhaft hat der Ich meine also, die Energiepoli tik der SPD zeigt am Umweltminister das Werk nach irgendwelchen mög- klarsten und auch am empörendsten, wie wider- lichen Defekten untersuchen lassen, um es für immer sprüchlich sozialdemokratische Poli tik ist. Ich halte abschalten zu können. Ist ihm, dem grünen Überzeu- die politischen Aussagen zur Energiepoli tik für ein gungstäter, der SPD-Ministerpräsident Eichel in den Dokument für die Zukunftsunfähigkeit der SPD, in Arm gefallen? — Nein. Hat der SPD-Kanzlerkandidat vielen Teilen sogar für ein Anzeichen einer Poli tik Scharping, der jetzt viele Entscheidungen an sich zurück ins Mittelalter. Deshalb bleibt Ihnen und uns zieht, gesagt, das sei unverantwortbar? — Nein, im eigentlich gar nichts anderes übrig, wenn wir die Gegenteil: Zwischen SPD und dem Wunschkoalitions- Zukunft sichern wollen, als dieses Artikelgesetz zu partner DIE GRÜNEN besteht eine Übereinkunft, daß verabschieden. durch administrative Behinderung und durch Deh- Ich bedanke mich. nung des Rechts, durch Verzögerung und Blockade (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Peter Struck ein De-facto-Ausstieg aus der Kernenergie in diesem [SPD]: Das war aber sehr beeindruckend, Land herbeigeführt wird. Herr Faltlhauser!) Die GRÜNEN haben gerade auf ihrem Parteitag beschlossen, die Kernkraftwerke in zwei Jahren abzu- Herr Kollege Klaus Beck- schalten. Einige aus der SPD haben gesagt: Es ist Vizepräsident Hans Klein: mann, Sie haben das Wort. unglaublich, was die wollen! Die Praxis aber zeigt, daß sie dieser Haltung sehr, sehr nahe sind. Die Energie- versorgung in diesem Lande stellt deshalb nur die Klaus Beckmann (F.D.P.): Herr Präsident! Meine CDU/CSU-F.D.P.-Koalition sicher. Bei Ihnen und bei sehr verehrten Damen! Meine Herren! Energiepoli tik Rot-Grün werden mit Sicherheit sehr schnell die ist Langfristpolitik, und Energiepolitik ist Standort- Lichter ausgehen. politik. Die künftige Bedeutung des Industriestandorts Wie sieht es mit dem Umweltschutz und der Ener- Bundesrepublik Deutschland hängt auch davon ab, giepolitik der SPD aus? Die SPD will doch von der inwieweit wir fähig sind, eine verantwortungsbe- CO2-Emission herunter, gleichzeitig aber will die wußte Energiepoli tik zu betreiben. schleswig-holsteinische Landesregierung den Abriß Zweitens. Energiepolitik braucht den Konsens. Des- des CO2-freien Kernkraftwerks Brunsbüttel, um an wegen appelliere ich an alle Seiten, die im Herbst Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18445

Klaus Beckmann 1993 unterbrochenen Konsensgespräche nach der Zweitens. Für die Jahre 1997 bis 2000 werden Bundestagswahl fortzuführen. Finanzplafonds von insgesamt 7 Milliarden DM pro Jahr bereitgestellt. Meine Damen und Herren, der Entwurf der Bundes- regierung zu einem Energie-Artikelgesetz, das wir Drittens. Die Finanzierung der Steinkohleverstro- hier heute in der ersten Lesung beraten, ist Zeugnis mung für den Zeitraum 2001 bis 2005 wird rechtzeitig einer an den Realitäten orientierten Politik. Er baut auf festgelegt. Dabei werden die Finanzplafonds weiter Tatbeständen auf, die nicht immer ausschließlich zurückgeführt. energiepolitisch begründet werden können. Vielfach Meine Damen und Herren, damit stellt, so glaube ist ja die Energiepoli tik in der Vergangenheit instru- ich, die Bundesregierung ihre Kontinuität in der mentalisiert worden. Sie war Mittel, um sich auch aus Kohlepolitik unter Beweis. Ausgehend von den in der wirtschafts-, arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Kohlerunde 1991 verabredeten Zahlen wird den Berg- Zwängen zu befreien. Ich erinnere an die Ruhrkohle, bauunternehmen eine tragfähige Basis für ihr zukünf- die in diesen Tagen ihr 25jähriges Jubiläum begeht; tiges wirtschaftliches Handeln gegeben. von Feiern kann man ja wohl in diesem Zusammen- hang nicht sprechen. Sie ist ein Beispiel für eine Ich frage: Was hört man auch von der SPD über die Energiepolitik, die nicht eindimensional verlaufen ist. Kohle und die Kohlepolitik nicht alles an Lippenbe- Mit der Gründung der Ruhrkohle hat m an sich den kenntnissen? Es macht einen doch nachdenklich, Herr damaligen energiepoli tischen Erfordernissen gestellt. Kollege Formanski, wenn ich Ihr Bestreben sehe, z. B. Man hat der Kohle in Nordrhein-Westfalen eine in Ihrer Heimatstadt Gelsenkirchen ein Kohlekraft- Zukunftsperspektive gegeben und den Regionen an werk in Heßler zu bauen, gleichzeitig aber die SPD Rhein und Ruhr geholfen sowie den Bergleuten die Mehrheitsfraktion im Rat der Stadt Essen, meiner Grundlage für eine vernünftige Lebensplanung Heimatstadt, ein solches Kohlekraftwerk ablehnt. Ich ermöglicht. denke, schon das kennzeichnet die Einstellung zur Kohle in der Sozialdemokratischen Partei Deutsch- Zu Zeiten des Wirtschaftswunders und des Wachs- lands. tums war die Kohlepolitik, die ja auch immer finanziell flankiert worden ist, für die alte Bundesrepublik Meine Damen und Herren, mit der Plafondierung verkraftbar und wurde von einer breiten Bevölke- der Mittel und der Aussicht, diese spätestens ab 2000 rungsmeinung mit ge tragen. Wir wissen aber,- daß sich degressiv zu gestalten, ist nicht nur für die Kohlepoli- heute die Situation dramatisch verändert hat. Die tik ein wichtiges und, wie ich meine, auch chancen- Zeiten sind durch immer knapper werdende Mittel reiches Signal gegeben worden. Die Bergbauunter- geprägt. Ausgaben müssen auf ein wirtschaft lich und nehmen — das will ich hier unterstreichen — müssen sozial vertretbares Maß zurückgeschraubt werden. noch effizienter als heute ihre Arbeit gestalten und ihr Wir brauchen die erneute Rückführung der Steuer- Produkt Kohle vermarkten. Für Produk tions- und und Staatsquote, um wirtschaftliche Anreize zu geben Kostenmanagement gibt es noch erhebliche Spiel- und die Investitionsbereitschaft zu stärken. Darüber räume. ist heute vormittag ausführlich diskutiert worden. Ich Meine Damen und Herren, über die Ausgestaltung denke, das kann nur durch eine s trenge Haushaltsdis- der einzelnen Zeitabschnitte besteht noch erheblicher ziplin in allen politischen Feldern erreicht werden. Es betrifft damit auch das Artikelgesetz zur Sicherung Beratungsbedarf. Da ist zum einen als Finanzierungs- instrument für die Jahre 1995 und 1996 auch weiterhin des Einsatzes von Steinkohle in der Verstromung. die Abgabe vorgesehen. Dabei ist ja, wie der Wirt Bereits am 21. November 1988 anläßlich der Eröff- -schaftsminister eben ausgeführt hat, die Beteiligung der neuen Bundesländer ab 1996 an den Verstro- nung des 14. Kongresses der IG Bergbau und Energie mungskosten noch streitig. Ich denke, daß das Ange- hat der Bundeskanzler, wie ich meine, richtig festge- stellt — ich zitiere —: „ Wir müssen gemeinsam sehen, bot der Bundesregierung einer 25prozentigen Kür- zung der Verstromungsabgabe gegenüber den alten daß die finanziellen Grenzen unserer Kohlepolitik Bundesländern eine gute Grundlage für unsere erreicht sind." Das war im November 1988. zukünftigen Beratungen im Wirtschaftsausschuß bil- det. Mit der Vorlage des Energie-Artikelgesetzes hat die (Beifall bei der F.D.P.) Bundesregierung die notwendigen Rahmen- und Basisdaten für langfristige Investitionen in der Ener- Wie es ab 1997 mit der Kohlefinanzierung weiter- giewirtschaft fixiert. Sie hat gleichzeitig einen ener- gehen soll, ist ebenfalls noch nicht entschieden. Die giepolitischen Schwerpunkt deutlich gemacht. Ener- SPD ist da ja bereits festgelegt. Sie hat sich für die giesparen, rationelle Energieverwendung und der Einführung einer allgemeinen Energiesteuer ausge- verstärkte Einsatz regenera tiver Energie träger wer- sprochen und verspricht sich damit Einnahmen in den als Zielsetzung genannt. Die Absicherung des Höhe von 20 Milliarden DM, die sie vor allen Dingen Einsatzes von Steinkohle in der Verstromung und die für die Stützung der Kohle und den Einsatz regenera- Novellierung des Atomgesetzes sind weitere wich tige tiver Energien verwenden wi ll. Eckpfeiler des Gesetzes. Ich denke allerdings, daß sie sich damit wieder Die zukünftige Steinkohlepolitik wird dabei klar einmal als ideologisch gesteuerte Steuer- und Umver- umrissen. Erstens wird für das Jahr 1996 den Bergbau- teilungspartei darstellt. Wir haben in den Konsens- unternehmen ein Finanzplafond von insgesamt gesprächen im einzelnen darüber debattiert und brau- 7,5 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. chen dies hier nicht zu wiederholen. 18446 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Klaus Beckmann Ich verweise hier auf die Auffassung des früheren Sicherung des Standortes Deutschland, für seine öko- Bundesfinanzministers , der Ende Oktober logische und ökonomische Entwicklung hätte. Ener- 1983 in einem bemerkenswerten Beitrag die Einfüh- giepolitik erfordert nämlich, meine Damen und Her- rung einer allgemeinen Energiesteuer mit hervorra- ren, eine globale Betrachtung, auch wenn der Regio- genden Argumenten ablehnte, weil sie nämlich, so nalaspekt — wie wir zur Zeit in Niedersachsen Apel, den jetzt wieder in der Debatte stehenden sehen — seine gewissen Reize für Parteistrategen Standort Deutschland in besonderem Maße gefähr- haben kann. den könnte. Dem ist nichts hinzuzufügen. Auch unter Ausschöpfung großer Potentiale an Meine Damen und Herren, wir machen ja in Ost- Energiebedarf zu- Einsparmöglichkeiten wird der deutschland die Erfahrung, wohin staatliche Energie- künftiger Generationen wachsen. Das bedeutet, daß politik dort geführt hat. Heute müssen wir gemeinsam entsprechende Mengen an Energien bereitgestellt diese Trümmer aufarbeiten. Dazu gehört auch die werden müssen. Dies muß in einer internationalen Finanzierung der Altlastensanierung der ostdeut- Arbeitsteilung und kann nur durch eine globale Diver- schen Braunkohle. Meine Fraktion unterstützt die sifikation der Energieträger geschehen. Der Energie- Bereitschaft der Bundesregierung, auf der Basis der träger Kernenergie ist hier unverzichtbar, denn er bisherigen Zusammenarbeit mit den be troffenen Län- besticht durch Umweltverträglichkeit und Wirtschaft- dern die Finanzierung der Altlasten über 1997 hinaus lichkeit. Er ist ein wichtiger Eckpfeiler im gesamtdeut- fortzusetzen. schen Energiemix. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Monika Ganseforth [SPD]: Dinosauriertech ten der CDU/CSU) nologie!) Kommen wir nun zu dem zweiten Eckpfeiler des Ich will in Erinnerung rufen, daß 20 deutsche Energie-Artikelgesetzes, der Novellierung des Atom- Kernkraftwerke insgesamt ca. 160 Milliarden Kilo- gesetzes. Wir alle wissen, daß die gleichzeitige Nut- wattstunden Strom erzeugen. Durch ihren Bet rieb zung von Kernenergie und Kohle die unabdingbare wird die Entstehung von fast 160 Millionen Tonnen Voraussetzung für den hohen Einsatz deutscher Stein- Kohlendioxid vermieden. Das entspricht ca. 16 % der kohle in der Verstromung ist. deutschen Gesamtemissionen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Monika Ganseforth [SPD]: Milchmädchen ten der CDU/CSU) - rechnung!) Denn den Versorgungsanteil der deutschen Stein- Damit leistet die Kernenergie einen überzeugenden kohle können -wir uns nur leisten, wenn zugleich die Beitrag zu unserem ehrgeizigen Ziel einer 25- bis preisgünstige Kernenergie genutzt wird. 30prozentigen Minderung der CO2-Emissionen bis Die SPD hat mit ihrer Forderung — Einigung nur bei zum Jahr 2000. einem Ausstieg aus der Kernenergie; so hieß es in der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Konsensrunde — die parteiübergreifenden Energie- Das ist unser Beitrag zum Umweltschutz in der Ener- konsensgespräche in eine Sackgasse geführt. Mit der giepolitik. ideologischen Selbstblockade — auch wenn die Ver- handlungsführer Schröder und Clement versucht Meine Damen und Herren, bei einem sofortigen haben, die verhärteten Fronten in ihrer Partei aufzu- Ausstieg aus der Kernenergie — wie die GRÜNEN ihn brechen — haben Sie von der SPD das vorläufige fordern — müßte der Anteil der Kernenergie an der Scheitern einer zukunftsweisenden Energiepolitik zu öffentlichen Stromversorgung in Höhe von 34 % verantworten. eingespart, durch regenerative Energien ersetzt oder durch Kohle, 01 oder Gas kompensiert werden. Das ist (Beifall bei der F.D.P. — Monika Ganseforth unrealistisch. Physikalische und technische Gegeben- [SPD]: Eine Dinosauriertechnologie ist das!) heiten lassen sich durch politische Willenserklärun- — Gnädige Frau, Sie waren bei diesen Verhandlun- gen und Grundüberzeugungen nicht beugen. gen doch gar nicht dabei und maßen sich ein Urteil an. Auch Herr Joseph Fischer weiß das. Er selbst hat im Das steht Ihnen überhaupt nicht zu. Rahmen der Verhandlungen über einen Energiekon- Der erste Durchgang des Energie-Artikelgesetzes sens einen abrupten Ausstieg aus der Kernenergie im Bundesrat war das Spiegelbild einer verworrenen abgelehnt. Aber in seiner grün-roten Regierung hat er Energiepolitik. Ich erinnere an das merkwürdige hierfür keine Mehrheit. Ich erinnere an den Beschluß Abstimmungsverhalten des Landes Rheinland-Pfalz. des letzten Wochenendes. Da ist, Herr Kollege Faltl- Wo steht Herr Scharping eigentlich in der Energie- hauser, nicht nur von einem Ausstieg innerhalb von politik? Ist er der verläßliche Partner, den die Energie- zwei Jahren die Rede, sondern von einem Ausstieg wirtschaft für ihre Investitionen benötigt? innerhalb von ein bis zwei Jahren. Das zeigt die Realitätsferne dieser Partei. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Nebel, Nebel überall!) Ich habe allerdings, Herr Kollege Jung, von Ihnen hier ein klares Wort der Distanzierung von diesen In der Frage der weiteren Nutzung der Kernenergie grünen Beschlüssen vermißt. wird jedenfalls auch von ihm ein offenes Wort erwar- tet. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Meine Fraktion jedenfalls ist der festen Überzeu- Jedermann von uns weiß, daß die Durchführung gung, daß zum augenblicklichen Zeitpunkt ein Aus- eines solchen Beschlusses volkswirtschaftliche Kosten stieg aus der Kernenergie verheerende Folgen für die in Höhe von 300 Milliarden DM verursachen würde. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18447

Klaus Beckmann Es kann doch wohl nicht angehen, daß Sie zu solchen die schillernde „Wackelpudding-Atompolitik" der Sachverhalten schweigen, wenn Sie sich auf den Weg SPD der Kohl-Regierung als Lobby der Energiewirt- machen — was allerdings nicht von Erfolg beschieden schaft leichtes Spiel verschafft. sein wird —, die Regierung zu übernehmen. Die PDS/Linke Liste fordert eine umweltfreundli- Herr Jung, Sie haben vom Wortbruch in der Ener- che, sozialverträgliche und ressourcenschonende giepolitik gesprochen, von einem Wortbruch, den Sie Energieversorgung. Diese ist mit der Nutzung der der Bundesregierung und damit den Koalitionsfrak- Atomenergie von vornherein unvereinbar, ja der Aus- tionen vorwerfen. Ich will es nur der Ordnung halber stieg ist quasi Bedingung für eine zukunftsorientierte wiederholen, damit es nicht untergeht und auch Energieversorgung. Bemerkenswert ist in diesem immer wieder im Protokoll nachzulesen ist: In der Zusammenhang, daß die Bundesregierung mit ihrem Energiepolitik das Wert gebrochen haben die Sozial- Gesetzentwurf den Kraftwerksbetreibein durch wei- demokraten mit ihren Ausstiegsbeschlüssen der Par- tere sogenannte Vorsorgemaßnahmen zur Verhinde- teitage von Nürnberg und Bochum, als sie sich vom rung von Kernschmelzen Maßnahmen für eine mögli- Konsens Kohle Kernenergie ge trennt haben. Wir neh- che Evakuierung der Bevölkerung im Umfeld von men heute nach wie vor die Positionen ein, die wir Atomkraftwerken ersparen will. Dabei gibt es nur eine einmal gemeinsam vereinbart haben. Uns jetzt Wort- wirksame Vorsorgemaßnahme zur Verhinderung von bruch vorzuwerfen verkehrt die Dinge völlig ins Kernschmelzen: Das ist die Stillegung von Atomanla- Gegenteil. Ich denke, Sie sollten sich dazu noch gen. Erst dann können Sie auf Pläne zur Evakuierung einmal äußern. der Bevölkerung verzichten. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Da die Wiederaufarbeitung von Brennelementen Meine Damen und Herren, die Kernenergie ist eine teuer und gefährlich ist und die Atommüllberge Hochtechnologie, die auf viele Wirtschaftsbereiche gigantisch anschwellen, soll die direkte Endlagerung ausstrahlt. Es wäre verheerend, wenn man für die ins Atomgesetz. Der Hintergedanke dabei ist: Weil die Kernenergie keine belastbare Zukunftsperspektive notwendigen Abklingzeiten bis zur vorgesehenen offenhalten würde. Das käme schlicht einer Kapital- direkten Endlagerung sehr lang sind, meint die Bun- vernichtung und der Auslöschung eines hochentwik- desregierung, so Zeit für die Lösung der Endlager- kelten Industriesektors gleich. Mit der Novelle des Frage zu gewinnen. Bekanntlich ist Gorleben als Atomgesetzes verhindern wir dies. Der Gesetzentwurf Endlager ungeeignet. Morsleben ist als Endlager schafft die Grundlage für die kontinuierliche techno- ebenso ungeeignet, und das trotz aller früheren logische Weiterentwicklung der f riedlichen Nutzung Beteuerungen und ausstehender Sicherheitsgutach- der Kernenergie. Ich glaube, daß wir alle in den ten — im übrigen im Auftrag der Landesregierung Beratungen des Deutschen Bundestages, aber auch Sachsen-Anhalts, und das ist nach wie vor eine des Bundesrates, unsere Bereitschaft unter Beweis CDU/F.D.P.-Regierung; aber das wird sich sicherlich stellen werden, an einem schlüssigen Gesamtkonzept ändern. für die Energiewirtschaft mitzuwirken. Der Entwurf Zu Morsleben müßte man vielleicht noch einen der Bundesregierung bietet hierzu eine gute Basis. weiteren Gedanken ausführen. Vielen Dank. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Vizepräsident Hans Klein: Ich darf Sie für einen Moment unterbrechen. Ich muß nur an die Adresse des Kollegen Faltlhauser sagen, er möge bitte aufhö- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Dr. Dagmar ren, am Mikrofon herumzuschrauben. Dann bin ich es Enkelmann, Sie haben das Wort. wieder gewesen. (Heiterkeit — Zuruf: Das war ja der Zweck Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Herr der Übung!) Präsident! Meine Damen und Herren! Ein Wo rt zu dem, was Herr Rexrodt hier gesagt hat. Das, was 1990 Dr. Dagmar Enkelmann (PDS/Linke Liste): Ein Wort in der Noch-DDR im Energiesektor passiert ist, war im noch zur Einlagerung in Morsleben. Ausgerechnet im Prinzip der größte Coup bundesdeutscher Energieun- Zusammenhang mit dieser Einlagerung ist die DDR ternehmen. Es war ein Vorgeschmack auf das, was Ihrer Auffassung nach wieder ein Rechtsstaat; denn all nach dem Oktober 1990 passiert ist. Ich denke, die das, was zu DDR-Zeiten genehmigt wurde, wird von ostdeutschen Kommunen werden dies noch bitter Ihnen als rechtmäßig anerkannt. Es wird sogar auf das bezahlen müssen. übertragen, was jetzt an West-Müll dort eingelagert Im übrigen, Herr Kollege Beckmann: Aus der staat- wird. lichen Energieversorgung ist im Prinzip die Monopol- Wie ist es überhaupt um die Entsorgung der Atom- stellung von drei Energieunternehmen geworden. Bei kraftwerke bestellt? In der Antwort der Bundesregie- beiden handelt es sich um eine Monopolstellung. rung auf die Große Anfrage der PDS/Linke Liste zur Meine Damen und Herren, nachdem die sogenann- Entsorgungssituation der bundesdeutschen Atoman- ten Energiekonsensgespräche so „erfolgreich" im lagen muß die Bundesregierung eingestehen, daß der Sande verlaufen sind, setzt die Regierung nun den vom Atomgesetz geforderte Entsorgungsnachweis für energiepolitischen Hammer an. Die Steinkohle soll in sechs Jahre im voraus praktisch nur noch über die Nibelungentreue an die Atomenergie geschmiedet Zwischenlagerung und über die Wiederaufarbeitung werden. Jetzt lassen Sie die Katze aus dem Sack: Das z. B. in Sellafield gewährleistet wird. Das ist ein mehr also ist Ihre Vorstellung von einem nationalen Ener- als fragwürdiges Verfahren. Das ist ein wohl mehr als giekonsens. Zugeben muß man sicherlich auch, daß fragwürdiges Verfahren. 18448 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Dr. Dagmar Enkelmann Eines möchte ich der Bundesregierung hier ganz daß sowohl Steinkohle als auch Öl und Gas auf dem besonders ans Herz legen: Beschädigen Sie mit Ihrer Weltmarkt teurer würden, wenn in der EG kein Energie- und Atompolitik nicht weiter den Wirt- nennenswerter Steinkohlebergbau mehr existierte. schaftsstandort Deutschland! Lassen Sie den atoma- Osteuropäische Länder, China und Südafrika expor- ren Faden reißen! Wir brauchen endlich vernünftige tieren Steinkohle zu Dumpingpreisen, um an Devisen Rahmenbedingungen, und zwar einschließlich einer zu gelangen. Wer von billiger Importkohle redet, entsprechenden Forschungspolitik, für eine umwelt- sollte auch über die Bedingungen reden, unter denen freundliche, sozial verträgliche und ressourcenscho- in vielen Ländern Steinkohle gefördert wird. Kinder- nende Energieversorgung. Konzepte für Energiespar- arbeit in Kolumbien, Hungerlöhne in China und technologien, fortschrittliche Kohlenutzungstechno- Südafrika, verbunden mit völlig unzureichenden logien, hocheffiziente Nah- und Fernwärmesysteme Sicherheitsstandards, ermöglichen solche Preise. sowie für die Nutzung der zukunftsträchtigen Solar- energie liegen bei einer Reihe von Unternehmen in (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Wieviel Prozent den Schubladen, haben aber durch die herrschende unseres Imports kommen denn daher?) Politik keine Chance. Hier drohen wir gegenüber fortschrittlichen Ländern immer weiter zurückzufal- In den USA, Australien und den GUS-Staaten zeugen len. Und nicht bei dem Transrapid, diesem mehr als riesige Kraterlandschaften von dem Raubbau an der fragwürdigen Projekt, Natur.

(Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Nehmen (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Sie müssen sich Sie das sofort zurück!) einmal mit den Mengen vertraut machen, die sondern bei Energiekonzepten in dem Bereich von da herkommen!) Umwelttechnologien liegen Chancen für den not- wendigen Forschungsschub. Hier stimme ich mit — Wir sollten wesentlich weiter denken, und zwar Herrn Rexrodt z. B. einmal ausnahmsweise überein. über den nationalen Tellerrand hinaus. Das ist meine Hier könnten Arbeitsplätze geschaffen werden, und Forderung dabei. zwar mehr, als jemals in der Atomindustrie zu schaffen wären. (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Dann schauen sie einmal, wieviel da herkommt!) Meine Damen und Herren, die atomare- Erpres- sungspolitik von Regierung und Industrie gegenüber — Ich habe eben nicht nur den bundesdeutschen den Kohleländern weisen wir entschieden zurück. Die Energiemarkt im Blick, sondern gehe ein bißchen PDS/Linke Liste im Bundestag forde rt, das Ergebnis weiter als Sie. der Kohlerunde 1991 nicht anzutasten. Keine Zeche darf geschlossen, kein Arbeitsplatz vernichtet wer- Zu bedenken ist auch, daß erst der 1986 einsetzende den. Ölpreisverfall auf dem Weltmarkt den Preis für Welt- (Zuruf von der F.D.P.: Die Kosten sind etwas handelskohle mit in die Tiefe gerissen hat. Zugleich anderes!) hatte der niedrige Ölpreis den hohen Subventionsbe- darf für die heimische Steinkohle zur Folge. Sinnvoll Nach Auslaufen des Jahrhundertvertrages muß eine in mehrfacher Hinsicht wäre es gewesen, den drama- klare und wasserdichte Anschlußregelung her, die tischen Preisverfall für Öl auf dem Weltmarkt im Jahre den sinnvollen Einsatz heimischer Steinkohle in 1986 durch eine Energieabgabe nicht auf den Ener- umweltfreundlichen Heizkraftwerken bundesweit giemarkt in der Bundesrepublik durchschlagen zu sichert. 1996 ist immerhin schnell erreicht. lassen. Aus dieser Energieabgabe hätten sich Maß- Denken Sie daran: Noch in diesem Jahrzehnt wird nahmen zur effizienten Energienutzung, Energieein- der Zenit der Nordseeölförderung überschritten wer- sparung und der Förderung regenera tiver Energie- den, wird die Nachfrage nach Öl auf dem Weltmarkt quellen finanzieren lassen. Statt dessen versuchte die steigen, wie jüngst selbst die Internationale Energie Kohl-Regierung, sinkende Benzin- und Energiepreise Agentur prophezeite. Dies heißt nichts anderes, als der Bevölkerung als Erfolg ihrer Wirtschaftspoli tik zu daß Öl erheblich teurer wird und damit auch Erdgas verkaufen. Die nega tiven Effekte ließen nicht l ange und die Importkohle, die heute zu Dumpingpreisen auf sich warten: Der Ölkonsum der Bundesrepublik auf den Markt geworfen wird. Wer da die Energievor- stieg nach Jahren wieder; regenera tive Energienut- räte im eigenen Keller absaufen läßt, wird ein l anges zung, Energieeinsparung und Fernwärmeausbau Gesicht machen, wenn die Preise steigen. stagnieren, bei der Kohlefinanzierung wurde das Loch von Jahr zu Jahr größer. Bezüglich der angeblich so teuren heimischen Steinkohle wird oft mit irreführenden Zahlen operiert. Meine Damen und Herren, die letzte Mineralöl- Kritische Analysen gehen davon aus, daß der Preis steuererhöhung versickert in den Waigelschen Haus- einer Kilowattstunde Atomstrom bei etwa 4 DM liegen haltslöchern. Notwendiger denn je brauchen wir müßte, wenn alle externen Kosten eingerechnet wür- heute eine Energieabgabe, die signalisiert, daß Ener- den. Der niedrigere Preis von Welthandelssteinkohle gie knapp ist und daß Energieverbrauch die Umwelt stellt sich bei einer reinen betriebswi rtschaftlichen belastet. Sichtweise sicher günstiger dar. Gesamtgesellschaft- lich sind meines Erachtens aber die Kosten für die (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Die fließt Arbeitslosigkeit in den heimischen Revieren in die in die neuen Bundesländer, um die Dinge zu Rechnung miteinzubeziehen. Die britische Bergarbei- reparieren, die die SED kaputtgemacht hat! tergewerkschaft hat darüber hinaus vorgerechnet, Das müßten Sie eigentlich wissen!) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18449

Dr. Dagmar Enkelmann — Für die Energie- und Wirtschaftspolitik der Bundes- — dann wird nicht mehr dieser Bundeswirtschaftsmi- republik können Sie mich nun nicht auch noch ver- nister im Amt sein —, wo dann entsprechende Tech- antwortlich machen. nologien, entsprechende Systeme auf dem Weltmarkt (Zuruf von der F.D.P.: Gott sei Dank!) eingekauft werden, wo Systeme übernommen wer- den, weil sie hier nicht entwickelt wurden, weil man Ich weiß, ich bin für den Mauerbau verantwortlich dies versäumt hat, sondern weil sie woanders entwik- usw., aber für das Gott sei Dank nicht. kelt wurden. Das heißt dann auch: Die Arbeitsplätze Aus dieser Energieabgabe können Maßnahmen zur werden woanders sein. Energieeinsparung, zur Energieeffizienzsteigerung, die Einführung von Anlagen zur Nutzung regenerati- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ver Energien und die gesamtgesellschaftlich sinnvolle bei der SPD und der PDS/Linke Liste) Stützung der heimischen Steinkohle finanziert wer- Meine Damen und Herren, jenseits des Streits um den. die Frage der Atomenergie sind wir doch jetzt in einer Der SPD-Antrag gibt meines Erachtens hier einige Situation, wo es einen Wettbewerb der besseren Ideen brauchbare Ansätze, obwohl er über die Ausgestal- geben müßte, wie wir unter den Bedingungen sowohl tung der von der SPD geforderten Steuer praktisch der globalen Verantwortung — Stichwort Rio — als nichts aussagt. Diesbezüglich wäre in den Ausschüs- auch des Schaffens neuer Arbeitsplätze — und das sen sicher auch noch nachzuarbeiten. heißt zuerst und vor allem: neuer wi rtschaftlicher Meine Damen und Herren, heute gilt es, Bürger- Strukturen in diesem Land — tatsächlich aus dieser initiativen, Anti-AKW-Bewegung und die um ihre Krise herauskommen können. Arbeitsplätze kämpfenden Bergleute in den Revieren Angesichts dessen, was vom Bundeswirtschaftsmi- zu unterstützen und für ein gemeinsames Ziel zu nister heute hier gesagt wurde, kann ich nur sagen: mobilisieren: Raus aus der Atomenergie! Weg von den Lieber eine neue Krawatte als diese ollen Kamellen, verschwenderischen Strukturen der heutigen Ener- die er vorgetragen hat, meine Damen und Herren. giewirtschaft! Hin zu einer effizienten Energienut- zung und zur Einsparung von Energie! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Machen wir uns endlich auf den Weg in das Zeitalter und bei der SPD) alternativer Energien! Bis wir dies erreicht haben, Denn da war nicht ein neuer Ansatz d rin. Wenn er brauchen wir allerdings die heimische Steinkohle und wenigstens angekündigt hätte — man ist ja in diesem auch die ostdeutsche Braunkohle. Lande schon sehr anspruchslos geworden —, was die Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Bundesregierung in dieser Richtung zu tun gedenkt, (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Da ist ja welche Energieeinsparvorstellungen sie denn tat- keiner zum Klatschen da; das ist doch sächlich hat! unfair!) Welche Bedeutung, Herr Kollege Beckmann, das hat, das kann ich Ihnen einmal aus Ländersicht darstellen: Wir haben in dafür ein Programm Ich erteile dem stellver- Hessen Vizepräsident Hans Klein: von jährlich 100 Millionen DM. Es ist zugegebener- tretenden Ministerpräsidenten des Landes Hessen, Staatsminister Joseph Fischer, Minister für Umwelt, maßen ein bescheidenes Programm, aber angesichts Energie und Bundesangelegenheiten, das Wo rt. des Landeshaushalts ein ganz erhebliches Programm. Das ist mittlerweile zu einem zentralen Investitions- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Jetzt programm vor allen Dingen für das heimische H and- kommt der Ökorambo!) werk und den Mittelstand geworden, und zwar unter dem Gesichtspunkt von ra tionellerer, d. h. besserer Energienutzung, von Energiesparmaßnahmen — das Staatsminister Joseph Fischer (Hessen): Herr Präsi- dent! Meine Damen und Herren! Wenn man die Rede heißt, daß es zur Energieumwandlung gar nicht kom- des Bundeswirtschaftsministers gehört hat, dann fragt men muß — und der Förderung einzelner Pilotpro- man sich, wie er mit dieser Energiepolitik die Bundes- jekte, um neue Wege gehen zu können. republik Deutschland aus der schwersten Wirtschafts- Warum geht das auf Bundesebene nicht? Warum krise seit ihrem Bestehen eigentlich herausführen wird daraus nicht ein Schwerpunkt Ihrer Energiepoli- will. Es ist kein Wort darin vorgekommen, geschweige tik, meine Damen und Herren? Das schafft doch denn ein Politikentwurf oder konkrete Vorschläge, wo Arbeitsplätze. Energiesparmaßnahmen schaffen die Konsequenzen in Richtung Energiesparen, rege- hochmoderne Arbeitsplätze auf Dauer, vor allen Din- nerative Energieträger, bessere Energienutzung ge- gen im Handwerk und im gewerblichen Bereich. Das zogen werden. Das alles kommt nicht vor. Wenn man sind Arbeitsplätze mit Zukunft, auf die Sie ganz nach Programmen, nach Initiativen der Bundesregie- offensichtlich verzichten wollen. rung fragt, dann wird man feststellen: überall Fehlan- zeige. Und das in einer Situa tion, wo es doch dringend Ich betone nochmals: Wenn wir das nicht machen, darum geht, daß man auf Innovation setzt, daß man dann wird es im Ausland, in anderen Volkswirtschaf- auf neue Ansätze setzt. ten gemacht, und dann werden wir unter dem Gesichtspunkt von Arbeitslosigkeit hier wieder ein- Ich befürchte, daß diese Bundesregierung hier eine mal den kürzeren ziehen. einmalige Chance verpaßt, aus der Krise herauszu- kommen, und in einer Basisfrage, nämlich in der Ich höre hier Hohn und Spott über die hohen Energiefrage, bei der Neuorganisation der Energie- Energiepreise. Ich meine, daß Sie als Steuererhö- politik völlig versagt. Ich sehe den Tag schon kommen hungsregierung in die Geschichte der Bundesrepu- 18450 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Staatsminister Joseph Fischer (Hessen) blik Deutschland eingehen, das steht heute schon ganze Elend der deutschen Industrie besichtigen. Was fest. die Verbraucher auf der Internationalen Automobil- ausstellung interessierte, das Ökoauto von einem (Brigitte Schulte [Hameln] [SPD]: Und als Flaggschiff der deutschen Industrie, das gab es nicht Schuldenmacher!) zu kaufen. Was es zu kaufen gab, den Dinosaurier, — Sie gehen natürlich auch als Regierung der Schul- interessierte die Verbraucher nicht mehr. Da können denbarone in die Geschichte ein, vor allen Dingen, Sie sehen, wie man über Energiepreise und falsche wenn man die CSU zum Maßstab nimmt. Modellpolitik völlig gegen die Wand fahren kann, (Zuruf des Abg. Friedhelm Ost [CDU/ wenn man beizeiten nicht umsteuert. CSU]) — Verehrter Herr Ost, wenn ich mir vorstelle, Sie Vizepräsident Hans Klein: Herr Staatsminister, hätten diese Verschuldungspolitik einer rot-grünen gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Dr. Regierung in Ihrer früheren Zeit als Wirtschaftsjour- Faltlhauser? nalist zu kommentieren gehabt, dann weiß ich, wie diese Kommentare ausgesehen hätten. Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Herr Fischer, (Zuruf von der F.D.P.: Da hatten wir noch könnten Sie mir nicht bestätigen, daß es ernsthafte keine Einheit!) Versuche gab, den Bereich des Energiesparens und auch der Finanzierung der alternativen Energien, um — Auch bei der Einheit. hier Dynamik hineinzubringen, in einem Konsens- Nirgendwo steht geschrieben, meine Damen und gespräch mit entsprechenden Automatismen sehr Herren, daß Sie die Einheit durch Schulden finanzie- weit voranzutreiben, und daß diese Konsensmöglich- ren müssen. Das war doch Ihr Bundeskanzler, der der keiten in den Gesprächen, insbesondere mit dem von Wahrheit nicht ins Auge sehen wollte. Das ist doch der Ihnen so sehr gewünschten Kanzlerkandidaten Schrö- eigentliche Punkt. der, durch den Beschluß des SPD-Präsidiums von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einem Tag auf den anderen unmöglich gemacht und bei der SPD — Zurufe von der CDU/CSU wurden? und der F.D.P. — Gegenruf von der SPD: Wenn er recht hat, hat er recht!) Staatsminister Joseph Fischer (Hessen): Ich habe — Meine Damen und Herren, Wahrheit weckt offen- hier nicht die SPD zu verteidigen, sichtlich auf. Aber gehen wir doch noch einmal (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Aber wenn Sie weiter. soviel Beifall von denen bekommen, können Sie das machen!) (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei uns sind 25 % unserer Frak- — aber ich nehme an, es wäre richtig spannend tion anwesend, bei Ihnen sind es 3 %!) geworden. Abgesehen davon lege ich mich nicht in einer Kandidatenfrage fest, die abgetan ist. Ich weiß — Ich habe mich nicht hinsichtlich der Fraktionsgrö- gar nicht, woher Sie wissen, daß ich für Schröder ßen einzumischen, aber ich nehme an, es wird im gewesen wäre. Aber bitte, das ist Ihr Problem. nächsten Deutschen Bundestag wesentlich anders werden. Ich habe hier nicht die SPD zu verteidigen. Ich kann nur soviel sagen: Spannend wären die Konsensge- (Zuruf von der CDU/CSU) spräche erst dann geworden, wenn es tatsächlich um — Ich brauche jetzt keinen Beifall, ich möchte jetzt mit ausstiegsorientierte Restlaufzeiten gegangen wäre. Ihnen sachlich debattieren. Dann hätte ich gern die CSU gesehen; da wären Sie vermutlich herumgehüpft wie neulich im Pschorr- Noch einmal zurück zur Sache. Entscheidend ist Keller in München. Aber auch das ist für mich nicht doch, daß Sie für bestimmte Technologien einen der entscheidende Punkt. Markt schaffen müssen. Herr Kollege Faltlhauser, Sie wissen doch ganz genau, das ist eine Frage der Ich denke, wir haben es mit einer Bundesregierung Energiepreise. zu tun und nicht mit einer Versammlung trotziger Kinder. Sie können doch im Blick auf das als richtig Diese Bundesregierung vertritt eine Energiepolitik, Erkannte nicht sagen: Nein, das tun wir nicht, wir sind die allein an der Versorgung orientiert ist: möglichst wegen der bösen SPD beleidigt. — Das geht doch viel, möglichst billige Energie. Angesichts dessen, nicht. Wenn als richtig erkannt wird, daß wir mit dem was notwendig ist, ist das das Falsche. Energiesparen beginnen und die Preissignale anders In den USA hat man in der Reagan-Ära genau diese setzen müssen, dann müßte diese Bundesregierung Energiepolitik mit der Konsequenz betrieben, daß die aus ihrer Verpflichtung heraus selbständig handeln gesamte Volkswirtschaft technologisch im internatio- und kann das Handeln nicht an die Zustimmung der nalen Wettbewerb zurückgefallen ist. Deswegen müs- Opposition binden. sen wir aus meiner Sicht eine Energiepreispolitik (Klaus Beckmann [F.D.P.]: Da ist der Konsens fahren, die im Rahmen des ökonomisch Vernünftigen überflüssig!) am oberen Rand fährt, um den Innovationsdruck Ich möchte aber noch auf einen zweiten Gesichts- aufrechtzuerhalten. punkt eingehen, den ich für sehr erheblich halte. Es Schauen Sie sich doch, Herr Faltlhauser — den Satz geht hier nicht nur um die Grundsatzfrage, sondern möchte ich noch hinzufügen —, die letzte Inte rnatio- aus der Sicht der Länder geht es auch um die span- nale Automobilausstellung an. Dort konnten Sie das nende und zentrale Frage: Wie hält es diese Bundes- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18451

Staatsminister Joseph Fischer (Hessen) regierung mit der Anlagensicherheit im Bereich der hessischen Atomaufsicht Ende Mai/Anfang Juni Atomenergie? wurde mit dem Argument, man könne dieses nicht realisieren, versucht, die Frist wegzubekommen. Die Herr Kollege Faltlhauser, Sie hatten die Gelegen- Betreiberin hat die ganze Zeit über argumentiert: Wir heit genutzt und mich darauf angesprochen. Sie sollen wollen die sicherheitserhöhenden Maßnahmen um- Antwort bekommen. Wir müssen aus hessischer Sicht setzen, aber wir können sie nicht in dieser F rist jetzt im Zusammenhang mit der Wiederinbetrieb- umsetzen. nahme des Reaktorblocks Biblis A feststellen, daß diese Bundesregierung jetzt ganz offensichtlich durch Die Betreibe rin hat die notwendigen Unterlagen eine Weisung des Kollegen Töpfer demonstriert, daß dann in den restlichen Jahren nicht ausreichend ihr Gewinn vor Sicherheit geht. Es tut mir leid, daß ich schnell beigebracht, respektive nicht in der für einen das in dieser Härte feststellen muß. fristgerechten Abschluß notwendigen Prüfungsdichte vorgelegt. (Zurufe von der CDU/CSU: Unglaublich!) (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Schlicht Dies — was Sie „unglaublich" nennen — möchte ich zumachen wollten Sie!) hier begründen. — Ich will nicht schlicht zumachen. Nein, über die Am 17. Dezember 1987 ist im Block Biblis A etwas Frage „Atomausstieg" wird am 16. Oktober bei den geschehen, was selbst Befürworter der Atomenergie Bundestagswahlen entschieden. Hier geht es allein nicht für möglich gehalten haben. Dort nämlich um die Frage, ob Sie sich an die vorgegebenen bemerkte die Reaktormannschaft drei Tage nach dem Standards des Atomgesetzes halten oder ob die Wiederanfahren morgens um halb drei, daß ein Lämp- betriebswirtschaftlichen Ansprüche der Betreiberin chen brannte, woraufhin sie feststellte, daß von zwei Vorrang haben bei Ihnen, ob Sicherheit nachrangig ist Ventilen an einem Rohr, welches vom Primärkreislauf oder ob Sicherheit nach dem Atomgesetz den Stellen- wegführt, der voll unter Druck stand, ein Ventil offen wert hat, den sie haben muß. war. Wir haben festgestellt, daß es sich dabei im wesent- lichen um Defizite im Brandschutz handelt, daß wich- (Zuruf von der CDU/CSU: Alte Kamellen!) tige Komponenten des Reaktors nicht ausreichend Dieses Ventil wurde dann durch Öffnen des P rimär- gegen Erdbeben ausgelegt sind, respektive die Nach- kreislaufes geschlossen. - weise dafür fehlen, daß die Beherrschung der Situa- tion eines explosionsfähigen Wasserstoffaufbaus bei Das führte zu erbitterten Auseinandersetzungen mit einem Kühlmittelverlust-Störfall nicht nachgewiesen der Bundesaufsicht und der damaligen Landesauf- ist, daß die Außensicherung des Reaktors nicht aus- durch sicht. Es kam zu einer Sicherheitsüberprüfung reichend ist und daß eine ausreichende Deckungsvor- unabhängige Sachverständige des TÜV Bayern, sorge nicht vorgelegen hat. Das waren die gravierend- heute TÜV Bayern/Sachsen. Es wurde festgestellt, sten Punkte. daß der Reaktorblock A in Biblis in wesentlichen Punkten Sicherheitsdefizite hat, die abgearbeitet wer- Daraus ergibt sich — das ist der eigentliche Grund den müssen. Diese Sicherheitsdefizite wurden dann dafür, daß ich heute hier rede, Herr Bundesumwelt- von der hessischen Landesregierung in einem minister — folgende Frage. Wenn m an an dem Bescheid in 49 Auflagen zusammengefaßt. Die Sicher- Bescheid der hessischen Landesregierung festhält heitsdefizite sollten innerhalb von drei Jahren abge- — die Bundesaufsicht hat drei Jahre daran nichts zu arbeitet sein. kritisieren gehabt — — In dem Bescheid von damals hieß es — ich (Bundesminister Dr. Klaus Töpfer: Die Lan zitiere: desregierung von Hessen auch nicht!) — Ich verteidige diesen Bescheid, ich bitte Sie. Hinsichtlich ihrer zeitlichen Umsetzung — der Umsetzung der sicherheitserhöhenden Maß- nahmen — Vizepräsident Hans Klein: Herr Staatsminister, Sie sind schon ein gutes Stück über die vereinbarte wurde angeordnet, daß die Maßnahmen späte- Redezeit hinaus. stens bis Ende der 1993 beginnenden Revision auf der Basis der gültigen Regelung bei Änderun- (Georg Janovsky [CDU/CSU]: Wenn es gen an der Anlage realisiert sein müssen. Diese wenigstens gut wäre!) Frist ist als angemessen anzusehen und aufgrund der sicherheitstechnischen Bedeutung der An- ordnungen, die im einzelnen aus der Sicherheits- Staatsminister Joseph Fischer (Hessen): Ich muß analyse zu entnehmen ist, erforderlich. Das ergibt mich entschuldigen, aber ich brauche noch ein biß- sich aus der Aussage des Sachverständigen, der chen Zeit. — Herr Abgeordneter, es geht hier nicht um Betrieb der Anlage ohne Umsetzung der Empfeh- gut oder nicht gut; es geht um eine zentrale Frage der lung sei nur bis zu diesem festgesetzten Zeitpunkt Sicherheit der hessischen Bevölkerung. Seien Sie mir hinzunehmen. nicht böse, aber das ist eine Frage, über die Sie vielleicht lachen mögen; ich nehme sie bitterernst. So der Bescheid der hessischen Landesregierung. Die entscheidende Frage, die sich jetzt stellt, ist In der Umsetzung hat sich dann gezeigt, daß die doch: Was geschieht, wenn nach diesen drei Jahren Anlagenbetreiberin von Anfang an versucht hat, die die sicherheitserhöhenden Maßnahmen nicht abgear- Frist wegzubekommen. Im ersten Gespräch mit der beitet sind? Damit das Argument, Fischer habe hier 18452 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Staatsminister Joseph Fischer (Hessen) verzögert und auf Halten gespielt, erst gar nicht sen Vorrang zu geben und betriebswirtschaftliche kommt, Interessen nachrangig zu behandeln. (Zuruf von der F.D.P.: Es kommt!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — natürlich! —, will ich Ihnen einmal sagen, was wir und bei der PDS/Linke Liste sowie bei Abge vorgefunden und was wir dann gemacht haben, ordneten der SPD) verehrter Herr Kollege. Wir haben nach dem Regie- rungswechsel für das Biblis-Genehmigungsverfahren ein Referat mit drei Leuten vorgefunden. Die Mehr- Vizepräsident Hans Klein: Meine Damen und Her- zahl der Anträge und Unterlagen ist erst im April 1993 ren, es ist natürlich ein sehr problematisches Verfah- bei uns eingegangen. Wir können RWE ja nicht mit ren, wenn eine Gruppe zehn Minuten Redezeit hat vorgezogener Pistole dazu zwingen, Anträge zu stel- und ein Minister, ein Vertreter des Bundesrats, der len. Was haben wir gemacht? — Wir haben zehn dieser Gruppe zugehört, um fast die Hälfte überzieht, zusätzliche externe Leute eingestellt, auf diesen das aber der Gruppe nicht abgezogen werden kann, Bereich jetzt insgesamt vier Referate konzentriert, weil sie gar nicht soviel Redezeit hat. d. h., an diesem Projekt arbeiten jetzt 18 Personen, wo vorher drei Personen gearbeitet haben. Herr Kollege (Konrad Weiß [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Töpfer, die hessische Landesregierung hat dafür GRÜNEN]: Wir verzichten auf weitere Rede 5 Millionen DM zur Verfügung gestellt, um dieses zeit, Herr Präsident! — Weitere Zurufe von Verfahren realisieren zu können. Insofern kann ich der SPD) bei Ihnen nur den Versuch erkennen — politisch — Nun handelt es sich bei Staatsminister Fischer verständlich, aber in der Sache überhaupt nicht natürlich um einen durchaus erfahrenen Parlamenta- begründet —, klarzumachen: Hier wurde bewußt rier. verzögert. Aber selbst wenn das der Fall gewesen wäre — ich unterstelle einmal diese Bösartig- Ich erteile das Wort dem Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Profes- keit — — sor Dr. Klaus Töpfer. Vizepräsident Hans Klein: Herr Minister, es tut mir leid, aber die Zeit, die Sie jetzt beanspruchen, gibt es für Ihre Gruppierung gar nicht mehr. - Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Staatsminister Joseph Fischer (Hessen): Ich komme Meine sehr verehrten Damen und Herren! Jetzt haben gleich zum Ende. wir also wieder den Staatsminister in dreifacher Aus- fertigung erlebt. Die erste Ausfertigung: der Wi rt Vizepräsident Hans Klein: Ich bitte sehr herzlich Staats--schaftspolitiker. Ihm sei nur gesagt, daß die darum. quote am Ende der sozialliberalen Regierung in etwa so hoch war, wie sie jetzt ist. In der Zwischenzeit hat (Georg Janovsky [CDU/CSU]: Nur einen die von der jetzigen Bundesregierung zu verantwor- Satz!) tende Finanzpolitik dazu beigetragen, daß die Staats- quote auf etwa 46 % zurückgegangen ist. Durch eine Staatsminister Joseph Fischer (Hessen): Nein, nein, konsequente Finanz- und Wirtschaftspo litik sind nicht nur einen Satz, aber ich komme gleich zum überhaupt erst einmal die Voraussetzungen geschaf- Ende. — Meine Damen und Herren, der entschei- fen worden, daß wir den Prozeß der deutschen Einheit dende Punkt in diesem Zusammenhang ist, daß Sie, mit der finanziellen Stabilität durchstehen konnten, Herr Bundesumweltminister, trotzdem erklären müs- wie das bisher möglich war. sen, wie Sie dazu kommen — egal, ob verzögert wurde oder nicht —, durch Bundesweisung einen nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) sicheren Reaktor wieder ans Netz gehen zu lassen. Was sozialliberale Poli tik und sozialistische Ausga- Wenn Sie der Meinung sind, daß dieser Reaktor benpolitik bei der Staatsquote erreicht haben, haben sicher ist, dann stelle ich mir die Frage, wie es dazu wir jetzt auf Grund der durch die deutsche Einheit kam, daß der Kollege diesen Bescheid erlas- bedingten Aufgaben erkennen können. Ich möchte sen konnte. Wenn Sie der Meinung sind, daß dieser deutlich sagen, daß das nicht Kosten der deutschen Reaktor nicht sicher ist, dann müssen Sie die Frage Einheit sind, sondern daß das Kosten der Überwin- stellen, wie darauf zu reagieren ist, daß die Be treiberin dung sozialistischer Mißwirtschaft und damit verbun- ihrer Pflicht nicht nachgekommen ist. dener Probleme gewesen sind. Das ist ein kleiner Was ich Ihnen vorwerfe — das ist doch mit Händen Unterschied. zu greifen, Herr Bundesumweltminister —, ist, daß Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) in dieser Situation, unter dem Druck der Stromwirt- Dies zum Wirtschaftspoli tiker Fischer. schaft stehend, sich eben nicht für die sichere Seite entscheiden, sich nicht für die Umsetzung des Atom- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das lernt der gesetzes zugunsten der Sicherheit entscheiden, son- Fischer nicht mehr! Das geht nicht rein in dern glauben, in der Frage, ob der Reaktor am Montag seinen Kopf! — We rner Schulz [Berlin] dieser Woche wieder ans Netz gehen kann, noch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Etwas Origi Spielräume zu haben. nelles, bitte!) Ich möchte Sie nochmals nachdrücklich auffordern, — Wenn ich immer auf die Idee käme, bei Ihnen Ihrer Pflicht nachzukommen, den Sicherheitsinteres- nachzufragen, ob etwas originell sei, dann hätte ich Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18453

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer viel zu tun. Lassen wir uns also wechselseitig darin wenn wir ein Strom- und Energiepreisniveau bekom- offen sein. men, bei dem andere Bereiche der Wirtschaft in Deutschland die Erträge erwirtschaften, die uns auch (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Lassen wir die nötigen Subventionen ermöglichen. Fakten sprechen!) Kommen wir nun zum allgemeinen Energiepolitiker (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Fischer. Da ist er schon ernster zu nehmen. Das ist Dies ist ein schlichter Zusammenhang. Bei der eigentlich auch unser heutiges Thema. Kohlerunde war das eine ganz selbstverständliche Grundlage. Der Kollege Beckmann hat das doch Wie geht es denn weiter mit der Energiepolitik im wiedervereinten Deutschland in einem vereinten herausgearbeitet. Europa? Das ist die Meßlatte, an der wir zu messen Aufgekündigt hat den Konsens doch der, der aus sind? Viele — die saarländische Landesregierung ist dieser Verbindung von Kohle und Kernenergie her- ein besonderes und gutes Beispiel dafür — machen ausgegangen ist, nicht aber diejenigen, die diese Landesenergiepolitik, die sich dann darin erschöpft, Verbindung jetzt wieder schaffen wollen. Das ist doch daß man nicht einmal mehr die Durchleitung von eigentlich nachvollziehbar und zumindest nachden- Strom zu einem unproblema tischen Thema im geein- kenswert. ten Europa werden läßt. Aber die Meßlatte ist eine (Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Der will doch europabezogene und europaverträgliche Energiepo- gar nicht!) litik. Darum geht es mir. Ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, Deswegen haben wir ein Artikelgesetz vorgelegt, wie jemand dieses nicht sehen kann. Demjenigen, der das das aufgreift, was wir in den Energiekonsensge- dies aufkündigt, sei gesagt, daß er sich an den sprächen behandelt haben. Das waren drei Säulen. Arbeitsplätzen im Bergbau versündigt. Genau der ist Die Säule eins sind die heimischen Energie träger es. Das wollen wir doch einmal festhalten. Steinkohle und Braunkohle. Die Säule zwei ist die Kernenergie. Die Säule drei ist die Frage der regene- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — rativen Energie träger und des Energieeinsparens. Zurufe von der SPD) Alle drei Säulen sind bedeutsame und aufeinander Deswegen ist es uns auch so wichtig, daß wir beim bezogene Größen — aufeinander bezogen -allein des- Energiesparen weiterkommen. Deswegen bin ich so wegen, Herr Kollege Fischer, weil das etwas mit daran interessiert gewesen und bin es noch, daß wir in Energiepreisen und damit mit der Standortqualität zu der Kohlefinanzierung zu einer festen Plafondgröße tun hat. kommen, die unabhängig vom Nachweis einer För- Deswegen ist nicht von uns — ich habe das beim dermenge — zumindest ab 1997 — ist. 1996 können letztenmal hier schon unterstrichen — eine Verbin- wir das noch nicht machen, weil wir da die Finanzie- dung zwischen diesen drei Säulen hergestellt worden, rung über den Kohlepfennig haben und uns dort die sondern sie ist hergestellt worden von denen, die die Anforderung des Bundesverfassungsgerichts an eine Energiekonsensgespräche initiiert haben. Das war Abgabelösung die Gruppennützlichkeit vorschreibt. u. a. der Kollege Schröder, der uns leider in dieser Ich möchte doch gerade erreichen, daß Bergbauunter- Diskussion schon wieder abhanden gekommen ist. nehmen zu aktiven Unternehmen bei der Umstruktu- rierung ihrer Region werden können. Ich möchte, daß Es gab die Überlegung: Wie können wir durch das sie etwas machen können, was wir für den High- Zusammenbinden dieser drei Dinge Energiepreise Tech-Standort Deutschland brauchen, nämlich sau- ermöglichen, die den Standort Deutschland auf Dauer bere Kohletechnologien zu entwickeln und zu fragen, wettbewerbsfähig halten? Das ist doch das Interes- was denn mit Kohle mehr gemacht werden kann, als sante. sie nur zu verfeuern. Wie kann ich denn wirklich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kohlegewinnungstechnologien exportieren? Wie kann ich dazu kommen, Kohlekraftwerkstech- Wenn der Kollege Jung jetzt herkommt und sagt, nologien mit Wirkungsgraden zu entwickeln, die an nun laßt uns doch das einzelne einmal herausnehmen, 50 % und mehr herankommen? dann bricht genau das zusammen. Das ist die Faszination für den Industriestandort (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: So ist Bundesrepublik Deutschland, nicht aber nur die es!) Frage, wieviele Tonnen Kohle wir aktuell fördern. Dann können Sie ja möglicherweise eine Zeitlang (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und noch Kohle finanzieren, aber Sie werden hinterher der F.D.P.) nicht mehr die wirtschaftliche Basis haben, von der aus diese Volkswirtschaft Bundesrepublik Deutsch- Das ist auch etwas, was wir der nachwachsenden land wirklich überlebensfähig ist. Generation bei uns mitgeben können. Wir müssen ihr sagen können: Bergbau ist nicht gegen anderes zu (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Der Jung verteidigen. Bergbau ist ein moderner Wirtschafts weiß das aber eigentlich! Der sagt es nur Zweig mit High-Tech. Wie auch immer sich die nicht!) weltweite Energiepolitik darstellen wird, die fossilen Das ist es doch. Wir wollen die Dinge nicht deshalb Energieträger und damit die Kohle werden einen zusammennehmen, weil wir irgend jemanden in Hauptanteil an der Energieversorgung behalten. Des- Geiselhaft nehmen oder erpressen oder sonst etwas wegen muß es unsere Aufgabe sein, die Verwendung tun wollen. Wir wollen es vielmehr deshalb tun, weil von Kohle so effizient wie irgend möglich zu gestalten. wir nur dann die Kohlearbeitsplätze erhalten können, Warum können wir uns eigentlich nicht darüber 18454 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer einigen, daß es besser ist, einen Plafond mit freier Deswegen sei dem Kollegen Fischer auf seine Verfügbarkeit für die Bergbauunternehmen zur Frage, was die Bundesregierung macht, nur gesagt: Umstrukturierung und Technologieentwicklung vor- Die wichtigste Maßnahme zur Durchsetzung von zugeben? Das bedeutet möglicherweise Degression in Wind- und Sonnenenergie ist nach wie vor das der Menge. Aber ich halte unsere Bergbauunterneh- Stromeinspeisungsgesetz, Herr Kollege. In der Wind- men und die darin Beschäftigten auf allen Ebenen für energie geht es sogar so weit, daß jetzt viele, auch einsichtig und klug genug, zu sagen, das ist eine Sozialdemokraten, aus den norddeutschen Bundes- Chance. ländern kommen und sagen: Wir brauchen aber einen Windenergiepfennig, denn wir können die Zusatzko- Ich sage dies im Blick auf die IG Bergbau und sten bei der Windenergie nicht mehr regional bei uns mit großem Respekt — wir haben viele Energie tragen; das muß insgesamt national bewältigt werden. Gespräche geführt; ich will mich hier in keiner Weise Wäre in Deutschland wenig Windenergie entstanden, in eine falsche Verpflichtung bringen lassen —, weil könnte beim besten Willen niemand auf so eine Idee auch dort das gesehen wird, was bei vielen, die heute kommen. Wir sind — zusammen mit Dänemark — gësprochen haben, ein bißchen untergegangen ist, weltweit an der Spitze bei denen, die Windenergie nämlich wie sich all das, was wir tun, auf die Beschäf- nutzen, wir sind — zusammen mit Israel — weltweit an tigten in der Braunkohle auswirkt. Wer dann hierher der Spitze derer, die Sonnenenergie nutzen. Dies ist kommt, Herr Kollege Jung, und sagt, da macht jemand marktwirtschaftliche Energie- und Umweltpolitik, Kernenergiepolitik und läßt den Steinkohlebergbau über Preise und deswegen richtig gemacht. auslaufen, der kann doch nicht ernst genommen werden. Die Steinkohle — da sind wir uns doch Dies ist also ein vernünftiges Angebot. Ich appel- einig — kann nie Grundlast sein, und die Kernenergie liere gerade an diejenigen, die in einer wahlkampf- ist immer Grundlast. geprägten Zeit hoffentlich ruhig argumentieren, daß wir uns hier nicht wieder auseinanderdividieren las- (Zuruf des Abg. Volker Jung [Düsseldorf] sen, denn wir werden spätestens nach der Wahl [SPD]) wieder zusammenkommen und genau dies tun. Der — Aber Sie haben doch diesen Satz an das Ende Ihrer Politikverdrossenheit wäre Vorschub geleistet, wenn Rede gestellt. Da werden Sie doch wohl glauben jeder weiß, wir machen jetzt wieder die Hahnen- dürfen, daß ich das aufgreife und mich dagegen kämpfe, die hinterher keiner mehr vernünftig weiter- verwahre, daß das unsere Politik sein würde. Das kann führen kann. doch nicht richtig sein. Man muß den Bergleuten doch (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — sagen, wenn man ihnen ehrlich gegenübertritt, daß Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Aber nicht die Kernenergie die Grundlast schafft und daß nicht um jeden Preis!) die Kernenergie ihre Arbeitsplätze im Steinkohle- bergbau gefährdet, sondern möglicherweise die Jetzt komme ich zum dritten Teil der Ausführungen Importkohle und nichts anderes. Das ist die Wahr- des Kollegen Fischer, zu Biblis. Ich komme nur mit heit. ganz wenigen Sätzen dazu, weil ich — im Gegensatz zu Ihnen — meine Redezeit in etwa einhalten werde. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ich komme auch deswegen nur knapp dazu, weil ich, Dafür brauchen wir, meine Damen und Herren, in Herr Kollege Fischer, so viel Respekt vor einem im hohem Maße eine — auch und gerade durch Sicher- Grundgesetz vorgeschriebenen Verfahren habe, daß heit bestimmte — Kernenergie. ich aus einem laufenden bundesaufsichtlichen Ver- fahren an dieser Stelle nicht vorweg argumentiere. Wir alle sind uns einig: Der nächste Reaktor in Unsere Mitarbeiter haben heute ein bundesauf- Deutschland wird nicht mehr in diesem Jahrzehnt sichtliches Gespräch geführt. gebaut und auch nicht mehr beantragt, weil es die Nachfrage gar nicht notwendig macht. Das wissen Sie (Staatsminister Joseph Fischer [Hessen]: doch. Es ist doch völlig klar. Wir haben jetzt genug zu Über fünf Stunden!) tun, im Bereich der Braunkohle Grundlastnachfrage — Ja, über fünf Stunden, damit Sie sehen, daß wir die zu bewirken, damit das bewältigt wird, was jetzt Dinge ernst nehmen. — Ich bin mit diesen Mitarbei- verabschiedet worden ist. Keiner ist also dieser Mei- tern in das bundesaufsichtliche Gespräch mit der nung. Die Überlegung, die auch Kollege Schröder Vorstellung hineingegangen: Ergebnis offen. Sie gehabt hat, war aber: Ich will nicht jetzt schon offenbar nicht. entscheiden, so daß meine Kinder später nicht mehr sagen können, wir brauchen wieder Kernenergie. Wir (Beifall bei der CDU/CSU) wollen die Option erhalten, daß man im Jahr 2005 Deswegen nehme ich keine Ergebnisse vorweg; ich oder 2008 wirklich sagen kann, es kann wieder ein sage nur so viel wie nötig. Es ist ja faszinierend: Kernkraftwerk gebaut werden. Diese Option müssen Manchmal hat es einen Vorteil, wenn ein Minister wir offenhalten. Wir waren doch ganz nahe daran, das wirklich einmal über lange Zeit im Amt ist. Das haben zu tun. Warum fallen Sie denn mit dem, was Sie wir alles selbst mitgemacht: 1989, 1990 und 1991 habe vortragen, in die alten Grabenkämpfe zurück? ich das ja mitgemacht. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE wohl wahr!) GRÜNEN]: Das ist eine Seltenheit bei Das ist eigentlich nur noch unter Wahlkampfgesichts- Ihnen!) punkten zu sehen, denn ernst nehmen kann das — Ich weiß, die Halbwertzeit von Umweltministern ist wirklich niemand mehr. im allgemeinen geringer. Darin haben Sie alle viel Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18455

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Erfahrung. Bei uns ist das ein bißchen stabiler. Das ist beschiedenen Größen zu einer Beanstandung aufge- ganz ordentlich. wertet, die zur Anwendung des § 19 Atomgesetz führt. Aber ich komme auf das Thema zurück. Wir haben 1990 in der Tat gesagt: Ja, wir wollen diese Auflagen Dies sind ganz schlicht die Dinge, die ich hier nur haben, und zwar können wir sie in einem Zeitraum mit wenigen Sätzen anführen wollte, nicht indem ich von drei Jahren hineinbringen, weil es keine Tatbe- sage: Wie werde ich denn entscheiden? Wir werden stände der Gefahrenabwehr sind — dem Fachmann das sehr genau durchdenken, auch was von Ihren sei es gesagt —, die ein Einschreiten nach § 19 des Mitarbeitern heute vorgetragen worden ist. Ich Atomgesetzes erforderlich machen, sondern weil es erwarte, daß auch Sie und Ihre Mitarbeiter in der Tatbestände der Risikovorsorge sind. gleichen Offenheit die Argumente aufgreifen, wie wir es getan haben. Wenn das gelingt, gäbe es sogar die Daß der Kollege Fischer das genauso wertet, kann Möglichkeit, daß auch der Kollege Fischer wieder zu ich nur festhalten. Denn er hat bis zur letzten Revision einer vernünftigen Verhaltensweise käme. dieses Kernkraftwerk ohne weiteres laufen lassen. Wäre das ein Gefahrentatbestand gewesen, so wäre er Er hat vorhin gesagt, wir würden Gewinn gegen genau wie ich sofort zu der Entscheidung gekommen: Sicherheit einkaufen. Dies ist eine so ungeheuerliche Wir legen dieses Kraftwerk still. Das hat er nicht getan. Feststellung, daß ich sie wirklich mit allem Nachdruck zurückweisen muß, auch mit Blick auf die Mitarbeiter, Er ist also mit mir offenbar der Meinung: Einen Gefahrentatbestand gab es nicht. die bei mir diese schwere Arbeit leisten. Das ist eine ungeheuerliche Unterstellung, und ich weise sie mit Daß er dieser Meinung ist, hat er sogar in dem größtem Nachdruck und mit Schärfe zurück. Schriftsatz vom 10. Januar 1994 an das zuständige (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Gericht mitgeteilt. Denn es wird dort klargestellt, daß die Wiederinbetriebnahme der Anlage Biblis auch Dann kann ich genauso sagen: Der Kollege Fischer hat nicht durch eine Anordnung verhindert werden wird, Sachkunde durch Ideologie ersetzt. Diese Aussage die sich lediglich auf die formale Nichterfüllung der stimmt ungleich besser. hier angefochtenen nachträglichen Aufgaben stützt. Ich danke Ihnen sehr herzlich. — Das steht da. — Das, was er da mitteilt, mache ich (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) jetzt. Dasselbe tue ich. - Zur formalen Nichterfüllung, meine Damen und Vizepräsident Hans Klein: Verehrter Herr Bundes- Herren, will ich festhalten: Als geschickter Redner, minister, Sie haben genausoviel überzogen wie der der er ist, hat er, die Argumente vorwegnehmend, Kollege Fischer. natürlich gesagt: Der Töpfer wird wahrscheinlich mit dem Argument meiner nicht fristgerechten Bearbei- (Lachen bei der SPD) tung kommen. — Es wird, Herr Kollege Fischer — das Der Unterschied besteht lediglich da rin, daß Sie einer habe ich einmal gelernt —, immer dann schwierig, Fraktion angehören, die noch Redezeit hat und der wenn jemand seine Leistungsfähigkeit an den Input- das abgezogen werden kann. Größen und nicht an den Output-Größen mißt. Sie (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Herr Präsident, haben völlig recht. Sie haben den Beamtenapparat könnte man nicht durch den Beifall der SPD vergrößert, aber den Output dieses Beamtenapparates konstruieren, daß das damit der SPD ange dadurch nicht verbessert. rechnet wird?) (Dr. Walter Hitschler [F.D.P.]: Lauter Pflau — Herr Parlamentarischer Geschäftsführer, wir sind men!) jetzt ohnehin in einer etwas komplizierten Situation; Darum ging es uns eigentlich. denn unser alter Kollege Fischer hat noch einmal ums Wort gebeten, Die Anträge zu dem in besonderer Weise auch hier (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die Betonung angesprochenen Notstandssystem sind 1989 vorge- liegt auf „alt"!) legt worden. Sie sind vom TÜV 1990 abschließend beschieden worden, und sie sind dann weiter über- das ihm als Mitglied des Bundesrates selbstverständ prüft worden. Meine Damen und Herren, da muß ich lich nicht verweigert werden kann. Die beiden Herren mich doch einmal fragen: Wie ist das denn insgesamt — wenn Sie den Ausdruck erlauben — seiner Gruppe miteinander verbindbar? Deswegen sind wir in einem feixen bereits; denn sie genießen es natürlich, daß auf bundesaufsichtlichen Gespräch. Deswegen habe ich diese Weise die GRÜNEN zu einer überproportiona- das Verfahren an mich gezogen. Genauso geht es len Redezeit in diesem Hause kommen. Aber ich habe beim Brandschutz weiter. Ich wäre, Herr Kollege selbstverständlich nach dem Grundgesetz zu verfah- Fischer, da also vorsichtiger. ren. Herr Staatsminister Fischer, Sie haben das Wort. Nicht nur ich, sondern genauso auch Sie haben in den letzten drei Jahren ein Kernkraftwerk laufen lassen, von dem Sie heute sagen: Es gibt schon seit Staatsminister Joseph Fischer (Hessen): Herr Präsi- damals Risiken, die das Abstellen erforderlich dent! Meine Damen und Herren! Wirklich nur ganz gemacht hätten. — Entweder sind wir uns einig, daß kurz zur direkten Entgegnung, weil das hier richtig diese Risiken nicht zu der Abschaltung hätten führen gestellt werden muß: Herr Kollege Töpfer, Sie wissen müssen, oder Sie müssen neue Überlegungen haben. so gut wie ich, daß folgende Erwägung in dem Diese haben Sie sich in der Tat durch ein Ökoinstituts Bescheid des Kollegen Weimar damals enthalten war: Gutachten geben lassen, und Sie haben die 1990 Es wurde im Hinblick auf die Dreijahresfrist davon 18456 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Staatsminister Joseph Fischer (Hessen) abgesehen, Sofortmaßnahmen nach § 19 Abs. 3 des Dieses Zitat erinnert nicht nur an das, was vor wenig Atomgesetzes zu ergreifen. Ich kann es Ihnen hier mehr als zwei Jahren vereinbart worden ist. Diese wortwörtlich zitieren, aber es würde jetzt zu lange Festlegung findet sich auch wörtlich, auf Punkt und dauern. Das steht hier auf Seite 15. Das Zitat, das ich Komma, im Energiekonzept „Energiepolitik für das Ihnen vorhin vorgelesen habe, schließt sehr schnell vereinte Deutschland", das die Bundesregierung im daran an. Dezember 1991 beschlossen hat. Auf Punkt und Wir haben es hier nach unserer Einschätzung Komma will ich daran erinnern, weil nämlich damals — deswegen hier der Vorwurf — nicht ohne Grund Punkt und Komma vereinbart wur- den. (Dr. Klaus Töpfer [CDU/CSU]: Nach Ihrer Einschätzung; das ist doch klar!) Ein Zeitraum von zwei Jahren ist aber offenbar für doch nicht damit zu tun. Sie würden mir doch zu Recht manche ein zu langer Zeitraum, um sich erinnern zu den Kopf waschen, wenn ich allein aus formellen können, daß sie an diesen Vereinbarungen beteiligt Gründen des Nichterreichens der sicherheitserhöhen- waren. Ich darf deshalb ein weiteres Zitat vortragen, den Maßnahmen zu der festgesetzten Frist — ohne von einem Ereignis, das erst zehn Monate zurückliegt. eine nochmalige sachliche, materielle Prüfung der Dabei wage ich zu hoffen, daß das Gedächtnis und der zuständigen Aufsichtsbehörde — durch aufsichtliches Wert politischer Zusagen wenigstens noch so weit Handeln vorgehen würde. Sie wissen doch besser als reichen. die meisten hier im Saale, daß ein solches Verfahren (Monika Ganseforth [SPD]: Die Halbwertzei dringend geboten ist, damit es tatsächlich auf rechts- ten werden immer kürzer!) sicheren Beinen stehen kann. Was ich Ihnen vorwerfe, ist: Wenn das bundesauf- Die Bundesregierung steht ohne Abstriche zu den sichtliche Verfahren ergebnisoffen sein soll, wie Sie es Vereinbarungen der Kohlerunde von 1991. Wir gerade sagten — wir als zuständige Landesbehörde halten daran fest, langfristig 50 Millionen Tonnen mußten uns eine entsprechende Auffassung bilden, Kohleabsatz an die Elektrizitätswirtschaft und die die wir Ihnen rechtzeitig genug mitgeteilt haben —, Stahlindustrie mit Beihilfen zu stützen ... Wir dann bitte ich Sie darum, daß Sie verhindern — wir haben in der Kohlerunde 1991 das Mengengerüst können das nicht; denn wir sind durch Ihre Weisung dafür bis zum Jahre 2005 verabredet. Die Bundes- jetzt an die Kette gelegt —, daß der Reaktor bis zu - regierung steht dazu. einer endgültigen Entscheidung des Bundes, die er uns dann mitteilt, ans Netz geht. Das ist das mindeste, So, meine Damen und Herren, die Worte von Bundes- was zu erwarten ist, wenn Ihre These von der ergeb- wirtschaftsminister Rexrodt am 29. April 1993 vor nisoffenen Entscheidung stimmen soll. 100 000 Bergleuten in Bochum. Herr Bundesumweltminister, RWE hat heute paral- Diese beiden Sätze, nämlich: „Wir haben in der lel zum bundesaufsichtlichen Gespräch eine Presse- Kohlerunde 1991 das Mengengerüst" — ich betone: mitteilung verbreitet, daß RWE gedenkt, nach Ablauf das Mengengerüst — „dafür bis zum Jahre 2005 der Revision am Wochenende, vermutlich in der verabredet" und „Die Bundesregierung steht dazu", Nacht von Sonntag auf Montag, wieder an das Netz zu sind mit dem, was im Regierungsentwurf zur Verstro- gehen. Wir können dies, obwohl wir schwerste Sicher- mung heimischer Steinkohle geregelt werden soll, heitsbedenken haben und eine erhebliche Gefähr- wohl kaum zu vereinbaren. dung sehen, nicht verhindern. Wenn Sie die Diskussion zwischen Bund und Land Dieser Entwurf ist nicht die Umsetzung der verein- Hessen ergebnisoffen gestalten wollen, wie Sie das barten Ergebnisse der Kohlerunde. Dieser Gesetzent- hier gesagt haben, dann verhindern Sie das Wieder- wurf bedeutet die Abkehr vom Grundsatz der Versor- troffenen anfahren. gungssicherheit, er bleibt weit hinter den ge Vereinbarungen zurück. Und ich sage hier ganz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) deutlich, damit es kein Mißverständnis gibt: Wir, Herr Professor Töpfer, in der IGBE werden dieses Gesetz selbst dann nicht als Einhaltung der Kohlerunde von Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem 1991 akzeptieren, wenn wir gezwungen sind, alle Kollegen Hans Berger. Anstrengungen zu unternehmen, um damit zurecht- zukommen. Wer noch mehr Abstriche machen will, Hans Berger (SPD): Herr Präsident! Meine Damen muß wissen, daß er den Steinkohlenbergbau in einen und Herren! Strukturbruch treiben würde. Es besteht die gemeinsame Absicht der Beteilig- Unser Verständnis von verantwortungsvoller, lang- ten, im Anschluß an den Jahrhundertvertrag 1996 fristiger Energiepolitik, vom Wert politischer Zusagen durch vertragliche Vereinbarungen eine Verstro- und Vereinbarungen und von der Verläßlichkeit von mungsmenge von 35 Millionen Tonnen SKE bis Kompromissen werden wir nicht aufgeben, auch zum Jahre 2005 zu sichern ... Die Bundesregie- wenn wir der Meinung sind, daß dieses Gesetz wenig- rung wird unter Mitwirkung aller Beteiligten ein stens dazu taugen muß, noch Schlimmeres zu verhü- Finanzierungssystem entwickeln, das den Ab- ten. Ich bin mir ganz sicher, daß diese leichtfertige A rt schluß entsprechender Verträge möglich macht. des Umganges mit dem politischen Wort weit über die Dies, meine Damen und Herren, waren zwei Zitate aus Steinkohlenreviere hinaus großen Schaden anrich- jenem Dokument, das die Ergebnisse der Kohlerunde tet vom 11. November 1991 festhält. (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18457

Hans Berger und einen sehr fragwürdigen Beitrag zu dem liefert, unserer Ernährungsbasis durch unsere Bauern. was mit Politikverdrossenheit vornehm umschrieben Wir brauchen eine Energiebasis. Wir werden wird. Daß es schließlich in der CDU/CSU-Frak tion auch die Kohle noch brauchen, auch noch im selbst über diese Minimalvariante noch einmal zum 21. Jahrhundert. Streit gekommen ist, zeigt in aller Deutlichkeit die mangelnde Zuverlässigkeit der Koali tion in Sachen (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Energiepolitik. Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [frak tionslos]) (Beifall bei der SPD) Und ich sage, weil ich in Hamburg bin, Wie soll man auf einer solch schwachen Grundlage ein festes Fundament für einen haltbaren, tragbaren — so der Bundeskanzler weiter — Energiekonsens finden? Herr Beckmann hat dies man kann nicht ein Küstenland sein mit Meeres- „Kontinuität" genannt. Ich nenne dies energie- politisches Geisterbahnfahren, Schreckgespenst um zugang und sagen, aus der Werftindustrie steigen wir völlig aus. Es gibt diese drei großen, wichtigen Schreckgespenst. Bereiche, bei denen Sie natürlich nicht den Lud- (Beifall bei der SPD) wig-Erhard-Preis bekommen, das weiß ich. Aber Der Bundeswirtschaftsminister macht keinen Hehl Sie bekommen ein Stück Zukunft! aus seinen Absichten. Er selbst spricht vom funda- (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: So wie der mentalen Kurswechsel in der Kohlepolitik. Solche Kanzler es sagt, wird es gemacht!) energiepolitischen Abenteuer führen nicht zur Stabi- lität. Sie führen ins energiepoli tische Aus. Das im Jedem dieser Worte, meine Damen und Herren, Artikelgesetz enthaltene Junktim erschwert nicht nur stimme ich voll zu. Aber, Herr Bundeskanzler, sorgen die Lösung der Steinkohlenfinanzierung, sondern Sie bitte auch dafür, daß in Ihrer Regierung und in der — ich prophezeie dies, Herr Faltlhauser — schadet Koalition, die sie trägt, nach diesen Worten gehandelt auch auf anderen energiepoli tischen Feldern. wird! Der Feldzug der baden-württembergischen Lan- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) desgruppe der CDU gegen die nordrhein-westfälische mit der Forderung nach einer weiteren Rückführung Dafür gibt es in der Tat nicht den Ludwig-Erhard- der Verstromungsbeihilfen für den Steinkohlenberg-- Preis. Aber was ist der Ludwig-Erhard-Preis im Ver- bau ab 2001 war in den Zeitungen in allen Einzelhei- hältnis zum Schicksal von Zehntausenden von Men- ten nachzulesen und zeigt die Stimmung auf, die in schen! der Koalition zu herrschen scheint. (Beifall bei der SPD) Erst gestern hat der wirtschaftspolitische Sprecher Meine Damen und Herren, zu den kritischen der CDU/CSU-Frak tion ein weiteres Beispiel für diese Anmerkungen aus den neuen Bundesländern, wie kohlefeindliche Politik geliefert. Rückführung der man verlangen könne, daß ostdeutsche Stromver- Beihilfen ist ihm nicht mehr genug. Jetzt propagiert er braucher den westdeutschen Steinkohlenbergbau schon unverhohlen das Ende der deutschen Steinkoh- subventionieren, will ich nur drei Bemerkungen lepolitik, das Ende des deutschen Steinkohlenberg- machen. baus. Erstens. Ich wäre froh, wenn das gleiche Engage- Ich frage mich dabei allerdings eines: Wo bleiben ment, das jetzt in die kritische Diskussion über die eigentlich die Gegenstimmen und die Proteste der Verstromung heimischer Steinkohle investiert wird, nordrhein-westfälischen und saarländischen CDU darauf verwendet würde, zusätzlichen Absatz und Kolleginnen und -Kollegen? damit zusätzliche Arbeitsplätze für meine Kollegin- (Beifall bei der SPD — Volker Jung [Düssel nen und Kollegen in den Braunkohlenrevieren zu dorf] [SPD]: Sehr wahr!) schaffen. Anscheinend versperrt jedoch die Aussicht auf schnellen Gewinn durch den Einsatz von Erdgas Muß man dieses auffällige Schweigen als Zustim- die Sicht auf die Sorgen und Nöte der Menschen in mung werten, oder gelten die vielfachen Verspre- den ostdeutschen Braunkohlenrevieren. chungen und Zusagen, die diese CDU-Vertreter den Bergleuten und den Menschen in Nordrhein-Westfa- Zweitens. Nicht die heimische Steinkohle, sondern len und im Saarland in den letzten Wochen und die Importkohle, die heute als Sonderangebot auf den Monaten gemacht haben? Markt geworfen wird, erschwert die Situa tion der ostdeutschen Braunkohle. Der Herr Bundeskanzler hat in der vergangenen Woche in Hamburg folgendes ausgeführt — ich darf Drittens. Wer einen Gegensatz zwischen heimischer zitieren, weil ich es für wertvoll halte —: Steinkohle und ostdeutscher Braunkohle konstruiert, konstruiert falsch und schafft damit den gefährlichen Wir sind kein rohstoffreiches L an d. Von der Kohle Nährboden für eine stark verkürzte und emotionali- abgesehen haben wir kaum Bodenschätze. Die, sierte Diskussion über die Frage, wer die Lasten der die jetzt bei der Kohle nur kurzfristig rechnen, will deutschen Wiedervereinigung zu tragen hat. Solidari- ich warnen, und ich will ihnen sagen, ich halte das tät, meine Damen und Herren, kann und darf keine für eine kurzsichtige Politik. Das ist ähnlich wie Einbahnstraße sein, erst recht nicht im zusammen- bei der Landwirtschaft. Es gibt Bereiche, die eben wachsenden Deutschland. nicht nur nach marktwirtschaftlichen Katego rien zu betrachten sind. Wir brauchen morgen und (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Da hat er übermorgen und in Jahrzehnten die Sicherung recht!) 18458 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Hans Berger Lassen Sie mich abschließend zu diesem Thema geprägt. Er ist geradezu eine Absage an die Stetigkeit bemerken: Wenn das Konzept der Versorgungssi- und Langfristigkeit, cherheit als Grund für den Einsatz der heimischen (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Und für Stein- und Braunkohle aufgegeben wird, muß Stetigkeit steht die SPD!) zwangsläufig auch die ostdeutsche Braunkohle Ver- lierer sein. Es läßt sich energiewirtschaftlich kaum die für energiepolitische Entscheidungen unverzicht- darstellen, daß. wir mit dem S trom aus ostdeutscher bar ist. Braunkohle Nordrhein-Westfalen oder das Saarland Ich appelliere daher nachhaltig an die Bundesregie- oder auch Schleswig-Holstein versorgen. In der rung und an die Fraktionen der Regierungskoalition, umgekehrten Richtung allerdings kann der Druck, der auch an Sie, Herr Faltlhauser: Zerstören Sie nicht durch küsten- und flußnahe Importkohlekraftwerke endgültig das Vertrauen in politische Zusagen und die entsteht, für die ostdeutsche Braunkohle wie auch für Handlungsfähigkeit unseres Staates! Entziehen Sie die westdeutsche Kohle das endgültige Aus bedeu- der Chance für einen Energiekonsens über die Kohle ten. hinaus nicht endgültig den Boden! Öffnen Sie nicht (Zuruf von der F.D.P.: So ist es!) Tür und Tor für populistische, auf Stimmenfang bedachte politische Rattenfänger von rechts und Ich frage mich wirklich, wie wir mit den großen links! Herausforderungen fertigwerden sollen, vor denen unser Land steht, wie wir in einem europäischen In einem alten Freiberger Bergmannsspruch heißt Binnenmarkt bestehen wollen, wie wir mit den wach- es: „Der Bergbau braucht Verstand und eine getreue senden weltwirtschaftlichen Anforderungen fertig- Hand." Dies sollte unsere gemeinsame Devise für das werden wollen, wenn wir bei uns zu Hause anfangen, Feld der Energiepolitik sein. immer kleinräumiger — besser gesagt: kleinkarier- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ter — zu denken. Ich denke, es würde der Sache am besten dienen, Wie weit wollen wir dieses Spiel noch treiben? wenn die Bundesregierung ihren Gesetzentwurf Wann kommt die Forderung der nordrhein-westfäli- zurückziehen und statt dessen unseren Gesetzentwurf schen Landesgruppe der CDU, in Nordrhein-Westfa- unterstützen würde. len nur noch Autos der Opel- oder Ford-Werke zu verlangen dann den Kauf von (Beifall bei der SPD) kaufen? Die Baye rn - Audi und BMW, die Niedersachsen den von VW und Dann bekämen wir Sicherheit, Stabilität und auch die Baden-Württemberger den von Mercedes und Zukunftsperspektive für die Bergleute. Porsche. Ich danke Ihnen. Sollen wir, können wir diesen Weg wirklich fortset- zen? Wir wollen doch — dies ist hier oft gesagt (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ worden — ein neues Europa bauen. Unser eigener DIE GRÜNEN — Erwin Marschewski [CDU/ politischer Weg aber verirrt sich in der Provinzialität. CSU]: Das war eine ganz schlechte Rede!) Soll sich Politik darin erschöpfen, für L ander, Regio- nen, Städte und Gemeinden nur noch den eigenen finanziellen Nutzen auf Mark und Pfennig durchzu- rechnen? Wo bleibt dabei die Verantwortung für das Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Heinrich ganze Deutschl and? Seesing, Sie haben das Wort. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wie kann auf einer solch schwankenden, ich möchte sogar sagen: sumpfigen, Basis der langfristige Ener- Heinrich Seesing (CDU/CSU): Herr Präsident! giekonsens entstehen, den unser L and doch so drin- Meine Damen und Herren! Ich werde auf die Rede gend braucht? unseres Kollegen Berger jetzt leider nicht eingehen können. Es sind aber viele Sachfragen angesprochen, (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Machen die wir in den nächsten Monaten in den Ausschüssen Sie doch mal was in der Hinsicht! Das ist viel zu beraten haben werden. besser!) ( [Wiesloch] [SPD]: Das ist Das vorliegende Artikelgesetz bietet dafür jeden- aber schade! Machen Sie es doch lieber falls keine Grundlage. Die Aufgabe des Mengengerü- gleich!) stes, die fehlende Konkretisierung der Finanzierung für den Zeitraum 1997 bis 2000, das Offenhalten für — Ich habe zuwenig Redezeit. Einige Gedanken den Zeitraum 2001 bis 2005, der sogar mit der Dro- möchte ich dennoch vortragen dürfen; Sie werden im hung der weiteren Rückführung versehen ist — all Laufe meiner Rede mitbekommen, was ich dazu das, meine Damen und Herren, trägt nur zur weiteren denke. Unsicherheit bei: nicht nur im Bergbau, sondern auch Der erste Teil der Rede des Herrn stellvertretenden in der Elektrizitätswirtschaft. Ministerpräsidenten des Landes Hessen veranlaßt (Beifall des Abg. Ge rt Weisskirchen [Wies mich, doch noch einige Sätze zu der grundsätzlichen loch] [SPD]) Problematik zu sagen. Dabei bin ich mir nicht ganz sicher, ob er nur stellvertretender oder nicht doch Statt der versprochenen langfristigen Perspektive, leitender Ministerpräsident dieses L andes ist. statt der zugesagten Stabilität ist dieser Gesetzent wurf vor allem von Kurzsichtigkeit und Unsicherheit (Widerspruch bei der SPD) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18459

Heinrich Seesing — Wir haben ihn in den Energiekonsensgesprächen Ich behaupte, daß durch dieses Gesetz die deutsche erlebt. Deswegen darf ich diese Bemerkung wohl Kohleplanungssicherheit erhalten wird, wenn es die machen. Zustimmung von Bundestag und Bundesrat erhält. (Gerlinde Hämmerle [SPD]: Unser Minister (Beifall bei der CDU/CSU) präsident heißt Eichel!) Die Zustimmung des Bundestages werden CDU/CSU Unsere Wirtschaft braucht Energie, aber auch der und F.D.P. sicherstellen; aber was wird im Bundesrat einzelne Mensch in seinem p rivaten Bereich, um ein geschehen? Auf jeden Fall hat Herr Scharping am menschenwürdiges Leben führen zu können. Es stellt 4. Februar 1994 im Bundesrat im ersten Durchgang sich nun die Frage, wieviel Energie dazu erforderlich gegen dieses Gesetz gestimmt, das gerade die Siche- ist. rung der Kohle zum Inhalt hat. Der Beschluß, der im Bundesrat als einziger eine Mehrheit fand, richtete Eines ist dabei sicher, meine Damen und Herren: sich deutlich gegen die westdeutsche Steinkohle. Wenn 90 % der Menschen auch ein solches Leben führen wollten, wie es sich die anderen 10 % leisten Warum hat denn die SPD den von allen Seiten können, dann wird das unsere Erde nicht mehr tragen geforderten Energiekonsens im November 1993 ver- und ertragen können. Wir gehören zu diesen 10 % und hindert? Doch wohl nicht nur wegen der Option auf könnten es uns leisten, unter den Energieträgern einen zukünftigen Kernreaktortyp. Man könnte den auszuwählen und nur den zu nehmen, der uns paßt. Gründen also doch wirklich noch einmal nachge- Die Frage wäre natürlich, wie die Mehrheit dafür hen. zustande käme. Eine solche Haltung aber, wenn sie Wir wollen uns also lieber dem Gesetzentwurf der sich denn durchsetzen sollte, muß sich zum Nachteil Bundesregierung zuwenden, um zu untersuchen, wie der Menschen auswirken, die nicht in einem so wir die Sachverhalte am besten zu einer Lösung gesegneten Land leben wie wir. Deswegen ist es bringen. Es gibt in unserer Fraktion — ich gebe das notwendig, an dem bewährten Energiemix in zu — noch erheblichen Beratungsbedarf. Aber Deutschland festzuhalten, die Techniken auszuge- bekanntlich führen viele Wege nach Rom. Einer wird stalten, neue Techniken zu entwickeln und Energie so der angenehmste für alle Beteiligten sein, und den gilt sparsam wie nur eben möglich einzusetzen. es noch zu finden. Die Beratung des sogenannten Artikelgesetzes zur Begrüßt wird von uns, daß der Gesetzentwurf von Sicherung des Einsatzes von Steinkohle in- der Ver- der Festlegung eines Mengengerüsts für die Stein- stromung und zur Änderung des Atomgesetzes wird kohle im Gesetz selbst absieht und statt dessen noch deutlich machen, welch wichtigen Rang die Finanzplafonds zur Verfügung stellt. Vorweg hat der Bundesregierung der Steinkohle einräumt. Nach der Bergbau aber bis 1997 schon beträchtliche Förder- gemeinsamen Auffassung von Bundesregierung und mengen stillzulegen. Das soll auch einmal deutlich Koalition hat Kohle aber nur eine Zukunft im bewähr- gesagt werden. Die Mengendegression und damit ten Energiemix mit der Kernenergie. Und da liegt auch der Abbau der Fördermittel aus dem Bundes- nicht unser, sondern Ihr Problem, meine Damen und haushalt für die Kokskohle ist schon jetzt dramatisch. Herren von der SPD. Gerade den Gewerkschaften ist es durch wahrhaft unkonventionelle Vereinbarungen mit den Unterneh- (Zustimmung bei der CDU/CSU) mern zu verdanken, daß der Umbruch in großer Nicht wenige Leute hoffen, daß die deutsche Stein- Solidarität vonstatten geht. kohle in eine rosige Zukunft geht, wenn erst einmal Für den Bereich der Verstromung haben wir dar- die Kernkraftwerke abgeschaltet sind. Solche Äuße- über hinaus bis zum Ende 1996 einen weiteren Abbau rungen höre ich immer wieder. Ich muß zu Ehren der von Fördermengen von heute 42 Millionen auf 35 Mil- sachkundigen Bergleute sagen, daß sie diesen Irr- lionen Tonnen jährlich vorzunehmen. Auf viele Nach- glauben nicht nähren. fragen hin ist mir bestätigt worden, daß ein Be trag von (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Genauso 7 Milliarden DM ausreicht, die Bergwerksunterneh- ist es!) men in den Stand zu setzen, diese vereinbarte Menge, nämlich 35 Millionen Tonnen, auch zu Weltmarktprei- Aber vielleicht wäre es gut, wenn sich der SPD sen anzubieten. Vorsitzende einmal umhörte, was übereifrige Genos- sinnen und Genossen überall so alles in die Welt Meine Damen und Herren, es ist auch mir jetzt fast setzen. Zwar hat auch er verkündet, daß es der Kohle gelungen, wieder nur über Steinkohle und Kernener- bessergehen werde, wenn die SPD die Wahl gewin- gie zu reden. Deswegen will ich zum Schluß deutlich nen würde. Wenn überhaupt! machen, daß zu unserem Energiekonzept auch die Braunkohle — gerade auch Braunkohle in der Lausitz Er behauptet aber auch, daß der Standort Deutsch- und in Mitteldeutschland —, auch Erdöl und Erdgas, land verbessert würde, daß die Wirtschaft aufblühen aber ganz besonders auch die erneuerbaren Energien würde. Wenn er das erreichen will, braucht die gehören. In diesem Energiemix liegt unsere Zu- Wirtschaft Energie, und zwar zunächst und vor allen kunft. Dingen kostengünstige Energie. Woher will er die Danke schön. denn nehmen, wenn seine Partei aus der Kernenergie aussteigen will? Und welche Energie soll es denn sein, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) wenn der Ausstieg aus der Verbrennung von Stein- kohle, besonders aber von Braunkohle forciert werden soll, wie es Umweltpolitiker der SPD ständig for- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege dern? Reinhard Weis. 18460 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Reinhard Weis (Stendal) (SPD): Herr Präsident! Sehr Wiederaufnahme der Einlagerung abhängig machen geehrte Damen und Herren! Wenn ich meinen Ein- können. Wichtige Zeit zur Klärung eines Streites über druck von der Debatte zusammenfasse, dann muß ich die Eignung ist vertan und unverantwort lich in die zu der Schlußfolgerung kommen: Die Bundesregie- Zukunft verschoben worden. rung hat nach wie vor kein ökonomisch sinnvolles und ökologisch tragfähiges Energiekonzept für die kom- Während derzeit trotz der bedenklichen Lage kein menden Jahre und Jahrzehnte. akuter Einlagerungsnotstand besteht und die Bundes- regierung durchaus noch eine gewisse Zeit hätte, Ein Bereich, in dem dies sehr deutlich wird, ist der Alternativen zur Endlagerung in alten bergmännisch Bereich der Entsorgung radioaktiver Abfälle. Sie wis- genutzten Salzstöcken zu prüfen, verfolgt sie durch sen alle, daß die SPD auf dem letzten Parteitag in ihre in Morsleben begonnene Einlagerung eine fahr- Wiesbaden erneut klar gesagt hat, daß sie den Aus- lässige Politik der Schaffung von ungewollten Tatsa- stieg aus der Atomenergie will; wie bei den Konsens- chen. Dabei gäbe es nach unserer Meinung durchaus gesprächen angeboten, in einem abgestimmten Zeit- die Chance, durch eine konsequente Ausstiegsstrate- rahmen und nicht als Schocklösung. gie wenigstens langfristig das Problem der Endlage- in den Griff zu bekom- Sie will dies, weil das Festhalten an der Atomener- rung radioaktiver Abfälle gie den Einstieg in moderne Energietechnologien und men. eine zeitgemäße Energiestruktur erschwert, wenn Statt dessen setzt die Bundesregierung immer noch nicht verhindert, weil die atomare Op tion vorgaukelt, ungebremst auf die atomare Karte. das Problem der Klimaerwärmung in den Griff zu bekommen, ohne das Problem tatsächlich anzugehen, (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das ist und weil das Problem der Endlagerung atomaren auch gut so!) Mülls mit jedem Betriebstag eines Atomkraftwerkes größer und schwieriger lösbar wird. Minister Töpfer und Herr Minister Rexrodt haben uns das heute in der Debatte auch sehr deutlich gemacht. (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Deshalb Angesichts dieser Entwicklung erweist sich jede muß Morsleben vorangetrieben werden!) Überlegung über eine neue, angeblich sicherere Der letzte Punkt bildet auch den Hintergrund unseres Reaktorgeneration als Schimäre, solange die Risiken Antrages zum radioaktiven Endlager für schwach- der Endlagerung weiter vergrößert werden. und mittelradioaktive Abfälle in Morsleben, Wir Sozialdemokraten sind bereit, über direkte (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Das Sie Endlagerung radioaktiven Mülls als Entsorgungspfad behindern!) zu reden, und wir sind auch bereit, mit der Bundesre- gierung bei der gemeinsamen Suche nach einer der heute auch mitbehandelt wird. langfristigen Lösung des Entsorgungsproblems zu- Ich möchte heute nicht die nach wie vor bestehen- sammenzuarbeiten. In diesem Sinne ist auch unser den massiven Rechts- und Sicherheitsbedenken heute zur Debatte stehender Antrag zu verstehen. Wir gegen den Weiterbetrieb des Endlagers wiederholen. sind überzeugt, daß das Endlager Morsleben keine Dazu verweise ich auf das Stenographische Protokoll geeignete Lagerstätte für radioaktive Abfälle dar- meiner Ausführungen vom 2. Dezember 1993. Nur stellt, aber wir waren von Anfang an bereit, diese eine Zusammenfassung zur Erinnerung: Die Laugen- Annahme durch ein ordentliches Genehmigungsver- zuflüsse und die zu geringe Mächtigkeit des Deckge- fahren bestätigen oder widerlegen zu lassen. Dieses birges sollten ebenso wie die fehlende Übereinstim- Angebot hat die Bundesregierung hartnäckig abge- mung mit den Anforderungen an die Einlagerung wiesen. Insofern enthält unser Antrag eine Wiederho- radioaktiver Abfälle, wie sie für die Bundesrepublik lung des klaren Angebotes an die Bundesregierung. bisher grundsätzlich gelten, eine weitere Einlagerung Gemeinsame Anstrengungen bei der sehr schwieri- im Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben selbst- gen Suche nach einer Lösung für die Endlagerproble- redend verbieten. matik müssen wir Sozialdemokraten allerdings an Ebenso problematisch wie diese standortbedingten bestimmte Voraussetzungen knüpfen. Dazu gehören Probleme des Endlagers Morsleben sind jedoch die der sofortige Stopp der weiteren Einlagerungen in Auswirkungen der von der Bundesregierung ange- Morsleben, die umgehende Eröffnung eines neuen ordneten fortgesetzten Nutzung des Endlagers zu Genehmigungsverfahrens nach geltendem bundes- beurteilen. Nach dem 30. Juni 2000 wird die vorläu- deutschen Recht, eine grundsätzliche Neuorientie- fige Betriebsgenehmigung für Morsleben auslaufen. rung der Forschungsaufgaben zur Verbesserung der Sie muß dann, soll weiter eingelagert werden, über ein Erforschung regenerativer Energiequellen und deren ordentliches Genehmigungsverfahren erneuert wer- Markteinführung — noch immer wird ein Mehrfaches den. Entsprechend der gültigen Sicherheitsphiloso- in der Kern- und Fusionsforschung ausgegeben—, die phie für die Einlagerung radioaktiver Abfälle, den Bereitschaft der Bundesregierung, Konzepte einer heute geltenden Kriterien für Endlager, ist danach kernenergiefreien Energienutzung in einem ersten nicht mit einer weiteren Betriebsgenehmigung zu Schritt wenigstens in die eigenen Überlegungen ein- rechnen. zubeziehen und damit auch das Ziel einer Energie- sparpolitik als Voraussetzung anzunehmen. Das muß wohl auch die Bundesregierung trotz ihrer bisher anderslautenden Äußerungen befürchten. Sie Übrigens, der Begriff „Energiesparpolitik" ist in hätte sonst seit dem 3. Oktober 1990 längst ein dem Beitrag von Herrn Minister Rexrodt hier nicht ein Genehmigungsverfahren einleiten und davon die einziges Mal erwähnt worden. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18461

Reinhard Weis (Stendal) Auch für die atomare Endlagerung brauchen wir dazu vortragen. Ich muß vorausschicken, daß die langfristig eine Lösung, die auf einem breiten Konsens ostdeutschen Stromversorger bereits weitere S trom- fußt, unabhängig davon, wie wir in der Zukunft mit preiserhöhungen — über die von mir schon genannten der Kernenergie — auf Grund unterschiedlicher Erhöhungen hinaus — angekündigt haben, da insge- Standpunkte heute — umgehen. Wir erwarten eigent- samt ein Investitionsstau von ungefährt 45 Mil liarden lich, daß die Bundesregierung am Beispiel des Endla- DM ansteht. Diese Erhöhungen haben natürlich Aus- gers Morsleben erste Schritte für einen solchen Kon- wirkungen auf das Strompreisniveau und damit auch sens geht. die Standortbedingungen in den neuen Bundeslän- Danke. dern. Herr Beckmann hat gesagt: Energiepolitik ist Standortpolitik. Diesen Begriff möchte ich hier noch (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ einmal aufgreifen. DIE GRÜNEN) (Zuruf von der SPD: Er hat es aber anders gemeint!) Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Johannes Nitsch, Sie haben das Wort. Um dem entgegenzuwirken, sollte — das wäre die beste Möglichkeit — eine wie auch immer ausgestal- erfolgen. Die (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr tete Freistellung vom Kohlepfennig Johannes Nitsch Bundesregierung hat ja bereits in ihrer Gegenäuße- Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich rung eine 10prozentige Mehrbelastung eingeräumt. auf einen Aspekt zurückkommen, der für die Men- Auf Grund der Zahlen, die mir vorliegen, werden schen in den ostdeutschen Ländern einen besonderen sogar Mehrbelastungen von bis zu 28 % prognosti- Schwerpunkt darstellt, und zwar der Strompreis. ziert. Diese Zahlen basieren allerdings auf den heuti- Worum geht es? Der Jahrhundertvertrag, der den gen Preisen. Wenn ich die Ankündigungen für 1996 Einsatz heimischer Steinkohle für die Stromerzeu- zugrunde lege, ergeben sich wirtschaftlich nicht mehr gung in angemessener Größenordnung sichert, läuft zu verantwortende Standortnachteile. 1995 aus und ist gemäß Einigungsvertrag nicht auf die neuen Bundesländer übertragen worden. (Vorsitz: Vizepräsident Dieter-Julius Cro Die Fortsetzung für die Jahre 1996 bis 2005 wird nenberg) zumindest für das Jahr 1996 eine Ausgleichsabgabe Wenn dieser beste Weg — aus welchen Gründen nach dem bisherigen Verfahren, also den -sogenann- auch immer — nicht gegangen werden kann, dann ten Kohlepfennig, auch für die neuen Bundesländer wäre es vielleicht auch möglich, eine Einführung des vorsehen. In dieser gesamtdeutschen gesetzlichen Kohlepfennigs in Höhe von 1 % vorzusehen. Auch in Regelung sind — das ist meine Meinung, das ist die den alten Bundesländern haben wir, als wir von 7,5 % Meinung der ostdeutschen Abgeordneten — die spe- auf 8,5 % erhöht haben, diesen Schritt get an. Die in zifischen Energieprobleme und die Energiepreispro- der Gegenäußerung der Bundesregierung vorgesehe- blerne der neuen Bundesländer zu beachten. nen 6,4 % stellen dagegen eine nicht zu verkraftende Ostdeutsche und westdeutsche Zahlenübersichten Belastung dar. zeigen, daß die durchschnittlichen Ist-Strompreise der Grundsätzlich sollte Übereinstimmung darin beste- neuen Länder im Jahre 1992 — für 1993 liegen sie hen, daß der Kohlepfennig in den neuen Bundeslän- noch nicht vollständig vor — sowohl bei den Tarifab- dern nicht dazu führen darf, daß der Strompreis der nehmern als auch bei den Sonderabnehmern, also der alten Länder überschritten wird. Dazu ist es erforder- Industrie, über denen der alten Länder liegen. Die lich, daß die Bundesregierung Zahlen vorlegt, die durchschnittlichen Preisdifferenzen betragen für die einen ständigen Vergleich der Strompreisentwicklun- Industrie ca. 15 %, für die Tarifabnehmer ca. 3 %, im gen und auch eine Vorschau auf die beabsichtigten Durchschnitt 12 %. Strompreisänderungen der nächsten Jahre ermögli- Nun ist das mit Durchschnittszahlen immer so eine chen. Geschichte, wenn man die Randbedingungen dazu nicht genau angeben kann. Ich sage auch, daß diese Meine Zeit reicht nicht dazu aus, auch noch Ausfüh- erhöhten Strompreise etwas damit zu tun haben, daß rungen zur Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen wir die Umstrukturierung der Energiewirtschaft aus Braunkohle zu machen. Dies dürfte aber auch allge- der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft vorneh- mein bekannt sein. Dies gilt auch für die Leistungen men. des Bundes, die für die Braunkohle-Altlastensanie- mug erbracht werden. Eines will ich aber unbedingt Wie es auch sei: Die schlagartige Einführung eines sagen: Die Braunkohlekumpel aus der Lausitz und Kohlepfennigs würde zwangsläufig zur Verschärfung dem Leipziger Revier sollen wissen, daß die für den dieser Energiepreisdifferenz zwischen Ost und West Braunkohleeinsatz notwendigen Kraftwerksblöcke führen. Deshalb hat die CDU/CSU-Bundestagsfrak- errichtet werden. Die Stromerzeuger halten sich in tion bereits am 30. November 1993 beschlossen, daß vollem Umfange an ihre Neuplanungen hinsichtlich es zu keinem sprunghaften Anstieg der Strompreise in des Einsatzes der ostdeutschen Braunkohle. Heute den neuen Bundesländern kommen darf. geht es mir ja auch mehr um den Einsatz deutscher (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Gute Frak Steinkohle und seine Auswirkungen auf die S trom- tion!) preise in den neuen Bundesländern. — Sehr gute Fraktion; sie hat das Problem erkannt. Ganz zum Schluß darf ich hoffen, daß Sie das, was Welche Regelungsmöglichkeiten ergeben sich jetzt ich zum Strompreisniveau und zu seinen Auswirkun- aus dieser Festlegung über die länderspezifischen gen auf die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Variationen hinaus? Ich darf Ihnen unsere Vorschläge Bundesländer gesagt habe, ebenso sehen und deshalb 18462 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Johannes Nitsch die gesetzlichen Regelungen entsprechend dem Nach diesem Gesetzentwurf werden wir — das ist Beschluß meiner Fraktion und entsprechend meinen im einzelnen vorgetragen worden — Kohleland blei- Ausführungen treffen werden. Denn der schwierige ben. Prozeß der inneren Einheit darf nicht zusätzlich durch Wir bekennen uns — das ist mein Thema — zur eine ideologische Ost-West-Energiedebatte belastet Nutzung der Kernenergie. Der verbindliche Konnex, werden. die rechtliche Absicherung von Kohle plus Kernener- Vielen Dank. gie kann nicht im Gesetz festgezimmert werden. Es ist (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) aber eine politische Aussage, zu der wir stehen und die auch Sicherheit für die Betreiber bringen wird. Das ändert nichts daran, daß wir die Konsensge- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile spräche wieder brauchen. Das ist einfach eine unbe- nunmehr dem Abgeordneten Klaus Harries das dingte Verpflichtung und Notwendigkeit für den auch Wort. heute ausführlich diskutierten Wirtschaftsstandort Deutschland. Denn wir können es uns nicht leisten, Klaus Harries (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine die Betreiber und die Wirtschaft ohne Rahmendaten sehr verehrten Damen und Herren! Die Verantwor- und ohne Planungssicherheit zu lassen. tung für das bedauerliche Scheitern der Energiekon- (Joachim Hörster [CDU/CSU]: Sehr gut!) sensgespräche tragen Sie, meine Damen und Herren Wir brauchen hier endlich eine Perspektive, um zu von der Opposition. verhindern, daß im Ausland z. B. die nächsten Kraft- (Rudolf Bindig [SPD]: Ganz bewußt!) werke gebaut werden und nicht bei uns. Sie haben nicht die politische Kraft gefunden, sich von (Joachim Hörster[CDU/CSU]: Und wir von Ihrem Ausstiegsbeschluß zu verabschieden. denen abhängig sind!) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir brauchen eine verläßliche Energieperspektive Dabei hat dieser Betonklotz, den Sie seit einigen aus Umweltgründen, und dazu gehört die Kernener- Jahren vor sich herschieben — wodurch Sie wichtige gie. In der Debatte ist schon vom Kollegen Beckmann Entscheidungen verhindern —, durchaus sichtbare vorgetragen worden, daß allein 160 Millionen Tonnen Risse bekommen. CO2 durch unsere 20 Kernkraftwerke eingespart und - Ich erinnere an den Ministerpräsidenten Schröder, nicht emittiert werden. Wir brauchen im Interesse der immerhin die Option für die zweite Generation der unseres Landes und der Sicherheit der Energieversor- Kernkraftwerke offenhalten will. Ich erinnere daran, gung einen Energiemix. In diesem Artikelgesetz wer- daß Ihr Zehn-Jahres-Ausstiegsbeschluß ja offenbar den zwei Standbeine genannt. Wir können uns nicht keine Bedeutung mehr hat, denn die zehn Jahre sind allein auf Kohle, wir können uns auch keineswegs in Kürze herum. Bis heute haben Sie aber nicht den allein auf Kernenergie oder — wie es manchem wohl Mut, sich nun endgültig für die Zukunft zu entschei- vorschwebt — auf Erdgas stützen. Wir brauchen den den. Denn darüber sind wir uns, glaube ich, einig bewährten Energiemix wie in der Vergangenheit. — das ist deutlich geworden —: Ganz egal, wo man die (Beifall bei der CDU/CSU) Lösung sieht und wo man steht, man muß feststellen, Nächster Punkt, meine Damen und Herren: Wir die Lösung des Energieproblems ist nicht nur ein müssen endlich damit aufhören, Kapitalvernichtung deutsches, sondern ein weltweites Problem. Wir brau- und Technologievernichtung zu betreiben. Ich erin- chen Energie, um in 30 Jahren eine Bevölkerung von nere an Wackersdorf, an Kalkar, an Hamm-Uentrop. dann 10 Milliarden Menschen zu versorgen, wir Das sind Dinge, die wir uns nicht leisten können. Wir brauchen sie, um der Klimakatastrophe durch CO2 können es uns ebenfalls nicht leisten, auf 5 000 Emissionen zu begegnen. hochqualifizierte Facharbeiter, Ingenieure und Atom- Nun genügt es ja auf keinen Fall, das Scheitern der physiker zu verzichten, Konsensgespräche zu beklagen. Die Bundesregie- rung hat aber durch die Vorlage des Artikelgesetzes (Zuruf von der SPD: Umschulen!) Handlungsbereitschaft und Handlungsfähigkeit ge- deren Know-how ansonsten verlorengehen müßte. Es zeigt und hat vor allen Dingen, wie ich meine, den ist viel zu schade, um sie auf andere Arbeitsplätze unbedingt erforderlichen Weg für neue Konsensge- umzusetzen. Denn — auch darüber haben wir wieder- spräche — zugegebenermaßen erst nach der nächsten holt diskutiert — allein die weltweite Nutzung der Wahl — offengehalten. Kernenergie und die Probleme in den GUS-Ländern Nun ist es wichtig, zu erkennen, daß nicht alle zwingen uns dazu, unser besseres Know-how, unse- notwendigen und wünschenswerten Punkte — das ren besseren Sicherheitsstand einzubringen. Das kön- wurde ja von Ihnen hier teilweise bemängelt — in nen wir nicht mehr, wenn wir aussteigen. diesem Artikelgesetz geregelt sind. Das Wichtigste (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) können wir im Grunde rechtlich nicht klären. Wir Meine Damen und Herren, zwei Punkte enthält das können nämlich rechtlich nicht erreichen, daß die Artikelgesetz noch: einmal die direkte Endlagerung. SPD-regierten Länder, denen der Vollzug vom Bun- Wir gewinnen zugegebenermaßen Zeit. desrecht her obliegt, durch Gesetz von uns verpflich- tet werden, den Weg eines ausstiegsorientierten Gesetzesvollzuges zu verlassen. Das wäre der erste Schritt, um überhaupt im Interesse unserer Wirtschaft Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Die Zeit in der Sache weiterzukommen. haben Sie leider nicht mehr. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18463

Klaus Harries (CDU/CSU): Ich höre auf, Herr Präsi- Ich finde es auch gut, daß wir eine Debatte in dent. Gestatten Sie bitte zwei Schlußsätze. Anwesenheit des sudanesischen Botschafters führen können, der auf der Diplomatentribüne dieser Debatte Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bitte. sicher sehr aufmerksam folgen wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (CDU/CSU): Die Entsorgung braucht Klaus Harries Meine Damen und Herren, Europa umgeben eine trotz der Verlängerung der F rist eine Lösung. Die ganze Reihe tickender Zeitbomben. Eine dieser tik- kann nicht darin bestehen, daß Sie nach Vorschrift kenden Zeitbomben — das sollten wir uns vergegen- arbeiten. Sie wissen, was das bedeutet. Ich sage das wärtigen — ist die demographische Entwicklung in einem guten Gewerkschaftsführer. Man muß hier Afrika. Niemand darf übersehen, wie die Bevölke- vielmehr das Gesetz so anwenden, wie es sich gehört, rung in Afrika explosionsartig wächst. Noch 1950 war wie es das Bundesrecht zum Ausdruck bringt. Wir die Bevölkerung Afrikas halb so groß wie die Europas. brauchen die Entsorgungsregelung und die Entsor- 1985 hatte Afrika bevölkerungsmäßig Europa bereits gungssicherheit. Und das ist möglich. Es ist nicht so, eingeholt. Heute haben wir in Afrika rund 650 Millio- daß wir nicht entsorgen können, wenn wir nur wollten, nen Bewohner. Und wenn wir Paul Kennedys „In wenn Sie nur mitmachen würden. Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert" glauben kön- Aber ich sage zum Schluß: Alles ist wichtig, aber wir nen, werden im Jahre 2025 fast 1,6 Milliarden Men- brauchen den Konsens. Fangen wir in einigen Mona- schen in Afrika leben. ten an! Jeder kann sich vorstellen, welch ungeheurer (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Migrationsdruck von Afrika ausgehen wird. Die Rich- tung wird zwangsläufig weitgehend der Norden sein. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Und davon wird Europa betroffen sein. Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aussprache. Nun ist natürlich die Frage: Wie reagieren wir auf diese Probleme? Ich bin froh — das darf ich sagen —, Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlagen daß inzwischen vereinbart werden konnte, die beiden auf den Drucksachen 12/6908, 12/6382 und 12/6422 vorliegenden Resolutionsentwürfe an den Auswärti- an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse gen Ausschuß als federführenden Ausschuß und an vor. — Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist es den AWZ zur Mitberatung zu überweisen, so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluß- (Beifall des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.)) empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Natur- — weil wir uns sehr wohl überlegen müssen, was wir schutz und Reaktorsicherheit zu einem Vorschlag der dort um können: bitte keinen Aktionismus, aber sehr EU zu einem Finanzbeitrag zur Verbesserung des sorgfältig. Wirkungsgrads und der Sicherheit von Kernkraftanla- gen in Drittländern. Das liegt Ihnen auf der Drucksa- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und che 12/6641 vor. Wer stimmt dieser Beschlußempfeh- der F.D.P.) lung zu? — Wer ist dagegen? — Enthaltungen? — Die Ich will zwei Probleme kurz ansprechen. An der Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der PDS/ Spitze der Probleme des Sudan steht der Bürgerkrieg. Linke Liste angenommen. Der Bürgerkrieg ist — ich pflege das manchmal etwas vereinfacht zu sagen — die Ursache aller Probleme im Meine Damen und Herren, wir kommen damit zum Sudan. Die Hauptaufgabe, vor der wir im Sudan und Tagesordnungspunkt 5: die Welt um den Sudan stehen, ist, mitzuhelfen, daß Vereinbarte Debatte zur Lage im Sudan dieser Bürgerkrieg ein Ende findet. Dazu liegen je ein Entschließungsantrag der Frak- Wir müssen sehen, daß die Ursachen dieses Bürger- tionen der CDU/CSU und F.D.P. sowie der Fraktion kriegs sehr tief in der historischen Entwicklung des der SPD vor. Sudan verwurzelt sind, sehr tief verwurzelt. Das lebt Der Ältestenrat empfiehlt eine Debattenzeit von im Bewußtsein der Menschen im Sud an weiter. Es einer Stunde. — Widerspruch erhebt sich nicht. So ist geht über die Zeit des Kolonialismus hinaus zurück. dies beschlossen. Wer daran denkt, mitzuhelfen, diese Probleme zu Die Debatte kann eröffnet werden. Ich erteile dem lösen, muß allerdings auch wissen, daß die Sudanesen Abgeordneten F riedrich Vogel das Wort. selbst die Probleme im Sudan lösen müssen. Wir können von außen Hilfe leisten. Es muß eine Lösung Friedrich Vogel (Ennepetal) (CDU/CSU): Herr Prä- sein, die das Einverständnis aller im Sudan finden sident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicher kann. gut, daß sich der Deutsche Bundestag mit dem Sudan (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) und den Problemen des Sudans befaßt, obwohl ja Hier liegt, glaube ich, eine unserer Aufgaben. mancher der Auffassung ist, der Sudan ist weit weg, Wer dabei helfen will, der darf nicht Partei sein in was gehen uns die Probleme im Sudan an. Ich möchte dem Konflikt, den es im Sudan gibt. Ich füge auch dem entgegenhalten: Wir können uns auch aus den hinzu: Der Bundestag darf sich von außen von nie- Problemen im Sudan nicht heraushalten. mandem in diesem Konflikt instrumentalisieren las- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P. sowie sen. Ich sage das so allgemein, weil ich hier auch bei Abgeordneten der SPD) vorsichtig sein möchte. Aber ich weiß genau, wovon Dafür liegt uns diese Region viel zu nahe. ich spreche. 18464 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Friedrich Vogel (Ennepetal) Das zweite Problem, dem wir unsere Aufmerksam- zu dürfen geglaubt hat, steht so in diesem Bericht. Das keit zuwenden müssen, heißt Islam. Meine Damen möchte ich sagen. und Herren, es gibt — das ist überhaupt nicht zu Und bitte sagen Sie: Wenn wir dort helfen wollen übersehen — einen erheblichen Islamisierungsdruck und sollen, muß es möglich sein, Partner zu haben, die im Sudan. Ich bitte allerdings, mit der Verwendung zuverlässig sind, die glaubwürdig sind, die seriös sind der Formulierung „Christenverfolgung" vorsichtig zu und die zeigen, daß sie bereit sind, eine f riedliche sein. Lösung des Konflikts im Sudan zu finden. Darum sollte (Staatsminister Helmut Schäfer: Sehr gut!) es auf allen Seiten wirklich in erster Linie gehen. Hier müssen wir, glaube ich, aus den vielen Diskus- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sionen, die darüber geführt werden, etwas zurückneh- sowie bei Abgeordneten der SPD und des men. Wer helfen will — das sage ich auch —, muß BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sehen, daß das im Zusammenhang mit einer Intensi- vierung des Dialogs zwischen der christlich geprägten Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile Welt und der islamisch geprägten Welt geschehen nunmehr dem Abgeordneten Dr. Jürgen Schmude das muß. Wort. Es hat nun sicher eine Reihe von Bemühungen gegeben, aber leider müssen wir feststellen: Sie sind Dr. Jürgen Schmude (SPD): Herr Präsident! Sehr alle fehlgeschlagen. Ich habe manchmal den Ein- geehrte Damen und Herren! Wir können es uns druck, daß niemand bei den Bürgerkriegsparteien im wirklich nicht aussuchen, ob wir uns mit der Lage im Sudan im Augenblick wirklich ernsthaft gewillt ist, Sudan befassen. Wir sind durch dieses unbeschreibli- eine friedliche Lösung der Probleme im Sudan zu che Elend schlicht gefordert. Am Ausmaß der Unter- finden. Ich kann diesen Willen weder bei der Regie- drückung, Vertreibung, Folter und Tatung von Men- rung noch bei der SPLA/SPLM feststellen. schen, die der im ganzen inzwischen schon über (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das ist leider Gottes 30 Jahre dauernde Bürgerkrieg und die übrige Ent- so!) wicklung im Sudan mit sich gebracht haben, können wir angesichts drastischer und in trauriger Weise Das macht die Dinge außerordentlich schwierig. anschaulicher vielfältiger Berichte nicht vorbeisehen. (Zuruf von der CDU/CSU: Leider wahr!) Wir dürfen es auch nicht versuchen, weil nach den bisherigen Erfahrungen genügend Anhaltspunkte Aber darauf muß unser Bemühen gerichtet sein. dafür bestehen, daß auch durch unsere Anstrengun- Hier habe ich eine Bitte an den Herrn Botschafter. gen Hilfe und Linderung möglich sind. Wenn Sie schon hier sitzen, sollen Sie auch etwas an Wenn nach zuverlässigen Schätzungen in den suda- Ihre Regierung mitnehmen: Ich bin darüber informiert nesischen Auseinandersetzungen inzwischen über worden, daß in der Debatte der Menschenrechtskom- 2 Millionen Menschen umgebracht wurden oder sonst mission in Genf der Vertreter des Sudan einmal den umgekommen sind, wenn weit über 1 Million Men- Sonderberichterstatter Biro wegen seines Berichts, schen zu Flüchtlingen in erbärmlichen Lebensverhält- den er erstattet hat, heftig angegriffen und geglaubt nissen gemacht worden sind und wenn genau diese hat, er könne sich dabei auf mich als Kronzeugen Unmenschlichkeiten auch j etzt, in diesen Wochen und berufen. Tagen, jetzt, da wir hier beraten, fortgesetzt werden, dann müssen ebenso bewährte Bemühungen ver- (Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört!) stärkt wie neue unternommen werden, um das kata- Ich muß sagen, daß ich diesen Vorgang als außeror- strophale Elend zu beenden. Es hilflos zu ignorieren dentlich belastend empfinde. müßte zumindest durch Abstumpfung bedenkliche moralische Beschädigungen bei uns wie in der inter- (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der nationalen Öffentlichkeit bewirken; denn was heute SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) im Sudan zugelassen wird, kann sich morgen woan- Sie wissen, daß ich zu denen gehöre, die sich in ders zutragen und übermorgen vielleicht sogar bei Gesprächen mit der Regierung, in Gesprächen mit der einigen von denen, die sich heute abwenden, weil Befreiungsbewegung sehr bemüht haben, Wege aus- ihnen Hilfsversuche nicht erfolgversprechend er- kundschaften zu helfen, wie wir bei diesem Kon flikt scheinen. helfen können. Teilen Sie Ihrer Regierung mit: So Daß die schreckliche Entwicklung mit der Zeit zu kann sie mit Politikern von außerhalb, die sich um die einem gewissen Abschluß kommen würde, hat man Probleme des Sudans ernsthaft und unvoreingenom- oft genug erhofft und erwartet — immer wieder men bemühen, nicht umgehen. vergeblich. Die Siegesmeldungen der sudanesischen (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Regierung aus ihrem Krieg gegen die gespaltene SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Rebellenbewegung waren und sind unzutreffend. In Gesprächs- und Verhandlungsversuchen haben die Das ist meine herzliche Bitte an Sie. Verantwortlichen im Lande, Regierung und Rebellen- Ich weiß nicht, wie die sudanesische Regierung führer, ihre Unfähigkeit und wohl auch — da gebe ich meinen Bericht über meine Reise im vergangenen Ihnen recht, Herr Vogel — ihren Unwillen zur Lösung Jahr in die Hand bekommen hat, aber nachdem nun der Konflikte unter Beweis gestellt. von ihm Gebrauch gemacht wurde, steht er auch zur Gleichzeitig sind die Menschen im Sudan, und zwar Verfügung. Nichts von dem, was der Vertreter des so gut wie alle Menschen, das Töten und Terrorisieren Sudan in der Menschenrechtskommission vortragen leid. Sie sehen sich weiter in tödlicher Gefahr und Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18465

Dr. Jürgen Schmude beklagen die Teilnahmslosigkeit der Welt gegenüber men sind, aber täglich mit dem Schlimmsten rech- diesem — wie sie sagen — vergessenen Krieg. nen. Da bietet es eine Chance zur Besinnung, wenn Zu diesem Drängen, sehr geehrte Damen und Besuche gemacht und Eindrücke aus dem Sudan Herren, und zu weiteren Schritten soll der vorliegende hierher übermittelt werden, zuletzt vor wenigen Entschließungsantrag, den die SPD-Bundestagsfrak- Wochen durch eine Delegation der Evangelischen tion auch im Sinne der anderen Frak tionen formuliert Kirche in Deutschland mit Bischof Engelhardt an der und eingebracht hat, einen nachdrücklichen Anstoß Spitze. Diese Delega tion ist, wohin sie auch kam, geben. Dieser Antrag greift auf die Erfahrungen eindringlich gebeten worden, Anteilnahme und Hilfe zurück, die mit sinnvollen Maßnahmen der Einwir- für die bedrängten und verängstigten Menschen in kung im Sudan bisher gemacht worden sind, und ihrer Todesgefahr zu mobilisieren. fordert eben deshalb dazu auf, daß nach anderen auch die Europäische Union einen Sonderbotschafter für Ein Kirchenvertreter im Süden des Landes, in dem humanitäre Fragen und Friedensstiftung einsetzt. Mit die sudanesische Regierung die Ausrottung und Ver- allen diplomatischen und politischen Mitteln soll auf treibung ganzer Bevölkerungsgruppen be treibt, einen Waffenstillstand hingewirkt werden. Das sollte sagte den Besuchern wörtlich: Wir werden gejagt wie doch selbstverständlich sein. Er muß dann auch über- die Ratten. Wir haben nicht die geringste Möglichkeit, wacht werden, nachdem es damit im Sud an manche zurückzuschlagen. Niemand kommt uns zu Hilfe — Enttäuschung gegeben hat. vielleicht deshalb, weil wir schwarz sind, oder auch, weil wir Christen sind, oder wegen der ungerechten Bleiben solche Bemühungen erfolglos, muß allen Formel von der Nichteinmischung in die inneren dort Verantwortlichen, auch den Rebellenbewegun- Angelegenheiten eines ungerechten Staates und gen, klargemacht werden, daß die Vereinten Natio- einer ungerechten Regierung oder weil die soge- nen, die den Bürgerkrieg und die Menschenrechtsver- nannte freie Welt zu feige ist, den Starken entgegen- letzungen im Sudan ja mehrfach verurteilt haben, zutreten und die Schwachen im Namen der Mensch- nicht auf die Zuschauerrolle beschränkt sind; deshalb lichkeit und Demokratie zu schützen. das Verlangen von UNO-Maßnahmen bis hin zum Flugverbot und zur Einrichtung einer Schutzzone. (Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [fraktions los]: Sehr richtig!) Inzwischen läßt sich viel tun, um wenigstens dem - Hungertod zu begegnen. Humanitäre Hilfe durch In dieser Äußerung, sehr geehrte Kolleginnen und mehrere bewährte Organisa tionen gibt es im Südsu- Kollegen, werden die verschiedenen Seiten des dan bereits. Auch die Bundesregierung beteiligt sich. Unrechts sichtbar, das den zumeist schwarzen Men- Diese Hilfe soll verstärkt, das Flüchtlingswerk der schen im Süden von der arabisch geprägten Bevölke- UNO soll zur Fürsorge für die sudanesischen Flücht- rungsgruppe und der Regierung im Norden des Sudan linge finanziell besser ausgestattet werden. Die Frie- angetan wird. Herr Vogel, so sehr ich Ihren Appell densbemühungen der afrikanischen Nachbarstaaten unterstütze, Einseitigkeiten zu vermeiden: Wir müs- sind zu unterstützen und gegebenenfalls in eine sen auch die Verantwortlichen nennen. Wir müssen internationale Friedenskonferenz überzuleiten. auch über das sprechen, was do rt tatsächlich geschieht, etwa über die Verfolgung bis zum Tod aus Das alles zeigt die Vielgestaltigkeit der Möglichkei- religiösen Gründen im Zuge einer mit staatlichen ten zur Hilfe und Einwirkung. Nur einiges kann Machtmitteln betriebenen Islamisierung. So ist das Deutschland allein bewirken; die meisten Maßnah- nun einmal. Aber auch Muslime gehören zu den men lassen sich sinnvoll nur mit anderen gemeinsam Opfern, die verjagt und niedergebombt werden. Sie ergreifen. Aber dazu ist es wich tig, daß wir uns hier im sind im Unterschied zu der im Regierungsbereich Bundestag in den zugrunde liegenden Fragen einig herrschenden Schicht Schwarze. sind. Trifft denn die Klage über die ungerechte Formel Ich meine, das müßte auf der Grundlage des vorlie- von der Nichteinmischung in die inneren Angelegen- genden Entschließungsantrags meiner Frak tion mög- heiten eines ungerechten Staates unsere Haltung und lich sein, greift er doch die Überlegungen nicht nur der die der mit uns verbündeten und befreundeten Staa- SPD, sondern, wie sich gezeigt hat, die aller Fraktio- ten? Darüber sind wir doch längst hinaus, daß wir es nen und Gruppen des Bundestages auf. Dieser Antrag Staaten um ihrer Souveränität wi llen gestatten, Men- sollte nicht verwässert oder verkürzt werden, wie es schenrechte und Menschen selbst mit Füßen zu treten der Entschließungsantrag der Koali tion vorsieht. und zu zerstören. Wer so handelt, darf sich Einwir- (Dr. Uwe Holtz [SPD]: Ja, leider!) kung von außen und auch Einmischung nicht verbit- ten. Die im Februar von Abgeordneten aller Fraktionen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der gestellte Kleine Anfrage zeigt doch, daß in der F.D.P. und dem Abg. Dr. Rudolf Karl Krause Sache [Bonese] [fraktionslos]) (Zuruf des Abg. Friedrich Vogel [Ennepetal] Wer so handelt, muß dauerhaft belästigt, bedrängt [CDU/CSU]) und notfalls auch gezwungen werden, — ich zitiere die Kleine Anfrage, die auch Sie einge- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der bracht haben — breite Übereinstimmung längst F.D.P.) besteht, deutlich breiter, als es sich im heutigen Koalitionsantrag niederschlägt. umzukehren und wenigstens den Menschen ein wür diges Leben zu lassen, die bisher noch davongekom (Zuruf von der SPD: So ist es!) 18466 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Dr. Jürgen Schmude Nun gilt es, die Haltung des Deutschen Bundestages Dr. Michaela Blunk (Lübeck) (F.D.P.): Nein. so eindeutig wie möglich zum Ausdruck zu bringen. Wenn denn die Ausschußberatungen dazu helfen (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist auch bes- können, daß aus diesen beiden Entschließungsanträ- ser!) gen ein gemeinsamer, aber bitte ein deutlicher Antrag Ich nenne nur die Stichworte Sonderberichterstatter wird, dann sollten wir auch den Zeitverzug dafür in der VN-Menschenrechtskommission, die Arbeit der Kauf nehmen. Hilfsorganisationen und die Beschränkung der Ent- Danke schön. wicklungszusammenarbeit auf die rein humanitäre Hilfe. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) Es ist aber bisher leider nicht gelungen, die Waffen- lieferungen, die diesen ideologisch-religiösen Krieg am Leben erhalten, zu unterbinden. Auch die weitge- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile hende außenpolitische Isolierung und massiver Druck nunmehr der Abgeordneten Frau Lieselott Blunck das haben nicht dazu geführt, daß insbesondere die suda- Wort. nesische Regierung, aber auch die Rebellen ihr Vor- (Zuruf von der SPD: Sie heißt Michaela! gehen auch nur annäherungsweise den elementar- Lieselott ist unsere!) sten Vorstellungen von Menschenrechten angepaßt hätten. Dr. Michaela Blunk (Lübeck) (F.D.P.): Herr Präsi- Die Bundesregierung hat auch nie einen Zweifel dent! Es tut mir sehr leid, Sie korrigieren zu müssen, daran gelassen, daß geholfen werden muß und daß sie aber ich bin die Michaela Blunk von der F.D.P. auch weiterhin angemessen helfen wird. Der Unter- schied zwischen den beiden Anträgen liegt zum einen darin, daß Sie die Hauptlast der Friedensbemühungen Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Es wird der EU und den VN zuschreiben. Statt dessen über- uns nicht schwerfallen, das zu korrigieren. Ich bin hier trägt die Koalition die Verantwortung den Afrikanern falsch informiert worden. Ich bitte um Nachsicht. selbst. Wir vertrauen darauf, daß sie Wege finden werden, schrittweise Instrumentarien für regionale Dr. Michaela Blunk (Lübeck) (F.D.P.): Herr Präsi- Friedensbemühungen aufzubauen. Wenn die Afrika- dent! Es klingt zynisch, meine Damen und Herren, ner dies wünschen, werden wir sie dabei unterstützen, aber wer heutzutage eine Rede über einen afrikani- um sie für ihre Friedensarbeit für den Sudan und den schen Staat schreiben muß, der kann sich eines ganzen Kontinent zu befähigen und zu motivieren. Textbausteines bedienen. Am 29. Oktober 1993 habe (Beifall bei der F.D.P.) ich an dieser Stelle gesagt: Heute lautet das Thema Burundi. Es hätte aber Trotz der zwiespältigen Erfahrungen in Somalia auch eines der anderen 18 afrikanischen Länder und Bosnien stellen Sie Forderungen, die die UNO sein können, in denen es ähnlich aussieht wie in und regionale Organisationen überfordern. Ich Somalia. meine insbesondere — ich zitiere — „eine wirksame Sicherung der Überwachung des Waffenstillstandes", Es hätte genausogut Angola oder eben der Sudan sein „geeignete Maßnahmen zum Schutz der Bevölke- können. rung" ... „bis zur Verhängung einer Flugverbots- und Der Bürgerkrieg im Sudan wird seit 1955 mit einer Schutzzone" sowie „ein konsequentes Waffenem- oberflächlichen Ruhepause zwischen 1972 und 1983 bargo". mit Waffengewalt geführt. Opfer sind etwa 1,3 Millio- nen Tote und 3 Millionen Flüchtlinge innerhalb und Sie wissen auch, daß die aufgeführten Maßnahmen sehr schnell in AWACS-Überwachung und Kampfein- außerhalb eines weitgehend verwüsteten L andes. Das sätze einmünden können. Ein Waffenembargo erfor- alles ist seit langem bekannt. dert einen zweiten Adria-Einsatz, um die etwa 600 km Ich gebe aber der SPD recht, wenn sie sagt, daß eine lange Küste zu kontrollieren. Wer soll das tun? Etwa Diskussion dieses Themas im Deutschen Bundestag die OAU? Die zu überwachende Landesgrenze ist eine weitere, hoffentlich wirksamere Signalwirkung etwa 6 000 km lang. Weder politisch noch technisch auf die Konfliktparteien hat. bestehen die Voraussetzungen und die Bereitschaft zu Was ich jedoch nicht gutheißen kann, ist Ihr Ver- einem solchen Unternehmen. such, den Eindruck zu vermitteln, als hätte die Bun- (Beifall bei der F.D.P.) desregierung noch nicht auf die Lage im Sudan reagiert. Auch Sie wurden über den politischen und Sie fordern zudem alles im wesentlichen wieder von diplomatischen Druck informiert, mit dem die Regie- anderen, denn Sie wissen sehr wohl, daß die Deut- rung allein und im Zusammenschluß mit anderen in schen sich daran nicht beteiligen können. Sie verlan- der EU und den VN versucht hat, genau das zu tun, gen wieder den aktiven Einsatz von außen, obwohl was Sie heute von ihr verlangen. auch für den Sudan ein Konzept fehlt, wie das L and (Beifall bei der F.D.P. — Dr. Uwe Holtz [SPD]: denn befriedet werden soll. Außerdem vergessen Sie, Sind Sie mit allem zufrieden?) daß es einen entscheidenden Unterschied zwischen Somalia und dem Sudan gibt: Im Sudan gibt es eine verantwortlich zu machende Regierung. Auch Sad- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Ab- dam Hussein wurde monatelang unter öffentlichen geordnete, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Druck gesetzt, bevor er in seine Schr anken gewiesen Abgeordneten Dr. Schmude zu beantworten? wurde. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18467

Dr. Michaela Blunk (Lübeck) Der Entschließungsantrag der Koalition konzen- Sudan-Konflikts zu intensivieren und entsprechende triert sich auf das Notwendige und Machbare: Huma- Initiativen gegenüber der Regierung in Khartum zu nitäre Soforthilfe, Vorbereitung langfristiger Wieder- ergreifen. Dabei sollten unserer Auffassung nach aufbauhilfe, regionale Friedensverantwortung. folgende Überlegungen Berücksichtigung finden: (Rudolf Bindig [SPD]: Warum lassen Sie das Erstens. Das islamisch-fundamentalistische Regime Waffenembargo weg?) im Nordsudan ist aufzufordern, die gegenwärtige Darüber hinaus verweise ich noch einmal darauf, daß militärische Offensive gegen die SPLA im Süden die Völkergemeinschaft Maßnahmen der Prävention sofort einzustellen. Dies ist um so dringlicher, als zusammenstellen und ausprobieren muß. Dazu gehört dieser umfassende Konflikt — wie übrigens auch in meinen Augen auch die Anwendung des vom andere Dinge — militärisch nicht entschieden werden Hohen Flüchtlingskommissar ins Gespräch gebrach- kann. Nur der Dialog zwischen beiden Seiten, der ten Frühwarnsystems mittels Satellit und Radar, damit auch hier sein muß, wird uns weiterbringen. militärische Aufmärsche rechtzeitig erkannt werden Zweitens. Die Regierung in Khartum muß nach- können und ihnen politisch begegnet werden kann. drücklich aufgefordert werden, ihre fundamentalisti- Diese umfangreichen Aufgaben kann ein Land sche Islamisierungspolitik gegenüber dem Südsudan allein nicht lösen. Zusammen mit der internationalen und die damit einhergehende Diskriminierung der Staatengemeinschaft ist die Bundesrepublik bereit zu christlichen und anderen religiösen Minderheiten einem „kontinuierliche(n) und langfristige(n) Enga- aufzugeben. Ich bin wie Herr Schmude der Meinung, gement ... zur Friedenssicherung und Schaffung Verantwortliche müssen auch benannt werden. menschenwürdiger Lebensbedingungen" — auch im Drittens. Sollte sich das Regime in Khartum wei- Sudan. gern, die Forderungen zu akzeptieren, also kein (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Konzept, das für beide Seiten akzeptabel ist, vorlegen, muß die Verantwortlichkeit der Nationalen Islami-

schen Front und der Militärdiktatur — denn es ist im Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort Prinzip ja so — benannt werden, und zwar eindeu- hat nunmehr die Abgeordnete Frau Dr. Ursula tig. Fischer. Viertens. Die zehn Forderungen der sudanesischen Opposition an den UN-Sicherheitsrat, die in der Dr. Ursula Fischer (PDS/Linke Liste): -Herr Präsi- Deklaration von London vom 20. Februar dieses dent! Meine Damen und Herren! Obwohl der Ver- Jahres enthalten sind, sollten stufenweise durchge- gleich in bezug auf Afrika nicht sehr zutreffend setzt werden. erscheinen mag, erinnert die Lage im Sudan doch an Es muß gehandelt werden, bevor in ganz Afrika die bekannte Spitze des Eisbergs. Dieser längste und wohl grausamste Konflikt in Afrika ist Ausdruck der — da gebe ich meiner Kollegin recht — sudanesische Verhältnisse einziehen können. Denn das ist überall ungelösten politischen, ökonomischen, sozialen und die Gefahr. In diesem Sinne unterstützen wir den ethnisch-religiösen Probleme des afrikanischen Kon- Entschließungsantrag der SPD vom 1. März mit der tinents. So wichtig und so brennend notwendig es ist, Einschränkung, daß die vorgeschlagenen Maßnah- rasch zu handeln, um dem seit Jahrzehnten andauern- den Bürgerkrieg ein Ende zu bereiten, so unumgäng- men der Vereinten Nationen auch in Punkt 4 aus- schließlich durch die Staaten der OAU wahrgenom- lich ist es ebenso, solche internationalen Rahmenbe- men werden sollten. Aber ich denke, darüber kann dingungen zu schaffen, daß die Menschen in Afrika die Kraft und neuen Mut schöpfen, ihr Schicksal in die man im Ausschuß durchaus noch einmal diskutie- eigenen Hände zu nehmen. Dazu kann und muß die ren. Bundesrepublik einen Beitrag leisten. (Beifall bei der PDS/Linke Liste, bei Abge Meine Damen und Herren, in der Beurteilung der ordneten der SPD und der F.D.P. sowie des derzeitigen Ereignisse, der katastrophalen Lage im Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] [frak Sudan, der erdrückenden Menschenrechtslage vor tionslos]) dem Hintergrund des Rassenkonflikts und des Reli- gionskriegs, hinter dem auch eindeutige Wirtschafts- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort interessen und politische Ambitionen des islamischen hat nunmehr der Abgeordnete Konrad Weiß. Fundamentalismus stehen, gibt es kaum nennens- werte Meinungsunterschiede. Es soll nicht so oft vorkommen, aber mit den meisten diesbezüglichen Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Antworten der Bundesregierung vom 28. Dezember Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bür- vorigen Jahres auf unsere Kleine Anfrage zur Men- gerkrieg im Sudan ist einer der vergessenen Kriege schenrechtslage im Sudan stimmen wir überein. Der auf unserem Globus. Nur wenig davon kommt in die millionenfache Mord, die millionenfache Bedrohung Medien, und kaum jemand interessiert sich dafür. Erst des Lebens von Sudanesen und die millionenfache gestern z. B. hat die sudanesische Luftwaffe die Stadt Flucht vor dem Tode infolge militärischer Gewalt oder Nimule im Südsudan und das Flüchtlingslager Aswa infolge der Hungersnot sind unerträglich, unerträg- bombardiert, in dem 30 000 Menschen leben. Dabei lich nicht zuletzt wegen der Dimension der menschen- wurde ein zwölfjähriges Mädchen getötet und meh- rechtsverletzenden Auswirkungen des langjährigen rere Flüchtlinge verletzt. Konflikts. (Freimut Duve [SPD]: Schlimm! — Dr. Uwe Die PDS/Linke Liste fordert die Bundesregierung Holtz [SPD]: Und dort oben sitzt der Botschaf auf, ihre Bemühungen zur friedlichen Lösung des ter!) 18468 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Konrad Weiß (Berlin) Das Regime in Khartum hatte Anfang Februar mit auch ohne Zustimmung der beteiligten Konflikt- einer Serie von Bombenangriffen Hunderttausende parteien. im Südsudan in die Flucht in Richtung der Grenzen zu Die jetzt geforderte Zustimmung wäre zwar wün- Uganda und Zaire getrieben. Offenbar soll die Bevöl- schenswert, dürfte aber Aktionen, die der bedrohten kerung aus dem Südsudan vertrieben werden, damit Bevölkerung das Leben retten könnten, gefährlich die Sudanesische Volksbefreiungsarmee, SPLA ihren verzögern oder im schlimmsten Fa lle sogar verhin- Rückhalt verliert. Die Rebellen kämpfen seit mehr als dern. zehn Jahren gegen die Herrschaft des islamischen Ich stimme dem Kollegen Schmude ausdrücklich zu, Nordens über den südlichen Sud an, der überwiegend daß eine aktive und zivile Einmischung notwendig ist. von Christen und Anhängern von Naturreligionen Angesichts des Völkermords im Sudan gibt es keine bewohnt wird. Nach wie vor wird im Sud an gefoltert andere Alternative für die Staaten dieser Welt, als mit und gemordet. Aber die Welt schaut einfach weg. allen denkbaren zivilen Mitteln auf die beteiligten Der Konflikt zwischen Nord- und Südsudan dauert, Bürgerkriegsparteien einzuwirken und einen Waffen- abgesehen von einer Unterbrechung zwischen den stillstand herbeizuführen. Jahren 1972 und 1983, nun schon 38 Jahre. Mehr als Mit Bedauern habe ich eben von der Haltung eine Million Menschen kamen allein seit 1983 ums Ägyptens Kenntnis genommen, das sich gerade ein- Leben. Der Bruderkrieg zwischen den verfeindeten seitig für den Nordsudan ausgesprochen und jegliche Hügeln der SPLA um John Garang und Riek Machar Zusammenarbeit und Hilfe für den südlichen Sudan forderte 100 000 Menschenleben. Die Tragödie hat abgesagt hat. durch die Anfang Februar gestartete Offensive des Nordens einen neuen traurigen Höhepunkt erreicht. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erwartet von der Bun- desregierung, daß sie sich weiterhin ernsthaft bemüht, Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty Inter- den Erklärungen, die von der Europäischen Union national, die Kirchen und auch die Presse haben zum Sudan gegeben wurden, gerecht zu werden und wiederholt auf die katastrophale Situation im Sudan den klugen Vorschlägen der Hilfswerke, die auf dem hingewiesen und an die Regierungen appelliert. Auch Tisch liegen, zu folgen. die Bundesregierung bestätigt, daß sich die sudanesi- Ich danke Ihnen. sche Regierung praktisch seit ihrer Machtübernahme im Juni schwerer Menschenrechtsverletzungen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie schuldig macht. Die humanitäre Arbeit der Hilfsorga- des Abg. Dr. Rudolf Karl Krause [Bonese] nisationen wird immer wieder behindert. [fraktionslos]) Muß das Zerstören der Lebensgrundlagen, das Vergewaltigen und Morden denn wirklich erst wieder Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Ich erteile die Dimensionen eines Völkermordes erreichen, nun dem Staatsminister Helmut Schäfer das Wo rt. bevor die internationale Staatengemeinschaft rea- giert? Müssen erst wieder unzählige Menschen aus Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen ihrer Heimat vertrieben werden oder verhungern, Amt: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der bevor wir uns zur Hilfe bequemen? UN-Sonderberichterstatter Gaspar Biro hat in seinem Die Bundesregierung hat bisher einiges an Hilfe kürzlich veröffentlichten Be richt erneut festgestellt, geleistet, doch ihr Engagement reicht bei weitem daß im Sudan schwere Menschenrechtsverletzungen nicht aus. Auch Somalia hat seinerzeit l ange vergeb- noch immer weit verbreitet sind. lich auf Hilfe gehofft. Aber die UNO hat eingegriffen, Die Bundesregierung hat seit Jahren im Rahmen als es längst zu spät und der Bürgerkrieg bereits ihres Handlungsspielraums versucht, die sudanesi- eskaliert war. Zivile und humanitäre Hilfe ist heute sche Regierung zu einer Änderung ihrer Menschen- auch im Sudan notwendig und möglich und sollte rechtspolitik und zu einem Ende des Bürgerkriegs zu zumindest mit demselben finanziellen, logistischen bewegen. Die entwicklungspolitische Zusammenar- und technischen Aufwand bet rieben werden wie der beit beschränkt sich nach einem Bundestagsbeschluß mißglückte militärische Einsatz in Somalia. aus dem Jahre 1989 auf Projekte, die der Bevölkerung direkt zugute kommen. Meine Damen und Herren, die Gruppe BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN begrüßt die von der SPD ergrif- Auf UN-Ebene hat die Bundesregierung als Mitein- fene Initiative. Wir fragen uns verwundert, warum die bringer von Resolutionen gegen die Menschenrechts- Koalitionsfraktionen diesen Antrag nicht mittragen verletzungen des Sudans maßgeblich mitgewirkt. Auf konnten und unbedingt mit einem eigenen, weiter Initiative der Bundesregierung sind im letzten Jahr verwässerten Antrag kommen mußten. mehrfach die Botschafter der Europäischen Union in Khartum bei der sudanesischen Regierung vorstellig Die Forderungen der SPD-Fraktion sind in der geworden, um diese zu einer Änderung ihrer Politik aktuellen Lage vernünftig und dringend geboten. Wir zu bewegen. sind allerdings der Auffassung, daß es richtig und Darüber hinaus beteiligt sich die Bundesregierung konsequent gewesen wäre, die Forderung unter mit wachsendem finanziellen Aufwand an den inter- Punkt 5 in ihrer ursprünglichen Form zu belassen und nationalen Hilfsmaßnahmen für die sudanesischen die Bundesregierung aufzufordern — ich zitiere —, Flüchtlinge und Vertriebenen. Im letzten Jahr stellte alles Notwendige zu unternehmen, um eine sie dafür einen Betrag von 8,8 Millionen DM zur ungehinderte Arbeit der bewährten UN-Organi- Verfügung. Außerdem sind wir an der Soforthilfe der sation Operation Lifeline Sudan und anderer Europäischen Union, die 1992 8 Millionen DM betrug, Hilfsorganisationen im Südsudan zu sichern, mit knapp einem Drittel beteiligt. Die Bundesregie- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18469

Staatsminister Helmut Schäfer rung prüft derzeit, ob diese Hilfen im Rahmen ihrer Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Bevor Sie Möglichkeiten am Ort und im Hinblick auf die ange- zu Punkt 4 kommen, möchte Ihnen der Abgeordnete spannte Haushaltslage weiter erhöht werden kön- Duve eine Frage stellen. nen. Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Mit dem Beginn einer militärischen Großoffensive Amt: Bitte. — darauf ist hingewiesen worden — durch die Regie- rungstruppen Ende Januar hat sich die Situa tion im Freimut Duve (SPD): Herr Staatsminister, Sie Süden des Landes weiter zugespitzt. Besonders erwähnten die begrüßenswerten Demarchen der bedrückend bleiben die eklatanten Verletzungen des Europäischen Union gegenüber der Regierung des humanitären Völkerrechts gegenüber der leidgeprüf- Sudan. Gibt es ähnliche Schritte gegenüber arabisch ten Bevölkerung. Bombenangriffe gegen die Zivilbe- islamischen Staaten, die in den letzten Jahren zum völkerung im Südsudan, wie sie im August und im Teil sehr massiv, nicht nur politisch, sondern auch November letzten Jahres, im Februar dieses Jahres materiell, die sudanesische Regierung unterstützt und — Herr Kollege Weiß, es stimmt — auch gestern haben? wieder von der sudanesischen Luftwaffe durchgeführt wurden, haben zu einem gewaltigen Strom von rund Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen 250 000 Vertriebenen in Richtung Uganda geführt. Amt: Wir haben, Herr Kollege Duve, darunter ich selbst, auch in Gesprächen mit den Staaten, die Sie Erschwerend kommt hinzu, daß die an sich schon vermutlich meinen, immer wieder darauf hingewie- sehr schwierige Versorgung der Vertriebenen immer sen, daß es so nicht gehen kann. Aber es ist nicht wieder von allen Konfliktparteien, insbesondere aber immer ganz leicht, die uns allen bewußten wahr- durch die Khartumer Regierung, massiv behindert scheinlichen Unterstützungsaktionen bestimmter wird. Staaten gegenüber dem Sudan so deutlich herauszu- finden, wie es nötig wäre, um den Beweis anzutreten Die Bundesregierung hat auf Grund der sich ver- und dann in ihrem Sinne tätig zu werden. Ich darf zu schlechternden Situation im Sud an bei den europäi- meiner Rede zurückkommen. schen Partnern erneut die Ini tiative ergriffen und am Viertens haben wir uns dafür eingesetzt, daß die 17. Februar im Rahmen der Gemeinsamen- Außen- Europäische Union die Möglichkeiten prüft, die Frie- und Sicherheitspolitik in Brüssel einen sieben Punkte densbemühungen der vier ostafrikanischen Staats- umfassenden Katalog von möglichen gemeinsamen präsidenten aus Kenia, Uganda, E ritrea und Äthiopien Maßnahmen durch die Europäische Union vorge- politisch und auch finanziell zu fördern. stellt. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der Erstens haben wir auf eine Erklärung der Europäi- CDU/CSU) schen Union zum Sudan gedrängt, die daraufhin am Wir und unsere europäischen Partner begrüßen nach- 21. Februar abgegeben wurde. Darin hat die Europäi- drücklich diese IGADD-Initiative, da wir überzeugt sche Union die Bombardierung der Zivilbevölkerung sind, daß eine Lösung im regionalen Kontext, also und die Behinderung der humanitären Hilfeleistun- auch mit den be troffenen Nachbarstaaten gefunden gen scharf verurteilt. Darüber hinaus hat sie alle werden muß. Konfliktparteien mit Nachdruck aufgefordert, als Fünftens prüfen die Zwölf derzeit unsere Anregung, ersten Schritt in Richtung auf eine umfassende Ver- einen EU-Sonderbotschafter für humanitäre Fragen handlungslösung einen sofortigen Waffenstillstand in und Friedensstiftung zu bestellen. Diese Anregung Kraft zu setzen. Nicht die militärische Lösung, sondern — ich darf dazu sagen, sie kommt auch in Ihrem nur ein tragfähiger Waffenstillstand und eine darauf Antrag vor — wurde jedoch bisher mit Vorbehalten aufbauende umfassende Friedenslösung kann auf unserer Partner aufgenommen, da an der Wirksam- Dauer das Los der leidenden Bevölkerung im Südsu- keit dieser Maßnahmen nach den Erfahrungen ähnli- dan und der Flüchtlinge in den Nachbarstaaten ver- cher Initiativen noch gezweifelt wird. bessern. Sechstens haben wir uns für die Verhängung eines umfassenden Waffenembargos der Europäischen Zweitens haben wir auf die Möglichkeit hingewie- Union gegenüber dem Sudan ausgesprochen. Dieses sen, erneut eine Troika-Demarche der EU-Botschaf- Embargo, dessen Umsetzung derzeit in den zuständi- ter in Khartum bei der sudanesischen Regierung auf gen Gremien in Brüssel vorbereitet wird, dürfte vor höchster Ebene durchzuführen. Es ist uns allerdings allem auch eine politische Signalwirkung haben, um leider bewußt, daß vorangegangene Demarchen im so den Druck auf die Konfliktparteien, einem Waffen- vergangenen Jahr ohne den erwünschten Erfolg stillstand zuzustimmen, weiter zu erhöhen. geblieben sind. (Beifall des Abg. Freimut Duve [SPD]) Drittens haben wir uns mit Nachdruck für eine Reise Wir hoffen mit Signalwirkung, daß sich auch andere einer hochrangigen Troika-Delegation eingesetzt. Staaten anschließen. Diese Delegation soll nach unseren Vorstellungen die Siebtens haben wir die Anregung eingebracht, daß Regierung in Khartum, aber auch die beiden Fraktio- sich auch der UN-Sicherheitsrat der Lage im Sudan nen der SPLM/A und die Verantwortlichen der soge- annimmt. Die Mitglieder des Sicherheitsrates haben nannten IGADD-Friedensinitiative in Nairobi aufsu- dazu ihre Meinungsbildung noch nicht abgeschlos- chen, um so die stockenden Friedensvermittlungen sen. Wir selbst sind bekanntlich nicht im Sicherheits- wieder voranzubringen. rat vertreten, können also nicht unmittelbar eine 18470 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Staatsminister Helmut Schafer Initiative einbringen. Aber nach heute eingegange- genden Lage im Sudan weiter voranzuschreiten, und nen letzten Informationen erwägt die amerikanische ist froh, daß der Deutsche Bundestag die Nation auf Regierung, dieses Thema möglicherweise selbst im dieses Problem aufmerksam macht, da die Medien Sicherheitsrat einzubringen. dazu offensichtlich — wie in vielen anderen Fällen — Meine Damen und Herren, es ist hier mehrfach nicht in der Lage sind. angesprochen worden, eine Flugverbotszone einzu- Vielen Dank. richten. Es gibt solche Anregungen auch von außer- (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und halb dieses Hauses. Ich darf in dem Zusammenhang, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ohne polemisch zu werden, nur die Frage stellen — und ich richte die Bitte auch an die linke Seite im Haus —: Wer Flugverbotszonen fordert, muß auch Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort wissen, wer bereit ist, sie nachher einzuhalten und hat nunmehr der Abgeordnete Graf Waldburg-Zeil. durchzusetzen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — (CDU/CSU): Herr Zustimmung bei Abgeordneten der SPD) Alois Graf von Waldburg-Zeil Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Wer Flugverbotszonen und die Überprüfung mit mög- Kollegen! Ich glaube, vielen von Ihnen, die die inter- lichen Konsequenzen militärischer Art will, kann nicht fraktionelle Kleine Anfrage mit unterzeichnet haben, mehr lange zögern, Deutsche daran zu beteiligen. ist es ähnlich wie mir ergangen: Sie haben wie ich von Sonst können sie solche Forderungen, bitte schön, Kennern der sudanesischen Szene, von Sudanesen nicht mehr stellen. selbst, von Mitgliedern von Hilfswerken B riefe, (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Anrufe und Besuche bekommen, und da wurde Die Welt ist es leid, unsere moralischen Vorstellungen gesagt: Die sechs Punkte, nach denen wir die Regie- zu erfahren und, wenn es darauf ankommt, zu hören, rung gefragt haben, sind praktisch und tatsächlich wir seien immer noch mit unseren Verfassungsdiskus- wichtig, um in der gegenwärtigen Situation zu hel- sionen nicht am Ende. Ich muß es einmal sagen, ohne fen. daß ich wirklich polemisch werden will. Die Lage im Ich würde gern aus einem Brief zitieren dürfen, den Sudan ist mir ernst. Aber es gibt wirklich zunehmend mir der Bischof Makram Max Gassis von El Obeid auch weltweit ein gewisses Unverständnis über diese geschrieben hat. Er hat betont, daß schnell etwas Art doppelbödiger Politik. Gestatten Sie mir, das hier Positives geschehen muß, denn die Situation ist so zu bemerken. gefährlich und verzweifelt, daß jeder weitere Tag zu einem Martyrium für die Bevölkerung wird. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Der Abge- Er berichtet dann von einer Delegation von den ordnete Vogel möchte gern eine Frage beantwortet Nuba-Bergen, die er jüngst im Süden des Sudan haben. getroffen hat. Die evangelische Delegation hat eben- falls von einer solchen Begegnung berichtet. Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Das Zeugnis, das sie ablegten, Amt: Bitte sehr. so schreibt er, Friedrich Vogel (Ennepetal) (CDU/CSU): Herr war grauenerregend; Sklaverei ist eine Tatsache, Staatsminister, Sie haben die Punkte, die in der und ich habe die Namen von Orten und Kindern. gemeinsamen Resolution der Europäischen Union Massaker an Pastoren und Katecheten sind eine aufgeführt sind, genannt. Darf ich Sie bitten, bei der Tatsache; und ich habe die Namen derer, die sudanesischen Regierung auch noch einmal den getötet und verstümmelt wurden, ... Pastoren, Bericht anzumahnen, den eine Sonderkommission die in ihren Kirchen von der Miliz verbrannt über die Vorgänge in Nuba geben sollte und der wurden. Kreuzigungen . . ., Vergewaltigungen wiederholt von der sudanesischen Regierung in Aus- junger Frauen und Mädchen durch die Soldaten sicht gestellt worden ist. Ich kann mir nicht vorstellen, und Miliz. daß dieser Bericht noch nicht vorliegt. Ich glaube, Warum habe ich dieses Beispiel gewählt? Die Nubas auch das gehört im Kontakt mit der sudanesischen sind mehrheitlich islamisch. Was hier passiert, kenn- Regierung zur Einforderung einer seriösen Haltung. zeichnet sehr deutlich, daß hinter allen Konflikten, die es im Sudan historisch und gesellschaftlich gibt, das Helmut Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen eigentlich Problematische die Menschenrechtsverlet- Amt: Herr Kollege Vogel, ich greife Ihre Anregung zungen sind, die ethnischen Säuberungen, die statt- gern auf und bin bereit, über den hier anwesenden finden. Botschafter die Frage noch einmal aufzunehmen und Der Grund, warum wir uns heute im Bundestag mit die sudanesische Regierung zu bitten, entsprechend dem Thema Sudan wiederum beschäftigen, liegt eben zu verfahren. darin, daß immer wieder Menschenrechtsverletzun- Meine Damen und Herren, ich darf zum Schluß gen vorkommen und wir sie anprangern wollen. Dies sagen: Die Bundesregierung begrüßt, daß ihr heute in tun wir gleichermaßen der sudanesischen Regierung diesem Rahmen die Möglichkeit gegeben wurde, ihre gegenüber wie natürlich auch gegenüber den süd- Bemühungen um eine aktive Sudanpolitik darzustel- lichen Befreiungsbewegungen. Wir haben früher len. Sie fühlt sich dadurch bestärkt, auf diesem Weg immer von Befreiungsbewegungen im Süden Afrikas zusammen mit den europäischen Partnern gerade auf gesprochen. Warum sprechen wir eigentlich in diesem Grund der nach wie vor im höchsten Maß unbefriedi- Falle jetzt immer von Rebellen? Auch unter diesen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18471

Alois Graf von Waldburg-Zeil Gruppen gibt es — vor allem, seit sie sich geteilt und damit war die Hilfsaktion am Ende. haben — erhebliche Menschenrechtsverletzungen, (Freimut Duve [SPD]: Ein Staat, der sich aus die wir gleichermaßen anprangern. der Völkergemeinschaft herausbegibt! Un Hauptgrund dieser Debatte sind die vielfachen glaublich!) Berichte, daß die Regierung des Sudans gegenwärtig — Dies sind einfach unglaubliche Vorgänge. einen Großangriff gegen den Süden führt, der das Es kann nicht angehen, daß die Hilfe für die menschliche Elend der Bevölkerung ins Unendliche Menschen vom guten Willen derer abhängig gemacht steigern und Hunderttausende von Flüchtlingen in wird, die mit Bomben, Milizen und dem Hunger als Bewegung setzen würde. Dies bedeutet natürlich eine Waffe selbst Jagd auf diese Menschen machen. ganz erhebliche Destabilisierung für das afrikanische (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Umfeld. SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wenn ich hier als Entwicklungspolitiker spreche, m Es gab im Vorfeld dieser Debatte warnende Sti dann ist es nicht nur das tiefe Bedauern, daß Entwick- men, man möge ein Thema gar nicht erst in der lungspolitik im Sudan unter diesen Bedingungen Öffentlichkeit behandeln, wenn man selbst nicht in nicht mehr stattfinden kann, sondern gleichzeitig, daß der Lage sei, konkrete Lösungen anzubieten und erfolgreiche Entwicklungspolitik durch die ungeheu- durchzuführen. Ich bin da absolut anderer Ansicht: ren Flüchtlingsströme, die ausgelöst worden sind, ge- Auch extrem menschenrechtsverletzende Diktaturen oder zerstört werden kann. Deshalb muß die Bemü- sind von der Weltöffentlichkeit abhängig. Es gibt hung um Friedensstiftung, um einen Waffenstillstand internationale Beziehungen, die man nutzen kann. und eine Überwachung dieses Waffenstillstandes Herr Staatsminister, ich finde es ausgezeichnet, daß auch und gerade aus der Sicht der Entwicklungspoli- Sie gerade gegenüber einem Partner, nämlich dem tik eine unerläßliche Voraussetzung sein. Iran, immer wieder betonen, daß sie das, was sie dort Natürlich sollen und müssen die schwarzafrikani- tun, möglichst bleiben lassen sollten. Ich glaube, es wäre wirklich im Interesse aller Betroffenen, daß dies schen Nachbarstaaten bei den Vermittlungsbemü- hungen eine besondere Rolle einnehmen — im endet. Moment tun dies in besonderem Maße die ostafrika- Meine Damen und Herren, meine Zeit ist um. nischen Nachbarn Uganda, Kenia, Äthiopien und (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Nur Ihre Redezeit! Ihre Eritrea; vorher war Nige ria sehr stark eingeschaltet- —, Zeit noch lange nicht!) aber die betroffenen Regierungen klagen darüber, — Ja. daß sie mit dieser unermeßlich wichtigen Aufgabe und den damit zusammenhängenden Notwendigkei- Ich darf zu den Anträgen noch einmal sagen: Ich bin ten schlicht überfordert sind. Ich glaube, daß es uns sehr dankbar und froh, daß sie an die Ausschüsse gut anstünde, diesen Nachbarländern des schwarzaf- überwiesen werden, weil es zwei Ausschüssen, die rikanischen Kontinentes bei den Bemühungen um sich mit diesen Anträgen befassen werden, sicher eine Vermittlung ganz intensiv zu helfen. gelingen wird, noch einige gute Gedanken hinzuzu- fügen. (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Ich danke Ihnen. SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., der Sicher ist es so, daß eine Lösung auch Maßnahmen SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) voraussetzt, die über die Organisation der Afrikani- schen Einheit und ihre Möglichkeiten hinausreichen Das Wort und nur von den Vereinten Nationen zu leisten wären, Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: hat nunmehr der Abgeordnete Dr. Werner Schuster. so z. B. wenn man über die Verhängung einer Flug- verbotszone über dem Südsudan spricht. Man kann aber, glaube ich, nicht so argumentieren, daß, weil wir Dr. R. Werner Schuster (SPD): Herr Präsident! innenpolitische Diskussionen haben, man dies nicht Meine Damen und Herren! Warum heute eine Sudan- fordern darf. Vielleicht muß man umgekehrt sagen, debatte? Weil im Sudan ein Volk stirbt und die daß wir unsere innenpolitischen Diskussionen unter europäische Öffentlichkeit schweigt. dem Prätext dieser Notwendigkeit weiter führen müs- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sen. der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Beifall Im Sudan sind innerhalb von 10 Jahren mindestens des Abg. Heribert Scharrenbroich [CDU/ 1 Million Menschen ermordet worden, mindestens CSU]) 3 Millionen Menschen leben als Flüchtlinge in Camps. Die neuen Bombardements der sudanesischen Regie- Unerträglich ist die ständige Behinderung der rung werden dazu führen, daß etwa 4 Millionen humanitären Hilfe. Eine Hilfsorganisation, die vom Menschen akut vom Hungertod bedroht sein wer- Norden mühsam die Genehmigung eines Abwurfs den. von Lebensmitteln im Süden aus einem Flugzeug erhalten hatte, sollte vorher vom Militär kontrollieren Meine Damen und Herren, entschuldigen Sie den lassen, daß keine Waffen dabei seien. In Ordnung. Die Vergleich, aber haben Sie nicht manchmal auch das Soldaten zerschnitten die Riemen, an denen die Pak- Gefühl, daß die schrecklichen Zahlen von Bosnien kungen Zur Ausstiegsluke befördert werden sollten, und Somalia dagegen verblassen? Warum kriegen wir eigentlich immer eher Öffentlichkeit für Dinge, die (Freimut Duve [SPD]: Ungeheuerlich!) uns stärker berühren? Denken Sie daran, wie oft wir 18472 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Dr. R. Werner Schuster über Bosnien diskutiert haben, weil es vor der Haustür werden sollte? Und wollen Sie nicht dem Staatsmini- liegt. Denken Sie daran, wie oft wir über Somalia ster Schäfer, der das vorher ausgeführt hat, durchaus diskutiert haben, und die Öffentlichkeit haben wir erst darin recht geben, daß es ein gewisses Problem ist, erreicht, als es um den Einsatz deutscher Soldaten hier erneut mit fremdem Säbel zu rasseln? ging. Wie oft haben wir über Südafrika diskutiert und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) die Öffentlichkeit erreicht, weil Weiße beteiligt sind Denn wir hatten ja heute nachmittag in der Debatte und weil es sich um eine Wirtschaftsmacht handelt. Es über die Abschüsse über Bosnien wieder einmal tut mir leid, meine Damen und Herren, ich kann mich Gelegenheit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ausge- des Eindrucks nicht erwehren, die Öffentlichkeit für rechnet Ihre Fraktion zwar das Ergebnis begrüßt, aber den Sudan ist deswegen nicht herzustellen, weil es in nicht bereit ist, daran mitzuwirken, daß die Grundla- Afrika ist. Und das ist ganz weit weg, und das sind gen dafür geschaffen werden, daß wir derar tige Dro- Schwarze und keine Weißen, und es gibt kein wirt- hungen, wenn wir sie in die Welt setzen, auch in die schaftspolitisches Interesse. Es waren ja nicht wir Tat umsetzen können, und zwar unter deutscher Politiker, die in den letzten Monaten — mit Ausnahme Beteiligung. Und würden Sie mir nicht zustimmen, der PDS — darauf hingewiesen haben, daß hier etwas daß alles andere doch gewaltig an Heuchelei grenzt, Neues losgeht, sondern es waren ja zwei Kirchenver- wenn man hier immer den starken Mann markiert, treter, der amerikanische Bischof Carey und der aber überhaupt nicht selbst mitzuwirken bereit ist? evangelische Bischof Engelhardt, und danach dann die Presse, nicht die sonst so allgewaltigen Fernseh- Sie kön- medien. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: nen antworten; wir können aber zusätzlich die Frage Wir wollen heute Öffentlichkeit, wenn auch in von dem Abgeordneten Bindig hinzunehmen, und Sie beschränktem Rahmen, herstellen und uns nicht vor- können dann sozusagen auf beide zusammen antwor- werfen lassen, daß wir ruhig sind, wenn ein Volk ten. — Dann lassen wir zunächst den Abgeordneten stirbt. Bindig fragen. (Beifall im ganzen Hause) Zweitens, Herr Kollege Waldburg, kann ich mich Rudolf Bindig (SPD): Können Sie bestätigen, daß es bei Ihnen ausdrücklich bedanken für die Kooperation, eine ganze Reihe weiterer wich tiger Punkte sind, die schon für die Kleine Anfrage vor einem Monat, dann fehlen, nämlich im ganzen sieben Punkte, die nicht für den gemeinsamen Entschließungsantrag. Sie wer- aufgenommen sind, und daß z. B. so wichtige Punkte den sich nicht wundern, meine Herren Außenpoliti- in dem Antrag der CDU/CSU und der F.D.P. fehlen ker, daß sich eben viele Formulierungen aus der wie der, die humanitäre Hilfe im Sud an weiter zu Kleinen Anfrage wiederfinden. Ich bedaure etwas, verstärken, und z. B. ein Waffenembargo gegenüber daß es heute offensichtlich dank liberaler Außenpoli- allen Konfliktparteien zu schaffen? tik zu einem neuen Antrag gekommen ist. Ich meine, (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Ich wäre gerne bereit, Frau Blunk und Herr Vogel, wir werden bei der die Frage zu beantworten, aber das geht Diskussion deutlich machen müssen, daß es sehr wohl nicht nach der Geschäftsordnung!) auch eine wichtige entwicklungspolitische Kompo- nente zur Lösung der Probleme geben muß. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Also nun Das dritte, was ich sagen wollte, ist dies. Wir müssen wollen wir das mal wieder sauber geschäftsordnungs- aus Somalia lernen. Der Antrag ist bewußt mehrdi- mäßig zusammenführen; sonst muß nämlich der mensional aufgebaut. Herr Staatsminister, die Flug- Abgeordnete Irmer dem Abgeordneten Bindig ant- verbotszone ist nur am Ende die letzte aller Maßnah- worten, und Dreiecksfragen sind auch nicht zulässig. men. Also, Herr Dr. Schuster, nun wollen wir denn mal Ihre Über Einzelheiten will ich mich jetzt nicht auslas- Antwort hören. sen. Das hat mein Kollege Schmude gemacht, hat Graf (Zuruf: Herr Präsident, das wäre aber eine Waldburg-Zeil dargelegt. Ich möchte gerne — — Debatte geworden! — Weitere Zurufe)

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Dr. R. Werner Schuster (SPD): Selbstverständlich Dr. Schuster, sind Sie denn bereit, eine Zwischenfrage war es die Idee dieses Antrages, und ich muß noch des Abgeordneten Irmer zuzulassen? einmal darauf zurückkommen: Basis war ja die Kleine Anfrage Ihres Kollegen Herrn Waldburg-Zeil, ein Dr. R. Werner Schuster (SPD): Wenn es nicht mehrdimensionales Konzept vorzulegen und nicht zu angerechnet wird. wollen, daß man nur über die militärische Inte rvention als einzige Lösungsalternative nachdenkt. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Nein, es Was aber Ihre Grundsatzfrage bet rifft, Herr Irmer: wird Ihnen nicht angerechnet. Also nach meiner Erkenntnis — ich gehöre nur zu den Herr Abgeordneter Irmer, Sie haben das Wort. Hinterbänklern — hat die SPD-Bundestagsfraktion Ihnen eine Verfassungsdiskussion ernsthaft angebo- ten. Nur, Sie wollen ja immer sehr viel mehr. Und (F.D.P.): Vielen D ank, Herr Präsident. Ulrich Irmer daran unterscheiden wir uns. — Herr Kollege Schuster, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß sich der Antrag der Koa lition, der hier (Zuruf des Abg. Rudolf Bindig [SPD]) vorliegt, von dem Ihrigen im wesentlichen darin — Ich habe Ihnen doch, Herr Bindig, glaube ich, unterscheidet, daß die Passage nicht enthalten ist, daß deutlich geantwortet. Es fehlen ganz wich tige Punkte. ein Flugverbot verhängt und dann auch durchgesetzt Wir haben es mehrdimensional aufgebaut, und Ihr Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18473

Dr. R. Werner Schuster Alternativantrag läßt eine Reihe von vor allem ent- Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Das Wort wicklungspolitischen Argumenten unter den Tisch hat nunmehr der Abgeordnete Joachim Graf von fallen. Ich möchte jetzt auch unter der Überschrift Schönburg-Glauchau. „Aus Somalia lernen", Herr Kollege, nur zwei Dinge deutlich machen. (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Ist das noch die Ant Joachim Graf von Schönburg-Glauchau (CDU/ wort?) CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle- gen! Ich werde versuchen, wieder einmal etwas — Nein. zusammenzufassen, eine A rt Schlußwort zu brin- gen. Dabei möchte ich zuerst sagen: In eines Menschen Ich lasse Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Haut möchte ich heute nicht stecken: in der Seiner die Debatte jetzt weiterlaufen, Herr Dr. Schuster, und Exzellenz des Botschafters vom Sudan. Aber das der Abgeordnete Irmer kann sich hinsetzen. — Bitte gehört nun mal zu seiner Rolle, und es ist für ihn schön. unangenehm. Aber ich kann es ihm nicht ersparen, daß wir hier entschlossen sind, die Wahrheit zu sagen. Es ist eine Wahrheit im kleinen Kreis. Das ist das Dr. R. Werner Schuster (SPD): Der eine Gesichts- zweite, was dabei bestürzend ist. punkt ist der des diplomatischen politischen Drucks. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich glaube, daß Achtung allein nicht ausreicht. Herr Staatssekretär Repnik, ich mache mal einen unkon- Mir haben heute früh Verwandte, als ich ihnen ventionellen Vorschlag. Der Sud an hat 15 Milliarden gesagt habe, ich werde zum Sudan sprechen, gesagt: Dollar Schulden. 6 Milliarden sind öffentlich-bilateral. „Was ist denn los mit dem Sudan?" Das Interesse der Darauf haben wir einen Einfluß, wenn Europa sich Öffentlichkeit ist bestimmt nicht größer als das Inter- einig wäre. „Schulden gegen Frieden" , wäre das nicht esse in diesem Haus, eher kleiner; denn in diesem ein Angebot? Haus sind Politiker. Und wenn wir uns hier umschauen, ist es böse, erschreckend und beschä- Oder, meine Damen und Herren: Wir alle wissen, mend. daß der Krieg im Sudan sofort zu Ende wäre, wenn der Iran keine Waffen liefern würde. - (Zuruf des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) — Nein, aber der parlamentarische Eifer, das Mitfüh- len, das Mitdenken. Es ist so, daß heutzutage leider Sie aber, meine Damen und Herren von der Regie- — und es hat gar keinen Zweck, darüber zu jammern, rungsbank, haben gerade eben dem Iran 2,5 Milliar- man soll es mal sagen — eigentlich nur das empfunden den zusätzliche Hernies-D-Mark bewilligt. Sollen wir wird, Protest hervorruft, auch zum Tragen von Tr ans- so Konditionalisierung verstehen, oder haben wir da parenten aufruft, was im Fernsehen gekommen ist. nicht noch ein bißchen Reparaturbedarf? Und dort, wo das Fernsehen nicht hinreicht, ist es an Vierter Punkt. Was im Antrag fehlt: Wir sind erst in vielen anderen Stellen auch so. der Diskussion mit Kirchenvertretern darauf hinge- Fragen Sie Ihren Nachbarn in der Straßenbahn, was wiesen worden, Herr Schmude, daß offensichtlich in gestern in Haiti los war, wie es momentan in Libe ria Deutschland zur Zeit noch sudanesische Flüchtlinge aussieht, wie es in Angola aussieht, wie es in Timor abgeschoben werden. Wir waren uns einig: Das darf aussieht. Die meisten Leute haben von Timor über- unter der derzeitigen Situa tion nicht sein. haupt noch nichts gehört. Das heißt, wir stecken in (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der einer Welt voller gräßlicher Situationen, voller PDS/Linke Liste) Zustände, die schlimm und unerträglich sind und bei Was noch fehlt — Herr Kollege Vogel, da gebe ich denen unsere Einmischung gefordert ist, Ihnen recht —, ist der Hinweis auf den Dialog mit dem (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Islam. Aber nicht nur mit den Gutwilligen, wir werden obwohl noch immer dieser Grundsatz der Nichteinmi- wohl oder übel auch mit den Fundamentalisten reden schung in innere Angelegenheiten anderer Staaten müssen. gilt. Aber wir sind gefordert; denn sonst würden wir Deswegen — ich komme zum Schluß, meine Damen dem Ruf, der an uns ergangen ist, nicht gerecht. und Herren —: Es ist sicher schwierig, im Sud an die Ich möchte noch besonders dem Kollegen Schmude Friedensvoraussetzungen zu schaffen. Ich glaube für seine Ausführungen danken. Ich muß nur fragen: aber, es ist nicht unrealis tisch, wenn die Europäische Wenn es so ist — ich glaube, es ist so —, daß keine Union geschlossen, gemeinsam abgesprochen Druck Bereitschaft zu f riedlichen Lösungen vorhanden ist, auf die Bürgerkriegsparteien ausübt. Das aber, meine um Gottes willen: Was dann? Er hat gesagt, wir sollen Damen und Herren, setzt voraus, daß sich Europa drängen, wir sollen Druck ausüben. nicht nur nach geopolitischen und wirtschaftspoliti- schen Kriterien nach außen hin organisiert. Ich meine Ich erlebe diese Sudan-Debatte seit über 30 Jahren in diesem Fall, bei einem Land so groß wie Europa, wir sehr bewußt. Seit über 30 Jahren werden dort Verbal- sollten es gemeinsam versuchen. noten und andere Noten erstellt, Emissäre gedrängt und Resolutionen verabschiedet. Merken Sie nicht, Ich bedanke mich. liebe Freunde, wie lächerlich wir damit langsam (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und werden? Es wirkt leider manchmal auch lächerlich, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wenn wir Dinge fordern — so gut sie gemeint sind, so 18474 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Joachim Graf von Schönburg-Glauchau sehr ich sie als Forderungen unterstütze —, die uns ders der Nachbarn, zu mobilisieren. Dazu rufe ich Sie niemand mehr abnimmt. alle auf. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Danke schön. Wo ist denn das Kanonenboot, das wir hinausschicken (Beifall bei der CDU/CSU, der F.D.P., dem wollen? BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und ordneten der SPD) der F.D.P.) Wir haben es nicht; und wenn wir es hätten, wollten Nunmehr wir es nicht; und wenn wir es wollten, dann würde es Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: hat der Abgeordnete Günther Toetemeyer das wahrscheinlich auch nicht helfen. Wort.

Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Graf Schönburg-Glauchau, der Graf Waldburg-Zeil Hans-Günther Toetemeyer (SPD): Herr Präsident! möchte Ihnen gerne eine Frage stellen. Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wo ist der Staatsmi- nister Schäfer? Ich wollte ihn gerade ansprechen. Joachim Graf von Schönburg-Glauchau (CDU/ (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Er kommt wieder! Wir CSU): Bitte. sagen es ihm!) Ich bin der Auffassung, wir sollten in der Diskussion Alois Graf von Waldburg-Zeil (CDU/CSU): Darf ich heute abend fair miteinander umgehen. Staatsmini- fragen, ob es nicht eine Maßnahme gibt, die schon ster Schäfer hat ja völlig zu Recht auf eine Wunde einmal Sinn gemacht hat? Das war die vermittelnde hingewiesen. Da soll man auch offen sagen: Das ist Bemühung um Frieden im Jahre 1972. Damals ist man eine Wunde; das ist so. Als Fraktion oder als Mitglied zur Autonomielösung gekommen, und es hat fast einer Fraktion vergibt man ja nichts, wenn man sagt: zehn Jahre Frieden gegeben. Wer Flugüberwachung fordert, muß konsequent sein, überall. Das muß so sein, sonst bringt das nichts. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich halte es für gut, daß wir die Anträge noch einmal Gibt es also nicht diese Möglichkeit des vermittelnden - in den Ausschüssen diskutieren. Am Schluß werde ich friedenstiftenden Einwirkens? noch zu einem politischen Vorschlag kommen, über den wir reden sollten, obwohl er unterschiedlich Joachim Graf von Schönburg-Glauchau (CDU/ bewertet wird. CSU): Ich wollte etwas in dieser Richtung sagen: Das Ich will noch etwas zu dem sagen, was der Kollege braucht aber wahnsinnig viel Unterstützung. Das Vogel vorgetragen hat. Ich stimme ihm im großen und braucht wirklich eine Bewegung dahinter. Da sind wir ganzen zu. Ich halte es allerdings für eine verkürzte hier noch — entschuldigen Sie — ein bißchen wenig Darstellung der Situation, von weltanschaulichen und schwach. Wir müssen diese Öffentlichkeit, diese Kämpfen, vielleicht sogar von einem Religionskrieg Bewegung herstellen. im Sudan zu sprechen. Das ist falsch. Aber da der (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Botschafter hier sitzt, muß ich sagen: In unserem L and ordneten der SPD) leben Zehntausende von Muslimen, denen wir erlau- Wir können nicht in der Zuschauerrolle bleiben; das ben, daß sie hier ihre Scharia praktizieren. Wir hin- ändert nichts. Wir können nicht mit wohlfeilen Plänen, dem sie nicht daran. Das ist der Unterschied zum lieber Werner Schuster, etwas abkaufen. Mein Gott, Sudan. Im Sudan werden Andersgläubige gezwun- da möchte ich eher sagen: Versuchen Sie, einem der gen, die Scharia zu praktizieren, und zwar mit Gewalt. ganz Hohen in der Regierung durch ein persönliches Das, Herr Botschafter, ist eine Verletzung von Men- Konto bei der Kantonalbank in Zug etwas abzukau- schenrechten, und das müssen wir hier in diesem fen, aber doch nicht mit Geld, von dem Sie sicher sind, Hause kritisieren. daß es ohnehin nicht zurückgezahlt wird! (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der Ich meine, es gibt keine Patentlösung. Es wird F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- furchtbar langwierig, mühselig, teuer werden. Wir NEN) werden alle angegriffen, was wir da an Geld unnütz Die Kirchen berichteten — das ist noch gar nicht ausgeben für die Leute, die sich dort umbringen. Wir lange her —, daß christliche Kinder eingefangen und werden Kritik bekommen von Leuten, die sagen: Ja, zum Konvertieren gezwungen werden. Das ist eine ihr hättet damals, vor 14 Jahren, das und das — — Alle solche Verletzung des Menschenrechts, daß der Deut- sind viel schlauer. sche Bundestag dazu nicht schweigen darf! Ich meine, es hilft — es sind gute Ansätze da —, daß (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der wir die Nachbarstaaten mobilisieren, daß wir ihnen F.D.P. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ einen Teil der Lasten und einen Teil der Kosten NEN) abnehmen Herr Staatsminister, Sie haben zum Waffenem- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bargo gesagt, das sei ein Problem. Ich stimme Ihnen der F.D.P.) da nicht ganz zu. Mein Kollege Schuster hat schon und daß wir versuchen, unseren guten Willen mit darauf hingewiesen, daß es der Iran ist. Sie haben das allem Sachverstand der Welt, den wir auftreiben ja auch durch Kopfnicken bestätigt. Ich bin nicht können, auch den der nahen Verwandten und beson davon überzeugt, daß die Bundesregierung alle Mittel Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18475

Hans-Günther Toetemeyer ausgenutzt hat, um den Iran daran zu hindern, dieses Aussprache angelangt. Interfraktionell ist vereinbart mörderische Treiben weiter zu unterstützen. worden, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU (Beifall bei der SPD) und der F.D.P. sowie den Antrag der Fraktion der SPD Deshalb müssen wir das fordern. Ich gebe gerne zu, auf den Drucksachen 12/6949 und 12/6937 wie folgt daß Sie schon etwas unternommen haben; aber das zu überweisen: zur federführenden Beratung an den reicht uns nicht aus. Auch über diesen Punkt müssen Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den wir noch einmal ernsthaft diskutieren. Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Ist das Haus damit einverstanden? — Das ist der Fall. Dann ist In der Diskussion heute hat mich allerdings gewun- die Überweisung so beschlossen. dert, daß ein Vertreter der Regierungsparteien gesagt hat, die Afrikaner sollten das Problem selbst lösen. Ich frage mich: Wie begründen Sie dann den Einsatz in Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Somalia? Das ist auch so eine wunde Stelle. Ich sage Tagesordnungspunkt 6 auf: ganz offen: Wir sollten uns ehrlich zugestehen: Soma- Erste Beratung des von den Abgeordneten lia war ein Flop. Dr. Eckhart Pick, Ludwig Stiegler, Dr. H ans de (Zurufe von der CDU/CSU: Nein!) With, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines — Ja! Wir haben die Probleme nicht gelöst. Wenn die Geset- zes zur Regelung der Arbeitnehmerhaftung UNO Somalia verlassen haben wird, werden die Probleme wieder die gleichen sein wie am Anfang. — Drucksache 12/5551 — (Heribert Scharrenbroich [CDU/CSU]: Aber Überwei sung svorschlag: die Menschen, die deswegen überlebt Rechtsausschuß (federführend) Innenausschuß haben, halten das nicht für einen Flop!) Ausschuß für Wirtschaft — Herr Kollege Scharrenbroich, hören Sie bitte ein- Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung mal einen Augenblick zu! Es ist gar nicht so leicht zu Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von sagen: Ich bin einer von denen, die den A rt . 7 der einer Dreiviertelstunde vor. — Das Haus ist offensicht- UNO-Satzung ernst nehmen, und ich bin für das lich damit einverstanden, und ich kann die Debatte „peace enforcement". Aber es ist in Somalia falsch eröffnen. durchgeführt worden. Das war das Problem. Ich erteile dem Abgeordneten Professor Dr. Eckhart Pick das Wort. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Ab- geordneter Toetemeyer, gestatten Sie eine Zwischen- frage des Abgeordneten Vogel? Dr. Eckhart Pick (SPD): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD-Bundestagsfraktion erneuert mit diesem Entwurf eines Gesetzes zur Hans-Günther Toetemeyer (SPD): Ich würde darum Regelung der Arbeitnehmerhaftung ihre Auffassung, bitten, daß wir jetzt zum Schluß kommen. Ich bin daß eine gesetzliche Entscheidung über die Haftung gerne bereit, im Ausschuß weiterzudiskutieren. von Arbeitnehmern im Rahmen ihres arbeitsrechtli- chen Verhältnisses überfällig ist. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Okay. Wir wissen, daß die Haftung des Arbeitnehmers wie auch das gesamte Arbeitsvertragsrecht nur unzurei- Hans-Günther Toetemeyer (SPD): Ich wollte jetzt chend geregelt ist. Das Bürgerliche Gesetzbuch noch — meine Redezeit ist ja gleich abgelaufen — zu begnügt sich seit 94 Jahren mit einer bescheidenen meinem letzten Vorschlag kommen. Herr Kollege Regelung im Recht des Dienstvertrages, das heutigen Irmer und auch Herr Kollege Vogel, die Sie jetzt mit Anforderungen an ein ausgewogenes Verhältnis von mir diskutieren wollten, es gibt einen Vorschlag des Rechten und Pflichten auf Arbeitgeber- wie Arbeit- New Sudan Council of Churches in Nairobi, der sagt, nehmerseite nicht entspricht, wohl auch nie entspro- wir sollten einmal darüber nachdenken, ob es nicht chen hat. der Friedensfindung dienen könnte, im Südsudan ein Diese Lücke ist insbesondere seit Bestehen der Referendum durchzuführen, ähnlich, wie das in Bundesrepublik durch die Rechtsprechung unter Füh- Eritrea geschehen ist, damit die Menschen dort ent- rung des Bundesarbeitsgerichts ausgefüllt worden, scheiden können, ob sie in einer Konföderation zwi- nicht weil dort beim BAG das Bedürfnis nach Rechts- schen Südsudan und Nordsudan oder in einem Zen- fortbildung besonders vorgeherrscht hat, sondern weil tralstaat leben wollen. Es gibt ja unterschiedliche der Gesetzgeber dieses Feld bewußt und freiwillig der Vorstellungen. Dies wollte ich nur einmal in die Rechtsprechung überlassen hat. Dies konnte so lange Diskussion werfen. Man sollte darüber diskutieren und nachdenken. gutgehen, wie die Grenzen richterlicher Rechtsfortbil- dung noch nicht erreicht waren. Dies ist aber jetzt der Wir sollten alle Möglichkeiten nutzen, diesen mit Fall, meine Damen und Herren. der Unterbrechung von elf Jahren — von 1972 bis 1983 — schon vier Jahrzehnte dauernden Krieg zu Als die SPD in der letzten Legislaturperiode schon einmal einen Anlauf unternahm, um für mehr beenden. Ich sage noch einmal ganz bewußt: Wir Rechts- sicherheit sollten die Fehler von Somalia nicht wiederholen. auf diesem Gebiete zu sorgen, war bereits klar, daß Regelungsbedarf bestand. Unsere Argu- (Beifall bei der SPD) mente sind seit dieser Zeit noch weiter gestärkt worden, zum einen durch die Tatsache, daß sich nach Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Meine Art. 30 des Einigungsvertrags der Gesetzgeber ver- Damen und Herren, damit sind wir am Ende der pflichtet hat, das gesamte Arbeitsvertragsrecht mög- 18476 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Dr. Eckhart Pick fichst bald einheitlich neu zu regeln. Außerdem sind infolge von leichter Fahrlässigkeit verursacht worden Forderungen, endlich die wesentlichen Eckdaten des sind, nicht mehr haften sollen, unabhängig von der Individualarbeitsrechts in einem einzigen Gesetz zu Frage, ob im konkreten Fall gefahrgeneigte Arbeit verankern, durch die Rechtszersplitterung des Ar- vorliegt oder nicht. beitsrechts und durch den Druck auch der Europäi- schen Union berechtigt. Aber die Entscheidung des Gemeinsamen Senats läßt weitere Fragen des Haftungsrechts noch offen. So Im übrigen existiert seit dem 59. Deutschen Juri- ist z. B. nicht entschieden, ob die Rechtsprechung an stentag von 1992 die Empfehlung, die Bundesregie- dem Verschuldensmaßstab der „normalen" Fahrläs- rung solle einen Entwurf eines Arbeitsvertragsgeset- sigkeit festhalten wird und, wenn ja, wie es dann mit zes noch im Jahre 1993 vorlegen. Dies ist, wie nicht der anteiligen Haftung der Arbeitnehmerinnen und anders zu erwarten, nicht geschehen. Man kann die Arbeitnehmer steht. Hier bleibt es bei der weitverbrei- Wette wohl ohne Risiko eingehen, daß die Bundesre- teten Unsicherheit, wie eine Teilung des Schadens gierung dies auch bis zum Ende ihrer Amtszeit nicht unter diesen Voraussetzungen überhaupt aussehen mehr tun wird. soll. Die Gründe sind klar. Wie viele andere Versprechen Ich fürchte auch, daß eine solche A rt der Haftung auf sozialpolitischem Gebiet war auch die Selbstver- vor Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes kaum Bestand pflichtung im Einigungsvertrag ein Wechsel auf die haben dürfte. Diese Lücke kann die Rechtsprechung Zukunft, der von der Bundesregierung niemals ernst- des Bundesarbeitsgerichts aber nicht mehr ausfül- haft eingelöst werden sollte. Selbst wenn einige Poli- len. tiker der Union dies ernsthaft angestrebt haben soll- ten, Die Begründung für unseren Vorschlag liegt darin, daß, statistisch gesehen, arbeitsbedingte Schäden (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Das war unvermeidbar sind. Die technologische Entwicklung der Blüm-Flügel, der jetzt hier nicht vertreten führt in nahezu allen Wirtschaftsbereichen zu einem ist!) Abbau der Personalkapazitäten — gerade in dieser dann hat ihnen jedenfalls die Kraft gefehlt, Herr Zeit beklagen wir einen weitgehenden Arbeitsplatz- Kleinert, mit eigenen Vorschlägen ihre eigenen Vor- abbau aus ökonomischen und konjunkturellen Grün- stellungen zu dokumentieren. Da hätte man zumin- den —, mit der Folge, daß den einzelnen Arbeitneh- dest einmal eine weitere Diskussionsgrundlage- neben mer wegen des Einsatzes von immer teureren Geräten unseren Vorschlägen gehabt. Aber auch hier Fehlan- und immer anspruchsvolleren Maschinen auch immer zeige. größere Haftungsrisiken treffen. (V o r sitz : Vizepräsident Helmuth Becker) So führt häufig bereits ein nur geringfügiges Außer Die SPD-Bundestagsfraktion hat schon bei der Ein- achtlassen der entsprechenden Sorgfalt zu Schäden, bringung dieser Gesetzesinitiative im August des deren Höhe oft immens ist. Sie stehen oft in einem letzten Jahres auf die bevorstehende Entscheidung völlig unangemessenen Verhältnis zum Einkommen des Gemeinsamen Senats der obersten Ge richte des des Arbeitnehmers und somit in der Regel auch zu Bundes hingewiesen, der vom Bundesarbeitsgericht seinen Ersatzmöglichkeiten. im Interesse einer einheitlichen Rechtsprechung zur Der Arbeitnehmer kann sich aber diesen Gegeben- Arbeitnehmerhaftung angerufen worden war. heiten nicht entziehen, es sei denn unter Verzicht auf Worum ging es hierbei? Ausgangsfall war die Klage seinen Arbeitsplatz. eines Bauunternehmens gegen den Leiter einer Bau- stelle, einen Polier, gewesen. Beim Aushub der Bau- Auf der anderen Seite hat es der Arbeitgeber kraft stelle hatte ein Baggerführer eine Gasleitung beschä- seines Organisations- und seines Direktionsrechtes in digt und dadurch eine Explosion herbeigeführt. Der der Hand, wie er die Bedingungen des Arbeitsplatzes Baggerführer selbst konnte sich auf die Grundsätze im einzelnen gestaltet. der sogenannten gefahrgeneigten Tätigkeit berufen Die SPD-Fraktion schlägt angesichts dieser Er- und konnte nicht haftbar gemacht werden. Von dem kenntnisse und in Übereinstimmung mit vielen Stim- Polier hingegen forderte der Arbeitgeber 80 000 DM men — mit Arbeitsrechtlern, den Gewerkschaften und Schadenersatz. der Rechtsprechung — vor, im Vorgriff auf eine Dieser Fall, meine Damen und Herren, der die Gesamtregelung des Individualarbeitsrechts jetzt die Gerichte zehn Jahre lang beschäftigt hat, ist ein Arbeitnehmerhaftung im BGB durch die neuen Vor- Lehrbeispiel für die Anwendung der Grundsätze über schriften, wie wir vorgeschlagen haben: § 619a bis f, die gefahrgeneigte Arbeit einerseits und die zu regeln. Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern, für die Kernstück der Regelung ist der neue § 619a, der diese Grundsätze nach der bisherigen Rechtspre- eine unbeschränkte Haftung des Arbeitnehmers für chung nicht gelten, andererseits. Schäden des Arbeitgebers vorsieht, die vorsätzlich Mit der Entscheidung des Gemeinsamen Senats herbeigeführt sind. Bei Schäden, die der Arbeitneh- vom 16. Dezember 1993 ist nun klar, daß alle Arbeit- mer grob fahrlässig verursacht hat, soll er dem Arbeit- nehmer — unabhängig von der Art ihrer Tätigkeit — geber bis zur Höhe von drei Nettomonatsvergütungen in den Genuß einer Haftungserleichterung kommen haften. Diese Sanktion ist hoch genug, um dem können. Damit ist unsere Auffassung bestätigt wor- Argument zu begegnen, eine solche Regelung lade den; denn auch wir schlagen vor, daß künftig Arbeit- geradezu ein, mit besonderer Nonchalance mit dem nehmerinnen und Arbeitnehmer für Schäden, die Arbeitsgerät umzugehen. Ich glaube nicht, daß Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18477

Dr. Eckhart Pick jemand gern bis zu drei Monatseinkommen loswer- Ihrer Seite, meine Damen und Herren von der Koali- den will. tion, entsprechende Beiträge, die uns weiterführen, Im übrigen soll der Arbeitnehmer für Schäden gemacht werden könnten. unterhalb dieses Verschuldens, also unterhalb der Vielen Dank. groben Fahrlässigkeit, nicht mehr haften. Das gilt für (Beifall bei der SPD) mittlere, normale, leichte und leichteste Fahrlässig- keit. Sie alle kennen diese sehr fragwürdigen Maß- stäbe in der Rechtsprechung, die bisher zur Unüber- Vizepräsident Helmuth Becker: Das Wort hat jetzt sichtlichkeit und vor allen Dingen zur Unberechen- der Kollege Andreas Schmidt. barkeit des Haftungsrechts beigetragen haben.

Unser Ziel, meine Damen und Herren, heißt damit: Andreas Schmidt (Mülheim) (CDU/CSU): Herr Prä- mehr Rechtssicherheit für alle Beteiligten, für Arbeit- sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dies geber, für Arbeitnehmer und auch für die Gerichte. ist eine trockene juristische Debatte zu später Stunde, Entsprechend wollen wir auch die Haftung des aber sie ist sicherlich auch wichtig. Insofern wollen wir Arbeitnehmers nach außen, also gegenüber Dritten, auch konkret darauf eingehen, Herr Kollege Pick. verbessern. Er hat in diesen Fällen unter Umständen Der von der sozialdemokratischen Fraktion vorge- in gleicher Weise wie im Innenverhältnis einen Frei- legte Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Arbeit- stellungsanspruch gegen den Arbeitgeber. Mit ande- nehmerhaftung zielt darauf ab, das komplexe Gebiet ren Worten: Der Arbeitnehmer haftet bei Vorsatz der Arbeitnehmerhaftung nunmehr im Detail durch unmittelbar und ohne Ersatzmöglichkeit, also ohne eine Ergänzung des Bürgerlichen Gesetzbuches zu jede Einschränkung, gegenüber dem Dritten. regeln. Bei grober Fahrlässigkeit kann er Freistellung ver- Auch die Unionsfraktion ist der Auffassung, daß die langen, soweit er nicht selbst, im Höchstfall bis zu drei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen An- Nettomonatsvergütungen, haftet. Ansonsten hat er spruch auf Rechtsklarheit und Rechtssicherheit einen umfassenden Freistellungsanspruch gegenüber bezüglich ihrer Haftung im Rahmen der bestehenden dem Arbeitgeber. Arbeitsverhältnisse haben. Daran kann überhaupt Wir ergänzen die Haftungsregelung durch die kein Zweifel bestehen. Bestimmung über die Haftung mehrerer Arbeitneh- Ich finde aber, wir stehen in dieser Debatte vor der mer, wenn sie gemeinsam einen Schaden verursacht grundsätzlichen Überlegung, ob die, wie ich finde, haben. Auch hier spielen die drei Grade des Verschul- nach Einzelfallgerechtigkeit verlangende Frage der dens, Vorsatz, grobe Fahrlässigkeit und darunterlie- Arbeitnehmerhaftung besser beim Gesetzgeber oder gendes Verschulden, eine entsprechende Rolle bei aber besser bei der Rechtsprechung aufgehoben ist. der Zumessung des Schadens. Das Motiv für die Gesetzesinitiative lag damals Wir wollen auch, daß alle Arbeitnehmer künftig sicherlich darin, daß die sozialdemokratische Frak tion haftungsrechtlich gleichbehandelt werden. Der Be- — wie viele andere auch — bei einer Analyse der amte haftet heute schon nur für Vorsatz und grobe Rechtsprechung zu dem Ergebnis gekommen war, Fahrlässigkeit. Auch dies spricht dafür, angesichts des daß die Rechtsprechung zur Arbeitnehmerhaftung Gleichbehandlungsgrundsatzes für eine entspre- diffus geworden war und jede Rechtsklarheit und chende Regelung auch im p rivaten Arbeitsrecht zu Rechtssicherheit vermissen ließ. sorgen. So richtig die Analyse der Diffusion der damaligen Wir sind der Auffassung, daß wir damit ein konsi- Rechtsprechung teilweise auch war, so richtig ist es stentes System der Arbeitnehmerhaftung mit dem aber auch, festzustellen, daß durch die jüngste Ent- Vorteil einer klaren gesetzlichen Regelung, mit einem wicklung der Rechtsprechung zur Arbeitnehmerhaf- fairen Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber und tung ein aktueller und dringender Handlungsbedarf Arbeitnehmer, mit einer Weiterentwicklung des Haf- für den Gesetzgeber nicht mehr besteht. Warum dies tungsrechts auf gesetzlicher Grundlage, die die Recht- nach unserer Überzeugung so ist, möchte ich in der sprechung nicht mehr leisten kann, und mit einem gebotenen Sachlichkeit hier kurz skizzieren. Einstieg in die Regelung des Individualarbeitsrechts, Eine spezielle gesetzliche Regelung der Arbeitneh- der weitergehende, ergänzende Regeln befördern merhaftung existiert nicht. Grundsätzlich gelten auch könnte, entwickelt haben. im Arbeitsrecht die bürgerlich-rechtlichen Vorschrif- ten des Schuldrechts über die Haftung. Allein, die Meine Damen und Herren, es ist an der Zeit, daß sich der Gesetzgeber endlich der Verantwortung für Rechtsprechung hat aus guten Gründen die Arbeit- nehmerhaftung bei sogenannter die Weiterentwicklung des Arbeitsrechts stellt und gefahrgeneigter diese Verantwortung übernimmt. Er kann sich nicht Tätigkeit eingeschränkt. mehr vor dieser Aufgabe drücken. Die Rechtsprechung auf diesem Gebiet hat eine an der Komplexheit der Materie orientierte Entwicklung Es ist höchste Zeit, endlich wenigstens eine Rich- durchgemacht. Bis 1987 wurde in ständiger Recht- tung vorzugeben, an der sich die Rechtsprechung und sprechung die Arbeitnehmerhaftung bei sogenannter auch die Sozialpartner orientieren können. In den gefahrgeneigter Tätigkeit nur bei grober Fahrlässig- Augen der Öffentlichkeit ist eine solche Regelung keit und Vorsatz bejaht. Ab November 1987 versuchte schon lange überfällig. die Rechtsprechung dann, durch die Erweiterung Wir erwarten eine konstruktive Debatte über unsere ihrer bisherigen Grundsätze der Einzelfallgerechtig- Initiative, und wir würden uns freuen, wenn auch von keit einen größeren Spielraum zu geben. 18478 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Andreas Schmidt (Mülheim) Die neuentwickelten Grundsätze der Rechtspre- Gesetzgeber daher zur Zeit kein aktueller Handlungs- chung zeichneten sich dadurch aus, daß es bei grober bedarf besteht. Fahrlässigkeit und bei Vorsatz bei der vollen Arbeit- nehmerhaftung blieb. Bei einer mittleren oder norma- In diesem Zusammenhang möchte ich anmerken, len Fahrlässigkeit kam es in der Regel zu einer daß nach der jüngsten Rechtsprechung des Bundesar- anteiligen Arbeitnehmerhaftung, wobei der Schaden beitsgerichts auch bei grober Fahrlässigkeit eine quotenmäßig zwischen Arbeitgeber und Arbeitneh- Haftungsbeschränkung des Arbeitnehmers in Frage mer verteilt wurde. Bei leichter Fahrlässigkeit wurde kommen kann, und zwar in den Fällen, in denen die zu Recht — auch das ist unsere Auffassung — eine unbeschränkte Schadensersatzpflicht des Arbeitneh- Arbeitnehmerhaftung bei sogenannter gefahrgeneig- mers zu einer ungerechten Verteilung des Betriebs- ter Tätigkeit verneint. und Schadensrisikos führt und daher unbillig ist. Dies wird immer dann anzunehmen sein, wenn ein voller Diese Grundsätze in der Rechtsprechung scheinen Schadensersatzanspruch des Arbeitgebers gegen- mir der Komplexheit des Themas angemessen zu sein, über dem Arbeitnehmer diesen in den wirtschaftli- da sie der Einzelfallgerechtigkeit den notwendigen chen Ruin treiben würde. Auch durch diese Recht- weiten Spielraum lassen. Die Diffusion der Rechtspre- sprechung ist meines Erachtens dem Anliegen, das Sie chung kam dann aber dadurch zustande, daß die mit dem Gesetzesvorhaben verfolgen, Rechnung vorgezeichneten Rechtsgrundsätze immer eine soge- getragen und Genüge getan. nannte Gefahrgeneigtheit der Arbeit als Vorausset- zung einer beschränkten Arbeitnehmerhaftung bein- Aber unabhängig von unserer Auffassung, daß kein halteten. aktueller Handlungsbedarf für den Gesetzgeber Das Bundesarbeitsgericht kam dann aber vor eini- besteht, bin ich der Meinung, daß der Gesetzentwurf ger Zeit zu einer Entscheidung in einem Fall, mit dem der SPD-Fraktion auch inhaltlich der Angemessenheit Ergebnis, daß die Gefahrgeneigtheit der Arbeit nicht und Verhältnismäßigkeit nicht gerecht wird. immer als Voraussetzung für die Haftungsbeschrän- Nach der Zielvorstellung der SPD-Frak tion soll der kung angesehen werden kann. Auch ich will den Fall Arbeitnehmer dem Arbeitgeber grundsätzlich nur hier noch einmal darstellen: noch dann in vollem Umfang haften, wenn er den Es war — wie Sie gerade gesagt haben — ein Schaden vorsätzlich verursacht hat. Bei grober Fahr- Baggerführer eines Bauunternehmens, der durch lässigkeit dagegen soll der Arbeitnehmer dem Arbeit- einen Unfall, der durch Fahrlässigkeit herbeigeführt geber, unabhängig von der Schadenshöhe, maximal wurde, einen Schaden in Höhe von 80 000 DM verur- nur bis zur Höhe von drei Monatsvergütungen haften. sacht hatte. Da sich der Baggerführer auf den Haf- Diese grundsätzliche strikte Haftungsbeschränkung tungsausschluß wegen gefahrgeneigter Tätigkeit steht meines Erachtens in keinem angemessenen berufen konnte, hatte der Gläubiger des Schadenser- Verhältnis zu einem gerechten Interessen- und Risi- satzanspruchs seine Ansprüche gegenüber dem Polier koausgleich zwischen Arbeitnehmer und Arbeitge- der Baustelle angemeldet, mit der Begründung, daß ber. dieser den Baggerführer nicht ausreichend über die Gasleitung informiert habe. Der Polier wiederum Besonders kritisch aber erscheint mir die Zielvor- konnte sich nach der bisherigen Rechtsprechung nicht stellung der SPD-Fraktion, die Haftung des Arbeit- auf eine Haftungsbeschränkung berufen, da seine nehmers bei normaler Fahrlässigkeit völlig auszu- Tätigkeit im Gegensatz zur Tätigkeit des Baggerfüh- schließen. Dies würde, meine Damen und Herren, im rers nicht gefahrgeneigt war. Ergebnis dazu führen, die Arbeitnehmerhaftung ins- gesamt vollständig auszuschließen. Auf eine Abwä- Wie das in diesen Fällen ist, wenn die obersten gung und Prüfung des Einzelfalles käme es dann nicht Senate voneinander abweichen, mußte dann der mehr an. Wenn aber der Arbeitnehmer bei jedem Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe zusam- nicht grob fahrlässigen Verhalten nicht mehr scha- mentreten. Dies ist auch geschehen, und man hat am densersatzpflichtig ist, stellt sich die Frage, ob 16. Dezember 1993 neue Rechtsgrundsätze zur dadurch nicht die vorbeugende Aufgabe der Haftung Arbeitnehmerhaftung aufgestellt. Auch wenn sie in verlorengeht. Die drohende Haftung ist auch immer diesem Kreis vielleicht bekannt sind, möchte ich sie ein Mittel, den Arbeitnehmer anzuhalten, Schutzvor- der Vollständigkeit halber hier noch einmal benen- schriften einzuhalten und Sorgfaltspflichten zu nen, weil sie für unsere Haltung in dieser Frage beachten, die auch oft im Interesse des Arbeitnehmers wichtig sind. selbst sind. Eine gesetzliche Festlegung dahin Nach dieser Entscheidung gelten die Grundsätze gehend, daß die Haftung bei normaler Fahrlässigkeit über die Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung für grundsätzlich ausscheidet, ist daher meines Erachtens alle Arbeiten, die durch den Betrieb veranlaßt sind kontraproduktiv und kann nicht unsere Zustimmung und auf Grund eines Arbeitsverhältnisses geleistet finden. werden, und zwar unabhängig davon, ob diese Arbei- ten gefahrgeneigt sind oder nicht. Das K riterium der Obwohl ich jetzt noch vier Minuten Redezeit habe, Gefahrgeneigtheit spielt somit nach der neuen Recht- habe ich alles gesagt. Vielleicht, Herr Präsident, sprechung keine Rolle mehr. Darüber sind wir uns, können Sie mir die Zeit gutschreiben, so daß ich bei glaube ich, einig. Dieses Thema ist damit vom meiner nächsten Rede etwas mehr Zeit zur Verfügung Tisch. habe. Ich finde wirklich, meine sehr verehrten Damen und Ich bedanke mich. Herren, daß damit die notwendige Rechtsklarheit und Rechtssicherheit wiederhergestellt ist und für den (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18479

Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und dusselig und der andere besonders umsichtig ist, aber Herren, nächster Redner ist unser Kollege Detlef bei allen genau an der gleichen Stelle die Sache Kleinert. aufhört? Kriegen wir jetzt einen Warnstreik, oder geht die Sache friedlicher ab? Ich vermute ja letzteres; denn das kriegt keine Gewerkschaft auf die Beine. Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich Jetzt habe ich noch eine ganz andere Frage, die Wir reden möchte es noch kürzer zu machen versuchen — aber mich interessiert: Was ist mit den Beamten? man soll am Anfang da nicht übermütig sein. Ich bitte seit vielen Jahren hier über § 839 des Bürgerlichen zunächst einmal, meinen heutigen Ausführungen Gesetzbuches mit der interessanten Frage, wie wir meine Ausführungen aus der 11. Wahlperiode, Beamten, die nun wirklich auch ein wenig sehr 198. Sitzung, Seite 15288, mit Ausnahme der Zeile 10 fahrlässig mit dem und jenem umgegangen sind, von unten und der Zeile 15 von oben hinzuzufügen. persönlich nähertreten können. Ich habe damals nicht das geringste Falsche gesagt. (Heiterkeit bei der F.D.P.) Auch Herr Pick hat sich damals geäußert, und wir Mit Ihrer Hilfe haben wir uns von diesem Thema waren ganz angetan von der Sache. Da die heutige immer ferngehalten und gesagt: Nein, nein, der Staat Vorlage Ihrer Vorlage aus der 11. Wahlperiode wort haftet und nicht der Beamte. Deshalb kommt m an -wörtlich entspricht, frage ich mich allerdings heute an den Staat noch an den Beamten heran. weder abend: Wieso brauchen Sie immer vier Jahre, um das Ich habe hier einmal die bekannte Eselrede gehal- vorzulegen, was dann der Diskontinuität anheim ten. Sie ist schon etwas älter. Ich werde heute noch von fällt? interessierten Kreisen darauf angesprochen. Ich (Dr. Eckhart Pick [SPD]: Das kann nicht sein! erzähle sie Ihnen gerne noch einmal; Repetitio est Sie haben es nicht gelesen!) mater studiorum: Wildlebende Esel scharen sich, wenn ein Tier in ihrer Mitte angegriffen wird, um Das ist ein Fall von Originalität, der seinesgleichen dieses Tier herum, alle mit den Köpfen nach innen und sucht. den Hufen nach außen, und schlagen gegen jeder- (Dr. Hans de With [SPD]: Sie haben Ihre mann aus, der sich dem eigentlich angegriffenen Tier eigene Rede gelesen, aber nicht die Vorlage! nähert. So funktioniert § 839 BGB. — Dr. Eckhart Pick [SPD]: Die Vorlage ist (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der aktualisiert! — Ulrich Irmer [F.D.P.]:- Durch CDU/CSU) das Datum!) Das mußte ja wieder einmal gesagt werden. Nicht — Was verstehen Sie unter „aktualisiert"? Wenn Sie jeder liest nach, was man vor 15 Jahren gesagt hat. uns das heute abend erklärt hätten, dann hätte uns in dieser Frage vielleicht der Geist des Aufbruchs und (Dr. Hans de With [SPD]: Kommt auch alle der Zukunft erfaßt, alle wären hier viel rühriger, vier Jahre!) munterer und umtriebiger geworden. Aber derglei- — Ja. chen habe ich von Ihnen nun beim besten Willen nicht In dieser Situation nehme ich doch am liebsten das hören können. Es handelt sich im wesentlichen um das auf, was Herr Pick zum Schluß gesagt hat, nämlich: gleiche Ding. Wir wollen uns vernünftig miteinander darüber unter- Deshalb sage ich mir: Jetzt haben Sie also schon halten. Eine ungewöhnlich ähnliche Formulierung wieder gut drei Jahre in Ihren Arbeitskreisen und erblicke ich am Schluß meiner Rede von vor vier Arbeitsgruppen, die Klarsichthüllen rauf und runter Jahren. betrachtend, an der Sache gearbeitet, um sie uns (Heiterkeit bei der F.D.P. und der CDU/ heute zu unser aller Erstaunen und Freude erneut CSU) vorzulegen — wohlwissend, daß der Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages dermaßen mit Arbeit Dann wollen wir bei dieser Gelegenheit doch ein- belastet ist, daß es in vier Jahren wohl zu einer mal freundliche Angebote der Mehrheit der Bundes- Wiedervorlage kommen wird. länder, in denen Sie am Ruder sind, hören, welche Sorgen von Arbeitnehmern es bei uns gibt und warum (Dr. Hans de With [SPD]: Nicht erst in vier die zu Herzen gehenden Beschwerden der einen Sorte Jahren!) nicht auch für die andere Sorte gelten. Dann reden wir — Ich wünsche Ihnen das nicht, weil ich Sie schätze, auf dieser Basis weiter. weil ich Ihre Art zu arbeiten und Ihre Art zu denken Herzlichen Dank. schätze. Aber ich fürchte, es läuft darauf hinaus. Ein noch so klarer Verstand und eine noch so große (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — wissenschaftliche Weisheit können beim besten Wil- Zuruf von der SPD: Hoher Unterhaltungs len nicht in das richtige Verdienen gebracht werden, wert!) wenn dahinter keine ordentliche Organisation steht. Daran fehlt es hier doch bei weitem. Vizepräsident Helmuth Becker: Meine Damen und Deshalb sage ich Ihnen eines: Was sich seit damals Herren, der Herr Parlamentarische Staatssekretär für mich geändert hat, das ist z. B. die Überlegung: beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Kriegen wir jetzt einen Warnstreik von den von Ihrer Kraus möchte seine Rede zu Protokoll geben. *) Vorlage bis ins Mark erschütterten Arbeitnehmern, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der die nun endlich dieses Recht, daß alles platt gewalzt SPD und der F.D.P.) wird, für sich bei drei Monatsgehältern gewahrt wissen wollen, wohlwissend, daß der eine besonders *) Anlage 2 18480 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Vizepräsident Helmuth Becker Ich muß Übereinstimmung im Hause feststellen. — Ich Ich muß in diesem Zusammenhang nur noch erklä- höre und sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so ren, daß damit all das, was dazu ausgeführt worden ist, beschlossen. im Protokoll steht. Überweisungsvorschläge und anderes gibt es nicht. Damit schließe ich die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 12/5551 an die in der Tagesordnung Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 9: aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderwei- Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- tige Vorschläge? — Das ist nicht der Fa ll. Dann ist das ten Dr. Dietmar Keller, Dr. , so beschlossen. Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Gruppe der PDS/Linke Liste Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf: Lage der Kommunen in der Bundesrepublik Erste Beratung des von den Abgeordneten Deutschland unter besonderer Beachtung der Erwin Marschewski, Wolfg ang Zeitlmann, Situation der Städte, Gemeinden und Land- Meinrad Belle und der Fraktion der CDU/CSU kreise in den neuen Bundesländern sowie den Abgeordneten Dr. Burkhard Hirsch, — Drucksachen 12/4964, 12/6223, 12/6537 (Be- Wolfgang Lüder, Cornelia Schmalz-Jacobsen richtigung) — und der Fraktion der F.D.P. eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über das Ausländer- Dazu liegt ein Entschließungsantrag der Gruppe zentralregister (AZR-Gesetz) PDS/Linke Liste vor.

— Drucksache 12/6938 — Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sollte dafür eine Aussprache von einer halben Stunde vorgesehen Ørweisungsvorschlag: werden, wobei die Gruppe PDS/Linke Liste 10 Minu- Innenausschuß (federführend) ten erhalten sollte. Nachdem ich inzwischen höre, daß Rechtsausschuß auch bei diesem Punkt alle Rednerinnen und Redner Nach einer interfraktionellen Vereinbarung war an ihre Reden zu Protokoll geben wollen, bitte ich auch sich eine halbe Stunde für die Aussprache vereinbart. hier um Zustimmung des Hauses. — Das ist so Ich höre aber inzwischen, daß alle vorgesehenen geschehen. *) Redner ihre Reden zu Protokoll geben wollen. *) Besteht Einverständnis, daß wir so verfahren? — Dann Die Gruppe PDS/Linke Liste hat beantragt, ihren ist das so beschlossen. Entschließungsantrag auf Drucksache 12/6922 zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und Meine Damen und Herren, interfraktionell wird zur Mitberatung an den Finanzausschuß sowie an den Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache Ausschuß für Wirtschaft zu überweisen. Die Fraktion 12/6938 an die in der Tagesordnung aufgeführten der CDU/CSU verlangt hingegen sofortige Abstim- Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu noch ander- mung. Nach einer ständigen Übung geht die Abstim- weitige Vorschläge? — Ich höre und sehe keinen mung über den Überweisungsvorschlag vor. Wer Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlos- stimmt für den Überweisungsvorschlag? — Zwei Stim- sen. men für den Überweisungsvorschlag. Gegenprobe! — Enthaltungen? — Damit ist der Überweisungsvor- Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf: schlag abgelehnt. Beratung der Großen Anfrage der Abgeordne- Wir stimmen damit in der Sache ab. Wer stimmt für ten Dr. Margrit Wetzel, Klaus Daubertshäuser, den Entschließungsantrag der Gruppe PDS/Linke Robert Antretter, weiterer Abgeordneter und Liste auf Drucksache 12/6922? — Das tut der Herr der Fraktion der SPD Kollege Dr. Keller. Gegenprobe! — Die Koa lition Gefahrgutbeförderung im zusammenwach- stimmt geschlossen dagegen. Enthaltungen? — Die senden Europa SPD enthält sich geschlossen. Damit ist dieser Ent- schließungsantrag abgelehnt. — Drucksachen 12/4381, 12/5357 — Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat war dafür damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. eine Aussprache von einer Stunde vorgesehen. Inzwi- schen höre ich aber, daß alle vorgesehenen Redner Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- ihre Reden zu Protokoll geben wollen. * * ) Gibt es dazu destages auf morgen, Freitag, 4. März 1994, 9 Uhr Übereinstimmung im Hause? — Ich höre und sehe ein. keinen Widerspruch. Dann ist auch das so beschlos- Die Sitzung ist geschlossen. sen. (Schluß der Sitzung: 21.14 Uhr) *) Anlage 3 **) Anlage 4 *) Anlage 5 Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18481*

Anlagen zum Stenographischen Bericht (C)

Anlage 1 entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Liste der entschuldigten Abgeordneten Wohlrabe, Jürgen CDU/CSU 3.3.94 entschuldigt bis Wollenberger, Vera BÜNDNIS 3.3.94 Abgeordnete(r) einschließlich 90/DIE GRÜNEN Bartsch, Holger SPD 3.3.94 Baum, Gerhart Rudolf F.D.P. 3.3.94 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versamm- Carstensen (Nordstrand), CDU/CSU 3.3.94 lung des Europarates Peter Harry Dr. Däubler-Gmelin, SPD 3.3.94 Herta Anlage 2 Eimer (Fürth), Norbert F.D.P. 3.3.94 Zu Protokoll gegebene Rede Eymer, Anke CDU/CSU 3.3.94 zu Tagesordnungspunkt 6 Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 3.3.94 * (Gesetzentwurf zur Regelung Francke (Hamburg), CDU/CSU 3.3.94 der Arbeitnehmerhaftung) Klaus Fuchtel, Hans-Joachim CDU/CSU 3.3.94 Rudolf Kraus, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Gries, Ekkehard F.D.P. 3.3.94 nister für Arbeit und Sozialordnung: Das Problem ist Keller, Peter CDU/CSU 3.3.94 nicht neu: Die Volksweisheit „Wo gehobelt wird, Kirschner, Klaus SPD 3.3.94 fallen Späne" hat im Arbeitsleben ihre besondere Kolbe, Manfred CDU/CSU 3.3.94 Bedeutung. Bei der Arbeit können durch Verschulden Kors, Eva-Maria CDU/CSU 3.3.94 des Arbeitnehmers Schäden an Eigentum oder Ver- mögen des Arbeitgebers oder bei Dritten entstehen, Koschnick, Hans SPD 3.3.94 die der Arbeitnehmer nach den Regeln des bürgerli- Kossendey, Thomas CDU/CSU 3.3.94 chen Rechts ersetzen müßte. Kretkowski, Volkmar SPD 3.3.94 Es ist schon früh erkannt worden, daß einerseits das Leidinger, Robert SPD 3.3.94 Schadenspotential und damit das Schadensrisiko bei Leutheusser- F.D.P. 3.3.94 der Arbeit weitaus größer ist als im p rivaten Bereich Schnarrenberger, und andererseits die Fähigkeit des Arbeitnehmers Sabine zum Schadensausgleich angesichts seines begrenzten 3.3.94 Marten, Günter CDU/CSU Einkommens eher gering ist. Dr. Matterne, Dietmar SPD 3.3.94 Die Arbeitnehmerhaftung muß sich deshalb an den Dr. Menzel, Bruno F.D.P. 3.3.94 besonderen Gegebenheiten des Arbeitslebens orien- Dr. Mildner, CDU/CSU 3.3.94 tieren. Das führt zwangsläufig zu Abweichungen von Klaus-Gerhard den allgemeinen Haftungsgrundsätzen des bürgerli- Dr. Müller, Günther CDU/CSU 3.3.94 * chen Rechts. Müller (Wadern), CDU/CSU 3.3.94 Das Bundesarbeitsgericht hat deshalb in seiner Hans-Werner jahrzehntelangen Rechtsprechung bei gefahrgeneig- Müller (Wesseling), CDU/CSU 3.3.94 ten bzw. schadensgeneigten Tätigkeiten des Arbeit- Alfons nehmers die Haftung nach folgenden Grundsätzen Dr. Neuling, Christian CDU/CSU 3.3.94 eingeschränkt: Keine Haftung bei leichter und leich- Ostertag, Adolf SPD 3.3.94 tester Fahrlässigkeit; grundsätzlich volle Haftung bei Peters, Lisa F.D.P. 3.3.94 grober Fahrlässigkeit und stets bei Vorsatz; anteilige Poß, Joachim SPD 3.3.94 Haftung bei normaler bzw. mittlerer Fahrlässigkeit, Rahardt-Vahldieck, CDU/CSU 3.3.94 wobei die Gesamtumstände von Schadensanlaß und Susanne Schadensfolgen abzuwägen sind. Reschke, Otto SPD 3.3.94 Diese Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts Rixe, Günter SPD 3.3.94 ist durch die jüngst ergangene Entscheidung des Rode (Wietzen), Helmut CDU/CSU 3.3.94 Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Roitzsch (Quickborn), CDU/CSU 3.3.94 Bundes weiterentwickelt worden: Ingrid Die Haftungsbeschränkung gilt nun für alle betrieb- Schmidt (Nürnberg), SPD 3.3.94 lichen Tätigkeiten, d. h. für alle Arbeiten, die durch Renate den Betrieb veranlaßt sind und die auf Grund eines von Schmude, Michael CDU/CSU 3.3.94 Arbeitsverhältnisses geleistet werden. Seehofer, Horst CDU/CSU 3.3.94 Es ist zu begrüßen, daß die Anknüpfung der Skowron, Werner H. CDU/CSU 3.3.94 Beschränkung der Arbeitnehmerhaftung an gefahr- Spranger, Carl-Dieter CDU/CSU 3.3.94 geneigte bzw. schadensgeneigte Tätigkeiten, wie sie Dr. von Teichman, F.D.P. 3.3.94 bisher die Rechtsprechung vorgenommen hatte, auf- Cornelia gegeben worden ist. Der Begriff der Gefahrgeneigt- Voigt (Frankfurt), SPD 3.3.94 heit ist wenig konkret. Deshalb war eine Abgrenzung Karsten D. in der Vergangenheit stets schwierig. 18482 * Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will die SPD- Anlage 3 Bundestagsfraktion die Haftung des Arbeitnehmers Zu Protokoll gegebene Reden für Schäden, die der Arbeitnehmer durch betriebliche zu Tagesordnungspunkt 7 oder dienstliche Tätigkeiten verursacht hat, noch (Entwurf eines Gesetzes erheblich weiter einschränken, und zwar auf Vorsatz über das Ausländerzentralregister) und grobe Fahrlässigkeit. Dagegen bestehen erhebliche Bedenken. Diese engen Haftungsvoraussetzungen schließen eine Ar- Meinrad Belle (CDU/CSU): Seit Beginn der 50er Jahre beitnehmerhaftung in weitgehendem Maße aus. Auf wird im Bundesverwaltungsamt ein Ausländerzen- eine Prüfung im Einzelfall käme es dann bei normaler tralregister geführt. Rechtsgrundlage für dieses zen- bzw. mittlerer Fahrlässigkeit nicht mehr an. tralregister war bisher das Gesetz über die Errichtung Man muß sich deshalb fragen, ob dadurch nicht die des Bundesverwaltungsamtes vom 18. Dezember auch vorbeugende Aufgabe der Pflicht zum Scha- 1959. Der heute von uns eingebrachte Gesetzentwurf densersatz, nämlich im eigenen Interesse behutsam soll nun eine umfassende Rechtsgrundlage für das mit fremden Eigentums- oder Vermögenswerten Ausländerzentralregister schaffen. umzugehen, verlorengeht, wenn der Arbeitnehmer bei jedem nicht grobfahrlässigen Verhalten nicht Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Ent- mehr schadensersatzpflichtig ist. Wird dann der scheidung vom 15. Dezember 1983 festgelegt, daß die Arbeitnehmer noch in ausreichendem Maße zur Sorg- Verarbeitung personenbezogener Daten in das durch falt angehalten, Schäden des Arbeitgebers, von unser Grundgesetz geschützte allgemeine Persönlich- Arbeitskollegen oder von Dritten zu vermeiden? keitsrecht eingreift. Das aus diesem Gedanken ent- wickelte Recht auf personelle Selbstbestimmung gilt Dies alles zeigt, wie vielschichtig und zum Teil auch für Ausländer; es ist allerdings weder für Deut- schwierig diese Fragestellungen sind. sche noch für Ausländer schrankenlos gewährleistet. Dies soll nicht heißen, daß das Arbeitnehmerhaf- Einschränkungen seines Rechts auf informationelle tungsrecht auf Dauer außerhalb einer gesetzlichen Selbstbestimmung muß der Einzelne im überwiegen- Kodifizierung bleiben sollte. Im Gegenteil. Eine ge- den Allgemeininteresse hinnehmen. setzliche Regelung — egal in welcher Ausgestal- tung — bedarf jedoch noch eingehender fachlicher Allerdings bedürfen diese Einschränkungen einer Erörterungen. gesetzlichen Grundlage, aus der heraus sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkung Dabei muß nicht zuletzt auch ein sachgerechter, klar erkennbar ergeben. Mit diesem Gesetzentwurf angemessener Ausgleich der aufeinanderstoßenden werden Regelungen vorgesehen, die diesem Gebot Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern ge- entsprechen. funden werden, der auch den Belangen der Volkswirt- schaft und des Wirtschaftswachstums dienlich ist. Die Grundpersonalien der sich bei uns länger als Ziel einer gesetzlichen Beschränkung der Arbeit- drei Monate aufhaltenden Ausländer werden ge- nehmerhaftung muß es sein, den Arbeitnehmer nicht trennt in einem allgemeinen Datenbestand und einer mit Schadensersatzpflichten zu belasten, die sein und Visadatei zusammengefaßt. Hinzu kommen insbeson- seiner Familie Leben unvertretbar belasten und sei- dere aufenthaltsrechtliche Entscheidungen der deut- nen Lebensstandard möglicherweise auf lange Zeit schen Behörden. Datenschutzrechtlichen Interessen unzumutbar beeinträchtigen. der Ausländer kann durch Anordnung einer Übermitt- lungssperre entsprochen werden. Diese Zielsetzung erfordert aber nicht zwangsläu- fig, die Haftung für jedes normal fahrlässige Verhalten Das Ausländerzentralregister unterstützt die Ver- völlig auszuschließen. Der Gesetzgeber kann deshalb waltungsbehörden auf den verschiedenen Ebenen bei nicht an der Frage vorbeigehen, ob man nicht auf der der Durchführung ausländer- und asylrechtlicher Vor- Basis der derzeitigen Rechtsprechung zu einer ange- schriften. Es trägt insbesondere zu schnellen Entschei- messeneren Lösung kommen kann. dungen in Fragen der Einreise und des zulässigen Dabei kann auch der Grundgedanke einer Haf- Aufenthaltes von Ausländern bei. Die dazu notwendi- tungsobergrenze beitragen. Es gilt außerdem zu prü- gen Angaben und Daten, die bei den verschiedensten fen, ob der Gedanke der Haftungserleichterung bei Behörden gespeichert sind, werden im Ausländerzen- der Möglichkeit des Arbeitgebers zum Abschluß einer tralregister zentral gesammelt. Kaskoversicherung nicht noch weitgehender, zur Ent- lastung des Arbeitnehmers, berücksichtigt werden Zugriff auf das Register ist bei Eilentscheidungen kann. auch außerhalb der allgemeinen Dienstzeiten, nachts, an Wochenenden usw. möglich. Es bringt also eine Konkreter Handlungsbedarf besteht derzeit nicht. erhebliche Beschleunigung der Bearbeitung. Eine gesetzliche Neuordnung ist angesichts der Aus- dehnung der Haftungsbeschränkung durch die jüng- Nach den bisherigen Erfahrungen wirkt sich das ste gerichtliche Entscheidung nicht vordringlich. In Zentralregister in etwa 95 % der Fälle für den Auslän- diesem Feld herrscht ja kein rechtliches Chaos, das ein der begünstigend aus. Genaugenommen hat das Aus- vorschnelles Ziehen der Notbremse erforderlich länderzentralregister a) eine Identifizierungsfunktion macht. Wie ich aufgezeigt habe, hat ja die Rechtspre- — es ermöglicht den zuständigen Behörden, im Rah- chung bereits sinnvolle Wege zur weiteren Einschrän- men ihrer Aufgabenerfüllung, Ausländer zu identifi- kung der Arbeitnehmerhaftung gefunden. zieren —, b) eine Nachweisfunktion — Hinweise auf Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18483'

Behörden werden gespeichert, die ausländerrechtlich troll- und Überwachungsmechanismen angestrebt bedeutsame Erkenntnisse besitzen —, c) schließlich werden oder schon durchgesetzt worden sind, deren die Auskunftsfunktion, insbesondere im Bereich der Eingriffsmöglichkeiten außer Verhältnis zu dem Visadatei. angestrebten Zweck stehen. Bei unseren bisherigen Arbeiten an diesem Gesetz- Zunehmend werden Bevölkerungsgruppen betrof- entwurf standen zwei Überlegungen im Vordergrund: fen, die nicht über eine wirksame Lobby zur Wahrneh- Erstens. Nach eingehender Prüfung und Diskussion mung ihrer Interessen verfügen. Dazu zählen vor allen haben wir festgestellt, daß es nach wie vor zur Dingen Arme, Ausländer sowie andere Minderheiten Erfüllung unverzichtbarer öffentlicher Aufgaben not- und Randgruppen, die von der aufgezeichneten Ent- wendig ist, Daten von hier länger wohnenden Auslän- wicklung in besonderem Maße be troffen sind. Gegen- dern auch in dem jetzt vorgesehenen Umfange zu über diesen Gruppen trifft den Gesetzgeber eine erfassen. Zweitens. Insbesondere die Bestimmungen besondere Verantwortung für eine sorgfältige Prü- des § 12 über die Erteilung von Gruppenauskünften fung aller geplanten Maßnahmen, der sich die SPD sowie des § 22 über den Abruf von Daten im automa- Bundestagsfraktion — das sei hier schon einmal im tisierten Verfahren haben wir gemeinsam im Hinblick voraus im Hinblick auf die anstehenden Gesetzge- auf die Erfordernisse des Datenschutzes nochmals bungsberatungen betont — mit besonderer Verant- überprüft. Die ursprünglichen Regelungen konnten in wortung stellen wird. diesen Gesprächen weiter verbessert werden. Der hier nun von den Koalitionsfraktionen — die Ich bedanke mich für die gute Zusammenarbeit bei Bundesregierung wird einen gleichen Entwurf im unserem Koalitionspartner, aber auch für die Koope- Bundesrat einbringen — nun endlich vorgelegte rationsbereitschaft der Bundesregierung. Gesetzentwurf bringt eine langwierige und schwie- Wir wollen nun diesen Gesetzentwurf zügig beraten rige Entwicklung vorläufig zum Abschluß. Das lang- und bald zur Verabschiedung bringen. Dazu bitte ich wierige Verfahren gibt zunächst einmal Aufschluß um Ihre konstruktive Mitarbeit. darüber, wie die Bundesregierung und die sie tragen- den Koalitionsfraktionen mit ihnen nicht genehmen (Berlin) (SPD): Der Deutsche Bun- Gerd Wartenberg Gesetzgebungsaufträgen des höchsten deutschen destag berät heute in erster Lesung den von den Gerichts umzugehen belieben. Deutlich wird auch, in Koalitionsfraktionen eingebrachten Entwurf eines wie willkürlicher und selbstherrlicher Weise diese Gesetzes über das Ausländerzentralregister.- Diese Seite des Hauses die ständige Rechtsprechung des Beratung erfolgt in einer Zeit, in der zehn Jahre nach Bundesverfassungsgerichts zum sogenannten „Über- Verkündung des Volkszählungsurteils vom 15. De- gangsbonus" interpretiert. Mit einer S trategie der zember 1983 landauf, landab Bilanz gezogen wird, die Untätigkeit bzw. der zeitlichen Verzögerung, gepaart Frage erörtert wird: Was ist denn nun eigentlich aus mit einer Strategie der Diskreditierung und Diffamie- dem vom Bundesverfassungsgericht aus dem Grund- rung des Datenschutzes sind zunehmend in den recht zum Schutz der Persönlichkeit abgeleiteten letzten Jahren alle Vorhaben zur wirksamen Siche- Recht auf informationelle Selbstbestimmung in der rung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gegen die Praxis von Gesetzgebung und Verwaltung gewor- Gefährdungen der modernen Datenverarbeitung den? wenn nicht verhindert so doch aufgeschoben wor- Die zahlreichen „Gedenk- oder Jubiläumsveran- den. staltungen" anläßlich der zehnten Wiederkehr der Verkündung des Volkszählungsurteils bieten kein Dies geht bis in die jüngste Zeit, in der sich die erfreuliches Bild. Die anfängliche Eupho rie über das Union in der Gemeinsamen Verfassungskommission richtungsweisende Urteil ist einer nüchternen, eher aus rational nicht nachvollziehbaren Gründen wei- bedrückenden Einschätzung der zukünftigen Ent- gert, das vom Bundesverfassungsgericht festgestellte wicklung des Datenschutzes in diesem Lande gewi- Grundrecht nun auch ausdrücklich in den Text der chen. Verfassung aufzunehmen, obwohl die meisten neuen Bundesländer dieses in ihren neuen Verfassungen Der 14. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten aufgenommen haben. für den Datenschutz sowie die bereits vorliegenden und die noch zu erwartenden Tätigkeitsberichte sei- Es bleibt festzuhalten: Das Recht auf informationelle ner Länderkollegen zeichnen nach, wie in den letzten Selbstbestimmung hat als Ausfluß des allgemeinen Jahren nach und nach unter der Flagge einer wirksa- Persönlichkeitsrechts Grundrechtcharakter. Daten- men Kriminalitätsbekämpfung und der Unterbindung schutz ist Grundrechtsschutz, ist eine Methode des wirklicher oder mutmaßlicher Mißbräuche von Sozial- Grundrechtsschutzes gegen die Gefährdungen der leistungen der Schutz des Grundrechts auf informatio- technischen Möglichkeiten der Datenverarbeitung nelle Selbstbestimmung mehr und mehr in den Hin- und nicht ein Anliegen von buntgefiederten Außen- tergrund gedrängt wird. Hinzu kommen Entwicklun- seitern der Gesellschaft. gen im europäischen Bereich, wo immer mehr zen- trale, automatisierte Datenverarbeitersysteme ohne Datenschutz ist im Zentrum einer freiheitlich demo- wirksame Datenschutzkontrolle installiert werden. kratischen Rechtsordnung angesiedelt. Damit kein Mißverständnis entsteht: Sowohl eine Nun zurück zu dem vorliegenden Gesetzentwurf. wirksame Kriminalitätsbekämpfung wie die Verhin- Das Ausländerzentralregister wurde bereits vor über derung von wirklichen Leistungsmißbräuchen im 40 Jahren eingerichtet. Es stellt die größte Sammlung Sozialbereich sind legitime Zwecke. Es läßt sich personenbezogener Ausländerdaten in der Bundesre- jedoch feststellen, daß unter dieser Zielsetzung Kon- publik Deutschland dar und wird seit Ende der 60er 18484* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Jahre automatisiert betrieben. Es enthält Angaben SPD-Bundestagsfraktion wird sich in den anstehen- über ca. 10 Millionen Ausländer. den Beratungen nachdrücklich darum bemühen, eine Die bisherige Rechtsgrundlage im Gesetz über die verfassungsrechtlich einwandfreie Regelung zur Auf- Errichtung des Bundesverwaltungsamtes aus dem lösung des Konflikts zwischen dem Persönlichkeits- Jahre 1959 ist nicht erst seit dem Volkszählungsurteil recht und legitimen öffentlichen Interesse zu errei- vom 15. Dezember 1983 unhaltbar. Darüber besteht chen. seit vielen Jahren Einvernehmen. Spätestens seit Verkündung des Volkszählungsurteils fehlen verfas- Cornelia Schmalz-Jacobsen (F.D.P.): Ich will nicht sungsrechtlich einwandfreie Normen, klare Regelun- verhehlen, daß wir in der F.D.P.-Fraktion den Entwurf gen, die die aus Gründen überwiegenden Allgemein- eines Ausländerzentralregistergesetzes mit durchaus interesses erforderlichen Einschränkungen des gemischten Gefühlen sehen. Die Ausgangslage ist Rechts der Betroffenen auf informationelle Selbstbe- aber eindeutig: Das Volkszählungsurteil des Bundes- stimmung verbindlich festlegen. verfassungsgerichts ist mehr als zehn Jahre alt, und es Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz hat in verpflichtet uns zur Schaffung einer datenschutz- zahlreichen seiner Tätigkeitsberichte seit dem Jahre rechtlich einwandfreien Rechtsgrundlage für dieses 1980 wieder und wieder auf die Notwendigkeiten Zentralregister. Der „Übergangsbonus" ist seit länge- rem aufgebraucht. einer zufriedenstellenden gesetzlichen Regelung hin- gewiesen. Ein in der letzten Legislaturperiode dem Eine Grundlage, aus der sich Voraussetzungen und Deutschen Bundestag zugeleiteter Entwurf ist ge- Schranken der Verarbeitung von Daten von Auslän- scheitert. dern ergeben, ist überfällig. Der Deutsche Bundestag hat in einer Entschließung Wer sich den vorliegenden Entwurf ansieht und vom 5. Februar 1993 aus Anlaß der Verabschiedung Bedenken hat — und meine Kollegen und ich haben einiger Tätigkeitsberichte des Bundesbeauftragten Bedenken —, der sollte redlicherweise auch sagen, für den Datenschutz noch einmal nachdrücklich auf wie unbefriedigend und undurchschaubar der bishe- die Dringlichkeit dieses Gesetzes hingewiesen. Inso- rige Umgang mit den 8 Millionen Daten ist. Darum weit ist es zu begrüßen, daß nunmehr dem Hause sind wir auch für ein Gesetz. endlich ein Gesetzentwurf vorliegt. Es gibt dabei das grundsätzliche Problem, daß wir es Unverständlich ist freilich angesichts dieser lang- hier mit einer Zentralkartei zu tun haben, der einzigen jährigen Entwicklungsgeschichte, daß es die Bundes- außer der Flensburger Verkehrssünderkartei. Wichtig regierung versäumt hat, rechtzeitig die erforderlichen ist die Frage nach der Zweckbestimmung: Wer Abstimmungen mit den Bundesländern, für deren braucht die Daten der Ausländer? Sicherlich die Verwaltungen verschiedenster A rt die zu schaffenden Ausländerämter, das Bundesamt zur Anerkennung gesetzlichen Regelungen vorrangige Bedeutung ha- für Flüchtlinge, der Bundesgrenzschutz und wohl ben, herbeizuführen. Auch wenn die Bundesregie- auch das Auswärtige Amt. Eine zentrale Erfassung ist rung in ihrer gestrigen Sitzung die Einbringung eines also zu rechtfertigen. Sie kann auch der Gefahrenab- gleichlautenden Entwurfs beschlossen hat und damit wehr und der Strafverfolgung dienen. Aber dieses die Beratungen im Bundesrat in Gang gesetzt werden, Register ist keine Verbrecherkartei und kein Fahn- dürfte das gewählte Verfahren wegen der im Bundes- dungsregister, und Ausländer sind kein datenschutz- rat bestehenden Fristen erhebliche Schwierigkeiten rechtliches Freiwild! bei der sachgerechten Beratung dieser Vorlage auslö- In der parlamentarischen Beratung werden wir uns sen und damit auch die Beratungen im Innenausschuß sehr genau ansehen müssen: Wer hat Zugang zu des Deutschen Bundestages belasten. diesen Daten, wer hat Zugriff? Ist gewährleistet, daß Der Innenausschuß wird sehr sorgfältig abzuwägen die „Gruppenauskunft" nur im allernotwendigsten haben, ob die einzelnen vorgeschlagenen Maßnah- und im engstbegrenzten Rahmen abgefragt wird? men erforderlich und verhältnismäßig sind. Dabei Kann es wirklich richtig sein, daß bereits der Verdacht sind an den verfassungsrechtlichen Maßstab der einer Straftat gespeichert wird? Kann es richtig und Erforderlichkeit s trenge Maßstäbe anzulegen. Rechtens sein, daß Bürger eines Staates der Europäi- Das an sich aus menschlich verständlichen Gründen schen Union unterschiedslos als „Ausländer" betrach- Wünschbare, weil zum Beispiel arbeitserleichternd tet werden, oder widerspricht das nicht dem Diskrimi- — wie es im allgemeinen Sprachgebrauch als „erfor- nierungsverbot aus dem EG-Vertrag? Wir behalten derlich" bezeichnet werden mag —, ist nicht auch das uns vor, den Entwurf in den Beratungen noch zu „Erforderliche" im Rechtssinne. Bei vielen der vorge- verändern, und wir werden dies in enger Abstimmung sehenen Maßnahmen handelt es sich zugleich immer mit dem Datenschutzbeauftragten tun. um einen Eingriff in das informationelle Selbstbestim- Datenschutz gilt nicht nur für deutsche Staatsbür- mungsrecht. Hier ist ein besonderes Augenmerk auf ger, und wir müssen uns davor hüten, in ein allgemei- die Verhältnismäßigkeit zwischen dem erstrebten Ziel nes Kontrollklima hineinzugeraten. Gerade dazu und dem eingesetzten Mittel zu legen. dient — richtig verstanden — eine gesetzliche Grund- Ohne hier auf die Einzelheiten des vorgelegten lage. Gesetzentwurfs eingehen zu können, scheinen doch einige Regelungen, so über Gruppenauskunft, die Konrad Weiß (Berlin) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Zugriffsrechte der Nachrichtendienste sowie den Auf- Der Gesetzentwurf der Koalition verstößt in zentralen bau des automatisierten Abrufverfahrens, der einge- Punkten gegen das Grundrecht auf informationelle henden Diskussion im Ausschuß zu bedürfen. Die Selbstbestimmunng, das natürlich auch Ausländerin- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18485*

nen und Ausländern zusteht, sowie gegen das Diskri- automatischen Zugriff diverser anderer Behörden minierungsverbot. Wir halten den Entwurf daher für preisgegeben werden sollen, geht entschieden zu verfassungswidrig. weit. Statt dessen würde ein bloßes zentrales Nach- weissystem für ausländerrechtliche Akten vollauf aus- Seit Anfang der 80er Jahre schon forde rn vor allem reichen, ohne Ausländerinnen und Ausländer zu ohn- die Datenschützer eine gesetzliche Regelung des seit mächtigen „Datenträgern" herabzuwürdigen. 40 Jahren bestehenden Ausländerzentralregisters. Das Bundesverfassungsgericht hat im Volkszählungs- Klar muß sein: Nicht nur das Grundrecht auf Leben urteil diese Notwendigkeit bekräftigt. Seit dem ersten und körperliche Unversehrtheit von Ausländerinnen Referentenentwurf vom Ju li 1988 und trotz zahlrei- und Ausländern muß geachtet und geschützt werden, cher Mahnungen des Bundestages ist die Bundesre- sondern ebenso muß endlich ihr Grundrecht auf gierung weitgehend untätig geblieben. Statt dessen informationelle Selbstbestimmung uneingeschränkt hat sie das Ausländerzentralregister seither technisch anerkannt werden. Davon ist der vorliegende Rege- ausgebaut, vorallem durch den Online-Datenabruf für lungsentwurf für das Ausländerzentralregister weit andere Behörden, jedoch den sogenannten Über- entfernt. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnt diesen gangsbonus für eine gesetzliche Regelung ablaufen Entwurf entschieden ab. lassen. Somit ist die Be treibung des Registers heute rechtswidrig. (PDS/Linke Liste): Die 116 Seiten Ausgerechnet im Wahlkampfjahr soll nun der noch Gesetzentwurf, die uns gestern zugingen, ließen sich weitere Ausbau dieses Registers zu einer zentralen auf ein, zwei Sätze reduzieren: „Ausländerinnen und Sicherheitsdatei für über acht Millionen Nichtdeut- Ausländer haben keinerlei Anspruch auf informatio- sche gesetzlich ermöglicht werden. Dahinter steht nelle Selbstbestimmung, den Umgang mit ihren doch die Philosophie, Nichtdeutsch von vornherein als Daten machen die Sicherheitsbehörden unter sich Sicherheitsrisiko einzustufen. aus. " Dieser Gesetzentwurf verwischt die Grenzen zwi- Seit 40 Jahren arbeitet das Ausländerzentralregister schen Sicherheitsaufgaben — etwa der polizeilichen ohne vernünftige gesetzliche Grundlage, seit dem Gefahrenabwehr und Strafverfolgung sowie des Ver- sogenannten Volkszählungsurteil wird von Daten- fassungsschutzes — gegenüber der Anwendung des schützern in immer dringenderem Ton eine rechtliche Aufenthaltsrechts vollkommen. Installiert werden soll Grundlage gefordert, die den alltäglichen Mißbrauch — in Ausweitung der bisherigen Praxis — statt dessen endlich ausschließt. Und dann wird mit Bedacht, wie ein Datenverbundsystem zwischen Ausländerbehör- der Kanzler sagen würde, ein Gesetzentwurf einge- den einerseits und Bundesanstalt für Arbeit, Polizei, bracht, der den schlimmsten Mißbrauch geradezu Staatsanwaltschaften, Verfassungsschutz und Militä- zum Prinzip erhebt. Datenschützer mögen sich die rischem Abschirmdienst andererseits. Die letztge- Finger wund schreiben gegen den Entwurf; die Zeiten nannten Behörden sollen einen direkten Datenzugriff sind offensichtlich vorbei, wo sie mit ihrer K ritik erhalten, obwohl sie ohnehin in ihren eigenen Dateien Nachdenken erreichen könnten. einen guten Teil dieser Informa tionen bereits vorrätig „Diskriminierendes Sonderrecht" nennt die Deut- halten. Dieses Ansinnen reiht sich ein in andere sche Vereinigung für Datenschutz den Entwurf. Mit Versuche der Regierung, den verfassungskräftigen ihm werde eine „Politik der zentralisierten Ausländer- Datenschutz auszuhebeln und einen faktischen Infor- kontrolle" verfolgt. Der niedersächsische Daten- mationsverbund aller Sicherheitsbehörden ein- schutzbeauftragte sieht die „informationelle Gewal- schließlich der Geheimdienste zu schaffen. tenteilung" aufgelöst. Der hessische Datenschutzbe- Dabei soll das Ausländerzentralregister als vielfach auftragte Hassemer, der auf diversen Sachverständi- fungibles Bundesmelderegister für Nichtdeutsche genanhörungen der parlamentarischen Ausschüsse dienen, mit dem bereichspezifische Datenverarbei- immerhin seine Kritik noch vortragen darf, spricht von tungsvorschriften vor allem des Ausländergesetzes einer „Fahndungsdatei", in der die Be troffenen nach umgangen werden sollen. Ein entsprechendes Zen- Anhaltspunkten für „eventuell begangene oder künf- tralregister für Deutsche, zumal mit solchen Zugriffs- tige Straftaten" registriert würden. rechten für Geheimdienst, würde ein Sturm der Ent- Exakt das hier Kritisierte ist aber ausdrücklich der rüstung auslösen. Zweck des Gesetzentwurfes. Eindrucksvoll wird die Über Ausländer werden zu denselben Verwal- Rolle des Datenschutzes als „Akzeptanztrottel" bestä- tungszwecken weit mehr Daten erhoben und gespei- tigt, wenn Innenminister Kanther das Ausländerzen- chert als über Deutsche. Symptomatisch ist die Praxis tralregister ausdrücklich als „Fahndungsdatei", als der Verwaltungsbehörden, von Ausländervereinen wichtiges Mittel zur „schnellen Rückführung von ausgefüllte Anmelde- und Auskunftsformulare auto- abgelehnten Asylbewerbern" preist. Er spricht offen matisch an die Landeskriminalämter weiterzureichen,-sichtlich von einem ganz anderen Ausländerzentral- oder die Praxis deutscher Gerichte, Strafregistermel- register als die Datenschützer, wenn er „schnelle dungen auch von geringfügig verurteilten Auslän- Identifizierung" und die „erleichterte Entscheidung dern quer durch Europa und auch an die Botschaften zur Abschiebung" für Polizei, Ausländerbehörden der Herkunftsländer zu schicken, worauf bei Rück- und Grenzdienststellen lobt, die damit möglich werde. kehr handfeste Repressionen gestützt werden. Daß mittels Gruppenauskünfte auch die ethnische Variante der Rasterfahndung programmiert ist, Daß im Ausländerzentralregister Entscheidungen scheint nicht einmal Sie, Frau Schmalz-Jacobsen, als der Ausländer- und Visabehörden nicht nur der Tat- Ausländerbeauftragte gestört zu haben. In einem sache, sondern auch ihrem genauen Inhalt nach dem Atemzug sozusagen legen Sie Ihren Be richt zur Lage 18486* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 der Ausländer vor mit all den alltäglichen Diskrimi- Maßnahmen gegen die be treffenden Personen zu nierungen, und gleichzeitig prangt auf dem AZR ergreifen, sofern sie sich bereits im Land aufhalten. Gesetzentwurf Ihr eigener Name. Das Ausländerzentralregister ermöglicht eine Frau Schmalz-Jacobsen, wenn Sie und andere schnelle Identifizierung zum Nutzen derjenigen Aus- ernsthaft darauf hoffen, daß „Ausländer nicht daten länder, die z. B. wegen des Verlusts ihrer Reisedoku- schutzrechtliches Freiwild werden" sollen, wie Sie in mente darauf angewiesen sind. Es erleichtert aber den Medien heute verbreiten lassen, dann sollten Sie zugleich auch die Identifizierung von Personen, die dazu beitragen, daß Ihr eigener Entwurf schleunigst sich illegal in unserem Land aufhalten. Die Bundesre- im Papierkorb verschwindet. Unterstützung müßten publik Deutschland geht als freiheitlicher Rechtsstaat Sie eigentlich dafür bei Ihren Kollegen Hirsch und stets davon aus, daß ein ausreisepflichtiger Ausländer Lüder finden, die den Umgang der Sicherheitsbehör- — z. B. nach Ablehnung eines Asylantrags — auch den mit sensiblen Daten ja im Detail kennen. tatsächlich freiwillig ausreist. Leider sieht die Realität, wie wir alle wissen, anders aus: Viele Ausreisepflich- tige reisen nicht aus, sondern tauchen unter. Die dann Eduard Lindner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- gebotene konsequente Abschiebung setzt ein funktio- minister des Innern: Bei dem heute im Entwurf vorge- nierendes Informationssystem voraus. Mit dem Aus- legten Ausländerzentralregistergesetz h andelt es sich länderz entralregister ist diese Voraussetzung gege- um ein wichtiges Gesetzgebungsvorhaben. Ich ben. möchte diese Initiative für die Bundesregierung aus- Selbstverständlich muß das Ausländerzentralregi- drücklich begrüßen. Sie deckt sich mit dem Gesetz- stergesetz den schutzwürdigen Belangen der Betrof- entwurf, mit dem gestern das Bundeskabinett befaßt fenen Rechnung tragen. Der vorliegende Entwurf war. gewährleistet das. Er enthält die notwendigen daten- Das Ausländerzentralregistergesetz soll das seit schutzrechtlichen Vorschriften zum Schutz derjeni- 1953 im Bundesverwaltungsamt geführte Ausländer- gen, deren Daten in das Register gelangen. Er sichert zentralregister auf eine neue tragfähige Rechtsgrund- die Rechte auf Berichtigung, Sperrung und Löschung lage stellen. von Daten ebenso wie das Recht auf Erteilung von Auskünften über den Registerinhalt. Der Gesetzent- Der Gesetzentwurf regelt die Frage, aus welchem wurf trägt damit den Forderungen Rechnung, die das Anlaß welche öffentlichen Stellen welche- Daten an Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung die Registerbehörde zu übermitteln haben und wel- zum informationellen Selbstbestimmungsrecht an den che öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen welche Gesetzgeber gerichtet hat. Daten zur Erfüllung ihrer Aufgaben aus dem Register übermittelt bekommen. Die schon im Vorfeld gegen den Entwurf vorgetra- genen Einwendungen sind unbegründet. Dabei unterstützt das Ausländerzentralregister mit den dort verfügbaren Daten in erster Linie die mit der Die Anzahl der Daten, die in das Register gelangen, Durchführung ausländer- und asylrechtlicher Vor- ist keineswegs so groß, daß von einem „gläsernen schriften betrauten Behörden und andere öffentliche Ausländer" die Rede sein könnte. Auch der Vorwurf, Stellen. Dazu gehören insbesondere die Ausländerbe- hier entstehe eine „Verbunddatei" , hält näherer hörden und das Bundesamt für die Anerkennung Nachprüfung nicht stand. Der Entwurf weist mit der ausländischer Flüchtlinge, die beide auf schnell ver- Registerbehörde nur eine einzige speichernde Stelle fügbare Informationen aus dem Register angewiesen im Sinne des Bundendatenschutzgesetzes aus. Er läßt sind, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. es auch nicht zu, daß alle öffentlichen Stellen, die Daten übermitteln, auch alle verfügbaren Daten aus Daneben kommt dem Ausländerzentralregister dem Register erhalten. Vielmehr ist genau vorge- aber auch im Bereich der inneren Sicherheit eine schrieben, welche Daten die Registerbehörde an die wichtige Funktion zu. Eine ganze Reihe öffentlicher einzelnen Empfänger übermitteln darf. Stellen haben Daten an die Registerbehörde zu über- Der Gesetzentwurf wird also auch in soweit den an mitteln und benötigen Daten aus dem Register, um ihn zu stellenden Anforderungen gerecht. den Anforderungen an die innere Sicherheit, die mit ihrer Aufgabenstellung verbunden sind, gerecht wer- Ich kann nur wünschen, daß der Entwurf noch in den zu können. dieser Legislaturperiode als Gesetz verabschiedet wird. So ist es im Interesse einer präventiven Gefahrenab- wehr unbedingt erforderlich, Personen den Zugang zur Bundesrepublik Deutschl and zu verwehren, gegen deren Einreise ernsthafte Bedenken wegen eines begründeten Verdachts bezüglich bestimmter Anlage 4 Straftaten bestehen. Das Gesetz wird hier die dafür zuständigen Behörden, z. B. die ermittlungsführen- Zu Protokoll gegebene Reden den Polizeibehörden, die Grenzschutz- und Verfas- zu Tagesordnungspunkt 8 sungsschutzbehörden, verpflichten, diesbezügliche (Große Anfrage: Gefahrgutbeförderung Daten an die Registerbehörde zu übermitteln. Es setzt im zusammenwachsenden Europa) zugleich diese und andere Behörden — z. B. die deutschen Auslandsvertretungen, den Bundesgrenz- Dr. Margrit Wetzel (SPD): Gefährliche Stoffe sind schutz, das Bundeskriminalamt und die Staatsanwalt- Teil unserer arbeitsteiligen Wirtschaft. Sie sind allge- schaften — in die Lage, die Einreise zu versagen bzw. genwärtig und aus unserem täglichen Leben nicht Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18487* mehr wegzudenken. Chemische Industrie, Mineralöl bewahrt bzw. eingeführt werden; sie müssen für industrie einschließlich Handel weisen zusammenge- Unternehmen, Gefahrgutbeauftragte, Fahrer und nommen den größten Wertschöpfungsbeitrag zum Kontrollorgane nachvollziehbar und verständlich Sozialprodukt auf. Die Beschäftigungswirkungen sind sein; sie müssen durchsetzbar und kontrollierbar sein. beachtlich. 15% aller Frachtbewegungen — oder Vor allem brauchen wir endlich das Instrument stren- 400 Millionen Tonnen — sind Gefahrguttransporte. ger Sanktionen gegen Verstöße. Es reicht nicht aus, wenn die Regierung begrüßt, daß die europäische Kurz: Wir werden im zusammenwachsenden Harmonisierung auch für den innerstaatlichen Ge- Europa, dem Europa der offenen Grenzen, der offenen fahrgutverkehr gelten soll. Der Ende 1993 vorgelegte Märkte, aber auch der offenen Konkurrenz im Gefahr- Entwurf einer europäischen Harmonisierungsrichtli- gutbereich eine steigende Verkehrsleistung mit nie für den Straßentransport bestätigt unsere Sorge der erheblichem Wachstumspotential haben. Dazu vor einem Downcycling der Sicherheitsstandards. Der BDF: „In den durch Liberalisierung bei Preisen und Richtlinienentwurf kennt Verstöße gegen Begrenzun- Kapazitäten vom Staat bewirkten, im wahrsten Sinne gen von Lenk- und Ruhezeiten ebensowenig wie des Wortes mörderischen Wettbewerb wird nicht nur Sanktionen. Rechtsunsicherheiten während der Um- eine Verlagerung von der Schiene auf die Straße setzungsphase in — unterschiedliches — nationales bewirkt, sondern auch das Gefahrenpotential im Stra- Recht sind jetzt schon abzusehen. Ein neues Arbeits- ßenverkehr erhöht — sei es durch Erhöhung des zeitrecht, das die Fahrer auf Wunsch der Regierungs- Durchschnittsalters der Fahrzeuge und durch fraktionen einem noch höheren Zeit-/Leistungsdruck ,Grenz'-Pflege und -Reparatur der Fahrzeuge, sei es aussetzt, bewirkt ganz bestimmt keinen Sicherheits- durch ,Selbstausbeutung' der Fahrer/Unternehmer." gewinn, sondern das Gegenteil, den Abbau von Äußerst bedenklich sind im übrigen die Schutzgeld- Sicherheit. zahlungen, die deutsche Fernfahrer in osteuropäi- schen Ländern leisten müssen. Ich erwarte, daß die Woher nehmen Sie eigentlich Ihren Optimismus, Bundesregierung die Sorgen des BDF, der gerade auf daß der Leistungsaspekt und das Sicherheitsbewußt- diese Mißstände hingewiesen hat, sehr ernst nimmt sein der Unternehmer beim Gefahrguttransport stär- und sofort etwas dagegen unternimmt. ker seien als die Versuchung günstiger Beförderungs- entgelte durch z. B. osteuropäische Billiganbieter Eine absolute Sicherheit vor Gefahrgutunfällen oder westeuropäische Kabotagefahrer? Der Fuhrun- wird es nie geben. Wir müssen also alles- tun, um ternehmer, der bei dem derzeitigen existenzgefähr- Unfälle trotz dieses wachsenden Gefährdungspotenti- denden Unterbietungswettbewerb freiwillig in Quali- als zu vermeiden und Schäden so gering wie möglich tätssicherung oder zusätzliche Sicherheit investiert, zu halten. muß wohl erst noch gebacken werden. Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Die Attraktivität des LKW für Gefahrguttransporte Anfrage „Gefahrgutbeförderung im zusammenwach- ist ungebrochen. Die hohen Wachstumsraten bestäti- senden Europa" gibt einen Überblick über den Ist gen leider den Mißerfolg der Versuche, nennenswerte Zustand erzielter Erfolge, aber auch noch vorhandene Gütermengen auf das Binnenschiff und die Schiene zu Defizite im gesamten Spektrum des Gefahrguttrans- verlagern. Gegen fehlende Umschlagskapazitäten portes und hilft uns sehr, geeignete Handlungsstrate- und die ökonomischen Belastungen des gebrochenen gien für die notwendigen Veränderungen nach der Verkehrs -- auch durch lange Anmelde- und Warte- Regierungsübernahme im Herbst dieses Jahres vorzu- zeiten auf bestimmten Relationen, z. B. im Ostseever- bereiten. Auch die Übernahme der EU-Präsident- kehr — stehen hohe, billige LKW-Kapazitäten und schaft durch Sozialdemokraten nach der halben Amts- ausgefeilte Logistik, gegen die Schließung gleisver- zeit kann auf dieser Grundlage reibungsloser vollzo- sorgter Großtanklager und die strukturelle Entwick- gen werden. lung der chemischen Indust rie z. B. in den neuen In diesem Sinne: Noch einmal meinen herzlichen Ländern dürfte schwerlich ein Bahnkraut gewachsen Dank an die Vertreter des BMV für diese gründliche sein. Eine nur theore tische Verlagerungsdiskussion Arbeit. bringt noch lange keinen Sicherheitsgewinn. Das derzeitige Gefahrgutregelwerk umfaßt wohl Deshalb müssen wir uns mit dem Umfeld des mehr als 6 kg gesetzlicher Grundlagen; eine selbst von Gefahrguttransportes vorrangig auf der Straße befas- Fachleuten kaum noch zu überblickende Vielfalt sen. nationaler, europäischer und internationaler Gesetze, Da ist zuallererst der Bet rieb, in dem die Be- oder Vorschriften, Verordnungen, Richtlinien und Empfeh- Entladung, das Stauen und Sichern der Ware erfolgt. lungen, die nicht nur außerordentlich komplex und Nur gut ausgebildete, sich der potentiellen Gefahren mehrfach verschachtelt sind, sondern je nach Ver- bewußte Mitarbeiter, die auch angemessen bezahlt kehrsträger auch noch erheblich voneinander abwei- werden müssen, die einschlägig beraten werden, chen können. Klassifiziertes Gefahrgut auf der Straße können präventiv für sichere Ladung sorgen. Es ist in kann im gebrochenen Verkehr auf dem Binnenschiff höchstem Maße bedauerlich, daß vorsorgliche Be- plötzlich seinen Status verlieren und umgekehrt. triebskontrollen, die vor allem einen beratenden Cha- Schon um eine fahrlässige oder sogar vorsätzliche rakter haben sollen, bislang nicht durchsetzbar waren. Umgehung dieser Rechtsgrundlagen zu verhindern, Die Schnittstelle „Betrieb" als absoluter Schwach- brauchen wir eine internationale verkehrsträgerüber- punkt der Überwachung enthält deutlich zusätzliches greifende Vereinfachung und Entrümpelung des Sicherheitspotential. Gefahrgutrechtes. Dabei müssen effektive, strenge Interessant übrigens, daß die Bundesregierung und weitgehende Präventionsvorschriften EU-weit zwar auf die beiden abgestimmten Containerkontrol- 18488* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 len in den nordwesteuropäischen Häfen hinweist, andere Fehler beim Fahrzeugführer aus, über deren aber kein Wort über deren Ergebnisse verliert: Eine Ursachen keine näheren Angaben gemacht werden Beanstandungsquote von 50 % wegen falscher können. 9 % der Unfälle sind auf technische Mängel Ladungssicherung in den Containern ist in höchstem zurückzuführen. Unterbietungswettbewerb, unver- Maße bedenklich und gefährlich. Kein Wunder, wenn antwortliches Management, gefährliche Tourenpla- das Stauen aus den Häfen herausverlagert wird, weil nung, Streß, Zeitdruck, Verstöße gegen Begrenzung Unternehmer die Hafenarbeitertarife nicht zahlen von Lenk- und Ruhezeiten bilden einen Teufels- wollen — so liegt der Anfang des möglichen gefährli- kreis. chen Unfalls vielleicht schon am Beginn einer ganz Der technische Fortschritt könnte diesen negativen normalen Ladungskette durch falsches Stauen, fal- Regelkreis brechen, wenn wir den Einbau elektroni- sches Sichern oder gar falscher Deklaration der scher, manipulationssicherer Kontrollgeräte mit Fah- Inhalte. Da nützt, das nur am Rande, der nach dem rer-Chip-Karten verbindlich vorschreiben. GPS ist für „Sherbro"-Unfall erfolgte Aufschrei aller Verkehrs- Schiffe kein technischer Luxus, sondern die Zukunfts- minister nach einer Meldepflicht für Schiffe mit technologie — warum nicht auch für LKW. Eine Gefahrgut im Transit herzlich wenig: Die Leute, die Technik, die dem Fahrer Verstöße urmanipulierbar zukünftig rund um die Uhr damit beschäftigt werden, nachweist und zugleich die Logistik der Unternehmen jene 80 % aller Containerschiffe, die irgendwelche deutlich verbessert, müßte doch eigentlich so schnell Gefahrgüter an Bord haben, zu notieren, wären ver- wie möglich eingeführt werden. Aber: Im Telematik- mutlich bei konkreten Ladekontrollen in den Häfen Programm des BMV ist nichts darüber zu finden. Die sicherheitswirksamer eingesetzt. Bedeutung der Telematik für die Schiffahrt hat der Zurück zum Betrieb. Zur Funktion des Gefahrgut- Minister übrigens vollständig vergessen. Auch daran beauftragten: Ein erster, noch viel zu zaghafter Schritt, wird deutlich, daß es Zeit wird für einen Regierungs- der mit der Umsetzung durch die Betriebe steht und wechsel. fällt. Die Schulung der GBA enthält noch keine Wenn Unfallursachen tatsächlich in mangelnden Qualitätssicherung: Wer stellt eigentlich die fachliche Fertigkeiten, Unerfahrenheit und unangemessener Eignung der Schulungsinstitute fest? Wer glaubt denn Risikoakzeptanz der Fahrer vermutet werden, sollten wirklich, daß aus Laien binnen dreier Schulungstage wir prüfen, warum die Ausbildung als Gefahrgutfah- erfolgreiche Gefahrgutexperten werden — wenn rer immer noch vom Fahrer selbst bezahlt wird. Ist bloße Anwesenheit reicht und eine Leistungskontrolle fachliche Eignung wirklich in einem Kurs binnen oder eine Prüfung nach wie vor nicht vorgeschrieben 46 Stunden zu erwerben? Warum setzen wir uns in ist. Hier lohnt eine nationale Vorreiterrolle, auch für Europa neben der Nachschulungsfrist von drei Jahren die Unternehmen. nicht auch für verbindliche Simulatorschulungen für Für den Betrieb des Fuhrunternehmers muß euro- Gefahrgutfahrer ein? Unfälle entstehen durch „Nor- paweit der Marktzugang gründlich korrigiert werden: malverhalten", will heißen „normale Fehler" unter Fachliche Eignung, solide finanzielle Ausstattung und Zeitdruck und Übermüdung. Simulatortraining persönliche Zuverlässigkeit des Fuhrunternehmers, schafft Sicherheit, trainiert Fahrpraxis, die Früherken- keine Leiharbeitnehmer, keine Werkverträge, Über- nung und Bewältigung von Konfliktsituationen und nahme qualifizierter Fahrerschulung sollten Mindest- baut Streß ab. Permanentes Bewußtsein der Fahrer für voraussetzungen sein. Unfälle und Normenverstöße ihre Verantwortung und hohe Qualifikation schaffen gegen die Rechtsvorschriften müssen Sanktionen mehr Sicherheit. auch für die Versender bzw. Verlader nach sich An dieser Stelle sei ein kurzer Verweis auf entspre- ziehen: Kontrollen der Tourenplanung, Punkte in chende Verbesserungsmöglichkeiten auch im Omni- einem Gewerbezentralregister auch für ausländische busreiseverkehr erlaubt: Die Beförderung von Men- Unternehmer mindern die Risiken. Sicherheitsvor- schen sollte uns nicht weniger wichtig sein als die von sorge würde damit zur Positiv-Werbung für Fuhrun- Gefahrgut. ternehmer. Werfen wir noch einen Blick auf die Kontrolle und Technik am Fahrzeug ist typische Männertechnik Überwachung der Gefahrguttransporte: Die BAG — in einer in Westeuropa nach wie vor von Männern kontrolliert noch nicht einmal 0,1 % aller Transpo rte, beherrschten Politik —, also — zugegeben — fort- führt keine Statistik über Verstöße gegen Sozialvor- schrittlich: Blockierverhinderung, Dauerbremsein- schriften und darf keine Prüfung der technischen richtung, automatische Bremsennachstellung, techni- Bestimmungen der StVZO vornehmen. Die Gewerbe- sche Geschwindigkeitsbegrenzer waren kein Durch- aufsichtsämter setzen bundesweit ganze 120 Beamte setzungsproblem für die Herren der politischen für die Kontrolle und Beratung in den Unternehmen Schöpfung. ein. Präventivwirkung ist weder davon noch von den Aber wenn es um Menschen geht, sieht die Sache 1 200 Beamten, die Straßenkontrollen durchführen, zu mit dem technischen Fortschritt schon anders aus: Die erwarten. Jeder sechste kontrollierte LKW wird be an Fahrzeugführer sind zu ca. 70 % Hauptverursacher -standet, mehr als 40 % wegen Verstößen gegen die von Gefahrgutunfällen — 84 % aller Schiffsunfälle Sozialvorschriften, auffallend viele wegen Fehlern sind auf menschliches Versagen zurückzuführen —; beim Laden, Handhaben und Deklarieren des Gefahr- die personenbezogenen Fehler sind dabei zu fast 50 % gutes. falsche Geschwindigkeit, Abst ands- und Vorfahrts- Dennoch ist die Kontrollqualität in der Bundesrepu- fehler. blik im Vergleich mit anderen europäischen Ländern Die Statistik bei Gefahrguttankfahrzeugen weist schon beachtlich; es wird schwer werden, eine ver- sogar zu 70 % Geschwindigkeitsübertretungen und gleichbare Mindestkontrolldichte überhaupt europa- Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18489' weit durchzusetzen. Gerade deshalb aber sind S ank- Erstens. Die Verkehrssicherheit muß gesteigert tions- und Zurückweisungsmöglichkeiten für Trans- werden. porte mit schweren Mängeln unverzichtbar. Zweitens. Nationale und Internationale Gesetzge- Bei den Kontrollorganen wäre ebenfalls noch ein bung müssen das Vorsorgeprinzip in den Vorder- Sicherheitsgewinn erzielbar: Das beste verkehrsträ- grund stellen. Erhaltung und Sicherung der Umwelt gerübergreifende Informations- und Meldesystem, ist dabei ebenfalls ein vorrangiges Ziel. Von besonde- die ausführlichste Weiterentwicklung einheitlicher rer Bedeutung ist dabei europäische und internatio- Klassifikations- und Kennzeichnungspflichten, eine nale Zusammenarbeit. Es muß versucht werden, den perfekte Datenübermittlung nützen wenig, wenn bei hohen deutschen Sicherheitsstandard zur allgemei- Kontrollen in zunehmendem Maße unsachgemäßer nen Norm werden zu lassen, dies wegen der zu Umgang mit der Klassifizierung von Gefahrstoffen schützenden Güter, aber auch um Wettbewerbsver- bemängelt wird. Kontrolleure müßten zielgerichtet zerrungen zu vermeiden. Unterschiedliche Standards auf diesen Problembereich vorbereitet werden: durch führen zu unterschiedlichen Kostenbelastungen und eindeutige Rechtsgrundlagen, durch ein entsprechen- geben damit Wettbewerbsvorteile, die im Endeffekt des technisches Equipment und eine gute Ausbil- dazu führen, daß unter niedrigerem Sicherheitsstan- dung. dard eher mehr als weniger transportiert wird. Auf Grund der hohen Fluktuation zwischen den Einige Einzelanmerkungen: Dienstzweigen der Polizei sollten wir die Bildung Erstens. Im Bereich der Harmonisierung von Einstu- sogenannter Gefahrgutkontrolltrupps, wie sie von fungs- und Kennzeichnungsvorschriften gibt es Fo rt einigen Bundesländern bereits gebildet werden, anre- -schritte. Schwieriger sind die Einstufungssysteme im gen. Das erhöht vor allem die Motivation der Beamten, Gefahrgut und Gefahrstoffrecht. stärkt die Leistung und das Leistungsbewußtsein — dann haben die Leute auch Freude an der Arbeit. Zweitens. Aus Gründen der Sicherheit und Wettbe- werbsgleichheit kommt harmonisierten Kon trollen Unfälle entstehen zumeist nicht durch direkte Kau- eine besondere Bedeutung zu. Es ist bedauerlich, daß salität zum Gefahrgut. Wenn sie geschehen, tritt der die sonst so regelungswütige EG-Kommission hier größte Schaden immer noch durch gefährliche Flüs- noch keine Vorschläge unterbreitet hat. sigprodukte ein, vor allem an Boden und Gewässern; Grundwasserkontaminationen werden per se als nicht Drittens. Die Bundesregierung hat zahlreiche Maß- sanierungsfähig eingestuft. Die absolute Zahl der nahmen ergriffen, um beim Gefahrguttransport den Unfälle sinkt zwar, aber die Schadensschwere nimmt Anteil der auf der Schiene und den Binnenschiffen zu. 470 000 DM be tragen die durchschnittlichen transportierten Gefahrgütern zu steigern. Dies hat Kosten jedes Gefahrgutunfalls. Wir müssen also alles Grenzen: Nach dem Herborn-Unfall 1987 gab es daran setzen, gefährliche Transporte zu vermeiden: Umfragen im Bereich der Mineralölwirtschaft. Ergeb- durch eine entsprechende Fertigungstiefe der Pro- nis: Mehr als 80 % aller Benzintransporte werden im dukte, durch harmonisierte Umweltstandards, die Entfernungsbereich bis 100 km abgewickelt. Hier ist unnötige Nord-Süd-Transporte zur Weiterverarbei- auch die Kooperation der Mineralölwirtschaft unter- tung von Grundstoffen verhindern, durch intelligente einander deutlich verstärkt worden. Nutzung von Pipelinesystemen oder z. B. durch die konsequente Konzeption von Großtanklagern für die Viertens. Überwachungsmaßnahmen sind ein wirk- sames Mittel zur Verringerung der Verstöße gegen Tankstellenversorgung — zwei D rittel aller Gefahr- guttransporte erfolgen im Nahbereich unter 100 km. Gefahrgutvorschriften. Fahrzeuge mit gefährlichen Großtanklager können technisch besser ausgestattet Gütern werden durch die zuständigen Behörden der sein, haben eine professionelle Leitung und können Bundesländer kontrolliert. Ferner überwacht die Bun- desanstalt für den Güterfernverkehr im Rahmen ihrer effizienter überwacht werden. Straßenkontrollen die Einhaltung der Rechtsvorschrif- Diese Zusammenfassung hat, so hoffe ich, den ten für die Beförderung gefährlicher Güter. Eine dringenden strukturellen Handlungsbedarf aufge- Überprüfung der Gefahrgutsendungen von Vertrags- zeigt. Wir haben im Gefahrgutbereich leider immer bahnen des RID durch die Deutsche Bundesbahn noch viel zu tun. Packen wir es also an! Der Regie- findet statt: stichprobenweise im Rahmen der behörd- rungswechsel macht in jeder Hinsicht Sinn. lichen Überwachung nach § 8 Abs. 1 Gefahrgutver- ordnung Schiene, im Verdachtsfalle nach § 8 Abs. 2 GGVE. Michael Jung (Limburg) (CDU/CSU): Die Vollen- dung des EG-Binnenmarktes zum 1. Januar 1993 Besonders erwähnenswert sind auch die abge- sowie die Wiedervereinigung Deutschlands und die stimmten Container-Kontrollen in den nordwesteuro- Öffnung der Grenzen der mittel- und osteuropäischen päischen Häfen, die bisher zweimal durchgeführt Staaten haben neue politische Rahmenbedingungen worden sind. gesetzt. Der ohnehin immer wachsende Verkehrs- Von großer Bedeutung sind auch Überwachungs- markt hat damit eine neue Dimension erfahren. maßnahmen, die in den Bet rieben bereits vor Beginn Deutschland ist als größtes Transitland in Europa der eigentlichen Beförderung im Zusammenhang mit davon besonders be troffen. den sog. vorbereitenden Handlungen z. B. Kennzeich- Nach allen Untersuchungen wird der Güterverkehr nung, Verpackung, Be- und Entladevorgang, La- in besonderem Umfange zunehmen. Dies gilt dann dungssicherung ansetzen. In diesem Zusammenhang auch für den Teilmarkt der Gefahrguttransporte. Was stellen Aufklärung und verstärkte Informationen für folgt aus dieser Analyse? die am Gefahrguttransport Beteiligten eine wertvolle 18490* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Hilfe dar, um Verstöße gegen Sicherheitsvorschriften besonders gefährlichen Stoffe grundsätzlich per Bahn zu vermeiden. oder Binnenschiff zu transportieren sind. Insoweit kommt dem Straßentransport im wesentlichen eine Fünftens. Die Gefahrgutbeauftragtenverordnung Zubringerfunktion zu. Es gibt aber eine wichtige hat zu einer Verbesserung der Akzeptanz und Befol- Ausnahme, welche die Mineralölwirtschaft betrifft. gung der komplexen Gefahrgutvorschriften geführt. Die Mineralölwirtschaft hat jedoch aus eigenem Die Sicherheitsbedeutung der Gefahrgutvorschriften Antrieb durch sinnvolle Kooperation sichergestellt, ist durch Schulung der Gefahrgutbeauftragten, beauf- daß Transporte über 100 km Entfernung eher die tragten Personen und sonstigen verantwortlichen Per- Ausnahme darstellen. Die Bundesregierung hat in sonen erheblich gesteigert worden. Wichtig ist ein ihrer Antwort zu Recht aber auch auf die durch das Zusammenwirken der verschiedensten Maßnahmen: Kartellrecht vorgegebenen Grenzen der Vermei- bessere Schulung, Eigenverantwortlichkeit der hier dungsmöglichkeiten bei den Mineralöltransporten Tätigen, stärkere Kontrollen, gesetzgeberische Maß- hingewiesen. nahmen, Angleichung unterschiedlicher Rechtsvor- schriften und gleiche Standards. Deutschland braucht Nach neueren Erkenntnissen erscheint es mir aber sich mit seinen Maßnahmen hier nicht zu verstecken, fraglich, ob die einseitige Verdammung des Straßen- auch wenn sie noch verbessert werden müssen. transports noch gerechtfertigt ist. Das Statistische Bundesamt hat schon 1991 — Pressemitteilung Horst Friedrich (F.D.P.): Mit der heutigen Ausspra- Nr. 379/91 — einen interessanten Sicherheitsver- che zur Großen Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion gleich zwischen den sog. Landverkehrsträgern vorge- über die Situation der Gefahrgutbeförderung im nommen. Dabei wurden die Tonnagen, Arbeitstage zusammenwachsenden Europa bietet sich eine gute und Frachtkilometer ins Verhältnis zur Zahl der Gelegenheit, eine Situationsanalyse dieses sensiblen Unfälle gesetzt, mit dem für viele überraschenden Bereichs der Verkehrspolitik vorzunehmen. Ergebnis, daß Lkw und Binnenschiff fast gleichauf, die Bahn jedoch deutlich dahinter lag. Gefahrguttransport hat in Deutschland bereits eine sehr lange Tradition. Beispielhaft möchte ich daher Damit keine Mißverständnisse entstehen; es geht einen Passus aus der sog. Mainzer Akte von 1831 mir keineswegs darum, die Bahn herabzusetzen, die zitieren: auch nach Vorstellungen der F.D.P., durch die Bahn- Schieszpulver soll mit besonderen Fahrzeugen- reform gestärkt, eine wich tigere Rolle im Transport- geführt und niemals unter andere Güter verladen wesen wahrnehmen soll. Mir geht es aber um eine werden. Schiffe, die damit beladen sind, bleiben, objektivere Be trachtung des Gefahrguttransports. so viel es sich thun läszt, von dem Ufer entfernt und wenn sie, entweder um ausgeladen zu wer- Offene Grenzen und freier Warenaustausch sind bei den, oder weil sie aus einer anderen Ursache die aller Freude auch mit erheblichen Belastungen für Reise nicht gleich fortsetzen können, vor Anker Mensch und Natur verbunden. Diese werden von den liegen, wird die Polizeibehörde des zunächst Menschen schon lange nicht mehr klaglos hingenom- gelegenen Ortes davon benachrichtigt. Diese men, wie zuletzt die Volksabstimmung in der Schweiz bestimmt, was die öffentliche Sicherheit etwa und die Haltung Österreichs bei den EU-Beitrittsver- noch erheischen mag, und der Schiffspatron oder handlungen deutlich gemacht haben. In gleicher Führer hat die ihm gegebene Vorschrift zu befol- Weise leiden aber auch unsere Bürger unter den gen; alles bei der im Artikel 64 ausgedrückten Verkehrslasten, und sie machen ihrem Unmut zuneh- Strafe, worauf von dem Rheinzollrichter erkannt mend Luft. wird. Dies bedeutet für die Politik des europäischen Sie entnehmen daraus, daß sich die Menschen bereits Transitlands Nr. 1, daß wir die Gefährdungen und vor über 160 Jahren mit den Fragen der Transportsi- Belastungen für Mensch und Natur deutlich reduzie- cherheit, der Kontrolle und der Ahndung von Verstö- ren müssen. Es bedeutet aber auch für uns als Politi- ßen beim Gefahrguttransport beschäftigt haben. ker, daß wir den Menschen ehrlich sagen müssen, daß Dennoch spielte in Deutschland die Sicherheit beim der notwendige Warenaustausch in einer Industriege- Gefahrguttransport im öffentlichen Bewußtsein eine sellschaft ohne gewisse Belastungen und Risiken auch eher untergeordnete Rolle. Dies hat sich jedoch seit künftig nicht zu organisieren sein wird. dem tragischen Unfall von Herborn im Jahre 1987 Um die Lasten für die Bevölkerung und die Gefah- grundlegend verändert. Mit einem Schlag wurde ren für die Umwelt jedoch wirksam zu reduzieren, vielen Menschen bewußt, welchen Gefahren sie müssen die Schwachstellen unseres Verkehrsnetzes durch die Vielzahl der Gefahrguttransporte in der möglichst zügig verbessert werden. Dazu hat die Bundesrepublik Deutschland ausgesetzt sind. Die Koalition am 30. Juni 1993, gegen den Widerstand der Besorgnis und die Verängstigung der Bevölkerung Opposition, den ersten gesamtdeutschen Bundesver- blieb natürlich nicht ohne Folgen auf die Politik. kehrswegeplan verabschiedet. Damit ist es möglich, Zahlreiche neue Reglementierungen bzw. die Ver- das Straßennetz vor allem in Ost-West-Richtung aus- schärfung bestehender Verordnungen wurden vorge- zubauen; gleichzeitig werden aber auch mit deutlich nommen. erhöhten Mitteln das Schienennetz und die Binnen- Die Politik hatte die Problema tik der Gefahrgut wasserstraßen grundlegend ausgebaut und saniert. transporte bereits lange vor Herborn aufgegriffen. Bedauerlicherweise treffen aber auch diese Planun- Bereits seit 1970 gilt der Anhang B.8 der Gefahrgut- gen auf den Widerstand einiger Parteien und Umwelt- verordnung Straße, wonach die in Liste I aufgeführten verbände. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18491'

Die Verkehrsintegration in Europa macht die die wir aber im Interesse unserer aller Sicherheit Anpassung der Sicherheitsstandards erforderlich. aufwenden sollten. Diese werden beim Gefahrguttransport durch das Übereinkommen über die inte rnationale Beförderung Die F.D.P.-Bundestagsfraktion unterstützt alle In- gefährlicher Güter auf der Straße — ADR — bestimmt. itiativen der Bundesregierung zur Erreichung der Diesem Sicherheitsabkommen sind aber noch nicht europäischen Harmonisierung. Ich weiß jedoch, daß alle Staaten, insbesondere nicht aus Osteuropa, ange- derartige Abstimmungsprozesse schwierig und lang- schlossen. Hier ist aus unserer Sicht der rasche wierig sind. Um so wichtiger ist in der Zwischenzeit Abschluß bilateraler Abkommen anzustreben. die Kontrolle durch die Polizei. Daher möchte ich die Gelegenheit heute nutzen, auch an die Innenminister Die besten Übereinkommen nutzen jedoch wenig, der sozialdemokratisch regierten Bundesländer zu wenn Kontrolle und Überwachung nicht entspre- appellieren, die Kontrollanstrengungen beim Gefahr- chend ausgestaltet sind. Diese Kontrolle obliegt in guttransport zu erhöhen. Deutschland den Bundesländern, die leider nicht alle mit dem notwendigen Engagement tätig werden. Daneben führt auch die Bundesanstalt für den Manfred Carstens, Parl. Staatssekretär beim Bun- Güterfernverkehr — BAG — Kontrollen durch, die desminister für Verkehr: Die Unfälle beim Gefahrgut nach dem Wegfall der Grenzkontrollen im EU transport in den letzten Monaten haben bestätigt: Binnenmarkt erheblich an Bedeutung gewonnen Sicherheit und Umweltschutz in der Gefahrgutbeför- haben. 1991 und 1992 hat die BAG ca. 60 000 Fahr- derung sind für Politik und Wirtschaft eine ständige zeuge, davon ein gutes Drittel Ausländer, kontrolliert. Herausforderung. Einen absoluten Schutz vor Unfäl- Im Ergebnis lag die Beanstandungsquote bei deut- len im allgemeinen und vor Gefahrgutunfällen im schen Fahrzeugen bei 5,1 % und bei Ausländern bei besonderen kann es nicht geben. 7,3 %; beide erfreulicherweise mit abnehmender Ten- Um so mehr muß gelten: Zu einer Politik der denz. Verkehrssicherheit und der umweltgerechten Gestal- Bei den Unfallursachen stehen jedoch keineswegs tung des Verkehrs gibt es keine Alternative. technische Mängel, sondern nicht angepaßte Ge- schwindigkeit und Fehler beim Fahrzeugführer Die Containerverluste des Motorschiffs „Sherbro" haben gezeigt: Der politische Wille in Europa, Rege obenan. Darum steht der Fahrzeugführer in- Deutsch- land auch unter stärkerer Kon trolle, als es die ADR lungs- und Vollzugsdefizite abzustellen, ist gegeben. vorschreibt. Nach der Gefahrgutverordnung Straße Die vom Unfall betroffenen Staaten haben durch beträgt der Schulungsrhythmus bei uns beispiels- gemeinsames Handeln ihre Entschlossenheit gezeigt, weise drei Jahre, nach der ADR aber lediglich fünf den Kurs der Vorsorge konsequent fortzusetzen. Jahre. Das deutsche Transportgewerbe sieht darin Hier bleibt noch viel zu tun. Der Bundesminister für eine Wettbewerbsverzerrung, ein Vorwurf, der nicht Verkehr hat deshalb gemeinsam mit den Kollegen aus einfach von der Hand zu weisen ist. Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und Damit komme ich zum wichtigen Spannungsfeld Belgien ein Aktionsprogramm für die Verbesserung zwischen den notwendigen Sicherheitsbestimmun- der Sicherheit in der Seeschiffahrt veranlaßt. Es bein- gen und den Anforderungen im europäischen Wettbe- haltet: die völkerrechtlich verbindliche Einführung werb. Ich habe es schon in meiner Rede zum Tarifauf- des „Internationalen Codes" für die Beförderung hebungsgesetz angesprochen und wiederhole es gefährlicher Güter mit Seeschiffen; die Überprüfung heute erneut: Das Schicksal des deutschen Güter- der Vorschriften für die Sicherung von Containern mit frachtverkehrs, und dies gilt in gleicher Weise für die gefährlicher Ladung an Bord der Seeschiffe; gemein- Gefahrguttransportwirtschaft, steht und fällt mit der sam abgestimmte Kontrollaktionen in den Häfen hin- erfolgreichen Harmonisierung der Wettbewerbschan- sichtlich der Einhaltung der Gefahrgutvorschriften im cen in Europa. Dies bet rifft alle Bereiche von der Seeverkehr; die Änderung der Stauvorschriften für Lkw-Besteuerung, über die Mineralölsteuer und die Container mit verpackten Pestiziden mit dem Ziel, für Wegekostenbeteiligung bis hin zu Fragen des techni- diese Stoffe künftig nur noch die Stauung „unter schen Standards der Lkw und der Ausbildung der Deck" zuzulassen, und eine Initiative zur Einführung Fahrer. besonderer Schulungsanforderungen für Schiffsoffi- Durch die Schaffung vergleichbarer Wettbewerbs- ziere. bedingungen gilt es daher den Trend des „ Ausflag- Die jüngsten Unfälle sollten aber dennoch nicht den gens " beim deutschen Lkw-Gewerbe zu stoppen. Die Blick dafür verstellen, daß das Netz der Sicherheits- Harmonisierung der Standards erhält nicht nur vorschriften national wie international bereits eng Betriebe und damit Arbeitsplätze, sondern dient nicht geknüpft ist. Die Bundesregierung hat an bedeutsa- zuletzt der Verkehrssicherheit auf unseren Straßen. men Regelungen zum Schutz von Mensch und Dies hat gerade beim Gefahrguttransport herausra- Umwelt mitgewirkt: Gefährliche Güter dürfen nur in gende Bedeutung. bauartgeprüften und zugelassenen Verpackungen Um ein Maximum an Sicherheit zu gewährleisten, transportiert werden. Hinsichtlich der Fahrerausbil- bedarf es nicht einseitiger Vorleistungen, sondern wir dung wurden strengere Kriterien festgelegt. Der Ein- brauchen verbindliche internationale Regeln für alle satz von besonders ausgebildeten Gefahrgutbeauf- Transporteure und eine Erhöhung der Kontrolldichte. tragten in Unternehmen und Be trieben, die mit Dazu benötigen wir aber eine deutliche Verbesserung gefährlichen Gütern umgehen, wurde beschlossen. der personellen und technischen Ausstattung bei der Diesbezüglich wäre es wichtig, daß eine entspre- Polizei. Dies wird erhebliche Finanzmittel erfordern, chende Regelung auch EU-weit eingeführt wird. 18492* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Die Betriebssicherheit der Verkehrsmittel wurde etwa 600 000 Straßenkontrollen durchführen. Außer- durch eine Vielzahl von zusätzlichen technischen dem werden wir sicherstellen, daß abgestimmte Anforderungen verbessert, so z. B. durch die Ausrü- Kontrollen beiderseits von Binnengrenzen im Rah- stung der Lkws mit automatischem Blockierverhinde- men der regionalen Zusammenarbeit durchgeführt rer „ABV", durch eine Dauerbremseinrichtung sowie werden. durch Geschwindigkeitsbegrenzer. Auch die Länder sind aufgefordert, ihre Anstren- Mit diesem Maßnahmenbündel wurde die Sicher- gungen im Überwachungsbereich zu verstärken, und heit entscheidend verbessert. zwar sowohl im Rahmen allgemeiner Verkehrskon- Derzeit stehen weitere wichtige Initiativen der trollen oder mit speziellen Gefahrgutkontrolltrupps Europäischen Kommission für den Gefahrgutbereich als auch zunehmend durch Kontrollen in Betrieben zur Behandlung im Deutschen Bundestag und im vor Beginn der Transportkette. Bundesrat an. Die Unternehmen und Betriebe leisten auch selbst Ich nenne hier insbesondere den Vorschlag der erhebliche Anstrengungen, um die Sicherheit zu Kommission für eine Richtlinie zur Angleichung der gewährleisten. Oft gehen ihre Bemühungen gar über Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für den Ge- die gesetzlichen Anforderungen hinaus. Das gilt z. B. fahrguttransport auf der Straße. für die Einführung von Qualitätssicherungssyste- Angesichts der zunehmenden Gefahrguttransporte men. über die Grenzen hinweg ist eine Übereinstimmung der Rechtsvorschriften für den Binnenverkehr und Alle am Gefahrguttransport Beteiligten sind aufge- den internationalen Verkehr ein besonderes Anlie- rufen, in diesem sensiblen Bereich alles zu unterneh- gen. men, um sicherheits- und umweltgerechtem Verhal- ten zum Durchbruch zu verhelfen. Die Bundesregierung begrüßt deshalb grundsätz- lich den Vorschlag der Kommission, das im Rahmen Qualifikation in Verbindung mit hohem Verantwor- der UN-Wirtschaftskommission für Europa erarbeitete tungsbewußtsein für die Risiken des Gefahrguttrans- „Europäische Übereinkommen über die internatio- ports: Das ist das beste Kapital und der wich tigste nale Beförderung gefährlicher Güter auf der Straße „ Produktionsfaktor für unsere Unternehmen und in das Gemeinschaftsrecht zu überführen. Betriebe. Allerdings sollte den Mitgliedstaaten ein gewisser Spielraum erhalten bleiben, so z. B. Sofortmaßnah- Sicherheit und Umweltschutz sind für die Bundes- men einzuführen, wenn sich die bestehenden Sicher- regierung ein vorrangiges Anliegen, denn im Zentrum heitsvorschriften als unzureichend erweisen, oder der Verkehrspolitik steht der Mensch. Seinem Schutz auch in bestimmten Einzelfällen na tionale Ausnah- und der Erhaltung der Schöpfung gilt auch in einem men zuzulassen. zusammenwachsenden Europa unser ganzes Engage- ment. Darüber hinaus sollte die Richtlinie den Mitglied- staaten gestatten, na tionale Vorschriften für den Transport besonders gefährlicher Güter zu erlassen. In Deutschland werden solche Transporte unter bestimmten Voraussetzungen auf die Bahn oder Bin- nenschiffe verlagert. Diese Regelung trägt dazu bei, daß die sicheren und umweltfreundlichen Verkehrs- träger gestärkt werden. Dennoch muß bei nicht ver- Anlage 5 meidbaren Straßentransporten der Fahrweg vorge- schrieben werden können. Zu Protokoll gegebene Reden zu Tagesordnungspunkt 9 Von besonderer verkehrspolitischer Bedeutung ist (Große Anfrage: Lage der Kommunen ein weiterer Richtlinienvorschlag der Kommission, der in der Bundesrepublik Deutschland darauf abzielt, die Gefahrgutkontrollen auf der Straße unter besonderer Beachtung der Situation zu vereinheitlichen und nach gemeinsamen Kriterien der Städte, Gemeinden und Landkreise durchzuführen. in den neuen Bundesländern) Die Öffnung der Grenzen, insbesondere nach Osten, erfordert geeignete Ersatzmaßnahmen. Der Anstoß für diesen europäischen Kommissionsvor- Dr. Dietmar Keller (PDS/Linke Liste): Die Bundesre- schlag ist vom Bundesministerium für Verkehr ausge- gierung trägt eine große Mitverantwortung für die gangen. rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen Wie wichtig Kontrollen aus Gründen der Verkehrs- zur Entwicklung und Stärkung der verfassungsrecht- sicherheit, des Umweltschutzes und der Wettbe- lich garantierten kommunalen Selbstverwaltung. Ihre werbsgleichheit sind, wissen wir alle — Bund und Antwort auf die Große Anfrage der Gruppe der Länder, Regierung und Opposi tion —: auf der Straße, PDS/Linke Liste über die Lage der Kommunen in der aber auch in den Betrieben, und zwar vor Abgang der Bundesrepublik Deutschland zeigt aber ein weiteres Mal, daß sie dieser Mitverantwortung nicht gerecht Transporte. wird. Der Bund wird seinen Teil an der Bewäl tigung dieser Aufgabe verantwortungsbewußt wahrnehmen. Gut elf Jahre Bonner Regierungskoalition haben zu So wird das Bundesamt für den Güterverkehr jährlich tiefen Einschnitten in das selbstbestimmte Handeln Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18493* der Städte, Gemeinden und Landkreise geführt. Der Es ist eine Regelung zur Abschöpfung des Zuwach- Fortbestand kommunaler Selbstverwaltung in der ses des Bodenwertes, der ohne besonderen Arbeits- Bundesrepublik Deutschland überhaupt ist gefährdet. und Kapitalaufwand des Eigentümers entstanden ist, Durch ihre Politik der zunehmenden rechtlichen und einzuführen. Die daraus resultierenden Einkünfte finanziellen Knebelung treibt die Bundesregierung sind den Städten und Gemeinden zur Sicherung einer die Kommunen in den sozialen und finanziellen Kol- aktiven Bodenpolitik mit dem Ziel der Mobilisierung laps. Im Ergebnis werden in einem bisher nicht von Bauland, insbesondere für den sozialen Woh- gekannten Ausmaß soziale und soziokulturelle Ein- nungsbau, zur Verfügung zu stellen. richtungen in den Kommunen geschlossen bzw. müs- Die Grundsteuer ist wegen ihres lokalen Bezugs sen ihren Betrieb stark einschränken. Rapide zurück- sowie der Konjunkturunabhängigkeit und Stetigkeit gefahren werden Investitionen in die kommunale der Einnahmen unbedingt als eine bedeutende kom- Infrastruktur bzw. den kommunalen Umweltschutz. munale Steuer zu erhalten. Die kumulativen Kreditmarktschulden der bundes- Es ist ein bedarfsgerechter kommunaler Finanzaus- deutschen Kommunen — ohne Altschulden — belie- gleich zu sichern, um das teilweise erhebliche Steuer- fen sich Ende 1993 bereits auf über 150 Milliarden DM kraftgefälle zwischen strukturschwachen und -star- und sollen in diesem Jahr um weitere mindestens ken Städten und Gemeinden weitgehend ausgleichen 15 Milliarden DM ansteigen. Mit Steuerrechtsände- zu können. rungen seit 1982 hat sich der Bund Mehreinnahmen von über 46 Milliarden DM zugeschanzt. Den Kom- Es ist eine langfristig ausgelegte Finanzpauschale munen wurden gleichzeitig Einnahmemöglichkeiten für die Städte, Gemeinden und Landkreise in Ost- von über 55 Milliarden DM entzogen. Die Gewerbe- deutschland einzuführen, über deren Verwendung steuer als eine grundlegende Quelle kommunaler die Kommunen eigenverantwortlich entscheiden kön- Eigenfinanzierung wurde von der Bundesregierung nen. Sie könnte 2000 DM je Einwohnerin/Einwohner auf Geheiß der großen Wirtschaftsverbände demo- und Jahr betragen. liert. Die PDS/Linke Liste verlangt weiterhin von der Bundesregierung, die Mehrbelastungen für die kom- Vehement hält die Bundesregierung an ihrer Wei- munalen Sozialhilfeetats infolge des teilweisen Rück- gerung fest, sich an den dramatisch gewachsenen zugs des Bundes aus der Arbeitslosenfinanzierung kommunalen Sozialhilfeetats zu beteiligen. Statt des- entsprechend finanziell auszugleichen. Die Kommu- sen bürdet sie den Kommunen durch Kürzungen des nen in Ostdeutschland müssen von der Bundesregie- Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfen sogar rung auch von den sogenannten Altschulden für zusätzliche Belastungen von jährlich 4 Mi lliarden DM gesellschaftliche Einrichtungen befreit werden. auf.

Im Jahr 1993 hatten die ostdeutschen Kommunen Rudolf Mein! (CDU/CSU): Ministerpräsident Lothar einen Anteil von nur 6 % an den Steuereinnahmen der de Maizière hat in seiner Regierungserklärung vom Kommunen in der Bundesrepublik. Dagegen war ihre 19. April 1990 vor der ersten frei gewählten Volks- Pro-Kopf-Neuverschuldung bereits viermal höher als kammer der Deutschen Demokratischen Republik die im Altbundesgebiet. Ihr ohnehin geringer finan- gesagt — ich zitiere —: tretbarer zieller Spielraum wird zusätzlich in unver Wir alle wissen, daß unser Neuanfang schwierig Weise durch sogenannte Altschulden in Höhe von fast ist. Ihn leicht zu nehmen wäre leichtfertig. Unsere 7 Milliarden DM für Kindereinrichtungen, Alten- Gesellschaft wurde gezwungen, 40 Jahre lang heime, Schulen und anderes begrenzt. von der Substanz zu leben, nicht nur materiell. Der von der Bundesregierung initiierte rigorose Wir haben Schäden auf vielen Gebieten und Verkauf von „Tafelsilber der Kommunen", zu dem einen großen Nachholbedarf. Und oft sind die Wohnungen, eigene Unternehmen, Grund und Boden Schäden derart, daß der Weg zu ihrer Heilung erst noch ausgearbeitet werden muß. bzw. Anteile an gewinnbringenden Betrieben der Industrie, der Banken und des Versicherungsgewer- Zweieinhalb Wochen später, am 6. Mai 1990, f an bes gehören, ist ein untauglicher Versuch für die -den die ersten freien Kommunalwahlen statt. Die Sanierung der Kommunalfinanzen und zugleich ein Einführung einer wirklich freien kommunalen Selbst- schwerwiegender Ang riff auf die kommunale Selbst- verwaltung war ein wichtiger Weg zur Heilung der verwaltung. Schäden, die der 40jährige reale Sozialismus bei seinem Zusammenbruch hinterlassen hatte. Seit der Die PDS/Linke Liste fordert die Bundesregierung ersten Kommunalwahl sind nun fast vier Jahre ver- auf, sofort eine umfassende Reform der Kommunalfi- gangen. Das ist ein geeigneter Zeitpunkt, um Bilanz nanzierung in Angriff zu nehmen, deren Hauptbe- zu ziehen. Dazu gehört: Alle neuen Bundesländer standteile sind: haben sich inzwischen eine eigenständige Kommu- nalverfassung gegeben. Hierzu gehört auch eine Die Gewerbesteuer ist zu revitalisieren, und die Gebietsreform in allen jungen Bundesländern, die Maßnahmen, die die Gewerbesteuer ausgehöhlt verwaltungsstarke Städte, Gemeinden und Kreise haben, sind zurückzunehmen. Die Gewerbekapital- schafft. steuer darf nicht abgeschafft werden. Zu dieser Bilanz gehört schließlich auch, daß nach Die Wirksamkeit des Anteils der Gemeinden an der bereits verabschiedetem Recht ab 1995 ein Landesfi- Einkommensteuer ist zu erhöhen. nanzausgleich gilt, in den die Städte, Gemeinden und 18494* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode -- 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Kreise einbezogen sind. Die Übergangsfinanzierung Verwaltungshilfe hat der Bund im Zeitraum von 1991 des Fonds „Deutsche Einheit" wird dann zu Ende bis 1994 rund 550 Millionen DM eingesetzt. Ich gehen. begrüße es aber auch, daß nun nach und nach mehr „gelernte DDR-Bürger" die Verantwortung und Diese — mehr rechtliche — Seite der Bilanz besagt: Arbeit übernehmen, denn nur wenn wir uns vor Ort Die freie und eigenverantwortliche kommunale selbst einbringen, wird die Umgestaltung gelingen. Selbstverwaltung ist zum gesicherten und tragfähigen Bestandteil eines in Stufen gegliederten, föderalen Es ist davon auszugehen, daß die p rivaten und Aufbaus der Bundesrepublik Deutschland gewor- öffentlichen Investitionen in den nächsten Jahren den. ansteigen und so die weitere Modernisierung der Infrastruktur und die Schaffung zusätzlicher Arbeits- In einer Broschüre der PDS heißt es in einer eigen- plätze beschleunigen. artigen Formulierung: „Die demokratische Kommu- nalautonomie wurde in den späteren Jahren der Das Vertrauen auf eine weitere Verbesserung in der Existenz der DDR immer mehr in den Hintergrund Zukunft ist also gerechtfertigt. Jedoch verschließe ich gedrängt." Und eine Zeile weiter: „Kommunale nicht die Augen vor den vielfältigen Problemen. Die Selbstverwaltung konnte sich unter diesen Bedingun- Wende in der früheren DDR brachte für mich und gen nicht entwickeln." So kann nur eine Nachfolge- jeden Bürger einen tiefen Einschnitt mit dem Verlust organisation die Politik ihrer Vorgängerorganisation gewohnter Zustände und dem Zwang zur Neuorien- charakterisieren. Und in populistischer Art möchten tierung. Die im Sinne der Heilung notwendige Sie dieses Urteil auch gleich auf die Bundesrepublik Umwandlung von verdeckter in offene Arbeitslosig- ausdehnen und ihr den Schwarzen Peter zuschieben, keit war für viele Bürger ein Schock. In dieser kriti- indem Sie die direkte Verantwortung des Bundes für schen Situation kann es schon vorkommen, daß ein die Kommunen ansetzen. Der zentralistische Ansatz Teil der Bürger sich auch in den Kommunalwahlen der ist ja aus Ihren Fragen fast körperlich zu spüren. PDS zuwendet, begreifen kann ich es nicht. Die PDS mag sich einer besonderen Nähe zu den Problemen Wir dagegen sagen: Der kommunalen Selbstver- rühmen, die ja von ihrer Vorgängerorganisation erst waltung wurde in den letzten vier Jahren unter der geschaffen wurden. Aber auch für die kommunale prägenden Mehrheitsverantwortung der Union in den Ebene gilt: PDS zu wählen, heißt, den Bock zum jungen Ländern und hier eine neue Chance und ein Gärtner zu machen. neues Leben gegeben. Ich möchte meine Rede mit zwei Appellen beenden: Aber auch die materielle Bilanz kann sich sehen Zum ersten: Ich appelliere an die Bürgerinnen und lassen. 40 Jahre Substanzverzehr haben dazu geführt, Bürger, sich in ausreichender Zahl für die Wahrneh- daß die östlichen Einkommen und die östliche Wirt- mung eines kommunalen Mandates zur Verfügung zu schaft die Finanzierung der kommunalen Selbstver- stellen. Die kommunale Selbstverwaltung gibt das waltung noch nicht gewährleisten können. Von 1990 Recht, die Chance und besonders die Pflicht zur bis 1994 sind deshalb rund 150 Milliarden DM über Mitgestaltung der Heimat. den Fonds Deutsche Einheit geflossen, davon 40 % in Zum zweiten: Damit hängt eng zusammen, daß die die Städte, Gemeinden und Kreise gemäß Einigungs- jungen Länder den Städten, Gemeinden und Kreisen vertrag. eine echte Chance zur Mitgestaltung geben. Die Durch unzählige Programme des Bundes wurde in neuen Länder erhalten nach dem ab 1995 geltenden die Verbesserung der kommunalen Infrastrukturen Finanzausgleich deutlich mehr Finanzmittel als nach investiert. Dabei lagen diese Investitionen in den dem Fonds Deutsche Einheit. Ich appelliere deshalb Kommunen der jungen Länder pro Kopf wesentlich an alle jungen Bundesländer, einen Teil dieser zusätz- höher als in den alten. Es ist nicht zu bezweifeln, daß in lichen Mittel an die Kommunen weiterzugeben — den vergangenen vier Jahren mehr in die Verbesse- nicht als Zweckzuweisungen, sondern in Form freier, rung der Infrastruktur investiert wurde als in den ungebundener Mittel. Damit helfen sie, die kommu- 40 Jahren Sozialismus vorher. Allein 1993 wurden in nale Selbstverwaltung mit wirklichem Leben zu erfül- Sachsen ca. 2,5 Milliarden DM in den Verkehrsbe- len. reich investiert, davon 1,3 Milliarden DM in die Der Entschließungsantrag der PDS (Drucksache Schiene und ca. 440 Millionen DM in den ÖPNV. 12/6922) will das sozialistische Gießkannenprinzip Jeder Bürger, der sich einen Blick für die Veränderun- der Finanzzuteilung auf die Kommunen wieder ein- gen bewahrt hat, wird dies bei einem Gang durch führen, natürlich nach dem Prinzip: Bezahlen soll ein seine Heimatgemeinde feststellen können. Die Städte anderer! und Gemeinden verändern allmählich ihr Gesicht, und ich begrüße es ausdrücklich, daß nach der Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt diesen ursprünglichen schnellen Investitionstätigkeit auf der Entschließungsantrag entschieden ab. grünen Wiese nun eine deutliche Hinwendung zu den Kernen der Städte und Gemeinden festzustellen ist. Manfred Hampe! (SPD): Die Große Anfrage der Durch zahlreiche weitere Programme des Bundes Gruppe PDS/Linke Liste streift so viele Aufgaben und wurde die Verwaltungskraft der Kommunen gestärkt. Verantwortungsbereiche von Kommunen, daß dies in Ich nenne hier als Beispiel die personelle Verwal- den zehn Minuten, die mir zur Verfügung stehen, tungshilfe. Ende 1993 waren ungefähr 2 100 west- nicht zu behandeln ist. deutsche Verwaltungshelfer in den Kommunen der Die heute diskutierte Anfrage bietet von der Art und jungen Länder tätig, davon über 450 allein in den Reihung ihrer Fragen nicht dasselbe Forum zur Selbst- kommunalen Vermögensämtern. Für diese personelle darstellung für die Bundesregierung, wie wir das bei Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode -- 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18495 e der nach der Osterpause anstehenden Beratung der Zweitens. Die Aufgabenverteilung zwischen Land Anfrage der Regierungskoalition zu demselben und Kommunen ist in den Ländern unterschiedlich Thema erleben werden. Trotzdem macht die Bundes- geregelt, so daß eine direkte Vergleichbarkeit nur regierung auch mit der Antwort auf die Anfrage für selten gegeben ist. sich das Beste daraus; das kann so nicht in allen Drittens haben die Kommunen Aufgaben zu lösen, Punkten stehenbleiben. Ich möchte meine K ritik auf die in den alten Ländern nicht anfallen, z. B. die in den einen wesentlichen Punkt, die kommunalen Finan- Ämtern zur Regelung offener Vermögenfragen zu zen, beschränken. treffenden Eigentumszuordnungen. Das Recht der Städte, Gemeinden und Kreise in der Demgegenüber stellt die Bundesregierung fest, daß Bundesrepublik Deutschland zur eigenverantwortli- die Finanzausstattung der ostdeutschen Kommunen chen Regelung aller örtlicher Angelegenheiten ist in 1993 und 1994 angemessen sei. Das stimmt nicht verfassungsrechtlich garantiert. Es hängt im entschei- unter dem Aspekt finanzieller Autonomie. Es stimmt denden Maß von einer ausreichenden Finanzaustat- mit Einschränkung, wenn die Zuweisungen an die tung ab. Damit ist auch die aufgabengerechte Finanz- Kommunalhaushalte einbezogen werden, wobei es ausstattung der kommunalen Gebietskörperschaften eine andere Frage ist, ob eine solche „Dauerbehand- zu gewährleisten. lung am Tropf des Bundes und der Länder" mit der kommunalen Selbstverwaltungsautonomie überein- Für die Bürger ist Politik in erster Linie über stimmt. In diesem Zusammenhang verweist die Bun- Kommunalpolitik erfahrbar. Damit bildet die kommu- desregierung auf die ausschließliche Verantwortung nale Selbstverwaltung eine wesentliche Vorausset- der Länder. zung, um unsere Bürger mit dem Staat zu verbin- den. Noch Jahre nach der Deutschen Einheit und der Neuregelung der Finanzbeziehungen ab 1995 wird Die Lage der Städte, Gemeinden und Kreise in den die finanzielle Ausstattung der Kommunen nicht aus- alten und den neuen Ländern ist sehr unterschiedlich reichend sein. Einerseits ist das Ziel der Finanzauto- und wird es auch noch für einen erhebliche Zeitraum nomie für die Gemeinden, die fast vollständig am bleiben. Ich will keine Unterschiedsdebatte führen. goldenen Zügel von Zuschüssen und Zuweisungen Ein paar Bemerkungen muß ich aber doch zur Finanz- hängen, noch in sehr weiter Ferne. Andererseits politik der Städte und Gemeinden in den alten und werden sie von den stark zunehmenden Ausgaben für neuen Ländern nach der Einheit Deutschlands die Sozialhilfe erdrückt, und sie sind oft nicht in der machen: In den Jahren 1990 bis 1992 stiegen die Lage, die notwendige Komplementärfinanzierung für Einnahmen durch höheres Steueraufkommen in den die Bundes- und Landesförderprogramme aufzubrin- West-Kommunen ständig an. Übertroffen wurde diese gen. jedoch durch das Ausgabenwachstum. Die scheinba- Die Bundesregierung prognostiziert in einer „Über- ren Zuwachsraten bei den eigenen Steuereinnahmen sicht über die Auswirkungen bundespolitischer Maß- der Kommunen in den neuen Ländern beruhen nur nahmen auf die Kommunalfinanzen in den alten auf dem niedrigen Ausgangsniveau. Der Anteil eige- Ländern" im Jahr 1994 (BMF-Nachrichten vom 8. Fe- ner Steuereinnahmen und Gebühreneinnahmen ist bruar 1994) einen Saldo der Entlastungen abzüglich noch viel zu gering und wird es auf Jahre bleiben. Belastungen von 839 Mi llionen DM. Das stimmt nicht, weil sie auch die längst „abgefrühstückte" Kompen- Deshalb befanden sich die Kommunen in den neuen sation aus dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsge- Ländern ständig am Rande ihrer finanziellen Lei- setz mit 2,1 Milliarden DM und Einnahmen aus dem stungsfähigkeit. Wenn die Zuweisungen über den Zinsabschlag als Entlastungen vorgibt. Entsprechend Fonds Deutsche Einheit im Rahmen des Steuerände- vorsichtigt ist das von der Bundesregierung für die rungsgesetzes nicht aufgestockt worden wäre, man- Kommunen in den neuen Ländern vorgelegte Finanz- che Kommune hätte schon vor dem finanziellen Aus kataster zu bewerten. gestanden. Die Finanzierungsdefizite lauten 7,4 Milliarden DM Da die Leistungen in den letzten Jahren 1993 und für 1992 und 10 Milliarden DM für 1993, letztere Zahl 1994 mit dem Föderierten Konsolidierungsprogramm die Schätzung des Finanzplanungsrates auf der noch einmal erhöht worden sind, wird es sicher auch in Grundlage des ersten Halbjahres 1993. Nach wie vor diesem Jahr noch keine Haushaltskatastrophen wesentlichstes M anko sind dabei die geringen eige- geben. nen Steuereinnahmen. Bis 1997 werden sich nach der Steuerschätzung vom Mai 1993 die Einnahmen der Kritisch anzumerken sind sicher die bei vielen ostdeutschen Gemeinden aus Steuern auf 40 % der ostdeutschen Kommunen überproportional hohen Pro-Kopf-Werte West entwickeln. Derzeit liegen diese Personalkosten. Unbest ritten gibt es in diesem bei ca. 20 bis 25 %. Bei den Gebühreneinnahmen Bereich noch nicht ausgeschöpfte Einsparmöglichkei- werden die allgemeine Einkommensentwicklung und ten. Aber ein undifferenzierter Vergleich zwischen die damit verbundene politische Durchsetzbarkeit in Ost- und Westkommunen ist nicht angebracht. Drei Höhe der West-Werte der ausschlaggebende Faktor Gründe sind dafür anzuführen: sein. Derzeit ist eine weit stärkere Angleichung bei Erstens gibt es noch immer eine Reihe von sozialen den Gebühren als bei den Einkommen festzustel- Aufgaben, die von Kommunen wahrgenommen wer- len. den müssen, da die freien Träger eben nicht mit dem Die Kritik der kommunalen Spitzenverbände an der Umfang bereit waren, Aufgaben zu übernehmen, wie Bundespolitik in bezug auf die Kommunalfinanzen es für eine spürbare Entlastung notwendig wäre. wurde auf der außerordentlichen Mitgliederver- 18496' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 sammlung des Deutsche Städtetages am 18. Oktober lage für die Finanzierung der staatlichen Aufgaben 1993 deutlich zum Ausdruck gebracht. Sie wird von nach 1995 geschaffen wurde, gerade auch für die den beiden anderen Verbänden, Deutscher Land- neuen Bundesländer und deren Gemeinden. kreistag und Deutscher Städte- und Gemeindebund, Von den Ländern erwarten wir jetzt, daß sie der für die jeweils betroffene kommunale Ebene geteilt. Verantwortung gegenüber ihren Kommunen gerecht Danach schönt der Bund bei seinen Berechnungen die werden. Die Mehreinnahmen der Länder ermögli- Finanzausstattung der Kommunen in mehreren wich- chen eine angemessene Finanzausstattung der Kom- tigen Teilbereichen: bei der Zusatzbelastung für Kin- munen. Den Ländern ist eine Absage zu erteilen, dertagesstätten, bei der Verlagerung des öffentlichen wenn sie in Zukunft wieder bei Entscheidungskompe- Personennahverkehrs im Zuge der Bahnreform, bei tenzen Föderalismus und bei der Kostenübernahme der Gegenrechnung, die eine Entlastung der Kommu- Zentralismus fordern. nen nachweisen soll. Zwar hätte die F.D.P. lieber eine Reform der Finanz- Die Einschätzung des Bundes kann ich nicht teilen, verfassung mit einer umfassenden Gemeindefinanz- vielmehr gibt die Entwicklung der Kommunalfinan- reform gesehen, doch war dies in der jetzigen Legis- zen seit der Vereinigung Deutschlands Anlaß zur laturperiode leider nicht möglich. Ich betone aus- größten Sorge. Die Verschuldung der Gemeinden drücklich, daß das nicht an uns lag. Der nächste wird sich in den sieben Jahren von 1990 bis 1997 nach Deutsche Bundestag muß das Problem der Gemeinde- den eher optimistischen Berechnungen des Bundesfi- finanzierung lösen, am besten unter der Führung der nanzministeriums von 123 Milliarden DM auf mehr als F.D.P. Dann wird die Gewerbesteuer abgeschafft, und 250 Milliarden DM verdoppeln. die Gemeinden erhalten einen Anteil an Umsatz- und Besonders in den neuen Ländern stehen die Kom- Mineralölsteuer. munen vor erheblichen Schwierigkeiten. Die Gründe Den von der PDS vorgelegten Entschließungsantrag für diese Entwicklung liegen im großen Umfang in der lehnen wir natürlich ab. Wenn m an Verantwortung der Bundesregierung. den Antrag liest, fühlt man sich fast 15 Jahre jünger. Zum 1. Januar Funktionsfähige Kommunen sind in einem föderati- 1980 ist die Lohnsummensteuer zu Recht abgeschafft ven System Grundlage eines gesunden demokrati- worden, und die werden wir auf keinen Fall wieder schen Staates. Es liegt deshalb im gesamtgesellschaft- einführen. Ich kann die anderen Steuererhöhungen lichen Interesse, den Kommunen in der Bundesrepu- und Verteilungsoperationen des Antrags nicht alle blik Deutschland und im besonderen Maß in den aufzählen. Beispielhaft seien die Erhöhungen der neuen Ländern ausreichende Mittel zur Erfüllung der Gewerbesteuer und die Abschöpfungssteuer für ihnen von der Verfassung und Gesetzgebung zuge- Wertzuwachs genannt. Das kommt überhaupt nicht in wiesenen Aufgaben zu garantieren. Frage. Ein Herausschleichen aus dieser Verantwortung mit In früheren Legislaturperioden war es üblich, daß dem Hinweis, daß mit der Neuregelung des bundes- die Opposition eine Große Anfrage zur Kommunalpo- staatlichen Finanzausgleichs ausschließlich die Län- litik stellt. Dies haben Sie, vielleicht aus Gründen der der die Finanzausstattung ihrer Kommunen zu sichern Arbeitsteilung, in dieser Wahlperiode scheinbar der haben, wird dem föderativen Charakter unserer bun- PDS überlassen. Aber das ist nicht das Problem der desstaatlichen Verfassung nicht gerecht. F.D.P. Die Kommunen sind größter öffentlicher Auftragge- Die Antwort der Bundesregierung auf die Große ber und damit Konjunkturmotor. In diesem Zusam- Anfrage der PDS enthält wichtige Informationen für menhang verweise ich auf die in den Jahren 1991 und die Kommunalpolitik. Dies wird von der F.D.P. 1993 gewährte kommunale Investitionspauschale, die begrüßt. Wichtige Bereiche sind jedoch zu kurz ihr Ziel, schnell beschäftigungswirksame Investitions- gekommen. Sie sind in der Großen Anfrage der aufträge vergeben zu können, im vollen Umfang Koalitionsfraktionen enthalten. Die Bundesregierung erreicht hat. hat die Antwort dem Bundestag zugeleitet: in den Ein solches Instrument, jedoch längerfristig ange- nächsten Tagen wird sie als Bundestagsdrucksache legt, und nicht über den Umweg der Länderhaushalte, verteilt. könnte die fehlenden eigenen Steuereinnahmen aus- Ich frage mich, wieso man die beiden Großen gleichen. Von den im Föderalen Konsolidierungs- Anfragen nicht gemeinsam debattiert. Die jetzt ver- programm beschlossenen 6,6 Milliarden DM jährliche brauchten 30 Minuten hätten wir dann gut gebrau- Bundeshilfe werden sicher vor allem Länderaufgaben chen können. Die dann stattfindende Debatte findet finanziert. Daß diese Finanzhilfen auch für Investitio- aber hoffentlich zu einer Uhrzeit statt, die dem Stel- nen im kommunalen Bereich eingesetzt werden kön- lenwert der Kommunalpolitik mehr entspricht. nen, ist erst mal nur eine Möglichkeit, deren reale Umsetzung abzuwarten ist. Dr. Horst Waffenschmidt, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: Die Große Anfrage zur Hans Schuster (F.D.P.): Die Antwort der Bundesre- Lage der Kommunen in der Bundesrepublik Deutsch- gierung auf die Große Anfrage der PDS hat gezeigt, land gibt der Bundesregierung den willkommenen daß sie — und damit meine ich die Bundesregie- Anlaß, ihre kommunalfreundliche Politik zu erläutern. rung — die Probleme der Kommunen erkannt hat. Von Die Anfrage ist deshalb vom Bundesministerium des besonderer Bedeutung ist die Regelung der Finanzen. Innern und den übrigen beteiligten Bundesressorts Dazu muß man sagen, daß mit der Neuregelung der dazu genutzt worden, die Schwerpunkte der Kommu- Bund-Länder-Finanzbeziehungen eine solide Grund- nalpolitik dieser Bundesregierung insbesondere im Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode -- 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18497*

Hinblick auf die Probleme in den neuen Bundeslän- der Europäischen Union vorgegebene 3. Reinigungs- dern ausführlich darzulegen. stufe hingewiesen. Die Bundesregierung stellt derzeit gemeinsam mit Kommunen und Ländern Überlegun- Hierbei müssen wir immer berücksichtigen, daß gen an, wie die Gebühren durch nationale Regelun- nach unserem föderalen Staatsaufbau die Gemeinden gen auf der Grundlage der bestehenden Vorschriften zum Bereich der Länder gehören. Gleichwohl bekennt der EU begrenzt werden können und wie erforderli- sich die Bundesregierung auch in dieser Anfrage chenfalls an die EU herangetreten werden soll. Erste ausdrücklich zu ihrer Mitverantwortung für die Funk- Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden tionsfähigkeit und die Finanzausstattung der Kommu- und den Ländern haben unter Federführung von nen. Herrn Kollegen Töpfer vor kurzem stattgefunden. Ich Wir sind an leistungsfähigen und finanzstarken möchte aber zugleich darauf hinweisen, daß die Kommunen in hohem Maße interessiert, weil nur künftige Kostenentwicklung in diesem Bereich auch gesunde Kommunen in der Lage sind, ihre wichtigen davon abhängt, inwieweit die Kommunen bestehende Aufgaben zu erfüllen. Dies gilt insbesondere für die Rationalisierungsmöglichkeiten — u. a. durch Beteili- Kommunen in den neuen Ländern. Deshalb hat die gung leistungsfähiger Privatunternehmen oder durch Bundesregierung dem Aufbau der kommunalen neue Organisationsformen — ausschöpfen. Es kommt Selbstverwaltung in den neuen Ländern besondere hier entscheidend darauf an, daß das Privatisierungs Aufmerksamkeit gewidmet. Durch eine Vielzahl von potential, insbesondere in den neuen Ländern, aber Maßnahmen wurde dafür gesorgt, daß die Kommunen nicht nur dort, genutzt wird. im Beitrittsgebiet finanziell und personell angemes- Besondere Belastung bürdet den Kommunen der sen ausgestattet sind. Eine funktionierende Verwal- Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz auf. Der tung in den neuen Ländern ist eine wichtige Voraus- von den zuständigen Landesministern vor vier setzung für die wirtschaft liche Entwicklung und die Wochen gefundene Kompromiß ist ein gangbarer Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse im ver- Weg. Hiernach soll im Ausnahmefall eine Streckung einten Deutschland. Wir können heute feststellen, daß der Umsetzung des Rechtsanspruchs ermöglcht wer- die kommunale Selbstverwaltung in den neuen Län- den. dern auch in schwieriger Lage ihre Bewährungsprobe bestanden hat. Die gegenwärtige finanzielle Situation der Kommu- nen verdeutlicht auch die besondere Bedeutung des Lassen Sie mich an dieser Stelle ein- Wo rt zur Tarifabschlusses für den öffentlichen Dienst in diesem finanziellen Belastung der Kommunen sagen. Wie alle Jahr. Die Kommunen vermögen den Anteil der Perso- öffentlichen Hände stehen auch die Kommunen in nalkosten am kommunalen Haushalt kaum noch zu Zeiten leerer Haushaltskassen vor einer besonderen verkraften. Als kommunale Arbeitgeber stehen die Herausforderung. Ich habe den Eindruck, daß auch Kommunen unter besonderem Druck, da Arbeits- die Kommunen die Zeichen der Zeit erkannt haben kampfmaßnahmen sich in den Kommunen besonders und auf vieles von dem verzichten, was in besseren spürbar auswirken. Ich freue mich deshalb, daß die Zeiten finanziert worden wäre. Kommunen die Bemühungen der Bundesregierung für eine Pause beim Einkommenszuwachs im öffentli- Auch die Bundesregierung wi ll die Gemeinden bei chen Dienst unterstützen. ihren Bemühungen unterstützen, die kommunalen Haushalte zu konsolidieren, indem vermieden wird, Eine wesentliche Entlastung der kommunalen ihnen durch neue Bundesgesetze neue Belastun- Finanzsituation wird mit der Einführung der Pflege- gen aufzubürden. Ich erinnere an dieser Stelle auch versicherung eintreten. Im Interesse der Kommunen an die Festlegung im Föderalen Konsolidierungspro- sind alle Beteiligten aufgerufen, nun endlich ein gramm, wonach grundsätzlich von kostenwirksamen tragfähiges Ergebnis zu erzielen. Gesetzen und Maßnahmen abgesehen werden Der gute und solide Stand der kommunalen Selbst- soll. verwaltung in Deutschland ist ein hohes Gut in Ich habe Verständnis für den Wunsch der Kreise, unserem föderalen demokratischen Rechtsstaat. Städte und Gemeinden, ihnen neue Finanzquellen zu Städte, Gemeinden und Kreise sind darüber hinaus erschließen. Nach Auffassung der Bundesregierung wichtige Bausteine für ein vereintes Europa. Die sollten die Steuereinnahmen der Gemeinden stetiger Bundesregierung wird sich daher auch in Zukunft mit und verläßlicher sein als bisher. Eine Beteiligung der großem Engagement für die kommunale Ebene Kommunen an der Umsatzsteuer könnte die im Rah- sowohl in unserem eigenen Land als auch in Europa men einer kommunalen Steuerreform entstehenden einsetzen. gemeindlichen Steuerausfälle ausgleichen. Diese Pro- blematik wird gegenwärtig in einer beim Bundesfi- nanzminister eingerichteten Arbeitsgruppe zur Re- form der Gewerbesteuer diskutiert. Anlage 6 Eingehen möchte ich in diesem Zusammenhang auf Themen, die in den letzten Wochen von den kommu- Antwort nalen Spitzenverbänden besonders problematisiert wurden. des Chefs des Presse- und Informationsamtes der Von den Kommunen wird insbesondere ein erwar- Bundesregierung Staatssekretär Dieter Vogel auf die teter Anstieg kommunaler Gebühren beklagt. Dabei Frage des Abgeordneten Dr. Egon Jüttner (CDU/ wird insbesondere auf die im Abwasserbereich von CSU) (Drucksache 12/6892 Frage 1): 18498* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

In welchem Verhältnis steht der Wert der im Jahre 1993 vom Amtes, als es gegen die Verhaftung von Tibetern während eines Bundespresseamt und den Bundesministerien in Auftrag gege- Besuches der EU-Botschafter in Tibet im Mai 1993 protestierte, benen Anzeigen in Lokalzeitungen der neuen Bundesländer im geantwortet, und ist die Bundesregierung, falls eine Antwort Vergleich zu den regionalen und überregionalen Zeitungen in erfolgt ist, mit der Antwort zufrieden? den neuen Bundesländern? Zu Frage 14: Die Bundesregierung hat mit ihren Anzeigeschal- tungen in den neuen Bundesländern dem dort beste- Die Bundesregierung hat nicht von sich aus bei der henden hohen Informationsbedarf Rechnung getra- Stadt Franfurt interveniert; insbesondere hat sie kei- gen. Eine genaue Bezifferung des Prozentsatzes der in nen Druck ausgeübt. Sie wurde vom Protokoll der Auftrag gegebenen Anzeigen in Lokalzeitungen in Stadt Frankfurt angesprochen und hat auf die Fragen den neuen Bundesländern im Vergleich zu den regio- des Protokolls nach den Implikationen einer gleichzei- nalen und überregionalen Zeitungen in den neuen tigen Anwesenheit des Dalai Lama, des Bundespräsi- Bundesländern ist nicht möglich, da die Schaltung von denten, des französischen Staatspräsidenten und des Anzeigen in aller Regel nach Belegeinheiten erfolgt. Oberbürgermeisters von Kanton pflichtgemäß die Dies bedeutet eine Zusammenarbeit von mehreren bereits erwähnte Auskunft gegeben. Einen Zusam- selbständigen Verlagen auf dem Anzeigensektor zur menhang zwischen dieser Auskunft und den wirt- Akquisition, Schaltung und Abwicklung von Anzei- schaftlichen Beziehungen zur Volksrepublik China gen im jeweiligen Verbreitungsgebiet. Damit sind sieht die Bundesregierung nicht. Zeitungen aus Verlagen unterschiedlicher Größe mit einer breiten Streuung sowohl bei der Auflagenhöhe Zu Frage 15: als auch im Verbreitungsgebiet eingeschlossen. Über die Wertumsätze (Anteil der einzelnen Zeitungsver- Im Zusammenhang mit dem Kanzlerbesuch wurde lage an den Anzeigenerlösen innerhalb der Anzeigen- die Namensliste von 18 nach der Niederschlagung der belegeinheiten) liegen weder den beauftragten Agen- Demokratiebewegung inhaftierten politischen Gefan- turen noch der Bundesregierung Einzelangaben vor. genen und der zwei von Ihnen erwähnten Tibeter Die Schlüssel für die Aufteilung der Erlöse innerhalb übergeben. Die Liste umfaßte eine Auswahl aus der von Anzeigentarifgemeinschaften und Anzeigenver- großen Zahl politischer Gefangener: Sie konzentrierte bünden sind interne Geschäftsgrundlagen der daran sich auf die nach Tiananmen [spr. Tiän-an-men] zu beteiligten Verlage. Höchststrafen Verurteilten (10 Jahre oder mehr). Anzeigen der Bundesregierung werden nicht nach Die beiden Tibeter wurden kurz nach dem Aufent- medienpolitischen Kriterien vergeben. Entscheiden- halt des Bundeskanzlers in Peking freigelassen. der Maßstab ist vielmehr nach zwingendem Haus- Auf die Liste der übrigen 18 politischen Gefangenen haltsrecht die Wirtschaftlichkeit der Mittelverwen- hat die chinesische Regierung eine pauschale Antwort dung im Hinblick auf die zu erfüllenden Aufgaben gegeben: Einige der Veurteilten seien inzwischen nach Maßgabe der verfügbaren Mittel. Dementspre- freigelassen worden, zwei seien nicht identifizierbar, chend beziehen die beauftragten Agenturen jeweils die übrigen seien „Gesetzesbrecher", verurteilt nur bestimmte Zeitungs- und Zeitschriftentypen ein, wegen Diebstahl von Staatsgeheimnissen. Die Bun- oder die Anzeigenschaltungen werden auf regionale desregierung hat sich mit dieser Antwort nicht zufrie- Sektoren begrenzt. Kriterien für die Streupläne sind dengegeben und mehrfach eine präzisere Auskunft dabei die angesprochenen Zielgruppen, die Reich- angemahnt. weite der belegten Medien und die Kosten. In diesem Rahmen wird auch die Lokalpresse berücksichtigt.

Anlage 8 Antwort Anlage 7 Antwort der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die

Fragen des Abgeordneten Hans - Günther Toete- der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die meyer (SPD) (Drucksache 12/6892 Fragen 17 und Fragen des Abgeordneten Dr. Klaus Kübler (SPD) 18): (Drucksache 12/6892 Fragen 14 und 15): Kann die Bundesregierung Informationen aus Südafrika be- Aus welchen Gründen hat die Bundesregierung bei der Stadt stätigen, daß die Bundesregierung die im Januar dieses Jahres Frankfurt am Main interveniert, um Druck auf die Stadt Frank- erfolgte Gründung der „Af rican Christian Democratic Party" furt am Main auszuüben, die von der Stadt Frankfu rt am Main an aktiv unterstützt hat, und wenn ja, welche Gründe haben sie den Dalai Lama, das religiöse Oberhaupt der Tibeter, ausgespro- dazu bewogen? chene Einladung zur 1200-Jahr-Feier zurückzunehmen, und ist Ist es richtig, daß die Bundesregierung hierbei finanzielle Hilfe die Bundesregierung der Auffassung, daß die wirtschaftlichen geleistet hat, und wenn ja, aus welchem Einzelplan des Bundes- Beziehungen zur Volksrepublik China durch dieses Verhalten haushalts ist diese Finanzhilfe geleistet worden? der Bundesregierung gefördert werden? Hat die chinesische Regierung auf die beiden Interventionen einmal des Bundeskanzlers, die erfolgt ist, als durch einen Zu Frage 17: Vertreter des Auswärtigen Amtes im Vorfeld des Kanzlerbesu- ches in der Volksrepublik China Ende 1993 eine Namensliste Die Bundesregierung hat die bereits im Dezember von 20 politischen Gefangenen von mindestens 3 600 politischen 1993 erfolgte Gründung der „Af rican Christian Demo- Gefangenen überreicht worden ist, und einmal des Auswärtigen cratic Party" in keiner Weise unterstützt. Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18499'

Zu Frage 18: NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 12/6892 Fragen 20 und 21): Die Bundesregierung hat bei der Gründung der „African Christian Democratic Party" auch keine Welche Einzelheiten, Rechtsgrundlagen und Gründe kann die finanzielle Hilfe geleistet. Bundesregierung hinsichtlich des Vorgehens des Bundesamtes für Verfassungsschutz nennen, welches in Niedersachsen ohne Wissen des dortigen Innenministeriums die „Republikaner" mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht hat, nachdem das Verwaltungsgericht Hannover — ebenso wie andere Verwal- tungsgerichte — dies nicht etwa des engen Landesverfassungs- Anlage 9 schutzgesetzes, sondern schon unmittelbar gemäß Ar tikel 2 Abs. 21 des Grundgesetzes für unzulässig erklärt hatte, und Antwort wann hat das Bundesamt hierüber mit dem niedersächsischen Landesamt für Verfassungsschutz das erforderliche Benehmen (§ 5 Abs. 2 Satz 1 BVerfSchG) hergestellt sowie die unverzügli- der Staatsministerin Ursula Seiler-Albring auf die che Informa tion des Landesinnenministeriums (§ 2 Abs. 4 niedersächsisches VerfSchG) veranlaßt? Frage der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard - Schmid (SPD) (Drucksache 12/6892 Frage 9): Aufgrund welcher der Tatbestandsalternativen des § 5 Abs. 2 Wie will die Bundesregierung verhindern, daß Aussagen Satz 2 BVerfSchG — insbesondere einem möglichen Ersuchen wie die des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenar- des niedersächsischen Landesamts — hat sich das Bundesamt für beit und Entwicklung in der „Neuen Osnabrücker Zeitung" — Verfassungsschutz zur Überwachung der „Republikaner" als "(...) die ständigen Demons trationen gegen angebliche, aber befugt be trachtet, und inwieweit hat das Bundesamt hierbei § 2 gar nicht vorhandene Ausländerfeindlichkeit und Rassismus Abs. 4 des niedersächsischen VerfSchG berücksichtigt, wonach (...) (sind) nichts anderes als ein Identifikationsthema für auf Ersuchen des Landesamts keine Maßnahmen durchgeführt unverbesserliche Sozialisten (...)" — die Akzeptanz für weitere werden dürfen, zu denen dieses selbst nicht befugt ist? Anschläge auf ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger erhöhen und ausländerfeindliches Verhalten in Teilen der Bevölkerung fördern? Zu Frage 20: Die Bundesregierung geht davon aus, daß sich der Hinweis auf die „jüngste Meldung über die Ermor- Die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Verfas- dung von 200 Bewohnern Osttimors durch Soldaten" sungsschutzbehörden des Bundes und der Länder ist auf den Vorfall in Dili im November 1991- und einen in § 5 Abs. 2 des Bundesverfassungsschutzgesetzes Filmbericht darüber bezieht, der am 22. Februar 1994 vom 20. Dezember 1990 (BVerfSchG) geregelt; im portugiesischen Fernsehen und von dem britischen danach darf das Bundesamt für Verfassungsschutz Fernsehsender itv ausgestrahlt wurde. (BfV) in einem Land nach Maßgabe der Nrn. 1 bis 4 Nach Kenntnis der Bundesregierung handelt es sich dieser Bestimmung im Benehmen mit der Landesbe- bei der Fernsehreportage um die Wiederholung von hörde für Verfassungsschutz Informationen, Aus- bereits früher ausgestrahltem und 1991 aufgenomme- künfte und Unterlagen über die in § 3 BVerfSchG nem Bildmaterial. Zu den in der Sendung gemachten aufgeführten Bestrebungen sammeln. Das nieder- Aussagen von zwei anonym gebliebenen Timoresen sächsische Verfassungsschutzgesetz steht dem nicht über weitere Greueltaten an Überlebenden des Vor- entgegen. falls hat die Bundesregierung keine eigenen Er- kenntnisse. Auf der Tagung der Leiter der Verfassungschutzbe- Die Bundesregierung hat nach dem Vorfall von Dili hörden des Bundes und der Länder am 15./16. Dezem- gemeinsam mit ihren europäischen Partnern darauf ber 1992 in Köln stellten die Amtsleiter übereinstim- gedrungen, daß der Sachverhalt rückhaltlos aufge- mend fest, daß bei der Partei „Die Republikaner" klärt und die Schuldigen zur Rechenschaft gezogen (REP) tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen werden. Darauf wird die Bundesregierung auch wei- gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorliegen. Es bestand Übereinstimmung darüber, terhin bestehen. zukünfitg über die Partei gezielt Informationen zu Die Bundesregierung hatte zur Lieferung der beschaffen und auszuwerten, um verfassungsfeindli- Schiffe aus Beständen der ehemaligen Nationalen chen Bestrebungen wirksam entgegentreten zu kön- Volksmarine sowie zu einer Voranfrage zur Lieferung nen. Ob und in welchem Umfang Einzelmaßnahmen von U-Booten nach Indonesien, einschließlich der des BW in Niedersachsen erfolgt sind, wird nicht Thematik des WEU-Beschlusses vom 17. Juni 1993, öffentlich erörtert. Dazu verweist die Bundesregie- bereits in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der rung auf die zuständige Parlamentarische Kontroll- SPD-Bundestagsfraktion (12/6512) ausführlich Stel- kommission (PKK). lung genommen.

Zu Frage 21:

Anlage 10 Die Befugnis des Bundesamtes für Verfassungs- schutz folgt aus § 5 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 des Antwort Bundesverfassungsschutzgesetzes. Wie dem Wortlaut des niedersächsischen Verfassungsschutzgesetzes zu des Parl. Staatssekretärs Dr. Horst Waffenschmidt auf entnehmen ist, treffen Unterrichtungspflichten nach die Fragen der Abgeordneten Ingrid Köppe (BÜND diesem Landesgesetz nicht das BfV. 18500' Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Anlage 11 Anlage 12 Antwort Antwort

der Parl. Staatssekretärin Roswitha Verhülsdonk auf des Parl. Staatssekretärs Dr. Horst Waffenschmidt auf die Fragen der Abgeordneten Anke Fuchs (Köln) die Frage der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard- (SPD) (Drucksache 12/6892 Fragen 40 und 41): Schmid (SPD) (Drucksache 12/6892 Frage 22): Wann wird der Bundeskanzler den Entwurf eines Altenpfle- gegesetzes der Bundesministerin für Familie und Senioren, Wie erklärt die Bundesregierung die ungleiche Verdienstaus- Hannelore Rönsch, im Kabinett beraten lassen? gleichsregelung bei Selbständigen und Angestellten des öffent- Worin liegen die Unterschiede zwischen dem Entwurf eines lichen Dienstes im Falle der Übernahme einer ehrenamtlichen Altenpflegegesetzes des Landes Hessen, der voraussichtlich am Tätigkeit, konkret: wie erklärt die Bundesregierung, daß im 18. März 1994 im Bundesrat behandelt wird, und dem im öffentlichen Dienst Beschäftigte — je nach Ortsgröße — bis zu Bundeskabinett noch nicht beratenen Entwurf der Bundesmini- einem Drittel von ihrer Arbeitszeit freigestellt werden, bei sterin für Familie und Senioren? vollem Verdienstausgleich und zusätzlicher Aufwandsentschä- digung, während Selbständige keine entsprechenden Auf- wandsentschädigungen erhalten? Zu Frage 40: Die Meinungsbildung in der Bundesregierung ist noch nicht abgeschlossen. Angestellte im öffentlichen Dienst sind gemäß § 52 Abs. 1 BAT unter Fortzahlung der Vergütung zur Zu Frage 41: Erfüllung allgemeiner staatsbürgerlicher Pflichten Nach den Beratungen in den Ausschüssen des nach deutschem Recht für die Dauer der unumgäng- Bundesrates bestehen folgende Unterschiede zwi- lich notwendigen Abwesenheit von der Arbeit freizu- schen dem hessischen Gesetzesantrag und dem Ent- stellen. Die Freistellung erfolgt jedoch nur, soweit die wurf des Bundesministeriums für Familie und Senio- Aufgaben nicht außerhalb der Arbeitszeit oder gege- ren: benenfalls nach Verlegung der Arbeitszeit erledigt — Das Mindesalter für den Zugang zur Ausbildung werden können. wird auf die Vollendung des 16. Lebensjahres festgelegt. (Bundesministerium für Familie und Die Tarifvertragsparteien haben diese Regelung Senioren: Vollendung des 17. Lebensjahres). vereinbart, um mögliche Konflikte zwischen staats- bürgerlichen Pflichten und der Arbeitspflicht zu ver- — Die Regeldauer der Ausbildung (3 Jahre) für meiden. Die bezahlte Freistellung wird auf das unum- Umschüler aus nicht verwandten Berufen soll nicht gängliche Maß beschränkt. Eine zusätzliche Auf- verkürzt werden. (Bundesministerium für Familie wandsentschädigung wird durch den Arbeitgeber und Senioren: Verkürzung um ein Jahr auf nicht gezahlt. Gegenüber der Fortzahlung des 2 Jahre). Arbeitsentgelts ist im übrigen nach dem Tarifvertrag — Die Regeldauer der Ausbildung (3 Jahre) für der Anspruch auf Verdienstausfallersatz, wie er sich Frauen mit 5jähriger Pflegeerfahrung in Familien- aus anderen Vorschriften ergeben kann, vorrangig haushalten soll nicht verkürzt werden. (Bundesmi- gestellt. nisterium für Familie und Senioren: Die Ausbil- dung darf um ein Jahr auf 2 Jahre verkürzt Für Beamte gilt folgendes: Gemäß § 89 Abs. 3 Satz 1 werden). Bundesbeamtengesetz (BBG) ist Bundesbeamten für — Die Ermächtigung für eine Ausbildungs- und Prü- die Tätigkeit als Mitglied einer kommunalen Vertre- fungsverordnung wird auf Rahmenvorschriften zur tung, eines nach Kommunalverfassungsrecht gebilde- sachlichen Gliederung der Ausbildung be- ten Ausschusses oder vergleichbarer Einrichtungen in schränkt. (Bundesministerium für Familie und Gemeindebezirken der erforderliche Urlaub unter Senioren: Die Verordnung darf die Mindestanfor- Belassung der Besoldung zu gewähren. Gemäß § 89 derungen an die Ausbildung regeln). Abs. 3 Satz 2 BBG gilt dies für die von einer kommu- — Es wird die Möglichkeit eröffnet, neben den Kosten nalen Vertretung gewählten ehrenamtlichen Mitglie- der Ausbildungsvergütung auch die Beschulungs- der von Ausschüssen, die aufgrund eines Gesetzes kosten in die Pflegesatzfinanzierung einzubezie- gebildet worden sind. Zwecks Vermeidung von hen. (Bundesministerium für Familie und Senio- Ungleichbehandlungen hat sich das Bundesministe- ren: Nur die Kosten der Ausbildungsvergütung rium des Innern mit Rundschreiben vom 29. Oktober können in die Pflegesatzfinanzierung einbezogen 1965 — II B 2 — 220 223/22 — damit einverstanden werden, weil die Kosten des Unterrichts eine erklärt, daß dieser Regelung auch für Arbeitnehmer Angelegenheit der L ander sind). des Bundes Rechnung ge tragen wird. Darüber hinaus gilt für Bundesbeamte und Richter im Bundesdienst die Sonderurlaubsverordnung in der Fassung vom 29. April 1992, die der Vorschrift des § 52 BAT/BAT-O Anlage 13 vergleichbare Regelungen enthält. Antwort Über eine Handhabung, wonach eine je nach Orts- des Parl. Staatssekretärs Manfred Carstens auf die größe gestaffelte Freistellung bis zu einem D rittel der Fragen des Abgeordneten Dr. Peter Ramsauer Arbeitszeit erfolgt, liegen hier keine Informationen (CDU/CSU) (Drucksache 12/6892 Fragen 44 und vor. 45): Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18501'

Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß osteuro- Anlage 15 päische Transportunternehmen zunehmend in Deutschland unerlaubte Kabotagefahrten durchführen und auf diese Weise Antwort dem deutschen Transportgewerbe erheblichen Schaden zufü- gen? Beabsichtigt die Bundesregierung, die Strafen an die Höhe des des Parl. Staatssekretärs Manfred Carstens auf die wirtschaftlichen Schadens anzupassen, um gegen diesen Miß- Fragen des Abgeordneten Rudolf Bindig (SPD) stand vorzugehen? (Drucksache 12/6892 Fragen 47 und 48):

Wie bewertet die Bundesregierung die Annahme der Alpen- Zu Frage 44: initiative in der Schweiz, wonach neben anderen verkehrlichen Maßnahmen der Gütertransitverkehr durch die Schweiz ab dem Die Bundesregierung ist sich der Tatsache bewußt, Jahre 2004 nur noch auf der Schiene abgewickelt werden soll, daß die Öffnung der Grenzen nach Osteuropa und das und wird die Bundesregierung im Rahmen der Europäischen dadurch enorm gestiegene Straßengüterverkehrsauf- Union auf eine weitgehende Akzeptierung der Schweizer kommen die Gefahr einer Zunahme unerlaubter Beschlüsse und eine Ausrichtung der Verkehrspolitik der Union auf die Schweizer Wünsche und Bedürfnisse hinwirken oder tritt Kabotagefahrten in Deutschland mit sich bringen. Die sie dafür ein, durch Druck auf die Schweiz eine Revision dieser Bundesanstalt für den Güterfernverkehr hat deshalb Beschlüsse zu erreichen? im letzten Jahr mit Vorrang Kabotagebeförderungen Sieht die Bundesregierung sich nach der Annahme der Alpen- überwacht. Die Ergebnisse dieser Überwachung initiative in der Schweiz veranlaßt, ihr Konzept für den Ausbau — selbst bei Betriebsprüfungen aufgrund gezielter der Bundesschienenwege der veränderten Lage derart anzupas- Hinweise — konnten den Verdacht einer Zunahme sen, daß sie für einen baldigen Ausbau der Bahnzulaufstrecken unzulässiger Kabotage nicht erhärten. zur Schweiz in den Relationen München-Memmingen-Lindau, Ulm-Friedrichshafen-Lindau, Stuttgart-Singen und Karlsruhe- Freiburg-Basel und für eine Stärkung der Containerbahnhöfe in Zu Frage 45: Singen und Ravensburg eintritt? Wegen des zunehmenden Kabotageverkehrs in Deutschland haben die hierfür zuständigen Bundes- Zu Frage 47: länder aus Gründen der Generalprävention eine Ver- doppelung des Bußgeldregelsatzes bei der Durchfüh- Eine abschließende Bewertung wird erst möglich rung ungenehmigter Kabotage von bisher 500,— DM sein, wenn im einzelnen bekannt ist, wie die schwei- je Tat auf 1.000,— DM je Tat beschlossen. Dem zerische Regierung den Volksentscheid zur Alpenini- wirtschaftlichen Schaden soll durch diese Erhöhung tiative konkret umsetzen will. Nach ersten Äußerun- Rechnung getragen werden, da angesichts der gen der Europäischen Kommission und des Rats der erleichterten Kabotagemöglichkeiten (Aufstockung Europäischen Union zeichnet sich ab, daß die vor der Kabotagekontingente) ein Verstoß gegen die noch allem von schweizerischer Seite gewünschte Auf- geltenden Kabotagebestimmungen umso verwerfli- nahme von Verhandlungen zwischen der Europäi- cher ist. schen Union und der Schweiz über gegenseitigen Marktzugang im Straßen- und Luftverkehr verzögert und erschwert wird. Die Bundesregierung hat stets Verständnis für die besondere Umweltsensibilität des Alpenraumes ge- Anlage 14 zeigt. Sie repektiert die in der Schweiz nach demokra- tischen Regeln zustande gekommene Entscheidung. Antwort Sie muß aber darauf bestehen, daß der Transitver- des Parl. Staatssekretärs Manfred Carstens auf die trag von 1992 zwischen der Europäischen Union und der Schweiz, der auch Regelungen über den Straßen- Frage des Abgeordneten Dr. Erich Riedl (München) (CDU/CSU) (Drucksache 12/6892 Frage 46): verkehr enthält, bis zum Ende seiner Laufzeit (An- fang 2005) in vollem Umfang eingehalten wird. Wich- Ist die Bundesregierung bereit, angesichts jüngst bekanntge- tig wird für die Bundesregierung auch sein, wie der wordener Verdachtsmomente im Zusammenhang mit dem Tod des ehemaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten, Zeitraum zwischen dem Ablauf des Transitvertrages Dr. Uwe Barschel, den seinerzeitigen Flugzeugabsturz vom und der Fertigstellung der Neuen Eisenbahn-Alpen- 31. Mai 1987 auf dem Flugplatz Lübeck (bei dem Dr. Uwe transversale überbrückt wird; diese ist nach dem Barschel schwer verletzt und drei Personen getötet worden sind) Transitvertrag erst in 12 bis 15 Jahren ab dessen einer erneuten Ursachenuntersuchung zu unterziehen, und Inkrafttreten (J an kann die Bundesregierung heute schon ausschließen, daß uar 1993) vorgesehen. fremde Einflüsse diesen Absturz verursacht haben?

Zu Frage 48: Der Bundesregierung sind über den Flugunfall von 1987 in Lübeck keine neuen Tatsachen bekannt Der Ausbau der Eisenbahnverbindungen mit der geworden, die eine Wiederaufnahme der Unfallunter- Schweiz wird zur Zeit durch eine bilaterale Arbeits- suchung rechtfertigen würden. gruppe untersucht. Veränderungen der Rahmenbe- dingungen werden dabei zu berücksichtigen sein. Die Unfalluntersuchung hatte seinerzeit zweifels- frei ergeben, daß der Anflug auf den Flugplatz Lübeck Die Bundesregierung wird einen Ausbau/Neubau sehr tief bei schlechten Sichtbedingungen durchge- der Umschlagbahnhöfe Singen und Ravensburg führt wurde und dadurch einem Hindernis (Mast) unterstützen, sobald Aufkommen und Nachfrage der nicht ausgewichen werden konnte. Wirtschaft dies rechtfertigen. 18502* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Anlage 16 Anlage 18 Antwort Antwort des Parl. Staatssekretärs Ulrich Klinkert auf die Frage des Parl. Staatssekretärs Manfred Carstens auf die der Abgeordneten Susanne Kastner (SPD) (Drucksa- Frage des Abgeordneten Dr. Ulrich Janzen (SPD) che 12/6892 Frage 52): (Drucksache 12/6892 Frage 49): Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Schad- stoffbelastungen der Flußökosysteme insbesondere der Ablage- Hat die Bundesregierung Realisierungszeiträume für die rungen in Flußbetten speziell in den neuen Bundesländern, und Bahnprojekte deutsche Einheit noch nicht fixiert und auch welche gesundheitlichen Gefahren bestehen durch landwirt- Fertigstellungstermine für Teilabschnitte noch nicht festgelegt schaftliche Produk tion in den Überschwemmungsgebieten der (in einer sogenannten Anzeige, in der das Bundesministerium mit giftigen Chemikalien belasteten Flüsse? für Verkehr in der Ostseezeitung am 11. Februar 1994 über die Verkehrsprojekte deutsche Einheit in Mecklenburg-Vorpom- Für die Überwachung der Gewässergüte sind die mern informiert, gehen die darin enthaltenen Informa tionen Bundesländer zuständig. Sie dokumentieren die über die Bahnprojekte über Angaben zum Stand der Planung dabei gewonnenen Informationen in Berichten und und zu den vorgesehenen Maßnahmen nicht hinaus)? Zahlentafeln. Darüber hinaus werden im Rahmen der Internationalen Kommission zum Schutz der Elbe Die Beschlüsse zum Haushalt 1994 und deren Aus- (IKSE) Daten erhoben und ausgewertet. wirkungen auf die mittelfristige Finanzplanung Demzufolge stellt sich die Situation in den neuen machen es erforderlich, daß zusammen mit der Deut- Bundesländern wie folgt dar: schen Bahn AG eine Prioritätenreihung für die einzel- nen Schienenprojekte des Schienenwegeausbauge- In den alten Bundesländern hat sich die Gewässer- setzes vorgenommen werden muß. Hierbei ist auch beschaffenheit auf Grund der verstärkt durchgeführ- über die zeitliche Realisierung der Verkehrsprojekte ten Abwasserreinigungsmaßnahmen von Städten, Deutsche Einheit zu entscheiden, die aus Sicht der Gemeinden und Industrie bereits erheblich verbes- Bundesregierung nach wie vor eine hohe Priorität sert. Die Fließgewässer in den neuen Bundesländern haben. sind dagegen zum Teil in einem erheblich schlechte- ren Zustand. Betriebsstillegungen, Produktionsprofiländerun- gen und erste Sanierungsmaßnahmen haben die Bela- stung der Fließgewässer jedoch bereits deutlich redu- ziert. Dadurch hat sich die Selbstreinigungsleistung Anlage 17 der Gewässer verbessert. Antwort Wegen der Anreicherung bestimmter Schadstoffe sind die Sedimente der Gewässer jedoch häufig kri- tisch belastet. Hier gibt es noch Informationsdefizite, des Parl. Staatssekretärs Manfred Carstens auf die die schnell beseitigt werden müssen. Aus diesem Fragen der Abgeordneten Elke Ferner (SPD) (Druck- Grunde werden von den Ländern die Erarbeitung von sache 12/6892 Fragen 50 und 51): Sedimentkatastern geplant oder ist mit ihrer Erstel- Welche Auswirkungen wird der Kabinettsbeschluß, privat lung bereits begonnen. Endgültige Ergebnisse liegen vorfinanzierte und über Mautgebühren von den Nutzern zu bisher noch nicht vor. bezahlende Straßenverkehrsprojekte zu ermöglichen, auf die bislang für die Privatfinanzierung nach dem Konzessionsmodell Erste Zwischenergebnisse zeigen, daß sich die deut- vorgesehenen Verkehrsprojekte haben? liche Senkung der Schadstoffbelastung im Gewässer noch nicht in einer spürbaren Verbesserung der Welche Projekte aus dem Bundesverkehrswegeplan kämen für eine solche Privatfinanzierung nach dem Mautmodell in Sedimentqualität widerspiegelt. Frage, und gibt es darüber hinaus derar tige Projekte, die nicht im Zur Reduzierung der Belastung und zur Vermei- Bundesverkehrswegeplan enthalten sind? dung von Gefährdungen wurde bereits 1990 die Internationale Kommission zum Schutz der Elbe Zu Frage 50: (IKSE) gebildet, die inzwischen ein Aktionsprogramm für das Einzugsgebiet der Elbe, das rund 75 % des Keine Gebietes der neuen Bundesländer umfaßt, konzipiert hat. Zu Frage 51: Gesundheitliche Gefahren für Mensch und Tier durch landwirtschaftliche Produkte bestehen im übri- Welche Projekte des Bundesverkehrswegeplans für gen bei Einhaltung der lebensmittel- und futterrecht- eine Privatfinanzierung mit Maut in Betracht kom- lichen Vorschriften nicht. men, wird im Benehmen mit den Ländern geprüft. In erster Linie kommen besonders kostspielige Brücken- und Tunnelbauwerke für den Fernstraßenbau in Betracht, die ansonsten auf absehbare Zeit keine Realisierungschance besäßen. Anlage 19 Antwort Dies können Projekte sein, die bislang nicht im Bundesverkehrswegeplan enthalten sind oder solche, des Parl. Staatssekretärs Ulrich Klinkert auf die Fra- für die in den nächsten Jahrzehnten keine Finanzie- gen des Abgeordneten Eckart Kuhlwein (SPD) rungsmöglichkeit gesehen wird. (Drucksache 12/6892 Fragen 53 und 54): Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18503'

Wie will die Bundesregierung die Hauptursache für den struktur und Küstenschutz ist, grundsätzlich nicht anhaltenden Rückgang des WeiBstorchbestandes in der Bundes- republik Deutschland, nämlich die Zerstörung der Nahrungsge- gefördert werden: biete — insbesondere die Entwässerung großer Feuchtwiesen- gebiete u. a. im Rahmen der Flurbereinigung — verhindern, und — Entwässerung und Tiefumbruch von Grünland, mit welchen Mitteln sollten im Rahmen der Gemeinschaftsauf- gabe zur Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschut- — Umwandlung von Grünland in Acker und dessen zes und der EG-Förderung einer umweltverträglichen extensi- anschließende Entwässerung, ven Landwirtschaft Lebensräume des Weißstorches erhalten bzw. wiederhergestellt werden? — Umwandlung von Ödland in landwirtschaftliche Welche Beeinträchtigungen der Lebensräume des Weißstor- Nutzfläche und deren anschließende Entwässe- ches sind durch die geplanten Verkehrswegeausbauprojekte rung. der A 20, Havel, Elbe, Oder und Donau zu erwarten, und wie will die Bundesregierung diese möglicherweise zusätzlich drohende Gefährdung des Weißstorchbestandes verhindern? Damit wird auch erreicht, daß Lebensräume des Weißstorchs erhalten bleiben.

Zu Frage 53: Im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe ist zur Nach Auffassung der Bundesregierung sind für die Umsetzung eines Teiles der Maßnahmen nach VO Beseitigung der Hauptursachen des Rückgangs des (EWG) 2078/92 ferner die Förderung extensiver L and- Weißstorchbestandes in der Bundesrepublik Deutsch- wirtschaftungsformen geplant. land, nämlich die Zerstörung der Lebensräume, detaillierte Artenschutzprogramme notwendig. Diese Förderung umfaßt aber nur agrarstrukturpo- litisch bedeutende Maßnahmebereiche. Eine gezielte Derartige Artenschutzprogramme sind ebenso Län- Erhaltung/Wiederherstellung spezifischer Lebens- dersache wie der Schutz des Lebensraumes „Feucht räume entspricht nicht der Gesamtzielsetzung der wiesen". Gemeinschaftsaufgabe. Im Rahmen des Fördertitels zur Errichtung und Mittel aus der EG-Förderung können im Rahmen Sicherung schutzwürdiger Teile von Natur und Land- von Länderprogrammen durchaus für biotopsichern- schaft mit gesamtstaatlich repräsentativer Bedeutung de Maßnahmen in Anspruch genommen werden (z. B. einschließlich der Förderung von Gewässerrandstrei- 20jährige Flächenstillegung). fen fördert der Bund seit 1979 Maßnahmen- zur Opti- mierung realer und potentieller Weißstorch-Lebens- räume, so: Zu Frage 54: Schleswig-Holstein: Alte-Sorge-Schleife Bei der Planung der A 20 wurde im Rahmen der Haseldorfer Marsch Linienfindung über faunistische Grundkartierungen Schaalsee-Landschaft der Weißstorch als Indikatorart für Grünlandbereiche Niedersachsen: berücksichtigt. An Elbe und Oder sind keine Ausbau- Gartow-Höhbeck ten geplant, die Lebensräume des Weißstorchs beein- trächtigen können. Der Bundesregierung liegen für Fischerhuder Wümmeniederung Meißendorfer Teiche Oder und Donau keine aktuellen Kartierungen der Weißstorchhabitate vor. Meerbruch/Steinhuder Meer Bremen: Es werden jedoch bei jedem Verkehrswegeprojekt Borgfelder Wümmewiesen die Auswirkungen auf Natur und Landschaft unter- sucht. Dies hat zum Ziel, unmittelbare Beeinträchti- Mecklenburg-Vorpommern: gungen der Lebensräume von im Bestand gefährde- Schaalsee-Landschaft ten Pflanzen und Tieren zu vermeiden oder auf das Brandenburg: unvermeidbare Maß zu mindern. Unvermeidbare Unteres Odertal Beeinträchtigungen sind durch gezielte Maßnahmen, Nuthe-Nieplitz-Niederung die im landschaftspflegerischen Begleitplan zum Sachsen-Anhalt: Planfeststellungsbeschluß festzulegen sind, auszu- Drömling gleichen oder zu ersetzen. Solche Ausgleichs- und Ersatzflächen für Nahrungshabitate von Weißstör- Bayern chen sind durch Umwandlung von intensiv genutzten Regentalaue/Lkr. Cham Acker- und Grünlandflächen in feuchte Standorte Außerdem fördert die Bundesregierung ein F + E- sowie durch die Anlage von Feuchtgebieten relativ Vorhaben „Feuchtgebietsschutz in der Bundesrepu- problemlos herstellbar; Erfahrungen belegen, daß blik Deutschland durch Gebietsmonitoring speziell diese nach Besiedlung durch die Nahrungstiere auch der Feuchtgebiete Internationaler Bedeutung gemäß durch die Störche angenommen werden. Ramsar-Konvention" . Dieses Vorhaben wird fachlich- Bei einer unumgänglichen Inanspruchnahme von wissenschaftliche Erkenntnisse erbringen, die den in Nahrungsbiotopen durch bauliche Maßnahmen einigen der Feuchtgebiete internationaler Bedeutung kommt es daher sehr darauf an, daß die Ausgleichs- lebenden Weißstörchen zugute kommen können. und Ersatzmaßnahmen möglichst frühzeitig, also Im übrigen darf nach den „Grundsätzen für die möglichst vor Beginn der Baumaßnahmen, und im Förderung der Flurbereinigung", der Bestandteil des funktionalen Zusammenhang mit den beeinträchtig- Rahmenplanes der Gemeinschaftsaufgabe Agrar- ten Flächen durchgeführt werden. 18504* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994

Anlage 20 Diese Schutzmaßnahmen kommen auch Weißstör- chen zugute. Antwort Schließlich fördert die Bundesregierung ein des Parl. Staatssekretärs Ul rich Klinkert auf die Fra- deutsch-israelisches Forschungs- und Entwicklungs- gen der Abgeordneten Ulrike Mehl (SPD) (Drucksa- programm zur Erforschung des Weißstorchenzuges che 12/6892 Fragen 55 und 56): zwecks Erstellung eines internationalen Hilfspro- Wie beurteilt die Bundesregierung die Überlebenschancen gramms. des Weißstorches aufgrund des Brutbestandes in den letzten Jahrzehnten in Deutschland, und welche Informationen liegen Ferner unterstützt die Bundesregierung die Bemü- der Bundesregierung über die Gründe des evtl. drohenden hungen um ein Abkommen zur Erhaltung der afrika- Aussterbens des Weißstorches, der vom Naturschutzbund Deutschland (NABU) und dem Landesbund für Vogelschutz in nisch-eurasischen wandernden Wasservögel als Re- Bayern (LBV) zum Vogel des Jahres 1994 gewählt wurde, gionalabkommen zur Bonner Konvention zur Erhal- vor? tung wandernder wildlebender Tierarten. Bestandteil Wie ist die Bundesrepublik Deutschland ihren Verpflichtun- dieses Abkommens ist u. a. ein spezieller Aktionsplan gen, die sich aus der Berner Konvention, der Bonner Konvention für Störche, Ibisse und Löffler. und der EG-Vogelschutzrichtlinie zum Schutz des Weißstorches und seines natürlichen Lebensraumes ergeben, bisher nachge- kommen, und was gedenkt die Bundesregierung zukünftig zur Erfüllung ihrer international eingegangenen Verpflichtungen zu tun? Anlage 21 Zu Frage 55: Antwort Die Bundesregierung teilt die u. a. in der „Roten des Parl. Staatssekretärs Ul rich Klinkert auf die Frage Liste der Vögel" enthaltene Expertenauffassung, daß des Abgeordneten Horst Kubatschka (SPD) (Drucksa- der Weißstorch aufgrund der Entwicklung der Brutbe- che 12/6892 Frage 57): stände als vom Aussterben bedroht einzustufen ist und Wie beurteilt die Bundesregierung die Forde rungen des seine Überlebenschancen daher als kritisch einzustu- Sachverständigenrates für Umweltfragen, die Dieselmotoremis- fen sind; nicht zuletzt deshalb begrüßt sie es, daß mit sionen durch technische Maßnahmen und durch die Durchset- zung der Euronormen 2 bis 4 zu reduzieren, und wie wird die seiner Benennung zum „Vogel des Jahres" das Bundesregierung diese Forde rungen in die Tat umsetzen? Bewußtsein für seine Lage öffentlichkeitswirksam - geschärft wurde. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen be- Der Brutbestand des Weißstorches hat in den letzten schreibt in seinem Gutachten vier Stufen für die Jahrzehnten in den Ländern der „alten" Bundesrepu- Partikelemission der Dieselmotoren von Pkw. Ausge- blik kontinuierlich abgenommen, vielerorts ist er hend von 100 % in der Basisstufe 1, werden in der verschwunden. Wichtigste Brutgebiete sind heute in Stufe 2 die Partikelemissionen bzw. deren kanzeroge- den Flußtälern von Eider, Elbe, Weser, Aller, Ems und nes Wirkungspotential auf 54 %, in der Stufe 3 auf Rhein. In den östlichen Bundesländern ist der Weiß- 27 % und in der Stufe 4 auf 13,5 % gesenken. storch noch weit verbreitet und in seinem Bestand Diese stufenweise Minderung entspricht in vollem bisher relativ stabil. Umfang den Vorstellungen der Bundesregierung. Sie Die Hauptgründe für den Rückgang des Weiß- hat einen entsprechenden Stufenplan in den Gremien storchs sind: der EU eingereicht. — Zerstörung der Lebensräume Die Stufe 2 mit einem Partikelgrenzwert von — Schadstoffbelastung durch Schwermetalle, persi- 0,18 g/km ist seit 1. Januar 1993 europaweit in Kraft. stente Pestizide und Industriechemikalien Die Stufe 3 mit einem Partikelgrenzwert von 0,08 g/ — Unfälle an Freileitungen km ist bereits in einem einstimmig vom Umweltrat gefaßten gemeinsamen Standpunkt enthalten und soll — Bejagung im Überwinterungsgebiet und auf dem am 1. Januar 1996 für die Erteilung neuer Betriebser- Zugweg laubnisse und am 1. Januar 1997 für alle Neufahr- — reduziertes Nahrungsangebot im Sahel-Gürtel zeuge in Kraft treten. Als weitere Stufe hat die durch zunehmende Dürre Bundesregierung für 1999/2000 einen Partikelgrenz- wert von 0,04 g/km vorgeschlagen. Über diese Stufe Zu Frage 56: sind die Beratungen in den Fachgremien der EG bereits aufgenommen worden. Der Weißstorch ist laut Bundesartenschutzverord- nung als vom Aussterben bedroht eingestuft. Damit Es ist darauf hinzuweisen, daß die vom Sachverstän- gelten für ihn die strengen Verbote des § 20f des digenrat vorgenommene Zählweise der Euronormen Bundesnaturschutzgesetzes. Die Bundesregierung von der bei der Bundesregierung und Indust rie übli- hat hiermit die entsprechenden Verpflichtungen aus chen Zählweise — eine offizielle Zählweise gibt es der Berner Konven tion und aus der EG-Vogelschutz nicht — abweicht und sich um eine Stufe unterschei- richtlinie umgesetzt. det. Die Ausgangsstufe wird meist Euro 0 genannt, der die drei Verschärfungsstufen Euro 1, Euro 2 und Zu den einzelnen Maßnahmen habe ich gerade Euro 3 folgen. Stellung genommen. Darüber hinaus hat sich die Bundesregierung zusammen mit Naturschutzverbän- Es ist ferner darauf hinzuweisen, daß der Hauptteil den in Vereinbarungen mit der Vereinigung Deut- der Partikelemissionen im Straßenverkehr nicht den scher Elektrizitätswerke für einen verbesserten Pkw sondern den Lkw und Bussen entstammt. Auch Vogelschutz an Starkstrom-Freileitungen eingesetzt. hierfür hat die Bundesregierung bei der EU einen Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 213. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 3. März 1994 18505* entsprechenden Stufenplan eingereicht, der bis auf Zu Frage 58: die Stufe 1999/2000 bereits Rechtskraft hat. Über die Stufe 1999/2000 wird zur Zeit in den Fachgremien Die von der G.E.O.S. Freiberg Ingenieurgesell- beraten. Die sehr entscheidende Stufe 1996 bei Lkw, schaft mbH erstellte „Kenntnisstandsanalyse" sowie die eine Senkung des Partikelwerts von 0,4 g/kWh auf weitere vom Freistaat Sachsen veranlaßte, noch lau- 0,15 g/kWh bringt, wird in Deutschl and in der Praxis fende Untersuchungen lassen auf das Vorliegen von vorgezogen, da diese Stufe durch die ab 1. April 1994 Bergbaufolgeschäden schließen. Eine Bewertung im veränderte Kfz-Steuer für Lkw finanziell gefördert einzelnen ist zur Zeit nicht möglich, weil die Untersu- wird. chungen noch nicht abgeschlossen sind.

Anlage 22 Zu Frage 59: Antwort Die Bundesregierung verfolgt in den Verhandlun- des Parl. Staatssekretärs Ulrich Klinkert auf die Fra- gen mit der polnischen Seite das Ziel, eine Offenle- gen des Abgeordneten Christian Müller (Zittau) gung der für eine Gefahrenabschätzung auf deutscher (SPD) (Drucksache 12/6892 Fragen 58 und 59): Seite relevanten Angaben zum Tagebau Turow, eine Wie beurteilt die Bundesregierung die Ergebnisse der von der Beteiligung an Untersuchungen sowie eine Fortfüh- G.E.O.S. Freiberg Ingenieurgesellschaft mbH erstellten „Kennt- rung des Kohleabbaues ohne Beeinträchtigungen für nisstandsanalyse zu hydrogeologischen und geotechnischen die deutsche Seite zu erreichen. Problemen unter dem Aspekt des Grundwasserentzuges durch den Braunkohlentagebau Turow (Polen) im Raum Zittau" hin- sichtlich der Folgen für die Gemeinde Drausendorf, das Gewer- Der jetzige Stand der Untersuchungen reicht für begebiet Weinau der Stadt Zittau und die Stadt Zittau selbst oder eine umfassende Gesamteinschätzung noch nicht aus. liegen der Bundesregierung von der G.E.O.S.-Analyse abwei- Soweit es sich bei den vorliegenden Schäden um chende Erkenntnisse vor? durch den Tagebau Turow verursachte Schäden han- Welches Ziel (zeitlich und inhaltlich) verfolgt die Bundesre- delt, liegt die Haftung ausschließlich auf polnischer gierung in Verhandlungen mit der Republik Polen, um Schaden für die betroffenen Gebiete abzuwenden oder zu begrenzen, und Seite. welche Schadensersatzleistungen sieht die Bundesregierung für die unmittelbar betroffenen Einwohner von Drausendorf, auch Die Bundesregierung kann für die vorliegenden im Falle einer notwendigen Aufgabe des Dorfes, vor? Schäden nicht aufkommen.