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Sendung vom 11.2.2010, 20.15 Uhr

Ernst Elitz Gründungsintendant im Gespräch mit Dr. Wolf-Dieter Peter

Peter: Willkommen bei alpha-Forum, heute mit einem Gast, der all das, was ich hier in dieser Sendung mache, über 40 Jahre hinweg sehr, sehr viel besser gemacht hat und wahrscheinlich auch heute noch besser könnte. Willkommen bei alpha-Forum, Ernst Elitz. Sie waren Gründungsintendant des Deutschlandradios, davor haben Sie die Sendung "Kennzeichen D" gemacht, waren beim "Spiegel" usw. Diese Phase Ihres Lebens ist aber nun vorbei seit einiger Zeit. Sie waren bereits einmal Gast bei alpha-Forum: In dieser Sendung damals wurde speziell über Ihre journalistische Arbeit und Karriere gesprochen. Heute jedoch wollen wir an den Anfang etwas anderes stellen. Denn da ist ein Buch von Ihnen erschienen mit dem Titel "Ich bleib dann mal hier. Eine deutsche Heimatkunde." Das ist ein Titel, der auf eine ganz andere Mentalität und auf einen ganz anderen Erfolgstitel anspielt, nämlich auf das Buch "Ich bin dann mal weg" von . Elitz: Ich meinte einfach, dass es auch hier in Deutschland Interessantes zu tun, zu sehen und zu analysieren gibt. Dieser Trend, der deutschen Wirklichkeit zu entfliehen und sich auf irgendwelche Pilgerwege zu begeben oder sich auf Mallorca anzusiedeln, ist doch eigentlich ein bisschen langweilig geworden, denn das macht inzwischen jeder: Das ist heute Mainstream. Deshalb dachte ich, ich sollte mal die deutsche Wirklichkeit betrachten: was mir daran nicht gefällt, was vielleicht auch anderen nicht gefällt. Ich will dadurch andere dazu ermuntern, das, worüber man sich ärgert, auch zu verändern. Peter: Ich hatte bei der Lektüre so ein bisschen den Eindruck, damit eine Chronik des fortlaufenden Schwachsinns zu lesen. Da ist Kritik enthalten, aber schon auch ein bisschen Ironie und Ihr Vorschlag, nicht alle Dinge permanent gut deutsch, nämlich tief ernst zu nehmen. Elitz: Man sollte die Dinge nur so ernst nehmen, wie sie es verdienen – und die meisten Dinge verdienen es, wenn es nicht gerade existenzielle Fragen sind, doch wirklich nur zu 50 oder 60 Prozent ernst genommen zu werden. Das andere sollte man wirklich eher mit dem gnädigen Mantel der Ironie bedecken. Peter: Zählen Sie doch mal ein paar der Dinge auf, von denen Sie meinen, dass sie nicht so ernst zu nehmen wären, die aber in der Öffentlichkeit derzeit eine große Rolle spielen. Elitz: Lächerlich ist es z. B., von welchen Zahlenmengen man heute umgeben ist. Wenn ich an meinen PC will, brauche ich schon mal ein paar Ziffern als Kennwort, wenn ich mein Handy einschalte, muss ich es ebenfalls erst mit einer Ziffernfolge entsperren. Beim Finanzamt habe ich eine eigene Ziffer usw. usf.: Wo auch immer ich … Peter: Mittlerweile gibt es sogar die ganz neue Personalidentifikationsnummer. Elitz: Ja, die gibt es inzwischen auch. Ich glaube, unser Dezimalsystem ist diesbezüglich bald ausgeschöpft. Deswegen geht man ja wohl mittlerweile dazu über, da auch Buchstaben einzubinden. Mit dieser Verbindung aus unserem Alphabet und unserem Dezimalsystem kann man dann jeden einzelnen von diesen Milliarden von Menschen mit einer Identifikationsnummer versehen. Das bewegt uns also täglich und es nervt uns aber auch täglich, wenn man z. B. die benötigten Ziffern gerade mal nicht dabei hat. Wohl nur noch die Stadtstreicher, die in der Ecke stehen und ihre Flasche Korn in der Hand haben, sind wirklich frei: Die haben keine Nummer. Peter: Sie kommen ohne diese Nummern aus, mehr oder weniger. Elitz: Ja, mehr oder weniger, wahrscheinlich eher weniger. Aber ansonsten sind wir Menschen heutzutage jedenfalls umgeben von Nummern. Und darüber hinaus sind wir einerseits von Verboten umgeben und andererseits von einem Freundlichkeitsterror. Denn überall wird von dieser Freundlichkeit gesprochen: von der autofreundlichen Stadt, wir sind kinderfreundlich, wir sind seniorenfreundlich, alles muss benutzerfreundlich sein. Wenn man sich das aber mal genauer anguckt, wenn man mal meinetwegen nur eine Dose aufmachen will, dann ist sie meistens so "benutzerfreundlich", dass man sich sofort in den Finger schneidet. Peter: Man nestelt auch immer irgendwo an irgendwelchen Plastikpackungen herum … Elitz: Ja, man könnte verzweifeln, wenn man manche Plastikverpackungen öffnen möchte. Und wenn man sie dann endlich geöffnet hat, dann fällt der Reis, der darin war, auch prompt Körnchen für Körnchen auf den Fußboden. Peter: Lassen Sie uns ein paar Themen aus Ihrem Buch benennen, die ernst zu nehmen sind. Was sehen Sie denn als ernstes Problem? Elitz: Als ernstes Problem sehe ich diese mangelnde Neigung der Politik, einmal gegebene Versprechen auch tatsächlich zu halten. Es gibt in Köln von Tünnes und Schäl das schöne, treffende Wort: "Eins geht nur, versprechen oder halten!" Und daran scheint sich die Politik nicht nur bei der letzten Bundestagswahl, sondern bei allen Wahlen zu halten: Es wird versprochen und es wird nicht gehalten. Das Schlimme ist, die Bevölkerung weiß das bereits, denn alle gehen davon aus, dass das, was einem die Politiker vor der Wahl erzählen, sowieso nicht eintrifft. Da das so ist, könnte man das doch auch lassen! Und lächerlich ist auch diese ständige Orientierung der Politik an Meinungsumfragen. Dadurch nimmt die Politik sich selbst den Mut, Dinge durchzusetzen, die für die Zukunft nötig sind. Bei den Meinungsumfragen geben ja nur diejenigen eine Antwort, die heute leben, die heute besser leben wollen. Aber diejenigen, auf deren Schultern unser gutes Leben letztendlich lasten wird, nämlich die Kinder, werden in diese Meinungsumfragen nicht einbezogen. Die Politik wird also reduziert auf die jetzige Generation: Dieser versucht man, Honig ums Maul zu schmieren und ihnen ein besseres Leben zu gewährleisten – aber immer nur auf Kosten der anderen, der kommenden Generationen. Wenn man die Menschen der heutigen Generation direkt danach befragt, dann sagen sie selbstverständlich, dass auch sie das so nicht wollen. Aber wenn es dann um das eigene Wohlergehen geht, dann plädieren alle immer dafür, selbst 100 Euro mehr auf der Kante haben zu wollen. Peter: Sie haben soeben auch die Mediendemokratie angesprochen: Heute spielt das Image, das man hat, eine ganz große Rolle. Genau das ist ja auch Thema in Ihrer Bestandsaufnahme. Elitz: Ja, es gibt einfach diesen Terror der Intimität. Auch der Politiker versucht, indem er Persönliches, Privates von sich preisgibt, die Menschen, die Wähler für sich zu gewinnen. Das mag ja richtig sein, denn auch ich möchte, wenn ich jemandem vertrauen soll, wissen, wie derjenige lebt und ob er sich auch an das hält, was er anderen empfiehlt. Das scheint mir tatsächlich eine ganz wichtige Sache zu sein. Wenn man als Politiker immer wieder das eigene christliche Weltbild präsentiert, dann muss man auch zulassen, dass überprüft wird, ob man tatsächlich gemäß diesem christlichen Weltbild lebt. Wenn man als Politiker die Allgemeinheit dazu auffordert, keine Putzfrau zu beschäftigen, die illegal in Deutschland ist, dann ist es selbstverständlich berichtenswert, wenn sich herausstellt, dass dieser Politiker zwar nicht die Putzfrau, aber doch einen Gärtner ohne Arbeitsvertrag eingestellt hat, der ihm Tag für Tag den Rasen mäht und die Hecken schneidet. Insoweit halte ich also die Tyrannei der Intimität für gar nicht so schlecht. Wer sich einmal in die Öffentlichkeit begibt und dort Positionen vertritt, der muss sich befragen lassen, ob er diese Positionen auch zum Maßstab des eigenen praktischen Lebens macht. Das gilt auch für Künstler. Es gibt vom Vorstandsvorsitzenden des Springer Verlags das schöne Wort: "Wer sich der Boulevardpresse offenbart und mit 'Bild' im Paternoster nach oben fährt, der fährt dann auch mit diesem Paternoster wieder nach unten." Wer also zuerst voller Stolz in der Boulevardpresse die neue Geliebte präsentiert und damit Werbung für sich selbst macht, der muss es sich dann auch gefallen lassen, dass man zeigt, wie sie ihm gerade wegläuft. Peter: Wir sollten auch noch die Gefahr ansprechen, dass die Oberfläche mehr zählt als der Inhalt dahinter: Wenn das Medienimage stimmt, dann muss eventuell gar nicht mehr sehr viel an Inhalt dahinterstehen. Elitz: Wir reden beim PC ja auch von der "benutzerfreundlichen Oberfläche", d. h. es geht zuerst einmal immer um die Oberfläche. Und wem es gelingt, an der Oberfläche einen guten Eindruck zu machen, der hat zuerst einmal die besseren Chancen. Das ist ja auch bei jedem Bewerbungsgespräch so, obwohl oft nicht viel Substanz dahinter steckt bei so jemandem. Aber das Schöne ist, dass das meistens doch herauskommt, meistens sogar sehr, sehr schnell herauskommt. Und dann wundern sich die Leute immer darüber: Erst steigen die Zustimmungsquoten und auf einmal sinken sie rapide ab, weil man hinter der Oberfläche den Menschen kennengelernt hat. Das ist ja auch o.k. so. Die Medien haben hierbei die wichtige Aufgabe, diese Oberfläche genau zu durchleuchten, immer wieder den Vorhang etwas beiseite zu schieben, um einen Blick auf das Wirkliche einer Person werfen zu können. Peter: Wir sollten auch noch über den Journalismus und die heutigen Anforderungen an den Journalismus sprechen. Wir treffen uns heute zu einem Zeitpunkt im Studio, an dem zwei wichtige Daten Jahrestage feiern: 20 Jahre Mauerfall und 60 Jahre Grundgesetz. Sie, Herr Elitz, haben die Geschichte, die hinter diesen beiden Daten steht, immer sehr, sehr intensiv und kritisch begleitet: Sie waren vor allem mit Ihrer Sendung "Kennzeichen D" ein Mann, der sehr, sehr oft in die DDR bzw. in die heutigen neuen Bundesländer gereist ist. Wenn wir hier mal ein bisschen ernsthafte Bilanz ziehen: Wo stehen wir da Ihrer Meinung nach? Elitz: Es wird ja häufig darüber geklagt, dass die Bayern, dass die Westdeutschen überhaupt noch nicht alle in Sachsen gewesen sind, dafür aber mehr Sachsen z. B. nach Bayern gekommen sind. Man folgt bei solchen Dingen einfach der ganz persönlichen Neugier. In Berlin heißt es immer, dass diejenigen, die aus Westberlin stammen, nie in den Ostteil der Stadt fahren. Ich selbst bin in Berlin aufgewachsen und weiß daher, dass man in einer so großen Stadt – und auch in einem so großen Land wie Deutschland – eben seine Bezugspunkte hat und braucht. Man fährt daher nicht einfach so in andere Gegenden, um sie sich mal anzugucken. Das macht man wenn, dann nur sehr selten. So viel Zeit hat man ja auch gar nicht. Aber es kommt doch darauf an, dass die Menschen gegenseitig etwas erfahren voneinander. Hierbei spielen natürlich die Medien eine ganz wichtige Rolle. Beim Deutschlandradio, das ich ja 15 Jahre lang leiten durfte, hatten wir es uns zum Prinzip gemacht, die Neugier zu befriedigen, die Fragen, die die Westdeutschen, die Süddeutschen an die Bürger in den neuen Bundesländern hatten, zu beantworten – und umgekehrt selbstverständlich ebenso. Das ist die große Aufgabe der Medien, wie ich meine: Fragen zu beantworten, Neugier zu befriedigen und Dinge zu erklären. Das Erklären ist ein ganz wichtiges Prinzip, dem die Medien folgen müssen. Peter: Was ist bei dieser Entwicklung schiefgelaufen? Elitz: Vielleicht wurden zu viele Erwartungen geweckt. Die Aussage des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl von den nun entstehenden "blühenden Landschaften" in den neuen Bundesländern wurde ja gerne belächelt. Man konnte darüber lächeln, aber wenn man wie ich als Reporter die DDR immer wieder bereist und sie dabei in ihrer tristen Realität gesehen hat, dann sieht man den krassen Unterschied zu heute. Wenn ich heute in die neuen Bundesländer fahre, dann sage ich: Das sind blühende Landschaften! Natürlich ist da auch viel Oberfläche mit dabei, denn die Sanierung eines Hauses oder der Bau einer neuen Autobahn zeigt selbstverständlich nicht die ganze Wirklichkeit. Aber ich empfinde es auch nicht als so dramatisch, wenn heute Menschen aus dem Osten Deutschlands nach München kommen oder nach Düsseldorf oder nach Hamburg ziehen, um sich dort einen Arbeitsplatz zu suchen. Denn die Menschen sind immer schon dorthin gegangen, wo sie eine Chance haben. Insoweit halte ich das also nicht für dramatisch. Es werden sich auch wieder Situationen entwickeln, in denen die Bevölkerungsbewegung in die andere Richtung geht. Wir wollen doch gar nicht, dass jeder an seinem Platz glucken bleibt und sich nicht bewegt. Wir sollten uns vielmehr darüber freuen, wenn die Menschen woanders hingehen. Peter: Ich stimme Ihnen zu, denn es ist sicherlich so, dass auch nach Dresden, nach Leipzig, nach Halle usw. gegangen wird. Wenn man aber von Weimar über die Dörfer meinetwegen nach Bad Frankhausen fährt, um dort das große Tübke-Panorama anzuschauen, dann sieht man schon, dass da etwas nicht mehr in Ordnung ist. Der junge Busfahrer erklärt einem da z. B., dass aus seinem Jahrgang wirklich alle in die westlichen Bundesländer gegangen sind, weil sie nur dort Arbeit gefunden haben. Dass das zu großen Problemen in den Kleinstädten, in den Marktflecken und Dörfern führt, dürfte klar sein. Elitz: Das ist eine schwierige Situation, von der ich aber glaube, dass man sie künstlich nur sehr wenig verändern wird. Wir haben einfach nicht mehr so viele Produktionsbetriebe und wir können auch nicht überall eine neue Verwaltung hinsetzen. So beschwerlich das für den Einzelnen auch sein mag – das muss man, wie ich glaube, hinnehmen. Natürlich muss man sich auch im Osten Deutschlands darum bemühen, industrielle Arbeitsplätze zu schaffen, Arbeitsplätze in der Hochtechnologie usw. Es haben sich z. B. rund um die Hochschulen und Universitäten in den neuen Bundesländern sehr wohl derartige Zentren und Technikparks gebildet, z. B. in Frankfurt an der Oder. Dort sind junge Unternehmen entstanden, die etwas tun und die dann natürlich auch die Atmosphäre in der Region beeinflussen. Aber das kann nur schrittweise passieren, das kann nicht durch eine Anordnung und nicht durch einen Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Länder geschehen, denn es wird nicht so kommen, dass alleine durch dessen Arbeit auf einmal das kollektive Arbeitsplatzglück ausbricht. Nein, das ist einfach ein mühseliger Prozess. Aber ich kenne viele, die dann aus dem Westen in die neuen Bundesländer gegangen sind, um dort zu arbeiten, um dort ihre Chancen zu nutzen. Ich glaube, das wird sich im Laufe der Zeit doch austarieren. Peter: Lassen Sie mich zum Thema "Aufarbeitung der Stasi" kommen. Es gibt ja einige, die behaupten, dass es damit nach 20 Jahren nun genug sein muss. Wie stehen Sie zu diesem Thema? Sie hatten ja selbst genügend mit der Stasi zu tun, denn Sie sind über lange Zeit ebenfalls überwacht worden. Elitz: Ich kann gut nachvollziehen, dass jeder Bürger der ehemaligen DDR heute wissen möchte, ob die eigenen Freunde wirkliche Freunde gewesen sind. Es ist klar, dass es immer wieder zu neuen Belastungen führt, wenn sich herausstellt, dass man aus der eigenen Umgebung bespitzelt worden ist, und zwar von Leuten, von denen man meinte, man könnte ihnen vertrauen, man könnte ihnen alles anvertrauen. Andererseits ist es aber auch so, dass man, wenn man mal einen Blick in diese Stasi-Akten wirft, feststellt, wie viel Unsinn, wie viel Wichtigtuerei darin stehen, wie viele Nebensächlichkeiten abgehandelt werden. Und man stellt fest, dass viele der Aufzeichnungen auch schlicht falsch sind. Ich kann mich z. B. daran erinnern, dass ich mal mit einem Kamerateam einen Besuch in Wittenberg gemacht habe: Da ging es um irgendein Luther-Jubiläum. In den Akten wurde detailliert festgehalten, wo ich wann mit dem Kamerateam gewesen bin. Und auf einmal heißt es in diesen Aufzeichnungen: "Von 12.00 bis 14.00 Uhr wurde das Objekt aus den Augen verloren." Nun ja, es war schlicht so, dass ich in dieser Zeit hätte machen können, was ich wollte, denn da waren diese Jungs von der Stasi beim Futtern. Es finden sich also in den Stasi-Akten auch solche Lächerlichkeiten. Und man wundert sich auch, wenn man auf Kopien von Artikeln stößt, die man in früheren Zeiten noch auf dem Postweg von Berlin meinetwegen nach Bonn zur Zeitungsredaktion geschickt hat. Auch solche Kopien finden sich zuhauf in den Unterlagen. Ein weiteres Beispiel ist folgende Geschichte. Ich habe ja früher selbst in Ostberlin gelebt und dort auch noch das Abitur gemacht, bevor ich dann nach Westberlin gezogen bin. Peter: Ein kleiner Einschub: Sie mussten dann in Westberlin noch einmal Abitur machen. Elitz: Ja, man musste dann in Westberlin noch einmal das Gymnasium besuchen, aber selbstverständlich nicht die ganzen neun Jahre, das ist ja klar. In den Stasi-Akten ging man z. B. immer davon aus, dass ich ein strenggläubiger Protestant sei, was aber definitiv nicht stimmte. Ich war stattdessen in der katholischen Jugendbewegung aktiv. Es sind z. T. schon unglaubliche Lächerlichkeiten, die sich in den Stasi-Akten finden. Aus diesem Grund ahnt man, dass auch vieles andere in diesen Akten falsch sein wird. Und es ist ja auch so, dass bei der Abfassung dieser Berichte übertrieben wurde, weil sich ja auch der jeweilige Stasi-Mann wichtig fühlen und machen wollte. Wenn er das nämlich war, dann hat er einen schönen Ferienplatz bekommen und womöglich eine Belohnung. Also hat er die "Gefährlichkeit" einzelner Personen sicherlich übertrieben. Peter: Kommen wir nun auf Ihren speziellen Arbeitsbereich zu sprechen. Wie haben Sie das gehandhabt, als Sie das Deutschlandradio gegründet haben und dabei ja einen Teil der Mitarbeiter von DS Kultur und damit eine ganze Reihe von akzeptierten und arrivierten Journalisten aus der ehemaligen DDR übernommen haben? Elitz: Wir haben damals zusammen mit dem "RIAS", dem "" und "DS Kultur" das "Deutschlandradio Kultur" gegründet. "DS Kultur", also "der Deutschlandsender Kultur" hatte sich in der Wendezeit gebildet, und zwar vom Runden Tisch aus und u. a. mit der Intention, dass man auch von Ostberlin aus einen nationalen Sender haben wollte. Das waren Kollegen, die vorher in der DDR im Kulturbereich tätig gewesen waren: Sie waren für Musik, Theater, Literatur usw. zuständig gewesen. Das waren daher keine politischen Propagandisten, denn diese waren bereits vorher ausgemacht worden und dann schon nicht mehr in dem Teil des DDR-Rundfunks tätig, den wir übernommen haben. Wenn man Rundfunksender zusammenlegt, ist ja das Schöne dabei, dass dann jeden Tag 24 Stunden lang gesendet werden muss. Wenn 24 Stunden lang gesendet wird, wenn jede Minute auch gleichzeitig Redaktionsschluss ist, dann bleibt gar nicht so viel Zeit, um Intrigen zu spinnen, um sich gegenseitig ein Bein zu stellen. Dazu ist der Arbeitsdruck einfach zu hoch, dazu hat man keine Zeit, wenn man ständig Leistung erbringen muss. Wir mussten damals ja auch wirklich vollkommen neue Programme aufstellen. Durch die Arbeit sind die Menschen dann zusammengewachsen. Da konnte man auch sehr schnell Vorurteile abbauen, weil man dem anderen auf einer kollegialen und professionellen Ebene begegnete. Das war ein großer Vorteil, denn man saß da eben nicht einsam irgendwo in der Hütte und pflegte seine Vorurteile, sondern man musste ran, man musste mit anderen zusammen ran, um gemeinsam etwas auf die Beine stellen zu können. Peter: Ich denke, es war Ihnen auch durchaus recht, dass da unterschiedliche Gewichtungen gepflegt und Sichtweisen formuliert wurden. Elitz: Ja, genau, denn unterschiedliche Sichtweisen sind ja für jede Redaktion wichtig. Wenn alle nur in eine Richtung denken, dann wird das Programm ziemlich langweilig. Peter: Das heißt, das ist kein Westsender, der da entstanden ist. Elitz: Genau, da ist ein neuer nationaler Sender entstanden, der Ost und West integriert. Und deswegen war es auch wichtig, dass man Journalisten aus allen Teilen Deutschlands mit dabei hatte. Das war sehr hilfreich, denn auf diese Weise haben die Hörer in Ost und West gespürt: "Das sind Menschen, die genau das wissen wollen, was auch mich schon die ganze Zeit über bewegt." Diese Neugier hat unser Programm geprägt. Peter: In diesem Bereich sind Sie ja nach wie vor ausbildend und unterrichtend tätig, was wiederum auch in Ihrem Buch eine Rolle spielt. Deswegen würde ich jetzt gerne mit Ihnen als erfahrenem Journalisten über die Entwicklung im Journalismus sprechen. Ich habe mich beim Lesen an ein Buch erinnert, das in Deutschland 1985 erschienen ist, nämlich an das Buch "Wir amüsieren uns zu Tode" von Neil Postman. Sehen Sie da Vergleichbares? Elitz: Nun, Amüsement, Vergnügen, Unterhaltung usw. gehören zum menschlichen Leben. Man kann sich nicht immer nur tiefsinnig mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und philosophischen Texten beschäftigen und sich im Fernsehen immer nur das Elend der Welt, das ja in der Tat schlimm genug ist, in Dokumentationen betrachten. Nein, man braucht auch Phasen der Entspannung. Diese braucht man allerdings in jedem Mediensystem. Die braucht man auch in einer Zeitung: Selbst die seriösen, klassischen Tageszeitungen bieten heute eine Seite, auf der unterhaltende und eher oberflächliche Themen abgehandelt werden, auf der es um Lifestyle geht, aber auch um Dinge, über die man sich amüsieren kann. Peter: Wir wollen hier natürlich die Koch-Seiten nicht vergessen. Elitz: Nein, auf keinen Fall, ebenso wenig wie die vielen neuen Kochsendungen. Das alles gehört einfach zum menschlichen Leben mit dazu. Bedauerlich ist aber, und das können die Medien von sich aus nicht ändern, dass viele Menschen vor allem im Fernsehen eine Art "Unterhaltungsslalom" betreiben: Sie wechseln mit der Fernbedienung von einem Programm ins nächste Programm, um sich ausschließlich auf eine oberflächliche Art unterhalten zu lassen. Wenn es mal irgendwo in einem Programm ernsthaft wird oder wenn sie tiefer nachdenken müssten, sind sie mittels dieser Fernbedienung weg, dann haben sie sich in einen anderen Kanal gezappt. Deshalb gilt für das Fernsehen: Man muss anschaulich sprechen und abbilden, man muss immer wieder neue Reize für den Intellekt und nicht nur vordergründige Reize aussenden, damit die Leute dabei bleiben, damit man sie nicht an ein anderes Programm verliert. Das ist die große Kunst und die große Aufgabe, die die Medien heute haben: Sie müssen auch ernsthafte Inhalte in einer Form darbieten, dass der Zuschauer nicht verschwindet, dass er nicht ins seichte Gewässer abwandert. Und dazu gehört nun einmal, dass man dem Zuschauer ordentlich was bieten muss: Man muss ihn ansprechen, man muss seine Neugier befriedigen, man muss ihn mit neuen Reizen ausstatten. Peter: Nimmt aber andererseits im Fernsehen nicht auch die Vermüllung zu, speziell seit der Zulassung und Etablierung der privaten Sender? Elitz: Was dort gesendet wird, ist zum Weglaufen. Aber viele Leute laufen eben bedauerlicherweise nicht weg von diesen Sendern, und vor allem Jugendliche laufen da nicht davon. Auch am PC nutzen vor allem Jugendliche nicht gerade die Internetseiten des Bayerischen Rundfunks oder der ARD oder vom ZDF, sondern wenden sich den Angeboten z. B. von RTL zu und von Sendern, die RTL und RTL 2 noch weit unterbieten. Das ist aber eine Frage der Erziehung. Die Medien können die Welt nicht erziehen. Was Karl Marx nicht gelungen ist und was den Pastoren über viele Generationen nicht gelungen ist, nämlich den besseren Menschen zu erziehen, das gelingt auch dem Journalisten und dem Fernsehen nicht. Das passiert zu Hause: Zu Hause wird die Wahrnehmung der Welt geprägt und zu Hause wird geprägt, was man im Fernsehen ansieht. Die Prägung zu Hause läuft auch darüber ab, welche Zeitung auf dem Küchentisch liegt und ob überhaupt eine dort liegt, ob es Bücher im Regal gibt oder nicht usw. Die Schulen und die Pädagogen, die ja immerzu getadelt werden, sie würden die Menschen nicht richtig erziehen, sind hier machtlos, denn die ursprüngliche Erziehungsaufgabe liegt nun einmal bei den Eltern. Der beste Lehrer in der Schule kann die Kinder nicht gegen deren Eltern erziehen. Er kann nur das fortsetzen, was die Eltern angelegt haben, er kann etwas aufnehmen, er kann fördern, er kann sozusagen eine Knospe zum Erblühen bringen. Aber dass er es überhaupt mit einer Knospe zu tun bekommt oder eben nicht, liegt an den Eltern. Peter: Muss die "Knospenpflege", die "Blüten- und Blumenpflege" nicht doch auch vom Journalismus weiter fortgesetzt werden? Elitz: Ja, der Journalismus muss das fortsetzen. Er muss diese Interessen aufnehmen und sich jedem Einzelnen widmen. Insoweit halte ich es daher auch wiederum für gut, dass es für jede einzelne Zielgruppe eine solche Vielzahl von Angeboten in den Medien gibt. Wenn man sich heute z. B. mal in einem Bahnhofskiosk umsieht, dann sieht man, dass es wirklich an die Tausend verschiedene Zeitschriften gibt, die sich unterschiedlichsten Spezialgebieten widmen. Der Einzelne findet also für seine spezifischen Interessen auch ein Angebot. Und im Fernsehen ist das genauso – auch wenn die Menschen im Fernsehen nicht immer das wählen, was wir uns aufgrund unserer Interessenlage wünschen würden. Klar ist jedenfalls, dass jeder irgendwie auf seine Kosten kommt. Das ist gut. Aber innerhalb dieser Zielgruppenprogramme darf man nicht nur der Bauchredner des jeweiligen Publikums sein, sondern man muss schon auch immer neue Akzente setzen. Und man muss den Einzelnen immer wieder dazu bringen, einen Tick weiter zu denken, um eine neue Einsicht gewinnen zu können. Medien haben die Aufgabe des Erklärens! Auch Boulevardmedien sind Erklär- Medien: Sie erklären auf eine einfache Art und Weise, was in der Welt vor sich geht und wie man damit umzugehen hat. Peter: Das ist eine Gratwanderung, die sich in Ihren sonstigen Veröffentlichungen, aber auch hier in diesem Buch wiederfindet. Sie sagen einerseits, Journalisten sind keine Missionare und eine Rundfunkanstalt ist keine Missionsstation. Aber andererseits müssen wir Journalisten doch andauernd versuchen, diese halbe Treppe mehr an Herausforderungen, an Anforderungen zu stellen und sagen: "Leute, es ist nicht alles Spaß, es ist nicht alles leicht, es erschließt sich nicht alles auf den ersten Blick oder in nur einem Satz. Nein, jetzt ist mal Konzentration, Einlassung und Vertiefung gefordert. Das ist anstrengend und macht jetzt vielleicht keinen Spaß." Wie sehen Sie das? Elitz: Die Leute müssen in der Lage sein, Anstrengungen zu bestehen und Herausforderungen anzunehmen. Wir wiederum als Journalisten müssen genau das in unseren Sendungen und Zeitungen bieten. Wir müssen das also anbieten, aber wir können niemanden dazu zwingen. Dass diese Herausforderungen angenommen werden, ist eine Frage des sozialen Umfelds und ist wiederum eine Frage des Elternhauses. Das soziale Umfeld ist wirklich ganz wichtig. Es gibt bei uns doch ständig Reformen und Veränderungen im Bildungssystem: Da gibt es die Gesamtschule, die Ganztagsschule, die Verkürzung der Gymnasialzeit usw. usf. Da ich ja in den unterschiedlichsten Gegenden Deutschlands gelebt habe, bin ich zu der festen Überzeugung gekommen, dass in Baden-Württemberg und in Bayern jedes Schulsystem funktioniert. Warum? Weil das soziale Umfeld ein anderes ist. Auch die soziale Kontrolle ist eine andere. Auch die soziale Kontrolle, die uns selbstverständlich auch nerven kann, spielt eine große Rolle. In städtischen Regionen, in Großstädten, in denen es eine solche soziale Kontrolle nicht gibt, wo man nicht auf den anderen achtet … Peter: … und wo auch meistens beide Elternteile arbeiten müssen … Elitz: Ja, wo beide Eltern arbeiten gehen, wo es für die Kinder keine Orientierungspunkte gibt, wo einfach nicht danach geschaut wird, was sie am Nachmittag und Abend tun, funktioniert auch das beste Schulsystem nicht. Das soziale Umfeld ist also enorm wichtig. Ich kann mich z. B. an ein Gespräch mit einem Lehrerehepaar aus Baden-Württemberg erinnern, das aus einer Kleinstadt kam. Sie erzählten mir, dass sie eines Tages einer Mutter sagen mussten, dass ihr Kind sitzen bleiben wird. Die Mutter hat daraufhin gesagt: "Dann ziehe ich hier weg!" Denn sie empfand es dem sozialen Umfeld gegenüber als Schande. Genau das war aber, so schwierig das im ersten Moment natürlich ist, ein Ansatzpunkt dafür, dass sich das Elternhaus und die Lehrer gemeinsam darum bemüht haben, dass das Kind eben nicht sitzen bleibt. Aber dazu gehört eben, dass man aufeinander achtet, dass man den Nachbarn kennt und auf ihn achtet. Das ist aber in vielen großstädtischen Umgebungen leider nicht mehr der Fall. Peter: Fehlt es aber andererseits nicht auch an ganz fundamentalen "Banalitäten" in einem reichen Land wie dem unserem? Wenn die Kinder heutzutage in der Tat mit sehr, sehr viel mehr äußeren Reizen als früher aufwachsen, dann müsste man doch z. B. auch kleinere Klassen haben, d. h. man bräuchte sehr viel mehr Lehrer. Man bräuchte sehr viel mehr Nachmittagsbetreuung, damit die Kids eben nicht alleine zu Hause sitzen und parallel zu den Hausaufgaben Fernsehen schauen, wo es z. B. Reklame gibt, die ihnen statt der Mühsal von Addition und Bruchrechnung viele, viele fantastische Dinge ins Hirn nagelt und die in ihnen die Macht der Marken etabliert? Kann es sein, dass wir uns in unserem reichen Land diese Mankos leisten? Heute müssten wir ja auch noch von den Universitäten mit den hoffnungslos überfüllten Hörsälen, den wenigen Praxisplätzen usw. sprechen. Ist das nicht ein Fundamentalproblem, das dieses Land angesichts von Banken- und Firmenrettungen viel zu wenig ins Zentrum rückt? Elitz: Ja, man müsste mal in der Öffentlichkeit die "Schulenrettung" ausschreiben. Die Schule muss zu einer Ganztagsschule werden, um gerade auch denjenigen Kindern eine Chance zu geben, die in ihrem Elternhaus eben nicht auf bestimmte Interessen hingelenkt werden, die also zu Hause nur am PC sitzen würden und z. B. ein Gewaltspiel nach dem anderen spielen. In einer solchen Ganztagsschule muss es auch eine kulturelle und ästhetische Bildung geben. Das wird zwar immer wieder gefordert, aber das wird viel zu selten gemacht. Peter: In Nordrhein-Westfalen gibt es jetzt über die Kulturstiftung des Bundes die Initiative "Jedem Kind ein Instrument". Elitz: Ja, man muss den Kindern wirklich einmal ein Instrument an die Hand geben. Diese ästhetische und kulturelle Bildung darf auch nicht nur so nebenbei als Unterhaltungsprogramm passieren, wenn sich kein Lehrer mehr ernsthaft um die Kinder kümmert und sie dann halt mal wieder irgendein Lied miteinander singen. Nein, auch diese kulturelle und ästhetische Bildung muss ein Pflichtprogramm sein: mit qualifizierten Lehrern und meinetwegen auch unter Einbeziehung von Künstlern, denn den Künstlern kann man das auf keinen Fall alleine überlassen, weil es dafür ein gehöriges Maß an erlernter pädagogischer Sensibilität braucht. Heutzutage wird aber meiner Meinung nach zu viel Gewicht auf diese Lernfächer gelegt, auf das kognitive Wissen, wie das die Pädagogen nennen. Wichtig wäre vielmehr, die Kinder zur Kreativität zu erziehen, zu Einfallsreichtum, Disziplin und Teamarbeit zu erziehen. Genau das sind aber die Dinge, die im Sport und in der Kunst, in der Musik, beim Theaterspielen in der Schule erlernt werden. Genau dort kann man die eigene Persönlichkeit entwickeln. Und wenn man erst einmal eine Persönlichkeit entwickelt hat, dann fällt einem auch das kognitive Lernen z. B. der technisch-mathematischen Fächer oder das Vokabellernen sehr viel leichter, als dann, wenn einem von morgens bis abends nur etwas eingebimst wird. Durch dieses Einbimsen können wir vielleicht – wenn wir Glück haben – kleine "Produktionsmaschinen" hervorbringen, aber erfüllte Menschen werden das nicht. Peter: Stellt das der Journalismus, die Medienszene nicht viel zu wenig heraus? Wird da nicht viel zu wenig scharf kritisiert und werden da nicht zu wenig Anforderungen an die Politik gestellt? Elitz: Ich bin der Meinung, dass Journalisten ihre Positionen sehr hart formulieren müssen, dass sie provozieren müssen, dass sie provokant sein müssen, dass sie den Politiker, den Entscheidungsträger quasi am Schlafittchen packen und ihn so lange schütteln, bis sich etwas verändert. Darüber hinaus ist es auch Aufgabe der Medien, nachhaltigen Journalismus zu betreiben. Peter: Das bedeutet, sich nicht mit der Deklaration von bildungspolitischen Forderungen zufriedenzugeben. Elitz: Genau, der Journalismus muss Woche für Woche, Monat für Monat, Halbjahr für Halbjahr nachfragen, was denn nun aus dem geworden ist, was die Politiker versprochen haben. Das wird dann häufig genug als Kampagnenjournalismus verächtlich gemacht. Aber in meinen Augen ist nur das ein nachhaltiger Journalismus: Man muss dran bleiben, man muss nachfragen, was daraus geworden ist. Man muss darauf drängen, dass diese Versprechen auch eingehalten werden. Und man muss denjenigen öffentlich vorführen, der seine Versprechen nicht hält. Denn wir müssen in der gesamten Bevölkerung einfach die Stimmung haben: "Ich muss zu einer Sache stehen und ich muss sie durchsetzen!" Peter: Damit sind wir nun doch ein bisschen bei der Mission des Journalisten angelangt. Elitz: Ja, aber das ist für mich keine Mission. Wir dürfen keine inhaltliche Mission führen, d. h. ich will die Leute ja nicht zum Christentum erziehen. Der Journalist ist vielmehr ein Mahner, hat also ein Wächteramt inne. Aber er darf die Menschen nicht zu einer bestimmten politischen Position oder zu einer bestimmten Weltanschauung bekehren wollen. Ich will aber darauf drängen, dass es die Aufgabe des Journalismus ist, dass jeder eine klare Position hat, dass er sich mit anderen Positionen auseinandersetzt, dass er notfalls die eigene Position überdenkt. Dazu muss der Journalismus aber auch immer wieder wider den Stachel löcken. Ein guter Kommentar im Fernsehen oder in der Zeitung ist einer, über den sich möglichst viele Leute aufregen. Denn wenn man sich darüber aufregt, beschäftigt man sich damit, dann fühlt man sich entweder in der eigenen Position bestätigt und vertritt sie daher auch in der Öffentlichkeit anderen gegenüber sehr viel intensiver oder so ein Kommentar ist der sprichwörtliche leichte Schlag auf den Hinterkopf, der das Denken anregt. Peter: Kommen wir doch mal zum Stichwort "investigativer Journalismus": Ist das nicht etwas, das zunehmend verfällt bei uns im Land? Wir haben doch viel zu wenige Redaktionen, in denen so ein Kopf sitzt, wie ihn meinetwegen die "Süddeutsche Zeitung" mit Hans Leyendecker pflegt, in denen nachhaltig, intensiv und auch mit aufwendiger langer Recherche Missstände und Fehlentwicklungen aufgedeckt werden? Elitz: Das ist ein Problem der wirtschaftlichen Situation in den Medien. Wir wissen, dass die Zeitungen aufgrund der konjunkturellen Entwicklung weniger Anzeigenerlöse haben. Und weniger Anzeigenerlöse bedeuten, dass die Etats der Redaktionen beschränkt werden müssen. Es wird immer so leicht gesagt, dass dann halt an der Verwaltung gespart werden solle. Aber ein Unternehmen, das keine funktionierende Honorarabteilung mehr hat, würde auch von den Journalisten nicht goutiert werden. Das ist wirklich das entscheidende Problem, denn für investigativen Journalismus braucht man nicht nur gute Leute, sondern auch Zeit. Beim "Spiegel" kann man es sich zuweilen noch leisten, zwei oder drei Leute für meinetwegen ein Vierteljahr auf ein Thema anzusetzen, um diesem wirklich auf den Grund zu gehen, indem es bis ins letzte Detail erforscht wird. Und erst dann, wenn das gemacht ist, tritt man mit dem Ergebnis an die Öffentlichkeit. Das eine Problem ist also, dass in den Medien dafür die personelle und finanzielle Kapazität fehlt. Das andere Problem ist, dass sich aufgrund des harten Konkurrenzkampfs innerhalb der Medien jeder darum bemüht, das, was er hat, möglichst schnell herauszuposaunen. Denn schon am nächsten Tag könnte ein anderer kommen, der das nicht so genau recherchiert hat, aber als Erster dennoch die Lorbeeren erntet und den Erfolg für diese Enthüllung bekommt. Das ist also das Konkurrenzproblem. Peter: Und es gibt noch das Problem der Schnelllebigkeit der Medien. Elitz: Ja, auch die Schnelllebigkeit in der Konkurrenz ist ein Grund dafür, dass man Dinge nicht mehr langfristig, investigativ verfolgt. Peter: Lassen Sie uns jetzt bitte in das für mich negative Kontrabild zum investigativen Journalismus springen. Sie haben das Bundesverdienstkreuz bekommen für Ihre Arbeit auf dem Gebiet des interaktiven Fernsehens: Sie hatten damals in der Sendung "Pro & Contra" den TED, denTele-Dialog eingeführt. Inzwischen hat sich das aber doch in eine ganz andere Richtung weiterentwickelt. Befremdlicherweise hat die BBC in England damit begonnen, Bürger-TV zu machen. Das heißt, man lässt vor Ort von den Bürgern selbst Beiträge machen und nimmt diese dann in die Regionalberichterstattung mit hinein. Wird es also auch bei uns demnächst eine Frau Hinterstobler als die entscheidende Berichterstatterin geben? Elitz: Nein, sie soll sicherlich nicht darüber entscheiden, was andere zu machen haben. Aber sie soll durchaus auch die Möglichkeit haben, ihr eigenes Umfeld und das, was sie interessiert, bildlich darzustellen oder darüber im Radio zu reden. Peter: Wollen Sie das wirklich? Elitz: Ja. Das wird sicherlich nicht das Programmbestimmende sein, aber jeder soll auch die Möglichkeit haben, sich vor anderen zu äußern und die eigene Position öffentlich darzustellen. Das ist, wie ich glaube, für die Gesellschaft sehr wichtig. Sie erinnern sich sicherlich an die große Aufregung, als die "Bild-Zeitung" den "Leserreporter" eingeführt hat. Nun, wer sich im Journalismus etwas auskennt, war über diese Aufregung doch sehr verwundert, denn den Leserreporter gab es eigentlich immer schon. Der Leserreporter hat immer schon die Redaktionen auf etwas aufmerksam gemacht. Früher hat er dazu in der Redaktion angerufen oder einen Brief geschrieben. Und heutzutage hat er, wenn er vor Ort ist, eben auch dort sein Handy mit dabei, mit dem er auch fotografieren kann. Das heißt, er kann das Bild selbst aufnehmen. Von all den großen und erschütternden Ereignissen dieser Welt sind es die Leserreporter gewesen, die die ersten Fotos gemacht haben: Das war am 11. September 2001 in New York so und das war auch neulich so, als die Maschine von Herrn Müntefering auf dem Flughafen von Stuttgart eine Notlandung machen musste. Immer war da zuerst ein Laie mit dabei und hat ein Bild davon gemacht. Den Leser- bzw. Zuschauerreporter als Tippgeber und Nachrichten- und Informationslieferanten gab es also schon immer. Aber wenn die "Bild- Zeitung" so etwas macht, dann regt man sich halt leichter auf darüber, weil das nun einmal ein "Aufreger-Medium" ist. Alle sagten damals: "Leserreporter? Wie furchtbar! Da redet ja jetzt jeder mit!" Aber der Journalist ist doch darauf angewiesen, dass andere ihm etwas erzählen, um daraus dann eine Geschichte machen zu können. Peter: Ja, aber wenn das nun z. B. in die Regionalsendung mit hineingenommen wird: Sehen Sie da nicht auch gefährliche Grenzen? Elitz: Das muss natürlich immer überprüft werden. Alles, was von außen kommt, muss nach journalistischen Kriterien bewertet und überprüft werden: auf Glaubwürdigkeit, auf Plausibilität, auf den Persönlichkeitsschutz usw. Insoweit entlastet diese Art von Leser- oder Zuschauerbeteiligung den Redaktionsetat nicht, wenn man das seriös macht, sondern es belastet ihn eher. Denn wenn man Einsendungen, Beiträge von Laien bekommt, dann muss man das als Journalist natürlich gemäß den eigenen Kriterien überprüfen und gegenchecken. Der Dialog, den man auf diese Weise mit dem Leser, den Zuschauern oder den Zuhörern führt, ist wichtig, weil man dabei als Journalist auf neue Themen stößt und weil man neue Sichtweisen kennenlernt. Aber er ist nicht billiger, sondern teurer, denn man muss alles nach journalistischen Kriterien bearbeiten. Peter: Ich würde mit Ihnen als erfahrenem Journalisten gerne noch über die Quote sprechen. Ist die alles entscheidende Quote nicht etwas Problematisches, Furchtbares, Abschaffenswertes? Elitz: Wir sind ja deswegen Journalisten geworden, damit man uns zuhört. Sonst wären wir doch meinetwegen zum Katasteramt gegangen und hätten dort Karteikarten sortiert. Wir als Journalisten neigen also dazu, erstens neugierig zu sein und zweitens anderen mitteilen zu wollen, welche Erkenntnisse wir gewonnen haben, was wir erlebt haben und was wir für wichtig halten. Insoweit ist die Quote, ist der Marktanteil natürlich ein Beleg dafür, dass uns überhaupt einer zuhört und wir nicht nur eine geheime Séance machen oder für die eigenen Familienangehörigen senden. Insoweit ist die Höhe des Marktanteils schon wichtig: als Überprüfung, ob man nicht einfach nur ins Leere redet oder ob es einem stattdessen auch wirklich gelingt, das rüberzubringen, was man sagen möchte. Die Quote alleine kann aber kein Maßstab für die Qualität von Sendungen sein. Wenn man z. B. eine Kultursendung macht, dann hat man als Journalist doch den Anspruch, dass ein Großteil der Zielgruppe, dass also ein Großteil der Menschen, die sich für Kultur interessieren, diese Sendung auch tatsächlich einschaltet. Das möchte man doch auf alle Fälle. Wenn man ein politisches Monatsblatt macht, dann möchte man ebenfalls, dass ein Großteil derjenigen, die sich für Politik interessieren, diese Zeitschrift abonniert bzw. liest. Es kommt also immer auf die Zielgruppe an. Wenn man ein Boulevardmedium macht, dann hat man natürlich ein größeres Publikum im Blick: Auch hier hat man als Macher das Interesse, dass möglichst viele Menschen tatsächlich zu diesem Boulevardblatt greifen oder diese Boulevardsendung einschalten. Es kommt also immer auf die Zielgruppe an. Möglicherweise haben sogar Sendungen, die einen niedrigen Marktanteil haben, die sich aber an ein spezielles Publikum wenden, die sich meinetwegen an Multiplikatoren wenden – die wiederum das, was sie dort aufnehmen, weitersagen bzw. anderen vermitteln –, im Hinblick auf die Qualität und die Wirkung eine weitaus größere Bedeutung, als dies der niedrige Marktanteil nahe legt. Peter: Blicken wir noch ein wenig in die Zukunft. Sie sind ja nicht nur aktiver Journalist und Journalistiklehrer, sondern auch Privatmann. Was kommt denn auf uns Menschen mit dieser immer weiter um sich greifenden Digitalisierung noch alles zu? Was vermuten Sie, wenn Sie von solchen Sachen wie Facebook, Twitter, YouTube usw. ausgehen und in die Zukunft blicken? Elitz: Das sind alles Möglichkeiten, uns mit anderen in Kontakt zu bringen. Was mich dabei etwas ratlos macht, ist die Tatsache, dass man dabei mit Menschen nur noch elektronisch und digital verkehrt, dass man nicht mehr den Wunsch verspürt, sie persönlich kennenzulernen, ihnen in die Augen zu gucken, zu sehen, wie sie die Stirn in Falten legen, wie sie vielleicht erröten oder nervös werden oder sich entspannt zurücklehnen. Denn das sagt doch alles sehr viel mehr über einen Menschen aus als eine Botschaft, die über Facebook oder über Twitter vermittelt wird. Vielleicht sind das aber auch nur Modeerscheinungen, die wieder zurückgehen: Wenn man mal für viele Monate oder gar einige Jahre nur in einem digitalen Dialog mit Menschen in Kontakt gekommen ist, will man vielleicht auch mal wieder richtige Menschen kennenlernen. Und dann verlässt man die Oberfläche des PC- Bildschirms und geht den Menschen auf den Grund. Peter: Was macht Ernst Elitz in Zukunft? Sie haben ja jetzt mehr Zeit als früher: Ich habe gelesen, dass Sie ein großer Kinofreund sind und selbstverständlich auch weiterhin schreiben werden. Was gibt es darüber hinaus in der Zukunft für Sie? Elitz: Ich habe mich, nachdem ich das Amt des Intendanten niedergelegt habe, auf das besonnen, was davor meinen professionellen Alltag bestimmt hatte, nämlich die journalistische Tätigkeit. Aus diesem Grunde schreibe ich jetzt Kolumnen und werde das auch in Zukunft machen. Vielleicht kommt dabei auch noch mal ein Buch zustande. Darüber hinaus bin ich an der Universität in Berlin als Professor für Kultur- und Medienmanagement tätig. Es ist einfach sehr, sehr reizvoll, dort junge Leute in diesem Fach auszubilden. Und es freut mich, wenn ich bei einer Galerieeröffnung oder bei einem anderen Kultur-Event junge Menschen sehe und sie zu ihrem jeweiligen Nachbarn sagen höre: "Guck mal, das ist mein Professor an der Universität gewesen." Peter: Also bleibt uns nur, Ihnen zu wünschen, dass Ihnen Ihre geistige Wachheit und Ihre Standhaftigkeit erhalten bleiben. Ernst Elitz, vielen Dank, dass Sie bei alpha-Forum zu Gast waren. Ihnen, meine Damen und Herren, weiterhin anregende Sendungen bei BR-alpha.

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