Plenarprotokoll 19/116

Deutscher

Stenografischer Bericht

116. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 26: (Wetzlar) (SPD) ...... 14225 B Erste Beratung des von der Bundesregierung Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE) 14226 B eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn Entlastung unterhaltsverpflichteter An- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ...... 14227 D gehöriger in der Sozialhilfe und in der Eingliederungshilfe (Angehörigen-Entlas- Albert H. Weiler (CDU/CSU) ...... 14229 A tungsgesetz) (AfD) ...... 14229 D Drucksache 19/13399 ...... 14209 A Dr. (SPD) ...... 14231 A , Parl. Staatssekretärin BMAS . 14209 B (FDP) ...... 14232 A Jürgen Pohl (AfD) ...... 14210 C (CDU/CSU) ...... 14232 C (CDU/CSU) ...... 14211 C Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 14233 D (FDP) ...... 14212 C (DIE LINKE) ...... 14213 B (CDU/CSU) ...... 14234 D Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 14214 A Tagesordnungspunkt 28: Torbjörn Kartes (CDU/CSU) ...... 14215 B Unterrichtung durch die Bundesregierung: Be- Martin Sichert (AfD) ...... 14216 C richt der Bundesregierung zum Stand der (SPD) ...... 14217 C Deutschen Einheit 2019 Drucksache 19/13500 ...... 14235 D (FDP) ...... 14218 C , Parl. Staatssekretär BMWi . . . 14236 A Sören Pellmann (DIE LINKE) ...... 14219 A (CDU/CSU) ...... 14219 D Leif-Erik Holm (AfD) ...... 14237 C Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD) ...... 14220 C () (SPD) ...... 14239 A Thomas L. Kemmerich (FDP) ...... 14240 A Dr. (DIE LINKE) ...... 14241 B Tagesordnungspunkt 27: Claudia Müller (BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Sebastian DIE GRÜNEN) ...... 14243 A Münzenmaier, Jürgen Pohl, Ulrike Schielke- Ziesing, weiterer Abgeordneter und der Frak- (CDU/CSU) ...... 14244 A tion der AfD: Arbeitsleben würdigen – Ar- (AfD) ...... 14245 B beitslosengeld I gerecht gestalten Drucksache 19/13520 ...... 14221 C (SPD) ...... 14246 B Sebastian Münzenmaier (AfD) ...... 14221 C (FDP) ...... 14247 A Dr. (CDU/CSU) ...... 14222 D Dr. (CDU/CSU) ...... 14248 A Johannes Vogel (Olpe) (FDP) ...... 14223 D (SPD) ...... 14249 A II Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. , Freitag, den 27. September 2019

Tagesordnungspunkt 29: Dr. (SPD) ...... 14275 A Antrag der Abgeordneten Matthias W. Dr. Birke Bull-Bischoff (DIE LINKE) ...... 14275 D Birkwald, Matthias Höhn, , Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/ weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE DIE GRÜNEN) ...... 14276 C LINKE: Renteneinheit herstellen – Ostren- ten umgehend an das Westniveau anglei- (CDU/CSU) ...... 14277 C chen (SPD) ...... 14278 D Drucksache 19/10285 ...... 14250 B Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) ...... 14250 B Tagesordnungspunkt 32: (CDU/CSU) ...... 14251 C Ulrike Schielke-Ziesing (AfD) ...... 14252 C a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (SPD) ...... 14253 C zes zur Änderung des Grunderwerb- Johannes Vogel (Olpe) (FDP) ...... 14255 C steuergesetzes Drucksache 19/13437, 19/13546 ...... 14279 D Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 14256 C Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) ...... 14257 B b) Antrag der Abgeordneten Udo Theodor Hemmelgarn, , Frank Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . . 14258 A Magnitz, weiterer Abgeordneter und der Jürgen Pohl (AfD) ...... 14259 A Fraktion der AfD: Änderung des Steuer- rechts – Besteuerung der sogenannten Dr. Karamba Diaby (SPD) ...... 14260 A Share Deals im Immobilienbereich Till Mansmann (FDP) ...... 14260 D Drucksache 19/13532 ...... 14279 D Albert H. Weiler (CDU/CSU) ...... 14261 C c) Antrag der Abgeordneten Jörg Cezanne, (Chemnitz) (CDU/CSU) ...... 14262 C , , weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Share Deals – Steuervermeidung bei Im- Tagesordnungspunkt 30: mobiliengeschäften bekämpfen Drucksache 19/10067 ...... 14280 A Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur , Parl. Staatssekretärin BMF . 14280 A weiteren steuerlichen Förderung der Elek- Udo Theodor Hemmelgarn (AfD) ...... 14280 D tromobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (CDU/CSU) ...... 14281 D Drucksache 19/13436 ...... 14263 B Dr. (FDP) ...... 14282 D Sarah Ryglewski, Parl. Staatssekretärin BMF . 14263 B Jörg Cezanne (DIE LINKE) ...... 14283 D (AfD) ...... 14264 C (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . 14284 C Olav Gutting (CDU/CSU) ...... 14265 D (SPD) ...... 14285 D (FDP) ...... 14266 C (CDU/CSU) ...... 14286 C Jörg Cezanne (DIE LINKE) ...... 14267 B Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 14268 A Tagesordnungspunkt 33: (Heidelberg) (SPD) ...... 14269 A a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Sebastian Brehm (CDU/CSU) ...... 14270 A zes für eine bessere Versorgung durch Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU) ...... 14271 A Digitalisierung und Innovation (Digita- le-Versorgung-Gesetz – DVG) Drucksachen 19/13438, 19/13548 ...... 14288 A Tagesordnungspunkt 31: b) Antrag der Abgeordneten Maria Klein- Antrag der Abgeordneten Dr. Jens Branden- Schmeink, Kordula Schulz-Asche, burg (Rhein-Neckar), , Mario Dr. Kirsten Kappert-Gonther, weiterer Ab- Brandenburg (Südpfalz), weiterer Abgeordne- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ ter und der Fraktion der FDP: Spitzen-Azubis DIE GRÜNEN: Der Digitalisierung im fördern – Begabtenförderung für Talente Gesundheitswesen eine Richtung geben der beruflichen Bildung öffnen und sie im Interesse der Nutzerinnen Drucksache 19/13460 ...... 14271 D und Nutzer vorantreiben Dr. (Rhein-Neckar) (FDP) . 14272 A Drucksache 19/13539 ...... 14288 B (CDU/CSU) ...... 14273 A (CDU/CSU) ...... 14288 B Dr. Götz Frömming (AfD) ...... 14274 A Jörg Schneider (AfD) ...... 14289 B Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 III

Sabine Dittmar (SPD) ...... 14290 A Zusatzpunkt 21: Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) ...... 14290 D Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. (DIE LINKE) ...... 14291 C Beate Walter-Rosenheimer, Britta Haßelmann, , weiteren Abgeordneten Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/ und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN) ...... 14292 C NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (CDU/CSU) ...... 14293 A zur Änderung des Europawahlgesetzes (ak- (SPD) ...... 14294 A tives Wahlrecht ab 16 Jahren) Drucksache 19/13514 ...... 14296 C (CDU/CSU) ...... 14295 A in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 34: a) Antrag der Abgeordneten , Zusatzpunkt 22: Beate Walter-Rosenheimer, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Erste Beratung des von den Abgeordneten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Junge Beate Walter-Rosenheimer, Britta Haßelmann, Menschen beteiligen – Partizipations- Annalena Baerbock, weiteren Abgeordneten rechte stärken, Demokratiebildung för- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dern NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Drucksache 19/13537 ...... 14296 A zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (ak- tives Wahlrecht ab 16 Jahren) b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Drucksache 19/13513 ...... 14296 C Beate Walter-Rosenheimer, Britta Haßelmann, Annalena Baerbock, weiteren Margit Stumpp (BÜNDNIS 90/ Abgeordneten und der Fraktion BÜND- DIE GRÜNEN) ...... 14296 C NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent- Bettina Margarethe Wiesmann (CDU/CSU) . . 14297 C wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 38) (AfD) ...... 14298 D Drucksache 19/13512 ...... 14296 A (SPD) ...... 14299 D c) Antrag der Abgeordneten Dr. Anna (FDP) ...... 14300 C Christmann, Annalena Baerbock, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE) . . . . . 14301 C Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (CDU/CSU) ...... 14302 D Engagementoffensive jetzt – Bürgers- Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD) ...... 14303 C chaftliches Engagement in der Breite der Gesellschaft fördern (CDU/CSU) ...... 14304 B Drucksache 19/10223 ...... 14296 A d) Antrag der Abgeordneten Dr. Franziska Nächste Sitzung ...... 14305 C Brantner, Dr. , Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Anlage 1 NEN: Mindestalter für die Unterstüt- zung einer Europäischen Bürgerinitiati- Entschuldigte Abgeordnete ...... 14307 A ve auf 16 Jahre absenken Drucksache 19/13089 ...... 14296 B Anlage 2 in Verbindung mit Amtliche Mitteilungen ...... 14308 A

Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14209

(A) (C)

116. Sitzung

Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Beginn: 9:00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Uns geht es dabei um die Pflegebedürftigen, die einen Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte Anspruch auf beste Betreuung, auf Zuwendung und auf nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Würde haben. Uns geht es um die Pflegekräfte – darüber haben wir gestern gesprochen –, die anständige Löhne Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: und ordentliche Arbeitsbedingungen verdient haben. Und uns geht es auch um die Angehörigen und um die Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Frage, wie die Pflege finanziert wird. Das ist heute das gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlas- Thema. Wir wollen mit diesem Gesetz Angehörige ent- tung unterhaltsverpflichteter Angehöriger in lasten. der Sozialhilfe und in der Eingliederungshilfe (Angehörigen-Entlastungsgesetz) Mit dem Thema Pflege wird jeder von uns früher oder später konfrontiert sein. Wahrscheinlich weiß jeder, der Drucksache 19/13399 (B) diese Situation schon einmal erlebt hat, wie belastend sie (D) Überweisungsvorschlag: ist und wie emotional und organisatorisch man gefordert Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) ist, wenn man die Pflege für seine Eltern oder für ältere Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Menschen organisieren muss. Das kann die Politik den Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen Menschen nicht abnehmen, aber wir können dafür sorgen, Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO dass dazu nicht auch noch große finanzielle Sorgen kom- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die men. Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Mangels Wider- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) spruch ist das so beschlossen. Deswegen wollen und werden wir Angehörige entlas- Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort ten. Im Pflegefall wird das Sozialamt künftig erst dann für die Bundesregierung der Parlamentarischen Staats- auf das Einkommen von unterhaltsverpflichteten Kindern sekretärin Frau Griese. und Eltern zurückgreifen, wenn das individuelle Jahres- einkommen bei über 100 000 Euro liegt. Das ist eine (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) echte Entlastung für die Angehörigen.

Kerstin Griese, Parl. Staatssekretärin beim Bundes- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) minister für Arbeit und Soziales: Wir entlasten damit die Kinder von pflegebedürftigen Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Eltern, die ja mitten im Arbeitsleben stehen, hart arbeiten, Kollegen, meine Damen und Herren, einen wunderschö- Steuern zahlen, Kinder großziehen. Dieses Gesetz ist da- nen guten Morgen! Wir sprechen heute über das wichtige mit auch ein Beitrag für den sozialen Zusammenhalt. An- Thema der Pflege, das uns alle betrifft. Die Pflege ist eine gehörige zu entlasten, fördert den sozialen Zusammenhalt der großen gesellschaftlichen Fragen, und sie ist Thema in unserer Gesellschaft. in allen Familien. Und sie ist eine der sensibelsten Fragen; denn wie wir damit umgehen, wie unsere Eltern, wie die Die Menschen, die sich um die Kinder und die Eltern älteren Menschen in unserem Land gepflegt werden, das kümmern, halten das Land zusammen. Deshalb ist es entscheidet nicht zuletzt darüber, wie menschlich unsere wichtig, dass sie entlastet werden. Gleichzeitig ist es aber Gesellschaft bleibt. auch wichtig, dass auch die Eltern entlastet werden. Sie müssen sich nun keine Gedanken mehr darüber machen, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie ob ihre Kinder finanziell Probleme bekommen, wenn die bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Eltern pflegebedürftig werden. Denn jeder, der pflegebe- GRÜNEN) dürftig ist, hat ein Recht darauf, anständig versorgt und 14210 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Parl. Staatssekretärin Kerstin Griese (A) betreut zu werden. Dieses Recht darf nicht geschmälert Meine Damen und Herren, mit diesem Gesetz entlasten (C) werden, auch wenn der Geldbeutel klein ist! wir viele Familien in Deutschland, besonders die, in An- gehörigen von Pflegebedürftigen, und die, in denen Men- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) schen mit Behinderungen leben. Wir verbessern die Si- Dass sich Kinder um ihre Eltern kümmern, wenn sie tuation für Menschen mit Behinderungen, wir verbessern pflegebedürftig werden, das ist in unserem Land zum Ausbildungschancen. Damit helfen wir ihnen, Entschei- Glück eine tausendfach gelebte Selbstverständlichkeit. dungen zu treffen – unabhängig vom Geldbeutel. Denn Zwei Drittel aller Pflegebedürftigen werden zu Hause ge- uns geht es um gute Chancen für alle. Inklusion heißt, pflegt. Deshalb ist auch die Entlastung der Angehörigen dass alle dabei sind, dass alle mitmachen können. an dieser Stelle längst überfällig. Eine menschliche Pfle- Deshalb, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen ge hat gewiss ihren Preis – aber vor allem hat sie einen und Kollegen, bitte ich Sie um konstruktive Beratungen Wert, nämlich den, dass es Menschen sind, die das tun. dieses wichtigen Gesetzentwurfes. Zu diesem Thema ha- be ich übrigens so viele positive Reaktionen wie selten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) von Bürgerinnen und Bürgern bekommen; denn viele In diesem Gesetz haben wir weitere Verbesserungen Menschen wissen, dass dieses Thema ganz wichtig ist. für Menschen mit Behinderungen vor. Wer ein volljähri- Es ist vielen Menschen ein Herzensanliegen, dass wir die ges Kind mit Behinderungen hat, der muss künftig keine Angehörigen von Pflegebedürftigen entlasten. Ich bitte Zuzahlung zur Eingliederungshilfe mehr leisten. Diesen Sie dabei herzlich um Unterstützung und gute Beratun- Beitrag streichen wir komplett. Auch damit helfen wir gen. vielen Familien, die erwachsene behinderte Kinder ha- Vielen Dank. ben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

Unser Ziel ist es, dass Menschen mit Behinderungen Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: möglichst selbstbestimmt leben und arbeiten können. Ei- Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Jürgen Pohl, ne Voraussetzung dafür ist, dass sie ihre Rechte kennen. AfD. Deshalb haben wir im Rahmen des Bundesteilhabegeset- zes bundesweit Ergänzende unabhängige Teilhabebera- (Beifall bei der AfD) tungsstellen errichtet; viele von Ihnen haben die in ihren Wahlkreisen vielleicht auch schon besucht. Dort beraten Jürgen Pohl (AfD): Menschen mit Behinderungen selbst Menschen mit Be- Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr (B) (D) hinderungen – eine Beratung auf Augenhöhe, ein neues Präsident! Es ist allerhöchste Zeit, dass wir die Familien Element der Teilhabeorientierung, der Personenzentrie- bei der Pflege besserstellen, auch finanziell. Insofern ist rung. Das ist sehr gut. Deshalb werden wir mit diesem das Angehörigen-Entlastungsgesetz ein Schritt in die Gesetz die Finanzierung der Ergänzenden unabhängigen richtige Richtung. Es hat Stärken, aber auch Schwächen. Teilhabeberatung dauerhaft sicherstellen, auch das ein Da wir uns erst in der ersten Lesung befinden, bieten wir wichtiger Schritt zur Inklusion. an, dass wir als Vertreter von 25 Prozent der Wähler im Osten tatkräftig bei der Neuausgestaltung dieses Gesetzes (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) helfen. Und Voraussetzung für ein möglichst selbstbestimmtes Gut und richtig ist es, den Alten und den zu pflegenden Leben ist auch, dass man Wahlmöglichkeiten hat, wie und Menschen die Angst zu nehmen, im Alter nicht versorgt wo man arbeitet. Auch das haben wir mit dem Bundes- zu sein. Gut und richtig ist auch, die Lebensleistung die- teilhabegesetz gestärkt. Wir haben schon das Budget für ser Menschen zu achten und wertzuschätzen, damit sie Arbeit eingeführt, mit dem Menschen, die bisher in einer auch im Alter in Würde leben können. Sprechen müssen Werkstatt für Menschen mit Behinderungen arbeiten, in wir jedoch darüber, wie das Gesetz angelegt ist. Es wird den Arbeitsmarkt gehen können. Dafür gibt es finanzielle wieder einmal die stationäre der häuslichen Pflege vor- Unterstützung. Das wollen wir jetzt um das Budget für gezogen. Es gibt keinen Grund dafür, dass wir unsere Ausbildung erweitern, damit auch die Ausbildungschan- Alten nicht dort belassen, wo sie sich wohlfühlen, näm- cen von Menschen mit Behinderungen auf dem ersten lich zu Hause, und nicht dort die Pflege vornehmen. Ich Arbeitsmarkt gestärkt werden. denke, dass insbesondere die älteren Kollegen unter (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ihnen und ihre Familien ähnliche Erfahrungen zur Prob- lematik stationärer und häuslicher Pflege gemacht haben. Unser Ziel ist, ebendiese Wahlmöglichkeit zu eröffnen Sie werden sich meiner Meinung anschließen, dass die und damit Arbeit und Ausbildung außerhalb einer Werk- häusliche Pflege vorzuziehen ist. statt für Menschen mit Behinderungen besser möglich zu machen. Das ist ein wichtiger Schritt. Wir wollen, dass (Beifall bei der AfD) Menschen mit Behinderungen in der Mitte unserer Ge- Häusliche Pflege ist ein Gebot der Menschlichkeit. sellschaft ihren Platz haben. Das ist gelebte Inklusion und Darum genießt sie bei uns in der AfD die allerhöchste Selbstbestimmung. Deshalb ist das auch ein wichtiger Wertschätzung. Und darum wollen wir sie auch finanziell Teil dieses Gesetzes. besserstellen als die stationäre Pflege. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14211

Jürgen Pohl (A) Denn die Familien werden durch die häusliche Pflege Wilfried Oellers (CDU/CSU): (C) enorm belastet. Ihnen soll zu Recht der Dank der Gesell- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- schaft gehören. men und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren Zuhörer und Gäste heute im Zugleich aber müssen wir den Alten die Ängste neh- Deutschen Bundestag! Wir beraten heute das sogenannte men, die im Zusammenhang mit den Kosten der Pflege Angehörigen-Entlastungsgesetz, ein Gesetz zur Entlas- stehen. Ich warne davor, anzunehmen, dass allein mit der tung unterhaltspflichtiger Angehöriger in der Sozialhilfe Annahme des Angehörigen-Entlastungsgesetzes die fi- und in der Eingliederungshilfe. nanziellen Ängste unserer Alten vor den Pflegekosten entfallen. Denken Sie an die Rentenproblematik: 1,5 Mil- Es wurde schon angesprochen, dass die Thematik der lionen Rentner könnten Grundsicherung im Alter bezie- Pflege in der heutigen Zeit einen sehr großen Stellenwert hen, 500 000 beantragen sie nur. Zwei Drittel der in der Gesellschaft hat. Wir sind mit Gesetzen, die wir anspruchsberechtigten Rentner schämen sich und sam- gestern beraten haben, schon dabei, die Rahmenbedin- meln lieber Flaschen, als sich beim Amt zu offenbaren. gungen in der Pflege zu verbessern. Aber ganz besonders Warum sollte das im Pflegefall anders sein? Ich meine, da und wichtig ist natürlich die finanzielle Situation der An- liegt noch Potenzial. gehörigen im Bereich der Pflege, wenn es um die Frage geht, dass sie sich an den Kosten beteiligen. Auch ist die Systematik dieses Gesetzes misslich. Ein Diese Kosten sind heutzutage nicht unerheblich. Daher Angehöriger muss entweder gar nichts oder 100 Prozent sind die Ängste und Sorgen auch der Angehörigen sehr der Kosten zahlen. Das finde ich sozial ungerecht. Sozial groß. Sie fragen sich, was geschieht, wenn sie im Falle gerecht wäre eine gestaffelte Übernahme der Kosten. Und der Pflegebedürftigkeit von Angehörigen finanziell in diese soziale Gerechtigkeit sollten wir herstellen. Anspruch genommen werden. Es ist eine zutiefst wichti- (Beifall bei der AfD) ge gesellschaftliche Aufgabe, vom Gesetzgeber aus hier entsprechende Unterstützung zu leisten, ebenso, dass die Das Ziel dieses Gesetzes, ein Altern in Würde zu er- Gesellschaft im Rahmen der Pflege Unterstützung leistet. möglichen und die Angehörigen nicht ins wirtschaftliche Das sind wir den Angehörigen schuldig, meine sehr ge- Elend zu stürzen, ist richtig und wichtig. Aber wie wollen ehrten Damen und Herren. Sie das finanzieren? Vor allem: Wer soll hier zur Kasse (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei gebeten werden? Um Klarheit zu schaffen, müssen wir in Abgeordneten der SPD) den Ausschüssen zunächst einmal klären, wie hoch die Finanzierungskosten tatsächlich sind. In der Sachverstän- Daher werden wir, wie im Koalitionsvertrag verein- (B) digenanhörung muss man sich zwingend mit den Einwen- bart, die Angehörigen von Unterhaltspflichten bzw. bei (D) dungen der Kommunen auseinandersetzen. Diese stöhnen der Heranziehung zu Unterhaltszahlungen entlasten, die bereits heute unter der chronischen Unterfinanzierung. ein Jahresbruttoeinkommen von bis zu 100 000 Euro ha- Wir müssen sehen, wie wir dieses Problem lösen. ben. Damit entlasten wir viele Menschen, die gegebenen- falls herangezogen werden könnten. Es ist eine Verbesse- Meine Damen und Herren, wir befinden uns in der rung, die sowohl die Sozialhilfe als auch soziale ersten Lesung, und noch ist es Zeit, diesen Gesetzentwurf Entschädigungsrechte und die reformierte Eingliede- erheblich nachzubessern. Allen Parteien in diesem Haus rungshilfe betrifft und entsprechend übertragen wird. sei noch ins Heft geschrieben: Unsere Eltern und Groß- eltern haben es verdient, auch im Alter mit Anstand und Was mir als Behindertenbeauftragtem unserer Fraktion Würde behandelt zu werden. ganz besonders wichtig ist, ist der Umstand, dass diese Einschränkung beim Unterhaltsrückgriff insbesondere (Beifall bei der AfD) auch für Eltern von behinderten Menschen gilt, die von dieser Regelung entsprechend profitieren. Unsere Eltern und Großeltern haben es verdient, nicht zum Spielball parteipolitischer Interessen zu werden. Je- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei der, der sich heute hier und in den Ausschüssen dem Abgeordneten der SPD) Ansinnen verschließt, die Pflege unserer Alten zu verbes- Ich möchte zu einem zweiten wichtigen Punkt kom- sern, hat diese Meinung dann vor seinen Eltern, vor sei- men, der gerade im zehnten Jahr der Ratifizierung der nen Großeltern, in der Familie zu vertreten und nicht nur UN-Behindertenrechtskonvention in meinen Augen die hier im Hohen Haus. Daran sollte jeder denken, der hier logische Konsequenz unseres bisherigen Handelns ist. heute spricht. Nachdem wir das sogenannte Budget für Arbeit einge- führt haben, ist es in meinen Augen nur eine logische Danke schön. Konsequenz, auch ein Budget für Ausbildung einzufüh- ren. Damit wollen wir junge Menschen, behinderte Men- (Beifall bei der AfD) schen, Menschen mit einer Beeinträchtigung unterstüt- zen, auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Ausbildung zu Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: machen. Wir wollen auch finanzielle Anreize für Arbeit- Nächster Redner ist der Kollege Wilfried Oellers, geber setzen, dass sie die Menschen unterstützen und CDU/CSU. ihnen eine Chance geben. Wir wollen schließlich den Menschen in der Gesellschaft im Rahmen der Inklusion (Beifall bei der CDU/CSU) und der Beteiligung am Arbeitsleben verbesserte Mög- 14212 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Wilfried Oellers (A) lichkeiten geben. Das sind wir diesen Menschen schuldig. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) Auf diese Regelungen freue ich mich ganz besonders, Nächster Redner ist der Kollege Jens Beeck, FDP. meine sehr geehrten Damen und Herren. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Allerdings müssen wir gerade bei diesem Punkt noch Jens Beeck (FDP): einmal in den parlamentarischen Beratungen, die jetzt Hochverehrter Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen anstehen, über die Voraussetzungen diskutieren, die wir und Kollegen! Frau Staatssekretärin Griese! Sehr geehrte schaffen wollen. Nach den Regelungen im bisherigen Zuschauerinnen und Zuschauer! Wir beraten heute das Entwurf ist es so, dass das Budget für Ausbildung nur Angehörigen-Entlastungsgesetz. Gerade haben wir schon dann in Anspruch genommen werden kann, wenn auch gehört, Frau Staatssekretärin Griese, dass davon gerade Ansprüche auf Werkstattleistungen bestehen und gleich- diejenigen, die zu Hause pflegen, profitieren sollen. Wie zeitig ein Angebot vorliegt, eine anerkannte Berufsaus- das mit diesem Gesetz erreicht werden soll, müssten Sie bildung oder einen Ausbildungsgang nach dem § 66 des uns noch einmal in Ruhe erklären. Berufsbildungsgesetzes oder dem § 42m der Handwerks- ( [SPD]: Das hat sie gar nicht ordnung zu absolvieren. Man muss an dieser Stelle noch gesagt! Das hat der Kollege Oellers gesagt!) einmal überlegen, ob diese Regelung nicht zu eng gefasst ist Darauf wird sich aber die pflegepolitische Sprecherin meiner Fraktion gleich noch kaprizieren. (Beifall der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Entscheidend ist, dass wir noch zwei Gesetze haben, das nächste Reparaturgesetz zum Bundesteilhabegesetz und das Budget für Ausbildung gegebenenfalls ins Leere und das Angehörigen-Entlastungsgesetz, mit denen wir läuft. Deswegen brauchen wir die parlamentarischen Be- nachsteuern können bei den Regelungen des Bundesteil- ratungen, um hier noch einmal anzusetzen. habegesetzes, die zum 1. Januar 2020 in Kraft treten. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Und da ist ganz vieles nach wie vor ungeregelt. Bis NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- heute wissen wir nicht, ob über 18-Jährige in ihren Inter- ten der SPD) natsschulen verbleiben können. Bis heute ist ungeklärt, Ein weiterer wichtiger Punkt, der auch aus der Konse- wer die sehr komplexen Verträge, die nach dem Bundes- quenz des Bundesteilhabegesetzes der letzten Legislatur- teilhabegesetz zum 1. Januar 2020 eigentlich abgeschlos- periode entstanden ist, ist die Entfristung der Finanzie- sen werden müssen, insbesondere dort, wo Angehörige (B) rung bzw. der finanziellen Unterstützung für die die Betreuung ehrenamtlich übernehmen, abschließen (D) Ergänzende unabhängigen Teilhabeberatung. Gerade die soll. Bis heute ist die Frage der Haftung dafür nicht ge- Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung hat es den klärt. Menschen ermöglicht, sich zu informieren, Unterstüt- Bis heute ist nicht geklärt, welche Flächen und welche zung zu bekommen im beruflichen Leben, im Bereich Dienstleistungen in stationären Einrichtungen, die es heu- der Teilhabe und im Rahmen des Rechts der eigenständi- te ja noch gibt, aber ab dem 1. Januar 2020 nach dem gen Lebensplanung. Die Ergänzende unabhängige Teil- Gesetz nicht mehr, der Existenzsicherung und welche habeberatung ist bisher sehr gut angekommen. Es ist der Fachleistung der Eingliederungshilfe zugeordnet wer- wichtig, diese Mittel zu entfristen, damit nicht nur für den. die Stellen, die eingerichtet worden sind, Planungssicher- heit besteht, sondern auch für die betroffenen Menschen, Ich glaube, wir müssen alle gemeinsam sehr darauf die eine Beeinträchtigung haben und die Unterstützungs- achten, Frau Staatssekretärin Griese, dass wir die hohen leistungen brauchen, um am gesellschaftlichen Leben Ziele, die das Bundesteilhabegesetz für Menschen mit teilhaben zu können. Das ist eine sehr gute Regelung, Behinderung in diesem Land verfolgt, nicht durch büro- die wir im Gesetz aufnehmen werden. kratischen Irrsinn, den wir in den letzten Monaten im Zusammenhang mit diesem Gesetz schon erlebt haben, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei vollständig konterkarieren und in Teilen sogar in ihr Ge- Abgeordneten der SPD) genteil verkehren. Als letzten Punkt möchte ich nur darauf hinweisen, Wir haben jetzt in dem Gesetzgebungsverfahren Regel- dass wir noch eine weitere klarstellende Regelung auf- ungen, mit denen wir einen Teil der Frage der Flächen- nehmen, und zwar im Bereich der Assistenzleistungen. zumessung – die 125-Prozent-Grenze; das, was darüber Die Integrationsämter werden dann kein Ermessen mehr hinausgeht, soll künftig auch Fachleistung der Eingliede- haben, wenn die Notwendigkeit der Arbeitsassistenz be- rungshilfe sein – regeln. Wir haben auf der anderen Seite reits festgestellt worden ist. Das, denke ich, dient der zugelassen – weil wir nicht pauschaliert haben –, dass in Rechtsklarheit und Rechtssicherheit. Das wird für Plan- den Einrichtungen das Mittagessen in Wareneinkauf und barkeit bei den jeweiligen Stellen sorgen und unnötige Zubereitung zerlegt werden musste. Damit haben sich Rechtsstreitigkeiten vermeiden. Ich freue mich auf die Einrichtungen tatsächlich monatelang befasst. Wir haben weiteren parlamentarischen Beratungen. uns mit der Frage befasst: Was ist eigentlich mit dem Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Gaseinkauf für den Herd, auf dem zubereitet wird? Ge- hört das zu den existenzsichernden Leistungen, oder ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) hört es zu den Fachleistungen der Eingliederungshilfe? Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14213

Jens Beeck (A) (Zuruf der Abg. Kerstin Tack [SPD]) nende. Denn über 8 300 Euro Monatseinkommen ist ja (C) – Ja, Frau Tack, das haben Sie zugelassen. Sie sind in nicht gerade wenig. einer regierungstragenden Fraktion. – Und jetzt kommen Immerhin: Eine Ungleichbehandlung im Sozialgesetz- wir noch mit Jahressteuergesetzen um die Ecke, die viel- buch XII wird endlich aufgehoben. Denn die hier vorge- leicht dafür sorgen, dass wir das in der Umsatzsteuer schlagene Regelung gilt für alle Sozialhilfeleistungen wie unterschiedlich bewerten. auch im Entschädigungsrecht und für Eltern von Kindern, Es bleibt also dabei, dass wir eine Vielzahl von büro- meist mit Behinderungen. Aber das ist lange überfällig. kratischen Maßnahmen machen, die dazu führen, dass es Das ist ein Schritt in die richtige Richtung einer einkom- sehr, sehr schwierig wird, die positiven Effekte, die das mensunabhängigen Leistung, in die menschenrechtliche Bundesteilhabegesetz eigentlich für die Betroffenen und Ausgestaltung von Sozialleistungen. Das ist gut, und na- die Einrichtungen haben sollte, noch umzusetzen. türlich unterstützen wir das. In dem Zusammenhang: Die Ergänzende unabhängige (Beifall bei der LINKEN) Teilhabeberatung weiter vorzusehen, ist richtig. Aber Aber das Selbstlob der Kanzlerin in der Haushaltsde- richtiger wäre es, eine solche Teilhabeberatung gar nicht batte, dies sei ein „großer Beitrag zu mehr Sicherheit für zu brauchen, weil die Regelungen, die wir haben, klar und viele junge Familien, die vor ganz anderen Aufgaben verständlich sind und nicht dazu führen, dass am Ende stehen“ – meine Damen und Herren, das teilen wir nicht. niemand mehr weiß, wo er eigentlich die Chance hat, seine Rechte geltend zu machen. (Beifall bei der LINKEN) Das gilt im Übrigen auch für das Budget für Ausbil- Hier geht es nicht um ein Generationenproblem. Hier geht dung; Herr Kollege Oellers hat darauf hingewiesen. Das es um die Frage, ob Pflege weiterhin arm macht. Budget für Arbeit gibt es schon. Nur, wenn wir die Zahlen verfolgen: Es funktioniert nicht. Es funktioniert genauso Durch das Gesetz wird es keinen einzigen Menschen wenig wie das persönliche Budget. mit Pflegebedarf weniger geben, der Sozialhilfe beantra- gen muss. Das sind heute immerhin 380 000. Fast 3,5 Mil- Wir laufen schwer Gefahr, dass auch das Budget für liarden Euro geben die Kommunen jährlich dafür aus. Ausbildung nicht funktionieren wird, weil es überhaupt Doch nur für geschätzt 2 Prozent dieser Ausgaben wurden nicht mit Vorschriften dazu arrondiert ist, dass jemand auf Angehörige herangezogen. Der Gesetzentwurf selbst dem ersten Arbeitsmarkt auch mit den Einschränkungen, spricht nur von 275 000 zu erwartenden Leistungsfällen. die er hat, erfolgreich sein kann. Dafür gibt es Modelle. Entlastet werden also nur wenige Angehörige. Diese Modelle laufen derzeit aber durch eine sehr rigide (B) Bewilligungspraxis der Bundesagentur für Arbeit Gefahr, Aber mindestens 3 Millionen pflegende Angehörige (D) nicht mehr weiterarbeiten zu können. Daran müssen wir brauchen aktive Unterstützung: Versorgungsangebote, arbeiten. Rehaleistungen und eine echte Kompensation für Ein- kommens- und Rentenverluste. Frau Staatssekretärin Griese, ich schätze Sie persönlich außerordentlich als eine Person, die im Leben steht. Ihre (Beifall bei der LINKEN) Gesetze tun das nicht. Die Kommunen fordern einen Ausgleich für ihren (Widerspruch bei der SPD) Mehraufwand von geschätzt 300 Millionen Euro, zu Recht: Mehr Sozialhilfeausgaben verkleinern ihre Mög- Daran müssen wir gemeinsam arbeiten. Deswegen bieten lichkeiten für eine gute Pflegeinfrastruktur. Und der Bund wir Ihnen an, dass wir daran in der Anhörung und in den kommt mit 11 Millionen Euro jährlich davon! Beratungen konstruktiv mitarbeiten. Der Bund muss endlich von den global agierenden Herzlichen Dank. Pflegeketten, die ihre Gewinne in Luxemburg verstecken, (Beifall bei der FDP) die Steuern eintreiben. Denn es wird viel Geld gebraucht. (Beifall bei der LINKEN) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Pia Zimmermann, Die Linke, ist die nächste Rednerin. Es wird viel Geld gebraucht für Menschen mit Pflege- bedarf und ihre Angehörigen; die sind gemeinsam zu ent- (Beifall bei der LINKEN) lasten. Pflege darf nicht arm machen, und zwar nieman- den. Pia Zimmermann (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste (Beifall bei der LINKEN) auf den Tribünen! Angehörigen-Entlastungsgesetz: Die- Daran gemessen ist auch dieses Gesetz zu klein, zu mut- ser Titel weckt Erwartungen. Was hier vorliegt, löst im- los und zu sehr von der schwarzen Null geprägt. merhin ein Versprechen aus dem Koalitionsvertrag ein: Kinder und Eltern, die nach dem SGB XII unterhaltsver- Entlasten Sie alle Angehörigen und alle Menschen mit pflichtet sind, werden tatsächlich entlastet. Pflegebedarf konsequent! Wir brauchen eine Pflegevoll- versicherung, die alle Pflegeleistungen bezahlt, solida- Bis 100 000 Euro brutto kann das Sozialamt nicht mehr risch finanziert, weil alle einzahlen. auf das Jahreseinkommen der Kinder pflegebedürftiger Eltern zurückgreifen. Das betrifft auch viele Gutverdie- (Beifall bei der LINKEN) 14214 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Pia Zimmermann (A) Schaffen Sie die Eigenanteile ab! Befreien Sie die gar nicht auf die Welt kommen, sondern abgetrieben wer- (C) Menschen mit Pflegebedarf von Investitionskosten! He- den. ben Sie das Rentenniveau! Wir haben das kontrovers diskutiert. Wir haben kontro- Dann werden Anträge für Hilfe zur Pflege schrittweise vers diskutiert, ob die gesetzlichen Krankenversicherun- überflüssig. Und alle Beteiligten werden entlastet: die gen zukünftig diese Tests finanzieren sollen. Ich sage Menschen mit Pflegebedarf, die Angehörigen und die Ihnen ganz ehrlich und ganz persönlich: Ich sehe das Kommunen. kritisch. Ich finde, das ist keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Aber die Frage werden wir heute Meine Damen und Herren, herzlichen Dank für Ihre Morgen nicht klären können. Aufmerksamkeit. Andere haben argumentiert, es gehe bei dieser Frage (Beifall bei der LINKEN) um eine soziale Frage. Auch das halte ich für abwegig. Aber auch diese Frage müssen wir hier nicht klären. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Worin wir uns einig waren, ist, dass wir es nicht zu- Jetzt hat das Wort die Kollegin Corinna Rüffer, Bünd- lassen dürfen – egal wie man darüber diskutiert und was nis 90/Die Grünen. man persönlich davon hält –, dass die Krankenversiche- rung einerseits so einen Test finanziert und dass anderer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) seits Familien, die ein Kind mit Behinderung aufnehmen, willkommen heißen, im Leben begrüßen, im Regen ste- Corinna Rüffer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hen gelassen werden. Das ist, finde ich, ein Rahmen, un- Liebe Demokratinnen! Liebe Demokraten! Sehr geehr- ter dem man diese Debatte heute sehen muss. ter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union und von der SPD, Sie möchten mit diesem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gesetz Angehörige entlasten. Das finden wir gut und und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten richtig so. Kinder pflegebedürftiger Eltern sollen künftig der CDU/CSU und der SPD) in der Regel nicht mehr finanziell herangezogen werden. Das haben auch fast alle Rednerinnen und Redner, die Das ist eine Frage von Anerkennung, und es ist auch eine von diesem Pult aus gesprochen haben, getan. Alle haben Frage der Würde der Pflegebedürftigen selber, weil sie in gesagt: Wir heißen Kinder mit Behinderungen in dieser einer schwierigen Situation nicht noch mit dem Gefühl Gesellschaft willkommen, und wir wollen es nicht zulas- leben sollen, ihren Kindern im Alter auf der Tasche zu sen, dass Eltern dieser Kinder alleingelassen werden mit liegen. Das ist, finde ich, ein ganz wichtiger Aspekt: der der finanziellen Verantwortung. – Diese finanzielle Ver- (B) Aspekt der Würde. antwortung haben die Eltern, und sie tragen sie, und zwar (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gerne, weil sie dafür sorgen wollen, dass ihr behindertes bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Kind gleichberechtigt in dieser Gesellschaft leben und Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU]) lernen kann, gleiche Chancen hat. Auch die Eltern erwachsener behinderter Menschen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wollen Sie finanziell entlasten. Auch das finden wir gut wie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- und richtig. Aber – darauf haben Sie gewartet - KEN) (Dagmar Schmidt [Wetzlar] [SPD]: Ich wusste Unser Auftrag ist, sie damit nicht alleinzulassen. Diesen es!) Auftrag sollten wir in allen Debatten, die wir in diesem Kontext in den nächsten Monaten führen werden, einbe- für die Eltern minderjähriger behinderter Kinder sehen ziehen. Wir stecken mitten in dieser Debatte und suchen Sie keine Entlastungen vor. Die müssen weiterhin selber nach Lösungen für die Fragestellungen. Auch mit der dafür bezahlen, wenn sie dafür sorgen wollen, dass ihre diesbezüglichen Entscheidung des G-BA sind wir über- Kinder genauso wie alle anderen Kinder in der Gesell- haupt noch nicht am Ende. schaft leben und lernen können. Das wollen wir so nicht stehen lassen. Auch an anderen Stellen müssen wir entlasten. Sie alle kennen das aus Ihren Wahlkreisen, die Behinderten- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- beauftragten Ihrer Fraktionen kennen das ganz besonders: wie bei Abgeordneten der LINKEN und des Wir hören ständig in Gesprächen mit Eltern von Kindern Abg. Jens Beeck [FDP]) mit Behinderungen, dass sie kafkaeske Situationen erle- ben. Eltern berichten uns, dass sie von Hinz zu Kunz ge- Ich will auch begründen, warum wir alle das so nicht schickt werden, von Pontius zu Pilatus, oft jahrelang mit stehen lassen dürfen. Sie erinnern sich: Wir haben im Behörden streiten müssen, durch sämtliche gerichtliche April hier eine Orientierungsdebatte geführt, in der es Instanzen gehen müssen, über Jahre hinweg, um endlich um den Bluttest auf Trisomie 21 ging. Viele weitere Blut- ihr Recht zu bekommen. Das sind so langwierige Aus- tests stehen auf der Tagesordnung. Mit diesem einfachen einandersetzungen, dass Familiensysteme dadurch tat- Test kann man vorgeburtlich herausfinden, ob ein Kind sächlich so stark belastet werden, dass manche auseinan- mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Trisomie 21 geboren derfallen. Das dürfen wir nicht zulassen. wird. Die Entscheidung, so einen Test, der vielleicht ein – in Anführungszeichen – positives Ergebnis hat, zu ma- Wir reden heute hier darüber, dass die Ergänzenden chen, führt in ganz vielen Fällen dazu, dass diese Kinder unabhängigen Teilhabeberatungen endlich die Sicherheit Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14215

Corinna Rüffer (A) erhalten, auf Dauer finanziert zu werden. Auch das finden warten, dass sie mehr Lasten tragen als diejenigen, die (C) wir gut und richtig. schwächere Schultern haben, gerade wenn es um die ei- genen Angehörigen geht. Wenn sie aber für ihre eigenen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Eltern zahlen müssen und deswegen Geld an anderer ent- wie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- scheidender Stelle fehlt, dann ist das offensichtlich un- KEN und des Abg. Jens Beeck [FDP]) sinnig. Deswegen stellen wir das ab jetzt ab. Da kann man noch mehr tun. Man kann den Beratungs- stellen noch mehr Planungssicherheit geben, indem man (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei ihnen die Fördermittel über längere Zeit verlässlich zu- Abgeordneten der SPD) gesteht. Das ist alles gut und richtig so. Künftig beteiligt sich an den Pflegekosten der eigenen Ich nehme wahr – das wurde hier ja schon gesagt –, Eltern nur noch, wer mehr als 100 000 Euro brutto im Jahr dass die Beratungsstellen eine ganz hervorragende Arbeit verdient. Diese Entlastung hilft den Menschen ganz kon- leisten. Aber sie können keine kafkaesken Situationen kret im Alltag. Das sind gute Nachrichten, auch für die lösen; das muss man dazusagen. Die Beratungsstellen Menschen bei mir zu Hause. Ich bin sehr zufrieden, dass können nicht die Probleme lösen, die der Gesetzgeber wir dieses gute Gesetz heute auf den Weg bringen. verursacht hat. Deswegen müssen wir Gesetze machen, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die klar sind, die dem Sachbearbeiter keine Möglichkeit bieten, nach Gutdünken, nach Ermessen zu entscheiden, Es geht bei diesem Gesetz aber noch um viel mehr. Ich sodass Leute zum Teil gegen ihren Willen in Heime ge- möchte zwei Punkte hervorheben, die mir persönlich schickt werden, sodass Probleme über Jahre nicht gelöst wichtig sind: werden, sodass Familiensysteme, wie ich gerade gesagt habe, wirklich in die Krise, in einen Stresstest geraten. Erstens. Wir verstetigen die Mittel für die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung. Ich habe in meinem Diese Aufgaben wurden durch das Bundesteilhabege- Wahlkreis zwei Projekte, die auf diese Weise gefördert setz leider nicht gelöst. Da sind wir, da ist der Gesetzgeber werden. In diesen Projekten wird eine tolle Arbeit geleis- krachend gescheitert. Wir müssen konsequent – das sage tet, indem Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchti- ich am Ende einer jeden Rede, aber heute wieder mit gungen beraten werden. In Frankenthal geht es insbeson- voller Überzeugung – alle gemeinsam an einer inklusiven dere um Hörgeschädigte, und in Ludwigshafen geht es Gesellschaft arbeiten. Und das bedeutet, den Menschen schwerpunktmäßig um das Thema „seelische Gesund- Rechtssicherheit zu geben. Da haben wir wirklich dicke heit“, was ja ein immer komplexeres und größeres Thema Brocken vor uns liegen. wird. Ich war in beiden Einrichtungen vor Ort und konnte mich davon überzeugen, wie gut und richtig zum Beispiel (B) Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. (D) dieser Peer-to-Peer-Ansatz ist, den wir staatlich fördern. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Es geht um die Stärkung der Selbstbestimmung von Men- und bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Astrid schen mit Behinderungen oder Erkrankungen. Wer könn- Mannes [CDU/CSU]) te da besser beraten als Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind oder waren? Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Die Projektförderung war bislang befristet bis zum Torbjörn Kartes, CDU/CSU, hat als Nächster das Wort. 31. Dezember 2022. Ich kann sagen – das ist schon gesagt worden –: Diese Einrichtungen brauchen jetzt vor allem (Beifall bei der CDU/CSU) Planungssicherheit. Jeder von uns weiß, wie schwierig es ist, mit immer wieder befristeten Mitteln etwas Dauer- Torbjörn Kartes (CDU/CSU): haftes zu schaffen. Jetzt wird die Ergänzende unabhängi- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kol- ge Teilhabeberatung dauerhaft finanziert. Das ist eine leginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir weitere sehr gute Nachricht heute. Ich kann nur noch ein- entlasten mit diesem Gesetz circa 275 000 Menschen in mal betonen, wie wichtig dieses zusätzliche Angebot ist. Deutschland. Rein rechnerisch, rein statistisch sind das in etwa 900 Menschen in meinem Wahlkreis, die pflegebe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dürftige Angehörige haben. Es schließt eine echte Lücke in unserem System und stellt Ich kann sagen, dass ich zu Hause regelmäßig auf diese Betroffenen ein unentgeltliches, niederschwelliges Bera- Thematik angesprochen werde. Dabei geht es immer um tungsangebot zur Verfügung. Ich habe mittlerweile ge- persönliche Schicksale, um Sorgen, weil Mutter oder Va- lernt – ich sage das ganz offen –, dass es oft nur um einen ter schwer erkrankt sind und Hilfe nötig haben. Es geht Türöffner geht, dass Menschen oft gar nicht wissen, was dabei immer auch um die Frage, wie man das finanzieren es eigentlich für Möglichkeiten in ihrer Situation gibt, soll, wenn die Rente, die Pflegeversicherung und das Ver- wer ihr richtiger Ansprechpartner ist. Sie brauchen mögen von Mutter und Vater eben nicht ausreichen. Der manchmal nur jemanden, der sie einfach an die Hand Staat zieht heute nicht nur Menschen mit sehr hohen Ein- nimmt und ein Stück weit begleitet. Damit sind Arbeit- kommen zur Finanzierung der Pflege ihrer Angehörigen geber, Jobcenter und Verwaltungen manchmal überfor- heran, sondern das trifft bislang auch Menschen mit ab- dert. Es fehlt die Vernetzung, teilweise die Qualifikation soluten Durchschnittseinkommen. Um es gleich ganz klar und leider manchmal auch einfach die Zeit, um vernünftig zu sagen: Von Menschen mit sehr hohen Einkommen, mit zu beraten. Genau diese Lücke schließt die Ergänzende stärkeren Schultern können wir, denke ich, zu Recht er- unabhängige Teilhabeberatung. Ich bin davon überzeugt, 14216 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Torbjörn Kartes (A) dass wir damit ganz vielen betroffenen Menschen eine Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (C) große Hilfe anbieten können. Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Martin Sichert, AfD. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Kerstin Tack [SPD]) (Beifall bei der AfD) Martin Sichert (AfD): Einen zweiten Punkt möchte ich in aller Kürze anspre- chen. Wir schaffen mit diesem Gesetz – auch das ist schon Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Kartes, erwähnt worden – ein Budget für Ausbildung für Men- nicht nur den Töchtern und Söhnen sollten wir danken, schen mit Behinderungen. Dieses Budget umfasst die Er- sondern auch den Ehemännern und Ehefrauen, die ihre stattung der gesamten Ausbildungsvergütung und der Angehörigen pflegen; denn deren Pflege ist genauso Aufwendungen für die wegen der Behinderung erforder- wertvoll. lichen Anleitungen und Begleitungen am Arbeitsplatz ge- Kürzlich erzählte mir ein Bürger von seinem persön- nauso wie in der Berufsschule. Das ist ein Meilenstein. lichen Schicksal. Seine Frau wurde vor einigen Jahren Ich bin überzeugt davon, dass auf diesem Weg die Chan- durch ein geplatztes Blutgefäß im Gehirn zum Pflegefall. cen von Menschen mit Behinderungen, einen Ausbil- Er versorgte sie so lange, wie es ging, zu Hause, musste dungsplatz zu finden und zu einem Abschluss zu gelan- sie aber letztlich dann doch in einem Pflegeheim unter- gen, deutlich erhöht werden. Das ist ein Superanreiz für bringen. Deshalb lebt er nun an der Armutsgrenze, ob- Arbeitgeber. Ich glaube, dass wir auch damit einen rich- wohl beide Ehepartner ihr Leben lang gearbeitet und gut tigen Schritt weiterkommen. fürs Alter vorgesorgt hatten. Aber die Pflegeheimkosten fressen sämtliche Ersparnisse und die Rente auf; denn der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Deutsche muss sich nackig machen und mit seinem Ei- der SPD) gentum die Pflegekosten bezahlen. Der alte Mann muss nun so leben wie jemand, der sein ganzes Leben lang Zum Schluss komme ich noch einmal auf den Kern nichts getan und Hartz IV bezogen hat, und das, obwohl dieses Gesetzes, die Entlastung bei der Pflege, zu spre- dieser Mann als liebevoller und treusorgender Ehemann chen. Manche Pflegebedürftigen, die in Pflegeheimen zusätzliche Kosten hat, weil er tagtäglich ins Pflegeheim besser aufgehoben wären, meiden den Umzug ins Pflege- zu seiner Frau fährt. heim aus Sorge, dass ihre Angehörigen dann für sie zah- Das, was hier geschieht, ist nicht sozial gerecht; denn len müssen. Diese Angst wollen wir den Menschen neh- stellen wir uns vor, der Mann und die Frau hätten vor der men. Das heißt aber ausdrücklich nicht, dass die Pflege Rente in Syrien gelebt. Er schafft sie dann als Pflegefall (B) (D) jetzt in großem Stil von der eigenen Wohnung ins Heim nach Deutschland, verlagert wird. Ich glaube ganz klar nicht daran, und das ist auch nicht mein Bild von unserer Gesellschaft. Die ( [SPD]: Bingo! – Weitere Zu- allermeisten alten Menschen wollen so lange wie möglich rufe von der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN zu Hause bleiben. Erst wenn es wirklich nicht mehr geht, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wollen sie in ein Pflegeheim. Natürlich werden wir künf- und sie kommt hierzulande in ein Pflegeheim. Beide kön- tig mehr Menschen in Pflegeeinrichtungen haben, aber nen hier auf Staatskosten leben; das erklärt sich allein aus der demografischen Entwick- lung und nicht dadurch, dass jetzt massenhaft Familien (Stefan Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ihre Angehörigen abschieben, da sie keine Kostenbetei- NEN]: Das ist ja Unsinn, was Sie da erzählen!) ligung mehr zu fürchten haben. So sind ganz viele Töch- denn obwohl beide nicht asylberechtigt sind, bekommen ter und Söhne nicht, erst recht nicht diejenigen, die ihre sie eine Duldung, weil man die Frau in Deutschland für Angehörigen bisher zu Hause gepflegt haben. transportunfähig erklärt und grundsätzlich keine Familien trennt. Ich möchte heute schließen mit einem herzlichen Dank an diese pflegenden Söhne und Töchter: Sie sind groß- (Beifall bei der AfD – Zuruf von der SPD: Het- artig, Sie haben unseren Respekt und unsere Anerken- zer! – Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nung und vor allen Dingen auch unsere weitere Unter- NEN: Die alten Menschen sind Ihnen doch stützung verdient. Wenn es wirklich nicht weitergehen scheißegal! – Weitere Zurufe von der CDU/ sollte, wenn die bedarfsgerechte Betreuung zu Hause CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜND- nicht mehr möglich sein sollte und Ihre Angehörigen im NIS 90/DIE GRÜNEN) Pflegeheim besser aufgehoben sein sollten, dann können Er könnte hier leben, seine Frau wäre gut versorgt, und Sie sich bei dieser Entscheidung in Zukunft darauf ver- wenn sie dann irgendwann gestorben wäre, könnte er zu- lassen, dass Ihnen der Staat in finanzieller Hinsicht Luft rück nach Syrien. Sein Vermögen und sein Haus dort zum Atmen lässt. – Genau darum geht es bei diesem blieben in der ganzen Zeit unangetastet. Gesetz. (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist Vielen Dank. doch von euren Freunden weggebombt wor- den!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Für die soziale Gerechtigkeit muss ein Grundsatz gel- Abgeordneten der SPD) ten: Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14217

Martin Sichert (A) (Katja Mast [SPD]: Schäbig, was Sie tun!) AfD im Kommunalparlament, und das ist gut (C) so!) Was den frisch Eingewanderten unbürokratisch und kos- tenlos gewährt wird, muss auch Deutschen unbürokra- Diese Unsicherheiten müssen wir den Kommunen neh- tisch und kostenlos gewährt werden. men, indem wir klarmachen, dass der Bundestag die Ver- antwortung ernst nimmt und wir die Kosten dafür aus (Beifall bei der AfD – Dr. Matthias Zimmer dem Bundeshaushalt finanzieren. [CDU/CSU]: Schäbig! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der AfD) NEN]: Stimmt doch gar nicht! Hören Sie doch Wir brauchen Planungssicherheit für die Kommunen, und mal auf mit dieser Ausländerhetze! Gehen Sie wir brauchen soziale Gerechtigkeit für die hart arbeiten- doch rüber! – Zuruf der Abg. Leni Breymaier den Menschen in Deutschland. [SPD]) Vielen Dank. – Ja, regen Sie sich nur auf. – Aktuell ziehen Sie nämlich die Deutschen bis aufs Hemd aus. Sie landen dann mas- (Beifall bei der AfD) senweise in Altersarmut, auch wenn sie ein Leben lang hart gearbeitet und vorgesorgt haben. In einem Land, in dem unbegrenzt Geld für Sozialleistungen für frisch ins Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Land Eingereiste da ist, deren Vermögen im Heimatland Jetzt hat das Wort die Kollegin Katja Mast, SPD. nicht angetastet wird, dürfen auch die Deutschen nicht zur (Beifall bei der SPD) Kasse gebeten werden. (Beifall bei der AfD – Britta Haßelmann Katja Mast (SPD): [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sind Sie ei- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und gentlich in Bayern wiedergewählt worden? Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich Ich glaube, nicht!) bin froh, in einem Land zu leben, in dem die Gesetze für alle gelten, die hier leben, Wenn Sie wirklich soziale Gerechtigkeit wollen, dann sollten wir dafür sorgen, dass nicht nur die Kinder, son- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie dern auch die Ehepartner deutlich entlastet werden. Zu- bei Abgeordneten der CDU/CSU und des sätzlich müssen wir – das hat der Kollege Pohl ja schon BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) erwähnt – jene stärker belohnen, die sich um ihre Ange- einem Land, in dem wir nicht nach der Herkunft fragen, hörigen kümmern und sie zu Hause pflegen; denn ein sondern danach, was die Menschen in unserer Gesell- (B) Pflegebedürftiger ist nirgendwo in so guten Händen wie (D) schaft leisten. bei liebevollen Angehörigen. Dass diese Angehörigen ihre eigene Zeit und Kraft zum Wohl der Pflegebedürfti- Ich bin froh, dass wir heute über ein Gesetz diskutieren, gen und zum Wohl der Allgemeinheit investieren, weil sie bei dem es nicht nur um die Pflege von älteren Mitbür- uns damit große Kosten ersparen, müssen wir als Parla- gerinnen und Mitbürgern geht, sondern auch um Kinder, mentarier deutlich stärker honorieren. die über 18 Jahre alt sind und von ihren Eltern gepflegt werden. Das hat der Kollege von der AfD, der als Erstes Zum Schluss möchte ich noch darauf hinweisen, dass gesprochen hat, leider vergessen. Es geht nicht nur um die durch den Gesetzentwurf, den Sie hier eingebracht haben, Älteren, also diejenigen, die am Lebensende gepflegt viel Unsicherheit entstanden ist. Um den Bezirkstagsprä- werden müssen, sondern auch um Menschen in ihrer gan- sidenten von Oberbayern, einer Region, die mehr Ein- zen Erwerbsbiografie. Ich bin froh, dass wir diese Debatte wohner als die meisten Bundesländer hat, zu zitieren: in Deutschland führen, meine sehr verehrten Damen und Wir müssen mit einer großen Unbekannten leben. Herren. Wie viel tatsächlich an Mehrkosten auf uns zu- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kommt, weiß heute noch niemand. der CDU/CSU) (Dr. Jens Zimmermann [SPD]: Ja, was denn Ich wollte meine Rede eigentlich mit einer Frage be- jetzt?) ginnen: Woran denken Sie beim Thema Pflege? Denken Liebe Große Koalition, liebe Regierung, ich würde Sie an sich selbst, wenn Sie alt sind? Werden Sie dann mich freuen, wenn Sie auch mal mit Ihren Kollegen in gepflegt, wie wird das aussehen? Denken Sie vielleicht an den kommunalen Parlamenten reden würden, bevor Sie Ihre Kinder, die gerade krank waren und die Sie mit Ka- hier Gesetzentwürfe einbringen, millentee, Salzstangen (Leni Breymaier [SPD]: Machen wir täglich! – (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Angelika Glöckner [SPD]: Machen wir!) und viel Fürsorge gepflegt haben? Denken Sie vielleicht um solche Unsicherheiten zu vermeiden. an die Pflegerinnen und Pfleger in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen? Das Thema betrifft uns alle, und ich ( [CDU/CSU]: Im Gegensatz zu bin mir sicher, dass jeder, der mir gerade zuhört, egal ob Ihnen haben wir Leute in den kommunalen Par- auf den Zuschauerrängen, an den Bildschirmgeräten oder lamenten! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/ auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, Bilder vor DIE GRÜNEN]: In Bielefeld gibt es gar keine Augen hat, Bilder, die Empathie auslösen, manchmal aber 14218 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Katja Mast (A) auch anstrengende Bilder. Deshalb treffen wir mit diesem Vielen Dank. (C) Angehörigen-Entlastungsgesetz den Kern der Gesell- schaft. Die Menschen beschäftigen sich mit der Pflege. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Diese Koalition beschäftigt sich mit der Pflege. Heute der CDU/CSU) gehen wir einen weiteren wichtigen Schritt zur Entlastung der Angehörigen. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Nicole Westig, FDP, ist die nächste Rednerin. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. [CDU/CSU]) (Beifall bei der FDP) Ich selbst habe auch Bilder vor Augen. Ich denke an meine Mutter. Ich denke an meinen Bruder, der Alten- Nicole Westig (FDP): pfleger ist. Ich denke an meine Kinder. Und ich denke an Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei- die Familien, die ich im Sommer bei einer Kur getroffen nen Teil der Freude von Frau Mast kann ich teilen. Wir habe, wo die Eltern immer auch Pflegende ihrer Kinder Freie Demokraten begrüßen es, wenn Angehörige von waren. Pflegebedürftigen, ganz gleich welchen Alters, entlastet Natürlich ist es notwendig, dass wir die Situation für werden. Es ist richtig, dass künftig weniger Menschen Familien verbessern, wenn es um das Thema Pflege geht. finanziell herangezogen werden sollen, wenn die Kosten Genau das machen wir heute. Wir sagen: Man muss für für die Pflege nicht aufgebracht werden können. Aller- die Pflege von Eltern oder eigenen Kindern erst dann dings sollte dies nicht einseitig zulasten der Kommunen aufkommen, wenn man über 100 000 Euro im Jahr ver- gehen. Das ist nicht fair und widerspricht dem Konnexi- dient. Das ist gut so, weil es ansonsten zu belastenden tätsprinzip. Die Kommunen sind nicht zuletzt durch die Situationen für die Familien kommen kann. Und wir sind Hilfe zur Pflege bereits jetzt schwer unter Druck. Wie doch als Koalition gewählt worden, um das Leben der sollen sie da noch die geschätzten Mehrkosten von einer Menschen, der Familien im Alltag besser zu machen. halben bis zu einer Milliarde Euro übernehmen? (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Machen wir uns nichts vor: Um den Herausforderun- Abg. Dr. Astrid Mannes [CDU/CSU]) gen der alternden Gesellschaft zu begegnen, brauchen wir gerade die Kommunen. Wir müssen Strukturen schaffen, Dass wir als Koalition handeln und die Pflege auf dem damit Menschen mit Pflegebedarf länger zu Hause blei- Radar haben, zeigen wir nicht nur heute. Wir haben ges- ben können. Wir brauchen innovative Wohnkonzepte, um tern das Pflegelöhneverbesserungsgesetz diskutiert, bei die individuellen Bedürfnisse älterer Menschen decken (B) dem es darum geht, die Tarife für Menschen in der Pflege zu können. Wir benötigen mehr Vernetzung vor Ort, ge- (D) zu verbessern. Wir haben in dieser Legislatur auch schon rade auch mit dem Ehrenamt. Der Schlüssel für all das etwas für die Ausbildung zum Altenpfleger getan. Wir liegt bei unseren Kommunen. Deshalb sollten wir diese haben als ersten Schritt auf dem Weg zur Entlastung nicht durch übermäßige Belastungen verprellen, sondern schon mehr Personal in den Einrichtungen zur Verfügung den Dialog mit ihnen suchen. gestellt. Pflege ist für uns ein Riesenthema. Ich kann Ihnen sagen: Gerade wir von der SPD haben hier in den (Beifall bei der FDP) Koalitionsverhandlungen immer wieder den Finger in die Wunde gelegt, und wir gehen bei diesem Thema mutig Wieder einmal legt die Regierung ein Gesetz mit einem voran. wohlklingenden Namen vor, ohne ein Finanzierungskon- zept zu liefern. Wie sieht es mit Maßnahmen aus, damit (Beifall bei der SPD) weniger Pflegebedürftige Hilfe zur Pflege benötigen? Dies würde auch die Kommunen entlasten. Der Titel Wir denken auch über den Tag hinaus. Liebe Kollegin- „Angehörigen-Entlastungsgesetz“ ist irreführend. Ja, nen und Kollegen von der CDU/CSU, wir schaffen in das Gesetz soll Angehörige bei der Finanzierung der Pfle- dieser Legislatur viel gemeinsam, und das ist auch gut ge entlasten. Es schafft aber keine Entlastung für pflegen- so. Aber wir haben auch noch einiges vor. Wir wollen de Angehörige. 76 Prozent der Pflegebedürftigen werden noch mehr. Wir wollen zum Beispiel, dass der Eigenanteil zu Hause gepflegt. Viele der sie pflegenden Angehörigen der Pflegekosten für die Pflegeeinrichtungen gedeckelt sind psychisch und physisch am Ende und leiden unter wird. Wir wollen perspektivisch eine Pflegebürgerversi- finanziellen Einbußen – bis hin zur Altersarmut. cherung, weil wir nicht verstehen, warum wir in dieser Gesellschaft Unterschiede bei der Finanzierung der Pfle- Diese Menschen benötigen dringend mehr Unterstüt- ge machen. zung. Dazu gehören mehr Angebote für Kurzzeit- und Verhinderungspflege, niedrigschwellig und unbürokra- (Beifall bei der SPD) tisch, digitale Anwendungen für die Pflege zu Hause All das sind Perspektiven, die zur heutigen Debatte dazu- und mehr Prävention, damit Pflegetätigkeit nicht direkt gehören. zu Pflegebedürftigkeit führt. Wir können es uns nicht leisten, diese große Gruppe länger im Regen stehen zu Heute freue ich mich vor allen Dingen, dass wir die lassen. Deswegen muss die Bundesregierung Maßnah- Angehörigen entlasten. Dagmar Schmidt wird nachher men zur besseren Unterstützung pflegender Angehöriger noch auf die weiteren Aspekte des Gesetzes eingehen. vorlegen. Ich freue mich: Wir entlasten heute die Familien, in denen Eltern oder auch erwachsene Kinder gepflegt werden. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14219

Nicole Westig (A) Das Angehörigen-Entlastungsgesetz ist gut gemeint, Es darf bei Inklusion und Teilhabe keine finanziellen Vor- (C) aber noch lange nicht gut gemacht. behalte geben. Deswegen besteht die Kritik der Linken am BTHG weiter. Menschenrechtlich ist es geboten, Kos- (Beifall bei der FDP) tenvorbehalte und das Zwangspooling zu streichen.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Sören Pellmann, Die Linke, ist der nächste Redner. Herr Spahn, der heute abwesend ist, war vor wenigen (Beifall bei der LINKEN) Tagen in der Nähe meines Wahlkreises und hat dort mit Menschen mit Behinderungen gesprochen. Die haben Sören Pellmann (DIE LINKE): ihm ihre Nöte mit auf den Weg gegeben. Sie haben ihre Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Wünsche und Sorgen geäußert, und er hat gesagt, er neh- Satz, ehe ich einsteige: Herr Sichert, wenn Sie sich hier- me das mit nach Berlin. Ich glaube, er hat es im Auto hinstellen und von Menschlichkeit reden, glaube ich, ist liegen gelassen, so zumindest mein Eindruck, wenn ich das Thema klar verfehlt. mir das Vorgehen der Koalition anschaue. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- Zusammenfassend: Erstens. Der Zwang auf Menschen ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mit Behinderung durch Poolen muss ein Ende haben. Menschen sind frei in ihren Entscheidungen. Die Kollegin Zimmermann hat bereits darüber reflek- tiert, welche Vorteile das heute zu beratende Gesetz für (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- Familien an Entlastung bringt. Das ist gut und begrüßens- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wert. Allerdings ist das auch längst überfällig. Erneut, Zweitens. Die nachweisbare Benachteiligung auf dem liebe Kolleginnen und Kollegen, muss man feststellen: Arbeitsmarkt muss endlich gestoppt werden. Wenn es um die Belange von Menschen mit Behinderun- gen geht, werden diese Menschen immer nur als Anhäng- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- sel gesehen, werden Regelungen für sie immer nur in ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) einem sogenannten Omnibusgesetz an einen Gesetzes- Zu viele Unternehmerinnen und Unternehmer kaufen sich komplex angehängt. Das ist ihrer nicht würdig. vom Menschenrecht auf Inklusion einfach frei. (Beifall bei der LINKEN – Kerstin Tack [SPD]: Drittens. Barrierefreiheit ist kein Wunschkonzert. Quatsch! Das ist doch kein Omnibus! Noch mal (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (B) lernen! – Katja Mast [SPD]: Herr Pellmann, wo (D) ist denn der Omnibus?) In einer freien Welt sollen freie Bürger überall hinkom- Daran erkennt man auch, dass Menschen mit Behinde- men können, ohne vor unüberwindbaren Barrieren zu rungen bei Ihnen offensichtlich nicht im Mittelpunkt ste- stehen. hen, was sie eigentlich verdient hätten. Vielen Dank. Ich will die Punkte, die im BTHG nach wie vor offen (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- sind und wo Sie in der Pflicht sind, zu liefern, klar an- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sprechen: Wie steht es um die Barrierefreiheit, vollum- fänglich für die Privatwirtschaft? Die Linke hat einen Antrag dazu eingebracht. Sie haben ihn abgelehnt. So viel Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: zur Wahrheit. – Was ist mit der Änderung der Ausgleichs- Stephan Stracke, CDU/CSU, hat als Nächster das abgabe? Gewerkschaften und Verbände fordern seit Lan- Wort. gem Veränderungen. Vorgelegt wurde durch die Koali- tionsfraktionen bisher leider nichts. – Zum AGG und (Beifall bei der CDU/CSU) zum BGG gibt es leider auch keine Vorschläge. – Ich kann Stephan Stracke (CDU/CSU): fortfahren: Wie steht es um die Inklusion in der Bildung, die Gleichstellung von Frauen, Nothilfesysteme, Kultur, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- Sport, Tourismus und Mobilität? Die Serviceopposition ren! Mit dem Gesetz, das hier im Entwurf vorliegt, führen wir in der Pflege eine Freigrenze von 100 000 Euro bei (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) der Einkommensanrechnung ein. Damit entlasten wir die Angehörigen pflegebedürftiger Menschen. Das haben wir wird Ihnen in den nächsten Sitzungswochen Anträge dazu als CSU im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 verspro- auf den Tisch legen. Dann werden wir schauen, wie ernst chen, das haben wir im Koalitionsvertrag durchgesetzt, Sie es mit dem Thema meinen, liebe Kolleginnen und und nun kommt diese Entlastung. Das zeigt einmal mehr: Kollegen. Die CSU liefert. (Beifall bei der LINKEN) Meine sehr verehrten Damen und Herren, Pflege ist ein Weiter muss die Anrechnung von Einkommen und Ver- zentrales Thema dieser Koalition. Die vorgesehene Ent- mögen bei Teilhabeleistungen für Menschen mit Behin- lastung reiht sich in eine Vielzahl von Verbesserungen in derungen endlich aufgehoben werden. der Pflege ein; denn Menschen, die sich um andere küm- mern, haben unsere Wertschätzung und volle Unterstüt- (Beifall bei der LINKEN) zung verdient. 14220 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Stephan Stracke (A) Wir haben in den letzten Jahren viel getan. Wir haben gemessene Ausbildungsvergütung. Und die Chancen der (C) uns speziell um Pflegebedürftige gekümmert, beispiels- Digitalisierung zu nutzen, macht tatsächlich Sinn. weise um Demenzkranke. Sie haben heute die gleichen All das macht den Pflegeberuf wieder attraktiver. Ge- Ansprüche wie Menschen mit körperlichen Einschrän- nau deswegen sind wir als Koalition auch angetreten. Wir kungen. Das ist ein großer Gewinn, und das entlastet im haben gesagt: Wir müssen uns um die Pflege kümmern, Übrigen auch pflegende Angehörige. Wir haben umfang- um die Pflegebedürftigen, um die pflegenden Angehöri- reiche Verbesserungen für die Pflege zu Hause erreicht. gen und um die Pflegekräfte. Denken Sie beispielsweise an die Verhinderungspflege, wenn ein pflegender Angehöriger eine Auszeit von der All das macht Pflege attraktiver. Politik nah am Men- Pflege braucht. Wir haben sie verbessert. Denken Sie an schen. Politik, die nutzt und verbessert. Es macht einfach die Familienpflegezeit, die wir weiterentwickelt haben. einen Unterschied, dass wir als Union regieren. Wir ma- So kann jemand bis zu sechs Monate aus dem Beruf aus- chen Politik für die Menschen – jetzt und in Zukunft. steigen, um einen nahen Angehörigen in häuslicher Um- gebung zu pflegen. Wir haben auch die soziale Absiche- Herzliches Dankeschön. rung der Pflegepersonen gestärkt. Wir haben in den (Beifall bei der CDU/CSU) letzten Jahren also viel getan, was die Leistungen für Pflegebedürftige und für pflegende Angehörige angeht. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Jetzt geht es uns auch um die Situation von Pflegekräf- Voraussichtlich letzte Rednerin in dieser Debatte ist die ten. Wir wollen den Arbeitsalltag von Pflegekräften spür- Kollegin Dagmar Schmidt, SPD. bar verbessern mit mehr Personal, mehr Zeit, mehr Wert- schätzung, besseren Löhne. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): Dann bekommt Pflege ein besseres Image in diesem Be- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und reich. Das ist auch bitter nötig, wenn es um die Attrakti- Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich versuche vität des Pflegeberufs geht. Die Ausbildungszahlen sind einmal, die Debatte am Ende ein wenig zusammenzufas- auf Rekordniveau. Aber wir wollen da noch besser wer- sen, zumindest die Punkte, die sich mit dem vorliegenden den. Vor allem wollen wir diejenigen zurückgewinnen, Gesetzentwurf beschäftigen. die aus dem Beruf ausgestiegen sind. Das hat viel mit Erstens. Wir nehmen vielen Menschen in Deutschland den Arbeitsbedingungen zu tun. Wenn wir in Kranken- (B) die Ängste: die Ängste von Kindern, die keine großen (D) häusern oder Pflegeeinrichtungen sind, gewinnen wir Einkommen haben, die weniger als 100 000 Euro im Jahr doch alle einen Eindruck davon, wie hoch der Frust und verdienen. Sie müssen keine Angst mehr haben, für ihre die Unzufriedenheit sind. pflegebedürftigen Eltern finanziell aufkommen zu müs- Das wollen wir verändern, Schritt für Schritt und ganz sen. spürbar im Alltag. Wir finanzieren deshalb zusätzliche (Beifall bei der SPD) Stellen in den Krankenhäusern. Wir schaffen 13 000 zu- sätzliche Stellen in der Altenpflege. Pflegekräfte sollen Auch den pflegebedürftigen Eltern nehmen wir die Ängs- wieder mehr Zeit haben für Patienten und Betroffene. te, ihren Kindern eventuell zur Last zu fallen. Das gilt nicht nur für die Pflege, das gilt für die gesamte Sozial- (Beifall der Abg. Dr. Astrid Mannes [CDU/ hilfe. Das ist eine gute Nachricht für rund 275 000 Fami- CSU]) lien in Deutschland. Wir bauen Bürokratie in diesen Bereichen ab. Wir küm- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) mern uns auch um eine bessere Bezahlung. Gestern haben wir miteinander darüber gesprochen, dass wir dafür Zweitens. Wir machen das Leben ein wenig leichter, kämpfen wollen, bessere Löhne in der Pflege zu bekom- gerade für die, die es im Leben schwerer haben als andere. men. Da sind wir beispielsweise in Baden-Württemberg Das gilt für Eltern, die mit diesem Gesetz nicht mehr oder Bayern gut aufgestellt, aber eben nicht flächende- 34 Euro monatlich für ihre stationär untergebrachten er- ckend in diesem Land. Wir wollen bayerische Löhne am wachsenen Kinder mit Behinderung aufbringen müssen. besten flächendeckend in ganz Deutschland durchsetzen, Für manche Menschen sind 34 Euro nicht viel Geld, für andere Menschen sind 34 Euro viel Geld; aber in jedem (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) Fall ist es eine bürokratische Entlastung, und das ist drin- gend geboten. und dafür eröffnen wir der Branche entsprechende Mög- lichkeiten. Sie können entscheiden, ob sie das über Pfle- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje gemindestlöhne oder beispielsweise über allgemeinver- Lezius [CDU/CSU]) bindliche Tarifverträge machen. Wir machen die Arbeit der unabhängigen Teilhabebe- Wir haben bereits eine volle Refinanzierung von tarif- ratungsstellen leichter, weil wir die Förderung über das vertraglichen Löhnen in der Altenpflege. Das wollen wir Jahr 2022 hinaus sicherstellen und erhöhen. Davon profi- auch in den Krankenhäusern erreichen. Wir haben auch tieren viele Tausende Menschen mit Behinderung, die die Ausbildung in der Pflege verändert. Seit Januar dieses auch weiterhin eine Anlaufstelle finden, wo sie von Men- Jahres gibt es kein Schulgeld mehr, und es gibt eine an- schen mit gleichen oder ähnlichen Herausforderungen Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14221

Dagmar Schmidt (Wetzlar) (A) verstanden und beraten werden. Wir sehen die tolle Arbeit Arbeitsleben würdigen – Arbeitslosengeld I ge- (C) der Teilhabeberatungen in unseren Wahlkreisen und den recht gestalten großen Bedarf nach empathischer Beratung, die es dort gibt. Drucksache 19/13520 Überweisungsvorschlag: An dieser Stelle möchte ich ein ganz herzliches Danke- Ausschuss für Arbeit und Soziales schön an diejenigen sagen, die in den Beratungsstellen arbeiten; Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Auch das ist man- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gels Widerspruch so beschlossen. der CDU/CSU und des Abg. Jens Beeck [FDP]) denn auch wenn wir die Mittel jetzt erhöhen, sind sie Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort noch lange nicht überbezahlt. Danke schön an alle, die dem Kollegen Sebastian Münzenmaier, AfD. dort eine wirklich gute Arbeit für die Menschen machen! (Beifall bei der AfD) Drittens stärken wir die Rechte und die Möglichkeiten von Menschen mit Behinderung. Mit dem Budget für Sebastian Münzenmaier (AfD): Ausbildung erweitern wir die Möglichkeiten zur beruf- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- lichen Bildung für Menschen mit Behinderung, die auf ren! Mit diesem Antrag wollen wir ein deutliches Zeichen eine Werkstatt für behinderte Menschen angewiesen sind. setzen: Wir machen Politik für die Menschen, die arbei- Bisher können sie sich nur in den Werkstätten ausbilden ten. Denn wir leben in einer Zeit, in der sowohl unsere lassen oder bei anderen Leistungsanbietern, auf die sie Wirtschaft als auch unsere Sozialpolitik in eine gefähr- verwiesen werden. Mit dem Budget für Ausbildung kön- liche Schieflage geraten sind. Die fleißigen Bürger dieses nen sie auch dann gefördert werden, wenn sie eine regu- Landes werden jeden Monat ausgenommen wie eine läre betriebliche Ausbildung oder ein Fachpraktikum auf- Weihnachtsgans, während andere Bevölkerungsgruppen, nehmen. Gerne würden wir dieses Instrument noch ein die das Wort „Arbeit“ nicht einmal buchstabieren können, bisschen verbessern und flexibler machen, noch ein biss- fürstlich alimentiert werden. chen die Durchlässigkeit erhöhen. Dafür haben wir die parlamentarischen Beratungen zur Verfügung, und ich (Beifall bei der AfD – [SPD]: glaube, dass wir das zu einem guten Ergebnis bringen Kommen Sie doch mal zur Abstimmung vor- werden. bei! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Beispiel (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred (B) AfD-Bundestagsabgeordnete! Da werde ich (D) Grund [CDU/CSU]) gleich was zu sagen, was Sie darunter verste- Und: Wir schaffen Rechtsklarheit für schwerbehinder- hen!) te Menschen, die eine Arbeitsassistenz benötigen. Sobald die Notwendigkeit einer Assistenz festgestellt wurde, Für uns ist das Leistungsprinzip – ich weiß, dass Sie muss auch die tatsächliche Höhe der Leistung bezahlt davon nichts verstehen – wesentlicher Bestandteil einer werden. Wir beenden nervenaufreibende Rechtsstreitig- funktionierenden Gesellschaft und dient als Grundlage keiten und helfen Menschen, in Arbeit zu bleiben oder in dafür, dass ein Sozialstaat, der auf Steuern und Abgaben Arbeit zu bekommen. Auch das ist eine gute Nachricht. der arbeitenden Mehrheit fußt, auch gesellschaftlich ak- zeptiert und als gerecht empfunden wird. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der AfD) Zusammenfassung der Zusammenfassung: Wir stärken die Rechte von Menschen mit Behinderung, wir nehmen Die aktuelle Rechtslage in der Arbeitslosenversiche- Ängste vor Überforderung, und wir machen das Leben rung wird dem einfach nicht gerecht; denn momentan ein wenig leichter. Gut, dass es uns gibt! ist es für die maximale Bezugsdauer von Arbeitslosen- geld I völlig irrelevant, ob Sie 2 oder 20 Jahre einbezahlt (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) haben. Wir sind der Meinung, dass diese Rechtslage die Lebensleistung eines Arbeitnehmers nicht berücksichtigt, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: und wir wollen uns gerne dafür einsetzen, dass die Men- Damit schließe ich die Aussprache. schen, die jahrzehntelang in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt haben, im Versicherungsfall auch eine längere Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent- Anspruchszeit bekommen. wurfs auf der Drucksache 19/13399 an die in der Tages- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es (Beifall bei der AfD – Peter Weiß [Emmendin- andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die gen] [CDU/CSU]: Die sollen wieder in Arbeit Überweisung so beschlossen. kommen!) Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 27 auf: Wir wollen so das Versicherungsprinzip stärken; denn Arbeitslose sind keine Sozialfälle. Sie haben sich ihren Beratung des Antrags der Abgeordneten Sebastian Anspruch als Versicherte redlich verdient. Münzenmaier, Jürgen Pohl, Ulrike Schielke- Ziesing, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Damit wir uns nicht falsch verstehen: Auch wir möch- der AfD ten keine falschen Anreize schaffen 14222 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Sebastian Münzenmaier (A) (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- (Beifall bei der AfD – Beate Müller-Gemmeke (C) NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das tun Sie aber!) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reine Zeitver- schwendung hier!) und möchten die Höhe des Arbeitslosengeldes explizit nicht ändern. Wir möchten aber dafür sorgen, dass ein Wir haben die Staffelung der Bezugszeit in unserem An- 48-jähriger Handwerker, der beispielsweise 30 Jahre lang trag bewusst offengelassen. Wir sind kompromissbereit, gearbeitet und einbezahlt hat, eben nicht schon nach und wir reichen heute allen anderen demokratischen 13 Monaten in Hartz IV stürzt, meine Damen und Herren. Fraktionen die Hand. Lassen Sie uns gemeinsam für die Verbesserung des Arbeitslosengelds eintreten und dafür (Beifall bei der AfD) sorgen, dass derjenige, der viel und lange gearbeitet hat, auch in einer schwierigen persönlichen Lage besser ab- Die Anspruchszeit darf sich doch nicht nur nach dem gesichert wird! Lebensalter berechnen, sondern muss die Lebensleistung, also die Zeit, die jemand gearbeitet und eingezahlt hat, (Timon Gremmels [SPD]: Was ist denn mit der ebenfalls berücksichtigen; das gebietet schon die Gerech- AfD-Rente?) tigkeit. Überraschen Sie doch bitte die Arbeitnehmer dieses Landes einmal mit einer progressiven und sachpoliti- (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Gibt es doch schen Handlung! schon! Ist doch Gesetzeslage!) (Katja Mast [SPD]: Wo ist denn Ihr Wir sprechen hier eben nicht über Einzelfälle, meine Rentenkonzept?) Damen und Herren. Im Juni 2019 bezogen nach den offi- ziellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit knapp Stimmen Sie unserem Antrag zu, und sorgen Sie mit uns 700 000 Menschen Arbeitslosengeld I. Circa 45 Prozent gemeinsam dafür, dass die Arbeits- und Lebensleistung davon sind älter als 50 Jahre. Seit Juni 2018 mussten fast eines Menschen ausreichend gewürdigt wird! 440 000 Menschen den Übergang in Hartz IV antreten Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. und verloren so weitestgehend ihre Ersparnisse, eventuell Wohneigentum oder Wertgegenstände. 75 000 Bürger (Beifall bei der AfD) dieses Landes entgingen diesem Schicksal nur deshalb, weil sie sich in die Rente flüchteten, viele davon als Früh- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: rentner mit empfindlichen Abzügen. Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Matthias Zimmer, Dieser bedenklichen Entwicklung möchten wir den CDU/CSU. (B) (D) Kampf ansagen. Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet (Beifall bei der CDU/CSU) und einbezahlt haben, haben an ihrem Lebensabend Bes- seres verdient. Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann (Beifall bei der AfD) mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Elend der Das, meine Damen und Herren von der SPD, verstehen AfD hier gerade gesprochen hat. wir als AfD-Fraktion unter Politik für Arbeitnehmer und (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem für Arbeiter, die Sie in den letzten Jahren und Jahrzehnten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) leider aus den Augen verloren haben. An dem Antrag der AfD, meine Damen und Herren, ist (Beifall bei der AfD – Timon Gremmels [SPD]: zweierlei bemerkenswert. Erstens. Die Arbeitslosenver- Wo sind Ihre Rentenvorschläge? – Kerstin Tack sicherung soll ausgebaut und nicht privatisiert werden. [SPD]: Wollten Sie nicht gestern Tarifverträge „Wenn das der Meuthen wüsste!“, möchte man Ihnen verhindern? War das nicht so? Das war doch zurufen. Der will nämlich privatisieren und glaubt, er gestern mit den Tarifverträgen!) habe als Parteivorsitzender etwas zu sagen. Aber dann wird einem klar: Genau hier könnte der tiefere Grund Aber diese Entfernung von Ihren ursprünglichen Stamm- dafür liegen, warum die AfD noch kein sozialpolitisches wählern ist, um es mit den Worten Ihres Mitglieds Peer Programm hat. Steinbrück zu sagen, das „Elend der Sozialdemokratie“. (Kerstin Tack [SPD]: Ja, genau!) (Beifall bei der AfD) Ich finde allerdings: Sie sind es den Menschen in Und dieses Elend, meine Damen und Herren, wird sich Deutschland schuldig, zu sagen, was sie wollen. auch am 27. Oktober im Wahlergebnis in Thüringen wi- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem derspiegeln. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- Aber Sie haben noch eine Chance. Sie ist zwar nicht ordneten der FDP – Michael Grosse-Brömer mehr ganz so groß, aber Sie haben noch eine kleine Chan- [CDU/CSU]: Außer Flüchtlingen gar nichts!) ce. Sie haben heute die wunderbare Gelegenheit, uns al- Zweitens ist bemerkenswert, dass die Begriffe „Aus- len und den Menschen da draußen zu zeigen, dass Ihnen länder“ und „Flüchtlinge“ kein einziges Mal in dem An- neben Gender-Klos und Klimawahnsinn auch Arbeitneh- trag vorkommen. Das ist neu, und man möchte ausrufen: mer am Herzen liegen. „Wenn das der Höcke wüsste!“ Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14223

Dr. Matthias Zimmer (A) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der den langjährig Beschäftigten Anreize, Brücken zu bauen: (C) SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ über den Bezug von Arbeitslosengeld in die Frühverren- DIE GRÜNEN – Zuruf von der AfD: Ergänzen tung. Das ist in unserer Arbeitsmarktsituation, wo wir Sie es!) jeden brauchen, ein falsches Signal. Der glaubt nämlich allen Ernstes, an allem Unheil seien (Beifall bei der CDU/CSU) nur die Nichtdeutschen schuld. Da hätte man doch mehr erwartet: Zweiter Punkt: Die Arbeitslosenversicherung bevor- zugt im Augenblick Menschen, die etwas älter sind; sie (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Reden Sie können Leistungen länger beziehen. Das ist auch in Ord- auch zum Thema? – [AfD]: Sagen nung; denn sie sind auch schwieriger wieder zu vermit- Sie was zu Arbeitslosen, Herr Zimmer!) teln. Bei Ihrem Vorschlag sehe ich allerdings folgendes Mehr ALG I für die Deutschen und für alle anderen nicht, Problem: Wer einen durchbrochenen Lebenslauf hat – also einen wahren sozialpolitischen furor teutonicus. Da einmal selbstständig, dann arbeitslos, dann in einem so- haben Sie unsere Erwartungen enttäuscht, vermutlich zialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis –, aber auch die Ihrer fremdenfeindlichen Mitglieder und der bekommt, wenn er so Mitte fünfzig ist, nach Ihrem Anhänger. Na ja, der Herr Sichert hat das eben natürlich Modell weniger lange Geld, als er heute bezieht. Er hat vollkommen kompensiert. nämlich dann vielleicht nicht die notwendige Anzahl an Jahren einbezahlt. Ich vermute, dass die Anzahl der Men- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der schen, die solche Biografien haben, in den nächsten Jah- SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- ren eher zunimmt. NEN – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der kommt ja noch!) (Uwe Witt [AfD]: Das ist wie bei der Rentenversicherung!) Aber genau hier könnte ein weiterer Grund liegen, warum die AfD noch kein sozialpolitisches Programm hat: Weil Die profitieren aber von der jetzigen Regelung mehr als in Ihrer Partei völlig unklar ist, ob Menschenrechte ein von Ihrem Vorschlag. germanisches Vorrecht sind oder für alle gelten. (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Das ist aber (Heiterkeit der Abg. Kerstin Tack [SPD]) die Grundlage der Arbeitslosenversicherung!) Ich finde, Sie sind uns schuldig, auch das einmal zu klä- Meine Damen und Herren, ich hatte ein wenig den ren. Eindruck, die AfD hat einfach einmal einen Vorschlag gemacht – ohne jegliche konzeptionelle Hinterlegung, (B) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (D) ohne sich zu fragen, welche Konsequenzen das hat, und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- natürlich auch, ohne die Frage zu beantworten, wie viel ordneten der FDP und der LINKEN) das kostet. Das ist politisch zu wenig – als Zeichen Ihrer Kommen wir zum Antrag. programmatischen Insolvenz reicht es aber vollkommen aus. (Dr. [AfD]: Ah, endlich mal! – [AfD]: Endlich mal! Über was (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und wollen Sie denn noch reden? – Zuruf des Abg. der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE Dr. [AfD]) GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – – Ich habe von Ihnen gelernt, Herr Gauland. Erst einmal Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das war wieder ein bisschen allgemein über alles Mögliche reden und die Zimmer-CDU aus ! Die Wall- dann inhaltlich möglichst gar nicht. Da habe ich wirklich mann-CDU war besser!) von Ihnen gelernt. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Johannes Vogel, FDP, ist der nächste Redner. sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- (Beifall bei der FDP) KEN) Sollen wir den Bezug von Arbeitslosengeld I an die Johannes Vogel (Olpe) (FDP): geleisteten Beitragsjahre koppeln? Ich persönlich halte Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es einen solchen Vorschlag für falsch. Wir haben einen ext- ist ja verständlich, dass es die AfD stört, dass seit Mona- rem niedrigen Stand an Beziehern von ALG I und eine ten in der öffentlichen Debatte immer wieder darauf hin- seit Jahren abnehmende Zahl von Wechseln von SGB I in gewiesen wird, dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, SGB II. in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik keine Konzepte (Zuruf von der AfD: Halbe Million!) und schon gar keine Lösungen anzubieten haben. Die Frage: „Wo ist eigentlich Ihr Rentenkonzept?“, ist ja Bei den meisten Arbeitslosen handelt es sich um friktio- schon zum geflügelten Wort geworden. nelle Arbeitslosigkeit, also eine Sucharbeitslosigkeit, die keine strukturellen oder konjunkturellen Gründe hat. Set- (Beifall bei der FDP – Britta Haßelmann zen wir Ihren Vorschlag um, geben wir Anreize, länger in [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben sie der Arbeitslosigkeit zu bleiben, und wir geben gerade bei nicht!) 14224 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Johannes Vogel (Olpe) (A) – Eben, weil es das nicht gibt. – Dieser sogenannte An- und Seite 5 – ein Satz. (C) trag – so haben wir das zumindest interpretiert – sollte offenbar der Versuch sein, hier einmal richtig Substanz (Zurufe von der FDP, der CDU/CSU, der SPD vorzulegen: Sozialgesetzbuch III, Arbeitslosengeld I – und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!) wichtiges arbeitsmarktpolitisches Thema – fünf Seiten Das ist der Satz. Der eine Satz! Text. Ganze fünf Seiten! (Heiterkeit und Beifall bei der FDP, der CDU/ Das Problem ist aber, dass Sie die fünf Seiten dafür CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜND- nutzen, Seite um Seite darzulegen, was heute schon die NIS 90/DIE GRÜNEN) Rechtslage ist. Ein einziger Satz, liebe Kolleginnen und Kollegen, (Kai Whittaker [CDU/CSU]: So ist es!) bildet den Gipfel Ihrer arbeitsmarkt- und sozialpoliti- schen Leistungsfähigkeit. Und der besagt dann auch nur – Sie klären uns darüber auf, dass die Arbeitslosenversiche- das ist wirklich bemerkenswert –, dass etwas, was es rung eine Versicherung ist. schon gibt, irgendwie – ich zitiere – „stärker" sein soll. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und „Stärker“, liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie genau, der SPD – Christian Dürr [FDP]: Das muss man was genau, für wen genau – da sind Sie dann schon wie- erst mal hinkriegen! – Michael Grosse-Brömer der völlig blank. Das ist doch keine seriöse Arbeitsmarkt- [CDU/CSU]: Donnerwetter!) und Sozialpolitik. Sie klären uns darüber auf, dass die Bezugsdauer des (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD, Arbeitslosgengelds gestaffelt ist, usw. usf. Sie zitieren der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE sogar Zeile um Zeile wörtlich aus dem Sozialgesetz- GRÜNEN) buch III. Das kann man so machen. Aber es wäre gut, Da hat dieses Haus und haben die Bürgerinnen und dass Sie, wenn Sie Zahlen aus der Statistik der Bürger wirklich mehr verdient. Bundesagentur für Arbeit referieren, es dann auch schaffen, die aktuellsten Zahlen zu verwenden, die seit (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Oh vier Wochen vorliegen. Das haben Sie in dem Antrag Backe! Das geht aber nach hinten los!) nicht geschafft. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten auf diesem Feld wirklich nichts anzubieten haben, außer der CDU/CSU – Britta Haßelmann [BÜND- dass Sie in der Tat bei jedem – auch sozialpolitischen – NIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit dem Zitieren Thema nach wenigen Sekunden immer wieder auf Ihr (B) muss man vorsichtig sein!) einziges politisches „Thema“ zurückkommen – angeblich (D) seien die Ausländer an allem schuld –, dann haben Sie uns Nachdem man sich durch fünf Seiten gequält hat, kom- den heute erbracht. men auf der fünften Seite dann tatsächlich – ich habe nachgezählt – sechseinhalb Zeilen Forderung. Doch bei Lieber Kollege Matthias Zimmer, du hast eben darauf diesen sechseinhalb Zeilen Forderung sind die ersten hingewiesen, dass wir das heute in der Begründung aus- fünfeinhalb – Überraschung! – erneut Wiedergabe des nahmsweise noch nicht gehört haben. Das stimmt. Aber aktuellen Rechts. Martin Sichert redet gleich noch. Ich bin ganz sicher, er wird dafür sorgen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, weil das so krass ist, weil zumindest ich das in sozialpolitischen Anträgen hier (Heiterkeit und Beifall bei der FDP, der CDU/ noch nicht erlebt habe, habe ich mir einmal die Mühe CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE gemacht, das zu visualisieren. Wenn man den Antrag ein- GRÜNEN) mal darauf reduziert, was Ihre konkrete politische Forde- Liebe Kolleginnen und Kollegen, um in den letzten rung, 30 Sekunden kurz noch etwas zum kümmerlichen Rest Ihrer politischen Forderung, nämlich dem Grundimpuls, (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE zu sagen – wenn es um eine längere Bezugsdauer von GRÜNEN]: Heiße Luft!) Arbeitslosengeld geht, liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihr konkretes politisches Konzept ist, dann sieht das so hat sich mitunter ja auch die SPD verirrt –: Die Idee aus: wurde hier schon mehrfach formuliert. Das IAB, die Bundesagentur für Arbeit, der Sachverständigenrat der (Der Redner hält nacheinander fünf Blätter Bundesregierung, das DIW und das IW, also alle seriöse hoch – Auf dem ersten Blatt stehen die Namen arbeitsmarktpolitische Forschung war dagegen; und das der Antragsteller und der Titel des Antrags, die hat Gründe. Die Einzige, die dafür ist, ist heute die AfD, drei folgenden Blätter sind leer) was eine zweite These auch noch ein für alle Mal bewie- Seite 1, Seite 2, sen hat, nämlich: Eine Professorenpartei sind Sie wahr- lich nicht mehr. (Heiterkeit und Beifall bei der FDP, der CDU/ CSU und der SPD) Vielen Dank. Seite 3, Seite 4 (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Aber auf Seite 5!) Dr. Alexander Gauland [AfD]: Herr Vogel, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14225

Johannes Vogel (Olpe) (A) das war eine Rede für 4 Prozent in Thüringen! Dafür brauchen wir – da haben wir bereits in der letzten (C) Vielleicht werden es nur 3 Prozent! Das ist ty- Legislatur wichtige Schritte unternommen – Prävention, pisch asozial! – Britta Haßelmann [BÜND- den bestmöglichen Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer schlechte Arbeit Wir haben in einem Modellprojekt im Rahmen des Fle- abliefert, muss mit Kritik rechnen!) xirentengesetzes den sogenannten Ü45-Check-up einge- führt, einen berufsbezogenen Gesundheitscheck, bei dem Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: man schaut, ob jemand diesen Beruf auch gesund weiter- machen kann, und aus dem Maßnahmen und Unterstüt- Dagmar Schmidt, SPD, ist die nächste Rednerin. zung am Arbeitsplatz, im Unternehmen resultieren oder, (Beifall bei der SPD – Christian Dürr [FDP]: wenn nötig, eine Umschulung. Das ist konkrete Politik Herr Gauland, asozial ist Ihre Marke! – Gegen- für konkrete Probleme konkreter Menschen. ruf des Abg. Dr. Alexander Gauland [AfD]: Nein, unsere Marke ist sozial! – Lachen bei (Beifall bei der SPD) der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN Dafür brauchen wir dann natürlich auch Qualifikation. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ge- Wir haben mit dem Qualifizierungschancengesetz einen genruf des Abg. Christian Dürr [FDP]: Unfass- ersten großen Schritt in die richtige Richtung getan, einen bar! Das Schlimme ist: Ich befürchte, er glaubt ersten großen Schritt, um Weiterbildung und Qualifizie- es!) rung für diejenigen, die vom Strukturwandel betroffen Ich würde trotzdem gern der Kollegin Dagmar Schmidt sind, zu unterstützen. Aber wir wollen mit dem „Arbeit- das Wort erteilt haben. von-morgen-Gesetz“ das Ganze weiterentwickeln. Wir wollen noch flexibler und noch näher an den Arbeitneh- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- merinnen und Arbeitnehmern und den Unternehmen un- NEN]: Sie haben doch schon zweimal den So- terstützen können und drohender Arbeitslosigkeit mit zialparteitag verschoben, weil Sie Angst davor Qualifizierung begegnen; und wir wollen flexibel sein, haben, dass Beschlüsse gefasst werden! – Ge- wenn die Konjunktur nicht mehr so brummt. Prävention genruf des Abg. Dr. Alexander Gauland [AfD]: ist also die erste Aufgabe. Erzählen Sie doch keine Märchen!) – Sollen wir noch ein bisschen warten? (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt hat das Wort die Zweitens. Sicherheit und Wandel. Wir haben in dieser Kollegin Dagmar Schmidt. Koalition ein Recht auf Weiterbildungsberatung geschaf- (B) fen, und wir werden ein Recht auf das Nachholen eines (D) (Beifall bei der SPD) Berufsabschlusses beschließen, wie in der Weiter- bildungsstrategie beschrieben. Die SPD möchte darüber Dagmar Schmidt (Wetzlar) (SPD): hinaus ein Recht auf Weiterbildung für alle im Struktur- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und wandel und ein Recht auf den Start in einen neuen Beruf. Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Zum Thema. Das ist unsere Forderung. Wer arbeiten möchte, der muss Sicherheit, aber auch neue Chancen am Arbeitsmarkt zu das auch können. Dabei wollen wir die Menschen unter- schaffen, sind zwei der zentralen Anliegen der SPD in stützen; das ist unser Ansatz. dieser Koalition. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen sich auf den Sozialstaat und sie müssen sich erst Drittens. Wir wollen Leistung anerkennen. Wir wollen recht auf ihre Arbeitslosenversicherung verlassen kön- Arbeitsleistung besser anerkennen, aber vor allem eige- nen, für die sie jeden Monat Beiträge zahlen. nes Engagement besser unterstützen. Das wollen wir – in unserem Sozialstaatspapier haben wir das beschrieben – In Zeiten, in denen sich auf der einen Seite die Arbeits- durch die Einführung eines Arbeitslosengeldes Q errei- welt verändert und auf der anderen Seite viele Unterneh- chen. Wer nicht schnell wieder Arbeit findet, bekommt men nach Fachkräften suchen, ist eine reine Verlängerung eine individuelle, eine passgenaue Weiterbildung und das des Anspruchs auf Arbeitslosengeld I keine Antwort und Arbeitslosengeld Q zusätzlich zum Arbeitslosengeld. So auch kein Beitrag zu mehr Gerechtigkeit. Denn was wir wird der Bezug verlängert für diejenigen, die sich weiter- wissen, ist: Wenn jemand erst einmal aus dem Arbeits- bilden und qualifizieren. Wir wollen aber auch die Ar- leben heraus ist, ist es schwerer, wieder gute Arbeit zu beitsleistung durch eine höhere Anspruchszeit insgesamt finden. Was wir auch wissen, ist, dass die allermeisten würdigen – bei mindestens 20 Jahren Beitragszeit drei Arbeitslosen schnell wieder Arbeit finden wollen. Dabei weitere Monate, ab 25 Jahren sechs Monate und ab 30 Jah- sollen sie unsere Unterstützung haben. ren neun Monate; so haben wir es in unserem Papier be- (Beifall bei der SPD) schlossen –, und wir wollen – das beschreiben wir auch –, dass die Lebensleistung auch dann eine Rolle spielt, wenn Wir haben deswegen in unserem Sozialstaatspapier man keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld I mehr hat. drei Dinge in den Fokus genommen und angefangen, Der vorübergehende Bezug von Transferleistungen darf sie in Regierungspolitik umzusetzen. sich nicht sofort auf den Wohnort auswirken oder Men- Erstens. das wichtige Thema Prävention. Wir wollen schen dazu zwingen, ihr gesamtes Gespartes aufzubrau- verhindern, dass Menschen überhaupt arbeitslos werden. chen. (Beifall der Abg. Angelika Glöckner [SPD]) (Beifall bei der SPD) 14226 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Dagmar Schmidt (Wetzlar) (A) Wer aus dem Arbeitslosengeld I kommt, wer also schon Arbeitslosenversicherung für unsere Menschen in diesem (C) gearbeitet und in die Versicherung eingezahlt hat, bei dem Land. wollen wir zwei Jahre lang weder Vermögen noch Woh- nungskosten prüfen. Die Menschen sollen nicht auf die (Beifall bei der LINKEN) Wohnungssuche geschickt werden. Sie sollen sich auf die Die AfD sieht jetzt die Möglichkeit, aus den Missständen Arbeitssuche machen können und sollen sich qualifizie- Profit zu schlagen. Diese Methode hat System. Sie picken ren können. Diese Möglichkeiten wollen wir ihnen geben. sich die einzelnen Punkte heraus und stellen sich mit Ih- Bei der Verlängerung und der Verbesserung von Leis- ren Pseudoanträgen als Anwalt der kleinen Leute dar. tungen müssen wir eben zwei Dinge unterscheiden: Wir Aber ist die AfD wirklich der Anwalt der kleinen Leute? wollen damit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Wir sagen: Nein. im Wandel mehr Sicherheit geben und dem Gerechtig- (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Das glaubt keitsempfinden der Menschen Rechnung tragen. Wer län- euch doch keiner mehr!) ger gearbeitet und eingezahlt hat, muss davon auch etwas haben. Es ist aber nicht unser Ziel, dass Arbeitslose bis Ich zitiere einmal aus den Reden der AfD, unter ande- zum Ende der Bezugsdauer arbeitslos bleiben. Wir wollen rem hier im Bundestag – Frau von Storch, Sie kommen alles daransetzen, ihnen einen guten Job zu ermöglichen. auch gleich dran –: Deswegen ist ein Recht auf Arbeit viel wichtiger als die (Lachen bei der AfD) Bezugsdauer. Das mit Abstand beste Programm zur Vermeidung (Beifall bei der SPD) von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsabschwung Unserer Auffassung nach gibt es genug Arbeit, für die sind nicht aufgeblähte Töpfe der Sozialversicherun- auch ältere Menschen neu qualifiziert werden können. Es gen, sondern ist der Abbau von Bürokratie, Abgaben gibt genug Arbeit, die gesellschaftlich notwendig ist, aber und Steuern. bisher nicht bezahlt wird: in der Unterstützung von Älte- Sagte Martin Sichert am 19. Januar 2018; man höre genau ren, von Kranken, von Familien, in der Unterstützung von hin. „Runter mit den Sozialabgaben“, sagte Frau Beatrix Ehrenamt und Sozialwesen, in den Städten, in den Ge- von Storch am 3. Juli 2018 zum Familienhaushalt. meinden, im Umweltschutz usw. Unser Credo bleibt – wie wir es mit dem sozialen Arbeitsmarkt in diesem Jahr (Zuruf von der CDU/CSU: Ah!) begonnen haben –: Wir bezahlen lieber Arbeit statt Ar- beitslosigkeit. Allerdings ist die Krönung des Ganzen Jörg Meuthen. Er will – es kam heute schon deutlich heraus – die Sozial- (B) Glück auf! versicherungen loswerden. Er sagte letztes Jahr auf dem (D) AfD-Parteitag, dass er in der Rentenversicherung eine (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Abkehr vom zwangsfinanzierten Umlagesystem hin zur der CDU/CSU) regelhaften privaten Vorsorge anstrebt.

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Das ist der Sozialstaat, den die AfD will. Die AfD will die Sozialversicherungen finanziell ausbluten lassen oder Jetzt erteile ich das Wort der Kollegin Sabine gleich ganz abschaffen. Dafür sollten Sie sich schämen, Zimmermann, Die Linke. meine Damen und Herren. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- Sabine Zimmermann (Zwickau) (DIE LINKE): ten der CDU/CSU, der SPD und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her- ren! Wir haben hier einen Antrag der AfD-Fraktion zur Das sind nicht die Interessen der kleinen Leute. Nein, Arbeitslosenversicherung vorliegen: Fünf Seiten ohne ei- das sind die Interessen der Großunternehmen und Gutver- nen konkreten Vorschlag für die arbeitenden Menschen in dienenden. Wer so viel verdient, dass es für eine private unserem Land, fünf Seiten völlig ohne Substanz! Die AfD Absicherung reicht, will vielleicht keine Steuern und kei- glaubt ja sogar – so steht es in dem Antrag –, dass der ne Abgaben zahlen; das mag sein. Aber erzählen Sie das Beitragssatz noch immer bei 3 Prozent liegt und die Rah- mal bitte den Menschen, die sich jeden Tag für einen menfrist jetzt schon bei 30 Monaten. Dabei ist der Bei- Niedriglohn abrackern, mit zwei und mit drei Jobs. Er- tragssatz längst auf 2,5 Prozent gesenkt, und die längere zählen Sie das denen, die Angst haben, ihren Job zu ver- Rahmenfrist greift erst ab Januar nächsten Jahres. lieren – das sollten Sie einmal machen –, und all denen, die auf eine starke Sozialversicherung und einen verläss- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Mein lichen Sozialstaat angewiesen sind, wenn es hart auf hart Gott! Wer hat diesen Antrag denn gemacht?) kommt. Erzählen Sie das denen; denn die glauben es Das zeigt doch eigentlich deutlich: Sie haben gar keine nicht. Die brauchen nämlich eine starke Sozialversiche- Ahnung von dieser Materie. rung. (Beifall bei der LINKEN, der CDU/CSU, der (Beifall bei der LINKEN sowie bei SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Abgeordneten der SPD) Die Linke weist schon seit 15 Jahren auf den Abbau des Nein, die AfD ist nicht die Partei der kleinen Leute, Sozialstaates hin. Seit 15 Jahren fordern wir eine stärkere sondern die Partei der Bonzen und Bosse. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14227

Sabine Zimmermann (Zwickau) (A) (Beifall bei der LINKEN – Lachen des Abg. das Arbeitslosengeld erst gar nicht, und die anderen ge- (C) Dr. Alexander Gauland [AfD]) raten schon nach zwölf Monaten in Hartz IV. Wer das nicht wahrhaben will – ich werde es Ihnen er- (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Haben Sie klären, Herr Gauland –, muss sich einmal fragen: unseren Antrag gelesen?) (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Ausgerechnet Die Linke will einen leichteren Zugang zur Arbeits- die SED-Nachfolgepartei!) losenversicherung, damit man das Arbeitslosengeld Woher kommen denn die ganzen Spendengelder für die schneller und länger beziehen kann. Wir fordern: Wer AfD? in den letzten drei Jahren vier Monate gearbeitet hat, bekommt Arbeitslosengeld für zwei Monate. Danach gilt: (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- Für je zwei Monate kommt ein Monat Anspruch dazu. ten der SPD – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Aus Und wer mehr als zwei Jahre beschäftigt war, bekommt Russland!) für jedes weitere Jahr noch einen zusätzlichen Monat An- Warum werden denn die Namen der Spender um jeden spruch auf Arbeitslosengeld. Also: Keine Deckelung, je Preis verschleiert? Weil sich diese Partei von Groß- länger man einzahlt, desto länger ist der Anspruch. Das industriellen finanzieren lässt, von denen, die am meisten wäre eine gute Arbeitslosenversicherung. vom Niedriglohn profitieren. (Beifall bei der LINKEN – [AfD]: (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Schön wär’s!) Sagt die Gewerkschaftssekretärin!) Dafür sollten Sie sich auch schämen, meine Damen und Und für Menschen über 50 braucht es bessere Mindest- Herren. ansprüche von zwei bis drei Jahren; denn das haben die (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- Kolleginnen und Kollegen verdient. Sie haben schon hart ten der SPD – Dr. Alexander Gauland [AfD]: in ihrem Leben gearbeitet. Niemand soll seine Arbeits- Wir freuen uns ununterbrochen! Vor allem, kraft unter Wert verkaufen müssen. Deshalb: Weg mit den wenn Sie reden!) Sperrzeiten! Wir brauchen keine Lohndrückerei per Gesetz, sondern gute Arbeitsangebote. Ich muss Ihnen sagen: Die Linke nimmt niemals Spen- den von Unternehmen, von der Wirtschaft an. (Beifall bei der LINKEN) (Dr. Alice Weidel [AfD]: Von der SED!) Wir wollen Qualifikationen und Erfahrungen anerken- Meine Damen und Herren, das Arbeitsleben würdi- nen und einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung. Nie- (B) gen – kommen wir jetzt einmal zum Thema, der Arbeits- mand soll mehr in dieses unwürdige Hartz-IV-System ge- (D) losenversicherung; raten. Das Arbeitslosengeld muss wieder den Lebensstandard sichern. Das ist eine gute Arbeitsmarkt- (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Muss nicht politik. Das ist eine Politik gegen die Angst. Das ist eine sein!) Politik für die Menschen. Wir wollen eine Arbeitslosen- ich werde Ihnen erklären, wie es gehen könnte – und die versicherung, auf die sich die Menschen verlassen kön- Arbeitslosenversicherung wirklich gerechter machen, nen. (Dr. Alice Weidel [AfD]: Ja!) Danke schön. das will eigentlich nur Die Linke hier im Deutschen Bun- (Beifall bei der LINKEN) destag. (Lachen bei der AfD) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grü- Was vor Erwerbslosigkeit am besten schützt, sind gut nen, hat jetzt das Wort. bezahlte und sichere Arbeitsplätze. Dazu gehört eine vo- rausschauende Konjunkturpolitik, die jetzt investiert, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wenn sich der Abschwung abzeichnet.

(Dr. Alice Weidel [AfD]: Jawohl! Mehr Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ ausgeben!) DIE GRÜNEN): Wir sehen ihn ja jetzt schon. Dazu gehören vernünftige Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die- Standards auf dem Arbeitsmarkt. Weg mit Befristungen! ser Antrag zeigt die komplette Inkompetenz der AfD in Deshalb feste Anstellungen statt Leiharbeit und Werkver- sozialpolitischen Fragen. Er geht an den Zukunftsfragen, trägen! die im Land überall diskutiert werden, völlig vorbei und zeugt von völliger Inkompetenz. Meine Kolleginnen und (Beifall bei der LINKEN) Kollegen von den anderen Fraktionen, die vor mir geredet Eine starke Arbeitslosenversicherung ist wichtig. Der haben, haben die mangelnde Substanz schon weitgehend Sinn der Sozialversicherung ist doch, Menschen vor Le- aufgezeigt, sehr bildlich ja der Kollege Johannes Vogel. bensrisiken gut abzusichern. Genau das tut die Arbeits- Und in der Tat: Die ersten fünf Seiten wirken, als seien sie losenversicherung jetzt nicht mehr: Zwei von drei Er- irgendwie aus Wikipedia oder sonst wo zusammenko- werbslosen beziehen Hartz IV. Die einen bekommen piert. 14228 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (A) (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Damit kennen beitslosenversicherung, bei der Absicherung von Arbeits- (C) Sie sich ja aus! – Michael Grosse-Brömer losen wirklich etwas verbessern will. [CDU/CSU]: Wikipedia vor drei Jahren!) (Dr. Alice Weidel [AfD]: Ja, das sozialversi- Das ist nicht mal ein gut lesbarer Text. cherungstechnische Äquivalenzprinzip, das Und das Hauptargument gegen den „Vorschlag“ – in Sie nicht verstehen! Genau so ist es doch! Anführungszeichen –, der am Ende kommt, steht schon – Frau Weidel, Sie haben doch auch keine Ahnung. Seien im ersten Satz. Da steht nämlich: Sie doch mal still! Bei der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- eine Risikoversicherung … wie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN – Dr. Alice Weidel [AfD]: Aber wahrscheinlich haben Sie diesen Satz nur kopiert Doch! Von Sozialversicherungen habe ich viel und ihn gar nicht verstanden. Die Arbeitslosenversiche- Ahnung! Sie verstehen ja noch nicht mal das rung funktioniert nämlich gerade nicht wie die Renten- Äquivalenzprinzip!) versicherung, in die man einzahlt und aus der man dann nach dem Äquivalenzprinzip Leistungen bekommt. Das Wenn man bei der Absicherung von Arbeitslosen etwas ist ein anderes Versicherungsprinzip. Bei der Arbeitslo- verändern will, dann muss man an ganz anderen Punkten senversicherung handelt es sich eben um eine Risikover- ansetzen. sicherung. Das Risiko ist, arbeitslos zu werden. Und die Für uns ist erstens wichtig: Wir müssen den Zugang Absicherung dagegen beinhaltet auch, die Menschen zum Arbeitslosengeld I verbessern. möglichst schnell wieder dazu zu bringen, eine Beschäf- tigung zu finden und in den Arbeitsmarkt zurückzukeh- (Dr. Alice Weidel [AfD]: Ach!) ren. Von den Kurzzeitarbeitslosen bezieht mittlerweile nur (Dr. Alice Weidel [AfD]: Ja, also eine noch knapp die Hälfte Arbeitslosengeld I. Die anderen Versicherung!) sind gleich in Hartz IV. Da müssen wir ansetzen. Wer Arbeitslosenbeiträge bezahlt hat, der muss auch Leistun- Das heißt, die Menschen bekommen für eine begrenzte gen aus der Arbeitslosenversicherung bekommen. Zeit eine Lebensstandardsicherung und entsprechende Unterstützung auf dem Arbeitsmarkt. Was Sie vorschla- (Dr. Alice Weidel [AfD]: Ach nee!) gen, hat mit dieser Logik überhaupt gar nichts zu tun. Es Wir haben dazu Vorschläge vorgelegt. ist einfach nur Unsinn. (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- wie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Auch wer nur kurz eingezahlt hat, muss einen Anspruch LINKEN – Dr. Alice Weidel [AfD]: Äquiva- bekommen. Das ist das Wesen der Versicherung. lenzprinzip heißt das! Prinzip einer jeden So- Zweiter Punkt. Viele Menschen problematisieren ja, zialversicherung!) dass man nach Ende der Leistungen aus der Arbeitslosen- Wenn argumentiert wird, die Älteren bekämen ja auch versicherung in Hartz IV abrutscht, viele auch schon so- länger Arbeitslosengeld, dann hat das nichts damit zu tun, fort. Das ist deswegen für die Menschen ein Problem, dass sie länger eingezahlt haben. weil es Existenzängste auslöst, da dieses Hartz-IV-Sys- tem so ausgelegt ist, dass es nicht vor Armut schützt, dass (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Und das es stigmatisiert. Deswegen wollen wir Grüne Hartz IV kritisieren wir!) durch eine Garantiesicherung überwinden. Das hat der Kollege Matthias Zimmer eben schon erklärt; (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) das kam in den anderen Redebeiträgen auch angedeutet vor. Der dritte wichtige Punkt: Wir müssen die Arbeitslo- senversicherung insofern stärken, dass wir sie zu einer (Zuruf der Abg. Dr. Alice Weidel [AfD]) Arbeitsversicherung weiterentwickeln. Wir müssen auch Sie bekommen deswegen länger Arbeitslosengeld, weil Solo-Selbstständige, prekäre Selbstständige mit absi- ältere Menschen länger brauchen, um wieder in den Ar- chern. Wir müssen insbesondere dazu kommen, dass die beitsmarkt zu kommen. An dieser Stelle kann man viel- Erwerbstätigen präventiv besser unterstützt werden – leicht sogar darüber reden, ob es eine Verlängerung bei durch Weiterbildung, durch weitere Maßnahmen –, damit der Bezugsdauer gibt. Das sollte aber vom Alter und von sie erst gar nicht in Arbeitslosigkeit abrutschen. Das wäre der Arbeitsmarktsituation abhängen und nicht davon, wer ein wichtiger Punkt im Hinblick auf die Fragen der Zu- wie lange eingezahlt hat. Wie gesagt, das ist völliger Un- kunft. sinn. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Sebastian Münzenmaier [AfD]: Ich weiß, dass Ich könnte noch ganz lange über unsere Konzepte als für Sie das Leistungsprinzip völlig egal ist!) Grüne dazu reden; aber ich finde, die AfD hat uns schon viel zu viel Zeit gestohlen. Ich habe noch zwei Minuten, Aus unserer Sicht muss man an ganz anderen Punkten und die möchte ich Ihnen und uns allen schenken. ansetzen – hören Sie mal auf, dazwischenzubrüllen; also diese Inkompetenz von Ihnen! –, wenn man bei der Ar- Vielen Dank. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14229

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Mit der Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversi- (C) und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten cherung haben wir die Arbeitnehmerinnen und Arbeit- der SPD und der FDP) nehmer bereits finanziell sehr entlastet. Dass die BA trotzdem finanziell so gut dasteht, wie sie jetzt dasteht, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: haben wir unserer erfolgreichen Arbeitsmarktpolitik zu verdanken und natürlich auch der Wirtschaft, die dafür , CDU/CSU, ist der nächste Redner. gesorgt hat. Mit den vorhandenen Mitteln wollen wir vor (Beifall bei der CDU/CSU) allem durch Qualifizierung die Vermittlung in sozialver- sicherungspflichtige Beschäftigung weiter fördern. Unser Albert H. Weiler (CDU/CSU): Weg zeigt Erfolg, und diesen Erfolgsweg werden wir Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und auch weitergehen, meine Damen und Herren. Never Herren auf den Tribünen und am Fernseher! Werte Kol- change a running system! leginnen und Kollegen! Was ist Gerechtigkeit? Ich hatte mal einen Professor, der gesagt hat: Da steht ein Reh, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dahinter steht der Förster. Der Förster legt an, würde der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD]) das Reh gern erlegen, um den Wald zu schonen. Er will Sie weisen zu Recht auf die bestehenden Sonderrege- gerade abdrücken, das Reh ist weg. lungen bezüglich der Anspruchsdauer bei den über 50- (Zuruf von der CDU/CSU]: Waidmannsheil!) Jährigen hin. Damit berücksichtigen wir bereits heute die besondere Situation älterer Menschen bei der Reintegra- – Danke. – Dann sagt der Förster: Welche Ungerechtig- tion in den Arbeitsmarkt. Aber anstatt die Fähigkeiten keit! Ich kann den Wald nicht schonen, das Reh lebt älterer Arbeitsloser zu aktivieren und die Menschen so noch. – Und das Reh sagt: Welche Gerechtigkeit! Ich schnell wie möglich zurück in den Beruf zu bringen, wol- bin davongehüpft. len Sie eine Regelung schaffen, die eine Orientierungs- Jetzt möchte ich einmal erklären, wie es hier um die losigkeit fördert. Das halte ich für den vollkommen fal- Gerechtigkeit bestellt ist, die uns die AfD heute beibrin- schen Weg. gen will. Meine Damen und Herren, unsere Gerechtig- Daneben ist der Antrag auch noch handwerklich äu- keit, die Gerechtigkeit der Regierungsfraktionen, die wir ßerst fragwürdig. Sie erwähnen in Ihrem Antrag keine für arbeitslose Menschen umsetzen wollen, besteht darin, Kostenkalkulation. Dies finde ich absolut unredlich. Sie dass wir mit unserer Politik Menschen, die arbeitslos wer- versprechen Leistungen, ohne deren finanziellen Auswir- den, so schnell wie möglich wieder in Arbeit bringen kungen darzustellen, und vielleicht auch, ohne deren fi- wollen. Sie, meine Damen und Herren von der AfD, wol- nanziellen Auswirkungen überhaupt zu kennen. Mit nicht (B) len die Arbeitslosigkeit verlängern und genau dieses kon- (D) kalkulierten finanziellen Forderungen versuchen Sie, un- terkarieren. Da frage ich mich: Ist das gerecht? Ich meine: sere Arbeitslosenversicherung zu schwächen und die Nein, das ist nicht gerecht! Menschen an der Stelle – das unterstelle ich jetzt mal – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch zu täuschen. Das alleine erlaubt schon keine Zu- stimmung zu diesem Antrag. Digitalisierung, Fachkräftemangel, demografischer Wandel und nachhaltiger Einsatz von Ressourcen stellen Unser Ansatz setzt präventiv an und ist auch seriös unseren Arbeitsmarkt in Zukunft weiter vor sehr große finanziell kalkuliert. In Ihrem Vorschlag sind vor allem Aufgaben. Und angesichts dieser Herausforderungen leere Versprechungen an die Bürgerinnen und Bürger ent- brauchen wir alle Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Ge- halten, und aus diesem Grunde wollen und müssen wir rade die älteren Menschen verfügen häufig über große den Antrag ablehnen. Berufserfahrung und sehr spezifische Qualifikationen. Dieses Potenzial darf uns nicht verloren gehen. Und mit Vielen Dank. jedem Tag der Arbeitslosigkeit geht ein Stück dieser Kraft verloren. Deshalb muss unser Ziel sein, diese Menschen (Beifall bei der CDU/CSU) bei Arbeitslosigkeit zu unterstützen und so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt zurückzuholen. Leistungs- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: bereitschaft und Fähigkeit müssen unterstützt werden; Nächster Redner ist der Kollege Martin Sichert, AfD. das darf nicht auf die lange Bank geschoben werden, meine Damen und Herren. (Beifall bei der AfD) Lebensleistung zu belohnen, heißt aus meiner Sicht, jedem eine faire Chance zu geben, sich mit seinen Fähig- Martin Sichert (AfD): keiten beruflich in der Gesellschaft einzubringen. Aus Meine Damen und Herren, vielen Dank, dass Sie ge- diesem Grund haben wir mit dem Qualifizierungschan- rade mit Ihren ganzen Beiträgen und der intensiven Be- cengesetz den präventiven Ansatz der Bundesagentur für schäftigung mit unseren Ansätzen zeigen, dass Sie selbst Arbeit weiter ausgebaut. Das Gesetz garantiert ein Recht überhaupt keine Ideen und tragfähigen Konzepte haben. auf rechtzeitige Weiterbildung, noch bevor die Arbeits- losigkeit akut droht. Die Bundesagentur kann außerdem (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU – seit diesem Jahr einen Teil der Weiterbildungskosten in Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- Unternehmen übernehmen, und sie verstärkt ihre beste- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn Ihr hende Weiterbildungs- und Qualifizierungsberatung. Rentenkonzept?) 14230 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Martin Sichert (A) Ihre Politik hat zu einer massiven Altersarmut geführt, zu genieure und Techniker im Land! Unterstützen wir sie auf (C) Hunderttausenden Pfandflaschen sammelnden Rentnern. ihrem Weg durch die Arbeitslosigkeit nach Kräften! ( [DIE LINKE]: Das ist doch (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie Unsinn, was Sie hier reden!) vertreiben die doch mit Ihrer Politik!) Sie haben hier eine große Klappe, Herr Zimmer. Nutzen Wir müssen alles dafür tun, diese Leistungsträger unserer Sie diese Zeit doch lieber, um sich mal zu überlegen, wie Gesellschaft im Land zu halten. wir die von Ihnen verursachte Misere wieder beseitigen (Beifall bei der AfD) können. All die exzellent ausgebildeten Arbeiter und Akademiker, (Beifall bei der AfD – Widerspruch bei der deren Fachwissen weltweit oftmals führend ist, braucht CDU/CSU – Dr. Alexander Gauland [AfD]: unser Land auch künftig als Basis unserer Wirtschaft. Das kann der Herr Zimmer nicht!) Unser Land steht am Scheideweg. 380 Millionen Euro waren Ihnen diese Tage 4 900 Ar- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Zu wel- beitsplätze bei Condor wert – etwa 80 000 Euro vom chem Thema reden Sie eigentlich? Zu Ihrem Steuerzahler pro Arbeitsplatz. Hier, mit diesem Antrag, Antrag? – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn haben Sie nun die Möglichkeit zu zeigen, was Ihnen die [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das Schicksale von Arbeitnehmern wert sind, mit Ihrem Antrag zu tun?) (Kerstin Tack [SPD]: Ogottogott!) Es gab in den vergangenen Jahren einen groß angele- gten Angriff der Politik – von Ihnen allen – auf die Basis die bei medial nicht so bekannten Firmen wie Condor unseres Wohlstands. Es hilft nichts, wenn der Staat nun arbeiten, bei jenen, die von dem massiven Abschwung, Abermillionen in die Hand nimmt, um ein paar Tausend den Sie mit Energiewende, erdrückender EU-Bürokratie Arbeitsplätze bei Condor kurzfristig zu erhalten, und automobilfeindlicher Politik herbeigeführt haben, be- troffen sind. (Zurufe von der LINKEN) (Jessica Tatti [DIE LINKE]: Das steht doch gar wenn auf der anderen Seite die Geschäftsgrundlage von nicht drin! Erklären Sie doch einmal Ihren An- Condor, nämlich das Fliegen, politisch massiv bekämpft trag!) wird. Es geht um Menschen, die teils nach Jahrzehnten beim (Beifall bei der AfD) gleichen Arbeitgeber nun aufgrund Ihrer Politik ihren (B) Sie müssen sich hier schon ehrlich machen: Entweder (D) Arbeitsplatz verlieren. wollen Sie Flüge politisch bekämpfen – dann dürfen Sie (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer kein Geld für Condor aufwenden –, oder Sie wollen Con- [CDU/CSU]: Wo bleiben eigentlich die Flücht- dor retten – dann müssen Sie aber umgehend den politi- linge?) schen Kampf gegen das Fliegen einstellen. Viele dieser Menschen haben lange in die Sozialversiche- (Beifall bei der AfD – Wilfried Oellers [CDU/ rung eingezahlt, und es ist nun an der Zeit, ihnen den CSU]: Reden Sie mal zum Antrag! – Zurufe gebührenden Respekt für die geleistete Arbeit zu erwei- von der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ sen. DIE GRÜNEN) Sie alle von den Altparteien haben in der Vergangen- (Zuruf der Abg. Kordula Schulz-Asche heit mit Energiewende, Euro-Rettung, Masseneinwande- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) rung Unqualifizierter Mildern Sie ihren Aufprall ab, und unterstützen Sie un- seren Antrag, (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ja, da ist das Thema!) (Sabine Zimmermann [Zwickau] [DIE LIN- und übermäßiger Steuer- und Abgabenlast die jetzige KE]: Steht da nicht drin! – Jessica Tatti [DIE Wirtschaftskrise herbeigeführt. Es wurden viele Weichen LINKE]: Was ist denn Ihr Antrag, Herr falsch gestellt; aber wir können die Vergangenheit nicht Sichert?) ungeschehen machen. und verschaffen Sie den Menschen so mehr Zeit in wirt- (Kerstin Tack [SPD]: Peinlich!) schaftlich schlechten Zeiten, eine neue Arbeit zu finden. Lassen Sie uns deshalb nun gemeinsam alles daransetzen, Das zu tun, ist auch eine Frage der wirtschaftlichen den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Vernunft und des vorausschauenden Handelns. Über 30 000 Arbeitsplätze sind allein bei den Stammbeleg- (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Mit Ihnen schaften der Automobilindustrie in den letzten Monaten machen wir nichts gemeinsam, gar nichts!) weggefallen. Bei den Leiharbeitern war es ein Vielfaches Die echten Fachkräfte gilt es im Land zu halten, indem davon. Automobilzulieferer wie Neue Halberg Guss, Ei- wir jenen, die arbeitslos werden, eine längere Perspektive senmann oder Weber Automotive sind pleitegegangen. als bisher geben. Das sind allein 6 500 Arbeitsplätze von vor allem hoch qualifizierten Arbeitnehmern. Halten wir die fähigen In- (Zuruf des Abg. Fabio De Masi [DIE LINKE]) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14231

Martin Sichert (A) Wir müssen natürlich noch viele weitere Maßnahmen Ich nenne das „Sozialstaat als Partner“, das heißt ge- (C) ergreifen, um die Wirtschaft wieder vom Kopf auf die meinsam Perspektiven entwickeln: Wie geht es jetzt Füße zu stellen, weiter? Wo liegen die Stärken von Frau W.? Was passt zu ihr? Braucht sie Qualifizierungen oder gar Umschu- (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE lungen? – Individuelle und umfassende Beratung ist die GRÜNEN]: Warum stehen die nicht in Ihrem Grundlage für die nächsten richtigen Schritte. Im An- Antrag drin?) schluss an eine Qualifizierung braucht Frau W. genug und dazu gehört auch, den irrationalen Kampf gegen das Zeit, um dann auch eine passende Stelle zu finden; denn Automobil, das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, end- das Ziel muss ja sein, dass Frau W. mit Anfang 50 als lich einzustellen. Fachkraft in diesem Land uns wieder zur Verfügung steht und wieder arbeiten kann. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD) Lassen Sie uns gemeinsam (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Nichts Aber was ist, wenn wir das nicht schaffen, während gemeinsam mit Ihnen, nie und nimmer!) Frau W. Arbeitslosengeld bezieht? Auch davor hat Frau W. Angst. Sie hat für ihr Alter angespart. Sie hat genau die finanzielle Belastung der Bürger senken und eine gute das gemacht, was wir von den Bürgerinnen und Bürgern Zukunft aufbauen. Das sind wir nämlich nicht nur unse- erwarten, was wir ihnen empfehlen, und deshalb meine ren Wählern, sondern auch künftigen Generationen ich, dass wir auch das SGB II so weiterentwickeln müs- schuldig. sen, dass wir in den ersten zwei Jahren nach Arbeitslosen- geldbezug das Vermögen eben nicht mehr anrechnen, da- Vielen Dank. mit Leute, die sich was angespart haben, hier mehr (Beifall bei der AfD – Michael Grosse-Brömer Sicherheit bekommen. [CDU/CSU]: So inhaltslos wie der Antrag!) (Beifall bei der SPD)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Das alles, meine Damen und Herren, heißt für mich Dr. Martin Rosemann, SPD, ist der nächste Redner. Schutz und Chancen. Wir müssen Menschen wie Frau W. Schutz und Chancen ermöglichen. Ich wünsche mir, (Beifall bei der SPD) dass Frau W. den Sozialstaat als unterstützend empfinden kann, als Partner, der passgenau hilft. Das gilt nicht nur (B) Dr. Martin Rosemann (SPD): für Frau W.; es gilt für Millionen von Menschen in unter- (D) Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe schiedlichen Lebenslagen. Und es gilt auch nicht erst Kolleginnen und Kollegen! In der letzten Woche habe ich dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, Leute in meinem Wahlkreis eine Frau getroffen, Anfang 50, arbeitslos geworden sind, sondern wir müssen vorher an- alleinstehend. Sie hat immer gearbeitet. Sie hatte die Vor- setzen, Unterstützung schon im Arbeitsleben bieten, Un- stellung: Ich arbeite bis zur Rente. – Jetzt ist sie plötzlich terstützung in unterschiedlichen Lebenslagen bieten – arbeitslos geworden, und sie war ziemlich verzweifelt. schnell, unbürokratisch und wie aus einer Hand. Sie hat eine Ausbildung; aber sie kann in dem erlernten Beruf nicht mehr arbeiten. Klar ist: Sie muss sich beruf- (Beifall bei der SPD) lich neu orientieren. Meine Damen und Herren, Menschen, die in unserem Nennen wir sie Frau W. Frau W. hat Angst. Sie hat Sozialstaat Ansprüche auf Unterstützung haben, müssen Angst davor, keine Arbeit mehr zu finden. Sie hat Angst sie auch bekommen, ob es finanzielle Leistungen sind, ob davor, dass die Zeit nicht ausreicht, eine Qualifizierung es Unterstützung bei Qualifikation ist, bei Prävention zu machen und danach einen passenden Job zu finden, oder Rehabilitation. Das ist im Interesse der betroffenen und sie hat Angst davor, dass ihr Erspartes weg ist, bevor Menschen, aber es ist auch in unserem Interesse; denn wir sie Leistungen der Grundsicherung bekommt. Meine Da- müssen als älter werdende Gesellschaft doch ein Interesse men und Herren, ich finde, ein guter Sozialstaat muss daran haben, dass es Menschen schaffen, tatsächlich ge- Menschen wie Frau W. diese Angst nehmen und ihr neue sund bis in die Rente zu kommen, und dass die Arbeits- Perspektiven geben. kräfte von heute in die Lage versetzt werden, die Arbeit von morgen zu machen, damit wir Fachkräfte sichern. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der SPD) GRÜNEN) Deshalb ist es so wichtig, dass wir Qualifizierungen un- Meine Damen und Herren, wir haben mit dem Präven- terstützen und dass Qualifizierungszeiten eben nicht auf tionsgesetz, der Flexirente und dem Qualifizierungschan- die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld angerechnet wer- cengesetz wichtige Schritte unternommen. Diese Schritte den. Das Allerwichtigste ist aber, dass Leute wie Frau W. gehen wir weiter für einen Sozialstaat als Partner, der das schnell, unbürokratisch und passgenau unterstützt wer- Leben leichter macht. Das zeichnet eine solidarische Ge- den, so wie sie es brauchen. Darauf kommt es an. sellschaft aus. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) 14232 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Dagmar Schmidt [Wetzlar] [SPD]: Die (C) Till Mansmann, FDP, hat als Nächster als Wort. Verbesserung der Qualifizierung?) – Nein. (Beifall bei der FDP) (Dagmar Schmidt [Wetzlar] [SPD]: Na, sehen Till Mansmann (FDP): Sie!) Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen Wenn wir nun an allen möglichen Stellen am Arbeits- und Kollegen! Liebe Bürgerinnen und Bürger auf der markt herumdoktern, dann werden wir gerade den Men- Tribüne! Man lebt nicht, um zu arbeiten, aber ein Leben, schen, die auf einen flexiblen und funktionierenden Ar- in dem man keinen produktiven Beitrag leisten kann, ist beitsmarkt besonders angewiesen sind, keinen guten für jeden betroffenen Menschen eine große Herausforde- Dienst erweisen, gerade in einer Zeit, in der wir ernsthaft rung. Das Arbeitslosengeld I ist eine der Antworten des damit rechnen müssen, dass die vielen fetten Jahre vor- Sozialstaats auf diese Herausforderung. Eine unnachgie- beigehen. bige Bezugsdauer des Arbeitslosengelds I wird dem Prob- lem nicht gerecht. Deshalb begrüßen wir Freie Demokra- Lassen Sie uns hier keine Gesetze machen, die Arbeits- ten die besondere Verknüpfung zwischen ALG I und losigkeit zementieren. Weiterbildungsmaßnahmen. Wenn es die persönliche Si- (Zuruf von der FDP: Sehr richtig!) tuation verlangt, dann sollte die Zeit der Arbeitslosigkeit auch eine Gelegenheit zur Qualifizierung sein. Und wer Es wäre schön, wenn wir den Menschen in Deutschland seine Zeit produktiv und sinnvoll nutzt, dessen Engage- kein Danaergeschenk unter den Weihnachtsbaum 2019 ment wird honoriert. Das haben wir politisch bereits so legen mit den mageren Ideen, die die AfD hier vorlegt, geregelt, worauf mein Kollege Vogel schon hingewiesen und leider mit den problematischen Ideen, die aus dem hat. Hinter diesem gestaffelten Verfahren stehen wir auch. Arbeitsministerium der SPD kommen. Arbeitslose tragen ein schweres Paket. Die Menschen, (Beifall bei der FDP) die in diesem System ihr Bestes geben, haben dafür un- sere Unterstützung und unseren Respekt verdient. Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Peter Aumer, CDU/CSU, ist der nächste Redner. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Respekt heißt für uns, insbesondere auf die Fähigkeiten jedes Einzelnen zu vertrauen und zu bauen. Dementspre- Peter Aumer (CDU/CSU): (B) chend halten wir die vorgeschlagene Änderung der Trans- (D) fersystematik für den falschen Weg. Was Arbeitslose Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und brauchen, ist ein flexibler Arbeitsmarkt, der es ihnen er- Kollegen! In Ihrem Antrag, Kollegen der AfD, schreiben möglicht, schnell wieder Fuß zu fassen. Gerade da mache Sie: Wir brauchen eine Neuordnung des Arbeitslosengel- ich mir allerdings große Sorgen. Erst vor Kurzem hat des wegen der „unsozialen Lebenswirklichkeit“ in unse- Arbeitsminister Heil erklärt, dass wir im Oktober Geset- rem Land. – Unsoziale Lebenswirklichkeit? Leben wir im zesvorschläge zu erwarten hätten. Das klang für mich selben Land, meine sehr geehrten Damen und Herren der mehr nach einer Drohung als nach einem Versprechen. AfD? Wir haben in den letzten zehn Jahren die Arbeits- losigkeit in Deutschland halbiert. Das ist soziale Politik, Vor bereits mehr als zwei Jahren wurde das Geschäft meine sehr geehrten Damen und Herren der AfD. der Leiharbeitsbranche mithilfe des novellierten Arbeit- nehmerüberlassungsgesetzes deutlich erschwert. Nun (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. will der Minister in einer Weise an die Befristung von Dagmar Schmidt [Wetzlar] [SPD]) Arbeitsverträgen herangehen, die sich für den Arbeits- Das ist eine Politik, die den Grundsätzen der sozialen markt als sehr problematisch erweisen wird. Wir schlagen Marktwirtschaft folgt. Wir machen nämlich eine aktivi- einen gefährlichen Weg ein, wenn wir, weil die wirt- erende Arbeitsmarktpolitik. Wir wollen weiter an dem schaftlichen Zeiten gerade ganz gut sind, die Flexibilität Ziel arbeiten, dass die Menschen in Arbeit bleiben, ge- des Arbeitsmarktes an allen Stellen einschränken. Wenn rade in einer Zeit, in der die Konjunktur abkühlt. Das wieder schlechtere Zeiten kommen, werden wir das muss unser vorrangiges Ziel sein. schwer bereuen. Das Schlimme ist: Das würde die meis- ten von uns nicht treffen, sondern die, die es auf dem Herr Kollege Sichert, in Ihrer Rede – jetzt ist er leider Arbeitsmarkt schwer haben, eben die gebrochenen Er- schon weg – – werbsbiografien, die Dr. Zimmer zu Recht angesprochen (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist hat. typisch! – Kerstin Tack [SPD]: So sind die!) Die Arbeitsmarktforschung zeigt auch klar und deut- Er hat in seiner Rede gesagt, die Koalition sei schuld, dass lich, dass die Befristung gerade für diejenigen Menschen die Konjunktur zurückgeht. Er sollte sich vielleicht ein- ein wichtiger Zugangsweg zum Arbeitsmarkt ist, die eine mal die weltweite Konjunkturentwicklung anschauen. Ich für Arbeitgeber schwierige Biografie haben. Frau Kolle- glaube, alles, was die AfD macht, ist sehr klar in ihrer gin Schmidt, Sie haben von Prävention gesprochen. Die kleinen Welt begründet, und dabei vergisst sie, das große Gesetze, die Sie planen, sind genau kontraproduktiv im Ganze im Blick zu haben. Ich bitte, auch das bei Ihren Blick auf dieses Anliegen. Anträgen ein klein wenig zu beachten. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14233

Peter Aumer (A) Dann hat Herr Sichert von Respekt gesprochen, davon, Wenn man dann Ihren Antrag mit anderen vergleicht, (C) dass die Ausweitung des Arbeitslosengeldes eine respekt- liebe Kollegen – ich habe mal bei den Linken nachge- volle Handlung sei. Respekt gegenüber Arbeitnehmerin- schaut –, stellt man fest, dass es von den Linken im Jahr nen und Arbeitnehmer ist, dafür zu sorgen, dass sie einen 2016 einen ähnlichen Antrag zum Thema Arbeitslosen- sicheren Arbeitsplatz haben. Das muss die Politik in un- geld gab. Man merkt also schon gewisse Ähnlichkeiten. serem Land sein. Dann hat Herr Sichert davon gespro- Wenn Herr Gauland meint, seine Partei sei sozial, dann chen, alles dafür zu tun, dass die Leistungsträger nicht ins entgegne ich ihm: Es reicht nicht, wenn man sich eine Ausland gehen. Dazu sage ich: Die Leistungsträger in soziale Plakette umhängen möchte, sondern Sozialpolitik unserem Land sollen in Arbeit bleiben. Das ist die He- schaut anders aus. rausforderung, der sich verantwortungsvolle Politik auch stellen muss. Wenn man Ihre Entscheidungen der letzten Monate im Hohen Haus anschaut: Dann war das alles andere als Herr Kollege Münzenmaier, Sie haben vorhin das Bei- soziale Politik. Wir wollen aktivierende Politik. Wir ha- spiel des 48-jährigen Handwerkers angesprochen. Zum ben gemeinsam in der Koalition ein Programm aufgelegt, Thema Realität: Wenn Sie in meinen Wahlkreis gehen, mit dem wir Langzeitarbeitslosen eine Chance geben. Sie werden Sie keinen 48-jährigen Handwerker finden, der haben dagegen gestimmt. Das ist unsoziale Politik, meine arbeitslos ist. Wir haben Fachkräftemangel. Wir brauchen sehr geehrten Damen und Herren der AfD. dringend Handwerkerinnen und Handwerker. Sie sollten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei vielleicht einmal in Ihrem Wahlkreis unterwegs sein und Abgeordneten der SPD) sollten schauen, wie die Lebensrealität in Deutschland ist. Dann können wir auch darüber reden, statt uns weiter mit Von daher wir lehnen Ihren Antrag ab, weil er nicht solchen Anträgen zu beschäftigen. sozial ist, weil er nicht durchdacht ist und weil er an der Lebenswirklichkeit der Menschen in unserem Land vor- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- beigeht. neten der SPD – Dr. Matthias Zimmer [CDU/ CSU]: Der kommt aus Dunkeldeutschland!) Herzlichen Dank. Mit unserer Politik, meine sehr geehrten Damen und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Herren der AfD – so viel auch zur Lebenswirklichkeit –, Abgeordneten der SPD) ist uns noch etwas gelungen, was Sie in Ihrem Antrag nicht zur Kenntnis nehmen. Wir haben die Bürgerinnen Vizepräsidentin : und Bürger, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Vielen Dank, Peter Aumer. – Guten Morgen, liebe Kol- (B) um 6 Milliarden Euro entlastet. In Ihrem Antrag nehmen leginnen und Kollegen! Ich rufe Frau Gabriele Hiller- (D) Sie das nicht einmal zur Kenntnis. Sie wissen wahr- Ohm auf – vier Minuten! scheinlich gar nicht – das hat die Kollegin vorhin schon angesprochen –, dass der Arbeitslosenbeitrag im Januar von 3 Prozent auf 2,5 Prozent gesenkt worden ist, und Gabriele Hiller-Ohm (SPD): zwar auf Antrag der Regierungskoalition. Das entlastet Ich werde mich bemühen. – Frau Präsidentin! Meine die Arbeitnehmer und die Arbeitgeber um 6 Milliarden Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Kollege Euro. Sie sollten also ein klein bisschen sorgfältiger bei Münzenmaier von der AfD, der Erarbeitung ihrer Anträge sein. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- mein Fazit bezüglich Ihres Antrags zum Arbeitslosen- neten der SPD – Sebastian Münzenmaier geld I lautet: Es kreißte der Berg und gebar noch nicht [AfD]: Aber das hilft nicht, wenn er den Job einmal eine Maus. – Es ist doch völlig absurd, einen so verliert!) langen Antrag vorzulegen, der am Ende nur aus einer einzigen und darüber hinaus noch völlig unkonkreten Dann sollten Sie, liebe Kollegen, auch die Zahlen ernst Forderung besteht; Kollege Vogel hat sehr eindrucksvoll nehmen. Das ist vom Kollegen Vogel vorhin schon ange- darauf hingewiesen. Tatsächlich zeigt Ihr Antrag wieder sprochen worden. Ich möchte nur eine BA-Zahl heraus- einmal, dass Sie erstens den sozialpolitischen Entwick- greifen. Im Zeitraum von Juni 2018 bis Juni 2019 hatten lungen völlig hinterherhinken und zweitens ein fragwür- wir einen Zugang von 2,5 Millionen Personen ins Ar- diges Verständnis von unserem Sozialstaat haben. beitslosengeld II und im selben Zeitraum einen Abgang von 2,44 Millionen Personen aus dem Arbeitslosengeld II. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Sabine Davon sind 20 Prozent in Hartz IV gegangen. Daran müs- Zimmermann [Zwickau] [DIE LINKE]) sen wir arbeiten. Das ist sicherlich eine große Herausfor- derung. Aber diese Zahl ist auch ein Zeichen für die Ro- Sie wollen die Länge der Auszahlung des Arbeitslosen- bustheit unseres Arbeitsmarktes. Ich glaube, besser, als geldes I alleine davon abhängig machen, wie lange ein- der Arbeitsmarkt in Deutschland im Moment ist, könnte gezahlt wurde. er wahrscheinlich auch nicht sein. Wir müssen daran ar- (Dr. Alice Weidel [AfD]: Genau! Nach dem beiten, dass das auch in den nächsten Monaten so bleiben Äquivalenzprinzip!) wird. Sie meinen, damit wäre die Welt dann in Ordnung. Auch (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wenn die Arbeitslosenversicherung keine Sozialleistung 14234 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Gabriele Hiller-Ohm (A) ist, bedeutet das noch lange nicht, dass unser Staat ein Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) Versicherungsdienstleister ist. Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage?

(Dr. Alice Weidel [AfD]: Ach!) Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Auch die Arbeitslosenversicherung basiert auf dem Nein, auf keinen Fall. Prinzip der Solidarität. Das bedeutet, dass sich die Mit- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) glieder gegenseitig Hilfe und Unterstützung gewähren, und das ist auch gut so. Die SPD kämpft für einen starken, zukunftsfesten So- zialstaat, der allen Menschen in unserem Land (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Corinna Rüffer [BÜNDNIS 90/DIE ( [AfD]: Und der ganzen GRÜNEN] – Dr. Matthias Zimmer [CDU/ Welt!) CSU]: So ist es!) die Unterstützung gibt, die benötigt wird. Dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Meine Vorrednerin Dagmar Schmidt und mein Vorred- AfD, mit Solidarität allerdings nichts am Hut haben, wun- ner Martin Rosemann haben die Maßnahmen und Pläne dert hier im Haus niemanden mehr. der SPD bereits sehr gut dargestellt. Wir wollen den Men- schen, die arbeitslos geworden sind, helfen, schnell wie- (Dr. Alice Weidel [AfD]: Ja, ja!) der in Arbeit zu kommen, damit sie ein selbstbestimmtes Sie sprechen in Ihrem Antrag von sozialer Gerechtig- Leben führen können. Der Vorschlag der SPD – das Ar- keit. Aber soziale Gerechtigkeit bedeutet eben nicht, dass beitslosengeld Q – ist deshalb der richtige Weg. Damit man jeden Cent, den man eingezahlt hat, auch eins zu eins wollen wir einen Leistungsanspruch für Qualifizierung wieder zurückbekommt. Es bedeutet vielmehr, dass die während Zeiten der Arbeitslosigkeit einführen. Durch Gesellschaft miteinander solidarisch ist, dass Stärkere für Qualifizierung und Weiterbildung eröffnen wir arbeitslo- Schwächere einstehen und dass am Ende jeder Mensch sen Menschen neue Chancen, rasch auf dem Arbeitsmarkt eine würdige Absicherung hat; darum geht es. wieder Fuß zu fassen. Das ist im Zeitalter der Digitalisie- rung, in der sich die Arbeitswelt im raschen Wandel be- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ findet, umso dringlicher. CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Liebe Kolleginnen und Kollegen der AfD, wenn Sie NEN) tatsächlich etwas verbessern wollen, dann müssen Sie in Ihr Antrag ist wieder einmal ein plumper Versuch, der Ihre Vorschläge deutlich mehr Gehirnschmalz (B) (D) AfD einen sozialen Anstrich verpassen zu wollen. Aber (Kerstin Tack [SPD]: Ich möchte aber kein wir erkennen den Wolf im Schafspelz, meine Damen und Gehirnschmalz im Parlament haben!) Herren! und vor allem mehr Herzblut für Menschen in Notlagen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten investieren. So jedenfalls wird das nichts. der CDU/CSU – Zurufe von der AfD: Oi!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gestern haben wir hier im Plenum über die Verbesse- der CDU/CSU) rung der Löhne für Pflegekräfte debattiert. Aber anstatt den Handlungsbedarf bei diesem drängenden Problem zu Vizepräsidentin Claudia Roth: erkennen, meinen Sie, der Markt wird es schon von allei- Vielen Dank, Gabriele Hiller-Ohm. – Der letzte Redner ne regeln. Sie lassen die hart arbeitenden Pflegekräfte im in dieser Debatte: Thomas Heilmann für die CDU/CSU- Regen stehen. Fraktion. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des (Beifall bei der CDU/CSU) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alice Weidel [AfD]: Die erwarten, dass sie besser Thomas Heilmann (CDU/CSU): bezahlt werden!) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren auf der Das ist Ihr wahres neoliberales Gesicht. Zuschauertribüne und an den digitalen Endgeräten! Frau Weidel, Sie hören leider nicht zu, und Herr Gauland auch Auch Ihr Wahlprogramm spricht Bände. Hier findet nicht. Ich wollte Sie beide persönlich ansprechen. Dieser man lediglich drei magere, nebulöse Seiten zur Sozial- grundmangelhafte Antrag, Frau Weidel, trägt Ihre Unter- politik. Und gleich im ersten Absatz, meine Damen und schrift; da sollten Sie sich auch nicht rausreden. Herren, wird deutlich, was die AfD unter Solidarität ver- Wir halten kurz fest: Der Antrag enthält unrichtige steht: Angaben, (Dr. Alice Weidel [AfD]: Ja!) (Kai Whittaker [CDU/CSU]: Was?) Zuwanderer gegen deutsche Staatsbürger auszuspielen – schon den falschen Arbeitslosenbeitrag. Er ist sehr das ist Ihr Verständnis vom Sozialstaat. Meine Damen länglich und sprachlich ausgesprochen misslungen; das und Herren, wir aber wollen keine Sozialpolitik für Aus- haben meine Vorredner schon dargestellt. Er steht im Wi- erwählte. derspruch zu zentralen Aussagen Ihrer Partei. Er sagt mit Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14235

Thomas Heilmann (A) keinem Wort, was Sie eigentlich genau fordern, wer jetzt (Uwe Witt [AfD]: Niemand hat über Flüchtlin- (C) eigentlich wie viel unter welchen Voraussetzungen be- ge gesprochen! Das ist in Ihrer Fantasie!) kommen soll. Dann verwechseln Sie einen Kredit an Condor mit einem Selbstverständlich sagt der Antrag, den Sie, Herr Zuschuss an Condor. Und was ich überhaupt nicht ver- Gauland, unterschrieben haben, auch nichts zur Finanzie- standen habe: Sie beklagen Arbeitslosigkeit und die Tat- rung. Der Antrag unterschlägt, dass alle Arbeitswissen- sache, dass wir einen Kredit geben, damit die Condor, die schaftler das Gegenteil sagen. Und am Schluss fordert der nur in Liquiditätsschwierigkeiten, aber nicht in Ergebnis- Antrag dann auf simplen drei Zeilen, die Bundesregie- schwierigkeiten ist, überleben kann und es eben keine rung möge da irgendetwas vorlegen. Der Antrag zeigt Arbeitslosigkeit gibt. Warum Sie das in diesem Zusam- also, dass Sie kein Konzept für keine sozialpolitische menhang angegriffen haben, habe ich nicht verstanden. Frage haben, keines für Rente, keines für Arbeitslosig- keit. Herr Gauland, Ihr ständiger vergeblicher Versuch, (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LIN- sich als bürgerlich darzustellen, wird auch hier eindeutig KEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) entlarvt. Aber es ist ziemlich unlogisch. Ganz nebenbei leugnen Sie dann auch noch den Klimawandel. Da könnte man (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auch sagen: wie immer. neten der SPD, der LINKEN und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) Ihre klägliche Vorstellung würde ich deswegen wie Ein so unseriöses Werk ist schlicht liederlich, aber be- folgt zusammenfassen: Bei den Flüchtlingen können Sie stimmt nicht bürgerlich. nur hetzen. Beim Klima können Sie Der zentrale Gedanke von uns in der Koalition, auf den (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Nur spalten!) Sie gar nicht eingehen, ist, dass es am besten für jeden ist, nur leugnen, und wenn es um Soziales geht, können der arbeitslos wird, wenn er schnell wieder in Arbeit Sie – nichts. kommt. Vielen Dank. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem Denn jede Statistik zeigt: Umso länger die Arbeitslosig- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abge- keit dauert, umso schwieriger wird es. – Diese Bundesre- ordneten der LINKEN und des Abg. Johannes gierung hat darauf auch eine zentrale Antwort gegeben, Vogel [Olpe] [FDP]) (B) nämlich: Wenn es nicht klappt, schnell wieder Arbeit zu (D) finden, dann braucht man Weiterbildung. Deswegen ha- Vizepräsidentin Claudia Roth: ben wir eine umfangreiche Weiterbildungsstrategie vor- Vielen Dank, Thomas Heilmann. – Damit schließe ich gelegt. Wir haben mehrere Gesetze vorgelegt und auch die Aussprache. schon verabschiedet. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Genauso wenig substanziell wie Ihr Antrag ist auch Drucksache 19/13520 an den Ausschuss für Arbeit und Ihre Antwort darauf. Denn Sie haben sich beim Thema Soziales vorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Weiterbildung oder, präzise gesagt, beim Qualifizie- Dann ist die Überweisung so beschlossen. rungschancengesetz im letzten Jahr ganz entschlossen enthalten. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregie- Sehr interessant! – Dr. Astrid Mannes [CDU/ rung CSU]: Hört! Hört!) Bericht der Bundesregierung zum Stand der Dann stellt heute Herr Münzenmaier hier dieses, vorsich- Deutschen Einheit 2019 tig formuliert, wenig durchdachte Konzept vor, meine Vorredner und die nachfolgenden Redner Drucksache 19/13500 Überweisungsvorschlag: (Kerstin Tack [SPD]: Frauen!) Ausschuss für Wirtschaft und Energie (f) Ausschuss für Inneres und Heimat auf Herrn Münzenmaier nehmen es nach allen Regeln der Sportausschuss Kunst auseinander – und dann hatten Sie noch mal die Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Arbeit und Soziales Gelegenheit, als Herr Sichert sprach –: Und was machen Verteidigungsausschuss Sie? Sie gehen mit keinem einzigen Wort auf nur ein Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit einziges Argument meiner Vorredner ein. Ich meine, Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung das ist schon ein ziemliches Kunststück. Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ausschuss für Kultur und Medien Ausschuss Digitale Agenda neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen GRÜNEN) Haushaltsausschuss Statt auf irgendein Argument einzugehen, schimpfen Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Sie – wie immer – auf Flüchtlinge. Linke vor. 14236 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die lut als auch relativ zum Westen, steigende Löhne, Gehäl- (C) Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre dazu kei- ter und Renten. Im Osten haben wir dank der nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. wirtschaftlichen Entwicklung und der Höhergewichtung der Renten heute die niedrigste Altersarmut im Land. Wenn die Kolleginnen und Kollegen Platz genommen Heute lässt sich an vielen Stellen auch gar nicht mehr haben, rufe ich den ersten Redner auf. Das ist für die auf Anhieb sagen, wo die innerdeutsche Grenze verlief. Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär Nicht nur die Städte und Dörfer, auch die Verkehrs-, Ener- Christian Hirte. Herr Hirte, Sie haben das Wort. gie- und Telekommunikationsinfrastrukturen wurden (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei massiv modernisiert und erweitert und damit die Voraus- Abgeordneten der SPD) setzung dafür geschaffen, dass sich die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands der des Westens kontinuierlich angenä- Christian Hirte, Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- hert hat. Sie liegt heute nahezu am Durchschnitt der Eu- nister für Wirtschaft und Energie: ropäischen Union. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor 30 Jahren, (Enrico Komning [AfD]: Tolle Leistung!) am 27. September 1989, befanden sich etwa 900 Men- Ganz wichtig finde ich, dass die Angst vor Arbeitslo- schen in der Prager Botschaft. Sie waren dorthin geflüch- sigkeit gewichen ist. Die Arbeitslosenquote in Ost- tet, um ihre Ausreise durchzusetzen. Drei Tage später deutschland lag 2015 noch auf einem Höchststand von waren es schon rund 4 000 Menschen, die auf engstem 19 Prozent, im August dieses Jahres lag sie bei 6,4 Pro- Raum in der Hoffnung auf eine gute Lösung ausharrten. zent. Die neuen Länder sind heute also ein attraktiver Dann brach aber der Damm. Ich denke, die meisten von Standort für innovative Unternehmen und Forschungs- Ihnen im Haus werden sich an die Rede von Herrn Gen- einrichtungen. Besonders im Bereich Umwelt- und Ener- scher auf dem Balkon der Botschaft erinnern, mit der er gietechnologien sind wir in den neuen Bundesländern gut den Menschen die direkte Ausreise in die Bundesrepublik und stark vertreten. Wir haben große Unternehmensan- ankündigte. siedlungen zu verzeichnen und seit zwei Jahren zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung einen positiven (Thomas L. Kemmerich [FDP]: Guter Mann!) Wanderungssaldo von West nach Ost. Auch bei der wich- Das war eine schwere Niederlage für die DDR-Führung tigsten Zukunftsfrage gibt es einen klar positiven Befund. und ein Meilenstein auf dem Weg zur Friedlichen Revo- Im Osten werden mehr Kinder pro Frau geboren als im lution. Wenige Tage später kochte die Situation im gan- Westen. Es gibt nicht 21 Prozent kinderlose Frauen wie zen Land noch stärker hoch mit dem Aufbegehren muti- im Westen, sondern nur 12 Prozent. Ich glaube, das ist ein (B) ger Bürgerrechtler und auch immer mehr DDR-Bürger, ganz starkes Signal, wie man die Zukunftsfähigkeit der (D) zunächst auf der großen Demonstration in Plauen, aber eigenen Region einschätzt. dann auch in Leipzig am 9. Oktober vor 30 Jahren. (Beifall bei der CDU/CSU) Das war alles andere als selbstverständlich, wenn man den historischen Kontext bedenkt, etwa die Niederschla- Die objektiven Befunde sprechen also eine klare Spra- gung der Bürgerrechtsbewegungen in Osteuropa, in Un- che. Die deutsche Einheit ist eine eindrucksvolle Erfolgs- garn, in Prag oder, damals noch ganz aktuell, in Peking. geschichte, aber sie wurde gerade in den ersten Jahren Der real existierende Sozialismus der DDR hatte im nicht leicht errungen. Der Transformationsprozess in eine wahrsten Sinne des Wortes abgewirtschaftet – politisch, marktwirtschaftliche Ordnung mit freien Märkten hat den ökonomisch, ökologisch, gesellschaftlich, aber eben auch Menschen in Ostdeutschland viel abverlangt. Für die al- moralisch. Offenbar wurde, dass all die hehren Ansprü- lermeisten haben sich die Lebensumstände völlig verän- che nicht eingehalten werden konnten. dert. Das hat Spuren hinterlassen. Gleichwohl sind heute die meisten Bürger im Osten mit der eigenen wirtschaft- Meine sehr geehrten Damen und Herren, die danach lichen Situation zufrieden. Es gibt aber durchaus eine folgende Vereinigung ist heute eine hart erarbeitete, aber andere Seite. Ich weiß, dass sich noch heute ein Teil der auch eine gelebte Realität. Gerade als jemand, der einen Bürger als Deutsche zweiter Klasse versteht. Der Osten großen Teil seiner Kindheit auf dem Bauernhof seiner hat sich in den letzten 30 Jahren eben sehr heterogen Großeltern 50 Meter vor dem 500-Meter-Zaun verbracht entwickelt. Die Entwicklung war nicht überall gleich hat, sage ich: Die Friedliche Revolution und die deutsche gut. In nicht wenigen Regionen gab es einen massiven Einheit sind ein Glücksfall der deutschen Geschichte, auf Bevölkerungsschwund. An etlichen Stellen hat der Zu- den wir heute dankbar und auch mit Freude zurückbli- sammenbruch der Industrie nach 1990 bleibende wirt- cken können. schaftliche, soziale, aber auch gesellschaftliche Schäden hinterlassen; denn dort, wo die Fabriken schließen muss- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie ten, gingen Menschen in großer Zahl weg. Die Abwan- bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNIS- derung wirkt bis heute nach, und sie wird auch noch bis SES 90/DIE GRÜNEN) weit in die Zukunft wirken. Stagnation oder der Rück- Die vermeintlich zehntstärkste Volkswirtschaft der gang der Bevölkerung hat auch Folgen für zivilgesell- Welt war in Wahrheit also völlig verschlissen. Die tat- schaftliches Engagement. Es fehlen nicht nur immer häu- sächliche Lage war viel schlimmer, als man selbst im figer Fachkräfte, in vielen Orten und bei vielen Aufgaben Westen vermutete. Wir haben inzwischen viel getan, dass fehlt es eben auch an engagierten Bürgern. Gerade sie der Unterschied zwischen Ost und West geringer gewor- sind der Kitt, der einen Ort, der eine Gesellschaft zusam- den ist. Auch und gerade aktuell haben wir, sowohl abso- menhält. Die Unzufriedenheit in manchen Regionen in Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14237

Parl. Staatssekretär Christian Hirte (A) den neuen Ländern ist spürbar, vor allem, wenn es um Meine Damen und Herren, Ostdeutschland, aber auch (C) politische Fragen geht oder um das Vertrauen in die Po- unser ganzes Land, steht nach wie vor vor großen Heraus- litik, in gesellschaftliche und staatliche Institutionen. forderungen. Ein großer Teil dieser Herausforderungen ist nicht typisch ostdeutsch, sondern eine gesamtdeutsche Meine sehr geehrten Damen und Herren, es gibt kein Herausforderung, der wir uns stellen sollten. In Anbe- Wundermittel gegen strukturelle Probleme wie den de- tracht unserer Geschichte, glaube ich, sind die Voraus- mografischen Wandel und seine negativen Konsequen- setzungen dafür heute besser als zuvor in unserer Ge- zen. Für die Bundesregierung ist die skizzierte Stim- schichte. mungslage aber ein klares Signal, dass der Prozess der deutschen Einheit 30 Jahre nach der Friedlichen Revolu- Vielen Dank. tion noch nicht abgeschlossen ist. Das Fördern des Zu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sammenwachsens von Ost und West im wirtschaftlichen, [SPD]) sozialen und gesellschaftlichen Bereich und des engen Zusammenhalts unseres Landes ist weiterhin ein Auftrag. Was daraus folgt, können Sie im Jahresbericht der Bun- Vizepräsidentin Claudia Roth: desregierung zum Stand der Deutschen Einheit in aller Vielen Dank, Christian Hirte. – Nächster Redner in der Breite und Tiefe nachlesen. Debatte: Leif-Erik Holm für die AfD-Fraktion. Am Mittwoch hat dazu der Kabinettsausschuss getagt. (Beifall bei der AfD) Er hat die Schwerpunkte unserer Politik für gleichwertige Lebensverhältnisse und eine Stärkung der ostdeutschen Leif-Erik Holm (AfD): Länder noch einmal bekräftigt und konkretisiert. Liebe Bürger! Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn ich Ihren Bericht lese, Herr Hirte, dann (Enrico Komning [AfD]: Wo sind die denn die beschleicht mich das Gefühl, als würde ich im alten gleichwertigen Lebensverhältnisse?) „Neuen Deutschland“ lesen: läuft alles super, der nächste Die Bundesregierung hat sich darüber hinaus auf eine Fünfjahresplan wird wieder übererfüllt. – Aber das wirk- Reihe weiterer Maßnahmen zur Stärkung der Zivilgesell- lich Traurige an diesem Bericht ist, dass wir ihn über- schaft und des bürgerschaftlichen Engagements verstän- haupt noch schreiben müssen 30 Jahre nach dem Mauer- digt. Neu geschaffen wird etwa eine Deutsche Stiftung für fall. Es wäre schön gewesen, die deutsche Einheit wäre Engagement und Ehrenamt, um das Engagement der 30 Jahre danach auch endlich im Inneren vollendet. Menschen bestmöglich zu unterstützen. (Beifall bei der AfD) (B) Klar ist: Auch 2020 und danach werden Regionen Ich möchte mit dem Positiven beginnen. Die Menschen (D) überall in Deutschland, aber eben besonders in Ost- im Osten haben wirklich Herausragendes geleistet, gera- deutschland, besonderen Förderbedarf haben. Hierzu de wenn wir an unsere Elterngeneration denken, die sich dient nach dem Auslaufen des Solidarpaktes in diesem komplett neu umorientieren musste. Hunderttausende Ar- Jahr ab dem kommenden Jahr ein gesamtdeutsches För- beitsplätze verschwanden praktisch über Nacht. Sie dersystem für die strukturschwachen Regionen. mussten wirklich viel leisten. Es gibt viele, die ein neues Unternehmen gegründet haben. Das war nicht immer er- (Enrico Komning [AfD]: Das wurde auch mal folgreich, aber die Menschen haben rangeklotzt und so Zeit!) ganz nebenbei dann auch noch ihre Familie ernährt. Es ist also eine große Leistung, die wir im Osten vollbracht Um die wirtschaftliche Angleichung zwischen Ost und haben, und es wird Zeit, dass das auch endlich gebühr West voranzutreiben, werden wir innovative Kompetenz- - felder der ostdeutschen Industrie stärken. Sie liegen ins- enden Dank findet. besondere in den Bereichen Mikroelektronik, Elektromo- (Beifall bei der AfD) bilität und Leichtbau. Die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ hat im Juli wichtige Voraussetzun- Es ist nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung, die gen für die Stärkung von wirtschaftlich schwächeren Re- wir anerkennen müssen, nein, wir müssen auch etwas gionen genannt. Sie nennt zum Beispiel den flächendeck- anderes erkennen: Die Menschen im Osten, sie fühlen enden Ausbau von Mobilfunk und Breitband, die sich einfach nicht wirklich ernst genommen. Stärkung des ländlichen Raums durch Investitionen in (Beifall des Abg. [AfD]) die öffentliche Daseinsvorsorge und in lebendige Orts- kerne sowie die Förderung von Kunst und Kultur. Ost- Manche Bürger sagen mir, sie würden – auf Deutsch ge- deutsche Wirtschaft ist mittelständisch, kleinteilig ge- sagt – verarscht. prägt. Sie wird daher besonders von den verstärkten ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Maßnahmen für die Unterstützung der KMUs und von NEN]: Ja, von euch! – Mark Hauptmann der Mittelstandsstrategie profitieren. Das kann angesichts [CDU/CSU]: Von Ihnen!) des demografischen Wandels besonders in den ostdeut- schen Ländern aber nur dann gelingen, wenn neu geschaf- – Von uns wohl kaum, sondern eher von Ihnen. – Man fene Arbeitsplätze auch besetzt werden können. An im- spürt auch in Ihrem Bericht ganz klar, wie der Ossi quasi mer mehr Orten in den neuen Ländern erweist sich der als Querulant wahrgenommen wird, der erst noch umer- Fachkräftemangel als Hemmschuh wirtschaftlicher Ent- zogen werden müsse, der die Verheißung der Demokratie wicklung. Hier müssen wir gegensteuern. überhaupt noch nicht erkannt habe. Deswegen müsse man 14238 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Leif-Erik Holm (A) millionenschwere Programme für die Demokratieerzie- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) hung auflegen. Was für ein Quatsch! Wir brauchen keine NEN]: In welcher Parallelwelt leben Sie denn?) Nachhilfe in Demokratie. Wir sind schon groß. – Schauen Sie sich das Klimapaket doch an! Die Pendler (Beifall bei der AfD) werden am Ende die Gelackmeierten sein. Sie werden natürlich sehen, dass nach 2026 die leichte Erhöhung Wir Ossis haben schon für die Freiheit und Demokratie der Pendlerpauschale wieder weg sein wird. Das sehen gestritten, als viele von Ihnen noch auf der Couch sitzen sie doch, sie sind doch nicht blöd. bleiben konnten, damals, 1989. Also erzählen Sie uns nichts von Demokratie! Wir wissen, was Demokratie be- (Beifall bei der AfD – Zuruf des Abg. Tankred deutet und wie wichtig sie ist. Schipanski [CDU/CSU]) (Beifall bei der AfD – Die Menschen sollen nicht mehr mit ihrem Diesel zur [SPD]: Auf welcher Couch haben Sie denn ge- Arbeit fahren, und das alles auf Basis einer Klimaideolo- sessen?) gie, die mit gesundem Menschenverstand nun wirklich nichts mehr zu tun hat. Das genau wollen die Bürger im Im Übrigen nutzen die Menschen ja auch die demo- Osten nicht. Sie haben die Nase voll von Ideologien. kratischen Möglichkeiten. Schauen Sie sich die letzten Diese bringen nämlich nie etwas Gutes, sondern nur Ver- Wahlen in Sachsen und in Brandenburg an: Dort gab es bote, Wohlstandsverluste und Diktaturen. eine hohe Wahlbeteiligung. In Thüringen wird es nicht anders sein. Machen wir uns doch ehrlich: Sie stört nicht, (Beifall bei der AfD) wie die Ostdeutschen die Demokratie empfinden, son- dern Ihnen passt schlicht und einfach das Ergebnis nicht. Ihr Klimairrsinn wird weitere neue Probleme schaffen, Probleme, die wir wirklich nicht gebrauchen können. Was (Beifall bei der AfD) wir in Wirklichkeit brauchen, sind Investitionen in die Aber jetzt zu den wirtschaftlichen Problemen. Abge- Infrastruktur und beste Bildung für unser Land und ge- sehen von einigen Leuchttürmen sehen wir, dass der Auf- rade für die ländlichen Räume. Ihr Klimapaket dagegen holprozess ins Stocken geraten ist. Die Wirtschaftsent- ist eine Kriegserklärung an die ländlichen Gebiete im wicklung im Osten hängt seit mehreren Jahren der im Osten – und im Übrigen auch im Westen. Westen hinterher, entsprechend auch die Lohnentwick- (Beifall bei der AfD) lung. Nach wie vor liegt das Niveau im Osten nur bei 75 Prozent. Wenn ich nach Mecklenburg-Vorpommern Meine Damen und Herren, 30 Jahre liegt der Mauerfall schaue, nach Vorpommern-Rügen, dann muss ich sehen, zurück. Für uns Ältere war er wohl das entscheidende politische Ereignis im Leben. Millionen sind damals für (B) dass wir uns dort im Lohnkeller Deutschlands befinden. (D) Das ist übrigens der Wahlkreis von Frau Merkel. Ein Ur- die Freiheit und dann auch für die Einheit auf die Straße teil darüber, ob da ein Zusammenhang besteht, überlasse gegangen. Die Einheit haben wir. Sie ist nicht perfekt, ich Ihnen. aber wir sind froh, dass sie da ist. Aber was ist eigentlich mit der Freiheit? Gerade wir im Osten, die wir noch die (Beifall bei Abgeordneten der AfD) Unfreiheit erlebt haben, merken sehr sensibel, was hier Mit leichten wirtschaftlichen Nachteilen könnten die passiert, nämlich den schleichenden Verlust der Freiheit. Ostdeutschen wahrscheinlich aber auch leben. Ich glaube, (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das ist nicht wirklich das vorrangige Problem, das wir NEN]: Was erzählen Sie für einen Unsinn!) bearbeiten müssen. Aber die Bürger sehen heute, wie ihr Wohlstand, den sie sich in 30 Jahren so langsam und Wir haben uns damals die Freiheit erstritten, und wir mühsam wieder aufgebaut haben, in Gefahr gerät. Das werden sie uns nicht nehmen lassen, liegt an Ihrer Politik! Das liegt an dieser Bundesregie- (Beifall bei der AfD) rung! da können Sie gerne weiterhin wild mit dem völlig unan- (Beifall bei der AfD – Monika Lazar [BÜND- gebrachten Begriff von der Nazi-Keule um sich schlagen NIS 90/DIE GRÜNEN]: An Ihnen! – Claudia auf jeden, der eine andere Meinung hat. Das wird nicht Müller [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein mehr funktionieren! Wir werden es nicht zulassen, dass Blödsinn!) unsere Freiheit auf dem Altar der politischen Korrektheit 40 Jahre lang wurde die DDR von den Vorgängern der geopfert wird. Truppe hier links im Haus heruntergewirtschaftet. (Beifall bei der AfD) (Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]: Ah!) Die Bürger haben in 30 Jahren aus eigener Kraft wieder Vizepräsidentin Claudia Roth: ein bisschen etwas geschafft, und jetzt droht das alles Herr Holm! wieder in den Abgrund zu geraten. Die Kohlekraftwerke in der Lausitz sollen weg. Die Kohlekumpel sollen zu Leif-Erik Holm (AfD): Behördenmitarbeitern umgeschult werden. Die Pendler Diese Frage ist für uns Ossis nicht verhandelbar. Des- bekommen jetzt wieder mehr aufgebrummt. Pendler gibt halb vollenden wir die Wende. es viele im Osten Deutschlands, weil es dort viele große ländliche Räume gibt. Das ist ein großes Problem, das die (Beifall bei der AfD – Claudia Müller Menschen zu Recht beschäftigt. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie spalten!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14239

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (C) Danke schön, Leif-Erik Holm. – Nächster Redner: bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN) Carsten Schneider für die SPD-Fraktion. Es gibt hinsichtlich der Bewertung aber auch durchaus (Beifall bei der SPD) Unterschiede. Ich will drei Punkte nennen: Der erste Punkt: Es war ein eklatanter Fehler, auch von Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): weiten Teilen der Union, viel zu lange auf eine Niedrig- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und lohnstrategie zu setzen. Wir, die wir aus Thüringen kom- Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass dieses men, wissen, dass zum Beispiel die CDU in Thüringen es Land frei ist und dass die freie Rede in diesem Land immer als Standortfaktor gepriesen hat, dass die Löhne und in diesem Parlament möglich ist, sieht man an Ihnen, dort so niedrig sind. Das Ergebnis sind niedrigste Renten Herr Holm. Wenn Demagogen über Ideologie sprechen, für diejenigen, die jetzt in Rente gehen. Das wollen wir dann handelt es sich um Redner der AfD. Und dabei mit der Grundrente ändern. kommt nichts Vernünftiges heraus. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Wir wollen ihnen eine Anerkennung geben. Ich hoffe, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE dass Sie Ihre skeptische Haltung dazu noch ändern wer- GRÜNEN) den. Meine Damen und Herren, den Bericht zum Stand der Der zweite Punkt, auch in die Zukunft gedacht: Wir Deutschen Einheit 30 Jahre nach der Wende debattieren brauchen mehr Innovation. Entscheidend ist – ich komme wir hier im Deutschen Bundestag in der Kernzeit, weil es gleich noch zur Demografie –, dass wir Arbeitsplätze, uns wichtig ist, Bilanz zu ziehen, aber auch weil es uns fitte junge Menschen und kluge Unternehmen nur dann wichtig ist, den Stand der deutschen Einheit, den Stand bekommen, wenn wir Innovationen haben. Es hilft nichts, des Zusammenlebens in unserem Land und den wirt- nur auf die jetzige Situation zu schimpfen, nein, im Ge- schaftlichen Fortschritt bzw. Nichtfortschritt zu bewerten genteil, wir müssen den Spirit der letzten 10, 15 oder und auch politisch darüber zu streiten. 20 Jahre weitertragen. Das bedeutet: Wenn es Gründ- ungsinnovationen gibt, wenn Forschungseinrichtungen Herr Hirte, ich gebe Ihnen bei der Beschreibung des ökonomischen Zustands der DDR recht. Ich glaube, man neu gegründet werden, dann in Ostdeutschland. kann noch hinzufügen, dass nicht nur die Ökonomie voll- ( [CDU/CSU]: Thüringen!) kommen im Eimer war, sondern auch die Umwelt. Ich Institutionen des Bundes zum Beispiel müssen dort ange- (B) sehe Christoph Matschie hier im Plenum sitzen, der einer (D) derjenigen in der DDR war, der die Umweltbewegung siedelt werden. mitbegründet und auch die SDP mit nach vorne gebracht Ich will Ihnen klar sagen: Die SPD-Bundestagsfraktion hat. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie es war, als hat die Entscheidung der Bundesforschungsministerin, Rennradfahrer durch die Stadt Erfurt zu fahren, vom Plat- den Zuschlag für die neue Batterieforschungsfabrik – ei- tenbau in Erfurt-Süd zum Plattenbau in Erfurt-Nord; das ner der absoluten Zukunftsbereiche – nach Münster zu sind etwa 15 Kilometer. Wenn man durch die Innenstadt vergeben, nicht unterstützt. Das hat nichts mit dem Aus- gefahren ist, hat man vor lauter Dreck und Smog aus den wahlverfahren zu tun, das sehr schwierig war und sehr Kohleheizungen nicht atmen können. So war das damals. umstritten ist, aber wenn man eine Investition von über Die Lage heute ist eine vollkommen andere. Wir reden 500 Millionen Euro für die Zukunft tätigt, dann sollte der über ein anderes Land, und ich bin sehr froh, in diesem Standortfaktor bei der Vergabe eine ganz zentrale Rolle Land heute leben zu können. spielen. Eine solche zentrale Rolle hat das in den Über- legungen der Bundesforschungsministerin in ihrem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten CDU-geführten Haus nicht gespielt. Das ist ein schwerer der CDU/CSU und der FDP) politischer Fehler. Der Bericht zum Stand der Deutschen Einheit zeigt Licht und Schatten. Wir können mit Sicherheit leider (Beifall bei der SPD – Tankred Schipanski nicht feststellen, dass alles glücklich aufgegangen ist. [CDU/CSU]: Quatsch! Eine ganz normale Die Freiheit gehört für mich natürlich elementar dazu. Standortvergabe!) Aber nicht jeder berufliche Wunsch ist in Erfüllung ge- Der dritte Punkt, auf den ich eingehen will, betrifft die gangen. Viele Freunde, die ich habe, viele Bekannte mei- Demografie. Entscheidend für das Zusammenleben, aber ner Eltern, die beispielsweise Ingenieure waren, mussten auch für Wachstum und Fortschritt in Thüringen, Sach- sich nach der Wende mit 30 oder 35 Jahren vollkommen sen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg- neu aufstellen. Für sie hat sich ihr Leben komplett verän- Vorpommern ist, dass dort in Zukunft noch genügend dert. Sie haben in dieser Situation beispielsweise einen junge Menschen leben. 2030 wird jeder dritte Bürger über Dienstleistungsbetrieb aufgemacht, der für sie beruflich 65 Jahre alt sein. Es fehlen also die jungen Leute. Wenn es gesehen vielleicht nicht so attraktiv war, der aber ihr Aus- uns nicht gelingt, attraktiv zu sein – attraktiv bedeutet kommen gesichert hat. Es gilt, diesen Menschen in un- weltoffen, tolerant, offen für Menschen aus anderen Bun- serem Land Dank zu sagen. Es gilt, auch denjenigen Dank desländern oder Staaten –, dann wird es uns nicht gelin- zu sagen, die dies alles in den letzten Jahren mit großer gen, in den ostdeutschen Bundesländern nach vorne zu Solidarität finanziell gestemmt haben. Das war eine groß- kommen und eine Gemeinschaft zu entwickeln, die pro- e, eine gigantische Leistung. gressiv ist und in der man gut leben kann. 14240 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Carsten Schneider (Erfurt) (A) (Beifall bei der SPD) (Falko Mohrs [SPD]: Das ist bei Ihnen ganz (C) anders!) Herr Holm, Sie haben die Wende jetzt für sich verein- nahmt. Das ist natürlich alles Blödsinn. Wenn es etwas Bürokratieentlastung, Mittelstandsstrategie, Stärkung des gibt, das ein Arbeitsplatzkiller in Ostdeutschland ist, dann ländlichen Raums. Auch Ministerpräsident Ramelow von ist es die Korrelation von Wahlergebnissen der AfD mit den Linken reiht sich ein und verspricht uns in Thüringen dem Arbeitsplatzabbau. eine digitale Verwaltung für das Jahr 2021. Er hatte aber fünf Jahre Zeit; da ist nichts passiert. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Katharina Dröge (Beifall bei der FDP) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Jörn König Auch die Kollegen von der AfD sind da keinen Deut [AfD]: Das ist totaler Quatsch!) besser; denn, Herr Holm, außer einer Situationsbeschrei- Jedes Unternehmen, jeder halbwegs vernünftige bung haben Sie uns nicht ein einziges Konzept geliefert, Mensch wird sich überlegen, ob er in ein Land geht, in wie Sie genau diese Lücke schließen wollen. Das ist mehr dem die AfD, die für national-völkische Abschottung ist, als zu wenig. Meckern hilft nicht. Machen wird uns nach das Wort führt. Meine Damen und Herren, auch dies gilt vorne bringen. es 30 Jahre nach der Deutschen Einheit zu bedenken. (Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Leif-Erik Vielen Dank. Holm [AfD]) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Mark Zu unseren Konzepten: Wir wissen alle, dass die ost- Hauptmann [CDU/CSU] – Leif-Erik Holm deutsche Wirtschaft durch eine Struktur der kleinen und [AfD]: Wir hatten noch nie so viele Urlauber mittelständischen Betriebe geprägt ist. Wir hatten erst auf Usedom!) eine Gründungswelle. Ich habe Respekt vor denen, die sich vor 30 Jahren mutig und entschlossen auf den Weg gemacht, etwas gewagt und unternommen und ein Unter- Vizepräsidentin Claudia Roth: nehmen gegründet haben. Vielen herzlichen Dank, Carsten Schneider. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion. 30 Jahre später aber stehen wir an der Schwelle, an der diese Menschen langsam in den verdienten Ruhestand (Beifall bei der FDP) gehen. Deshalb brauchen wir jetzt eine Gründungswelle, eine Nachfolgerwelle. Wenn diese Welle ausbleibt, müs- Thomas L. Kemmerich (FDP): sen wir aufpassen, dass keine Schließungswelle auf uns (B) (D) Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten zurollt. Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren auf (Beifall bei der FDP) der Tribüne, an den Schirmen und im Internet! Fast 30 Jahre nach dem Mauerfall sieht die Bundesregierung Was können wir tun? Zunächst appelliere ich wiede- die neuen Länder in einer positiven Entwicklung. Die rum – durch Wiederholung wird es nur besser –: Wir Situation im Osten ist besser als ihr Ruf, konnte man brauchen den Geist des Unternehmertums. Dieser muss nachlesen; aber, meine Damen und Herren, das ist in der Politik und in der Bürokratie ankommen. Bürokra- weitaus nicht genug. „Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psy- tie ist für die Bürger und für die Unternehmer da – nicht chologie.“ Das sagte Ludwig Erhard. Leider hört man das umgekehrt. hier im Haus nicht mehr oft. (Christian Dürr [FDP]: Richtig!) Ostdeutschland und mein Heimatland Thüringen ha- ben unheimlich viel Potenzial. Das müssen wir fördern. Deshalb hört auf, die Bürger und die Unternehmer mit Wir wollen in den Bereichen Bildung, Forschung und bürokratischen Hindernissen zu gängeln. Wir brauchen Entwicklung, Gründungen neue Wege beschreiten und eine Milderung der DSGVO. Wir brauchen Erleichterun- dem Osten zu einem großen Sprung nach vorne verhelfen. gen bei Gründungen. Die Bürger verstehen vieles nicht Ja, wir wollen von den Nehmerländern zu Geberländern mehr. Sie verstehen nicht, warum die Bürokratie so auf werden. sie einschlägt. (Beifall bei der FDP) Hochschulen müssen spitze werden. Wir brauchen neue Ideen für die ostdeutsche Wirtschaft, die an den Herr Hirte, Sie haben den ostdeutschen Ländern nach ostdeutschen Universitäten geboren werden und passge- wie vor eine Strukturschwäche attestiert. Meine Damen nau auf den Mittelstand übertragen werden müssen, damit und Herren, ich komme nicht umhin: Wir haben viel von wir neue Hidden Champions vor allen Dingen in Ost- der Geschichte gehört, aber wenig Konkretes für die Zu- deutschland aufbauen können und der Sprung nach vorne kunft. gelingt. (Christian Dürr [FDP]: So ist es!) (Beifall bei der FDP) Wir hören in den Wahlkämpfen auch von CDU und SPD, Wir brauchen mehr Anerkennung für das Handwerk die an jeder Landesregierung beteiligt sind, viele Verspre- und die duale Ausbildung. Wir brauchen mehr Azubis chungen. Sie sagen dann, was Sie in Zukunft machen im handwerklichen und gewerblichen Bereich. Wir brau- wollen: Abschaffung des Soli, chen mehr Meister statt Master. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14241

Thomas L. Kemmerich (A) (Zuruf des Abg. Christian Dürr [FDP]) glaube, es ist nicht Ihre einzige Aufgabe, die Bundesre- (C) Wir brauchen einen kostenfreien Zugang zu diesen Aus- gierung zu verteidigen. Ihre Aufgabe ist es, ostdeutsche bildungswegen. Das ist ganz wichtig und auch machbar. Interessen wahrzunehmen. Wir haben gestern über die Freiheitszonen gesprochen, (Beifall bei der LINKEN) die geeignet sind, um das zu ermöglichen. Gucken Sie sich mal an, was Frau Gleicke gemacht hat. Wir brauchen eine moderne Infrastruktur. Die Infra- Hospitieren Sie mal einen Monat bei ihr. Dann machen struktur, die vor 30 Jahren geschaffen worden ist, verfällt. Sie das vielleicht mal ein bisschen besser. Sie müssen den Auch beim Ausbau von Breitband und Mobilfunk gibt es Mut zur Kontroverse mit Ihrer Bundesregierung haben. viel zu tun. Wir brauchen deshalb leichtere Genehmi- gungswege und eine einfachere Vergabe von öffentlichen (Beifall bei der LINKEN – Aufträgen. [CDU/CSU]: Die Göttinger Studie von Frau (Beifall bei der FDP) Gleicke war großartig!) Wir brauchen Anreize für die Rückkehr der Menschen Was Sie in Ihrem Bericht öffentlich äußern, ist wirklich nach Ostdeutschland. Deshalb muss die Darstellung un- eine unverantwortliche Lobhudelei. Lassen Sie mich das serer schönen Heimat in Ostdeutschland positiv sein. Wir an zwei Beispielen erläutern. Die ostdeutsche Wirt- brauchen gute, schnelle Einwanderung, und zwar ideolo- schaftsleistung liegt bei 75 Prozent, schreiben Sie in Ih- giefrei. Ich nenne Kanada als Vorbild, Stichwort: Blue- rem Bericht. Das ist alles in Ordnung; das hört sich auch card-Regelung. All das macht uns stark. erst einmal passabel an. (Beifall bei der FDP) Vergleichen wir aber mal diesen Wert mit dem Wert aus Entlasten Sie die Menschen endlich von unnötigen Ab- dem Jahr 1995. 1995 lag diese Quote bei 65 Prozent. Das gaben und Steuern. Der Soli gehört weg. Auch das wäre heißt, Sie haben in knapp einem Vierteljahrhundert ein Motivationsschub für die Leute in Ostdeutschland, 10 Prozentpunkte Angleichung geschafft. Donnerwetter! um eigene Leistung zu bringen. Geld aus der Staatskasse Wenn Sie in dieser Geschwindigkeit weitermachen, dann allein wird nicht helfen. Wir brauchen Impulse, die die erzielen wir Gleichheit im Jahre 2021. Doch so schnell. Menschen fordern und ihnen Lust machen und Kraft ge- (Manfred Grund [CDU/CSU]: 2021 ist bald! ben, damit sie ein neues Unternehmertum aufbauen. Ich weiß nicht, in welcher Zeit Sie leben! – (Beifall bei der FDP) Dr. Andreas Lenz [CDU/CSU]: Ist doch super!) (B) Wir brauchen ein positives Klima. Wir müssen die - 2081. – Für die Ostlöhne gilt genau dasselbe. Inzwi- (D) klügsten Köpfe in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, schen, sagen Sie, liegen diese bei 85 Prozent des West- Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ausbilden, niveaus. 85 Prozent! Im Jahr 2000 lag das Niveau bei und wir müssen sie dort halten. Das Wirtschaftswachstum 80 Prozent. Auch hier ist es so: Wenn im gleichen Tempo als Garant für breiten Wohlstand muss wieder absolute angeglichen wird, dann haben wir erst im Jahr 2073 eine politische Priorität haben, und zwar auch in den neuen vollständige Angleichung der Löhne. Das ist sehr kon- Ländern. kret. In meinem Bundesland Mecklenburg-Vorpommern Vizepräsidentin Claudia Roth: zum Beispiel hat ein Mensch mit einem anerkannten Be- Ich brauche jetzt das Ende Ihrer Rede. rufsabschluss einen Lohn von durchschnittlich circa 2 400 Euro. In Hamburg verdient ein Mensch ohne Be- Thomas L. Kemmerich (FDP): rufsabschluss 2 500 Euro. Dann werden die Menschen in Thüringen sich auch weiter über die deutsche Einheit freuen und auch mit (Dr. Andreas Lenz [CDU/CSU]: Schauen Sie Freude auf sie zurückschauen. auch die Mieten an!) Vielen Dank. Es ist doch logisch, dass es unendlich viele Pendler gibt und die Abwanderung fortschreitet. Dagegen muss end- (Beifall bei der FDP) lich etwas getan werden.

Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei der LINKEN) Vielen Dank, Herr Kemmerich. – Nächster Redner: Das ist nicht allein Ihre Aufgabe; auch Gewerkschaften Dr. Dietmar Bartsch für die Fraktion Die Linke. und auch Unternehmen sind hier gefordert. (Beifall bei der LINKEN) Schauen wir uns das Armutsrisiko an. Das Armutsrisi- ko im Osten liegt laut Bericht bei 18 Prozent. Wie war das Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE): 1995? Da lag das Armutsrisiko bei 15 Prozent. Das heißt, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr dass heute mehr Menschen arm oder von Armut bedroht Hirte, ich habe Ihrer Rede zugehört. Ich habe Ihre öffent- sind, lichen Äußerungen zur Kenntnis genommen. Ehrlich ge- sagt: Das alles ist ein Trauerspiel. Sie müssen sich wirk- (Thomas L. Kemmerich [FDP]: Nach fünf lich mal Ihre Arbeitsplatzbeschreibung anschauen. Ich Jahren linker Regierung in Thüringen!) 14242 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Dr. Dietmar Bartsch (A) nach einem Vierteljahrhundert in Ost und West. Die Ar- Thüringen steht auf dem 16. Platz. Das ist doch Ihr Land; (C) beitslosigkeit ist dabei im Übrigen ja relevant zurückge- da kommen Sie her. Dort sollten Sie sich mehr engagie- gangen. ren. Thüringen ist leider Schlusslicht, aber nicht einen einzigen Aufschrei habe ich von Ihnen gehört. Wer zynisch sein will, muss sagen: Die blühenden Landschaften entwickelten sich im Osten nicht, und im (Zuruf von der AfD: Und wer regiert da?) Westen gibt es sie auch nicht mehr. Stattdessen ist Gelsen- kirchen jetzt genauso arm wie Bitterfeld. Herzlichen – Ja, engagiert sich dafür, Gott sei Dank, Glückwunsch! Lieber Herr Hirte, Ihre Lobhudelei zeigt aber er kriegt von der Bundesregierung so wenig Mittel. Ihren Realitätsverlust. Das macht mich sprachlos. Das ist der Punkt. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) Sie sind so weit weg von den Ostdeutschen wie Ost- deutschland von blühenden Landschaften. Sie sollten sich um Thüringen kümmern. Kümmern Sie von der FDP sich mal darum, dass Sie reinkommen. Sie Um es klar zu sagen: Natürlich ist sehr viel erreicht werden damit große Probleme haben. worden; das ist doch unbestritten. Viele Kommunalpoli- tiker von Union bis zur Linken, viele Ehrenamtliche ha- Im Übrigen gibt es – um auch das zu erwähnen – eine ben unendlich viel geleistet; das alles ist völlig klar. Wir ganze Menge Kennziffern, die Sie einfach ausblenden. müssen das aber in einer solchen Debatte nicht allein nach Nehmen wir das Thema Kinderarmut. In Deutschland vorne stellen. Die Mehrheit der Ostdeutschen, so steht es sind 4,4 Millionen Kinder von Kinderarmut betroffen – in Ihrem Bericht, ist unzufrieden mit der Einheit. Was ist die Zahl habe ich hier mehrfach genannt –: einer der das für ein Offenbarungseid? größten Skandale, die wir haben. Sie ist aber in Ost- deutschland proportional doppelt so hoch, meine Damen (Beifall bei der LINKEN) und Herren. Da muss man doch was tun. Wir brauchen Das ist doch unfassbar. endlich eine Politik der Nulltoleranz bei Kinderarmut in Ost und West. Das ist die zentrale Herausforderung für Natürlich hat das auch mit der Präsenz der Ostdeut- die Herstellung der Einheit in unserem Lande. schen zu tun. Es ist Tatsache, dass kein einziger Rektor einer Universität ein Ostdeutscher ist, weder in Ost noch (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- in West. NIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. [SPD]) (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: (B) Unglaublich!) Ähnlich ist es beim Niedriglohn. Jeder dritte ostdeut- (D) Es ist Tatsache, dass kein einziger Bundesrichter aus Ost- sche Arbeitnehmer arbeitet zu einem Niedriglohn. Die deutschland kommt. Das ist doch inakzeptabel. Quote im Osten ist fast doppelt so hoch. Und wozu führt das? Das ist eine tickende Zeitbombe, was Altersarmut (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- betrifft. Altersarmut wird in einigen Jahren zuallererst ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ostdeutsch und zuallererst weiblich sein. Da muss doch Nur 1,7 Prozent der Spitzenpositionen werden von Ost- gehandelt werden, meine Damen und Herren. Da kann deutschen bekleidet. In Ihrer Regierung kommen im Üb- man nicht nur Lobhudelei betreiben. rigen nur 3 von 120 leitenden Beamten aus dem Osten. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- Was ist das für eine Situation? Wir wollen keine Extra- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und wurst für die Ossis, aber wir fordern einen Pakt für föde- des Abg. Thomas Jurk [SPD]) rale Fairness bei Personal, Behörden und Forschungsein- richtungen. Das hätte eine hohe Symbolkraft. In sechs Wochen begehen wir 30 Jahre Mauerfall. Die Ostdeutschen und viele andere können stolz sein. Dazu ist (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. schon einiges gesagt worden. Es ist viel erreicht worden; Thomas Jurk [SPD]) es ist viel geleistet worden. Aber eines zeigt der Bericht Ich will kurz auf Carsten Schneider eingehen, der hier ganz deutlich: Diese Leistungen sind in der Regel nicht etwas zum Thema Batterieforschung gesagt hat. Ja, in wegen, sondern trotz der Bundesregierungen der letzten Thüringen bzw. in Jena gibt es beste Voraussetzungen 30 Jahre erbracht worden. dafür. Da ist sogar Batterieforschung möglich, durch die (Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Das ist eine man dann auf Lithium verzichten kann. Dazu hätte man Frechheit, so was zu behaupten!) von Ihnen wenigstens etwas hören müssen, selbst wenn Sie sich nicht durchgesetzt hätten, statt einfach zuzustim- Herzlichen Dank. men, dass sie nach NRW geht. Ja, wo leben wir denn? Da hätte man was machen können. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- Vizepräsidentin Claudia Roth: ten der SPD) Vielen Dank, Dietmar Bartsch. – Nächste Rednerin: für Bündnis 90/Die Grünen Claudia Müller. 2,3 Stellen aus Bundesmitteln für Beamte und Forscher sind deutscher Durchschnitt, nur 0,7 sind es in Thüringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14243

(A) Claudia Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): deutschland, sondern nur die finanzschwachen Flächen- (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- länder. Auch da sehen wir, dass die neuen Bundesländer nen und Kollegen! Herr Hirte, ich muss leider mit einem nur 65 Prozent dessen erreichen. formalen Tadel starten. Mich ärgert zum wiederholten Bei der Steuerkraft der Kommunen haben wir sogar ein Male die Missachtung des Parlamentes im Prozess dieser Absinken in Ostdeutschland im Vergleich zu den finanz- Berichterstattung. Denn wie schon im letzten Jahr wird schwachen Flächenländern in Westdeutschland, und zwar uns, den Auftraggebern dieses Berichtes, dieser erst nach von 70 auf 69 Prozent in diesem Jahr. Auch das muss an Veröffentlichung durch das Bundesministerium zur Ver- dieser Stelle benannt werden, und das ist auch wichtig, fügung gestellt, während die Presse ihn aber schon fünf wenn wir über den deutschen Einheitsprozess reden. Wir Tage vorher hat. Ganz ehrlich, das ärgert mich massiv. müssen den Blick auf die kommunale Ebene richten, und Letztes Jahr ist es genauso gelaufen. Damals habe ich da haben wir keine Angleichung. Im Gegenteil: Wir ha- es nicht öffentlich kritisiert, wohl aber gegenüber Ihrem ben ein Auseinanderdriften. Haus, und dann hieß es: Ups, Entschuldigung, das ist ein Aber wir tauschen uns hier sehr regelmäßig über die Versehen. – Passiert Ihnen das ständig? Ich finde das un- Stärkung der Infrastruktur, der Wirtschaft in struktur- möglich, und ich finde, dass wir zumindest zeitgleich mit schwachen Regionen – was mehrheitlich in Ostdeutsch- der Presse diesen Bericht bekommen sollten. land der Fall ist – aus. Deswegen will ich an dieser Stelle (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen ganz anderen Punkt ansprechen, der mich persön- und bei der LINKEN) lich sehr umtreibt. Wenn wir über die Einheit reden, dann reden wir – das haben wir heute wieder gemacht – in Aber jetzt zum Inhalt. Herr Bartsch, die Mauer ist nicht erster Linie über Infrastruktur, Wirtschaft und Sozialsys- einfach umgefallen. Das war nicht nur ein Mauerfall, teme. Wir reden aber nicht darüber, wie sie unser Denken, sondern das ist von Hunderttausenden mutigen Menschen unsere Sprache und unser gemeinsames Bild beeinflusst. auf den Straßen in Ostdeutschland erkämpft worden. Wir reden gerne von „dem Osten“. Wir reden aber eigent- „Fall“ klingt immer ein bisschen despektierlich. Es war lich nie über „den Westen“. Es würde niemand auf die eine friedliche Revolution, und das sollten wir an der Idee kommen, zum Beispiel Niedersachsen und Bayern in Stelle auch genau so benennen. einen Topf zu werfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Dr. Andreas Lenz [CDU/CSU]: Ja! Gott sei bei der CDU/CSU und der SPD) Dank!) Es gab jetzt schon genug Schulterklopfen, und es wur- Bei Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen machen (B) de zu Recht vieles kritisiert. Wir haben zwar eine Ver- wir das aber. Dabei sind die beiden genauso unterschied- (D) besserung der Wirtschaftslage in Ostdeutschland, aber ja, lich wie Niedersachsen und Bayern. Wer dem wider- wir sehen eine Stagnation. Ostdeutschland hat jetzt spricht, der sollte mal in die Region kommen und sich 74,7 Prozent der Wirtschaftskraft der alten Länder er- das angucken. Das sind verschiedene Bundesländer. reicht. Das ist wirklich nur eine geringe Steigerung im Vergleich zum Vorjahr, nämlich um 1,5 Prozentpunkte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deshalb ziehen Sie das Jahr 2010 zum Vergleich heran, Den Osten in dieser Form gibt es nicht. damit Sie wenigstens eine Steigerung um 3,1 Prozent- punkte ausweisen können. Dann hört man so Sätze wie: Jetzt sind wir mal dran; ihr habt uns schon viel zu viel gekostet. – Das ärgert mich Dann verkünden Sie trotzdem – ich zitiere mit Erlaub- massiv, weil es eine Kluft zwischen den Regionen in nis der Präsidentin aus dem Bericht –: Deutschland schafft. Es gibt kein Wir oder Ihr. Es gibt Die Angleichung der wirtschaftlichen Leistungsfä- eine gemeinsame deutsche Solidarität mit strukturschwa- higkeit und der Lebensverhältnisse zwischen Ost- chen Regionen, und nur weil sie mehrheitlich im Osten und Westdeutschland ist bis heute weit vorangekom- sind, ist es kein Wir gegen Ihr. Es ist eine Gemeinschafts- men: Verkehrs-, Energie- und Telekommunikations- aufgabe, und so sollten wir sie auch sehen. infrastruktur wurden massiv modernisiert und er- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- weitert. wie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Gegen die Modernisierung will ich nichts sagen, aber ich KEN) hoffe doch, dass Sie zumindest in Bezug auf den Das gilt auch, wenn wir hier über andere Themen re- Bahnverkehr das Wort „erweitert“ ironisch gemeint ha- den. Ich freue mich, dass heute so viele Kolleginnen und ben. Denn – das ist, glaube ich, allen bekannt – genau das Kollegen an dieser Debatte zu einem Thema teilnehmen, Gegenteil ist doch in vielen Gegenden passiert: Wir hat- in der sonst in erster Linie ostdeutsche Kolleginnen und ten keinen Ausbau; wir hatten in vielen Bereichen einen Kollegen sitzen. Aber wir hatten es gestern in der Debatte Abbau von Infrastruktur. Das muss an dieser Stelle auch über den Erhalt der Stasiunterlagenbehörde: Es gibt keine genau so benannt werden. reinen Ostthemen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei Abgeordneten des Gucken wir uns doch mal die Finanzkraft und die BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Steuereinnahmen pro Kopf in Ostdeutschland an, und Ich bin der Kollegin Motschmann dankbar, die das ges- dann nehmen wir zum Vergleich nicht Gesamtwest- tern deutlich gemacht hat. Auch das Thema Stasi ist kein 14244 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Claudia Müller (A) Ostthema. Es ist auch ein Thema der alten Bundesländer. diese Erfolge nicht kleinreden lassen; denn solch ungla- (C) Auch dort war sie aktiv. ubliche Erfolge haben wir auf dem europäischen Konti- nent in den letzten 30 Jahren nur in einer einzigen Region Solange wir aber bestimmte Themen nur als ein Regio- gesehen, in Ostdeutschland: Wir haben die Verdoppelung nalthema ansehen, werden wir nicht zu einer gemeinsa- des Bruttoinlandsprodukts seit der Wiedervereinigung er- men deutschen Einheit kommen. Wir werden nämlich reicht, wir haben den materiellen Wohlstand massiv aus- nicht zu einem gemeinsamen Blick auf die deutsche Ge- gebaut, und die Erwerbstätigenquote ist gleich hoch wie schichte kommen. Solange wir das nicht haben und so- im Westen. Geschätzte Kollegin Müller, natürlich gibt es lange wir über die deutsche Geschichte und ein kleines innerhalb des Ostens Unterschiede, auch zwischen Meck- ostdeutsches Anhängsel reden, werden wir nicht zu einer lenburg-Vorpommern und Thüringen. Wenn Sie sich die deutschen Einheit kommen. Denn die ostdeutsche und die Beschäftigungsquoten anschauen, dann finden Sie die westdeutsche Geschichte sind zwei Seiten der gleichen höchste Beschäftigungsquote in ganz Deutschland im Medaille, und solange wir das an dieser Stelle nicht genau Freistaat Thüringen, in meinem Wahlkreis in Südthürin- so betrachten und das als eine gemeinsame Erzählung gen: eine Arbeitslosenquote von 3 Prozent, entwickeln, so lange werden wir keine deutsche Einheit haben. ( [DIE LINKE]: Das liegt am Ministerpräsidenten! Tolle Regierung!) Vielen Dank. mehr offene Stellen als Arbeitslose, es pendeln mehr von (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Bayern nach Thüringen als von Thüringen nach Bayern. wie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Das ist die Erfolgsquote, die wir hier zu verzeichnen ha- SPD) ben. Das brauchen wir uns nicht kleinreden zu lassen.

Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank, Claudia Müller. Herr Lenz hat zuge- Wir sind bei der industriellen Wertschöpfung weit über stimmt, als Sie gesagt haben, Bayern und Niedersachsen dem Niveau westdeutscher Länder. Wir haben exzellente sind unterschiedlich. Da hat er gelacht. – Nächster Forschungseinrichtungen. Wir haben in den letzten Redner: Mark Hauptmann für die CDU/CSU-Fraktion. 30 Jahren eine leistungsfähige Infrastruktur aufgebaut. Schauen Sie auf die Universitäten, schauen Sie sich das (Beifall bei der CDU/CSU) ICE-Streckennetz und das Straßennetz an. Wir sind Spit- ze im Bereich der erneuerbaren Energien. Und seit 2017 Mark Hauptmann (CDU/CSU): ziehen mehr Menschen vom Westen in den Osten als um- (B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine geschätzten Kol- gekehrt. Das heißt, die Wanderbewegung, die wir nach (D) legen hier im Haus! Verehrte Zuhörer! Der Blick richtet der Wiedervereinigung gesehen haben, weil Arbeit da- sich in diesem Jahr und auch hier in der Kernzeitdebatte mals vor allem in Westdeutschland zu finden war, hat sich auf den Osten. Das ist auch gut so. Wir haben drei Land- durch den starken wirtschaftlichen Aufholprozess umge- tagswahlen und das Jubiläum „30 Jahre Mauerfall“, aber kehrt, und es kommen mehr Menschen in den Osten zu- wir haben auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das auf rück. dem Prüfstand steht. Das alles geschieht, obwohl wir enorme DDR-Altlas- In einer jüngsten Studie sagten 57 Prozent der Ostdeut- ten zu bewältigen hatten. Diese Altlasten hat Carsten schen, sie fühlten sich als Bürger zweiter Klasse. Das Schneider angesprochen, als er auf den Umweltschutz müssen wir ernst nehmen, aber mit Bedacht und vor al- zu sprechen kam. Unsere Flüsse waren verseucht, unsere lem, indem wir ehrlich mit den Menschen umgehen und Böden waren verseucht, die Luft konnte man nicht at- nicht wie die Lautsprecher an den Rändern dieses Parla- men. – Das ist Ihr Erbe, Herr Bartsch; das ist das, was mentes eine vergiftete Debatte hier führen, wie wir sie Sie hinterlassen haben. gerade von Herrn Bartsch erlebt haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Alice Weidel bei Abgeordneten der AfD – Zuruf des Abg. [AfD]: Ja, ja! – Zuruf des Abg. Dr. Dietmar Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE]) Bartsch [DIE LINKE]) An dieses Erbe müssen wir Sie erinnern. Herr Bartsch, Was wir aktuell sehen, und das freut uns: Die Einheit, hier im Parlament treffen sich aktuell die Lautsprecher aber auch der Zusammenhalt Deutschlands kommen in der Ränder des Hufeisens – von links und rechts –, um vielen Teilen der Gesellschaft an: in der Wirtschaft, in der die Erfolge schlechtzureden. Gesellschaft, in der Politik, aber auch im Fußball. Der Tabellenführer der Bundesliga ist RB Leipzig. Schauen (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Es wird nicht wir doch mal, ob wir im 30. Jahr der deutschen Einheit besser, wenn Sie es zum dritten Mal sagen! den ersten ostdeutschen Fußballmeister haben. Was wäre Langweilig!) das für eine Erfolgsgeschichte! Sie haben Ruinen geschaffen ohne Waffen. Das ist das Erbe, das die SED hervorgebracht hat. Die Aufbauleis- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tung hingegen ist ein Erfolg unserer Politik und der vielen Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir lassen uns fleißigen Menschen in diesem Land, die an diesem Erfolg weder von der Linken noch von der AfD die Erfolge in mitgearbeitet haben. Das ist die Bilanz, die wir vorzu- den neuen Bundesländern kleinreden. Wir wollen uns weisen haben. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14245

Mark Hauptmann (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Der 9. November 1989 ist ein Datum, auf das die Deut- (C) Stefan Liebich [DIE LINKE]: Deswegen ist schen mit einem guten Gefühl und speziell wir im Osten die Linke stärker als die CDU in Thüringen! mit ein wenig Stolz zurückschauen können. Ich selbst war Darüber sollten Sie einmal nachdenken!) zur Wende gerade erwachsen. Lieber Kollege Carsten Schneider, ich möchte einen (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE Punkt aus Ihrer Rede aufgreifen, und zwar die Frage, ob GRÜNEN]: Ja, und bei der Stasi!) es richtig war, den Osten mit dem Standortvorteil der niedrigen Löhne zu bewerben. Für uns als Union galt Ich hatte eine schöne Kindheit in der DDR; aber ich war immer: Sozial ist, was Arbeit schafft. Mir ist es lieber, froh, genau zum richtigen Zeitpunkt meine Zukunftspla- wenn jemand einen Mindestlohn bekommt, als wenn er nung frei und ohne Zwang, Angst und Kompromisse arbeitslos ist. Ich glaube, es war richtig, sich dafür zu selbstbestimmt in die Hand nehmen zu können. entscheiden, Arbeit zu schaffen, Menschen wieder in Be- schäftigung zu bringen, nicht auf den Sankt-Nimmer- (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und vorher?) leins-Tag zu warten, an dem sich die Großindustrie im Osten ansiedelt. Bis heute hat sich kein einziger DAX- Ich freue mich über die Wende. Konzern in den neuen Bundesländern angesiedelt, und von den Top-500-Unternehmen in ganz Deutschland sind (Beifall bei der AfD – Claudia Müller [BÜND- ganze 36 in Ostdeutschland. Es war richtig, zu sagen: Wir NIS 90/DIE GRÜNEN]: Erzählen Sie von Ihrer nutzen diese Standortvorteile. Auch das dürfen wir uns Zeit bei der Stasi!) nicht kleinreden lassen. Die Menschen waren in Beschäf- In den Jahren seitdem ist viel passiert. Ein ehemaliger tigung, und sie sind in Beschäftigung, und in Thüringen Bundespräsident hat mal ganz zutreffend gesagt – Zitat –: haben wir heute die geringste Altersarmut in ganz Deutschland: unter 1 Prozent. Das resultiert aus der Ent- Wir scheidung, Menschen in Lohn und Brot zu bringen. Das ist auch ein politischer Erfolg. – Ostdeutschen - (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – träumten vom Paradies und wachten auf in Nord- Zuruf der Abg. [DIE LINKE]) rhein-Westfalen. Natürlich ist nicht alles rosa. Weder die Bundesregie- (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rung mit dem zuständigen Staatssekretär, dem Ostbeauft- NEN]: Was haben Sie gegen Nordrhein-West- ragten, noch wir im Parlament dürfen nur die positiven falen? Ein sehr schönes Bundesland!) (B) (D) Aspekte in den Blick rücken. Wir wollen den demografi- Nun ja, für unsere nordrhein-westfälischen Freunde ist schen Wandel angehen. Wir wollen die Infrastruktur das nur wenig schmeichelhaft, jedenfalls folgte auf die weiter ausbauen. Das bedeutet Breitbandversorgung in Party die Katerstimmung. Die ehemaligen Industriege- der Stadt und auf dem Land, eine verbesserte Straßen- biete wurden abgewickelt und viel zu wenig Neues ent- und Schieneninfrastruktur, gut ausgestattete Universtäten stand. Der Osten blutete aus. Die jungen und gut ausge- und Forschungslandschaften. Das ist unser Auftrag, den bildeten Familien gingen in den Westen. wir angehen wollen. Seitens des Bundes wollen wir mit besonderen Förderprogrammen unterstützend wirken und Richtig ist auch noch 30 Jahre nach der Wende, Herr den Initiativen unter die Arme greifen. Hirte: Die wirtschaftlichen Probleme im Osten sind nach wie vor immens. Viel zu viele Menschen sind auf staat- Wir wollen die Vollendung von Einigkeit und Recht liche Transferleistungen angewiesen. Wenn ich dann auf und Freiheit. Im 30. Jahr des Mauerfalls sind wir diesem der ersten Seite des Fließtextes des Jahresberichts lese: Ziel näher als jede andere Region in Europa. Das ist unser Die „Angleichung der Lebensverhältnisse kommt voran“, gemeinsamer Erfolg. dann sträuben sich mir die Nackenhaare. Herzlichen Dank. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Welche (Beifall bei der CDU/CSU) Haare?) Sie kommt eben nicht voran, Herr Hirte. In allen Berei- Vizepräsidentin Claudia Roth: chen, sei es in der Produktion, sei es im Dienstleistungs- Vielen Dank, Mark Hauptmann. – Nächster Redner für bereich oder im öffentlichen Dienst, bei der Infrastruktur, die AfD-Fraktion: Enrico Komning. bei dem Rentenniveau oder bei den Durchschnittslöhnen, überall – meine Vorredner haben es gesagt – hinkt der (Beifall bei der AfD) Osten dem Westen in großen Teilen unverändert hinter- her, und die Spaltung wird sogar noch größer. Enrico Komning (AfD): Frau Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Auch wenn die Bundesregierung die Herstellung Frau Müller, nicht 30 Jahre Mauerfall, sondern 30 Jahre gleichwertiger Lebensverhältnisse als Ziel ausgibt, lässt Friedliche Revolution, 29 Jahre deutsche Einheit – das sie dem bestenfalls keine Taten folgen. Tatsächlich sind gute Jubiläen. täuscht sie die Menschen in Deutschland; (Zuruf der Abg. Claudia Müller (Claudia Müller [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) NEN]: So wie Sie über Ihre Vergangenheit?) 14246 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Enrico Komning (A) denn gleichwertige Lebensverhältnisse sind von dieser ausschließlich auf die Unterschiede zwischen Ost und (C) Bundesregierung nicht gewollt. West zu richten. Das Wohlstandsgefälle, über das wir sprechen, durchzieht die gesamte Republik, von Ost nach Es ist erstaunlich, dass die Linken nun auch den Osten West, aber auch von Nord nach Süd. Wenn wir die Lupe unseres Landes entdecken anlegen, erkennen wir sogar Unterschiede innerhalb ein- (Lachen bei der LINKEN) zelner Regionen, selbst innerhalb des Ruhrgebiets: Wäh- rend bestimmte Städte boomen, drohen andere Bereiche und mehr Daseinsvorsorge durch den Staat fordern, wo von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung abge- sie sich doch in den letzten Jahren hauptsächlich mit Gen- hängt zu werden. Deshalb ist es richtig, unser Fördersys- der-, Enteignungs- und Klimafantasien beschäftigt haben. tem zu bündeln und es auf die unterschiedlichen Bedürf- Die Rezepte, die Sie vorschlagen, sind aber Rezepte Ihrer nisse aller strukturschwachen Regionen auszuweiten. SED-Ahnen, die dieses Land überhaupt erst in den Ab- grund geführt haben, Dennoch stoßen unsere klassischen Instrumente an (Kordula Schulz-Asche [BÜNDNIS 90/DIE Grenzen: wenn Dorfkneipen und Einzelhandelsgeschäfte GRÜNEN]: Da haben Sie doch gern mitge- in den ländlichen Gebieten schließen und junge Men- macht!) schen aus ihrer Heimat abwandern, wenn die freiwillige Feuerwehr mangels ehrenamtlicher Helfer kaum noch die privaten Mittelstand verhindert und durch Planwirt- ausrücken kann und Busse und Bahnen ganze Ortschaften schaft und Kollektivierung den Zusammenbruch der In- links liegen lassen. Wir dürfen nicht länger zulassen, dass dustrie herbeigeführt haben. sich Menschen als Bürger zweiter Klasse fühlen und ihr (Beifall bei der AfD – Claudia Müller [BÜND- Vertrauen in die Handlungsfähigkeit von Staat und De- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren doch da- mokratie verlieren. Das gilt nicht nur für Ostdeutschland. bei!) Wenn der Staat endlich seine Aufgabe der Daseinsvor- Mit Einzelmaßnahmen allerdings kommen wir hier sorge ernst nimmt und die ländlichen Räume vornehmlich nicht weiter. Förderprogramme sind kein Ersatz für einen im Osten nicht weiter ausbluten lässt, wenn er den Men- starken und handlungsfähigen Staat. Sie müssen viel schen den rechtlichen, finanziellen und gesellschaftlichen besser in eine neue und deutlich breitere Gesamtstrategie Freiraum lässt, um sich zu entfalten, dann schaffen wir eingebettet sein. Viele kleine Einzelmaßnahmen sind auch die Vollendung der Einheit. Sonst, meine Damen ganz gut, aber werden uns Wachstum, Wirtschaftlichkeit und Herren, werden wir das nicht schaffen. und die Ansiedlung von Unternehmen nicht bringen. Wer gleichwertige Lebensverhältnisse anstrebt, muss zuerst (B) Vielen Dank. die Kommunen stärken: finanziell und personell. Ich (D) bin sehr froh, dass unser Finanzminister Scholz ein erstes (Beifall bei der AfD – Katharina Dröge Signal für einen kommunalen Altschuldenfonds gesendet [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Einheit hat. Ich hoffe, dass auch nicht betroffene Länder hier zu- vollendet man nicht, indem man NRW be- stimmen werden. schimpft!) Darüber hinaus brauchen wir regionale Masterpläne, Vizepräsidentin Claudia Roth: mit denen wir die Innovationsfähigkeit kleiner und mitt- Vielen Dank, Enrico Komning. – Nächste Rednerin für lerer Betriebe erhöhen, Forschung und Entwicklung för- die SPD-Fraktion: Sabine Poschmann. dern und auf diese Art Gründungen und neues Wachstum (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auslösen. Dabei dürfen wir die Kommunen nicht allein- der CDU/CSU) lassen. Wir müssen ihnen Beratung und Unterstützung, vielleicht auch von externen privatwirtschaftlichen Un- Sabine Poschmann (SPD): ternehmen, bieten, um sich für die Wachstumsmärkte der Zukunft zu positionieren. Städte im Ruhrgebiet, wie etwa Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und meine Heimatstadt Dortmund, haben damit sehr gute Er- Kollegen! An die Fraktion zu meiner Rechten sage ich: fahrungen. Hier sollten wir den Austausch fördern. Ein ehemaliger Bundespräsident hat auch gesagt: „Ver- söhnen statt spalten“ soll das Motto sein. – Das liegt Ihrer Fraktion leider sehr, sehr fern. All das muss von Themen wie der sozialen Daseins- vorsorge in der jeweiligen Region flankiert werden und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten von der Frage, welche Anreize wir setzen können, um das der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜND- Engagement und das Miteinander der Menschen vor Ort NISSES 90/DIE GRÜNEN) zu aktivieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass Wohlstand Es ist noch nicht allzu lange her, da besuchte ein Frak- und Armut eine Kluft in unsere Gesellschaft reißen und tionskollege aus den ostdeutschen Bundesländern das Menschen sich enttäuscht abwenden. Warnsignale dafür Ruhrgebiet. Offenbar sah er nicht nur die Schönheiten gibt es genug: in Ost und in West. dieser Städte, sondern er sah auch die Narben, die der ständige Strukturwandel hinterlassen hat. Meine Damen Herzlichen Dank. und Herren, das Beispiel zeigt, wie notwendig es ist, un- seren Kompass endlich neu zu justieren. 30 Jahre nach (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dem Mauerfall macht es wenig Sinn, den Scheinwerfer der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14247

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen (C) Vielen Dank, Frau Kollegin Poschmann, auch für die Sie das noch mal im Geschichtsbuch nach!) Punktlandung. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion die heute in Thüringen mit denen kollaborieren, die da- Gerald Ullrich. mals die Bürgerrechte mit Füßen traten. Jahrzehntelang (Beifall bei der FDP) haben sie das getan. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Gerald Ullrich (FDP): der CDU/CSU – Widerspruch beim BÜND- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kollegen! Sehr NIS 90/DIE GRÜNEN – geehrte Damen und Herren! Ich bin im Osten geboren. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollten Meine Kindheit, meine Jugend, meine Schule, meine noch viel mehr lesen!) Ausbildung, meinen Grundwehrdienst, mein Studium und einen Teil meines Arbeitslebens habe ich in der Frau Göring-Eckardt beschuldigte noch letzte Woche DDR verbracht. Bis auf den Grundwehrdienst trifft das hier von diesem Pult aus die Landwirte, die Landschaft zu auch auf meine Frau zu. Unser ältester Sohn wurde 1986 zerstören, Arten zu vernichten und Wasser zu verseuchen. in der DDR geboren. Ich kann mit Fug und Recht sagen, (Thomas L. Kemmerich [FDP]: dass wir eine typische ostdeutsche Familie sind. Wir ha- Ungeheuerlich!) ben uns aber nie als Ossis gefühlt. Wir haben uns schon immer als Deutsche gefühlt. Mit Ihrer verfehlten Energiewende zerstören Sie den Thü- ringer Wald durch Windräder im Wald. Wenn wir uns heute fragen, was damals, in den Jahren der Friedlichen Revolution, anders war als heute, muss (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: man sagen: Es ist eigentlich ganz einfach. Es gab damals Hier ist aber gar nicht Wahlkampf! Hier ist viel weniger Akteure, die es auf die Spaltung der Gesell- Bundestag!) schaft abgesehen hatten. Der SED-Nachfolger hatte mit Sie entwerten die Flächen durch Kabelprojekte, wie zum sich selbst zu tun und wurde auch nicht richtig ernst ge- Beispiel SuedLink. Sie, meine Damen und Herren von nommen. Die SPD sprach nur von den Kosten der Ein- den Grünen, spielen eindeutig Stadt gegen Land aus. heit. Das Neue Forum/Bündnis 90 setzte sich massiv für Ich glaube, Sie stehen auch kurz davor, militant zu wer- Bürgerrechte ein. Die FDP und die CDU wirkten aktiv an den. der deutschen Einheit mit. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Stefan (B) der CDU/CSU) Liebich [DIE LINKE]: Das ist lange her! Die (D) Sicher, es gab damals auch ein Problem. Das bestand Gefahr besteht nicht!) darin, dass Kanzler Kohl glaubte, mit der Alimentierung Ich glaube, das Ergebnis davon werden wir in Kürze se- der ostdeutschen Bevölkerung mehr zu erreichen als mit hen. dem schnellen und bedingungslosen Wiederaufbau der neuen Bundesländer. Das hatte zur Folge, dass die Länder Meine Damen und Herren von der CDU, Sie sehen, die im Osten für lange Zeit zu Nehmerländern wurden. Mitte ist sehr klein geworden. Was ist heute anders? Die meisten politischen Akteure (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sind zu Spaltern geworden. Da ist heute die SPD, die Dann müssen Sie aber was unternehmen, jun- versucht, ein Armutspotenzial zu schaffen, um dieses ger Mann!) dann gegen die angeblich Reichen und Superreichen aus- Bitte sorgen Sie dafür, dass sie nicht noch kleiner wird. zuspielen.

Der SED-Nachfolger spielt ganz klar Ost gegen West Vizepräsidentin Claudia Roth: aus. Das gipfelt darin, dass Ihr Herr Ramelow aus Thü- Sorgen Sie bitte dafür, dass Sie zum Ende kommen. ringen die Nationalhymne abschaffen will. Das ist die absolute Krönung. Gerald Ullrich (FDP): (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Als letzten Satz ein kurzes Fazit. Mein Appell an die der CDU/CSU – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LIN- Bundesregierung: Bitte sorgen Sie dafür, dass die Men- KE]: Quatsch!) schen in Ostdeutschland wieder stolz auf ihre Heimat sein können. Kümmern Sie sich bitte darum, dass die neuen Die AfD, die schon lange zur Altpartei geworden ist, Bundesländer von Nehmerländern zu Geberländer wer- unterscheidet inzwischen nach Biodeutschen, nach Pass- den. deutschen. Sie unterscheiden nach Religionszugehörig- keit und nach Hautfarbe. Vizepräsidentin Claudia Roth: Es gibt leider auch einen neuen Spalter auf der politi- Herr Kollege, ich darf Sie bitten. schen Bühne: Bündnis 90, das für Bürgerrechte stand, wurde zu den Grünen, Gerald Ullrich (FDP): (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Mein Kollege Thomas Kemmerich hat gesagt, wie es NEN]: Nein, Bündnis 90/Die Grünen! – Steffi geht. 14248 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Gerald Ullrich (A) Danke. Das Geschehen war der Vorbote zum Fall der Berliner (C) Mauer, übrigens unter maßgeblicher Hilfe von Caritas, (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Diakonie, Malteser, Johanniter und dem Roten Kreuz der CDU/CSU) aus Bayern, die umgehend Notlager errichtet hatten. Hel- mut Kohl betonte: Der Boden unter dem Brandenburger Vizepräsidentin Claudia Roth: Tor wird auf immer ungarisch bleiben. – Dies gilt es, auch Vielen Dank, Herr Ullrich. – Nächster Redner: heute zu betonen. Es war also die europäische Idee, die Dr. Andreas Lenz, CDU/CSU-Fraktion. zusammenführte. (Beifall bei der CDU/CSU) Budapest schloss übrigens bereits 1988 als erstes Ost- blockland ein Handelsabkommen mit der damaligen Eu- Dr. Andreas Lenz (CDU/CSU): ropäischen Gemeinschaft. Handel kann also auch helfen, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen den Weg in die Freiheit zu bereiten. und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jetzt könn- te man sich fragen: Was hat die CSU zum Sachstandsbe- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) richt Aufbau Ost/Deutsche Einheit zu sagen? Aber das ist Die Friedliche Revolution liegt nun schon fast 30 Jahre natürlich wie immer eine ganze Menge. zurück. In Ostdeutschland wurde seitdem eine beeindru- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD, der ckende Aufbau- und Anpassungsleistung erbracht. Das LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Wirtschaftswachstum ist in Ostdeutschland in dieser Zeit GRÜNEN – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/ das stärkste in Gesamtwesteuropa gewesen. Zahlreiche DIE GRÜNEN]: Das Protokoll vermerkt „Hei- Indikatoren zeigen, dass der Prozess der Angleichung terkeit“!) der Lebensverhältnisse in Ost und West seit 1990 weit vorangekommen ist. Die Löhne liegen beispielsweise Es schadet nicht, wenn auch die Abgeordneten aus dem bei 85 Prozent des westdeutschen Niveaus; das gilt auch Westen, aus dem Süden, eben aus allen Regionen diesen für das verfügbare Einkommen. wirklich guten Bericht durchlesen. Es lohnt sich. Natür- lich gibt es auch regional in ganz Deutschland Unter- Unterschiede bestehen nicht nur zwischen Ost und schiede. Aber wir sind vereint. West. Auch in Bayern ist das so. In Ostbayern sind die Löhne etwas niedriger, aber die Menschen sind nach mei- Lieber Mark Hauptmann, du hast vorhin gesagt: Red ner Wahrnehmung deswegen nicht unglücklicher; auch Bull Leipzig schickt sich an, Deutscher Meister zu wer- die Wohneigentumsquote ist beispielsweise höher. den. – Es gibt auch im wiedervereinten Deutschland eine (B) Konstante: Das ist natürlich, dass der FC Bayern an der Die Arbeitslosenquote ging vom Höchststand von (D) Spitze von Fußballdeutschland steht. 2005 – damals lag die Quote bei 18,7 Prozent; das vergisst man zu schnell – auf 6,9 Prozent zurück – und das unter (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zu- einer unionsgeführten Bundesregierung, meine sehr ge- rufe von der CDU/CSU und der SPD: Buh! – ehrten Damen und Herren. Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Was zu bewei- sen wäre!) Auch das vergisst man zu schnell: Im Jahr 2017 war Ich komme zurück zur Sache. Es gilt natürlich, den erstmals die Wanderungsbilanz zwischen ostdeutschen mutigen Menschen von damals zu danken. Sie haben Flächenländern und Westdeutschland positiv. Die Men- letztlich die deutsche Einheit geschaffen. Es war die schen kehren zum Teil zurück. Ich erlebe, dass auch Bür- Macht der scheinbar Machtlosen, die das Glück unserer gerinnen und Bürger aus meinem Wahlkreis zum Teil in Wiedervereinigung erst ermöglichten. Die Menschen in die alte Heimat zurückkehren, obwohl gerade auch ost- der ehemaligen DDR wollten den maroden Unterdrück- deutsche Bundesbürger inzwischen sehr gute Bayern ungsstaat nicht reformieren. Nein, sie wollten ihn über- sind. Überdies darf man betonen, dass von der zweifels- winden. Sie wollten Freiheit statt Sozialismus. Sie woll- ohne erfolgten Abwanderung aus dem Osten auch ganze ten die soziale Marktwirtschaft anstatt sozialistischer Gebiete in Westdeutschland sehr stark profitiert haben. Mangelwirtschaft. Sie wollten Menschen- und Bürger- rechte anstatt Ideologie und Unterdrückung. (Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Absolut!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Gerade in meinem Wahlkreis Erding – Ebersberg, aber auch in Oberbayern insgesamt kamen mit am meisten Deutschland und Europa wurde also durch den Willen der ostdeutsche Bürger an. Auch hier gab es sehr fruchtbare Menschen verändert. Das war der Drang nach Freiheit Vereinigungen. und Selbstbestimmung. (Mark Hauptmann [CDU/CSU]: Die haben Vor genau 30 Jahren fand im August 1989 das weg- Bayern mit aufgebaut!) weisende Paneuropäische Picknick statt. Dieses Picknick stand unter der Schirmherrschaft eines CSU-Europaabge- Der Bericht wurde übrigens erstmalig um ein Nach- ordneten, nämlich Otto von Habsburg, und des ungari- haltigkeitskapitel ergänzt. Das ist sehr sinnvoll. „Ein schen Staatsministers und Reformers Imre Pozsgay. Aus nachhaltiges Deutschland erreichen wir nur, wenn nie- dem Picknick wurde ein Weltereignis. Mehr als mand zurückgelassen wird“, heißt es in der deutschen 600 DDR-Bürgern gelang am 19. August 1989 über die Nachhaltigkeitsstrategie. Dies gilt es zu beherzigen; kurzzeitig geöffnete Grenze die Flucht in den Westen. Stichwort „gleichwertige Lebensverhältnisse“. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14249

Dr. Andreas Lenz (A) Es gilt aber, ebenso zu betonen, dass das Modell der schätzte Kollegen der AfD, etwas, zu dem Sie nicht einen (C) ehemaligen DDR nicht nachhaltig war, weder ökono- einzigen Deut beigetragen haben. misch noch ökologisch und noch weniger sozial. Wenn man die ökologische Komponente herausgreift: Es ist so, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie dass die Belastung durch Schwefeldioxid und Staub ext- bei Abgeordneten der FDP) rem war. Einige Standorte wie Bitterfeld oder Espenhain Das sind Erfolge, die die Politik hier im Bundestag in der hätten nach den geltenden UNO-Richtwerten als unbe- gesamten Bundesrepublik erreicht hat. Sie sehen nur die wohnbar eingestuft werden müssen. Deshalb erhielten Möglichkeit, das schlechtzureden, und das tun Sie in die Umweltdaten in der ehemaligen DDR die höchste großer Manier. Geheimhaltungsstufe. Die Umweltbedingungen haben sich seitdem massiv verbessert. Übrigens ist die Lebens- Meine Damen und Herren, wir sind uns alle darüber erwartung der Menschen deutlich gestiegen. einig, dass wir noch darüber reden müssen, wie wir die deutsche Einheit weiter voranbringen und die Wiederver- Insofern gilt es, am Schluss zu betonen, dass ein Kraft- einigung noch stärker machen. Ich habe da auch kritische akt hinter uns liegt, aber sicher auch noch viele und viel- Punkte, die ich nur ganz kurz anreißen kann. Ein solcher fältige Anstrengungen vor uns liegen. Punkt ist zum Beispiel – das ist zur Sprache gekommen –: Es gibt die Festlegung von 1992 von Bundesrat und Bun- In diesem Sinne herzlichen Dank. desregierung, dass neue Standorte in den Osten kommen (Beifall bei der CDU/CSU) sollen – zu Recht; denn an solche Standorte binden sich Wirtschaft, Beschäftigung und Wertschöpfung. Vor die- sem Hintergrund sind wir in der Bundesregierung – in der Vizepräsidentin Claudia Roth: Vergangenheit auch andere – ständig halbherzig darange- Vielen Dank, Dr. Andreas Lenz. – Letzter Redner in der gangen und haben diese Vorgabe gar nicht erfüllt. Das Debatte: Frank Junge für die SPD-Fraktion. Beispiel mit Frau Karliczek und der Fabrik für Batterie- zellen will ich nicht noch einmal bemühen. Ich denke, (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Mark dass wir dort konsequenter handeln müssen, weil wir Hauptmann [CDU/CSU]) diese Impulse dringend brauchen.

Frank Junge (SPD): (Beifall bei der SPD) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einen letzten Punkt will ich ansprechen. Wenn wir Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, ei- darüber reden, dass wir nach dem Fall der Mauer, nach nes ist in dieser Debatte deutlich geworden: Wir dürfen dem Einreißen der Mauer von einem Strukturbruch im (B) uns nicht wundern, wenn die Menschen im Osten ein Bild Osten erschüttert worden sind und dass eine ganze Gene- (D) von Politik bekommen, das zu manchmal fragwürdigen ration in die alten Länder gegangen ist, dann müssen wir Wahlentscheidungen führt. So wie wir hier über Erreich- heute darüber sprechen, wie es uns gelingen kann, Men- tes reden, wie wir über Erfolge reden, wie wir dann, von schen wieder zu einem Zuzug in den Osten zu bewegen. politischem Kalkül geleitet, die Dinge schlechtreden, so, Gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ist denke ich, erzeugen wir kein Vertrauen in die Handlungs- das die Maßgabe der Stunde. Da betone ich besonders, fähigkeit von Politik, und das ist ein Punkt, den man bei dass wir das nur mit starken Gewerkschaften, starken Be- der Debatte über die Errungenschaften 30 Jahre nach dem triebsräten und verbindlichen Tarifverträgen können; Einreißen der Mauer hier ansprechen muss. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten denn nur das sind die Garanten dafür, dass wir endlich der CDU/CSU) vernünftige Löhne und auch 100-Prozent-Löhne im Os- Ich finde, das, was wir mit und seit der Wiedervereini- ten bekommen. Vor diesem Hintergrund ist das für mich gung in den neuen Bundesländern geleistet haben, ist ge- nicht nur eine Möglichkeit, den Fachkräftemangel, der schichtlich und global so groß und so einzigartig, dass wir den Osten in besonderer Weise trifft, zu bekämpfen; wir zu Recht alle stolz darauf sein können, können damit 30 Jahre nach der Wende eine längst über- fällige Maßnahme treffen und mehr soziale Gerechtigkeit (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und erreichen. der SPD) Zum Schluss, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte egal ob wir hierbei noch große Differenzen und Abstände ich sagen: Wenn wir es an dieser Stelle schaffen, gemein- zu Standards im Westen feststellen müssen oder nicht. Wo sam an einem Strang zu ziehen, und vor diesem Hinter- wir heute sind, da sind wir hingekommen, weil Politik grund alle Instrumente, die da sind, nutzen, um die Po- verantwortungsbewusst gehandelt hat und weil Politik tenziale im Osten weiter auszubauen, dann schaffen wir vor allen Dingen Instrumente, die wir geschaffen haben, wieder mehr Vertrauen in unseren Staat; wir stärken den genutzt hat, um Rückstände abzubauen. gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie, und das ist das beste Mittel gegen blau-braunen Nationa- Ich gehe hier nur kurz darauf ein, dass wir gegenwärtig, lismus, gegen Spaltung, Ausgrenzung und Fremdenfeind- 30 Jahre nach der Wende, den höchsten Beschäftigungs- lichkeit. stand im Osten haben. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich seitdem mehr als verdoppelt. Die Produktivität ist (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten um das Vierfache gestiegen. Das ist im Übrigen, ge- der CDU/CSU) 14250 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: Versprechen erzeugen Lethargie, Hass und Demokratie- (C) Vielen Dank, Frank Junge. – Ich schließe die Ausspra- verdrossenheit, und das ist unverantwortlich. So kann das che. nicht weitergehen, meine Damen und Herren. Den Fußballfans sei gesagt: Schauen wir mal, was (Beifall bei der LINKEN) Schalke in Leipzig macht und was München in Paderborn reißt. Ostdeutsche, die 1989 65 Jahre alt waren, müssten 100 Jahre alt werden, damit sie in den Genuss einer West- (Thomas L. Kemmerich [FDP]: Gut informiert, rente kommen. Sie haben also auf eine biologische Lö- die Frau Präsidentin!) sung des Rentenproblems gesetzt. Wir nennen das zy- Was Ihre voreilige Festlegung auf die Meisterschaft an- nisch. geht, gibt es, glaube ich, einige hier im Saal, die das (Beifall bei der LINKEN – Markus Kurth anders sehen, - [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch (Mark Hauptmann [CDU/CSU]: unglaublich! – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/ Fraktionsübergreifend!) DIE GRÜNEN]: Das ist doch etwas differenz- ierter!) inklusive des Augsburg-Fans Roth. Wie wollen Sie eigentlich den 30. Jahrestag der deutschen (Dr. Andreas Lenz [CDU/CSU]: Aktuelle Einheit mit einer Rentenmauer zwischen Ost und West Stunde!) feiern? Interfraktionell wird Überweisung des Berichts zum Stand der Deutschen Einheit 2019 auf Drucksache 19/ (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ihr 13500 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus- wollt ja eine neue errichten!) schüsse vorgeschlagen. Der Entschließungsantrag der Wir fordern in unserem Antrag die sofortige Angleichung Fraktion Die Linke auf Drucksache 19/13575 soll an die- des Ostrentenwerts an den Westrentenwert. Es ist wirk- selben Ausschüsse überwiesen werden. – Damit sind Sie lich Zeit, meine Damen und Herren! einverstanden. Dann ist das so der Fall, und die Über- weisungen sind so beschlossen. (Beifall bei der LINKEN) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: Nun wird ja darüber diskutiert, wie Altersarmut eigent- lich entsteht. Altersarmut in Ostdeutschland hat direkt Beratung des Antrags der Abgeordneten Matthias etwas mit der Ära Helmut Kohl und mit der Treuhand- W. Birkwald, Matthias Höhn, Susanne Ferschl, politik zu tun. (B) weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LIN- (D) KE (Manfred Grund [CDU/CSU]: Mit Erich Hone- Renteneinheit herstellen – Ostrenten umgehend cker! Mit dem Ende der DDR! Mit dem Staats- an das Westniveau angleichen bankrott der DDR!) Drucksache 19/10285 – Das muss Sie ja alles sehr treffen, wenn Sie sich das nicht anhören können. – Im ersten halben Jahr ihrer Überweisungsvorschlag: Tätigkeit hat die Treuhand 61 ostdeutsche Unterneh- Ausschuss für Arbeit und Soziales men pro Woche privatisiert. Zum Vergleich: Die eise- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die rne Lady, Margaret Thatcher, berüchtigt für den großen Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre keinen Ausverkauf der britischen Staatsunternehmen, brachte Widerspruch. es in den zehn Jahren ihrer Amtszeit auf gerade einmal 54 Privatisierungen. Die Folge dieser Privatisierungen Frau Lötzsch, ich warte noch, bis die Kollegen – ja, in Ostdeutschland war eine dramatische Massenar- ausschließlich Kollegen – Platz genommen haben. beitslosigkeit. Diese brutale Arbeitsplatzvernichtung Ich eröffne die Aussprache, und das Wort hat hat heute fatale Auswirkungen auf die Ostrenten. Die- Dr. Gesine Lötzsch für die Fraktion Die Linke. sen Trend, meine Damen und Herren, hat die Regie- rung Merkel ab 2005 noch verstärkt. (Beifall bei der LINKEN) (Manfred Grund [CDU/CSU]: Was Sie säen, Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): erntet die AfD!) Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 30. Jahrestag des Mauerfalls – wir Langzeitarbeitslose haben nur niedrige Rentenbeiträge haben gerade darüber gesprochen –, aber die eingezahlt bekommen und seit 2011 überhaupt keine Rentenmauer steht noch. Wir Linke fordern: Die mehr. Man muss die Verantwortung klar benennen: Kohls Rentenmauer muss endlich weg! Treuhand war ein Baustein für die kommende Altersar- mut in Ostdeutschland, und das darf so nicht bleiben. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – 2014 hatte Bundeskanzlerin Merkel versprochen: Die [FDP]: Das ist ja wirklich nur noch frech!) Rentenangleichung kommt bis 2020. – Doch: Verspro- chen und gebrochen. Damit hat die Regierung bei vielen Die Schröder/Fischer-Regierung führte Hartz IV ein. Ostdeutschen Vertrauen verspielt. Diese gebrochenen Das war Armut per Gesetz. Die PDS im Bundestag – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14251

Dr. Gesine Lötzsch (A) und ich – war damals die einzige Partei, die lohns auf wenigstens 12 Euro und einen Zuschlag für (C) gegen diese Armutsgesetze gestimmt und gekämpft hat. Rentnerinnen und Rentner, die im Niedriglohnsektor ar- beiten mussten. (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist gut so!) Kanzler Schröder verkündete stolz, dass er den größten (Beifall bei der LINKEN) Niedriglohnsektor Europas geschaffen habe. Und selbst Wir brauchen eine wirklich soziale Politik für dieses im Niedriglohnsektor beträgt der Ost-West-Unterschied Land, wir brauchen eine soziale Wende. Die Linke steht immer noch 277 Euro oder 16 Prozent. Mit dem Niedrig- dafür zur Verfügung. lohnsektor wurde ein weiterer Baustein für Altersarmut gelegt, und das muss dringend korrigiert werden. Vielen Dank. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Die jetzt von der Bundesregierung beschlossene An- gleichung der Rentenwerte ist mit einem gravierenden Vizepräsidentin Claudia Roth: Nachteil für die Ostdeutschen verbunden. Da die Ostlöh- Vielen Dank, Gesine Lötzsch. – Nächster Redner: Max ne immer noch weit von den Westlöhnen entfernt sind, Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion. wurden bisher die Ostlöhne für die Rentenberechnung (Beifall bei der CDU/CSU – umgerechnet. Diese Umrechnung wird nun abgeschafft, [CDU/CSU]: Jetzt aber voran, Max!) obwohl die Lohnunterschiede weiter bestehen. Das kommt einer Rentenkürzung gleich, und das darf nicht Max Straubinger (CDU/CSU): sein. Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der LINKEN) Wir haben jetzt ein Zerrbild der Rentenpolitik in Deutsch- land erlebt. Ein Rechenbeispiel: Durch den Wegfall der Umrechnung erhält eine 54-jährige Ost-Verkäuferin für die 13 Jahre, (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Herr die sie noch bis zur Rente hat, nur 344 Euro Rente. Mit Straubinger, Sie wissen es doch besser!) der Umrechnung wären es 374 Euro. Das wären also 360 Euro mehr Rente im Jahr. Bei einer durchschnittli- – Doch, Frau Kollegin Lötzsch, so ist es. – Jetzt können chen Rentenbezugsdauer von 22 Jahren fehlen ihr also sich die Bürgerinnen und Bürger im Osten Deutsch- knapp 8 000 Euro. Darauf muss die ostdeutsche Verkäu- lands nämlich auf sichere Renten verlassen und müssen ferin verzichten. Das ist eine Fortsetzung der keine Renten nach Gutdünken befürchten, wie es unter Rentenmauer, und die muss endlich eingerissen werden. der SED war, wo also überhaupt nicht die Leistungs- (B) fähigkeit der Menschen berücksichtigt wurde, (D) (Beifall bei der LINKEN) (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nun ist in der vorherigen Debatte darauf verwiesen Leute, Leute! Was ist das heute für ein Debat- worden, dass die Grundsicherungsquote in Ostdeutsch- tenniveau? – Gegenruf des Abg. Manfred land aktuell mit 6,5 Prozent – die Zahl wurde nicht ge- Grund [CDU/CSU]: Ist das falsch, was er nannt, aber die Tatsache – noch deutlich unter dem Ni- sagt?) veau in Westdeutschland liegt. Doch sie wird sich in den kommenden 20 Jahren auf knapp 12 Prozent verdoppeln. sondern wo imaginäre Abschlüsse des FDGB letztend- Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, das DIW, lich durch die SED umgesetzt worden sind. Das waren schätzt, dass in Deutschland jeder fünfte 67-Jährige im Armutsrenten in der ehemaligen DDR. Jahr 2036 von Altersarmut bedroht sein wird. Besonders (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und betroffen davon werden alleinstehende Frauen, Men- der FDP) schen ohne Berufsausbildung, Langzeitarbeitslose und eben Ostdeutsche sein. Ich finde, diese Fortsetzung der Die Rentenüberleitung von 1991, die ab dem 1. Januar Spaltung dürfen wir nicht hinnehmen. 1992 stattfand, hat den Bürgern in Ostdeutschland eine verlässliche Rente gegeben, und zwar eine Rente, die da- (Beifall bei der LINKEN) zu geführt hat, dass von den Rentnern in Ostdeutschland Union und SPD sind also für die Armutsrenten in Ost- mittlerweile nur noch 1 Prozent auf Grundsicherung an- deutschland verantwortlich. Sie haben die Zerstörung der gewiesen ist, während es im Westen Deutschlands 3 Pro- ostdeutschen Wirtschaft durch die Treuhand zu verant- zent sind. worten, und sie gehen mit den Hartz-IV-Gesetzen als (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die größten Lohndrücker in die deutsche Geschichte Das ist aber auch keine Erfolgsbilanz!) ein. Sie haben den Niedriglohnsektor und damit Minijobs und Minirenten geschaffen und haben jahrzehntelang ei- Das zeigt also auch sehr deutlich, dass diese nen Mindestlohn verhindert. Jetzt haben wir einen Min- Rentenüberleitung eine große Erfolgsgeschichte ist. Dies destlohn, der nicht ausreicht, um nach einem langen Ar- sollten wir auch so darstellen; beitsleben von der Rente auch leben zu können. Deshalb fordern wir in unserem Antrag die Angleichung der (Beifall bei der CDU/CSU) Rentenwerte noch in diesem Jahr, die Beibehaltung des denn alle anderen Darstellungen, Frau Kollegin Umrechnungsfaktors für die Ostlöhne, bis das Westni- Lötzsch, bedienen nur die rechte Seite, was Sie nicht veau erreicht ist, eine deutliche Anhebung des Mindest- wollen und was wir nicht wollen – damit das ganz klar ist. 14252 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Max Straubinger (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Aber Sie wollen die Höherbewertung beibehalten. Das (C) des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE ist eine große Ungerechtigkeit gegenüber den Bürgern, GRÜNEN] – Uwe Witt [AfD]: Na, na, na!) die im Westen Deutschlands wohnen, weil diese dann für die gleiche Einzahlung eine um 20 Prozent geringere Deshalb: Wer die Erfolge der Wiedervereinigung hier Rente als die Bürger in Ostdeutschland erhalten würden. nicht darstellen will und den Bürgerinnen und Bürger die Das kann nicht sein. Sie sind eine spalterische Partei und ganze Zeit nur ein Zerrbild bereitet, der legt letztendlich nicht eine Partei, die zusammenführt. die Axt an unser demokratisches Staatsgefüge, verehrte Kolleginnen und Kollegen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei In diesem Sinne werden wir Ihren Antrag wiederum ab- Abgeordneten der FDP) lehnen. Denn die Wahrheit liegt ganz woanders. Seit der Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Rentenüberleitung 1991, ab 1992, sind wir von damals 51 Prozent des Rentenwertes in Ostdeutschland bei mitt- (Beifall bei der CDU/CSU) lerweile 96,5 Prozent angekommen, und das unter wirt- schaftlicher Entwicklung. Das ist letztendlich auch eine Vizepräsidentin Claudia Roth: Erfolgsgeschichte des Aufbaus in den neuen Bundeslän- Vielen Dank, Max Straubinger. – Nächste Rednerin: dern, der – das kann man beklagen – vielleicht zu langsam Ulrike Schielke-Ziesing für die Fraktion der AfD. vorangegangen ist, der aber zuvörderst mit Helmut Kohl und der Treuhand bewerkstelligt worden ist. Wir haben (Beifall bei der AfD) die kaputten DDR-Betriebe überführt und damit auch den Menschen sichere Arbeitsplätze gegeben. Das missachten Sie. Sie missachten die Hinterlassenschaft der SED, für Ulrike Schielke-Ziesing (AfD): die Sie verantwortlich sind, für die Sie eingetreten sind Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau und gearbeitet haben. Diesen Missstand haben wir mit Präsidentin! Liebe Bürger! Heute besprechen wir einen unserer Politik, mit Helmut Kohl und mit unserer Bundes- Antrag, den die Linken im Frühjahr dieses Jahres schon kanzlerin , aufgearbeitet. Und weil der einmal in ähnlicher Form gestellt haben. Kollege Bartsch sich vorhin beklagt hat, dass es keinen Uni-Präsidenten und keine Bundesrichter ostdeutscher (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE Herkunft gibt, möchte ich sagen: Er sollte doch zumindest GRÜNEN]: Alle Jahre wieder!) zufrieden sein, dass wir eine Bundeskanzlerin ostdeut- (B) Aus diesem alten Antrag haben Sie die Ostthemen extra- (D) scher Herkunft haben; hiert und bringen diese nun noch einmal ein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Warum noch einmal in einem so kurzen Zeitabstand? Abgeordneten der FDP) Normalerweise wärmen Sie Ihre alten Anträge doch erst aber dieses Lob habe ich auch nicht vernommen. nach zwei Jahren wieder auf. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Heiterkeit bei der AfD) Hoffentlich ist die CSU darauf auch stolz!) Kann es sein, dass dies nur ein Schaufensterantrag ist, um Also, unter diesem Gesichtspunkt ist es, glaube ich, Ihrem Parteifreund in Thüringen beim Landtagswahl- wirklich eine schöne Geschichte, dass man nicht einmal kampf den Rücken zu stärken? Ihr Antrag ist eine wild das anerkennen will, trotz der Erfolge, die wir vorzuwei- zusammengewürfelte Wunschliste mit allem, was im Os- sen haben. Und diese Erfolge sind hervorragend: Wir ten vermeintlich gut ankommt: Rentenangleichung Ost/ haben die wirtschaftliche Entwicklung im Osten Deutsch- West, den Mindestlohn regulieren und, weil noch Platz lands befördert und tun dies auch weiterhin mit den ent- auf dem Papier war, gleich auch die Altersarmut in sprechenden Programmen. Aber mittlerweile sind wir in Deutschland bekämpfen. Fehlen eigentlich nur noch der die Situation geraten, dass wir uns nicht mehr nur über Klima- und der Tierschutz. Ostdeutschland zu unterhalten haben, sondern dass wir auch feststellen müssen, dass wir im Westen Deutsch- (Beifall bei der AfD) lands, an der Grenze zu Holland, an der Grenze Ost- Wie wir die Altersarmut effektiv und gezielt bekämp- bayerns zu Tschechien, Landkreise haben, in denen Men- fen können, können Sie in der neuesten Studie nachlesen, schen genauso schwierige Einkommensverhältnisse die im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt wurde. aufzuweisen haben wie Menschen in Landkreisen in Ost- Eine Freibetragslösung für die Rente bei der Grund- deutschland. sicherung im Alter kommt gezielt den bedürftigen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Rentnern zugute und verstößt weder gegen das Äquiva- lenz- noch gegen das Leistungsprinzip. Mit anderen Wor- Und Sie gehen jetzt her und wollen mit Ihrem Antrag den ten: eine Freibetragslösung, so wie wir als AfD sie bereits Rentenwert auf 100 Prozent angleichen. Dies haben wir im Frühjahr hier im Plenum gefordert haben. Wir könnten jedoch beschlossen; 2025 wird das geschehen sein, hof- damit über 600 000 Alters- und Erwerbsminderungsrent- fentlich rein unter wirtschaftlicher Entwicklung und nicht nern helfen. Die Rentner könnten 15 Prozent ihrer Rente unter administrativer Entwicklung. zusätzlich zur Grundsicherung im Alter behalten. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14253

Ulrike Schielke-Ziesing (A) Wenn es Ihnen so sehr um die Bekämpfung der Alters- (Dr. [DIE LINKE]: Das ist doch ein (C) armut in Deutschland geht, warum haben Sie unserem Anfang!) Antrag dann nicht zugestimmt? Das funktioniert nicht, und eine DDR 2.0 wollen wir auch (Beifall bei der AfD) nicht. Das hatten wir schon unter Ihrer Führung; ist in die Hose gegangen. Sie stellen lieber Anträge, die ein Sammelsurium an Maß- nahmen enthalten. Einzelne Maßnahmen darin sind si- (Beifall bei der AfD – Dr. Dietmar Bartsch cher sinnvoll, in Gänze sind diese Anträge aber für uns [DIE LINKE]: Nein, 2.0 nicht! Das war die absolut nicht zustimmungsfähig. erste!) Beispiele dazu: Sie wollen eine Rente nach Mindest- Und nun versuchen wir seit knapp 30 Jahren, Ihre Fehler entgeltpunkten. Mit einer Verdopplung von Entgelt- der Vergangenheit auszubügeln. punkten, wie bei Ihnen vorgesehen, wird das Äquiva- Ich freue mich aber dennoch auf die Diskussion Ihres lenzprinzip als tragendes Prinzip der gesetzlichen Antrages im Ausschuss für Arbeit und Soziales und in der Rentenversicherung angegriffen. Eine Verdopplung von nächsten Sitzungswoche wieder hier im Plenum an selber Rentenansprüchen für eine abgegrenzte Zielgruppe ist Stelle. nicht mit der Beitragsäquivalenz vereinbar. Ungleiches wird im Ergebnis gleich behandelt. Eine Aufwertung soll Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. pauschal für Entgeltpunkte aus unterdurchschnittlichem Einkommen erfolgen ohne Rücksicht darauf, warum es (Beifall bei der AfD) zu diesem niedrigen Einkommen gekommen ist. Das hört sich übrigens sehr nach der Grundrente von Minister Heil Vizepräsidentin Claudia Roth: an, nur dass Sie hier keine 35, sondern 25 Beitragsjahre Vielen Dank, Frau Schielke-Ziesing. – Nächste Redne- ansetzen; das macht die Sache aber auch nicht besser. rin: für die SPD-Fraktion Daniela Kolbe. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD) Eine Anhebung des Mindestlohnes ist laut Ihrer sozia- listischen Fantasie ein Allheilmittel, um Wohlstand und Daniela Kolbe (SPD): Wachstum zu generieren. Mit welcher Beharrlichkeit Sie Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen Ihre Anträge zur Anhebung des Mindestlohns regelmäßig und Kollegen! Wer seinen Wahlkreis im Osten hat, der aus immer demselben Hut ziehen, ist schon bemerkens- weiß, dass für viele Menschen, gerade für die wert. Verstehen Sie bitte: Wir leben in einer Marktwirt- Rentnerinnen und Rentner, die Rentenangleichung ein (B) schaft und nicht im Wünsch-dir-was-Land. Thema ist. (D) (Beifall bei der AfD) (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So Sie können gerne versuchen, den Unternehmen alles vor- ist es!) zuschreiben. Besser wird die wirtschaftliche Situation Aber um was geht es ihnen im Kern? Ich habe manchmal dadurch aber nicht. den Eindruck, es geht den Menschen gar nicht so sehr um das Thema Geld, sondern vielmehr um das Thema Leis- Wir müssen für bessere Rahmenbedingungen sorgen, tungsgerechtigkeit. Ist Gleiches in diesem Land gleich damit sich die Wirtschaft hierzulande besser entfalten viel wert? Was ist meine Arbeit wert, die ich geleistet kann. Ich kann Ihnen aus meinem Wahlkreis in Mecklen- habe, als ich versucht habe, die marode DDR am Laufen burg-Vorpommern berichten: Unternehmen, die expan- zu halten, irgendetwas zu produzieren? Was ist meine dieren wollen, stoßen aufgrund von fehlenden Investitio- Lebensleistung wert, wenn ich mitgeholfen habe, den nen in die Infrastruktur an ihre Grenzen. Geeignetes DDR-Unrechtsstaat zum Einsturz zu bringen? Das sind Personal wird ebenfalls immer knapper. Weil die regier- nämlich die Leute, die sich jetzt gerade auf die Rente enden Parteien die falschen Rahmenbedingungen setzen, zubewegen und sich fragen: Wie wird das wertgeschätzt? leiden für die Region wichtige Unternehmen darunter. Die Leute, die das Land wieder aufgebaut haben, die Und dann soll die Abwärtsspirale durch planwirtschaft- niedrige Löhne bekommen haben, die von Arbeitslosig- liche Experimente noch befeuert werden? Nicht mit uns. keit betroffen waren, fragen sich: Wie wird das wertge- (Beifall bei der AfD) schätzt? Sie wollen die Rentenangleichung Ost/West haben, Sie Tatsächlich ist für 90 Prozent der Ostdeutschen die ge- wollen außerdem eine Beibehaltung der Höherbewertung setzliche Rente das Haupteinkommen im Alter; 60 Pro- der Ostlöhne, machen sich aber leider keinen einzigen zent der Menschen im Westen geht es ähnlich. Aber bei Gedanken über ein Finanzierungskonzept. Da kommen einer Größenordnung von 90 Prozent ist klar, dass sich wir wieder zum Anfang meiner Rede: Eigentlich soll die- die älteren Leute bei der Rente stark auf die Themen ser Antrag ja auch nicht seriös dazu beitragen, die „Wertschätzung“ und „Leistungsgerechtigkeit“ fokussie- Rentenangleichung zu diskutieren, sondern nur dem ren. Wahlkampf dienen. Wir als Große Koalition haben in der letzten Legislatur Insgesamt präsentieren Sie hier Lösungen, die nicht in gesagt: Da die Lohnangleichung und die Rentenan- das bestehende Gesellschaftssystem passen. Alles, was gleichung nicht vorankommen, müssen wir das gesetzlich Ihnen einfällt, ist: Regulieren, Enteignen, Verstaatlichen. regeln. – Das haben wir gemacht. Die SPD wollte das 14254 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Daniela Kolbe (A) 2020 fertig haben; das haben wir nicht durchgesetzt. Aber zum Beispiel im Niedriglohnbereich. Wir als SPD haben (C) wir haben gesetzlich geregelt: Wir werden 2025 in gekämpft und gestritten, dass wir einen Mindestlohn be- Deutschland ein Rentensystem haben. Es ist schmerzhaft kommen, und zwar in Ost und in West in der gleichen für uns, dass es lange dauert. Aber wir freuen uns, dass Höhe. wir die Rentenangleichung im Gesetzblatt stehen haben. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Peter Weiß Wenn Ihr Antrag Realität würde, würde es bedeuten: Der [Emmendingen] [CDU/CSU]) Westdeutsche, der Mindestlohn erhält, hätte weniger Ich ärgere mich über den Linkenantrag; zumindest das Rentenanspruch als jemand, der im Osten Mindestlohn habt ihr geschafft. Ich habe mich auch sehr über die Rede bekommt. Gleiches gilt für Tarifbeschäftigte. von Frau Lötzsch geärgert, weil sie es eigentlich besser wissen müsste und weil es eigentlich unter ihrem Niveau (Dr. [SPD]: Richtig!) ist, hier den Eindruck zu erwecken, als wollten wir eine Ich sage mal so: Wenn das so käme, dann würde ich mir Ungleichheit im Rentensystem fortschreiben, als gäbe es im Sinne meiner Beschäftigten ernsthaft überlegen, ob nicht den Ausblick, dass wir in Deutschland ein ich nicht umziehe. Im Moment ist mein Büro direkt neben Rentensystem haben werden, und zwar in absehbarer dem Reichstag im Paul-Löbe-Haus; das war früher West- Zeit. Das können wir den Rentnerinnen und Rentnern berlin. Für meine Beschäftigten wäre es dann viel sinn- und auch den zünftigen Rentnerinnen und Rentnern glas- voller, wenn ich ins Jakob-Kaiser-Haus umzöge; das war klar so sagen. nämlich Ostberlin. Das stimmt doch? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der CDU/CSU) NEN]: Ja! Klar! Gutes Beispiel! Stimmt alles! – Ich ärgere mich auch über Ihren Antrag, weil er eben Dr. [CDU/CSU]: Die Präsi- nicht nur versucht, Ungerechtigkeiten abzuschaffen, son- dentin hat schon ein Gesicht gemacht!) dern auch ziemlich sehenden Auges neue Ungerechtig- keiten schafft. Die Große Koalition hat beschlossen, ein Vizepräsidentin Claudia Roth: Rentensystem ab spätestens 2025 zu haben – vielleicht Theorie. – Weiter, weiter, weiter. kriegen wir es ja eher hin. (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Daniela Kolbe (SPD): Eben!) Ich kann leider die Mimik von Frau Roth von hier vorne schlecht sehen. – Das war Ostberlin. Dort hätten (B) Das heißt, der Rentenpunkt, den ich mir verdient habe, ist (D) meine Beschäftigten von ihrem gleichen Lohn höhere bei der Auszahlung gleich viel wert, egal ob in Ost oder in Rentenanwartschaften. Das wird spätestens 2025 Ge- West erwirtschaftet. Das bedeutet aber eben auch: Ich schichte sein. Sie wollen das fortschreiben. Sie merken muss gleich viel einzahlen in Ost und in West, um einen doch selber, dass das ziemlicher Kokolores ist, oder? Rentenpunkt zu bekommen, also: ein Rentensystem, ein Land. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU] und Jens Was die Linke hier in dem Antrag fordert, sind zwei Beeck [FDP]) Rentensysteme. Dabei stimmt natürlich, dass das unterschiedliche (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So Lohnniveau ein riesengroßes Problem ist. Aber es ist viel ist es! – Dr. Matthias Bartke [SPD]: So ist es!) sinnvoller, dass wir das Problem an der Wurzel anpacken. Der Rentenpunkt soll gleich viel wert sein in Ost und in (Beifall bei der SPD) West, aber in Ostdeutschland soll ich weniger einzahlen müssen, um einen Rentenpunkt zu bekommen. hat allein mit dem gestern eingebrachten Entwurf eines Pflegelöhneverbesserungsgesetzes mehr (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Da wissen für die Rentengerechtigkeit in Ost und West getan als wir, wo die Mauerbauer sitzen!) Sie, die Ihren Antrag jetzt zum zehnten Mal wieder ein- Die Begründung ist ja richtig: Die Löhne sind im Osten bringen. niedriger. Wer möge das denn bestreiten? Das ist so. Aber (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten was Sie hier machen, ist nicht, die Ursache zu bekämpfen, der CDU/CSU) sondern sie versuchen, die Wirkung irgendwie abzumil- dern. Damit schaffen Sie wirklich absurde Situationen. Wir brauchen höhere Mindestlöhne. Aber vor allen Dingen brauchen wir eine höhere Tarifbindung; denn (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wo es Tarife gibt in Ost und West, da sind doch schon der CDU/CSU – Matthias Höhn [DIE LINKE]: jetzt die Löhne annähernd gleich und damit eben auch die Was ist Ihre Antwort?) Rentenanwartschaften. Klar müssen wir da noch über Sie behandeln Gleiches ungleich, Arbeitszeiten reden. Mich ärgert kolossal, dass wir in der Metall- und Elektroindustrie beispielsweise Tarifver- (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: So träge haben, wo zwar die Löhne gleich sind, im Osten ist es!) aber 38 Stunden pro Woche gearbeitet werden und im Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14255

Daniela Kolbe (A) Westen 35. Aber das ist nur eine Nebenbemerkung. Dafür weil das nämlich zur Befriedung und zur Einigung dieses (C) hätten Sie jetzt auch keine Lösung mit Ihrem Antrag. Landes beitragen würde. (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Sie aber auch Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. nicht mit Ihrer Rede!) (Beifall bei der SPD) – Na ja. Wir streiten jedenfalls dafür, dass wir endlich eine höhere Tarifbindung in diesem Land bekommen. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Das Vielen Dank, Daniela Kolbe. – Nächster Redner: für machen immer noch die Tarifpartner und nicht die FDP-Fraktion Johannes Vogel. die Redner! – Dr. Dietmar Bartsch [DIE LIN- KE]: Das ist nach 30 Jahren aber ein bisschen (Beifall bei der FDP) dünne!) Johannes Vogel (Olpe) (FDP): Ich sage nur: Das Pflegelöhneverbesserungsgesetz ist Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ein Schritt in genau diese Richtung. Man kann natürlich Fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sollte es keine die SPD fragen: Warum habt ihr denn nicht noch in den unterschiedliche Rentenberechnung in Ost und West Koalitionsvertrag reinverhandelt, dass wir das jetzt straf- mehr geben. Ich glaube, da sind sich sehr viele in diesem fen? Haus einig. Ich will mal etwas tun, was ich hier selten tue, (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Gute nämlich die SPD, insbesondere die ehemalige Arbeits- Frage! Berechtigte Frage!) und Sozialministerin , aber auch die Große Koalition in einer rentenpolitischen Frage loben. Darüber Hätten wir durchaus ganz gerne mit auf den Zettel gesetzt. wurde lange in diesem Haus diskutiert. Auch wir als Freie Wir mussten uns aber konzentrieren. Tatsächlich haben Demokraten haben das lange gefordert. Dass Sie es in der wir uns einen ziemlich dicken Brocken vorgenommen, letzten Legislaturperiode geschafft haben, hier mit dem der auch was mit Leistungsgerechtigkeit im Renten- Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz eine Angleichung system zu tun hat, nämlich dass diejenigen Menschen, herbeizuführen, ist ein großer Schritt nach vorne für uns die ihr Leben lang gearbeitet haben, mehr haben als Men- alle, und dafür geführt Ihnen Dank – ausnahmsweise – in schen in der Grundsicherung. Wir wollen die Grundrente der Rentenpolitik. durchsetzen, und zwar ohne Bedürftigkeitsprüfung. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) der CDU/CSU und der SPD – Dr. Karamba (B) (D) Das wird insbesondere gerade vielen ostdeutschen Men- Diaby [SPD]: Danke schön!) schen helfen, die in der Zeit nach der Wiedervereinigung Das, was Sie allerdings hier machen, liebe Kolleginnen zum Teil zu extrem niedrigen Löhnen gearbeitet haben: und Kollegen von der Linkspartei, ist eine wirklich krasse als Frisörin, als Einzelhandelskauffrau oder als Gebäude- Irreführung der Bürgerinnen und Bürger und der deut- reinigerin. schen Öffentlichkeit, und das gleich in zweifacher Hin- sicht. Ich fasse mal zusammen: Nach 30 Jahren Wiederver- einigung haben wir die Rentenüberleitung fast vollendet. Erstens. Frau Kollegin Lötzsch, dass Sie sich hier Wir haben hoffentlich bald eine Grundrente ohne Bedürf- ernsthaft hinstellen und alle möglichen Gründe für das tigkeitsprüfung. Abschließend will ich sagen: Mit ein we- noch ungleiche Rentensystem zwischen Ost und West nig Glück und viel gutem Willen hier im Haus werden wir anführen, außer den Kern zu erwähnen, nämlich den tota- vielleicht auch was für die Rentnergruppen tun, die in der len wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR, ist irre- Rentenüberleitung hinten runtergefallen sind, Stichworte: führend, gerade von Ihnen von der Linken. Reichsbahner, in der DDR Geschiedene und Braunkohle. Das steht im Koalitionsvertrag. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Matthias Es gibt eine Arbeitsgruppe im BMAS. Im Dezember Bartke [SPD]) wird es Ergebnisse geben, auf die ich mich freue. Hier sagen manche ja immer: Können die nicht mal Ruhe ge- Das muss man immer wieder klarmachen. ben? – Nee, können die nicht; denn die haben nämlich das Zweitens. Sie tun so, als ob es heute nicht eine doppelte eklatante Gefühl, dass ihre Lebensleistung nicht gewür- Ungleichbehandlung im Rentensystem geben würde. Das digt wird. Es geht auch hier nicht so sehr um das Geld. wird jetzt ein bisschen technisch; aber diese Rentenfragen Diese Menschen fühlen sich nicht für voll genommen. sind eben kompliziert, und weil man immer wieder auf Das lässt ihnen keine Ruhe, und es wird ihnen auch keine Bürgerinnen und Bürger trifft, denen das gar nicht be- Ruhe lassen, wenn hier nicht endlich politisch gehandelt wusst ist, muss man es, glaube ich, einmal erklären. Ja, wird. Ich habe das mulmige Gefühl, dass der Aufschrei, der Rentenwert, der dafür verantwortlich ist, wie jährlich wenn eine solche Ungerechtigkeit in Westdeutschland die Renten berechnet werden, welche Höhe sie aktuell passiert wäre, wenn man beispielsweise den Steinkohle- haben, lag und liegt heute in Ostdeutschland immer noch kumpeln Geld weggenommen hätte, bis hier nach Berlin unterhalb des Rentenwertes in Westdeutschland. deutlich spürbar zu hören gewesen wäre. Die Ostdeut- schen brüllen leiser; aber sie leiden genauso. Es ist hier (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE dringend geboten, dass wir handeln. Es lohnt sich auch, GRÜNEN]: Aber nur wenig!) 14256 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Johannes Vogel (Olpe) (A) – Nicht mehr viel, aber noch ein bisschen. In der Tat. – In der Rente gilt: Gleiches sollte gleich behandelt wer- (C) Gleichzeitig liegt der Wert der Entgeltpunkte, also der den. Die Rente sollte in Ost und West gleich berechnet Rentenanspruch, den man für jeden eingezahlten Euro werden. Für jeden eingezahlten Euro sollte man auch das erwirbt, in Ostdeutschland heute höher als in West- Gleiche rausbekommen. Das ist das Gegenteil von dem, deutschland. Warum? Weil wir als gesamtdeutsche Be- was Sie hier beantragen. völkerung, weil die Menschen in Ost und West sehr viel Geld investiert haben, hart dafür gearbeitet haben, damit Vielen Dank. wir so für halbwegs auskömmliche Renten in Ostdeutsch- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten land sorgen konnten. Erst gestern hat uns die Deutsche der CDU/CSU) Rentenversicherung noch mal aufgerechnet, wie viel das jährlich ausmacht, wie viel die Menschen in Ost und West heute gemeinsam, auch für Anspruchszeiten vor der Wie- Vizepräsidentin Claudia Roth: dervereinigung, vor 1990, jährlich dafür arbeiten, dass es Vielen Dank, Johannes Vogel. – Nächster Redner: für hier nicht eine krasse Ungleichbehandlung gibt. Ich muss Bündnis 90/Die Grünen Markus Kurth. mich wirklich fragen, liebe Kolleginnen und Kollegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) von den Linken, ob es ein Zufall ist, dass Ihr renten- politischer Sprecher lieber auf einer Podiumsdiskussion ist als hier bei dieser Debatte. Der hätte diese Wahrheit Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nämlich nicht guten Gewissens verschwiegen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Die Rede von Frau (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Lötzsch war in mehrerlei Hinsicht sehr traurig, zum ei- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE nen, weil es ihr überhaupt nicht um Rentenpolitik geht, GRÜNEN und des Abg. Dr. Matthias Bartke [SPD] – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Der (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Da haben wir es hat den Antrag eingereicht! Der steht ganz vor- wieder!) ne drauf!) sondern darum, ein Zerrbild von Spaltung zu schaffen Natürlich ist es richtig, dass wir es jetzt endlich und zu beschreiben, zum anderen, weil Sie hoffen, damit schaffen, beide Werte anzugleichen. Das ist Gleichbe- ein paar mehr Stimmen bei der kommenden Landtags- handlung. Da kann ich mich der Kollegin Kolbe nur voll wahl in Thüringen zu bekommen. anschließen. Das ist die Gleichbehandlung, die die Men- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- schen in Ost und West auch wollen. wie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Anke (B) (Beifall des Abg. [SPD]) Domscheit-Berg [DIE LINKE]: Man kann (D) auch Klartext reden!) Aber was Sie hier vorschlagen, wäre eine neue krasse Ungleichbehandlung. Das würde ja dazu führen, dass der Denn wovon reden wir? Wir reden davon, dass der Rentenwert – die berechneten Renten – identisch ist, aber Rentenwert Ost bei über 96 Prozent im Vergleich zum auch künftig ein gut verdienender Ingenieur in, sagen wir Rentenwert West liegt. Das ist noch ein ganz kleiner Un- mal, Leipzig für jeden eingezahlten Euro mehr terschied, und der wird sich in den nächsten drei bis vier Rentenanspruch erwirbt als zum Beispiel eine Pflegekraft Jahren nicht nur wegen Ihres Gesetzes, sondern auch we- in Duisburg. Das ist schlicht unfair. Sie überwinden keine gen der zurückliegenden guten Beschäftigungsentwick- Spaltung; Sie schaffen neue Spaltung mit Ihrem Antrag, lung angeglichen haben. Das heißt also: Wir haben zwar und das ist die falsche Politik. noch eine gewisse Ungleichheit, eine kleine – uns wäre auch lieber, ihn würde man sofort aufheben; das will ich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dazusagen –, aber sie ist keineswegs so groß, dass man der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- hier in irgendeiner Weise Formulierungen benutzen muss, SES 90/DIE GRÜNEN) die, ich finde, wirklich schon fast an der Grenze des Het- zerischen sind, wie: Sie setzen auf eine biologische Lö- Kommen Sie mir nicht mit dem Lohngefälle als Be- sung. Also, ich kritisiere die Große Koalition auch gerne gründung; denn anders als 1990 verläuft das Lohngefälle hart und scharf; das wissen Sie. Aber ihr zu unterstellen, heute längst nicht mehr holzschnittartig zwischen Ost und sie würde bei der Rentenpolitik Ost/West jetzt sehenden West, sondern es gibt ein krasses Lohngefälle zwischen Auges darauf setzen und hoffen, dass ostdeutsche Potsdam und der Uckermark, genauso wie es ein Lohn- Rentnerinnen und Rentner sterben, damit man nicht mehr gefälle zwischen Frankfurt und der Eifel gibt. Das Ein- für sie zahlen muss, ist eine Grobheit, die sich hier eigent- zige, was man dafür machen kann, das Richtige, was man lich verbietet. dafür tun sollte, ist, dafür zu sorgen, dass sich alle Regio- nen in West wie Ost so gut entwickeln wie die, in denen es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, wirtschaftlich gut funktioniert, damit zum Beispiel in bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- Ostdeutschland mehr Regionen profitieren, wie das heute geordneten der FDP) Jena oder Leipzig schon tun. Das wäre vernünftige Politik und nicht das, was Sie hier vorschlagen, liebe Kollegen Es ist ja auch falsch. Allein im Jahr 2017 sind aufgrund von den Linken. dieser Höherwertung, die schon mehrfach zur Sprache gekommen ist, rund 29 Milliarden Euro an ostdeutsche (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Rentnerinnen und Rentner geflossen: Rentenleistungen, der CDU/CSU) die durch Beitragszahlungen nicht gedeckt sind, da die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14257

Markus Kurth (A) damaligen DDR-Löhne der heutigen Rentner bei der dien, zum Beispiel vom Deutschen Institut für Wirt- (C) Rentenberechnung zum Teil dreifach berücksichtigt wur- schaftsforschung, darauf hingewiesen haben, dass sich den, und das auch zu Recht. Aber wir dürfen nicht ver- die Anzahl im Osten in Zukunft verdoppeln wird. Wir gessen, dass insbesondere die Zusammenführung der arbeiten hier, denke ich, nicht für die Vergangenheit, son- Rentenversicherung ein großer Solidarakt der westdeut- dern vor allen Dingen für die Zukunft. Und wir haben schen Beitragszahlerinnen und Beitragszahler war. Das eine Verpflichtung – das ist eine Zwischenbemerkung; gehört zur Wahrheit, zu den beiden Seiten der Medaille Sie müssen darauf nicht antworten, wenn Sie nicht wol- dazu. len, können Sie aber natürlich –, für die Zukunft der Rente zu arbeiten, statt zu betrachten, wie es heute ist. Unsere (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verantwortung als Politikerinnen und Politiker – so ver- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) stehe ich das jedenfalls – geht über den Tag hinaus. Und In den Jahren nach der Wiedervereinigung war die Auf- gerade die Rentenfrage geht über den Tag hinaus. wertung der ostdeutschen Löhne auch durchaus gerecht- fertigt; denn das Lohnniveau betrug 1992 im Osten nur (Beifall bei der LINKEN) etwa 42 Prozent des Westniveaus. Das war also ein ries- iger Unterschied. Darum war auch die Kompensation, der Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ausgleich durch eine Höherwertung gerechtfertigt. Frau Lötzsch, selbstverständlich haben wir die Ver- Wo stehen wir heute? Ich habe das von dieser Stelle pflichtung, in die Zukunft zu blicken. Mir sind diese schon mehrfach gesagt, aber Sie scheinen es sich einfach Prognosen zum Grundsicherungsbezug auch durchaus nicht zu merken. In Jena beträgt das Bruttoinlandsprodukt bekannt. pro Kopf über 40 000 Euro. In Dortmund, in meinem Wahlkreis, liegt es bei gut 36 000 Euro. In Herne, im (Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Dann ist doch nördlichen Ruhrgebiet, in einer strukturschwachen Re- alles gut!) gion ist das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf etwa Darum schlägt meine Fraktion das Instrument der Garan- 23 000 Euro, also nur fast halb so hoch wie in Jena. Es tierente vor, mit dem die Rente von langjährig Versicher- gibt in Deutschland also Unterschiede in Ost und West. Es ten deutlich über Grundsicherungsniveau aufgewertet ist nicht mehr gerechtfertigt, das an der früheren Grenze wird, und zwar in Ost und West gleichermaßen. Es ist zur DDR festzumachen. also ein vereinigendes Element gegen Altersarmut. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) Bei der Grundsicherung im Alter – da wird in Zukunft In Ansätzen hat ja auch die Große Koalition, wenn- (D) einiges auf uns zukommen, auch aufgrund der Phasen gleich nicht so schön wie wir mit der Garantierente, zu- nach der Wiedervereinigung – ist der Bezug in West- mindest ein Schrittchen in Richtung Grundrente gemacht. deutschland im Moment höher als im Osten. Schauen Das heißt also, es geht nicht darum, aufgrund von regio- Sie sich das hier an. Ich kann Ihnen das auf dieser mit- nalen Zugehörigkeiten in Ost und West Unterschiede zu gebrachten Karte zeigen. Der Grundsicherungsbezug im zementieren oder sogar aufzubauen. Vielmehr geht es Alter ist am niedrigsten in Thüringen und in Sachsen und darum, sich auf Instrumente für die Zukunft zu besinnen, am höchsten zum Beispiel in Berlin und im Ruhrgebiet. die in Deutschland gleiche Lebensverhältnisse herstellen. Das ist das Entscheidende. Frau Präsidentin, ich glaube, Frau Lötzsch möchte mir eine Zwischenfrage stellen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Das hat sie doch gesagt! Was werfen Sie denn Frau Lötzsch Vizepräsidentin Claudia Roth: vor?) Erlauben Sie die Zwischenfrage oder -bemerkung? Ich hatte gerade die Bruttoinlandsprodukte genannt (Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Jetzt Nein und verglichen. Ich könnte dasselbe auch für die Ver- sagen!) dienste machen: Durchschnittsentgelte in ausgewählten Kommunen. Ich habe aber nicht mehr viel Redezeit, des- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): halb stelle ich das auf meiner Seite online, dann können Ja, gerne. Sie das nachlesen. Ich glaube nicht – das will ich abschließend an dieser Vizepräsidentin Claudia Roth: Stelle sagen –, dass die Strategie, die Sie immer wieder Gut. und offensichtlich verfolgen – Sie planen das auch wieder für die nächste Sitzungswoche –, nämlich in besonders Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): aggressiver und verzerrender Weise das Bild vom be- Lieber Kollege Kurth, Sie halten eine sehr emotionale nachteiligten, armen, zu kurz gekommenen Ostdeutschen Rede, haben aber bewiesen, dass Sie meiner Rede über- zu zeichnen, einschlagen wird. Ich glaube nicht, dass sich haupt nicht zugehört haben. Gerade was die Grund- das für Sie auszahlt. Dass diese Strategie nicht aufgeht, sicherungsfrage betrifft, habe ich explizit darauf haben die zurückliegenden Landtagswahlen gezeigt. hingewiesen, dass es im Augenblick weniger Grund- sicherungsempfänger im Osten gibt, dass aber viele Stu- (Manfred Grund [CDU/CSU]: Ja!) 14258 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Markus Kurth (A) Ich befürchte, dass möglicherweise ganz andere – Herr Um noch einmal auf die Vergangenheit zu sprechen zu (C) Straubinger hat schon darauf hingewiesen –, die Sie und kommen: Für die Rentnerinnen und Rentner im Osten wir hier im Parlament nicht wollen, jedenfalls nicht in Deutschlands war die Wiedervereinigung ein großer Ge- einer signifikanten Stärke, von dem profitieren, was Sie winn. Hätten wir damals die Renten eins zu eins umge- hier veranstalten. Sie sollten wirklich noch einmal in sich stellt, würden alle Rentnerinnen und Rentner im Osten am gehen und überlegen, ob Sie strategisch mit der Rhetorik, Hungertuch nagen. Es war eine großartige Solidarleis- die Sie hier betreiben, wirklich auf der Höhe sind. tung der Deutschen, durch eine Sonderregelung im Rentenrecht dafür zu sorgen, dass aus den niedrigen Danke. Renten und den niedrigen Löhnen im Osten doch noch etwas mehr Rente herausgekommen ist, als eine Eins-zu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- eins-Anpassung ergeben hätte. Ich finde, wir sollten den wie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern, gerade auch FDP) den Beitragszahlerinnen und Beitragszahlern im Westen, dankbar sein, dass sie diese großartige Solidarleistung Vizepräsidentin Claudia Roth: gestemmt haben. Vielen herzlichen Dank, Markus Kurth. – Nächster Redner in der Debatte: Peter Weiß für die CDU/CSU- (Beifall bei der CDU/CSU) Fraktion. Was würde diese neue Spaltung Deutschlands, die von den Linken beantragt wird, bedeuten? Ich bin dem Kol- (Beifall bei der CDU/CSU) legen Markus Kurth ausdrücklich dankbar für die Bei- spiele, die er genannt hat. Ich will weitere nennen. Ja, Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): es gibt Unterschiede in Deutschland, zum Beispiel ver- dienen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Schles- Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- wig-Holstein nur 75 Prozent dessen, was die Arbeitneh- legen! Ja, 30 Jahre nach dem Mauerfall – nächstes Jahr merinnen und Arbeitnehmer in meinem Bundesland feiern wir 30 Jahre Wiedervereinigung – ist es höchste Baden-Württemberg verdienen. Das liegt zum Beispiel Zeit, dass auch im Rentenrecht in Ost und West für alle auch an der unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur. Noch Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, für alle, die in das nie ist jemand auf die Idee gekommen, ein eigenes Rentensystem einzahlen, das gleiche Recht zur Anwen- Rentenrecht für Baden-Württemberg oder ein eigenes dung kommt. Es muss der Grundsatz gelten: Jeder Euro, Rentenrecht für Schleswig-Holstein zu beantragen. der in die Rente eingezahlt wird, ist das Gleiche wert. Das wollen wir durchsetzen. Oder kommen wir zum Thema Mieten. In Düsseldorf (B) und München haben wir ein Mietniveau, bei dem der (D) (Beifall bei der CDU/CSU) Rentner schwer daran zu knapsen hat, die Miete zu be- In der letzten Legislaturperiode, ebenfalls in einer zahlen. Das ist im Osten Brandenburgs oder im Bayeri- Großen Koalition – das ist schon erwähnt worden –, ha- schen Wald schon anders. Noch nie ist jemand auf die ben wir ein Gesetz beschlossen, damit diese Angleichung Idee gekommen, ein unterschiedliches Rentenrecht für schnell vonstattengeht. Das bedeutet übrigens, liebe Düsseldorf, München, den Bayerischen Wald oder Ost- Rentnerinnen und Rentner im Osten, dass auch in den brandenburg zu beantragen. kommenden Jahren zum 1. Juli Ihre Rente um einen hö- (Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Die Linke heren Prozentsatz ansteigen wird als im Westen, damit kommt damit noch!) wir es möglichst schnell schaffen, dass der Rentenwert in Ost und West gleich ist und somit auch die Ein Weiteres. Es gibt eine ganze Reihe von Berufen, in Renteneinheit in Ost und West verwirklicht wird. Ich denen ich als Arbeitnehmer im Osten wie im Westen das glaube, das ist ein großer Erfolg, den wir mit unserem gleiche Gehalt beziehen kann. Wenn das neue Spaltungs- gemeinsamen Gesetz zur Rentenanpassung in Ost und gesetz der Linken wirklich umgesetzt würde, würde es West in Gang gesetzt haben. bedeuten, dass jemand, der im Westen lebt, eine geringere Rente als jemand im Osten bekommt. Da mag sich der (Beifall bei der CDU/CSU) Arbeitnehmer im Osten freuen; aber wir hätten selbstver- ständlich einen Aufstand der Rentnerinnen und Rentner, Umso mehr bin ich erstaunt, eigentlich entsetzt, dass weil kein Mensch kapiert, Die Linke heute einen Antrag ins Parlament einbringt, der nichts anderes bedeutet, als dass Ost und West in Zukunft (Helin [DIE LINKE]: Das in Sachen Rentenrecht gespalten sein soll. Sprich, Die stimmt überhaupt nicht!) Linke stellt einen Antrag, eine neue Rentenmauer zwi- dass man bei gleichem Lohn, bei gleicher Einzahlung in schen Ost und West zu bauen. Das ist die Wahrheit, die die Rentenversicherung unterschiedliche Renten bekom- die Menschen in Deutschland im Westen und Osten zur men soll. Kenntnis nehmen sollten. Wir wollen keine neue Rentenmauer, die Deutschland teilt, sondern wir wollen (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das ein einheitliches Rentenrecht für alle Arbeitnehmerinnen stimmt gar nicht!) und Arbeitnehmer in Deutschland. – Doch, so ist es. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Deswegen eine klare Ansage: Es ist gut, dass wir in der Abgeordneten der FDP) letzten Legislaturperiode das Gesetz zur Renteneinheit Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14259

Peter Weiß (Emmendingen) (A) geschaffen haben und dass wir in wenigen Jahren tatsäch- Linken stehen in Regierungsverantwortung. Der Regie- (C) lich den gleichen Rentenwert im Osten wie im Westen rungschef in Thüringen, was macht der denn für die haben. Und dass wir Unterschiede in Deutschland haben, Schäfchen in seinem Land? was die Lebenshaltungskosten anbelangt, was die Ein- kommensmöglichkeiten anbelangt, was die Industrie- (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Wir haben das und Wirtschaftsstruktur anbelangt, ja, das ist eine Reali- schon tausendmal beantragt! Auch im Bundes- tät. Deswegen auch unsere Idee, mehr zu tun für gleich- rat! Gucken Sie sich mal die Bundesratsproto- wertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland. Das ist kolle an!) ja kein Ost-West-Problem, das ist auch kein Nord-Süd- Was macht der Herr Ramelow? Er macht nichts. Problem; es betrifft uns alle. Aber im Rentenrecht sollten wir eines durchsetzen: Gleiches Recht für alle und nicht (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Natürlich!) eine neue Rentenmauer à la links. Er kann es nicht tun, weil er die Ostdeutschen nicht ver- (Beifall bei der CDU/CSU) steht. (Beifall bei der AfD) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Der nächste Redner: für die AfD-Fraktion der Kollege Ich sage Ihnen eins: Es reicht nicht aus, hier mit einem Jürgen Pohl. Antifa-Abzeichen rumzulaufen; nein, man muss sich um seine Wähler kümmern. Das ist das, was Sie nicht kön- (Beifall bei der AfD) nen. Jürgen Pohl (AfD): (Beifall bei der AfD – Markus Kurth [BÜND- Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrter Herr NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn Ihre Präsident! Sprechen wir heute mal nicht übers Klima, Rentenpolitik? Sie haben doch gar kein Kon- sondern zur Abwechslung über die Rente. Das ist gut zept!) so; denn die Rente ist ein Thema. Sie ist das wohl wich- tigste Thema der kommenden Jahre – dies, weil dieses Die Thüringer Kollegin Renner hat es gestern bewiesen: Land jedes Jahr ein Millionenheer an Armutsrentnern Sie sind nicht in der Lage, sich mit wichtigen Themen produziert, weil die Blockparteien von CDU, SPD, FDP auseinanderzusetzen. und Grünen die Menschen bewusst in die soziale Not Liebe Kolleginnen und Kollegen – ich habe nicht so geführt haben. viel Zeit –, heute, 30 Jahre nach der Einheit, liegen die (B) (Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE Löhne im Osten im Durchschnitt immer noch gut 21 Pro- (D) GRÜNEN]: Wo ist denn Ihr Rentenkonzept?) zent unter dem Westniveau. Das wird hier heute verges- sen. Das glauben Sie nicht, liebe Abgeordnete? (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Ihr seid doch (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- gegen den Mindestlohn! Die AfD ist doch ge- NEN]: Wo ist denn das Rentenkonzept der gen den Mindestlohn!) AfD? – Dr. Matthias Bartke [SPD]: Wo ist Ihr Rentenkonzept? Sagen Sie mal! – Weiterer Zu- Wer im Osten arbeitet, erhält eben nicht nur weniger Lohn ruf des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn für die gleiche Arbeit; er wird auch eine deutlich niedrig- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ere Rente erhalten. Das gilt umso mehr, wenn wir den – Hören Sie doch einfach mal zu. Quatschen Sie nicht Höherwertungsfaktor abschaffen. Die Ostrente bleibt da- dazwischen. Schauen Sie doch einfach mal hoch; da oben mit auf lange Zeit eine Rente zweiter Klasse. schauen Ihre Wähler zu. Die wollen das sehen, auch die (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Ihr seid doch von der SPD. Wir kommen noch dahin. eine Unternehmerpartei! – Dr. Matthias Bartke Ich sage Ihnen: Die Rente ist das Ergebnis Ihrer Wirt- [SPD]: Was wollen Sie denn? Sagen Sie doch schafts- und Sozialpolitik in 30 Jahren Einheit. Die sozia- mal, was Sie wollen! – Markus Kurth [BÜND- le Not von Millionen Alten hält Ihnen den Spiegel vor. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch kein Wenn Sie da hineinschauen, dann blicken Sie in den Ab- Konzept! Sie haben doch kein Programm!) grund von wirtschafts- und sozialpolitischer Verantwor- Den SPD-Wählern unter Ihnen, den Menschen draußen tungslosigkeit. an den Fernsehschirmen, sei noch mal gesagt, dass Frau (Beifall bei der AfD – Dr. Wolfgang Kolbe erklärt hat: Die SPD steht nicht für die Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Rentenangleichung und steht nicht für die Beibehaltung NEN]: Wo ist Ihr Rentenkonzept?) des Höherwertungsfaktors. Altersarmut ist das Ergebnis Ihrer Politik. (Beifall bei der AfD) Und nun wollen die Genossinnen und Genossen zu Liebe Ost- und Mitteldeutsche, ich sage Ihnen: Wir meiner Linken umgehend die Ostrenten an das Westni- waren nicht willkommen; wir waren nur billige Arbeits- veau angleichen. Gegen eine Rentenerhöhung im Osten kräfte. habe ich überhaupt nichts einzuwenden. Aber ich frage: Warum muss das erst jetzt von den Linken kommen? Die (Beifall bei Abgeordneten der AfD) 14260 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Jürgen Pohl (A) Obwohl sie Gleiches leisten, bekommen meine Brüder einen aggressiven Kapitalismus betrieben und hat kaum (C) und Schwestern nicht die Rente der westdeutschen Rücksicht genommen. Brüder und Schwestern. Meine ostdeutschen Freunde, (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: LINKEN) Ich bin nicht Ihre Freundin! Ich verbitte mir das!) Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir können die Fehler von früher nicht rückgängig machen. Doch wir ich muss Ihnen sagen: Auf diese Parteien, die die Kiste in können heute politische Ideen nutzen, die das Leben von den Dreck gefahren haben, brauchen Sie nicht zu hoffen. Millionen von Menschen verbessern. Für uns Sozialde- Danke schön. mokratinnen und Sozialdemokraten ist eins klar: Wir werden an der Grundrente festhalten. (Beifall bei der AfD – Markus Kurth [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Plan! Keine (Beifall bei der SPD) Ideen!) Denn wir wollen die Lebensleistungen von allen Men- schen würdigen. Wer sein ganzes Leben gearbeitet hat, Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: der muss von seiner Rente leben können. Das ist, wie eins Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege und eins zusammenzurechnen. In Ostdeutschland würde Dr. Karamba Diaby. alleine die Grundrente sofort 750 000 Frauen und Män- nern helfen. Deutschlandweit würde die Grundrente (Beifall bei der SPD) 3,5 Millionen Menschen ein besseres Leben ermöglichen und ihre Lebensleistung würdigen. Wir dürfen nicht mehr Dr. Karamba Diaby (SPD): warten, meine Damen und Herren. Unsere Aufgabe als Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Da- Politikerinnen und Politiker ist es, nicht nur zu schauen men und Herren! In meiner Heimat Halle an der Saale lebt und auf Probleme hinzuweisen, sondern zu handeln. eine Frau, die über 70 Jahre alt ist. Sie hat über 35 Jahre als Buchbinderin gearbeitet. Sie könnte jetzt die Zeit mit (Beifall bei der SPD) ihrem Mann, der Lackierer war, genießen. Da sie nur Meine Damen und Herren, das sind wir nicht nur der 540 Euro Rente bekommt und ihr Mann nur 720 Euro 70-jährigen Buchbinderin und ihrem Ehemann aus Halle Rente, ist das Genießen des Lebens leider nicht so leicht. schuldig, sondern allen Menschen, deren Lebensleistun- Dabei haben beide ihr ganzes Leben gearbeitet. Das finde gen nicht anerkannt werden. Deshalb sage ich: Grund- ich ungerecht. (B) rente jetzt! (D) (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Uns allen ist klar, dass wir mehr für die Rentnerinnen und Rentner machen müssen. Mit dem Renten-Überlei- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: tungsgesetz sind zum Januar 1992 für einen Übergangs- Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege Till zeitraum abweichende Berechnungsgrößen entstanden. Mansmann. Das lag am Lohnniveau, das damals vorherrschte. Wir haben mit einem Rentenwert von 10,79 Euro angefangen (Beifall bei der FDP) und liegen heute bei 31,89 Euro. Dennoch liegen die Ost- renten noch nicht auf Westniveau. Das ist unerträglich. Till Mansmann (FDP): Ich bin deshalb froh darüber, dass wir die Angleichung Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen in sieben Schritten bis 2024 vollenden werden. Dann gibt und Kollegen! Die Renten in Ost- und Westdeutschland es einen einheitlichen Rentenwert. Zur Wahrheit gehört hatten und haben aus nachvollziehbaren Gründen eine aber auch, dass man sagt: Im Gegenzug wird der Höher- unterschiedliche Dynamik. Mit ein wenig Distanz und wertungsfaktor, mit dem heute die Ostrenten so aufge- Vernunft betrachtet: Gerade bei der Synchronisierung stockt werden, als wäre die Lohngleichheit zwischen der Renten in beiden Teilen Deutschlands wurde und wird Ost und West bereits heute erreicht, schrittweise zurück- bis heute bei der Mammutaufgabe deutsche Einheit eine geführt. wirklich gute Arbeit geleistet. Frau Kollegin Lötzsch, Sehr geehrte Damen und Herren, keine Frage: Die Er- man muss an dieser Stelle doch mal klar sagen: Eine Un- werbsbiografien unterscheiden sich in Ost und West. Auf- ordnung ist meistens viel schneller angerichtet, als man grund der massiven wirtschaftlichen Umbrüche nach der nachher zum Aufräumen braucht. Die SED, Ihre Partei, Wende waren die ostdeutschen Kolleginnen und Kolle- hat in der DDR 40 Jahre lang genau diese Unordnung gen stärker von Arbeitslosigkeit betroffen. Sie mussten angerichtet, die Helmut Kohl und Hans-Dietrich Gen- häufiger den Job wechseln, mehr Umschulungen machen. scher später aufgeräumt haben. Auch meine Frau und ich waren davon betroffen. Ich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten kenne viele Geschichten. Als ich nach der Wende meine der CDU/CSU) Promotion über die Schwermetallbelastung in halleschen Schrebergärten geschrieben habe, kam ich über den Gar- Wir sind mit 2025, wenn wir die Renteneinheit in tenzaun hinweg mit vielen von ihnen ins Gespräch, vor Deutschland geschafft haben, schneller als Sie mit Ihrer allem über die Treuhand. Das Ergebnis: Die Treuhand hat Unordnung. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14261

Till Mansmann (A) (Stefan Liebich [DIE LINKE]: Aber nicht Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) viel!) Der Kollege Albert Weiler ist der nächste Redner für Das ist eine hervorragende Leistung. die CDU/CSU-Fraktion. Mein Kollege Johannes Vogel hat Ihnen die groben (Beifall bei der CDU/CSU) Fehler, die Sie mit Ihrem Konzept machen, ausreichend dargelegt. Ich möchte die knappe Zeit hier nutzen, um auf Albert H. Weiler (CDU/CSU): einige kleinere Aspekte hinzuweisen, die Sie in Ihrem Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Antrag aufwerfen. Herren auf der Tribüne! Werte Kolleginnen und Kolle- So werfen Sie zum Beispiel absolute Armut und rela- gen! Bevor ich jetzt mit dem Sachlichen anfange, werde tive Armutsgefährdung wie immer total durcheinander. ich etwas Ungewöhnliches, aber Notwendiges tun. Ich Das kann man so nicht stehen lassen. Wer von falschen setze mir eine Kippa auf den Kopf und werbe dafür, dass Voraussetzungen ausgeht, kommt logisch meist zum fal- in Deutschland, speziell in Berlin, keine Demonstrationen schen Schluss. mehr gegen Israel und für Antisemitismus stattfinden. Die Quote der Armutsgefährdung hat sich in den neuen (Beifall bei der CDU/CSU, der AfD und der Bundesländern erfreulich entwickelt. Der von Ihnen vor- FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und geschlagene Weg setzt einseitig auf staatliche Maßnah- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und men. Das wird uns aber nicht weiterbringen. Was wir der Abg. Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE LIN- brauchen, ist etwas ganz anderes. Der Osten Deutsch- KE]) lands ist nach vielen schwierigen Jahren in einigen Ge- Das hat in den letzten zwei Tagen stattgefunden, und ich bieten bewundernswert dynamisch: in Leipzig, in Dres- glaube oder hoffe sehr, dass es das letzte Mal war. den, im Umland von Berlin. Diese Entwicklung müssen wir stärken und in die Fläche tragen – darauf ist schon viel Ich komme jetzt zum eigentlichen Thema. Meine Da- hingewiesen worden –, auch nach Westdeutschland, wo men und Herren von den Linken, ich würde mir wün- mittlerweile ähnlich strukturschwache Gebiete wie im schen, dass Sie irgendwann mal inhaltlich neue Anträge Osten existieren. stellen würden. Das ist heute schon ein paarmal gesagt worden. Ich stelle fest, dass immer wieder gleiche An- Wir brauchen weniger Bürokratie bei Neugründungen träge kommen, in denen Gleiches erzählt wird. Die An- von Unternehmen. Wir können statt mit steuerlichen träge werden dadurch nicht besser, wenn sie zum zehnten Mehrbelastungen, wie Sie sie immer vorschlagen, mit Mal gestellt werden. Trotzdem werde ich mir erlauben, Entlastung von denen beginnen, die mit Kraft und Ideen Ihnen den Sachverhalt nochmals zu erklären, und hoffe (B) neue Firmen gründen. Das sind die Leute, die Arbeits- (D) auf baldiges Verständnis. plätze schaffen und das Steueraufkommen der Zukunft vorbereiten. Genau dies brauchen wir anstelle der von Der Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit, Ihnen immer wieder vorgelegten Konzepte. der in dieser Woche von der Bundesregierung vorgestellt Einen Punkt will ich noch ansprechen. Sie fordern wie- wurde, zeigt insgesamt eine positive gesamtdeutsche Ent- der einen Mindestlohn von 12 Euro. Es ist wirklich er- wicklung; auch das wurde heute schon gesagt. Dazu ge- staunlich. Im Wahlkampf 2017, als wir Freie Demokraten hört, dass wir mit dem bereits verabschiedeten uns auf den Wiedereinzug vorbereitet haben, habe ich das Rentenüberleitungs-Abschlussgesetz eine Angleichung auf einer Podiumsdiskussion mit einer Kollegin von den der Ostrenten an Westniveau festgelegt haben. Diese An- Sozialdemokraten, die heute Ministerin ist, diskutiert. Sie gleichung erfolgt schrittweise bereits seit 2018. Wir hal- hat mir gesagt, um dieses Thema bräuchte ich mich gar ten unser Versprechen und schaffen Rentengerechtigkeit nicht zu kümmern, weil es ohnehin ein Expertengremium in Ost und West. Davon werden insgesamt 6 Millionen festsetzen würde. Das wäre doch keine Aufgabe des Par- Menschen profitieren. Zu diesem notwendigen Schritt ge- laments. Und dann frage ich mich, warum ich das Thema hört allerdings auch, dass der Umrechnungsfaktor, der nun, glaube ich, zum dritten Mal in den letzten zwei Jah- jetzt noch den ostdeutschen Rentner besserstellt, im glei- ren auf den Tisch bekommen habe. Hören Sie doch ein- chen Zeitraum langsam gesenkt wird. Dieser Umrech- fach damit auf. Das ist einfach die falsche Systematik. nungsfaktor gleicht seit Jahren schon das niedrige Lohn- Das ist nämlich genau die Systematik, mit der Sie 40 Jahre niveau in Ostdeutschland an. Ich sehe natürlich das lang die DDR in die Grütze geritten haben. Problem, dass kleinere Löhne im Alter auch zu kleineren Renten führen. Aber das, meine Damen und Herren, ist in (Beifall bei der FDP) Ost und in West gleich. Kurz zusammengefasst: Es ist einfach unverantwort- Aus diesen Gründen müssen wir uns für eine Erhöhung lich, wenn wir uns immer nur auf staatliche Maßnahmen der Löhne im Rahmen der Sozialpartnerschaft starkma- verlassen. Wir müssen schauen, wie wir die Wirtschaft chen. Ich persönlich ermutige seit Jahren sowohl Arbeit- auf den Stand bringen, dass wir die Einkommen erzeugen geber als auch Arbeitnehmer, die Tarifbindung zu stär- können, die nachher für gute Renten sorgen. Wie gesagt, ken. Die Sozialpartnerschaft in Deutschland ist ein 2025 haben wir die Renteneinheit erreicht. Freuen wir uns Erfolgsmodell, weil hier im Dialog die Ansprüche der auf diesen Augenblick. Arbeitnehmer und die wirtschaftliche Stärke der Unter- Vielen Dank. nehmen im fairen Dialog miteinander abgewogen wer- den. Aus diesem Grund bin ich auch nicht für eine staat- (Beifall bei der FDP) lich verordnete Mindestlohnregelung. Im Grundgesetz ist 14262 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Albert H. Weiler (A) die Tarifautonomie festgeschrieben. Wir als Gesetzgeber Frank Heinrich (Chemnitz) (CDU/CSU): (C) dürfen diese nicht hintergehen. Die Einführung des allge- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und meinen Mindestlohnes war eine sorgfältig geprüfte Aus- Kollegen! Werte Zuhörer! Am Ende einer Debatte hat nahme, aber es war eine Ausnahme. Seitdem ist die ein- man Vor- und Nachteile. Vorteil ist, man hat schon viel gesetzte Mindestlohnkommission für eine Anpassung des gelernt. Nachteil ist, dass das meiste, was man selber allgemeinen Mindestlohnes zuständig, und das ist auch sagen wollte, schon gesagt worden ist. Ich versuche, es richtig so. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch ein bisschen zusammenzufassen. Letztlich geht es um noch darauf hinweisen, dass in vielen Bereichen die Bran- drei Fragen: Woher kommen wir in dieser Systematik? chentarifverträge häufig bereits höhere Mindestlöhne Wo stehen wir gerade? Und wo wollen wir hin? vorsehen. Ich mache mich deshalb nachdrücklich noch- mals dafür stark, dass auch in Ostdeutschland Tarifbin- Die erste Frage. Wir kommen von – vor 30 Jahren – dung stattfindet und die Menschen sich tariflich orientie- sehr unterschiedlichen Versorgungssystemen in BRD und ren. DDR. Die Leistungen wurden grundlegend unterschied- lich bewertet, berechnet. Das DDR-Rentensystem war ein Als Thüringer Bundestagsabgeordneter setze ich mich Grundversorgungssystem mit festen Altersgrenzen und neben der sozialen Einheit auch für eine Vollendung der war nur gering an Entgelten orientiert. Gerade mal 30 wirtschaftlichen Einheit ein. Die ostdeutsche Wirtschaft bis 40 Prozent des durchschnittlichen Arbeitseinkom- wächst, hat aber sicherlich immer noch Defizite. Damit mens wurden an die Rentner ausbezahlt. Auch Gering- die Wirtschaft in Ostdeutschland international wettbe- verdiener konnten eine Rente ganz nahe der Höhe der werbsfähig bleibt, brauchen wir mehr Investitionen in Durchschnittsrente bekommen. 1992 wurde es dann in Bildung, Innovationen und Infrastruktur, aber keine Er- das gesamtdeutsche Rentenversicherungssystem über- höhung der Sozialausgaben. Eine starke Wirtschaft bildet führt, was sehr komplexe und komplizierte Mathematik die Grundlage für höhere Löhne und bessere Renten. zum Hintergrund hatte. 27 Zusatz- und 4 Versorgungs- systeme der DDR wurden durch das Anspruchs- und An- Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, Sie wartschaftsüberführungsgesetz in die gesamtdeutsche stellen hier kurz vor den Landtagswahlen in Thüringen Rentenversicherung eingefügt. riesige Forderungen auf, Wo stehen wir heute? Vorhin haben wir den Bericht der (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Nein, nicht Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit de- davor!) battiert, auch mit unterschiedlichen Konnotationen – na- türlich. Die Wirtschaftskraft Ostdeutschlands ist von ohne auch nur einen Gedanken an die Finanzierung und 43 Prozent vor 30 Jahren im Jahre 2018 auf 75 Prozent (B) die Nachhaltigkeit Ihres Antrages zu verschwenden. des westdeutschen Niveaus gestiegen; das ist nahezu der (D) Durchschnitt in der Europäischen Union. Bruttolöhne (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Auch das und verfügbare Einkommen der privaten Haushalte errei- stimmt nicht!) chen heute etwa 75 Prozent des Westniveaus, womit wir Sie spielen hier Junge und Alte, Ostler und Westler, Ar- uns am Schluss natürlich nicht zufriedengeben. Das be- beitnehmer und Arbeitgeber gegeneinander aus. streitet natürlich keiner; die Kollegin Kolbe hat es bereits gesagt. (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Alles Der Abstand reduziert sich noch mal erheblich – zu- falsch!) mindest in einigen Bereichen – unter Berücksichtigung Sie erreichen damit eine Spaltung der Gesellschaft und unterschiedlicher durchschnittlicher Lebenshaltungskos- wollen sich auch noch für diese Spaltung starkmachen. ten. Da sind natürlich noch Herausforderungen, zum Bei- Wir wollen das Gegenteil, nämlich die Vollendung der spiel die Unterschiede in der Wirtschaftskraft. Dies liegt – deutschen Einheit. wir haben es bereits gehört – an der Kleinteiligkeit der ostdeutschen Wirtschaft, am Mangel an Konzernzentra- (Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Ja wann len im Osten. Natürlich kann man das bemitleiden. Dort denn?) fehlen große Unternehmen. Die Siedlungsstruktur ist eine andere. Es gibt kein einziges ostdeutsches Unternehmen Versuchen Sie es doch mal mit Ehrlichkeit und ohne Po- im Börsenleitindex DAX. Kein großes Unternehmen hat pulismus. Dann rücken wir sicher auch näher zusammen. seine Zentrale in Ostdeutschland. Daran müssen wir ar- Danke schön. beiten, und wir sind dabei, daran zu arbeiten. Aber dies gleich, wie Sie, Frau Lötzsch, es getan haben, mit der Zeit (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Till Thatchers zu vergleichen, finde ich nicht nur einen Äpfel- Mansmann [FDP] – Helin Evrim Sommer [DIE mit-Birnen-Vergleich, das ist schon jenseits von Mathe- LINKE]: Es sind 30 Jahre vergangen! Wann matik. denn?) Wohin wollen wir? Gleiches Rentenrecht in Ost und West. Dafür ist der Fahrplan schon festgesetzt; mehrere Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Kollegen haben das erklärt. Am 1. Juli 2024 wird es ver- Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt: der einheitlicht sein. Aber es gibt zwei Seiten der Mathema- Kollege Frank Heinrich, CDU/CSU-Fraktion. tikaufgabe „Renten“. Parallel wird die Hochwertung der Verdienste im Osten stufenweise reduziert. Aha! Wie (Beifall bei der CDU/CSU) mein Kollege Vogel muss auch ich hin und wieder erklä- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14263

Frank Heinrich (Chemnitz) (A) ren, was das offensichtlich bedeutet. In meinem Wahl- Nicht nur beraten wir in diesem Hohen Hause seit dem (C) kreis bekommt man einen Rentenpunkt um 3 000 Euro 10. September den Bundeshaushalt 2020, sondern nach billiger als in dem Wahlkreis meiner Partnerstadt Düssel- der Einigung des Klimakabinetts am letzten Freitag wird dorf. Dort mag der eine oder andere ziemlich sauer wer- die Bundesregierung nun in der kommenden Woche den den, wenn das auf einmal eingestampft wird. Wir werden Ergänzungshaushalt mit dem EKF-Wirtschaftsplan be- der Mathematik des ausgeklügelten Herangehens an eine schließen, sodass wir dann die Vorlagen für den Bundes- Angleichung nicht mehr gerecht. Es entstehen neue Un- haushalt komplett haben und in die Beratungen einsteigen gerechtigkeiten, sozialer Sprengstoff – den Sie dann werden. Neben dem Ausbau des schienengebundenen wahrscheinlich wieder nutzen werden –, eine enorme und des metropolenbezogenen Verkehrs beträgt das Volu- Steuerlast. men des Klimapaktes allein in den kommenden vier Jah- ren bis 2023 54 Milliarden Euro. Wenn ich alles zusammenfasse, kann ich sagen: In den Jahren nach der Wende war dies letztlich die wahrschein- (Beifall bei der SPD) lich größte sozialpolitische Leistung der deutschen Ein- heit; mein Kollege Straubinger hat darauf hingewiesen. Auch in der Steuerpolitik ist einiges auf dem Weg. Wir Wenn wir die gerade von mir genannten 3 000 Euro ein- wollen das Steuerrecht gerechter machen. Deshalb setzen fach in den Skat drücken würden, dann wäre es tatsäch- wir den Share Deals zur Umgehung der Grund- lich so, als würde man, wie Herr Straubinger gesagt hat, erwerbsteuer Schranken. Darüber werden wir nachher ja die „Axt an unser demokratisches Staatsgefüge“ legen, noch vertieft diskutieren. Ebenfalls wollen wir Menschen oder es wäre, wie mein Kollege von der FDP gesagt mit kleinen und mittleren Einkommen, die Mitte der Ge- hat, eine „neue krasse Ungleichbehandlung“, und dafür sellschaft, entlasten – mit Kindergeld und weniger sind wir nicht zu haben. Steuern für diese Einkommensgruppen. Danke für die geschätzte Aufmerksamkeit. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Zur Steuergerechtigkeit gehört aber auch, dass finanz- ielle Belastungen fair verteilt werden. Wir haben in dieser Woche viel über den Stand der deutschen Einheit disku- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: tiert, und wir wissen, dass hier noch weitere Anstrengun- Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich schließe die Aus- gen notwendig sind. Wir halten es aber für richtig, das sprache. Gros der Bevölkerung vom Solidaritätszuschlag zu ent- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf lasten, und wir halten es für absolut angemessen, bei Drucksache 19/10285 an den Ausschuss für Arbeit und wirklichen Spitzenverdienern weiterhin den Solidaritäts- (B) Soziales vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – zuschlag zu erheben. (D) Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos- (Beifall bei der SPD) sen. Ich bin auch der Meinung – wie sich ebenfalls der Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 30: Bundesfinanzminister vorgestern in der Regierungsbefra- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gung geäußert hat –, dass wir über weitere Maßnahmen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur weiteren wie beispielsweise die Vermögensteuer offen nachdenken steuerlichen Förderung der Elektromobilität sollten. und zur Änderung weiterer steuerlicher Vor- schriften Wir wollen zudem, dass das Steuerrecht auch wirklich steuert und unser großes gemeinsames Ziel unterstützt, Drucksache 19/13436 den Klimawandel einzudämmen. Hierzu leistet das Gesetz zur weiteren steuerlichen Förderung der Elektro- Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) mobilität und zur Änderung weiterer steuerlicher Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Vorschriften, welches wir gerade diskutieren, einen wich- Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit tigen Beitrag. Das, was sonst schlicht das Jahressteuerge- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung setz ist, macht schon im Namen sein Hauptanliegen deut- Ausschuss für Kultur und Medien Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO lich: Wir wollen die E-Mobilität deutlich besser fördern. Interfraktionell sind für die Aussprache 38 Minuten (Beifall bei der SPD) vereinbart. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das Die steuerliche Förderung von Elektroautos und Plug- so beschlossen. in-Hybriden als Dienstwagen lassen wir nicht 2021 en- Ich erteile als Erstes der Parlamentarischen Staatssek- den, sondern verlängern sie bis mindestens Ende 2030. So retärin Sarah Ryglewski das Wort. schaffen wir Planungssicherheit und Anreize für langfris- tige Investitionen. Wir wollen auch die Steuerbefreiung (Beifall bei der SPD) für das Aufladen von E-Autos im Betrieb und für die Bereitstellung von Dienstfahrrädern verlängern und bis Sarah Ryglewski, Parl. Staatssekretärin beim Bun- 2030 laufen lassen. desminister der Finanzen: Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Der Hinweis sei mir erlaubt: Wir haben in der Vergan- Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir genheit die Erfahrung gemacht, dass die steuerliche För- erleben derzeit wichtige Wochen für die deutsche Politik. derung von Fahrzeugen allein nichts nützt. Deswegen ist 14264 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Parl. Staatssekretärin Sarah Ryglewski (A) im Klimapaket vorgesehen, massiv in die Ladeinfrastruk- (Beifall bei der AfD) (C) tur zu investieren. Kay Gottschalk (AfD): (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen der CDU/CSU) und Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Heute sprechen wir Wir schauen aber nicht nur auf den motorisierten Indi- in erster Lesung – Sie haben es vorgestellt – über das vidualverkehr, sondern wir wollen auch Menschen, die sogenannte Jahressteuergesetz 2019. Im letzten Jahr hieß andere Verkehrsmittel nutzen, besser unterstützen. Des- diese Mogelpackung noch Familienentlastungsgesetz. wegen wollen wir, dass Jobtickets ab 2020 pauschal be- Ich habe es Scheinheiligkeitsplacebogesetz genannt, weil steuert werden, ohne dass dies auf die Entfernungspau- Sie Ihren dreisten Raub am Progressionsbauch, der ver- schale angerechnet wird. fassungsrechtlich verordnet ist, nur dem Steuerzahler zu- rückgeben. Hier wird nichts entlastet. (Beifall bei der SPD) Heute trägt es den hochtrabenden Namen „Gesetz zur Klar ist: Wir müssen gerade im wichtigen Sektor Ver- weiteren steuerlichen Förderung der Elektromobilität und kehr die CO2-Bilanz deutlich verbessern. Ich glaube, dass zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften“. Man wir mit diesem Gesetz dazu einen Beitrag leisten. Wichtig sieht also die Verschiebung der Prioritäten dieser Regie- ist, dass wir bei allen Maßnahmen des Klimaschutzes rung: weg vom dreisten kaschierten Steuerklau am ehr- dafür sorgen, dass wir die Akzeptanz, die wir jetzt gerade lichen Bürger hin zum Klimawahn, der nun Einzug in die erreicht haben, auch wirklich dauerhaft und langfristig deutsche Gesetzgebung hält – mit Systembruch, was ich sichern. Deswegen müssen wir hier sehr sensibel vorge- aufführen werde. hen – „Fördern und Fordern“, das klassische Mantra, das wir ja regelmäßig bemühen. Für uns als AfD gibt es gute Gründe, dem Gesetz später vielleicht zuzustimmen. Gleichwohl gibt es leider auch Ein weiteres politisches Megathema ist der bezahlbare sehr viele Gründe, das Gesetz abzulehnen. Wir werden Wohnraum; auch dieses Thema greifen wir im Jahres- die Angelegenheit daher im Verlaufe der Beratungen auf- steuergesetz auf. Konkret möchte ich zwei Maßnahmen merksam und konstruktiv verfolgen, in der Hoffnung, nennen: Zum einen diskutieren wir darüber, wie wir alter- dass einige Punkte noch geändert werden. native Wohnmodelle, beispielsweise „Wohnen für Hilfe“, unter bestimmten Bedingungen, die wir genau definieren Kommen wir zum eigentlichen Thema, zur Elektromo- müssen, steuerfrei stellen können. Zum anderen senken bilität – ein neuer Fetisch der Handelnden hier in Berlin –, wir die Steuerbelastungen von Arbeitnehmerinnen und dem edlen Namensgeber dieses Gesetzes. Zukünftig sol- Arbeitnehmern, die in einer Mietwohnung ihres Arbeit- len also Unternehmer, die für ihren Betrieb Elektrowagen (B) gebers wohnen. anschaffen, neben der linearen Abschreibung eine Son- (D) derabschreibung von 50 Prozent erhalten. Meine Damen Einen letzten Punkt aus dem Jahressteuergesetz möch- und Herren, viele Verbände kritisieren dies zu Recht. Sie te ich noch aufgreifen: die steuerliche Gleichbehandlung sagen, das sei eine Ungleichbehandlung. Der Bund der von elektronischen Veröffentlichungen und Printproduk- Steuerzahler empfiehlt gar eine degressive AfA zur För- ten. Künftig gilt auch für E-Books und E-Paper der redu- derung aller innovativen Wirtschaftsgüter. Das blenden zierte Mehrwertsteuersatz. Und nicht nur das: Diese Be- Sie in Ihrem Elektrowahn aber völlig aus, ähnlich wie günstigung kann nun auch auf den umfassenden Zugang schon einmal bei Windrädern, Solar usw. Die Strompreise zu Datenbanken, die ausschließlich elektronische Bücher, auf Ihrer Rechnung kennen Sie alle. Zeitungen, Zeitschriften oder Teile davon zur Verfügung stellen, ausgeweitet werden. Ein kleiner Versatz an dieser Stelle: Wir waren mit unserer Finanzdelegation in China. Dort wendet man sich (Beifall bei der SPD) bereits, weil man sich da in einer Sackgasse befindet, der – Ja, da kann man gerne klatschen. – Das war zum Zeit- Wasserstofftechnologie zu. Meine Damen und Herren, punkt der Erstellung des Regierungsentwurfes noch nicht gehen Sie mit der Elektromobilität nicht in die nächste möglich bzw. noch nicht geklärt. Wir würden uns doch Energiesackgasse, führen Sie nicht ganze Wirtschafts- sehr freuen, wenn das noch aufgegriffen würde. Denn ich zweige in den Ruin. sage ganz deutlich: In Zeiten, in denen in den sogenann- (Beifall bei der AfD – Sebastian Brehm [CDU/ ten sozialen Medien viel Fake News verbreitet werden, ist CSU]: Wasserstoff ist auch elektrisch! Der das, glaube ich, ein wichtiger Beitrag, um die Medien als Elektromotor!) vierte Gewalt zu stärken und zu ermöglichen, dass sie im Zeitalter der Digitalisierung ihre Rolle ausfüllen. Gut am Gesetzentwurf ist, dass die Pauschalen endlich angepasst werden sollen; das habe ich in meiner Rede im Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Ich freue mich letzten Jahr bereits angemerkt. So wird die Verpflegungs- auf die weiteren Beratungen. pauschale erhöht. Nichtsdestotrotz muss ich wieder an- führen, dass es immer noch Freigrenzen, Pauschalen und (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Freibeträge gibt, die teilweise seit Jahrzehnten nicht an- der CDU/CSU) gepasst worden sind, so zum Beispiel der Werbungskos- tenabzug für sonstige Einkünfte. Der Werbungskostenab- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: zug für Renten – ein Thema, das Sie selbst angesprochen Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Der nächste haben – ist seit 1954 – ein Helmut Rahn schoss damals ein Redner ist für AfD-Fraktion der Kollege Kay Gottschalk. Tor zur Fußballweltmeisterschaft – unangetastet, der Be- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14265

Kay Gottschalk (A) hindertenpauschbetrag seit 1975 und der Pflegepauschbe- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (C) trag seit 1990. Jetzt wollen Sie von der CDU/CSU viel- Herr Kollege, die Zeit ist abgelaufen. leicht die Pendlerpauschale angehen. Meine Damen und Herren, das ist ein Unding. Wir als AfD-Fraktion sind der Kay Gottschalk (AfD): Meinung, dass alle Pauschalen, alle Freigrenzen und alle Sofort. – Meine Damen und Herren, Sie ignorieren das Freibeträge indexiert gehören. Wir haben das hier letztes und begehen seit 2015 offenen Verfassungsbruch. Jahr im Übrigen mit dem Tarif auf Rädern vorgeschlagen. Das ist aber breit abgelehnt worden, weil Sie Ihren Zu- griff, Ihre Steuerkrallen weiter in den Gusto Ihrer Belie- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: bigkeit stellen wollen und nicht an einem Tarif auf Rä- Herr Kollege! dern, der eine Indexierung aufgrund der tatsächlichen Lebenshaltungskosten vornimmt, interessiert sind. Kay Gottschalk (AfD): Ich stelle also zum Thema Jahressteuergesetz abschlie- (Beifall bei der AfD) ßend fest: Entweder drehen Sie die Gesetze so, wie Sie Mehr noch. Wir teilen sogar die Auffassung des Bun- die gerne hätten, oder Sie setzen einen Verfassungsbruch des der Steuerzahler – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsi- fort. Das ist Ihre Politik im Jahr 2019. denten –: Den Bürgern kann wirklich nicht vermittelt werden, dass Werte, die zu ihren Gunsten wirken, jahre- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: lang, jahrzehntelang nicht aktualisiert werden. Damit bil- Es ist jetzt gut, Herr Kollege. den sie nämlich die Realität nicht mehr ab. – Dies wäre im Übrigen auch ein Beitrag zur Steuervereinfachung. Viel- Kay Gottschalk (AfD): leicht finden Sie, wenn Sie das täten, dort die 3 700 Be- Wir werden die Beratungen konstruktiv begleiten. amten, die Ihnen für Ihre vermurkste Grundsteuerreform fehlen, damit sie wenigstens administrierbar ist. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei Abgeordneten der AfD) (Beifall bei der AfD) Aber anstatt Steuergesetze endlich zu vereinfachen, will man nun sogar einen vollständigen Systembruch in Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: diesem Steuergesetz herstellen. Zukünftig soll ein Op- Der nächste Redner ist für die CDU/CSU-Fraktion der tionsverfall nicht mehr berücksichtigt werden. Das heißt, Kollege Olav Gutting. dass der Verlust, der dort entsteht, steuerlich nicht mehr (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (B) geltend gemacht werden kann. Die Begründung ist aller- (D) [SPD]) dings schon fast Systembruch; sie ist für mich sogar schon fast Verfassungsbruch. Ich zitiere aus dem Gesetz- Olav Gutting (CDU/CSU): entwurf: Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer- Der Bundesfinanzhof … hat in seinen Urteilen vom te Gäste auf den Tribünen! 240 Seiten Gesetzentwurf, 12. Januar 2016 … entschieden, dass die Anschaf- 36 Artikel – viel Material für Steuerfeinschmecker. Wie fungskosten für Optionen steuerlich auch dann zu immer bei Sammelgesetzen, wird es hierbei voraussicht- berücksichtigen sind, wenn die Option innerhalb lich nicht bleiben. In den weiteren Beratungen zu diesem der Optionsfrist nicht ausgeübt wurde. Gesetzentwurf werden wir noch die Maßnahmen des KIi- maschutzprogramms 2030 der Bundesregierung Stück Ein hohes Gericht hat das entschieden. Ich zitiere weiter für Stück aufnehmen, unter anderem die beschleunigte aus dem Gesetzentwurf: Minderung von C02-Emissionen durch die steuerliche Förderung der energetischen Gebäudesanierung, den Die Auffassung des BFH entspricht jedoch nicht Austausch alter Heizungen und weitere steuerliche Maß- dem Willen des Gesetzgebers … nahmen im Bereich Elektromobilität. Noch einmal: Die Auffassung eines hohen Gerichts ent- Wir müssen uns jetzt fokussieren. Wichtig ist es, spricht nicht dem Willen des Gesetzgebers. – Es gibt in Schwerpunkte zu setzen. Das geht vor allem an die Ad- diesem Land also mittlerweile Gesetze, auf dessen resse des Bundesrates, der mit 92 Punkten Stellung zum Grundlage Gerichte Entscheidungen fällen, die Ihnen Gesetzentwurf genommen hat. Man muss sagen: Das ist nicht passen und dann nach Ihrem Gusto geändert wer- in der vorgegeben Zeit nicht mehr zu bewältigen. Hier den. Man könnte das auch als geplanten Vertrauensmiss- muss der Bundesrat zurückstecken. brauch bezeichnen. Es wird mit dem Gesetz zu einer steuerlichen Entlas- Erlauben Sie mir, weiter zu zitieren. Es gibt noch eine tung der Arbeitnehmer kommen. Es wird Verfahrenser- Steigerung. In Artikel 16a Absatz 2 des Grundgesetzes leichterungen für Arbeitgeber geben; das begrüße ich heißt es – ich zitiere ihn –: Auf das Asylrecht „kann sich außerordentlich. Neben den durch das Bundesfinanzmi- nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europä- nisterium vorgeschlagenen Erhöhungen der Pauschalen ischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat für Verpflegungsmehraufwendungen und für Berufs- einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die kraftfahrer bleibt der Gesetzentwurf allerdings aus mei- Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum ner Sicht bei einigen Punkten leider hinter den Erwartun- Schutze der Menschenrechte … sichergestellt ist“. gen zurück. 14266 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Olav Gutting (A) Im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD Deswegen: Gehen wir’s gemeinsam an! (C) haben wir eine Anpassung und Aktualisierung der Woh- nungsbauprämie fixiert. Die Bildung von Wohneigentum, (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. insbesondere zur Selbstnutzung, ist ein wichtiger Schutz Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) vor steigenden Belastungen durch Wohnkosten vor allem im Alter. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall bei der CDU/CSU) Vielen Dank, Herr Kollege Gutting. – Die nächste Red- nerin für die FDP-Fraktion ist die Kollegin Katja Hessel. Im Hinblick auf den Eigentumserwerb ist es wichtig, dass wir bereits junge Menschen motivieren, frühzeitig mit (Beifall bei der FDP) dem Ansparen von Eigenkapital zu beginnen; denn fehl- endes Eigenkapital ist laut vorliegenden Studien einer der Katja Hessel (FDP): Hauptgründe, warum sich junge Familien kein Wohnei- gentum leisten können. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuschauer auf der Tribüne! Es geht um das Jahres- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) steuergesetz 2019 – ach nein, nicht um das Jahressteuer- gesetz, sondern um das Gesetz zur weiteren steuerlichen Mit der Wohnungsbauprämie aber wird das Sparen mit Förderung der Elektromobilität und zur Änderung wei- Bausparverträgen gefördert und so die Eigenkapitalbil- terer steuerlicher Vorschriften. Vielleicht gewöhnen wir dung künftiger Erwerber gestärkt. Die förderfähigen uns ja noch daran, dass Gesetze, die aus SPD-geführten Höchstbeträge und die Prämiensätze müssen mit diesem Ministerien kommen, jetzt immer schöne Bezeichnungen Gesetz deswegen noch deutlich angehoben werden. haben, die aber nicht ganz mit dem Inhalt übereinstim- Auf zwei Punkte sollten wir bei den weiteren Beratun- men. Aber immerhin vier Vorschriften aus dem ganzen gen noch ein besonderes Augenmerk richten. Da ist zum Sammelsurium an Änderungen beschäftigen sich mit der einen der Versuch eines Überreitens der BFH-Rechtspre- steuerlichen Förderung der Elektromobilität. chung zur Anerkennung von steuerlichen Verlusten bei Zurück zum Jahressteuergesetz. Es enthält viele recht- Ausfall von Kapitalforderungen oder bei Wertlosigkeit liche Klarstellungen, die wir als Freie Demokraten auch von Aktien. Darüber müssen wir noch einmal sprechen. für notwendig erachten und unterstützen. Zusätzlich zu Die BFH-Rechtsprechung ist eindeutig, aus meiner Sicht denen, die schon genannt wurden, handelt es sich hierbei auch nachvollziehbar und logisch. Es ist nicht ganz zu um Änderungen zur Bekämpfung des Betrugs bei der verstehen, warum wir darüber hinwegreiten wollen. Umsatzsteuer, Änderungen zur Einschränkung des Ab- (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. zugs von ungerechtfertigten Betriebsausgaben, neue (D) Katja Hessel [FDP]) Digitalisierungsansätze, zum Beispiel bei der automati- sierten Fristverlängerung bei der Abgabe von Steuerer- Das andere ist das Wegducken vor dem Problem der klärungen, die Gleichstellung von digitalen Angeboten Abgrenzung von Geld- und Sachbezug insbesondere bei wie E-Books und Hörbücher – das wurde schon ange- der Anwendung der sogenannten 44-Euro-Grenze im sprochen – und auch die Gewerbesteuerbefreiung für Rahmen zusätzlicher steuerfreier Leistungen, also zusätz- die Betreiber kleiner Solaranlagen, weil damit endlich lich zum Arbeitslohn. Bei der Sachbezugsregelung müs- unnötige Bürokratie abgebaut wird. sen wir zwingend klären, welche Gutscheine und Gutha- benkarten in Zukunft unter diese Freigrenze fallen. Die (Beifall bei der FDP) jetzige Praxis ist ja so: Der Arbeitnehmer freut sich, weil er zusätzlich zum geschuldeten Lohn eine Leistung von Aber dieser Gesetzentwurf enthält auch einige Punkte, 44 Euro bekommt. Der Arbeitgeber freut sich, weil er die wir ganz deutlich kritisieren. Als Beispiel nenne ich seinen Arbeitnehmern etwas Gutes tun kann, ihnen einen die enthaltene Neuregelung der umsatzsteuerlichen Be- Incentive, einen Zusatzanreiz anbieten kann. Und der handlung von Bildungsleistungen. Damit, liebe Frau Händler freut sich über zusätzlichen Umsatz, weil diese Staatssekretärin, schießen Sie weit über das Ziel hinaus. Leistung in den Konsum fließt. – Ich meine, es kann nicht (Beifall bei der FDP) sein, dass wir diese gute und eingespielte Praxis jetzt kaputtmachen. Wir sind der Gesetzgeber und müssen hier Sie verstecken sich hinter einer EU-Richtlinie, und das, für Rechtssicherheit sorgen, für Arbeitnehmer, für Arbeit- obwohl der betreffende Artikel 133 der Mehrwertsteuer- geber, für die Kartenausgeber und für den Handel. systemrichtlinie gar keine verbindliche Eingrenzung für den Gesetzgeber enthält, sondern lediglich eine Kannbe- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) stimmung ist. Sie haben also die Möglichkeit, Spielräume Die anstehenden Beratungen werden umfangreich sein, zu nutzen, Sie tun das aber nicht. Privatwirtschaftliche auch aufgrund des Umfangs des Gesetzentwurfes. Wir Bildungsträger mit Gewinnerzielungsabsicht werden dis- brauchen eine gute, aber auch eine zügige Beratung die- kriminiert, auch wenn sie identische Leistungen erbrin- ses Gesetzentwurfes. Ich erwarte, dass wir die zweite und gen wie Einrichtungen des öffentlichen Rechts. Das muss dritte Lesung rechtzeitig abschließen, am besten noch im man sich bitte einmal auf der Zunge zergehen lassen: Oktober, damit die Praxis genug Zeit hat, sich auf die Unternehmen, die Gewinn erzielen wollen, werden von Änderungen ab dem 1. Januar 2020 einzustellen. der Bundesregierung diskriminiert. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14267

Katja Hessel (A) Sie verteuern damit ohne Not – und aus unserer Sicht steuergesetz den Titel „Förderung der Elektromobilität“ (C) auch ohne Grund – die Bildungsangebote. Wie passt gegeben. Mal abgesehen davon, dass Elektromobilität das denn zu Ihrem Leitgedanken einer Bildungsrepublik natürlich schon seit mehr als einem Jahrhundert existiert – Deutschland? Bildung sollte doch das Leuchtturmprojekt bei der Eisenbahn, bei den S-Bahnen, bei der Straßen- Ihrer Koalition sein. bahn –, sind Ihre Vorschläge zur steuerlichen Förderung von Autos mit batterieelektrischen Antrieben halbherzig, Auch im Hinblick auf die umsatzsteuerliche Behand- unsystematisch und bleiben im Klein-Klein stecken. lung von Privatkliniken haben Sie die Chance vertan, die bestehende Ungleichbehandlung endlich zu beseitigen. (Beifall bei der LINKEN) Die vorgesehene Änderung in § 4 Nummer 14 Umsatz- Auch hier wird wie schon im Klimaschutzplan der Re- steuergesetz löst das Problem eben nicht, weil sie keine gierung deutlich: Statt die zwingend notwendige Ver- Rechts- und Planungssicherheit für die Kliniken bedeutet, kehrswende herbeizuführen, versucht sich die Bundesre- auch nicht für die Finanzämter. Es ist überhaupt nicht gierung mit einer kleinteiligen Förderung neuer einzusehen, warum Privatkliniken, die neben einer Zulas- technischer Antriebe. Das ist auch notwendig, aber bei sung nach § 30 Gewerbeordnung keine weitere Anerken- Weitem nicht genug. Die meisten Ihrer Maßnahmen sind nung oder Zulassung der Sozialversicherungsträger ha- Entfristungen oder Verlängerungen schon ergriffener För- ben, im Gegensatz zu öffentlich-rechtlich zugelassenen dermaßnahmen. Wir haben ja vernommen, dass Sie die Krankenhäusern nur eingeschränkt von der Umsatzsteuer Mehrwertsteuer auf Bahntickets ermäßigen und den Luft- befreit sein sollen, obwohl sie genau die gleiche medizi- verkehr verteuern wollen, aber das steht in diesem Ge- nische Leistung erbringen. setzentwurf gar nicht drin. Solange Sie nicht verstehen, (Beifall bei der FDP) dass der heutige Pkw-Verkehr vor allen Dingen in den Ballungsräumen und Innenstädten grundlegend umge- Das erhöht am Ende nur die Kosten für die Versiche- staltet werden muss, sind Sie mit Ihrer Förderung elekt- rungsträger und die Beihilfestellen in unserem Land. rischer Antriebe auf dem Holzweg. (Frank Schäffler [FDP]: Demokratiemonster!) (Beifall bei der LINKEN) Damit fallen Sie sogar auf die Rechtslage von vor 2009 Pro Einwohner haben wir in Deutschland eine durch- zurück, die damals bewusst geändert worden ist, um Bü- schnittliche Wohnfläche von 46 Quadratmetern, aber eine rokratie abzubauen und den Grundsatz der steuerlichen Verkehrsfläche von 224 Quadratmetern; der größte Teil Neutralität zu wahren. davon wird von Pkws genutzt. Da stimmen die Verhält- Aber noch beachtlicher ist, was das Jahressteuergesetz nisse einfach nicht. wie immer nicht enthält. Es gibt keine Regelungen zu den (B) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. (D) Nachholzinsen, keine Regelungen zur Gemeinnützigkeit Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- von Freifunkinitiativen, worüber wir hier auch schon ge- NIS 90/DIE GRÜNEN]) sprochen haben, und auch keine Regelung zu dem kürz- lich ergangenen Urteil zur Hinzurechnung bei der Gewer- Längst überfällig sind deshalb ganz andere Maßnah- besteuer bezüglich der sogenannten Urlaubssteuer. Nein, men, zum Beispiel die Beendigung der steuerlichen Be- auch hier warten Sie wieder ab, was das Bundesverfas- günstigung von Dieselkraftstoff gegenüber Benzin. Wir sungsgericht sagt, wie man das vielleicht ändern kann. haben ein Konzept entwickelt, mit den übrigbleibenden Meine lieben Kollegen von der Koalition – Herr Gutting Einnahmen den öffentlichen Verkehr auszubauen bis hin hat das gerade angesprochen –, das ist nicht das, was wir zur Einführung eines Nulltarifs. brauchen. Wir müssen hier als Gesetzgeber vorangehen; (Beifall bei der LINKEN) denn so erzeugen wir kein Vertrauen in Politik und Rechtsstaat. Dringend notwendig ist eine Reform der Pendlerpau- schale, die Sie – das steht hier zwar nicht drin, soll aber ja (Beifall bei der FDP) kommen – jetzt anheben wollen. Diese Anhebung wird Aber wir wissen ja: Wir haben noch viele Beratungen aber weit überwiegend den Menschen zugutekommen, vor uns. Wir werden aus diesem Gesetzentwurf ein gutes die wegen hoher Einkommen auch hohe Steuereinsparun- Gesetz machen. Einige Anträge von uns als Serviceop- gen erzielen werden. Ein Mobilitätsgeld, wie es die Ge- position liegen schon vor. Ich freue mich auf die Beratun- werkschaften und auch Die Linke fordern, wäre hier der gen. richtige Schritt. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der LINKEN) In diesem Jahressteuergesetz gibt es noch einen ande- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: ren Haken, den ich kurz ansprechen möchte. Viele Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege Bildungsdienstleister wie Volkshochschulen und andere Jörg Cezanne. sind sicher auch an Sie herangetreten und haben ihre Sorge zum Ausdruck gebracht, dass mit der vorgeschla- (Beifall bei der LINKEN) genen Formulierung im Gesetzentwurf viele ihrer Ange- bote in Zukunft nicht länger von der Umsatzsteuer befreit Jörg Cezanne (DIE LINKE): sein könnten. Wir verstehen, dass die Bundesregierung Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- eine EU-Regelung umsetzen muss. Mit der vorgeschla- ren! Die Bundesregierung hat dem diesjährigen Jahres- genen Änderung aber geht eine erhebliche Rechtsunsi- 14268 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Jörg Cezanne (A) cherheit für Bildungsangebote einher, besonders für sol- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) che, die nicht unmittelbar beruflichen Charakter haben. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das kann und muss auch EU-rechtskonform anders gere- Was hat das mit diesem Gesetzentwurf zu tun? Sie gelt werden. wollen jetzt wieder Fördergelder für Autokäufer zur Ver- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- fügung stellen, nämlich 250 Millionen Euro für die Elekt- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und romobilität. Die strukturellen Hemmnisse und die struk- des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) turellen Barrieren auf dem Weg zur emissionsfreien Mobilität gehen Sie aber nicht an. Bildung ist eben mehr als die Förderung beruflicher Leistungsfähigkeit. Sie ist ein Menschenrecht. Das wird (Falko Mohrs [SPD]: Stimmt doch gar nicht!) sicher auch der Leistungskurs des Eifel-Gymnasiums Wir bräuchten eigentlich mehr Mut bei der Reform der Neuerburg, der heute hier zu Gast ist, bestätigen. Bildung Kfz-Steuer und bei der Dienstwagenbesteuerung. Wir ist eine wesentliche Voraussetzung für ein zivilisiertes müssen emissionsfreie Fahrzeuge steuerlich fördern, Miteinander in einer vielfältigen Gesellschaft. Im Um- und gleichzeitig müssen die Fahrzeuge, die einen hohen gang mit Rechtsextremismus brauchen wir politische Bil- CO2-Ausstoß haben, teurer werden. Es ist keine Verbots- dung. Die sozialen Medien erfordern einen kritischen und politik, sondern Marktwirtschaft, wenn man Umweltver- informierten Umgang mit Informationsquellen. Solche schmutzung einen Preis gibt. Bildungsangebote dürfen nicht teurer werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich danke Ihnen. sowie der Abg. [DIE LINKE]) (Beifall bei der LINKEN) Mit einem funktionierenden Bonus-Malus-System, mit Kaufprämien für Elektroautos würden auch viele unserer Autobauer bei der Fahrzeugentwicklung viel engagierter Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: andere Prioritäten setzen. Das wäre eine kluge Industrie- Der nächste Redner ist der Kollege Dr. Danyal Bayaz, politik. Ich glaube, viele Ingenieurinnen und Ingenieure Bündnis 90/Die Grünen. in diesem Land würden diese Herausforderung gerne an- nehmen. Wir würden den Wirtschaftsstandort dadurch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nachhaltig stärken. Ich bin echt davon überzeugt, dass Klimaschutz für eine erfolgreiche, wettbewerbsfähige Dr. Danyal Bayaz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Industrie sehr wichtig ist. Wir brauchen mutige Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man Weichenstellungen und sollten einfach engagierter sein. (B) kann der Koalition nicht vorwerfen, dem Jahressteuerge- (D) setz einen knackigen Namen wie „Gesetz zur weiteren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN steuerlichen Förderung der Elektromobilität“ zu geben. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Was man Ihnen schon vorwerfen kann, ist, dass Sie den Wenn wir über Wettbewerbsfähigkeit sprechen, dann Eindruck erwecken, hiermit die notwendigen Maßnah- sollten wir auch die klugen, gut ausgebildeten Arbeitneh- men im Kampf gegen die Klimakrise auf den Weg zu merinnen und Arbeitnehmer in den Blick nehmen. Der bringen. Das ist Etikettenschwindel, meine Damen und Kollege hat es gerade angesprochen: Die Bildung von Herren. Wissenskapital in einer modernen Volkswirtschaft ist zentral für Innovationskraft, Wettbewerbsfähigkeit und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Produktivität. Das sollten wir viel stärker in den Fokus sowie bei Abgeordneten der LINKEN) nehmen. Wir brauchen gute Bedingungen bei der Bil- Werfen wir doch mal einen Blick zurück. Vor ziemlich dung, bei der Weiterbildung und bei der Fortbildung. genau zehn Jahren hat eine andere Große Koalition – In Ihrem Gesetzentwurf finden sich schon ein paar viele von Ihnen waren damals schon dabei – eine Ab- kritische Punkte. Sie wollen die Umsatzsteuerfreiheit wrackprämie auf den Weg gebracht. Wir haben 5 Milliar- von Fort- und Weiterbildungsangeboten einschränken. den Euro in die Hand genommen, um die Autoindustrie in Ich verstehe, dass die europäische Rechtsprechung das einer konjunkturellen Delle zu unterstützen. 27 Millionen einfordert. Sie gehen aber eben weiter, als es das Europa- Steuerpflichtige haben quasi 2 Millionen Pkw-Käuferin- recht erfordert. Deswegen finde ich, dass Sie die Bedeu- nen und -Käufern jeweils 2 500 Euro geschenkt. Das hatte tung von Weiterbildungsangeboten in der heutigen Wirt- keinerlei ökologische Lenkungswirkung. Es ist kein Zu- schaft an der Stelle ein Stück weit ignorieren. Aufgrund fall, dass das genau die Autos sind, die uns heute in eini- der Transformationsphase, in der wir uns befinden – den- gen Städten Probleme machen. Ich finde, die Abwrack- ken Sie an Algorithmen, künstliche Intelligenz und Auto- prämie war genau das Gegenteil von nachhaltiger matisierung –, sollten wir noch viel stärker in die Köpfe Finanzpolitik und kluger Industriepolitik. unserer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer investie- ren. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das war nicht klug, aber erforderlich!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Sie war teuer. Die Gelegenheit, die ökologische Moder- bei der FDP und der LINKEN) nisierung einer wichtigen Leitindustrie in diesem Land Ein letzter Satz. Sie haben völlig recht, Frau Staats- voranzubringen, wurde damit verpasst. Das müssen Sie sekretärin: Es ist gut, dass wir die digitalen Produkte sich heute noch mal anhören, meine Damen und Herren. der Medienwirtschaft jetzt den analogen Pendants anpas- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14269

Dr. Danyal Bayaz (A) sen. Wir schaffen aber auch neue Ausnahmen bei der Wir wissen übrigens noch nicht, was davon in das Jahres- (C) Mehrwertsteuer. Deswegen möchte ich hier auf einen steuergesetz einfließen wird. Einige Punkte dazu sollten Aspekt eingehen. Wir und viele andere haben eine Peti- aufgenommen werden; das finde ich wichtig. tion für die Steuerermäßigung bei Hygieneprodukten für Frauen unterstützt. Dann noch eine Bemerkung zum Thema Hygienearti- kel. Ich bin dafür, dass wir Überlegungen, die Mehrwert- ( [CDU/CSU]: Machen wir steuer auf Tampons zu senken, anstellen, will aber ver- ja!) meiden, dass damit sozusagen eine frauenfeindliche Ich finde, es ist ein schlechtes Signal, dieses berechtigte Politik einhergeht. Wir haben ja Probleme ganz anderer Anliegen, das bislang völlig ignoriert wird, Herr Kollege Art. Ich will das mal mithilfe dieses Zollstocks deutlich Steiniger, nicht weiter zu verfolgen. Es gibt einen dichten machen: Dieser große Abschnitt des Zollstocks ist das Ausnahmedschungel. Eine Steuerermäßigung für Einkommen eines Mannes. Die Kosten für Hygienepro- Tampons und Binden leistete zwar keinen Beitrag für dukte – man höre zu! – liegen durchschnittlich bei die Lichtung dieses Dschungels, wäre aber von hohem 2,07 Euro pro Jahr; das sind 20 Cent im Monat. symbolischem Wert und würde zeigen, dass eine ge- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: schlechtergerechte Anpassung im Steuerrecht möglich Den Zollstock können Sie wieder einpacken!) ist. Deswegen: Nehmen Sie diese Petition und die Men- schen, die sie unterstützen, ernst und diesen Punkt im Schauen wir uns nun den Gender Pay Gap genauer an. Gesetzentwurf auf. Wir schauen genau drauf. Dieser Abschnitt des Zollstocks entspricht dem Einkom- men eines Mannes. Nehmen wir an, es sind 1 000 Euro. Danke schön. Im Verhältnis dazu kann das Einkommen einer Frau mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) diesem viel kleineren Abschnitt des Zollstocks – es sind 20 Prozent weniger – dargestellt werden. Ich möchte mich nicht mit diesem Zehntelmillimeter befassen. Das Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: machen wir auch; das ist ja klar. Es gibt dazu eine große Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege Lothar Bewegung, und Symbole sind unerreichbar wichtig. Mir Binding. ist es aber wichtiger, dass Frauen und Männer gleich be- (Beifall bei der SPD) zahlt werden und Frauen diese fehlenden 20 Prozent be- kommen. Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): (Beifall bei der SPD) Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren! Lie- (B) be Kolleginnen und Kollegen! Elektromobilitätsförde- 20 Prozent sind nämlich richtig viel. Lasst uns dafür ord- (D) rungsgesetz ist ein schöner Name; das stimmt. Er um- nungspolitisch etwas tun! Die eigentliche Ungerechtig- schreibt den Schwerpunkt dieses Gesetzes. Gleichwohl: keit sollte man angesichts von Marginalien nicht zurück- Es ist unser Jahressteuergesetz und wie immer ein Sam- stellen. Insofern ist es ganz gefährlich, sich auf diesen melsurium. So ist dieses Gesetz auch gedacht. Es räumt Pfad zu begeben. Man verdrängt das Wesentliche und holt mit vielen Dingen auf, die im letzten Jahr aufgelaufen das Unwesentliche in den Vordergrund. sind. Insofern ist das eigentlich gar keine Bemerkung wert. Ich möchte noch auf das, was Olav Gutting gesagt hat – Stichwort: 44 Euro –, eingehen: Das muss geregelt wer- (Frank Schäffler [FDP]: Jetzt kommt der den; darin sind wir uns einig. Du hast ganz richtig gesagt: Zollstock!) Die Arbeitnehmer freuen sich, die Arbeitgeber freuen Einen Punkt möchte ich hier aufgreifen. Diese Nervo- sich, und die Händler freuen sich. – Es ist allerdings so, sität bezogen auf die Bildungs- und Erziehungsleistungen dass sich die Rentenversicherung, die später mal für mich von Volkshochschulen – Sie nannten sie –, der AWO und wichtig ist, ärgert. Dasselbe gilt für die Krankenversiche- natürlich auch kirchlicher Stiftungen ist völlig unbegrün- rung und das Finanzamt. Es geht nämlich um steuer- und det. Die Idee ist, dass wir die Mehrwertsteuerfreiheit eu- sozialversicherungsfreie Leistungen. Ich stimme dir roparechtskonform erhalten. Ich denke, wir müssen uns trotzdem zu: Wir sollten das regeln. hier nicht kleiner machen, als wir sind. Im parlamentari- Letzter Punkt. Das mit den Spekulanten ist so eine schen Verfahren werden wir das entsprechend klarstellen. Sache. Veräußerungsverluste ohne Veräußerung anzuer- Das hat die Große Koalition miteinander verabredet. kennen, hat seine Tücken. Man muss sehen: Wenn ich die CDU/CSU und SPD sind hier einer Meinung, und das Veräußerungsverluste ohne Veräußerung anerkenne, ist ist sehr gut. das eine Einladung an Spekulanten, zu spekulieren, weil (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten klar ist: Den Verlust tragen alle anderen. – Wir müssen der CDU/CSU) also hochsensibel sein und gemeinsam überlegen, was zu tun ist. Es ist aber nicht ganz so einfach, wie es eben Ich möchte kurz auf das, was Danyal Bayaz gesagt hat, dargestellt wurde. eingehen. Er hat gesagt, dass er in diesem Gesetz die notwendigen Maßnahmen im Kampf gegen die Klima- Ich sehe schon: Ich habe meine Redezeit überzogen. krise vermisst. Diese sind aber im Klimaschutzgesetz, das es erstmals gibt und das ihr kritisiert, vorgesehen. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: (Beifall des Abg. Falko Mohrs [SPD]) Absolut. 14270 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

(A) Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): tuellen wirtschaftlichen Entwicklung und der Herausfor- (C) Sarah Ryglewski hat zum Schwerpunkt des Gesetzent- derungen von Digitalisierung sind diese Fragen von exis- wurfs perfekt vorgetragen. Deshalb will ich das nicht tenzieller Bedeutung. Mein Kollege Fritz Güntzler und wiederholen. ich haben hier ein entsprechendes Konzept für die CDU/CSU-Fraktion vorgestellt. Dieses müssen wir Schönen Dank. Schritt für Schritt umsetzen, um die Wettbewerbsfähig- (Beifall bei der SPD) keit in unserem Land zu erhalten. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Aber es Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: gibt doch kein Liquiditätsproblem!) Herr Kollege Binding, ich finde es ja prima, dass Sie versuchen, Ihre Rede anschaulich zu machen. Deutschland ist zum Hochsteuerland für Unternehmerin- nen und Unternehmer geworden. Das zeigen mehrere (Dr. Danyal Bayaz [BÜNDNIS 90/DIE Studien der OECD, übrigens auch unter dem Eindruck GRÜNEN]: Zu vermessen!) der bereits erfolgten Steuerreformen unserer europä- ischen Nachbarländer. Aber vielleicht könnten wir uns darauf verständigen, dass wir hier verbal unsere Meinung zum Ausdruck bringen Liebe Kolleginnen und Kollegen, Steuerpolitik ist im- und dazu nicht irgendwelche Werkzeuge verwenden. mer auch Standortpolitik. Wenn wir jetzt hier falsch links (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Den Kof- abbiegen, dann werden unsere deutsche Industrie und fer habe ich ja zu Hause gelassen! – Heiterkeit) unser deutscher Mittelstand erhebliche Wettbewerbs- nachteile haben. Nur mit einer starken Industrie und ei- Der nächste Redner ist der Kollege Sebastian Brehm. nem starken Mittelstand werden wir auch weiterhin starke Einnahmen haben. Diesen Zusammenhang verkennen die (Beifall bei der CDU/CSU) meisten politischen Diskutanten insbesondere auf der lin- Sebastian Brehm (CDU/CSU): ken Seite. Deshalb werbe ich dafür, dass wir eine Diskus- sion um die Unternehmensbesteuerung in Deutschland Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr angehen. Präsident! Im Jahr 2018 wurden 1 769 Rechtssachen beim Europäischen Gerichtshof, EuGH, und 2 166 Rechtssa- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei chen beim Bundesfinanzhof erledigt. Das hat natürlich Abgeordneten der FDP) unmittelbare Auswirkungen auf die laufende Steuerge- setzgebung. Deshalb ist es richtig, einmal im Jahr all Wir beginnen mit kleinen richtigen Schritten, zum Bei- (B) diese notwendigen Änderungen in einem Jahressteuerge- spiel mit der Einräumung von Sonderabschreibungsmög- (D) setz zusammenzufassen. Hinzu kommen natürlich auch lichkeiten für elektrische Lieferfahrzeuge. Gerade im Be- politische Schwerpunktsetzungen, in diesem Jahr insbe- reich der Abschreibungen müssen wir aber noch weitere sondere die Umsetzung des Klimapakets. Anreize für notwendige Investitionen setzen. „Anreize setzen“ ist auch das Stichwort bei der Umsetzung des Es gibt zwei wichtige Botschaften, die ich mit dem Klimapakets, zum Beispiel mit der schon lange geforder- Jahressteuergesetz verbinden möchte. Erstens. Wir ent- ten energetischen Gebäudesanierung oder der Verbilli- lasten deutlich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, gung der Preise für den öffentlichen Nahverkehr und und das ist gut und richtig: mit der Erhöhung der Pendler- die Bahn. All dies wird noch im Rahmen des Jahres- pauschale, der Anpassung der Verpflegungsmehraufwen- steuergesetzes 2019 mit umgesetzt. Deswegen haben dungen, der Verlängerung der Begünstigung für Elektro-, wir noch viel Arbeit vor uns und viel Klärungsbedarf. Hybrid- und übrigens auch Wasserstoffbetriebsfahrzeu- ge – also 0,25- bzw. 0,5-Prozent- statt der teuren 1-Pro- Zum Beispiel bei der Besteuerung von Reiseleistungen zent-Regelung –, Ausweitung der Möglichkeiten des Job- im B2B-Bereich kommt es nach der derzeitigen Fassung tickets, durch den Verzicht auf einen Sachbezug bei einer zu rückwirkenden Belastungen der Reisebranche, die der- verbilligten Überlassung von Arbeitnehmerwohnungen – zeit ohnehin schon leidet. Das können wir nicht hinneh- das betrifft vor allem Ballungsgebiete wie München und men; darüber müssen wir noch einmal diskutieren. Auch andere Städte – und die Beibehaltung der Möglichkeit im Bereich der Umsatzbesteuerung von Bildungsleistun- von Sachleistungen an Arbeitnehmerinnen und Arbeit- gen – auch das wurde schon angesprochen – müssen wir nehmer im Rahmen der monatlichen 44 Euro. Lieber Herr zu einer klarstellenden Regelung kommen; hier müssen Kollege Binding, bei den 44 Euro sind auch Vorsorge- wir dringend nachsteuern. leistungen dabei. Deswegen sind es notwendige Schritte für die Entlastung derjenigen, die tagtäglich zu unserem (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Wohlstand in Deutschland beitragen. SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD) So gibt es noch viele Themen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Aber wir sind hier in einem konstruktiven Di- Die zweite Botschaft ist aber, dass wir dringend auch alog im Rahmen der Koalition, und ich denke, dass wir eine Entlastung der Unternehmerinnen und Unternehmer diese Fragen im Rahmen der nächsten Diskussionen noch benötigen, um ihnen mehr Liquidität für notwendige In- gemeinsam lösen können. vestitionen zu geben. Das fehlt in diesem Gesetzentwurf. Gerade in der jetzigen Zeit unter dem Eindruck der ak- Ich danke herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14271

Sebastian Brehm (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. etwas untergegangen. Denn nur mit einem gut ausgebau- (C) Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]) ten öffentlichen Nahverkehr werden wir die Mobilitäts- probleme vor allem in den deutschen Metropolregionen Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: lösen können. Vielen Dank, Herr Kollege Brehm. – Der letzte Redner (Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege [SPD]) Dr. Christoph Ploß, CDU/CSU. Wir müssen Anreize schaffen, damit immer mehr Men- (Beifall bei der CDU/CSU – Lothar Binding schen auf den öffentlichen Nahverkehr umsteigen. Des- [Heidelberg] [SPD]: Jetzt muss er mal die Las- wegen sind auch die steuerlichen Änderungen bei den tenfahrräder erwähnen!) Jobtickets so wichtig. Dass in Zukunft der geldwerte Vor- teil pauschal mit 25 Prozent von den Arbeitgebern ver- Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): steuert werden kann und dass das Jobticket nicht mehr auf Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! die Pendlerpauschale angerechnet wird, wird ein wichti- „Jahressteuergesetz“, das klingt nach einer trockenen Ma- ger Baustein sein, um den öffentlichen Nahverkehr im- terie, so etwas wie das Knäckebrot der Politik, und viel- mer attraktiver zu machen. Denn letztlich brauchen wir da leicht fragt sich der eine oder andere: Muss denn ein unterschiedliche Maßnahmen. solches Thema hier am Nachmittag auf der Tagesordnung stehen? Aber – das haben meine Kolleginnen und Kol- Ein Land wie Norwegen macht es vor. Dort setzt man legen von der CDU/CSU-Fraktion deutlich gemacht – das auf den Ausbau der Infrastruktur, wenn es um die Förde- Jahressteuergesetz ist keine langweilige Materie, sondern rung von Elektromobilität geht, und sagt: Wir brauchen damit sind wichtige Weichenstellungen für unser Land immer mehr Ladesäulen und Wasserstofftankstellen. Es verbunden. Denn wenn wir heute über das Jahressteuer- muss aber auch monetäre Anreize geben. gesetz diskutieren und in einigen Monaten konkrete Wenn man beides miteinander verbindet, dann kann steuerpolitische Maßnahmen beschließen, dann geht es man es schaffen, die Mobilität der Zukunft viel besser dabei auch zentral um die Mobilität der Zukunft. Dann zu organisieren, als es vielleicht noch in den vergangenen geht es um Klimaschutz- und Umweltschutzthemen, auch Jahren der Fall war, und auch die Verkehrs- und Klima- mit Blick auf die Beschlüsse des Klimakabinetts vom schutzziele zu erreichen. Ich bin sicher: Dann werden wir, vergangenen Freitag. wenn wir 2030, 2035 oder 2040 möglicherweise wieder Wenn wir hier im Deutschen Bundestag in Kürze das hier diskutieren, sagen: Die Entscheidungen mit dem Jah- Jahressteuergesetz beschließen, dann müssen wir zum ressteuergesetz waren richtig. Da wurden die richtigen (B) Beispiel auch wissen, wie die Mobilität der Zukunft in Weichenstellungen für die Zukunft vorgenommen, damit (D) 10, 15 oder 20 Jahren ausschauen soll. Wie soll sich Deutschland weiterhin stark bleiben wird. Deutschland im Jahr 2035 im Verkehrsbereich darstellen? Herzlichen Dank. Da ist auch für uns die Situation ziemlich klar. Wir (Beifall bei der CDU/CSU) sagen: Es soll immer mehr Ökostrom, immer mehr rege- nerative Energie in Elektrofahrzeugen zum Einsatz kom- men. Was uns als CDU/CSU-Fraktion dabei besonders Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: wichtig ist, ist, dass wir nicht nur auf batteriebetriebene Vielen Dank, Herr Kollege Ploß. – Ich schließe die Elektroautos setzen, sondern wir wollen auch auf wasser- Aussprache. stoffbetriebene Elektroautos und auf synthetische Kraft- stoffe setzen. Mit anderen Worten: Wir präferieren einen Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs technologieoffenen Ansatz und hoffen, davon auch noch auf Drucksache 19/13436 an die in der Tagesordnung die anderen Fraktionen überzeugen zu können, die damit aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es andere fremdeln. Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Über- weisung so beschlossen. (Beifall des Abg. Sepp Müller [CDU/CSU]) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf: Deswegen wollen wir mit dem Jahressteuergesetz kon- kret einige Punkte beschließen, zum Beispiel eine Son- Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Jens derabschreibung beim Kauf rein elektrischer Lieferfahr- Brandenburg (Rhein-Neckar), Katja Suding, Mario zeuge. Der Kollege Brehm hat es richtigerweise gesagt: Brandenburg (Südpfalz), weiterer Abgeordneter Wir wollen auch die Halbierung der Bemessungsgrund- und der Fraktion der FDP lage beim Kauf von Dienstwagen verlängern, die dann Spitzen-Azubis fördern – Begabtenförderung privat genutzt werden. Wenn der Preis unter 40 000 Euro für Talente der beruflichen Bildung öffnen liegt, dann geht es sogar nicht nur um 0,5 Prozent, son- dern um 0,25 Prozent. Damit werden enorme monetäre Drucksache 19/13460 Anreize dafür gesetzt, dass in Zukunft immer mehr Men- Überweisungsvorschlag: schen und Unternehmen Elektrofahrzeuge anschaffen. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Energie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Haushaltsausschuss Für uns ist aber auch die Förderung des öffentlichen Interfraktionell sind 38 Minuten vereinbart. – Es gibt Nahverkehrs ganz wichtig. Das ist bei der Debatte hier keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. – Wenn 14272 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Sie sich jetzt zügig entscheiden, ob Sie hierbleiben oder Nun werden Sie gleich vermutlich viele Dinge hören, (C) gehen wollen, wäre ich Ihnen dankbar. warum das alles so nicht funktioniert. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege (Lachen des Abg. Stephan Albani [CDU/CSU]) Dr. Jens Brandenburg, FDP-Fraktion. Ein erstes Argument mag sein, das sei alles elitäres Zeug, (Beifall bei der FDP) und wir sollten uns eher um andere Dinge kümmern. Das glaube ich nicht; denn die Stipendiaten zeichnen sich in aller Regel aus durch eine besonders hohe Leistungsbe- Dr. Jens Brandenburg (Rhein-Neckar) (FDP): reitschaft, durch Neugierde und persönliches Engage- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ment. Das sind junge Menschen, die oftmals später wich- Glauben Sie, dass ein Mechatroniker und eine Germanis- tige Entscheidungsträger sein werden, in Wirtschaft, tin gemeinsam über die Zukunft der Demokratie oder Politik und Gesellschaft. Deshalb lohnt es sich, schon über die Folgen des Klimawandels diskutieren können? früh in ihre Persönlichkeitsentwicklung zu investieren. Glauben Sie, dass Azubis und Studierende gemeinsam Wenn diese Förderung nun künftig auch beruflichen Ta- neue Moderations- und Verhandlungstechniken lernen lenten offensteht, dann ist das im Interesse der gesamten können? Glauben Sie, dass dieser Austausch beider Wel- Gesellschaft. ten miteinander jungen Menschen hilft, den eigenen Blick auf die Welt zu weiten, und dass beide Seiten voneinander (Beifall bei der FDP) lernen können? Glauben Sie, dass es auch in der beruf- lichen Bildung große Talente gibt, die wir in ihrer Persön- Ein zweites Argument könnte sein – ich bin gespannt lichkeitsentwicklung stärken sollten? Und glauben Sie, auf die Rede von Herrn Albani –, die Bundesregierung dass es einen Unterschied macht, ob man Teil eines per- mache schon so viel. sönlichen Netzwerks ist oder nicht? (Stephan Albani [CDU/CSU]: Es ist gut, dass Wenn Sie alle diese Fragen mit Ja beantworten, dann Sie das anerkennen!) frage ich mich ernsthaft, wieso die 13 Begabtenförde- Da gebe es die Stiftung Begabtenförderung berufliche rungswerke des Bundes nicht schon längst für berufliche Bildung und die eine oder andere Kooperation. Damit Talente geöffnet sind. springt man aber zu kurz. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Die 13 Förderwerke erhalten Bundesmittel, um akademi- Die Bundesregierung investiert in die akademische Be- sche Talente zu fördern. Sie wählen ihre Stipendiaten aus gabtenförderung jedes Jahr etwa 300 Millionen Euro, ge- (B) nach fachlicher Leistung, persönlicher Eignung und auch rade einmal 60 Millionen Euro in die berufliche Begab- (D) nach gesellschaftlichem Engagement. Ein solches Stipen- tenförderung. Wir wollen die SBB nicht ersetzen, sondern dium ist eine hohe Auszeichnung, an der sich auch viele ausweiten. Das allein führt aber noch nicht zu einem bes- Arbeitgeber orientieren. Studierende erhalten im Monat seren Miteinander beruflicher und akademischer Talente eine Pauschale von 300 Euro. Im Kern steht aber die über Silos hinweg. Deswegen: Machen Sie endlich ernst ideelle Förderung mit ihren fachlichen Seminaren, Fertig- mit der oft beschworenen Gleichwertigkeit von keitentrainings, Exkursionen, Arbeitsgemeinschaften, beruflicher und akademischer Bildung, und stimmen Sie Mentorenprogrammen, Stipendiatenstammtischen und unserem Antrag zu! vielem mehr. (Beifall bei der FDP) Diese Stipendiatenprogramme wollen wir öffnen für die besten Talente der beruflichen Aus- und Weiter- Ein drittes Argument: Lebenswelten und Talente von bildung. akademischen und beruflichen Fachkräften seien ach so verschieden. Ja, menschliche Begabungen sind vielfältig. (Beifall bei der FDP) Sie zeigen sich in wissenschaftlichen Leistungen, in künstlerischer Schaffenskraft, in sozialer Kompetenz, Dafür sollen die Förderwerke, die daran teilnehmen, zu- aber eben auch in der besonderen Fähigkeit, theoretische sätzliche Mittel bekommen. Erkenntnisse in innovative praktische Anwendungen zu Nun mag sich beispielsweise die Studienstiftung des übersetzen. Und eine gute Förderung braucht diese Viel- deutschen Volkes mit ihrem sehr akademischen Schwer- falt. punkt am Ende dagegen entscheiden; aber gerade für die (Beifall bei der FDP) vielen politischen, die wirtschafts-, kirchen- oder auch gewerkschaftsnahen Stiftungen ist das doch ein attrakti- Raus aus dem Elfenbeinturm! Unterschätzen Sie die ves Angebot. Sie sollen künftig weiterhin selbst entschei- berufliche Bildung nicht! den, nach welchen Kriterien sie Auszubildende oder auch (Beifall bei der FDP) Fachkräfte in Aufstiegsfortbildungen aufnehmen wollen. Uns ist vor allen Dingen wichtig, dass sie als Stipendiaten gleichberechtigt an der ideellen Förderung und am Sti- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: pendiatenleben teilnehmen können. Das dürfen wir der Der nächste Redner: der Kollege Stephan Albani, beruflichen Bildung nicht länger vorenthalten. CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14273

(A) Stephan Albani (CDU/CSU): Das Aufstiegsstipendium unterstützt Fachkräfte mit (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mei- Berufsbildung und Praxiserfahrung. Jährlich können ne Damen und Herren! Herr Brandenburg hat sozusagen 1 000 Aufstiegsstipendien vergeben werden. Derzeit wer- in Vorfreude auf meine Ausführungen das eine oder an- den 4 500 Stipendiaten an über 300 Hochschulen unter- dere angesprochen. Folgendes gleich vorweg: Alles, was stützt. Wir haben das sogar erhöht – Sie haben ja gesagt, Sie eingangs gesagt haben, glaube ich nicht nur, sondern wir sprängen zu kurz –: 8,5 Prozent mehr. Ich glaube, das weiß ich, und all das, was Sie an Kritikpunkten ge- mancher wäre froh, wenn er 8,5 Prozent weiter springen äußert haben, können Sie sich hier jetzt zu Gemüte füh- könnte. ren; aber elitär ist das Thema, das wir hier miteinander behandeln, mit Sicherheit nicht. (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: Das ist ein Fünftel der akademischen Förde- Technologisierungen, Flexibilisierungen, diese ganzen rung!) „-sierungen“ verändern unsere Arbeitswelt. Die Heraus- Wie schreiben Sie in Ihrem Artikel in der heutigen forderungen müssen von hochqualifizierten Fachkräften Ausgabe des „Tagesspiegel“ zu den Systemen Berufs- angegangen werden. Um sie zu gewinnen, müssen attrak- schule und Fachhochschule? Ich zitiere: tive und hochwertige Qualifizierungsangebote entwickelt werden, die auf dem Arbeitsmarkt Akzeptanz finden. Die Bisher existieren beide Systeme geräuschlos und oh- Gleichwertigkeit der beruflichen und akademischen Bil- ne Berührung nebeneinander. dung ist eine Selbstverständlichkeit. So steht es in Ihrem Artikel heute in der Zeitung. Ich lade Wir möchten das Ausbildungssystem gerade auch in Sie herzlich in meinen Wahlkreis ein. Dort hat die Jade der Spitze stärken, um begabten jungen Menschen eine Hochschule, die Fachhochschule, ein Projekt mit den be- echte Alternative zum Studium anzubieten und ihnen die rufsbildenden Schulen; es nennt sich „Frühstarter“. Im Möglichkeit zu eröffnen, sich Zeit ihres Lebens konti- letzten Berufsschuljahr vermitteln Dozenten aus dem nuierlich und individuell weiterzuentwickeln. Aus die- Wirtschaftsbereich der Fachhochschule den jungen Men- sem Grund haben die Koalitionsfraktionen und hier die schen entsprechende Lehrinhalte, um eine Brücke zur Kollegin Yasmin Fahimi und ich gleich am Anfang dieser Fachhochschule zu schlagen. Diese können danach mit Legislaturperiode die Initiative für exzellente berufliche 20 Credit Points in die Fachhochschule einsteigen. Bildung, eine Art Spitzenclusterförderung, auf den Weg (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: gebracht. 30 Anträge befinden sich mittlerweile in der Einzelprojekte! Das sind ja gute Projekte!) nächsten Stufe. Das sind hervorragende Ideen, wie man genau dies tun kann. Also, da läuft nichts nebeneinander, sondern das ist ganz (B) klar ein Miteinander. (D) Des Weiteren haben wir – das ist vorgestern durchs Kabinett gegangen – das Aufstiegs-BAföG deutlich ver- (Beifall bei der CDU/CSU) bessert. Hier gibt es nun ein passgenaues Förderangebot Der Haushaltsentwurf für 2020 sieht eine Erhöhung der für alle drei Fortbildungsstufen – nicht wieder für nur Mittel für die SBB auf insgesamt 61 Millionen Euro vor. eine –, die im BBiMoG ausgeführt werden. Es gibt höhere An dieser Stelle möchte ich Ihren Antrag mit einigen Zuschussanteile, höhere Freibeträge, eine verbesserte Worten bewerten: Sie benutzen eine Kreuzschlitzschrau- Unterhaltsförderung für Vollzeitgeförderte durch einen be für eine Schlitzschraube. Ich wäre vorsichtig. Am En- Vollzuschuss. Wir erhöhen die Kinderbetreuungszuschlä- de wird das nicht gehen. ge und stärken so die Familienfreundlichkeit. Wir er- höhen den Zuschussanteil zum Maßnahmenbeitrag. Da- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: durch werden Teilnehmer und Teilnehmerinnen Der Vergleich hat jetzt nicht gepasst!) hinsichtlich der Kosten der Fortbildungsmaßnahmen ent- Das wurde Ihnen auch von den Studienstiftungen in lastet. Und derjenige bzw. diejenige – das gefällt mir an einem Artikel vom 6. August dieses Jahres bestätigt. diesem Paket am besten –, der oder die die Fortbildungs- Die Stiftungen halten sich zurück, auch die FDP-nahe stufen durchlaufen hat und danach einen Betrieb über- Stiftung ist damit sehr vorsichtig. nimmt oder selbst gründet, wird von der Rückzahlung freigestellt. Ich finde, das ist ein hervorragendes Beispiel (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: dafür, wie die berufliche Bildung kernig gestärkt werden Im Gegenteil! Die würden das gerne machen! kann. Die freuen sich darauf!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Urteil der Stiftungen zusammengefasst lautet: Wir sind dafür schlicht die falschen Ansprechpartner. Nun kommen wir zum Kern Ihres Antrags. Die Stif- tung Begabtenförderung berufliche Bildung, kurz SBB, Wir fördern die richtigen Ansprechpartner und machen existiert; Sie haben es schon gesagt. Einfaches Beispiel: dabei große Schritte. Wir sorgen dafür, dass gleichwertige Es gibt zwei Schrauben, eine Kreuzschlitzschraube und Schrauben adäquat bearbeitet werden. – Diese Weiter- eine Schlitzschraube. Wenn Sie nicht den richtigen bildung war für Sie mehrwertsteuerfrei und sollte es auch Schraubenzieher benutzen, geht die Schraube kaputt, bleiben. und Sie kriegen sie nicht ins Holz rein. Also, die Schrau- Danke schön. benzieher müssen zur Schraube passen. Genau das ist die SBB an dieser Stelle für die Förderung im Bereich der (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU beruflichen Bildung. sowie des Abg. Dr. Karamba Diaby [SPD]) 14274 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

(A) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: es übrigens nur 7 Prozent, in den rot-grünen Bildungs- (C) Vielen Dank, Kollege Albani. – Der nächste Redner ist hochburgen Bremen und Nordrhein-Westfalen über der Kollege Dr. Götz Frömming, AfD-Fraktion. 20 Prozent. (Beifall bei der AfD) (Zuruf von der AfD: Ups!) Wie kann das sein, wo doch so viel Geld in die Bildung Dr. Götz Frömming (AfD): fließt wie in kaum einem anderen Land? Meine Damen Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und und Herren, der langjährige Präsident des Deutschen Leh- Herren! Lieber Kollege Brandenburg, ganz so vernich- rerverbandes, Josef Kraus, hat dafür eine auf den ersten tend wird unsere Kritik nicht ausfallen, wie es der Kollege Blick verblüffende Erklärung. Die eben beschriebene Mi- Albani eben hat anklingen lassen. sere resultiere aus einer seit Jahren betriebenen Überbe- (Stephan Albani [CDU/CSU]: Das war nicht wertung der akademischen Bildung bzw. Ausbildung. Er vernichtend, das war sachlich!) nennt auch diejenigen, die diesen Prozess seit Jahren vo- rangetrieben haben: die OECD mit PISA und Co sowie Wir können Ihrem Antrag durchaus einiges abgewinnen. die Bertelsmann-Stiftung. Unterstützt wurden diese wirt- Sie haben hier schon andere Anträge vorgestellt, zum schaftslobbyistischen Organisationen von linken Lehrer- Beispiel zum BAföG, mit denen wir größere gewerkschaften, deren Menschen- und Gesellschaftsuto- Schwierigkeiten hatten. Aber zu diesem Antrag sage pie die Forderung nach möglichst vielen Abiturienten und ich: Die Richtung stimmt, auch wenn wir im Detail mit Akademikern entgegenkommt. einigen Akzentsetzungen unsere Probleme haben. (Dr. Karamba Diaby [SPD]: Die GEW? Das ist Was will die FDP erreichen? Vereinfacht gesagt: Sie eine Beleidigung von Gewerkschaften!) wollen die bisher überwiegend auf Akademiker zuge- schnittene Stipendienwelt öffnen, und zwar für Begabte Leider haben sich da beide gemeinsam verrannt. Die aus dem Bereich der beruflichen Bildung. Sie wollen da- Überakademisierung, meine Damen und Herren, nutzt rüber hinaus, um nur noch zwei weitere Schwerpunkte zu weder den Menschen noch der Wirtschaft. nennen, die Mittelzuweisung der Stiftung Begabtenförde- (Beifall bei der AfD) rung berufliche Bildung für die Förderprogramme „Aufbaustipendium“ und „Weiterbildungsstipendium“ Über- und Pseudoakademisierung bei gleichzeitiger Ver- erhöhen. Und Sie wollen eine Öffnung des Deutschland- nachlässigung und Geringschätzung beruflicher Bil- stipendiums für Begabte aus der beruflichen Bildung zu- dungswege führt dazu, dass jeder dritte Student sein Stu- mindest prüfen. – So weit, so gut. dium abbricht und Millionen junge Leute in unserem (B) Land ohne Berufsabschluss dastehen; wir haben die Zah- (D) Etwas problematisch ist die dem Antrag innewohnende len eben genannt. Die jahrzehntelange Vernachlässigung Verwischung der Unterschiede zwischen akademischer der beruflichen Bildung erweist sich nun sogar als Wachs- und beruflicher Bildung. Diese sind gleichwertig, aber tumsbremse und geht mit einem gigantischen Fachkräfte- nicht gleichartig. Meine Damen und Herren, eine Diffe- mangel einher, der durch Migration und den Import me- renzierung ist hier dringend notwendig. Hubert Esser, xikanischer Pflegekräfte nicht ausgeglichen werden Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung, sagte kann; dazu während der Fachtagung „Berufliche Aus- und Fort- bildung in Zeiten der Akademisierung“ am 25. Juni 2019 (Beifall bei der AfD) in Bonn – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten –: von den gesellschaftlichen Kollateralschäden, auf die bei- Um die Attraktivität der beruflichen Bildung gegen- spielsweise auch Helmut Schmidt schon hingewiesen und über der akademischen Bildung wieder zu stärken, vor denen er gewarnt hat, einmal ganz zu schweigen. sollten wir keinesfalls der Versuchung erliegen, bei- de Bildungsbereiche anzugleichen. Wir sollten viel- Leider richtet sich unsere Bildungspolitik an den fal- mehr selbstbewusst die Stärken beider Bereiche be- schen Vorbildern aus, weil die Erbsenzähler der Testin- tonen und tragfähige Brücken bauen, um die dustrie uns Sand in die Augen gestreut haben. Sie sagen, Durchlässigkeit zu erhöhen. Durchlässigkeit darf wir sollten nach Schweden oder auch nach Finnland bli- aber nicht mit Beliebigkeit und Nivellierung oder cken, dort schafften über 90 Prozent das Abitur. Was uns einer Verwischung von Profilen einhergehen. die Herren des Schiefen Turms von Pisa nicht gesagt haben, ist, wie hoch dort die Jugendarbeitslosigkeit ist. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir müssen In beiden Ländern liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei um darüber sprechen, wohin uns die Überbewertung der aka- die 20 Prozent. demischen Ausbildung, die Überbewertung von Gymn- asien, Abitur und Studium im Vergleich zur beruflichen Meine Damen und Herren, in einem Bundesland wie Ausbildung gebracht hat. Bayern, in dem bekanntlich nicht jeder das Abitur sofort geschenkt bekommt, liegt sie nur bei 3 Prozent. Wir soll- Mehr als 2 Millionen Menschen im Alter von 20 bis ten uns überlegen, wer für uns Vorbild sein kann: Bayern 34 Jahren haben keinen Berufsabschluss, das geht aus oder Finnland und Schweden. Mir fällt diese Entschei- dem Berufsbildungsbericht 2019 hervor. 17 Prozent der dung leicht. Erwachsenen zwischen 25 und 65 Jahren haben keinen berufsqualifizierenden Bildungsabschluss, so weit der na- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Vielen tionale Bildungsbericht von 2018. In Ostdeutschland sind Dank. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14275

Dr. Götz Frömming (A) (Beifall bei der AfD) Aber diese Arbeit, die ideelle Förderung, verlangt Be- (C) treuung, entsprechende Verwaltungsstrukturen und damit Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: letztlich mehr finanzielle Mittel. Eine Öffnung der Werke für Auszubildende wäre ohne klare Festlegung, wie dann Der nächste Redner: für die SPD-Fraktion der Kollege für diese Gruppe die ideelle Förderung gewährleistet wer- Dr. Karamba Diaby. den soll, aus meiner Sicht eine Überforderung der Werke. (Beifall bei der SPD) (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: Dr. Karamba Diaby (SPD): Das lässt sich ja lösen!) Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Außerdem haben wir bereits die Stiftung Begabtenförde- ren! Der junge Stipendiat wusste damals noch nicht, dass rung berufliche Bildung; das wurde von Kollegen schon er einmal folgenden Satz sagen würde – ich zitiere –: genannt. Das Bürgerliche zeigt sich ... in der Verteidigung der Liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Sommer Freiheit, der Anerkennung des Individuums und da- haben alle 13 Werke zum ersten Mal eine Sommerakade- mit auch im Respekt vor Andersdenkenden. mie zum Thema „Demokratie gestalten!“ angeboten. In In Detmold/Kreis Lippe ist er am 5. Januar 1956 geboren, einer Zeit, in der die Demokratie in Gefahr gerät, ist das besuchte das Gymnasium, absolvierte sein Abitur, erhielt ein guter Weg. Es ist auch eine Wertschätzung, dass der später ein Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung und Bundespräsident, also ein Alumnus der Friedrich-Ebert- wurde Jurist. Heute ist Dr. Frank-Walter Steinmeier Bun- Stiftung, die Schirmherrschaft dieses Projektes übernom- despräsident der Bundesrepublik Deutschland. men hat. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in Deutsch- Meine sehr verehrten Damen und Herren, Freiheit ver- land werden aktuell circa 30 000 Studierende durch Be- teidigen, Menschen anerkennen und Andersdenkende gabtenförderungswerke gefördert. In den letzten Jahren respektieren sind Pfeiler einer offenen und solidarischen hat sich die Zahl der Geförderten mehr als verdoppelt. Gesellschaft. Deshalb sollten auch wir in diesem Be- Dafür gibt es zwei Gründe: Die Zahl der Studierenden wusstsein die Werke weiter stärken und nicht überfor- ist gestiegen. Die Fördermittel des Bildungs- und For- dern, liebe FDP. schungsministeriums werden regelmäßig erhöht. In Danke schön. Deutschland gibt es 13 Begabtenförderungswerke, die Stipendien an Studierende und Promovierende vergeben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Diese Werke bilden die verschiedenen weltanschauli- der CDU/CSU) (B) chen, religiösen, politischen, wirtschafts- oder gewerk- (D) schaftsorientierten Strömungen in Deutschland ab. Sie spiegeln also die Vielfalt dieser Gesellschaft wider, und Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: das ist gut so. Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin Dr. Birke Bull-Bischoff. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Erlauben Sie mir, ein praktisches Beispiel zu nennen. Das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk fördert Men- schen jüdischen Glaubens. Das Avicenna-Studienwerk Dr. Birke Bull-Bischoff (DIE LINKE): unterstützt muslimische Studierende. Beide Werke Meine Damen und Herren! Wenn man sich für Inklu- kooperieren trotz unterschiedlicher Zielgruppen hervor- sion engagiert – und das tut Die Linke nach Kräften –, ragend bei Veranstaltungen und Projekten. Das ist die dann kann man eigentlich gar nicht gegen diesen Antrag gelebte Realität Deutschlands, meine Damen und Herren. sein, weil Inklusion ganz grundsätzlich bedeutet, Men- schen in ihren Stärken und Begabungen zu fördern, und Im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf geeinigt, Vielfalt eine facettenreiche Quelle von Bildung ist. Das dass wir – ich zitiere – „die Stipendienkultur und Begab- heißt eben auch, ganz besondere Stärken zu fördern, auch tenförderwerke in Deutschland weiter stärken“ wollen. und gerade in der beruflichen Bildung – keine Frage. – So Deshalb ist es klar, dass wir die internationale Arbeit weit, so gut. der politischen Stiftungen auch in Zukunft unterstützen und rechtlich sichern wollen. Aber die Forderung, die Sie aufstellen, wird natürlich nicht in einem luftleeren Raum aufgerufen; denn wir tref- (Beifall bei der SPD) fen in der Bildung auf Verhältnisse, die erheblich von Die Werke stehen bereits heute vor großen Herausfor- sozialer Spaltung geprägt sind. Und – diese Bemerkung derungen. Ihre Arbeit bedeutet eben nicht nur die Aus- sei mir gestattet –: Die Forderung wird von den Liberalen zahlung eines Stipendiums oder einer Pauschale; denn die gestellt, die in aller Regel darauf beschränkt sind, ohnehin ideelle Förderung ist das Herzstück ihrer Arbeit und ihr privilegierte Eliten zu fördern. Da ist ein Stückchen Ach- Alleinstellungsmerkmal. Hierdurch vermitteln die Werke tung geboten. jungen Menschen Werte und Kernkompetenzen und stär- (Zuruf von der FDP: Was für ein Quatsch!) ken ihr Bewusstsein für das Gemeinwesen. Die Werke tragen so dazu bei, dass Menschen, die sich für die Ge- Verblüfft, ehrlich gesagt, wäre ich wirklich gewesen, sellschaft engagieren, unterstützt werden. Es geht hier wenn Sie hier mal einen Antrag gestellt hätten, der sich also auch um Demokratieförderung. mit jungen Menschen beschäftigt, die benachteiligt sind. 14276 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Dr. Birke Bull-Bischoff (A) (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Beate (C) Walter-Rosenheimer [BÜNDNIS 90/DIE Wo liegen die Probleme? Der Zusammenhang zwi- GRÜNEN]) schen sozialer Herkunft und Bildungserfolg ist ein ganz problematischer Befund für unser Bildungssystem hier- Wir brauchen Lernmittelfreiheit. Wenn junge Leute an- zulande, und das seit vielen Jahren, und findet sich auch fangen, Spaß und Motivation zu entwickeln, dann dürfen in beruflicher Bildung, wenn von Begabten die Rede ist. teure Lehrbücher keine Bremse sein. Und – ganz zentral –: Als Klammerbemerkung gestatten Sie mir zu sagen: Ich Wir brauchen endlich ausreichend multiprofessionelles halte es für treffender, von Begabungen zu sprechen, weil Lehrpersonal. Wir brauchen Rahmenbedingungen und „Begabtenförderung“ immer irgendwo aufruft, es gäbe Förderstrukturen, die überall Talente fördern. auch nichtbegabte Menschen. – Wenn also von Begabun- „Wir können auf kein Talent verzichten“, höre ich sehr gen die Rede ist, meint das zumeist Menschen, die bereits oft von einem der wertgeschätzten Kollegen der FDP. Ich dort lernen, wo gemeinhin Spitze vermutet wird: Abitu- finde nur: Das sollte kein Lippenbekenntnis sein. Mit rientinnen und Abiturienten mit besten Schulabschlüssen Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen, gehen oder junge Menschen mit Zugang zu besonders attrakti- Ihnen eine ganze Reihe von Talenten durch die Lappen. ven Berufsausbildungen, und das meint eben leider in aller Regel nur bereits privilegierte junge Menschen. (Beifall bei der LINKEN) Bei den Stiftungen beispielsweise, von denen hier die Rede ist, ist das geradezu ein Markenzeichen. Menschen, die sich da bewerben, kommen aus sozialen Milieus, wo Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: man sich kennt, wo man gewohnt ist, sich zu bewerben, Die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer hat das Wort und wo man es für möglich hält, dass eine solche Tür sich für Bündnis 90/Grüne. öffnet. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Förderung von Begabungen darf aber nicht auf Privilegiertenförderung reduziert werden oder, genauer Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/DIE gesagt, eine solche bleiben. Das jedoch geschieht mit GRÜNEN): dem Antrag. Wenn Sie sich die Zahlen beispielsweise Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kollegen und von den politischen Stiftungen ansehen, dann werden Kolleginnen! Liebe Zuhörer und Zuhörerinnen! Lieber Sie merken, dass dort weit überproportional junge Men- Kollege Brandenburg, erst mal ist das ja eine wunder- schen mit einem akademischen Elternhintergrund geför- schöne Idee: Sie wollen Bildung gerechter machen und dert werden. berufliche und akademische Bildung gleichstellen, zu- mindest in einem kleinen Aspekt, nämlich der Begabten- (B) (Zuruf des Abg. Dr. Jens Brandenburg [Rhein- förderung. Sie fordern in Ihrem Antrag, die Begabtenför- (D) Neckar] [FDP]) derung für Talente der beruflichen Bildung zu öffnen. – Bis auf die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Und das klingt gut: keine akademisch abgeschottete Eli- tenförderung mehr, sondern Gleichbehandlung auch für (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und Auszubildende. Sie wollen die Förderung von jungen Ta- der SPD) lenten aus dem akademischen Bereich ausweiten auf den Ausbildungsbereich, Förderung also nicht nur für Studie- Was in Ihrem Antrag fehlt, sind Vorschläge dafür: Wie rende, sondern auch für Azubis. Im Sinne der Gleichwer- kann es gelingen, die Stärken auch derjenigen jungen tigkeit von beruflicher und akademischer Bildung ist das Menschen zu fördern, die alles andere als privilegiert durchaus fair und konsequent gedacht. sind? Anders gefragt: Wie kann es gelingen, die Stärken jener jungen Menschen sichtbar zu machen, die in Insti- Bisher ist es so – ich zitiere, was Sie sagen –: tutionen lernen, wo gemeinhin Begabung nicht vermutet wird? Ich nenne hochbegabte Kinder in Förderschulen Die Gleichwertigkeit von beruflicher und akademi- beispielsweise. Diese Welten fallen bei Ihnen leider sehr scher Bildung bleibt auch in der Begabtenförderung oft unter den Tisch. Auch junge Menschen ohne Berufs- mehr Wunsch als Wirklichkeit. abschluss, junge Menschen mit Hauptschulabschluss Das wollen Sie ändern, und das finde ich gut. Allerdings können über außergewöhnliche Talente verfügen, aber frage ich mich, warum Ihnen dann doch ein bisschen der sie lernen meist nicht an den Stellen, die als Talent- Mut fehlt, das Ganze konsequent durchzudeklinieren. schmieden gelten. Dort sucht man sie in aller Regel gar nicht. Förderung der Spitze kann nur gelingen, wenn das Warum fordern Sie in Ihrem Antrag nur einen Anteil Fundament nicht vernachlässigt wird; ansonsten wird es von mindestens 10 Prozent Stipendiaten und Stipendia- reichlich dünn mit der Spitze. tinnen aus der beruflichen Bildung? Was wäre notwendig? Wir brauchen ein Recht auf Aus- (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: bildung, Das können wir gern erhöhen!) Wenn Sie wirklich Gleichwertigkeit herstellen wollen, (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) warum dann nicht Nägel mit Köpfen machen und eine damit junge Leute, bei denen erst in der Ausbildung der echte Öffnung der Begabtenförderungswerke fordern, ge- Knoten platzt, gewissermaßen Spätentwickler, das Recht mäß der sich Auszubildende und Studierende die Plätze haben, Stück für Stück eine vollqualifizierende Ausbil- teilen? Eines muss, denke ich, klar sein: Eine bloße Sym- dung zu beginnen. bolpolitik, dass wir immer so ein bisschen was machen, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14277

Beate Walter-Rosenheimer (A) wird uns auf dem Weg zur Gleichwertigkeit nicht weiter- Wir brauchen für die Zukunft im Bereich Begabten- (C) bringen. förderung dringend eine neue Betrachtung, einen neuen Weg und den berühmten Blick über den Tellerrand. Das Gleiche gilt, finde ich, auch für die Zögerlichkeit beim Deutschlandstipendium. Sie wissen ja, wir halten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das eh nicht für so zielführend. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: Sie wollen es abschaffen!) Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Vielen Dank, Frau Kollegin. – Die nächste Rednerin ist Aber wenn schon Öffnung des Deutschlandstipendiums, die Kollegin Katrin Staffler, CDU/CSU-Fraktion. dann würden wir gern wissen: Was meinen Sie mit „mit- telfristig“? Zwei Jahre, fünf Jahre, zehn Jahre? Das finde (Beifall bei der CDU/CSU) ich ein bisschen unklar in Ihrem Antrag. Katrin Staffler (CDU/CSU): Sie schreiben auch noch, dass sich die Begabtenförde- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich rungswerke frei für eine Öffnung entscheiden sollen. Das bin der Meinung, wir sollten diesen September zum Mo- ist ja sehr schön. Aber meinen Sie, dass das ein probates nat der beruflichen Bildung erklären. Mittel ist? Ich denke, dass der Widerstand gegen diese Öffnung in Hochschulkreisen ja recht hoch sein könnte. (Beifall der Abg. Beate Walter-Rosenheimer Wir haben es gerade bei den Berufsbezeichnungen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Bachelor Professional und Master Professional erlebt. Nicht nur, dass wieder, wie jedes Jahr im September, der Wie gesagt, ich finde Ihren Vorschlag durchaus attrak- diesjährige Jahrgang der Azubis mit der Ausbildung be- tiv – er kann ein Schritt in die richtige Richtung sein –, gonnen hat; wir haben in diesem Monat auch schon aber dann braucht es, denke ich, mehr Konsequenz. „50 Jahre Berufsbildungsgesetz“ gefeiert. Die Moderni- sierung des Berufsbildungsgesetzes ist im parlamen- Lassen Sie mich noch zu einem anderen Aspekt kom- tarischen Verfahren – man könnte so sagen – auf der men, der mir wichtig ist. Wenn wir diese Debatte aufma- Zielgeraden. Die Novelle des Aufstiegsfortbildungsför- chen, dann müssen wir uns auch mal darüber Gedanken derungsgesetzes ist im Kabinett in diesem Monat verab- machen, wie wir Talente in unserem Land künftig fördern schiedet worden. Seit Anfang des Monats – der Kollege wollen. Ein zentrales Problem – Frau Bull-Bischoff hat es Stephan Albani hat darauf hingewiesen – sind wir in der schon angesprochen – ist hier doch, dass die Zugangs- Konzeptphase des InnoVET-Wettbewerbs, bei dem chancen zu Förderprogrammen ganz ungleich verteilt (B) 30 Projekte Konzepte für innovative, zukunftsfeste und (D) sind, und das gilt sowohl für die berufliche als auch für exzellente berufliche Bildung entwickeln. Und wir haben die akademische Bildung. Das geht ganz oft nach dem gerade in dieser Woche, am Montag, in der Enquete- Motto „Wer hat, dem wird gegeben“, und dann bekom- Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Ar- men junge Menschen aus Akademikerfamilien immer beitswelt“ mit den Zwischenberichten erste konkrete noch überproportional häufig Stipendien, während Kin- Handlungsempfehlungen beraten. Alles in diesem einen der aus Arbeiterhaushalten oft leer ausgehen. Klugheit, Monat! Und jetzt kommt auch noch der Antrag der FDP. Intelligenz, Talent sind nicht immer die entscheidenden Kriterien. Es kommt immer noch viel zu sehr auf das Ich muss ganz ehrlich sagen: Ich war einen kurzen Elternhaus an, immer noch viel zu sehr auf den Bildungs- Augenblick dazu verführt, mich zu freuen, als ich den stand und den Geldbeutel der Eltern; und das sollte im Titel „Spitzen-Azubis fördern“ gelesen habe. Ich stimme Jahr 2019 nicht mehr ausschlaggebend sein für den Erfolg dem durchaus zu. Wenn man nämlich wirklich Gleich- der Kinder. wertigkeit zwischen akademischer und beruflicher Bil- dung will, dann ist es natürlich richtig und natürlich auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gerecht, wenn wir auch die vielen Talente aus dem Be- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) reich der beruflichen Bildung entsprechend fördern. Und hier, liebe Kollegen und Kolleginnen, müssen wir Mit der Freude war es dann leider relativ schnell wie- gemeinsam ran. der vorbei, als ich im Titel weitergelesen habe; da heißt es Als Grüne setzen wir uns seit Langem für die soziale dann nämlich: „Begabtenförderung für Talente der beruf- Öffnung der Förderprogramme ein, damit auch bisher lichen Bildung öffnen“. In Ihrem Antrag fordern Sie eine unterrepräsentierte Gruppen endlich erreicht werden. radikal neue Form der Begabtenförderung. Jetzt bin ich Das ist doch die Herausforderung, die wir gemeinsam grundsätzlich ein Freund davon, dass man über Dinge, die anpacken müssen. nicht gut laufen, nachdenkt. Ich sträube mich auch nicht dagegen, dass man etwas ändert, wenn es nötig ist; aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- das ist ja hier gar nicht der Fall. Hier müssen wir uns erst wie der Abg. Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE einmal die Frage stellen: Welche Möglichkeiten existie- LINKE]) ren denn eigentlich, und woran können wir anknüpfen? Wir Grüne wollen nicht Eliten fördern, sondern Talente. Da bin ich jetzt wieder bei der Stiftung Begabtenför- Wir wollen Menschen in all ihren Begabungen fördern derung berufliche Bildung; die ist ja heute schon in fast und den Begabtenbegriff nicht nur an guten Noten fest- allen Reden genannt worden. Ich habe mal den Jahresbe- machen. richt 2018 mitgebracht. Liebe Kolleginnen und Kollegen 14278 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Katrin Staffler (A) von der FDP, er ist zwar ausgedruckt und daher vielleicht tausch von Talenten in der beruflichen Bildung mit denen (C) nicht im richtigen Format für eine digitale Partei; in den Hochschulen besser klappt. – Das sind alles kon- krete Punkte, wo wir besser werden können, ohne dass (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: wir das gut funktionierende System der Begabtenförde- Den gibt es auch digital!) rung komplett umkrempeln müssten. den gibt es aber auch digital, und es lohnt sich, da mal nachzulesen. Sie schreiben ja in Ihrem Antrag, dass Ta- (Beifall bei der CDU/CSU) lente beruflicher Bildung bisher keinen Zugang zu För- Unser lieber Kollege Herr Dr. Sattelberger merkt ja derprogrammen hätten, die zum Beispiel zusätzliche immer wieder an: „Ich würde so gern aufzählen, was Kompetenzen vermitteln und vernetztes Denken stärken; unsere Regierung gut macht.“ Ja, warum auch nicht? Na- das kann man in Ihrem Antrag lesen. Ich habe den Bericht türlich. Ich finde, man muss auch mal sagen dürfen, wenn jetzt hier und schlage Seite 28 auf. Ich zitiere: etwas gut klappt. Ich habe immer das Gefühl, dass die Das umfangreiche Seminarprogramm in der ideellen Opposition das gerne wegdiskutieren möchte. Deswegen Förderung des Aufstiegsstipendiums bietet eine werde ich auch heute wieder meinem Ruf hier gerecht breite Palette an fachübergreifenden Themen. Diese werden und dem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge reichten vom Zeit- und Selbstmanagement über das helfen. Ich möchte nämlich auf eine Maßnahme hinwei- erfolgreiche Meistern von Konfliktgesprächen und sen, die wir ergriffen haben, um eben die Gleichwertig- professionelle Internetrecherche bis zu Strategien keit der akademischen und der beruflichen Bildung noch für die Prüfungsvorbereitung. Darüber hinaus gab weiter zu stärken, und zwar die vierte Novelle des Auf- es Seminare zu gesellschaftlichen Themen, etwa stiegs-BAföGs. zur Zukunft der EU, zum Rechtsextremismus und Die Ziele, die wir mit dieser Novelle verfolgen, sind: zur Energie- und Klimapolitik. deutliche Verbesserungen beim Unterhaltszuschuss, mehr Jetzt weiß ich nicht, wie Sie das interpretieren; aber ich Familienfreundlichkeit, die Erhöhung des Zuschusses würde ganz ehrlich sagen, Sie müssten in Ihrem Antrag zum selbst zu zahlenden Beitrag, genauso der Erlass des noch mal ein bisschen nacharbeiten, weil Sie von völlig Beitrags bei erfolgreichem Bestehen der Prüfung. Und, falschen Grundannahmen ausgehen. was ich besonders erfreulich finde, wir sehen auch eine Verbesserung in Form eines Beitragserlasses bei Exis- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – tenzgründung vor. Das sind alles richtige und gute Anrei- Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: ze, wie ich finde. Berufsausbildung darf eben insgesamt Warum ist Ihnen das dann nur ein Fünftel der dem Hochschulstudium in nichts nachstehen. Summe wert?) (B) Ich freue mich von daher, dass die FDP das Thema (D) Stattdessen schlagen Sie vor, alle 13 Begabtenförde- „exzellente berufliche Bildung“ für sich entdeckt hat, rungswerke, die wir haben, zu öffnen. Da muss man sich und würde mich noch mehr freuen, wenn wir jetzt ge- überlegen, was das ganz konkret bedeutet. Das ist natür- meinsam anfangen würden, uns vernünftig darüber zu lich eine große Kraftanstrengung: Die Satzungen müssen unterhalten, wie wir das erreichen können. grundlegend erneuert werden. Es braucht ganz grund- legend andere Aufnahmeverfahren dafür. – Natürlich Vielen Dank. kann man das machen; das ist nicht die Frage. Die Frage (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. ist: Ist das nötig, um das Ziel, das wir am Schluss gemein- Dagmar Ziegler [SPD]) sam definiert haben, zu erreichen,

(Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Ja!) Die Kollegin Yasmin Fahimi, SPD-Fraktion, ist die oder gibt es vielleicht auch einen anderen Weg, das Ziel letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt. zu erreichen, der vielleicht ein Stück weit einfacher und vernünftiger ist? Und wenn ich da mit Vernunft und ge- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stephan sundem Menschenverstand abwäge, komme ich zu dem Albani [CDU/CSU]) Schluss, dass es eben nicht vernünftig ist, die an sich gut funktionierenden Begabtenförderungswerke, die wir ha- Yasmin Fahimi (SPD): ben, komplett umzubauen. Stattdessen würde ich vor- Sehr geehrter Herr Bundestagsvizepräsident! Liebe schlagen: Lassen Sie uns doch mal darüber sprechen, Kolleginnen und Kollegen! Die FDP hat die berufliche wie man zum Beispiel die Stiftung Begabtenförderung Bildung für sich entdeckt. Halleluja! berufliche Bildung weiter ausbauen kann, (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: Klar! – Dr. Karamba Diaby [SPD]: Da sind wir Nicht erst seit heute!) dabei!) Hemdsärmelig präsentiert sich die FDP ja sowieso schon wie man die Förderung exzellenter Azubis stärken kann, gerne auf Plakaten; aber bodenständig und sachkundig ist wie man das Ganze noch bekannter machen kann – das ist sie damit noch lange nicht. Im gefälligen Gewand der ja auch ein Thema – und – ein Punkt, der mir auch noch Begabtenförderung kommt nun die FDP in alter Manier wichtig ist – wie man die Kooperation mit Begabtenför- daher und erzählt uns etwas über die Klischees von Leis- derungswerken noch erweitern kann, damit der Aus- tungsstarken und Leistungsschwachen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14279

Yasmin Fahimi (A) Begabtenförderung ist aber etwas anderes, als sich nur (Katja Suding [FDP]: Weil Sie es einfach nicht (C) eine Elite herauszupicken und sie mit einem zusätzlichen verstehen!) Bonbon zu versehen. Geht es um Vielfalt? Geht es um ein Eliteverständnis? Es (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: gibt Zusatzangebote im Ausland, die in den Betrieben Klar!) angeboten werden, und es gibt vor allem auch nachholen- den Unterricht. Das ist mein Verständnis davon, wie man Wenn Sie das machen möchten, wenn Sie sich auf diesen Talente in einem umfassenderen Sinne wahrnimmt und Gedanken einlassen, dann machen Sie sich doch so ehr- ihnen auf den Weg hilft. Und das gilt für alle Talente, die lich und schreiben einen Antrag zur Einführung eines wir haben, und nicht nur für eine Eliten-Spitzenförderung zusätzlichen Bundespreises für das erste Prozent der am mit nachgewiesenen Abschlüssen, wie sie Ihnen offen- besten abschneidenden Azubis. Das wäre ehrlicher, das sichtlich vorschwebt. wäre nachvollziehbarer. (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: Das stimmt doch gar nicht! Wo haben Sie das Das ist keine ideelle Förderung!) her?) Stattdessen schreiben Sie etwas über die Vielfalt und die Das Ziel Ihres Antrags bleibt also unklar. Im Gewand der Begabtenförderung in Ihrem Antrag. Das ist alles ganz Gleichwertigkeit und der Vielfalt schreiben Sie hier leider nett; aber ich frage mich: Wann haben Sie eigentlich das sachlichen Unsinn auf und haben ein sehr eingeschränk- letzte Mal mit einem Förderwerk gesprochen? tes Verständnis davon, was Talent und was Begabtenför- derung eigentlich überhaupt heißt. (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: Vor wenigen Tagen!) (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: Das machen die bereits jeden Tag. Das Gegenteil dessen steht im Antrag!) Wenn Sie wirklich etwas für die Auszubildenden tun Im Leitbild der Studienstiftung des deutschen Volkes wollen, dann bringen Sie sich konstruktiv in die BBiG- steht etwas, was sich hinsichtlich der Frage des Verständ- Novelle ein, und lassen Sie uns dort die Bedingungen für nisses von Vielfalt und Elite schon differenziert von dem, Auszubildende verbessern. Da können Sie dann bewei- was Sie schreiben. Da steht nämlich: sen, ob Sie in Zukunft auch wirklich eine Partei der beruf- Wichtig sind uns in unseren Auswahlverfahren of- lichen Bildung sind. fene und faire Zugangswege: Bei der Beurteilung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Potenzials junger Menschen betrachten wir ge- (B) der CDU/CSU) (D) lebtes Engagement und alles bislang Erreichte stets vor dem Hintergrund der individuellen Biografie. Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: Es geht also darum – ja, natürlich –, überhaupt ein Stu- Ich schließe die Aussprache. dium zu ermöglichen. Es geht aber vor allem auch um eine ganzheitliche Betrachtung und um ein umfassende- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf res Verständnis von Elite. Es geht nämlich um junge Men- Drucksache 19/13460 an die in der Tagesordnung aufge- schen, die ausdrücklich ein besonderes gesellschaftliches führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Engagement mitbringen, und es geht um demokratische verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Verantwortungselite. Davon ist in Ihrem Antrag über- so beschlossen. haupt nicht die Rede. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 32 a bis 32 c auf: (Dr. Jens Brandenburg [Rhein-Neckar] [FDP]: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Das stimmt doch gar nicht!) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Auch die unterschiedlichen Voraussetzungen von Aus- rung des Grunderwerbsteuergesetzes zubildenden und Studierenden betrachten Sie überhaupt nicht. Lernmittelzuschüsse zum Beispiel brauchen Aus- Drucksachen 19/13437, 19/13546 zubildende eigentlich gar nicht; die Lernmittel sollten Überweisungsvorschlag: nämlich die Betriebe zur Verfügung stellen. Wenn Sie Finanzausschuss (f) Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft hier aber eine Regelungslücke sehen, dann lassen Sie Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen uns doch in der aktuellen Novelle des BBiG bitte schön auch eine unmissverständliche Regelung dazu finden; b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Udo dann wäre nämlich allen geholfen. Auszubildende erhal- Theodor Hemmelgarn, Marc Bernhard, Frank ten auch anders als Studierende eine Ausbildungsvergü- Magnitz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion tung – und dank der SPD in Zukunft eine Mindestausbil- der AfD dungsvergütung und eine verbesserte Änderung des Steuerrechts – Besteuerung der Ausbildungsbeihilfe. sogenannten Share Deals im Immobilienbereich (Beifall bei der SPD) Drucksache 19/13532

Das passt also alles nicht zusammen, wenn man be- Überweisungsvorschlag: denkt, worum es hier eigentlich geht. Finanzausschuss (f) 14280 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich (A) Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen (f) gehen. Die Frist wollen wir auch hier auf zehn Jahre (C) Federführung strittig erweitern und den Tatbestand auf Kapitalgesellschaften c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg ausdehnen. Eine Umgehung mittels Kapitalgesellschaf- Cezanne, Fabio De Masi, Caren Lay, weiterer Ab- ten wird dann deutlich erschwert. geordneter und der Fraktion DIE LINKE (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Share Deals – Steuervermeidung bei Immobi- Flankiert werden diese Hauptelemente des Gesetzent- liengeschäften bekämpfen wurfs von weiteren Einzelmaßnahmen. Unter anderem Drucksache 19/10067 wird die Begrenzung des Verspätungszuschlages besei- tigt. Hierdurch wird sichergestellt, dass der Verspätungs- Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) zuschlag auch bei hochpreisigen Immobilientransaktio- Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft nen seinen eigentlichen Zweck erreicht, nämlich den Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen Steuerpflichtigen zur rechtzeitigen Anzeige eines Grund- Interfraktionell sind 38 Minuten vereinbart. – Ich höre stückerwerbs zu bewegen. keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Thema Es beginnt für die Bundesregierung die Parlamentari- Share Deals wird eine emotional aufgeladene Debatte ge- sche Staatssekretärin Sarah Ryglewski. führt, und wir wissen, dass es eine sehr diffizile Diskus- sion ist. Der Grundgedanke hinter den Share Deals war (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ursprünglich ja nicht, ein Steuersparmodell zu schaffen, sondern es zu ermöglichen, dass Unternehmen, gerade Sarah Ryglewski, Parl. Staatssekretärin beim Bun- wenn sie Verantwortung übernehmen, nicht noch zusätz- desminister der Finanzen: lich durch Grunderwerbsteuer belastet werden. Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Wir wissen, dass das Thema Steuergestaltung ein Ha- Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wie se-und-Igel-Spiel ist, wo wir aufpassen müssen, dass wir vorhin angekündigt, beraten wir jetzt über den vorliegen- Schritt halten. Deswegen werden wir in den Beratungen den Gesetzentwurf zum Thema Share Deals. Wir arbeiten sehr genau gucken, ob das, was wir wollen, auch wirklich hiermit – das möchte ich ganz ausdrücklich sagen – eine mit dem Gesetz erreicht wird. weitere Vereinbarung des Koalitionsvertrages ab. Für alle, die mit der Materie nicht ganz so vertraut sind: (Dr. Florian Toncar [FDP]: Das bezweifeln wir Was sind denn eigentlich Share Deals? Share Deals gibt jetzt schon! – Sebastian Brehm [CDU/CSU]: (B) es besonders bei hochpreisigen Immobilientransaktionen. Wir auch! Vehement!) (D) Investoren kaufen dabei nicht die Immobilie und das Denn der klare Wille der Bundesregierung ist es, dass wir Grundstück selbst, sondern die Anteilsmehrheit an einem dem Missbrauch der Gestaltungsmöglichkeiten durch Unternehmen. Solange dieser Anteil weniger als 95 Pro- Share Deals einen Riegel vorschieben. Da setzen wir auch zent beträgt, wird für diese Transaktion keine Grund- auf die gute und erprobte Zusammenarbeit mit den Par- erwerbsteuer fällig. Oft wird das jeweilige Unternehmen lamentarierinnen und Parlamentariern dieses Hauses. sogar eigens für diese Transaktion gegründet. Um es kurz zu machen: Einige große Unternehmen nutzen Gestal- Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. tungsspielräume aus, um zulasten unseres Gemeinwesens (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Steuern zu sparen. Dieses Verhalten stört zu Recht das der CDU/CSU) Gerechtigkeitsempfinden vieler Bürgerinnen und Bürger, die beim Kauf ihres Familieneigenheims ganz selbstver- ständlich Grunderwerbsteuer zahlen, und das nicht zu Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: knapp. Vielen Dank. – Der nächste Redner: der Kollege , AfD-Fraktion. Mit dem vorliegenden Regierungsentwurf eines Geset- zes zur Änderung des Grunderwerbsteuergesetzes, der im (Beifall bei der AfD) Wesentlichen Vorschläge der Finanzminister der Länder beinhaltet, werden die missbräuchlichen Steuergestaltun- Udo Theodor Hemmelgarn (AfD): gen in der Grunderwerbsteuer durch verschiedene Einzel- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- maßnahmen eingedämmt. nen und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer auf den Tribü- nen! Ein paar Hundert Meter von hier steht das Sony Zentral ist dabei die Absenkung der Beteiligungsgren- Center. Das wurde 2017 für mehr als 1 Milliarde Euro ze von 95 auf 90 Prozent. Zusätzlich wird die Frist, wäh- verkauft, ohne dass auch nur ein Cent Grunderwerbsteuer rend der die Beteiligungen gehalten werden müssen, von gezahlt wurde. fünf auf zehn Jahre verlängert. Missbräuchliche Gestal- tungen werden dadurch nicht nur erschwert, sondern sie (Sebastian Brehm [CDU/CSU]: Stimmt nicht!) werden vor allem für Leute, die sie wirklich nur nutzen, um Steuern zu sparen, deutlich unattraktiver. Während jeder Häuslebauer die Grunderwerbsteuer zahlen muss, kommen große Investoren daran vorbei. Es ist zukünftig auch nicht mehr möglich, durch suk- Der Trick: Man kauft nicht das Grundstück an sich, son- zessive Gesellschafterwechsel nach mehr als fünf Jahren dern die Gesellschaft, der es gehört. Zunächst 94,9 Pro- der Pflicht zur Zahlung der Grunderwerbsteuer zu ent- zent und nach Ablauf von fünf Jahren die restlichen An- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14281

Udo Theodor Hemmelgarn (A) teile. Das Ganze nennt sich Share Deal und ist völlig mehr Mitteln aus dem Länderfinanzausgleich belohnt. (C) legal. Bekannt ist das seit Langem, passiert ist wie immer Eine Senkung der Steuer wird mit weniger Mitteln be- nichts. Eine weitere Ungerechtigkeit im Merkel-Rechts- straft. Es ist offensichtlich, dass das keinen Sinn macht. staat. Die Bundesregierung darf sich dabei nicht auf fruchtlose Appelle beschränken. Sie muss handeln und entsprechen- Verschärft wurde das Problem noch dadurch, dass sich de Änderungen auf den Weg bringen. die Länder einen regelrechten Wettlauf um die höchste Grunderwerbsteuer liefern. Seit 2006 wurde die Grund- Drittens: Fokus auf den Inhalt des Geschäfts. Was ge- erwerbsteuer in den Ländern insgesamt 27-mal erhöht. nau soll durch das Geschäft erworben werden? Geht es Sie erreicht jetzt in der Spitze 6,5 Prozent. Die Länder tatsächlich um ein Immobilienunternehmen, dessen wirt- haben leider auch allen Grund zur Erhöhung der Steuer: schaftlicher Kern ein oder mehrere Grundstücke sind? Im Länderfinanzausgleich wird ihnen ein zu geringer Oder geht es zum Beispiel um eine produzierende Gieße- Steuersatz negativ angerechnet. – Das Gesamtaufkom- rei, wo das Betriebsgrundstück nur eine untergeordnete men der Grunderwerbsteuer stieg seit 2006 von 6 Milliar- Rolle spielt? Wird die Mehrheit im erstgenannten Fall den Euro auf 14 Milliarden Euro im Jahr 2018. erworben, soll natürlich Grunderwerbsteuer gezahlt wer- den. Im letztgenannten Fall geht es dagegen um den Er- Die Länder wollen selbstverständlich am Boom im werb der Gießerei, sodass Grunderwerbsteuer nicht an- Immobilienbereich partizipieren. Doch je weiter die fallen soll. Grunderwerbsteuer angehoben wurde, desto attraktiver wurden Share Deals. Gerade bei großen Immobilienge- Wir haben einen Antrag vorgelegt, der zeigt, wie die sellschaften ab circa 15 Millionen Euro lohnt sich der Share-Deal-Problematik zu lösen ist. Natürlich wird man Share Deal für Investoren. Das ist nicht gerecht, aber uns wieder sagen: Unsere Lösung werde aus diesen oder ökonomisch verständlich. Dem Normalbürger ist nicht jenen Gründen nicht funktionieren, sie sei Spinnerei und zu vermitteln, dass er bis zu 6,5 Prozent Grund- wir hätten überhaupt keine Ahnung. – Deshalb ein kurzer erwerbsteuer zahlen soll, während andere das nicht tun. Hinweis: Unser Konzept entspricht im Wesentlichen der So wird auf Dauer das Ansehen des Rechtsstaates noch Anregung, die im Frühjahrsgutachten des Rates der Im- weiter beschädigt. mobilienweisen zur Lösung des Problems gegeben wur- de. (Beifall bei der AfD) Die Bundesregierung hat sich des Problems jetzt ange- Die Bundesregierung hat wieder einmal die Wahl, das nommen und nach langem Hin und Her einen Gesetzent- Problem vor sich herzuschieben oder es zu lösen und so wurf vorgelegt. Das Ergebnis ist ernüchternd. Die Betei- rechtliche Klarheit zu schaffen. Wir befürchten, leider (B) ligungsgrenze wird von knapp 95 auf 90 Prozent schon heute zu wissen, welche Möglichkeit Sie wählen. (D) abgesenkt, die Haltefrist von fünf auf zehn Jahre verlän- Danke. gert. Im Ergebnis werden damit lediglich die bisherigen Grenzen verschoben. Wurden Share Deals bisher ab circa (Beifall bei der AfD) 15 Millionen Euro Grundstückswert vollzogen, wird sich diese Grenze wahrscheinlich auf 20 Millionen Euro erhö- hen. Die Share Deals im Immobilienbereich werden da- Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich: mit etwas weniger attraktiv. Gelöst wird das Problem Der nächste Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der trotzdem nicht. Eine angemessene Lösung sieht anders Kollege Olav Gutting. aus. Aber wie immer fehlt es der Bundesregierung am (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Willen und an der Kraft, sich von einem untauglichen Abgeordneten der SPD) System zu lösen. Lieber stümpert man weiter daran he- rum. Olav Gutting (CDU/CSU): Wir haben zu den Share Deals einen eigenen Antrag Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lie- vorgelegt. Die richtige Lösung besteht aus unserer Sicht be Besucher auf den Zuschauertribünen! Der heute aus drei wesentlichen Punkten. vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung des Grund- Erstens: Senkung der Grunderwerbsteuer. Wir haben erwerbsteuergesetzes war ursprünglich im Jahressteuer- hier und an anderer Stelle immer wieder gefordert, dass gesetz enthalten. Mit diesem Gesetz wollen wir, wie die Grunderwerbsteuer gesenkt wird. Sie hindert viele schon dargestellt, die grunderwerbsteuerlichen Folgen Bürger am Erwerb von Wohneigentum. Und vergessen von missbräuchlichen Share Deals verhindern bzw. ein- wir nicht: Eigentum ist Absicherung im Alter. Das alleine dämmen. wäre schon Grund genug, um sie zu senken. Daneben führt sie dazu, dass große Investoren nach Steuervermei- Durch die Intervention der CDU/CSU-Bundestags- dungsmöglichkeiten suchen und Share Deals abschlie- fraktion konnten wir diese Änderung bei der Grund- ßen. Deshalb muss die Grunderwerbsteuer – notfalls erwerbsteuer aus dem Jahressteuergesetz herausnehmen. durch eine Verfassungsänderung – auf maximal 3,5 Pro- Ich glaube, dass diese Abtrennung aufgrund der Komple- zent gedeckelt werden. xität und der Folgewirkungen dieses Gesetzentwurfs auch wirklich zwingend notwendig war. Wir benötigen eine Zweitens: Änderung des Länderfinanzausgleichs. Der- angemessene Zeit zur intensiven Auseinandersetzung zeit bietet der Länderfinanzausgleich deutliche Fehlanrei- mit diesem Thema und zu einer umfangreichen Auswer- ze. Eine Erhöhung der Grunderwerbsteuer wird mit noch tung der vorliegenden Sachverständigengutachten. 14282 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Olav Gutting (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. verwaltungsgesellschaften umgegangen werden? Wie (C) Dr. Florian Toncar [FDP]) soll die Zuordnung des Anteilserwerbs bei ausländischen Investoren erfolgen? Wie soll die Einführung der Steuer- Bundesregierung, Bundesrat und auch die Koalitions- pflicht für Kapitalgesellschaften administriert werden, fraktionen sind sich zwar über die Zielrichtung dieses wenn schon bei der Besteuerung von Personengesell- Gesetzes einig, aber nicht unbedingt über den Weg. Aber schaften ein Defizit im Vollzug besteht? Wie soll in dazu nachher mehr. Strukturen mit weit gefächertem Anteilsbesitz, zum Bei- Die hehren Ziele des Entwurfs – Frau Staatssekretärin spiel über Kapitalsammelstellen, eine echte Nachvoll- hat es ja schon dargestellt – sind die Missbrauchsverhin- ziehbarkeit von Gesellschafterwechseln und damit ein derungen bei den sogenannten Share Deals. Manche Kri- Vollzug durch die Finanzverwaltung überhaupt möglich tiker sprechen ja von einem Steuerschlupfloch, das es sein? Das sind alles Fragen, die bisher noch keine Ant- jetzt möglichst schnell zu schließen gilt. wort gefunden haben. Das Bundesfinanzministerium ist redlich bemüht; das muss man schon anerkennen. Die (Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE Fachabteilungen mühen sich ab, die Vorgaben aus dem GRÜNEN]: Jawohl!) Koalitionsvertrag umzusetzen. Aber durch die Vorgaben Aber die Frage ist doch: Wann ist der Erwerb von Grund und Vorlagen der Länder kommt hier leider nur ein Frag- und Boden mittels eines Share Deals noch eine zulässige ment zustande. Gestaltung, und ab wann kann man tatsächlich von einem (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Missbrauch sprechen? Diese Frage ist meines Erachtens weder von der Wissenschaft noch von den Bundeslän- Mit diesem Fragment ist man weder in der Lage, den dern, die für diese Steuer ja die Verwaltungskompetenz Missbrauch von Share Deals wirklich zu definieren, noch und die Ertragskompetenz haben, bisher befriedigend be- lässt es Hoffnung auf eine wirklich nachhaltige Bekämp- antwortet. fung dieses Missbrauchs aufkommen. Außerdem muss erwähnt werden: Wir haben im Koalitionsvertrag noch (Dr. Florian Toncar [FDP]: Warum legt die etwas mehr vereinbart. Ich vermisse den Freibetrag für Bundesregierung dann heute einen Entwurf den Ersterwerb, den wir gerade für junge Familien als ein vor?) wichtiges Signal zur Schaffung von Wohnraum erachten. Die jetzt im Gesetzentwurf vorgesehene Absenkung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) der Beteiligungsgrenze von 95 auf 90 Prozent sowie die Verlängerung der Behaltensfrist von fünf auf zehn Jahre Wir werden also noch mal sehr intensiv über diesem sollen ja die Gestaltungsspielräume sowohl für Personen- Gesetzentwurf brüten. Wir werden uns noch mal sehr (B) gesellschaften wie dann auch in § 1 Absatz 2b des Ge- intensiv mit diesem Entwurf befassen und Antworten (D) setzentwurfs für Kapitalgesellschaften verengen und da- auf die aufgeworfenen Fragen finden müssen. Dazu soll- mit die missbräuchliche Vermeidung der Steuer ten wir uns die Zeit nehmen, die wir brauchen. einschränken. Aber vor allem die Übergangsfristen für die Anwendung des alten bzw. des dann geänderten Auf gute Beratungen! Rechts sind ein ganz kritischer Punkt in der Bewertung (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie dieses – und das muss man betonen – von den Bundes- bei Abgeordneten der SPD) ländern initiierten und von der Bundesregierung mehr oder weniger im Auftragsverfahren umgesetzten Gesetz- entwurfs. So sollen die Übergangsfristen am Datum der Vizepräsidentin Claudia Roth: Zuleitung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung an Vielen Dank, Olav Gutting. – Danke auch für die Zeit, den Bundesrat festgemacht werden. Das heißt, einige Re- die Sie uns geschenkt haben. gelungen in diesem Gesetzentwurf sollen rückwirkend (Olav Gutting [CDU/CSU]: Gerne!) zum 9. August 2019 in Kraft treten. Schönen Nachmittag, liebe Kolleginnen und Kollegen! (Dr. Florian Toncar [FDP]: Unglaublich!) Endspurt: Dr. Florian Toncar ist der Nächste für die FDP- Ich glaube, neben den langen Behaltens- und Überwa- Fraktion. chungsfristen, die vorgesehen sind, ist gerade diese teil- (Beifall bei der FDP) weise Rückwirkung ein Punkt, der verfassungsrechtlich bedenklich ist. Dr. Florian Toncar (FDP): (Beifall des Abg. Dr. Florian Toncar [FDP]) Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Trotz fachlicher Unstimmigkeiten bzw. auch Bedenken und Kollegen! Wir diskutieren heute über einen Gesetz- des Fachreferats ist dieser Gesetzentwurf dann übernom- entwurf der Bundesregierung zu sogenannten Share men worden, vor allem wahrscheinlich auch deshalb, weil Deals bei der Grunderwerbsteuer, wo es darum geht, Ver- die Bundesländer, zum Beispiel bei einer quotalen Erhe- suche, die Grunderwerbsteuer zu umgehen, einzudäm- bung der Grunderwerbsteuer, einfach den Mehraufwand men. Ohne Frage besteht hier Handlungsbedarf; denn es der Administration gescheut haben. existiert die eine oder andere trickreiche Gestaltung am Markt. Aber es ist viel zu wenig, sich im Zusammenhang Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieser Entwurf hat mit der Grunderwerbsteuer ausschließlich darüber Ge- tatsächlich viele Fragen aufgeworfen. Wie soll zum Bei- danken zu machen, wie die Einnahmen erhöht werden spiel mit auf Immobilienanlagen spezialisierten Kapital- können. Das ist für die normalen Menschen gar nicht Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14283

Dr. Florian Toncar (A) das, womit sie bei der Grunderwerbsteuer in Berührung aber auch gar nichts an Umgehungstatbeständen und den (C) kommen. Viele Menschen wünschen sich eine eigene ganzen damit verbundenen Problemen lösen. Es ist wir- Immobilie als Teil ihrer Unabhängigkeit, als Teil ihrer kungslos, was Sie hier vorschlagen. persönlichen Altersvorsorge, um sie ihren Kindern wei- tergeben zu können. Das sind legitime und wichtige Wün- (Beifall bei der FDP) sche in einer bürgerlichen Gesellschaft. Auf der anderen Seite lösen Sie aber Kollateralschäden aus bei Unternehmen, denen es gar nicht darum geht, ein (Beifall bei der FDP) Grundstück zu erwerben oder Steuern zu sparen. Bei den All diese Menschen, die das machen möchten, egal meisten Anteilserwerben von Unternehmen geht es dem warum sie sich eine Immobilie anschaffen möchten, müs- Erwerber mitnichten darum, de facto ein Grundstück zu sen heute zwischen 3,5 und 6,5 Prozent Grund- erwerben und sozusagen nur die Hülle eines Unterneh- erwerbsteuer auf den Kaufpreis zahlen, und das in der menserwerbs drumherum zu bauen. In der Regel werden Regel zusätzlich zu dem Eigenkapital, das sie für den ja Anteile an operativ tätigen Unternehmen deshalb er- Kauf selbst ja mitbringen müssen. worben, weil das Unternehmen weitergeführt, weiter- betrieben werden soll, nicht weil man ein Grundstück (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: haben will, das dem Unternehmen gehört. Das muss Und hohen Maklerkosten!) man doch sehen. Das führt dazu, dass viele, gerade junge Familien, eben sehr spät oder manche auch gar nicht in der Lage sind, All diese Unternehmen bestrafen Sie zukünftig. Denen einen Erwerb zu stemmen – wegen Nebenkosten, wegen greifen Sie in die Tasche, und das nicht einmal nur dann, zu hohen Eigenkapitalanforderungen. wenn jemand die Mehrheit an dem Unternehmen erwirbt und damit auch Zugriff auf die Grundstücke des Unter- (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nehmens bekommt. Sie bestrafen die Unternehmen im Und Maklerkosten!) Grunde schon dafür, dass viele Kleinanteile über zehn Wenn man, liebe Kolleginnen und Kollegen, über die Jahre verteilt den Besitzer wechseln, ohne dass sich an Frage diskutiert „Wie sind Vermögen in Deutschland ver- der Herrschaft über das Grundstück irgendetwas ändert. teilt?“, und gleichzeitig den Eigentumserwerb für die Das ist ein Griff in die Taschen der deutschen Unterneh- Mitte der Gesellschaft so teuer macht wie heute, dann men, die nichts Illegales tun, die sich redlich verhalten. ist das schizophren. Da müssen wir doch zuerst rangehen. Das ist in der jetzigen wirtschaftlichen Phase, aber auch generell überhaupt nicht gerechtfertigt, liebe Kolleginnen (Beifall bei der FDP) und Kollegen. (B) Deswegen fordern wir als Freie Demokraten hier nicht (Beifall bei der FDP) (D) zum ersten Mal einen Freibetrag auf den Kaufpreis bei der Grunderwerbsteuer für selbst genutzte Immobilien in Ich fasse zusammen: Sie belasten auch redliche, rechts- Höhe von 500 000 Euro. treue Unternehmen. Die Tricks wird es trotz Ihres Vor- schlags weiter geben. Für den Eigentumserwerb der Mitte (Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Richtig!) der Gesellschaft tun Sie in Ihrem Entwurf gar nichts. Ich Lieber Kollege Gutting, auch Sie haben das gerade glaube, sehr viel falscher hätte man es nicht machen kön- gefordert. Sie haben es aber abgelehnt als Abgeordneter nen. Wir werden sehen, Kollege Gutting, was daraus in hier im Bundestag, im Finanzausschuss, als wir es bean- der Beratung im Ausschuss noch wird. Ich fürchte, dass tragt haben. In dem Entwurf Ihrer Regierung ist das wie- man ganz neu anfangen muss, über das Thema Grund- der nicht drin. Es wird also, glaube ich, wirklich Zeit, dass erwerbsteuer zu sprechen. Sie sich da ein bisschen stärker in die Debatte einbringen. (Beifall bei der FDP) Wir werden Ihnen hier noch Gelegenheit geben, auch über den Freibetrag mit abzustimmen, weil er das wich- tigste und wirksamste Instrument ist, um für die Mitte der Vizepräsidentin Claudia Roth: Gesellschaft Eigentumserwerb zu erleichtern. Vielen Dank, Kollege Toncar. – Nächster Redner: Jörg Cezanne für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der FDP) Nun zum Thema „Share Deals“. Bisher kann man (Beifall bei der LINKEN) durch gewisse Gestaltungen von Geschäften Grund- erwerbsteuer sparen, indem man ein Grundstück in eine Jörg Cezanne (DIE LINKE): Gesellschaft einbringt und Gesellschaftsanteile übertra- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Die gen werden, und zwar dann, wenn mindestens 5 Prozent Welt“ schreibt: „Die größte Ungerechtigkeit beim Haus- der Anteile an der Gesellschaft für mindestens fünf Jahre kauf.“ „Der Spiegel“ nennt sie „Eine Art Dummen- zurückbehalten werden. Nun schlagen Sie als Lösung steuer“, und sie gilt als Einfallstor für Geldwäschetatbe- dieses Problems vor, dass aus fünf Jahren zehn Jahre stände. Ja, die Grunderwerbsteuer und insbesondere das – und aus 5 Prozent 10 Prozent werden. Ich sage Ihnen ich nenne es so – legale Steuerschlupfloch Share Deals ist voraus: Bei Transaktionen mit Immobilien werden die ein Problem, das behoben werden muss. Beteiligten, die es heute schon darauf anlegen, das Ganze (Beifall bei der LINKEN) so auszugestalten, dass keine Grunderwerbsteuer fällig wird, in Zukunft 10 Prozent für zehn Jahre zurückbehal- Wenn ein Normalbürger ein Grundstück oder ein Haus ten und weiterhin keine Steuer zahlen. Sie werden nichts, kauft, dann zahlt er dafür eine Grunderwerbsteuer. Groß- 14284 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Jörg Cezanne (A) investoren können diese Steuerregeln umgehen; sie kön- werden, und mehr Personal bei der Finanzverwaltung, um (C) nen diese Grunderwerbsteuer sparen, indem sie – das ist das überprüfen zu können, würde auch helfen. hier schon gesagt worden – eben nicht das Grundstück oder das Haus selber kaufen, sondern eine Firma, der Danke schön. dieses Grundstück gehört. Damit ändert sich formal nicht das Eigentum an der Immobilie, und die Grund- (Beifall bei der LINKEN) erwerbsteuer wird nicht fällig. Die juristische Logik da- hinter ist, dass man einen Anteilserwerb an einem Unter- Vizepräsidentin Claudia Roth: nehmen gleich behandelt, egal ob jemand zehn Aktien Vielen Dank, Jörg Cezanne. – Nächste Rednerin: für eines börsennotierten Unternehmens wie VW oder Bündnis 90/Die Grünen Lisa Paus. BMW besitzt oder die bestimmende Mehrheit an einem Immobilienunternehmen hat, dem ganze Stadtteile gehö- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ren. Und das ist der Haken an der Regulierung. Hier muss eingeschritten werden. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In den vergangenen zehn Jahren hat sich das Immobilienkaufka- Bislang hat der Gesetzgeber das so geregelt, dass nur russell in Deutschland immer schneller gedreht. Riesige bei sehr weitgehenden Übernahmen von 95 Prozent oder Wohnbestände haben die Besitzer gewechselt: Allein in mehr von einem solchen Unternehmen die Grund- Berlin wechselten 20 Prozent des gesamten Wohnungs- erwerbsteuer fällig wird. Logischerweise – da muss bestandes den Besitzer. Das Zuhause von Millionen Men- man noch nicht mal besonders viel BWL studiert haben – schen ist in Deutschland zum Anlageobjekt und zum kommt man schnell auf die Idee, sich einen stillen Zweit- Spielball internationaler Finanzinvestoren geworden. investor zu suchen, der 5,1 Prozent übernimmt. Dann Drastische Mietsteigerungen, Herausmodernisierungen sparen sich beide die Grunderwerbsteuer. Nach fünf Jah- und Verdrängungen sind die Folge. Und das müssen wir ren läuft die derzeitige gesetzliche Frist aus, und Vonovia, stoppen, meine Damen und Herren. Deutsche Wohnen und Co können auch die restlichen 5,1 Prozent grunderwerbsteuerfrei übernehmen. Das ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Steuertrick, und der muss beendet werden. und bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- Ein besonderer Brandbeschleuniger im Immobilienca- ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sino ist das Steuerschlupfloch „Share Deals“, eine legale (B) Steuergestaltungsmöglichkeit, die es den Käufern ermög- (D) Was die Bundesregierung nun vorschlägt, ist weder licht, die beim Kauf fällig werdende Grunderwerbsteuer originell – Kollege Toncar hat es schon gesagt – noch zu sparen. Und so wurden 2015 beim Verkauf des Euro- wirkungsvoll. towers in Frankfurt 29 Millionen Euro gespart, 2017 wur- den beim Sony Center in Berlin 66 Millionen Euro ge- (Lisa Paus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: spart: Genauso ist es leider!) Sie will die Schwelle der Grunderwerbsteuerpflicht beim (Sebastian Brehm [CDU/CSU]: Das ist leider anteiligen Erwerb von 95 Prozent auf 90 Prozent reduzie- falsch!) ren. In Zukunft müssen Investoren also einen passiven Insgesamt gehen laut Schätzung den Ländern jedes Jahr Investor für 10,1 statt 5,1 Prozent finden. Das wird nicht 1 Milliarde Euro an Steuereinnahmen verloren. Das Er- so schwer sein. Diese Regelung reicht nicht aus. schreckende ist: Dieser Steuertrick ist seit Jahren be- (Beifall bei der LINKEN) kannt. Meine Fraktion hat schon 2016 einen Antrag mit einem Vorschlag eingebracht, wie man dieses Steuer- Wir schlagen daher einen Systemwechsel vor. Wir schlupfloch schließen kann; aber er wurde abgelehnt, schlagen vor, dass, wer die Hälfte eines Immobilienunter- und bis heute wurde nichts geändert. nehmens übernimmt, dann auch entsprechend den von ihm übernommenen Anteilen Grunderwerbsteuer zahlen Inzwischen sind drei weitere Jahre ins Land gegangen. soll; denn mit dieser Übernahme von mehr als der Hälfte Bund und Länder haben eine Arbeitsgruppe gegründet. geht auch der Hauptzweck des Geschäftes, nämlich eine Sie kreißten und kreißten, und jetzt liegt das Ergebnis vor: wirtschaftliche Verwertung, einher. Wir schlagen eine an- Sie gebaren eine Maus. – Der bisherige Steuertrick – das teilige Besteuerung entsprechend den übernommenen wurde schon gesagt – funktioniert so: Kaufe statt einer Anteilen vor. Immobilie 94,9 Prozent einer Gesellschaft, die eine Im- mobilie besitzt, und kaufe oder lasse nach fünf Jahren die Wir schlagen außerdem eine Vereinfachung vor, indem restlichen 5,1 Prozent kaufen, dann zahlst du statt bis zu wir in 10-Prozent-Stufen vorgehen und eben nicht bis ins 6,5 Prozent Grunderwerbsteuer 0 Prozent Grund- Letzte die prozentualen Anteile ausrechnen müssen. Das erwerbsteuer. Mit diesem Gesetzentwurf heißt es nun: macht es auch der Finanzverwaltung leichter und ist we- Kaufe statt einer Immobilie 89,9 Prozent einer Gesell- niger streitanfällig. Daneben müssten noch ein paar be- schaft, die eine Immobilie besitzt, und nach zehn Jahren gleitende Maßnahmen ergriffen werden: Ein Immobilien- den Rest oder auch nicht, und du zahlst wieder 0 Euro register würde helfen, genau zu wissen, wer der Grunderwerbsteuer. Das schließt kein Steuerschlupfloch. wirtschaftliche Nutznießer ist. Fristen sollten ausgeweitet Das ist etwas besser als weiße Salbe. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14285

Lisa Paus (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) und bei der LINKEN) Denken Sie bitte an die Redezeit.

So kommentiert denn auch der Partner einer der großen Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wirtschaftskanzleien in Deutschland, McDermott, Herr Ich komme zum Schluss. – Aber was machen Sie? Sie Ortmanns, er glaube nicht, dass diese neuen Regelungen erwägen ernsthaft, Ihre Förmchen weiter zu verwässern, die Branche auf den Kopf stellen werden. Zitat: eine Börsenklausel einzuführen. Das hieße, dass dann für börsennotierte Immobiliengesellschaften wie zum Bei- Schon jetzt hat es viele Transaktionen mit alternati- spiel die Deutsche Wohnen und Vonovia die Grund- ven Strukturen am Markt gegeben. Viele Kanzleien erwerbsteuerpflicht sogar vollständig entfällt. Wie absurd haben sich bereits auf die neue Situation eingestellt ist das denn, meine Damen und Herren! und ihre Mandanten vorsorglich entsprechend bera- ten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mit anderen Worten: Die Steuertrickserei mit Share Deals geht mit diesem Gesetzentwurf munter weiter. Vizepräsidentin Claudia Roth: Und deswegen ist dieser Gesetzentwurf drastisch zu we- Jetzt aber wirklich. nig, meine Damen und Herren, Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir wollen den Handel mit Immobilien teurer machen. und bei der LINKEN) Beschließen Sie meinetwegen diesen Gesetzentwurf; aber lassen Sie uns die Anhörung nutzen, damit wir bald zumal Share Deals den weiteren Vorteil haben, dass sich ein Gesetz auf den Weg bringen können, - mit ihnen für die Investoren der Mieterschutz in soge- nannten Milieuschutzgebieten, also in Wohngegenden, die von hoher Verdrängung der angestammten Mieter- Vizepräsidentin Claudia Roth: schaft bedroht sind, aushebeln lässt und zum Beispiel Frau Paus! das Vorkaufsrecht der Kommunen und stärkere Genehmi- gungspflichten ausgehebelt werden können. Lisa Paus (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): – das Share Deals tatsächlich abschafft. Mindestens genauso schlimm sieht es auch auf dem Land, bei der Landwirtschaft aus: In den letzten zehn Herzlichen Dank. (B) Jahren sind die Ackerlandpreise in Deutschland explo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) diert. Sie sind in den neuen Bundesländern um 250 Pro- zent gestiegen, die Pachtpreise um 80 Prozent. Überre- gionale Kapitalinvestoren besitzen inzwischen in Vizepräsidentin Claudia Roth: Ostdeutschland 34 Prozent der landwirtschaftlichen Flä- Vielen Dank, Frau Paus. – Nächste Rednerin in der che, und das, obwohl es in Deutschland eigentlich gar Debatte: Cansel Kiziltepe für die SPD-Fraktion. nicht erlaubt ist, dass Nichtlandwirte Boden erwerben. (Beifall bei der SPD) Auch das müssen wir ändern. Cansel Kiziltepe (SPD): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Steigende Mietpreise Es wurde jetzt schon von allen Fraktionen gesagt, ei- und der Mangel an Sozialwohnungen gefährden schon gentlich sei das wichtig und man müsse da etwas tun. Und länger das gesellschaftliche Klima in Deutschland. Wäh- auch die Regierungskoalition sagt ja nicht, man müsse rend einkommensschwache Bürgerinnen und Bürger ver- nichts tun. Dass Sie jetzt nur das tun, begründen Sie vor zweifelt nach bezahlbarem Wohnraum suchen, kaufen allen Dingen damit, dass man verfassungsrechtlich mehr Immobilienkonzerne ganze Straßenzüge und verbreiten nicht tun kann. Das haben wir ernst genommen. Wir hat- Angst und Schrecken. ten ja ein bisschen Zeit, nämlich drei Jahre. Wir haben ( [FDP]: Ach Gott!) gesagt: Okay, dann helfen wir nach. Wir beauftragen renommierte Steuer- und Verfassungsrechtler und fragen, Wissen Sie, was das Schärfste dabei ist? Sie zahlen dafür ob es nicht doch noch eine andere Möglichkeit gibt. – Wir im Gegensatz zu Otto Normalbürgerin oft keinen einzi- haben zwei Gutachten in Auftrag gegeben. Das Ergebnis gen Cent Grunderwerbsteuer, und ich sage Ihnen: Das ist ist: Natürlich geht es. Man kann sehr wohl, wenn man ein ein No-Go, und das werden wir nicht länger dulden. sogenanntes quotales Modell, also eine anteilige Besteue- rung, einführt, von 90 auf 50 Prozent runtergehen. Das (Beifall bei der SPD) Gutachten von Professor Anziger und Professor Reimer Es geht um die sogenannten Share Deals. Anstatt wie zeigt: In den Niederlanden gibt es bereits eine anteilige Familien bei einem Hauskauf rechtmäßig die Grund- Besteuerung von Immobiliengesellschaften, die funktio- erwerbsteuer zu zahlen, kaufen große Kapitalgesellschaf- niert. Und sie ist auch übertragbar auf Deutschland. Die- ten häufig nur Anteile von Gesellschaften, die diese ses Konzept ermöglicht sogar die Besteuerung von Grundstücke halten, und so kann auch diese Steuer um- Grunderwerb ab 30 Prozent oder sogar darunter. gangen werden, während andere blechen müssen, und das 14286 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Cansel Kiziltepe (A) geht nicht. Das ist ein Gerechtigkeitsproblem, das wir Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) beheben müssen. Deshalb haben wir auch im Koalitions- Vielen Dank, Frau Kollegin. – Danke schön. vertrag festgelegt, diese Ungerechtigkeit wirksam zu be- enden. Cansel Kiziltepe (SPD): Meine Redezeit ist anscheinend zu Ende. – Vielen (Beifall bei der SPD) Dank. Der vorliegende Gesetzentwurf erschwert die Steuer- (Heiterkeit) vermeidung mittels Share Deals deutlich. Ich möchte auch noch mal betonen, dass der Gesetzentwurf auf einem Vorschlag der Länder beruht. Mit einem Stimmenverhält- Vizepräsidentin Claudia Roth: nis von 16 zu 0 haben die Länder vorgeschlagen, was wir Herzlichen Dank, Frau Kollegin. – Ja, ich mache das jetzt hier auf Bundesebene übernehmen. Allerdings ist die jetzt immer so. Herabsenkung der Anteilsgrenze auf nur 90 Prozent nicht Nächster Redner: Sebastian Brehm für die CDU/CSU- unumstritten – das muss man auch so sagen –: Das ist Fraktion. auch bei uns umstritten. Meine Fraktion wird sich in der parlamentarischen Beratung für eine deutlich wirksamere (Beifall bei der CDU/CSU) und effizientere Regelung einsetzen; da können Sie sich sicher sein. Sebastian Brehm (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Beifall bei der SPD) Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer auf den Herr Toncar, Sie haben erwähnt, wir nähmen uns gar Tribünen! In der gegenwärtigen Diskussion wird immer nicht des Problems an, die Grunderwerbsteuerlast grund- wieder auf die Vereinbarungen im Koalitionsvertrag Be- sätzlich abzusenken. Da frage ich mich, warum die Re- zug genommen. In diesem sind zwei wesentliche Be- gierung in Nordrhein-Westfalen – Sie wissen ja, die Ab- schlüsse zur Grunderwerbsteuer vereinbart worden: senkung ist eine Ländersache – das seit zwei Jahren nicht Erstens: umsetzt und den Grunderwerbsteuersatz dort nicht ab- senkt, um alle Menschen zu entlasten. Wir prüfen einen Freibetrag bei der Grund- erwerbsteuer beim erstmaligen Erwerb von Wohn- ( [SPD]: Nur ankündigen! – grundstücken für Familien ohne Rückwirkung beim Gegenruf des Abg. Dr. Florian Toncar [FDP]: Länderfinanzausgleich. Freibetrag!) (B) Zweitens: (D) Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus den Share Deals Nach Abschluss der Prüfarbeiten durch Bund und konnte schon viel zu lange Profit geschlagen werden. Länder werden wir eine effektive und rechtssichere Mittlerweile wird von diesem Konzept nicht nur beim gesetzliche Regelung umsetzen, um missbräuchli- Kauf größerer Immobilienportfolios Gebrauch gemacht, che Steuergestaltungen bei der Grunderwerbsteuer sondern es sind zunehmend auch kleinere Transaktionen mittels Share Deals zu beenden. Die gewonnenen zu beobachten. Somit entstehen bei den Ländern natürlich Mehreinnahmen können von den Ländern zur Sen- Steuermindereinnahmen. Ich sage Ihnen: Dieses Geld kung der Steuersätze verwendet werden. können wir anderswo sehr gut gebrauchen. So heißt es im Koalitionsvertrag. Einen Punkt möchte ich allerdings noch deutlich ma- chen. Es geht hier nicht darum – die Börsenklausel wurde Liebe Kolleginnen und Kollegen, der gegenwärtige hier angesprochen; das ist die erste Lesung dieses Geset- Gesetzentwurf der Bundesregierung erfüllt nach meiner zes, und wir werden das auch in den Beratungen intensiv Auffassung die im Koalitionsvertrag vereinbarten Regel- diskutieren –, Unternehmen zu bestrafen, sondern es geht ungen leider nicht. hier darum, illegale Steuerumgehungsmöglichkeiten zu (Beifall bei der FDP) beseitigen, und das werden wir auch mit dem Bundes- finanzministerium intensiv diskutieren. Zum einen ist aus meiner Sicht bei der Prüfung über die Schaffung des Freibetrags beim erstmaligen Erwerb von Liebe Kolleginnen und Kollegen, Share Deals sind ein Wohngrundstücken durch den Bund und die Länder über- Steuerschlupfloch für reiche Investoren und ausländische haupt noch kein Ergebnis erzielt und die Diskussion über- Immobilienfonds. Share Deals sind ein Beispiel für das haupt noch nicht abgeschlossen worden. Dieser Punkt, unsolidarische Handeln großer Immobiliengesellschaf- die Schaffung eines Freibetrags, ist meiner Meinung nach ten. Sie sind mittlerweile keine Randerscheinungen mehr. dringend erforderlich, Sie sind eine Bedrohung für die soziale Gerechtigkeit in diesem Land, und deshalb können und werden wir nicht (Dr. Florian Toncar [FDP]: So ist es!) weiterhin tatenlos zusehen. Wenn die Mitte unserer Ge- da die Grunderwerbsteuer beim Erwerb des Eigenheims sellschaft fair und gerecht Steuern zahlt, kann es nicht eine der wesentlichen Belastungen gerade für kleinere sein, dass Immobilienfonds den Wohnungsmarkt leerkau- und mittlere Einkommen darstellt fen und dabei auch noch die Steuern umgehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall bei der SPD) der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14287

Sebastian Brehm (A) und diese Grunderwerbsteuer oft ein Hemmschuh ist, ein Deal. Es ist also das Grundstück durch den Kauf in ein (C) Eigenheim zu erwerben. Eine Befreiung von der Grund- neues Betriebsvermögen übergegangen, und dadurch ist erwerbsteuer ist übrigens nichts Neues: Sie gab es schon auch Grunderwerbsteuer gezahlt worden. Also, man muss bis 1982, und sie wurde dann Stück für Stück wieder immer wieder mal gucken, wie die Einzelfälle liegen. zurückgenommen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Zum anderen müssen wir, glaube ich, erst mal klären, der FDP) was unter einer missbräuchlichen Steuergestaltung in die- sem Zusammenhang zu verstehen ist. Die Anwendung Ich bin einverstanden, wenn gefordert wird, dass wir von Recht und Gesetz kann ja nicht per se eine miss- versuchen, missbräuchliche Gestaltungen zu vermeiden. bräuchliche Steuergestaltung sein. Wenn ein Gesetz so angewendet wird, wie wir es nicht wollen, dann müssen wir eben gesetzliche Regelungen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) finden; aber zunächst müssen wir doch erst mal definie- ren: Was ist ein Missbrauch? Einfach pauschal zu sagen: Die Grunderwerbsteuer wird zwar – ähnlich wie die „Ein Share Deal ist eine missbräuchliche Gestaltung“, ist Grundsteuer – vom Bund geregelt, sie steht aber den Län- falsch. Deswegen müssen wir in den weiteren Beratungen dern zu. Seit dem 1. September 2006 dürfen die Länder erst mal darüber diskutieren und nachlegen. den Steuersatz selbst festlegen. Im vorliegenden Gesetzentwurf sind auch handwerk- (Dr. Florian Toncar [FDP]: Richtig!) liche Fehler enthalten. Zum Beispiel müssten börsenno- Zuvor war er bundesweit zunächst auf 2 Prozent und dann tierte Unternehmen schon bei einem Anteilswechsel auf 3,5 Prozent gedeckelt. Die Steuereinnahmen der Län- Grunderwerbsteuer zahlen. Die großen börsennotieren der sind durch die Erhöhungen stetig gestiegen. Von Min- Unternehmen wechseln ihre Anteile zu mehr als 95 Pro- dereinnahmen zu sprechen, ist hier also völlig falsch. In zent innerhalb eines Jahres, sodass jedes Jahr Grund- Brandenburg, in NRW, im Saarland, in Thüringen, in erwerbsteuer für die betrieblichen Grundstücke gezahlt Schleswig-Holstein beträgt der Steuersatz inzwischen werden müsste. Auch bei ganz normalen Umstrukturie- 6,5 Prozent, in Berlin und Hessen 6 Prozent. Diese hohen rungen im Konzern – ein tägliches Geschäft – würde Steuersätze sind übrigens auch ein wesentlicher Grund Grunderwerbsteuer anfallen. Insofern wird mit diesem dafür, dass man Vermeidungen überhaupt versucht. In Gesetzentwurf das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Bayern und Sachsen bleibt es beim ursprünglichen Satz Wir hätten Kollateralschäden wirklich in erheblichem von 3,5 Prozent; insofern ist es dort vorbildlich. Ausmaß. Wer fordert denn jetzt die Vermeidung von Share Deswegen lassen Sie uns bitte in aller Ruhe diesen (B) Deals? Es sind genau die Länder, die einen Grund- Gesetzentwurf zurückstellen. Wir sollten miteinander (D) erwerbsteuersatz von 6,5 Prozent oder 6 Prozent haben. formulieren: Was ist der Missbrauch? Wo und mit wel- Deswegen sollte man erst einmal fordern, dass diese Län- chen Maßgaben können wir die missbräuchlichen Gestal- der ihre Grunderwerbsteuersätze auf 3,5 Prozent senken. tungen einschränken? Der Gesetzentwurf, der jetzt vor- Das wäre schon mal die erste Maßnahme, um Missbrauch liegt, erfüllt diese Maßgaben nicht. Insofern bitte ich noch zu vermeiden. einmal um eine intensive Diskussion, um das Ziel, miss- bräuchliche Steuergestaltung zu vermeiden, zu verwirk- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) lichen. Um was geht es eigentlich bei der Formulierung „Miss- Herzlichen Dank. brauch durch Share Deals“? Zunächst ist festzuhalten, dass Anteilsverkäufe bei Unternehmenstransaktionen, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) im Englischen „share deals“, ganz normale Vorgänge in der Wirtschaft sind. Bei der Grunderwerbsteuer, die nor- malerweise an den Grundstückskauf anknüpft, gibt es im Vizepräsidentin Claudia Roth: Gesetz einen Ergänzungstatbestand, der besagt: Wenn Vielen Dank, Sebastian Brehm. – Ich schließe die Aus- 95 Prozent der Anteile unmittelbar oder mittelbar inner- sprache. halb von fünf Jahren an einen neuen Anteilseigner über- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf gehen, dann wird eben noch mal Grunderwerbsteuer fäl- den Drucksachen 19/13437, 19/13546 und 19/10067 an lig. Aber zunächst muss man erwähnen – das hat keiner die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- der Kritiker getan –, dass beim Kauf eines Grundstücks schlagen. Sie sind damit einverstanden? – Dann sind die bereits Grunderwerbsteuer gezahlt wird. Dieser Ergän- Überweisungen so beschlossen. zungstatbestand ist also eine zweite, eine neue Besteue- rung in Form der Grunderwerbsteuer bei einem Anteils- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf verkauf mittels Share Deals. Drucksache 19/13532 an die in der Tagesordnung aufge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist Es wird immer wieder zitiert, dass beim Verkauf des jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und SPD Sony Centers am Potsdamer Platz im Jahr 2015/2016 wünschen Federführung beim Finanzausschuss. Die keine Grunderwerbsteuer gezahlt worden ist; Frau Paus, Fraktion der AfD wünscht Federführung beim Ausschuss so ist immer wieder Ihre Diktion. Der kanadische Investor für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen. Brookfield, der das Sony Center gekauft hat, hat im Ja- nuar 2016 veröffentlicht, dass es sich um gar keinen Share Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungsvor- Deal gehandelt hat, sondern um einen sogenannten Asset schlag der Fraktion der AfD, also Federführung beim 14288 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kom- sagen: Auch die elektronische Patientenakte, die ePA, (C) munen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – werden wir zum Laufen bringen. Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt. Zugestimmt hat Wenn wir von Digitalisierung sprechen, heißt das, dass die antragstellende Fraktion der AfD, alle weiteren Frak- wir Digitalisierung gestalten wollen. Wir wollen die Pa- tionen waren gegen diesen Vorschlag. tientenversorgung verbessern. Wir wollen Potenziale nut- zen, die durch die strukturierte Nutzung von Daten, ge- Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor- rade im Gesundheitssystem, möglich sind. Ich finde es schlag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Federfüh- immer sehr schade, dass wir die Debatte nicht chancen- rung beim Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Über- getrieben führen. Natürlich gab es in der Vergangenheit weisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – auch Skandale. Es gab Vorgänge, bei denen durch unsach- Enthaltungen? – Das war spiegelbildlich. Zugestimmt ha- gemäßem Umgang mit Daten, insbesondere sensiblen ben die Fraktionen Die Linke, SPD, Bündnis 90/Die Grü- Gesundheitsdaten, in der Öffentlichkeit der Eindruck er- nen, CDU/CSU und FDP, dagegengestimmt hat die Frak- zeugt wurde, als würde alles drunter und drüber gehen. tion der AfD. Aber der wirkliche Skandal um die Gesundheitsdaten Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a und 33 b auf: ist ein anderer. Er liegt einerseits im unsachgemäßen Um- gang mit diesen Daten; denn wer seine Daten ohne Ver- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- schlüsselung auf irgendwelchen Portalen stehen lässt, ist gebrachten Entwurfs eines Gesetzes für eine bes- einfach nur fahrlässig. Der andere wirkliche Skandal liegt sere Versorgung durch Digitalisierung und In- darin, dass die wichtigen, wertvollen Daten, die in der novation (Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG) Medizin genutzt werden könnten, nicht genutzt werden, Drucksachen 19/13438, 19/13548 obwohl es für Patienten sinnvoll wäre, sie zu nutzen, und dies in vielen Fällen Leben retten könnte. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wollen wir mit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria dem Gesetz erreichen? Wir wollen die Trillionen von Klein-Schmeink, Kordula Schulz-Asche, Bytes an Daten, die jeden Tag anfallen, diese wertvollen Dr. Kirsten Kappert-Gonther, weiterer Abgeordne- Daten nutzbar machen für eine Verbesserung der Patien- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tenversorgung. Es geht um Diabetespatienten, die heute schon ihre Werte per App unter Kontrolle halten können. Der Digitalisierung im Gesundheitswesen eine Es sind weniger Arztbesuche nötig. Bei Hautkrebs und radiologischen Untersuchungen kann man viel zuverläs- (B) Richtung geben und sie im Interesse der Nutz- (D) erinnen und Nutzer vorantreiben siger als bisher Krankheitsbilder erkennen. Wir können mit künstlicher Intelligenz, mit Algorithmen, den Arzt bei Drucksache 19/13539 der Bilderkennung unterstützen. Im Pflegeheim weiß die Überweisungsvorschlag: Nachtschicht viel genauer, wie es dem Patienten tagsüber Ausschuss für Gesundheit (f) ging, weil beim Schichtwechsel nicht etwas zugerufen Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur oder hingekritzelt wird, sondern weil es in der digitalen Ausschuss Digitale Agenda Patientenakte gespeichert wird. Nach interfraktioneller Vereinbarung sind für die Aus- Liebe Kolleginnen und Kollegen, denken wir an Par- sprache 38 Minuten – 38 Minuten und nicht länger – vor- kinsonpatienten, die ein Dutzend Medikamente einneh- gesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so men müssen. Für sie ist der digitale Medikationsplan ein beschlossen. Quantensprung. Patienten werden erinnert, Falschdosie- rungen werden vermieden, Angehörige werden entlastet. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Und genau darum geht es, um konkrete Verbesserungen Tino Sorge für die CDU/CSU-Fraktion. für die Patientinnen und Patienten. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Wenn wir über Daten diskutieren, müssen wir natürlich [SPD]) auch mit Augenmaß schauen, wie wir wichtige Akteure in die Debatte einbinden. Es geht darum, dass wir forschen- Tino Sorge (CDU/CSU): de Unternehmen, Forschungseinrichtungen und die Ge- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sundheitswirtschaft einbinden. Medizinischer Fortschritt Kollegen! Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz, dem in Deutschland wird ganz maßgeblich in großem Umfang DVG, debattieren wir heute ein Gesetz, auf das wir alle von universitären Forschungseinrichtungen, aber auch sehr lange gewartet haben. Liebe Kolleginnen und Kol- von privaten Forschungseinrichtungen gestemmt. Inso- legen, das Warten hat sich gelohnt. Wir machen Gesund- fern glaube ich, dass das Forschungsdatenzentrum, das heits-Apps auf Rezept möglich, wir bauen die Telemati- wir im Gesetzentwurf vorsehen, ein wichtiger Schritt in kinfrastruktur, die Datenautobahnen, aus, damit sich die richtige Richtung ist; denn es geht darum, durch die Ärzte, Kliniken, Apotheken und Pflegeheime in einem Vernetzung vorhandener Daten Forschung weiter voran- ersten Schritt besser austauschen können. Wir ermögli- zutreiben, es zu ermöglichen, dass neue Therapieansätze chen mehr Videosprechstunden, wir ermöglichen mehr entwickelt werden können, dass bessere Patientenversor- Telemedizin. Wir wollen damit weniger Zettelwirtschaft. gung möglich ist. Aber wir dürfen dort nicht stehen blei- Es wird ein Abschied vom Faxgerät sein. Ich kann Ihnen ben, wir müssen weitergehen. Wir müssen auch über die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14289

Tino Sorge (A) Möglichkeit einer Datenspende zum Wohl der medizin- heben. Solche Fehler können wir mit der Digitalisierung (C) ischen datengestützten Forschung nachdenken. Das müs- wesentlich systematischer erkennen. Das spart Kosten, sen wir vorantreiben. und es erhöht natürlich den Erfolg auf eine Heilung. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen uns auch Auch in der Wissenschaft ist eine ganze Menge mög- im Rahmen des Digitale-Versorgung-Gesetzes darüber lich. Ein Beispiel: Ungefähr 5 Prozent aller Neugebore- verständigen, wie wir Digitalisierung konkreter auch an nen entwickeln einen sogenannten Blutschwamm. Dafür Patientinnen und Patienten adressieren. Wir als Politik gab es ganz lange eigentlich keine wirklich wirksame stellen Digitalisierung häufig nur sehr abstrakt dar, aber Therapie. Und dann ist eine Krankenschwester zufällig es geht konkret darum, den praktischen Mehrwert für darauf gestoßen: Bei Kindern, die gleichzeitig wegen ei- jeden Einzelnen darzustellen. Es geht letztendlich darum, nes Herzproblems ein bestimmtes Medikament erhielten, dass wir ein anderes Verständnis davon bekommen, wie verschwand dieser Blutschwamm. So wurde zufällig eine Daten auch Versorgung verbessern. wirksame Therapie gefunden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe es ange- Jetzt stellen Sie sich mal vor: Millionen von Patienten- sprochen: Wir haben lange auf dieses Gesetz gewartet. daten, über Jahrzehnte gesammelt, das Ganze anonymi- Wir wollen Digitalisierung gestalten. Viele Patienten siert und wissenschaftlich ausgewertet. Vielleicht gelingt warten darauf. Viele Patienten wollen digitale Möglich- es uns ja, zu entdecken, dass Menschen, die als junge keiten nutzen. Zur Erinnerung: Wir haben erst vor Kurz- Patienten eine bestimmte Therapie erhielten, im Alter em die Dekade gegen Krebs ins Leben gerufen. Wir alle nicht an Alzheimer erkranken, und wir finden auf diese sagen, wir wollen Krebs irgendwann heilen. Dazu ist es Art und Weise – dann nicht mehr nur ganz zufällig, son- nötig, mit Forschung, mit Daten, mit Datenvernetzung dern systematisch – tatsächlich eine Prävention gegen diesen ersten großen Schritt zu gehen. Den großen Schritt diese schreckliche Krankheit. gehen wir mit dem DVG. Lassen Sie uns gemeinsam weiter vorangehen und weitere Schritte machen. Ich möchte Sie deswegen alle bitten: Machen Sie in den vielen Gesprächen, die Sie mit Bürgern führen, Wer- Vielen herzlichen Dank. bung für die Digitalisierung, machen Sie den Leuten klar, dass sie ihnen etwas nutzt, und kämpfen Sie mit mir ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei meinsam gegen die Vorbehalte, die immer noch bestehen. Abgeordneten der SPD) Wir als AfD werden diesen Prozess wohlwollend beglei- ten, aber natürlich auch ein bisschen kritisch. Vizepräsidentin Claudia Roth: Erlauben Sie mir zum Schluss drei kritische Anmer- Vielen Dank, Tino Sorge. – Nächster Redner: für die (B) kungen. (D) AfD-Fraktion Jörg Schneider. Erster Punkt: In diesem Gesetzentwurf ist vorgesehen, (Beifall bei der AfD) dass sich Krankenkassen auch an Start-ups beteiligen sol- len. Start-ups liefern Produkte; Krankenkassen bezahlen Jörg Schneider (AfD): diese Produkte. Ich denke, es ist sinnvoll, dass immer eine Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und gewisse Distanz zwischen der Krankenkasse und dem Herren! Liebe Zuschauer! Gesundheit ist ein Thema, Lieferanten besteht. Wir sollten die Krankenkassen gar das uns alle angeht. Insofern hoffe ich, dass ganz viele nicht erst dem Verdacht aussetzen, dass sie ein bestimm- Bürger diese Debatte verfolgen. Ich möchte einen Groß- tes Produkt vielleicht nicht deshalb bewerben, weil es gut teil meiner Redezeit dafür nutzen, für die Digitalisierung ist, sondern weil sie an dem Lieferanten beteiligt sind. im Gesundheitswesen zu werben. Zweiter Punkt: Telemedizin. Die größte Gruppe der Stellen Sie sich vor, ein Arzt macht eine Röntgenauf- Patienten sind ältere Menschen, und die haben oft nicht nahme. Er gewinnt wesentliche Erkenntnisse, wenn er so diese Affinität zu PC und Bildschirm. Wenn wir jetzt diese Aufnahme vielleicht mit einer älteren Aufnahme tatsächlich das persönliche Gespräch mit dem Arzt erset- vergleichen kann. Das ist aber heute oft nicht gegeben. zen durch ein Bildschirmgespräch, vielleicht in einer Man hat durch Umzug den Arzt gewechselt, man ist be- problematischen Situation, bei der es um eine negative ruflich bedingt vielleicht gerade an einem anderen Ort. Prognose geht, dann müssen wir, glaube ich, sehr aufpas- Unsere Gesellschaft ist mobiler geworden. Der Hausarzt, sen, dass wir an der Stelle nicht über das Ziel hinaus- der einen über Jahrzehnte betreut, ist heute nicht mehr der schießen. Regelfall. Hier entstehen Lücken im Informationssystem. Ich denke, mit Digitalisierung können wir diese Lücken Dritter Punkt: Wir haben immer noch über 100 Kran- schließen. Der Arzt hat dann wirklich die Möglichkeit, kenkassen. Jetzt kommen Sie bitte nicht mit dem Begriff mit wenigen Klicks auch auf die alten Aufnahmen zu- „Wettbewerb“. Das Korsett des Sozialgesetzbuchs V ist rückzugreifen. so eng; für das bisschen Wettbewerb, das da möglich ist, brauchen wir nicht über 100 Krankenkassen. Diese Es ist noch mehr möglich. Wir sind eine älter werdende 100 Krankenkassen sorgen aber für bürokratische Monst- Gesellschaft. Menschen leiden an mehreren Krankheiten. ren, zum Beispiel den morbiditätsbedingten Risikostruk- Ist denn wirklich gewährleistet, dass sich die Fachärzte turausgleich. untereinander absprechen? Oft ist es dann der Apotheker, der merkt, dass zwei Medikamente von zwei Fachärzten (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Morbi- verschrieben worden sind, die sich in ihrer Wirkung auf- ditätsorientierter Risikostrukturausgleich!) 14290 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Jörg Schneider (A) Das hört sich nicht nur so schlimm an, sondern das ist menbedingungen zu schaffen, die das Vertrauen in unser (C) auch so schlimm. Ich denke, wir könnten uns vielleicht Gesundheitssystem stärken. Deshalb sage ich in Richtung darauf verständigen, dass wir die Zahl der Krankenkassen aller Skeptiker: Wir als SPD werden dafür Sorge tragen, auf eine einstellige Zahl reduzieren. Wenn wir heute dass die Digitalisierung zunächst der Versorgung der schon so weit wären, dann wären wir vielleicht auch Menschen dient, ohne dabei ihre Persönlichkeits- und mit der Digitalisierung schon ein ganzes Stück weiter. Datenschutzrechte in Mitleidenschaft zu ziehen. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der AfD) Die Digitalisierung braucht nach dem E-Health-Gesetz von 2015 einen neuen Schub. Deshalb noch ein paar An- merkungen zum vorliegenden Gesetzentwurf. Wir wer- Vizepräsidentin Claudia Roth: den den Innovationsfonds beim Gemeinsamen Bundes- Vielen Dank, Jörg Schneider. – Nächste Rednerin: ausschuss verlängern und den Projekten, die sich bewährt Sabine Dittmar für die SPD-Fraktion. haben, den Weg in die Regelversorgung ebnen. Der Ent- (Beifall bei der SPD) wurf sieht hier aber auch einige Detailregelungen vor, die wir in der Anhörung am 16. Oktober noch genauer be- sprechen müssen, genauso die Frage der Erstattungsfä- Sabine Dittmar (SPD): higkeit digitaler Anwendungen durch Entscheidungen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und des BfArM. Denn ich sage: Ja, wir wollen grundsätzlich Kollegen! Ich persönlich verbinde große Hoffnungen und den schnellen Zugang für Patientinnen und Patienten. Erwartungen mit der Digitalisierung unseres Gesund- Aber die qualitätsorientierte Bestimmung des Leistungs- heitswesens. Drei Punkte sind dabei für mich und meine umfangs in der gesetzlichen Krankenversicherung ist zu- Fraktion besonders wichtig: zum Ersten die konsequente nächst einmal Aufgabe der Selbstverwaltung und nicht Herstellung der Transparenz für den Patienten in der Ver- der Regierung und ihrer nachgeordneten Behörden. sorgung bei Wahrung seiner Datensouveränität, zum Zweiten die nachhaltige Weiterentwicklung und digitale (Beifall bei der SPD) Modernisierung unserer Versorgungsstrukturen und zum Ich will hier gleich noch hinzufügen: Von der anged- Dritten die bürokratische Entlastung der Beschäftigten achten Anlehnung an das AMNOG-Verfahren – Stich- und letztendlich aller Akteure im Gesundheitswesen. wort: freie Preisbildung im ersten Jahr – muss man mich Wir werden deshalb zeitnah die elektronische Patien- und die SPD auch erst noch überzeugen. tenakte als künftiges Herzstück der Versorgung auf den Frau Präsidentin, mein letzter Punkt, bevor ich schlie- (B) Weg bringen. Denn wir wollen endlich die Patientinnen ße, betrifft die angedachte Förderung von Innovationen (D) und Patienten in die Lage versetzen, vollständigen Ein- aus Haushaltsmitteln. Krankenkassen sind Körperschaf- blick in ihre eigene Versorgung nehmen zu können, so- ten des öffentlichen Rechts und nicht zur Start-up-Förde- fern sie das möchten. Denn nur ein informierter Patient rung da, und wenn, dann überhaupt nur in ganz, ganz kann auch Verantwortung in eigener Sache übernehmen engen Grenzen und unter strengen Vorgaben. und als echter Partner im System auftreten; davon bin ich gerade als Ärztin überzeugt. Ich denke, das wird eine spannende und interessante parlamentarische Beratung. Ich freue mich darauf und Digitalisierung bedeutet für mich aber vor allem auch sage herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Innovation in der Versorgung der Patientinnen und Pa- tienten, ob digitale Unterstützung für chronisch Kranke – (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kollege Sorge hat die Beispiele vom Diabetiker und Par- der CDU/CSU) kinsonpatienten genannt –, elektronisches Rezept, tele- medizinische Versorgung vor allem im ländlichen Raum, Vizepräsidentin Claudia Roth: Videosprechstunde oder das Telekonsil, welches spezial- medizinische Kompetenz in die Fläche bringen kann. Vielen Dank, Sabine Dittmar. – Nächste Rednerin: für die FDP-Fraktion Christine Aschenberg-Dugnus. Die Digitalisierung bietet immense versorgungspoliti- sche Chancen. Ebenso eröffnet sie durch Straffung admi- (Beifall bei der FDP) nistrativer Abläufe und Strukturen enorme Chancen für den Arbeitsalltag. Wir gestalten dadurch unser Versor- Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): gungssystem nicht nur für alle komfortabler, sondern Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! vor allem auch effizienter. Meine Damen und Herren! Wir befassen wir uns heute mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz. Lassen Sie mich (Beifall bei der SPD) vorweg bitte eines ganz deutlich sagen: Wir als FDP- Bundestagsfraktion sehen die Digitalisierung als eine Das nutzt den Beschäftigten, den Pflegekräften, den Me- echte Chance für unser Gesundheitswesen und dessen dizinern genauso wie den Fachangestellten und bringt künftige Herausforderungen, und zwar im Sinne der Pa- viel mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten. tientinnen und Patienten. Ich glaube, meine Kolleginnen und Kollegen, wir ste- hen an der Schwelle zu einem epochalen Wandel unserer (Beifall bei der FDP) Gesundheitsversorgung. Unsere Verantwortung dabei ist Daher ist es auch gut, dass von der Regierung nun es, diesen Wandel zu gestalten, Mut zu machen und Rah- endlich ein Gesetzentwurf zu diesem Thema auf den Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14291

Christine Aschenberg-Dugnus (A) Tisch gekommen ist. Positiv ist, dass Ärzte Gesundheits- weiß, dass sie gerade eine Fehlgeburt erlitten hat. Deshalb (C) Apps wie Tagebücher für Diabetiker oder Apps für Men- ist es für uns ganz wichtig, dass die elektronische Patien- schen mit Bluthochdruck nun verschreiben können; denn tenakte individuell einsehbar sein muss, sonst verlieren das hilft den Menschen tatsächlich in ihrer täglichen Ver- wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. sorgung. (Beifall bei der FDP) Ebenso ist der Ausbau der Telematikinfrastruktur für Meine Damen und Herren, hier müssen Sie dringend Ärzte, Apotheken und Krankenhäuser richtig. Denn die nachbessern. Telematik ist eine große Chance, unsere hochwertige Ver- sorgung gerade in ländlichen Regionen auch in Zukunft Bei allen Innovationen und technischen Möglichkeiten sicherzustellen. Ebenso begrüßen wir die neu vorgesehe- dürfen wir auch eines nicht vergessen: Die Datenhoheit ne Möglichkeit der Krankenkassen, digitale Versorgungs- gehört in die Hand der Patientinnen und Patienten. Daher innovation zu fördern. Erfreulich ist auch – es wurde eben müssen der Datenschutz und vor allen Dingen die Selbst- gerade genannt –, dass der Innovationsfonds verlängert bestimmung über unsere Gesundheitsdaten immer an werden soll. Der Gesetzentwurf geht also auch aus unse- oberster Stelle stehen. rer Sicht in die richtige Richtung. Vielen Dank. Was jedoch fehlt, meine Damen und Herren, ist eine übergeordnete Gesamtstrategie für ein digitales Gesund- (Beifall bei der FDP) heitswesen. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei der FDP) Vielen Dank, Christine Aschenberg-Dugnus. – Näch- Wir müssen doch Ziele definieren, die dann auch fortge- ster Reder: Dr. Achim Kessler für die Fraktion Die Linke. schrieben werden. Was wir brauchen, ist eine Koordinie- rungsstelle, die den Digitalisierungsprozess kontinuier- (Beifall bei der LINKEN) lich begleitet und eben auch korrigierend eingreift. Einzelmaßnahmen, wie jetzt im Gesetz vorgesehen, rei- Dr. Achim Kessler (DIE LINKE): chen da nicht aus. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte Herren! Vor kurzer Zeit wurde bekannt, dass allein in (Beifall bei der FDP) Deutschland über 13 000 hochsensible Patientendaten Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass im vorliegenden Ge- über Jahre ungeschützt im Netz einsehbar waren. Mir setzentwurf die sektorenübergreifende mobile Vernet- und vielen Menschen bereitet diese Meldung großes Un- (B) zung, also zwischen Kliniken untereinander, aber auch behagen, und ich hätte gerne den Gesundheitsminister (D) zwischen Kliniken und Hausärzten und dem Pflegeperso- gefragt, ob es ihm nicht auch so geht, aber offensichtlich nal fehlt. Hier brauchen wir einen schnellen und sicheren ist das Thema nicht so wichtig für ihn. Denn gerade in Austausch über Diagnose und Therapie. Wie wichtig das deutschen Arztpraxen und Krankenhäusern gibt es keine ist, habe ich in der eigenen Familie erlebt. Wenn die ei- sicheren und keine einheitlichen IT-Standards. In einer gene Mutter Freitagabend einen Schlaganfall erleidet und solchen Umgebung wäre sogar eine ausgereifte und si- der behandelnde Kardiologe nicht zu erreichen ist, dann chere elektronische Patientenakte ein großes Risiko. Es wäre es schon schön gewesen, wenn die Behandlungs- ist ein unglaublicher Skandal, dass Sie dieses Problem daten nicht erst am Montag vorgelegen hätten. Deshalb schlicht und einfach ignorieren. ist es so wichtig, zwischen allen beteiligten Systemen und (Beifall bei der LINKEN) sektorenübergreifend zusammenzuarbeiten und diese wichtigen Informationen auszutauschen. Der Gesundheitsminister betont bei jeder Gelegenheit, dass die Hoheit über die eigenen Daten bei den Patientin- (Beifall bei der FDP) nen und Patienten liegen muss. Aber bereits mit dem Interoperabilität ist dabei ein wichtiges Stichwort. Es ersten ernstzunehmenden digitalen Angebot, der elekt- müssen auch endlich Schnittstellenstandards geschaffen ronischen Patientenakte, wird genau dieses Versprechen werden. gebrochen. Die Patientinnen und Patienten werden zu- nächst nicht entscheiden können, welche Daten sie wel- Entscheidend ist auch, dass wir bei den Bürgern und chem Arzt oder Therapeuten zur Verfügung stellen wol- vor allen Dingen bei den Ärzten und Patienten um Ver- len. trauen und Akzeptanz werben. Dabei dürfen der Daten- schutz und Sicherheitslücken im System nicht auf die (Beifall bei der LINKEN) leichte Schulter genommen werden. Es geht hier um sehr Wer die elektronische Patientenakte nutzen möchte, muss sensible Daten. alle Daten zum Beispiel über einen Schwangerschaftsab- bruch, über eine psychische Erkrankung oder eine Infek- (Beifall bei der FDP) tionskrankheit allen Behandelnden zur Verfügung stellen. Bei der elektronische Patientenakte, die auf Druck des Justizministeriums nicht mehr Gegenstand des Gesetz- (Sabine Dittmar [SPD]: Das steht nicht im entwurfs ist, wollte Minister Spahn, dass sie nicht indivi- Gesetz!) duell einsehbar ist, das heißt, jeder konnte und sollte alles Dieses Alles-oder-nichts-Prinzip ist ein gravierender Ver- sehen. Ich kann verstehen, dass eine junge Frau nicht stoß gegen das Bürgerrecht auf Datenhoheit. Dazu sagt möchte, dass der Augenarzt oder der Physiotherapeut meine Fraktion Nein. 14292 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Dr. Achim Kessler (A) (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: (C) Vielen Dank, Dr. Kessler. – Ich will Sie informieren, Meine Damen und Herren, digitale Anwendungen, dass für die heutige Sitzung entschuldigt ist. zum Beispiel Gesundheits-Apps, könnten helfen, Patien- tenrechte gegenüber Ärzten und Krankenkassen besser Nächste Rednerin: Maria Klein-Schmeink für Bünd- durchzusetzen. Sie könnten den Zugang zu Informationen nis 90/Die Grünen. über Krankheiten und Therapien erleichtern und damit das Verständnis erhöhen und die Selbstbestimmung der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Patientinnen und Patienten stärken. Dazu müssten aber – wie das bei allen anderen Behandlungen auch üblich ist – Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- die nützlichen von den überflüssigen oder sogar NEN): schädlichen Angeboten unterschieden werden. Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrter Herr Staatssek- retär! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der heute vor- (Tino Sorge [CDU/CSU]: Das soll bewertet liegende Gesetzentwurf ist lange angekündigt worden. werden! Genau das ist das Ziel!) 18 Monate haben wir auf den großen Wurf gewartet, aber Das ist aber genau nicht das Ziel von Herrn Spahn. Es ist wir erleben ein Digitale-Versorgung-Gesetz, das man ei- kein Zufall, dass erstmals eine Bundesbehörde über die gentlich reduzieren muss auf „Apps auf Rezept“ und – Erstattungsfähigkeit in der gesetzlichen Krankenversi- noch schlimmer – „Wirtschaftsförderung digitaler An- cherung entscheiden soll. Die am medizinischen Nutzen wendungen zulasten der gesetzlichen Krankenversiche- orientierte Zulassung durch den Gemeinsamen Bundes- rung“. Das kann der große Wurf in Sachen Digitalisierung ausschuss wird ersetzt durch lasche Prüfkriterien per An- im Gesundheitswesen ja wohl nicht gewesen sein. weisung direkt aus dem Gesundheitsministerium. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Tino Sorge [CDU/CSU]: Es geht um zügige sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Prüfung digitaler Anwendungen!) Das ist auch keine Antwort darauf, dass wir einen emp- findlichen Rückstand bei der Digitalisierung im Gesund- Das ist nichts anderes als ein Förderprogramm für die IT- heitswesen und einen echten Innovationsstau haben und Industrie und eine weitere Schwächung der Selbstverwal- dass wir es eben nicht schaffen, die Möglichkeiten der tung. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, bitte Digitalisierung für die Patientinnen und Patienten und für stimmen Sie dieser neoliberalen Zumutung aus dem Hau- eine gute Versorgung nutzbar zu machen. se Spahn nicht zu. Das wäre gut für die Versicherten, das wäre aber auch gut für Ihre eigene Glaubwürdigkeit. (Tino Sorge [CDU/CSU]: Deswegen brauchen (B) wir ja alle Akteure und nicht nur einige!) (D) (Beifall bei der LINKEN) Wenn man sich den Gesetzentwurf anschaut, kann man Nach dem Gesetzentwurf sollen digitale Anwendun- ganz klar sagen: Es fehlen eine Gesamtstrategie gen zwölf Monate lang ohne Nachweis ihres medizin- ischen Nutzens und ohne jede Kostenkontrolle von den (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Ja, Kassen erstattet werden. Die Versicherten werden zu Ver- genau!) suchskaninchen in einem riesengroßen Feldversuch. Mit und benannte Akteure, die dafür sorgen, dass alle, die für seriöser Gesundheitspolitik hat das wirklich gar nichts die Versorgung wichtig sind, an einer Digitalisierungs- mehr zu tun. strategie beteiligt werden. Es fehlt eine Standardsetzung (Beifall bei der LINKEN) und eine Formulierung von Standards, damit alle, die in der Versorgung tätig sind, mit gleichen Standards arbeiten Aber noch schlimmer: Sie wollen allen Ernstes die ge- und Daten austauschen können. Es fehlt auch – und das ist setzlichen Krankenkassen zu Investoren in der IT-Bran- das Wichtigste – eine konkrete und durchgängige Patien- che machen. Den Krankenkassen wird die Spekulation tenbeteiligung. Das, meine Damen und Herren, ist der mit Beitragsgeldern ermöglicht, indem sie Anteile von Kardinalfehler an der gesamten Herangehensweise. IT- Unternehmen kaufen können. Diese Zweckentfrem- dung von Beitragsgeldern ist ein Skandal und muss be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) endet werden. Das ist auch der Grund, warum das Kernstück einer Digitalisierung im Gesundheitswesen, nämlich die elekt- (Beifall bei der LINKEN) ronische Patientenakte, nicht im Gesetz enthalten ist. Sie Ich fordere den Gesundheitsminister auf, die Interessen sollte eigentlich so gestaltet werden, dass die Patientinnen der IT-Industrie nicht länger auf Kosten der Patientinnen und Patienten nicht darüber hätten entscheiden können, und Patienten zu bedienen. Nehmen Sie das Recht auf wer welche Informationen, welche Daten sehen darf. Datenhoheit und informationelle Selbstbestimmung der Vielmehr hätten sie sich entscheiden müssen: hopp oder Versicherten bitte endlich ernst. Dafür hätten Sie die Un- topp! Mache ich aber bei der Patientenakte mit, dann sieht terstützung der Linken. Für den vorliegenden Gesetzent- jeder, der als Leistungserbringer dazu ermächtigt ist, al- wurf haben Sie sie nicht. les. So zerstört man Vertrauen. So schädigt man den Ruf der elektronischen Patientenakte, bevor sie überhaupt zur Vielen Dank. Anwendung gekommen ist. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14293

Maria Klein-Schmeink (A) Das werfe ich dem Minister auch tatsächlich vor, weil die Grundvoraussetzungen ist, um beim Thema Digitalisie- (C) elektronische Patientenakte in der Tat ein durchaus hilf- rung voranzukommen. reiches Instrument ist, um den Informationsaustausch in der Versorgung zu verbessern, um dahin zu kommen, dass Was bedeutet Digitalisierung im Gesundheitswesen? Da geht es nicht nur um Datenverarbeitung, um Doku- wir sektorübergreifend und berufsgruppenübergreifend versorgen können. Das ist ein großes Manko. mentation und um Vernetzung, sondern da geht es auch um die konkrete Unterstützung in der Versorgung, um Wir haben einen umfangreichen Antrag vorgelegt, in Videosprechstunden, um Telemonitoring und vieles dem wir zeigen, dass wir als Erstes eine Patientenorien- mehr. tierung brauchen und dass wir als Zweites eine Strategie Lieber Herr Schneider, was mich an Ihrer Rede als brauchen, damit wir sicherstellen, dass alle Akteure im Oppositionspolitiker von der AfD beeindruckt hat, war, Gesundheitswesen und in der Forschung auf der gleichen dass Sie einer der ganz wenigen Oppositionspolitiker wa- Grundlage unterwegs sind. Daneben müssen wir ganz ren, die das Thema „Chancen der Digitalisierung“ nach klar sicherstellen, dass es am Ende nie um einen Selbst- vorne getragen haben. Ein herzliches Dankeschön für zweck Digitalisierung geht, sondern dass der Patienten- diese wohltuende Rede! nutzen und die Souveränität der Patientinnen und Patien- ten immer vorne stehen. Sie müssen diejenigen sein, die (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bestimmen, ob und wie die Patientenakte genutzt wird. Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz wollen wir in der Ich muss sagen: Hier ist der Gesetzentwurf weit hinter Tat dafür sorgen, dass Apps schneller in der Versorgung dem zurück, was wir eigentlich brauchen. eingesetzt werden können. Lieber Herr Kessler, man kann darüber streiten, was der richtige Weg ist, ob wir Apps (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) erst relativ lange prüfen und erst dann zulassen oder ob wir sagen – so wie es im gesamten System der Digitali- Vizepräsidentin Claudia Roth: sierung ist –, dass das disruptiv ist und dass wir auch den Aspekt Schnelligkeit berücksichtigen müssen. Vielen Dank, Maria Klein-Schmeink. – Nächster Redner: Michael Hennrich für die CDU/CSU-Fraktion. Ich glaube, wir haben da einen guten Mittelweg gefun- den. Wir eröffnen die Chance, dass das BfArM prüft, ob (Beifall bei der CDU/CSU) es plausibel ist, dass dies in der Versorgung Verbesserun- gen bringt. Dabei berücksichtigen wir aber auch den As- Michael Hennrich (CDU/CSU): pekt der Schnelligkeit. (B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und (Dr. Achim Kessler [DIE LINKE]: Lassen Sie (D) Kollegen! Liebe Frau Klein-Schmeink, lassen Sie mich das doch den Medizinischen Dienst machen!) etwas zu Ihren Ausführungen bezüglich des großen Wurfs sagen: Die Digitalisierung ist für mich ein Prozess, – Das können und werden wir diskutieren, aber ich glau- der über viele Jahre läuft, und die entscheidende Frage ist be, dass das ein vernünftiger und richtiger Ansatz ist. doch: Wo stehen wir momentan? Ich halte es auch für richtig, dass die Krankenkassen Lange Jahre hat sich gar nichts bewegt. Denken wir nur die Möglichkeit haben, sich zu beteiligen. Dadurch, dass an die elektronische Gesundheitskarte, die ja von Rot- der Gesundheitssektor ein Bereich ist, in dem sich die in Grün auf den Weg gebracht worden ist und wo es immer der Digitalisierung Tätigen engagieren können, geht ein stotterte; es gab keinen Schritt nach vorne. Jetzt sind wir starkes Signal an sie aus. Dass sich die privaten Kranken- an einem Punkt – beginnend in der letzten Legislaturpe- versicherungen mit einem Fonds in Höhe von 100 Millio- riode unter Hermann Gröhe –, an dem das Thema E- nen Euro beteiligen, zeigt, dass das der richtige Weg ist. Health – Digitalisierung – an Fahrt aufnimmt. Wir sollten den Gesetzentwurf aber auch nutzen, um über Dinge wie Datenschutz, vielleicht auch über das Wir haben in der letzten Legislaturperiode das Thema Thema „künstliche Intelligenz“ und darüber zu diskutie- Interoperabilität – die Systeme sollen miteinander kom- ren, wie wir Daten nutzen können. munizieren können – gelöst, und wir haben mit der Tele- matikinfrastruktur sichere Übertragungswege geschaf- Digitalisierung im Gesundheitswesen ist vielleicht fen. Ich gebe ganz offen zu, dass ich das lange sehr auch eine Chance für den Standort Deutschland. Ich habe kritisch gesehen habe, aber ich glaube, dass das richtig vor einiger Zeit einen tollen Artikel von Professor Jürgen ist. Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz kommt jetzt ein Schmidhuber gelesen, der uns deutlich gemacht hat, dass weiterer Baustein dazu. Entscheidend ist nämlich, dass wir in Deutschland, weil wir gute Daten besitzen, eigent- die Digitalisierung bei den Patientinnen und Patienten lich alle Chancen haben, dass wir die KI nutzen können ankommt. Es geht darum, dass es Frühwarnsysteme gibt, und dass das auch ein Erfolgsfaktor in Deutschland sein und es geht um die Behandlung sowie um die Kontrolle kann. von Behandlungen. Das sind viele Beispiele. Lassen Sie mich eines aber auch deutlich sagen: Das Vizepräsidentin Claudia Roth: Thema „Digitalisierung im Gesundheitswesen“ bringen Herr Hennrich. wir nur dann voran, wenn wir eine entsprechend leis- tungsfähige Infrastruktur haben. Es muss an dieser Stelle Michael Hennrich (CDU/CSU): auch gesagt werden, dass der Breitbandausbau eine der Ich komme zum Schluss. 14294 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

(A) Vizepräsidentin Claudia Roth: licherweise nicht mehr von einer Verordnung und nicht (C) Ja. mehr von dem Draufgucken eines Arztes oder eines Psy- chotherapeuten abhängig macht, sondern sozusagen von Michael Hennrich (CDU/CSU): der Vergabe durch die Krankenkassen. Das ist schon ein Deswegen: Lassen Sie uns auch über solche Themen Systembruch. Da muss man noch mal hingucken, weil diskutieren. insbesondere Gesundheits-Apps, die in das System hi- neinwirken, letztlich Auswirkungen auf den Behand- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. lungsprozess haben, und da würde ich schon erwarten, dass die Zuständigen, die wir auch sonst im Bereich des (Beifall bei der CDU/CSU) Verordnungsweges kennen, da mit draufgucken. Sonst kann die gesamte Behandlung gefährdet sein. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Michael Hennrich. – Nächster Redner: (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Dirk Heidenblut für die SPD-Fraktion. Ich bin nun total glücklich, weil ich ein absoluter Ver- (Beifall bei der SPD) fechter der elektronischen Patientenakte bin, dass insbe- sondere die Kollegen von den Linken dieses Thema hier Dirk Heidenblut (SPD): so aufgebracht und so deutlich auf die Weiterentwicklung der elektronischen Patientenakte hingewiesen haben. Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- legen! Liebe Damen und Herren auf der Tribüne! Ich will Ja, dazu steht im Gesetzentwurf eigentlich gar nichts erst mal sagen: Ja, wir haben lange auf diesen Gesetzent- drin, und, ja, da steht schon gar nicht das drin, was Sie wurf gewartet, aber – das sehe ich etwas anders als meine hier erzählt haben. Deswegen frage ich mich allen Erns- Kollegin von den Grünen – dieser Gesetzentwurf wirkt tes, wieso Sie das hier erzählen. genau an den Punkten, die noch nicht geregelt waren. (Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Weil Das will ich zu dem großen Wurf auch mal deutlich der Minister sich so geäußert hat!) sagen: Wir haben ja nicht gewartet und nichts gemacht, sondern wir haben uns in der ganzen Zeit bereits mit Die elektronische Patientenakte muss natürlich in der mehreren Punkten – an anderen Gesetzesstellen – be- Hoheit der Patientinnen und Patienten liegen. Das ganze schäftigt. Als Beispiele nenne ich das elektronische Re- Gesetz lebt im Übrigen davon, dass wir dafür sorgen, dass zept und die elektronische Patientenakte dem Grunde die elektronische Patientenakte in der Hoheit der Patien- nach. Daneben ging es auch um eine Strukturfrage in tinnen und Patienten liegt. (B) der gematik, die ganz zentral zur Weiterentwicklung füh- (D) ren wird. Wir haben uns also schon mit vielen Punkten (Abg. Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ beschäftigt. DIE GRÜNEN]: meldet sich zu einer Zwi- schenfrage) Dieser Gesetzentwurf greift jetzt viele weitere Punkte auf, die wichtig sind und die wir in der Vergangenheit – Frau Präsidentin! auch mehrfach gefordert haben. Insofern erst mal danke für die Vorlage des Gesetzent- Vizepräsidentin Claudia Roth: wurfs, der endlich vorliegt und uns jetzt die Möglichkeit Nein, ich erlaube niemandem mehr eine Zwischenfra- gibt – ich bin jetzt sozusagen in der glücklichen Position, ge. zum zweiten Mal von dem Schub zu reden, für den wir sorgen wollen; denn ich war schon beim eHealth-Gesetz Dirk Heidenblut (SPD): in der letzten Legislaturperiode dabei –, hier einen wei- Nein, geht nicht. Tut mir leid, Maria; ich hätte nichts teren Schub hineinzubringen. Ich bin mir ganz sicher, das dagegen gehabt. Alles klar, dann rede ich weiter. – Genau eHealth-Gesetz der letzten Legislaturperiode hat hier vor dem Hintergrund, dass wir uns damit noch mal detail- schon einen Schub reingebracht; denn die Entwicklun- liert beschäftigen wollen, wird das in einem nächsten gen, die wir in Bezug auf die ePa bereits erleben, hätte Schritt noch sehr deutlich konkretisiert werden. es ohne das Gesetz nicht gegeben. Natürlich ist es auch in unserem Interesse, dass Patien- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Tino Sorge tinnen und Patienten, die eine solche Akte nutzen, auch [CDU/CSU]) die Hoheit darüber und die Möglichkeit haben, damit so Das heißt natürlich nicht – das auch mit Blick auf das zu verfahren, wie sie das gerne wollen. Sie können sie an Ministerium –, dass der Gesetzentwurf jetzt sozusagen all den Stellen öffnen, an denen es nötig ist und an denen sie die Dinge erfüllt, die wir uns vorstellen können, und dass es wollen, und müssen es eben nicht an den Stellen, an wir all das, was drinsteht, jetzt ohne Weiteres richtig auf denen sie es nicht wollen. den Weg bringen können. Die Kollegin Dittmar hat schon einige Punkte genannt. Das gilt übrigens auch für die Apps; denn auch der Einsatz der Apps wird stark davon abhängig gemacht, Hinsichtlich der Apps will ich noch einen Punkt zu- ob die Patientinnen und Patienten sie denn auch haben sätzlich erläutern: Im Gesetzentwurf steht eine Regelung, wollen. Sie können da letztlich aktiv werden. Wir die den Einsatz von Apps – deren Nutzen ist wie auch schaffen aber einen Anspruch darauf, dass sie künftig immer bewertet; dazu kommen wir auch noch mal – mög- Gesundheits-Apps finanziert bekommen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14295

Dirk Heidenblut (A) Das ist das Wichtige: Wir schaffen die Voraussetzun- Vernachlässigung der Digitalisierung in unserem Ge- (C) gen, wir schaffen die Ansprüche, wir sorgen dafür, dass sundheitssystem einfach nicht mehr leisten. das Gesundheitssystem durch die Digitalisierung besser wird. Wir sollten die Chancen dieser Digitalisierung se- Aus diesem Grund schaffen wir mit dem vorliegenden hen, und wir werden auch bei der ePa dafür sorgen, dass Gesetzentwurf nun endlich die notwendigen Rahmenbe- sie dem Patientennutzen dient und dass sie für die Patien- dingungen für die Einführung umfassender digitaler Ver- tinnen und Patienten ein vernünftiges Instrument wird. sorgungsstrukturen im deutschen Gesundheitswesen. Das Digitale-Versorgung-Gesetz setzt dabei vor allem auf drei Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. wichtige Punkte. (Beifall bei der SPD) Erstens und am wichtigsten. Die Patientinnen und Pa- tienten profitieren. Sie erhalten einen gesetzlich geregel- Vizepräsidentin Claudia Roth: ten Leistungsanspruch auf digitale Gesundheitsanwen- Vielen Dank, Herr Heidenblut. – Letzte Redner in die- dungen, und sie genießen die Vorteile einer stärkeren ser Debatte: Stephan Pilsinger für die CDU/CSU-Frak- Einbindung telemedizinischer Anwendungen wie bei- tion. Herr Pilsinger. spielsweise Telekonsilien oder Videosprechstunden. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Zweitens. Die Digitalisierung im Gesundheitswesen Abgeordneten der FDP) wird auf weitere Bereiche ausgedehnt. Das betrifft vor allem die Pflicht zur Anbindung an die Telematikinfra- struktur. Auch Kliniken und Apotheken sollen nun einen Stephan Pilsinger (CDU/CSU): verpflichtenden Zugang erhalten. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit Jah- ren wird viel über das Thema „Digitalisierung im Ge- Drittens. Die Förderung digitaler Innovationen im Ge- sundheitswesen“ geredet. Die Koalition und Jens Spahn sundheitswesen wird in allen Bereichen vorangetrieben. reden nicht nur, mit dem heute vorgelegten Digitale-Ver- So können die Krankenkassen nun erstmals aktiv in die sorgung-Gesetz wird jetzt auch eine Lösung für dieses Entwicklung digitaler Projekte investieren. Zudem wird wichtige Problem gefunden. der bewährte Innovationsfonds bis 2024 mit 200 Millio- nen Euro jährlich fortgeführt und darüber hinaus weiter- Wir haben diesen Schritt vorbereitet. Im Mai dieses entwickelt. Das ist nicht nur im höchsten Maße sinnvoll, Jahres ist das Terminservice- und Versorgungsgesetz in das sorgt nicht nur für eine Verbesserung der Qualität und Kraft getreten. Damit haben wir die Voraussetzungen für Wirtschaftlichkeit der Versorgung, es ist auch wichtiges die Einführung einer elektronischen Patientenakte ge- Zeichen dafür, dass der Gesetzgeber die Bedeutung der (B) schaffen. Mithilfe dieser Akte können Patientinnen und Digitalisierung für das Gesundheitswesen erkannt hat. (D) Patienten sowie die weiteren Beteiligten im Gesundheits- Wir machen damit die Versorgung zukunftsfest. wesen einfach, sicher und schnell auf wichtige Behand- lungsdaten zurückgreifen. Ein wichtiger Punkt für die Mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz setzen wir genau Akzeptanz einer solchen digitalen Akte ist dabei: Die das um, worüber jahrelang gesprochen worden ist. Wir Kontrolle über die Daten bleibt stets bei den Patientinnen machen die digitale Innovation zum festen Bestandteil und Patienten selbst. der Regelversorgung. (Beifall der Abg. Christine Aschenberg- Vielen Dank. Dugnus [FDP]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Unser Ziel ist es, den Umgang mit der digitalen Akte Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]) Alltag werden zu lassen. Deshalb ist sie auch ohne den Einsatz der elektronischen Gesundheitskarte jederzeit und an jedem Ort mit dem Smartphone oder dem Tablet Vizepräsidentin Claudia Roth: erreichbar. Mit der Einführung der elektronischen Patien- Vielen Dank, Stephan Pilsinger. – Ich schließe die Aus- tenakte verbessern wir die Versorgung der Patientinnen sprache. und Patienten in Deutschland entscheidend. Sie hilft nicht Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf nur im Notfall, indem sie Rettungskräften und Notärzten den Drucksachen 19/13438, 19/13548 und 19/13539 an den Zugriff auf wichtige Patientendaten ermöglicht. Sie die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- kann mehr: Durch einen integrierten elektronischen Me- schlagen. – Sie sind einverstanden. Dann sind die Über- dikationsplan warnt sie vor Unverträglichkeiten oder ver- weisungen so beschlossen. waltet Daten aus Gesundheits-Apps. Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit diesem Gesetz Jetzt kommen wir zum letzten Tagesordnungspunkt in handeln wir, weil es notwendig ist. Vor allem im Bereich dieser ambitionierten Sitzungswoche. des Gesundheitswesens war der rechtliche Rahmen für Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 d sowie das Implementieren digitaler Lösungen und neuer, inno- die Zusatzpunkte 21 und 22 auf: vativer Versorgungsformen zu wenig adaptiv und agil. Vor dem Hintergrund zunehmender Herausforderungen 34 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten durch eine alternde Gesellschaft, den Fachkräftemangel Margit Stumpp, Beate Walter-Rosenheimer, in vielen medizinischen Berufen und einer Unterversor- Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der gung in strukturschwachen Regionen können wir uns eine Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 14296 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Junge Menschen beteiligen – Partizipa- zur Änderung des Europawahlgesetzes (akti- (C) tionsrechte stärken, Demokratiebildung ves Wahlrecht ab 16 Jahren) fördern Drucksache 19/13514 Drucksache 19/13537 Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Inneres und Heimat Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen ZP 22 Erste Beratung des von den Abgeordneten Haushaltsausschuss Beate Walter-Rosenheimer, Britta Haßelmann, Annalena Baerbock, weiteren Abgeordneten b) Erste Beratung des von den Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Beate Walter-Rosenheimer, Britta Haßelmann, NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Annalena Baerbock, weiteren Abgeordneten zur Änderung des Bundeswahlgesetzes (akti- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ves Wahlrecht ab 16 Jahren) NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Arti- Drucksache 19/13513 kel 38) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Drucksache 19/13512 Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Nach einer interfraktionellen Übereinkunft sind für die Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Das ist in Ihrem Sinne. Dann ist es so beschlossen. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anna Christmann, Annalena Baerbock, Wenn sich alle hingesetzt haben – vielen herzlichen Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Dank –, eröffne ich die Aussprache und gebe das Wort Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Margit Stumpp für Bündnis 90/Die Grünen. Engagementoffensive jetzt – Bürgerschaft- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) liches Engagement in der Breite der Gesell- schaft fördern Margit Stumpp (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (B) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- (D) Drucksache 19/10223 nen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Überweisungsvorschlag: Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Inneres und Heimat Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Sportausschuss Das Ende der Welt ist nahe. Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Finanzausschuss So lautet ein Keilschrifttext von 2 000 vor Christus. Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (Heiterkeit bei Abgeordneten des Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ausschuss Digitale Agenda Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kommunen Nun, das Ende der Welt steht immer noch aus. Das zeigt, Haushaltsausschuss wie unzutreffend die Einschätzung der Jugend war und d) Beratung des Antrags der Abgeordneten ist. Dr. , Dr. Anna Christmann, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und sowie bei Abgeordneten der SPD) der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Allerdings beginnt die Welt, gerade jetzt, 4 000 Jahre Mindestalter für die Unterstützung einer später, buchstäblich unterzugehen. Das belegt der jüngste Europäischen Bürgerinitiative auf 16 Jahre Klimabericht des IPCC. Die Verantwortung dafür liegt absenken bei den Erwachsenen, nicht bei der Jugend. Das mickrige Klimapäckle vom letzten Freitag oder die nächste Episo- Drucksache 19/13089 de im Trauerspiel des Brexits zeigen: Das Ende der Welt Überweisungsvorschlag: ist nicht zu verhindern, wenn die Jugend ergeben auf ihre Ausschuss für Inneres und Heimat (f) Eltern hört. Im Umkehrschluss bedeutet das: Gerade der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Umstand, dass die Jugend nicht mehr auf die Eltern hört, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend lässt für die Zukunft hoffen. Federführung strittig ZP 21 Erste Beratung des von den Abgeordneten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Beate Walter-Rosenheimer, Britta Haßelmann, Viele, auch die Jugendlichen, die sich bei Fridays for Annalena Baerbock, weiteren Abgeordneten Future engagieren, widerlegen alles, was der Jugend vor- und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- geworfen wird: Desinteresse, Egozentrik, Konsumorien- NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes tierung, Faulheit. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14297

Margit Stumpp (A) ( [AfD]: Die meisten waren zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- (C) faul, hinzugehen!) wie des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]) Die britischen Jugendlichen, die beim Referendum abge- stimmt haben, haben sich mehrheitlich gegen den Brexit Nebenbei bemerkt: Im Koalitionsvertrag verständigte ausgesprochen. Aber hier wie dort gilt: Es waren viel zu man sich auf eine Expertenkommission zur Bürgerbetei- wenige. ligung. Passiert ist in zwei Jahren nichts – trotz Auffor- derung durch den zuständigen Ausschuss. Auch hier: (Karsten Hilse [AfD]: Die wollten nicht Große Worte, keine Taten! Dabei ist klar: Nur wer so früh hingehen!) wie möglich ernst genommen wird und spürt, dass man Dinge selbst verändern kann und selbst Verantwortung Leider glauben viele Jugendliche nicht, dass es möglich trägt, lernt Demokratie und geht als Erwachsener selbst- sei, etwas zu bewegen. Das teilen auch Erwachsene. Ein bestimmt durchs Leben. Es ist an der Zeit, junge Men- Gutteil lässt sich gerade aufgrund dessen dazu verführen, schen mehr und konsequent zu beteiligen. denen nachzuhängen, die einfache Lösungen mit radika- len und inhumanen Mitteln versprechen. Deswegen ist es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so drängend, das Wissen um die Möglichkeiten der Ge- sowie bei Abgeordneten der SPD) staltung und Mitwirkung so früh wie möglich zu vermit- teln. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN so- Vielen Dank, Margit Stumpp. – Nächste Rednerin: wie des Abg. Norbert Müller [Potsdam] [DIE für die CDU/CSU-Fraktion. LINKE]) (Beifall bei der CDU/CSU) Junge Menschen wissen sehr genau, was sie wollen. Junge Menschen haben ein Recht darauf, dass ihre Mein- Bettina Margarethe Wiesmann (CDU/CSU): ungen und ihre Bedürfnisse berücksichtigt werden. Junge Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Menschen müssen sich an allen Orten des Aufwachsens Sehr geehrte Damen und Herren! Vor zwei Wochen habe altersgemäß beteiligen können, insbesondere dort, wo die ich hier gefordert, die Jugend in ihren Bedürfnissen und größte Verantwortung für Kinder liegt. Das ist neben der Anliegen ernst zu nehmen. Deshalb möchte ich heute mit Familie die Schule. Deswegen wollen wir Schulen demo- meiner Freude darüber beginnen, dass sich die Familien- kratisieren. politiker der Koalition gestern verständigt haben, die Selbstbeteiligung von jungen Menschen in Heimen und (Beifall des Abg. Norbert Müller [Potsdam] (B) Pflegefamilien auf 25 Prozent ihrer Einkommen herab- (D) [DIE LINKE]) setzen zu wollen. Zu einer demokratischen Schulkultur gehören echte Mitbestimmungsmöglichkeiten, zum Beispiel mithilfe (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und selbstverantworteter Lernzeiten. Es reicht nicht, über der SPD) die Farbe der Toilettenfliesen entscheiden zu dürfen. Da- Meine Damen und Herren, diese jungen Menschen mit Mitwirkung tatsächlich gelebt werden kann, braucht können dann, wenn der Bundesrat zustimmt, drei Viertel die Vertretung der Schüler und Schülerinnen Ressourcen ihres Einkommens behalten und das machen, was andere und feste Mitsprachemöglichkeiten. Gleichaltrige auch tun, nämlich selbstständig werden. Das ist ein Erfolg, weil wir allen Beteiligten zugehört (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben, und es war der Unionsfraktion ein großes Anlie- und bei der LINKEN) gen. So machen wir Schulen zu lebendigen Werkstätten der ( [SPD]: Und uns erst!) Demokratie. Damit sind wir schon mittendrin im Thema Kinder- Eine weitere Baustelle ist der Ausbau der Demokratie- und Jugendbeteiligung, zu dem Sie, liebe Grüne, mehrere bildung. Politische Bildung muss im Unterricht verstärkt Anträge vorgelegt haben. Beginnen wir mit der Gemein- und als Querschnittsaufgabe ausgebaut werden. Hier sind samkeit. Wir von der Union wollen die altersgerechte auch die Länder gefordert, die Bildungspläne entspre- Beteiligung von Kindern und Jugendlichen stärken, vor chend auszugestalten. allem an Entscheidungen, die sie betreffen: in der Schule, im Verein, in der Gemeinde vor Ort. Dafür gibt es bereits (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – etliche Möglichkeiten; manche werden auch genutzt. Da- Karsten Hilse [AfD]: Staatsbürgerkunde! Ich von hätten wir gerne mehr. Denn so wird aktives Interesse hatte das noch! Indoktrinierung nenne ich so an den allgemeinen Dingen ermutigt und gefördert, und etwas!) das tut not und jedem, auch unserem Gemeinwesen, gut. Die Stimme der Jungen soll aber nicht bloß gehört In Ihrem Antrag zur Beteiligung, liebe Grüne, steht werden, sie muss auch zählen. Daher führt kein Weg an aber noch einiges mehr. Darin heißt es etwa: einer Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre vorbei. Ich vertraue in das Urteilsvermögen der jungen Menschen. Wer … spürt, dass Dinge durch eigenes Engagement Angesichts der demografischen Entwicklung ist dies auch verändert werden können, lernt Demokratie und eine Frage der Generationengerechtigkeit. kann die eigene Umwelt aktiv mitgestalten. 14298 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Bettina Margarethe Wiesmann (A) Ich glaube, Sie haben das eben schon zitiert. – Das klingt Nach meinem Dafürhalten schießen Sie damit über das (C) gut, ist aber nur die halbe Wahrheit. Demokratie heißt, Ziel hinaus. Denn etliche notwendige Voraussetzungen Lösungen zu finden, die möglichst vielen etwas bringen bestehen bereits. Es braucht schlicht mehr Aufmerksam- und deshalb überzeugen. Das ist der Kern des demokrati- keit und Entschlossenheit, zum Beispiel Schülermitver- schen Prozesses, den Kinder und Jugendliche erproben waltung auch wirklich zu praktizieren. und akzeptieren sollen, und das ist viel mehr, als sich durchzusetzen. Es bedeutet, andere Argumente mit Res- Vor allem aber – letzter Punkt – ist die unmittelbare pekt aufzunehmen, zu verhandeln und auch mal um des Beteiligung von jungen Menschen zu stärken. Die beste- Kompromisses willen nachzugeben. Das ist echte belast- henden Verbandsstrukturen sind nicht überflüssig; sie bare Demokratie, wie wir sie wollen und mehr denn je dürfen aber kein bevormundendes Korsett sein oder den auch brauchen. Jugendlichen die Richtung vorgeben. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Ja, eben! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Genau!) der FDP) Wir sollten Jugendlichen häufiger selbst etwas zutrauen, Deshalb muss Kinder- und Jugendbeteiligung klug sie auch befragen - ausgestaltet sein. Das heißt nicht nur altersgerecht, son- dern auch breit angelegt, damit diese Erfahrungen mög- lich werden. Ihre Anträge verlassen diesen Pfad leider Vizepräsidentin Claudia Roth: schnell, insbesondere mit Blick auf das Wahlalter, das Frau Kollegin. Sie für den Bundestag und das Europaparlament auf 16 Jahre senken wollen. Wir wollen das nicht. Denn Kin- Bettina Margarethe Wiesmann (CDU/CSU): der und Jugendliche sind Heranwachsende, und sie haben – und ihnen Spielräume zur Gestaltung lassen oder ebenso wie das Recht, ernst genommen zu werden, auch wiedergeben. Demokratie braucht Mut zur Freiheit. Die- ein Recht auf die Chance zur Erprobung. sen Geist vermisse ich ein wenig in Ihrem Antrag. Meine Damen und Herren, die Parlamente müssen um Herzlichen Dank. Entscheidungen ringen, durch die das Leben Tausender oder Millionen Menschen beeinflusst wird: ob wir uns an (Beifall bei der CDU/CSU – Helin Evrim Sicherheitsmissionen von EU, NATO oder UN beteiligen, Sommer [DIE LINKE]: Sie haben sich wider- welche Regeln für die Organspende gelten sollen, wann sprochen! Die ganze Zeit!) und wie wir aus der Kohle aussteigen und vieles mehr. (B) Wir, die Union, sagen: Mitbestimmungsrechte müssen Vizepräsidentin Claudia Roth: (D) von der Verantwortungsfähigkeit der Mitentscheider ab- Vielen Dank, Frau Wiesmann. – Nächster Redner: für hängen. die AfD-Fraktion Johannes Huber. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD)

In diese Verantwortung müssen Kinder und Jugendliche Johannes Huber (AfD): hineinwachsen dürfen. Erst wer für sich im Wesentlichen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen geradesteht – mit der Volljährigkeit nämlich ist das für die und Herren! Die Grünen fordern in ihren Anträgen, für meisten der Fall –, dem kann erlaubt und dem muss auch Bundestags- und EU-Wahlen das Wahlalter auf 16 zu abverlangt werden, für alle anderen mitzuentscheiden. senken. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Die Chance zur Erprobung legt aber noch etwas ande- Jedoch lehnen fast drei Viertel aller Deutschen und in res nahe. In meiner Wahlheimat Frankfurt gibt es trotz allen Altersklassen eine Mehrheit laut einer repräsentati- Paulskirche kein Jugendparlament, in dem Jugendliche ven Umfrage diesen Vorschlag ab. Die AfD steht also auf selbst ihre Themen setzen, miteinander streiten, Kompro- der Seite der Mehrheit in diesem Land. misse finden und Beschlüsse fassen. Ich halte ein von 14- bis 18-Jährigen direkt gewähltes Jugendparlament, ver- (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Mahmut sehen mit Anhörungs- und Antragsrechten und verzahnt Özdemir [Duisburg] [SPD]: Und die Betroffe- mit dem Gemeindeparlament, für den richtigen Rahmen, nen?) um unsere parlamentarische Demokratie zu erproben und In Bundesländern mit aktivem Wahlrecht ab 16 Jahren so auch mitzugestalten, aber ohne Überforderung. Ich ist die Wahlbeteiligung sogar gesunken, weil ein über- habe das deshalb für Frankfurt vorgeschlagen und würde proportionaler Anteil der 16- bis 18-Jährigen zwar aktuell mir wünschen, dass das bundesweit Standard wäre. auf die Straße geht, aber nicht an die Urne. Noch ein Punkt: In Ihrem Beteiligungsantrag zählen Sie ein breites Spektrum von Jugendbeteiligung auf, für (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Haben die Sie jede Menge institutioneller Voraussetzungen ein- Sie mal U18 beobachtet?) fordern: Beteiligungsstrukturen, Fachkonzepte, Fach- Eine stärkere Beteiligung der Jugend an der Demokra- kräfteschulung, Service Learning und vieles mehr bis tie kann also mit einem Absenken des Wahlalters nicht hin zum Verbandsklagerecht oder zur werteorientierten erreicht werden. Aber den Grünen, so möchte ich sagen, Ganztagsschule, was immer Sie darunter verstehen. geht es auch gar nicht um die Demokratie. Es ist nämlich Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14299

Johannes Huber (A) inkonsequent, 16-Jährigen das Wahlrecht zuzugestehen, (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) ihnen aber alle weiteren Rechte und Pflichten vorzuent- NEN]: Nein! Ihrer Zukunft! Sie müssen mal halten. Die Grünen würden also letztlich mit ihren Vor- zuhören!) schlägen das Wahlrecht sogar entwerten. So muss ich sagen: Bildung und kritisches Denken ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- passen also nicht in die schöne neue Welt der Grünen, NEN]: Wo sind denn Ihre Vorschläge dazu? in der, wie es richtig erkannt hat, ein Sie haben gar keine!) krankes Mädchen instrumentalisiert wird, um den ideo- logischen Boden für eine neue links-grüne Weltordnung Sie wollen den Jugendlichen ein aktives, aber kein zu bereiten. passives Wahlrecht geben. Sie trauen den Jugendlichen also auch nicht zu, richtige Verantwortung zu überneh- (Beifall bei der AfD – Margit Stumpp [BÜND- men. Also muss es für diese grüne Initiative einen ande- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist so zynisch, was ren Hintergrund geben. Geben Sie doch einfach zu, dass Sie da von sich geben!) Sie die Jugendlichen nur für Ihre eigene kulturmarxisti- Aber die Grünen beschränken sich nicht auf die Jugend- sche Parteipolitik als Stimmenbeschaffer benutzen wol- lichen, sondern sie können sich sogar vorstellen, in Zu- len! kunft auch Kinder bei Wahlen zuzulassen. (Beifall bei der AfD – Mahmut Özdemir [Duis- Als Vorsitzender der Kinderkommission im Deutschen burg] [SPD]: Besser als möchtegern-kulturras- Bundestag schreibe ich Ihnen zum Schluss noch Folgen- sistisch!) des ins Stammbuch: Lassen Sie Kinder und Jugendliche Sie wollen Minderjährige, die wir zu Recht schützen einfach in Ruhe, und lassen Sie Kinder und Jugendliche und denen wir keinen Tabak und keine harten Alkoholika sich zu freien und mündigen Bürgern entwickeln. Es ist verkaufen, zu politischen Zielscheiben erklären. Sie wol- nämlich eine zivilisatorische Errungenschaft, dass Min- len, dass die sogenannte Generation Greta Sie wählt, derjährige nicht die Pflichten junger Erwachsener tragen müssen. Die meisten Kinder haben glücklicherweise El- (Margit Stumpp [BÜNDNIS 90/DIE tern und Großeltern, die sie lieben und alles tun werden, GRÜNEN]: Hat der Alkohol genommen?) um auch in ihrem Sinne eine Zukunft zu sichern. obwohl die Hauptdarstellerin selbst gerade auf der Welt- Die AfD steht auf der Seite der Kinder, die AfD steht bühne in offensichtlicher Überforderung ihre bedauerns- auf der Seite des Rechts, und deshalb lehnen wir Ihre werte Unreife bewiesen hat. Gesellschaftsexperimente mit Nachdruck ab. (B) (Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielen Dank und ein schönes Wochenende. (D) NEN]: Schämen Sie sich! Schämen Sie sich (Beifall bei der AfD) einfach! Peinlich!)

Sie wiederum stellen es aber so dar, als würden Jugend- Vizepräsidentin Claudia Roth: liche generell die notwendige Einsichts- und Urteilsfähig- Vielen Dank, Herr Huber. – Nächste Rednerin: Ulrike keit besitzen. Bahr für die SPD-Fraktion. Zur Beurteilung dieses Gedankens könnte ein Blick in (Beifall bei der SPD) das Jugendstrafrecht oder auch in das BGB hilfreich sein. Dort ist nämlich in den §§ 106 ff. die beschränkte Ge- schäftsfähigkeit Minderjähriger beschrieben. Ulrike Bahr (SPD): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Damen und ( [SPD]: Geschäfte zu ihrem Herren! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ja, viele junge Nachteil!) Menschen in Deutschland sind politisch aktiv und zivil- gesellschaftlich engagiert, ob bei Fridays for Future, in Diese Norm, Herr Schwartze, ist nicht willkürlich ent- Vereinen und Jugendorganisationen oder auch bei sponta- standen, sondern sie ist in der gesetzgeberischen Tradi- nen Aktionen in ihren Schulen und Kommunen. Das ist tion ein wirksamer Schutzmechanismus, um Heranwach- gut so; denn das ist das Salz in der Demokratie. Das gilt es sende vor unüberlegten Entscheidungen und deren zu fördern. Folgen zu schützen. Als Politik sind wir gefragt, auf allen Ebenen Beteili- (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Das gung zu ermöglichen und zu Beteiligung zu ermutigen; hat nichts miteinander zu tun!) denn Demokratie lebt von Demokraten und Demokratin- In diesem Sinne ist es für mich hoffnungsvoll, dass sich nen, von Menschen, die sich einmischen und Verantwor- von Fridays for Future nur ein Bruchteil der Jugendlichen tung übernehmen. Und damit kann man gar nicht früh verführen lässt. Diese emotionalisierte Klimajugend ist genug anfangen. Das muss man von klein auf einüben. nämlich kein leuchtendes Beispiel für die geistige Reife. Darum sage auch ich Ja zu einem Kinderrecht auf Anhö- rung und Beteiligung im Grundgesetz, zu mehr und Diese ökopopulistische Veranstaltung führt dazu, dass besserer politischer Bildung, zum Jugendcheck für alle Kinder der Schule fernbleiben und ihre Bildung vernach- Gesetze, zu einem Demokratiefördergesetz und zu vielen lässigen. Selbst die neue Lichtgestalt Greta beklagt, ihrer Vorschlägen zur Förderung des bürgerschaftlichen Enga- Kindheit und ihrer Bildung beraubt worden zu sein. gements, die sich in Ihren Anträgen finden. 14300 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Ulrike Bahr (A) Aber ich möchte auch ein bisschen Wasser in den Wein Grigorios Aggelidis (FDP): (C) gießen und auf einen Aspekt hinweisen, der mir in Ihren Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Anträgen zu kurz kommt: Ob junge Menschen Beteili- Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich beziehe gungsangebote wahrnehmen, ob sie sich politisch enga- mich ausdrücklich auf Ihren Antrag mit dem Titel „Enga- gieren und welche Art politischer Bildung sie in der gementoffensive jetzt – Bürgerschaftliches Engagement Schule erhalten, hängt sehr stark von ihrer sozioökonomi- in der Breite der Gesellschaft fördern“. Ich habe gedacht: schen Herkunft, von ihrem Elternhaus und von der be- Mensch, super! Es ist gut, über dieses wichtige Thema zu suchten Schulform ab. „Wer hat, dem wird gegeben“, so sprechen. Das Ehrenamt wird aus meiner Sicht nicht nur fasst es eine Studie zur Situation des Politikunterrichts an wichtig bleiben, sondern in Zukunft sogar existenziell für deutschen Schulen zusammen, die die Friedrich-Ebert- unsere Gesellschaft und unser Land, so wie wir es ken- Stiftung kürzlich mit der renommierten Berliner Politik- nen, werden. didaktikerin Sabine Achour veröffentlicht hat. Gymn- asien bieten noch relativ viel Politikunterricht, an Mittel- Es ist schön, dass ein paar Forderungen, die wir bereits schulen ist viel weniger vorgesehen und wird häufig auch aufgestellt haben, in dem Antrag vorkommen, beispiels- noch fachfremd unterrichtet. Das ist nicht gut und schadet weise die Forderung nach der Gemeinnützigkeit für die auf Dauer der Demokratie. Freifunk-Initiativen. Das haben wir schon im Dezember 2018 eingebracht. Da werden Sie hoffentlich zustimmen. Wer wählt und wer nicht wählt, das ist allzu oft eine Unseren Vorschlag, das Engagement der Senioren stärker Frage des Stadtquartiers. Und die Fraktion der Nichtwäh- zu fördern, haben Sie leider abgelehnt. Da hätte ich mir lenden ist gerade bei jungen Menschen besonders groß. mehr Mut gewünscht und mehr Zuspruch. Bei der letzten Bundestagswahl ist, trotz einer insgesamt Sie beklagen zu Recht einen Flickenteppich und Stück- höheren Wahlbeteiligung, ein knappes Drittel der unter werk. Aber wieso liefern Sie dann mit dieser Vorlage 24-Jährigen nicht zur Wahl gegangen. Hier müssen wir einen Flickenteppich? Das ist unglücklich. Ihr Antrag aktiv werden mit schulischen und außerschulischen An- hat eine solche Bandbreite, dass ich mich frage: Welches geboten für die vielen jungen Menschen, die sich momen- Ehrenamt meinen Sie jetzt? Was ist Ihnen denn wichtig? tan überhaupt nicht angesprochen fühlen. Auch für diese In der Prosa argumentieren Sie sehr viel mit freiwilligen jungen Menschen brauchen wir kreative Ideen und neue Feuerwehren, Sport-, sozialen Vereinen etc., um sich am Formate der politischen Bildung. Ende mit einigen Organisationen auseinanderzusetzen, die gerade einmal 0,001 Prozent des Ehrenamtes ausma- Nicht nur Geld und Programme sind wichtig. Die chen, wenn wir von 30 Millionen Ehrenamtlichen aus- Wirksamkeit der politischen Bildung wie auch der Enga- gehen. gementförderung hängt natürlich auch vom glaubwürdi- (B) (D) gen Handeln der beteiligten Akteure in Zivilgesellschaft Der überwiegende Teil Ihres Antrags dient, so habe ich und Parteien ab. So mancher Vereinsvorstand muss sich das Gefühl, eher als Tarnung; denn die Hauptanliegen des fragen lassen, ob er nicht zu stark an angestaubten Ritua- bürgerschaftlichen Engagements und des Ehrenamtes, so len hängt. Und Politik muss auf der kommunalen Ebene wie wir es in unserem Land kennen, gehen Sie gar nicht jungen Menschen Raum geben. Ich bin sehr stolz darauf, wirklich an. Ich will Ihnen ein paar Beispiele nennen: für die anstehende Kommunalwahl in Augsburg viele Beim Thema Haftung gehen Sie nur auf Stiftungen ein. junge Leute auf der Stadtratsliste, auch auf den aussichts- Was ist mit dem Rest? Was ist mit den ganzen Vereinen? reichen Plätzen, zu sehen. Ich bin gegen eine Jugendquo- te; aber wir brauchen eine Kultur in Parteien und zivilge- (Beifall bei der FDP) sellschaftlichen Organisationen, die den Jungen und ihren Sie haben über die Partizipation junger Menschen gespro- Ideen Raum gibt, auch weil sich manche gute Idee natür- chen, liebe Frau Kollegin. Da ich Vorsitzender eines Ver- lich in der Konfrontation mit dem Althergebrachten be- eins bin, der sehr gerne junge Menschen aufnimmt, frage sonders schön entwickeln und schärfen lässt. Das sehen ich: Wie soll ich die Frage der Haftungsrisiken regeln, die wir jetzt auch bei Fridays for Future. Anbiederung ist nun einmal mit einem ehrenamtlichen Vorstandsposten nicht gefragt, ernst nehmen und Raum geben aber schon. einhergehen, Haftungsrisiken, die sich aus der Abgaben- ordnung, aus der Umsatzsteuererklärung, die solche Ver- Das geschieht jetzt auch. Politik bewegt sich und rea- eine abgeben müssen, aus Arbeitszeitdokumentationen, giert auf den Protest. Das ist ein ermutigendes Zeichen, Mindestlohn- und Datenschutz-Grundverordnung erge- auch für die vielen, die glauben, nichts bewirken zu kön- ben? Wie soll ich denn einem jungen Menschen unter nen. Engagement wirkt! 18 diese Haftungsrisiken aufhalsen? Vielen Dank! (Mahmut Özdemir [Duisburg] [SPD]: Der soll ja nur wählen!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich würde mir wünschen, dass wir an der Stelle endlich der CDU/CSU) mal für eine Entlastung sorgen. Wir treten dafür ein, dass hier spürbare Entlastungen erfolgen, und zwar in all den Vizepräsidentin Claudia Roth: Bereichen, die ich genannt habe. Gegebenenfalls brau- Vielen Dank, Ulrike Bahr. – Nächster Redner für die chen wir Ausnahmen für die ehrenamtlich engagierten FDP-Fraktion: Grigorios Aggelidis. Menschen. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass junge Menschen sich in diesem Bereich engagieren (Beifall bei der FDP) können. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14301

Grigorios Aggelidis (A) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE): (C) der CDU/CSU) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- ren! Werte Besucherinnen und Besucher auf den Tribü- Bitte lassen Sie die Ausrede, die zurzeit gerade im Steuer- nen! Wir diskutieren heute über Gesetzentwürfe und An- recht und beim Thema Datenschutz-Grundverordnung träge der Grünen, in denen es unter anderem darum geht, vorgebracht wird – das ist Europa, das können wir nicht das Wahlalter bei Europawahlen und Bundestagswahlen ändern –, weg. Ich wünsche mir, dass wir hier im Deut- von 18 auf 16 Jahre zu senken. Ich sage deutlich in Rich- schen Bundestag geschlossen dafür antreten, dass die Be- tung der Grünen: Herzlichen Dank für diese Gesetzent- lange des Ehrenamtes endlich auch hier berücksichtigt würfe und Anträge. Wenn es um eine Ausweitung in werden. Richtung mehr Demokratie und mehr Beteiligung von Jugendlichen und Heranwachsenden geht, (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Martin Patzelt [CDU/CSU]) ( [CDU/CSU]: Geht es auch um mehr Verantwortung?) Zu den weiteren Aspekten der Partizipation, die Sie angesprochen haben, sage ich: Ja, wir Freien Demokraten wenn es darum geht, das Wahlrecht auf 16- und 17-Jäh- stehen konstruktiven Lösungen nicht nur offen gegen- rige auszuweiten, dann sind wir an eurer und Ihrer Seite. über, sondern wir fordern sie auch ein. Aber bitte mal Da sind wir dabei. konkret werden! Die Beispiele, die die Kollegin Wiesmann angesprochen hat, sind im Endeffekt absolut (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- richtig. Ich kann nicht, wenn ich die Haftung nicht aus- NIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Götz Frömming schließe, junge Menschen in verantwortungsvolle Posi- [AfD]: Das glaube ich gern!) tionen bringen. Wo sind denn eigentlich Ihre konkreten Beispiele? Was fordern Sie? Wie wollen Sie das Mitma- Spätestens das Bundesverfassungsgerichtsurteil zu den chen, die Partizipation junger Menschen in unserem de- Wahlrechtsausschlüssen Ende letzten Jahres und Anfang mokratischen System fördern, wie es vorgesehen ist? Wo dieses Jahres hat die Frage aufgeworfen: Mit welchen fördern wir sie? Wie bekommen wir es hin, dass auf Begründungen werden 16- und 17-Jährige von Wahlen kommunaler Ebene – zum Beispiel über Jugendparla- ausgeschlossen? Sie wissen, ich komme aus Branden- mente oder andere Institutionen – junge Menschen deut- burg. Brandenburg war das erste Flächenland, das 2011 lich mehr teilhaben? Ich habe das Gefühl, dass es statt- ein Wahlrechtsalter von 16 Jahren auf Landesebene und dessen um Intonation und Priorisierung geht. Sie fordern kommunaler Ebene für alle Wahlen und Abstimmungen eigentlich eher, so nenne ich das jetzt einmal, den Aufbau eingeführt hat. (B) von Parallelstrukturen. Solche Parallelstrukturen sind (D) teuer und unterliegen genauso wie das übrige Ehrenamt (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Sehr den Einschränkungen und Fördervorgaben der Regierung gut!) und der Politik insgesamt. Das ist aus meiner Sicht genau Vielleicht ist es hilfreich, einen Blick auf die damalige das Gegenteil von freiem und unabhängigem Partizipie- Debatte im Landtag zu werfen, in der alle Gegenargu- ren. mente von FDP und CDU angeführt wurden, die bei der Abstimmung über die Verfassungsänderung aber unter- Vizepräsidentin Claudia Roth: lagen. Und Sie, Herr Kollege, unterliegen der Redezeit. Die damalige Chefin der CDU-Fraktion, , sagte im Landtag, Jugendliche würden mit so viel Verantwortung überfordert werden. Zitat: Jugendli- Grigorios Aggelidis (FDP): che haben andere Interessen. Das ist okay so. Sie haben Ja, ich weiß. Ich bin sofort fertig, letzter Satz. das Recht, ihre Jugend zu genießen. – Im Übrigen werde vermutlich die Wahlbeteiligung der Neuwähler nicht so Vizepräsidentin Claudia Roth: hoch sein. Nein, Ihre Redezeit ist vorbei. – Vielen herzlichen Dank. Die geschätzte Kollegin – eben war sie noch da, jetzt ist sie weg –, damals Landtagsabgeord- nete, erklärte: Mit 16 Jahren ist man eben noch nicht voll geschäftsfähig. – Das ist interessant; zwischen 2011 und Grigorios Aggelidis (FDP): 2014 muss ein Erkenntnisgewinn eingesetzt haben. Man Vielen Dank. kann mit 16 Jahren nicht nur in der CDU Mitglied wer- den, sondern man konnte seitdem mit 16 Jahren nun auch (Beifall bei der FDP) die CDU wählen. So war die CDU die erste Partei, die landesweit plakatierte: Die CDU kannst du schon mit 16 Vizepräsidentin Claudia Roth: wählen. – Ich ergänze: Herzlichen Dank dafür an SPD, Sie haben Ihre Redezeit deutlich überzogen. Tut mir Grüne und Linke, die das möglich gemacht haben. leid. – Nächster Redner: Norbert Müller für die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE (Beifall bei der LINKEN) GRÜNEN) 14302 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Norbert Müller (Potsdam) (A) Aber auch die FDP wollte da nicht nachstehen und hat (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordne- (C) im sächsischen Landtagswahlkampf gefordert: Wahlalter ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) 18 seit 1970. Wahlalter 16: wann? – Ja, wann denn, liebe Man kann übrigens mit 17 Jahren den Grund- Kolleginnen und Kollegen, würden Sie zustimmen, auf wehrdienst bei der Bundeswehr antreten. Das gab es das Bundesebene das Wahlalter mit 16 Jahren einzuführen? letzte Mal in der Kaiserzeit, dass Soldatinnen und Solda- (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und ten auf Bundesebene gar kein Wahlrecht hatten. Was sind dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) denn das für Zustände? Wir brauchen das Wahlalter mit 16 Jahren. Ich möchte aber auch zu den Argumenten im Einzelnen noch etwas sagen. Die Kollegin Teuteberg hat hier die Mir stellt sich die Frage: Wovor haben Sie eigentlich Volljährigkeit angeführt; in der Debatte hat das bereits Angst? eine Rolle gespielt. Das ist ein interessantes Argument, ebenso das Spielen mit verschiedenen Altersgrenzen. Das (Bettina Margarethe Wiesmann [CDU/CSU]: können wir gerne fortführen. Als das Wahlalter 1970 von Respekt, nicht Angst!) 21 Jahren auf 18 Jahre gesenkt wurde, galt die Volljäh- Ich habe keine Angst vor wählenden 16- und 17-Jährigen. rigkeit mit 21 Jahren. Diese Absenkung haben damals die FDP und die Sozialdemokraten eingeführt. Dazu gab es aber einen einstimmigen Beschluss im Bundestag. Das Vizepräsidentin Claudia Roth: setzt quasi Maßstäbe. Herr Müller, Ihre Redezeit ist vorbei. Die Volljährigkeit lag also bei 21 Jahren. Das änderte (Grigorios Aggelidis [FDP]: Sie müssen zum sich auch auf Jahre nicht. Erst 1975 wurde die Volljäh- Schluss kommen!) rigkeit auf 18 Jahre abgesenkt. Es gibt also gar keinen Zusammenhang zwischen Volljährigkeit und Wahlalter. Norbert Müller (Potsdam) (DIE LINKE): Das kann man voneinander trennen. Das ist auch in der Ich komme zum Schluss. – Diese haben übrigens bei Bundesrepublik-West fünf Jahre getrennt gewesen. Das den letzten Wahlen in Brandenburg eine um mehr als ist noch nicht einmal aufgefallen, auch Sie haben es nicht 10 Prozent höhere Wahlbeteiligung als die folgenden Al- gemerkt. terskohorten gehabt. Das heißt, junge Leute wollen betei- ligt werden und sollen das auch. Wir sind an der Seite der (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Grünen. Wir wollen das Wahlalter ab 16. NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- ten der SPD) (Beifall bei der LINKEN und dem (B) Deswegen können wir auch auf Bundesebene das Wahl- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) alter völlig entspannt auf 16 Jahre senken, ohne die Voll- jährigkeit anpassen zu müssen. Vizepräsidentin Claudia Roth: So, das haben wir jetzt. Herr Müller, vielen Dank. – (Marian Wendt [CDU/CSU]: Wollen wir aber Nächster Redner für die CDU/CSU: Ansgar Heveling. nicht!) – Sie wollen das nicht. Darüber können wir gerne reden. (Beifall bei der CDU/CSU – Grigorios Vielleicht gibt es irgendwann andere Mehrheiten. Aggelidis [FDP]: Sie sind hier im Plenum of- fensichtlich auf der falschen Seite!) Wenn wir beim Thema Altersgrenze sind: Ja, man kann mit 14 Jahren die Religionszugehörigkeit frei wählen. Ansgar Heveling (CDU/CSU): Das ist auch richtig so. Ich finde, das ist eine nachhaltige Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Entscheidung: Man entscheidet für sein Leben, in welche Kollegen! Letzten Freitag konnte man in meinem Bun- Glaubensgemeinschaft man möglicherweise eintritt oder destagsbüro von draußen den lauten Protest der Fridays- nicht eintritt. for-Future-Bewegung hören. Egal wie man zu Form und (Grigorios Aggelidis [FDP]: Aber nur für sich!) Inhalt der Bewegung steht und gleichgültig wie man zu der Frage steht, ob dieser Protest zu Unterrichtszeiten – Ja, das kann man nur für sich wählen, Kollege stattfinden muss, eins muss man schon festhalten: Gerade Aggelidis. Man kann aber auch nur für sich, möglicher- Fridays for Future zeigt, dass die junge Generation poli- weise mit 16 Jahren, wenn man zum Beispiel tisch engagiert ist. Gerade wenn es um ihre Zukunft geht, Brandenburger ist, entscheiden, mal eine Jugendsünde mischt sie sich ein. zu begehen und aus Versehen FDP zu wählen. (Beifall der Abg. Bettina Margarethe (Marian Wendt [CDU/CSU]: Oder AfD zu Wiesmann [CDU/CSU]) wählen!) Die Grünen fordern nun die Herabsetzung des Wahl- Diese Entscheidung ist bei Weitem nicht so nachhaltig alters auf 16 Jahre, damit Jugendliche mehr an politischen und so weitreichend wie die Wahl, in eine Religionsge- Entscheidungen mitwirken können. Auch wir von CDU meinschaft einzutreten. Aber man kann das bereits mit und CSU sind immer dafür, junge Menschen für politi- 14 Jahren. Was ist das Argument, 16- und 17-Jährige sches Engagement, für unsere Demokratie zu begeistern. von der Wahl auszuschließen, wenn sie mit 14 Jahren die Religionszugehörigkeit wählen können? Das ist über- (Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]: Nur haupt nicht ins Verhältnis zu setzen. entscheiden sollen sie nicht!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14303

Ansgar Heveling (A) Andererseits geht es auch darum, dass Rechte und Vielen Dank. (C) Pflichten der Bürger in einer aktiv gelebten Demokratie im Gleichklang zueinander stehen müssen. Genau auf (Beifall bei der CDU/CSU) ebendiesem Grundsatz baut unsere Rechtsordnung auf. So gilt sowohl die volle strafrechtliche Verantwortlichkeit Vizepräsidentin Claudia Roth: als auch die unbeschränkte Delikts- und Geschäftsfähig- Vielen Dank, Ansgar Heveling. – Nächster Redner für keit für jeden Bürger erst ab 18 Jahren. Wahlalter und die SPD-Fraktion: Mahmut Özdemir. Volljährigkeit sehen wir schon in einem inneren Zusam- menhang. (Beifall bei der SPD)

Dieser fundamentale Grundsatz hat sich in den letzten Mahmut Özdemir (Duisburg) (SPD): Jahrzehnten auch als erfolgreich für das gesellschaftliche Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und und ausgewogene Miteinander erwiesen. Die Gesell- Kollegen! Die Ausübung des Wahlrechts ist die Aus- schaft hat sich richtigerweise darauf verständigt, dass ei- übung von Staatsgewalt, sagt das Bundesverfassungsge- nem jungen Erwachsenen ab einem Alter von 18 Jahren richt. Die Wahlgrundsätze des Artikels 38 Grundgesetz ein vollverantwortliches Handeln mit allen Rechten, aber und des Artikels 20 Absatz 2 Grundgesetz sind die eben auch allen Pflichten und mit allen Konsequenzen Schlüsselregelungen der Macht in unserem Staate, der zugerechnet werden sollte. Macht, die wir bislang nur denjenigen gewähren, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, Jüngeren allerdings (Beifall bei der CDU/CSU) verwehren. Ob das gerechtfertigt ist, das kann man be- Tatsache ist auch, dass das Alter bis 18 Jahre für Ju- zweifeln. gendliche doch richtigerweise auch eine Zeit ist, in der sie sich ausprobieren und Erfahrungen sammeln, eine Zeit, in Ich erzähle Ihnen, was ich in einem Duisburger Kinder- der sich junge Menschen erst ihre Meinung bilden und garten über Macht gelernt habe. Die Kinder erhielten hierbei zu Recht auch experimentierfreudig sind, eine nach dem Mittagessen einen kleinen Ball, um ihre einge- Zeit also, in der auch gruppendynamische Prozesse eine nommene Mahlzeit zu bewerten. Auf dem Flur gab es größere Rolle spielen können. Das kann unter Umständen Zylinder, die mit einem lachenden, einem teilnahmslos dann auch Auswirkungen auf eine differenzierte Wahl- und einem traurig guckenden Gesicht versehen waren. entscheidung haben. Daher halten wir als Union an der Ein Kind stand vor den Zylindern und guckte dem zu- Voraussetzung der Volljährigkeit für die Teilnahme an fällig anwesenden Koch tief ins Gesicht und versenkte Bundestagswahlen fest. den Ball in dem Zylinder mit dem traurig guckenden Ge- sicht. Eine einfache, sogar offene Entscheidung: Das Es- (B) Nun fordern die Grünen auch, das Mindestalter für die sen hat dem Kind einfach nicht geschmeckt. Diese Kinder (D) Unterstützung der Europäischen Bürgerinitiative auf haben die Macht erhalten, eine Wahl zu treffen und über 16 Jahre abzusenken. Mit einer solchen Initiative können die Frage zu entscheiden, ob der Koch weitermachen darf 1 Million EU-Bürgerinnen und -Bürger, die in mindestens wie bisher. einem Viertel der Mitgliedstaaten leben, die Kommission Für unsere Parlamentswahlen heißt das: Wenn sich auffordern, einen bestimmten Rechtsakt vorzunehmen. Kandidaten mit dem Programm ihrer Partei der Wahl Als formales Beteiligungsrecht der EU ist dieses In- stellen, fragen sie das Wahlvolk schließlich auch, ob strument damit aber dem Wahlrecht nahe, anders als es ihnen das Parteiprogramm schmeckt. Folglich ist eine zum Beispiel die formlose Petition an den Deutschen Entscheidung grundsätzlich keine Altersfrage. Das Min- Bundestag ist. Daher muss aus unserer Sicht auch hier destalter im Grundgesetz zu regeln, halte ich jedoch für das Gleiche wie für das Wahlrecht gelten. Es ist für mich unumgänglich und begründet, da es die Sicherheit der nicht ersichtlich, warum Jugendliche einerseits nicht voll Wahl garantiert und die Zahl der Wahlberechtigten nicht geschäftsfähig bzw. nicht voll straf- und deliktsrechtlich alleine zum Spielball einer einfachgesetzlichen Entschei- verantwortlich sein sollen, andererseits aber unmittelba- dung macht. ren Einfluss auf die europäische Gesetzgebung nehmen Über die Senkung des Wahlalters zu reden, halte ich sollen. allerdings gleichermaßen für unumgänglich; denn eine (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Generation, die Forderungen an die Politik erhebt, die lautstark Generationengerechtigkeit einfordert, beweist, Mit Blick auf die Einheit der Rechtsordnung lehnen wir würdig zu sein, würdig genug, Staatsgewalt durch Wah- auch diesen Vorschlag ab. len auszuüben. Hat die Anknüpfung des Wahlalters an die Volljährig- Eingriffe in die Wahlgrundsätze müssen durch zwin- keit zur Folge, dass Jugendliche rechtlos, ohne Einfluss- gende staatspolitische Gründe gemäß der Wertung des möglichkeiten auf die demokratische Willensbildung Grundgesetzes gerechtfertigt werden. Eine Senkung des sind? Können Jugendliche denn nur über das Wahlrecht Wahlalters ist ein solcher Eingriff. Die derzeit bestehende entscheidend mehr zur gesellschaftlichen Entwicklung Regelung zum Mindestalter muss sich aber auch selbst als beitragen? Ganz und gar nicht. Gerade das zeigt uns eben Eingriff in die Rechte der unter 18-Jährigen rechtfertigen. auch die Fridays-for-Future-Bewegung in eindrucksvol- Es sind teilweise überkommene Kategorien von Ein- ler Weise. So sagte Angela Merkel vor wenigen Tagen auf sichtsfähigkeit und Erfahrung, die wir unwidersprochen dem UN-Klimagipfel, dass sie alle den Weckruf der Ju- voraussetzen, wenn wir über das Wahlrecht und die teil- gend gehört haben – ganz ohne aktives Wahlrecht. weise willkürliche Entscheidung zum Mindestalter von 14304 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

Mahmut Özdemir (Duisburg) (A) 18 Jahren reden. Das können wir im Übrigen auch nur, Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Bürokratie. (C) weil die Betroffenen nicht an der Entscheidung beteiligt Denn wer will Steuergelder ungeprüft ausgeben? Wer werden. will ein Gesetz mit seinen Rechten und Pflichten willkür- lich in ein anderes Gesetzeswerk einbinden? Wir müssen Mindestalterregelungen im Wahlrecht – die Kollegin- diese Abgrenzung vornehmen. nen und Kollegen haben das angesprochen – haben nach- weislich nur zeitweilig Geltung. Von 21 auf 18 Jahre ab- Ich schlage deshalb vor, dass wir jetzt wirklich mal gesenkt im Jahr 1970, da ist es aus meiner Sicht fast fünf eine Arbeitsgruppe aus verantwortlichen Verwaltungs- Jahrzehnte danach an der Zeit, die Rechtfertigung für den fachleuten, Vertretern der Stiftungen, Vertretern der Ver- Ausschluss der 16- und 17-Jährigen von der Bundestags- eine und Abgeordneten bilden, die mal Punkt für Punkt wahl auf den Prüfstand zu stellen. durchgeht: Was sind eigentlich die Beschwerden der Ver- eine, der vielen Ehrenamtlichen und der bürgerschaftlich (Beifall der Abg. Stefan Schwartze [SPD] und Engagierten? Ich glaube, dass wir fündig werden könnten Norbert Müller [Potsdam] [DIE LINKE]) und auch Ausnahmeregelungen, die mal getroffen wor- Als Sozialdemokraten sind wir ausweislich unseres den sind, etwas abtragen könnten, wenn wir das miteinan- letzten Wahlprogramms durchaus dazu bereit. Als Sozial- der wollen. Wenn wir darüber diskutieren, wird uns von demokraten in Regierungsverantwortung werden wir den der Verwaltung immer gesagt: Dann müsst ihr die Ge- Vorlagen allerdings nicht zustimmen, weil dieses Vorha- setze ändern. – Das könnte man genau angucken. ben mit unserem Koalitionspartner nicht zu konsentieren Dann mahne ich einen bundesweiten Nachweis für ist. Vielleicht kommen Sie auch irgendwann einmal in die Freiwilligentätigkeit an. Der würde ideell die Tätigkeiten Verlegenheit, einen Koalitionsvertrag unterschreiben zu von jungen und alten Menschen einfach mal dokumentie- müssen. Dann wissen Sie, wie das heute für mich gewe- ren. Das ist kein großer finanzieller Aufwand. Es gibt x sen sein mag. Ausreden, die ich da immer wieder gehört habe. Warum Ich sage Ihnen: Wer Verantwortung trägt, tut das Mög- packen wir solche Dinge nicht an? Warum reden wir im- liche. Wer keine Verantwortung tragen will, kann oder mer bloß über die Stärkung? Wir wollen es doch alle, darf, fordert stets das Unmögliche. glaube ich, von links nach rechts hier im Saal. Wir wollen das wirklich alle; denn ehrenamtliche Tätigkeit und bür- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Schönes gerschaftliches Engagement, das ist tatsächlich Partizipa- Wochenende und Glück auf! tion pur. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) (B) Qualifizierte Beratung bieten wir demnächst im Rah- (D) men einer Agentur, in der Stiftung an. Wir werden uns im Vizepräsidentin Claudia Roth: Unterausschuss mit konkreten Maßnahmen und Möglich- Vielen Dank, Mahmut Özdemir. – Letzter Redner in keiten der Unterstützung von Vereinen, Initiativen und der Debatte und in dieser Sitzungswoche: Martin Patzelt Ehrenamtlichen beschäftigen. Wir werden als Abgeord- für die CDU/CSU-Fraktion. nete untereinander, aber dann auch mit den Trägern (Beifall bei der CDU/CSU) weiter konkret sprechen. Lassen Sie uns – Sie alle hier im Haus – Ihre Unter- Martin Patzelt (CDU/CSU): stützung zuteilwerden, wenn wir Vorschläge auf den Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Tisch legen. legen, die Sie jetzt am Freitag hier noch ausharren! Liebe Gäste auf den Tribünen! Ich will versuchen, zum Schluss Jetzt wünsche ich Ihnen eine gute Zeit bis zur nächsten noch mal die Brücke zu schlagen von dem bisher Disku- Sitzung. tierten zu dem Antrag zur Engagementoffensive. Wir re- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei den jetzt schon jahrelang auf verschiedenen Ebenen über Abgeordneten der SPD und der FDP) die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements. Im Unterausschuss hatten wir am Mittwoch wieder eine An- hörung. Das kann langsam auch den Abgeordneten die Vizepräsidentin Claudia Roth: Motivation rauben, weil wir über Jahre hinweg anhören Vielen Dank, Martin Patzelt. – Damit schließe ich die und anhören und anhören und die Monster von Bürokratie Aussprache. und Ängsten, die daraus wachsen, immer größer werden. Insofern sage ich mit Goethe: Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 c sowie Zusatzpunk- te 21 und 22. Interfraktionell wird Überweisung der Vor- Der Worte sind genug gewechselt. lagen auf den Drucksachen 19/13537, 19/13512, 19/ Laßt mich auch endlich Taten sehn! 10223, 19/13514 und 19/13513 an die in der Tagesord- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich gehe Wir müssen als Abgeordnete darüber nachdenken, wie davon aus, dass Sie einverstanden sind. Dann sind die wir tatsächlich mal den Wald von Bürokratie durchfors- Überweisungen so beschlossen. ten. Ich halte auch im Ausschuss immer dagegen, wenn es heißt, dass die Bürokratie nur eine willkürliche Zwangs- Die Vorlage auf Drucksache 19/13089 soll ebenfalls an maßnahme ist. Mit jedem neuen Gesetz und mit jeder die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse über- neuen Förderrichtlinie schaffen wir auch wieder neue wiesen werden. Die Federführung ist dabei strittig. Die Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14305

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Fraktionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federfüh- Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der (C) rung beim Ausschuss für Inneres und Heimat; die Frak- Fraktionen der CDU/CSU und SPD – Federführung beim tion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Inneres und Heimat – abstimmen. Wer Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen stimmt für diesen Vorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Union. Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlag ist ange- nommen. Zugestimmt haben die Fraktionen der Linken, Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der der SPD, der CDU/CSU und der FDP. Dagegengestimmt Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, also Federführung hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthalten hat beim Ausschuss für die Angelegenheiten der Europä- sich die Fraktion der AfD. ischen Union, abstimmen. Wer ist für diesen Vorschlag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Keine. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. (Dr. Alexander Gauland [AfD]: Wir haben uns enthalten! Ja, gucken! – Gegenruf von der SPD: Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Wie konnte man Sie nur übersehen?) tages auf Mittwoch, den 16. Oktober 2019, 13 Uhr, ein. – Entschuldigung. Tut mir leid. Wird nie mehr vorkom- men. – Schauen wir mal. Wir sind spät dran. Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende und hoffe, Also: Zugestimmt hat Bündnis 90/Die Grünen. Dage- dass viele Kolleginnen und Kollegen den Weg nach Kiel gengestimmt haben die Fraktionen der Linken, der SPD, finden; da ist am 3. Oktober der Tag der Deutschen Ein- der CDU/CSU und der FDP. Enthalten hat sich die Frak- heit. Die Sitzung ist geschlossen. tion der AfD. Damit ist der Überweisungsvorschlag ab- gelehnt. (Schluss: 16.57 Uhr)

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019 14307

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Abgeordnete(r)

Entschuldigte Abgeordnete Lenkert, Ralph DIE LINKE Abgeordnete(r) Lischka, Burkhard SPD

Akbulut, Gökay DIE LINKE Maas, Heiko SPD Annen, Niels SPD Mieruch, Mario fraktionslos Baerbock, Annalena BÜNDNIS 90/ Müller (Chemnitz), Detlef SPD DIE GRÜNEN Müller, Hansjörg AfD Barthle, Norbert CDU/CSU Nahles, Andrea SPD Connemann, Gitta CDU/CSU Neu, Dr. Alexander S. DIE LINKE De Ridder, Dr. Daniela SPD Neumann, Christoph AfD Dörner, Katja BÜNDNIS 90/ Petry, Dr. Frauke fraktionslos DIE GRÜNEN Pilger, Detlev SPD Freihold, Brigitte DIE LINKE Rabanus, Martin SPD Gehrke, Dr. Axel AfD Rößner, Tabea BÜNDNIS 90/ Gerdes, Michael SPD DIE GRÜNEN Gminder, Franziska AfD Roth (Heringen), Michael SPD Gnodtke, Eckhard CDU/CSU (B) Rüthrich, Susann SPD (D) Gohlke, Nicole DIE LINKE Schäfer (Saalstadt), Anita CDU/CSU Harder-Kühnel, Mariana Iris AfD Schlund, Dr. Robby AfD Heßenkemper, Dr. Heiko AfD Schmidt, Dr. Frithjof BÜNDNIS 90/ Höchst, Nicole AfD DIE GRÜNEN Hoffmann, Dr. Christoph FDP Schulz, Jimmy FDP Jensen, Gyde * FDP Seestern-Pauly, Matthias FDP Jongen, Dr. Marc AfD Solms, Dr. Hermann Otto FDP Kamann, Uwe fraktionslos Springer, René AfD Karliczek, Anja CDU/CSU Theurer, Michael FDP Keuter, Stefan AfD Wadephul, Dr. Johann David CDU/CSU Kober, Pascal FDP Wagenknecht, Dr. Sahra DIE LINKE Kofler, Dr. Bärbel SPD Weber, Gabi SPD Korkmaz, Elvan SPD Weinberg (Hamburg), Marcus CDU/CSU Kotré, Steffen AfD Werner, Katrin DIE LINKE Kubicki, Wolfgang FDP Wiese, Dirk SPD Launert, Dr. Silke CDU/CSU Willkomm, Katharina FDP

Lehmann, Sven BÜNDNIS 90/ *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes DIE GRÜNEN 14308 Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 116. Sitzung. Berlin, Freitag, den 27. September 2019

(A) Anlage 2 gesetzgeberische Initiativen der Bundesregierung zur (C) Klarstellung der Rechtslage. Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung – Gesetz zur Änderung des Gesetzes über Energie- Der Bundesrat hat in seiner 980. Sitzung am 20. Sep- dienstleistungen und andere Energieeffizienzmaß- tember 2019 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen nahmen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- Der Bundesrat hat ferner die folgende Entschließung satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: gefasst: – Zweites Gesetz zur Anpassung des Datenschutz- Der Bundesrat bedauert, dass im weiteren Gesetzge- rechts an die Verordnung (EU) 2016/679 und zur bungsverfahren der Beschluss des Bundesrates für eine Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 (Zweites gesetzliche Verankerung einer Evaluierung der Freistel- Datenschutz-Anpassungs- und Umsetzungsgesetz lungsgrenze nach § 8 Absatz 4 keine Berücksichtigung EU – 2. DSAnpUG-EU) gefunden hat (vgl. BRDrucksache 121/19 (Beschluss), – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/680 Ziffer 2). im Strafverfahren sowie zur Anpassung daten- schutzrechtlicher Bestimmungen an die Verord- Vor dem Hintergrund der im Bundestag vorgenomme- nung (EU) 2016/679 nen Erhöhung der Freistellungsgrenze auf 500 000 Kilo- wattstunden erscheint eine verbindliche Überprüfung die- – Fünftes Gesetz zur Änderung des Telekommunika- ser Grenze nun umso gebotener. Der Bundesrat bittet die tionsgesetzes (5. TKG-Änderungsgesetz – Bundesregierung daher, nach vier Jahren die zugesagte 5. TKGÄndG) ergebnisoffene Überprüfung durchzuführen, dann das Er- Der Bundesrat hat ferner die folgende Entschließung gebnis und bei Bedarf Vorschläge für die gesetzliche An- gefasst: passung und differenzierte Ausgestaltung der Freistel- lungsgrenze vorzulegen. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, zeitnah auf gesetzgeberischem Wege eine Klarstellung zum Rege- Begründung: lungsinhalt des § 77i Absatz 3 Satz 1 Telekommunika- Die Freistellungsgrenze (Bagatellgrenze) wird mit dem tionsgesetz dergestalt herbeizuführen, dass eine Beteili- Gesetz neu eingeführt. Die Anhebung der vorgeschlage- gung der öffentlichen Hand an einem Unternehmen, nen Grenze von 400 000 Kilowattstunden (Gesetz- welches Bauarbeiten beauftragt oder durchführt, alleine entwurf) auf 500 000 Kilowattstunden macht eine nicht ausreichend ist, um einen Mitverlegungsanspruch Überprüfung und bei Bedarf eine Anpassung und Aus- (B) zu begründen. differenzierung der Freistellungsgrenze nach vier Jahren (D) Begründung: umso wichtiger. Die Absichtserklärung der Bundesregie- rung zur kontinuierlichen Beobachtung der Grenze in der Die Formulierung entspricht inhaltlich einem Teil des Begründung des Gesetzentwurfs zu Artikel 1 Nummer 4 Beschlusses des Bundesrates im ersten Beratungsdurch- Buchstabe c wird begrüßt, erscheint jedoch zu vage. gang (BR-Drucksache 506/18 (Beschluss)). Die eigen- tumsrechtlichen Verhältnisse eines Unternehmens allein Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- dürfen nicht zu der Bewertung führen, dass seine Bau- geteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdo- arbeiten als aus öffentlichen Mitteln finanziert gemäß kumente zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- § 77i Absatz 3 Satz 1 Telekommunikationsgesetz gelten. tung abgesehen hat. Hier hat es in der rechtlichen Bewertung der jüngsten Zeit durch die zuständige Beschlusskammer der Bundesnetz- Ausschuss für Wirtschaft und Energie agentur sowie Gerichte Unsicherheiten gegeben, sodass Drucksache 19/10072 Nr. A.9 Ratsdokument 8161/19 eine Klarstellung durch den Gesetzgeber erforderlich er- Drucksache 19/10784 Nr. A.9 scheint. Ratsdokument 8417/19 Die Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung die Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Vorschläge des Bundesrates abgelehnt und darauf verwie- Drucksache 19/10329 Nr. A.6 sen, dass der vom Bundesrat beschlossene Text Rechts- Ratsdokument 8302/19 unsicherheit hervorrufe. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Der Bundesrat sieht weiterhin ein hohes Risiko, dass Drucksache 19/4978 Nr. A.18 durch die Rechtsunsicherheit Investitionen in Glasfase- Ratsdokument 12142/18 rinfrastruktur erschwert werden, und bittet um zeitnahe

Gesamtherstellung: H. Heenemann GmbH & Co. KG, Buch- und Offsetdruckerei, Bessemerstraße 83–91, 12103 Berlin, www.heenemann-druck.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333