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Schriftenreihe Nr. 201 zum Recht der Werkverträge und der Zeitarbeit

Rechtssicherheit und Freiheit im Europäischen Recht

Eine Festgabe

für

Carl Otto Lenz

überreicht

von der Arbeitsgemeinschaft Werkverträge und Zeitarbeit

und von dem Verein Heidelberger Europagespräche

Mannheim 2018

AWZ Logo

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Impressum

2018 Mannheim

ISBN 978-3-9818702-4-4

Herausgeber:

Arbeitsgemeinschaft Werkverträge und Zeitarbeit M 7, 3 (Alte Reichsbank) D-68161 Mannheim Tel. 0049 (0)621 39180100 [email protected]

Heidelberger Europagespräche e. V.

Redaktion: Dr. Frank Hennecke

Verlag Dr. Frank Hennecke, D-67061 Ludwigshafen am Rhein, Herzogstraße 15

Druck: Baier Digitaldruck GmbH, Tullastraße 27, D-69126 Heidelberg

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Herausgebers. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Rechte vorbehalten.

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Rechtssicherheit und Freiheit im Europäischen Recht

Eine Festgabe

für

Carl Otto Lenz

überreicht

von der Arbeitsgemeinschaft Werkverträge und Zeitarbeit

und dem Verein Heidelberger Europagespräche

Mannheim 2018

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Inhalt

Vorwort und Widmung...... 5

I. Carl Otto Lenz. Die Autobiographie...... 6

II. Ein Fall aus dem Wirken von Carl Otto Lenz als Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof...... 39 1. Schlußanträge des Generalanwalts C. O. Lenz vom 19. Januar 1995, Rechtssache C 425/93...... 39 2. Urteil des EuGH vom 16. Februar 1995, Rechtssache C-425/93...... 57 3. Frank Hennecke: Freiheit der Dienstleistung und nationalstaatliche Souveränität in der Europäischen Union...... 63

III. Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft Werkverträge und Zeitarbeit...... 93 1. Allgemeines zum Europarecht...... 93 2. Speziell zur Bindungswirkung der Entsendebescheinigung...... 94 3. Christian Andorfer: Risiken beim Einsatz ausländischer Fremdfirmen...... 95

IV. Interview mit Carl Otto Lenz...... 109

V. Satzung der Heidelberger Europagespräche e. V...... 120

VI. Satzung der Arbeitsgemeinschaft Werkverträge und Zeitarbeit (AWZ)...... 125

Anhang: Schriftenverzeichnis der Arbeitsgemeinschaft Werkverträge und Zeitarbeit ...... 128 .

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Vorwort und Widmung

Die vorliegende kleine Schrift ist dem ehemaligen Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg Professor Dr. iur. Carl Otto Lenz als persönliche Festgabe gewidmet. Professor Lenz ist den Herausgebern, der Arbeitsgemeinschaft Werkverträge und Zeitarbeit und dem Verein Heidelberger Europagespräche, sowie der Mannheimer Rechtsanwaltssocietät Professor Dr. iur. Hansjürgen Tuengerthal & Kollegen in langjähriger Begegnung, in offenem Dialog und mit überlegenem Ratschlag sehr verbunden. Die Herausgeber möchten mit dieser Schrift ihre Dankbarkeit für stete Zuwendung zum Ausdruck bringen und Professor Lenz als einen herausragenden Juristen und Wegbereiter des Europäischen Rechtes und zugleich als Mitbegründer und Ehrenvorsitzender der „Heidelberger Europagespräche“ ehren. Sie versuchen mit einer exemplarischen Würdigung eines bestimmten Themas, dessen sich Professor Lenz als Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof angenommen hatte, ihrem Dank und ihrer hohen Wertschätzung Ausdruck und Form zu geben. Eine umfassende Biographie darzustellen und das gesamte Lebenswerk von Professor Lenz zu würdigen lag indes außerhalb ihres Vermögens. Möge aber diese kleine Schrift den Blick dafür öffnen, was ein Einzelner, der sich festen Grundsätzen verpflichtet weiß und dem das Recht die Leitlinie politischen und beruflichen Handelns ist, für den Aufbau der Europäischen Rechtsordnung und damit für die Europäische Integration insgesamt zu leisten vermag.

Mannheim / Heidelberg, im November 2018

Hansjürgen Tuengerthal Christian Andorfer Markus Stephani

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I. Carl Otto Lenz Die Autobiographie

Carl Otto Lenz, der spätere Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof in Luxembourg und Honorarprofessor für Europarecht an der Universität des Saarlandes, ist im Jahre 1930 geboren. Seine Kindheit und Jugend ist von der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und des Zweiten Weltkrieges geprägt, ohne daß er aber in die damaligen Verhältnisse noch hätte persönlich verwickelt werden können. Für ihn gilt das vielfach mißdeutete aber eben doch zutreffende Wort von von der Gnade der späten Geburt. Ausbildung und Berufsleben aber fallen in die Zeit des demo- kratischen, wirtschaftlichen und moralischen Wiederaufbaus in der Bundesrepublik Deutschland und, folgenreich genug, der Gründung der Europäischen Gemeinschaften. Carl Otto Lenz gehört einer Generation an, die nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und dem Erlebnis totalitärer Regime in führender Stelle den Wiederaufbau jedenfalls des westlichen Europas geleistet und eine jahrzehntelange Ordnung des Friedens und der Rechtstaatlichkeit geschaffen hat.

Carl Otto Lenz berichtet über sein Leben in einer Autobiographie, die er den Herausgebern ebenso großzügig und wie freimütig überlassen hat und die nachfolgend in autorisierter Fassung wiedergegeben wird.

„In völliger Unabhängigkeit“

von Dr. Carl Otto Lenz

Teil 1

Mein Weg nach Luxemburg

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Dass ich einmal Generalanwalt am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften sein würde, ist mir nicht an der Wiege gesungen worden. Rückschauend betrachtet enthält mein Lebenslauf jedoch eine Reihe von Elementen, die ein solches Berufsziel möglich machten. Dazu müssen wir zunächst feststellen, welche Voraussetzungen erforderlich oder wünschenswert sind für die Bekleidung dieses Amtes. Das Unionsrecht schreibt vor, dass zu Richtern und Generalanwälten solche Persönlichkeiten auszuwählen sind, die jede Gewähr für ihre Unabhängigkeit bieten und in ihrem Staat die für die höchsten richterlichen Ämter erforderlichen Voraussetzungen erfüllen oder Juristen von anerkannt hervorragender Befähigung sind.

Ich stamme aus einer Juristenfamilie. Mein Großvater mütter- licherseits war der erste Jurist in der Familie. Er stammte aus einem Winzergeschlecht aus Kinheim an der Mosel. Vor dem 1. Weltkrieg war er Bürgermeister von Mayen bei Koblenz, danach Landrat von Trier, in der Zwischenzeit Soldat. Die französische Besatzungsmacht setzte ihn als Landrat ab. Nach dem Abzug der Franzosen wurde er wieder eingesetzt und nach der Machtergreifung der NSDAP wieder abgesetzt. Die Großeltern lebten in . Wir haben sie oft besucht. Ich habe meinen Großvater oft zum Arzt begleitet. Zur Erst- kommunion hat er mir eine Weltgeschichte aus einem Schweizer Verlag geschenkt, weil er verhindern wollte, dass meine Sicht der Geschichte von den damaligen NS-Darstellungen geprägt werde. Er starb 1944.

Auch mein Vater war Jurist. Wie der Großvater gehörte er der Zentrumspartei an. Bis 1933 war er Pressereferent, dann Referent für Handels- und Wirtschaftsrecht im Preußischen Justizministerium. 1938 schied er als Landgerichtsdirektor aus dem Justizdienst aus unter Verzicht auf alle etwaigen Ansprüche aus dem Beamten- verhältnis. Er wurde Rechtswalt am Kammergericht, während des Krieges Rechtsberater beim Reichskommissar am Oberprisenhof. Nach dem 20. Juli 1944 wurde er verhaftet und vom Volksgerichtshof unter dem Vorsitz von Roland Freisler wegen Zusammenarbeit mit Goerdeler zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.

Nach Kriegsende war der Vater Rechtsanwalt und Notar in Berlin, ab 1950 in München. Er war Mitbegründer der CDU in Berlin und

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Mitunterzeichner des Gründungsaufrufs. In diesem Aufruf findet sich der Satz:

„Das Recht muss wieder die Grundlage des ganzen öffentlichen Lebens werden. An Stelle der Lüge: „Recht ist, was dem Volke nützt“, muss die ewige Wahrheit treten: „Dem Volke nutzt nur, was Recht ist“.

Der Vater war später Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaft CDU/CSU als Vertreter , von 1951 bis September 1953 Staatssekretär im Bundeskanzleramt und ab September 1953 Bundes- tagsabgeordneter des Wahlkreises Ahrweiler.1 Er starb 1957 an einer Krankheit, die er sich auf einer Reise durch die französischen Kolonien in Westafrika im Zusammenhang mit der anstehenden Ratifizierung des EWG-Vertrages durch den zugezogen hatte.

Man mag sich fragen, ob diese Hintergründe für mein späteres Denken wichtig waren. Ich glaube das schon. Auch die Einsicht, dass die Mehrheit nicht immer Recht hat, sondern das Recht eine andere Kategorie ist, hat ihren Ursprung in jener Zeit.

Ich selbst wollte ursprünglich Geschichte studieren. Mein Vater klärte mich über die Berufsaussichten von studierten Historikern auf. Ich habe mich dann doch entschlossen, in die Fußstapfen meiner Vorfahren zu treten. Ich studierte Rechtswissenschaften in München, , Fribourg (CH) und Bonn. Beide Staatsexamen legte ich in Nordrhein-Westfalen ab. Einer der Prüfer im ersten Staats- examen war der Bonner Universitätsprofessor Ulrich Scheuner. Er prüfte mich in amerikanischem Verfassungsrecht. Damit hatte ich mich auf Anraten meines Vaters beschäftigt.

Schon nach dem Abitur 1948 hatte ich mich für ein Stipendium für ein Studium in Amerika interessiert, aber erst der zweite Anlauf nach dem ersten Staatsexamen war erfolgreich. In der Prüfung vor der „Fulbright Commission“ wurde ich wieder von Professor Scheuner in amerikanischem Verfassungsrecht geprüft. Mein Vater riet mir, ich solle doch versuchen, mir von Prof. Scheuner ein Promotionsthema geben zu lassen und daran in Amerika zu arbeiten. Dies gelang. Ich

1 Eintrag im Amtlichen Handbuch des Deutschen Bundestages, 2. Wahlperiode, S. 407.

9 sollte mich um die Beratungsinstitutionen des US-Präsidenten kümmern. Ich erhielt einen Studienplatz an der in Ithaca, N.Y. Entsprechend dem Promotionsthema schrieb ich mich nicht an der Law-school, sondern im „Liberal Arts College“ ein, um „American Government“ zu studieren und das Material für meine Doktorarbeit zu sammeln. Ich fuhr mehrfach nach Washington, um einschlägige Persönlichkeiten zu interviewen. Die Namen und das Recht, mich auf ihn zu berufen, gab mir Professor Dotson. Das funktionierte. Ich weiß nicht, ob das in Deutschland 1956 auch geklappt hätte. Die Doktorarbeit habe ich 1958 während des Sommersemesters an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer fertiggestellt. Die mündliche Prüfung fand am 28. Februar 1961, dem Tag der Verkündung des 1. Fernsehurteils, statt. Prof. Scheuner vertrat die beklagte Bundesregierung, der Korreferent die Kläger, weshalb die Prüfung etwas abgekürzt wurde, damit die Prüfer das Urteil am Radio hören konnten. Die Kläger haben gewonnen.

Noch während der Referendarzeit hatte ich mich auf Anraten von Prof. Furler, einem Bundestagskollegen meines Vaters, bei dem ich in Freiburg Urheberrecht gehört hatte, um den Postens des General- sekretärs der Christlich-Demokratischen (C-D) Fraktion des Europäischen Parlaments (EP) beworben, der gerade frei geworden war und für den die deutsche Delegation in der Fraktion ein Vorschlagsrecht hatte. Im Bewerbungsgespräch mit dem Vorstand der deutschen Delegation sprach ich mich für die Integration nach der Methode Monnet und gegen ein französisch-deutsches Duumvirat aus, das angeblich von De Gaulle verfolgt wurde. Die Abgeordneten meinten, diese Einstellung würde gut zu dem angestrebten Amt passen.

Französischkenntnisse

An dieser Stelle muss ich die Schilderung meines juristischen Hintergrundes unterbrechen und mich einem zweiten Erfordernis für das Amt des Generalanwalts zuwenden, der Kenntnis der französischen Sprache. Sie ist zwar nicht vorgeschrieben, aber unentbehrlich, denn das Französische ist die lingua franca des Gerichtshofs.

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Sie war nicht weniger unentbehrlich für das Amt des Generalsekretärs der C-D Fraktion des EP, denn unser Fraktions- vorsitzender war Alain Poher, Franzose, Senator und Bürgermeister von Ablon bei Paris. Natürlich sprach er mit mir Französisch und die schriftlichen Vorlagen für ihn waren in französischer Sprache abgefasst. Meine Stellvertreterin war Französin und wir hatten meist auch francophone Sekretärinnen. Das erleichterte die Dinge, war aber kein Ersatz für eigene Kenntnisse.

Diese verdanke ich der französischen Besatzungsmacht. Meine Mutter und meine Geschwister verbrachten die letzten Kriegs- und die ersten Nachkriegsjahre in Treis an der Mosel. Das Moselland wurde von den Amerikanern erobert und dann der französischen Besatzungszone zugeschlagen. Die Franzosen eröffneten bereit im Frühherbst 1945 die Schulen und führten den obligatorischen Französisch-Unterricht ein, eine Stunde Französisch pro Schultag. So auch im 6-klassigen Realprogymnasium Cochem/Mosel. Ich war ein Jahr auf dieser Schule. Meine Kenntnisse der französischen Grammatik verdanke ich meiner damaligen Lehrerin, die sich auch von dem französischen Offizier zuständig für das Schulwesen nicht von der Gewissheit der Richtigkeit ihrer Kenntnisse abbringen ließ.

Wir zogen dann nach München. An meiner Schule, dem Luitpold- Realgymnasium gab es keinen Französisch-Unterricht. Da ich nach dem Abitur 1948 als Nichtkriegsteilnehmer nicht gleich mit dem Studium beginnen konnte (wir mussten ersten Aufbaudienst an den zerstörten Universitätsgebäuden leisten) riet mir mein Vater, Französisch auf der Volkshochschule zu nehmen. Ich folgte seinem Rat. Wir haben uns u.a. mit Napoleon beschäftigt. Das Fazit unserer Lehrerin war: Peut d’hommes ont exercé sur le monde une influence aussi profonde, aussi durable que Napoléon.

1949 organisierte mein Vater einen Austausch mit einem französischen Beamten, der an der École des Sciences politiques studierte. 1950 machte ich meinen Gegenbesuch in Paris und in der Gegend von Blois. Mein Austauschpartner war verheiratet und hatte zwei Kinder im Vorschulalter. Sie sprachen ein wohl artikuliertes, gut verständliches Französisch. Ich beneidete sie. Am Ende des Aufent- halts waren meine Gastgeber aber mit meinen Fortschritten in Französisch ganz zufrieden.

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1951 verbrachte ich das Sommersemester in Fribourg (CH). Die Stadt ist zweisprachig, aber das dort gesprochene Schwyzerdütsch habe ich nicht verstanden, aber ich konnte ja auf Französisch aus- weichen.

Meine derart erworbenen Kenntnisse wurden 1959 auf die Probe gestellt bei einem Mittagessen in Brüssel mit meinem zukünftigen Chef Alain Poher. Es war sehr warm und es gab Wein zum Essen. Ich kam ganz schön ins Schwitzen, aber offenbar war Poher mit mir zufrieden und ich konnte das Amt wenige Tage nach dem 2. Staats- examen in Luxemburg antreten.

Rechtskenntnisse (Fortsetzung)

Die Organe der EWG, darunter das EP, beschäftigten sich damals mit der Errichtung des Gemeinsamen Marktes, der während einer Übergangszeit von 12 Jahren verwirklicht werden sollte. Die Übergangszeit bestand aus drei Stufen von je vier Jahren. Jede Stufe bestand aus einer Gesamtheit von Maßnahmen die zusammen eingeleitet und durchgeführt werden mussten. Wir befanden uns damals in der ersten und zweiten Stufe, vom 1.1.158 bis zum 31.12.1961 und vom 1.1.1962 bis zum 31.12.1966. Es ging um die Verwirklichung der Zollunion, der Warenverkehrsfreiheit, die Ent- wicklung einer gemeinsamen Agrarpolitik. die Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitskräfte und des freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs, eine gemeinsame Verkehrspolitik, gemeinsame Wettbewerbsregeln und die Angleichung von Rechtsvorschriften, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken. Kurzum, es ging um die Einhaltung und Anwendung des EWG-Vertrages.

Es ging auch um den Wandel am Energiemarkt durch das Aufkommen der Atomkraft (das Atomium in Brüssel erinnerte immer daran), das Vordringen des Öls und die dadurch veränderte Marktstellung der Kohle mit ihren sozialen Auswirkungen in den Mitgliedstaaten, d. h. auch um die Anwendung des Montan- und des Euratom-Vertrages.

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Es ging auch um das Verhältnis von Parlament, Rat und Kommission zueinander, das Nebeneinander von drei Gemeinschaften, drei Räten und drei Exekutivorganen.

Das EP bestand damals aus Vertretern der Völker der in den Gemeinschaften zusammen geschlossenen Staaten, die nach einem von jedem Mitgliedstaat bestimmten Verfahren von den jeweiligen Parlamenten aus ihrer Mitte ernannt wurden. Die Innenpolitik der Mitgliedstaaten wirkte sich unmittelbar auf das Funktionieren des EP aus. Bei einer namentlichen Abstimmung im Bundestag fehlte die deutsche Delegation in Straßburg. Auf diese Weise kam ich auch in engeren Kontakt mit Bundestagsabgeordneten, wie dem Vorsitzenden des Binnenmarktausschusses des EP, Joseph Illerhaus, und dem Berichterstatter für die Anwendung der Wettbewerbsregelungen des EWG-Vertrages, der späteren VO Nr. 17, .

Auch im Bundestag blieb ich in Kontakt mit der europäischen Rechtsentwicklung. Die Bundesregierung hielt den Rechtsauschuss mit regelmäßigen Berichten auf dem Laufenden. Sie wurden meist von dem Ministerialdirektor Albrecht Krieger erstattet, der das Vertrauen des Rechtsausschusses genoss. Seine Berichte fanden stets allgemeine Zustimmung.

Die Nähe des Rechtsausschusses zu europäischen Entwicklungen illustriert folgender Vorgang: Für die Beratung des Gesetzes über die Wahl der Abgeordneten aus der Bundesrepublik Deutschland (Europawahlgesetz –EuWG) war der Innenausschuss federführend und der Rechtsauschuss mitberatend. Damals schwirrten wilde Gerüchte über die Privilegien der deutschen und anderer EP- Abgeordneten durch das Hohe Haus, die eine geordnete Beratung des Gesetzes zu erschweren, wenn nicht gar unmöglich zu machen drohten. Ich erbot mich, über meine Beziehungen zum General- sekretär des EP, Joachim Opitz, meinem Vorgänger im Amt des Generalsekretärs der C-D Fraktion des EP, einen sachkundigen Beamten des Generalsekretariats des EP in den Rechtsausschuss zu bitten, um den Sachverhalt aufzuklären. Dies geschah und alle Zweifelsfragen wurden aufgeklärt.

Es kam dann zu Meinungsverschiedenheiten über das Wahlsystem (Bundeslisten –SPD/FDP-Koalition- oder Landeslisten –CDU/CSU-

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Opposition). Nach Beratungen mit einem Beamten des Bundestages, Gerald Kretschmer, den ich von der Enquête-Kommission Verfassungsreform her kannte, schlug ich dem Parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, von Schöler (FDP), vor, es den Parteien zu überlassen, welches System sie bevorzugten. Dieser Vorschlag wurde dann Gesetz. Das Gesetz wurde wegen der darin enthaltenen 5%-Klausel vor dem BVerfG vergeblich angegriffen.2

Auch die von mir vorgeschlagene Enquête-Kommission Verfassungsreform beschäftigte sich mit europarechtlichen Fragen, nämlich dem Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und nationalem, hier deutschem Recht und dem Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht.3

Fähigkeit zur Zusammenarbeit erprobt a) Als Generalsekretär der Christlich-Demokratischen Fraktion des Europäischen Parlaments.

Das Europäische Parlament bestand damals aus 142 Abgeordneten der sechs Gründerstaaten der Europäischen Gemeinschaften EGKS, EAG und EWG, je 36 Deutsche, Franzosen und Italiener, je 14 Belgier und Niederländer und sechs Luxemburger. Sie wurden von den Parlamenten der Mitgliedstaaten gewählt, vom Deutschen Bundestag, von der Luxemburger Kammer und von den beiden Kammern der vier anderen Mitgliedstaaten. Etwa die Hälfte aller Abgeordneten gehörte der Christlich-Demokratischen Fraktion an, etwa je die Hälfte der Abgeordneten aus allen Mitgliedstaaten, mit Ausnahme Frankreichs. Es gab in unserer Fraktion nur drei Franzosen, zwei Abgeordnete, Robert Schuman und den Agrarpolitiker Charpentier und einen Senator, Alain Poher, den Fraktions- vorsitzenden. Seine Wahl vermied ein Kräftemessen zwischen den zahlenmäßig stärkeren Italienern und den präsenteren Deutschen und wog ein wenig die zahlenmäßige Schwäche der Franzosen auf. Robert

2 sie dazu Teil 3, Aufsatz 2.

3 siehe „Zur Sache“, herausgegeben vom Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages, 1/73, S. 58 ff.; 2/77, S. 231 ff.

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Schuman nahm als Parlamentspräsident an den Fraktionssitzungen nicht teil. Wenn Poher mit Charpentier den Fraktionssitzungssaal betrat, sagte er gelegentlich: „Voici la delégation francaise.“

Poher, ausgebildeter Jurist, Politikwissenschaftler und Bergbau- ingenieur, war das am meisten erfahrene Mitglied der Fraktion. Ursprünglich Beamter im Finanzministerium, war er nach der Befreiung Vorsitzender des Befreiungsausschusses des Finanz- ministeriums, Mitglied des MRP, Leiter des Büros des Finanz- ministers Robert Schuman 1946-47, Staatssekretär für Wirtschaft und Finanzen in der Regierung Schuman 1947-48, Staatssekretär für Haushalt in einer der Regierungen Henri Queuille, Staatsekretär für die Marine 1957-58, Bürgermeister von Ablon-sur-Seine, Mitglied des Rates der Republik, dann des Senats, Hauptberichterstatter des Finanzausschusses, Generalkommissar für deutsche und öster- reichische Angelegenheiten, französisches Mitglied und Vorsitzender der Internationalen Ruhrbehörde in Düsseldorf von 1950-52, Mitglied (und Vorsitzender des Verkehrsausschusses) der Gemeinsamen Versammlung der EGKS von 1952-58. Die französische Delegation in der Fraktion, bestehend aus Schuman, Poher und Charpentier im Landwirtschaftsausschuss deckte also wesentliche Teile des wirtschaftlichen Zuständigkeitsbereichs des Parlaments ab und stellten mit Schuman den Parlamentspräsidenten, einen der „Väter Europas“ und anerkannten Sprecher des „vereinten Europa“ und dem Vorsitzenden der größten Fraktion des EP die wichtigsten politischen Sprecher. Dem hatten weder Deutschland noch Italien etwas Ent- sprechendes entgegen zu setzen.

Poher war der Urtyp eines Parlamentariers, wie auch seine spätere Karriere als Präsident des Europäischen Parlaments von 1966-1969 und des französischen Senats von 1968-1992 beweist. In der deutschen Delegation war er anerkannt, aber seine vermittelnde Art stieß bei den Mitgliedern der CDU/CSU-Fraktion, die seit 1953 allein die Mehrheit im Bundestag stellte, nicht immer auf Verständnis. In Sachfragen hielt er sich meisten zurück, scheute aber auch die Kleinarbeit in den Ausschüssen nicht. Als ich in der Fraktion anfing, beschäftigte er sich u.a. mit der Abfassung eines Berichts über die Abwicklung der Schrottausgleichskasse der EGKS, wobei er sich der Mithilfe eines deutschen und eines luxemburgischen Beamten des

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Generalsekretariats des Parlaments bediente. Starke Vorbehalte hatte er gegen die Pläne der EWG-Kommission zur Verwirklichung der Wettbewerbsartikel 85 und 86 des EWG-Vertrages.

Die Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit dem Fraktionsvorsitzenden war die erste Voraussetzung für den Verbleib im Amt des Generalsekretärs. Dieser durfte allerdings auch nicht vergessen, wo er herkam. Die Pflege der Beziehungen zur deutschen Delegation war ebenfalls unerlässlich. Auch der Fraktionsvorsitzende und die deutsche Delegation waren an einem direkten Draht interessiert. Die Beziehungen zur deutschen Delegation wurden sehr erleichtert durch die Einladung, an den Sitzungen der Delegation teil zu nehmen, obwohl ich nicht Abgeordneter war. Das war ein Vertrauensbeweis und von großem Wert für meine spätere Tätigkeit im Bundestag. Ich hatte stets ein gutes Verhältnis zu Furler und zu den Vorsitzenden der Delegation, erst , dann Josef Illerhaus, aber auch zu anderen wie Arved Deringer, Hans August Lücker (er bot mir nach meiner Nominierung zum Bundestagskandidaten das „Du“ an) und zu dem Darmstädter Abgeordneten und CDU-Landeschatzmeister Walter Löhr, der wiederum gute Beziehungen zu dem südhessischen CDU- Bezirksvorsitzenden und Kreisvorsitzenden der CDU Bergstraße, Dr. Otto Wagner, pflegte.

Unproblematisch waren die Beziehungen zu den Luxemburgern. Die Nummer eins war Marcel Fischbach, nicht nur Parlaments- abgeordneter sondern auch Beigeordneter (échevin) der Stadt Luxemburg und Schatzmeister der Fraktion. Einmal im Monat ging ich zum Rathaus und holte unsere Gehaltschecks ab und erhielt eine Stunde Unterricht in Luxemburger Politik. Fischbach hatte in Bonn studiert und war später u.a. Botschafter in Bonn.

Gute Kontakte hielt ich zur belgischen Delegation mit dem ehemaligen Premierminister Jean Duvieusart und Senator Victor Lemans, die sich die Präsidentschaft des EP 1964-66 teilten.

Aus der niederländischen Delegation hatte ich mit dem späteren Ministerpräsidenten Barend Biesheuvel und Ph. C. M. van Campen guten Kontakt.

Am schwierigsten waren die Beziehungen mit der italienischen Delegation. Das war zum Teil eine Sprachenfrage. Mit den Benelux-

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Abgeordneten (außer Duvieusart) sprach ich in meiner Muttersprache, mit Duvieusart und den Franzosen in ihrer Muttersprache. Mit den Italienern gab es keine Muttersprache, die der jeweils andere verstand. Außerdem waren viele Italiener selten anwesend. All das erschwerte die unbefangene Kommunikation. Gute Kontakte hatte ich mit Edoardo Martino, Vorsitzender des Politischen Ausschusses des EP und späteren Kommissar für Außenbeziehungen der EG, und Mario Pedini, später Minister in mehreren Regierungen Andreotti.

Schließlich muss die Generalsekretariate des Parlaments und die der Fraktionen genannt werden. Das Generalsekretariat der Fraktion bestand am Ende meiner Amtszeit aus sechs Personen, den stellvertretenden Generalsekretären Michelle Magrini, einer lang- jährigen Mitarbeiterin von Poher, die schon im Amt und mit einem italienischen Beamten des Parlamentssekretariats verheiratet war, und Arnaldo Ferragni, der mein Nachfolger werden sollte, und drei Sekretärinnen, je eine Deutsche, eine Französin und eine Italienerin. Diese war als letzte eingestellt worden und war etwas schwierig, mit den anderen gab es keine Probleme.

Gute Kontakte bestanden auch zu den Sekretariaten der anderen Fraktionen der Sozialisten und Liberalen und „apparentés“. Zu dieser Fraktion gehörten auch die gaullistischen Abgeordneten. Stellvertretender Generalsekretär der Sozialistischen Fraktion war der spätere Bundesminister .

Bei den Sitzungen des erweiterten Präsidiums, dem auch die Fraktionsvorsitzenden angehörten, saß ich zwischen Poher und dem/der Vorsitzendender sozialistischen Fraktion, erst Willi Birkelbach aus Hessen-Süd, dann Frau Käte Strobel, die später SPD/FDP-Regierungen angehörte. Die Kommunikation zwischen Poher und seinen Amtskollegen aus der sozialistischen Fraktion lief über mich, da die Deutschen kein Französisch und Poher kein Deutsch sprach.

Die Kontakte mit dem Generalsekretariat des Europäischen Parlaments fanden vor allem auf der Ebene des Generalsekretärs Hans Nord, mit den Ausschusssekretariaten auf der Ebene der Ausschuss- sekretäre und der zuständigen Fraktionssekretäre statt. Ich war im Wesentlichen für die wirtschaftspolitischen Ausschüsse zuständig,

17 während Frau Magrini u.a. schon unter meinem Vorgänger den Politischen Ausschuss betreute. Der Sekretär des Politischen Ausschusses, Th. E. Westerterp war später Staatssekretär im Außenministerium und Verkehrsminister. Die Zusammenarbeit verlief reibungslos.

In meiner ersten Luxemburger Zeit habe ich auch meinen ersten europapolitischen Artikel geschrieben.4

b) Im Rechtsausschuss des Bundestages

Meine wichtigste Aufgabe in meiner ersten Wahlperiode im Deutschen Bundestag war die Berichterstattung im Rechtsausschuss zu dem verfassungsändernden Gesetz über die Einführung einer Notstandsverfassung in das Grundgesetz. Es gab nur wenige Vorlagen, die den Bundestag stärker polarisiert haben als dieses Projekt. Trotzdem verliefen die Beratungen im Rechtsauschuss in einer sachlichen und kollegialen Atmosphäre, wie ein Gegner des Gesetzentwurfes, der SPD-Abgeordnete Matthöfer in der Plenardebatte des Bundestages feststellte.

In den folgenden drei Wahlperioden war ich Vorsitzender des Rechtsauschusses. Trotz sachlicher Gegensätze verlief die organi- satorische Zusammenarbeit reibungslos. Dies ist den stellvertretenden Vorsitzenden von der SPD und den Obleuten der Fraktionen, dem FDP-Abgeordneten Detlev Kleinert und den SPD-Abgeordneten Arndt, Gnädinger, Dürr und Gerhard Reischl und Frau Däubler- Gmelin zu verdanken. Dies galt auch für die Zusammenarbeit mit der Bundesregierung, insbesondere dem Justizminister Jochen Vogel. So wurde ich z.B. zu allen Begegnungen mit den Franzosen, soweit das Justizministerium beteiligt war, eingeladen. Auch die Begegnungen mit dem Rechtsauschuss der Nationalversammlung – Vorsitzender war der ehemalige Justizminister und Großsiegelbewahrer Jean Foyer - wurde von den Fraktionen und den Mitgliedern des Ausschusses mitgetragen. Das Gleiche galt für die Begegnungen der deutsch-

4 „Europa der Vaterländer“ – „Vaterland Europa“, in dem Sammelband „Bekenntnis zu Europa“, herausgegeben von unserem Fraktionsmitglied Prof. Dr. MdB, Freiburg /Brg. 1963.

18 französischen Freundschaftsgruppen und auch für meinen Vorsitz in der neu geschaffenen Europakommission des Bundestages, der von der SPD befürwortet wurde, obwohl bekannt war, dass ich den Bundestag bald verlassen würde. Die Begegnungen mit den französischen Abgeordneten erforderten auch eine Reaktivierung meiner Kenntnisse des Französischen.

Die wichtigste Erkenntnis aus meiner Tätigkeit im Rechtsausschuss für meine Tätigkeit am Europäischen Gerichtshof war die Gewissheit, dass Mehrheit in einem Gremium und sachliche Richtigkeit nicht immer zusammenfallen. Keinem Abgeordneten einer Oppositions- partei im Rechtsauschuss wäre es eingefallen, dass seine Ansichten zu bestimmten Fragen deshalb falsch seien, weil die Mehrheit des Ausschusses etwas anderes beschlossen hat. Deshalb hat es mich auch nicht besonders angefochten, wenn der Gerichtshof anders entschied als ich vorgeschlagen hatte. „Dann irrt der Gerichtshof“ pflegte ich auf entsprechende Fragen zu antworten.

Durch meine Erfahrungen im Europäischen Parlament und im Bundestag fühlte ich mich auf die Anforderungen zur Zusammen- arbeit mit Angehörigen anderer europäischer Nationen und anderer Auffassungen in beruflichen Fragen gut vorbereitet.

Als Bundeskanzler Kohl mir das Amt mit den Worten anbot: „Sie sind meine erste Wahl“ war mein erster Gedanke: Er hat auch noch einen anderen in petto. Ich konnte mir allerdings keinen anderen vorstellen, der die Voraussetzungen in gleicher Weise erfüllte.

Kohl gab mir sechs Wochen Bedenkzeit. Ich nahm mit dem amtierenden Generalanwalt aus Deutschland, dem früheren Kollegen Reischl, Kontakt auf. Er riet mir sehr zu. Ich sagte Kohl nach etwa vier Wochen zu. Er lud mich ins Kanzleramt ein und gab mir zwei Ratschläge: Ich solle in meinem Lebenslauf auch die anglophonen Verbindungen schildern, um den Eindruck einer französische Schlagseite zu vermeiden. Auch solle ich mich „an die Regeln halten“. Genau das hatte ich vor zu tun. Die wichtigste Regel ist:

Der Generalanwalt stellt seine Schlussanträge „öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit“.

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Teil 2

Allein verantwortlich

Von Januar 1984 bis Oktober 1997 war ich Generalanwalt des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften. Aus meinen Erfahrungen und Erinnerungen möchte ich berichten.

Das Amt des Generalanwalts

Das Amt des Generalanwalts ist eine Besonderheit des Rechts der Europäischen Union, damals des „Gemeinschaftsrechts“. Das französische Recht kennt eine ähnliche, aber nicht identische Ein- richtung.

Der Generalanwalt ist ein Mitglied des Gerichtshofs. Er ist nicht an der Wahl des Präsidenten beteiligt.

Der Gerichtshof sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Rechts der (Europäischen) Union.

Vor Aufnahme seiner Amtstätigkeit schwört der Generalanwalt, sein Amt unparteiisch und gewissenhaft auszuüben und das Beratungsgeheimnis zu wahren5.

Er unterstützt den Gerichtshof, indem er in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit Rechtsgutachten, die „Schlussanträge", in den Rechtssachen stellt, die ihm zugewiesen sind.

Zu meiner Zeit gab es zunächst fünf, nach dem Beitritt Portugals und Spaniens sechs und nach dem Beitritt Österreichs, Schwedens und Finnlands acht Generalanwälte.

Der Rat hat beschlossen, ihre Zahl auf neun zu erhöhen, damit auch Polen einen ständigen Generalanwalt bekommen kann, so wie dies heute schon für Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und das Vereinigte Königreich der Fall ist. Eine weitere Erhöhung auf elf ist am 7.10.2015 in Kraft getreten. Die amtierenden Generalanwälte kommen aus Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Frankreich,

5 Satzung des EuGH, Artikel 2.

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Italien, Polen, Schweden, Spanien, der Tschechischen Republik und dem Vereinigten Königreich.

Der Kern des Amtes ist seine Unabhängigkeit. Der Generalanwalt hat weder Vorgesetzte noch mitberatende Kollegen. Er allein ist für den Inhalt seiner Schlussanträge verantwortlich. Erfolgreiche Einflussnahmen von außen gibt es meines Wissens nicht. Der Haupt- grund ist m. E., dass niemand, dem von Gesetzes wegen die Stellung der rechtlichen und tatsächlichen Unabhängigkeit eingeräumt wird, bereit ist, diese Position aufzugeben.

Der Generalanwalt nimmt an den Urteilsberatungen nicht teil. Die Richter sind an das Beratungsgeheimnis gebunden. Bedienstete nehmen an den Beratungen nicht teil, auch keine Dolmetscher. Nach meinem Eindruck werden diese Vorschriften auch eingehalten.

Es gibt manchmal Gerüchte. Es war jedoch nicht möglich fest- zustellen, ob sie auf Indiskretionen beruhen oder Erfindungen sind.

Die Aufgaben des Generalanwalts

Der Gerichtshof hat (noch) 28 Richter, einer aus jedem Mitgliedstaat und elf Generalanwälte. Alle Mitglieder des Gerichtshofs haben eine unterschiedliche Ausbildung in unterschiedlichen Rechtsordnungen erhalten und unterschiedliche Prüfungen abgelegt. Das Einzige, das sie gemeinsam haben, ist ihre Aufgabe, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge (betr. die Europäischen Union) zu sichern (Art. 19 EUV). Die Aufgabe haben die Richter wie die Generalanwälte. Die Beiträge der Richter sind durch das Beratungsgeheimnis geschützt. Die Schlussanträge der General- anwälte sind öffentlich. Das heißt, sie unterliegen der Kontrolle aller, die sich dafür interessieren. Jedermann kann feststellen, ob der Generalanwalt unparteilich Stellung genommen hat.

In jede Entscheidung des Gerichtshofs, auch einer Dreier-Kammer, fließen also unterschiedliche Rechtstraditionen ein. Auf diese Weise wird die Beurteilung der Rechtsache aus dem Blickwinkel nur einer Rechtsordnung vermieden. Außerdem muss der Richter u.U. Kompromisse eingehen, um eine Mehrheit für seine Auffassung zu

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bekommen. Das erschwert eine Entscheidung aus einem Guss. Der Generalanwalt hat es nur mit einem, seinem, Hintergrund zu tun. Er braucht keine Kompromisse zu schließen. Er kann deshalb leichter einen Schlussantrag aus einem Guss liefern. Er ist allerdings auch der Versuchung ausgesetzt, nur in den Bahnen einer, seiner, Rechts- ordnung zu denken. Deshalb überträgt ihm der Vertrag auch keine Entscheidung, sondern die Erstattung eines Gutachtens. Er kann theoretisch nach der Mehrheit im Spruchkörper schauen und sich danach richten. Aber erstens ist das ein Ratespiel mit möglicherweise vielen Unbekannten. Zweitens verfehlt er seine Aufgabe: Er soll ja seine Meinung sagen und nicht die von anderen.

Dem Generalanwalt (und den Richtern) stand damals ein Stab von Mitarbeitern zu Verfügung: Ursprünglich zwei, dann drei Rechtsreferenten, zwei/drei Sekretärinnen und ein Chauffeur. Dienstwagen und Chauffeur machten es möglich, das Wochenende in der Heimat zu verbringen, ein Privileg der Mitglieder des Gerichtshofs, die aus Nachbarländern Luxemburgs kamen. Als Generalanwalt konnte ich in Deutsch arbeiten. Deshalb hatte ich stets deutsche Rechtsreferenten. Leiterin des Sekretariats war eine Luxemburgerin, die bei der Vorstellung durch ihre hervorragenden Deutschkenntnisse aufgefallen war.6

C. Beispiele:

1) Institutionelle Fragen

a) „Untätige EG-Verkehrsminister – Prügel vom Generalanwalt“ 7 (Parlament gegen Rat (13/83).

Das Europäische Parlament als Klägerin und die Kommission und die Niederlande als Streithelfer rügten, dass der Rat

1.keine gemeinsame Verkehrspolitik beschlossen und keinen Rahmen dafür festgelegt und

6 Weiteres siehe Abschiedsrede.

7 Deutsche Verkehrszeitung 1985.

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2.gewisse, im einzelnen aufgeführte Beschlüsse nicht gefasst habe. Außerdem beantragten sie, dass der Rat die Kosten tragen solle. Es war meine erste wirklich große Sache. Sie war meinem Vorgänger, dem Generalanwalt Reischl, - in meiner ersten Wahlperiode im Bundestag stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses und Berichterstatter für die Notstandsgesetzgebung - zugewiesen worden. Ich hatte sie von ihm „geerbt“.

Die mündliche Verhandlung fand im September 1984 statt und dauerte zwei Tage. Der Rat hatte alle denkbaren Einwände vorgebracht. Mir ist noch besonders in Erinnerung, dass einer seiner Prozessvertreter die Auffassung vertrat, auch das Nichtstun des Rates sei durch den Vertrag gedeckt. Der Prozessvertreter der Kommission, Generaldirektor Ehlermann, hielt ein besonders überzeugendes Plädoyer: Der Rat solle verurteilt werden. Er habe gegen den Vertrag verstoßen, d.h. alle neun Regierungen mit Ausnahme der zehnten, der Regierung der Niederlande. Der Gedanke, dass auch Regierungen gegen grundlegende Vorschriften verstoßen können, ist für einen früheren Abgeordneten, der die meiste seiner Zeit im Parlament in der Opposition verbracht hat, kein undenkbarer Gedanke. Aber neun Regierungen auf einmal; ein Organ der EWG, einer Rechts- gemeinschaft? Das war eine neue Erfahrung. Es gab eine Karikatur in der Deutschen Verkehrszeitung, der zu Folge ich auf die versam- melten Minister einprügele. Sie gibt meinen Eindruck von meiner Aufgabe in dieser Rechtsache ziemlich richtig wieder. Außerdem: Wenn die Klage erfolgreich wäre, müssten dieselben Minister die Verkehrspolitik beschließen. Wir waren daher froh, dass einige Anträge der Kläger abzuweisen waren. Dadurch konnten die Kosten gegeneinander aufgehoben und so dem Eindruck einer Demütigung entgegengewirkt werden.

Mein Büronachbar Generalanwalt Mancini las die Schlussanträge, sobald sie im Gerichtshof verteilt waren.

Er meinte, ich hätte einen sehr europäischen Standpunkt vertreten. Ich glaubte, für die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des EWG-Vertrages einzutreten.

Der Gerichtshof folgte den Schlussanträgen.

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Politisch gesehen war es ein Sieg der Klägerin. Die gemeinsame Verkehrspolitik für Beförderungen im Eisenbahn- Straßen- und Binnenschiffsverkehr kam in Gang.

b) Der Gerichtshof darf nicht sein Ermessen an die Stelle des Ermessens der zuständigen Behörde setzen (213/88).

Das Großherzogtum Luxemburg bestritt dem (Europäischen) Parlament das Recht, gewisse Arbeitseinheiten seines von Rechtswegen in Luxemburg ansässigen Generalsekretariats an seinen Arbeitsort Brüssel zu verlegen. Im Streit über die Notwendigkeit dieser Entscheidung des Parlaments kam der Gerichtshof zu dem Schluss, es stünde ihm nicht zu, seine Beurteilung der Notwendigkeit dieses Schrittes an die Stelle der Beurteilung durch das Parlament zu setzen8.

2. Wettbewerb im Luftverkehr.

Für die Luftfahrt gelten die Bestimmungen des Titels VI (damals IV) „Der Verkehr“ nicht. Vielmehr konnte – und musste – der Rat einstimmig darüber entscheiden, ob, inwieweit und nach welchem Verfahren geeignete Vorschriften für die Luftfahrt zu erlassen sind. Es geschah nichts.

Meine Fälle:

a) Der Rat ist nicht befugt, die Nichtanwendung der Wettbewerbsregeln zu beschließen 9 (Asjes (Nouvelles Frontières), (209-213/84).

Es ist Aufgabe der Gerichte, sich schützend vor den Bürger zu stellen10 (ibid).

8 Slg. 1991, I 5682.

9 Slg. 1986, S. 1444.

10 Slg. 1986, S. 1450.

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Das Reiseunternehmen Nouvelles Frontières hatte 1981 Flugtickets für internationale Strecken zu Preisen verkauft, die unter den vom Minister für Zivilluftfahrt genehmigten Tarifen lagen. Einige seiner Mitarbeiter waren deshalb angeklagt worden. Das zuständige Pariser Polizeigericht fragte im März 1984, also während des Rechtsstreits über die Verkehrspolitik, ob die in der Anklage herangezogenen französischen Rechtsvorschriften im Hinblick auf das Gemeinschafts- recht gültig seien. Das Polizeigericht war selbst der Auffassung, dass „die unter Luftfahrtgesellschaften abgesprochenen und aufgrund gemeinsamer Vereinbarung (dem Minister) zur Genehmigung (dem vorgelegten Tarife als gemeinschaftsrechtswidrig nicht berücksichtigt werden“ können.

Die Sache wurde mir zugewiesen.

Es ging im Wesentlichen um die Frage, ob das Kartellverbot des Art. 85 EWGV (heute Art. 101 AEUV) auf den Luftverkehr anwendbar sei. In Übereinstimmung mit den Regierungen der Niederlande und des Vereinigten Königreichs, der Kommission und Nouvelles Frontières sowie dem vorlegenden Gericht habe ich das bejaht. Ich habe auch zu Flügen nach und Fluglinien aus Drittländern Stellung genommen. Der Gerichtshof hat sich dazu nicht geäußert.

Er entschied, dass das Kartellverbot grundsätzlich auch für den Flugverkehr gelte, aber seine Anwendbarkeit den Erlass einer Verbotsentscheidung durch die Behörde des zuständigen Mitglied- staates voraussetze.

Im dem Urteil wurde auch entschieden, dass der EWG-Vertrag die Mitgliedstaaten verpflichtete, keine Maßnahmen zu treffen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit der Wettbewerbs- bestimmungen des EWGV ausschalten könnten.11

b)„Missbrauch ist nicht genehmigungsfähig“ 12 (Ahmed Saeed (66/86).

11 siehe SA S.1447, Urteil S. 1471.

12 Slg. 1989, S. 826 f.

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Nach den Schlussanträgen, aber vor Erlass des Urteils in der Sache Asjes fragte der Bundesgerichtshof nach der direkten Anwendbarkeit des Verbots des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung (Art. 86 EWGV, heute Art. 102 AEUV).

Die (erste) mündliche Verhandlung fand am 6.5.1987 statt.

Am 1.7.1987 trat die Einheitliche Europäische Akte in Kraft. Dadurch konnten Mehrheitsentscheidungen im Luftverkehrsrecht getroffen werden. In der Folgezeit erließ der Rat neue Vorschriften, die am 1.1.1988 in Kraft traten.

Die Artikel 85 und 86 EWGV wurden auf den internationalen Luftverkehr zwischen Flughäfen der Gemeinschaft für anwendbar erklärt.

Daraufhin fand am 17.3.1988 eine weitere mündliche Verhandlung statt, in der die möglichen Auswirkungen der inzwischen eingetretenen Rechtsänderungen erörtert wurden.

Am 28.4.1988 trug ich meine (ersten) Schlussanträge in dieser Sache vor. Der Gerichtshof konnte sich jedoch nicht auf ein Urteil in der damaligen Besetzung einigen.

Wegen der teilweisen Neubesetzung der Richterbank am 7.10.1988 musste die mündliche Verhandlung wieder eröffnet werden. So fand eine dritte mündliche Verhandlung am 15.11.1988 statt.

Nach weiteren Schlussanträgen am 19.1.1989 bestätigte der Gerichtshof am 11.4.1989 die Geltung des Artikels 85 für den gesamten Luftverkehr unter bestimmten Bedingungen. Artikel 86 wurde für uneingeschränkt anwendbar erklärt13 . Der Gerichtshof hat die bis dahin bestrittene Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft auf den Luftverkehr festgestellt, damit den Wettbewerb in diesem Verkehrsbereich in Gang gebracht. Dieser hat zu einer nachhaltigen Senkung der Ticketpreise beigetragen. Das Haupt- verdienst an dieser Entwicklung gebührt dem Polizeigericht in Paris.

13 „Missbrauch ist nicht genehmigungsfähig“, (siehe Schlussanträge vom 28.4.1988, Ziff.47).

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Leider habe ich nicht feststellen können, wer dieses Gericht auf den Gedanken gebracht hat, den Gerichtshof in Luxemburg einzuschalten.

3. Direkte Anwendung von Richtlinien.

Die Verwaltung — auch auf kommunaler Ebene — (ist) ebenso wie ein nationales Gericht verpflichtet, … eine Bestimmung einer Richtlinie, die unbedingt und hinreichend genau ist, so dass die einzelnen sich gegenüber dem Staat auf sie berufen können, anzuwenden. Die einzelnen sind daher berechtigt, sich vor den nationalen Gerichten auf diese Bestimmungen zu stützen, und alle Träger der Verwaltung einschließlich der Gemeinden und der sonstigen Gebietskörperschaften sind verpflichtet, sie anzuwenden und diejenigen Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, die damit nicht im Einklang stehen.

a) Fratelli Costanzo (103/88).

Hier ging es um die Frage, ob die Stadtverwaltung von Mailand eine direkt anwendbare Bestimmung der Vergaberichtlinie oder das entgegenstehende italienische Recht zu beachten habe. Die italienische Regierung vertrat die Auffassung, die kommunalen Verwaltungen müssten sich an das nationale Recht halten. Ich meinte, sie müssten auch das Recht haben, sich an die Richtlinie zu halten, seien dazu aber nicht verpflichtet (Schlussanträge, Ziff. 35, 36). Der Gerichtshof entschied, sie seien dazu verpflichtet. Ich glaube heute, er hatte Recht.

b) Faccini Dori (C-91/92).

Hier ging es um die Frage, ob sich eine Käuferin gegenüber dem Verkäufer auf das in einer nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinie normierte Rücktrittsrecht berufen könne. Ich habe die Frage für die Vergangenheit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung verneint, für die Zukunft aber bejaht, wenn die Richtlinie mit Zustimmung des

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Europäischen Parlaments beschlossen und im Amtsblatt veröffentlicht worden ist. Der Gerichtshof ist mir leider nicht gefolgt, aber in der Literatur haben die Schlussanträge Beachtung gefunden (siehe etwa Hummer/Vedder, Europarecht in Fällen, 2., 3., und 4. Auflage).

4 . Freizügigkeit und freier Warenverkehr

Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, alle erforderlichen und an- gemessenen Maßnahmen zu ergreifen, damit der freie Warenverkehr nicht durch Ausschreitungen von Privatpersonen behindert wird. a) „Spanische Erdbeeren“ (C-265/95).

Seit der ersten Hälfte der 80iger Jahre kam es in Frankreich regelmäßig zu Beeinträchtigungen des freien Warenverkehrs mit land- wirtschaftlichen Erzeugnissen durch Privatpersonen (Landwirte). Bereits im Mai 1985 hatte die Kommission deshalb ein erstes Mahn- schreiben an Frankreich gerichtet. Seit 1993 richtete sich Gewalt und Sachbeschädigung nicht nur gegen Fahrzeuge, die landwirtschaftliche Güter transportierten, sondern auch gegen den Groß- und Einzelhandel mit diesen Erzeugnissen. Nur in seltenen Fällen wurden die Täter strafrechtlich verfolgt. Nach mehr als zehn Jahren erhob die Kommission Klage wegen Vertragsverletzung gegen Frankreich. Es ging um die Frage, ob Frankreich alle erforderlichen und an- gemessenen Maßnahmen ergriffen hat, damit der freie Warenverkehr mit Obst und Gemüse nicht durch Ausschreitungen von Privat- personen behindert wird.

Ich unterstützte den entsprechenden Antrag der Kommission.

Der Gerichtshof hat so entschieden14. Ich erwartete einen Sturm der Entrüstung in Frankreich, aber nichts dergleichen geschah.

14 Nachbemerkung: Bei rechtmäßigen Handlungen wie den Blockaden, die durch das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit geschützt sind, entschied der Gerichtshof, dass diese nicht mit der Warenverkehrsfreiheit unvereinbar sind (Brennerblockade, (C-112/00).

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Eine Bestimmung, wonach ein Fußballspieler, der bei seinem Heimatverein nicht mehr unter Vertrag steht, nur wechseln kann, wenn vorher eine Transferentschädigung gezahlt wurde, und die Beschränkung der Anzahl der Berufsfußballspieler aus anderen Mitgliedstaaten verstoßen gegen das Unionsrecht und sind rechtwidrig und unwirksam. b) Bosman (C- 415/93).

Der Fußballspieler Bosman stand bei seinem Heimatverein nicht mehr unter Vertrag, durfte aber zu einem Verein in einem anderen Mitgliedstaat nur wechseln, wenn vorher eine Transferentschädigung gezahlt wurde. Für das vorlegende belgische Gericht stellten sich zwei Fragen: Wird seine Freizügigkeit durch die Verpflichtung zur Zahlung einer Transferentschädigung an seinen Heimatverein und die Beschränkung der Anzahl der Berufsfußballspieler aus anderen Mitgliedstaaten in einer Mannschaft beeinträchtigt? Ich habe beide Fragen mit ja beantwortet. Der Gerichtshof ist mir gefolgt.

Der Fall hat leidenschaftliche Kontroversen hervorgerufen und ein weltweites Echo gehabt. Ich will deshalb ausführlicher als bisher auf den Fall eingehen.

Es gab drei Klagen von Herrn Bosman, die zu Vorab- entscheidungsersuchen führten, C-340/90, beim Gerichtshof registriert am 15.11.1990, C-269/92, registriert am 15.6.1992 und C-415/93, registriert am 6.10.1993. Für den ersten Fall bestellte der Präsident des Gerichtshofs, Ole Due, den Richter Federico Mancini als Berichterstatter und der Erste Generalanwalt Francis Jacobs mich als zuständigen Generalanwalt. Das Vorabentscheidungsersuchen C- 340/90 wurde von der Rechtsmittelinstanz aufgehoben und war damit erledigt. In einem weiteren Verfahren richtete das Gericht erster Instanz Fragen an den Gerichtshof (C-269/92). Das Rechtsmittelgericht richtete dann selbst Fragen an den Gerichtshof. Der Gerichtshof hat daraufhin die durch dieses Ersuchen gegenstandslos gewordene Rechtssache C-269/92 aus seinem Register gestrichen. Die von dem Berufungsgericht an den Gerichtshof gestellten Fragen sind Gegenstand des dritten Verfahrens C-415/93. Der für das erste Verfahren bestellten Berichterstatter bzw. Generalanwalt wurde jeweils beibehalten.

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An dem Verfahren beteiligten sich außer den Streitparteien Frankreich (der französische Minister für Justiz und Kultur, Jacques Toubon, wohnte der mündlichen Verhandlung bei) und Italien (Ministerpräsident Silvio Berlusconi, Präsident des Fußballclubs AC Mailand). In der mündlichen Verhandlung ergriffen auch ein Vertreter der dänischen und der deutschen Regierung das Wort. Letztere hatte sich auf Verlangen des Landes Baden-Württemberg – Finanzminister Gerhard Mayer-Vorfelder, gleichzeitig Präsident des Bundesliga- Fußballclubs VfB Stuttgart – zur Beteiligung entschlossen. Die dänische Regierung plädierte zugunsten des Klägers Bosman, die übrigen Regierungen zugunsten der Fußballorganisationen15.

Die mündliche Verhandlung stärkte die Position Bosmans. Die Kommission, vertreten durch Frau Wolfcarius, schwenkte auf seine Linie ein. In den Spätnachrichten der ARD gab es einen eher positiven Bericht über die mündliche Verhandlung.

Die Schlussanträge in der Sache Bosman waren für einen Termin bald nach den Gerichtsferien vorgesehen. Wir konnten uns jedoch nicht gleich an die Arbeit setzen, denn es waren bis dahin noch acht andere Schlussanträge vorzulegen. Die Schlussanträge Bosman mussten also während der Gerichtsferien vorbereitet werden. Nach einer Besprechung mit dem zuständigen Référendaire Gerhard Grill über den einzuschlagenden Kurs brach ich zu einer Reise an die Schlösser der Loire auf. Grill schickte den Entwurf der Schlussanträge kapitelweise per Fax an verschiedene Schlösser an der Loire, wo ich sie las und gegebenenfalls kommentierte. Grill ist ein ausgezeichneter Jurist und Fußballkenner. Es gab nur wenige Kommentare. Wir stellten die Schlussanträge auf Deutsch fristgerecht fertig. Auch die Übersetzungen waren fertig, mit Ausnahme der französischen. Französisch war die Verfahrenssprache, denn das belgischen Gericht, die Cour d’appel Lüttich, hatte sich dieser Sprache bedient. Also musste die Vorlage der Schlussanträge um eine Woche verschoben werden.

Während der Vorbereitung der Schlussanträge hatte es mehrere Telefonanrufe aus Deutschland gegeben, in denen zusätzliche

15 UEFA, URBSFA und je ein belgischer und französischer Fußballclub.

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Informationen zur Sache angeboten wurden. Ich bedankte mich, sagte aber den Anrufern, dass ich nur Informationen berücksichtigen könnte, die auch den Richtern vorlägen. Der richtige Zeitpunkt dafür sei die mündliche Verhandlung gewesen. Nach der Vorlage der Schlussanträge am 16.11.1995 beantragte die UEFA eine zusätzliche Beweisaufnahme insbesondere über die Bedeutung der Transfer- entschädigungen für den Fußball. Der Antrag wurde abgelehnt, weil er vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung hätte gestellt werden können. Außerdem sei das Beweisthema „namentlich von Herrn Bosman in seinen schriftlichen Erklärungen angeschnitten worden“16.

Die Schlussanträge von mehr als einhundert Druckseiten haben drei Schwerpunkte:

- Die Zulässigkeit der Vorlagefragen, die vor allem von der UEFA, aber auch von der dänischen, französischen und italienischen Regierung und der Kommission ganz oder teilweise bestritten wurde,

- die Auslegung des Art. 48 und

- der Artikel 85 und 86 EWGV.

Zur Zulässigkeit:

Ich habe vorgeschlagen, die Zulässigkeitseinwendungen zurückzuweisen und die gestellten Fragen zu beantworten.

„Eine Befugnis des Gerichtshofs, die Beantwortung solcher Vorabentscheidungsversuche zu verweigern, ist nicht vorgesehen.“17 Von den von der Rechtsprechung entwickelten Ausnahme- möglichkeiten sollte kein Gebrauch gemacht werden. Der Gerichtshof hat allenfalls das Recht, keineswegs aber die Pflicht, gestellte Fragen zurückzuweisen.18

16 Slg. 1995 I S. 5057.

17 Slg. 1995 I S. 4953.

18 a.a.O. S. 4967.

31

„Der Vorlagebeschluss umfasst gut achtzig eng beschriebene Seiten. …Wenige Vorlagebeschlüsse nationaler Gerichte sind so gründlich und ausführlich ausgearbeitet wie dieser.“19

„Der Grund, der mich dazu bestimmt, … (die gestellten Fragen zu beantworten) besteht darin, dass ich nicht erkenne, wie die Frage nach der Vereinbarkeit der Ausländerklauseln mit Artikel 48 EG-Vertrag … den Gerichtshof auf anderem Wege erreichen könnte. … Ein diese Klauseln betreffendes Ersuchen eines nationalen Gerichts hat den Gerichtshof seit … 1976 nicht mehr erreicht. Dies scheint mir kein Zufall zu sein. Die Betroffenen sind entweder nicht willens oder nicht in der Lage, eine gerichtliche Klärung der Frage herbeizuführen.“20

Zur Ausländerklausel:

Bei den Ausländerklauseln „handelt es sich um einen geradezu klassischen Fall der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit“21. „Das Recht auf Freizügigkeit und das Verbot der Diskriminierung der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten gehören zu den Fundamenten der Gemeinschaftsordnung. Die Ausländerklauseln verletzen diese Prinzipien in so offensichtlicher und gravierender Weise, dass jede Berufung auf Nationalinteressen, die sich nicht auf (die Ausnahmebestimmung des) Artikel(s) 48 Absatz 3 stützen lässt, ihnen gegenüber als unzulässig angesehen werden muss.“22

„Der Umstand, dass die derzeit geltenden Ausländerklauseln möglicherweise gemeinsam mit der Kommission erarbeitet und von dieser vielleicht sogar gebilligt wurden, ist ohne rechtliche Bedeutung. … Die verbindliche Auslegung dieser Vorschriften kommt allein dem Gerichtshof zu.“23

19 a.a.O. S.4959.

20 a.a.O. S.4967.

21 a.a.O. S. 4976.

22 a.a.O. S. 4980.

23 a.a.O. S. 4984.

32

Zu den Transferregeln:

„Es ist mit dieser Vorschrift (des Artikels 48) nicht vereinbar, wenn beim Wechsel eines Berufsfußballspielers, dessen Vertrag abgelaufen ist, der neue Verein an den bisherigen Verein eine Ablösesumme bezahlen muss.“24

„Hätte es die Transferregeln nicht gegeben, hätte dem Wechsel von Herrn Bosman (von seinem bisherigen belgischen Verein zu dem französischen Verein) nichts im Wege gestanden.“25

Nach Artikel 48 sind nicht nur diskriminierende, sondern alle Beschränkungen der Freizügigkeit verboten26,27. „Jede Beschränkung des Rechts auf Freizügigkeit verletzt den Betroffenen in diesem Grundrecht und bedarf daher der Rechtfertigung.“28 „Eine Behinderung der Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit ist daher stets an Artikel 48 zu messen.“29

Zur Auslegung der Artikel 85 und 86 EGV:

Über die Auslegung dieser Vorschriften hat der Gerichtshof nicht entschieden.30 Deswegen werde ich mich kurz fassen.

Ich kam zu dem Ergebnis, dass die Ausländerklauseln wie die Transferregeln wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen zwischen Unternehmen oder Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen sind, die sich auf den Wirtschaftsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten in

24 a.a.O. S. 5025. , 25 a.a.O. S. 4975, Schrägschrift im Original.

26 a.a.O. S.5004. , 27 a.a.O. S. 4991, Schrägschrift im Original. , 28 a.a.O. S. 5008. , 29 a.a.O. S. 5010.

30 a.a.O. S. 5078.

33 erheblicher Weise auswirken (Art. 85), dass jedoch ein Verstoß gegen Artikel 86 nicht gegeben ist.31

Nach dem Erlass des Urteils wurde ich eingeladen, an einer Sendung des „Aktuellen Sportstudios“ zusammen mit einem Vertreter einer deutschen Fußballorganisation teilzunehmen, um über die Folgen des Urteils zu sprechen. Ein paar Tage vor der Sendung bekam ich ein Fax von dem vorgesehenen Moderator, die Sendung müsse ausfallen, denn der Vertreter der Fußballorganisation sei verhindert. Ich habe die Sendung selbst nicht gesehen. Wie mir Zuschauer berichteten, nahm der Moderator an der Sendung teil. Er habe das Urteil kritisiert und niemand habe ihm widersprochen.32

Die geschilderten Vorgänge sind eine Ausnahme. Ich habe 418 Schlussanträge gestellt.

Ich habe sonst derartiges nicht erlebt. Sie zeigen, über welchen Einfluss der organisierte Fußball verfügt.

Fazit

In den geschilderten Fällen kam der Anstoß zur Rechtsprechung zweimal von Gemeinschaftsorganen, in den übrigen Fällen von nationalen Gerichten. Sie sind die treibende Kraft bei der Entwicklung des Gemeinschaftsrechts.

Es ist Sache des Generalanwalts, diese Anstöße aufzunehmen oder nicht aufzunehmen. Er ist allein für sein Gutachten, seine Schlussanträge, verantwortlich. Er braucht offene Augen, offene Ohren und ein dickes Fell33. Er spricht in aller Öffentlichkeit. Er ist ein Einzelkämpfer unter Beobachtung der Öffentlichkeit, vor allem der interessierten Kreise, der Fachkritik und der Richter des

31 a.a.O. S. 5026-5039.

32 siehe zu Vorstehendem Lenz in “The Legacy of Bosman“, Duval/Van Rompuy, Asser Press, Den Haag, Berlin - Heidelberg, S. VII.

33 Lenz, Abschiedsansprache 6.10.1997.

34

Spruchkörpers, die seine Rechtsache entscheiden. Oft, aber nicht immer, folgen sie ihm.

Schlussanträge vergrößern den Abstand zwischen der mündlichen Verhandlung und der Beratung und verlängern die Dauer des Verfahrens. Heute sind sie nicht mehr in allen Fällen erforderlich. Dadurch entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen der wünschens- werten kurzen Prozessdauer und der wünschenswerten unabhängigen Beratung. Interessant ist die Auffassung des „Select Committee on the European Union“ des House of Lords des Vereinigten Königreiches, eines Mitgliedstaates, der die Einrichtung des Generalanwalts in seiner Rechtsordnung nicht kennt. Es hat sich zu diesem Thema wie folgt geäußert:

„Generalanwälte spielen eine wichtige Rolle in der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Es sollte genügend Generalanwälte geben, damit Schlussanträge in allen Fällen erstattet werden können, in denen das notwendig ist. Eine nicht ausreichende Anzahl von Generalanwälten könnte ernsthafte Folgen haben“34.

Generalanwälte müssen ein dickes Fell haben.35 Sie sind unabhängig. Es ist das unabhängigste Amt, das ich kennen gelernt habe, auch im Vergleich zum Vorsitz im Rechtsausschuss des Bundestages. Die spürbarste Beeinträchtigung seiner Unabhängigkeit ist die Begrenzung seiner Amtszeit. Mehr Unabhängigkeit besitzen die Richter des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten von Amerika. Es gibt keine Amtszeit und keine Altersgrenze.

Teil 3

Rückblick

34 „ AGs play an important role in the delivery of justice by the CJ. There should be enough of them to enable opinions to be produced for all the cases that require it. The consequences of not having sufficient AGs could be serious.” (Bericht vom 29.4.2013, Nr. 50). 35 Lenz, Abschiedsansprache a.a.O.

35

a) „Ich habe gern für die Sache Europas gearbeitet.”36

In der feierlichen Sitzung, in der die ausscheidenden Richter und Generalanwälte verabschiedet werden, haben diese Gelegenheit, das Wort an die versammelten Angehörigen der Unionsorgane und Diplomaten zu richten. Der Vorsitzende der Konferenz der ständigen Vertreter der EU-Mitgliedstaaten bei der Europäischen Union hatte mir für meine Arbeit „für die Sache Europas“ gedankt. Die Formulierung hat mir gut gefallen.

Im Übrigen habe ich mich mit dem wie es damals hieß: Gemeinschaftsrecht befasst. „Es hat die Aufgabe, einen grenzfreien Lebensraum – auch in Währungsfragen - für seine Bürger zu schaffen.“

„Das Gemeinschaftsrecht ist … das wertvollste, was die Gemeinschaft besitzt.“ Die Wahrung des Gemeinschaftsrechts ist dem Gerichtshof anvertraut. Diese Last kann er nur tragen, wenn die Gemeinschaftsorgane und die Mitgliedstaaten ihm dabei helfen. Das wurde vor zwanzig Jahren gesagt.

„Warum ist die EG nicht populär?“

Bei einem Symposium, das das Europainstitut 1991 veranstaltet hat, bin ich der Frage nachgegangen, warum die EU trotz ihrer Erfolge so unbeliebt geworden ist. Hier ist das Ergebnis: „Die Abschaffung der Grenzen kommt z.B. Verbrauchern und Steuerzahlern zugute, vor allem durch vermehrten Wettbewerb.“ … Jeder lobt den Wettbewerb in Festreden, aber niemand will ihn am eigenen Leib erfahren. „So kommen auf einen schweigsamen Gewinner viele, die sich als Verlierer fühlen und laut darüber klagen.“37

Teil 4

„There is life after the Court“

36 Lenz, Abschiedsansprache a.a.O.

37 ZEuS a.a.O. FN 5.

36

1. Europa und das Grundgesetz.38

Schwerpunktmäßig habe ich mich mit dem Verhältnis von Deutschland mit der Europäischen Union auseinander gesetzt. Anlass war vor allem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag und zur 5 bzw. 3%-Klausel des Europawahl- gesetzes. a) „Das Bundesverfassungsgericht will Bundestag, Bundesrat und EU am kurzen Zügel führen. Es sieht weitgehende Be- schränkungen der auf die EU übertragungsfähigen Kompetenzfelder vor. Dass es sich dabei auf das Grundgesetz beruft, ist kühn. Für sich sieht es ausgedehnte Kompetenzen. „Judicial restraint“ ist das nicht. … Die Lissabon-Entscheidung läuft auf eine Blockade der Europapolitk Deutschlands und auf eine Regierung durch Richter hinaus“.39

Die Schaffung eines vereinten Europa verlangt den Vorrang des Unionsrechts.

„Der Integrationsauftrag des Grundgesetzes und das geltende europäische Vertragsrecht fordern mit der Idee einer unionsweiten Rechtsgemeinschaft die Beschränkung der Ausübung mitgliedstaatlicher Rechtsprechungsgewalt. Es sollen keine die Integration gefährdenden Wirkungen dadurch eintreten, dass die Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung durch unterschiedliche Anwendbarkeitsentscheidungen mitgliedstaatlicher Gerichte in Frage gestellt wird.“

So das Bundesverfassungsgericht.40

38 Lenz, „Europa und das Grundgesetz”, in: Festschrift für Peter-Christian Müller- Graff, Baden-Baden 2015, S.1151-1162.

39 Lenz, „Ausbrechender Rechtsakt“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.8.2009, S. 7.

40 „Lissabon-Urteil“ vom 30.06.2009, Az. 2 BvE 2/08 u. a. (= BVerfGE 123, S. 267 ff.), Rn. 337.

37

Dieses Ziel kann nicht erreicht werden, wenn 28 „mitgliedstaatliche Rechtsprechungsorgane mit verfassungsrechtlicher Funktion“ von dieser Bindung ausgenommen werden.41

2. Europas Errungenschaften erhalten, schützen und verteidigen a) Der E(W)G-Vertrag mit seiner marktwirtschaftlichen Grundordnung und seinen Streitschlichtungsregeln „ist ein Werk der Staatskunst von gleichem Rang wie die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika“.42

Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (und noch mehr der Vertrag zur Gründung der Europäischen Union) umfasst nicht nur einen wesentlichen Teil der Beziehungen der Mitgliedstaaten zueinander, sondern er enthält auch Rechte und Pflichten der Bürger der Europäischen Union. Er gibt ihnen Freizügigkeit, freie Konsumwahl und Rechtsschutz. Er regelt die Landwirtschaft, den Wettbewerb und den Außenhandel. Er ermöglicht die Angleichung von Rechtsvorschriften. Er gewährleistet die soziale Sicherheit der in anderen Unionsländern tätigen Arbeitnehmer und Selbständigen. Er regelt die Gleichbehandlung von Männern und Frauen, von Inländern und anderen Unionsbürgern. Er ist ein Vertrag für das Alltägliche.43 b)„Wir müssen (diese) Rechtsordnung schützen und verteidigen, ja sie wie unsern Augapfel hüten“44, c) die demokratische Legitimation der Kommission stärken und

41 Lenz, in: Heiko Faber / Götz Frank (Hrsg.): Demokratie in Staat und Wirtschaft. Festschrift für Torsten Stein zum 70. Geburtstag, Tübingen 2002, S. 666-676.

42 Bundesverfassungsrichter a.D. Prof. Dr. in: Carl Otto Lenz / Klaus Dieter Borchardt (Hrsg.): EU-Verträge, Kommentar, 3. Auflage, Köln 2003, S. VII.

43 Lenz / Borchardt, a.a.O. Fn. 42, S. VII.

44 Lenz, Rede anlässlich der Verleihung des ‚Mérite Européen‘, (Wiesbaden, 9.8.2001, Manuskript).

38 d) die Beachtung der gemeinsamen Rechtsordnung gewährleisten.

« Videant consules, ne quid res publica detrimenti capiat. » 45

45 auf deutsch: „Mögen die (Konsuln) Staats- und Regierungschefs zusehen, dass der Staat (hier die Europäische Union) keinen Schaden erleidet.“ (Wikipedia, abgerufen am 10.3.2017).

39

II

Ein Fall aus dem Wirken von Carl Otto Lenz als Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof

-Zur Bindungswirkung der Entsendebescheinigung-

1. Schlußanträge des Generalanwalts C. O. Lenz vom 19. Januar 1995, Rechtssache C-425/93

- CALLE GRENZSHOP ANDRESEN GMBH & CO. KG-

gegen

ALLGEMEINE ORTSKRANKENKASSE FUER DEN KREIS SCHLESWIG- FLENSBURG.

- ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: SCHLESWIG-HOLSTEINISCHES LANDESSOZIALGERICHT - DEUTSCHLAND. - SOZIALE SICHERHEIT DER WANDERARBEITNEHMER - BESTIMMUNG DER ANWENDBAREN RECHTSVORSCHRIFTEN. –

RECHTSSACHE C-425/93.

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

A Einführung

1. In dem vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahren geht es um die Bestimmung der anwendbaren Rechtsordnung nach der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71(1) zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige und deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern sowie der Durchführungsverordnung (Verordnung [EWG] Nr. 574/72)(2).

2. Dem Ausgangsrechtsstreit liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Die Parteien des Ausgangsverfahrens ° die Firma Calle Grenzshop Andresen GmbH & Co. KG als Klägerin und die Allgemeine Ortskrankenkasse für den Kreis Schleswig-Flensburg als Beklagte ° streiten über die Beitragspflicht der Klägerin zur deutschen Sozialversicherung für ihre Angestellten, u. a. den Beigeladenen zu 3, Herrn W. Für diesen hat die Beklagte

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Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 74 627, 23 DM für den Zeitraum vom 1. April 1982 bis 31. August 1987 gefordert.

3. Die Klägerin betreibt in der Bundesrepublik Deutschland im deutsch-dänischen Grenzbereich ein Einzelhandelsgeschäft, welches Glied einer Verkaufskette ist. Sie beschäftigt dort überwiegend dänische Arbeitnehmer, die in Dänemark ihren Wohnsitz haben, so auch den Beigeladenen zu 3. Das Arbeitsverhältnis des Beigeladenen zu 3 wird dadurch charakterisiert, daß er in dem in Deutschland angesiedelten Betrieb als Marktleiter beschäftigt ist und ausserdem für seinen Arbeitgeber rund 10 Stunden in der Woche in Dänemark tätig ist. Es ist für die Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens davon auszugehen, daß der Gegenstand seiner Tätigkeit in Dänemark darin besteht, in der Unternehmenszentrale die Politik des Unternehmens mitzugestalten bzw. koordinierende und kontrollierende Arbeiten durchzuführen. Es bedarf der rechtlichen Qualifizierung dieses Beschäftigungsverhältnisses, um die anwendbare Rechtsordnung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 zu bestimmen. Ferner geht es darum, ob die anwendbare Rechtsordnung durch die Erteilung einer Bescheinigung in der Form des Vordrucks E 101 mit bindender Wirkung festgelegt werden kann.

4. Das vorlegende Gericht unterbreitet dem Gerichtshof folgende Fragen:

1) Stellt es eine Entsendung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Buchst. a) EWGV 1408/71 dar oder ist es einer Entsendung gleichzustellen, wenn ein dänischer Arbeitnehmer, der im Königreich Dänemark wohnt und ausschließlich von einem Unternehmen mit Betriebssitz in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt ist, von diesem Unternehmen zur Ausführung von Arbeiten für dessen Rechnung regelmässig für mehrere Stunden in der Woche ° vorhersehbar ohne Begrenzung der Entsendungszeit auf zwölf Monate ° in das Königreich Dänemark entsandt wird?

2) Ist eine Person im Sinne des Art. 14 Abs. 2 EWGV 1408/71 gewöhnlich im Gebiet von zwei Mitgliedstaaten im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt, wenn sie ausschließlich von einem Unternehmen mit Betriebssitz in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt ist und sie im Rahmen dieses Beschäftigungsverhältnisses ihre Tätigkeit regelmässig zum Teil (mehrere Stunden in der Woche) im Gebiet des Königreichs Dänemark ausübt?

3) Umfasst der Begriff "Tätigkeit" im Sinne von Art. 14 Abs. 2 Buchst. b) Ziff. i) EWGV 1408/71 den Begriff "beschäftigt" im Sinne dieser Vorschrift?

4) a) Ist der zuständige Träger eines Mitgliedstaates an die vom (unzuständigen) Träger eines anderen Mitgliedstaates gemäß Art. 12a EWGV 574/72 auf Formblatt E 101 ausgestellte Bescheinigung rechtlich gebunden? b) Wenn ja: Gilt das auch, soweit der Bescheinigung Rückwirkung beigelegt ist?

5. Am schriftlichen Verfahren haben sich die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte als Beigeladene des Ausgangsverfahrens (im folgenden: BfA), die deutsche Regierung, die italienische

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Regierung und die Kommission beteiligt. Am mündlichen Verfahren hat sich überdies die britische Regierung beteiligt.

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B. Stellungnahme

6. Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 stellt die Regel auf, gemäß deren Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaates unterliegen. Von dieser Regel sind Ausnahmen nur in engen Grenzen möglich(3), die im vorliegenden Fall erkennbar keine Rolle spielen. Welche Rechtsvorschriften auf eine Person anwendbar sind, für die die Verordnung gilt, bestimmt sich nach deren Titel II. Die unter regelmässigen Umständen anwendbare Rechtsordnung folgt aus Artikel 13 Absatz 2 und ist grundsätzlich die des Ortes der Beschäftigung(4). Sonderregelungen finden sich in den Artikeln 14 bis 17. Dabei enthält Artikel 14 Regelungen für Personen(5), die eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausüben. Da der Beigeladene zu 3 bei der Klägerin abhängig beschäftigt ist, ist die Antwort auf die Frage nach der anwendbaren Rechtsordnung im Rahmen dieser Vorschrift zu suchen.

7. Die Fragen 1 bis 3 des Vorabentscheidungsersuchens zielen darauf ab, ob Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a oder Artikel 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i einschlägig ist.

8. Artikel 14 Absatz 1 regelt den Fall der Entsendung. Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a lautet:

"Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaates von einem Unternehmen, dem sie gewöhnlich angehört, im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt wird und die von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaates entsandt wird, unterliegt weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaates, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet und sie nicht eine andere Person ablöst, für welche die Entsendungszeit abgelaufen ist."

9. Der auf zwölf Monate begrenzte Entsendungszeitraum kann gemäß Buchstabe b der Vorschrift durch behördliche Genehmigung um maximal zwölf Monate verlängert werden, wenn die Ausführung der Arbeit aus nicht vorhersehbaren Gründen die ursprüngliche Dauer überschreitet.

10. Artikel 14 Absatz 2 regelt den Fall von Personen, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt sind. Buchstabe a gilt für Personen, die als Mitglied des fahrenden oder fliegenden Personals bestimmter Beförderungsunternehmen beschäftigt werden, und ist im vorliegenden Fall offensichtlich nicht einschlägig. Buchstabe b lautet hingegen:

"Eine Person, die nicht unter Buchstabe a) fällt, unterliegt i) den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dessen Gebiet sie wohnt, wenn sie ihre Tätigkeit zum Teil im Gebiet dieses Staates ausübt oder wenn sie für mehrere Unternehmen oder mehrere Arbeitgeber tätig ist, die ihren Sitz oder Wohnsitz im Gebiet verschiedener Mitgliedstaaten haben; ii) den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dessen Gebiet das Unternehmen oder der Arbeitgeber, das bzw. der sie beschäftigt, seinen Sitz oder Wohnsitz hat,

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sofern sie nicht im Gebiet eines der Mitgliedstaaten wohnt, in denen sie ihre Tätigkeit ausübt".

Zu Frage 1

11. Die Beteiligten sind einhellig der Auffassung, es läge kein Fall der Entsendung im Sinne des Artikels 14 Absatz 1 Buchstabe a vor, sondern es handele sich bei dem Beschäftigungsverhältnis des Beigeladenen zu 3 um einen Fall der gewöhnlichen Beschäftigung in zwei Mitgliedstaaten im Sinne des Artikels 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i.

12. Gegen die Annahme einer Entsendung werden folgende Argumente vorgebracht:

Die BfA trägt vor, die in Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a geregelte Ausnahme sei auf zwölf Monate beschränkt und könne nicht auf einen Arbeitnehmer angewendet werden, der für ein Unternehmen, für das er in einem Mitgliedstaat seine Haupttätigkeit ausübe, eine weitere Tätigkeit ohne zeitliche Beschränkung in einem anderen Mitgliedstaat ausübe. Der Fall wäre nur dann anders zu beurteilen, wenn sich die Einsätze in Dänemark nicht als feststehender integraler Bestandteil der Haupttätigkeit darstellten, sondern im voraus ungewiß wäre, ob und wann der Arbeitnehmer für seinen in Deutschland ansässigen Arbeitgeber eine Arbeit in Dänemark zu verrichten habe.

13. Auch die deutsche Regierung weist auf die zeitliche Begrenzung der Entsendung hin. Die Tatsache, daß der Beigeladene zu 3 regelmässig und auf Dauer mehrere Jahre lang in Dänemark beschäftigt gewesen sei, spreche eindeutig gegen eine Entsendung.

14. Die italienische Regierung vertritt die Ansicht, eine Entsendung liege nicht vor, denn eine solche erfordere, daß die vom Arbeitnehmer geleistete Arbeit ganz in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Arbeitgebers erbracht werde. Davon müsse man ausgehen angesichts der Überlegung, daß die Ausnahmeregel an die Voraussetzung geknüpft sei, daß die voraussichtliche Dauer der Arbeit zwölf Monate nicht überschreite; diese Bedingung habe nur dann einen Sinn, wenn sie sich auf Fälle einer andauernden Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat bezöge, da sie gerade eine Ausnahme von dem Grundsatz darstelle, wonach das Recht des Mitgliedstaats angewendet wird, in dem die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers gewöhnlich (d. h. auf Dauer) erbracht wird.

15. Die Kommission macht geltend, die Anwendbarkeit des Artikels 14 Absatz 1 Buchstabe a setze voraus, daß im konkreten Fall die deutsche Rechtsordnung grundsätzlich anwendbar sei und dann für Zeiten der Entsendung weiter gelte. Die Entsendungsvorschrift sei nämlich eine Ausnahmeregelung, die lediglich verhindern solle, daß ein Arbeitnehmer, der zur Verrichtung von Arbeiten von kurzer Dauer in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, dem dortigen Sozialversicherungsrecht unterstellt wird. Es sei aber gerade fraglich, ob die deutsche Rechtsordnung zur Anwendung kommt. Es müsse geprüft werden, ob eine Spezialregelung eingreife, wobei Artikel 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i in Betracht komme.

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16. Nach Ansicht der Kommission ist eine Entsendung ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer von Anfang an gleichzeitig in Deutschland und Dänemark gearbeitet hat. Es könne nicht um die Frage gehen, ob eine Entsendung ausreiche, um eine Beschäftigung in zwei Mitgliedstaaten anzunehmen. Wenn eine Beschäftigung in mehreren Mitgliedstaaten gegeben sei, handele es sich um einen Sonderfall, der gerade kein Fall der Entsendung ist, zumal die Ergebnisse auch unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob Artikel 14 Absatz 2 oder Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a in Verbindung mit Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a anzuwenden sei.

17. Eine Entsendung sei grundsätzlich auch bei einer Beschäftigung in mehreren Staaten im Sinne des Artikels 14 Absatz 2 denkbar, und zwar durch Entsendung in einen dritten Staat, der weder der Staat der einen noch der anderen regelmässigen Beschäftigung ist. Zur Untermauerung ihrer Argumentation weist die Kommission auf das Vorrangverhältnis zwischen Artikel 14 Absatz 2 gegenüber Artikel 13 Absatz 2 unter Umständen in Verbindung mit Artikel 14 Absatz 1 hin.

18. Wie die Kommission zu Recht feststellt, ist der Frage nach einer Entsendung grundsätzlich die Frage der anwendbaren Rechtsordnung vorgeschaltet. Erst wenn die anwendbare Rechtsordnung bestimmt ist, ist zu prüfen, ob diese Rechtsordnung ausnahmsweise bei einer durch das bestehende Arbeitsverhältnis ausgelösten zeitlich begrenzten Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat weitergilt. Ich halte es daher für problematisch, die abstrakten Merkmale einer Entsendung zu prüfen, um bejahendenfalls daraus einen Rückschluß auf die anwendbare Rechtsordnung zu ziehen.

19. Im vorliegenden Fall jedoch scheinen bereits die objektiven Kriterien einer Entsendung nicht vorzuliegen. Die in Dänemark wahrgenommenen Aufgaben des Beigeladenen zu 3 sind nicht vorübergehender Natur. Im Tatsächlichen ist davon auszugehen, daß die Ausübung bestimmter Tätigkeiten in Dänemark bereits seit mehreren Jahren erfolgt. Es ist anzunehmen, daß die in Dänemark zu erfuellenden Aufgaben des Beigeladenen zu 3 sich aus seiner Stellung im Unternehmen ergeben. Das Tatbestandsmerkmal der Befristung der voraussichtlichen Dauer der Arbeit in einem anderen Mitgliedstaat auf zwölf Monate ist daher nicht erfuellt.

20. Der italienischen Regierung ist überdies beizupflichten, wenn sie vorträgt, eine Tätigkeit in zwei Mitgliedstaaten entspreche nicht dem Tatbestand der Entsendung. Ohne darüber zu entscheiden, ob bei einer Tätigkeit in zwei Mitgliedstaaten in keinem Fall eine Entsendung angenommen werden kann, muß man doch davon ausgehen, daß das typische Erscheinungsbild der Entsendung die durch das bestehende Arbeitsverhältnis bedingte zeitlich begrenzte Verlagerung der beruflichen Betätigung in einen anderen Mitgliedstaat darstellt.

21. Auf denselben Sachverhalt angewendet, schließen sich der Tatbestand der Entsendung nach Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a und der einer Beschäftigung in zwei Mitgliedstaaten nach Artikel 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i gegenseitig aus. Das wird dadurch deutlich, daß beide Vorschriften in ihrer Rechtsfolge auf verschiedene Rechtsordnungen verweisen.

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22. Als Antwort auf die erste Frage möchte ich festhalten, daß die Voraussetzungen für eine Entsendung nicht vorliegen.

Zu Frage 2

23. Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Voraussetzungen des Artikels 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i erfuellt sind. Der Frage ist zu entnehmen, daß das vorlegende Gericht Zweifel an der Anwendbarkeit der Vorschrift hegt, weil die betroffene Person ausschließlich von einem Unternehmen mit Betriebssitz in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt wird. Es möchte geklärt wissen, ob eine Tätigkeit in zwei Mitgliedstaaten im Sinne der Vorschrift auch zwei voneinander unabhängige Beschäftigungsverhältnisse bedingt.

24. Die Kommission vertritt den Standpunkt, für die Anwendbarkeit des Artikels 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i komme es nicht darauf an, daß die Tätigkeit für mehrere verschiedene Unternehmen ausgeuebt werde. Der Wortlaut der Vorschrift verlange das nicht. Sie enthalte lediglich noch eine Alternative zu dem Grundfall. Die Alternative bestehe darin, daß der Arbeitnehmer für mehrere Unternehmen oder mehrere Arbeitgeber tätig ist. Die Konjunktion "oder" zeige, daß es sich nicht um Merkmale handele, die zu der Tätigkeit eines Arbeitnehmers in zwei Mitgliedstaaten hinzutreten müssen, um den Anwendungsbereich der Vorschrift zu eröffnen.

25. Die Kommission verweist zusätzlich auf Artikel 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer ii, der den Sonderfall eines Arbeitnehmers regelt, der in zwei oder mehr Mitgliedstaaten beschäftigt ist, jedoch in einem dritten Staat wohnt, in dem er keiner Beschäftigung nachgeht. In diesem Fall spreche die Verordnung davon, "daß der Mitgliedstaat zuständig sein soll, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber (Singular) seinen Sitz hat". Die Verordnung gehe also davon aus, daß es sogar der Normalfall sei, wenn ein Arbeitnehmer in zwei Mitgliedstaaten aber für ein und denselben Arbeitgeber tätig wird.

26. Die von der Kommission vorgebrachten Textargumente halte ich für überzeugend. Artikel 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i regelt zwei Alternativen, wobei die erste besagt: "Eine Person ... unterliegt ... den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sie wohnt, wenn sie ihre Tätigkeit zum Teil im Gebiet dieses Staates ausübt" und die zweite Alternative darauf abstellt, daß "sie für mehrere Unternehmen oder mehrere Arbeitgeber tätig ist, die ihren Sitz oder Wohnsitz im Gebiet verschiedener Mitgliedstaaten haben".

27. Ergänzungshalber möchte ich darauf hinweisen, daß auch in den von Artikel 14 Absatz 2 Buchstabe a und Absatz 3 geregelten Fällen stets davon ausgegangen wird, daß der Arbeitnehmer, wenngleich in mehr als einem Mitgliedstaat beruflich tätig, bei einem Unternehmen beschäftigt ist. Ich möchte daher der Kommission beipflichten, wenn sie eine Regel zu erkennen glaubt, nach der im Normalfall ein Arbeitnehmer für einen Arbeitgeber tätig wird. Meines Erachtens steht es folglich der Anwendbarkeit des Artikels 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i erste Alternative nicht entgegen, daß die Person für ein Unternehmen in mehreren Mitgliedstaaten tätig wird.

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28. Sowohl die deutsche Regierung als auch auch die BfA haben sich zu den Merkmalen der Ausübung einer Tätigkeit "gewöhnlich" und "zum Teil" im Gebiet eines Staates geäussert und dabei die Frage diskutiert, ob ein Mindestumfang der beruflichen Betätigung verlangt werden müsse, um die Merkmale auszufuellen.

29. Die Bundesregierung vertritt den Standpunkt, eine Beschäftigung sei nur dann eine gewöhnliche, wenn sie nach ihrer Dauer und ihrem wirtschaftlichen Ertrag ins Gewicht falle. In der Anwendung auf den konkreten Fall bedeute das, daß der Arbeitnehmer etwa ein Viertel seiner regelmässigen Arbeitszeit in seinem Wohnsitzstaat beschäftigt sein müsse.

30. Nach dem von der BfA vertretenen Standpunkt, ist die Wendung "zum Teil" als reine Sachverhaltsbeschreibung zu werten und nicht als Beschreibung des erforderlichen Umfanges des im anderen Mitgliedstaat ausgeuebten Teils der Beschäftigung. Allerdings ° so räumt die Beteiligte ein ° dürfe die Arbeit von ihrer Bedeutung her nicht so untergeordnet und unbeachtlich sein, daß sie als ungeeignet angesehen werden könne, die Rechtsfolgen des Artikels 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i, nämlich den Wechsel der anwendbaren Rechtsordnung, auszulösen. Als Beispiel für eine dermassen untergeordnete und nebensächliche Arbeit nennt sie die Beauftragung eines Arbeitnehmers, die Unternehmenspost in einen Briefkasten an seinem Wohnort in einem anderen Mitgliedstaat einzuwerfen. Ausschlaggebend sei allein, ob der betreffende Arbeitnehmer in zwei Mitgliedstaaten tatsächlich eine Arbeit verrichte. Wie das Unternehmen insgesamt die Arbeitszeit erfasse und welcher Betriebsteil den Arbeitnehmer in welcher Währung entlohne, sei unerheblich.

31. Der Vertreter des klägerischen Unternehmens hat in der mündlichen Verhandlung die Ansicht vertreten, auf einen in Arbeitsstunden zu bestimmenden Mindestumfang der Tätigkeit dürfe es nicht ankommen. Es sei vielmehr auf die Bedeutung der Arbeitsleistung abzustellen. Er räumt allerdings ein, daß eine völlig untergeordnete und nebensächliche Betätigung nicht geeignet sei, die in Artikel 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i aufgestellten Voraussetzungen auszufuellen. In dem vorliegenden Fall habe die in Dänemark ausgeuebte Tätigkeit des Beigeladenen zu 3 in seiner Eigenschaft als Marktleiter darin bestanden, die Unternehmenspolitik in der Zentrale des Unternehmens mitzubestimmen und sei daher von erheblicher Bedeutung.

32. Der Umfang und die Bedeutung einer Arbeit lassen sich nicht zwangsläufig in Arbeitsstunden festlegen(6). Diese Feststellung gilt für Aufgaben des Managements, wie sie offenbar im Ausgangsfall von den Beigeladenen zu 3 wahrzunehmen sind, beansprucht aber gleichermassen Gültigkeit in anderen Beschäftigungsbereichen. Es sollte meines Erachtens auf eine effektive Arbeitsleistung in dem Wohnsitzstaat des Arbeitnehmers abgestellt werden(7). Dabei sollten völlig unbeachtliche Tätigkeiten ausser Betracht bleiben, um eventuelle Manipulationen zu verhindern. Ansonsten sollten keine Kriterien für einen Mindestumfang der Beschäftigung aufgestellt werden, erstens, weil der Verordnungstext dies nicht gebietet und zweitens, um die Praktikabilität der Rechtsanwendung nicht zu erschweren.

33. Dem vorlegenden Gericht ist zu antworten: Eine Person, die ausschließlich von einem Unternehmen mit Betriebssitz in der Bundesrepublik

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Deutschland beschäftigt wird und im Rahmen dieses Beschäftigungsverhältnisses ihre Tätigkeit regelmässig, zum Teil (mehrere Stunden in der Woche) im Gebiet des Königreichs Dänemark ausübt, ist im Sinne des Artikels 14 Absatz 2 gewöhnlich im Gebiet von zwei Mitgliedstaaten im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt.

Zu Frage 3

34. Das vorlegende Gericht führt schließlich noch ein Bedenken hinsichtlich der Anwendbarkeit des Artikels 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i ins Feld. Es bittet mit der Frage Nr. 3 um Aufschluß darüber, ob der Begriff "Tätigkeit" im Sinne des Artikels 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i den Begriff "beschäftigt" im Sinne der Vorschrift(8) umfasst. In der Begründung des Vorabentscheidungsersuchens weist das Gericht auf Artikel 12a Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 574/72 hin, in dem auch beide Begriffe nebeneinander gebraucht werden. Es heisst dort:

"Gelten nach Artikel 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i oder nach Artikel 14a Absatz 2 Satz 1 der Verordnung für eine Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten beschäftigt oder selbständig tätig ist und die einen Teil ihrer Tätigkeit in dem Mitgliedstaat ausübt, in dessen Gebiet sie wohnt, die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats, so stellt der von der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats bezeichnete Träger der betroffenen Person eine Bescheinigung ... aus, ..."

35. Die Zweifel an der Entsprechung beider Begriffe rühren wohl einmal daher, daß ° worauf die BfA hinweist ° nach der Diktion des deutschen Sozialrechts der Begriff "Tätigkeit" regelmässig nur die selbständige Tätigkeit umschreibt. Zum anderen trägt Artikel 12a Absatz 2 Buchstabe a der Verordnung Nr. 574/72 insofern zur Unklarheit bei, als er sich sowohl auf Artikel 14 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71 bezieht, der eine abhängige Beschäftigung in mindestens zwei Mitgliedstaaten zum Gegenstand hat, als auch auf Artikel 14a Absatz 2 der Verordnung Nr. 1408/71, der an eine selbständige Tätigkeit in mindestens zwei Mitgliedstaaten anknüpft.

36. Die klare Unterscheidung der Regelungsmaterien "abhängige Beschäftigung" in Artikel 14 einerseits und "selbständigen Tätigkeit" in Artikel 14a andererseits spricht dafür, daß der Begriff "Tätigkeit" im Sinne des Artikels 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i auf ein Arbeitsverhältnis abhängiger Beschäftigung hindeutet. Der Sonderfall des Zusammentreffens abhängiger und selbständiger Tätigkeit in einer Person wird in Artikel 14c der Verordnung Nr. 1408/71 geregelt. Ich bin daher der Ansicht, daß sowohl der Begriff "beschäftigen" als auch der Begriff "Tätigkeit" im Rahmen des Artikels 14 auf eine abhängige Berufsausübung hindeuten.

37. Dem vorlegenden Gericht ist daher zu antworten, daß sich die Begriffe "Tätigkeit" und "beschäftigen" im Sinne des Artikels 14 inhaltlich entsprechen.

Zu Frage 4 a

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38. Soweit hinsichtlich der Beantwortung der Fragen 1 bis 3 unter den Beteiligten im Ergebnis Einmütigkeit herrscht, besteht Uneinigkeit im Hinblick auf die Beantwortung der vierten Frage.

39. Das vorlegende Gericht hält die Frage nach der Bindungswirkung des Formblatts E 101 deshalb für entscheidungserheblich, weil es davon ausgeht, daß wenn die Voraussetzungen des Artikels 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i nicht erfuellt wären, die dänischen Rechtsvorschriften möglicherweise dennoch durch Vermittlung des Formblatts anwendbar seien.

40. Die klägerische Partei ist der Ansicht, das Formblatt E 101 müsse Bindungswirkung haben. Das ergebe sich aus dem Sinn und Zweck der Verordnung Nr. 574/72. Sei für die Anwendung des Artikels 14 der Verordnung Nr. 1408/71 eine Bescheinigung der Heimatbehörde erforderlich, müsse der Nachbarstaat umgekehrt daran gebunden sein. Dafür spreche der Gesichtspunkt der wechselseitigen Anerkennung behördlichen Handelns.

41. Die Bindungswirkung müsse auch Rückwirkung haben. In der überwiegenden Zahl der Fälle stellt sich erst nachträglich die Notwendigkeit einer Bescheinigung heraus. Das Formblatt E 101 erbringt Beweis darüber, daß in einem bestimmten Staat Sozialversicherungsschutz besteht. Das müsse der andere Staat anerkennen. Wenn die Erteilung der Bescheinigung gegebenenfalls im Rahmen langwieriger Verfahren erstritten worden wäre, dürfe deren Inhalt nicht ohne weiteres wieder in Frage gestellt werden können.

42. Die BfA trägt vor, die Rechtslage bestimme sich nach den Artikeln 13 bis 17 der Verordnung Nr. 1408/71; das Formblatt könne diese nur bestätigen. Die BfA weist auf das Bedürfnis zur zuegigen Austellung des Formblatts hin(9), was einer Überprüfung sämtlicher Angaben des Antragstellers im Wege stehe, jedoch erforderlich wäre, wenn die Bescheinigung rechtliche Bindung auslösen würde. Sollte die Bescheinigung aufgrund unzutreffender Umstände erteilt worden sein, dürfe sie der korrekten Anwendung der Artikel 13 bis 16 der Verordnung nicht im Wege stehen.

43. Hinsichtlich der Rückwirkungsproblematik erläutert die BfA, daß die Bescheinigung durchaus nachträglich erstellt werden könne, was deren Wirkungen nicht einschränke.

44. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland vertritt den Standpunkt, die Bescheinigung wirke nicht konstitutiv sondern deklaratorisch. Sie begründe eine Vermutung, die widerlegt werden könne. Der "zuständige Staat" könne selbst die Rechtslage überprüfen. Dies gelte insbesondere für Bescheinigungen, die von einem unzuständigen Träger ausgestellt werden. Eine Bindung an Bescheinigungen, die der Rechtslage nicht entsprechen, würde dazu führen, daß das Recht unrichtig angewendet würde.

45. Die Regierung der Italienischen Republik vertritt die Ansicht, das Formblatt E 101 entfalte Bindungswirkung. Mit diesem Formblatt bestätige nämlich die Behörde des Mitgliedstaats, dessen Recht auf den Arbeitnehmer anwendbar ist, daß ein bestimmter Arbeitnehmer ° in den verschiedenen Fällen der Artikel 14 ff. ° diesem besonderen Recht unterliege. Die Bescheinigung sei

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gegenüber dem einzelnen, dem sie erteilt werde, rechtswirksam und insoweit auch geeignet, den Träger eines anderen Mitgliedstaats zu binden. Aus der bestätigenden Kraft der Bescheinigung ergebe sich auch ihre Rückwirkung. Das werde durch die zwischen den Mitgliedstaaten verbreitete Praxis bestätigt.

46. Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat sich nur im mündlichen Verfahren zu Wort gemeldet, dort aber ausführlich zu der Frage nach den Rechtswirkungen des Formblatts E 101 Stellung genommen. Die Vertreterin der britischen Regierung hat verschiedene mögliche Rechtswirkungen diskutiert, um im Ergebnis das Formblatt E 101 folgendermassen zu qualifizieren. Es enthalte eine Erklärung über den rechtlichen Status der Person, auf die sie sich bezieht und beanspruche Gültigkeit, bis sie gegebenenfalls von der ausstellenden Behörde zurückgezogen werde. Die anwendbare Rechtsordnung werde allein nach den Artikeln 14 bis 17 der Verordnung Nr. 1408/71 festgelegt. Das Formblatt dokumentiere den Standpunkt eines Mitgliedstaats zur Auslegung der Verordnung. Sei das Formblatt unrichtig ausgestellt worden, müsse es zurückgezogen werden. Bei Meinungsunterschieden in bezug auf die Zuständigkeit der Behörden verschiedener Mitgliedstaaten sollten diese von der Verwaltungskommission geklärt werden. Dem Formblatt E 101 sollte schließlich rückwirkende Kraft beigemessen werden, solange es nicht zurückgezogen worden ist.

47. Die Kommission geht schließlich ebenfalls davon aus, daß die Rechtslage durch den Verordnungstext geregelt werde. Ob die Vorschriften der Verordnung tatsächlich erfuellt seien, könne sich nur durch einen Vergleich mit den tatsächlichen Umständen ergeben. Um diesen Beweis zu führen, könnten sämtliche üblichen Beweismittel herangezogen werden. Die Verordnung billige den Formularen keinen besonderen Beweiswert zu. Der Gerichtshof habe entschieden(10), daß durch die Verwendung eines Vordrucks die Beweiskraft von anderen Beweisstücken nicht beseitigt werde. Auf diese Weise könne unter Umständen die Aussage des Formulars widerlegt werden.

48. Die Kommission versäumt jedoch nicht darauf hinzuweisen, daß nach der von ihr vertretenen Ansicht im Ausgangsfall die zuständige Behörde gehandelt habe und die Bescheinigung der materiellen Rechtslage entspreche.

49. Das vorlegende Gericht hat zu erkennen gegeben, daß es die Frage nach der Bindungswirkung des Formblatts E 101 deshalb für entscheidungserheblich hält, weil möglicherweise eine Diskrepanz zwischen der materiellen Rechtslage ° so wie sie sich nach Ansicht des Gerichts darstellt ° und dem Inhalt des Formblatts besteht. Gemäß den im vorigen angestellten Überlegungen scheint die materielle Rechtslage mit der im Formblatt E 101 bescheinigten übereinzustimmen, soweit die dänische Rechtsordnung für anwendbar erklärt wird. Die Frage, ob ein Formblatt E 101 der materiellen Rechtslage vorgehen kann, würde sich somit im Ausgangsverfahren gar nicht stellen. Es ist jedoch nicht Sache des Gerichtshofes, eine Bewertung des Ausgangsrechtsstreits vorzunehmen, so daß die vierte Frage des Vorabentscheidungsersuchens zu beantworten ist.

50. Zur Beurteilung der Rechtswirkungen des Formblatts E 101 ist zunächst davon auszugehen, daß es in Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 erstellt

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wird, einer Verordnung, die bekanntlich in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt(11). Auf denselben Sachverhalt angewendet, müssten die Rechtsfolgen für einen bestimmten Arbeitnehmer dieselben sein, gleichgültig, ob eine zuständige Behörde des einen oder anderen Mitgliedstaats die Bewertung vornimmt(12). In der Praxis können dennoch Unstimmigkeiten auftreten, die verschiedenen Ursprungs sind.

51. Ein Rechtsfehler einer Bescheinigung kann z. B. daher rühren, daß eine unzuständige Stelle handelt. Des weiteren kann die rechtliche Bewertung aufgrund unzutreffender Tatsachen erfolgen und schließlich kann auch die Rechtsfolge durch fehlerhafte rechtliche Beurteilung falsch sein.

52. Das vorlegende Gericht geht offenbar davon aus, das im Ausgangsverfahren vorgelegte Formblatt E 101 sei von der unzuständigen Stelle ausgegeben worden. Diese Einschätzung begegnet rechtlichen Bedenken, worauf die Kommission zu Recht hingewiesen hat.

53. Gemäß Artikel 12a der Durchführungsverordnung Nr. 574/72 stellt der von der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats bezeichnete Träger eine Bescheinigung über die anwendbaren Rechtsvorschriften aus(13). Artikel 4 der Verordnung Nr. 574/72 verweist in Absatz 10 auf Anhang 10 der Verordnung, in dem die Träger oder Stellen aufgeführt werden, "die von den zuständigen Behörden insbesondere aufgrund der folgenden Vorschriften bezeichnet worden sind: a) ...; b) Durchführungsverordnung: ... Artikel 12a, ...". In Anhang 10 heisst es unter Buchstabe "B. Dänemark" Ziffer 1: "Bei Anwendung ... des Artikels 12a ... der Durchführungsverordnung: Socialministeriet (Ministerium für soziale Fragen), Köbenhavn"(14). Diese Bezeichnung gilt mit Wirkung vom 1. Juli 1989(15) und bedeutet insofern eine Änderung, als ursprünglich die "Sikringsstyrelsen (Staatliche Anstalt für soziale Sicherheit), Köbenhavn", bezeichnet worden war(16).

54. Unsicherheiten darüber, welche die zuständige Stelle eines anderen Mitgliedstaats ist, können daher rühren, daß im Verordnungstext von dem bezeichneten "Träger"(17) die Rede ist, was der Bezeichnung einer anderen Behörde entgegenzustehen scheint. Die Formulierung in Artikel 4 Absatz 10 ist hingegen weiter(18), so daß durch die Bezeichnung des Socialministeriet kein Widerspruch zum Verordnungstext besteht. Zur Verwirrung darüber, welche nun die "zuständige Stelle" ist, hat sicherlich die Änderung der Bezeichnung durch die Verordnung Nr. 2195/91(19) beigetragen.

55. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, in dem von ihm zu entscheidenden Rechtsstreit eine abschließende Bewertung darüber vorzunehmen, ob das Formblatt von der zuständigen Stelle erteilt worden ist. Für die Zwecke der weiteren Prüfung gehe ich jedoch davon aus, daß das ausweislich der Akten von dem Socialministeriet erstellte Formblatt von der zuständigen Stelle erteilt wurde.

56. Zur Beurteilung der Rechtswirkungen des Formblatts E 101 soll zunächst von dem Regelfall der aufgrund zutreffender Angaben erfolgten Erstellung des Formblatts ausgegangen werden. Bisher hatte der Gerichtshof keine Gelegenheit, sich zu den rechtlichen Wirkungen des Formblatts E 101 zu äussern. In der im Verfahren zitierten Rechtssache Knöller(20) ging es nur darum, ob das Formblatt

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E 26 (heute E 205) über einen bestimmten Sachverhalt abschließend Auskunft gebe oder ob der Inhalt durch zusätzliche Angaben der zuständigen Stelle ergänzt werden könnte, ohne daß das Formblatt neu erstellt werden müsste. Das Urteil in der Rechtssache Knöller kann jedoch die hier zu beantwortende Frage nicht präjudizieren, da das Formblatt E 26 für einen grundsätzlich anderen Sachverhalt Beweis zu erbringen geeignet und bestimmt ist als das Formblatt E 101(21). Ausserdem ging es in der Rechtssache Knöller nicht um die Frage der Bindung einer mitgliedstaatlichen Behörde an die Angaben in dem Formblatt E 26, sondern nur darum, ob und gegebenenfalls in welcher Form Ergänzungen der in dem Formblatt dokumentierten Angaben möglich sind.

57. Der Unterschied zwischen dem Formblatt E 26, welches Gegenstand der Rechtssache Knöller war und dem Formblatt E 101 lässt erkennen, daß sich eine abstrakte Beantwortung der Frage nach den Rechtswirkungen von Formblättern verbietet. Es gibt eine grosse Zahl derartiger Formblätter(22), die dazu bestimmt sind, die verwaltungsmässige Behandlung grenzueberschreitender Sachverhalte zu erleichtern. Eine Aussage des Urteils Knöller zur rechtlichen Bedeutung des Formblatts E 26 dürfte indes für alle Formblätter gleichermassen Gültigkeit beanspruchen. Es heisst dort: Die einschlägigen Artikel der Verordnung sowie die Vorschriften der Verwaltungskommission über das in Frage stehende Formblatt seien im Lichte der Artikel 48 bis 51 EWG-Vertrag auszulegen, die Grundlage, Rahmen und Grenzen der auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit ergangenen Verordnungen bilden. "Diese Artikel sollen nämlich die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer innerhalb des Gemeinsamen Marktes dadurch fördern, daß sie es ihnen unter anderem ermöglichen, Ansprüche geltend zu machen, die sich aus in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegten Beschäftigungszeiten ergeben. Die rechtliche Bedeutung des Formblatts E 26 muß daher so beurteilt werden, daß die praktische Wirksamkeit dieser Artikel und der Verordnungen über die Rechte der Wanderarbeitnehmer auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit nicht gefährdet wird."(23)

58. Ansatzpunkt für die Bewertung des Vordrucks E 101 muß daher eine konkrete Betrachtung sein, über welche Umstände das Formblatt Beweis zu erbringen bestimmt ist(24). Das Formblatt ist folgendermassen überschrieben:

"Bescheinigung über die anzuwendenden Rechtsvorschriften VO 1408/71: Art. 14.1.a; 14.2.b; Art. 14a.1.a; 14a.2.; 14a.4; 14b.1; 14b.2; 14b.4; 14c.1.a; 17

VO 574/72: Art. 11.1; 11a.1; 12a.2.a; 12a.5.c; 12a.7.a".

Das Formular gliedert sich in fünf Rubriken. Unter 1 sind Angaben zur Person des Arbeitnehmers oder Selbständigen vorgesehen. Unter 2 wird der Arbeitgeber bezeichnet. Unter 3 sind Angaben vorgesehen über Zeiträume, während deren die betreffende Person ° und gegebenenfalls bei wem ° tätig ist oder sein wird. Unter 4 ist die anwendbare Rechtsordnung zu bezeichnen und die einschlägige Rechtsgrundlage der Verordnung Nr. 1408/71 zu kennzeichnen. Unter 5 ist schließlich der Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften der Obengenannte unterliegt, zu bezeichnen, der als Aussteller des Formblatts zu erkennen sein muß.

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59. Im Ergebnis wird mit dem Formblatt E 101 von der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats die anwendbare Rechtsordnung bezeichnet. Nicht mehr und nicht weniger. Die Erstellung des Formblatts E 101 dokumentiert die rechtliche Bewertung eines konkreten Sachverhalts. Indem die zuständige Behörde das Formblatt E 101 ausstellt, betrachtet sie die Rechtsordnung, in der sie beheimatet ist, als die anwendbare.

60. Der Zweck des Formblatts E 101 ist es, in genau bezeichneten Fällen(25) positive sowie negative Kompetenzkonflikte zu vermeiden. Durch vorübergehende Tätigkeiten in einem anderen Mitgliedstaat sowie durch atypische Beschäftigungsverhältnisse, die eine Arbeitsleistung in mehr als einem Mitgliedstaat mit sich bringen, liegen Zweifelsfragen nach der anwendbaren Rechtsordnung in der Natur der Sache. Um derartige Konfliktlagen zu regeln, können nach Artikel 17 der Verordnung Nr. 1408/71 die zuständigen Behörden der implizierten Mitgliedstaaten im Interesse der betreffenden Personen Ausnahmen von den Artikeln 13 bis 16 vereinbaren(26). Würde man in diesen Fällen der Aussage einer zuständigen Behörde zur anwendbaren Rechtsordnung, die regelmässig einer Selbstbindung bzw. Selbstverpflichtung gleichkommt, keine Bindungswirkung zuerkennen, wäre das Formblatt E 101 völlig nutzlos.

61. Könnte die Aussage einer zuständigen mitgliedstaatlichen Behörde von der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaats ohne weiteres in Frage gestellt werden, wäre der Sinn der formalisierten Beweiserbringung über eine verbindliche Erklärung zur anwendbaren Rechtsordnung verfehlt. Darüber hinaus würde eines der Strukturprinzipien der Verordnung Nr. 1408/71, d. h. die Anwendbarkeit nur einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung gefährdet(27). Wenn die Aussage des Formblatts E 101 von der Behörde eines anderen Mitgliedstaats nicht anerkannt wird, kann das nur bedeuten, daß die das Formblatt beurteilende Stelle eine andere Rechtsordnung als die in dem Formblatt bezeichnete für anwendbar erachtet, was gerade zur Doppelversicherung mit allen daran anknüpfenden Konsequenzen führen kann. Diese Folge steht aber im Widerspruch zu Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 und damit auch zu den Zielen der Artikel 48 bis 51 EG-Vertrag.

62. Im Ergebnis bin ich daher der Ansicht, daß ein unter regelmässigen Umständen erstelltes Formblatt E 101 hinsichtlich der dokumentierten Rechtsfolge die Behörden eines anderen Mitgliedstaates bindet.

63. Anders sind hingegen die Fälle zu beurteilen, in denen aufgrund objektiv falscher Tatsachen ein Formblatt E 101 ausgestellt wurde. Im Laufe des Verfahrens wurde immer wieder der Fall anklingen gelassen, ein Formblatt E 101 könnte erschwindelt sein; es dürfe dann nicht den Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 vorgehen.

64. Es ist sicher richtig, daß ein zur Beweiserleichterung eingeführtes Formblatt nicht rechtsgestaltend wirken kann. Dennoch erzeugt es einen Rechtsschein und lässt den Beweis des ersten Anscheins für sich sprechen. Eine darüber hinausgehende Wirkung kann es nicht erzeugen. Eine materiell falsche Bescheinigung muß meines Erachtens mit den in den mitgliedstaatlichen Verfahrensordnungen vorgesehenen üblichen Beweismitteln entkräftet werden können. Gelingt dies, so muß der in der Bescheinigung Genannte aus dem

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Sozialversicherungssystem des ausstellenden Mitgliedstaats entlassen werden, damit er in das Sozialversicherungssystem des zuständigen Staates eingegliedert werden kann.

65. Wenn die Regierung des Vereinigten Königreichs im Verfahren vortragen ließ, die Bescheinigung müsste solange als bindend betrachtet werden, bis sie von der ausstellenden Behörde zurückgezogen werde, so halte ich diesen Standpunkt insofern für zutreffend, als der Beweiswert des Formblatts E 101 nicht ohne Einschaltung der ausstellenden Behörde vernichtet werden darf. Entscheidend kann es meines Erachtens nicht sein, ob die ausstellende Behörde das Formblatt E 101 förmlich zurückzieht oder formlose Ergänzungen(28) oder Änderungen vornimmt. Jedenfalls darf nach meiner Ansicht im Interesse der Zweckerfuellung des Vordrucks E 101 nicht über die mit bindender Kraft erteilte Bescheinigung der zuständigen Stelle eines Mitgliedstaats in einer anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung hinweggegangen werden. Solange der ausstellende Staat den Sozialversicherungspflichtigen nicht aus seinem Sozialversicherungssystem entlässt, kann er vom zuständigen Staat nicht in Anspruch genommen werden, denn dies würde eine Doppelbeanspruchung bedeuten und damit dem Zweck des Artikels 13 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 und den Artikeln 48 bis 51 EG-Vertrag über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer widersprechen.

66. Sträubt sich der ausstellende Staat, die Bescheinigung aufzuheben, so kann der zuständige Staat die Angelegenheit in der Verwaltungskommission zur Sprache bringen. Bleibt auch dieser Schritt erfolglos, kann der Weg eines Vertragsverletzungsverfahrens gemäß der Artikel 169 und 170 EG-Vertrag beschritten werden, d. h., der zuständige Staat kann gegebenenfalls sein Recht selbst geltend machen.

67. Dem vorlegenden Gericht ist auf seine Frage 4 a zu antworten: Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats ist an die Bescheinigung auf Formblatt E 101 gemäß Artikel 12a der Durchführungsverordnung Nr. 574/72 hinsichtlich der bescheinigten Rechtsfolge gebunden. Die Richtigkeit der Bescheinigung kann mit allen in den mitgliedstaatlichen Verfahrensordnungen vorgesehenen Beweismitteln in Frage gestellt werden; der Beweiswert der Bescheinigung kann nicht ohne Einschaltung der ausstellenden Behörde und gegebenenfalls des Gerichtshofes vernichtet werden.

Zu Frage 4 b

68. Abschließend ist auf die Frage 4 b nach der möglichen Rückwirkung der Bescheinigung einzugehen. Die Aussage der zuständigen Stelle über die Anwendbarkeit einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung wird regelmässig für bestimmte Zeiträume gemacht. Eine Erklärung zur anwendbaren Rechtsordnung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 kann nicht losgelöst von jedweden Beschäftigungszeiten abgegeben werden. Die maßgeblichen Zeiten sind konstitutiver Teil der mit dem Formblatt E 101 dokumentierten Rechtsfolge und nehmen daher an deren Bindungswirkung teil. Soweit diese Zeiträume in der Vergangenheit liegen, entfaltet das Formblatt E 101 Rückwirkung.

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C. Schlussantrag

69. Als Ergebnis vorstehender Überlegungen schlage ich folgende Beantwortung der Vorabentscheidungsfragen vor:

1) Es stellt keine Entsendung im Sinne des Artikels 14 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 dar, noch ist es einer Entsendung gleichzustellen, wenn ein dänischer Arbeitnehmer, der im Königreich Dänemark wohnt und ausschließlich von einem Unternehmen mit Betriebssitz in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt wird, von diesem Unternehmen zur Ausführung von Arbeiten für dessen Rechnung regelmässig für mehrere Stunden in der Woche ° ohne Begrenzung der voraussichtlichen Dauer der Arbeiten auf zwölf Monate ° im Königreich Dänemark beschäftigt wird.

2) Eine Person, die ausschließlich von einem Unternehmen mit Betriebssitz in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt wird und im Rahmen dieses Beschäftigungsverhältnisses ihre Tätigkeit regelmässig, zum Teil (mehrere Stunden in der Woche) im Gebiet des Königreichs Dänemark ausübt, ist im Sinne des Artikels 14 Absatz 2 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 gewöhnlich im Gebiet von zwei Mitgliedstaaten im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt.

3) Der Begriff "Tätigkeit" im Sinne von Artikel 14 Absatz 2 Buchstabe b Ziffer i der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 entspricht dem Begriff "beschäftigt" im Sinne dieser Vorschrift.

4) a) Der zuständige Träger eines Mitgliedstaats ist an die Bescheinigung auf Formblatt E 101 gemäß Artikel 12a der Durchführungsverordnung Nr. 574/72 hinsichtlich der bescheinigten Rechtsfolge (anwendbare Rechtsordnung) gebunden. Die Richtigkeit der Bescheinigung kann mit allen in den mitgliedstaatlichen Verfahrensordnungen vorgesehenen Beweismitteln in Frage gestellt werden; der Beweiswert der Bescheinigung kann nicht ohne Einschaltung der ausstellenden Behörde oder des Gerichtshofes vernichtet werden.

b) Sofern die in dem Formblatt E 101 ausgewiesenen Zeiträume in der Vergangenheit liegen, entfaltet das Dokument Rückwirkung.

(*) Originalsprache: Deutsch.

(1) In der Fassung der Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 8).

(2) In der Fassung der Verordung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983 (ABl. L 230, S. 86).

(3) Vgl. Artikel 14 c in Verbindung mit Anhang VII der Verordnung.

(4) Artikel 13 Absatz 2 Buchstabe a lautet:

Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber

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oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat.

(5) Andere Personen als Seeleute , wie es dort heisst.

(6) Im Rahmen der Beurteilung der Bindung einer Tätigkeit an das Hoheitsgebiet eines Staates hat der Gerichtshof festgestellt: Hierfür ist nicht nur die Dauer der Tätigkeitszeiten, sondern auch die Art der fraglichen Beschäftigung in Betracht zu ziehen (Urteil vom 12. Juli 1973 in der Rechtssache 13/73, Hakenberg, Slg. 1973, 935, Randnr. 20).

(7) In der Rechtssache C-2/89 (Urteil vom 3. Mai 1990, Kits van Heijningen, Slg. 1990, I-1755) hielt der Gerichtshof eine Arbeitsleistung von 2 mal 2 Stunden pro Woche für ausreichend, um als Beschäftigungsverhältnis zu gelten, welches die Anwendbarkeit der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 nach sich zog.

(8) Der Begriff beschäftigt wird in Artikel 14 mehrfach verwendet. Für die Auslegung der fraglichen Vorschrift maßgeblich ist der Begriff in Artikel 14 Absatz 2 Satz 1.

(9) Bei Entsendungen bis zu drei Monaten kann sogar der Arbeitgeber die Bescheinigung ausstellen laut Beschluß Nr. 148 der Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer im Sinne des Artikels 80 der Verordnung Nr. 1408/71 (ABl. L 22 vom 30.1.1993, S. 124).

(10) Urteil vom 11. März 1982 in der Rechtssache 93/81 (Knöller, Slg. 1982, 951).

(11) Vgl. Artikel 189 Absatz 2 EG-Vertrag.

(12) In dem Urteil in der Rechtssache Luijten hat der Gerichtshof ausgeführt: Die Vorschriften des Titels II [der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71] bilden nämlich ein geschlossenes System von Kollisionsnormen, das dem Gesetzgeber des einzelnen Mitgliedstaats die Befugnis nimmt, Geltungsbereich und Anwendungsvoraussetzungen seiner nationalen Rechtsvorschriften im Hinblick darauf zu bestimmen, welche Personen ihnen unterliegen und in welchem Gebiet sie ihre Wirkung entfalten sollen (Urteil vom 10. Juli 1986 in der Rechtssache 60/85 (Luijten Slg. 1986, 2365, Randnr. 14).

(13) Zum Inhalt der Vorschrift vgl. im vorigen Nr. 34.

(14) Vgl. konsolidierte Fassung der Durchführungsverordnung Nr. 574/72 (ABl. C 325 vom 10.12.1992, S. 96, 191).

(15) Vgl. Verordnung (EWG) Nr. 2195/91 vom 25. Juni 1991 zur Änderung der Verordnungen Nr. 1408/71 und Nr. 574/72 (ABl. L 206, S. 2, 12).

(16) Vgl. Verordnung Nr. 574/72 in der Fassung der Verordnung Nr. 2001/83, a. a. O., S. 196.

(17) Vgl. Artikel 12a der Verordnung Nr. 574/72.

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(18) Es heisst dort Träger oder Stellen .

(19) Vgl. a. a. O. Fußnote 15.

(20) Vgl. Rechtssache Knöller, a. a. O.

(21) Das Formblatt E 26 erbringt Beweis über zurückgelegte Versicherungszeiten, während das Formblatt E 101 die anwendbare Rechtsordnung bezeichnet.

(22) Vgl. z. B. Beschluß Nr. 130 der Verwaltungskommission der Europäischen Gemeinschaften für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 17. Oktober 1985 über die zur Durchführung der Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und (EWG) Nr. 574/72 des Rates erforderlichen Vordrucke (E 001; E 101 bis 127; E 201 bis 215; E 301 bis 303; E 401 bis 411), ABl. L 192 vom 15.7.1986, S. 1.

(23) Vgl. Randnr. 9 des Urteils Knöller, a. a. O.

(24) Ein Exemplar des Vordrucks ist diesen Schlussanträgen als Anlage beigefügt.

(25) Vgl. die Überschrift des Formblatts E 101.

(26) Vgl. auch Artikel 14a.4, nach dem die zuständigen Behörden im gegenseitigen Einvernehmen die anwendbare Rechtsordnung bestimmen können.

(27) Vgl. Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71. Vgl. auch Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache Perenboom, wo der Gerichtshof ausführt, Artikel 13 Absatz 1 schließe jede Möglichkeit aus, daß die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten für ein und denselben Zeitabschnitt kumulativ angewendet werden (Urteil vom 5. Mai 1977 in der Rechtssache 102/76, Perenboom, Slg. 1977, 815, Randnr. 10/14).

(28) Vgl. Rechtssache Knöller, a. a. O

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2. Urteil des EuGH vom 16. Februar 1995, Rechtssache C-425/93

Titel:

Mitgliedstaaten, Systeme der sozialen Sicherheit, Vorabentscheidungsfrage

Normenketten:

Rechtsgebiet:

Europarecht, ausl. Recht, Völkerrecht

Schlagworte:

Mitgliedstaaten, Systeme der sozialen Sicherheit, Vorabentscheidungsfrage

ECLI:

ECLI:EU:C:1995:37

CELEX:

CELEX 61993CJ0425

URTEIL DES GERICHTSHOFES (ZWEITE KAMMER) VOM 16. FEBRUAR 1995. CALLE GRENZSHOP ANDRESEN GMBH & CO. KG GEGEN ALLGEMEINE ORTSKRANKENKASSE FUER DEN KREIS SCHLESWIG- FLENSBURG. ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: SCHLESWIG- HOLSTEINISCHES LANDESSOZIALGERICHT - DEUTSCHLAND. SOZIALE SICHERHEIT DER WANDERARBEITNEHMER - BESTIMMUNG DER ANWENDBAREN RECHTSVORSCHRIFTEN. RECHTSSACHE C-435/93. Sammlung der Rechtsprechung 1995 Seite I-00269

++++ Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer ° Anwendbare Rechtsvorschriften ° Arbeitnehmer, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnstaat

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beschäftigt ist, aber einen Teil seiner Tätigkeit regelmässig in letzterem ausübt ° Rechtsvorschriften des Wohnstaats (Verordnung Nr. 1408/71, Artikel 14 II Buchstabe b Ziffer i) Die Situation eines Arbeitnehmers, der in einem Mitgliedstaat wohnt und ausschließlich von einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt wird und der im Rahmen dieses Arbeitsverhältnisses einen Teil seiner Tätigkeit regelmässig im Umfang von mehreren Stunden pro Woche während eines Zeitraums, der nicht auf zwölf Monate beschränkt ist, in dem erstgenannten Mitgliedstaat ausübt, fällt unter Artikel 14 II Buchstabe b Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71, so dass der Betroffene den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dessen Gebiet er wohnt. 1 Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht hat mit Beschluss vom 15. 9. 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 18. 10. 1993, gem. Artikel 177 EWG- Vertrag vier Fragen nach der Auslegung des Artikels 14 I Buchstabe a und II Buchstabe b Ziffer i der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, und des Artikels 12a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. 3. 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in ihrer durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. 6. 1983 kodifizierten Fassung (ABl. L 230, S. 6) zur Vorabentscheidung vorgelegt. 2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Calle Grenzshop Andresen GmbH & Co. KG (nachstehend: Firma Calle) und der Allgemeinen Ortskrankenkasse für den Kreis Schleswig-Flensburg (nachstehend: AOK) über die Zahlung von deutschen Sozialversicherungsbeiträgen, die die AOK von der Firma Calle für deren Arbeitnehmer verlangt, zu denen insbesondere Herr Börge Wandahl gehört. 3 Die Firma Calle betreibt in Deutschland in der Nähe der deutsch-dänischen Grenze ein Unternehmen, dessen Gegenstand der Einzelhandel mit Lebensmitteln, Spirituosen und Geschenkartikeln ist. Sie beschäftigt nahezu ausschließlich dänische Arbeitnehmer, die in Dänemark ihren Wohnsitz haben, darunter Herr Wandahl, der für die Firma Calle seit 1979 ° zunächst als Verkäufer und seit 1981 als Marktleiter ° tätig ist. 4 Weder Herr Wandahl noch die anderen dänischen Arbeitnehmer wurden von der Firma Calle bei der deutschen Sozialversicherung angemeldet. Mit Bescheid vom 21. 12. 1987 forderte die AOK von der Firma Calle Sozialversicherungsbeiträge für Herrn Wandahl in Höhe von 74 627,23 DM für die Zeit vom 1. 4. 1982 bis zum 31. 8. 1987. Die Firma Calle legte gegen diesen Beitragsbescheid Widerspruch ein und machte geltend, dass Herr Wandahl in dieser Zeit auch in Dänemark im Umfang von etwa 10 Stunden pro Woche für Rechnung des Unternehmens tätig gewesen sei und dass er folglich nach Artikel 14 II Buchstabe b Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 ausschließlich den dänischen Rechtsvorschriften unterlegen habe. 5 Nachdem ihr Widerspruch von der AOK mit Bescheid vom 17. 8. 1990 zurückgewiesen worden war, erhob die Firma Calle Klage beim Sozialgericht Schleswig. Dieses war der Auffassung, dass Herr Wandahl die Voraussetzungen des Artikels 14 II Buchstabe b Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 nicht erfüllt habe, sondern dass seine Tätigkeiten in Dänemark unter Artikel 14 I Buchstabe a

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gefallen seien und dass er daher zwingend den deutschen Rechtsvorschriften unterlegen habe. Es wies die Klage daher mit Urteil vom 4. 12. 1992 ab. 6 Die Firma Calle legte gegen dieses Urteil am 9. 2. 1993 Berufung beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht ein. Im Rahmen dieser Berufung legte sie eine vom dänischen Sozialministerium auf dem Vordruck E 101 ausgestellte Bescheinigung vor, wie sie in Artikel 12a II Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 vorgesehen ist; danach erfüllte Herr Wandahl vom 1. 1. 1985 an die Voraussetzungen des Artikels 14 II Buchstabe b der Verordnung Nr. 1408/71. Die Firma Calle machte geltend, dass die AOK auf Grund zwingenden Gemeinschaftsrechts an diese Bescheinigung gebunden sei und sich folglich nicht mehr darauf berufen könne, dass Herr Wandahl nicht tatsächlich in Dänemark tätig gewesen sei. 7 Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht ist der Auffassung, dass der Ausgang des Rechtsstreits von der Auslegung der von den Parteien angeführten Vorschriften des Gemeinschaftsrechts abhängt, und hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1) Stellt es eine Entsendung i.S. des Artikels 14 I Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 dar oder ist es einer Entsendung gleichzustellen, wenn ein dänischer Arbeitnehmer, der im Königreich Dänemark wohnt und ausschließlich von einem Unternehmen mit Betriebssitz in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt ist, von diesem Unternehmen zur Ausführung von Arbeiten für dessen Rechnung regelmässig für mehrere Stunden in der Woche ° vorhersehbar ohne Begrenzung der Entsendungszeit auf zwölf Monate ° in das Königreich Dänemark entsandt wird? 2) Ist eine Person i.S. des Artikels 14 II der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 gewöhnlich im Gebiet von zwei Mitgliedstaaten im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt, wenn sie ausschließlich von einem Unternehmen mit Betriebssitz in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt ist und sie im Rahmen dieses Beschäftigungsverhältnisses ihre Tätigkeit regelmässig zum Teil (mehrere Stunden in der Woche) im Gebiet des Königreichs Dänemark ausübt? 3) Umfasst der Begriff Tätigkeit i.S. von Artikel 14 II Buchstabe b Ziffer i der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 den Begriff beschäftigt i.S. dieser Vorschrift? 4) a) Ist der zuständige Träger eines Mitgliedstaats an die vom (unzuständigen) Träger eines anderen Mitgliedstaats gem. Artikel 12a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 auf Formblatt E 101 ausgestellte Bescheinigung rechtlich gebunden? b) Wenn ja: Gilt das auch, soweit der Bescheinigung Rückwirkung beigelegt ist? Zur ersten und zur zweiten Vorabentscheidungsfrage 8 Mit seinen ersten beiden Fragen, die gemeinsam zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Situation eines dänischen Arbeitnehmers, der in Dänemark wohnt und ausschließlich von einem Unternehmen mit Sitz in Deutschland beschäftigt wird und der im Rahmen dieses Arbeitsverhältnisses einen Teil seiner Tätigkeit regelmässig im Umfang von mehreren Stunden pro Woche während eines Zeitraums, der nicht auf zwölf Monate beschränkt ist, in Dänemark ausübt, unter Artikel 14 I Buchstabe a oder aber unter Artikel 14 II Buchstabe b Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 fällt. 9 Artikel 14 der Verordnung Nr. 1408/71 gehört zum Titel II der Verordnung, dessen Bestimmungen nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ein vollständiges und einheitliches System von Kollisionsnormen darstellen, das

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bezweckt, die Arbeitnehmer, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, dem System der sozialen Sicherheit eines einzigen Mitgliedstaats zu unterwerfen, so dass die Kumulierung anwendbarer nationaler Vorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden (siehe insbesondere Urteil vom 24. 3. 1994 in der Rechtssache C-71/93, Van Poucke, Slg. 1994, I-1101, Randnr. 22). 10 Nach Artikel 14 I Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats von einem Unternehmen, dem sie gewöhnlich angehört, im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt wird und die von diesem Unternehmen zur Ausführung einer Arbeit für dessen Rechnung in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats entsandt wird, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit zwölf Monate nicht überschreitet und sie nicht eine andere Person ablöst, für welche die Entsendungszeit abgelaufen ist. 11 Folglich kann eine Situation wie die in den ersten beiden Vorlagefragen beschriebene nicht unter diese Bestimmung fallen, da die Dauer der Arbeit, die die betreffende Person in Dänemark für Rechnung des Unternehmens mit Sitz in Deutschland, dem sie gewöhnlich angehört, ausgeführt hat, schon dem Wortlaut der Fragen nach zwölf Monate übersteigt. 12 Diese Situation fällt vielmehr unter Artikel 14 II Buchstabe b Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71, der bestimmt, dass eine Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dessen Gebiet sie wohnt, wenn sie ihre Tätigkeit zum Teil im Gebiet dieses Staates ausübt oder wenn sie für mehrere Unternehmen oder mehrere Arbeitgeber tätig ist, die ihren Sitz oder Wohnsitz im Gebiet verschiedener Mitgliedstaaten haben. 13 Aus der Verwendung der Konjunktion “oder“ ergibt sich nämlich, dass die erste Möglichkeit auch dann anwendbar ist, wenn die betreffende Person ihre Tätigkeit im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten für Rechnung ein und desselben Unternehmens ausübt. 14 Dieses Ergebnis wird durch den Umstand bestätigt, dass Artikel 14 II Buchstabe b Ziffer ii der Verordnung Nr. 1408/71 ausdrücklich vorsieht, dass eine Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dessen Gebiet das Unternehmen oder der Arbeitgeber (Singular), das bzw. der sie beschäftigt, seinen Sitz oder Wohnsitz hat, sofern sie nicht im Gebiet eines der Mitgliedstaaten wohnt, in denen sie ihre Tätigkeit ausübt. 15 Folglich ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass die Situation eines dänischen Arbeitnehmers, der in Dänemark wohnt und ausschließlich von einem Unternehmen mit Sitz in Deutschland beschäftigt wird und der im Rahmen dieses Arbeitsverhältnisses einen Teil seiner Tätigkeit regelmässig im Umfang von mehreren Stunden pro Woche während eines Zeitraums, der nicht auf zwölf Monate beschränkt ist, in Dänemark ausübt, unter Artikel 14 II Buchstabe b Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 fällt. Zur dritten Vorabentscheidungsfrage 16 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff “Tätigkeit“ i.S. von Artikel 14 II Buchstabe b Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 den Begriff “im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt“ einschließt.

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17 Diese Frage ist zu bejahen. 18 Zum einen ergibt sich aus der Antwort auf die ersten beiden Fragen, dass Artikel 14 II Buchstabe b Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 auch für eine Person gilt, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten für Rechnung ein und desselben Unternehmens im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist. 19 Zum anderen gelten für die Situation einer Person, die eine selbständige Tätigkeit gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausübt, und für die Situation einer Person, die gleichzeitig im Gebiet verschiedener Mitgliedstaaten im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist und eine selbständige Tätigkeit ausübt, Artikel 14a II bzw. Artikel 14c der Verordnung Nr. 1408/71. 20 Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, dass der Begriff “Tätigkeit“ i.S. von Artikel 14 II Buchstabe b Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 den Begriff “im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt“ einschließt. Zur vierten Vorabentscheidungsfrage 21 Aus den Gründen des Vorlagebeschlusses ergibt sich, dass diese Frage nur für den Fall gestellt ist, dass die Situation, die Gegenstand der ersten beiden Vorabentscheidungsfragen ist, unter Artikel 14 I Buchstabe a der Verordnung Nr. 1408/71 fällt. 22 Da dies nicht der Fall ist, ist die vierte Frage gegenstandslos. Kosten 23 Die Auslagen der deutschen und der italienischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Aus diesen Gründen hat DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer) auf die ihm vom Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht mit Beschluss vom 15. 9. 1993 vorgelegten Fragen für Recht erkannt: 1) Die Situation eines dänischen Arbeitnehmers, der in Dänemark wohnt und ausschließlich von einem Unternehmen mit Sitz in Deutschland beschäftigt wird und der im Rahmen dieses Arbeitsverhältnisses einen Teil seiner Tätigkeit regelmässig im Umfang von mehreren Stunden pro Woche während eines Zeitraums, der nicht auf zwölf Monate beschränkt ist, in Dänemark ausübt, fällt unter Artikel 14 II Buchstabe b Ziffer i der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. 2) Der Begriff “Tätigkeit“ i.S. von Artikel 14 II Buchstabe b Ziffer i der Verordnung Nr. 1408/71 schließt den Begriff “im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt“ ein.

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 

European Case Law Identifier (ECLI): ECLI:EU:C:1995:37

Zitiervorschlag: EuGH Urt. v. 16.2.1995 – C-425/93, BeckRS 2004, 77186

Parallelfundstellen: FHArbSozR 41 Nr. 9287 (Ls.) ◊ CELEX 61993CJ0425 ◊ Die Beiträge 1995, 308 ◊ EuGHE I 1995, 269 ◊ EuroAS 1994/2, 10 (L) ◊ EuroAS 1995, 49 ◊ EuZW 1995, 313 ◊ SGb 1995, 344 (L) ◊ SozR 3–6050 Art 14 Nr. 5

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3. Freiheit der Dienstleistung und nationalstaatliche Souveränität in der Europäischen Union

von

Dr. iur. utr. Frank Hennecke Leitender Ministerialrat a. D.

Die Europäische Union hat von Anfang an seit ihrer Gründung in Form der Europäischen Gemeinschaften einen europäischen Binnenmarkt von Waren und Dienstleistungen angestrebt. Die Schaffung des Binnenmarktes ist die Geschichte der Europäischen Union, die noch der letztlichen Vollendung entgegengeht.

Carl Otto Lenz hat diese Geschichte in verschiedenen Funktionen jahrzehntelang an entscheidender Stelle mitbegleitet und mitgestaltet.

Die Geschichte vollzog sich in verschiedenen Schritten über die Jahrzehnte hinweg. Dabei setzte der freie Verkehr von Waren und Dienstleistungen Schritt für Schritt die rechtliche Vereinheitlichung von Waren-, Transport- und Produktions- und Wettbewerbsstandards voraus, die dann durch Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Rechtssetzungsorgane aufgrund der europäischen Verträge nach und nach geschaffen wurden. Die Souveränität der Mitgliedstaaten der Europäischen Union blieb dabei grundsätzlich unberührt und ist nur nach Maßgabe der Unionsverträge auf die Europäischen Institutionen übergegangen. „Alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten verbleiben ... bei den Mitgliedstaaten.“46

46 Artikel 4 Absatz 1 des Vertrages über die Europäische Union (EUV); hierzu Carl Otto Lenz: Kommentar zu Art. 4 des Vertrages über die Europäische Union, in: Carl Otto Lenz / Klaus Dieter Borchardt (Hrsg.): EU-Verträge, Kommentar, 6. Auflage, Köln 2012, S. 15 f.

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Damit ist aber zugleich ein Spannungsfeld bezeichnet, in dem die europäische Rechtssetzung von Anfang steht: Einerseits die Vereinheitlichung der für den Binnenmarkt notwendigen Rechts- grundlagen, die den Mitgliedstaaten insoweit eine Souveränitäts- übertragung abverlangt, andererseits die Souveränität der Mitglied- staaten, die, wie es heißt, „Herren der Verträge“ sind und die sich auf die demokratische, verfassungsrechtliche und politische Legitimation ihrer eigenen innerstaatlichen Rechtssetzung stützen. Die Ausein- andersetzungen um das Prinzip der „Subsidiarität“, aber auch die spezifische Form der europäischen Rechtssetzung durch „Richtlinien“ sind Ausdruck dieser Spannung. Das hochsensible Verhältnis zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundes- verfassungsgericht in Deutschland steht dabei in sehr besonderer Weise für eine letztlich nicht grundsätzlich geklärte Beziehung zwischen Nationalstaat und Europäischer Union.

Das unvermeidbare Spannungsverhältnis läuft je und je auf juristische Auseinandersetzungen zu. Demzufolge ist ein Europäischer Gerichtshof eingerichtet, der über die Streitfälle zwischen, aber auch aus den Mitgliedstaaten und der Europäischen Union nach Maßgabe des Europäischen Rechtes entscheidet.

Die Rechtssetzung der Europäischen Union durch die spezifische Form der „Richtlinie“ dient dazu, die Spannung dadurch abzubauen, daß dem jeweiligen nationalen Gesetzgeber Spielräume zur Umsetzung in jeweils nationales Recht verbleiben. Die Richtlinie läßt innerstaatlichen – wie z. B. in Deutschland föderalistischen- Gesetzgebungskompetenzen, aber auch jeweiligen besonderen Rechts- und Verwaltungstraditionen der Mitgliedstaaten Raum, sofern jedenfalls die Richtlinienvorgabe inhaltlich gewahrt bleibt.

Damit aber öffnet sich der Blick auf die jeweiligen national- staatlichen Traditionen: Es ist in der Europäischen Union nicht von Anfang an grundgelegt, daß die jeweils sehr unterschiedlichen Rechts- und Verwaltungstraditionen der Mitgliedstaaten vereinheitlicht –nach welchem Maßstab?- und damit letztlich abgeschafft werden sollten. Wie denn überhaupt die unterschiedlichen kulturellen Prägungen, historischen Erfahrungen, gesellschaftlichen Lebensformen,

65 politischen Werthaltungen der Mitgliedstaaten nicht etwa überwunden werden sollen, sondern gerade die Voraussetzung einer Europäischen Union, eines geeinten Europas der Vielfalt abgeben. Gerade die Vielfalt ist eine Form der Freiheit, der Völker wie der Menschen. Ein politisches Engagement für Europa kann nur ein Engagement für Vielfalt in Freiheit sein. Die damit notwendig verbundene Differenz muß ausgehalten werden und ist Aufgabe jeweils konstruktiver Auseinandersetzung. Die Gründe, warum in Deutschland der Föderalismus hochgehalten wird, können in Europa nicht minder gelten. Nicht ohne Grund ist eine Vereinheitlichung der Privatrechtsordnung in Europa bisher gescheitert, sofern diese überhaupt wünschenswert wäre.47

Es darf daher gerade auf dem Weg zu einer vertieften Integration der Europäischen Union die jeweils nationalstaatliche Identität nicht preisgegeben werden. „Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität; die in ihren grundlegenden politischen und verfassungs- rechtlichen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.“48 Nationalstaatliche Identität verwirklicht sich aber auch in Politikbereichen, denen eigentlich die Interessenlage der Europäischen Union mit dem Ziel einer Europäisierung und damit Vereinheitlichung gilt. Zu diesen Politikbereichen gehört die Sozialpolitik, die mit der Arbeits- marktpolitik eng verbunden ist.49 Gerade in der Sozialpolitik kommen

47 zur laufenden Diskussion etwa Peter-Christian Müller-Graff: Privatrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht – Gemeinschaftsprivatrecht, 2. Aufl., Baden- Baden 1991; ders. (Hrsg.): Gemeinsames Privatrecht in der Europäischen Gemeinschaft, 2. Aufl., Baden-Baden 1999; Bettina Heiderhoff: Gemeinschaftsprivatrecht, 2. Aufl., München 2007, sowie die jeweiligen Beiträge in der Zeitschrift „GPR – Grundlagen – Schriften zum Gemeinschaftsprivatrecht“.

48 Artikel 4 Absatz 2 EUV; hierzu Carl Otto Lenz: Kommentar zu Art. 4 EUV, in: Carl Otto Lenz / Klaus Dieter Borchardt (Hrsg.): EU-Verträge, Kommentar, 6. Auflage; Köln 2012, Randnummer 4, S. 17.

49 zur Geschichte der Europäischen Sozialpolitik vgl. Martin Coen: Vorbemerkung zu Art. 151-161 AEUV, in: Carl Otto Lenz / Klaus Dieter Borchardt (Hrsg.): EU-Verträge. Kommentar, 6. Auflage, Köln 2012, S. 1763 ff.; Eberhard Eichenhofer: Kommentar zu Art. 151 AEUV, in: Rudolf Streinz (Hrsg.): EUV / AEUV. Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, 2. Auflage; München 2012, S. 1616-1623;

66 aber je spezifische gesellschaftliche Grundsituationen, historische Erfahrungen, ethische Werthaltungen, aber auch gewachsene recht- liche und gesellschaftliche Strukturen, nicht zuletzt auch die Knappheit finanzieller Ressourcen zur Geltung. Nicht ohne Grund hat sich die Europäische Union jedenfalls einer Sozialunion bisher nicht angenähert. Eine solche wäre –jedenfalls für absehbare Zeit- weder sachlich begründbar noch politisch erreichbar.50

Im gemeinsamen Binnenmarkt aber gerät das Prinzip der Freizügigkeit der Dienstleistung und der Arbeitnehmer mit der sozialstaatlichen Souveränität der Mitgliedstaaten in Konflikt. Wenn Arbeitskraft in der gesamten Europäischen Union auf dem freien

Rose Langer: Kommentar zu Art. 151 AEUV, in: Hans von der Groeben / Jürgen Schwarze / Armin Hatje (Hrsg.): Europäisches Unionsrecht, Band 3, 7. Auflage, Baden-Baden 2015, S. 1541-1558; Roland Bieber / Astrid Epiney / Marcel Haag: Die Europäische Union. Europarecht und Politik, 12. Auflage, Baden-Baden 2016, § 22, S. 520 ff.; Sebastian Krebber: Kommentar zu Art. 151 AEUV, in: Christan Calliess / Matthias Ruffert (Hrsg.): EUV / AEUV. Das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta, 5. Auflage, München 2016, S. 1696-1706; Thomas Oppermann / Claus Dieter Clasen / Martin Nettesheim: Europarecht, 7. Auflage, München 2016, S. 489 ff., 491: „Entwicklung der Europäischen Sozialpolitik seit 1958“; Eva Kocher: Kommentar zu Art. 151 AEUV, in: Matthias Pechstein / Carsten Nowak / Ulrich Häde (Hrsg.): Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Band III, Tübingen 2017, S. 968-980; Martina Benecke: Kommentar zu Art. 151 AEUV, in: Eberhard Grabitz / Meinhard Hilf / Martin Nettesheim (Hrsg.): Das Recht der Europäischen Union, Band II: EUV /AEUV, München, Stand: 7/2017, S. 7-9, Randnummern 15-23, „Geschichte der Europäischen Sozialpolitik“. Vgl. auch Eberhard Eichenhofer (Red.): 50 Jahre nach ihrem Beginn – Neue Regeln für die Koordinierung sozialer Sicherheit. Jahrestagung der Europäischen Instituts für soziale Sicherheit (EISS) 26./27. September 2008 in Berlin, Berlin 2009; Maximilian Fuchs (Hrsg.): Europäisches Sozialrecht, 7. Aufl., Baden- Baden 2018; ausführlich insgesamt zur Europäischen Sozialpolitik unter Einbeziehung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Koen Lenarts: La développment de l’Union sociale europénne dans la jurisprudence de la Cour de justice, in: ERA Forum, Journal der Europäischen Rechtsakademie, Trier 2008.

50 Walter Frenz: Handbuch Europarecht, Band 6: Institutionen und Politiken, Heidelberg u. a. 2011, Randnummer 3866, S. 1105: „Gegen ein einheitliches europäisches System der sozialen Sicherheit ist eingewandt worden, dass die Systeme der sozialen Sicherheit als Ergebnis lange zurückreichender Traditionen sind und tief in den nationalen Kulturen und Gepflogenheiten wurzeln. Entsprechend ist bislang kein einheitliches System des sozialen Sicherheit intendiert.“

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Markt soll angeboten werden können, stellt sich zwangsläufig die Frage, unter welchen sozialrechtlichen Bedingungen die Arbeits- leistung bei frei bleibendem Angebot von Arbeitsleistung erbracht werden soll. Arbeit unterliegt in den Mitgliedstaaten sozialrechtlichen, speziell auch sozialversicherungsrechtlichen Bedingungen, die dem sozialen Schutz der Arbeitnehmer dienen. Eine solche soziale Grund- sicherung ist immerhin in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Grundsatz gegeben; dies immerhin ist Folge des sozialen und politischen Fortschrittes im 20. Jahrhundert, unter welchen sonstigen politischen Bedingungen auch immer. Aber die Aus- gestaltung im einzelnen unterscheidet sich: Hier hat die national- staatliche Souveränität ein breites Handlungsfeld nach Maßgabe gesellschaftlicher Strukturen, politischer Werthaltungen und verfüg- barer Ressourcen. Die Sozialsysteme der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind nicht europarechtlich vereinheitlicht und unterliegen der jeweiligen nationalstaatlichen Souveränität.

Das europäische Recht des freien Dienstleistungsverkehrs muß daher auf der einen Seite eben diese Freiheit gewährleisten, andererseits die nationalstaatliche Sozialordnung wahren. Dementsprechend ist die europäische Sozialpolitik in den Artikeln 151 bis 161 des „Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)“ in dem Sinne grundgelegt, daß auf der einen Seite die Union die Mitgliedstaaten in ihren Tätigkeiten auf dem Gebiet der „sozialen Sicherheit und Schutz der Arbeit“ unterstützt und ergänzt,51 daß aber auf der anderen Seite nach Artikel 153 Absatz 4 Spiegelstrich 1 gilt: „Die aufgrund dieses Artikels erlassenen Bestimmungen – berühren nicht die anerkannte Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grund- prinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen, und dürfen das finanzielle Gleichgewicht dieser Systeme nicht erheblich beeinträchtigen.“ Dem beiderseitigen Ausgleich dienen dann konkret die „Verordnung des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der

51 Art. 153 Absatz 1 Buchstabe c AEUV; vgl. auch Art. 156 AEUV.

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Gemeinschaft zu- und abwandern“ (Verordnung 1408/71)52.und die hierzu ergangenen Ausführungsverordnungen.53 Die Problemlage selbst spitzt sich gleichsam wie in einem Brennpunkt in der sogenannten Entsendebescheinigung zu, die früher als „E 101 – Bescheinigung“ und jetzt als „A 1 – Bescheinigung“ aufgrund der genannten Ausführungsverordnungen zur Verordnung über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit ausgestellt wird.

Mit der Bedeutung dieser Bescheinigung hat sich sehr früh der Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof Carl Otto Lenz in seinen Schlußanträgen in der Rechtssache „Calle Grenzshop Andresen“54 befaßt. Es ging in diesem Falle unter anderem um die allgemeine, nach der Verordnung Nr. 1408/71 zu beantwortenden Frage, welche Rechtsordnung für Arbeitnehmer, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft beschäftigt sind und von dort zeitweise in einen anderen Mitgliedstaat zur Arbeitsleistung entsandt werden, in sozialrechtlicher Hinsicht anzuwenden ist, und im Besonderen um die Frage, welche Rechtswirkung eine E 101- Bescheinigung hat, die die Rechtsordnung des Mitgliedstaates, der die Bescheinigung ausstellt, für anwendbar erklärt. In dieser Fragestellung zeigt sich, daß grundsätzlich das Problem konkurrierender Sozial- leistungssysteme besteht, das durch die Verordnung Nr. 1408/71 gelöst werden soll, und daß für die Lösung das Instrument der E 101- Bescheinigung bereitsteht. Nach dem Grundprinzip der Verordnung soll nur ein Sozialleistungssystem Anwendung finden, was von den

52 Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. L 149 vom 5. 7. 1971 S. 2, zuletzt in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 592/2008 vom 4. 7. 2008, Amtsblatt der Europäischen Union L 177 vom 7. 7. 2008 S. 1; abgelöst durch die Verordnung Nr. 883/2004 vom 29. 4. 2004, Amtsblatt der Europäischen Union. L 166 vom 30. 4. 2004 S. 1, aber unter bestimmten Bedingungen noch fortgeltend. Zur Verordnung Nr. 883/2004 vgl. Frank Schreiber / Annett Wunder / Susanne Dern: VO (EG) Nr. 883/2004. Europäische Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, Kommentar, München 2012.

53 Vgl. hierzu Astrid Wallrabenstein: Koordinierungssozialrecht – Grundstrukturen und allgemeine Prinzipien, in: Monika Schlachter / Hans Michael Heinig (Hrsg.): Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, Baden-Baden 2016, § 22, S. 867 f., Randnummern 13-19.

54 Rechtssache C-425/93, Amtliche Sammlung 1995 I S. 271-290.

69 beteiligten Mitgliedstaaten dann beiderseitig anzuerkennen ist.55 Welches Sozialleistungssystem anzuwenden ist, setzt somit eine konstitutive Entscheidung voraus. Diese Entscheidung ist in die Hand desjenigen Mitgliedstaates gelegt, der für sich die Anwendung seines Sozialleistungssystems reklamiert und die Entscheidung in der E 101- Bescheinigung zum Ausdruck bringt. In dem Falle „Calle Grenzshop Andresen“ war nun die Frage gestellt, was zu gelten habe, wenn Zweifel bestehen, ob die E 101-Bescheinigung die Anwendbarkeit derjenigen Rechtsordnung, die in der Bescheinigung für anwendbar erklärt wird, auch zu Recht für anwendbar erklärt. Würde sich bei der Prüfung in einem Mitgliedstaat herausstellen, daß diejenige Rechts- ordnung anzuwenden sei, die für den Mitgliedstaat gilt, der die Prüfung vornimmt, und nicht diejenige, die der andere Mitgliedstaat für sich reklamiert und in der E 101-Bescheinigung dokumentiert, bestünde in der Tat die Gefahr, daß es zu einer Konkurrenz und doppelten Anwendung zweier Systeme der sozialen Sicherheit kommt. Es geht also um die Frage einer Bindungswirkung der Bescheinigung.

Zu dieser Frage hat Generalanwalt Lenz wegweisende Überlegungen vorgetragen. Er geht zunächst davon aus, daß zur Beurteilung der Rechtswirkungen des Formblattes E 101 zunächst die Verordnung Nr. 1408/71 selbst zugrundezulegen ist. Die Verordnung ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Von daher müßten im Grundsatz für alle gleichgelagerten Fälle in allen Mitgliedstaaten dieselben Rechtsfolgen gelten.56 Dies vorausgesetzt, können gleichwohl in der Praxis Differenzen auftreten. Dies ergibt sich naturgemäß aus der Anwendung von Rechtsnormen. Und so können auch Zweifel an der jeweiligen Richtigkeit der Rechts- anwendung auftreten.

Derartige Zweifel sind dann geeignet, genau jene Situation herbeizuführen, die als Konkurrenz der Sozialleistungssysteme nach

55 so heißt es denn auch in dem Erwägungsrund 15 der Verordnung Nr. 833/2004 ausdrücklich: „Es ist erforderlich, Personen, die sich innerhalb der Gemeinschaft bewegen, dem System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats zu unterwerfen, um eine Kumulierung anzuwendender nationaler Rechtsvorschriften und die sich hieraus möglicherweise ergebenden Komplikationen zu vermeiden.“

56 Schlußanträge Nr. 50.

70 der Verordnung 1408/71 vermieden werden soll. Daher ist ein genaues Augenmerk auf die Bescheinigung selbst zu richten. Die Betrachtung ergibt, daß in der Rubrik 4 des Formblattes die Anwendbarkeit der Rechtsordnung, die gelten soll, zu kennzeichnen ist und unter Rubrik 5 der Träger des Mitgliedstaates, dessen Rechtsordnung gelten soll, bezeichnet wird und als Aussteller der Bescheinigung erkenntlich ist57. Es heißt dann weiter: „Im Ergebnis wird mit dem Formblatt E 101 von der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaates die anwendbare Rechtsordnung bezeichnet. Nicht mehr und nicht weniger. Die Erstellung des Formblattes E 101 dokumentiert die rechtliche Bewertung eines konkreten Sachverhaltes. Indem die zuständige Behörde das Formblatt E 101 ausstellt, betrachtet sie die Rechts- ordnung, in der sie beheimatete ist, als die anwendbare.“58 Ist dies aber der Fall, nimmt die ausstellende Behörde die Geltung des für sie geltenden Sozialleistungssystems in Anspruch und gewährleistet sie die soziale Sicherheit des jeweiligen Arbeitnehmers. Für die An- wendung des Systems der sozialen Sicherheit des anderen Mitglied- staates besteht daher weder Anlaß noch Rechtfertigung.

„Der Zweck des Formblattes E 101 ist es, ... positive sowie negative Kompetenzkonflikte zu vermeiden.“59 Daraus muß folgen, daß der Bescheinigung eine Bindungswirkung zukommt: „Würde man ... der Aussage einer zuständigen Behörde zur anwendbaren Rechtsordnung, die regelmäßig einer Selbstbindung bzw. Selbstverpflichtung gleich- kommt, keine Bindungswirkung zuerkennen, wäre das Formblatt E 101 völlig wertlos.“60 Und weiter dann: „Könnte die Aussage einer zuständigen mitgliedstaatlichen Behörde von der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaates ohne weiteres in Frage gestellt werden, wäre der Sinn der formalisierten Beweiserbringung über eine verbindliche Erklärung zur anwendbaren Rechtsordnung verfehlt. Darüber hinaus würde eines der Strukturprinzipien der Verordnung Nr. 1408/71, d. h. die Anwendbarkeit nur einer mitgliedstaatlichen

57 Schlußanträge Nr. 58.

58 Schlußanträge Nr.59.

59 Schlußanträge Nr. 60.

60 Schlußanträge Nr. 60.

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Rechtsordnung gefährdet. Wenn die Aussage des Formblatts E 101 von der Behörde eines anderen Mitgliedstaats nicht anerkannt wird, kann das nur bedeuten, daß die das Formblatt beurteilende Stelle eine andere Rechtsordnung als die in dem Formblatt bezeichnete für anwendbar erachtet, was gerade zur Doppelversicherung mit allen daran anknüpfenden Konsequenzen führen kann. Diese Folge steht aber im Widerspruch zu Artikel 13 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 und damit auch zu den Zielen der Artikel 48 bis 51 EG- Vertrag.“61

Daraus ergibt sich dann die Konsequenz: „Im Ergebnis bin ich daher der Ansicht, daß ein unter regelmäßigen Umständen erstelltes Formblatt hinsichtlich der dokumentierten Rechtsfolge die Behörden eines anderen Mitgliedstaates bindet.“62

Freilich macht Lenz hier eine Einschränkung: das Formblatt muß „unter regelmäßigen Umständen erstellt“ sein. Diese Einschränkung ist der Erkenntnis geschuldet, daß das Formblatt in der Tat auch unrichtig sein kann, sei es, daß es von einer unzuständigen Behörde ausgestellt worden ist, sei es, daß die andere Rechtsordnung zu Unrecht für anwendbar erklärt wird, sei es, daß das Formblatt überhaupt erschwindelt worden ist. Es muß daher ein Weg gefunden werden, wie mit Zweifeln an der Richtigkeit umzugehen ist. Hier behilft sich Lenz mit der Figur des „Rechtsscheines“, der dem Formblatt tatsächlich innewohnt, der aber durch Gegenbeweis beseitigt werden kann. Hierzu führt Lenz aus: „Eine materiell falsche Bescheinigung muß meines Erachtens mit den in den mitglied- staatlichen Verfahrensordnungen vorgesehenen üblichen Beweis- mitteln entkräftet werden können. Gelingt dies, so muß der in der Bescheinigung Genannte aus dem Sozialversicherungssystem des ausstellenden Mitgliedstaats entlassen werden, damit er in das Sozialversicherungssystem des zuständigen Staates eingegliedert werden kann.“63 Damit aber „mitgliedstaatliche Verfahrens-

61 Schlußanträge Nr. 61.

62 Schlußanträge Nr. 62.

63 Schlußanträge Nr. 64.

72 ordnungen“ nicht am Ende doch die Aussagekraft der Bescheinigung aufheben können, fügt Lenz hinzu: daß „der Beweiswert des Formblatts E 101 nicht ohne Einschaltung der ausstellenden Behörde vernichtet werden darf.“64 So wird denn mit der notwendigen Beteiligung der Behörde des anderen Mitgliedstaates eben deren Kompetenz und letztlich der Souveränität des anderen Staates Rechnung getragen, in die nicht durch eine demgegenüber sich eigenständig gerierende Entscheidungskompetenz des einen Mitglied- staates eingegriffen werden darf. „Jedenfalls darf nach meiner Ansicht im Interesse der Zweckerfüllung des Vordrucks E 101 nicht über die mit bindender Kraft erteilte Bescheinigung der zuständigen Stelle eines Mitgliedstaates in einer anderen mitgliedstaatlichen Rechts- ordnung hinweggegangen werden.“65 Das hat dann auch die Folge, daß, „solange der ausstellende Staat den Sozialversicherungs- pflichtigen nicht aus seinem Sozialversicherungssystem entläßt“, dieser „vom zuständigen Staat nicht in Anspruch genommen werden“ kann.66

Was die Beteiligung des die Bescheinigung ausstellenden Staates im Falle einer in Zweifel geratenen Bescheinigung angeht, wird Lenz sehr deutlich: „Sträubt sich der ausstellende Staat, die Bescheinigung aufzuheben, so kann der zuständige Staat die Angelegenheit in der Verwaltungskommission zur Sprache bringen. Bleibt auch dieser Schritt erfolglos, kann der Weg eines Vertragsverletzungsverfahrens ... beschritten werden, d. h., der zuständige Staat kann gegebenenfalls sein Recht selbst geltend machen.“ 67

Diese Überlegungen münden dann in den Schlußantrag unter Nr. 4a): „Der zuständige Träger eines Mitgliedstaates ist an die Bescheinigung auf Formblatt E 101 der Durchführungsverordnung Nr. 574/72 hinsichtlich der bescheinigten Rechtsfolge (anwendbare Rechts-

64 Schlußanträge Nr. 65.

65 Schlußanträge Nr. 65.

66 Schlußanträge Nr. 65.

67 Schlußanträge Nr. 66.

73 ordnung) gebunden. Die Richtigkeit der Bescheinigung kann mit allen in den mitgliedstaatlichen Verfahrensordnungen vorgesehenen Beweismitteln in Frage gestellt werden; der Beweiswert der Bescheinigung kann nicht ohne Einschaltung der ausstellenden Behörde oder des Gerichtshofs vernichtet werden.“68

Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 16. Februar 1995 die Frage nach der Bindungswirkung der E 101-Bescheinigung allerdings unbeantwortet gelassen, da er die tatbestandlichen Voraus- setzungen, unter denen die Frage entscheidungserheblich gewesen wäre, im konkreten Falle als nicht gegeben angenommen hat.69

Damit blieb die durchaus beunruhigende Frage im Raum. Generalanwalt Lenz hat allerdings für die künftige Beantwortung die Weichen gestellt und die Richtung vorgegeben.

Die weitere Entwicklung nahm dann ihren Lauf.

Lenz hatte für die Frage, wie bei Zweifeln an der Richtigkeit der E 101-Bescheinigung zu verfahren sei, noch unbestimmt eine „Einschaltung der ausstellenden Behörde“ des anderen Mitgliedstaates vorgeschlagen, ohne aber das Verfahren hierfür im einzelnen konkretisieren zu können. Genau diese Konkretisierung hat dann die „Verordnung (EG) Nr. 987/2009 vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“ gebracht.70 In der Europäischen Union konnten die brennende Frage und die damit verbundene Unsicherheit auf Dauer nicht dahingestellt bleiben. In der Verordnung Nr. 987/2009 heißt es daher:

„Artikel 5

68 Schlußanträge Nr. 67.

69 EuGH, Urteil vom 16.2.1995, Aktenzeichen C-425/93, Amtliche Sammlung 1995 I S. 291 ff. (299), Rdnr. 21/22.

70 Amtsblatt der Europäischen Union L 284/1 vom 30. 10. 2009.

74

Rechtswirkung der in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Dokumente und Belege (1) Vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Grundverordnung und der Durchführungsverordnung bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, sind für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden. (2) Bei Zweifeln an der Gültigkeit eines Dokuments oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den im Dokument enthaltenen Angaben zugrunde liegt, wendet sich der Träger des Mitgliedstaats, der das Dokument erhält, an den Träger, der das Dokument ausgestellt hat, und ersucht diesen um die notwendige Klarstellung oder gegebenenfalls um den Widerruf dieses Dokuments. Der Träger, der das Dokument ausgestellt hat, überprüft die Gründe für die Ausstellung und widerruft das Dokument gegebenenfalls. (3) Bei Zweifeln an den Angaben der betreffenden Personen, der Gültigkeit eines Dokuments oder der Belege oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den darin enthaltenen Angaben zugrunde liegt, nimmt der Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts, soweit dies möglich ist, nach Absatz 2 auf Verlangen des zuständigen Trägers die nötige Überprüfung dieser Angaben oder dieses Dokuments vor. (4) Erzielen die betreffenden Träger keine Einigung, so können die zuständigen Behörden frühestens einen Monat nach dem Zeitpunkt, zu dem der Träger, der das Dokument erhalten hat, sein Ersuchen vorgebracht hat, die Verwaltungskommission anrufen. Die Verwaltungskommission bemüht sich binnen sechs Monaten nach ihrer Befassung um eine Annäherung der unterschiedlichen Standpunkte.“

Die Verordnung bestätigt in dieser Vorschrift die Bindungswirkung der E 101-Bescheinigung und gibt der bereits von Lenz vor- geschlagenen Verfahrensweise für den Fall von Zweifeln an der Richtigkeit der Bescheinigung eine definitive Form: Im Falle des Zweifels sind eine Prüfung und etwaige Richtigstellung durch die Behörde, der das Dokument vorliegt, ausgeschlossen und ist ein

75

Konsultationsverfahren einzuleiten. Am Ende des Konsultations- verfahrens wird dann das Dokument entweder bestätigt oder von der ausstellenden Behörde widerrufen.

Die Verordnung erstreckt im übrigen in Art. 5 Absatz 1 die Bindungswirkung nicht nur auf den erklärten Aussagegehalt, den „Tenor“ des Dokumentes, sondern auch darauf, aufgrund welcher Belege die Bescheinigung ausgestellt worden ist und wie diese Belege bewertetet worden sind. Im Schrifttum hat darüber hinaus nachgewiesen werden können, daß die Bindungswirkung den gesamten Text der Bescheinigung und somit auch die Aussagen über die Qualität der beteiligten Unternehmen umfaßt.71 Damit konnte auch ausgeschlossen werden, daß im Falle der Feststellung in der Bescheinigung, daß das ausländische Unternehmen kein Unternehmen der Arbeitnehmerüberlassung ist, im Inland eine illegale Arbeit- nehmerüberlassung mit den rigiden Rechtsfolgen des Arbeitnehmer- überlassungsgesetzes angenommen werden kann.72

Zuvor schon hatte der Europäische Gerichtshof Gelegenheit, zur Bindungswirkung eine ausdrückliche Entscheidung zu treffen. Im Tenor der Entscheidung zum Rechtsfall Herbosch-Kiere73 vom 26. Januar 2006 heißt es:

„Solange eine gemäß Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21.März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2001/83 des Rates vom 2. Juni 1983

71 Frank Hennecke: Zur Bindungswirkung der Entsendebescheinigung: Auch das Geschäftsmodell des ausländischen Arbeitgebers wird bescheinigt, in: Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht, 5/2017, S. 266-269; ders.: Was bescheinigt die E 101-Bescheinigung?, in: Blickpunkt Dienstleistung, 8/2017.

72 zu dieser Problematik mit allerdings abweichender Meinung Daniel Ulber: Die Bindungswirkung von A1-Bescheinigungen bei illegaler Arbeitnehmer- überlassung, in: Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht (ZESAR), 2015, S. 3-9; zustimmend. Karl-Heinz Schrader: Die Wirkung von Bescheinigungen A 1 auf die Entstehung einer Sozialversicherungspflicht und eines möglichen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnisses, in: BDZ 6/2012.

73 Rechtssache C-2/05, Amtliche Sammlung 2006 I S. 1079.

76 geänderten und aktualisierten Fassung, wiederum geändert durch die Verordnung (EWG) Nr. 2195/91 des Rates vom 25. Juni 1991, ausgestellte Bescheinigung E 101 nicht von den Behörden des Ausstellungsstaats zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird, bindet sie den zuständigen Träger und die Gerichte des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt worden sind. Folglich ist ein Gericht des Gaststaats dieser Arbeitnehmer nicht befugt, die Gültigkeit einer Bescheinigung E 101 im Hinblick auf die Bestätigung der Tatsachen, auf deren Grundlage eine solche Bescheinigung ausgestellt wurde, insbesondere das Bestehen einer arbeitsrechtlichen Bindung im Sinne von Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung Nr. 2001/83 geänderten und aktualisierten Fassung, wiederum geändert durch die Verordnung Nr. 2195/91, in Verbindung mit Punkt 1 des Beschlusses Nr. 128 der Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 17. Oktober 1985 zur Durchführung des Artikels 14 Absatz 1 Buchstabe a und des Artikels 14b Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 zwischen dem Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat und den von ihm in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaat entsandten Arbeitnehmern während der Dauer der Entsendung dieser Arbeitnehmer zu überprüfen.“74

Damit war die Bindungswirkung auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs grundgelegt. Lenz konnte sich bestätigt sehen.

Jüngst hat der Europäische Gerichtshof in der „A Rosa Flussschiff“- Entscheidung vom 27. 4. 2017 seine Rechtsprechung erneut bekräftigt und vertieft.75 Die Bindungswirkung gilt absolut. Damit ist auch das

74 vgl. hierzu auch Hansjürgen Tuengerthal: Die vielfach bewusst übersehene Bedeutung der EuGH-Entscheidung „Herbosch Kiere“, in: Blickpunkt Dienstleistung, 11/2012, S. 20-23; vgl. des weiteren auch Hansjürgen Tuengerthal / Janine Geißer: Umfassende Bindungswirkung auch bei Werkverträgen - EuGH zu Entsendebescheinigungen, in: Arbeit und Arbeitsrecht 02/2014.

75 Rechtssache 620/15.

77

Konsultationsverfahren verbindlich. Die Neufassung der E 101- Bescheinigung durch die jetzige A 1- Bescheinigung ändert hieran nichts.

Die Rechtsprechung und das Schrifttum76 in Deutschland waren anfänglich zögerlich. Aber nachdem sowohl der Europäische Gerichtshof mit der Entscheidung Herbosch–Kiere und jetzt mit der Entscheidung „ A Rosa Flussschiff“ als auch die Verordnung Nr. 987/2009 Klarheit geschaffen haben, sollte zur Bindungswirkung in Fällen, die in Deutschland verhandelt werden, kein Zweifel mehr bestehen.77 So haben denn auch der Bundesgerichtshof78 und der Bundesfinanzhof79 entsprechend judiziert. Es ist anzuerkennen, daß das Landessozialgericht Bayern bereits frühzeitig im Sinne der europäischen Rechtslage entschieden hat: „Danach verbieten Sinn und Zweck der europäischen Regelung, eine vom Entsendestaat ausgestellte Bescheinigung der Überprüfung des Beschäf- tigungsstaates zu unterwerfen. Vielmehr müssen sich die Behörden des Beschäftigungsstaates im Falle von Zweifeln an der Richtigkeit der Bescheinigung wegen des Grundsatzes der vertrauensvollen Zusammenarbeit an die Ausstellungsbehörde wenden und von dort die Korrektur oder Beseitigung der Bescheinigung verlangen. Geschieht dies nicht, sind die Behörden des Beschäftigungsstaates an die

76 vgl. etwa Frank Zimmermann: Offene strafrechtliche Fragen im Zusammenhang mit der europäischen E-101-Bescheinigung für Wanderarbeiter, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 2007, S. 407-418; Rolf Wank: Die Bindungswirkung von Entsendebescheinigungen, in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, 2007, S. 300-305; Kathrin Kruse: Entsendung von Arbeitnehmern und grenzüberschreitende Tätigkeit Selbständiger nach VO (EG) Nr. 883/2004, 2015.

77 zuvor schon Reinhold Mauer: Arbeitsrechtliche Auswirkungen einer E 101- Bescheinigung bei Arbeitnehmerentsendung, in: Fachanwalt Arbeitsrecht, 5/2006, S. 133-135; dann Hansjürgen Tuengerthal / Janine Geißer: EuGH zu Entsendebescheinigungen, in: Arbeit und Arbeitsrecht, 2/2014, S. 84-85; jetzt Frank Schreiber: Bindungswirkung der Entsendebescheinigung A 1, in: Monika Schlachter / Hans Michael Heinig (Hrsg.): Europäisches Arbeits- und Sozialrecht, Baden-Baden 2016, § 33, Randnummern 71-75.

78 Bundesgerichtshof, Urteil vom 24. 10. 2006, 1 StR 44/06.

79 Bundesfinanzhof, Urteil vom 13. 3. 2012, III R 52/08.

78

Bescheinigung gebunden mit der Folge, dass ausschließlich das Sozialversicherungsrecht des Entsendestaates Anwendung findet.“80 Davon also ist auszugehen.

Damit hat die Bindungswirkung im Zusammenhang mit dem Konsultationsverfahren insgesamt eine doppelte Funktion. Zum einen wird sichergestellt, daß nur ein Sozialleistungsrecht zur Anwendung kommt und somit im Interesse der Wahrung nationaler Souveränität auf dem Gebiet der Sozialpolitik eine Konkurrenz der Systeme der sozialen Sicherheit vermieden wird, und zum anderen wird in die Entscheidungshoheit des Staates, in dessen Verantwortung die Bescheinigung nach Maßgabe der dortigen Verwaltungspraxis ausgestellt wird, nicht durch eine fremde Entscheidung eingegriffen, wodurch wiederum die Souveränität auch auf dem Gebiet der Verwaltung gewahrt wird.

Übrig geblieben ist freilich eine Frage, die auch Lenz schon beunruhigt hat,81 die aber bislang noch nicht zur Entscheidung gekommen war: Was gilt, wenn die Bescheinigung betrügerisch erschlichen oder gar gefälscht worden ist? Hier scheint sich das Vertrauen, das der Bescheinigung entgegengebracht wird, gegen einen schweren Mißbrauch nicht mehr durchsetzen zu können. So kam denn auch ein derartiger Fall vor den Europäischen Gerichtshof. Nach entsprechenden Anträgen des Generalanwalts Henrik Saugmandsgaard Öe, denen das Gericht insoweit gefolgt ist, hat der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 6. Februar 2018 entschieden:82

80 Landessozialgericht Bayern, Urteil vom 23. 1. 2007, L 5 KR 124/05, Rdnr.23; ähnlich dass., Urteil vom 27. 2. 2007, L KR 32/04; die Entscheidungen sind zu der früheren Entsendebescheinigung E 101 ergangen.

81 Schlußanträge Nr. 63.

82 Rechtssache C-359/16, Fall Altun u. a. Zu diesem Fall ausführlich, wenn auch zustimmend, Stefanie Klein: Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 6. Februar 2018 in der Rechtssache C-359/16 (Fall „Altun“ u. a.), in: Zeitschrift für Europäisches Sozial- und Arbeitsrecht (ZESAR) 10/2018, S. 1-12.

79

„Art. 14 Nr.1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 631/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004, und Art. 11 Abs. 1 Buchst a der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71 in der durch die Verordnung Nr. 118/97 geänderten und aktualisierten Fassung sind dahin auszulegen, dass, wenn der Träger des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt wurden, den Träger, der die Bescheinigungen E 101 ausgestellt hat, mit einem Antrag auf erneute Prüfung und Widerruf dieser Bescheinigungen im Licht von im Rahmen einer gerichtlichen Prüfung gesammelten Beweisen befasst, die die Feststellung erlaubt haben, dass die Bescheinigungen betrügerisch erlangt oder geltend gemacht wurden, und der ausstellende Träger es unterlassen hat, diese Beweise zu berücksichtigen, um erneut zu prüfen, ob die Ausstellung der Bescheinigungen zu Recht erfolgt ist, das nationale Gericht in einem Verfahren gegen Personen, die verdächtigt werden, entsandte Arbeitnehmer unter Verwendung derartiger Bescheinigungen eingesetzt zu haben, diese Bescheinigungen außer Acht lassen kann, wenn es auf der Grundlage der genannten Beweise und unter Beachtung der vom Recht auf ein faires Verfahren umfassten Garantien, die diesen Personen zu gewähren sind, feststellt, dass ein solcher Betrug vorliegt.“83

Ist damit die bisherige Rechtsprechung zur absoluten Wirkung der Bescheinigung geändert, eingeschränkt oder gar revidiert worden? Immerhin hat das Urteil in der deutschen Presse wohl auch deswegen Aufmerksamkeit erregt.84 Daher sollte man denn auch genau

83 Es darf an dieser Stelle angemerkt werden, daß im Urteilstenor die maßgeblichen Verordnungen in der Fassung der vielfachen Änderungs- verordnungen zitiert werden, worauf in vorliegendem Beitrag verzichtet worden ist.

84 Vgl. etwa Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Februar 2018.

80 hinschauen. Zunächst zitiert der Gerichtshof in seinen Ent- scheidungsgründen die Rechtsprechung wie in den Fällen Herbosch- Kiere und A-Rosa-Flussschiff85 ausdrücklich und bestätigt diese; er will davon also nicht abrücken. Sodann war in dem zur Entscheidung anstehenden Falle ein Beteiligungsverfahren eingeleitet worden; es stand somit gar nicht zur Entscheidung an, ob im Falle des Betruges auf das Beteiligungsverfahren verzichtet werden kann. Die Besonder- heit des Falles bestand vielmehr darin, daß im Beteiligungsverfahren die Beweise für den Betrug seitens der ausstellenden, um Überprüfung ersuchten Behörde nicht gewürdigt worden sind. Der Betrug stand daher offensichtlich und unwiderlegt im Raum. Für diesen extremen Fall hat nun der Europäische Gerichtshof entschieden, daß niemand an eine solche Bescheinigung gebunden sein könne und daß daher eine von der Bescheinigung abweichende Entscheidung getroffen werden dürfe. Aber auch diese Abweichung bindet der Gerichtshof an strenge Verfahrenskriterien wie sorgfältige Beweiswürdigung und rechts- staatliche Verfahrensgarantien zugunsten betroffener Personen. Der Gerichtshof hat gleichsam eine „Notbremse“ gezogen, die wohl unausweichlich erscheint, wenn einerseits ein absoluter Rechtsschein gelten soll, andererseits ins Auge springt, daß dessen Voraussetzungen nicht gegeben sind. Die Rechtssicherheit, die die Bindungswirkung der Bescheinigung gewährt, kann kein Einfallstor dafür sein, daß sich der Betrug gerade ihrer bedient. Anders ausgedrückt: Die Rechtssicherheit der Bindungswirkung kann nur aufrechterhalten werden, wenn sie gegen kriminellen Machenschaften gefeit ist. Der Rückgriff auf allgemeine Grundsätze des Rechts bleibt nach der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs letzten Endes unverzicht- bar, wenn bestimmte und wohl begründete Regeln der Rechtsordnung wie die absolute Bindungswirkung der Entsendebescheinigung in eine Fehlentwicklung hineinzugeraten drohen.

Der Europäische Gerichtshof begründet denn auch die Entscheidung in seiner Pressemitteilung wie folgt: „Der Gerichtshof weist darauf hin, dass das für die Beilegung etwaiger Streitigkeiten zwischen den Trägern der betreffenden Mitgliedstaaten über die Gültigkeit oder die Richtigkeit einer Bescheinigung vorgesehene Verfahren ...

85 Randnummern 36, 37.

81 einzuhalten ist. Diese Erwägungen dürfen jedoch nicht dazu führen, dass sich die Rechtsunterworfenen in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf die Rechtsvorschriften der Union berufen können. Dies ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts.“86

In einem erneuten Urteil vom 11. Juli 2018 in der Rechtssache C- 356/15 hat der Europäische Gerichtshof diese Rechtsprechung fortgesetzt und vertieft. Ausgangspunkt war eine gesetzliche Regelung im Königreich Belgien, die wie folgt lautete: „Im Hinblick auf die in den europäischen Koordinierungsverordnungen enthaltenen Regeln zur Bestimmung des anwendbaren Rechts liegt ein Missbrauch vor, wenn bei einem Arbeitnehmer oder einem Selbständigen Vorschriften der Koordinierungsverordnungen auf einen Sachverhalt angewendet werden, deren Voraussetzungen, wie sie in den Verordnungen fest- gelegt und im Leitfaden oder in den Beschlüssen der Verwaltungs- kommission präzisiert sind, nicht erfüllt sind, um sich den belgischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit, die auf den Sachverhalt hätten angewandt werden müssen, wenn die genannten Rechts- und Verwaltungsvorschriften beachtet worden wären, zu entziehen.“87 Und weiter: „Stellt ein nationales Gericht, eine öffentliche Einrichtung für soziale Sicherheit oder ein Sozialinspektor einen Missbrauch ... fest, werden auf den betreffenden Arbeitnehmer oder Selbständigen die belgischen Rechtsvorschriften angewandt, die ... hätten angewandt werden müssen.“88 Das belgische Recht eröffnet hiernach im Falle des „Missbrauch“ sozialrechtlicher Vorschriften trotz entgegenstehender Entsendebescheinigungen die unmittelbare Anwendung belgischen Rechtes durch nationale Behörden und Gerichte. Hiergegen wendet nun der Europäische Gerichtshof seine bisherige grundsätzliche Rechtsprechung zur A 1 – Bescheinigung ein: Mit der Entsende- bescheinigung „erklärt der zuständige Träger des Mitgliedstaates, in dem der Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist, in der Bescheinigung A 1, dass sein eigenes System der sozialen Sicherheit auf entsandte Arbeitnehmer während der Dauer der Entsendung anwendbar

86 Gerichtshof der Europäischen Union, Pressemitteilung Nr. 10/18 vom 6. Februar 2018 zum Urteil in der Rechtssache C-359/16 Ömer Altun u. a.

87 zitiert in Randnummer 12 des Urteils vom 11. Juli 2018, Rechtssache C-356/15.

88 zitiert in Randnummer 13 a.a.O.

82 bleibt.“89 Und weiter: „De Mitgliedstaat, in den die Arbeitnehmer entsandt werden, würde gegen den Grundsatz der loyalen Zusammen- arbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen und die mit Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 verfolgten Ziele verfehlen, wenn er Rechtsvorschriften erließe, mit denen seine Träger ermächtigt werden, sich uniliteral nicht an die Angaben in der Bescheinigung gebunden zu sehen und die Arbeitnehmer ihrem eigenen System der sozialen Sicherheit zu unterstellen ...“90 Sodann aber, mit den Begriffen „Vermutung“ und „grundsätzlich“ Zweifel einführend: „Da die Bescheinigung A 1 eine Vermutung dafür begründet, dass der Anschluss der entsandten Arbeitnehmer an das System der sozialen Sicherheit des Mitglied- staates, in dem das Unternehmen, das die Arbeitnehmer entsendet, seine Betriebsstätte hat, ordnungsgemäß ist, bindet sie folglich grundsätzlich den zuständigen Träger des Mitgliedstaates, in den die Arbeitnehmer entsandt sind...“91, um schließlich dann aber doch zum festen Grundsatz zurückzukehren: „Jede andere Lösung würde den Grundsatz des Anschlusses der Arbeitnehmer an ein einziges System der sozialen Sicherheit sowie die Vorhersehbarkeit das anwendbaren Systems und die damit die Rechtssicherheit beeinträchtigen...“.92

Der Gerichtshof betont dann des weiteren, daß in Zweifelsfällen das vorgesehene Beteiligungsverfahren stattfinden müsse, in dem der Mitgliedstaat, dessen Träger die Bescheinigung ausgestellt hat, Gelegenheit zur Überprüfung und gegebenenfalls Richtigstellung erhält und letztlich auch die Verwaltungskommission angerufen werden kann.93 Daraus folgt die klare Aussage: „Könnte ein Mitglied- staat, in den der Arbeitnehmer entsandt ist, Rechtsvorschriften erlassen, mit der seine Träger ermächtigt werden, eine Bescheinigung A 1 von einem Gericht dieses Staates unilateral für ungültig erklären

89 Randnummer 85.

90 Randnummer 86.

91 Randnummer 87.

92 Randnummer 88.

93 Randnummer 93.

83 zu lassen, wäre das auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Trägern der Mitgliedstaaten gegründete System gefährdet.“94 Da der belgische Gesetzgeber in seiner Regelung der Fälle des „Missbrauchs“ ein hinreichendes Beteiligungsverfahren aber nicht vorgesehen hat, ist es insoweit zu einer Verurteilung des Königreichs Belgien durch den Europäischen Gerichtshof in vor- liegendem Falle gekommen.

Soweit, so gut. Die Entscheidung im Falle Altun, C-359/16, stand indes im Raum. Diese hat der Europäische Gerichtshof auch im jetzigen Falle C-356/15 nicht aufgegeben. Der Gerichtshof wiederholt, daß auch bei Verdacht eines Mißbrauchs der die Bescheinigung ausstellende Träger zu beteiligen ist, daß aber, falls diese Beteiligung ohne Antwort bleibt, das jeweils nationale Gericht selbständig Beweise erheben und die Bescheinigung gegebenenfalls außer Acht lassen dürfe, sofern rechtsstaatliche Verfahrensgarantien gewährleistet seien: „Nimmt der ausstellende Träger nicht innerhalb einer angemessenen Frist eine .. Überprüfung vor, müssen diese Beweise im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens geltend gemacht werden dürfen, um zu erreichen, dass das Gericht des Mitgliedstaats, in den die Arbeitnehmer entsandt werden, die betreffenden Bescheinigungen außer Acht läßt...“ 95 Der allgemeine Rechtsgrundsatz schlägt hier durch: „Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs können sich die Rechtsunterworfenen nicht in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf die Rechtsvorschriften der Europäischen Union berufen. Der Grundsatz des Verbots von Betrug und Rechtsmissbrauch stellt einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der von den Rechtsunterworfenen zu beachten ist. Die Anwendung der Unions- rechtsvorschriften kann nicht so weit gehen, dass Vorgänge geschützt werden, die zu dem Zweck durchgeführt werden, betrügerisch oder missbräuchlich in den Genuss von im Unionsrecht vorgesehen Vorteile zu erlangen...“ 96

94 Randnummer 94.

95 Randnummer 101. . 96 Randnummer 99.

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Aber sind damit alle Probleme gelöst? Hat der Europäische Gerichtshof mit seiner Entscheidung wirklich ein befriedigendes Ergebnis hervorgebracht? Es bleibt doch festzustellen, daß der Gerichtshof die verschlossene Tür der Bindungswirkung der Ent- sendebescheinigung am Ende dann doch wieder einen Spalt geöffnet hat: Steht Betrug im Raum oder wird der Betrug auch nur behauptet, ist der jeweilige nationale Entscheidungsträger zu eigenmächtiger Entscheidung über die Bindungswirkung berechtigt. Mag auch die Bedingung der vorherigen Konsultation des die Bescheinigung ausstellenden ausländischer Trägers vorgeschaltet und mögen auch Beweise erhoben sein, so kann die Bindungswirkung jetzt auf- gebrochen werden. Man muß sich die Realität vorstellen: Die Strafverfolgungsbehörden, in Deutschland auch die Behörden der Zollverwaltung, werden den Spalt weit öffnen, mit Macht hinein- stoßen und Unsicherheit und Verfolgung in die Verfahren hinein- tragen. Man mag das im Interesse der Strafverfolgung für gut heißen, im Interesse der Rechtssicherheit ist es nicht. Beidem aber, der Rechtsverfolgung und der Rechtssicherheit, hätte es demgegenüber gedient, wenn der Europäische Gerichtshof das Verfahren nach Art. 5 Absatz 4 der bereits zitierten Verordnung Nr. 987/2009 ins Spiel gebracht und ein Verfahren vor der Verwaltungskommission eingeschaltet hätte; letztlich hätte auch ein Klageverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof gegen den Mitgliedstaat, in dessen Verantwortung die in Zweifel gezogene Bescheinigung ausgestellt worden ist, Klarheit herbeigeführt. Das ist zwar umständlich, aber im Sinne von Rechtlichkeit und Rechtssicherheit geboten.

Offen bleibt allerdings die weitergehende Frage, was zu gelten hat, wenn die ausländische Bescheinigung nicht etwa durch betrügerische Machenschaften erlangt, sondern als solche sogar gefälscht worden ist. In diesem Falle hat der ausländische Träger gar keine Be- scheinigung ausgestellt, es liegt vielmehr eine schlichte Falschurkunde vor. Eine solche könnte der ausländische Träger, würde er im vor- gesehenen Konsultationsverfahren zur Überprüfung ersucht, gar nicht widerrufen: Was der Träger nicht ausgestellt hat, kann auch nicht Gegenstand eines Widerrufs sein. In diesem Falle muß es daher genügen, daß der ersuchte ausländische Träger feststellt und mitteilt, daß er die Bescheinigung nicht ausgestellt hat und daß daher eine

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Fälschung vorliegt. Insofern stellt sich daher kein Problem. Kann aber die aktuell zuständige Behörde beim Verdacht der Fälschung bereits von sich aus die Bescheinigung als unwirksam behandeln? Es würde in diesem Falle aber zumindest erforderlich sein, einen ent- sprechenden Beweis zu führen. Ließe man dies aber zu, wäre wiederum, jedenfalls in der Praxis, zu befürchten, daß jeder Verdacht die absolute Bindungswirkung der Bescheinigung wieder infrage- stellen könnte: Die Tür würde einen weiteren Spalt geöffnet. So wird man daher auch in diesen Fällen auf die konsequente Durchführung des Konsultationsverfahrens nicht verzichten dürfen. Demzufolge würden dann die Prüfung der Fälschung und die entsprechende Beweisführung in die Verantwortung desjenigen ausländischen Trägers gelegt, der als ausstellende Behörde in der Falschurkunde bezeichnet wird. Auf diese Weise blieben die europarechtlichen Zuständigkeiten systemgerecht bewahrt; Betrug und Urkunden- fälschung blieben gleichwohl nicht ohne Sanktion. Die Notbremse würde daher selbstverständlich gezogen, aber an der richtigen Stelle. Entschieden freilich sind derartige Fälle noch nicht.

In der Rechtssache EuGH C – 527/16 („Alpenrind“), in der es ebenfalls um die Reichweite der Bindungswirkung geht, liegen mit Datum vom 31. Januar 2018 die Schlußanträge des Generalanwalts Henrik Saugmandsgaard Öe vor. Der Generalanwalt bekräftigt in seinen Schlußanträgen allerdings ausdrücklich die bisherige Rechts- lage zur Bindungswirkung der E 101- bzw. A1-Bescheinigung.97 Er bezieht sich hierbei ausdrücklich auf die bisherige Rechtsprechung und die hierfür gegebene Begründung. Er stellt zu der entsprechenden Frage des vorlegenden Gerichtes klar, daß die Bindungswirkung auch für die Gerichte gilt: „In Anbetracht dessen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 dahin auszulegen ist, dass das vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats im Einklang mit Art. 19 Abs. 2 dieser Verordnung ausgestellte portable Dokument A 1, mit dem nach einer Bestimmung des Titels II der Verordnung Nr. 883/2004 der Anschluss des Arbeitnehmers an das System der

97 Randnummern 26, 27, 28, 29, 33, 34, 36 der Schlußanträge zur Rechtssache C- 527/16.

86 sozialen Sicherheit dieses Mitgliedstaates bescheinigt wird, ein Gericht (im Sinne des Art. 267 AEUV) eines anderen Mitgliedstaats ... bindet, solange es nicht widerrufen oder für ungültig erklärt wird.“98 Der Fall gibt im übrigen Anlaß, zur Bindungswirkung gleichsam noch etwas „daraufzusetzen“: Es war zwar zu einem Verfahren vor der Verwaltungskommission nach Art. 5 Absatz 4 der Verordnung Nr. 987/2009 gekommen, in dem auch die Unrichtigkeit der Be- scheinigung festgestellt worden war, das aber noch nicht zu einem förmlichen Widerruf durch den ausstellenden Träger geführt hat. Auch in diesem Falle gilt die Bindungswirkung bis zum förmlichen Widerruf fort. „.. halte ich das portable Dokument A 1 auch in einer Konstellation wie der des Ausgangsverfahrens, in der die betreffenden Mitgliedstaaten die Verwaltungskommission gemäß Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 5 Abs. 4 der Verordnung Nr. 987/2009 ... angerufen haben und diese Kommission eine Entscheidung über den Widerruf des portablen Dokuments A 1 getroffen hat, für bindend, solange es nicht vom ausstellenden Träger widerrufen oder für ungültig erklärt wird.“99 Die Bindungswirkung entfaltet somit sogar in dieser besonderen Situation, die zu Zweifeln Anlaß geben könnte, ihre volle Kraft. Eine Parallele zu der Rechts- sache C-359/16 (Fall Altun u. a.), in der es um die Rechtsfolgen einer etwa betrügerische erlangten Bescheinigung geht, sieht der Generalanwalt im übrigen nicht, da es in diesem Fall keine Anhalts- punkte für Betrug und Rechtsmißbrauch gibt.100

Mit seinem auch in der Tagespresse101 beachteten Urteil vom 6. September 2018 zu diesem Verfahren („Alpenrind“) hat der Europäische Gerichtshof diese Position unter Hinweis auf die bisherige Rechtsprechung denn auch erneut bestätigt.102 Die

98 Randnummer 36 der Schlußanträge zur Rechtssache C-527/16.

99 Randnummer 51 der Schlußanträge zur Rechtssache C-527/16.

100 Pressemitteilung des Europäischen Gerichtshofs vom 31.01.2018, Aktenzeichen C 359/16: Schlussanträge zur Bindungswirkung ausländischer Sozialversicherungsbescheinigungen; Randnummer 77 der Schlußanträge zur Rechtssache C-527/16.

101 vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. September 2018, Wirtschaftsteil.

102 Urteil vom 6. September 2018, Aktenzeichen C-527/16.

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Bindungswirkung der A1-Bescheinigung gilt für alle Behörden und Gerichte des Staates, in dem die fragliche Tätigkeit ausgeübt wird, solange die Bescheinigung nicht vom ausstellenden Staat widerrufen worden ist.103 Dies gilt insbesondere auch dann, wenn Zweifel an der Richtigkeit bestehen.104 Die Zweifel sind in dem vorgesehenen Konsultationsverfahren auszuräumen, und nur auf diesem Wege. Der Gerichtshof legt im übrigen nahe, daß dann, wenn eine ein- vernehmliche Lösung im Konsultationsverfahren nicht gefunden werden kann und der ausstellende Staat auf der vermeintlich unrichtigen Bescheinigung verharrt, ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof eingeleitet werden kann.105 Im übrigen räumt der Europäische Gerichtshof ein, daß die A1-Bescheinigung auch nachträglich erteilt und somit rückwirkend gelten kann.106

Mit der Entscheidung zur Rechtssache C-359/16 (Fall Altun u. a.) hat der Europäische Gerichtshof die bisherige Rechtsprechung grundsätzlich nicht aufgegeben. Die von Lenz im Jahre 1995 vorgezeichneten Linien sind vielmehr weit ausgezogen worden und gelten fort. Ja, sogar die Andeutung in den seinerzeitigen Schluß- anträgen, daß im Falle des Betruges die „in den mitgliedstaatlichen Verfahrensordnungen vorgesehenen üblichen Beweismittel“ gleichsam als letzter Rekurs anzuwenden sind,107 hat eine über- raschende Aktualisierung gefunden. Diese Aktualisierung ist jetzt allerdings in den Zusammenhang der Verordnung 987/2009 und des Konsultationsverfahrens zu stellen.

Was bislang jedoch noch nicht entschieden ist, ist freilich die weitergehende im nachfolgenden Exkurs behandelte Frage, ob sich die Bindungswirkung über die Bestätigung des sozialversicherungs-

103 Randnummern 41, 43, 47 des Urteils in der Rechtssache C-527/16.

104 Randnummer 64 des Urteils in der Rechtssache C-527/16.

105 Randnummer 61 des Urteils in der Rechtssache C-527/16.

106 Randnummer 70 des Urteils in der Rechtssache C-527/16.

107 Schlußanträge Nr. 64.

88 rechtlichen Status hinaus auch auf das Arbeitsrecht erstreckt. Enthält die Entsendebescheinigung auch die verbindliche Aussage, daß im ausstellenden Staat ein Arbeitsverhältnis besteht? Hinsichtlich des Geschäftsmodells des entsendenden Unternehmens ist immerhin der Nachweis versucht worden, daß jedenfalls dieses bestätigt wird.108 Für die darüberhinausgehende Erstreckung auch auf das Arbeitsrecht spricht die Sachlogik: Das Sozialrecht ist gegenüber dem Arbeitsrecht akzessorisch; jede Sozialversicherung setzt das Arbeitsverhältnis not- wendig voraus. Daher ist das Bestehen von Arbeitsverhältnissen auch sachlogische Voraussetzung der Verordnung 987/200. Der Geltungs- bereich liefe leer, gäbe es keine Arbeitsverhältnisse, die der Sozial- versicherung unterlägen.

Das Oberlandesgericht Bamberg hat dies aber nicht so gesehen.109 Es beruft sich ausdrücklich auf den Wortlaut der Verordnung 987/2009 und schränkt die Aussagekraft der Entsendebescheinigung aus- drücklich auf den sozialversicherungsrechtlichen Status ein. Es verschafft sich dadurch die Freiheit, den arbeitsrechtlichen Status einer Person unabhängig von der Entsendebescheinigung selbständig zu prüfen. Dies hat dann zur Folge, daß eine Diskrepanz zwischen der Entsendebescheinigung, die den Sozialversicherungsschutz im Aus- land bestätigt, und dem etwaigen Entstehen eines neuen Arbeits- verhältnisses im Inland über §§ 9 Absatz 1 Nr. 1, 10 Absatz 1 Satz 1 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG)110 eintreten kann. Ein Arbeitnehmer, der aus dem Ausland guten Glaubens mit einer Entsendebescheinigung kommt, aber als Arbeitnehmer eines anderen Arbeitgebers im Inland angesehen wird, muß zwar keine Sozial- versicherung im Inland zahlen, unterliegt dann aber im Inland den Bestimmungen für die Beschäftigung eines Ausländers im Inland und

108 Frank Hennecke: Zur Bindungswirkung der Entsendebescheinigung: Auch das Geschäftsmodell des ausländischen Arbeitgebers wird bescheinigt, in: Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht, 5/2017, S. 266-269; ders.: Was bescheinigt die E 101-Bescheinigung?, in: Blickpunkt Dienstleistung, 8/2017.

109 Oberlandesgericht Bamberg, Beschluß vom 9. August 2016, Aktenzeichen 3 Ss OWi 449/2016.

110 zuletzt in der Fassung des Änderungsgesetzes vom 21. Februar 2017, BGBl. I S.258.

89 unter Umständen dann auch dem Schwarzarbeitbekämpfungsgesetz. Besteht aber nicht ein Widerspruch darin, daß der Arbeitnehmer auf der einen Seite eine ausländische Entsendebescheinigung mitbringt, die ihm die Sozialversicherung im Ausland bestätigt und die nur aufgrund eines im Ausland bestehenden Arbeitsverhältnisses erteilt werden konnte, daß ihm auf der anderen Seite aber in Deutschland gesagt wird, er stehe hier in einem Arbeitsverhältnis? Diese Fälle treten immer dann auf, wenn der Regelungsmechanismus des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes zur Anwendung kommt, der sich mit der Entsendebescheinigung in fataler Weise verschränkt. Der Regelungsmechanismus besteht darin, daß im Falle einer –illegalen- Arbeitnehmerüberlassung nach §§ 9 Absatz 1 Nr. 1, 10 Absatz 1 Satz 1 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes der inländische Besteller einer Arbeits- oder Werkleistung kraft gesetzlicher Fiktion zum neuen Arbeitgeber wird und somit der ursprüngliche ausländische Arbeitgeber seinen Arbeitnehmer verliert.

Demgegenüber ist zwar im Schrifttum der bislang, soweit erkennbar, unwidersprochene Nachweis versucht worden, daß der rigide Regelungsmechanismus der §§ 9 Absatz 1 Nr. 1, 10 Absatz 1 AÜG verfassungswidrig ist111 und darüberhinaus auch nicht grenz- überschreitend wirken kann,112 aber die Praxis muß sich mit der geltenden Regelung vor Gericht auseinandersetzen.

Gelingt indes der Nachweis, daß die Entsendebescheinigung neben dem sozialversicherungsrechtlichen Status auch das Bestehen eines

111 Hansjürgen Tuengerthal / Janine Geißer / Frank Hennecke: Zur Verfassungswidrigkeit der bisherigen §§ 9 Nr. 1 und 10 Absatz 1 Satz 1 Arbeitnehmerüberlassunsgesetz, Mannheim 2015; Hansjürgen Tuengerthal / Frank Hennecke: Ist auch das neue Arbeitnehmerüberlassungsgesetz trotz der „Festhaltenserklärung“ verfassungswidrig?, in: Betriebs-Berater 29/2017, S. 1652-1661; Frank Hennecke: Das neue Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, Mannheim 2018, S. 82 ff.

112 Hansjürgen Tuengerthal / Christian Andorfer: Ausschluss der Auswirkungen der §§ 9 Nr. 1 und 10 Absatz 1 Satz 1 AÜG auf ausländische Arbeitsverträge bei Einsatz ausländischer Arbeitnehmer in Deutschland aufgrund Art. 9 Rom I-VO, in: Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht, 06/2016, S. 328-339; Frank Hennecke: Deutsches Arbeitsrecht im Ausland: Wirken die §§ 9, 10 AÜG grenzüberscheitend?, in: Zeitschrift für Europäisches Sozial- und Arbeitsrecht (ZESAR), 02/2017, S. 63-68; 03/2017, S. 117-125.

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Arbeitsverhältnisses im Ausland bestätigen würde, hätte die Bescheinigung in diesem Sinne Bindungswirkung und damit materiell-rechtlichen Gehalt. Der Anwendung des Arbeitnehmer- überlassungsgesetzes und in der Folge des Schwarzarbeit- bekämpfungsgesetzes wäre von vorneherein ein Riegel vorgeschoben. Es müßte für inländische Gerichte und Behörden dann schlicht davon ausgegangen werden, daß ein Arbeitsverhältnis im Ausland besteht. Es ist genau dieses Arbeitsverhältnis, das in Deutschland wegen der Entsendebescheinigung E 101 oder A 1 nicht tangiert wird.

Es steht allerdings im Raum, daß sich die Verordnung Nr. 987/2009 dem Wortlaut nach ausdrücklich auf das Sozialrecht beschränkt wie auch die Grundverordnung Nr. 833/2004113 in Art. 3 die Systeme der sozialen Sicherheit wörtlich aufzählt und damit den Geltungsbereich der Regelung definiert. Die hiernach ausgestellte Bescheinigung kann dann auch nichts anderes bestätigen. Nach allen Grundsätzen des Rechts ist der Wortlaut des Gesetzes für Gerichte und Behörden verbindlich. Die schlichte Übertragung der Bindungswirkung für das Sozialrecht auf das Arbeitsrecht über den Wortlaut hinaus ist daher nicht ohne weiteres möglich. Zwar hat es die Logik für sich, daß das Sozialrecht das Arbeitsverhältnis voraussetzt und man von daher eine über den Wortlaut hinausgehende Auslegung etwa nach Sinn, Zweck und unausgesprochener Voraussetzung des Gesetzes begründen kann, aber zwingend ist das nicht.

Man sollte aber den Blick darauf werfen, was in der Wirklichkeit geschieht: Da hat ein Arbeitnehmer im Ausland einen Arbeitgeber, der ihn im Zuge der freien Dienstleistung seinerseits in das Ausland zur Arbeitsleistung entsendet; und so hat der Arbeitnehmer auch eine Entsendebescheinigung, die ihm die Arbeit im Ausland ermöglicht, ohne daß er im Ausland zur Sozialversicherung herangezogen würde. Er vertraut auf diese Situation und nimmt die Arbeit im Ausland auf. Genau das ist es ja auch, was die europäische Arbeitnehmer- freizügigkeit will. Und dann passiert ihm in Deutschland, daß ihm alles aberkannt wird, er in eine illegale Beschäftigung und in eine hilflose Lage hineingerät und gar wieder in sein Heimatland

113 Verordnung (EG) Nr. 883 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, Amtsblatt L 166/1.

91 zurückkehren muß. Und das kann ihm allein deswegen passieren, weil etwa die Zollbehörden schon auf Grund eines Verdachtes auf illegale Arbeit gegen ihn einschreiten; da hilft vorerst kein langwieriger Rechtsschutz. Kann ein ausländischer Arbeitnehmer solchen Risiken ausgesetzt werden? Kann seine Bereitwilligkeit, im Ausland zu arbeiten, in solcher Weise enttäuscht werden? Wirkt sich das nicht auf seine Motivlage, im Ausland zu arbeiten, aus? Die rigide deutsche Gesetzeslage erweist sich so als Hindernis für die Arbeitnehmer- freizügigkeit in Europa. Die Freizügigkeit aber ist eine der Grundsäulen des EU-Vertrages!

Es kann eigentlich nicht sein, daß einerseits die Entsende- bescheinigung hinsichtlich des sozialversicherungsrechtlichen Status der Prüfung durch den jeweiligen nationalen Staat entzogen ist, andererseits aber der arbeitsrechtliche Status der Entscheidung des nationalen Staates überstellt ist, mit womöglich gegenteiligem Ergebnis.

So lassen sich in der Tat die Verordnungen Nr. 833/2004 und Nr. 987/2009 in der Weise interpretieren, daß diese selbstverständlich der Freizügigkeit keine Hemmnisse in den Weg legen wollen, selbst unter dem Leitbild der Freizügigkeit stehen und dieser gerade dienen sollen. Entsprechend ist das deutsche Recht europarechtskonform auszulegen, daß jedenfalls nicht von hier eine Beeinträchtigung der Freizügigkeit geschieht. Von der Regelung des fiktiven Übergangs der Arbeitsverhältnisse nach §§ 9 Absatz 1 Nr. 1, 10 Absatz 1 des Arbeit- nehmerüberlassungsgesetzes mit der Vernichtung der ausländischen Arbeitsverhältnisse kann gewiß behauptet werden, daß hierdurch die Freizügigkeit beeinträchtigt wird.

Damit ist insgesamt der Schluß gerechtfertigt, daß sich die Bindungswirkung der Entsendebescheinigung auch darauf erstreckt, daß der Arbeitnehmer im Ausland in einem Arbeitsverhältnis steht. Nur diese materiell-rechtliche Binding einer vorliegenden Entsendebescheinigung gewährleistet die volle europarechtliche Freizügigkeit und verhindert die Anwendung des Arbeitnehmer- überlassungsgesetzes und des Schwarzarbeitbekämpfungsgesetzes.

92

Damit mag der Exkurs zur Bindungswirkung auch für das Arbeitsrecht schließen.114

Somit zurück zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und zum Wirken von Carl Otto Lenz. Insgesamt bleibt die Trennungslinie gewahrt, die der Grundsatz von der Bindungswirkung im Verbund mit dem Konsultationsverfahren zieht: Die Trennungs- linie zwischen dem Gemeinschaftsrecht, das für alle Mitgliedstaaten gilt, und der Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, soweit diese erklärtermaßen nicht vergemeinschaftet ist. Es ging ja gerade darum, einerseits die für die Europäische Union konstitutive Einheitlichkeit zu schaffen, und andererseits die Souveränität der Mitgliedstaaten zu bewahren, soweit es keine Souveränitäts- übertragung gegeben hat. Das Instrument dieser Grenzziehung ist auf dem Gebiet der Sozialen Sicherheit die Entsendebescheinigung mit ihrer Bindungswirkung: Diese rechtstechnische Figur hat grund- legende Bedeutung. Sie bewahrt die Freiheit, die in der Souveränität liegt, und ermöglicht die Freiheit des Binnenmarktes, die die Union gewähren will. Dies erkannt, begründet, formuliert und an den Grundsätzen des Rechtes ausgerichtet zu haben ist das Verdienst von Carl Otto Lenz.

Der Verfasser, Beamter der Landesregierung Rheinland-Pfalz 1971-2008, ehemals Lehrbeauftragter an den Universitäten Konstanz, Mainz, Trier, Kaiserslautern und Speyer, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Rechtsanwaltssocietät Professor Dr. iur. Hansjürgen Tuengerthal / Christian Andorfer / Heiko E. Greulich / Nicolas Prochaska, Mannheim.

114 Die Überlegungen dieses Exkurses gehen auf das Interview mit Generalanwalt a. D. Professor Dr. Carl-Otto Lenz am 25. Mai 2018 zurück, siehe unten S. xx (xx)..

93

III

Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft Werkverträge und Zeitarbeit zum Europarecht

Werkvertrag und Zeitarbeit sind in erheblichem Maße auch durch Europäisches Recht geregelt. Daher ist das Europäische Recht sowohl zentraler Gegenstand der Arbeitsgemeinschaft Werkverträge und Zeitarbeit als auch wesentlicher Tätigkeitsbereich der Mannheimer Rechtsanwaltssocietät Professor Dr. iur. Hansjürgen Tuengerthal / Christian / Andorfer / Heiko E. Greulich / Nicolas Prochaska. Dem Europäischen Recht gelten zudem die „Heidelberger Europagespräche“.

Dem Europäischen Recht galt das Lebenswerk von Carl Otto Lenz.

Nachfolgend werden daher die Veröffentlichungen der Arbeitsgemeinschaft Werkverträge und Zeitarbeit aufgelistet, die dem Wirken von Carl Otto Lenz im weitesten Sinne verpflichtet sind. Eine Originalveröffentlichung wird im Volltext hinzugefügt.

1. Allgemeines zum Europarecht

Deutsches Arbeitsrecht im Ausland: Wirken die §§ 9, 10 AÜG grenzüberschreitend? (Teil I + II), Dr. Frank Hennecke, Zeitschrift für Europäisches Sozial- und Arbeitsrecht (ZESAR 2/2017, S. 63-68 3/2017, S. 117-125.

Vorsicht für in Österreich aktive Werkunternehmer: 22 Mio. Euro Strafe für einen Werkvertrag, Rechtsanwalt Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Betriebsberater, 40/2017, S. 1.

Ausschluss der Auswirkungen der §§ 9 Nr. 1 und 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG auf ausländische Arbeitsverträge bei Einsatz ausländischer Arbeitnehmer in Deutschland aufgrund Art. 9 Rom I-VO, Rechtsanwalt Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Rechtsanwalt Christian Andorfer, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (EWS) 06/2016, S. 328-339. Gegenwind aus Brüssel für geplante Einschränkungen des Werkvertrags? Rechtsanwalt Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Rechtsanwalt Christian Andorfer, Fleischmagazin 06/2015.

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EWS Kommentar EuGH Urteil vom 18.06. 2015 – Rs. C-58613 Martin Meat Rechtsanwalt Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Rechtsanwalt Christian Andorfer, EWS 04/2015. Empörung bei der Generalanwältin Sharpston w. der Nichtvorlage eines Verfahrens an den EuGH Rechtsanwalt Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Ref, iur. Janine Geißer, Blickpunkt Dienstleistung 03/2015. EuGH zu den Lohnbestandteilen des Mindestlohns nach der Entsenderichtlinie 96/71/EG, Rechtsanwalt Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Ref. iur. Janine Geißer, Blickpunkt Dienstleistung 03/2015. Rechtlich bedenkliche Mindestlohnjagd auf den Transitverkehr durch Deutschland Rechtsanwalt Michael Rothenhöfer, Blickpunkt Dienstleistung 02/2015.

"Missbrauch von Werkverträgen": Rechnung ohne den Wirt! Rechtsanwalt Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Ref. iur. Janine Geißer und Ref. iur. Alexander Seeger, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht, Heft 1/2014. Interview mit Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Steuerberater Magazin, Heft 5/2014.

2. Speziell zur Bindungswirkung der Entsendebescheinigung

Umfassende Bindungswirkung auch bei Werkverträgen - EuGH zu Entsendebescheinigungen, Rechtsanwalt Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Ref. iur. Janine Geißer, Arbeit und Arbeitsrecht 02/2014. Die vielfach bewusst übersehene Bedeutung der EuGH-Entscheidung “Herbosch Kiere”, Rechtsanwalt Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Blickpunkt Dienstleistung, Heft 11/2012. Was bescheinigt die E 101-Bescheinigung? Dr. Frank Hennecke, Blickpunkt Dienstleistung, 8/2017.

Zur Bindungswirkung der Entsendebescheinigung: Auch das Geschäftsmodell des ausländischen Arbeitgebers wird bescheinigt, Dr. Frank Hennecke, in: Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (EWS), 5/2017, S. 266-269.

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3.

Risiken beim Einsatz ausländischer Fremdfirmen

von

Christian Andorfer Rechtsanwalt

In der Europäischen Union ist grenzüberschreitende Dienst- und Werkleistung ebenso selbstverständlich wie zollfreier Warenverkehr. Da aber bei Dienstleistungen und Werkverträgen Arbeitnehmer tätig sind, stellt sich die Frage, nach welchem Regime die soziale Sicherheit grenzüberschreitend tätiger Arbeitnehmer gewährleistet werden soll. Da der europäische Binnenmarkt auf der einen Seite den freien Dienst- und Werkleistungsverkehr ermöglichen will, andererseits die Soziale Sicherheit ebenfalls zu den Grundprinzipien der Europäischen Union zählt, diese Sicherheit aber von den EU- Mitgliedstaaten in sehr unterschiedlicher Weise ausgestaltet ist, ergibt sich die Notwendigkeit, eine Regelung über die anzuwenden Vorschriften der Sozialen Sicherheit zu treffen. Diese Regelungen hat denn auch die Europäische Union geschaffen; flankierende Regelungen der einzelnen Mitgliedstaaten treten hinzu. Im Laufe der Jahre und der fortschreitenden technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung, aber auch infolge des Beitritts ostmitteleuropäischer und osteuropäischer Staaten zur Europäischen Union haben sich neue Fragestellungen und auch Konflikte ergeben, über die der Europäische Gerichtshof zu entscheiden hatte. An den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zur Arbeitnehmerfreizügigkeit hat der frühere Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs Carl Otto Lenz durch seine Schlussanträge115 maßgeblich mitgewirkt.

Es ist auf diese Weise ein Regelungssystem entstanden, das einerseits den sozialen Belangen der Arbeitnehmer und von deren Heimatländern, andererseits den Interessen der Unternehmen gerecht werden will. Die hohe Sensibilität sozialer Problemlagen, von denen das Regelungssystem geprägt ist, hat indes für die Unternehmen, die

115 Schlussanträge Lenz vom 19.01.1995, Rs C-425/93 (Calle Grenzshop Andresen ./. AOK)

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Arbeitnehmer grenzüberschreitend einsetzen, wie auch für Solo- Selbständige rechtliche Risiken herbeigeführt. Von diesen rechtlichen Risiken, aber auch von Möglichkeiten zu deren Vermeidung soll nachfolgend die Rede sein.

1. Die Problematik

Der Einsatz von ausländischen Fremdfirmen in Form von Zeitarbeit, Werkverträgen oder als Solo-Selbständige birgt bei der fehlerhaften Durchführung viele Risiken. Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die Risiken zu erläutern sowie Wege zu ihrer Beseitigung aufzuzeigen. Dabei ist es notwendig, jede Form vom Fremdpersonaleinsatz zu unterscheiden. Folgend werden die wesentlichen Formen des Einsatzes vom Fremdpersonal anhand der Rechtsakte sowie der aktuellen Rechtsprechung dargestellt.

2. Arbeitnehmerüberlassung

Seit dem 1. April 2017 sind die Änderungen des Arbeitnehmer- überlassungsgesetzes (AÜG) in Kraft,116 mit denen unter anderem der Begriff „Arbeitnehmerüberlassung“ legaldefiniert wurde.117 Danach liegt eine Arbeitnehmerüberlassung vor, wenn Arbeitgeber, die über eine jeweilige Erlaubnis verfügen müssen, als Verleiher Dritten (Entleihern) Arbeitnehmer (Leiharbeitnehmer) im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit zur Arbeitsleistung über- lassen. Arbeitnehmer werden zur Arbeitsleistung überlassen, wenn sie in die Arbeitsorganisation des Entleihers eingegliedert sind und seinen Weisungen unterliegen.

116 Gesetz zur Regelung der Arbeitnehmerüberlassung (Arbeitnehmer- überlassungsgesetz - AÜG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 3.2.1995, BGBl. I S. 159, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 21.2.2017, BGBl. I S. 258.

117 § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG.

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Neu wurden auch eine Kennzeichnungs- und Kon- kretisierungspflicht eingeführt.118 Danach haben Verleiher und Entleiher die Überlassung von Leiharbeitnehmern in ihrem Vertrag ausdrücklich als Arbeitnehmerüberlassung zu bezeichnen, bevor sie den Leiharbeitnehmer überlassen oder tätig werden lassen. Vor der Überlassung haben sie die Person des Leiharbeitnehmers unter Bezugnahme auf diesen Vertrag zu konkretisieren.

2.1 Auswirkungen legaler Arbeitnehmerüberlassung

Bei der Durchführung einer legalen Arbeitnehmerüberlassung bleibt der Verleiher Arbeitgeber und Beitragsschuldner für die Sozial- versicherung. Gleichzeitig haftet der Entleiher wie ein selbst- schuldnerischer Bürge.119 Hierbei beschränkt sich diese Haftung auf konkret überlassene Arbeitnehmer im konkreten Entleihzeitraum.

Außerdem müssen Unternehmen, die Leiharbeitnehmer einsetzen, sich mit einer möglichen Haftung für nicht abgeführte Sozialabgaben aufgrund der Equal-Pay-Differenz auseinandersetzen.120 Dies lässt sich nur vermeiden, wenn den Leiharbeitnehmern der gleiche Lohn wie den Stammarbeitnehmern gezahlt wird.

Dabei ist es anzumerken, dass es jedoch keine Haftung gegenüber ausländischen Sozialversicherungsträgern gibt, wie sich im Umkehrschluss aus der ausdrücklichen Haftung für den Baubereich nach § 28e Abs. 3a SGB IV ergibt.

2.2

Illegale Arbeitnehmerüberlassung

118 § 1 Absatz 1 Satz 5 und 6 AÜG.

119 § 28e Abs. 2 SGB IV.

120 Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 14.12.2010 – 1 ABR 19/10; BSG, Urteil vom 16.12.2015, B 12 R 11/14 R.

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Eine Arbeitnehmerüberlassung ist illegal bei Fehlen einer gültigen Erlaubnis, Verstößen gegen die Kennzeichnungspflicht und Konkretisierungspflicht sowie Verstößen gegen die Höchstüber- lassungsdauer von 18 Monaten.

Mit der Einführung der Kennzeichnungs- und Konkretisierungs- pflichten wurde eine verdeckte Arbeitnehmerüberlassung verboten. Dieses Verbot ist für Einsatzunternehmen sehr gefährlich, da es eine verdeckte Kriminalisierung mit sich bringt.121 Als Folge einer illegalen Arbeitnehmerüberlassung wird der Arbeitsvertrag zwischen Verleiher und Arbeitnehmer unwirksam122, gleichzeitig gilt das Arbeitsverhältnis zwischen Entleiher und Leiharbeitnehmer ab dem ersten Tag der Überlassung als zustande gekommen.123 Dies führt dazu, dass der Entleiher verpflichtet wird, ab dem ersten Tag der Überlassung für diese Leiharbeitnehmer Sozialversicherungsbeiträge sowie Lohnsteuer abzuführen. Anderenfalls drohen hohe strafrechtliche Sanktionen nach § 266a StGB bzw. §§ 370, 380 AO.

Durch eine sogenannte Festhaltenserklärung, in der ein Leiharbeitnehmer auf die Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses zum Verleiher besteht, könnte man vermeiden, dass der Entleiher Arbeit- geber dieses Leiharbeitnehmers wird.124 Dafür müssen allerdings drei Vorrausetzungen erfüllt sein. Eine Festhaltenserklärung ist nur dann wirksam, wenn

- der Leiharbeitnehmer diese vor ihrer Abgabe persönlich in einer Agentur für Arbeit vorlegt,

121 Marc Lembke: Fremdpersonaleinsatz vor neuen Herausforderungen, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 2018, S. 393.

122 § 9 Abs. 1 AÜG.

123 § 10 Abs. 1 AÜG.

124 Krieger/Ampatziadis: Die Reform der Arbeitnehmerüberlassung – Auf was müssen Unternehmen achten, in: Neue Juristische Wochenschrift 2017, S. 593.

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- die Agentur für Arbeit die abzugebende Erklärung mit dem Datum des Tages der Vorlage und dem Hinweis versieht, dass sie die Identität des Leiharbeitnehmers festgestellt hat, und

- die Erklärung spätestens am dritten Tag nach der Vorlage in der Agentur für Arbeit dem Verleiher oder Entleiher zugeht.

Bei illegaler Arbeitnehmerüberlassung ergeben sich folgende Konsequenzen für das Beitragsrecht:

- Verleiher und Entleiher haften als Gesamtschuldner für die Sozialversicherungsbeiträge125

- bei illegaler Arbeitnehmerüberlassung aus dem Ausland müssen Sozialversicherungsbeiträge in Deutschland bezahlt werden.

- Allerdings wird ein deutscher Entleiher von seiner gesamtschuldnerischen Haftung für den Gesamtsozialversicherungs- beitrag des in Deutschland arbeitenden Leiharbeitnehmers nicht dadurch befreit, dass der ausländische Verleiher bereits das Arbeitsentgelt gezahlt und darauf Beiträge an einen ausländischen Träger der Sozialversicherung abgeführt hat.126 Das BSG lehnte auch eine Vorlage an den EuGH ab, da nach seiner Ansicht gemäß Art. 14 Nr. 1 Buchstabe a EWGV 1408/71 deutsches Sozialversicherungs- recht zur Anwendung kommen würde127 Hierauf wird später noch zurückgekommen sein.

3.

Die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen von Werkverträgen

125 § 28e Abs. 2 S. 3 SGB IV.

126 Bundessozialgericht, Urteil v. 29.06.2016 – B 12 R 8/14 R.

127 Bundessozialgericht, Urteil v. 29.06.2016 – B 12 R 8/14 R, Rn. 25f.

100

Von der Arbeitnehmerüberlassung ist die Tätigkeit eines Arbeitnehmers bei einem Dritten aufgrund eines Werk- oder Dienstvertrags zu unterscheiden. In diesen Fällen wird der Unternehmer für einen anderen tätig. Er organisiert die zur Erreichung eines wirtschaftlichen Erfolgs notwendigen Handlungen nach eigenen betrieblichen Voraussetzungen und bleibt für die Erfüllung der in dem Vertrag vorgesehenen Dienste oder für die Herstellung des geschuldeten Werks gegenüber dem Drittunternehmen verantwortlich. Die zur Ausführung des Dienst- oder Werkvertrags eingesetzten Arbeitnehmer unterliegen den Weisungen des Unternehmers und sind dessen Erfüllungsgehilfen.128

Dabei ist für die rechtliche Einordnung des Vertrages zwischen dem Auftraggeber und dem Auftragnehmer der Geschäftsinhalt entscheidend, der sich sowohl aus den ausdrücklichen Vereinbarungen der Vertragsparteien, als auch aus der praktischen Durchführung ergibt.129 Widersprechen sich beide, so ist die tatsächliche Durch- führung des Vertrags maßgebend.

Laut dem Territorialitätsprinzip unterfallen in Deutschland ausgeübte Beschäftigungen der Sozialversicherungspflicht nach dem SGB130 unabhängig von der Nationalität des Arbeitnehmers oder dem Sitz des Arbeitgebers. In den Fällen mit Auslandsbezug bestimmt § 6 SGB IV den Vorrang über- und zwischenstaatlichen Rechts. In solchen Fällen findet trotz Beschäftigung im Inland das Sozial- versicherungsrecht eines anderen Rechtssystems Anwendung. Beispielsweise kommen die EU-Verordnung zur Koordinierung der

128 Bundesarbeitsgericht, Entscheidung vom 10.10.2007 – 7 AZR 487/06 – Rn. 34.

129 zu dieser gesamten Problematik eingehend Hansjürgen Tuengerthal / Christian Andorfer / Michael Rothenhöfer: Die Wandlung der Rechtsprechung bei der Abgrenzung von Werkverträgen und Arbeitnehmerüberlassung, Teil 1-10, in: Blickpunkt Dienstleistung 1/2013 – 11/2013.

130 § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 2 SGB IV.

101

Systeme der sozialen Sicherheit Nr. 883/2004131 - deren Vorrang sich allerdings aus Art. 288 AEUV und nicht aus § 6 SGB IV ergibt - oder zwischenstaatliche Regelungen durch bilaterale Sozialversicherungs- übereinkommen in Betracht. Bilaterale Sozialversicherungsabkommen regeln meistens die gegen- seitige Anerkennung rentenrechtlicher Zeiten im Leistungsrecht sowie für nur vorübergehend in einen anderen Staat entsandte Arbeitnehmer den Verbleib im sozialen Sicherungssystem des Heimatstaates im Versicherungs- und Beitragsrecht.

Hierbei haben Entsendedokumente aus bilateralen Sozial- versicherungsabkommen keine Bindungswirkung für das Sozialrecht des Tätigkeitsstaates.132

Wenn in den Fällen mit Auslandsberührung weder EU-Recht einschlägig noch ein bilaterales Sozialversicherungsabkommen an- zuwenden ist, dann muss geprüft werden, ob ein Fall der Ausstrahlung133 des deutschen Sozialversicherungsrechts ins Ausland oder Einstrahlung134 ausländischen Sozialrechts nach Deutschland vorliegt.

Während die Ausstrahlung zur Anwendung deutschen Sozial- versicherungsrechts im Ausland führt, schließt die Einstrahlung die Anwendung des SGB in Deutschland aus.

4. Die Entsendebescheinigung A1

Wie bereits oben angemerkt, ergibt sich bei Anwendung der EU- Verordnung Nr. 883/2004 eine Befreiung von der Sozial-

131 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, L 166 / 1.

132 BGH, Urteil vom 24.10.2007, 1 StR 189/07

133 § 4 SGB IV.

134 § 5 SGB IV.

102

versicherungspflicht in Deutschland. Laut Art. 12 VO (EG) Nr. 883/2004 unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat für Rechnung eines Arbeitgebers, der gewöhnlich dort tätig ist, eine Beschäftigung ausübt und die von diesem Arbeitgeber in einen anderen Mitgliedstaat entsandt wird, um dort eine Arbeit für dessen Rechnung auszuführen, weiterhin den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats, sofern die voraussichtliche Dauer dieser Arbeit vierundzwanzig Monate nicht überschreitet und diese Person nicht eine andere Person ablöst.

Daher stellt Art. 12 VO (EG) Nr. 883/2004 folgende Voraussetzungen einer Entsendung:

- Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses im Entsendestaat

- Der Arbeitgeber ist im Entsendestaat gewöhnlich tätig

- Vorliegen eines grenzüberschreitenden Ortswechsels

- Fortbestehen der Beschäftigung beim bisherigen Arbeitgeber

- Kein Ablösen eines anderen Arbeitnehmers (Kettenentsendung; Ausnahme: innerhalb zulässiger Entsendezeit)

- zeitliche Befristung der Entsendung auf maximal 24 Monate.

Zusätzlich fordert der Europäische Gerichtshof konkretisierend eine fortbestehende arbeitsrechtliche Bindung zum Entsendearbeitgeber, wie Entgeltzahlung, Verantwortung für die Anwerbung des Beschäftigten, sowie fortbestehendes Weisungsrecht zur Art und Weise der Arbeitsleistung.

Sind die genannten Bedingungen gegeben, wird von der zuständigen Eirichtung im Entsendstaat eine sogenannte A 1- Bescheinigung ausgestellt (früher „Bescheinigung E 101“).

Bei Vorliegen der obengenannten Voraussetzungen besteht daher im Rahmen eines Auslandsbeschäftigungsverhältnisses der sozial- versicherungsrechtliche Status im Entsendestaat sozial-

103 versicherungsrechtlich fort, obwohl die Tätigkeit auf anderem Territorium stattfindet. Damit entsteht bei Entsendungen nach Deutschland kein Sozialversicherungspflichtverhältnis nach dem SGB und somit auch keine Beitragspflicht.

5. Die Entsendung von Solo-Selbstständigen

Eine Person, die in einem Mitgliedsstaat eine selbständige Tätigkeit ausübt, kann für eine begrenzte Zeit eine ähnliche Tätigkeit in einem anderen Mitgliedsstaat ausüben. Die Regelungen für die Entsendung von Arbeitnehmern gelten zum größten Teil auch bei der Entsendung von selbständig erwerbstätigen Personen.

Es gibt nur folgende Besonderheiten:

- die selbständige Erwerbstätigkeit muss im Entsendestaat ausgeübt werden, in der Regel seit mindestens zwei Monaten, ansonsten ist eine Einzelfallprüfung durchzuführen;

- selbständig erwerbstätige Personen dürfen im Rahmen der Entsendung im anderen Mitgliedstaat ausschließlich „ähnliche“ Tätigkeiten ausüben; dies bedeutet, dass die Tätigkeit in derselben Branche durchgeführt wird;

- bereits vor der Entsendung muss der Selbständige Nachweise über die von ihm im anderen Mitgliedsstaat beabsichtigte Tätigkeit erbringen.

Der ausländische zuständige Träger prüft, ob eine Entsendung im Sinne der Verordnung (EG) über soziale Sicherheit vorliegt.

Wenn die oben genannten Voraussetzungen vorliegen, ergibt sich als Folge:

Wer im Entsendestaat als Selbstständiger in das dortige Sozialsystem eingebunden ist, behält diese Einbindung auch bei

104

Selbst-Entsendung ins Ausland. Die Beitragspflicht besteht dann ausschließlich im Heimatstaat.

6. Bindungswirkung der A1-Bescheinigung

Eine Entsendung wird nach Art. 12 VO (EG) Nr. 883/2004 durch die Entsendebescheinigung A1 gem. Art. 19 Abs. 2 VO (EU) 987/2009 verbindlich bescheinigt. Ausstellungsberechtigt ist allein die Behörde des Entsendestaates. Eine nachträgliche Beseitigung der Entsendebescheinigung ist auch nur durch die ausstellende Behörde möglich.

Daher hat die A1-Bescheinigung Bindungswirkung für die übrigen EU-Staaten; diese verbietet es dem Tätigkeitsstaat, die vom ausländischen Sozialversicherungsträger zu Grunde gelegten tatsächlichen Umstände sowie die Rechtsanwendung und Voraussetzungen des Art. 12 Abs. 1 VO 883/2004 zu überprüfen.

Auch bei formellen und materiellen Zweifeln des Tätigkeitsstaats bleibt die Bindung an die Bescheinigung bestehen, bis der Ausstellungsstaat diese beseitigt. Für diese Beseitigung gilt auschließlich ein Verfahren nach Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009, in dem die ausstellende Behörde ersucht wird, die Bescheinigung zu überprüfen. Im Konfliktfalle entscheidet die Verwaltungskommission und letztlich der Europäische Gerichtshof.135

Die Bindungswirkung gilt für alle Behörden und Gerichte des Staates, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird. Die Bindungswirkung hat der Europäische Gerichtshof in mehrfacher Rechtsprechung136 nachdrücklich entwickelt, beginnend mit der Entscheidung zum

135 so auch ausdrücklich der EuGH im Urteil vom 6.9.2018 in der Rechtssache C- 527/16, Randnummer 61.

136 zu dieser Rechtsprechung Hansjürgen Tuengerthal / Janine Geißer: Umfassende Bindungswirkung auch bei Werkverträgen – EuGH zu Entsendebescheinigungen, in: Arbeit und Arbeitsrecht, 2/2014.

105

Rechtsfall „Herbosch-Kiere“ vom 26. Januar 2006137, fortgesetzt und vertieft im Fall „A Rosa Flussschiff“ durch Urteil vom 27. April 2017138 und erneut im Grundsatz bestätigt mit Urteil vom 11. Juli 2018139 und mit Urteil im Fall „Alpenrind“ vom 6. September 2018140.

7. Einschränkung der Bindungswirkung

7.1. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 6. Februar 2018

Mit einer neuen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 6. Februar 2018 (Fall Altun u. a.)141 wurde allerdings die Bindungswirkung sehr begrenzt.

Der Fall:

Die belgische Sozialaufsichtsbehörde stellte im Rahmen einer Prüfung hinsichtlich der Beschäftigung der Belegschaft eines im Bausektor tätigen belgischen Unternehmens fest, dass das Unternehmen praktisch kein Personal beschäftigte und mit den Arbeiten auf sämtlichen Baustellen bulgarische Unternehmen als Subunternehmer betraute, die Arbeitnehmer nach Belgien entsandten. Die Beschäftigung der betroffenen Arbeitnehmer war bei dem belgischen Träger nicht angemeldet worden, da sie Bescheinigungen E 101 oder A 1 des zuständigen bulgarischen Trägers besaßen. In Bulgarien ergab die durchgeführte gerichtliche Untersuchung, dass die bulgarischen Unternehmen in Bulgarien keine nennenswerte

137 EuGH, Urteil vom 26.1.2006, Rechtssache c-2/05 (= Amtliche Sammlung 2006 I S. 1079). Hierzu Hansjürgen Tuengerthal: Die vielfach bewußt übersehene Bedeutung der EuGH-Entscheidung „Herbosch Kiere“, in: Blickpunkt Dienstleistung, 11/2017.

138 EuGH, Urteil vom 27.4.2017, Rechtssache 620/15.

139 EuGH, Urteil vom 11. 7. 2018, Rechtssache C-356/15.

140 EuGH, Urteil vom 6.9.2018, Rechtssache C-527/16.

141 EuGH, Urteil v. 06.02.2018 – C-359/16.

106

Geschäftstätigkeit ausübten. Daher stellten die belgischen Behörden beim zuständigen bulgarischen Träger einen Antrag auf erneute Prüfung oder Widerruf der fraglichen Bescheinigungen.

Die Antwort des bulgarischen Trägers beinhaltete die Aufstellung der Bescheinigungen, ohne die von den belgischen Behörden festgestellten und bewiesenen Tatsachen zu berücksichtigen. Daher wurde ein Strafverfahren gegen die Verantwortlichen des belgischen Unternehmens und die bulgarischen Unternehmer eingeleitet.

Mit Urteil vom 10. September 2015 verurteilte das Berufungsgericht Antwerpen die Betroffenen und kam zu dem Ergebnis, es gebe keine Bindung an die Bescheinigungen, da diese betrügerisch erwirkt worden seien.

Der mit der Rechtssache befasste Hof van Cassatie (Kassationsgerichtshof, Belgien) hat dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt. Er möchte wissen, ob die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats eine Bescheinigung E-101 für nichtig erklären oder außer Acht lassen können, wenn der Sachverhalt, über den sie zu befinden haben, ihnen die Feststellung erlaubt, dass die Bescheinigung betrügerisch erwirkt oder geltend gemacht wurde.

Der EuGH stellte fest, dass nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die Entsendebescheinigung die Vermutung der Ordnungsgemäßheit begründet und folglich grundsätzlich den zuständigen Träger des Aufnahmemitgliedstaats bindet. Solange die Bescheinigung nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt wird, hat der zuständige Träger des Aufnahmemitgliedstaats dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Arbeitnehmer bereits dem Recht der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats unterliegt, in dem das Unternehmen, das ihn beschäftigt, niedergelassen ist. Der Träger kann daher den betreffenden Arbeitnehmer nicht seinem eigenen System der sozialen Sicherheit unterstellen.

Aber nach dem Urteil des EuGH vom 6. Februar 2018 hat auch jeder Träger eines Mitgliedstaats eine sorgfältige Prüfung der Anwendung seiner eigenen Regelung der sozialen Sicherheit vorzunehmen. Wenn innerhalb einer angemessenen Frist keine erneute Überprüfung erfolgt, müssen Beweise für das Vorliegen eines Betrugs im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens geltend gemacht werden dürfen, um zu

107 erreichen, dass das Gericht des Aufnahmemitgliedstaats die Bescheinigungen außer Acht lässt.

Im vorliegenden Fall hat der belgische Träger den bulgarischen Träger mit einem Antrag auf erneute Prüfung und Widerruf der Bescheinigungen befasst, denn es lagen im Rahmen einer gerichtlichen Prüfung gesammelte Beweise vor, die die Feststellung erlaubt haben, dass die Bescheinigungen betrügerisch erlangt oder geltend gemacht wurden. Da der bulgarische Träger die Beweise nicht berücksichtigt hat, konnte das nationale Gericht die Bescheinigungen außer Acht lassen.

Fazit des EuGH-Urteils:

Die nationalen Gerichte dürfen im Fall eines Betrugs die Sozialversicherungsbescheinigung von innerhalb der Europäischen Union entsandten Arbeitnehmern außer Acht lassen. Dies gilt, wenn der ausstellende Träger es unterlässt, die Bescheinigung anhand von ihm zur Kenntnis gebrachten Beweisen für Betrug innerhalb einer angemessenen Frist erneut zu prüfen.

7.2. Auswirkungen auf den Einsatz ausländischer Fremdfirmen und Möglichkeiten zur Verringerung der Risiken

Die Bindungswirkung der A1-Bescheinigungen wird durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 6. Februar 2018 eingeschränkt. Es besteht die Möglichkeit, dass Zoll und Staats- anwaltschaften bei Verdacht auf einen Betrug A1-Bescheinigungen zukünftig unberücksichtigt lassen. Dies könnte beispielsweise angenommen werden, wenn eine A1-Bescheinigung ohne Erfüllung aller Vorrausetzungen erteilt worden ist etwa bei Verstoß gegen das Ablöseverbot, wonach entsandte Arbeitnehmer keine anderen entsandten Arbeitnehmer ablösen dürfen. Dieses Verbot wurde im Fall Alpenrind142 sehr eng gefasst wurde. Damit besteht auch eine Gefahr der Geltung des deutschen Sozialversicherungsrechts nach dem oben

142 EuGH, Urteil vom 6.09.2018, Rechtssache C-527/16.

108 genannten Urteil des Bundessozialgerichts,143 das im Ausland gezahlte Sozialversicherungsbeiträge nicht anerkennt.

Daher sollten Unternehmen bei länger andauernden Werkverträgen das Ablöseverbot beachten. Hierzu empfiehlt sich eine Installation von Rotationsmodellen zur Verringerung eines Verstoßes gegen das Ablöseverbot.

Bei Vorlage von A1-Bescheinigung können Auftraggeber bei Unternehmen, die entsandte Arbeitnehmer einsetzen, deren Tätigkeit im Heimatland abfragen und die Übergabe entsprechender Dokumente fordern. Umso mehr ist dies bei Beauftragung von Solo- Selbstständigen erforderlich.

Bei legaler Arbeitnehmerüberlassung ist die Beachtung des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes notwendig. Besonders müssen die Regelungen über die Höchstüberlassungsdauer, die Konkretisierung, die Kennzeichnung und das Vorliegen einer Erlaubnis beachtet werden. Bei Werkverträgen ist die Beachtung der korrekten Durchführung der Vereinbarung als Werkvertrag sehr wichtig. Regelmäßige Auditierung zur Exkulpation und Sicherheit in Bezug auf die Abläufe hilft, die Risiken beim Einsatz von Fremdpersonal zu vermeiden.

Der Verfasser ist Socius der Rechtsanwaltssocietät Professor Dr. Hansjürgen Tuengerthal / Christian Andorfer / Heiko E. Greulich / Nicolas Prochaska, Mannheim, und Mitbegründer und Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Werkverträge und Zeitarbeit, Mannheim.

143 BSG, Urteil vom 29.06.2016, B 12 R 8/14 R.

109

IV.

Ein Interview

mit

Carl Otto Lenz

Am 25. Mai 2018 hatten Rechtsanwalt Professor Dr. Hansjürgen Tuengerthal und sein Mitarbeiter Dr. Frank Hennecke Gelegenheit, mit Generalanwalt a. D. Professor Dr. Carl-Otto Lenz in dessen Wohnhaus in Bensheim an der Bergstraße ein persönliches Gespräch zu führen. Motiv hierfür waren die langjährige Verbundenheit der von Professor Dr. Tuengerthal begründeten Mannheimer Rechts- anwaltskanzlei144 und der „Heidelberger Europagespräche“ mit Professor Lenz und das gemeinsame Interesse an den Rechtsfragen der Europäischen Union. Das Gespräch verlief in außerordentlich freundlicher und sachlicher Atmosphäre. Inhalt und Verlauf des Gesprächs werden nachfolgend in Form eines Interviews wieder- gegeben.145 Professor Lenz hat den Text des Interviews autorisiert.

Tuengerthal / Hennecke: Verehrter Herr Professor Lenz, es war die blaue Europafahne, die uns den Weg zu Ihrem Haus hierher gewiesen hat, als wir in die Nußallee eingefahren sind. Sie haben die Fahne sichtbar aufgezogen, und so halten Sie sie buchstäblich und in übertragenem Sinne hoch.

144 Anmerkung der Redaktion: Das Exemplar des Kommentars zum Europarecht von Carl-Otto Lenz / Klaus-Dieter Borchardt (Hrsg.): EU-Verträge Kommentar EUV / AEUV / GRCh, 6. Aufl., Köln 2012, in der Bibliothek von Rechtsanwalt Professor Dr. Hansjürgen Tuengerthal enthält die persönliche Widmung „In dankbarer Erinnerung an unsere freundschaftliche Zusammenarbeit, 9. Jan. 2013 Lenz“.

145 Die Nachweise zu den in diesem Interview zitierten Rechtsvorschriften, den Schlußanträgen der Generalanwälte beim Europäischen Gerichtshof und den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes befinden sich oben in dem Beitrag „Freiheit der Dienstleistung und nationalstaatlíche Souveränität in der Europäischen Union“, S. 64 ff., und sind daher an dieser Stelle entbehrlich.

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Lenz: Ja, so ist es.

Tuengerthal / Hennecke: So dürfen wir auch annehmen, daß Sie die weitere Entwicklung der Europäischen Union und insbesondere des Gemeinschaftsrechts, das Sie maßgeblich mit geprägt haben, seit Ihrer Pensionierung vor rund 20 Jahren aufmerksam verfolgt und womöglich auch aktiv begleitet haben.

Lenz: Ja, das habe ich. Allerdings habe ich Ehrenämter wie meine Mitwirkung am Europäischen Disziplinarrecht inzwischen nieder- gelegt. Aber in den nächsten Tagen fahre ich nach München zu einem Vortrag über das Verhältnis der europäischen und der deutschen Verfassungsorgane zueinander. Demnächst erscheint in der Zeitschrift „Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht“ auch ein Beitrag meinerseits zum Thema „Läßt des Grundgesetz einen Beitritt Deutschlands zu einen europäischen Bundestaat zu?“ Was mich mit Sorge erfüllt, ist –nach dem „Brexit“- jetzt auch die neueste politische Einwicklung in Italien.

Tuengerthal /Hennecke: Der Höhepunkt Ihrer beruflichen Laufbahn war gewiß Ihre vierundzwanzigjährige Tätigkeit als Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof. Wollen Sie uns etwas dazu sagen, wie sich diese Arbeit gestaltet hat?

Lenz: Die Arbeit wurde in der Weise verteilt, daß der Präsident den zuständigen Richter bestimmt und der Erste Generalanwalt den zuständigen Generalanwalt. Zu meiner Zeit wurde für jede Rechts- sache ein Generalanwalt bestellt. Die mir zugeteilten Rechtssachen teilten meine Rechtsreferenten unter sich auf. Ursprünglich hatte ich nur einen, später dann drei Rechtsreferenten, alles Volljuristen.

Tuengerthal / Hennecke: Das führt uns zu den aktuellen Rechtsfragen, die uns bewegen. Vorab aber: Es hat ja sozusagen mehrere Wurzeln, daß wir heute zu Ihnen gekommen sind. Es ist zum einen die langjährige persönliche Verbundenheit und der stets offene und hilfreiche Rat, dem wir in der persönlichen Begegnung mit Ihnen immer erfahren durften. Es sind sodann die „Heidelberger

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Europagespräche“, die von Ihnen mitbegründet worden sind und die zu einem hochrangigen Forum für die Auseinandersetzung mit der europäischen Rechtsentwicklung geworden sind. So sind es schließ- lich auch die praktischen Fragen in der Anwendung des Europäischen Rechtes, die sich für uns in der anwaltlichen Tätigkeit, die europa- rechtlich ausgerichtet ist, tagtäglich stellen. Europarecht ist von eminent praktischer Bedeutung.

Lenz: Danke, daß Sie das so sagen.

Tuengerthal / Hennecke: So möchten wir denn Fragen des europäischen Sozial- und Arbeitsrechtes ansprechen, die sich aus den europarechtlichen Vorgaben für den freien Dienstleistungsverkehr und die sozialen Sicherheitssysteme ergeben. So gilt der Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer auf der einen Seite als eine der Säulen des Gemeinsamen Marktes, auf der anderen Seite die verbliebene Souveränität der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der sozialen Sicherungssysteme. Dieses Spannungsfeld fokussiert sich in der scheinbar nur verwaltungstechnischen, in Wahrheit aber kon- stituierenden „Entsendebescheinigung“, die sich ein Arbeitnehmer, der in einem anderen als seinem Herkunftsland tätig werden will, von seinem Herkunftsland geben lassen muß und in der sein sozialversicherungsrechtlicher Status in seinem Herkunftsland be- scheinigt wird. Auf diese Weise soll zum einen die Freizügigkeit gewährleistet, zum anderen aber vermieden werden, daß der Arbeitnehmer entweder aus jeder Sozialversicherung herausfällt oder zu doppelten Sozialversicherungsleistungen herangezogen wird. Diese klare Zielsetzung der europäischen Verordnungen, auf denen die „Entsendebescheinigung“ beruhte, hatte zu Zweifelsfragen geführt, deretwegen der Europäischen Gerichtshof seinerzeit angerufen worden war.

Wir sprechen damit den seinerzeitigen Fall „Calle Grenzshop Andresen“ an, zu dem Sie damals als Generalanwalt beim Europäischen Gerichtshof am 19. Januar 1995 wegweisende Schlußanträge vorgelegt haben. Hier ging es ja in der Tat um die Frage, welche Wirkung die „Entsendebescheinigung“ hat und wie sich das Spannungsfeld zwischen Arbeitnehmerfreizügigkeit und

112 nationaler Souveränität auf dem Gebiet der Sozialen Sicherung in der Praxis auflösen soll. Sie haben damals die Bindungswirkung der ausländischen Entsendebescheinigung für alle inländischen Behörden ausführlich und nachdrücklich begründet. Wir zitieren aus Ihren damaligen Schlußanträgen den signifikanten Satz, daß, „solange der ausstellende Staat den Sozialversicherungspflichtigen nicht aus seinem Sozialversicherungssystem entläßt“, dieser „vom zuständigen Staat nicht in Anspruch genommen werden kann.“ Würden Sie auch heute noch in diesem Sinne votieren?

Lenz: Ich würde daran festhalten.

Tuengerthal / Hennnecke: Der spätere Verordnungsgeber hat Ihre Position denn auch ausdrücklich bestätigt, ebenso der Europäische Gerichtshof bis hin zu seinen jüngsten Entscheidungen. Im übrigen haben Sie in Ihren Schlußanträgen des weiteren ausgeführt, daß immer dann, wenn Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der Bescheinigung bestehen, diese Zweifel nicht zu einer Überprüfung durch den jeweils zuständigen Staat führen dürfen, sondern daß vielmehr die ausstellende ausländische Behörde um Überprüfung ersucht werden müsse und letztlich die Verwaltungskommission beteiligt und der Europäische Gerichtshof in einem Vertragsverletzungsverfahren angerufen werden müsse.

Lenz: Auch daran halte ich fest. Ein geregeltes Verfahren gibt es denn jetzt auch in der Verordnung Nr. 987/2009.

Tuengerthal / Hennecke: In Ihren damaligen Schlußanträgen scheinen Sie aber eine Ausnahme von der Bindungswirkung und dem Beteiligungsverfahren machen zu wollen: Sie setzen voraus, daß die Bescheinigung „unter regelmäßigen Umständen“ zustandegekommen sein muß und daß daher eine aufgrund falscher Tatsachen erstellte Bescheinigung ein anderes Verfahren rechtfertigen könne; gleichwohl schließen Sie auch in diesen Fällen ein Beteiligungsverfahren nicht aus.

113

Lenz: Das mag sein, ist aber wohl der Tatsache geschuldet, daß es seinerzeit das jetzt in der Verordnung Nr. 987/2009 geregelte Verfahren in dieser Weise noch nicht gab.

Tuengerthal / Hennecke: Der Verordnungsgeber und die Recht- sprechung haben dann ja auch die Bindungswirkung und das Konsultationsverfahren voll bestätigt. Aber die Frage der betrügerisch erschlichenen oder gar gefälschten Bescheinigung blieb im Raum. Einen Ihrer Nachfolger im Amt des Generalanwaltes hat es geradezu umgetrieben, auch diese Sachlage zu klären. Einen für ihn offensichtlichen Betrug vor Augen, plädiert er in seinen Schlußanträgen zu der Rechtssache Altun (Az. EuGH C 359/16) dafür, in den Fällen, in denen die ausstellende Behörde der Entsendebescheinigung nach Rückfrage bei dieser Behörde dem Verdacht des Betruges nicht nachgegangen ist, die Bindungswirkung nicht gelten zu lassen und dem Betrugsfalle vor Ort eigenständig nachzugehen. Der Generalanwalt wertet den Betrugsverdacht offenkundig höher als die durch die Entsendebescheinigung garantierte Rechtssicherheit und das Konsultationsverfahren. Der Europäische Gerichtshof hat sich hiervon beeindrucken lassen und am 6. Februar 2018 in diesem Sinne entscheiden. Wir sehen hierin einen folgenschweren Einbruch in die Rechtssicherheit und in die Souveränität des die Entsendebescheinigung ausstellenden Staates. Jeder Verdacht auf Betrug könnte demnach zu jeweiliger nationaler Prüfungstätigkeit führen und die Entsendebescheinigung entwerten. Die zuvor aus gutem Grund verschlossene Tür wäre wieder geöffnet. Sehen Sie das auch so?

Lenz (nach einigem Nachdenken): Ja, das könnte man so sehen, wenn die Behörde des Empfangsstaates die Sache einseitig entscheiden könnte. Das ist aber meines Erachtens nicht der Fall. Sie muß ihre Bedenken dem Träger des Entsendestaates mitteilen und im Streitfalle die Verwaltungskommission einschalten.

Tuengerthal / Hennecke: Wir meinen in diesem Falle, daß die nationale Behörde die Verwaltungskommission hätte einschalten und letztlich ein Vertragsverletzungsverfahren hätte einleiten müssen. Wäre in diesem Verfahren ein Betrug tatsächlich aufgedeckt worden,

114 hätte die Entsendebescheinigung widerrufen werden müssen; andern- falls wäre die Entsendebescheinigung bestätigt worden, und der Fall wäre dann so oder so sachgerecht gelöst worden. Es geht ja nicht darum, Betrug zu unterstützen –da hat der Generalanwalt recht-, sondern darum, das richtige Verfahren einzuhalten –was der Generalanwalt u. E. übersieht- , in dem die Sache dann sachgerecht geklärt werden kann.

Lenz: Dem stimme ich zu. Es geht in allen Fällen der Entsendebescheinigung grundsätzlich darum, daß nicht der Staat, der ein Interesse daran hat, daß der Fall seiner Sozialversicherung zugeordnet wird, auch die Kompetenz haben darf, genau darüber zu seinen Gunsten entscheiden. Letztlich ist notfalls immer ein Vertrags- verletzungsverfahren einzuleiten. Wer am Ausgang eines Verfahrens interessiert ist, kann nicht die Zuständigkeit haben, in seinem eigenen Interesse zu entscheiden.

Hat es im übrigen im Falle Altun eine mündliche Verhandlung gegeben?

Tuengerthal / Hennecke (nach Prüfung): ja.

Lenz: Dann wäre Raum gewesen, auf eine andere Entscheidung hinzuwirken. Es bleibt der Grundsatz: Es kann nicht sein, daß die nationale Behörde über die Richtigkeit der Entsendebescheinigung gegebenenfalls zu ihren eigenen Gunsten eigenmächtig entscheidet.

Tuengerthal / Hennecke: Wir können die Linie auch weiter ausziehen. Es sind nicht nur die Fälle denkbar, in denen aufgrund falscher Angaben die Entsendebescheinigung betrügerisch erschlichen wird, sondern auch Fälle, in denen die Bescheinigung als solche gefälscht ist, also eine gefälschte Urkunde vorliegt, die zwar einen Urheber vorgibt, der die Urkunde aber gar nicht ausgestellt hat. Hier liegt immerhin aber der Anschein vor, als stamme die Urkunde von der zuständigen Behörde. Sollte in diesen Fällen von der nationalen Behörde wenigstens der Anschein entkräftet werden dürfen oder ist auch hier die Beteiligung der ausländischen Behörde, die als ausstellende Behörde in der Urkunde bezeichnet ist, herbeizuführen?

115

Wir meinen, wir sollten hier im Sinne der Rechtssicherheit konsequent bleiben: Auch verdächtige Urkunden sind der als Aussteller bezeichneten Behörde zuzuleiten: Diese wird dann feststellen können, ob die Urkunde von ihr stammt. So bleiben wir im System. Würden Sie auch dieser Auffassung zustimmen?

Lenz: Ja, dann sollte man konsequent bleiben. Ich stimme dem zu.

Tuengerthal / Hennecke: So bleibt denn die künftige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes abzuwarten. Es bedrängt uns indessen noch ein weiteres Problem. Wir fassen es in die Frage: Gilt die Bindungswirkung der Entsendebescheinigung auch für das Arbeitsrecht? Die Verordnung 987/2009 erstreckt sich ihrem Wortlaut nach auf die Systeme der sozialen Sicherung, die in der Grundverordnung Nr. 833/2004 auch im einzelnen aufgezählt werden. Demzufolge bescheinigt die Entsendebescheinigung in ihrer früheren Fassung als „E 101-Bescheinigung“ und in der jetzigen Fassung als „A 1-Bescheigung“ den sozialversicherungsrechtlichen Status des Arbeitnehmers. Zum arbeitsrechtlichen Status ist ausdrücklich nichts gesagt. Eine Rubrik in der E 101-Bescheinigung fragt immerhin aber danach, ob das entsendende Unternehmen ein Unternehmen der Arbeitnehmerüberlassung ist. Wir haben hieraus und aus der grundsätzlichen Überlegung, daß ein sozialversicherungsrechtlicher Status sachnotwendig ein Arbeitsverhältnis voraussetzt, den Schluß gezogen, daß die Bescheinigung auch für das Arbeitsrecht gilt und auch hier Bindungswirkung auslöst. Das Sozialrecht ist gegenüber dem Arbeitsrecht akzessorisch; jede Sozialversicherung setzt das Arbeitsverhältnis notwendig voraus. Daher ist das Bestehen von Arbeitsverhältnissen auch sachlogische Voraussetzung der Ver- ordnung 987/200. Der Geltungsbereich liefe leer, gäbe es keine Arbeitsverhältnisse, die der Sozialversicherung unterlägen.

Lenz: Das klingt logisch.

Tuengerthal / Hennecke: Das Oberlandesgericht Bamberg hat dies aber nicht so gesehen. Es beruft sich ausdrücklich auf den Wortlaut der Verordnung 987/2009 und schränkt die Aussagekraft der Entsendebescheinigung ausdrücklich auf den sozial-

116 versicherungsrechtlichen Status ein. Es verschafft sich dadurch die Freiheit, den arbeitsrechtlichen Status einer Person unabhängig von der Entsendebescheinigung selbständig zu prüfen. Dies hat dann zur Folge, daß eine Diskrepanz zwischen der Entsendebescheinigung, die den Sozialversicherungsschutz im Ausland bestätigt, und dem etwaigen Entstehen eines neuen Arbeitsverhältnisses im Inland über §§ 9 Absatz 1 Nr. 1, 10 Absatz 1 Satz 1 des Arbeitnehmer- überlassungsgesetzes eintreten kann. Ein Arbeitnehmer, der aus dem Ausland guten Glaubens mit einer Entsendebescheinigung kommt, aber als Arbeitnehmer eines anderen Arbeitgebers im Inland angesehen wird, muß zwar keine Sozialversicherung im Inland zahlen, unterliegt aber im Inland den Bestimmungen für die Beschäftigung eines Ausländers im Inland und unter Umständen dann auch dem Schwarzarbeitbekämpfungsgesetz. Wir sehen hierin unerträgliche Rechtsfolgen. Und wir sehen einen Widerspruch darin, daß der Arbeitnehmer auf der einen Seite eine ausländische Entsende- bescheinigung mitbringt, die ihm die Sozialversicherung im Ausland bestätigt und die nur aufgrund eines im Ausland bestehenden Arbeitsverhältnisses erteilt werden konnte, daß ihm auf der anderen Seite aber in Deutschland gesagt wird, er stehe hier in einem anderen Arbeitsverhältnis.

Diese Fälle treten immer dann auf, wenn der Regelungsmechanismus des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes zur Anwendung kommt, der sich mit der Entsendebescheinigung in fataler Weise verschränkt. Der Regelungsmechanismus besteht darin, daß im Falle einer –illegalen- Arbeitnehmerüberlassung nach §§ 9 Absatz 1 Nr. 1, 10 Absatz 1 Satz 1 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes der inländische Besteller einer Arbeits- oder Werkleistung kraft gesetzlicher Fiktion zum neuen Arbeitgeber wird und somit der ursprüngliche ausländische Arbeitgeber seinen Arbeitnehmer verliert.

Wir haben zwar – soweit erkennbar bislang unwidersprochen - nachzuweisen versucht, daß der rigide Regelungsmechanismus der §§ 9, 10 AÜG verfassungswidrig ist und darüber hinaus auch nicht grenzüberschreitend wirken kann, aber in der Praxis müssen wir uns mit der Regelung vor Gericht auseinandersetzen.

117

So könnte es sehr hilfreich sein, wenn es außerdem gelänge, nachzuweisen, daß die Entsendebescheinigung neben dem sozialversicherungsrechtlichen Status auch das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses im Ausland bestätigen würde. Hätte die Bescheinigung in diesem Sinne Bindungswirkung und damit materiell-rechtlichen Gehalt, würde der Anwendung des Arbeit- nehmerüberlassungsgesetzes und in der Folge des Schwarz- arbeitbekämpfungsgesetzes von vorneherein ein Riegel vorgeschoben. Es müßte für inländische Gerichte und Behörden dann schlicht davon ausgegangen werden, daß ein Arbeitsverhältnis in anderen EU- Ländern besteht. Denn genau dieses wird durch die Ent- sendebescheinigung in Deutschland nicht tangiert.

Lenz: Ja, wenn denn der Nachweis gelänge. Es steht im Raum, daß sich die Verordnung 987/2009 dem Wortlaut nach ausdrücklich auf das Sozialrecht beschränkt und die hiernach ausgestellte Bescheinigung dann auch nichts anderes bestätigen kann. Nach allen Grundsätzen des Rechts ist der Wortlaut des Gesetzes für Gerichte und Behörden verbindlich. Die schlichte Übertragung der Bindungs- wirkung für das Sozialrecht auf das Arbeitsrecht über den Wortlaut hinaus geht wohl nicht. Zwar hat es die Logik für sich, daß das Sozialrecht das Arbeitsverhältnis voraussetzt und man von daher eine über den Wortlaut hinausgehende Auslegung etwa nach Sinn, Zweck und unausgesprochener Voraussetzung des Gesetzes begründen kann, aber zwingend ist das nicht.

Aber ich teile Ihre Auffassung, daß es nicht sein kann, daß der deutsche Gesetzgeber über das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz im Ausland bestehende Arbeitsverhältnisse vernichtet.

Tuengerthal / Hennecke: Man sollte aber den Blick darauf werfen, was in der Wirklichkeit geschieht: Da hat ein Arbeitnehmer im Ausland einen Arbeitgeber, der ihn im Zuge der freien Dienstleistung seinerseits in das Ausland zur Arbeitsleistung entsendet; und so hat der Arbeitnehmer auch eine Entsendebescheinigung, die ihm die Arbeit im Ausland ermöglicht, ohne daß er im Ausland zur Sozial- versicherung herangezogen würde. Er vertraut auf diese Situation und nimmt die Arbeit im Ausland auf. Genau das ist es ja auch, was die

118 europäische Arbeitnehmerfreizügigkeit will. Und dann passiert ihm in Deutschland, daß ihm alles aberkannt wird und er in eine illegale Beschäftigung hineingerät und er gar wieder in sein Heimatland zurückkehren muß. Und das kann ihm allein deswegen passieren, weil etwa die Zollbehörden schon auf Grund eines Verdachtes auf illegale Arbeit gegen ihn einschreiten; da hilft vorerst kein langwieriger Rechtsschutz. Kann ein ausländischer Arbeitnehmer solchen Risiken ausgesetzt werden? Kann seine Bereitwilligkeit, im Ausland zu arbeiten, in solcher Weise enttäuscht werden? Wirkt sich das nicht auf seine Motivlage aus, im Ausland zu arbeiten? Die rigide deutsche Gesetzeslage erweist sich so als Hindernis für die Arbeitnehmer- freizügigkeit in Europa!

Lenz: Ja, wenn das so ist, läßt sich in der Tat die Verordnung 987/2009 europarechtskonform in der Weise interpretieren, daß diese selbstverständlich der Freizügigkeit keine Hemmnisse in den Weg legen wollen, selbst unter dem Leitbild der Freizügigkeit stehen und dieser gerade dienen sollen. Die Freizügigkeit ist eine der Grundsäulen des EU-Vertrages!

Tuengerthal / Hennecke: So kann es eigentlich nicht sein, daß einerseits die Entsendebescheinigung hinsichtlich des sozial- versicherungsrechtlichen Status der Prüfung durch den jeweiligen nationalen Staat entzogen ist, andererseits aber der arbeitsrechtliche Status der Entscheidung des nationalen Staates überstellt ist, mit womöglich gegenteiligem Ergebnis.

Lenz: Ja, wenn der Arbeitnehmer durch eine enge Interpretation der Verordnung 987/2009 und der Entsendebescheinigung in Verbindung mit dem deutschen Recht am Ende hilflos wird und nach Hause zurückkehren muß, dann ist in der Tat die Freizügigkeit beeinträchtigt. Es kommt hinzu, daß auch die Regelung des fiktiven Übergangs der Arbeitsverhältnisse nach §§ 9, 10 des Arbeitnehmerüber- lassungsgesetzes mit der Vernichtung der ausländischen Arbeitsverhältnisse geeignet ist, die Freizügigkeit zu beeinträchtigen. Kurzum: Wenn Sie nachweisen können, daß die enge, formal dem Wortlaut folgende Interpretation der Verordnung 987/2009 mit der

119

Entsendebescheinigung die Freizügigkeit beeinträchtigt, sind Sie durch!

Tuengerthal / Hennecke: Wir sind sicher, daß uns dieser Nachweis gelingt.

Herr Professor Lenz, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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V. Satzung der „Heidelberger Europagespräche e. V.“

Carl Otto Lenz ist Gründungsmitglied des Vereins „Heidelberger Europagespräche e. V.“ und dessen Ehrenvorsitzender.

SATZUNG DES VEREINS HEIDELBERGER EUROPAGESPRÄCHE konsolidierte Fassung: Stand 21.07.2017

§ 1 Name, Sitz, Eintragung, Geschäftsjahr

1. Der Verein trägt den Namen „Heidelberger Europagespräche“.

2. Er hat seinen Sitz in Heidelberg.

3. Er ist in das Vereinsregister beim Amtsgericht Heidelberg eingetragen.

4. Geschäftsjahr ist das Kalenderjahr.

§ 2 Vereinszweck

1. Zweck des Vereins ist die Information über aktuelle Themen der europäischen Integration.

2. Der Satzungszweck wird insbesondere verwirklicht durch Veröffentlichungen (Druck, Bild, Filmmedien), Vorträge, Konferenzen und Podiumsdiskussionen.

§ 3 Gemeinnützigkeit

1.

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Der Verein verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke im Sinne des Abschnitts „Steuerbegünstigte Zwecke“ der Abgabenordnung (§§ 51 ff. AO) in der jeweils gültigen Fassung.

2. Mittel des Vereins dürfen nur für die satzungsmäßigen Zwecke verwendet werden.

3. Die Mitglieder des Vereins dürfen in ihrer Eigenschaft als Mitglieder keine Zuwendungen aus Mitteln des Vereins erhalten.

4. Die Mitglieder dürfen bei ihrem Ausscheiden oder bei Auflösungen oder Aufhebung des Vereins keine Anteile des Vereinsvermögens erhalten.

5. Es darf keine Person durch Ausgaben, die dem Zweck des Vereins fremd sind begünstigt werden.

§ 4 Mitgliedschaft

1. Mitglied des Vereins kann jede natürliche Person und juristische Person werden, die seine Ziele unterstützt.

2. Über den Antrag auf Aufnahme in den Verein entscheidet der Vorstand.

3. Die Mitgliedschaft endet durch Austritt, Ausschluss oder Tod.

4. Der Austritt eines Mitgliedes ist nur zum Ende eines Kalenderjahres möglich. Er erfolgt durch schriftliche Erklärung gegenüber dem Vorstand unter Einhaltung einer Frist von drei Monaten.

5. Wenn ein Mitglied gegen die Ziele und Interessen des Vereins schwer verstoßen hat oder trotz Mahnung mit dem Beitrag für ein Jahr im Rückstand bleibt, kann er durch den Vorstand mit sofortiger Wirkung ausgeschlossen werden. Dem Mitglied muss vor der Beschlussfassung Gelegenheit zur Rechtfertigung bzw. Stellungnahme gegeben werden. Gegen den Ausschließungsbeschluss kann innerhalb einer Frist von einem Monat nach Mitteilung des Ausschlusses Berufung eingelegt werden, über den die nächste Mitgliederversammlung entscheidet.

§ 5 Beiträge

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Die Mitglieder zahlen nach Maßgabe eines Beschlusses der Mitgliederversammlung einen Beitrag. Zur Festlegung der Beitragshöhe und – fälligkeit ist eine einfache Mehrheit der in der Mitgliederversammlung anwesenden stimmberechtigten Vereinsmitglieder erforderlich.

§ 6 Organe des Vereins

Organe des Vereins sind a) der Vorstand b) die Mitgliederversammlung

§ 7 Der Vorstand

1. Der Vorstand besteht aus drei Mitgliedern und einem Schatzmeister. Der Gesamtvorstand des Vereins besteht aus dem ersten Vorsitzenden und den zwei stellvertretenden Versitzenden sowie dem Schatzmeister. Der Vorstand im Sinne des § 26 BGB besteht aus dem ersten Vorsitzenden und den zwei stellvertretenden Vorsitzenden. Die Mehrheit der Vorstandsmitglieder im Sinne des § 26 BGB vertritt den Verein gerichtlich und außergerichtlich. Der Schatzmeister ist für die Rechnungslegung und Rechnungsführung zuständig.146

2. Die Vorstandsmitglieder werden von der Mitgliederversammlung für die Dauer von fünf Jahren gewählt. Die Wiederwahl von Vorstandsmitgliedern ist möglich. Der jeweils amtierende Vorstand bleibt nach Ablauf seiner Amtszeit im Amt, bis ein Nachfolger gewählt ist.

3. Dem Vorstand obliegt die Führung der laufenden Geschäfte des Vereins. Er hat insbesondere folgende Aufgaben:

- Führung des täglichen Geschäfts - Organisation und Durchführung von Veranstaltungen

Der Vorstand übt seine Tätigkeit ehrenamtlich aus.

4. Der Vorstand bestellt für die Geschäfte der laufenden Verwaltung einen Geschäftsführer. Dieser ist berechtigt, an den Sitzungen des Vorstandes mit beratender Stimme teilzunehmen. Der Geschäftsführer ist für die Kassengeschäfte zuständig. Der Geschäftsführer führt seine Tätigkeit ehrenamtlich aus.

146 geändert laut Beschluss der Mitgliederversammlung vom 21.07.2017

123

5. Auf Vorschlag des Vorstandes kann von der Mitgliederversammlung ein Ehrenvorsitzender gewählt werden. Der Ehrenvorsitzende hat das Recht, an den Vorstandssitzungen teilzunehmen.147

§ 8 Mitgliederversammlung

1. Die Mitgliederversammlung ist einmal im Jahr einzuberufen.

2. Eine außerordentliche Mitgliederversammlung ist einzuberufen, wenn es das Vereinsinteresse erfordert oder wenn die Einberufung von mindestens 40 %148 der Vereinsmitglieder schriftlich und unter Angabe des Zweckes und der Gründe verlangt wird.

3. Die Einberufung der Mitgliederversammlung erfolgt schriftlich durch den Vorstand unter Wahrung einer Einladungsfrist von mindestens zwei Wochen bei gleichzeitiger Bekanntgabe der Tagesordnung.

Es gilt das Datum des Poststempels. Das Einladungsschreiben gilt dem Mitglied als zugegangen, wenn es an die letzte dem Verein durch das Mitglied schriftlich bekannt gegebene Adresse gerichtet ist.

4. Die Mitgliederversammlung ist das oberste Vereinsorgan. Jede satzungsmäßig einberufene Mitgliederversammlung wird als beschlussfähig anerkannt ohne Rücksicht auf die Zahl der erschienenen Vereinsmitglieder. Jedes Mitglied hat eine Stimme.

5. Die Mitgliederversammlung fasst ihre Beschlüsse mit einfacher Mehrheit. Bei Stimmengleichheit gilt ein Antrag als abgelehnt. Stimmenthaltungen werden nicht gezählt.

§ 9 Satzungsänderung

Für Satzungsänderungen ist eine ¾ Mehrheit der erschienenen Vereinsmitglieder erforderlich. Über Satzungsänderungen kann in der Mitgliederversammlung nur abgestimmt werden, wenn auf diesen Tagesordnungspunkt bereits in der Einladung zur Mitgliederversammlung hingewiesen wurde und der Einladung sowohl der bisherige als auch der vorgesehene neue Satzungstext beigefügt worden waren.

147 geändert laut Beschluss der Mitgliederversammlung vom 21.07.2017.

148 geändert laut Beschluss Mitgliederversammlung vom 09.11.2009.

124

§ 10 Beschlüsse

Die in Vorstandssitzungen und in Mitgliederversammlungen gefassten Beschlüsse sind schriftlich niederzulegen und vom Vorstand zu unterzeichnen.

§ 11 Auflösung des Vereins und Vermögensbindung

1. Für den Beschluss, den Verein aufzulösen, ist eine ¾ Mehrheit der in der Mitgliederversammlung anwesenden Mitglieder erforderlich. Der Beschluss kann nur nach rechtzeitiger Ankündigung in der Einladung zur Mitgliederversammlung gefasst werden.

2. Bei Auflösung des Vereins oder bei Wegfall steuerbegünstigter Zwecke fällt das Vermögen des Vereins an den Arbeitskreis Europäische Integration e.V. Bonn/Berlin oder seinem Rechtsnachfolger, die es ausschließlich und unmittelbar für gemeinnützige Zwecke zu verwenden hat. Beschlüsse über die künftige Verwendung des Vereinsvermögens dürfen erst nach Einwilligung des Finanzamtes ausgeführt werden.

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VI Satzung der Arbeitsgemeinschaft Werkverträge und Zeitarbeit (AWZ)

nach dem Stand vom 22. März 2013

Satzung des Vereins Arbeitsgemeinschaft Werkverträge und Zeitarbeit

§ 1 Name, Sitz (1) Der Verein führt den Namen “Arbeitsgemeinschaft Werkverträge und Zeitarbeit” (Kurzfassung: “AG Werkverträge und Zeitarbeit”). (2) Er hat seinen Sitz in Mannheim. Die Geschäftsstelle befindet sich in der Alten Reichsbank, M 7, 3, 68161 Mannheim.

§ 2 Vereinszweck (1) Zweck des Arbeitsgemeinschaft ist die konstruktive Beschäftigung mit den rechtlichen und tatsächlichen Problemen bei der Gestaltung und Durchführung von Werkverträgen und Zeitarbeit und deren Vertretung nach außen, insbesondere auch in den Bereich der Politik. (2) Die Arbeitsgemeinschaft unterstützt ihre Mitglieder durch laufende Informationen, die Beantwortung einschlägiger Fragestellungen und jeweils vergünstigte • Beratung • Betriebsanalysen • sowie Teilnahme an ihren Seminaren. (3) Bei Fragen von Allgemeininteresse organisiert sie entsprechende Fachtagungen unter Heranziehung von Experten und möglichst Veröffentlichung von deren Ergebnissen. (4) Die Mitglieder unterstützen die Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft durch Übermittlung von ihnen bekannt gewordenen einschlägigen Informationen sowie durch Mitwirkung bei der Außendarstellung der Arbeitsgemeinschaft.

§ 3 Mitgliedschaft (1) Mitglied der Arbeitsgemeinschaft kann jede natürliche Person oder juristische Person werden, die ihre Ziele unterstützt, und zwar als Unternehmen, Experte oder Fördermitglied. (2) Über die Aufnahme entscheidet nach schriftlichem Antrag der Vorstand. (3) Die Mitgliedschaft endet durch Austritt, Ausschluss oder Tod bzw. bei juristischen Personen durch deren Auflösung. (4) Ein Mitglied kann jederzeit durch schriftliche Erklärung gegenüber der Geschäftsstelle zum Ende des Kalenderjahres aus der Arbeitsgemeinschaft austreten.

126

(5) Wenn ein Mitglied gegen die Ziele und Interessen der Arbeitsgemeinschaft schwer verstoßen hat oder trotz Mahnung mit dem Beitrag für ein Jahr im Rückstand bleibt, kann es durch den Vorstand mit sofortiger Wirkung ausgeschlossen werden.

§ 4 Mitgliedsbeiträge Der Mitgliedsbeitrag wird von der Mitgliederversammlung festgelegt. Beiträge fallen nur für die Mitgliedsunternehmen an. Mitglieder als Experten sind beitragsfrei. Fördermitglieder leisten Beiträge nach ihrem persönlichen Ermessen.

§ 5 Vorstand und Geschäftsführer (1) Der Vorstand besteht aus dem Vorsitzenden und dem Stellvertretendem Vorsitzenden sowie bis zu sieben weiteren Vorstandsmitgliedern. Der Vorstand wird von der Mitgliederversammlung für die Dauer von drei Jahren gewählt; er bleibt jedoch auch nach Ablauf seiner Amtszeit bis zur Neuwahl im Amt. (2) Die Arbeitsgemeinschaft hat einen Geschäftsführer. Der Geschäftsführer wird durch den Vorstand bestellt. (3) Der Vorsitzende oder der Geschäftsführer ist jeweils zur Vertretung der Arbeitsgemeinschaft berechtigt.

§ 6 Mitgliederversammlungen Mitgliederversammlungen finden statt, wenn dies im Interesse der Arbeitsgemeinschaft erforderlich ist oder wenn die Einberufung einer derartigen Versammlung von einem Fünftel der Mitglieder schriftlich gegenüber dem Vorstand unter Angabe des Zwecks und der Gründe verlangt wird.

§ 7 Einberufung von Mitgliederversammlungen (1) Mitgliederversammlungen werden vom Vorsitzenden oder dem Geschäftsführer durch einfachen Brief einberufen. Dabei ist die vom Vorstand festgelegte Tagesordnung mitzuteilen. (2) Die Einberufungsfrist beträgt zwei Wochen. Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Aufgabe der Einladung bei der Post unter der letzten der Arbeitsgemeinschaft bekannten Mitgliedsadresse.

§ 8 Ablauf der Mitgliederversammlungen (1) Die Mitgliederversammlung wird vom Vorsitzenden oder Geschäftsführer geleitet. Der Versammlungsleiter bestimmt einen Protokollführer. (2) Über die Annahme von Beschlussanträgen entscheidet die Mitgliederversammlung mit der Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen; Stimmenthaltungen gelten als ungültige Stimmen. Bei Satzungsänderungen ist eine Mehrheit von drei Vierteln der abgegebenen gültigen Stimmen erforderlich. (3) Abstimmungen erfolgen grundsätzlich durch Handaufheben. Wenn ein Drittel der erschienenen Mitglieder dies verlangt, muss schriftlich abgestimmt werden.

§ 9 Protokollierung von Beschlüssen

127

Beschlüsse sind unter Angabe des Ortes und der Zeit der Versammlung sowie des Abstimmungsergebnisses vom Protokollführer in einer Niederschrift festzuhalten; die Niederschrift ist vom Versammlungsleiter und vom Protokollführer zu unterschreiben.

§ 10 Beschlussfassung im schriftlichen Verfahren Eine Beschlussfassung kann auch außerhalb der Mitgliederversammlung durch schriftliches Verfahren im Wege der Textform erfolgen. Hierfür gelten die §§ 6-9 sinngemäß.

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Anhang

Schriften der Arbeitsgemeinschaft Werkverträge und Zeitarbeit

M 7,3 (Alte Reichsbank), 68161 Mannheim

Tel. +49 621 391 8010-0 / Fax +49 621 391 8010-20

[email protected] / www.werkvertrag-zeitarbeit.de

1. Generelles zum Werkvertrag

• Werkvertrag und Arbeitnehmerüberlassung, Standpunkte, Dr. Frank Hennecke, Schriftenreihe der AWZ Nr. 191 (191)

• Ein ereignisreiches Jahr Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Blickpunkt Dienstleistung 12/2016, S.15 (189)

• AÜG-Reform: Angemessene Regelung der Abgrenzung von Arbeitnehmerüberlassung und Werkvertrag Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal Betriebsberater 11/2016, Heft 47 S.2875 (187)

• Gegen die Einschränkung des Werkvertrags Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Dr. jur. Frank Hennecke, Blickpunkt Dienstleistung 09/2016 (184)

• Auch ohne Blick in die Ferne: Externe - ein Leitfaden für den Einsatz von Fremdpersonal im eigenen Unternehmen Rechtsanwältin Silke Becker und Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Betriebsberater 2016 S. 2229ff. (183)

• Neue Abgrenzung von Arbeitnehmerüberlassung und Werkvertrag? Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Rechtsanwalt Christian Andorfer Betriebsberater 2016 1909 ff.. (181)

• Fremdpersonaleinsatz: Man merkt die Absicht, und man ist verstimmt! Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Janine Geißer, Betriebsberater, Heft 31/2014 (144)*

• Abgrenzung von Werkverträgen und Arbeitnehmerüberlassung durch den Zoll Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Der Steuerberater, Heft 7/2014 (145)

129

• Werkverträge unter dem Zeichen der großen Koalition Mathias Hick, Fleischmagazin 05/2014 S. 18 (133)

• Zu den Vorstellungen der SPD zur Eingrenzung von Werkverträgen Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Matthias Hick, Blickpunkt Dienstleistung 05/2014 (141)

• Neuregelung in Sicht? Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Econo Rhein-Neckar, Heft 4/2014 (148)

• Eine Lanze für den Werkvertrag Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Michael Rothenhöfer, Betriebsberater, Heft 1/2 2013 (114)*

• Die Wandlung der Rechtsprechung bei der Abgrenzung von Werkverträgen und Arbeitnehmerüberlassung Teil 1 bis 10 Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Christian Andorfer und Michael Rothenhöfer, Blickpunkt Dienstleistung, Heft 01/2013 bis Heft 11/2013

2. EU-Recht

• Zur Bindungswirkung der Entsendebescheinigungen: Auch das Geschäftsmodell der ausländischen Arbeitgeber wird bescheinigt, Dr. Frank Hennecke, NZWiSt 10/ 2017 (197)

• Was bescheinigt die E-101-Bescheinigung? Dr. Frank Hennecke, Blickpunkt Dienstleistung, 08/ 2017 (193)

• Deutsches Arbeitsrecht im Ausland: Wirken die §§ 9, 10 AÜG grenzüberschreitend? (Teil I + II) Dr. Frank Hennecke, ZESAR 2/2017, S. 63-68 3/2017, S. 117-125 (190)

• Ausschluss der Auswirkungen der §§ 9 Nr. 1 und 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG auf ausländische Arbeitsverträge bei Einsatz ausländischer Arbeitnehmer in Deutschland aufgrund Art. 9 Rom I-VO Rechtsanwalt Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Christian Andorfer, EWS 06/2016, S. 328-339 (188)

• Gegenwind aus Brüssel für geplante Einschränkungen des Werkvertrags? Rechtsanwalt Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Christian Andorfer, Fleischmagazin 06/2015 (162)

• EWS Kommentar EuGH Urteil vom 18.06. 2015 – Rs. C-58613 Martin Meat Rechtsanwalt Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Christian Andorfer, EWS 04/2015 (163)

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• Empörung bei der Generalanwältin Sharpston w. der Nichtvorlage eines Verfahrens an den EuGH Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Janine Geißer, Blickpunkt Dienstleistung 03/2015 (158)

• EuGH zu den Lohnbestandteilen des Mindestlohns nach der Entsenderichtlinie 96/71/EG Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Janine Geißer, Blickpunkt Dienstleistung 03/2015 (155)

• Rechtlich bedenkliche Mindestlohnjagd auf den Transitverkehr durch Deutschland Rechtsanwalt Michael Rothenhöfer, Blickpunkt Dienstleistung 02/2015 (154)

• "Missbrauch von Werkverträgen": Rechnung ohne den Wirt! Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Janine Geißer und Alexander Seeger, Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht, Heft 1/2014 (136)*

• Umfassende Bindungswirkung auch bei Werkverträgen - EuGH zu Entsendebescheinigungen Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Janine Geißer , Arbeit und Arbeitsrecht 02/2014 (140)

• Interview mit Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal Steuerberater Magazin, Heft 5/2014 (135)

• Die vielfach bewusst übersehene Bedeutung der EuGH-Entscheidung “Herbosch Kiere” Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Blickpunkt Dienstleistung, Heft 11/2012 (112)

3. Verfassungsrecht

• Ein Ende der Verjährung - Zur Verfassungsmäßigkeit des "Gesetzes zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung“ Dr. Frank Hennecke, Neue Zeitschruft für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht (NZWiSt) 4/2018 (200)

• Weitreichende Sanktionslücken auch im Arbeitsrecht durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21.09.2017 ? Dr. Frank Hennecke, Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht (NZWiSt), 10/2017 (196)

• Ist auch das neue Arbeitnehmerüberlassungsgesetz trotz „Festhalteerklärung“ verfassungswidrig?, Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Dr. Frank Hennecke, Betriebsberater 2017 S. 1652 ff. (192)

• Berechtigte Zweifel an der Verfassungskonformität der Rechtsfolgen der §§ 9 Nr. 1 und 10 Abs. S. 1 AÜG. Kommentar zum Urteil des BAG vom 20.01.2016 7 AZR 535/13

131

Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Rechtsanwalt Christian Andorfer, Betriebsberater 2016 S. 1850 ff. (180)

• Zur Verfassungswidrigkeit der bisherigen §§ 9 Nr. 1 u. 10 Abs. 1 Satz 1 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Janine Geißer und Dr. Frank Hennecke, AWZ Schriftenreihe (Nr. 168)

• Werkvertrag: Fiktion, Vermutung und Verfassung Dr. Frank Hennecke und Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Betriebsberater Heft 21/2015 (159)

4. Strafrecht

• Arbeitsrecht und Bußgeld. Der Tatbestand von § 16 Absatz 1 Nr. 1 des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes: Voraussetzungen, Reichweite und Grenzen Rechtsanwalt Professor Dr. Hansjürgen Tuengerthal / Ltd. Ministerialrat a. D. Dr. Frank Hennecke, Mannheim 2018 (202)

• Sonderdruck aus Handbuch Arbeitsstrafrecht von Ignor/Mosbacher, Boorberg Verlag 2016, § 7 Illegale Arbeitnehmerentsendung Rechtsanwälte Christian Andorfer und Michael Rothenhöfer (171)

• Straffreiheit für Altfälle unerlaubter Beschäftigung von Unionsbürgern! - Eine Entgegnung auf Mosbacher, NStZ 2015, 255f. - Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Michael Rothenhöfer und Dr. Frank Hennecke, NZWiSt 12/2015 (169)

• Wenn der Zoll kommt! Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Compliance Berater, Heft 12/2015 (165)

• Die Strafbarkeit von Altfällen illegaler Beschäftigung von Rumänen und Bulgaren im Licht des Europarechts Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Michael Rothenhöfer, Wistra, Heft 11/2014 (150)

• Zur seltsamen Vernachlässigung der Rechtsfolgen des § 2 Abs 3 StGB im Rahmen der Entwicklung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im EU-Recht Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Janine Geißer, Neue Zeitschrift für Wirtschafts-, Steuer- und Unternehmensstrafrecht, Heft 11/2014 (151)

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5. Sozialversicherungsrecht

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• Anspruch der Sozialversicherungsträger in Deutschland bei der Fiktion eines Arbeitsverhältnisses Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Janine Geißer, Betriebsberater Heft 47/2014 (149)

6. Zeitarbeit

• Das “NORMAL-Arbeitsverhältnis” in der digitalen Welt - Aufgabe des tradierten Konzepts der Berufe? Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Erhard’s Erben , Heft 1 10/2016 (185)

• Die Änderungen im Überblick - Die Änderungen in § 8 Abs. 3 AEntG und die Auswirkungen auf die Zeitarbeitsbranche Rechtsanwalt Michael Rothenhöfer und Rechtsanwalt, Christian Andorfer, Blickpunkt Dienstleistung 02/2015 (153)

• Arbeitnehmerüberlassung - 18 Monate “vorübergehend” geklärt? Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Betriebsberater, Heft 4/2015 (152)

• Zwei Fliegen mit einer Klappe - Warum Zeitarbeit für den Mittelstand sinnvoll ist Pof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Rechtsanwalt Michael Rothenhöfer, Der Mittelstand 03/2013 (117)

• Schwierige Zeiten für Zeitarbeitsunternehmen Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal und Rechtsanwalt Christian Andorfer Blickpunkt Dienstleistung 05/2011 (106)

. Das neue Arbeitnehmerüberlassungsgesetz. Zur Rechtslage nach der Neufassung von §§ 1 Absatz 1, 9 Absatz 1 Nr. 1, 1a, 2 AÜG durch das Änderungsgesetz vom 21. Februar 2017. Problemlösungen für die Praxis Dr. Frank Hennecke, Mannheim 2018 (199)

7. Mindestlohn

• Mindestlohn bei der Logistik Prof. Dr. Hansjürgen Tuengerthal, Betriebsberater, Heft 49/2015 (167)

• Die Mindestlöhne in der Fleischwirtschaft Rechtsanwalt Christian Andorfer und Michael Rothenhöfer, Blickpunkt Dienstleistung 05/2015 (160)

• Mindestlohn: Fallstricke in der Praxis vermeiden Rechtsanwalt Christian Andorfer und Michael Rothenhöfer, Fleischwirtschaft 06/2015 (161)

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• Die Mindestlöhne im Gebäudereinigerhandwerk RA Michael Rothenhöfer und RA Christian Andorfer, Blickpunkt Dienstleistung 04/2015 (157)

• Die Mindestlöhne im Baunebengewerbe Rechtsanwalt Michael Rothenhöfer und Rechtsanwalt, Christian Andorfer Blickpunkt Dienstleistung 03/2015 (156)

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