<<

BR-ONLINE | Das Online-Angebot des Bayerischen Rundfunks

Sendung vom 26.04.1999

Professor Dr. Karl Holzamer ZDF-Intendant a.D. im Gespräch mit Dr. Ernst Emrich

Emrich: Wir begrüßen Sie, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, bei Alpha- Forum. Unser Gast ist heute Professor Dr. Karl Holzamer. Herr Professor, Sie sind – und das ist sicherlich keine Übertreibung – der bekannteste Fernsehintendant Deutschlands. Sie sind den heutigen und früheren Fernsehzuschauern als Intendant des „Zweiten Deutschen Fernsehens“ und durch viele eigene Auftritte wie z. B. dem "Gespräch mit dem Zuschauer" in Kiel sicherlich genauso bekannt wie in Garmisch- Partenkirchen. Ich habe eine etwas lästerliche Anfangsfrage. Als Sie 1962 als Intendant gewählt wurden, um das damals noch nicht vorhandene „Zweite Deutsche Fernsehen“ zu gründen und aufzubauen, gab es Leute, die das für eine abenteuerliche Geschichte hielten. Ist da etwas dran gewesen? Holzamer: Durchaus. Es hatte zwar schon ein zweites Programm gegeben - die ARD hatte sogar schon ein zweites Programm angefangen mit der Absicht, es auch institutionell weiterzuführen –, aber ich erinnere mich daran, daß der „Spiegel“ und andere Zeitschriften gerade in der Anfangszeit etwas pejorativ, also negativ, von uns als diesen "Mainzelmännchen" sprachen, die im Geheimen etwas vorbereiten, das doch gar nichts werden könne. Es wurde aber doch etwas daraus, weil wir uns dazu entschlossen hatten, die angebotenen Figuren auch wirklich Mänzelmännchen zu nennen: Das hat sich auch durchgesetzt. Emrich: Warum das manche Zeitgenossen für abenteuerlich hielten, hatte noch einen speziellen Grund. Der Intendant war bis dahin Universitätsprofessor mit Hauptfach Philosophie gewesen: Da konnte sich natürlich mancher nicht so recht vorstellen, wie denn das etwas werden soll, wenn dieser Mann nun organisieren und Management betreiben muß. Wie hat sich das angelassen für Sie? Sie haben ja auf der freien grünen Wiese mit nichts begonnen. Holzamer: Ja, das stimmt. Allerdings hatte ich eine gewisse Grunderfahrung, indem ich ja mein berufliches Leben vor heute 67 Jahren und einem Monat beim alten „Westdeutschen Rundfunk“ in Köln begonnen hatte. Das war im November 1931. Das habe ich auch bis zur Kriegszeit durchgehalten. In der Kriegszeit selbst war ich als Kriegsberichterstatter tätig. Nach dem Krieg wurde ich als Vertreter der Universität Mainz mit der Gründung des „Südwestfunks“ in Baden-Baden Rundfunkratsmitglied. Als solcher war ich unter den 49 Mitgliedern des Rundfunkrats der einzige, der eine echte Erfahrung mit dem Rundfunk hatte. Deswegen war ich auch zehn Jahre lang Vorsitzender des Rundfunkrates. Ich hatte da natürlich wenigstens indirekt meine Erfahrungen mit dem Rundfunk gemacht – und auch schon mit dem Fernsehen. Emrich: Aber nun kommt ja viel Detailkram zu dem hinzu, was man sich aus der theoretischen Warte als Professor hinsichtlich des Rundfunks vorstellt oder was man als Rundfunkratsvorsitzender bei Etatproblemen usw. mitbekommt. Ich erinnere mich daran, daß es mindestens drei oder vier verschiedene Stellen in Mainz gab, in denen einzelne Redaktionen oder Büros untergebracht waren, denn Sie hatten ja kein eigenes Haus. Deswegen sagte ich vorhin, daß Sie auf der grünen Wiese begonnen haben. Die Nachrichten – also die aktuelle Abteilung – waren in Wiesbaden untergebracht. Holzamer: Ja, es war sogar noch ärger. Wir hatten natürlich in Mainz keine eigene Bleibe. Man untersuchte, ob man – unter dem damaligen ersten Direktor Rudolf Kaiser – nicht vielleicht in einem Kino anfangen könnte. Wir übernahmen dann das vom „Deutschland Fernsehen“ bereits mitgeprägte Studio in Eschborn bei Frankfurt. Von dort sendeten wir während des ganzen ersten Jahres – unter abenteuerlichen Umständen freilich. Herr Kaiser, den ich damals als Technischen Direktor dort einführen wollte, sagte zu mir: "Das darf doch nicht wahr sein!" Aber es wurde wahr. Es gab je nach Witterung Sand und Schlamm und ein Studio, das in ehemaligen Ställen eingerichtet worden war. Das war buchstäblich auf dem Land. Wir zogen zwar ein Jahr später in die "Taunus-Film", um dort wenigstens unser aktuelles Studio zu betreiben, aber wir hatten immer noch keine eigene Stätte, in der wir etwas hätten produzieren können. Das mußten wir eben zum großen Teil mit auswärtigen Angelegenheiten erledigen. Von solcher Art waren eben damals unsere Anfangsschwierigkeiten. Emrich: Man kann sagen, daß Sie nicht mehr als ein Jahr zur Verfügung hatten: von Ihrer Wahl im März 1962 bis zum Sendebeginn des ZDF 1963. Bis dahin mußte praktisch das ganze Gerüst und die ganze Grundorganisation stehen: sowohl in technischer Hinsicht als auch in bezug auf die Fachleute und die Mitarbeiter in den Redaktionen. War es eine mühsame Geschichte, alle diese Leute zusammenzubekommen? War das sehr schwierig? Holzamer: Ja, es war auf der einen Seite wirklich sehr schwierig, unter diesen Umständen überhaupt beginnen zu können. Darüber hinaus war es ja auch noch so gewesen, daß ich im März 1962 gewählt worden war und die Ministerpräsidenten dabei auch noch die unmögliche Vorstellung hegten, wir könnten noch zum 1. Juli des gleichen Jahres mit dem Programm beginnen. Das mußte ich zuerst einmal ausräumen. Das Engagieren von Mitarbeitern war nicht so schwierig. Die ersten, die mitmachen wollten wie etwa Dr. Brobeil vom „Südwestfunk“, zogen natürlich viele andere mit. Sie kannten entweder ihn oder aufgrund der Sitzungen in der ARD auch mich. Das Neue regte die Leute an, da ebenfalls mitzumachen. So ging es hauptsächlich dem „Südwestfunk“ und auch dem „Westdeutschen Rundfunk“ in Köln hinsichtlich einiger Mitarbeiter an den Kragen. Dabei ereignete sich sogar folgendes. Eines Tages rief mich Herr von Bismarck, der damals Intendant des „Westdeutschen Rundfunks“ gewesen ist, an und fragte mich: "Können Sie mir sagen, wer von meinen leitenden Mitarbeitern sich bei Ihnen gemeldet hat?" Ich mußte ihm aber schon erklären, daß ihm das die betreffenden Leute selbst sagen müßten, denn ich könnte das ja wohl nicht machen. Es war eben tatsächlich so, daß wenigstens ein Teil aus Neugierde und aufgrund der Möglichkeit, etwas Neues aufbauen zu können... Emrich: Das hatte etwas Pionierhaftes an sich. Holzamer: Eben. Die Leute kamen aus diesem Grund mit dazu. Ich durfte dabei das gleiche Erlebnis noch einmal haben, das ich bereits 1946 beim Aufbau der Universität gehabt hatte: Das, was sich zunächst einmal zusammenfindet – und das ist keine Hypertrophie –, ist von einem Pioniergeist geprägt. Das half uns damals in dieser schwierigen Lage weiter. Wir hatten ja auch keine Mittel, denn eine der Hauptschwierigkeiten bestand darin, daß man Geld haben mußte, um diese Leute engagieren zu können. Ich mußte dafür aber die Zustimmung eines Verwaltungsrates bekommen, der wiederum von mir verlangte, bereits einen Etat vorzulegen, den man nur mit Hilfe eines entsprechenden Personals überhaupt erstellen konnte. Emrich: Wenn wir an diese ganz frühe Zeit denken und sehen, daß sich noch in Ihrer Ägide das ZDF zur größten Fernsehanstalt Europas entwickelt hat, dann ist das ebenfalls etwas Bemerkenswertes. Denn oft sagt man ja, die erste Generation würde sich beim Aufbau verschleißen, sie wäre hinterher „tot“ oder würde das einfach nicht überstehen. Bei der zweiten Generation wackelt die ganze Geschichte angeblich noch, und erst bei der dritten Generation kommt die Sache richtig ins Laufen. Sie haben jedoch 15 Jahre Ihre Position gehalten und das ZDF während dieser ganzen Entwicklung begleitet. Sie sind als Professor für Philosophie und Pädagogik in diese Aufgabe mit einigen eigenen Zielvorstellungen hineingegangen. Dazu gehörten etwa Begriffe wie "Lebenshilfe" oder die Vorstellung, dem Zuschauer nicht nur das anzubieten, was er gerne sieht, sondern auch, was er sehen sollte, was für ihn hilfreich ist. Wie viel davon hat sich realisieren lassen? Wie viel davon mußte man im Lauf der Entwicklung opfern? Holzamer: Ich habe das ja bei meiner ersten Ansprache am Eröffnungstag, dem 1. April 1963, bereits ausgesprochen: Wir brachten damals die Szene "Auf dem Theater" aus dem "Faust". Da fragt sich ja der Theaterdirektor – und das habe ich dann in meiner Ansprache auch wiederholt: "Wie machen wir's, daß alles frisch und neu und mit Bedeutung auch gefällig sei?" Da muß man sich schon sagen, daß der alte Goethe auch ein guter Fernsehintendant geworden wäre. "Neu" heißt eben, daß wir aktuell sein müssen, "frisch", daß wir es so machen, wie wir nun auch dieses Gespräch führen, nämlich lebendig und persönlich. Die "Bedeutung" heißt, daß das Ganze aber kein Quatsch sein soll, sondern etwas, das den Menschen hilft, das ihnen eine Hilfe gibt und das sie innerlich bildet. Aber es soll auch gefällig sein, es soll unterhaltend bleiben. Das sind die Momente, die wir in all den Jahren auch zusammenzubinden versucht haben. Das war zum Teil auch eine Sache des Glücks. Ich muß z. B. nur daran denke, wie wir das beim "Aktuellen Sportstudio" oder bei der Wettervorhersage lebendig und direkt durch Personen an den Mann gebracht und es eben nicht nur innerhalb von Nachrichten gemacht haben, bei denen man immer nur einen Nachrichtensprecher sieht. Dieses Lebendige habe ich auch in meinen eigenen Sendungen beherzigt, die ich glücklicherweise durchführen konnte. Im "Gespräch mit dem Zuschauer" waren das Gespräche mit Menschen, die ich vorher nicht gekannt habe: Das war einfach ein Gespräch, das frei von der Leber weg geführt worden ist – ohne irgendwelche Hürden, die vorher zu nehmen gewesen wären. So sollte es eben im Fernsehen überhaupt zugehen. Emrich: Das hatte so einen ganz frühen Touch von Transparenz. Dieser Begriff ist ja erst sehr viel später zum Schlagwort geworden: Die Dinge durchsichtiger zu machen und auch Einblicke zu ermöglichen, wie so ein Sender als Haus funktioniert. Herr Professor, welche Erfahrungen haben Sie mit der Politik und ihren Begehrlichkeiten in Richtung Machtausübung via Fernsehen oder auf das Fernsehen gemacht? Holzamer: Das ging eigentlich verhältnismäßig gut, wenn man selbst wußte, woran man war, was man wollte, und wenn man das auch offen zum Ausdruck gebracht hat. Natürlich gab es auch Schwierigkeiten wie etwa bei der Bestellung der ersten Direktoren: daß man ungefähr auch das politische Gefüge in der Bundesrepublik mit beachtete und nicht vollkommen daran vorbeiging. Das hat sich auch ausgezahlt, denn die Gremien haben entsprechend mitgezogen. Wenn man das beachtete, war es verhältnismäßig gut möglich zu widersprechen, auch in den Fällen, in denen es um ernste Dinge ging. Ich erinnere mich z. B. an folgendes: Wir hatten damals den Soldatenmord in Saarbrücken, in Lebach, als eine Dokumentation vorbereitet. Da gab es aber in der Öffentlichkeit Widersprüche vonseiten der evangelischen Kirche in dem Sinne, daß man das nicht bringen dürfe. Weil wir diese Sendung schon fast fertig hatten und ich zusammen mit dem Programmdirektor der gleichen Meinung war, daß das gesendet werden sollte und müßte und daß das auch den Richtlinien entspräche, machte man mir aus dem Fernsehrat heraus den Vorschlag, ich sollte es ihnen einmal vorführen, damit der Fernsehrat entscheiden könne, ob es gesendet wird oder nicht. Ich habe dann aber gesagt: "Das geht nicht, denn ich habe die Verantwortung dafür. Sie können mich hinterher, wenn Sie der Meinung sind, daß das nicht richtig gewesen sei, abwählen. Aber ich trage die Verantwortung, und ich zeige es Ihnen nicht, um es von ihnen entscheiden zu lassen. Das geht nicht." Es hat uns dann allerdings das Bundesverfassungsgericht diese Sendung untersagt. Aber das war eben eine andere Entscheidung, als diejenige, die wir selbst hätten treffen können. Wenn man aber im allgemeinen auf seine eigene Befugnis pochte, konnte man sich im politischen Feld schon klar durchsetzen. Schwieriger war die Angelegenheit unter Umständen im redaktionellen Gefüge an sich. Da muß ich den damaligen Intendanten des „Bayerischen Rundfunks“, Herrn Wallenreiter, loben, der mir einst sagte: "Ich habe mit Redakteuren hinsichtlich ihrer politischen Herkunft keinen Kummer – höchstens mit denen, die keine Bildung haben." Das ist ein bemerkenswerter Satz, dem man durchaus zustimmen muß. Emrich: Wobei Bildung in diesem Fall die handwerklich-fachliche Bildung der Redakteure auch mit gemeint hat. Holzamer: Ja, damit war nicht nur die allgemeine Bildung gemeint, sondern auch die Einsicht in den Zusammenhang, in dem etwas steht. Emrich: Ich habe deswegen nach den Erfahrungen mit der Politik gefragt, weil das ZDF meinem Eindruck nach eine etwas andere Zusammensetzung der Gremien besitzt: Gremien des ZDF werden durch die politischen Mandatsträger stärker geprägt als alle anderen Rundfunkräte. Das ist keine Täuschung, oder ? Denn Sie hatten ja auch die Vergleichsmöglichkeit gegenüber dem „Südwestfunk“. Holzamer: Ja, ich glaube schon. Obwohl natürlich schon eine gewisse Parallelität bei den 66 Mitgliedern des Fernsehrates in Mainz beim ZDF und den damals 49 Mitgliedern des Rundfunkrates des „Südwestdeutschen Rundfunks“ bestanden hat. Emrich: Aber es sind natürlich auch die Spitzenpolitiker in diese zentrale Anstalt hineingegangen: Da war der Bund quasi geschlossen vertreten – hinsichtlich der Regierungspartei wie hinsichtlich der Opposition. Holzamer: Richtig, das war überhaupt Mal, daß die Bundesvertreter in einem Aufsichtsgremium vorgekommen sind. Zu den Parteienvertretern kamen die Gewerkschaften, die Arbeitgeber, die Kirchen: Das war eben doch eine breit gestreute und die gesamte Gesellschaft repräsentierende Zusammensetzung. Emrich: Ich möchte nun mit einer Anschlußfrage ein wenig auf Ihre frühe Biographie eingehen, auf Ihre Entwicklung, die Sie als junger Mensch durchlaufen haben. Dabei bietet mir das Thema der Unabhängigkeit gegenüber der Politik den Anknüpfungspunkt. Wie konnten Sie der Unabhängigkeit eines solchen Hauses gerecht werden mit einer, wenn ich das richtig weiß, doch sehr dezidiert christlichen Einstellung? Es hätte ja auch jemand sagen können: "Der ist mir zu christlich, der beharrt mir zu dezidiert auf seinem christlichen Standpunkt. Da wollen wir lieber jemanden haben, der neutraler oder indifferenter ist." Hat es für Sie deswegen irgendwann Schwierigkeiten gegeben? Holzamer: Ich meine, hierin nicht. Denn der Staatsvertrag, der ein sehr guter Staatsvertrag ist, gab eben doch diese Möglichkeiten frei, so daß man bei aller Bestimmtheit des eigenen Charakters und der eigenen Auffassungen doch den verschiedenen Möglichkeiten Rechnung tragen konnte – wenn es der Wahrheit entsprach und man nicht irgendwelche Kreuzzüge für etwas führen wollte, wozu der einzelne in seinem eigenen Bereich vielleicht die Berechtigung hatte, wozu aber nicht die ganze Front des Fernsehens als solches zur Verfügung stehen durfte. Das mußte man also mit einiger Zurückhaltung machen. Es gab natürlich schon einige Schwierigkeiten auf diesem Gebiet: Da mußte ich durchaus auch manchmal gewissen Redakteuren Einhalt gebieten. Andererseits habe ich aber auch Herrn Löwenthal gestützt – gegen alle Auffassungen, die anderer Art gewesen sind. Denn das, was er sachlich vorzutragen hatte, hat in der Regel eben auch der Wahrheit entsprochen und mußte notwendigerweise gesagt werden... Emrich: ...und sollte in der Farbigkeit der Kombination, wie es ein öffentlich- rechtliches System eben darstellt, auch in Erscheinung treten. Holzamer: Ganz recht. Man mußte natürlich solchen Protagonisten, wenn ich sie einmal so nennen darf, immer auch klar machen, daß sie nicht ihre urpersönliche Meinung durchsetzen dürfen und daß es stattdessen darauf ankäme, sich dem Ganzen zur Verfügung zu stellen und nicht irgendeine Sondermeinung zu vertreten, die von der allgemeinen Zustimmung des Hauses selbst nicht getragen werden konnte. Wir haben nämlich in erster Linie nicht Meinungen zu verbreiten, sondern Tatsachen. Emrich: Das war eine etwas verzinkte Einstiegsfrage in Ihre Biographie. Ich meinte damit Ihre später immer wieder erkennbare Ausrichtung und Ihr Bekenntnis zum katholischen Glauben. Woher kam diese deutliche persönliche Prägung? Wurde sie im Elternhaus begründet, oder woher kam sie? Holzamer: Das kam natürlich durch das Elternhaus, und das kam später in der Jugendzeit durch den „Bund Neu-Deutschland“, durch die sogenannte „Bündische Jugend“, die das bei mir noch einmal bekräftigt hat. Emrich: Ich glaube, da muß man für die jüngeren Zuschauer sagen, daß das im Anschluß an die Jugendbewegung die programmatisch etwas gefaßtere und gebundenere Form der Jugendarbeit in den zwanziger Jahren gewesen ist. Holzamer: So war es. Emrich: Der „Bund Neu-Deutschland“ war der katholische Jugendverband für Gymnasiasten. Holzamer: Ja. Dem habe ich schon seit 1919 angehört, also seit seiner Gründung, und ich habe hier auch einige Verantwortung übernommen. Das entsprach auch meiner persönlichen Haltung, die durch das Studium gefördert worden ist: Ich habe damals in Paris bei Maritain studiert. Alle diese Dinge haben mich natürlich auch in meiner ganzen Haltung in einer gewissen Weise geprägt, ohne daß ich damit eine Vorzeigefigur sein wollte, die für irgend etwas Reklame gemacht hätte. Ich wollte einfach nur zu mir selbst stehen und das aus meinem Gewissen heraus auch betonen. Emrich: War es in den zwanziger Jahren so ohne weiteres möglich, zum Studium nach Paris zu gehen? Wurde das in Deutschland akzeptiert, oder wurde das beargwöhnt? Holzamer: Nein, das Gegenteil war der Fall. Ich kann mich daran erinnern, daß es unter den 12000 Studenten der Pariser „Sorbonne“ ungefähr 400 Deutsche gegeben hat. Ich muß in dem Punkt wohl noch einem weiteren Mißverständnis entgegentreten, nämlich dem Mißverständnis, daß man in den zwanziger Jahren, also in den Zeiten der Weimarer Republik, nicht entsprechend gefördert werden konnte. Damals wurde die „Studienstiftung des Deutschen Volkes“ gegründet, der ich Gott sei Dank auch angehören durfte. In sie wurde eine bestimmte Anzahl von Abiturienten aufgenommen: Sie mußten eine bestimmte Vorprüfung ablegen – und wenn sie während des Studiums weitere Prüfungen bestanden, dann konnten sie auch dabeibleiben. So konnte ich überhaupt erst studieren, und so konnte ich auch meinen Pariser Aufenthalt finanzieren: weil mir das eben auch genehmigt worden war. Man mußte natürlich, und das wird auch oft übersehen, als Student bemüßigt sein – weil ich von meinem Elternhaus nichts mehr bekommen konnte, denn mein Vater war schon verstorben –, selbst noch etwas aus eigener Kraft an finanziellen Mitteln beizusteuern. Das habe ich größtenteils durch Nachhilfestunden erledigen können, so daß ich meiner Mutter wirklich kaum zur Last gefallen bin. Ich widerspreche da auch den Auffassungen, daß es gerade in der Weimarer Republik für denjenigen, der sich bewährt und auch das Zeug dazu hatte, nicht möglich gewesen sei durchzukommen. Es kam sehr darauf an, daß man sich darum bemühte und die entsprechenden Hilfen, die vonseiten der Gesellschaft und des Staates geboten wurden, auch in Anspruch genommen hat. Emrich: Darf ich danach fragen, welche Berufsvorstellung Sie zu jener Zeit für sich im Auge hatten? Holzamer: Meine Berufsvorstellung war folgende – das führt vom Fernsehen eigentlich etwas weg, obwohl es sich inhaltlich damit gut verträgt. Ich promovierte 1929 in München in den Fächern Philosophie, Germanistik und Romanistik. Ich bewarb mich dann um die Zulassung für eine Pädagogische Akademie. Diese Akademien waren erst kurze Zeit vorher vom damaligen preußischen Kultusminister Becker gegründet worden: Sie lösten die alte Lehrerbildungsanstalten ab. Emrich: Dort wurden die Volksschullehrer ausgebildet. Holzamer: Richtig. Emrich: Das haben Sie aber erst nach Ihrer Promotion gemacht? Holzamer: Richtig, nach meiner Promotion bin ich auf die Pädagogische Akademie in Bonn gegangen. Ich war der erste in Preußen, der das gemacht hat. Denn ich hatte mir gesagt – und das war eigentlich mein berufliches Ziel: "Wenn du einmal Volksschullehrer ausbilden willst, dann mußt du natürlich auch selbst mal die Volksschule kennenlernen." Ich habe dort auch das Examen gemacht, und meine Bewerbung als Professor lief damals in Berlin auch weiter. Das war aber schon in der Zeit von Grimme, der der letzte preußische Kultusminister in der Weimarer Republik war und dem ich später über den „Nordwestdeutschen Rundfunk“, wo er Generaldirektor geworden war, wieder begegnete. Als ich das Glück hatte, zum „Westdeutschen Rundfunk“ zu kommen, betrachtete ich das zunächst einmal als eine Phase des Übergangs. Dort war ich in der Schulfunk- Abteilung, also in einer Abteilung, die wiederum mit dem eventuellen Ziel des Professors an einer Pädagogischen Akademie übereinstimmte. Diese Bewerbung lief auch im Dritten Reich weiter. Bis ich im Jahr 1937 – obwohl an den pädagogischen Akademien Stellen frei gewesen wären – einen Bescheid des Reichskultusministers bekommen habe: "Ihre Verwendung im Hochschuldienst ist nicht vorgesehen!" Das war natürlich ein Schlag ins Kontor: Ich war nämlich kein Parteimitglied. Damals habe ich mich darüber geärgert, aber nach dem Krieg war das eines der besten Zeugnisse, das man haben konnte und das es mir sogar gestattete, im Jahr 1946 ohne Habilitation von der Universität als Professor für Philosophie, Psychologie und Pädagogik berufen zu werden. Emrich: Im Grunde war es also so, daß Sie drei Berufsanfänge hatten, wenn man es so ausdrücken darf. Sie waren Assistent am psychologischen Institut der Universität Bonn. Damit war die Universitätslaufbahn eingeschlagen. Sie besaßen eine Ausbildung als Lehramtskandidat: Das haben Sie nicht nur mit Blick darauf gemacht, Lehrer zu sein, sondern weil Sie selbst Lehrer ausbilden wollten. Und Sie besaßen journalistische Erfahrung, die Sie sich bereits erworben hatten, ehe Sie zum Rundfunk gekommen waren, denn Sie hatten bei einer Zeitschrift mitgemacht. Holzamer: Ja, ich hatte bei den "Stimmen der Jugend" mitgemacht. Das war sozusagen ein Sammelbegriff für die gesamte katholische Jugend. Ich konnte dort als Mitverantwortlicher zusammen mit Georg Wagner zwei Jahre lang die Redaktion führen. Ich hatte also, wie Sie ganz richtig sagten, in diesen drei Berufssträhnen überall eine Möglichkeit. Ich habe mich immer daran orientiert – und das habe ich später bei meiner Tätigkeit im Fernsehen ebenfalls wahr zu machen versucht –, den Menschen geistige und moralische Hilfen zu geben - in einer bildenden Funktion in einem weiteren Sinne, bis hin zur Lebenshilfe. Das war eigentlich immer mein Anliegen gewesen, das ich bei all diesen Möglichkeiten verfolgen durfte und konnte. Emrich: Es gibt heute kaum noch jemanden, mit dem man sich wie mit Ihnen unterhalten kann und der einem in solchem Maße ein miterlebtes Jahrhundert präsentieren könnte. Sie sind 1906 geboren, und wir wissen, welches Jahr wir jetzt schreiben. Mit der Ausnahme weniger Jahre am Anfang und einem kleinen Rest nun am Ende des Jahrhunderts haben Sie dieses Jahrhundert komplett miterlebt: Sie haben das Jahrhundert erlebt, als es noch den Kaiser gegeben hat. Beim Beginn des Ersten Weltkriegs waren Sie acht Jahre alt. Sie haben auch die Weimarer Zeit erlebt. Lassen Sie uns da doch noch einmal verweilen. Haben Sie als Student diese Zeit als eine lebendige und kulturell anregende Zeit oder wegen der wirtschaftlichen Probleme wie z. B. der Inflation eher als bedrückend erlebt? Was war für Sie der dominante Eindruck in diesen Jahren? Holzamer: Das war teils teils so. Es war zum Teil in jeder Hinsicht eine sehr anregende und bewegende Zeit. Ich gehörte ja auch z. B. dem Reichsjugendausschuß der Zentrumspartei an. Andererseits waren aber die Zeitläufe durch das starke Ansteigen der Arbeitslosigkeit und auch durch die vehementen Attacken des Nationalsozialismus geprägt. In einem Punkt konnte sich der Nationalsozialismus allerdings einer breiten Zustimmung sicher sein, nämlich im Kampf gegen den „Versailler Vertrag“, der für Deutschland wirklich ein Unglücks-Vertrag gewesen ist und auch von ganz anderer Art war als die Lösung nach dem Zweiten Weltkrieg, die die Alliierten dann Gott sei Dank gefunden haben. Das ging beides ineinander über. Ich stand natürlich auf der Seite derer, die bemüht waren, die Kräfte der Weimarer Republik gegen die Vielzahl der Parteien, die sich damals bereits gebildet hatten, in den entscheidenden Fakten durchzuhalten. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das wir damals im Auftrag der „Katholischen Jugend“ mit Brüning geführt haben, als er noch Reichskanzler gewesen ist. Dann kam leider die bittere Enttäuschung, daß er nach der vorgezogenen Wahl von Hindenburg zu Gunsten von Papen in seinem Kampf gegen Hitler fallengelassen worden ist. Man hat von Papen zum Reichskanzler erhoben: Daran war freilich weniger der alte Herr Hindenburg als vielmehr sein Sohn schuld. Emrich: Das war der in der Verfassung nicht vorgesehene Sohn des Reichspräsidenten. Holzamer: Richtig, das war Oberst von Hindenburg. Sie hatten gegen Brüning paktiert, weil sie des irrigen Glaubens waren, daß man die Nationalsozialisten damit besänftigen könnte, wenn man sich mit ihnen zunächst einmal arrangiert. Aber das war natürlich unmöglich. Das war der große Kummer, der sich über uns alle gelegt hat. Emrich: Herr Professor Holzamer, von der Reichsgründung, also von der Gründung der Republik, bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten waren es ja gut 13 Jahre. Was war denn aus Ihrer Sicht der Grund dafür, daß die Demokratie damals nicht so recht auf die Beine gekommen ist, daß sie diese Krisenzeiten nicht gemeistert hat? Warum mußte man nach diesem starken Mann schreien, der uns dann so hineingeritten hat? Holzamer: Natürlich waren die gesellschaftlichen und die wirtschaftlichen Umstände zu einem großen Teil mit daran schuld – die wiederum zum Teil durch den „Versailler Vertrag“ ausgelöst worden waren. Andererseits war aber auch die Gewöhnung an die Demokratie noch nicht vorhanden. Es gab schrecklich viele Parteien: Es gab noch nicht diese prozentualen Hürden, wie sie später in unserer heutigen Verfassung festgelegt worden sind. So konnte es nicht verhindert werden, daß ein Schwarm von Parteien den Reichstag erfüllte und daß die Wortführer dieser rechten Seite – die sich zum Teil auch mit den Kommunisten zusammentaten wie z. B. bei Streiks – beim Wahlvolk so viel Erfolg gefunden haben. Emrich: Gab es noch viele einflußreiche Leute aus dem Kaiserreich, die die Demokratie für etwas Fadenscheiniges und für nicht ernst zu nehmend gehalten haben? Ich denke hierbei vor allem an deutsch-nationale Kreise. Holzamer: Das war eigentlich nur bei einer kleinen Schicht der Fall. Diese deutsch- nationalen Leute, die die alte Form des Kaiserreichs hochhielten, gab es natürlich noch. Aber das war eben nicht der überwiegende Teil der Bevölkerung. Das größere Problem bestand darin, daß auch die entscheidenden Politiker der großen Parteien im Reichstag nicht genügend zueinander fanden. Meine persönliche Meinung ist folgende: Wenn damals die SPD Brüning genügend unterstützt hätte, wäre es vielleicht auch nicht so weit gekommen. Aber man war eben selbst bei den führenden Leuten dieser neuen Republik noch nicht reif genug, um gemeinsam das Grundübel zu bekämpfen und auszumerzen. Emrich: ...und um Kompromisse schließen zu können, um Schlimmeres zu verhindern. Was dann kam, wissen wir ja. Mich interessiert dabei: Wie erwehrt man sich der Zudringlichkeiten eines totalitären Systems? Sie waren noch vor der Machtergreifung in Köln Rundfunkredakteur im Bereich Schulfunk geworden. Ich könnte mir vorstellen, daß damals bei der Gleichschaltung des Rundfunks doch auch einiger Druck auf Sie ausgeübt worden ist: "Warum gehen Sie nicht in die Partei? Warum sind Sie nicht bei der SA? Wer heute im Radio arbeitet, muß zuverlässig zum Führer stehen!" – und andere Sprüche mehr. Wie konnte man darum herumkommen? Holzamer: Es war so, daß nach dem 30. Januar mein Chef, Dr. Behle, wie auch u. a. der Intendant entlassen worden ist. Daher habe ich sogar eine Zeit lang den Schulfunk selbst geleitet. In der Situation trat die Partei natürlich innerhalb und außerhalb des Hauses an mich heran und forderte mich auf, Parteimitglied zu werden oder in die Reichsjugendführung in der Hitlerjugend einzutreten. Nun gingen in Köln die Uhren aber manchmal anders. Emrich: Dort auch? Holzamer: Ja, dort auch. In der Situation konnte ich ihnen nämlich doch sagen: "Ich bete nicht an, was ich gestern verworfen habe, und nehme auch an, daß Sie für diese Haltung mehr Verständnis haben als für eine geduckte, die sich lediglich anbiedert." Dieses Verständnis hatten sie auch, aber sie nahmen mir den Schulfunk ab und überließen mir die Landwirtschaft, von der ich nichts verstand, die Sprachen und die konfessionellen Morgenfeiern. Dabei habe ich eine interessante Erfahrung gemacht, die wahrscheinlich allgemein auf totalitäre Systeme anwendbar ist – wenn auch nicht immer, weil sie manchmal mit dem Tod zu bezahlen ist. Im Jahr 1937 gab es den Befehl von Göppels, die Morgenfeiern einzustellen. Das haben meines Wissens nach alle Sender beherzigt, außer dem „Kölner Rundfunk“. Denn wir hatten dort einen Sendeleiter, heute würde man Programmdirektor dazu sagen, der ein überzeugter evangelischer Christ gewesen ist – aber gleichzeitig Träger des goldenen Parteiabzeichens. Was tat der Mann, als dieser Befehl von Berlin kam? Er hielt die nächste Morgenfeier mit Luther- Zitaten selbst. Er beauftragte mich, diese Morgenfeiern auch weiterhin durchzuführen. Das wurde mir wirklich bis zum Kriegsbeginn ermöglicht. So etwas war also schon möglich. Ich wurde dann eingezogen und dazu verpflichtet, bei der Luftwaffe Kriegsberichterstatter zu werden. Natürlich hätte man sich dem unter dem Risiko des Todes widersetzen und sagen können: "Nein, das mache ich nicht, ich folge diesem Befehl nicht!" Insofern hätte man in manchen Dingen ein Held sein müssen, um das durchhalten zu können. Das habe ich aber meiner Familie gegenüber nicht machen wollen und können. Ich denke aber, daß ich mich auch in dieser schwierigen Zeit immer wenigstens meinem Gewissen entsprechend verhalten und nichts getan habe, was meinem Gewissen widersprochen hätte. Emrich: Wie das vor solchen Wahlen üblich ist, hat man auch vor Ihrer Wahl zum Intendanten einige Stimmen gehört, die gesagt haben: "Der hat doch damals in der Nazizeit Radio gemacht, da wird ja wohl nicht alles koscher gewesen sein." Dabei kam aber etwas sehr Interessantes zu Tage, nämlich ein Plakat, das, wenn ich richtig informiert bin, aus dem Jahr 1934 stammte: Es war unmittelbar nach dem Röhm-Putsch gedruckt und verbreitet worden, als Hitler den Führer der SA ausgeschaltet hat. Auf diesem Plakat steht auch Ihr Name: Es wandte sich gegen Unrecht und gegen die Verletzung der Menschenwürde. Das war damals ja wohl eher gefährlich – und nicht nur verdienstvoll im Sinne der Machthaber. Was aber viele junge Kollegen und auch Zuschauer heute interessiert, ist folgendes. Sie waren Luftwaffenoffizier und damit sozusagen, um mit Zuckmayer zu sprechen, des "Teufels Offizier": Viele sind darum nicht herumgekommen – andere sind nur Soldaten gewesen. Aber auch Sie mußten schießen und gegen andere kämpfen. Unter anderem mußten Sie gegen die kämpfen, mit denen Sie womöglich an der „Sorbonne“ gemeinsam studiert haben. Wie haben Sie damals diesen Balanceakt und diese Schizophrenie ausgehalten und überstanden, die in dem Wissen lag, daß das ein verbrecherisches System ist, dem man eigentlich widerstehen möchte und das man auf keinen Fall unterstützen will? Dennoch ist man ja gleichzeitig eingebunden in eine Kameradschaft des Soldatenlebens und des Für-andere-da-Seins. Man hat das Vaterland verteidigt, aber man mußte sich fragen, zu wessen Gunsten man das getan hat: "Wer ist eigentlich Herr des Vaterlandes? Sind das meine Angehörigen, oder sind das die Bonzen, die ich verteidige?" Kann man dazu etwas sagen? Holzamer: Ja, durchaus. Ich kam in französische Gefangenschaft, wo ich auch als Dolmetscher tätig gewesen bin. Dort sprach ich eines Tages auch mit dem französischen Kommandanten über in etwa das gleiche Thema. Ich stellte ihm die Frage, ob ich denn hätte wünschen sollen, daß wir den Krieg verlieren. Das hat er aber mit mir zusammen verneint. Ich hatte bei der Luftwaffe auch Gott sei Dank erleben dürfen, daß die Angriffsziele, auf die ich mitgeflogen bin, für mich vertretbar gewesen sind. Ich denke hierbei an Malta, wo wir immer und immer wieder den Hafen von La Valetta und nie ein anderes Ziel angegriffen haben. Als wir zurückgeflogen sind in Richtung des rauchenden Ätnas, der uns freundlich begrüßte, flogen wir über feindliche Gegenden, in denen die Bauern ohne Schwierigkeiten ihr Feld bearbeiten konnten. Ähnliches hatte ich auch vorher schon in Rußland am Ilmen-See erlebt, als ich zu einem Aufklärungsflug an diesen See geschickt worden war. Es hatte geheißen, dort gäbe es große Massen von Russen, die über den Ilmen-See flüchten würden. Aber das war gar nicht der Fall. Alles, was es gab, waren ein paar armselige Kähne, die kein Mensch angegriffen hätte. Ebenso war es hinter Smolensk auf dem Weg nach Rußland gewesen. Auch da kam der Befehl, eine Ansammlung von russischen Einheiten an einer bestimmten Wegkreuzung anzugreifen. Als wir aber dorthin kamen, haben wir überhaupt nichts dergleichen gesehen. Dann kam der Befehl aus der kommandierenden Maschine: "Zurück, marsch, marsch!" Wir griffen nicht an und warfen keine Bomben auf Ziele, die wir gar nicht hatten. Wir mußten unsere Bomben sogar noch auf freiem Feld abwerfen, damit wir selbst sicher landen konnten. Solche Erfahrungen habe ich Gott sei Dank machen können, daß also... Emrich: ...mindestens die Fairneß des Kriegführens noch vorhanden gewesen ist. Holzamer: Es waren eigentlich mehr die Verteidigungsfälle, in denen ich selbst unter Umständen aktiv geschossen habe: Wenn wir etwa in der Luft angegriffen worden sind. Emrich: Ich weiß, daß das ein Problem ist, von dem schon manche, die selbst damit konfrontiert wurden, gesagt haben, daß es nicht ganz auflösbar ist, denn es hatte da mehrseitige Verpflichtungen gegeben: Es gab eine persönliche Überzeugung, die diesem System entgegenstand, es gab aber auch ein Eingebunden-Sein in eine Ordnung und in ein Kriegsgeschehen, dem man allenfalls noch mit Korrektheit und Fairneß gerecht werden konnte. Es gäbe noch so viel zu erzählen, aber ich habe mir nun gegen Ende unseres Gesprächs vor allem ein kleines Stichwort notiert. Wenn Sie die heutige Medienwelt ansehen, so wie sie sich in den letzten zehn oder 15 Jahren entwickelt hat, welche Empfindungen haben Sie bei der Betrachtung dessen, was diese erweiterte Fernsehlandschaft leistet – mitsamt dem ganzen Drum und Dran, das auf junge Menschen von Heute, die morgen die Erwachsenen des 21. Jahrhunderts sein werden, zukommt? Holzamer: Die Vielfalt ist zu groß. Es wird in der Welt einfach viel zu viel angeboten. Deswegen scheint es mir notwendig zu sein, in der Erziehung – zu der die Bildungsseite natürlich beiträgt – dafür zu sorgen, daß die Menschen auch selbst aktiv bleiben, daß sie selbst noch lesen, daß sie sich selbst noch Güter aneignen und kennenlernen, die unabhängig sind von dem, was auch an Gutem über die Medienwelt angeboten wird: daß sie also selbst z. B. noch Theater spielen, selbst noch Sport treiben. Mir scheint heute genau das nötig zu sein, um dieser Vielfalt überhaupt begegnen oder um selbst auswählen zu können. Man kann aber nur auswählen, wenn man von etwas schon eine bestimmte Kenntnis hat. Wenn man diese Kenntnis nicht hat, weiß man nicht, was man auswählen soll. Dem müßten natürlich auch die vielen Mediengestalter Rechnung tragen. Ich nehme an, daß das gerade in den öffentlich-rechtlichen Institutionen auch weithin geschieht und daß man darauf entsprechend pocht. Als damals das Internet eingeführt wurde, hat man mit dem Satz Werbung betrieben, daß man mit Hilfe des Internets auch beliebig mit Japanern oder Amerikanern kommunizieren könnte. Ich sagte daraufhin zunächst einmal etwas übermütig: "Das will ich doch gar nicht!" Außerdem ist es ja so, daß ich mit jemandem nur dann kommunizieren kann, wenn ich mit dieser Person persönlichen Kontakt habe: Das trifft für meine Familie oder z. B. meine Berufskollegen zu – und auch für Japaner und Amerikaner, aber das muß doch persönlich geschehen und kann nicht allein über Instrumente funktionieren. Die Vermittlung von Nachrichten, von Kulturgütern, von allem Möglichen über dieses breite Netz ist großartig, aber persönliche Kommunikation kann man nur auf diese andere Weise erreichen. Darum glaube ich – dafür leistet dieses Bildungsfernsehen ja auch einiges –, daß man dieses persönliche Moment sowohl des Lernens, des Erprobens und des Erfahrens als auch der Kontaktaufnahme pflegen muß. Emrich: Das war das Schlußwort. Ich bedanke mich sehr bei Ihnen. Unsere Zeit ist um, und wir dürfen uns gemeinsam von hier, vom Alpha-Forum, verabschieden. Wir danken Ihnen, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, für Ihr Interesse.

©