Herausgeber: Institut für Gesellschaftswissenschaften DIE NEUE Walberberg e.V.

Redaktion: ORDNUNG Wolfgang Ockenfels OP (verantw.) Wolfgang Hariolf Spindler OP begründet von Laurentius Siemer OP und Eberhard Welty OP Redaktionsbeirat: Stefan Heid Martin Lohmann Nr. 1/2016 Februar 70. Jahrgang Herbert B. Schmidt Manfred Spieker Horst Schröder Johannes Zabel OP

Editorial Redaktionsassistenz: Wolfgang Ockenfels , Andrea Wieland und Hildegard Schramm

Kölner Ereignisse 2 Druck und Vertrieb: Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831 Jürgen Aretz, Siebzig Jahre CDU. Das Erbe 53708 Siegburg Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891 des Ursprungs und aktuelle Herausforderung 4 Die Neue Ordnung erscheint alle Christine Lieberknecht, Erbe des Ursprungs. 2 Monate Bezug direkt vom Institut Gründung und Entwicklung der DDR-CDU 17 oder durch alle Buchhandlungen

Jahresabonnement: 25,- € Ralph Weimann, Europäische Identität. Einzelheft 5,- € Willkommens-, Wohlstands- und Leitkultur 25 zzgl. Versandkosten

Felix Dirsch , Relativierung des Universalis- ISSN 09 32 – 76 65 mus. Zur neuen Attraktivität des Eigenen 34 Bankverbindung: Deutsche Bank, Bonn Konto-Nr.: 0575670 Bericht und Gespräch (BLZ 380 700 59)

Bernd-M. Wehner, Dem Zeitgeist anpassen? Anschrift der Zum Einfluß der Christen in der Gesellschaft 49 Redaktion und des Instituts: Simrockstr. 19 Hans-Peter Raddatz, Kirchenkultur und D-53113 Bonn e-mail: [email protected] Jüdisches Denken. Benedikt XVI. zwischen Tel.: 0228/21 68 52 christlicher und antisemitischer Moderne (I) 60 Fax: 0228/22 02 44

Horst Schröder, Hinter den Kulissen der Unverlangt eingesandte Manuskripte und Bücher werden nicht zurückgeschickt. Demokratie 75 Verlag und Redaktion übernehmen keine Haftung

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Editorial

Kölner Ereignisse

Vor über siebzig Jahren, im Juni 1945, hatten die Christlichen Demokraten Kölns einen „vorläufigen Entwurf“ zu einem CDU-Programm vorgelegt, den sie „Kölner Leitsätze“ nannten. Dieser Gründungsaufruf – „Ein Ruf zur Sammlung des deutschen Volkes“, wie es im Untertitel heißt – war nicht nur im katholi- schen Rheinland recht erfolgreich, sondern entfaltete seine Bedeutung vor allem in einer gesamtdeutschen CDU, deren erste Programme jenen Geist des Natur- rechts atmeten, den die Walberberger Dominikanerpatres Eberhard Welty und Laurentius Siemer zur Sprache brachten. Und zwar aus dem Geist des Wider- standes gegen die totalitäre Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus, dem diese geistigen Urväter der CDU beinahe zum Opfer gefallen wären. Lang, lang ist’s her, daß sich in CDU-Programmen Sätze finden lassen wie diese hier: „Was uns in dieser Stunde der Not allein noch retten kann, ist eine ehrliche Besinnung auf die christlichen und abendländischen Lebenswerte, die einst das deutsche Volk beherrschten und es groß und angesehen machten unter den Völ- kern Europas“ – oder: „Ein freies Volk soll wiedererstehen, dessen Grundgesetz die Achtung menschlicher Würde ist.“ Oder: „Ein neues Deutschland soll ge- schaffen werden, das auf Recht und Frieden gegründet ist.“ Mir scheint, daß solche und weitere Aussagen des Urprogramms der CDU in den Augenblicken neue Aktualität erhalten, in denen der demokratische Rechts- und Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland sich selber außer Kraft setzt. Was ist in Zeiten zu tun, in denen das deutsche Volk kollabiert, als Souverän abdankt und als multikulturell zusammengewürfelte Bevölkerung in einer Europäischen Union aufgeht, die die Abtreibung als Menschenrecht proklamiert und die Gen- der-Ideologie zum europäischen Standard erklärt? Und was ist davon zu halten, daß dieses Deutschland nicht nur sein eigenes Grundgesetz mißachtet, sondern auch die europäischen Rechtsvereinbarungen hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten hintertreibt? Dazu soll es angeblich „keine Alternative“ geben, besonders nicht zur aktuellen CDU-Politik. Doch diese selbstzufriedene Partei sollte sich bloß nicht für unent- behrlich halten. Seit 1945 ist viel Wasser den Rhein heruntergeflossen, das die CDU-Substanz verdünnt hat. Durch „Modernisierung“ etwa – eine Lieb- lingsphrase der Merkel -CDU, mit der sie ihre Zeitgeistbeflissenheit wie auch die feindliche Übernahme gegnerischer Positionen rechtfertigt. Aber der sich immer noch „christlich“ nennenden Partei sind inzwischen ernstzunehmende Alternati- ven erwachsen, die sich als Partei (AFD) und Protestbewegung machtkonkurren- ziell bemerkbar machen. Und zwar mithilfe alternativ-spontaner Medien des Internets und durch Zeitungen wie die „Junge Freiheit“. Sehr unangenehm für eine Partei, die sich feudalistisch in Machtpositionen so verkrustet hat, daß sie es nicht für nötig hält, argumentativ auf die sie kritisieren-

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den Kräfte zu reagieren. Mit ihrem polemisch-stereotypen Gezeter im linkspar- teienübergreifenden „Kampf gegen Rechts“ wird die CDU ihren früheren Status als führende Volkspartei, die auch einen „rechten“ oder rechtsstaatlich- konservativen Flügel hatte, nicht behaupten können. Spätestens mit dem Kölner Silvesterereignis 2015/16 ist eine Wende in der Flüchtlingspolitik der CDU-geführten Bundesregierung eingetreten. Von einer tiefgreifenden Zäsur kann aber noch keine Rede sein. Das makabre Ereignis massenhafter sexueller Übergriffe auf der Kölner Domplatte hat sich auch dank der hellen Beleuchtung, die das Kölner Domkapitel den arabisch- nordafrikanischen Straftätern gewährte, tief in das Problembewußtsein der Deut- schen eingegraben. Das Domkapitel wird aber angemessen reagieren, wenn seine schöne Kathedrale durch Silvester- und andere Geschosse abgefackelt wird. Seit dem Kölner Ereignis werden immer mehr Rechtsbrüche bekannt: nicht nur vonseiten der Migranten, der auf sie gewalttätig reagierenden Rechtsextremen sowie der linksextremen, regierungsamtlich geförderten „Antifa“-Schläger. Auch und vor allem die von der Bundesregierung unter Leitung von Frau Angela Mer- kel zu verantwortende Ausländereinwanderungspolitik wird jetzt verfassungs- rechtlich und -gerichtlich überprüft. Aber die Expertisen von so angesehenen Rechtsgelehrten wie Rupert Scholz, Hans-Jürgen Papier, Josef Isensee , Udo di Fabio und Karl Albrecht Schachtschneider gelten als unerheblich, wenn sie nicht durch öffentlich-rechtliche und andere regierungsabhängige Medien verbreitet werden. Die notwendigen Debatten werden inzwischen vor allem in den freien Internet-Medien geführt, an denen teilzunehmen der Merkel -CDU als höchst verdächtig vorkommt und zur Ausgrenzung aus einer Partei führen kann, die einstmals als Garant der Rechtsstaatlichkeit galt. Wenn schon das positive Recht gründlich mißachtet wird, so muß auch seine sozialethische Legitimation theologisch untergraben werden. Dazu scheinen moderne Theologen, einschließlich einiger Bischöfe, besonders geeignet zu sein. Wozu bezahlt man sie sonst? Das klassische vernunftbezogene Natur- und Völ- kerrecht weicht einer fundamentalistischen Geschichtstheologie, die in der ge- genwärtigen Völkerwanderung einen göttlichen geschichtsnotwendigen Prozeß erblickt. Frau Merkel erscheint als Prophetin der göttlichen Vorsehung. Dabei spielen die Hofprediger gerne auf die eschatologische Ethik der Bergpredigt an, also auf jene radikalen Forderungen der Nächstenliebe, die sich an einzelne nachfolgebereite Christen wendet, deren Handeln durch Gnade ermöglicht wird. Hier wird naturrechtliche Sozialethik durch gläubige Moraltheologie ersetzt. In einer säkular-pluralen Gesellschaft mit Demokratie ist diese Form Politischer Theologie nicht mehr möglich. Eine erzwingbare Gnadenpolitik verstößt gegen die Freiheit der Gläubigen wie der Ungläubigen. Daß allen Menschen eine Men- schenwürde zukommt, ist nicht nur für Christen selbstverständlich. Daraus ein Einwanderungsrecht für alle Notleidenden abzuleiten, ist Unsinn. Nicht der Staat ist der barmherzige Samariter, sondern die kirchliche Caritas. Und die Flucht der Heiligen Familie betraf nicht Millionen, sondern drei verfolgte Personen. Wolfgang Ockenfels

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Jürgen Aretz

Siebzig Jahre CDU

Das Erbe des Ursprungs und aktuelle Herausforderungen*

Keine andere innenpolitische Kraft hat den Aufbau, den Weg und das Bild der Bundesrepublik in vergleichbarer Weise bestimmt und geprägt wie die Christlich- Demokratische Union Deutschlands. Für diese Bedeutung stehen im historischen Rückblick an erster Stelle die Parteivorsitzenden und Bundeskanzler Konrad Ade- nauer und Helmut Kohl , die über 30 Jahre für den Kurs der Bundesregierung ver- antwortlich zeichneten. Adenauer war es, der den anmaßenden historischen Irrtum überwand, Deutschland könne einen Sonderweg zwischen den Demokratien des Westens und Rußland bzw. der Sowjetunion gehen. Diese Idee eines Sonderwegs fand in der Nach- kriegszeit ihre Fortsetzung in der Illusion von einer pazifistisch beeinflußten Neutralitätspolitik zwischen den Blöcken des Kalten Krieges. Zielbewußt führte Adenauer die junge Bundesrepublik in die Wertegemeinschaft der westlichen Demokratien und trug zur Grundlegung eines vereinten Europa bei. Die Einfüh- rung der Sozialen Marktwirtschaft begründete den wirtschaftlichen Wiederaufbau und sicherte den sozialen Ausgleich und die politische Stabilität des zweiten deut- schen Demokratieversuchs. Adenauers Weichenstellungen schufen, wie sich 1989/90 zeigte, wesentliche Voraussetzungen für die Wiedervereinigung Deutsch- lands in Freiheit. Helmut Kohl setzte entschlossen den NATO-Doppelbeschluß um, der auch über die Zukunftsfähigkeit des Bündnisses entschied, und an dem sein sozialdemokrati- scher Vorgänger Helmut Schmidt gescheitert war. Nach Jahren der „Eurosklerose“, des Stillstands, belebte Kohl über die deutschen Grenzen hinweg die friedenssi- chernde Idee eines freien und demokratischen Europas neu. Mit Besonnenheit und Klugheit nutzte er schließlich den historischen Moment zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands und zur Öffnung der Europäischen Union für die mitteleuropäischen Staaten. Diese Grundsatzentscheidungen – von der Westbin- dung über die Soziale Marktwirtschaft, die Sicherung der NATO und das Of- fenhalten der deutschen Frage – mußten gegen den zum Teil erbitterten Wider- stand gesellschaftlicher Gruppen und oppositioneller Parteien durchgesetzt werden. Die Bilanz der 70jährigen CDU-Geschichte wird ungeachtet der Fehler, die diese Partei und ihre Entscheidungsträger auch zu vertreten haben, von seriösen Histori- kern als Glücksfall der deutschen Geschichte bewertet.

Rheinische Voraussetzungen

Einen Ausgangspunkt findet diese Erfolgsgeschichte in dem Dominikaner-Kloster Walberberg bei Bonn. Zwischen diesem Kloster und dem Entstehen der CDU in

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Köln bzw. im Rheinland gibt es einen engen historischen Zusammenhang. Das gilt in personeller wie in programmatischer Hinsicht, und die Brücke war der Wider- stand gegen den Nationalsozialismus. Dieser Themenkomplex soll zunächst im Mittelpunkt stehen. Mit dem Hinweis auf das Rheinland bzw. Köln wird bereits deutlich, daß die Gründung der Union nicht auf eine gesamtstaatliche Initiative zurückging. Das war auch nicht möglich. Deutschland war 1945 in vier Besatzungszonen aufgeteilt, also kein handelndes staatliches Subjekt, sondern Objekt des Handelns der Besat- zungsmächte. Die Wiederbegründung oder Begründung politischer Parteien konnte zunächst nur auf lokaler Ebene erfolgen. Die Möglichkeiten des Kontaktes und des Austauschs waren wegen des zeitbedingt eingeschränkten Brief- und Telefonver- kehrs sehr begrenzt, Reisen stießen oft auf unüberwindbare Hindernisse. Initiativen zur Gründung einer christlichen und demokratischen Partei gab es in vielen Städten. Von überregionaler Bedeutung waren , Köln, Frankfurt und München. 1 Angesichts des historischen Hintergrunds und der dort agierenden Persönlichkeiten steht die Wahrnehmung der Berliner Gründungsinitiative oft im Vordergrund. Allerdings sollte die Kölner Initiative für die weitere Geschichte nicht nur der Partei, sondern Deutschlands zentrale Bedeutung haben. Ein Besuch im Bonner „Haus der Geschichte“ macht die Schwierigkeiten der Zeit anschaulich. In der ersten Abteilung zeigen Filmaufnahmen aus dem Jahre 1945 die Innenstadt der rheinischen Metropole. Sie ist durch die zahlreichen Bombenan- griffe vollständig zerstört. In Ermangelung schweren Räumgerätes wird ein Elefant aus dem Kölner Zoo zur Trümmerbeseitigung eingesetzt. Zu sehen ist auch die erste Fronleichnamsprozession nach dem Ende des Krieges und der nationalsozia- listischen Gewaltherrschaft. Würdevoll und in einer Weise, die den aufrichtigen Betrachter heute noch berührt, zieht die Prozession durch die Straßen. Auf beiden Seiten türmen sich die Trümmer. Die Annahme, in Notzeiten suchten die Menschen nun einmal Zuflucht im Glau- ben und die Nähe der Kirche, reicht nicht aus, diesen Rekurs auf das Christentum (Hans Maier ) zu erklären. Köln mag heute eine Stadt sein, die in einem kollektiven und hochkommerzialisierten Lokalnarzißmus die eigenen Unzulänglichkeiten als „e Jeföhl“ wegzusingen versucht. In früheren Zeiten aber waren diese Stadt und das Rheinland insgesamt eine selbstbewußte christliche, genauer: weitgehend katholisch geprägte Region. Hier waren die Menschen wenig anfällig für Fanatis- mus und Extremismus jeder Art. Carl Zuckmayer hat dafür in seinem Drama „Des Teufels General“ eine Erklärung geliefert, die bis in die Römerzeit zurückreicht. Sie ist immer noch lesenswert. Bei den – schon nicht mehr wirklich freien – Wahlen im März 1933 erreichte die NSDAP im Reichstags-Wahlkreis Köln-Aachen das mit Abstand schlechteste Ergebnis im Deutschen Reich. Köln und das Rheinland waren zu diesem Zeitpunkt längst ein Zentrum des Abwehrkampfes gegen die Ideologie und den Herrschafts- anspruch der Nationalsozialisten. Eine herausragende Rolle spielte dabei die Zentrale des Verbandes der Katholi- schen Arbeiter- und Knappenvereine Westdeutschlands, einer Organisation, die

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damals fast 200.000 Mitglieder hatte. 2 Später wurde sie als KAB bekannt. Ur- sprünglich hatten die Vereine das Ziel, die soziale und kulturelle Emanzipation der katholischen Arbeiter zu befördern. Unter den gegebenen gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen entwickelte sich daraus eine der wichtigsten Organi- sationen des politischen Katholizismus, der kirchlichen und gesellschaftlichen Basis der Deutschen Zentrumspartei. Diese Partei repräsentierte alle sozialen Schichten und wies insofern bereits ein wichtiges Charakteristikum der späteren Volksparteien auf. Faktisch war sie frei- lich auf Katholiken begrenzt. Die katholischen Arbeitervereine waren in einer modernen, aber nicht wirklich zureichenden Kategorie der „linke Flügel“ des Zen- trums. Sehr bewußt katholisch, war ihnen konfessionelle Enge gleichwohl fremd. Im kirchlichen Kontext ungewöhnlich früh, nämlich bereits um 1900, suchten die Arbeitervereine auf wichtigen Feldern die interkonfessionelle Zusammenarbeit. Seit den 20er Jahren bildeten Prälat Otto Müller 3, geistlicher Vorsitzender, Bern- hard Letterhaus 4, Verbandssekretär, und Nikolaus Groß 5, Schriftleiter des Ver- bandsorgans „Westdeutsche Arbeiter-Zeitung“, die Führung des Verbandes. Ver- bandsführung und Mitglieder standen ohne Wenn und Aber zur ersten deutschen Republik, dem „Volksstaat von Weimar“, und in scharfer Ablehnung zum Kom- munismus und einem ungezügelten Kapitalismus. Letterhaus , nach dem Urteil Heinrich Brünings einer der begabtesten Politiker der Zeit 6, forderte eine „Durchleuchtung“ der Wirtschaft. Sie sollte Abhängigkeiten innerhalb der Wirtschaft bzw. zwischen Wirtschaft und Politik offenlegen. Das bedeutete keineswegs die grundsätzliche Ablehnung eines marktwirtschaftlichen Systems. Verlangt wurde vielmehr, modern formuliert, ein soziales Korrektiv. Hätte es die Idee und das Modell bereits gegeben, wären die damaligen Arbeiter- vereine ohne Frage Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft gewesen. Es ist auch insofern angemessen, sie in die geistig-politische Tradition der nach 1945 aufge- bauten Christlich-Demokratischen Union zu stellen.

Rückblick: Christlicher Widerstand gegen den Nationalsozialismus

Schon lange vor 1933 hatten die Vereine die NSDAP offen bekämpft; sie bedeute Kriegsgefahr und Unfreiheit, Rassismus und Kirchenfeindlichkeit. Den Erfolg der Nationalsozialisten – wie den der Kommunisten – führten sie im Kern auf eine Abkehr vom Christentum zurück. Diese Erklärung wird auch in der Gegenwart für bestimmte politische und gesellschaftliche Erscheinungen herangezogen – und von ihren Gegnern als „Säkularisierungstheorem“ in Frage gestellt. Für religiös über- höhte Betrachtungen und Erklärungsversuche mag diese Kritik – jedenfalls vor- dergründig – zutreffen. Sie übersieht oder ignoriert aber den Zusammenhang zwi- schen rechtsstaatlichem bzw. demokratischem Verhalten und religiöser Prägung. Die entsprechenden empirischen Befunde der modernen Sozialforschung sind eindeutig. Praktizierende Christen sind demnach gesetzestreuer als Menschen ohne religiöse Bindung, sie beteiligen sich stärker am demokratischen Willensbildungs- prozeß und sind gesellschaftlich engagierter. Selbst Menschen, die eine christliche Prägung erfahren, aber den persönlichen Bezug zum Glauben verloren haben,

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weisen in diesem Sinne positivere Werte auf als jene, die mit christlichen Werten nie in Beziehung gekommen sind. 7 Untersuchungen über das Wahlverhalten gera- de am Ende der Weimarer Republik legen nahe, daß solche Befunde bereits damals Geltung hatten. Nach der „Machtergreifung“ setzten die katholischen Arbeitervereine ihre Angriffe gegen den Nationalsozialismus in verdeckter Form fort. Das Regime reagierte mit dem öffentlichen Vorwurf, sie seien „staatsfeindlich“. Tausende KAB-Mitglieder verloren in der Folge ihren Arbeitsplatz. Meist waren sie alleinige Ernährer kinder- reicher Familien. Und doch kehrten nur wenige „ihrem“ Arbeiterverein den Rük- ken. Zwei Jahre nach der „Machtergreifung“ hatte die bedrängte KAB lediglich 10% ihrer Mitglieder verloren 8, die inzwischen verbotene KPD dagegen 90%. 9 Bereits in den 30er Jahren kamen Oppositionelle in der KAB-Verbandszentrale zusammen, dem Kölner „Ketteler-Haus“, um die Lage zu erörtern. Nach Kriegs- ausbruch bildete sich dort ein Zentrum des deutschen Widerstandes. Der spätere erste Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold , gehörte dazu, Jo- hannes Albers , Andreas Hermes , ehemaliger Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, der Canaris -Mitarbeiter Josef Müller oder Christine Teusch , frühere Sozialpolitikerin des Zentrums. Der gut vernetzte stellte manche Verbindung her. Die meisten spielten bei der Gründung der CDU, Müller bei der der CSU, eine wichtige Rolle. Wiederholt nahmen führende Köpfe des deutschen Widerstandes an den Beratun- gen teil. Josef Wirmer ist zu nennen; Carl Goerdeler und Alfred Delp SJ fanden durch die Kölner zu einer Annäherung ihrer unterschiedlichen Standpunkte. Den Kontakt hatte wohl Bernhard Letterhaus hergestellt, der als Offizier im Oberkom- mando der Wehrmacht (OKW) in Berlin zum Widerstandskreis des 20. Juli gehör- te. Er bildete von dort die Brücke nach Köln. Offensichtlich setzte man im militäri- schen Widerstand für die Zeit nach Hitler große Hoffnungen auf die letzte Arbei- terorganisation, die von den Nationalsozialisten nicht „gleichgeschaltet“ oder völ- lig zerschlagen worden war. Im Unterschied zu anderen Widerstandskreisen traten die Kölner ihrer republikani- schen und demokratischen Überzeugung entsprechend für ein Mehrparteiensystem ein. Sozialistische Vorstellungen lehnten sie ab. Die Klassenkampfidee stand im Widerspruch zur katholischen Soziallehre und damit dem Denken der katholischen Arbeitervereine. Sie suchten den Ausgleich zwischen den „Ständen“. Zu ihrer früheren erfolgreichen Zusammenarbeit mit evangelischen Organisatio- nen, so in Gewerkschafts- und in Schulfragen, kam jetzt die gemeinsame Wider- standserfahrung evangelischer und katholischer Christen. Die Voraussetzungen für eine Volkspartei auf christlicher Grundlage waren damit gegeben, und eine konfes- sionell begrenzte Volkspartei nach dem Vorbild des Zentrums entsprach aus dieser Sicht nicht mehr den Erfordernissen der Zeit. Die sozialethische Fundierung suchte der Kreis um das Ketteler-Haus bei den Walberberger Dominikanern. Sie genossen hohes Ansehen, und zu ihrem Provin- zial Laurentius Siemer 10 standen sie bereits seit längerem in engem Kontakt. Er wurde umfassend in die Widerstandsaktivitäten einbezogen und hielt Vorträge

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über die christlichen Vorstellungen von einer guten Staats- und Gesellschaftsord- nung. Nach dem Krieg berichtete er über intensive Diskussionen, die ein hohes Niveau erreicht hätten. Sobald sich die Gespräche über die philosophisch- theologischen Grundlagen hinaus den praktischen Konsequenzen zugewandt hät- ten, seien ihm seine Diskussionspartner überlegen gewesen 11 . Siemer bezog seinen Mitbruder Eberhard Welty 12 ein, den er als „Fachmann in Sozialethik“ beschrieb. Welty nahm allerdings nur einmal persönlich an einem Treffen des Widerstandskreises teil. Im März 1944 verfaßte er eine Ausarbeitung, die im Ketteler-Haus diskutiert wurde. Ihr Ziel war eine „christliche Gesamtle- bensordnung“ als Grundlage einer „Neuordnung im deutschen Lebensraum“. 13 Während alle anderen Papiere des Kreises – darunter Ausarbeitungen von Nikolaus Groß 14 – kriegs- bzw. verfolgungsbedingt verlorengingen, konnte Welty seinen Text 1945 fertigstellen. Dieser Text sollte noch im selben Jahr eine bedeutende Rolle spielen. Das Schicksal der Persönlichkeiten, die führend am 20. Juli beteiligt waren, ist hinreichend bekannt. Der Terror des Regimes erreichte rasch auch den Kreis um das Ketteler-Haus. Jakob Kaiser und Laurentius Siemer konnten in letzter Stunde untertauchen und sich bis Kriegsende verbergen. Prälat Otto Müller starb kurz nach der Verhaftung im Berliner Gestapo-Gefängnis. Bernhard Letterhaus und Nikolaus Groß wurden nach Prozessen vor dem Volksgerichtshof unter Roland Freisler hingerichtet. In gewisser Weise auch stellvertretend für seine Freunde wurde Groß , Vater von sieben Kindern, im Jahre 2001 von Papst Johannes Paul II. selig gesprochen. Vor dem Hintergrund dieser Schicksale gewannen Kölner Oppositionskreise an Bedeutung, die mit dem Ketteler-Haus in Verbindung gestanden hatten, deren Mitglieder aber nicht in die Aktivitäten des 20. Juli einbezogen waren. Das galt besonders für eine Gruppe um die Führung der Kolping-Familie, u. a. mit deren Präses Heinrich Richter , mit Theodor Babilon und Leo Schwering . Sie wurden im Sommer 1944 verhaftet; Richter und Babilon starben im Konzentrationslager Bu- chenwald, und nur Schwering 15 überlebte. Schwering stand in Kontakt mit Theodor Scharmitzel 16 , der einen oppositionellen Kreis um den durch das Regime verbotenen Wissenschaftlichen katholischen Stu- dentenverein Unitas in Köln gebildet hatte. Scharmitzel wiederum wirkte wie Heinrich Krone , Mitbegründer der Berliner CDU, vor 1933 für den Windthorst- Bund, die Jugendorganisation des Zentrums. Krone und auch Siemer gehörten dem Korporationsverband der Unitas an, so daß sich der Kreis hier wieder schloß.

Parteigründung und Programmdiskussionen

Nach der alliierten Besetzung kamen in Köln noch vor Kriegsende Frauen und Männer zusammen, die den demokratischen Neubeginn versuchten. Angesichts der Vorgeschichte sprach Schwering von einem „Katakombengeist“, der diesen Neu- anfang bestimmt habe. Schon im April 1945 gehörte er zu den Initiatoren einer „Christlich-Demokratischen Volkspartei“. Damit war auch hier die Grundrichtung

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vorgegeben: An die Stelle des faktisch konfessionell begrenzten Zentrums sollte eine christliche Sammlungspartei treten. Das Kloster Walberberg bot seit Juni 1945 nicht nur räumlich Heimstatt für Bera- tungen über eine Parteigründung, die dieser Idee entsprach. Unter aktiver Mitwir- kung Siemers und Weltys trafen sich frühere Zentrums-Mitglieder und evangeli- sche Demokraten. Scharmitzel und Schwering hatten Entwürfe für ein programma- tisches Grundsatzpapier gefertigt, und Welty brachte das bereits im Widerstands- kreis des Ketteler-Hauses diskutierte und inzwischen erweiterte Papier ein. Mit Nachdruck vertrat er das Konzept eines „christlichen Sozialismus“, der vom Marxismus scharf abgegrenzt war. Dieser Begriff entsprach der „Gefühlslage des Neubeginns“ 17 , und er findet sich bereits in der umfangreichen Präambel der „Köl- ner Leitsätze“. Sie sind als „vorläufiger Entwurf“ eines Programms der „Christli- chen Demokraten Deutschlands“ überschrieben, wie es im Original heißt. Der Verurteilung des Nationalsozialismus, seiner Staatsvergottung und seines Herren- menschentums, die für die Not der Zeit verantwortlich seien, folgt der Appell für eine sittliche Erneuerung Deutschlands. „Eine ehrliche Besinnung auf die christli- chen und abendländischen Lebenswerte“ sei notwendig; es gelte eine soziale und demokratische Ordnung zu erreichen, deren Grundlage das christliche Naturrecht sein müsse. Damit wußte man sich in der unmittelbaren Nachfolge der von den Nationalsozialisten ermordeten Freunde. Die ersten drei der folgenden 20 „Leitsätze“ haben die Würde des Menschen, den Schutz der Familie und die Gerechtigkeit zum Gegenstand. Das Recht auf Eigen- tum wird dem Gemeinwohl untergeordnet. In der Tradition der katholischen Sozi- alkritik der 20er Jahre und angesichts der Erfahrungen der nationalsozialistischen Zeit wurde verlangt, die „Vorherrschaft des Großkapitals, der privaten Monopole und Konzerne“ zu brechen. Entschieden plädierten die Leitsätze für einen födera- len Staatsaufbau; den Zentralismus lehnten sie als „undeutsch“ ab. Wie Welty forderte auch Siemer , die neue Partei müsse den Begriff „christlich- sozialistisch“ im Namen führen. Damit konnten sie nicht durchdringen. Von der weiteren Aufbauarbeit der Partei zogen sich Siemer und Welty zurück. Der „christ- liche Sozialismus“ stand aber nur relativ kurze Zeit im Zentrum der programmati- schen Diskussion. Leo Schwering unterlag in der Auseinandersetzung um die Par- teiführung , und Adenauer vertrat eine andere Position. Er sah, daß der Begriff „Sozialismus“ einerseits durch den Nationalsozialismus, anderer- seits durch den marxistischen Sozialismus negativ belegt war. Dagegen eine dritte inhaltliche Position aufzubauen, hätte für die Vertreter des „christlichen Sozialis- mus“ den dauerhaften Zwang bedeutet, Mißverständnissen entgegenzutreten. In der Bauernschaft, dem Mittelstand und der Industrie stieß der Begriff ohnehin auf Ablehnung. Die ersten bekannt gewordenen Auswirkungen sozialistischer Politik in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) taten ein übriges. Gleichwohl hatte die frühzeitige Einflußnahme der Walberberger Dominikaner grundsätzliche, ja bestimmende Bedeutung für die programmatische Gründungs- phase der Kölner CDU. Deren inhaltliche Positionen setzten sich dann – nicht zuletzt durch die Einflußnahme Adenauers – im wesentlichen auch auf überregio-

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naler und schließlich der westdeutschen Ebene durch. Das Bekenntnis der Partei zum christlichen Menschenbild und den moralischen Grundsätzen, die durch das Naturrecht, von der christlichen Ethik und der abendländischen Kultur bestimmt sind 18 , geht auf die Widerstandstradition und den entscheidenden Einfluß der Patres zurück. Siemer und Welty bewirkten maßgeblich die Orientierung auf eine gesellschafts- und wirtschaftspolitische Ordnung, die auf der katholischen Soziallehre basiert. Sie schuf wesentliche Voraussetzungen für den Wiederaufbau, dessen Erfolg ebenso plakativ wie unzutreffend als „Wirtschaftswunder“ bezeichnet wird. Hinter diesem „Wunder“ standen das CDU-Konzept der Sozialen Marktwirtschaft und die sehr reale Leistung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Der „Zeit“-Journalist Jan Roß spricht als evangelischer Christ von der katholischen Soziallehre als „geheimer Staatsreligion“ der jungen Bundesrepublik. Das Wirken von Wilfried Schreiber und anderen verdankt seinen Erfolg auch den prägenden Beiträgen, für die Siemer und Welty im Ketteler-Haus und bei den Programmdis- kussionen in Walberberg verantwortlich zeichneten. Diese Positionen unterscheiden die Christlich-Demokratische Union Deutschlands grundlegend von allen anderen Parteien, die nach 1945 gegründet oder wiederge- gründet wurden. Die CDU hatte nicht nur wie ihre demokratischen Mitbewerbe- rinnen ein Programm; bereits die Gründung dieser Partei stellte ein Programm dar (Bruno Heck ). Sie war und ist ihrem Anspruch nach noch heute eine Weltanschau- ungspartei, übrigens die einzige demokratische Weltanschauungspartei in Deutsch- land von dauerhafter Bedeutung. Die Frage ist zulässig, inwieweit sie diesem An- spruch, der unverändert in ihrer Selbstbezeichnung zum Ausdruck kommt, in der Gegenwart gerecht wird. Organisationsgeschichtlich hat die CDU verschiedene parteipolitische Wurzeln, im besonderen das katholische Zentrum und den – freilich deutlich kleineren – evan- gelischen Christlich-Sozialen Volksdienst. Sehr bewußt wählte man nicht die Be- zeichnung „Partei“, sondern „Union“, um die konfessionsübergreifende politische Verbindung deutlich zu machen. Nach den Erfahrungen des nationalsozialistischen Terrorregimes und angesichts der stalinistischen Bedrohung sollte dieser Begriff dazu beitragen, die konfessionellen Gegensätze zu überwinden. Dabei spielte es durchaus noch eine Rolle, daß eine antikatholische Politik, die bis in die Zeit vor Bismarcks Kulturkampf zurückreichte, vielen Katholiken in der Vergangenheit das Gefühl vermittelt hatte, Bürger zweiter Klasse zu sein. Für lange Zeit blieb die CDU ebenso die einzige politische Kraft, in der Menschen aller gesellschaftlichen Gruppen – von den Arbeitern über den Mittelstand bis zu den Unternehmern – politisch zusammenfanden. Auch in diesem Sinne trifft der Begriff „Union“ zu. Bereits parteiintern suchte man den Ausgleich der Interessen und erstrebte eine Politik, die am Gemeinwohl orientiert war. Die CDU ist tatsäch- lich die erste demokratische Volkspartei der deutschen Parteiengeschichte – und in dem umfassenden Sinne bis heute die einzige. Zu dem überkonfessionellen Ansatz der Union kommt die Vereinigung von drei historisch-politischen Elementen, die verkürzt konservativ, liberal und christlich-

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sozial beschrieben werden. Diese Richtungen wurden nach 1945 vor allem reprä- sentiert durch demokratische Politiker, die bereits in der Weimarer Republik tätig gewesen waren. Die begriffliche Verkürzung liegt darin, daß auch die konservativen und liberalen Politiker der CDU-Gründungszeit dezidiert christliche Persönlichkeiten gewesen sind, überwiegend evangelische Christen. Beispiele sind Ferdinand Friedensburg 19 und Ernst Lemmer 20 für die liberale, Robert Lehr 21 , Paul Graf Yorck von Warten- burg 22 und Theodor Steltzer 23 für die konservative Richtung. Die evangelisch- liberale Wurzel und Tradition, zu der auch Ludwig Erhard zu rechnen ist, hat ne- ben der christlichen Soziallehre einen wichtigen Beitrag zum Modell der Sozialen Marktwirtschaft geleistet. Korrekt müßte es also heißen: christlich-konservativ, christlich-liberal und christlich-sozial. Es gab in der Gründungszeit keine a- christlichen „Leerräume“: Die CDU hat keine agnostische Wurzel.

Christlich-Demokratische Politik und säkulare Bedingungen

Gleichwohl muß die CDU der Gegenwart darauf reagieren, daß das Christentum in der heutigen Gesellschaft aus vielfältigen Gründen nicht mehr die Bindungswir- kung und die Bedeutung hat, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit ganz selbst- verständlich war. Unsere Gesellschaft ist in einem Maße säkularisiert, das noch vor einer Generation kaum denkbar gewesen wäre. Es kann sicher nicht Aufgabe einer christlichen Partei sein, im missionarischen Sinne für das Christentum einzutreten oder gar zu werben. Das ist Aufgabe jedes einzelnen Christen und der Kirchen. Allerdings ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, daß sich weite Teile der Kirchen und der Kirchenleitungen die- sem neutestamentlichen Auftrag seit längerer Zeit mit fragwürdig-nachhaltigem Erfolg entzogen haben. Andererseits bleibt eine christliche Partei gebunden und verpflichtet, ihre Politik christlichen Grundsätzen entsprechend zu gestalten. Das bedeutet keineswegs eine Minderung ihrer Erfolgsaussichten. Mehr als 48 Millionen Menschen in der Bun- desrepublik gehören einer christlichen Kirche an. Nahezu 5 Millionen nehmen Sonntag für Sonntag an Gottesdiensten teil. Diese Größenordnung wird durch einen profanen Vergleich deutlich – die Fußball-Bundesliga benötigt mehr als zwölf Spieltage, um eine entsprechende Besucherzahl zu erreichen. Selbstverständlich finden wir Christen in allen politischen Parteien, und die CDU hat nie den Anspruch auf ein „christliches Monopol“ erhoben. Entscheidend ist: Das Potential für eine christliche Partei und eine Politik auf dezidiert christlicher Grundlage ist nach wie vor gegeben. Gläubige und im besonderen kirchennahe Christen stellen unverändert den größten Teil der Stammwählerschaft der CDU. Aus der Wahlforschung wissen wir seit mehreren Jahrzehnten, daß der Erfolg der Parteien nicht in erster Linie davon abhängt, Wechselwähler zu gewinnen, sondern zunächst ihre Stammwähler an die Urnen zu bringen. Es ist also für das Führungs- personal und die Mandatsträger der CDU nicht nur eine Frage der persönlichen Glaubensnähe und der eigenen Glaubwürdigkeit, sondern auch der Klugheit, poli- tisch so zu handeln, daß ihnen die christlichen Stammwähler nicht abhanden kom-

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men. Die Annahme, diese Gefahr sei praktisch ausgeschlossen, weil die Alternati- ven fehlten, kann sich nicht auf eine Art „politisches Naturgesetz“ stützen. Unzweifelhaft haben die Frauen und Männer, die 1945 die Christlich- Demokratische Union gründeten, Politik aus ihrem christlichen Glauben gestaltet. Dieses Verständnis und diesen Konsens gibt es heute in der Partei jedenfalls so nicht mehr. Angesichts der gesellschaftlichen Realität des Jahres 2015 muß die Partei auch Platz für Nichtchristen bieten können – wie sie es übrigens schon seit ihrer Frühzeit für engagierte jüdische Demokraten getan hat. Folgerichtig muß die Partei in ihrem christlich begründeten Selbstverständnis und Handeln auch für Nichtchristen glaubwürdig und anziehend sein. Nur dann kann sie Wahlen erfolgreich bestehen. Seit 1990 hat die CDU das in den neuen Ländern erreicht, obwohl weit mehr als 70% der dortigen Wahlberechtigten Nichtchristen sind. Möglich wurde das nicht zuletzt dadurch, daß Christen mit ihrer Haltung zu DDR-Zeiten eine besondere Glaubwürdigkeit gewonnen hatten. Nun ist in parteiinternen Programmdiskussionen unter Hinweis auf die faktisch säkularisierte Gesellschaft zu vernehmen, für das „C“ im Parteinamen reiche es aus, wenn die christliche und abendländische Grundlage unseres Landes und der Partei nicht abgelehnt bzw. in Frage gestellt werde. Das ist nicht nur eine fragwür- dige Interpretation, das ist nachgerade eine Deformation der CDU-Gründungsidee. Von einem Andersgläubigen oder Agnostiker kann zwar nicht erwartet werden, daß er die christlichen Glaubensinhalte mitvollzieht, auf denen die Gründung be- ruht. Er muß aber – wie alle Mitglieder und Mandatsträger – die Werte unzweifel- haft und unverkürzt mittragen, die aus dem christlichen Glauben wie der Aufklä- rung folgen und Grundlage christlich-demokratischen Handelns sind bzw. sein müssen: Das christliche Menschenbild und die darin begründete personale Würde des Menschen (und eben jedes Menschen), die Freiheit, die Idee der sozialen Ge- rechtigkeit, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Zur unübersehbaren Wirklichkeit gehört, daß offenkundig selbst hohe Mandatsträ- ger dieser Verpflichtung nicht mehr uneingeschränkt gerecht werden. Das belegt etwa die Diskussion über den Lebensschutz oder – wie zuletzt – die Sterbehilfe. Manche Beobachter registrieren mit zunehmender Resignation, daß die CDU der Familienpolitik nicht einmal mehr annähernd den Stellenwert einräumt, der den „Kölner Leitsätzen“ zu entnehmen ist. Vielfach scheint die Familienpolitik auf Aspekte des demographischen Wandels und die Frage der Rentenfinanzierung reduziert und den Interessen des Arbeitsmarktes untergeordnet zu werden. Auch wenn an dieser Stelle keine Einwände gegen die Einführung des Tierschutzes in das Grundgesetz erhoben werden, so muß doch die Frage gestellt werden dürfen, warum die CDU bei dieser Gelegenheit nicht darauf bestanden hat, expressis ver- bis auch dem Kinderschutz Verfassungsrang zu geben. Wir haben es hier offen- sichtlich mit Beispielen einer Relativierung grundsätzlicher Positionen zu tun. Veränderungen sind aber schon zu registrieren, wenn es um die Wahrnehmung und Bewertung aktueller Probleme und Herausforderungen geht. Der nicht unumstrit- tene diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Navid Kermani , bekennender Moslem, hat in seiner Dankesrede mit Sachkenntnis und Empathie

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über die verfolgten Christen im Nahen Osten gesprochen. Es wäre zu wünschen, ähnliches öffentlich vernehmbar und nicht nur beiläufig von den heute führenden Persönlichkeiten der CDU zu hören. Die konkrete Gestaltung christlich-demokratischer Programmatik und Politik hat gewiß nicht in erster Linie mit einem geographischen Standort zu tun – sehr wohl aber mit geistigen Wurzeln und ihrem Kulturraum. Deutlich sichtbar wird das nicht zuletzt in der Europa-Politik und der Westbindung als einer Voraussetzung für den Weg zur Wiedervereinigung in Freiheit. Mit den rheinischen Wurzeln sind wir bei der Walberberger Tradition. Sie nicht nur historisch und in Gedenkreden in An- spruch zu nehmen, würde der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands gerade in der gegenwärtigen Situation ausgesprochen gut tun, bedeutet die Besin- nung auf christlich-abendländische Werte, auf Menschenrechte und Demokratie doch Bewußtwerdung und auch Selbstvergewisserung.

„Der Islam gehört zu Deutschland“

Das ist die notwendige Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit Themen, die in der jüngsten Vergangenheit zu ungewöhnlich heftigen und kontroversen Diskussionen in Gesellschaft und Politik geführt haben. Zum einen ist das die These, der Islam gehöre (inzwischen) zu Deutschland24 zum anderen steht unser Land vor der Herausforderung, die in dem seit 2015 kaum mehr überschaubaren Zuzug von Menschen liegt. Sie fliehen vor Verfolgung und begehren Asyl oder sie kommen aus anderen Motiven als Migranten zu uns. Die Herausforderung beginnt bereits mit dieser notwendigen Differenzierung und den unterschiedlichen Folge- rungen, die daraus zu ziehen sind. Unser Grundgesetz kennt das Grundrecht auf Asyl für „politisch Verfolgte“ (Art. 16); einen grundgesetzlichen Anspruch auf Einwanderung gibt es nicht. Die Mitglieder einer Partei, die sich auf christliche Grundlagen beruft, werden sich stets der ethischen Verpflichtung bewußt sein müssen, die mit diesen Themen verbunden ist. Eine Politik ohne Herz, ohne Empathie kann nicht christlich sein – aber das gilt in gleicher Weise für eine Politik, die subjektive Wahrnehmungen und Empfindungen an die Stelle der erforderlichen Sachlichkeit und der Respektierung rechtsstaatlicher Verpflichtungen setzt. Die Auseinandersetzung mit der These, der Islam gehöre zu Deutschland, wäre rasch beendet, wenn damit die unübersehbare Anwesenheit einer großen Zahl von Muslimen in Deutschland beschrieben werden soll. Dann bliebe nur eine wenig durchdachte und oberflächliche Formulierung. Sie berührt die in Jahrhunderten gewachsene Identität Deutschlands nicht. Auf diese Identität nimmt die Christlich-Demokratische Union Bezug, wenn sie sich seit ihrer Gründung vor mehr als 70 Jahren auf die christlich-abendländische Tradition beruft. Für deren Verteidigung sind zahlreiche ihrer geistigen Wegberei- ter unter den Nationalsozialisten in den Tod gegangen. Die CDU betrachtet diese Tradition, die Aufklärung und auch die jüdischen Beiträge als Grundlage der kultu- rellen und schließlich der verfassungsrechtlichen Identität unseres Landes. Davon hat sich die Union programmatisch nie entfernt oder gar gelöst. Wenn jetzt Mit-

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glieder der CDU mit der Aussage, der Islam gehöre zu Deutschland, etwas anderes meinen sollten als die Anwesenheit von Muslimen in Deutschland, würden sie den Abschied der CDU von ihren elementaren Grundlagen proklamieren. Offen bleibt, welcher Islam eigentlich gemeint ist. Ist es der „deutsche“ Islam, der in Berlin und anderen Städten zehntausende Demonstranten auf die Straße bringt, wenn es gegen Israel geht, aber nur marginale Teilnehmerzahlen, wenn der Terror- opfer von Paris gedacht wird? Vor dem bedrückenden historischen Hintergrund von dem christlichen Demokraten Konrad Adenauer begründet, sind die besonde- ren Beziehungen unseres Landes zu Israel eine selbstverständliche Konstante ge- worden, ja, ein parteiübergreifend anerkannter verbindlicher Wert deutscher Poli- tik. Wie steht es angesichts der Realität auf den Straßen – und nicht nur dort – wohl in Zukunft um diesen Wert? Wenn die These, der Islam gehöre zu Deutschland, inhaltlich ernst genommen werden soll, setzt das auch die Beantwortung der Sachfrage voraus, welche Beiträ- ge der Islam bisher zu den rechtsstaatlichen und demokratischen Grundlagen unse- res Gemeinwesens oder zu ihrer Erhaltung geleistet hat. Diese Grundlagen werden von den Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik ungeachtet ihrer politischen oder religiösen Überzeugung, ihres Geschlechtes, der Hautfarbe oder ihrer sexuel- len Orientierung als selbstverständlicher und unverzichtbarer Ordnungsrahmen für ihr Miteinander verstanden und geschätzt. Das friedliche Miteinander und die Zukunftsfähigkeit dieses Landes hängen auch von der unverkürzten und selbstverständlichen Respektierung dieses Ordnungs- rahmens ab. Das ist eine Grundlage und zugleich ein Prüfstein für die Integration derer, die in den letzten Jahrzehnten zu uns gekommen sind oder derer, die jetzt zu uns kommen. Unser Grundgesetz, dessen Mütter und Väter in ihrer überwältigen- den Mehrheit – weit über die CDU und die CSU hinaus – Christen gewesen sind, schließt aus, daß von den Menschen Änderungen privater Gewohnheiten oder religiöser Überzeugungen gefordert werden. Mit derselben Entschiedenheit ist aber darauf hinzuweisen, daß Männer und Frauen in unserem Land dieselben Rechte haben. Es kann auch keine Paralleljustiz geben oder andere Sonderregelungen, die auf eine Reduzierung rechtsstaatlicher Standards hinauslaufen. Kulturell oder reli- giös begründete „Rechtsstaatsrabatte“ sind eine groteske und im übrigen verfas- sungswidrige Vorstellung. Die „Willkommenskultur“ ist eine auch christlich zu begründende „Bringschuld“. Sie kann nur erfolgreich sein, wenn sie auf eine „Ankommenskultur“ trifft, in der Konsequenz eine „Holschuld“. Der Wille zum guten Miteinander muß auf allen Seiten vorhanden sein. Die Menschen, die – aus welchen Motiven auch immer – zu uns gekommen sind oder noch kommen, stammen ganz überwiegend aus Ländern, in denen Menschenrechte und Demokratie nicht oder jedenfalls nicht nach westeu- ropäischen Standards gewährleistet sind. Dieser Hintergrund und das daraus er- wachsende Verständnis können aber nicht zu Lasten der Standards in Deutschland und Westeuropa gehen. Wer zu uns kommt oder bereits bei uns lebt, muß ungeach- tet der politischen, kulturellen oder religiösen Prägung bereit sein, die Normen zu akzeptieren und die Kultur zu tolerieren, die unser Zusammenleben gewährleisten. Das gilt beispielhaft etwa für das Verhalten gegenüber unseren Lehrerinnen oder

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Polizeibeamten, von denen viele über sehr spezielle Erfahrungen berichten können. Es wäre weder christlich noch rechtsstaatlich vertretbar, Asylsuchenden und Zu- wanderern einen diesbezüglichen „Toleranzabschlag“ zu gewähren. Das christliche Abendland, ein Grundbezug der CDU, ist für Millionen Menschen anziehender als die Flucht oder Migration in Nachbarländer ihres Kulturkreises. Sie werden sich ohne Vorbehalt auf unsere Grundlagen einlassen und wir werden dabei helfen müssen. Das ist der Sinn von Integration. Das gewachsene demokratische, rechtsstaatliche und kulturelle Selbstbewußtsein der Mehrheitsgesellschaft ist eine Voraussetzung und Grundlage erfolgreicher Integrationspolitik. Die heutigen Aufgaben konnte man unmittelbar nach dem Krieg nicht voraussehen, und die damals formulierten Postulate und Ziele der Kölner Leitsätze mögen heute unserem Sprachgefühl nicht mehr entsprechen. Ihre Wertebasis aber ist unverändert hilfreich, aktuelle Herausforderungen erfolgreich zu bestehen. Walberberg und Berlin trennen räumlich mehrere hundert Kilometer. Es ist der CDU zu wünschen, daß der gewachsenen geographischen Entfernung keine Di- stanz zu den wertvollen und unverzichtbaren Inhalten und Idealen folgt, die bei den Walberberger Dominikanern als Grundlage christlich-demokratischer Politik erar- beitet wurden. Das durch die CDU-Spitze offen und unmißverständlich zu artiku- lieren, würde die vielbeschworene Parteibasis im 71. Jahr der Christlich- Demokratischen Union Deutschlands von mancherlei Irritation befreien.

Anmerkungen * Der Text beruht auf einem Vortrag, den der Verfasser am 18. 11. 2015 beim Buß- und Bettagsgespräch des „Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg“ zum Thema „Erbe des Ursprungs. Siebzig Jahre CDU“ in Bonn gehalten hat. 1) Buchstab, Günter, Historische Überblicke: 1945-1949, in: Lexikon der Christlichen De- mokratie in Deutschland, Hg. von Winfried Becker/Günter Buchstab/Anselm Doering- Manteuffel/Rudolf Morsey, Paderborn u.a.O. 2002, S. 53-64; Kaff, Brigitte, Eine Volkspar- tei entsteht, Zirkel und Zentren der Unionsgründung, in: Buchstab, Günter/Gotto, Klaus (Hg.), Die Gründung der Union, München 2. Aufl. 1990, S. 70-101; Kleinmann, Hans-Otto, Geschichte der CDU 1945-1982, Stuttgart 1993, im bes. S. 15-96; Buchstab, Günter (Hg.), Brücke in eine neue Zeit. 60 Jahre CDU. Freiburg i. Br. u.a.O. 2005. 2) Dazu und zum folgenden vgl. Aretz, Jürgen, Katholische Arbeiterbewegung und Natio- nalsozialismus, Mainz 2. Aufl. 1982. 3) Aretz, Jürgen, Otto Müller (1870-1944), in: Aretz, Jürgen/ Morsey, Rudolf/ Rauscher, Anton (Hg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 3, Mainz 1979, S. 191-203. 4) Aretz, Jürgen, Bernhard Letterhaus (1894-1944), in: Morsey, Rudolf (Hg.), Zeitgeschich- te in Lebensbildern, Bd. 2, Mainz 1975, S. 11-24. 5) Aretz, Jürgen, Nikolaus Groß (1898-1945), in: Aretz/Morsey/Rauscher (wie Anm. 3), Bd. 4, Mainz 1980, S. 159-171. 6) Brüning hat sich wiederholt in dieser Weise geäußert, vgl. u.a. Heinrich Brüning, Briefe 1946-1960, hg. von Claire Nix, Stuttgart 1974, S. 163. 7) Vgl. dazu die einschlägigen Untersuchungen des Instituts für Demoskopie in Allensbach. 8) Vgl. Aretz (wie Anm. 2), S. 147.

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9) Vgl. Plum, Günter, Die KPD in der Illegalität. Vierteljahrs-Hefte für Zeitgeschichte 23 (1975), S. 219-235, hier S. 225. 10) Ockenfels, Wolfgang, Laurentius Siemer (1888-1956), in: Aretz/Morsey/Rauscher (wie Anm. 3), Bd. 5, Mainz 1982, S. 147-160. 11) Siemer, Laurentius, Aufzeichnungen und Briefe. Mit einem Vorwort von Urban Plotzke, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1958, S. 125f; vgl. auch Aretz (wie Anm. 2), S. 230f. 12) Ockenfels, Wolfgang, Eberhard Welty (1902-1965), in: Aretz/Morsey/Rauscher (wie Anm. 3) Bd. 4, Mainz 1980, S. 240-249. 13) Dazu und zur Rolle Siemers und Weltys vgl. auch Ockenfels, Wolfgang, Der Walber- berger Kreis. Zur sozialethischen Bedeutung der Dominikaner in Deutschland, in: Die Neue Ordnung, 65. Jg., Sonderheft November 2011. 14) Vgl. Aretz, Jürgen (Hg.), Nikolaus Groß. Christ-Arbeiterführer-Widerstandskämpfer. Briefe aus dem Gefängnis. Münster/W. 5. Aufl. 2012, S. 41. 15) Herbers, Winfried, Leo Schwering (1883-1971), in: Buchstab, Günter/Kaff, Brigitte/ Kleinmann, Hans-Otto (Hg.), Christliche Demokraten gegen Hitler. Aus Verfolgung und Widerstand zur Union, Freiburg i.Br. u.a.O. 2004, S. 453-460. 16) Theodor Scharmitzel (1878-1963), Köln, studierte Theologie und Philosophie, arbeitete u.a. als Verleger; 1945-48 Leiter des Kölner Ernährungsamtes. 17) Kleinmann (wie Anm. 1), S. 87f. 18) Vgl. Buchstab (wie Anm. 1), im bes. S. 54. 19) Agethen, Manfred, Ferdinand Friedensburg (1886-1972), in: Buchstab/Kaff/Kleinmann (wie Anm. 15), S. 179-186. 20) Hausmann, Marion, Ernst Lemmer (1898-1970), in: Lexikon der Christlichen Demokra- tie (wie Anm. 1), S. 311. 21) Kaff, Brigitte, Robert Lehr (1883-1956), in: Buchstab/Kaff/Kleinmann (wie Anm. 15), S. 337-343. 22) Blumenberg-Lampe, Christine, Paul Graf Yorck von Wartenburg (1902-2002), in: Buchstab/ Kaff/Kleinmann (wie Anm. 15), S. 510-514. 23) Kleinmann, Hans-Otto, Theodor Steltzer (1885-1967), in: Buchstab/Kaff/Kleinmann (wie Anm. 15), S. 482-49 24) Besondere Aufmerksamkeit erregte die entsprechende Aussage des seinerzeitigen Bun- despräsidenten Christian Wulff am 3. Oktober 2010.

Dr. Jürgen Aretz ist Historiker und war Staatssekretär im Thüringer Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst sowie im Ministerium für Wirtschaft, Technologie und Arbeit.

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Christine Lieberknecht

Erbe des Ursprungs – 70 Jahre CDU

Gründung und Entwicklung der CDU in der DDR*

„Ein Volk kann seine Gegenwart und seine Zukunft nur gestalten, wenn es seine Vergangenheit versteht und daraus seine Lehren zieht.“ Dieser Erkenntnis Kon- rad Adenauers folgend möchte auch ich zunächst erinnern: 1945, vor 70 Jahren, war Deutschland am Ende des totalen Krieges total zerstört. Es war politisch, es war militärisch, es war wirtschaftlich, materiell und moralisch am Ende. Deutschland war ein Trümmerhaufen. Es lag in Schutt und Asche, eine Katastro- phe von kaum vorstellbarem Ausmaß. Aber: In diesen Trümmern und aus diesen Trümmern heraus haben Männer und Frauen in ganz Deutschland trotz allem den Versuch gewagt, erneut anzufangen. Überall entwickelte sich die gleiche Idee, die Idee einer ganz neuen, anderen Bewegung. Die Idee einer starken Christlich- Demokratischen Union. Sie wurde entwickelt von Frauen und Männern, die sich zuvor in den Jahren des Nationalsozialismus vor allem in den Jahren des Krieges geschworen hatten: „Wenn wir überleben sollten, wenn wir noch einmal eine Chance bekommen, ein friedliches und freiheitliches Deutschland aufzubauen, dann wollen wir alles tun, um diese Chance zu nutzen!“

1. Die Gründungsidee

Die Gründung der Union war für viele, die sich daran beteiligten, Einlösung eines Versprechens. Sie wollten die politische Zersplitterung der Weimarer Re- publik überwinden, wo sich katholische Christen im Zentrum, Protestanten im christlich-sozialen Volksdienst, Liberale in drei liberalen Parteien, Konservative in vielen Gruppierungen gegenseitig bekämpften und dadurch lähmten. Dieses Streben nach Union, der Vereinigung, war neu in der Geschichte. Es gab keine zentrale Initiative, die sich allmählich dem ganzen Land mitgeteilt hätte, sondern es gab Gründungen vor Ort mit zum Teil zunächst recht unterschiedlichen Na- men. Und es gab diese Gründungen zugleich in allen Besatzungszonen. Eugen Gerstenmaier , der spätere Bundestagspräsident urteilte im Rückblick: Die Union war „alles in allem der spontanste, der sichtbarste und der wirksamste politische Ausdruck der Wandlung Deutschlands und der Deutschen im 20. Jahr- hundert“. Dolf Sternberger wertete die christlichen Parteigründungen auf den Trümmern des völlig zerstörten Deutschland „nicht als Organisation zur Errin- gung von Macht im Staate, sondern als Angebote an die Bevölkerung zur geistig- moralischen Identifikation“. „Ein neues Deutschland soll geschaffen werden, das auf Recht und Friede gegründet ist. Unsere Jugend soll wieder lernen, daß nicht Macht, sondern Geist die Ehre Deutschlands vor der Welt ausmacht.“ So heißt es in den Kölner Leitsätzen vom Juni 1945, und im Berliner Gründungsaufruf vom

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26. Juni 1945 wird betont: „Aus dem Chaos von Schuld und Schande, in das uns die Vergottung eines verbrecherischen Abenteurers gestürzt hat, kann eine Ord- nung in demokratischer Freiheit nur erstehen, wenn wir uns auf die kulturgestal- tenden sittlichen und geistigen Kräfte des Christentums besinnen und diese Kraftquelle unserem Volke immer mehr erschließen.“ Dabei hatte man nicht nur die Erfahrung der gescheiterten Weimarer Republik und der Schrecken des Nationalsozialismus im Rücken, sondern man hatte eine Vision vor Augen. Diese Vision aus den Trümmern von damals lautete: Deutsch- land wieder aufzubauen; - eine dem christlichen Menschenbild verpflichtete gerechte Wirtschaftsordnung, die spätere soziale Marktwirtschaft zu entwickeln; - jedem seine Chance zu geben und soziale Sicherheit zu erreichen; - die Auftei- lung Deutschlands in vier Besatzungszonen zu überwinden und - die Rückkehr in die Völkergemeinschaft der freien demokratischen Staaten zu ermöglichen.

2. Die CDU im Würgegriff von SMAD und SED (1946-1952)

70 Jahre CDU, das heißt für mich auch Erinnerung an die Anfänge der CDU auf dem Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone und in Berlin. Hier sollte schon sehr bald spürbar werden, was der von Walter Ulbricht überlieferte Satz bedeute- te: „Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.“ Bereits am 10. Juni 1945 erließ die SMAD einen Befehl, in dem es hieß: „Auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland ist die Bil- dung und Tätigkeit aller antifaschistischen Parteien zu erlauben.“ Das war die Grundlage für den Berliner Gründungsaufruf der Christlich- Demokratischen Union Deutschlands am 26. Juni 1945. Allerdings hatten die Sowjetunion und als deren verlängerter Arm die deutschen Kommunisten um Walter Ulbricht zu keinem Zeitpunkt an wirklich demokratische Verhältnisse gedacht. Ziel war allenfalls deren Vortäuschung zur Erreichung einer klaren Vorherrschaft der Kommunistischen Partei. So gehörte es von Anfang an schon zur Lizenzerteilung der neu gegründeten CDU in Berlin und in der gesamten SBZ, daß sie sich zur Zusammenarbeit mit anderen Parteien in der „Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien“ von KPD, SPD und liberaler Partei verpflichten mußte. Die Idee der Volksfront war allgegenwärtig. Das erfüllte die Gründer wie Andreas Hermes, Walther Schreiber, Jakob Kaiser, Ernst Lemmer zwar mit Unbehagen. Aber man hielt dies für eine Auflage des Übergangs und hoffte auf Überwindung von Zugeständnissen dieser Art durch Zeitablauf, späte- stens mit der Schaffung gesamtdeutscher Vertretungen. Diese Hoffnung erwies sich schon alsbald als ein großer Irrtum. Von Anfang an griff die SMAD in das innere Gefüge und in die politischen Aktivitäten der neu gegründeten CDU massiv ein. Bereits nach kurzer Zeit wur- den der erste Vorsitzende Andreas Hermes und sein Stellvertreter Walther Schreiber durch die SMAD abgesetzt. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Ab- lehnung der Bodenreform durch Andreas Hermes . Es folgten Jakob Kaiser und Ernst Lemmer . Für Kaiser war es eine „Frage von Verantwortung“, auf einen

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nächsten Versuch zu hoffen und so die vielen Mitglieder der noch jungen Partei nicht im Stich zu lassen. Allerdings: Spätestens Ende 1947 war auch diese Illusion verflogen: Dann wur- den auch Kaiser und Lemmer ihrer Ämter enthoben bzw. an der Ausübung der- selben dermaßen gehindert, daß die Amtswahrnehmung nicht mehr möglich war. Zuvor hatte Jakob Kaiser beim 2. Parteitag der CDU in der SBZ noch eine le- gendäre Rede gehalten, die in dem Bekenntnis gipfelte: „Wir müssen und wir wollen Wellenbrecher des dogmatischen Marxismus und seiner totalitären Ten- denzen sein.“ In die Geschichte ging dieser Parteitag vom 6.-8.September 1947 als „Parteitag des Widerstandes“ ein. Auf dem folgenden 3. Parteitag der CDU vom 18.-20. September 1948 hatten dann schon der SED-hörige Otto Nuschke und dessen Generalsekretär Georg Dertinger die Führung der Partei übernom- men. Von Otto Nuschke soll der „Hinweis“ auf besagtem Parteitag stammen, daß es für die Deutschen in der SBZ nur drei Möglichkeiten gebe: Entweder sie ver- übten Selbstmord, oder sie flüchteten in den Westen oder sie arrangierten sich mit der SMAD. Die Wahl Nuschkes in offener Abstimmung ohne Gegenkandida- ten und unter voller Beobachtung der Sowjets und der SED-Spitzel erfolgte da- mals mit 186 JA-Stimmen bei immerhin 61 NEIN-Stimmen. Die folgenden 50er Jahre waren gekennzeichnet durch die massive Unterwerfung der CDU unter den Führungsanspruch der SED. Sie wurde erzwungen durch reihenweise Verhaftungen, hohe Zuchthausstrafen und Verurteilung zu Arbeits- lager, Deportationen in die Sowjetunion und Verurteilung zum Tode. In etwa 50 Fällen wurden Hinrichtungen vollstreckt. Aus dem Thüringischen Eichsfeld hat sich die Verhaftung von Hugo Dornhofer tief in die Erinnerungsgeschichte der CDU eingebrannt. Er war 1945 erster Vorsitzender der Eichsfelder CDU und seit 1946 stellvertretender Landesvorsitzender der CDU-Thüringen. Er wurde 1952 auf dem Weg zur Kirche gemeinsam mit seinem Sohn Ignaz Dornhofer verhaf- tet. Er unterlag schweren Mißhandlungen und wurde in einem politischen Prozeß als „Kaiser-Getreuer“ zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt. Sein Sohn Ignaz bekam sechs Jahre Zuchthaus. In sein Tagebuch schrieb Hugo Dornhofer : „Nicht für Glanz und Ehre habe ich gewirkt, sondern weil ich mich durch Gewissen da- durch verpflichtet fühlte und ich meinen Freunden, der Jugend die Treue halten wollte, die sie mir hielten. Was unsere Freunde und Mitstreiter in jener Zeit mit- gemacht, erduldet und geleistet haben, grenzt ans Wunderbare.“

3. Zwischen Anpassung und Nische nach dem Mauerbau

Bereits seit Otto Nuschke und Generalsekretär Georg Dertinger stand die CDU unter der Leitung von SED-tolerierten, weil SED-hörigen, Funktionären. Sie waren Hilfsorgan der SED und folgten dem Grundsatz der inzwischen auch in der CDU-Satzung festgeschriebenen „vertrauensvollen Zusammenarbeit mit der Partei der Arbeiterklasse“. Diesen Kurs setzten die Nachfolger von Otto Nuschke August Bach (1958-1966) und der über 23 Jahre der Führung der SED willfährig ergebene Vorsitzende Gerald Götting fort.

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Durch Tausende von Zeitzeugen ist aber genauso belegt: Dieses Bekenntnis galt für die Funktionärsriege der Partei. Es gehört zur Wahrheit der Ost-CDU, daß sich nicht alle Mitglieder gleichschalten ließen. Vor allem nicht die Mitglieder an der Basis. Ich selbst habe das in meiner Orts-CDU in Ramsla, Landkreis Weimar erlebt. Oftmals haben wir darüber diskutiert, was zu tun sei in Anbe- tracht einer Lage, die schlicht ausweglos erschien. Aber es gab eine Grundüber- zeugung, die mich eines Tages sagen ließ: „Es kann sein, es kommt der Zeit- punkt, da ist es gut, daß wir da sind.“ Es war also ein Wissen um einen demokra- tischen Restbestand aus der Gründerzeit, der sich fest im Bewußtsein verankert hatte. Ich hielt es nicht für ausgeschlossen, daß es wieder eine Situation geben könnte, um diesen Grund- bzw. Restbestand in politisch-praktischer Arbeit neu zu beleben. Ganz ähnlich hat es Professor Hans-Joachim Meyer , nach 1990 viele Jahre Wissenschaftsminister in Sachsen, beschrieben: „Da war natürlich auch – sicherlich bei vielen – die Erwägung: Es ist, wenn man so will, eine Hülle, die man wieder neu füllen kann, wenn eine neue Chance kommt. Und sicherlich auch das Gefühl: das war eigentlich unsere Partei. Man drängt uns jetzt an den Rand, aber wir werden das nicht einfach den anderen überlassen.“ Was dabei weder die SED noch willfährige CDU-Parteiführer verhindern konn- ten, war die Erinnerung an die Geschichte der Gründungszeit. Für die Älteren blieben die Namen der in den Westen geflüchteten Vorsitzenden Kaiser und Lemmer in ihren Erzählungen präsent. Und Jüngere wurden eingeführt in eine Zeitgeschichte, von der sie zuvor weder in der Schule noch sonst im öffentlichen Leben der DDR gehört hatten. Das ist auch meine ganz persönliche Erfahrung. Die älteren Mitglieder wußten noch zu berichten, wie sie 1947 mit etwa 3000 Menschen gemeinsam Jakob Kaiser auf einer Kundgebung in Weimar begeistert zuhörten und applaudiert hatten. Sie kannten die Zusammenhänge der Schikanen an Kaiser und Lemmer und dem mutigen Ausruf Kaisers auf dem 2. CDU- Parteitag der SBZ vom „Wellenbrecher gegen den dogmatischen Marxismus“. Die älteren Mitglieder hatten Jakob Kaiser und Ernst Lemmer noch persönlich erlebt. Das hat viele für ein ganzes Parteileben, auch unter immer restriktiver werdenden Bedingungen, geprägt. Dazu kamen immer wieder Hoffnungen, die sich zwar oftmals nach kurzer Zeit als Illusion erwiesen, aber dennoch dauerhafte Parteimitgliedschaften begründe- ten. Auch hier nur zwei Beispiele: Der frühere Thüringer CDU- Landesvorsitzende Willibald Böck trat 1965 in die CDU ein. Er begründete sei- nen damaligen Schritt so: „ Dieser Eintritt hatte verschiedenste Gründe. Der wichtigste war, daß für mich CDU Familientradition war. Mein Vater hatte zu- sammen mit Schreiber und Hermes die CDU in Thüringen gegründet. Ein weite- rer Grund für den Eintritt war, daß ich mit zwei jungen Studenten auf einem Zimmer war, die beide SED-Mitglied waren. Ich dachte mir, wenn diese Partei an der Hochschule so aktiv ist, dann könnte man doch auch eine eigene CDU Hochschulgruppe gründen. Dieses Vorhaben wurde leider innerhalb kürzester Zeit durch die Polizei und Stasi mit der Begründung verboten, eine Parteigruppe an einer Hochschule wäre nicht erlaubt. Die Folge dieser Aktion war, daß über

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vierzig Studenten Mitglied der CDU-Ortsgruppe 13 in Erfurt- Nord geworden sind.“ Das zweite Beispiel: Der langjährige Chefredakteur der Thüringer Kirchenzei- tung „Glaube und Heimat“ und spätere Landtagspräsident von 1990 bis 1994, Dr. Gottfried Müller , begründet seinen CDU-Eintritt von 1972 u.a. folgenderma- ßen: „Eine merkliche gesellschaftliche Bedeutung hatte die CDU zudem für gewisse Bereiche der Kultur. Der Partei gehörten Verlage und polygraphische Betriebe, die auch nichtmarxistische und christliche Literatur herstellten. Albert Schweitzer z.B. ist im Union Verlag erschienen. Als kirchlicher Publizist und Verleger hatte ich gute und produktive Kontakte zu Betriebsleitern und Kultur- schaffenden der CDU – auch zum Nutzen meiner kirchlichen Arbeit.“ Ich selbst bin im Jahr 1981 in die CDU eingetreten, weil ich den Willen hatte, gesellschaftlich in der DDR etwas zu verändern und der Meinung war, die CDU könne hierfür als Partei eine geeignete Plattform bieten. Diese Vorstellung sollte sich, so wie viele Eintrittsmotive damaliger CDU-Mitglieder ebenfalls als Illusi- on erweisen. 1989 allerdings erfüllte sich die bereits zitierte Ahnung, die ich einmal Mitte der 80er Jahre formulierte: „Es kann sein, daß ein Zeitpunkt kommt, wo es gut ist, daß wir da sind.“

4. Die friedliche Revolution in der DDR – Zurück zu den Wurzeln

Die während der gesamten DDR-Zeit vorhandenen Widersprüche zwischen Volk und Regierung ließen sich im Zuge der nationalen und internationalen Entwick- lungen der 80er Jahre immer mühsamer von Seiten der SED-Führung übertün- chen. Je erstarrter sich die SED-Führung im Vergleich zur neu entstandenen Dynamik von Glasnost und Perestroika unter Michael Gorbatschow gebärdete, desto mehr Freizügigkeit mußte sie den DDR-Bürgern zur eigenen Entlastung dennoch zugestehen. Zudem erzwangen die ständig wachsenden ökonomischen Abhängigkeiten der DDR vom Westen Deutschlands im Gegenzug stetig weiter- gehende Reiseerleichterungen und damit zunehmende deutsch-deutsche Be- suchsmöglichkeiten. Im Zuge dieser Entwicklung war auch in der Ost-CDU zu dieser Zeit ein vorsichtiges Streben nach etwas mehr Eigenständigkeit erkennbar. Als unübersehbares Wetterleuchten für das offene Aufbegehren in der zweiten Hälfte der 80er Jahre wurde der Brief der Ortsgruppe Neuenhagen um die Ärztin Ilse Ackermann (Bezirk Frankfurt /Oder) vom Mai 1988 bekannt. In diesem Brief an die Parteiführung von Gerald Götting wurde offen die Bevormundung durch die SED angegriffen, ein Parteienpluralismus gefordert und eine Wahl- rechtsänderung verlangt. Der stärkste Impuls für eine Neuordnung, bzw. Rückbesinnung auf die demokra- tischen Wurzeln ging dann einige Monate später vom Weimarer Brief mit Datum vom 10.September 1989 aus. Dieser Brief nahm sowohl alle dringlichen Forde- rungen der Menschen nach Veränderungen in der DDR auf. Also: Reise-, Presse- und Versammlungsfreiheit, freie Wahlen, einen offenen und ehrlichen Umgang mit den katastrophalen Umweltschäden in der DDR und der maroden Lage der sozialistischen Volkswirtschaft. Ebenso wurden mit diesem Brief Forderungen

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nach innerparteilicher Demokratie und erkennbarer eigenständiger Wahrneh- mung von Verantwortung erhoben. Wörtlich formulierten wir: „Die Parteiarbeit ist so auszugestalten, daß in ihr der Wille der Mitglieder den unbedingten Vor- rang hat. Das Prinzip des ‚demokratischen Zentralismus‘ gehört nicht zu den spezifischen Traditionen der CDU.“ Damit ist der Weimarer Brief zum Identifi- kationsdokument vieler, in der Block-CDU verharrender Mitglieder geworden auf dem Weg zu Reformen, zunächst in der damaligen DDR. In einer gemeinsa- men rückblickenden Einschätzung von Dr. Gottfried Müller und mir vom 15.April 1999 heißt es: „Das Ziel, die Blockpartei und deren logistische Mög- lichkeiten für die Reform der gesamten Gesellschaft zu nutzen, wurde – mit Verzögerungen – insgesamt gesehen erreicht. Die Ost-CDU rückte so auf einen Platz zwischen den von Gorbatschow freigesetzten sozialistischen Reformkräften und den oppositionellen Bürgerrechtsgruppierungen.“ Gleichzeitig zogen wir die Aufmerksamkeit erster interessierter CDU-Politiker aus dem Westen auf uns. Dazu gehörten der damalige hessische Ministerpräsi- dent Walter Wallmann und die hessische CDU, ganz besonders auch die dortige Junge Union, die uns umgehend zum Deutschlandtag der Jungen Union nach Wiesbaden eingeladen hatte. Dazu gehörte aber auch der Berliner Landesverband mit Eberhard Diepgen . Die Ereignisse überschlugen sich: Die markantesten Daten sind bekannt: Dazu gehören der 9. Oktober 1989 in Leipzig, die Groß- kundgebung mit fast einer Millionen Menschen am 4. November auf dem Alex- anderplatz in Berlin. Vier Tage später, am 8. November trat das ganze Politbüro der SED geschlossen zurück. Am 9. November fiel die Berliner Mauer. Die CDU hatte am 9. November ihren ersten größeren Reformkongreß. Am Nachmittag war der erste nichtkommunistische Jugendverband, die CDJ, ge- gründet worden. Am 10. November wurde Lothar de Maiziere neuer Vorsitzen- der der Ost-CDU. Gerald Götting war bereits am 2. November zurück getreten. Intensiv wurde ein Sonderparteitag für den 15. und 16. Dezember 1989 vorberei- tet zur Neuwahl des Vorstandes und Verabschiedung einer neuen Satzung. Teil des Sonderparteitages war ein umfangreiches Schuldbekenntnis der Ost-CDU zur Mitwirkung am Unterdrückungssystem der DDR. Am Ende der Debatten stand ein neues Selbstverständnis der Partei. Fortan hieß es im § 1 der neuen Satzung: „Die Christlich-Demokratische Union Deutschlands ist eine Partei von Bürgern, die sich in ihrem Handeln zum Wohle der Gesellschaft von christlicher Verantwortung, von religiösen Moral- und Wertvorstellungen und von humani- stischer Ethik leiten lassen. Die Christlich-Demokratische Union Deutschlands tritt ein für - Frieden in Freiheit und Gerechtigkeit; - Marktwirtschaft mit sozialer Bindung in ökologischer Verantwortung; - Einheit der deutschen Nation – über- gangsweise in einer deutschen Konföderation – in einem freien und vereinigten Europa auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker.“ Im Jahr 1990 erklärten die wieder neu gegründeten ost- und mitteldeutschen Landesverbände, auf jegliches Vermögen der früheren Blockpartei CDU zu verzichten. Sie zogen damit eine Konsequenz, die die SED-Nachfolger über SED-PDS, PDS bis hin zur DIE LINKE bis heute vermissen lassen. Finanziell mittellos, aber voller Ideale und Selbstbewußtsein traten am 1. Oktober 1990 auf

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dem Vereinigungsparteitag in Hamburg die ost- und mitteldeutschen CDU- Landesverbände der CDU Deutschlands bei.

5. Eigenständigkeit und Anschlußfähigkeit

Mit den im Jahr 1990 bei sämtlichen auf dem Territorium der ehemaligen DDR erreichten Wahlerfolgen war aus der ostdeutschen Blockpartei CDU endgültig ein Teil der regierenden gesamtdeutschen CDU geworden. Zuvor galt es in den Sommermonaten des Jahres 1990 noch mit den „Resten“ der Blockpartei der Bauern (DBD) und dem im Herbst 1989 neu gegründeten Demokratischen Auf- bruch zu fusionieren. Auch zahlreiche, bis dahin parteilich nicht gebundene Mitglieder suchten den Weg in die CDU. Andere, nicht selten auch „Alt- gediente“ verließen die Partei aus Kritik am eingeschlagenen politischen Kurs oder auch aus persönlichen Gründen. Die Herkunft der so entstandenen ver- schiedenen Strömungen sollte – ebenso wie beim Zusammenlauf verschiedener Flüsse – noch lange, teilweise auch bis heute, sichtbar bleiben. Wesentliche Unterschiede zwischen westlichen und den neu hinzu gekommenen östlichen Landesverbänden konnte ich hingegen jedenfalls entlang der ehemaligen inner- deutschen Grenze nie wirklich ausmachen. Es mag sein, daß dies auch daran liegt, das mein Landesverband Thüringen sich nie „westlich“, aber auch nie „östlich“ verstanden hat, da wir historisch und auch geographisch immer „Mitte“ waren, und es für uns zu den glücklichen Fügungen der jüngeren Geschichte gehört, dies seit nunmehr einem Vierteljahrhundert wieder sein zu können. Mit der Übernahme von Regierungsverantwortung durch ost- und mitteldeutsche Politiker der CDU auf der Ebene des Bundes, der Länder und Gemeinden als Ergebnis der erfolgreichen Wahlen des Jahres 1990 gehörte es im wieder verei- nigten Deutschland für die wieder gegründeten Landesverbände von Anfang an dazu, auch „Verantwortungspartei“ zu sein. Diese neue Erfahrung und das damit sich sehr schnell einprägende Selbstverständnis der CDU-Landesverbände in Ost- und Mitteldeutschland verband diese noch einmal mehr mit der CDU Kon- rad Adenauers und Helmut Kohls . Manchmal bringt diese verantwortungsethische Prägung den Vorwurf eines allzu anpassungsfähigen Pragmatismus ein. Da halte ich gern dagegen. Vielmehr ist es so: Wer seine festen Koordinaten hat, der weiß, wo er die Entscheidungen des Alltags einzuordnen hat. Wer sein politisches Handeln aus den Koordinaten seines christlichen Menschenbildes ableitet, der weiß zwischen Bekenntnisfragen und notwendiger Kompromißbereitschaft im politischen Alltagsgeschäft zu un- terscheiden. Das allerdings führt bereits mitten in die uns gemeinsam berühren- den Fragen der CDU Deutschlands, unabhängig einstiger Prägungen aus der Zeit der Teilung in Ost und West.

6. Fazit und Ausblick

1. Von Anfang an stand die Gründung der CDU in der SBZ und späteren DDR unter dem Argwohn, der Verfolgung und schließlich massiven Gleichschaltung

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durch die SMAD und die 1946 aus KPD und SPD gegründeten SED. Was den kommunistischen Machthabern allerdings nicht gelang, war die Auslöschung der Erinnerung an die demokratische Gründungsidee, ihre Wurzeln im christlichen Menschenbild und deren demokratische und glaubwürdige Repräsentanten der Gründungszeit. 2. Die Erinnerung an die demokratischen und im christlichen Menschenbild begründeten Wurzeln der CDU konnten mit den Reformbestrebungen innerhalb der Ost-CDU im Herbst 1989 und der friedlichen Revolution in der DDR auch deshalb sehr schnell wieder lebendig werden, weil für viele Mitglieder galt: Sie waren Christen. Als Christen wollten sie sich gesellschaftlich für die Demokrati- sierung in der DDR und – mit den neuen Perspektiven des Mauerfalls – für eine schnelle Wiedervereinigung einsetzen. Dafür bot die CDU mit Helmut Kohl und dem Festhalten an der Deutschen Einheit über die Jahrzehnte der Teilung hin- weg, sowie den im christlichen Menschenbild verankerten Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität eine nahtlos anschlußfähige Möglichkeit. 3. Die Ableitung der Grundwerte der CDU aus dem christlichen Menschenbild ist gleichzeitig ein steter Hinweis darauf, daß Staat und Gesellschaft in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat auf ein festes Wertefundament angewie- sen sind. Voraussetzung für das Funktionieren des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats ist seine Grundlegung in einer guten Ordnung und deren verläßliche Einhaltung. Darüber hinaus gibt es bekanntlich auch Voraussetzungen, die der Staat sich nicht selbst geben kann, (siehe Ernst Böckenförde ). Dazu gehört die Grundlegung ethischer Werte durch Kirchen, Religion, Kultur und Bildung. Dazu gehört Empathie, Bindung und Mitmenschlichkeit. Das heißt: Familie, Herkunft, Heimat. 4. Danach gefragt, was heute „Erbe des Ursprungs“ 70 Jahre nach den Kölner Leitsätzen und dem Berliner Aufruf zur Gründung der Christlich- Demokratischen Union Deutschlands von 1945 für mich bedeutet, finde ich keine bessere Antwort als das Vermächtnis, das Václav Havel Ende 2011 kurz vor seinem Tod uns hinterlassen hat: „Wir müssen uns auf unsere ursprüngliche geistliche und moralische Substanz besinnen. Das erscheint mir als der einzig gangbare Weg zu einer wirklichen Erneuerung, um jenes Maß an Verantwortung für uns selbst und die Welt zu erreichen, um sie vor der Zerstörung zu bewahren. Beim Nachdenken über die Probleme unserer Zivilisation stoße ich immer wie- der auf das Thema Verantwortung.“

Anmerkung * Der Text beruht auf einem Vortrag, den die Verfasserin am 18. 11. 2015 beim Buß- und Bettagsgespräch des „Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg“ zum Thema „Erbe des Ursprungs. Siebzig Jahre CDU“ in Bonn gehalten hat.

Christine Lieberknecht MdL, bis 1990 in der DDR als Pastorin tätig, war von 2009 bis 2014 Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen und Landesvorsit- zende der CDU Thüringen.

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Ralph Weimann

Europäische Identität

Zwischen Willkommens-, Wohlstands- und Leitkultur

Die Herausforderungen, die auf die Europäische Union zukommen, könnten größer kaum sein. Zu der wirtschaftlichen Krise, die bis zum Sommer 2015 Par- lament und Öffentlichkeit in Atem hielt und vor allem mit „Griechenland“ in Verbindung gebracht wurde, ist noch eine weit größere Herausforderung hinzu- gekommen: eine Migrationsbewegung, die an die großen Völkerwanderungen der Geschichte erinnert. Im Jahr 2015 waren bis Anfang Dezember bereits mehr als 1.000.000 Flüchtlinge allein nach Deutschland gekommen, 1 wobei die Dun- kelziffer der nicht registrierten Zuwanderer nach Angaben der Regierung diese Zahl noch deutlich übersteigt. So hat Vizekanzler im November 2015 mitgeteilt, daß 40-50% der Flüchtlinge nicht erfaßt seien. Die Polizeige- werkschaft hat diese Angabe bestätigt, zumal es unmöglich sei, alle Ankommen- den zu registrieren, weil die Kräfte dafür nicht zur Verfügung stünden. 2 Hinzu kommt, daß das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nur einge- schränkt in der Lage ist, Asylanträge entgegenzunehmen, da die Wartezeiten sonst länger als ein Jahr dauern würden. 3 Die Bereitschaft zur „Willkommenskultur“, die euphorisch eine unbegrenzte Zuwanderung bejaht und zugleich jede Kritik daran verbietet, hat in vielen Tei- len der deutschen Bevölkerung und vor allem anderer europäischer Länder längst nachgelassen und droht manchen Orts gar umzuschlagen, wozu auch Fakten beitragen, die weiter für Verunsicherung sorgen: Nach Fallzahlen des Bundes Deutscher Kriminalbeamter werden – auch aufgrund einer gewissen Perspekti- venlosigkeit – überdurchschnittlich viele Flüchtlinge straffällig. Das betrifft rund zehn Prozent der Flüchtlinge. 4 Die terroristischen Anschläge in Paris und die Angst vor weiteren neuen An- schlägen haben die Menschen weiter verunsichert. Der Vorsitzende des Zentral- rats der Muslime in Deutschland Aiman Mazyek hat im Gespräch mit der Neuen Osnabrücker Zeitung darauf hingewiesen, daß die Zahl der Muslime in Deutsch- land binnen weniger Monate um ein Viertel zugenommen habe, ungeahnte und neue Herausforderungen kämen auf die Menschen zu, eine Obergrenze scheint offenkundig bald erreicht zu sein. 5 Der Unmut der Bevölkerung schlägt sich im Wahlverhalten nieder, die Europäische Gemeinschaft wird in ihren Grundfesten erschüttert. Dabei drohte Europa schon unter der sich verschärfenden wirtschaftlichen Krise zu zerbrechen. „Fliehkräfte“ wurden freigesetzt, wodurch es verstärkt zu einer Neubetonung der Nationalstaatlichkeit und einer Abwendung vom europäischen Gedanken gekommen ist. Die Flüchtlingsströme wirken nun wie ein Katalysator, die Geschwindigkeit der Abläufe wird sich erhöhen. Mit Recht läßt sich daher

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von einer brisanten Lage sprechen, die im Hinblick auf globale Konfliktherde noch weiter an Dramatik gewinnt. Soll nicht das Risiko des Unkalkulierbaren und Unsteuerbaren die Oberhand gewinnen, dann muß klar sein, was eigentlich die europäische Identität ausmacht. Der Ansturm von Millionen von Flüchtlin- gen aus einem anderen Religions- und Kulturkreis setzt die europäische Union geradezu unter Zugzwang, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Integra- tion kann es nur auf der Grundlage einer eigenen Identität und verpflichtender Werte geben. Europa braucht dringend eine Besinnung auf jene tragenden Fundamente, die das Vertrauen wiederherstellen können. Mit anderen Worten, Europa und die euro- päische Union werden keine Zukunft haben, ohne eine klare europäische Identi- tät. Die Herausforderungen lassen sich nur gemeinsam und mit einem tragfähi- gen Fundament meistern. Das biblische Bild vom Haus, daß auf Felsen gegrün- det ist, spiegelt jene Weisheit wider, derer auch Europa bedarf. Der Evangelist Lukas schildert die Notwendigkeit, auf jenes Wort zu hören, daß sich als die Wahrheit (vgl. Joh 14,6) offenbart hat: „Wer aber hört und nicht danach handelt, ist wie ein Mann, der sein Haus ohne Fundament auf die Erde baute. Die Flut- welle prallte dagegen, das Haus stürzte sofort in sich zusammen und wurde völ- lig zerstört“ (Lk 6,49). Vor solchem Geschehen sollte Europa bewahrt bleiben. Daher ist eine Rückbesinnung oder Neubesinnung das Gebot der Stunde.

Problematik der Selbstfindung Europas

Mit den großen Herausforderungen verbinden sich aber nicht nur Gefahren, sondern auch Möglichkeiten, viel hängt vom rechten Umgang damit ab. Ein Grundproblem der Moderne, darauf hatte Romano Guardini bereits 1954 hinge- wiesen, besteht darin, daß die kommende Epoche – die Moderne oder auch Postmoderne – dadurch gekennzeichnet sei, den Fortschritts-Optimismus zum Dogma zu erheben und den Gottesbezug in den Hintergrund treten zu lassen. Der Verzicht auf den Gottesbezug in der europäischen Verfassung verleiht der Ana- lyse Guardinis große Aktualität. 6 Er prognostizierte, daß ein schwerwiegendes Ungleichgewicht zwischen technischer Möglichkeit auf der einen Seite und Ethos auf der anderen Seite entstehe. 7 Der technische Fortschritt – wie der Umgang mit der Atomkraft besonders nach- drücklich veranschaulicht – erhöht die Verfügungsgewalt des Menschen über den Menschen. Fortschritt wird aber auf Dauer nur dann dem Wohl der Men- schen dienen, wenn er auch ethisch verantwortet wird und die „ethische Weiter- entwicklung“ der „technischen Weiterentwicklung“ entspricht. Diese Problema- tik zeigt sich nicht nur im Hinblick auf Massenvernichtungswaffen, sondern in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Durch die Entschlüsselung der DNA des Menschen können Gentests durchgeführt werden, nach denen schon bald Versicherungen die Tarife für ihre Mitglieder berechnen könnten. In soge- nannten Kryobanken werden Embryonen tiefgefroren, die später auf unterschied- liche Weise „genutzt“ werden können. Die Genmanipulation von Nahrungsmit- teln sowie genetische Veränderungen am menschlichen Genom (vgl. Keimbahn-

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therapie) führen zu nicht absehbaren Entwicklungen. Die Liste ließe sich belie- big fortsetzen, alle diese Beispiele spiegeln eine erschreckende Tendenz wider: Einen ungebremsten technischen Fortschritt und einen zunehmenden Verfall ethischer Wertevorstellungen. 8 In diesem Kontext ist noch ein zweiter Aspekt zu nennen, der aus dem technisch- wissenschaftlichen Fortschritt resultiert. 9 Die rasante Entwicklung hat den größ- ten Teilen der Gesellschaft einen in der Geschichte noch nie dagewesenen Wohl- stand gebracht. Die Regale waren noch nie so voll und üppig gefüllt, die Mobili- tät der Menschen hat stark zugenommen, und durch die Revolution des Internets ist ein „Online-Markt“ entstanden, durch den das Konsumverhalten der Men- schen weiter angekurbelt wird, zumal für den Einkauf nicht einmal mehr der Gang in das Geschäft nötig ist. Diese Entwicklung blieb nicht ohne Auswirkun- gen auf die Mentalität der Menschen, die – nach dem Ende des Zweiten Welt- kriegs, der Hungersnot und dem Mangel am Notwendigsten – nun das Gegenteil erlebten. Eine nahezu grenzenlose Freiheit und Unabhängigkeit wurde propa- giert, die in der 68er Revolution ein effizientes Sprachrohr gefunden hat. 10 Zum neuen „ethischen Kriterium“ wurden der Egoismus und der Hedonismus, gestützt auf einen materialistischen Individualismus. Die Gender-Ideologie, welche die von der Natur vorgegebenen Bedingungen ignoriert und der Konstru- ierbarkeit zu unterwerfen sucht, ist nur eine konsequente Weiterentwicklung. Die fatale demographische Entwicklung in Deutschland, die nicht nur auf das Ren- tensystem große Auswirkungen hat, sondern auch auf den sogenannten Genera- tionenvertrag und damit die Zukunft Deutschlands gefährden könnte, läßt sich ebenfalls aus dieser Perspektive erklären. 11 Der materielle „Wohlstand“ avan- cierte zum entscheidenden Kriterium; also werden Faktoren ausgeschlossen, die eine Gefährdung des „Wohlstands“ bedeuten könnten und dazu gehören eben auch Kinder. In Slogans wie „Mein Bauch gehört mir“ hat sich diese Mentalität den Weg gebahnt. Im März 2015 erhielt diese Forderung, die im diametralen Widerspruch zum Recht auf Leben des Kindes steht, sogar eine europäische Rechtsform. Der sogenannte Tarabella-Bericht, benannt nach dem belgischen Sozialisten Marc Tarabella , fand am 10. März 2015 die Zustimmung von 441 Abgeordneten, wobei 205 dagegen votierten bei 52 Enthaltungen. 12 Das Parlament hatte nun beschlossen, das Recht der Frauen auf sexuelle und reproduktive Gesundheit, einschließlich Empfängnisverhütung und Abtreibung, gesetzlich zu verankern. Eine eklatante Widersprüchlichkeit, die kaum zu überbieten ist: Auf der einen Seite lädt eine Willkommenskultur fremde Menschen aus unterschiedlichen Kultur- und Religionskreisen ein, zu kommen, und unternimmt dafür ungeahnte wirtschaftliche, soziale und finanzielle Anstrengungen – auf der anderen Seite gilt diese Willkommenskultur für den eigenen Nachwuchs aber nicht, trotz der besorgniserregenden demographischen Entwicklung. Neben Pillen mit abtrei- bender Wirkung, die in den meisten europäischen Staaten bereits rezeptfrei zur Verfügung stehen, wird nun das sogenannte „Recht auf Abtreibung“ festge- schrieben. 13

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Johannes Paul II. hatte zwanzig Jahre zuvor eine derartige Entwicklung bereits in Grundzügen ausgemacht und in seiner Enzyklika Evangelium vitae geschrie- ben: „Noch bestürzender wird das moderne Szenarium darüber hinaus durch da und dort auftauchende Vorschläge, auf derselben Linie wie das Recht auf Ab- treibung sogar die Kindestötung für rechtmäßig zu erklären: damit würde man in ein Stadium der Barbarei zurückfallen, das man für immer überwunden zu haben hoffte.“ 14 Auf dem Hintergrund der Entscheidung des Bundestags vom 6. No- vember 2015, wonach der assistierte Suizid nicht strafbar ist, wenn die Beteilig- ten „lediglich“ selbst nicht geschäftsmäßig handeln, erhalten die Aussagen von Johannes Paul II . eine noch größere Aktualität: „Nicht minder schwerwiegende Bedrohungen kommen auch auf die unheilbar Kranken und auf die Sterbenden in einem Sozial- und Kulturgefüge zu, das bei einer sich immer schwieriger gestal- tenden Auseinandersetzung mit dem Leiden und seinem Ertragen die Versu- chung verstärkt, das Problem des Leidens dadurch zu lösen, daß man es an der Wurzel austreibt und den Tod in dem Augenblick vorwegnimmt, den man selbst für den geeignetsten hält.“ 15 Die „Wohlstandskultur“ fordert ihren Preis. Papst Franziskus hatte in seiner Rede vor dem Europaparlament 2014 mit deutli- chen Worten diese Problematik beim Namen genannt. Er betonte eine Verabso- lutierung der Technik, die unvermeidlich zu einer „Wegwerf-Kultur“ und einem „hemmungslosen Konsumismus“ führe. 16 Er sagte: „Der Mensch ist in Gefahr, zu einem Räderwerk in einem Mechanismus herabgewürdigt zu werden, der ihn nach dem Maß eines zu gebrauchenden Konsumgutes behandelt, so daß er – wie wir leider beobachten –, wenn das Leben diesem Mechanismus nicht mehr zweckdienlich ist, ohne viel Bedenken ausgesondert wird, wie im Fall der Kran- ken, der Kranken im Endstadium, der verlassenen Alten ohne Pflege oder der Kinder, die vor der Geburt getötet werden.“ 17 Die Worte des Papstes bleiben ungehört, die von ihm angesprochenen Aspekte haben sich seit seiner 2014 ge- haltenen Rede weiter verschärft.

Verlust ethischer Gewißheiten

Politiker sprechen zwar immer häufiger von Begriffen wie „Würde des Men- schen“, „Prinzipien und Werten“, doch handelt es sich dabei oft – wie Ernst- Wolfgang Böckenförde bereits in den 70er Jahren betont hat – um Voraussetzun- gen eines säkularen Staates, die dieser selber nicht mehr zu garantieren vermag. 18 Wohlstand vermag für sich genommen keine Werte und Prinzipien zu begrün- den, sondern der Wohlstand hängt von der Einhaltung ethisch-moralischer Prin- zipien und Werten maßgeblich ab. Wenn jedoch das menschliche Leben etwa vom Fortschritt, von Technik oder vom Wohlstand her bestimmt wird, hat das Auswirkungen auf das Selbstverständnis Europas. Der Mensch wird selbst den Kriterien der Machbarkeit, Konstruierbarkeit oder Manipulation unterworfen. Solange der materielle Wohlstand vorhanden ist und alles seinen „gewohnten Gang“ nimmt, wird dieses ethische Vakuum vom Großteil der Bevölkerung kaum richtig zur Kenntnis genommen, denn es geht den Menschen ja „gut“. Das bewährte römische Prinzip panem et circenses (Brot und Spiele) hat auch heute kaum an Attraktivität verloren.

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Diese „Wohlstandskultur“ hat seit geraumer Zeit dazu geführt, die ethischen Gewißheiten zu zerbrechen und ein ethisch-moralisches Vakuum zu schaffen. 19 Das Märchen von Hans Christian Andersen über „Des Kaisers neue Kleider“ könnte in diesem Kontext zu großer Aktualität gelangen. Der dänische Schrift- steller beschreibt, wie dem Kaiser vorgegaukelt wird, schöne neue Kleider, die dazu noch handgewebt sind, zu bekommen. Diese, so wird ihm versichert, kön- nen allerdings nur von Personen gesehen werden, die ihres Amtes würdig seien. In Wahrheit aber existieren sie gar nicht. Aus falscher Eitelkeit machen alle das Spiel mit, bis schließlich bei einem Festumzug ein Kind ausruft: „Der Kaiser hat ja gar nichts an.“ Illusion und Wirklichkeit können oft weit auseinandergehen. Im Hinblick auf den Wertekanon Europas wird dieses Märchen jedoch Wirklich- keit: Menschen anderer Kultur und Religion stellen den Wertekanon Europas in Frage. Noch geht der „Festumzug“ weiter, aber das Unausgesprochene ist ausge- sprochen worden. Unsicherheit macht sich breit, die dazu führt, daß Teile der Gesellschaft nach und nach aus Gleichgültigkeit und Selbstzufriedenheit gerissen werden. Ein jeder, vor allem natürlich die Politik, ist gefordert, Stellung zu beziehen. Doch auf welcher Grundlage? Materielle Werte und politische Konventionen allein reichen nicht aus. Mit den Worten des Märchens läßt sich sagen, Europa braucht ein mit grundlegenden Werten gewebtes Gewand, nur so wird es bestehen kön- nen. Hier läßt sich die Achillesverse Europas ausmachen, denn es entsteht zu- nehmend der Eindruck, daß Europa kein solches Gewand trägt. Robert Spaemann hat auf die Frage, was mit der Vorstellung Europa in Verbin- dung gebracht werde, geantwortet: „Die häufigste Antwort lautet: ‚Unsere Wer- te‘. Europa, so heißt es, solle sich als Wertegemeinschaft verstehen. Wer Euro- päer sein will, muß sich zu ‚unseren Werten‘ bekennen.“ 20 Doch führe das zu großen Schwierigkeiten, zumal als höchster Wert die Toleranz anderer Überzeu- gungen angesehen werde, während die zu tolerierenden Wertschätzungen als Privatsache behandelt werden. 21 Gibt es überhaupt verbindende geistige Werte, oder Werte mit unbedingtem Geltungsanspruch? Worauf gründen sie, wenn in einer pluralistischen Gesellschaft verschiedene Überzeugungen miteinander konkurrieren? Europa definiert sich über wirtschaftliche und finanzielle „Werte“. 22 Dabei ver- sucht es, verschiedene kulturelle und religiöse Wirklichkeiten unter einem ge- meinsamen Nenner zu vereinen, wobei eine europäische Identität wie selbstver- ständlich vorausgesetzt wurde, ohne sie zu definieren, sie einzufordern oder zu vertiefen. Frank-Walter Steinmeier spricht in diesem Zusammenhang von einer politischen Krise der europäischen Integration, 23 mit der sich eine ethische Krise verbinde. Würden sie nun eingefordert oder neu in den Mittelpunkt gerückt, würde an den Fundamenten einer rein auf materiellen Werten beruhenden „Ein- heit“ gerüttelt, was in einer pluralistischen Gesellschaft ein schweres oder fast aussichtsloses Unterfangen ist, wenn überhaupt ein politisches Bewußtsein dafür vorhanden ist. Zugleich macht die Größe der Herausforderungen deutlich, daß ohne eine Rückbesinnung auf die gemeinsamen Grundlagen die Herausforderun- gen schlicht nicht zu meistern sein werden. Europa befindet sich demzufolge in

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einer Zwickmühle, ein Wettlauf gegen die Uhr hat begonnen. Je mehr die Unsi- cherheit zunimmt und der Bevölkerung nicht vermittelt werden kann, was Euro- pa ist und worin die Werteordnung Europas besteht, werden nationalstaatliche oder nationalistische Tendenzen zunehmen und zu einem Zerfall Europas führen.

Grundlagen europäischer Identität

Dieser Entwicklung wurde bislang nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Durch den Zustrom von Flüchtlingen, die aus anderen Kulturkreisen kommen und ande- re Werte vertreten, ist diese Problematik allgegenwärtig. Europa wird zum Han- deln gezwungen werden. Wenn kein Einvernehmen über grundlegende Men- schenrechte herrscht, wird die gesellschaftliche Ordnung ins Wanken gebracht. Gernot Erler hat darauf hingewiesen, daß große Teile der islamisch-arabischen Welt den „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ nicht ratifiziert haben. Zweimal wurde jedoch von islamischen Staaten der Versuch unternommen, eigene Menschenrechtserklärungen abzugeben, so 1981 die „All- gemeine Islamische Erklärung der Menschenrechte“ und 1990 die „Kairoer Er- klärung über Menschenrechte im Islam“. Darin werden große Unterschiede deut- lich, denn Menschenrechte seien von Gott verliehene Rechte, „die nicht garan- tiert sind, sondern gewährt werden, allerdings unter dem Vorbehalt der Scharia. Das hat, bei der Allgemeinen Erklärung beginnend, bis heute immer wieder zu konkreten Kontroversen geführt, so auch im Bereich der Religionsfreiheit und beim Recht zum Wechsel des Glaubensbekenntnisses, wobei die Scharia dieses Recht nicht anerkennt beziehungsweise als Apostasie sogar mit Strafe be- droht.“ 24 Die europäische Identität und die „europäischen Menschenrechte“ ste- hen auf einer ganz anderen Grundlage, die aber in den letzten Jahrzehnten sträf- lich vernachlässigt worden ist. Daher ist es Zeit, die Frage nach der Identität Europas neu zu stellen. Es kann hilfreich sein, sich einer Wahrnehmung von außerhalb Europas zu be- dienen, um Antworten zu finden. Die Hinweise, die der Papst aus Lateinamerika den Parlamentariern des Europäischen Parlaments in Straßburg im Hinblick auf die aktuelle Situation mitgegeben hat, zeigen eine Alternative auf. Franziskus hat dazu geraten, an den Überzeugungen der Gründungsväter der Europäischen Union festzuhalten. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen stand das Vertrauen auf den Menschen, „und zwar weniger als Bürger und auch nicht als wirtschaftliches Subjekt, sondern auf den Menschen als eine mit transzendenter Würde begabte Person.“ 25 Darüber hinaus erwähnte er die Quelle, aus der diese grundlegenden Menschenrechte hervorgehen: das christliche Erbe. Er nannte die Dinge beim Namen: Europa sei müde und grau geworden. Im Mittelpunkt der politischen Debatten stünden technische und wirtschaftliche Fragen, aber gerade damit ris- kiere man, die Würde des Menschen und die Kostbarkeit des Lebens aufs Spiel zu setzen. Und dennoch gebe es einen Weg, die anstehenden Probleme und Auf- gaben zu bewältigen, wenn Europa „es versteht, in aller Klarheit die eigene kul- turelle Identität vorzulegen und geeignete Gesetze in die Tat umzusetzen, die fähig sind, die Rechte der europäischen Bürger zu schützen und zugleich die Aufnahme der Migranten zu garantieren.“ 26 Nicht alles dürfe sich um Wirtschaft

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drehen, vielmehr gehe es um die „Heiligkeit der menschlichen Person“ und ihrer „unveräußerlichen Werte“. Dabei schwebt dem Papst ein Europa vor, „das mutig seine Vergangenheit um- faßt und vertrauensvoll in die Zukunft blickt, um in Fülle und voll Hoffnung seine Gegenwart zu leben.“ 27 Es werden keine konkreten Problemlösungen vor- geschlagen, denn dies ist Aufgabe der Politiker. Und dennoch wird deutlich gesagt, vor welcher Herausforderung Europa steht: die eigene Identität zu klären, was nur im Zusammenhang mit dem Menschenbild gelingen kann. Europa wird nur dann in der Lage sein, die großen Herausforderungen zu meistern, ein Aus- einanderbrechen und Fundamentalismen zu vermeiden, die Würde des Menschen zu garantieren, Integration von Millionen zu gewährleisten, wenn die gesetzge- benden Instanzen zur europäischen Identität zurückkehren, sie bewahren und als unumstößliche Grundlage vermitteln. Das Leitbild der Gründungsväter, dem sich etwa Konrad Adenauer verpflichtet wußte, ist „das christliche Verständnis vom Menschen als Geschöpf Gottes in seiner Gleichwertigkeit, seiner unverwechselbaren Individualität und Würde sowie seiner Unvollkommenheit.“ 28 Sollten die Quellen versiegen, werden auch die daraus entspringenden Werte sich verflüchtigen. Martin Rhonheimer hat festgestellt, daß die christlichen Quellen die Grundlage für die moderne Säkulari- tät und politische Kultur bilden. Er verband damit die Hoffnung, daß Europa dies wiederentdecken möge. „Dadurch werden wir auch fähig sein, denen, deren kulturelle Herkunft eine andere ist, eine wirkliche Chance der Integration zu bieten: nicht indem wir sie dazu drängen, selbst Christen zu werden, aber auch ohne zu verleugnen, daß unsere säkulare Welt eine reife Frucht der geschichts- wirksamen zivilisatorischen Kraft des Christentums ist, welcher auch das Poten- tial innewohnt, zum globalen Patrimonium einer multikulturellen Welt zu wer- den.“ 29 Dies anzuerkennen und einzufordern würde Europa jene „natürliche“ Grundlage und ein Identität stiftendes Fundament verleihen, durch das Menschenrechte, Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Friede garantiert werden. Dann und nur dann werden die Flüchtlingsströme nicht zur Überforderung, sondern zu einer echten Herausforderung und Bereicherung. Europa wird nur Bestand ha- ben, wenn es von Voraussetzungen lebt, die es kennt, anerkennt und lebt, und zu diesen Voraussetzungen gehört das christliche Gottes- und Menschenbild als Leitkultur Europas.

Anmerkungen 1) Vgl. Eine Million Flüchtlinge registriert, vom 8.12.2015, in: http://www.handelsblatt. com/politik/deutschland/mehr-als-200-000-asylbewerber-im-november-eine-million- fluechtlinge-registriert/12697296.html [20.12.2015]. 2) Vgl. Linda Hinz, Gabriel schockiert mit hoher Zahl, vom 3.11.2015, in: http:// www.focus.de/politik/deutschland/gabriel-schockiert-mit-hoher-zahl-etwa-die-haelfte-der -fluechtlinge-nicht-erfasst-das-grosse-registrierungs-chaos_id_5060441.html [20. 12. 2015].

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3) Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuell Zahlen zu Asyl, Ausgabe Oktober 2015, in: https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/ Statistik/Asyl/statistik-anlage-teil-4-aktuelle-zahlen-zu-asyl.pdf?__blob=publicationFile [20.12.2015]. 4) Vgl. Kriminalität. „Zehn Prozent der Flüchtlinge werden straffällig“, vom 9.11.2015. in: http://www.faz.net/aktuell/kriminalitaet-zehn-prozent-der-fluechtlinge-werden-straf- faellig-13901561.html [20.12.2015]. 5) Muslime warnen vor weiterer ungeregelter Zuwanderung, vom 30.11.2015, in: http://www.noz.de/deutschland-welt/politik/artikel/643264/muslime-warnen-vor-weiterer- ungeregelter-zuwanderung [20.12.2015]. 6) Wolfang Schäuble hat darauf hingewiesen, daß der Gottesbezug seine Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen nicht zuletzt dadurch erweist, „daß er unmittelbare und direkte Folgen für das Menschenbild hat. Die Verantwortung der Menschen vor Gott ist nie losgelöst von der Verantwortung für den Mitmenschen.“ Wolfgang Schäuble, Christliche Werte im religiös-pluralen Gemeinwesen, in: Brun-Hagen Hennerkes / George Augustin (Hg.) Wertewandel mitgestalten, Freiburg i. Br., 32012, 234-247, hier 243. 7) Vgl. Romano Guardini, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, Würz- burg 1954, 65-106. 8) Vgl. J. Ratzinger, Europa in der Krise der Kulturen, in: M. Pera und J. Ratzinger (Hg.), Ohne Wurzeln. Der Relativismus und die Krise der Europäischen Kultur, Augsburg 2005, 63. 9) Dazu schreibt Wolfgang Bergsdorf: „Fortschritt hat kein Maß in sich, erkennt keine Grenzen; jeder Fortschritt erzeugt nicht nur neues Wissen, sondern auch neue Fragen.“ Wolfgang Bergsdorf, Fortschritt und Ethik, in: NO 67 (5/2013) 324-334, hier 331. 10) Vgl. Ralph Weimann, Zwischen Traditionalismus und Modernismus, in: NO 67 (5/2013) 335-347, hier 340f. 11) Vgl. die Studie der Bertelsmann Stiftung: Martin Werding, Familien in der gesetzli- chen Rentenversicherung: Das Umlageverfahren auf dem Prüfstand, in: https:// www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/ GrauePublikationen/GP_ Familien_in_der_gesetzlichen_Rentenversicherung.pdf [20.12.2015]. 12) Vgl. EU-Parlament für Menschenrecht auf Abtreibung, vom 10.3.2015, in: http: //www.idea.de/thema-des-tages/artikel/eu-parlament-fuer-menschenrecht-auf-abtrei-bung- 83173.html [20.12.2015]. 13) Vgl. Ärzteblatt, Bundestag stimmt für Verbot gesetzmäßiger Suizidbeihilfe, vom 6.11.2015, in: http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/64723/Bundestag-stimmt-fuer-Ver- bot-geschaeftsmaessiger-Suizidbeihilfe [12.12.2015]. 14) Johannes Paul II., Enzyklika Evangelium vitae, in: http://w2.vatican.va/content/john- paul-ii/de/encyclicals/documents/hf_jp-ii_enc_25031995_evangelium-vitae.html [12 . 12. 2015], 14. 15) Ebd., 15. 16) Vgl. Franziskus, Europa, wach auf! Die Straßburger Reden des Papstes, Freiburg i. Br. 2014, 25. 17) Ebd. 24f. 18) Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Berlin 1976, 60. 19) Vgl. Joseph Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg i. Br. 2005, 28-33.

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20) Robert Spaemann, Gibt es einen Wertewandel?, in: Brun-Hagen Hennerkes / George Augustin (Hg.) Wertewandel mitgestalten, Freiburg i. Br., 32012, 40-53, hier 40. 21) Vgl. ebd., 41. 22) Vgl. Die Europäische Union, Über die EU. Grundlegende Informationen, in: http://europa.eu/about-eu/index_de.htm [10.12.2015]. 23) Vgl. Frank-Walter Steinmeier, Realismus und Prinzipientreue – Außenpolitik im Zeichen globaler Balancen, in: Brun-Hagen Hennerkes / George Augustin (Hg.) Werte- wandel mitgestalten, Freiburg i. Br., 32012, 82-99, hier 88f. 24) Gernot Erler, Klare Andeutungen. Zum politischen Kontext der Papstrede vor den Vereinten Nationen, in: Benedikt XVI., Eine menschlichere Welt für alle. Die Rede vor der UNO, Freiburg i. Br. 2008, 41-58, hier 52f. 25) Franziskus, Die Rede vor dem Europaparlament, a.a.O., 18. 26) Ebd., 36. 27) Ebd., 39. 28) So beschrieben von: G. Wahler, Christliche Demokratie: Grundsätze und Politikge- staltung, in: http://www.kas.de/albanien/de/publications/22458/ [10.12.2015]. 29) Martin Rhonheimer, Christentum und säkularer Staat. Geschichte – Gegenwart – Zukunft, Freiburg i. Br. 2012, 437.

Ralph Weimann, Dr. theol., Dr. in Bioethik, lehrt an der internationalen Domini- kaneruniversität Domuni, ist Gastprofessor an der Päpstlichen Universität vom Heiligen Thomas von Aquin und an der Päpstlichen Hochschule Regina Aposto- lorum in Rom.

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Felix Dirsch

Relativierung des Universalismus

Zur neuen Attraktivität des Eigenen

Alle relevanten Entwürfe der Ethik-Diskussion nach 1945 sind universalistisch ausgerichtet. Diese Aussage bedarf, insbesondere in Deutschland, keiner Be- gründung. Ein wesentlicher Hintergrund ist natürlich der Verlauf der deutschen Geschichte. Der eminente „Zivilisationsbruch“ ( Dan Diner ) – mit diesem Aus- druck wird die „Zerstörung des moralischen Gefüges der westlichen Welt“ (Hannah Arendt ) schlagwortartig benannt – infolge der NS-Verbrechen, deren Genese in starkem Maße nationalistisch-partikular geprägt ist, fordert eine ve- hemente neue Weichenstellung in allen Bereichen von Kultur und alltäglichem Leben. 1 Natürlich kann der ethische Sektor nicht ausgeklammert werden. Er gilt sogar als besonders gefordert bei der Neuorientierung.

Kritische Theorie

Es ist verständlich, daß ein Intellektueller aus den Reihen der Verfolgten, Theo- dor W. Adorno , sich dazu berufen fühlt, den Kant ’schen Kategorischen Imperativ neu zu formulieren. Er lautet in seiner aktualisierten Fassung: „Hitler hat den Menschen imstande ihrer Unfreiheit einen neuen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe“. 2 Man hat bemerkt, daß diese triviale Ansicht nur ein erster Schritt auf dem Weg zu einem universalistischen Humanismus sein könne. Zu den Möglichkeiten einer Institutionalisierung sagt Adorno wenig. Nicht nur dessen Rezipienten auf der Linken erkennen in diesen unübersehbaren Reserven eine klare Distanz zum bundesrepublikanischen Nachkriegsstaat, der nach Mei- nung vieler Intellektueller Ex-Nazis nach 1945 eine neue Existenz ermöglicht. Erst die Schülergeneration, insbesondere Jürgen Habermas , kann sich vom Duk- tus einer durch und durch pessimistischen Geschichtsphilosophie befreien und zu einer universalistisch-diskursiv grundierten Institutionentheorie vorstoßen. 3 Die- se affirmiert den demokratischen Verfassungsstaat, was nicht zuletzt mit den generationellen Erfahrungen jener zu tun hat, die in den ersten Jahren der Bun- desrepublik als junge Erwachsene sozialisiert werden. Besonders Habermas ‘ Diskursethik steht als hervorstechender Entwurf für die Verwestlichung der deutschen Philosophie, die niemand pauschal ablehnen wird, sind doch etliche Vertreter der Zunft, die vor 1945 par excellence zur deutschen Mandarine zu zählen sind 4, in die Untaten des Nationalsozialismus verstrickt5. Ohne die kapitale, umfangreiche Monographie (in zwei Bänden) des „Philoso- phen der Bundesrepublik“ auch nur annähernd würdigen zu können: 6 Die Schrift geht zwar von deutschen Denktraditionen aus, indem sie Max Webers Deutung

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der Moderne im Sinne einer Differenzierung von Wissenschaft und Kultur (seit der Aufklärung) in Wertsphären übernimmt; zentral für den zweiten Band ist jedoch die positive Rezeption zweier westlicher Theoretiker, eines Franzosen und eines Briten: Emile Durkheim wie George H. Mead stehen um 1900 vor allem für eine neue Legitimation von Normen. An die Stelle sakraler und weltli- cher Autoritäten, die für die Anerkennung von Normen herangezogen werden, stehen für Habermas rational-universalistische Formen der Einigung. Während Weber eine rational begründete Ethik für unmöglich erachtet und in einem viel beachteten Wort vom „Polytheismus der Werte“ spricht, der gleich religiösen Verbindlichkeitsansprüchen niemals konsensfähig sei, hält es Habermas in der Nachfolge Durkheims und Meads sehr wohl für möglich, normative Grundlagen für eine ethische Theorie zu begründen. Im Rahmen einer verständigungsorien- tierten Übereinstimmung, in dem alle Beteiligten einer Norm, die zu beachten ist, zustimmen, ist demnach rationale Legitimation gegeben. Die Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen basiert somit auf mehr als auf strategischem Han- deln. Auch im Umfeld der Frankfurter Schule gibt es gegen den Versuch der normati- ven Begründung der Kritischen Theorie durch Rekurs auf lebensweltliche Ge- wißheit triftige Einwände. Karl-Otto Apel und andere Vertreter des transzenden- talpragmatischen Universalismus beharren auf einer am Begriff der Vernunft ansetzenden Geltungsbegründung. Das Gespräch zwischen den Freunden Apel und Habermas über derartige Probleme dauert bereits Jahrzehnte. Obwohl bis heute umstritten bleibt, ob normative und expressive Fragen einer der Wahrheits- thematik vergleichbaren rationalen Begründung zugänglich sein können, ist Habermas ‘ Theorie des kommunikativen Handelns einer der exzellenten philo- sophischen Entwürfe. Dessen Verfasser bekennt sich auch im großen polithisto- rischen Disput Mitte der 1980er Jahre, dem „Hysterikerstreit“ ( Immanuel Geiss ), zur Wende gen Westen, die seine Generation vollzogen habe.

„Projekt Weltethos“

Im Zuge einer weitreichenden Neuorientierung der deutschen Politik nach 1945 und einer vehementen Abkehr vom (inhaltlich allerdings schwer zu bestimmen- den) „deutschen Sonderweg“ stammen nicht nur vom linken Lager viele univer- salistisch inspirierte Impulse. Sie sind auch in anderen Unterfangen festzustellen. Stärker als die neomarxistischen Denker behält der Tübinger Theologe Hans Küng im Rahmen seines Projektes „Weltethos“ (1990) den globalistischen Rah- men (einschließlich verschiedener religiöser Versatzstücke) im Blick. Vor dem Hintergrund dieses Ansatzes werden die Schwächen der Kritischen Theorie vor- nehmlich im Hinblick auf interkulturelles Gedankengut offenkundig. Ein wesentlicher Grund für diesen Unterschied liegt natürlich in der chronolo- gisch späteren Ausformulierung. Küng verfaßt den Pilotband im Lichte der viel- schichtigen Debatten über Globalisierung in den 1980er Jahren. Die Implosion des Ostblocks um 1990 ermöglicht die Einbeziehung der einst zentralverwal- tungswirtschaftlichen Regionen in das weltumspannende kapitalistische Wirt-

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schaften und bedeutet den Auftakt zu einer neuen Weltordnung, deren Konturen immer noch nicht abschließend erkennbar sind. Das „Projekt Weltethos“ 7, das eine Fülle von facettenreichen Betrachtungen in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen und Kultursachbereichen hervor- bringt 8, ist kein explizit religiöses Unternehmen, schließt aber zumindest das moralische Erbe der großen Weltreligionen ein. Einer der mantraartig vorgetra- genen Küng ’schen Grundsätze lautet nicht von ungefähr: „Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden!“ Auf diese Weise können auch die Differenzen der Welt- religionen ernstgenommen werden, ebenso wie alte Weisheiten der Völker. Le- diglich die erforderlichen Basissätze müssen von allen geteilt werden. Ansonsten existieren die vielfältigen Überlieferungen der unterschiedlichen Religionen weiter. Indem Küng Anleihen bei distinkten Kulturen auf verschiedenen Erdtei- len vornimmt, möchte er einen Universalismus schaffen, der über das westliche Erbe hinausgeht. Die Gleichsetzung „westlich ist universalistisch“ soll in der „Weltgesellschaft“ ( Niklas Luhmann ) vermieden werden. Nur allgemeine Nor- men sind seiner Meinung nach kulturinvariant. Menschenpflichten sollen die bereits verkündeten und kodifizierten Menschenrechte ergänzen. Die weltethische Konzeption findet im Kontext des „Parlaments der Weltreligio- nen“, das 1993 in Chicago zum hundertsten Jahrestag einer Vorgängereinrich- tung tagt, zwar weltweit mediale Resonanz; jedoch ist sie entschieden unterkom- plex. Küng neigt dazu, aus der Not eine Tugend zu machen. Der Inhalt (jeden- falls im Kern) ist dürftig: nicht zu töten, nicht zu stehlen, nicht zu lügen, die Sexualität nicht zu mißbrauchen. Man kann ihn als Ausformulierung der golde- nen Regel verstehen, die in der Tat kulturübergreifend bekannt ist. Die literarischen und philosophischen Wurzeln sind in der Aufklärung zu situie- ren. Insbesondere Gotthold E. Lessings „Ringparabel“ und Montesquieus Persi- sche Briefe sind in wohlbestimmter Hinsicht Vorläufer von Küngs Entwurf 9, der von etlichen Gelehrten aus anderen Disziplinen flankiert wird 10 . Küng gelingt es, seine Beschäftigung mit den Weltreligionen in diese Unternehmung zu integrie- ren und auf diese Weise deren große Verantwortung für den Weltfrieden heraus- zustellen. Auch die Kritik fällt umfangreich aus. Ein wichtiger Einwand ist die mangelnde empirische Fundiertheit. Bei oberflächlicher Betrachtung gibt es natürlich kul- turübergreifende Zustimmung zu Aussagen wie „Gerechtigkeit ist besser als Ungerechtigkeit“. Die Unterschiede in den Kulturen sind indessen mit Händen zu greifen. Auch in dieser Theorie zeigt sich eine – freilich kaum zu umgehende – Kluft: die von Normativität und Faktizität. Globalisierung braucht ein Ethos. Ob sich für dieses aber mehr als allgemeine Anknüpfungspunkte finden, ist zweifelhaft. Auf der postulatorischen Ebene ist Küng kaum zu widersprechen. Küng hat es in den letzten Jahren geschafft, durch hohen finanziellen Aufwand eine weltweite Vernetzung seiner Stiftung zu erreichen. Fraglich ist, ob die Schwierigkeiten dadurch zu bewältigen sind. Nach einem prominenten Verfechter linker Positionen und einem (eher hetero- dox ausgerichteten) katholischen Theologen ist ein liberal-kantianisch orientier-

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ter Gelehrte zu nennen, der sich bereits seit Jahrzehnten mit dem Thema Univer- salismus auseinandersetzt. Gemeint ist der Tübinger Emeritus Otfried Höffe . Modifiziert führt der frühere Inhaber eines philosophischen Lehrstuhles alte Debatten über Weltstaat, Weltrepublik und Weltinnenpolitik weiter. Er will die Vorteile des Weltstaates, die evident sind, etwa die Vermeidung des Globalisie- rungsdilemmas und den Erhalt kollektiver Handlungsfähigkeit, hervorheben, aber dessen Nachteile tunlichst vermeiden. Dazu zählen die Gefahren größerer Konflikte zwischen den zentrifugalen und den zentripedalen Kräften, weiter Überbürokratisierung als auch Machtzentralisierung auf höchster Ebene. In die- ser Abwägung spricht er vom demokratischen Weltstaat und – in sichtbarer An- lehnung an Kant – von der Weltrepublik. 11

Föderale Weltrepublik

Höffe möchte die Demokratie für den übernationalen Rahmen kompatibel ma- chen. Dies kann natürlich nur annähernd geschehen. Dafür will er vornehmlich die Vereinten Nationen weiterentwickeln. Sie besitzen bereits einige Elemente, so daß solche Vorstellungen nicht als Wolkenkuckucksheim abzutun sind, so Höffe . Er zählt vor allem die Charta der Vereinten Nationen auf, die Generalver- sammlung, den Sicherheitsrat, das Amt des UN-Generalsekretärs. So ist es mög- lich, der Generalversammlung die Kompetenz eines Gesetzgebers zu verleihen. Bisher spricht sie nur Empfehlungen aus. Der Sicherheitsrat könnte zu einer zweiten Kammer umgebaut werden, wie sie etwa der Senat in den USA verkör- pert. Die Wahlverfahren zu diesen beiden Organen könnten unterschiedlich sein, wie das gleichfalls in diesem Staat der Fall ist. Höffes Vorschlag ist fundiert untermauert. Seine föderale Weltrepublik fungiert komplementär zum Nationalstaat. Das wohl größte Problem bei der Realisierung dieser gut durchdachten Pläne dürfte die Festlegung der Weltgemeinschaft auf die demokratische Staatsform sein. Was im Westen weithin zustimmungsfähig ist, ist es in anderen Teilen der Welt noch lange nicht.

Menschenwürde

Unabhängig von vielen geistesgeschichtlichen und philosophischen Debatten ist die kopernikanische Wende der deutschen Gesellschaft nach 1945 beispielhaft am Grundgesetz zu demonstrieren. Für den Universalismus steht besonders der Menschenwürde-Artikel am Anfang dieses Gesetzeswerkes und die „Ewigkeits- garantie“ Art. 79 III GG, der einen möglichen Rückfall in vordemokratische und vorrechtstaatliche Zeiten für immer unmöglich machen will. In allen Teilen der Verfassung kann man den Versuch erkennen, dem größtmöglichen Gegensatz zum NS-System zum Durchbruch zu verhelfen. Auch die weitere Interpretation des Grundgesetzes (besonders durch das Bundesverfassungsgericht) geht eindeu- tig in diese Richtung. Die Deutung der Grundrechte im Lichte einer bestimmten Werteauffassung, wie sie das wegweisende Lüth-Urteil des Bundesverfassungs- gerichts schon in den frühen 1950er Jahren vornimmt, steht exemplarisch für den

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Trend, der von Repräsentanten der traditionellen Staatsrechtslehre nicht zufällig kritisch beäugt wird. 12 Die dramatischen Veränderungen des Verhältnisses von Mensch und Tier auf- grund einer Fülle von wissenschaftlichen Forschungen, aber auch neuer Er- kenntnisse bezüglich der Relation des Menschen zu nicht-organischen Objekten (wie dem Computer) führen zu einer heftigen Kontroverse über eine zeitgemäße Ausrichtung der Konzeption von Würde. Besonders der Anthropozentrismus steht mehr und mehr unter Beschuß.13 Im juristischen Bereich exponiert sich der frühere Bundesverfassungsrichter und Staatsrechtslehrer Ernst-Wolfgang Bök- kenförde mit seinem Rekurs auf traditionelle philosophisch-religiöse Fundamen- te (christliches Erbe, Einflüsse Kants ) gegen jüngere Kollegen wie Matthias Herdegen . Deren Ziel ist es, vor dem Hintergrund einer immer größeren Zahl von umstrittenen medizinisch-technischen Neuerungen, etwa PID, möglichst juristische Barrieren zu beseitigen, die bei der Anwendung neuer Methoden eventuell hinderlich sein könnten. Mit der Proklamation der Menschenwürde ist das Bekenntnis zu den „unverletz- lichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft“ aufs Engste verbunden. Die Menschenrechte gelten als institutio- nelle Explikation und Spezifikation dessen, was in der Menschenwürde grundge- legt ist. Sie darf jedoch nicht überdehnt werden. Das geschieht aber, wenn sie als Grundlage für finanzielle Ansprüche uminterpretiert wird. Namhafte Verfas- sungsjuristen wie Josef Isensee warnen davor, die „Menschenwürde als Einla- dungskarte der Willkommenskultur – und als Kreditkarte“ zu betrachten. 14 Freilich wäre es unzutreffend, die Tendenz zu universellen Theorien in praktisch allen Disziplinen ausschließlich in der deutschen Neuorientierung nach 1945 begründet zu sehen. Gründe für den Aufschwung universalistischer Theorien liegen nicht zuletzt in der massiven Zunahme grenzüberschreitender Interaktio- nen im Laufe des 20. Jahrhunderts, gerade im technischen, kommunikativen wie im ökonomischen Bereich. Andere Entwicklungen flankieren diesen Trend. Kann ein so prononcierter Ver- treter deutscher juristischer Traditionen wie Carl Schmitt noch die Bildung des „großen Handlungssubjektes“ Menschheit in Verbindung mit Betrugsabsichten bringen 15 , so sieht der kürzlich verstorbene Soziologe Ulrich Beck in diesem Kollektivsingular einen Überlebensimperativ. Einer der Gründe für diese funda- mentale Kehrtwende ist in der starken technikinduzierten Zunahme des Daseins- risikos zu suchen. 16 Ereignisse in weit entfernten Weltgegenden, etwa ein Kern- kraftunfall, können in einer Distanz von Tausenden von Kilometern zu erhebli- che Auswirkungen führen. Die US-Subprime-Krise bringt hiesige Immobilien- märkte durcheinander. Diese neuen Wirkungen beeinflussen wiederum wissen- schaftliche Diskussionen. In der westlichen Welt hat eine Theorie nur dann das Zeug, zu einer großen und umfassend rezipierten zu werden, wenn sie freiheitlich und universal ausgerichtet ist. Der bahnbrechende Erfolg von John Rawls ‘ Gerechtigkeitstheorie ist nur auf dieser Basis zu erklären, obwohl der Harvard-Gelehrte die Reichweite seines

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Ansatzes insofern einschränkt, als er von einer Theorie für die westliche Welt spricht. Dies schließt freilich deren Universalisierbarkeit ein. Was versteht man unter Universalismus? Unter diesem Begriff ist eine Ethik zu verstehen, die Normen für alle verbindlich machen will, die also für alle gelten sollen. Demgegenüber fordert der moralische Relativismus, hinsichtlich der Generierung grundlegender Gemeinschaftsregeln die partikularen Kontexte zu berücksichtigen. Gemeint sind dabei Lebensbereiche wie Ehe und Familie, aber auch religiöse Kommunitäten, darüber hinaus das eigene Volk und der Staat. Ebenso können „Großräume“ als Widerpart des Universalismus gelten. Beson- ders die dezidierte US-Kritik Carl Schmitts hebt diesen Kontrast hervor. 17 Heute lassen solche staatsübergreifenden Zusammenschlüsse nicht mehr primär kriege- rische oder ethnische Hintergründe erkennen, sondern hauptsächlich kulturelle und ökonomische. Die philosophischen Debatten zwischen universalistischen und partikularisti- schen Ansätzen finden seit der Antike statt. Platon und Aristoteles verteidigen in erster Linie die Polis-Moral. Außerhalb der Polis gebe es nur Götter oder Tiere, spitzt Aristoteles diese Position zu. Für Platon gibt es bekanntlich Strukturaffini- täten zwischen der Polis und dem Kosmos. Ausgangspunkt der Reflexion ist aber das konkrete Gemeinwesen. Mit dem Übergang zur Besiedelung größerer Räume – den Einschnitt markiert der Hellenismus, der infolge der Eroberungen Alexan- ders des Großen anhebt – entstehen theoretische Konstruktionen, die über die griechischen „Stadtstaaten“ hinausgreifen. Die Stoiker preisen das kosmische Urfeuer. Alle Menschen tragen demnach den logos spermatikos in sich, der sie zu Brüdern macht. Das Naturrecht nimmt auf dieser Basis Gestalt an. Bereits die Vorläufer der Stoiker, die Kyniker, propagieren universalistische Grundsätze. Da die Kyniker als Provokateure nur wenige Sympathien genießen, ist ihr Beitrag in der Geistesgeschichte oft unterbewertet. Insgesamt kann man drei Quellen des Universalismus in der Antike ausma- chen: 18 die Stoa (samt Vorläufer), das Christentum und das römische Fremden- recht, das ius gentium . Auffallend ist, daß das frühchristliche Kriterium der Ega- lität, die Gleichheit der Menschen als Kinder Gottes, wie sie wirkmächtig Paulus fordert, und der stoische Kosmopolitismus im Bereich der Tugendethik verblei- ben. Das bedeutet, beide universalistische Varianten unterlassen eine Anwen- dung ihrer Gedankenwelt auf politische, rechtliche und gesellschaftliche Struktu- ren, wie es in den Revolutionen der Neuzeit geschieht. Paulus spricht sich nicht pauschal gegen das Institut der Sklaverei aus, wie der Philemon-Brief belegt. Er will lediglich einige inhumane Konsequenzen mildern. Diese Einrichtung ist so tief in der Kultur der Epoche verwurzelt, daß eine Abschaffung undurchführbar erscheint. Bei einigen Kirchenvätern indessen tauchen solche Vorstellungen auf, die sich jedoch noch etliche Jahrhunderte nicht umsetzen lassen. Von den antiken Kontroversen läßt sich leicht ein Bogen in die unmittelbare Gegenwart schlagen. Rawls ‘ Theorie der Gerechtigkeit von 1971 versucht all- gemeingültige Fundamentalnormen aus einem kulturindifferenten Urzustand abzuleiten. Der darin angenommene, fiktive „Schleier des Nichtwissens“ verbie- tet sogar ausdrücklich die Reflexion über kulturelle Unterschiede. Grundprinzi-

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pien sind Freiheit und Gleichheit, die in der europäischen Staatsphilosophie seit jeher die Hauptrolle spielen. Sie sind für eine kontraktualistische Einigung unab- dingbar.

Kommunitarismus und Universalismuskritik

Dieser famose Auftakt einer modernen normativen Politikphilosophie, die an ältere Konzeptionen, wie an diejenige Kants , anknüpft, aber maßgeblich über sie hinausgeht, bleibt nicht ohne Antwort. Es formiert sich eine heterogene Gruppie- rung, die üblicherweise mit dem Begriff des Kommunitarismus zusammengefaßt wird. So meldet sich in den frühen 1980er Jahren unter anderem der Sozialphilo- soph Michael Walzer zu Wort, der zeigt, daß Gerechtigkeit als ein Phänomen zu verstehen ist, das innerhalb bestimmter Sphären zu verorten ist, nicht aber uni- versalistisch. Andere Repräsentanten dieser Richtung kritisieren besonders das Szenario der erwähnten „original position“. Personenähnliche „Selbste“ ( Michael Sandel ), die gerade nicht als wirklichkeitsbezogene Akteure verstanden werden könnten, verhandelten über Gerechtigkeitsgrundsätze, die durchaus die Realität prägen sollen, aber aufgrund der vorgenommenen Abstraktion keinen Bezug zu dieser erkennen lassen. Rawls steht bei seinen fiktiven Präsuppositionen im Ur- zustand natürlich in einer langen neuzeitlichen Denktradition, die der kanadische Philosoph Charles Taylor in weit ausgreifender Weise nachzeichnet. 19 Rawls - Kritiker wie Alasdair MacIntyre betonen die Bindung von Werten, Loyalitäten, Gesetzen und sofort an partikulare Bereiche wie die Nation. 20 Er mahnt an, die Ethik mit der Seins-Sollens-Schlußfolgerung im Zentrum zu rekonstruieren, nachdem neuzeitliche Destruktionsbemühungen, die er an den Ansätzen von Kant und Hume festmacht, den Bezug von Sein und Sollen verunmöglichen. Folglich liege unter pluralistischen Bedingungen die Ethik in Trümmern, wie er metaphorisch formuliert. Moralische Praxis ist demnach nicht mit theoretischen Mitteln zu etablieren, sondern nur inhärent zu begründen. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die älteren Grundlagen der kommunitaristi- schen Bemühungen in Deutschland zu suchen sind, dort aber als tabuisiert gel- ten. Es wird öfters kolportiert, derartige Konzeptionen hätten nationalsozialisti- sches Gedankengut vorweggenommen. Manche Vertreter dieser Strömung wie der kanadische Philosoph Charles Taylor bekennen sich offen zu ihren Wurzeln. Er beschäftigt sich bereits früh mit einem indirekten Stichwortgeber der amerikanischen Debatte, dem deutschen Philoso- phen Hegel .21 In einer umfangreichen Monographie arbeitet Taylor heraus, in- wiefern Hegels großangelegte Synthese von bleibendem Interesse für unsere Zivilisation ist. Ausdruckseinheit und radikale Autonomie, die im Zentrum der vielschichtigen Lehre Hegels stehen, sind fundamental für neuzeitliches Denken überhaupt. 22 Einer der Schwerpunkte dieser Abhandlung liegt in der Interpretati- on einer der umstrittenen Vorstellungen des „preußischen Staatsphilosophen“: nämlich der Frage, ob und inwiefern der Staat die vollkommene Verwirklichung der Idee der Sittlichkeit ist. Dabei wird das Gemeinwesen untersucht, in dem das Gute als substantieller Teil des Zusammenlebens verwirklicht ist. 23 Ähnliche

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Debatten treiben bekanntlich die Kommunitaristen um, deren Anliegen erst eini- ge Zeit nach Veröffentlichung des Taylor ’schen Traktats bekannt werden. Taylor sieht bei Hegel die entscheidenden Ansätze grundgelegt. Bereits personell, nicht nur inhaltlich sind solche subkutanen Verbindungslinien zu belegen. Einer der Väter des Kommunitarismus, der eher die soziale Praxis analysierende Theoretiker Amitai Etzioni ist unter dem Namen Werner Falk in Köln geboren und aus naheliegenden Gründen mit seinen Eltern aus Deutschland ausgewandert. Vor Jahrzehnten weist er auf diverse negative Folgen der wohl- standsbegründeten Individualisierung hin. Er nennt den Zerfall der Familien, die Desorientierung vieler Jugendlicher, die zu Drogenkonsum, frühen Schwanger- schaften und so weiter führe. Er rechnet solche Konsequenzen dem Liberalismus zu und will ein neues Gemeinschaftsgefühl initiieren helfen. Ein weiterer deutscher Vorläufer der US-Diskussion ist der Soziologe Ferdinand Tönnies, der die klassische Untersuchung Gemeinschaft und Gesellschaft ver- fasst. 24 Sie erscheint noch im Kaiserreich, erlebt aber erst nach dem Ersten Welt- krieg eine sehr starke Rezeption, was mit den veränderten zeitgeschichtlichen Hintergründen zu erklären ist. Das Fronterlebnis bringt eine Stärkung des Ge- meinschaftsgefühls mit sich. In allen weltanschaulichen Milieus breitet sich in den 1920er Jahren eine fundamentale Kritik am Individualismus und der städti- schen Zivilisation aus. Die epochale Schrift des der Sozialdemokratie nahestehenden Gelehrten kontra- stiert die in ihrem Titel genannten Kommunitäten. Gemeinschaft ist das orga- nisch gewachsene Gebilde, das durch Sprache, Sitte und Religion zusammenge- halten wird. Hierbei handelt es sich häufig um starke Ligaturen. Gesellschaft hingegen wird mittels mechanisch-abstrakter Grundzüge konstituiert. Die Bin- dungen, die diesen Typus formen, sind eher schwach. Gesellschaft wird durch Medien wie Geld oder Vertrag stabilisiert. Eingebettet werden diese Formen des Zusammenlebens von Tönnies in einen Abriß der neuzeitlichen Geistesgeschich- te, deren Hauptvertreter tendenziell für die Lockerung von Bindungen verant- wortlich sind. Tönnies zeigt dies besonders am Beispiel von Thomas Hobbes ‘ Theorie vom Gesellschaftsvertrag. Die Tönnies ’sche Dichotomie wird vor allem von konservativen Kulturkritikern im Kaiserreich und in der Weimarer Republik rezipiert. Von den vielen Universalismus- und Egalitätskritikern der deutschen Tradition dürfte Friedrich Nietzsche einer der wirkmächtigsten sein. Seine Kritik der Men- schenwürde, die im Diskurs über Posthumanität in den letzten Jahren Hochkon- junktur erfährt 25 , nimmt die heute oft anzutreffende Skepsis über die christlichen und humanistischen Konnotationen des Würdebegriffes vorweg. Nietzsche lehnt nicht zuletzt die Sonderstellung des Menschen ab. Nach Meinung von etlichen Experten bedürfen der Menschenwürde-Begriff und seine vielfältigen Implika- tionen in der Gegenwart einer Transformation. Diese soll dazu führen, Men- schenwürde als etwas Graduelles, nicht als etwas Absolutes zu propagieren. Es überrascht ein wenig, daß die Zäsur des Nationalsozialismus, die auch an der Nietzsche -Exegese nicht spurlos vorübergeht, im Posthumanismus-Diskurs keine große Rolle zu spielen scheint.

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Dieser philosophische Hauptstrom, von dem einige Vertreter herausgegriffen worden sind, kann nicht verdecken, daß auch in der deutschen geistesgeschicht- lichen Tradition der Aufklärung der Universalismus großgeschrieben wird. Die wohl unvermeidbare Wende, die sich bald nach 1945 abzeichnet, kann also an ältere Vorbilder anschließen. Von den vielen Vertretern dieses Zeitalters ragen Lessing und Kant heraus. Letzterer hebt die Bedeutung der Menschheit bekannt- lich in einer Formulierung seines berühmten kategorischen Imperativs hervor. Freilich ist es ein grober Mißbrauch des Königsberger Denkerfürsten, wenn man den überall grassierenden Moralismus auf ihn stützt. Dieser hat nichts mit der Kant’ schen Moralität zu tun, die als Triebfeder der Sittlichkeit fungieren soll, die für das Recht unabdingbar ist. Für Kant ist Politik „ausübende Rechtslehre“, wie ein Rezipient Kants , der Staatsrechtslehrer Karl-Albrecht Schachtschneider , nicht müde wird herauszustreichen. Gerade in der Schrift Zum Ewigen Frieden ist eine geflissentlich übersehene Grenze des Universalismus markiert. Der Ver- fasser differenziert im Rahmen seiner Vorstellungen zum „Weltbürgerrecht“ zwischen Besuchs- und Gastrecht. Ersteres sei allen Bürgern zuzubilligen, Letz- teres jedoch nicht. Kant möchte keine kolonialistischen Bestrebungen rechtferti- gen. Nicht selten okkupieren imperiale Mächte Regionen, deren Bewohner sie unterjochen, und berufen sich auf das Gastrecht. Das grundsätzliche Aufenthalts- recht jedes Menschen überall auf der Welt, das von Kosmopoliten manchmal gefordert wird, bedeutet in seiner Konsequenz die Aushöhlung der staatlichen Souveränität.

Rationaler Kern des Partikularismus

Solche leuchtenden Beispiele deutscher Geistesgeschichte hochzuhalten, muß indessen nicht bedeuten, der Verwestlichung, Universalisierung und Europäisie- rung der Bundesrepublik einen religionsähnlichen Status einzuräumen, wie das die Historiographie der unmittelbaren Gegenwart öfters tut. 26 Gleichfalls werden heute die Konsequenzen deutlich, die aus der Überspitzung dieser Neuorientie- rung resultieren. Zu diesen zählen die ungerechtfertigten Belastungen Deutsch- lands im Zuge der EU-Finanzumverteilungen der letzten Jahre 27 , weiter negative Entwicklungen im Globalisierungsprozess 28 , der zuletzt häufig als Grund für das faktisch fehlende deutsche Grenzreglement im Hinblick auf den Flüchtlingsan- drang herhalten muß. Diese Beispiele können helfen, das zu verdeutlichen, was man als „rationalen Kern des Partikularismus“ umschreiben kann. 29 Gruppen, deren Mitglieder in der Regel untereinander stärker verbunden sind (etwa durch die gemeinsame Spra- che, durch gemeinsame Erinnerungen und durch signifikante Mentalitäten im Wirtschaftsbereich) fördern häufig bestimmte Verhaltensweisen. Diese Präferen- zen dürften biologisch bedingt sein. Angehörige der eigenen Familie stehen einem normalerweise näher als Fremde. Für Ehepartner gibt es eine wechselsei- tige Einstandspflicht, die außerhalb so nicht existiert. Weiter ist auf Praktiken der Solidarität hinzuweisen. Ein klassisch-universalistischer Liberaler wie Friedrich von Hayek betont mehrmals, daß die Bejahung von Umverteilung sinkt, falls ein einigermaßen homogener, umfassender Wirtschaftsraum die nationalen Grenzen

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überschreite. 30 Mit den einheimischen Kumpels im Bergbau dürften die meisten Deutschen lieber solidarisch sein als mit griechischen Kleinbauern. Auch die Rechtsstaatlichkeit korrespondiert in nicht geringem Maße mit den nationalen Grenzen. Das muß nicht heißen, daß ein Internationaler Strafgerichts- hof, der jedoch nur eingeschränkt arbeitsfähig ist, gar keine Berechtigung hat. Jedoch neigen international besetzte Gerichte wie der EuGH dazu, die Gestal- tungsmöglichkeiten der Einzelstaaten zu beschneiden, während dem Grund- rechtsschutz eher sekundäre Bedeutung beigemessen wird. Der EuGH versteht sich primär als „Motor der Integration“. Es ist nicht vorstellbar, daß diese Ein- richtung vergleichbar viele Anordnungen der EU-Behörden für verfassungswid- rig erklärt wie das deutsche Bundesverfassungsgericht solche des deutschen Gesetzgebers. Entsprechend mühsam versucht es sich in den letzten Jahren ge- genüber dem übermächtigen Bruder zu behaupten. Vergleichbares läßt sich über demokratisches Prozedere feststellen. Carl Schmitts häufig kritisierte Aussage, Demokratie fordere wenigstens eine relative Homogenität der Bevölkerung, ist keineswegs ein völkisches Credo. Auf dieses Postulat insistiert nicht zufällig einer der wirkmächtigsten Theoretiker der Volksherrschaft, der jedoch diese Staatsform differenziert behandelt: Jean- Jacques Rousseau . In diesem Punkt ist er einer der Vorläufer Schmitts . Der in den meisten Ländern Europas längst im Gang befindliche Bevölkerungsaus- tausch 31 , der sich aller Wahrscheinlichkeit nach in gesteigertem Tempo fortset- zen und wohl eine noch größere Zahl von parallelgesellschaftlichen Strukturen generieren wird, dürfte im Laufe der Jahre das demokratische Agieren nachhaltig erschweren.

Migration und Identität

Weitere negative Folgen der Verabsolutierung des Universalismus und eines damit oft einhergehenden Humanitarismus liegen auf der Hand. Geschlossene Grenzen leisten einen Beitrag zum Erhalt der von der eigenen Nation produzier- ten Werte, die im Bruttoinlandsprodukt erfaßt werden können. Die Wirtschaft kennt die substantielle Regel der Knappheit ökonomisch relevanter Güter. Ihre massive Verteilung beispielsweise an immer mehr Migranten kann die Konse- quenz zeitigen, daß sie Einheimischen vorenthalten werden müssen. Die ver- mehrten Meldungen über Entmietung von Einheimischen in den letzten Monaten sind exemplarisch zu erwähnen, ebenso die zunehmende Knappheit bei „Tafel“- Lebensmitteln. Die Erfahrungen mit multikulturellen Wirklichkeiten sind für solidaritätsfreudige Kräfte eher entmutigend. Die USA gelten seit jeher als weni- ger umverteilungsliebend im Vergleich zu manchen europäischen Ländern. Auch weitere Identitäts- und Strukturmerkmale der Bundesrepublik wie anderer westlicher Verfassungsstaaten sind in hohem Maße kulturell geprägt. Maßgebli- che Grundsätze des deutschen Verfassungsrechts wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau und die Religionsfreiheit dürften in der herkömmlichen Form kaum aufrechtzuerhalten sein, wenn muslimische Teile immer mehr die Oberhand gewinnen. Gelingt es nicht, den prognostizierten Familiennachzug zu

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verhindern, dürfte sich die aktuell spürbare Verfassungskrise zu einer veritablen entwickeln. Unter den medial beachteten Gerichtsurteilen des Jahres 2015 sollte eines, das das Amtsgericht Passau fällt, besonders hellhörig machen. Ein festge- nommener serbischer Schlepper wird nur zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die offizielle Politik der Bundesrepublik, so pointiert der zuständige Richter, habe die Rechtsordnung an der Grenze faktisch suspendiert. Die Folgen dieser verfehlten Politik werden überall diskutiert. Zwar besteht über weitreichende Veränderungen der Bundesrepublik infolge des Flüchtlingszu- stromes Konsens. Freilich könnten die Wandlungsprozesse weiter gehen, als manchem lieb ist, der sie grundsätzlich befürwortet. Die politisch progressiven Neigungen der meisten Neubürger sind, wie einige kluge Beobachter bemerken, eher gering ausgeprägt. Angesichts einer derartigen Situation, die hier natürlich nur sehr holzschnittartig skizziert werden kann, verwundert es nicht, daß das Eigene und Partikulare wieder stärkere Aufmerksamkeit finden. Hier läßt sich an ältere Vorbilder vor 1945 anknüpfen. Dieser sich abzeichnende Trend verlangt nach weiter ausgreifenden, kulturkritischen Analysen. Oswald Spenglers Bestseller (und pessimistischer Stichwortgeber bis zum heuti- gen Tag) über den Untergang des Abendlandes mag manchem zu pathetisch aufgeladen erscheinen und historisch mißbraucht. Man kann einigen biologi- schen und deterministischen Passagen durchaus kritisch gegenüberstehen. Aber es ist nicht gesagt, daß die Prophezeiung nicht in folgenreicher Weise Wirklich- keit werden könnte. Der Berliner Publizist Frank Lisson , der sich schon einige Zeit mit Spengler beschäftigt, versucht, seinen bedeutenden Vorläufer weiterzudenken. 32 Im Mit- telpunkt von Lissons Überlegungen steht der verbreitete Selbsthaß in Europa, der sich in Deutschland sogar in gesteigerter Form findet. Frankreich hadert mit seiner kolonialen Vergangenheit. Auch hier sind die offenkundigen Entwicklun- gen in Richtung Multikulturalismus mental nicht zu trennen von diesem integra- len Teil der eigenen Geschichte. Viele Intellektuelle erheben im Anschluß an Jean-Paul Sartre Frantz Fanons Anklageschrift zum Kultbuch. 33 Lisson fragt, warum diese Tendenz gerade im Abendland beträchtliche Kräfte mobilisiert, obwohl der „okzidentale Rationalismus“ lange Zeit Siegesstürme ohne Ende zu feiern scheint. Nicht zuletzt der Säkularismus läßt manche Begeisterung früherer Tage erlahmen, wenngleich der Agnostiker Lisson darauf nicht eingeht. Basale kulturelle Grundtexte der Gebildeten und darüber weit hinaus, wie einst Homer und die Bibel, können heute nicht mehr identitätsprägend sein. Lisson arbeitet heraus, inwieweit der tendenziell traditionsfeindliche Dekon- struktionsprozeß der Moderne das heutige Vakuum hervorgebracht habe, das auf die Frage „Wer sind wir?“ offensichtlich wird. Das ist umso leichter, als Europa partiell eine „exzentrische Identität“ ( Remi Brague ) besitzt, diese also quasi hat importieren müssen. Er sieht den Selbsthaß weniger als Folge, wie oft behauptet, sondern als Grund für die zurückliegenden Katastrophen. Diese Ersatzidentität – als solche gilt manchem auch der Holocaust – bleibt ein Charakteristikum euro- päischen Denkens. Große Alternativen zum jetzigen Zustand sind weit und breit nicht in Sicht. Wenngleich Lisson sich manchmal zu sehr in rein geisteswissen-

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schaftliche Konstruktionen versteigt, ist der Entwurf doch wichtig zum Ver- ständnis eines fast völlig unbearbeiteten Feldes. Der Autor unterschätzt soziolo- gische Phänomene wie die Entstehung des Massenwohlstandes in den Jahren des europäischen Wirtschaftswunders, der allein in der Lage ist, Moralismus in gro- ßem Stil hervorzubringen. Durch die wirtschaftlichen Möglichkeiten wird der Individualismus verstärkt und die Ablösung von früheren Generationen erleichtert. Solche familieninternen wie öffentlichen Auseinandersetzungen finden nicht nur in den 1960er Jahren statt, als eine von Krieg und Terrorregime unbelastete Generation heranwächst. Sie können vielmehr sogar als Schlüssel zur Erklärung der neuzeitlichen Geschichte gelten. 34 Der Rückblick der Jüngeren erfolgt aus Abgrenzungsgründen immer im Zorn. Der Selbsthaß Europas ist die Reaktion der Nachgeborenen auf das Selbst- bewußtsein früherer Generationen, das erst durch den Abstieg Europas seit dem frühen 20. Jahrhundert einen Dämpfer bekommt. Evident ist die kulturelle Erschöpfung, die seit der Mitte des letzten Jahrhunderts immer mehr hervortritt. Die überall feststellbare Unfähigkeit, kulturelle Präge- kräfte und genuin-regionales Brauchtum zu verteidigen, mögen sie auch rand- ständig erscheinen wie die Feiern von Heiligen-Gedenktagen in öffentlichen Kindergärten und Schulen oder die Beibehaltung des Namens „Weihnachts- markt“ (statt neutral „Wintermarkt“), fördert Tendenzen in Richtung Abschaf- fung und Auflösung. Stärker essayistisch nähert sich der Wiener Publizist und Buchautor Martin Lichtmesz der Problematik an. 35 Besonders wendet er sich gegen die Tendenz, das Eigene abzuwerten. Heimat ist für ihn ein existentieller Rückzugs- und Re- generationsraum. Groß ist bei den Deutungseliten der Drang nach Selbstaufgabe, der befördert wird durch den verbreiteten Trend der Müdigkeit, Passivität und Lethargie. Große Demonstrationen finden nicht gegen die Islamisierung statt – die relativ wenigen werden vom medialen und politischen Establishment mit allen Registern der Anfeindung und Diffamierung bekämpft –, sondern gegen den – vom Menschen ohnehin nur in geringem Maße zu tangierenden – Klima- wandel, weiter werden regionale Projekte wie der Bahnhof „Stuttgart 21“ heftig befehdet. Das von Lichtmesz mehrfach angesprochene, zunehmend existentielle Thema der Identität wird in letzter Zeit öfters präzisiert. Überall hört man von Schutzsu- chenden. Der Jurist Wolfgang Hetzer stellt hingegen Überlegungen zum Schutz des deutschen Volkes an. 36 Er arbeitet heraus, daß der Verfassungsstaat der na- tionalen Identität bedürfe. Dieser Begriff ist zwar nicht leicht genauer zu fassen. Konkret läßt sich sehr wohl belegen, daß immer größere islamische Kontingente die Werteordnung des Grundgesetzes bedrohen. Die behördlich lizensierte „In- vasion“ führt zur Aufwertung der Mitmenschlichkeit „ohne Rücksicht auf physi- sche und psychische Grenzen“ der angestammten Bevölkerung 37 , deren erwirt- schaftete Ressourcen immer mehr verbraucht werden. Es muß kaum daran erin- nert werden, daß der verfassungsändernde Gesetzgeber die universelle Reichwei- te der Aussage des Artikels 16 GG „Verfolgte genießen Asyl“ 1993 maßgeblich einschränkt. Über einen sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Einreisende

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verlieren demnach den Anspruch auf Asyl. Illegale Migranten sind nach Art.18 Abs.3 des AsyG sogar wieder zurückzuschieben. Tatsächlich jedoch hat der Bundesinnenminister vor Monaten bereits eine Ausnahmeregelung nach Art.18, Abs.4 AsyG in Kraft gesetzt, die eine (wohl temporär beabsichtigte) zeitweise Aufnahme von Flüchtlingen selbst nach Überquerung eines sichereren Drittstaa- tes gestattet. Asyltourismus ist danach auf der grundgesetzlichen Ebene praktisch ausgeschlossen, wird jedoch durch entsprechende Verwaltungsanordnung er- möglicht. Eine solche rechtliche wie politische Praxis ist Ausdruck einer tief kulturell verankerten „Verachtung des Eigenen“ ( Lisson ). Die Revision derarti- ger Mentalitäten ist eine Frage des Überlebensinteresses nicht nur des deutschen Volkes, sondern ebenso der europäischen Nachbarstaaten. Ein „Hippie-Staat“ ( Anthony Glees ), der hauptsächlich der Emotionalität und nicht dem Recht verpflichtet ist, steht weithin für Chaos und Anarchie. Er negiert letztlich alle Traditionen deutscher Rechtsstaatlichkeit. An deren Stelle ist eine Moralrepublik getreten, die für Unsicherheit und Willkür sorgt. Eine Führungs- rolle für Deutschland in Europa zu reklamieren, wird daher zukünftig schwierig sein. Die heftigen Einwände vor allem osteuropäischer Staatsmänner von Václav Klaus über Viktor Orban und Richard Sulik bis Donald Tusk sollten zu denken geben. Resümierend ist festzustellen: Die grundsätzliche Wende zum Universalismus in allen Bereichen der Wissenschaft nach 1945 sowie in Grundgesetz und Gesamt- kultur ist in toto als zustimmungsfähig zu bewerten. Die religionsähnliche Glori- fizierung von Verwestlichung, Europazentralisierung und zunehmender nationa- ler Selbstaufgabe hingegen, die sich zuletzt in der Flüchtlingskrise gleich einem Brennspiegel zeigt, bringt das eigene Land mehr und mehr in die Bredouille und zehrt die eigenen Ressourcen über kurz oder lang auf. Das Bedürfnis, zu klären, was deutsch sei, steigt in letzter Zeit wie auch die Beantwortung der Frage: Was macht die spezifische Tradition Europas aus? Die selbstmörderischen Tendenzen infolge von Negierung und Verleugnung des Eigenen sind überaus klar zu er- kennen. Man darf hoffen, daß sich das bekannte Hölderlin -Zitat, daß in der Not das Rettende wachse, auch in der jetzigen, so schwierigen Situation bewahrhei- tet.

Anmerkungen 1) Wichtige Hintergründe und ein Abriß der vielfältigen Konsequenzen finden sich bei Rolf Zimmermann: Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral in Politik und Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 2005. 2) Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1975, S. 358; zur Einbettung der Ethik in Adornos Gesamtwerk (einschließlich einer ausführlichen Würdigung) vgl. Günter Schweppenhäuser: Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Hamburg 1993. 3) Besonders lesenswert: Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Dis- kurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, 4. Auflage, Darmstadt 1994. 4) Fritz K. Ringer: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, Stuttgart 1983.

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5) Siehe etwa die zahlreichen und z.T. äußerst undifferenzierten Debatten über Rolle und Verhalten Martin Heideggers im Dritten Reich; vgl. als eine der vielen Schmähschriften Emmanuel Faye: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie. Im Umkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und1935, Berlin 2009. 6) Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde, Frankfurt a.M. 1981. 7) Vgl. Hans Küng: Projekt Weltethos, 5. Auflage, München/Zürich 1993; im Anschluß daran entsteht eine üppige Literatur, etwa ders.: Weltethos in Weltwirtschaft und Weltpo- litik, München 1997; zusammengefaßt ist die Unternehmung nach Inhalt und Literatur über zwei Jahrzehnte nach ihrem Anfang bei ders.: Handbuch Weltethos. Eine Vision und ihre Umsetzung, München/Zürich 2012. 8) Vgl. lediglich die interdisziplinären Beiträge in: Hans Küng/Karl-Josef Kuschel (Hg.): Wissenschaft und Weltethos, München/Zürich 1998. 9) Analysiert in den Aufsätzen des folgenden Sammelbandes: Die Ringparabel und das Projekt Weltethos, herausgegeben von Hans Küng, Karl-Josef Kuschel und Alois Riklin, Göttingen 2010. 10) Als Beispiel ist anzuführen: Hans-Martin Schönherr-Mann: Miteinander leben lernen. Die Philosophie und der Kampf der Kulturen. Mit einem Geleitwort und einem Essay „Leitlinien zum Weiterdenken“ von Hans Küng, München/Zürich 2008. 11) Otfried Höffe: Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, hier S. 227; zu den Argumenten für und wider die Weltrepublik vgl. ders.: Wirtschaftsbürger – Staatsbürger – Weltbürger. Politische Ethik im Zeitalter der Globalisierung, München 2004, S. 163-171; zur Auseinandersetzung mit Höffes Thesen vgl. beispielsweise Karl- heinz Nusser: Analoger Kosmopolitismus, in: Die neue Ordnung 69 (Oktober 2015), S. 324-335. 12) Stellvertretend für seine Schule vgl. Carl Schmitt: Die Tyrannei der Werte. Mit einem Nachwort von Christoph Schönberger, 3. korr. Auflage, Berlin 2011. 13) Vgl. die aufschlußreichen Beiträge bei Beatrix Vogel (Hg): Umwertung der Men- schenwürde – Kontroversen mit und nach Nietzsche. Mit einem Vorwort von Michael von Brück, Freiburg/München 2014. 14) So kurz vor Weihnachten 2015 auf einer Sondertagung des Schönburger Kreises in Berlin, der Verfassungsjuristen versammelt; vgl. den Bericht: www.faz.net/aktuell/politik/ fluechtlingskrise/fluechtlingskrise-staatsrechtler-beklagen-deutsche-sondermoral-1397202 1.html (abgerufen am 20.12.2015). 15) Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen (EA 1932), Berlin 1963, S. 55. 16) Ulrich Beck: Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Bonn 2007. 17) Leicht greifbar bei: Carl Schmitt: Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969. Herausgegeben, mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke, Berlin 1995. 18) Sibylle Tönnies: Der westliche Universalismus: eine Verteidigung klassischer Posi- tionen, Opladen 1995. 19) Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, 8. Auflage, Frankfurt a.M. 1996. 20) Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, 6. Auflage, Frankfurt a.M. 1995. 21) Charles Taylor: Hegel. Übersetzt von Gerhard Fehn, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 1993.

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22) Vgl. ebd., S. 79. 23) Vgl. ebd., S. 575. 24) Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirische Kulturformen, Erstauflage, Leipzig 1887 (viele weite- re Auflagen). 25) Vgl. zu Nietzsches Stellungnahme und zur gegenwärtigen Rezeption die viel disku- tierte Arbeit von Stefan Lorenz Sorgner: Menschenwürde nach Nietzsche. Die Geschichte eines Begriffs, Darmstadt 2010. 26) Als „Berge“ dieser Tendenz sind anzuführen: Heinrich-August Winkler: Der lange Weg nach Westen, 2 Bde, München 2000 f.; Axel Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1999. 27) Zusammengefaßt bei Felix Dirsch: Am Ende des Weges. Der Westen und wir, in: Junge Freiheit vom 13.07.2012, S. 18. 28) Jost Bauch: Der Niedergang Deutschlands in der globalisierten Welt. Schriften wider den Zeitgeist, Graz 2010. 29) Anregungen verdanke ich besonders den Hinweisen bei Lothar Fritze: Grenzen des Universalismus. Über die Legitimität des Eigenen, in: Tumult. Vierteljahresschrift für Konsensstörung (Winter 2015/16), S. 66-69. 30) Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalis- mus, Kindle-Ausgabe, Pos. 1572. 31) Renaud Camus: Revolte gegen den Großen Austausch, vorauss. Schnellroda 2016. Diese Parole macht sich die Identitäre Bewegung Europas zu eigen, die sich besonders in Frankreich formiert und von dort in etliche andere Länder Europas ausstrahlt. 32) Frank Lisson: Die Verachtung des Eigenen. Ursachen und Verlauf des kulturellen Selbsthasses in Europa, Schnellroda 2012. 33) Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde, Frankfurt a.M. 1966. 34) Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne, Frankfurt.M. 2014, der den spezifischen, nicht selten in Blutbä- dern endenden Abnabelungsprozeß der Söhne und Töchter von den Älteren als Quintes- senz der Moderne herausstellt. 35) Martin Lichtmesz: Die Verteidigung des Eigenen. Fünf Traktate, 4. Auflage, Schnell- roda 2015. 36) Wolfgang Hetzer: Wer schützt das deutsche Volk? Überlegungen zum Grundgesetz, in: Tumult (wie Anm. 29), S. 11-16. 37) Ebd., S. 15.

Prof. Dr. phil. Felix Dirsch lehrt Politikwissenschaft an der Universität „Pro- gress“ in Gjumri (Arm.) und ist Lehrbeauftragter für den Fachbereich „Politi- sche Theorie“ an der Hochschule für Politik (München).

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Bericht und Gespräch

Bernd-M. Wehner

Dem Zeitgeist anpassen?

Zum Einfluß der Christen in Gesellschaft und Politik

Der Wind des Relativismus bläst der Kirche mächtig um die Ohren. Bei vielen Themen steht die Kirche quer zum Zeitgeist: Lebensschutz, Unauflöslichkeit der Ehe, Frauenordination, Zölibat, um nur ein paar Reizthemen zu benennen. Viele Katholiken meinen deshalb, Kirche müsse sich dem Zeitgeist anpassen, sonst laufe sie Gefahr, in die Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Wenn das aber so wäre, müßte die Evangelische Kirche ganz groß herauskommen. Der Augsburger Bischof Konrad Zdarsa hat zu Recht gesagt: „Wehe der Kirche, die sich dem Zeitgeist anpaßt.“ 1 Wenn aber die Kirche sich davon abhängig macht, was die Mehrheitsmeinung ist, dann gibt sie Theologie und Offenbarung als eigene Erkenntnisquellen preis. Nicht umsonst hat die Evangelische Kirche in ihrem Stuttgarter Schuldbekennt- nis vom Oktober 1945 beklagt, „daß wir - nicht mutiger bekannt, - nicht treuer gebetet, - nicht fröhlicher geglaubt und - nicht brennender geliebt haben.“ Wir kennen den Spruch „Der Weg ist das Ziel.“ Eine nett klingende, aber unsin- nige Richtungs-Vorgabe. Heute scheinen sich immer mehr Menschen bei Ziel- fragen nicht an eigenen Absichten oder Vorstellungen, sondern am Zeitgeist zu orientieren. Sie vertrauen der Maxime: Wenn’s viele tun, muß die Richtung stimmen. So wird der Mainstream zum Richtungsgeber für Herr und Frau Je- dermann. Sie geben ihrem persönlichen Navi die Zielkoordinaten der Masse ein, schalten auf ‚Auto-Pilot“ und schon geht’s los, wohin auch immer. 2 Leider sind aber auch die heutigen Christen vielfach nur ein Spiegelbild unserer Gesellschaft, die sich dem Zeitgeist anpassen. Gleichzeitig stellen wir fest, daß die Mitgliederzahlen bei den Parteien, Gewerkschaften, Verbänden usw. immer geringer werden. Niemand will sich mehr binden. Die entscheidende Frage ist aber: Wollen wir uns damit abfinden oder sehen wir diese Situation als Heraus- forderung an? Wir haben schon eine paradoxe Situation: - Wir wollen einerseits frei und unabhängig sein, gleichzeitig suchen wir Zusammenhalt und Geborgen- heit. - Wir wollen alles genießen und das möglichst sofort und merken doch, daß wir dadurch nicht zufriedener sind. - Wir beklagen den Werteverlust, schwim- men aber vielfach mit dem Strom. - Wir kritisieren die Gier der Manager, reiten aber auf der „Geiz-ist-geil-Mentalität“ mit. - Wir fordern von den Politikern mehr Mut zu unpopulären Entscheidungen, wählen sie aber nicht, wenn sie Sparmaßnahmen beschließen, von denen wir selber betroffen sind.

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Kurzum, wir stellen fest, es sind ja nicht nur die anderen, die in die falsche Rich- tung laufen. Wenn wir ehrlich sind, auch wir ertappen uns dabei – jedenfalls hin und wieder. Stichworte wie - Finanz- und Wirtschaftskrise, - mangelnde Ethik in der Wirtschaft, - Schutz des Sonntags, - Stellenwert von Ehe und Familie, - Schutz des menschlichen Lebens, - Wertewandel, - Glaubensschwund und - neuer Atheismus zeigen, in welche Richtung sich unsere Gesellschaft bewegt. Von daher wird auch deutlich, daß wir unsere Einstellungen ändern müssen. Wir kommen jedenfalls nicht weiter mit Selbstverwirklichung statt Opferbereitschaft, - mit schrankenlosem Egoismus statt verantworteter Freiheit, - mit der freien Verfügung über ungeborene, behinderte, kranke und alte Menschen statt einem bedingungslosen Schutz des menschlichen Lebens in allen seinen Phasen und - mit Zusammenleben nach Lust und Laune statt Ehe und Familie. Das Schwinden der Bekenntnisbereitschaft entspricht Elisabeth Noelle- Neumanns Theorie der „Schweigespirale“. Danach wollen Menschen sich nicht isolieren, beobachten ständig ihre Umwelt und registrieren aufs Feinste, welche Werte, Meinungen und Verhaltensweisen zu- und welche abnehmen. Wer den Eindruck hat, daß seine Einstellung an Boden verliert, verfällt zunehmend in Schweigen: Anhänger der (vermeintlichen) Mehrheitsmeinung bekommen „Oberwasser“ und exponieren sich umso ungehemmter, mit dem Ergebnis daß sie schließlich noch stärker erscheinen, als sie tatsächlich sind. 3 Deshalb müssen wir als Christen viel offensiver dafür plädieren, daß christliche Wertvorstellungen in Staat und Gesellschaft, in Wirtschaft und Arbeitswelt mehr und mehr verwirklicht werden. Nicht weil wir überheblich sind, sondern weil es einfach besser ist. Schließlich lebt der freiheitliche säkularisierte Staat von Vor- aussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann, wie es der Staatskirchenrecht- ler und ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde for- muliert hat. Kurzum: Unser Christsein muß sich im Alltag bewähren, das heißt im Beruf, in der Familie und in der Gesellschaft. Christlicher Glaube darf sich nicht auf das „Religiöse“ beschränken. Oder um es mit Anne Frank zu formulie- ren: „Wie herrlich ist es, daß niemand eine Minute zu warten braucht, um damit zu beginnen, die Welt zu verändern.“

Katholische Soziallehre – unser bestgehütetes Geheimnis

Dabei haben wir Schätze, die wir vergraben, anstatt mit ihnen zu wuchern. Einer davon ist die Katholische Soziallehre – unser bestgehütetes Geheimnis. Schließ- lich suchen gerade in der heutigen Zeit, in der vielfach aus Gleichgültigkeit alles gleich gültig erscheint, die Menschen Orientierung. Als Christen können wir ihnen diese Orientierung geben. Wir haben ein Menschenbild, das ohnegleichen ist. Denn nur wenn man den Menschen als Ebenbild Gottes sieht, kann man seine menschliche Würde wirklich begründen und sie ohne Wenn und Aber verteidi- gen. Denn sie ist keine Erfindung des Menschen, die bei Bedarf mehrheitlich geändert oder gar abgeschafft werden kann. Insofern sollten auch Menschen, die nicht an Gott glauben, froh sein, daß auch ihre Menschenwürde durch dieses christlich geprägte Bild geschützt wird.

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Aber das muß auch Konsequenzen im Alltag haben. Für jeden persönlich, für eine Gesellschaft und erst recht für einen Staat und seine Gesetzgebung. Und die Katholische Soziallehre bietet hierfür eine verläßliche Orientierung für die Lö- sung der wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen unserer Zeit. Papst Franziskus hat zu Recht an die Politik appelliert, die Katholische Soziallehre mit ihrem ganzheitlichen Menschenbild stärker zu beachten. Sie müsse besonders für Ka- tholiken der Kompaß sein. Es müßten deshalb verstärkte Anstrengungen unter- nommen werden, um den Gläubigen die Soziallehre zu vermitteln. 4 In unserem KKV-Positionspapier zum Gesprächsprozeß „Als Kirche wirken. Mitten im Leben.“ haben wir unter Punkt 4 „Katholische Soziallehre in heutige Sprache übersetzen“ genau das gefordert: „Die Botschaft der katholischen Sozi- allehre ist zeitlos und auch heute aktuell. Allerdings muß sie in die heutige Spra- che übersetzt und interpretiert werden. Die Texte der Sozialenzykliken aber sind für viele Menschen heute schwer verständlich, teils kryptisch oder antiquiert. Wir schlagen vor, die Kernaussagen der katholischen Soziallehre in eine Sprache zu übersetzen, die den Menschen von heute besser anspricht und sich an den beruflichen Lebenswelten orientiert. Konkret: Das ‚Kompendium der Soziallehre der Kirche‘ sollte ähnlich wie der ‚Katechismus für Jugendliche – Youcat‘ als ‚praktischer Leitfaden für Jedermann‘ übersetzt und herausgegeben werden.“ Bernhard Meuser , der Herausgeber von YOUCAT, hat diese Idee aufgegriffen und ist bereits konkret dabei, dieses Anliegen in Form eines DOCAT zu erstel- len. Im übrigen zeigen die nachfolgenden Themen, daß wir hier als Christen in besonderer Weise gefordert sind, uns klar zu positionieren, um so unseren Ein- fluß in der Gesellschaft wahrzunehmen. Die aktuelle Diskussion um den Lebensschutz zeigt, wie schnell wir hier auf eine schiefe Ebene kommen. So ist es geradezu absurd, die Beihilfe zur Tötung mit Solidaritätsgefühlen für den Kranken zu verbinden. Wir begeben uns hier auf eine schiefe Ebene, die ganz plötzlich im tiefen Fall enden kann. Wer will mit Sicherheit erkennen können, daß der ‚Wunsch‘, sich selbst zu töten, wirklich aus freiem Willen erfolgt? Nicht selten sind es schwere psychische Erkrankungen, die Menschen dazu bewegen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Leben ist aber ein Geschenk, über das wir weder am Anfang noch am Ende frei verfügen können. Gefragt ist deshalb eine liebevolle Betreuung bis zum Tod und nicht die Beförde- rung in den Tod. Dies ist der Schlüssel für eine humane Gesellschaft. Wir müs- sen die irrige Meinung ändern, daß aktive Sterbehilfe eine humane Tat ist, die angeblich von vielen gefordert würde. Wer so denkt, hat noch nie einen Tod- kranken erlebt, der umsorgt von seinen Angehörigen oder ehrenamtlichen Hel- fern in Hospizeinrichtungen „an der Hand und nicht durch die Hand eines Men- schen stirbt“. Zu Recht haben die deutschen Bischöfe zum Schutze hilfsbedürftiger, alter, kranker, und verzweifelter Menschen ein Verbot jeder organisierten Form der Hilfe zur Selbsttötung gefordert und darauf hingewiesen, daß der Wunsch zu Sterben oft erst aus Angst vor großen Schmerzen oder vor Einsamkeit bestehe. Wieso tun wir uns selbst so schwer beim Lebensschutz? Allein die Versuche, den Beginn des Lebensschutzes von irgendwelchen Kriterien abhängig zu ma-

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chen, ist schon absurd. Embryonen sind kein Rohstoff, sondern menschliches Leben in seinem Anfangsstadium. Schließlich entwickelt sich der Mensch von der Befruchtung an als Mensch und nicht zum Menschen. Also muß der Schutz auch ab diesem Zeitpunkt gelten. Alles andere ist nur eine willkürliche Festlegung. Dies hat auch der Europäische Gerichtshof am 18. Oktober 2011 erstmals höchstrichterlich festgestellt: „Hier- nach ist der Mensch ab dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samen- zelle ein Mensch.“

Ehe und Familie bilden das Fundament für die Gesellschaft

Grundlage für unsere Gesellschaft ist und bleibt die Familie. Basis der Familie ist nach christlicher Auffassung immer die Ehe zwischen Frau und Mann. Ehe und Familie bilden den Kern und das Fundament für die Gesellschaft. Als klein- ste Zelle unserer Gemeinschaft vollbringt die Familie Leistungen, die von ande- ren Institutionen nicht erbracht werden können. In der Familie erfahren Men- schen Geborgenheit und Zuwendung. In ihr können am besten Werte vermittelt und Verhaltensweisen eingeübt werden. In der Familie erhalten Kinder Orientie- rung für ihr späteres Leben. Mehr und mehr wird aber Ehe und Familie in der heutigen Zeit in Frage gestellt. Das bedingungslose Ja ist jedoch für den Zusam- menhalt von Menschen der entscheidende Faktor. Da wir es heute immer mehr mit unterschiedlichen Gestaltungsformen bei Ehe und Familie zu tun haben, müssen wir als Christen eindringlich für die christliche Sicht von Ehe und Fami- lie werben. Hierzu gehört auch, daß die Leistungen der Familie für die Gesellschaft besser honoriert werden. Dies muß sowohl finanziell als auch ideell erfolgen. So müs- sen vor allem Familien mit Kindern wieder spüren, daß sie von der Gesellschaft – und hier sind vor allem Politik, Wirtschaft, Medien und Verbände angespro- chen – anerkannt und nicht als Exoten belächelt werden. Deshalb darf der Staat auch nicht in die Familien hineinregieren. Er muß ihnen den Entscheidungsfrei- raum lassen, den sie brauchen. Das geschieht am besten, wenn man den Familien die Rahmenbedingungen zukommen läßt, die sie benötigen, um ihre Aufgaben erfüllen zu können. Wie man im übrigen auf die Idee kommen kann, den Begriff der Ehe auch auf andere Formen menschlicher Gemeinschaften oder Partnerschaften zu übertra- gen, bleibt wohl das Geheimnis ihrer Erfinder. Wie schnell sich hier allerdings die Meinungen ändern, zeigt die Tatsache, daß vor etwa zehn Jahren insbesonde- re von einem Großteil derer, die heute die „Ehe für alle“ fordern, noch gesagt wurde, sie sei ein Ausdruck der patriarchalischen Machtstrukturen, die es zu bekämpfen gelte. Im übrigen wurde seinerzeit insbesondere unter links und pro- gressiv denkenden Menschen die Ehe als überholt und altbacken diskriminiert und damit gleichzeitig Millionen von Ehepaaren, die dieses Lebensmodell prak- tizieren, diskreditiert. Von daher ist es schon unverständlich, daß auf einmal diese Lebensform für alle möglichen Arten des Zusammenlebens gefordert wird. Spätestens hier sollte man hellhörig werden und merken, daß es im Kern offen-

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bar nicht um Gleichstellung geht, sondern letztlich um die Abschaffung der Ehe. 5 Die andere Erklärung wäre: Man möchte dieselben finanziellen Vorteile haben, wie sie zurzeit Eheleuten gewährt werden. Nun hätten es sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes nie träumen lassen, daß der in Artikel 6 verankerte Begriff einmal in dieser Form ausgeweitet würde. Deswegen hat es auch seinerzeit niemand für notwendig erachtet, diesen Begriff näher zu definieren. Es war damals und noch bis vor ein paar Jahren unstrittig, daß eine Ehe nur zwischen einem Mann und einer Frau geschlossen werden konnte. Eine andere Interpretation wäre auch als absurd zurückgewiesen worden. Wolfgang Bosbach MdB bringt es auf den Punkt, wenn er feststellt: „Das Grund- gesetz stellt die Ehe von Mann und Frau nicht deshalb unter den besonderen Schutz des Staates, weil es sich hier um eine heterosexuelle und keine homose- xuelle Lebensbeziehung handelt, sondern weil nur aus der Verbindung von Mann und Frau Kinder hervorgehen können und die so gebildete Familie die Keimzelle unserer Gesellschaft ist.“ 6 Im übrigen hat sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in diesem Sinne bereits mehrfach und ganz eindeutig geäußert. So heißt es beispielsweise: „Ehe ist auch für das Grundgesetz die Vereinigung eines Mannes und einer Frau zur grundsätzlich unauflöslichen Lebensgemeinschaft, und Familie ist die umfassen- de Gemeinschaft von Eltern und Kindern, in der den Eltern vor allem Recht und Pflicht zur Pflege und Erziehung der Kinder erwachsen.“ 7 Von daher ist es aller- dings schwer nachvollziehbar, wenn inzwischen das BVerfG in mehreren Urtei- len zu dem Schluß kommt, daß die Einführung der Ehe für Homosexuelle grund- sätzlich möglich sei. „Das Grundgesetz gewährleistet das Institut Ehe nicht ab- strakt, sondern in der Ausgestaltung, wie sie den jeweils herrschenden, in der gesetzlichen Regelung maßgebend zum Ausdruck gelangten Anschauungen entspricht“, heißt es in einer Entscheidung der Karlsruher Richter (Rheinische Post vom 26.05.15) . Dazu paßt, daß sogar der familienpolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Marcus Weinberg , für die Einführung der „Homo-Ehe“ plädiert. 8 Der KKV formuliert deshalb auch in seinem Grundsatzprogramm (Zif. 3.2 Ehe und Familie): „Wir fassen die Ehe als eine Lebensgemeinschaft auf, in der sich Mann und Frau als gleichberechtigte Partner in gegenseitiger Liebe und Treue voll annehmen und sich in ihrem Menschsein verwirklichen. … Staat und Ge- sellschaft müssen sich bewußt sein, daß die Familie Leistungen erbringt, die sie selbst nicht oder nur unzulänglich bieten können. Das betrifft in erster Linie die Erziehung der Kinder und die Vermittlung von Werten und Normen, ohne die keine menschliche Gemeinschaft Bestand hat. Eltern tragen die Sorgen und die Lasten für die nachfolgende Generation und leisten damit wesentliche Beiträge zur Zukunftssicherung der Gesellschaft.“ Deswegen stimmen wir auch der Aussage von Bischof Gebhard Fürst zu, wenn dieser eine völlige Gleichstellung der „eingetragenen Partnerschaften von „Mann-Mann“ und „Frau-Frau“ mit „Ehe und Familie“ ablehnt und dabei fest- stellt, daß Ungleiches nicht gleich behandelt werden könne. Im übrigen kenne er auch keine Gemeinschaften oder Gesellschaften von Menschen in der bisherigen

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Geschichte, die je für eine Mann/Mann oder Frau/Frau Beziehung ein Institut angeboten hätten, schon gar nicht mit der Bezeichnung Ehe. 9 Peter Schallenberg schreibt in seinem Buch „Gut, Güte, Güter“ zum Thema „Ehe und Familie“ (S. 45 ff): „Der Staat verbürgt die Gerechtigkeit als Grund- wasserspiegel gleichsam eines menschenwürdigen Lebens, aber er baut auf Ehe und Familie auf und setzt sie – fast stillschweigend – voraus, da hier und primär nur hier jener Raum der Gerechtigkeit und des gerechten Austausches von blos- sen Interessen und Zugewinngemeinschaften überschritten und erweitert wird hin zu dem, was auch der Staat aus augustinischer Sicht letztlich als Ziel aus der Ferne im Auge haben soll: ungeschuldete und unbedingte Liebe. Daher bedeutet es aus dieser Sicht mitnichten eine Diskriminierung anderer Lebensformen, wenn der Staat gerade die heterosexuelle verbindliche Ehe und deren Familie besonders schützt und fördert, auch und gerade finanziell.“ Und weiter unten: „Wie lernt ein Mensch wirkliche Liebe in seinem allzu kurzen Leben? Das ist die einzige und alles entscheidende Frage der Menschheit, auch und gerade für den Staat. Und deswegen, nicht aus demographischen Gründen, sind Ehe und Familie Keimzelle eines jeden Staates, mit dem man ernsthaft Staat machen will.“ In seiner Ansprache beim Weihnachtsempfang für das Kardinalskollegium, die Mitglieder der Römischen Kurie und die Päpstliche Familie am 21.12.12 stellte der emeritierte Papst Benedikt XVI . einen tiefgehenden Angriff auf die wahre Gestalt der Familie fest: „Nach dem biblischen Schöpfungsbericht gehört es zum Wesen des Geschöpfes Mensch, daß er von Gott als Mann und als Frau geschaf- fen ist. Diese Dualität ist wesentlich für das Menschsein, wie Gott es ihm gege- ben hat. Gerade diese Dualität als Vorgegebenheit wird bestritten. Es gilt nicht mehr, was im Schöpfungsbericht steht: ‚Als Mann und Frau schuf ER sie‘ (Gen 1, 27). Nein, nun gilt, nicht ER schuf sie als Mann und Frau; die Gesellschaft hat es bisher getan, und nun entscheiden wir selbst darüber. Mann und Frau als Schöpfungswirklichkeiten, als Natur des Menschen gibt es nicht mehr. Der Mensch bestreitet seine Natur. Er ist nur noch Geist und Wille. Die Manipulation der Natur, die wir heute für unsere Umwelt beklagen, wird hier zum Grundent- scheid des Menschen im Umgang mit sich selber. Es gibt nur noch den abstrak- ten Menschen, der sich dann so etwas wie seine Natur selber wählt. Mann und Frau sind in ihrem Schöpfungsanspruch als einander ergänzende Gestalten des Menschseins bestritten. Wenn es aber die von der Schöpfung kommende Dualität von Mann und Frau nicht gibt, dann gibt es auch Familie als von der Schöpfung vorgegebene Wirklichkeit nicht mehr. Dann hat aber auch das Kind seinen bishe- rigen Ort und seine ihm eigene Würde verloren. Bernheim zeigt, daß es nun notwendig aus einem eigenen Rechtssubjekt zu einem Objekt wird, auf das man ein Recht hat und das man sich als sein Recht beschaffen kann. Wo die Freiheit des Machens zur Freiheit des Sich-selbst-Machens wird, wird notwendigerweise der Schöpfer selbst geleugnet und damit am Ende auch der Mensch als göttliche Schöpfung, als Ebenbild Gottes im Eigentlichen seines Seins entwürdigt. Im Kampf um die Familie geht es um den Menschen selbst. Und es wird sichtbar, daß dort, wo Gott geleugnet wird, auch die Würde des Menschen sich auflöst. Wer Gott verteidigt, verteidigt den Menschen.“10

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Diese Sichtweise entspricht nicht nur dem christlichen Menschenbild und dem Schöpfungsbericht der Bibel sondern auch dem gesunden Menschenverstand sowie dem Naturrecht. Schließlich hat sich „die auf Dauer ausgelegte heterose- xuelle Beziehung (= Ehe) im Verlauf der Menschheitsgeschichte relativ kultur- übergreifend nicht nur als überaus stabile Institution erwiesen, sondern sie ist auch die einzige Form menschlichen Zusammenlebens, das auf die Zeugung von Kindern ausgelegt ist und deshalb die Grundlage eines jeden Staates ist. Sie ist in diesem Sinne unvergleichbar mit anderen Formen menschlichen Zusammenle- bens.“ 11 Das Rechtsinstitut der Ehe umfaßt im übrigen nicht nur die Partnerschaft zwi- schen Frau und Mann allein, sondern auch das Elternpaar, das Sorge und Ver- antwortung für Kinder trägt. „Daher gehört es auch zur Grundstruktur des ver- fassungsrechtlichen Eheverständnisses, daß die Ehe von einer Frau und einem Mann eingegangen wird. Denn Ehe und Familie sind wesenhaft miteinander verknüpft. Der Verzicht auf das Merkmal der „Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner“ trägt letztlich dazu bei, das bisherige Eheverständnis um eine we- sentliche Dimension zu verkürzen.“ 12 Und genau deshalb unterstützt der Staat – und muß es auch schon allein aus egoistischen Gründen tun – die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau. Schließlich ist die Gemeinschaft von Mann und Frau die einzige Verbindung, aus der Kinder hervorgehen können. Und dieser für die Gemeinschaft bedeutsa- me Sachverhalt führt zu der Überzeugung, daß man das Eigenprofil der Ehe nicht schwächen sollte, indem man die gleichgeschlechtliche Partnerschaft der Ehe in allen Aspekten gleichstellt. Zwischen der französischen Kirche und der neuen sozialistischen Regierung zeichnete sich eine Kontroverse um das Thema Ehe und Familie ab – und der emeritierte Papst Benedikt XVI . stärkte den Bischöfen dabei den Rücken. „Wir müssen diese wichtige Herausforderung annehmen“, sagte er zu den Bischöfen aus Frankreich anläßlich des am 21.09.12 stattgefundenen ad-limina-Besuchs in Rom. Und weiter: „Die Familie ist das Fundament des sozialen Lebens; sie ist bedroht, weil viele falsche Vorstellungen von der Natur des Menschen haben. Das Existenzrecht der Familie in der Gesellschaft zu verteidigen, ist überhaupt nichts Rückwärtsgewandtes, sondern ist vielmehr prophetisch! Hier geht es näm- lich um die Förderung der Werte, die die volle Verwirklichung des Menschen betreffen. Wir müssen diese wichtige Herausforderung annehmen!“ Hintergrund: Die Gleichstellung von Partnern gleichen Geschlechts mit „klassischen“ Ehen gehörte zu den Wahlversprechen von Präsident Hollande . Der Schutz von Ehe und Familie war u.a. Thema eines aufsehenerregenden „Gebets für Frankreich“, das die französische Kirche Mitte August durchgeführt hat – drei Monate nach Hollandes Wahlsieg. Und nochmals Benedikt XVI . zu den Bischöfen: „Was die Kirche und die ganze Gesellschaft von der Ehe und Familie erwarten, ist zu wichtig, als daß man dafür nicht das volle Engagement aufwenden könnte. Ehe und Familie sind Institutio- nen, die gefördert und bewahrt werden müssen vor jedem Mißverständnis über

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ihre Wahrheit. Jeder Schaden, den man Ehe und Familie zufügt, fällt auf das menschliche Zusammenleben überhaupt zurück!“ 13 „Das Wort vom kritischen Geist, der zum Reifen gebracht werden muß, gilt auch angesichts der Debatte um den Ehebegriff, die wir im Augenblick erleben. Ein kritischer Geist weiß zu unterscheiden: Es geziemt sich nicht für einen Christen, einen homosexuellen Menschen zu diskriminieren. Es geziemt sich aber sehr für einen Christen, homosexuellen Lebenspartnerschaften nicht den Begriff der Ehe zuzusprechen, weil sie der Gemeinschaft von Mann und Frau als Fundament der Familie vorbehalten ist. Es ist falsch, das eine mit dem anderen zu verbinden. Kritisches Denken geht einher mit der Fähigkeit, Unterschiede akzeptieren zu können. So gehört die Ehe von Mann und Frau zu den Wirklichkeiten, von denen der Staatskirchenrechtler Böckenförde gesagt hat, daß der Staat von Vorausset- zungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann‘, die ihm also vorgegeben sind.“ So Bischof Felix Genn in seiner Predigt vom 05.07.15. 14

Ethik in der Wirtschaft

Spätestens in der Finanz- und Wirtschaftskrise wurde wieder die Ethik in der Wirtschaft entdeckt und damit auch wieder der „Ehrbare Kaufmann“. Nicht zuletzt aus diesem Grund verleiht der KKV-Bundesverband seit einigen Jahren den Ehrenpreis des „Ehrbaren Kaufmanns“. Wir besinnen uns damit auf eine alte Kernkompetenz unseres Verbandes: Das Ideal des „Ehrbaren Kaufmanns“. Wäh- rend der Begriff heute wieder eine gesellschaftspolitische Renaissance erlebt, hat der KKV als einstmals kaufmännischer Verband die Idee seit 1877 hochgehalten und auch dann dazu gestanden, als es nicht unbedingt angesagt war, in Zeiten schneller Gewinne bodenständig, nachhaltig und sozial zu sein. Mit anderen Worten: Unser Leitspruch „Ehrlich im Handel, christlich im Wandel“ ist aktuel- ler denn je. Mit einer ‚Geiz-ist-geil-Mentalität‘ kann man im Einzelfall mal ein Schnäppchen machen, langfristig schadet man aber einer am Menschen orientier- ten Wirtschaft. Nur wenn der Mensch im Mittelpunkt steht und Werte wie Ehr- lichkeit, Zuverlässigkeit und Maß Leitschnur für das Handeln in Politik und Gesellschaft sind, kann es eine auf Nachhaltigkeit basierende Wirtschafts- und Sozialordnung geben. Der ‚ehrbare Kaufmann‘ muß nicht nur in aller Munde sein, sondern er muß vor allem praktiziert werden – auch vom Staat. Papst Franziskus ist jetzt mehr als zwei Jahre im Amt und die Begeisterung bleibt weiter groß. Gut so. Allerdings hoffe ich, daß nicht irgendwann die große Enttäuschung ausbricht, wenn man feststellt, daß er nicht die Änderungen bringt, die sich Einzelne erhoffen. Sein erstes Apostolisches Schreiben „Evangelii Gau- dium“ sehen wir deshalb in erster Linie als eine Anfrage an uns als Christen. Und die müssen wir ehrlich beantworten. Jeder für sich, aber auch jeder katholi- sche Verband und jede katholische Institution. Hier sind schon Aussagen getrof- fen, die man nicht einfach beiseitewischen kann. Hier einige Beispiele: - Die Übel unserer Welt – und die der Kirche – dürften niemals Entschuldigun- gen sein, um unseren Einsatz und unseren Eifer zu verringern. Betrachten wir sie als Herausforderungen, um zu wachsen. (EG 84) - Wenn wir mehr missionari-

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sche Dynamik brauchen, die der Erde Salz und Licht bringt, fürchten viele Laien, jemand könne sie einladen, irgendeine apostolische Aufgabe zu erfüllen, und versuchen, jeder Verpflichtung auszuweichen, die ihnen ihre Freizeit nehmen könnte (EG 81). - Ein authentischer Glaube – der niemals bequem und individua- listisch ist – schließt immer den tiefen Wunsch ein, die Welt zu verändern , Werte zu übermitteln, nach unserer Erdenwanderung etwas Besseres zu hinterlassen (EG 181). - Jede beliebige Gemeinschaft in der Kirche, die beansprucht, in ihrer Ruhe zu verharren, ohne sich kreativ darum zu kümmern und wirksam daran mitzuarbeiten, daß die Armen in Würde leben können und niemand ausgeschlos- sen wird, läuft die Gefahr der Auflösung, auch wenn sie über soziale Themen spricht und die Regierungen kritisiert (EG 207). - Es ist nicht fortschrittlich sich einzubilden, die Probleme zu lösen, indem man ein menschliches Leben vernich- tet (EG 214). Wenn Papst Franziskus vom Menschen spricht, der nur noch als Konsument gefragt sei oder einer Welt, die in einer neuen Tyrannei des „vergöt- terten Marktes“ lebe, in der die Finanzspekulation, die Korruption regierten und in der Egoismus herrsche, der sich etwa in Steuerhinterziehung ausdrücke, dann legt er die Finger auf viele offene Wunden.

Sonntagsschutz

Mit dem Edikt des römischen Kaiser Konstantin vom 3. März 321 n. Chr. wurde der erste staatliche Sonntagsschutz in Europa etabliert. Warum tun wir uns so schwer, diesen Tag zu schützen? In Deutschland hat die Sonn- und Feiertagsar- beit in einem erschreckenden Maße zugenommen. Während vor 20 Jahren noch 7,5 Millionen Erwerbstätige gelegentlich, regelmäßig oder ständig von Sonn- tagsarbeit betroffen waren, ist diese Zahl inzwischen auf elf Millionen gestiegen. Interessant auch hier: Wir sind bereit, scheibchenweise auf etwas zu verzichten, das ein hohes Kulturgut ist. Wenn gerade die junge Generation heute zunehmend über Streß und Burn-out am Arbeitsplatz klagt, dann auch, weil von der Werk- bank bis zur Chefetage der Sonntag als Tag des Abschaltens, des Innehaltens und der Ruhe fehlt. Gerade Familien und Beziehungen leiden unter der zunehmenden Arbeitsbelastung und der fehlenden Freizeit. Eltern und Kindern hilft es nicht, wenn alle zu unterschiedlichen Zeiten frei haben. Aktiver Sonntagsschutz ist deshalb auch aktiver Familienschutz. Selbst im Handel geht ein Verzicht auf den freien Sonntag zu Lasten von Mittelstand und Familienunternehmen im Einzel- handel. Familiengeführte Unternehmen können nur schwer „sieben Tage die Woche öffnen“. Profitieren tun vor allem große Ketten und Warenhäuser. Wirtschaftliche Rentabilität und Gewinnmaximierung dürfen nicht die vorherr- schenden Gesichtspunkte für die Ausweitung der Arbeit auf alle Tage der Woche sein. Der Sonntag ist ein soziales Kapital, das für den Zusammenhalt in den Familien und der Gemeinschaft von zentraler Bedeutung ist. Auch wenn das deutsche Grundgesetz den „festen Ruhetag“ bereits kennt – „wir dürfen nicht müde werden, für ihn einzutreten, denn die Fakten zeigen ja, wie der Konsum ihn zu Lasten der Menschen und Familien unterhöhlt.“ Deshalb müsse wir uns wieder bewußter werden, daß der Sonntag als Tag der Auferstehung Christi nicht

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nur für Christen einen religiösen Stellenwert hat, sondern auch ein soziales Kapi- tal ist, das für den Zusammenhalt in den Familien, in der Gemeinschaft und den Schutz von Arbeitnehmern von zentraler Bedeutung ist. Andererseits können noch so gute Gesetze und deren Einhaltung die Sonntagskultur nur schützen, wenn die Menschen den Wert, um den es geht, erkennen, ihn bejahen und bereit sind, ihn als Maßstab für ihr Verhalten und Tun zu beachten. Als Christen sollten wir deshalb durch eine bewußte Gestaltung des Sonntags deutlich zeigen, daß es bessere Möglichkeiten gibt, den Sonntag zu verbringen, als ihn durch Geschäftseinkäufe zum normalen Werktag zu degradieren. Nur wenn wir als Christen den Sonntag glaubwürdiger leben, wird er wieder die Anziehungskraft erhalten, die ihm zukommt. „Mensch, kauf doch mal wieder nebenan!“ – mit diesem Slogan wirbt der KKV für einen bewußten Konsum und lebendige Innenstädte. So wichtig und alltäg- lich die Möglichkeit des online-shoppings heute auch ist: Der schnelle Klick ist nicht immer der bessere Schritt. Bewußter Konsum ist nachhaltig, fair, sozial und wo möglich auch lokal: Das schafft Arbeit vor Ort und macht lebendige, lebenswerte Innenstädte möglich. Um die Ecke gibt es nicht nur Qualität und Service, sondern auch das Plus an Menschlichkeit, das kein Klick dieser Welt ersetzen kann. Dabei geht es nicht darum, den Einkauf im Internet zu verteufeln: Die Möglichkeit gehört zum Alltag und erleichtert vielen – nicht zuletzt der älteren Generation – den Einkauf. Trotzdem muß klar sein: Wer online kauft, schafft keinen Arbeitsplatz vor Ort. Handel und Gewerbe in den Städten können nicht nur davon leben, daß man sich Dinge ansieht und beraten läßt, um sie dann online zu kaufen – oder aber nach dem Kauf zur Reparatur zu kommen. Einzel- handel und Gewerbe sind gerade für den KKV ein unverzichtbarer Baustein lebendiger, lebenswerter Innenstädte – und damit auch tragende Säule der örtli- chen Bürgerschaft. Wer morgen in einer lebendigen Stadt leben möchte, muß sich heute persönlich mit einbringen – auch dadurch, daß er immer wieder mal vor Ort einkauft. Die Meldung, daß knapp 75.000 Männer und Frauen in 2012 wegen psychischer Störungen arbeitsunfähig geworden sind und erstmals eine Erwerbsminderungs- rente bezogen haben, zeigt, daß wir mit unserem Jahresthema ‚Mensch bleib im Gleichgewicht – Mut zur Balance zwischen Arbeit und Freizeit‘ den Nerv der Zeit getroffen haben. Deshalb plädieren wir immer wieder für eine Arbeitsphilo- sophie, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Hierzu gehört auch eine Kultur der Unerreichbarkeit – zumindest am Sonntag und im Urlaub. In der Hektik der Zeit und in der Entfremdung von der Natur haben viele Men- schen verlernt, Stille ‚auszuhalten‘, geschweige denn sie zu genießen. „In jeder kleinsten Wartepause werden sie zappelig, nervös, setzen sich Kopfhörer auf, lassen sich berieseln oder telefonieren miteinander“, so die Psychotherapeutin Elisabeth Lukas . Dabei kommt das Bedürfnis nach Ruhe nicht von ungefähr. Nach dem Streßreport Deutschland 2012 , den die Bundesanstalt für Arbeits- schutz und Arbeitsmedizin erstellt hat, leidet gut die Hälfte der Befragten unter starkem Termin- und Leistungsdruck. Jeder Vierte hat Schlafstörungen und jeder Fünfte fühlt sich körperlich und emotional erschöpft. Wir wissen, daß viele Er-

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krankungen – so auch Burnout – seelische Ursachen haben. So sind nach Aus- kunft der Ärzte etwa 60 Prozent der heutigen Krankheiten sogenannte Leid- Erkrankungen. Das heißt: Sie haben ihre Ursachen in einer gestörten Seele, ei- nem instabilen Innenleben, einer fehlenden inneren Balance. Ich wünsche deshalb jedem den Mut, in seiner Freizeit wirklich abzuschalten. Tagträumen ist nicht verlorene Zeit, sondern ein Auftanken für die Seele. Es gibt auch noch ein Leben jenseits der Arbeit! Im KKV diskutieren wir das Thema auch im Rahmen der bundesweit angestoßenen Kampagne www.neue- arbeitskultur.de. Mit einem eigenen Plakatmotiv werben wir bereits seit länge- rem via facebook für die „Kultur der Unerreichbarkeit“. Resümee : Die Themen, bei denen wir als Christen gefragt sind und wo wir Stel- lung beziehen müßten, ist riesig. Man wird tagtäglich durch die Nachrichten damit konfrontiert. Die Frage ist also: Wie gehen wir als Christen damit um? Legen wir die Hände in den Schoß und sagen, wir können eh nichts ändern? Oder sagen wir: Als Christen sind wir heute mehr denn je gefordert, uns in die Gesellschaft einzubringen. Vergraben wir unsere Talente oder wuchern wir mit ihnen?

Anmerkungen 1) Die Tagespost 18.05.13. 2) Albert Wunsch: In Verläßlichkeit und Liebe das Leben teilen? – Kirche und Gesell- schaft Nr. 407. 3) A. Püttmann: Gesellschaft ohne Gott“, S. 232. 4) KNA-Meldung vom 07.12.13. 5) aus dem Grußwort der MdBs Dörflinger und Bareiß – kath. net 23.06.15 – http://www.kath.net/news/51040). 6) Interview Wolfgang Bosbach in kath.net 24.06.15 – http://www.kath.net/news/51045). 7) Interview Wolfgang Bosbach in kath.net 24.06.15 – http://www.kath.net/news/51045). 8) kath.net 12.06.15 – http://www.kath.net/news/50909. 9) Bischof Fürst in kath.net 22.06.15 – http://www.kath.net/news/51030. 10) kath.net/as 23.06.15 http://www.kath.net/news/51032. 11) Johannes Hartl in kath.net am 27.05.15 – http://www.kath.net/news/50716. 12) (Matthias Kopp – RV/KNA/or 27.05.15 pr) http://de.radiovaticana.va/news/2015/ 05/27/nach_irlands_%E2%80%9Eja%E2%80%9C_zur_homo-ehe_kirchliche_reaktionen/ 1147198 . 13) RV 25.09.12 – http://de.radiovaticana.va/Articolo.asp?c=623215. 14) Bischof Genn – http://www.kath.net/news/51288.

Bernd-M. Wehner ist Bundesvorsitzender des KKV, Verband der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung.

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Hans-Peter Raddatz

Kirchenkultur und Jüdisches Denken

Papst Benedikt XVI. und die Bibel zwischen christlicher und antisemitischer Moderne

Teil I: Gott und Mensch in der Transzendenz der Geschichte

1. Vorbemerkung

Seit 2004 erscheint das inzwischen auf vier Bände angewachsene und auf fünf Bände geplante Werk von Karl Erich Grözinger über Jüdisches Denken – Theo- logie, Philosophie, Mystik (Campus-Verlag, Frankfurt/New York) – das in enormer Bandbreite die Geistesgeschichte des Judentums vorstellt. Es geht um ein weitgespanntes, religions- und wissenschaftshistorisch grundlegendes Feld, das allerdings im sogenannten Mainstream , dem soziophilosophischen Akade- mie-Diskurs der Zeitgeschichte, vergleichsweise geringe Resonanz findet. Dies kann kaum überraschen, weil die besprochenen Bereiche – Antike von Abraham bis Aristoteles , Mittelalter von der Kabbala bis zum Hasidismus, Neuzeit von der kritischen Renaissance bis zur Orthodoxie und Reform im 19. Jahrhundert und die Moderne mit Zionismus und Schoah – zahllose Belege und Hinweise anbie- ten, die etwas Bekanntes bestätigen, das aber nicht seiner Bedeutung entspre- chend erforscht wird: die vielfältig verzweigte, untrennbare Verwurzelung der europäischen Geistesgeschichte in und mit der jüdischen Kultur kosmopoliti- scher Diaspora. Eine mögliche Verwunderung über die akademische Zurückhaltung hinsichtlich der Untersuchung dieser fundamentalen Thematik, die angesichts des sonstigen, wissenschaftlich-kritischen Forschungs- und Neuerungsdrangs von der Philoso- phie und Naturwissenschaft zur heutigen Neo-Theologie und Kulturideologie äußerst dürftig ausfällt, kann sich in den gegebenen Grenzen zwischen System- haftigkeit und Opportunismus halten. Denn jede nähere Betrachtung führt zu Wahrheitsproblemen und käme der Macht schlicht zu nahe, deren intrinsischer Teil der Diskurs und die Geistesgeschichte insgesamt ist. Banal genug, kann nicht oft genug daran erinnert werden, daß sich die Wichtigkeit historischer Denker an der Nachhaltigkeit des herrschaftlichen Nutzens ihrer Beiträge be- mißt. So stellt sich die komplexe Komplementarität des Gemeinsamen und Trennen- den zwischen Judentum und Europa als metahistorischer Impuls der historischen Wechselwirkung zwischen Orient und Okzident dar, deren Machtprozeß zwi- schen Christentum, jüdischem Denken, Antisemitismus und wissenschaftlicher bzw. ideologischer Moderne oszilliert, und seit dem 19. Jahrhundert – mit deutli- chem Niederschlag in Literatur und Dichtung – wachsende Einflüsse des Bud-

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dhismus und Islam aufnimmt. Während die jüdische Komponente von der Frage der Emanzipation beherrscht wurde und die innere Verfaßtheit des Judentums zu kurz kam, erfährt sie nun durch Grözingers enzyklopädisches Werk stark erwei- terte Berücksichtigung, die für die politreligiöse Diskussion unserer Zeit auf- schlußreiche Perspektiven öffnet. Ohne sich selbst an der Diskussion der realpolitischen Entwicklung zu beteili- gen, breitet der Autor ein geistesgeschichtliches Spektrum aus, das der Analyse der Moderne aus jüdischer Perspektive eine neue Qualität der historischen Tie- fenschärfe öffnet, eine andere Art der Aufklärung über die herkömmliche Auf- fassung von Aufklärung und ihrer machttechnischen Funktion im ideologischen Übergang von Kirche und Adel zu Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Finanzen und einem von uns so genannten Kulturadel . Dabei handelt es sich um eine wei- tere Variante des „Neuen Menschen“, den hervorzubringen sich jede politreligiö- se Epoche bemüht, um die anthropologische Führungsrolle einer immer gleichen Elite abzusichern. Sie nimmt im evolutionär gewachsenen Macht-Masse- bzw. Hirten-Herde-Modus historisch wechselnde Gestalt an, die sich auf jeweils kom- patible Gehorsamsformen stützt. Bei der Moderne geht es nicht nur um eine Tendenz der schlichten Beseitigung von herkömmlichen, also jüdisch-christlich fundierten Traditionen und Denk- formen sowie deren Erneuerung, Ersetzung und/oder Umkehrung durch wissen- schaftliche bzw. anderskulturelle Alternativen und Prothesen des geschichtlichen Fortschritts. Mit dem Ableger der Amerikanischen Revolution bildet sie in Euro- pa darüber hinaus eine fundamental-ideologische, antikulturelle Epoche, die nach den drei Revolutionen Frankreichs, Rußlands und Deutschlands mit der schein- demokratischen EU unter dem Druck der kapitaltechnischen Globalisierung in eine ausgedehnte, sich selbst islamisierende Revolutionsphase der „Reform“ von Staat, Volk und Kirche übergeht. Indem sie sie sich darin zunehmend christenfeindlich und antisemitisch entfaltet, setzt sich erneut deren schon in der Aufklärung angelegter, totalitär-existentieller Selbstzweck durch, der primär darin besteht, das bürgerliche Gemeinwohldenken der ausgleichenden Unterscheidung zu unterdrücken und nicht nur eine nachhal- tige Entwicklung der Demokratie und Menschenrechte zu verhindern, sondern mit dem De-Konstruktivismus gegen den „Methodenzwang“ ( Paul Feyerabend ) und den „Logozentrismus“ ( Jacques Derrida ) speziell die sozialethischen Tradi- tionen und Merkmale der jüdisch-christlichen Altkultur mitsamt dem humanen Gewissen als gemeinsamen Kulturkerns zugunsten einer diffusen „Weltgesell- schaft“ zu beseitigen. Natürlich wird immer wieder an der ultimativen Konsequenz dieses Langzeit- Trends gezweifelt, doch ist es dessen monströse Dimension, die das Vorstel- lungsvermögen nicht nur der Masse, sondern auch der Mehrheit der sogenannten Intelligenz übersteigt, aber nach der Vendée, den Gulags, der Schoah, den Bom- ben auf Hiroshima / Nagasaki und Dresden sowie dem als „Glaubensanstren- gung“ vermarkteten Schleichgenozid an den Juden und Christen des Orients an keinerlei Beweisnot leidet. Zwar haben die Pharisäer beider Fraktionen, die elitä- ren Rabbiner und Priester der Altkultur, als Miteigner der Macht den Trend tätig

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unterstützt und oft genug den von Jesus verworfenen „ersten Stein“ geworfen (s.u.) , doch ändert das wenig daran, daß es Juden- und Christentum waren und sind, welche die in der Welt einzigartige Kultur Europas und Begriffe von Frei- heit und Toleranz hervorgebracht haben, die nun an ihre eigene Substanz gehen.

2. Europa und der Epochenpapst

Weil die Dauer von Weltbildern zumeist die Lebenszeit der Menschen überstei- gen, läßt sich ihre letztliche Bedeutung erst in der historischen Retrospektive würdigen, eine Einschätzung freilich, die sich dem unterscheidenden Altdenken verdankt. Da sich die radikale Moderne erklärtermaßen gegen die „logozentri- schen Repressionen“ der Vorgängerkultur als systemhafte Antikultur entfaltet, die mit dem Genderismus auch die „normopathische“ Heterosexualität bekämpft, kennt sie nicht nur nicht solches Denken, sondern schottet sich mit einer gerade- zu immunbiologischen Konsequenz ab, aus der die Altkultur als umfassendes Feindbild hervorgeht. Dessen ebenso umfassende Überwindung kann eben nicht durch den dialogi- schen Kompromiß, sondern nur durch monologisches „Denken“, durch Zwangskanäle nicht abschließbarer Forderungen, Provokation, Vorurteile und Gewalt bewirkt werden, gegen die Widerstand zu leisten als „Reaktion“ gelten muß. Ihr reflexionsloser Drang zum „Progressiven“, „Direkten“, „Neuen“ etc. zwingt die Antikultur, sich im Feindbild psychoprojektiv zu spiegeln, ihr stereo- typ die eigenen Merkmale zu unterstellen und die abgelehnten Standards zu unterbieten, um überhaupt als Antikultur zur Geltung zu kommen – die bekannte Dynamik der Moderne, die sie auf jenes Hamsterrad der technischen Produkt- zyklen, sozialpsychischen Nivellierungen und politischen Extremismen be- schränkt, das Friedrich Nietzsche „Wiederkehr des Gleichen“ und Paul Virilio „rasenden Stillstand“ nannte. Nicht die einzige, aber die kompletteste und prominenteste Persönlichkeit, deren Leben und Schaffen die Widersprüchlichkeit der zeitgenössischen Moderne in sich vereinigte und deren Aggression kongenial auf sich zog, ist Papst Benedikt XVI. und frühere Glaubenspräfekt Josef Kardinal Ratzinger . Indem er wie kein anderer dem Idealbild der kirchlichen Spiritualität, Intellektualität und dogmati- schen Konsequenz nahekam, wurde er zum logischen Reizbild und Dauerziel des so historischen wie hysterischen Aktivismus der antikulturellen Reaktion, das den geistigen Widerstand gegen den vernunftlos-materiellen Weltbildwandel grundlegend repräsentiert. Dies um so mehr, als er ebenso wie kein anderer verstand, den schweren Säbel der antikulturellen Kampfparolen mit dem Florett kirchlicher, speziell seit dem Konzil bewährter Zweideutigkeit zu unterlaufen und – ohne dies gezielt zu ver- folgen – die kirchenfeindliche Inferiorität offenzulegen sowie die Protagonisten zur laufenden Steigerung ihrer Pawlow -Reflexe zu motivieren. Dabei bedingt der Aktion-Reaktion-Effekt indes, daß der Papst als Auslöser der als Qual empfun- denen, altkulturellen Wertebasis nolens volens auch zum Erlöser von derselben wurde, als er unter offiziellem Hinweis auf seine Gesundheit vom Amt zurück-

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trat und dem Ideologie-Apparat in Politik, Medien, Universität und – Kirche die Illusion überließ, vor ihren Attacken resigniert zu haben. Da deren Akteuren unterscheidendes Denken verwehrt ist, mußte ihnen zugleich die subtile Strategie entgehen, die Präfekt Ratzinger in der unten aufgegriffenen Erklärung Dominus Iesus von 2001 als Präzisierung des „interkulturellen Dia- logs“ zum Einsatz brachte, die wie sich zeigen läßt, ihre volle Bedeutung in Verbindung mit der Vatikan-Verlautbarung über „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel“ (2000) erlangt, der wiederum Grözin- gers umfassender Hintergrund des jüdischen Selbstverständnisses erweiterte Plausibilität verleiht. Denn schließlich bestehen die prominenten Kennzeichen des Benedikt - Pontifikats in der konkreten Annäherung an die „jüdischen Väter“ (statt Brüder), der Skepsis gegenüber der grassierenden Islamozentrik (Regensburger Rede) und der Kritik am modernen Staat und dem Abbau unveräußerlicher Rechte (Rede vor dem Deutschen Bundestag), allesamt Anathemata der Antikultur-Ideologie gegen Bürgertum und Kirche (s.u.), mit denen der Pontifex nicht zuletzt auch den Antisemitismus des Mainstream offenlegte. Der kann seinen systemischen Extremismus gerade dann nicht verleugnen, wenn Religionsfreiheit für den ju- den- (und christen-)feindlichen Islam den Anschein von Demokratie wahren soll, die Kulturpolitik jedoch die Toleranz für das Nichtchristliche reserviert und die EU die Terrorgruppen der Palästinenser subventioniert, um den „Friedenspro- zeß“ gegen den „Terrorstaat“ Israel zu sichern. Die antikulturelle Bandbreite erweiterte sich rasch um die Solidarität der deut- schen Antizionisten mit den Kirchenfeinden, indem sich während und nach den Mordaktionen in der Islamregion als Reaktion auf die Regensburger Rede (2006) zahlreiche Mainstream-Akteure gegen den Papst wandten und bestätigten, daß Kirchenkritik eine Art Panacée darstellt. Als Kombination aus Allheilmittel und Sesam-öffne-dich übertrifft die Diffamierung der Kirche und Prälaten alles, was die asozialen Interessen in Migration, Antisemitismus, Umweltpolitik, Tier- schutz, Geschlechtsnormen etc. fördern könnte. Sie bilden ein wahrhaft fruchtba- res Feld für so unterschiedliche Multifunktionäre wie Reinhard Marx, Hans Küng, Volker Beck, Wolfgang Benz, Stefan Kramer etc., die wir im zweiten Teil zur Sprache bringen. Die innerjüdische Diskussion über Zionismus und Schoah, die Grözinger in Band 4 vorstellt, eröffnet wichtige Perspektiven, die Benedikts Initiative betref- fend den gemeinsamen Gott mit den Juden, „der am Sinai gesprochen hat“, be- stätigen (s.u.). Mithin enthüllen sie die Mainstream-Propaganda als eine gewalt- haltige Scharade, die nichts anderes zum Ziel hat, als auf Kosten der Juden und Christen den Islam nach Europa zu schleusen, ein als „Strukturwandel“ verharm- loster, umfassender Wandel des gesamten Weltbilds, der mit der Islamisierung neue Fakten schafft, sich mit den „Flüchtlingen“ zur unkontrollierbaren Invasion steigert und aufs neue die obligaten Verschwörungs-Spezialisten auf den Plan ruft.

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Dafür daß sich letztere nicht selten erübrigen, sorgt immer wieder die Stupidität arroganter Macht selbst, vorliegend in Gestalt der IWF-Chefin Christine Lagar- de , die im Interview mit der „Süddeutschen“ (14.01.2016) zugab, daß man sich die völkische Flutung Europas weniger problematisch „gedacht“ habe. Um die „Ströme“ besser zu kanalisieren, brauche man vor allem „mehr Frieden“, womit sie in zwei Denkfallen gleichzeitig tappte. Denn zum einen kam die Frage auf, wieso die Megafusion Europas mit inzwischen über 30 Millionen Menschen der „Religion des Friedens“ nicht genug Frieden gebracht hatte, und zum anderen vergaß sie, daß die IWF-Methoden neoliberaler Deregulierung die Länder der Zweiten und Dritten Welt destabilisieren, den Bürgerkrieg mit dem Waffenge- schäft zu einem zentralen Faktor der Globalisierung machen und längst auch die Wirtschafts- und Finanzkraft der Ersten Welt, speziell der USA und EU, an den Rand des Ruin bringen. Daß unter dem Druck des Kapitals nach der „Wiedervereinigung“ ein verstärkter Schulterschluß radikaler Kräfte in den deutschen Institutionen gegen die Kirche erfolgte und Konturen annahm, die sich immer deutlicher am Expansionspro- gramm der OIC von Mekka 2005 und ihrer Vision vom „Kommenden Kalifat“ orientierten (vgl. NO 5/12), ist inzwischen bekannt und versteht sich in der Langfrist-Perspektive von selbst. Nach dem etablierten Grassismus linksgewen- deter NS- und SS-Angehöriger im Nachkriegs-Diskurs ( Grass, Jens, Hilde- brandt, Lübbe etc.) bildet das Diktat der kommunistisch kultivierten Kanzlerin – „der Islam gehört zu Deutschland“ – ein weiteres Glied in der Totalitarismus- Tradition, deren Bürgerfeindlichkeit in einen djihadähnlichen Kampf gegen die Wurzeln der europäischen Altkultur mündet. Während die Profiteure des Megatrends solche Wahrnehmungen entgegen aller Realität stereotyp in den Bereich der „Verschwörung“ und „Volksverhetzung“ verweisen, vollzieht sich ein rasanter Verfall von Demokratie und Rechtsstaat, derweil die „Eliten“ eine stringente Toleranzdiktatur über dem Volk aufrichten und sich ungeniert an den Machtroutinen Hitlers, Stalins und des Koran bedie- nen. Sie bilden den neuen Kulturadel , den geldgierigen Wasserkopf einer wu- chernden Meinungsindustrie, mit deren intellektuellem, moralgetränktem Dilet- tantismus einen „Dialog“ führen zu wollen, eine nicht gerade ungefährliche Zeit- verschwendung bildet. Im Kontrast zur sonstigen. gefühligen Geschwätzigkeit treffen hier sowohl die Christenpogrome im Orient als auch die massenhaften Juden-ins-Gas-Aufrufe in den EU-Großstädten auf eisernes Schweigen, das kei- ne humanen Absichten ankündigt. Geringen Zweifel daran läßt die unchristliche Vielfach-Mahnung des Koran: „Keiner trage des anderen Last“ (6/164 – 35/18 – 39/7 – 53/38 etc.), die vom Kulturadel als „Barmherzigkeit“ deklariert, den glo- balen Neo-Darwinismus unterstützt. Zugleich verstärkt sich die Öffnung Europas für die Anhänger Allahs, begleitet von den Kernsätzen des Konzils, das die Gläubigen dazu aufrief, mit den Musli- men „den einen Gott anzubeten“. In diesem politreligiösen, ideologisch aufge- heizten Langzeit-Szenarium entwickeln die Wahl (2005) und der Rücktritt (2013) Papst Benedikts XVI . ebenso kongeniale wie historisch fast einmalige historische Konturen. So wie er nach fünf Jahrhunderten der zweite deutsche

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Papst überhaupt war, legte er als zweiter Papst der gesamten Kirchengeschichte (nach Coelestin V .) das Petrusamt vorzeitig nieder, dessen spirituelle Vergabe im Grunde nur der Tod beenden kann. Unvergessen ist die Schockstarre, die führende Kräfte der deutschen Kulturindu- strie am historischen 10. April 2005 befiel, kaum daß die Botschaft des Konkla- ve von der Ernennung verklungen war. In 24jähriger Tätigkeit als Glaubensprä- fekt war dem unbequem gebildeten Theologieprofessor bei den so scheinlibera- len wie anti-kirchlichen Eiferern des „Kulturdialogs“, speziell bei den atheisti- schen Bildungsdilettanten der Journaille und Holzschnitt-Gemütern der Kirche von unten , der Ruf eines rückwärts gerichteten Zuchtmeisters, eines „Panzer- Kardinals“, eines „Rottweilers der Kirche“ zugewachsen, auf den sich der histo- risch gewachsene Haß der totalitär motivierten Euro-„Führer“ konzentrierte. Das Panzer-Attribut verdankt sich u.a. der Flakhelferfunktion des Hitlerjungen Ratzinger , die natürlich nichts anderes als eine entwickelte Nazi-Mentalität be- deuten konnte. Obwohl (oder weil) nicht SS-verdächtig, kam keinesfalls das offenbar fast naturrechtliche Privileg in Frage, das den SS- und NS-Grassisten (s.o.) hohe Ämter und steile Karrieren sowie dem NS-Widerstand ein blasses Gedächtnis bescherte. Die Aufarbeitung der monströsen Schuld gegenüber den Juden wurde zum ebenso universal nutzbaren Machtinstrument der neo-radikalen Führungsschicht und ihren Medien, die Argumente weder brauchen noch vertra- gen, weil in ihrer folgerichtig gespiegelten Psychoprojektion jeder Widerstand „rechtsradikal“ erscheinen muß. In der Tradition der deutschen ideologischen Sonderwege setzte sich die Politik des Landes rasch an die Spitze einer scheinmoralisch durchwirkten Pflichtmenta- lität als Basis institutioneller Karrieren, die den Islam als „Miteigner Europas“ braucht. Wie die weltpolitische Praxis zeigt, lassen sich innerhalb der „Lea- dership“, zwischen den EU-Regenten als Nachfolgern der Vorlauf-Extremismen sowie den Islamfraktionen im Sunna-Schia-Konflikt unschwer wechselnde Ar- rangements erzielen, zuletzt exerziert im Atomvertrag der USA mit dem Iran, der die Aufhebung der Sanktionen und die Belebung des Geschäfts ermöglichte. Die Erneuerung des Kampfrufes „Juden ins Gas“ ist dann nur system-„gerechte“ Konsequenz, die mit demonstrativem Antisemitismus finanziell ergiebige Soli- darität mit islamischem Judenhaß signalisiert. Insofern ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Teilfürsten des entstehenden EU- Kalifats härtere Saiten gegen die islamkritischen Proteste der indigenen Bevölke- rung aufziehen. Dieser Prozeß verlangt von den weniger indoktrinierten, sondern eher opportunistischen Vorteilsnehmern besonderes schauspielerisches Potential, um den Raubbau an Staat, Kirche, Kultur und Bürgervermögen mit den alten Gebetsmühlen des „Respekts“ und aufgeblähten Varianten emotionaler Hirnwä- sche zwischen Pseudo-Ethik und Krokodils-Gefühl weiter voranzutreiben zu können. In der Soziophilosophie wird diese Strategie unter dem Begriff des Emotivismus geführt, der demagogisch erzeugtes Gefühl in Realpolitik umsetzt, mithin „natür- licher“ Teil des Totalitarismus ist und hier wiederholt zur Sprache kommen wird.

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Ebenso natürlich saugt dieser Evo-Emo-Trend, der evolutionäre Basisemotionen wie Gier, Wut, Ekel etc. mit dem Gesellschaftsprozeß kurzschließt, primitive Existenzen an, die sich an diesem „Fortschritt“ parasitär nähren und ihre und anderer Hemmungen gegen Gewalt lockern. Zur Illustration stellen wir im Rah- men der Zionismus-Schoah-Diskussion (Teil 2) die angekündigten Praxisfälle vor (s.o.), die mit einer denkfreien Mischung aus Forderungsverhalten und Ag- gressionsreflexen den Kontext zwischen Antisemitismus, Islam und Totalitaris- mus beispielhaft demonstrieren. Die Akteure haben, wie sie auffallend oft beto- nen, „keine Alternative“ zu ihrem Zwangsverhalten, das nicht zuletzt die hysteri- sche Reaktion auf das bereits zu Lebzeiten historische Auftreten des „Panzerkar- dinals“ Benedikt XVI . insgesamt kennzeichnet. So konnte es kaum als Verschwörungsdenken, sondern – zumindest aus Sicht der Muslime und ihrer proislamischen Euro-Vasallen – als Geschenk Allahs erschei- nen, daß mit dem Rücktritt des als Exponent der kirchlichen „Falken“ fehlgedeu- teten Papstes die pflegeleichten „Tauben“ des Vatikan das Ruder des Kirchen- schiffes übernahmen. Sie verordneten der Glaubensherde – gemäß der Abwesen- heit unterscheidenden Denkens – alsbald die „richtige“ Lektüre des Korans, weil sie zwischen Christen und Muslimen „keinen Unterschied“ erkennen konnten. Sie luden prominente Muslime in den Garten des Vatikan zum „Pfingstgebet“ 2015 ein, die dagegen durchaus einen klaren Unterschied erkannten und aus Sure 2 zitieren ließen, dem traditionellen Text gegen Satan und Dämonen: „Unser Herr, bürde uns nichts auf, wozu wir keine Kraft haben. Verzeihe uns, vergib uns und erbarme Dich unser! Du bist unser Schutzherr. So verhilf uns zum Sieg über das ungläubige Volk!“ (286 – Kursivierung vom Verfasser). Während sie hier nichts anderes als das Erbe Johannes Pauls II. bewahrten, der ihnen einst im Assisi-Prozeß „radikale Treue“ empfohlen hatte, drängten sich den aktuellen Beobachtern nun zur damaligen Zeit weniger akute, aber vorher- sehbare Fragen auf, die den Rabbi von Rom bewogen, dem „Gebet“ fernzublei- ben: Warum bezogen die „Tauben“ keine klare Stellung gegen den ISIS, der die Christen in Syrien und Irak massenweise vertrieb und tötete sowie die Vernich- tung Israels ankündigte? Eine Antwort bleiben indes auch die politisch „Verantwortlichen“ schuldig, die Allahs Massenzustrom auf Hochtouren bringen und die Zeichen rasch wachsen- der Gewalt an den Altbürgern hinter den Sprachschablonen der Volkspädagogik – mittlerweile eine formidable Mantrasammlung – verschwinden lassen wollen. Wenn muslimische Gewalt „nicht unter Generalverdacht“ gestellt werden soll, wird zugleich eingeräumt, daß es diese Gewalt gibt. Solches läßt nur den Schluß zu, daß die Politik, die die Invasion in Millionendimension nach eigener Aussage in vollem Bewußtsein angeordnet hat, ihrerseits unter den Generalverdacht des bewußten Angriffs auf den gesamten Staat zu stellen ist. Hier bereitet sich nach nazistischem Muster die nun linksgewendete Variante eines völkisch-totalitären Machtschubs vor, indem die „Führer“ der Parteien den Zweck der Institutionen auf die materielle Versorgung und politische Privilegierung der Invasoren veren- gen, das Volk zu deren kollektiven Geisel machen und Widerstand systematisch unterbinden.

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„Wir schaffen das“ ist das kanzlerische Machtmotto, das mit dem elitären „Wir“ die demokratischen Rechte so scheintolerant wie effizient abkanzelt. Es läutet eine weitere Phase der politischen, finanziellen und kulturellen Massen-Nutzung ein, für die der Begriff der Perkolanz steht, der die neoliberal-darwinistische Auswaschung der Hirne und Konten umschreibt. Im Diskurs geläufiger, aber dennoch wegen seiner machttechnischen Offensichtlichkeit nicht oft frequentiert, ist der Terminus von der Affordanz , (engl.: to afford = sich leisten, entbehren, verkraften), der als Steigerung der Toleranz das Potential der Massen- Nutzbarkeit bezeichnet und sich z.B. in der aktuellen „Willkommensgesell- schaft“ und häufig bemühten „Gabe“ ( Marcel Mauss ) ausdrückt. Letztere wird Ethnologen zufolge von zahlreichen Naturvölkern ohne Gegenleistung prakti- ziert und dringend zur Nachahmung empfohlen, um das westlich arrogante Sub- jekt auf Demut gegenüber dem Anderen zu trimmen, was wiederum den Kreis zu Vorschriften in Koran und Tradition schließt, nach denen Juden und Christen zu „demütigem“ Tribut verpflichtet und bei Widerstand zu töten sind (9/29). Die philosophischen Grundlagen dieser modernen Variante zeitloser Machttech- nik fußen auf dem Kontext von physischer Erkenntnis und psychischem Erleben, der von dem jüdischstämmigen Kantianer und Protestanten Richard Hönigswald formuliert wurde. Während ein Gutachten des „katholischen“ Antisemiten Mar- tin Heidegger dafür sorgte, daß die Nazis ihn aus der Universität entfernten, behielt seine Lehre der psychisch konnotierten Weltwahrnehmung bis heute weitgehend ihre Gültigkeit. Unter anderem wurde sie von Alasdair MacIntyre zum Emotivismus weiter entwickelt, der Umwandlung von Gefühl in Realpolitik, die den Schwankungsverlauf Europas zwischen Demokratie und Totalitarismus erklärt und sich in den Psychoreflexen der aktuellen Mainstream-Akteure erneut und sehr überzeugend verwirklicht.

3. Gott, der Pontifex und die Macht

Daß der Mainstream politischen Zwang mit theologischer Ignoranz paart und dabei ein systembedingtes Heuchel- und Gewaltpotential aufbaut, bewies er unter Führung der deutschen Kanzlerin, deren Regierungsstil sich in zentralen Fragen der KRIEG-Ideologie (Klima, Reform, Islam, Euro, Gender) immer wei- ter von altkulturellen, d.h. rechtsstaatlichen Praktiken, mithin auch vom Respekt vor deren Basis, der Freiheit der jüdischen und christlichen Religionen, entfernte. Im Februar 2009 kritisierte sie Benedikt XVI . schärfer als die EU-Atheisten in Brüssel, weil er die Exkommunikation von vier Bischöfen der Pius-Bruderschaft aufgehoben hatte, ohne die Holocaust-Leugnung des Bischofs Williamson zu berücksichtigen, die ihm weder seine Berater bekanntgaben, noch von dem theo- logischen Akt erfaßt wurde. Abgesehen davon ist die antikulturelle Politik außer- stande, fixiert auf ihren islamischen Auftrag, die subtil formulierte Kirchenstra- tegie des Umgangs mit dem Islam als Teil ihres Evangelisierungsauftrags auch nur im Ansatz zu begreifen. Der führt – unter seinerzeitiger Ägide des Präfekten Ratzinger – „zu einer Hal- tung des Verständnisses und zu einer Beziehung der gegenseitigen Kenntnis und

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der wechselseitigen Bereicherung, und zwar im Gehorsam gegenüber der Wahr- heit und mit Respekt vor der Freiheit“ (Päpstlicher Rat für den interreligiösen Dialog 1992, Instruktion Dialog und Verkündigung Nr. 9). Der „Gehorsam ge- genüber der Wahrheit“ und „Respekt vor der Freiheit“ bilden freilich das unver- änderbare Vexierkonzept zeitloser Macht, dem alle Herrschaftsformen folgen und mit Gewalt reagieren und regieren müssen, wenn ihnen das „sorgfältige Unterscheidungsvermögen“ fehlt, das die Erklärung als Bedingung der wechsel- seitigen Kenntnis und Bereicherung fordert. Es ist die Wahrheit und Freiheit nicht des macht- sondern des menschengerech- ten Denkens, das 14 Jahre später Papst Benedikt in der Regensburger Rede auf ein Zitat des orthodoxen Kaisers Manuel II. aus dem Jahre 1391 bringt: „Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst Du nur Schlechtes und Inhumanes wie dies, daß er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er predig- te, durch das Schwert zu verbreiten … Gott hat keinen Gefallen am Blut und nicht vernunftgemäß, nicht ‚syn logo‘ zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider … Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung“. Im weiteren kommt er auf den Kern des Problems, den Gottesbegriff, um den sich der „Dia- log“ seit dem Konzil, also inzwischen ein halbes Jahrhundert, mit dem Erfolg herumwindet, daß die Allah treuen Muslime inzwischen vor der Machtergreifung in Europa stehen. Er zitiert Theodore Khoury , den proislamischen Herausgeber der Manuel-Schrift und zeitweiligen Berater des Päpstlichen Rates für den interreligiösen Dialog: „Für den Kaiser als einen in griechischer Philosophie aufgewachsenen Byzanti- ner ist dieser Satz evident. Für die moslemische Lehre hingegen ist Gott absolut transzendent. Sein Wille ist an keine unserer Kategorien gebunden und sei es die Vernünftigkeit. Khoury zitiert dazu eine Arbeit des bekannten französischen Islamologen R. Arnaldez, der darauf hinweist, daß Ibn Hazm (ibero-islamischer Philosoph und Literat, gest.1064 – d. Verf.) so weit gehe, zu erklären, daß Gott auch nicht durch sein eigenes Wort gehalten sei und daß ihn nichts dazu ver- pflichte, uns die Wahrheit zu offenbaren. Wenn er es wollte, müsse der Mensch auch Götzendienst treiben.“ Hier geht es also um einen Gott, der nicht nur die Menschen, sondern auch sich selbst betrügt, indem seine Göttlichkeit auf Lüge und Verrat beruht, die wenn es ihm gefällt, auch den Götzendienst seiner eigenen, koranischen Offenbarung vorziehen lassen, eine „Alternative“, die man im Islam taqiyya (Verstellung, Täuschung) nennt. Es geht also um den überhaupt wichtigsten Aspekt zwischen den Religionen, der aus machtbedingten Gründen konsequent verunklart bleibt. Als um so informativer bietet sich Grözingers Enzyklopädie an, wobei wir etwas ausholen, um den Kern der Gottesfrage für unseren Zweck hinreichend freizule- gen. Als evangelischer Theologe, der bis 2007 den Lehrstuhl für Religionswissen- schaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam innehatte, baut Grözin- ger sein Werk ganz gezielt auch auf theologischen Schwerpunkten auf, was ihm einst der Religionshistoriker und Iranfreund Friedrich Niewöhner (gest. 2005)

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als Defizit ankreidete. Denn schon Moses Hess (gest. 1875), der Vorkämpfer des Zionismus, habe dargelegt, daß das Judentum als Volk und Nation zu sehen und nicht auf die Religion zu beschränken sei. Zudem hielt er den Untertitel des ersten Bandes – Vom Gott Abrahams zum Gott des Aristoteles – für „unglück- lich“, weil dort die Gottesidee des Aristoteles kaum vorkomme. Diese Wahrnehmung erscheint allerdings unausgewogen, weil Grözinger mit der Mischna (Sammlung ritueller und sozialethischer Lehrsätze) wichtige Aspekte kommentiert (Bd. 1, 223ff.), die den fundamentalen Unterschied zwischen der Einheit jüdischen Seins mit dessen personenbezogenem Gott und dem unbeweg- ten Beweger der aristotelischen Kollektiv-Ethik verdeutlichen. Es ist die rabbi- nisch dominierte Religionsphilosophie, die in der Iranisierung und Hellenisie- rung des Judentums in der Antike andere Aspekte als das Christentum, nämlich primär die auf die Juden bezogene Kosmopolitik betonte und mit der Flexibilität der Eliten das Überleben in der Diaspora ermöglichte. Dies setzte sich im Mittelalter in den zentralen Gestalten des Sa’dia Gaon (gest. 942), Ibn Da’ud (gest. 1180) und Maimonides (gest. 1204) fort, der die Tragik jüdischer Intelligenz und bitterster Entrechtung unter dem Islam in sich vereinigt. Da sich die Verhältnisse in Europa ähnlich drückend darstellten, wird es ver- ständlich, daß es dort in wachsendem Maße Juden waren, die den Geistesgang, speziell seit der Aufklärung, erheblich beeinflußten. Ohne die Kette von Spinoza , Mendelssohn und Ascher (Band 3) über Marx, Freud, Simmel und Husserl bis hin zu Cantor und Einstein, Kafka und Mann, Benjamin und Adorno, Levinas und Derrida ist der moderne Diskurs kaum denkbar. Vielen von ihnen ist eine skeptisch-pragmatische Ironie gegenüber der Macht gemeinsam, die mit Sokrates und dem Juden Jesus grundgelegt wird und von der analytischen Romantik durch Friedrich Schlegel (gest. 1839) in eine machtkriti- sche Verfassung gebracht wurde, die ihren genialen Autor zu einer relativ wenig zitierten Größe macht. Parallel dazu führte Saul Ascher (gest. 1822) mit Parodien der Germanomanie den Antisemitismus als machtbedingte Kehrseite der jüdi- schen Vernunft vor. Sie ist weder geistiger „Pleonasmus“ noch eine „Schmarot- zerpflanze“, sondern „in der Weltordnung bestimmt …, den Grund zu einem Antidot gegen den religiösen Fanatismus zu legen“ (Die Germanomanie, 63 – Berlin 1815). Niewöhners Grözinger -Kritik verliert sich vollends in den Folgebänden, beson- ders im vierten Band – Zionismus und Schoah –, der mit grundlegenden Aspek- ten der jüdischen Haltung zur Zeitgeschichte unsere Betrachtung stützt und dabei – ohne erklärte Absicht des Autors – die Ideologie des antikulturellen Globalis- mus als islamozentrische Judenfeindschaft enthüllt. Was deren Reflexmechanik nicht erfassen kann bzw. verbergen will, kommt in der Untrennbarkeit von Reli- gion und Geschichte zum Vorschein. Die nationale Sicht des Judentums er- scheint in eher sakralisiertem Licht, wenn Hess von „Auferstehung“ und „Wie- dergeburt“ des jüdischen Volkes redet. Er zeigt sich von den Befreiungskriegen und der Hoffnung auf eine „organische“ Emanzipation geprägt, die „von allen Enden der Welt aus den Blick stets nach Jerusalem gerichtet hat und noch rich- tet“ und die Vision einer Rückkehr der Juden zur „Geburtsstätte des Glaubens an

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die göttliche Einheit des Lebens und die zukünftige Verbrüderung aller Men- schen“ hegt (Grözinger 4, 75f.). Neben der religiösen Konnotation dieser Erwartung läßt der Widerspruch zwi- schen Integration in den Ländern und Wiederaufrichtung Israels die politische Komponente erkennen. Sie offenbart die illusionslose Wahrnehmung purer Machtmechanik, indem „eine gleichzeitige Erhebung aller jener unterdrückten Racen sich vorbereitet, die abwechselnd von asiatischer Barbarei und europäi- scher Civilisation, von stupidem Fanatismus und raffinierter Berechnung miß- handelt, mißbraucht und ausgesogen, dem barbarischen und civilisirten Hoch- muthe der herrschenden Racen im Namen eines höhern Rechts das Herrscher- recht streitig machen“ (ebd.). In den Schablonen der Mainstream-Propaganda kommt Hess ‘ Machtinterpretati- on natürlich nicht vor, die hinsichtlich des stupiden, sowohl im Okzident als auch im Orient als Zivilisation maskierten Fanatismus‘ nahezu seherisch die Schrecken des 20. und 21. Jahrhunderts vorwegnahm. Ebenso fehlt in der sich logisch ergebenden Geistesenge und Bildungsfurcht der ideologischen Antikultur die nun von Grözinger differenziert ausgeführte Untrennbarkeit jüdischer Exi- stenz von den gewachsenen Glaubensmanifesten, die die Basis für das Überdau- ern einer zweitausendjährigen Diaspora bilden. Deren Stabilität führt sich auf die Elastizität der Tora (Lehren des Pentateuch ) zurück, deren Bestand das rabbini- sche Judentum ausmacht und auf der historischen Interaktion von dogmatischer Mischna und pragmatischem Talmud (Studium) beruht. Letzterer ist eine Samm- lung von Diskussionen und Kommentaren zur Mischna und zur Gemara , einem Lehrsystem zu Fragen und Antworten der Halacha (Rechtswesen) und Haggada (Traditionen). Da diese komplexe Struktur im Rahmen der „zweifachen Tora“ schriftlich und mündlich praktiziert wird, stellt sie – bis hin zum aktuellen „interkulturellen Dialog“ (bzw. Trialog) – ein singuläres System zwischen dogmatischer Strenge und geistiger Beweglichkeit dar, das mit der existentiellen Logik der Gottesnähe als jüdischer Vernunft zwischen striktem Gehorsam und flexiblem Erfindungs- reichtum interagiert und den begrenzten Verstand der „Dialog“-Akteure weit übersteigt. Sie meinen die „Weltherrschaft der Juden“ zu erkennen, wenn deren Eliten sich diasporabedingt mit antijüdischen Kräften arrangieren, betreiben aber Psychoprojektion, weil sie selbst Europa zur Disposition stellen, um der Herr- schaft Allahs teilhaftig zu werden. Dazu heißt es: „… dies muß Tag um Tag erstrebt werden und zwar gemäß den Regeln des Intellekts, der Weise des Ver- standes. D.h. wir können Gott ähnlich sein, weil wir denken können wie Gott denkt; die natürlichen Kräfte der Vernunft tragen uns empor zur übernatürlichen Quelle der Einheit der Wahrheit – dies ist die theologische Folgerung der talmu- dischen Hermeneutik“ (Zitat Jacob Neusner – Grözinger 1, 225f.). In der überzeitlichen Tragfähigkeit dieses Systems, die ebenso systematisch von Nichtjuden als Hybris mißdeutet wird, steht im Zentrum jüdischer Existenz das stets präsente Wissen darum, daß wer wie Gott denkt, auch das Töten mitdenken kann, jene Gefahr, die der Jude Jesus mit dem „ersten Stein“ den Priestern ins Gedächtnis rief. Während der Koran gegenteilig entscheidet, spielt daher eine

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wichtige Rolle das spezielle Eigeninteresse der jüdischen Gläubigen, das im Wissen um das Böse liegt. Dies besteht nicht in dem, was Machthaber für böse erklären, sondern resultiert in einem Handeln, das sich gegen das Gesetz als Willen Gottes richtet. Den Schutz dagegen liefern die Tora und ihre Begleitin- strumente, die den Menschen als ein Wesen behandeln, das zur Sünde, aber auch zu deren Ablehnung fähig ist. So wird statt Hegels Zirkel, der Freiheit als „Einsicht in die Notwendigkeit“ versteht, eine radikale Ethik aktiviert, deren Gottesebenbildlichkeit extreme Leistungen für die Gemeinschaft, aber auch die Rebellion gegen Gott ein- schließt. Dessen Größe liegt nicht in profanem Glanz und Priestertrug, sondern in unbestechlicher Aufrichtigkeit, der nachzueifern die Bestimmung des Men- schen ist (ebd., 286). Insofern wirkt der jüdische Gott eher als Menschenlenker denn als Weltenherrscher, was über die ethische Bindung den Menschen zwar in die Mitlenkung der Welt einsetzt, zugleich aber auch die antisemitische Chimäre der „jüdischen Weltherrschaft“ begünstigt. Die radikale Ethik ist keine Einbahnstraße, sondern bindet sogar auch Gott, den Aufrichtigen, an die eigenen Regeln, eine zweiseitige Verpflichtung, welche einst die Juden Medinas wie vieles andere an Muhammad weitergaben: „Die Juden sagen: Allahs Hand ist gebunden“ (Koran 5/65). Diese Gebundenheit kehrt sich freilich für die islamische Gottheit, die anders als die jüdisch-christliche die Welt allein und ständig neu schöpft , ins logische Gegenteil. Um die jüdische Begrenzung, d.h. das verantwortliche Denken zu meiden, sieht der Koran mit der Dhimma (Schutz, Schuld) stringente Lebens- und Steuer-Regeln für die Juden (und Christen) vor. Und nicht nur das: Das Spiegelbild der Gottesebenbildlich- keit bedeutet die Menschenähnlichkeit des jüdischen Gottes, die ihn auf die Ri- ten verpflichtet und zu sich selbst beten läßt. Diese Konsequenz ist nicht paradox, wie Grözinger vermutet (ebd. 285), sondern folgt transzendentaler Logik, die sich auch im Islam fortsetzt. Da hier Allahs Hand nicht gebunden sein darf, entfällt auch die ethische Bindung und wandelt die Gottheit vom absolut Aufrichtigen in den absoluten Ränkeschmied, der – ganz ähnlich dem mythischen Trickster – „in die Irre führt, wen er will“ (14/4 – 73/39 – 74/31) und von Benedikt anhand des Manuel -Zitats auf den Prüfstand gestellt wurde. Indem der Pontifex den Konnex mit dem Menschen hinterfragte, kam er der Macht zu nahe und steigerte die Wut des „Kulturadels“. Denn dessen islamisches Heilsobjekt konzentriert Macht brennglasartig auf den vollkommenen Menschen Muhammad, den Allah im Laufe der sunnitischen Traditionsverhärtung selbst anzubeten beginnt (vgl. Nagel, Allahs Liebling, 153 – München 2009). Kein Wunder also, daß der „Dialog“ sich dem Islam anverwandelt, das Vorbild des Verkünders als Allahs Bote und Eroberer zur unerreichten Ikone und dessen Modell von Medina zur Richtschnur für die Unterwanderung der EU-Staaten entwickelt. So wird auch die Scharia zur logischen Orientierung der Gerichte und Verfassungsorgane für die Spaltung des Rechtsstaats und die Anpassung der Altbürger an koranische Vorschriften, um wie es in der Mantrasammlung heißt, „die Gefühle der Muslime nicht zu verletzen“.

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Daraus folgt, daß der simple Ausruf „Allahu akbar“ nicht nur den Muslim, son- dern jeden Menschen korrekten Willens in jenen Weihezustand versetzt, der ihn zum sakrosankten Vertreter eines göttlichen Auftrags macht. Gemäß der Totalität der Djihad-Anweisungen in Koran und Tradition wandelt er sich mit physikali- scher Konsequenz zu deren Vollstrecker gegen den „Unglauben“, was immer primitivere Kräfte zu „Experten“ macht, die Verwahrlosung der Institutionen beschleunigt und ihre sich verengende Konzentration auf den (Arbeits-)Dienst an den eingeschleusten Muslim-Massen zu erklären hilft. Fiktiv als „Flüchtlinge“ deklariert, sind sie eine faktische Zündstufe der Expan- sion, die moderne Version der Eindringlinge als Nachbilder des frühislamischen Modells von Medina, das nach der Hidjra (622) aus Mekka entstand. Im Lang- zeit-Gedächtnis der Muslime sind sie Muhammads muhadjirun , die aktuellen Nachfolger der historischen Auswanderer, Landnehmer und Steuereintreiber. Vorbereitet durch ein systematisch ausgebautes Moscheenetz und strikt bewahr- tes Koran-„Recht“ der Frauen auf Kontrolle, strömen sie in wahrhaft gewaltigen Schüben aus den Ländern des Islam, der ideologischen „Religion des Friedens“, nach Europa, nach islamischer Lesart ins „Land des Krieges“, wo sie mit Fokus auf Deutschland in einer offenen Gewaltspirale Allahs Auftrag folgen, die „Un- gläubigen“ bedrohen, ausrauben, körperverletzen, vergewaltigen und das ver- sprochene Paradies vorwegnehmen. Legitimiert durch Religionsfreiheit und befreit von jedem „Generalverdacht“, hebeln die neuen Heilsbringer und ihre islamhörigen, institutionellen Diener in der MASO-Industrie (Migration, Asyl, Sozial-Organisation) mühelos jeden Wi- derstand als „Volksverhetzung“ und „Rassismus“ aus, wobei die Gleichschaltung der Parteien, Medien, Universitäten und deren Herrschaft über das, was „Wis- senschaft“ sein soll, die Intelligenz des demokratischen Rechtsstaats ersticken. Dessen weltanschauliche Neutralität ist längst von Allah besetzt und in eine Ersatzreligion des nützlichen Gehorsams gewendet, die mit geradezu übernatür- licher Präzision eine koranische Zentralforderung erfüllt, nämlich unter Andro- hung drakonischer Strafen den erwähnten , demütigen Tribut zu leisten. Mithin wendet sich die Toleranz der Bürger, die die nicht bewältigbare islami- sche Immigration scheinaktiv integrieren, zur Affordanz , zur kollektiv diktierten Nutzbarkeit (s.o.), die sie mit der Toleranz des Anderen zur Intoleranz gegenüber sich selbst zwingt. Während Kritik daran vor Jahrzehnten noch gemäßigt als „Pessimismus“ getadelt wurde, gilt sie mit fortschreitender Radikalisierung heute als „Rassismus“, der den Altbürgern einen biologistischen Pariastatus ankündigt. Legt man den Machtklerus zugrunde, wirkt eine ähnliche Struktur scheinbar auch im christlichen Gottesbegriff, der den Mißbrauch brauchte, um Praktiken wie früher Ablaß und Inquisition und heute den „interreligiösen Dialog“ zu pro- duzieren. Da Jesus dagegen die jüdische Schrift vollendet, indem er die Macht auf den Menschen verpflichtet, schafft er ein ethisch erweitertes Glaubensleben, das mit dem persönlichen Gott eine gänzlich andere Konsequenz für die Ge- meinschaft zieht.

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Denn aus der romhörigen Dekadenz der antiken jüdischen Geistlichkeit und deren politethischem Vakuum zwischen Mensch und Gott ergibt sich nicht die Abkehr, sondern die Hinwendung Gottes zum Menschen, die mit dem Gottmen- schen „das Gesetz erfüllt“, d.h. das Machtproblem fundamental zur Diskussion stellt. Das bis heute unerhört Neue besteht in der Zeitlosigkeit des jesuanischen Stolpersteins für das elitäre Machtprivileg, in der unausweichlichen Forderung an die Herrschenden, den Grund für das Böse in der Welt nicht dem Menschen oder gar einem „göttlichen Rat“ anzulasten, sondern bei sich selbst zu suchen: „…der werfe den ersten Stein“. Indem Jesus den Machthabern das Recht einräumt, den ersten Stein auf die Ehe- brecherin zu werfen, wenn sie ohne Schuld sind, ironisiert er den Zwang der Macht, ihr Herrschaftsprivileg mit Gott zu verbinden, und legt ihre Verantwor- tung für die Menschen offen, die sie mit seiner Kreuzigung epochal verfehlen. Hatte zuvor Sokrates die Staatsvertreter mit gespieltem Nichtwissen gereizt, so war es Jesus, der mit der Einebnung der Machtgefälle zwischen Elite und Volk sowie Mann und Frau zum so transzendenten wie realpolitischen Impetus einer Zeitenwende wurde. Und nicht nur das: Indem der Gottmensch auf diese Weise das Gesetz der Juden erfüllt, überbrückt er das Paradox zwischen Kontinuität und Diskontinuität der offenbarten Schrift und verbindet unter der Federführung des Präfekten Ratzin- ger „die Christen aufs Engste mit dem jüdischen Volk“ (Verlautbarungen 152, 161). Wenn an dieser Stelle die Bibelkommission davon spricht, daß man in der Vergangenheit den Fehler begangen hat, „einseitig nur das Trennende hervorzu- heben, ohne das zutiefst Verbindende zu beachten“, so bleibt, wie die Praxis des „interreligiösen Dialogs“ mit dem islamischen Gegenentwurf täglich beweist, „keine Alternative“ zum logischen Gegenteil, also das Gemeinsame hervorzuhe- ben, ohne das zutiefst Trennende zu beachten . Wie nun erkennbar, ist das zutiefst Trennende nichts Geringeres als das Gotteskonzept selbst, das Benedikt in der Regensburger Rede aus dem ideologisch verordneten Zwangsschlaf holte. Dessen überzeitliche Ironie erinnert an die religiös legitimierte Macht in Chri- stentum und Islam, die mit Kreuzzügen und Inquisition einerseits sowie Juden- und Christenverfolgung andererseits ein zeitloses Gefangenen-Dilemma demon- striert. Während der Islam darauf verweist, die „beste Gemeinschaft des Erdkrei- ses“ (3/111) zu sein, die „keinen Zwang im Glauben“ (2/256) kennt, und damit jede humane Fessel sprengt, vertagte der Machtklerus das Jesus-Ereignis, indem er die Schuld der Herrschenden in die Verewigung des „Sündenfalls“ verschob. Dies mußte sich regelmäßig in unchristlichen Existenzformen verfangen, solange die „Verantwortlichen“ die Machtwarnung des Kirchenstifters in den Wind schlugen und die Kraft der Glaubensherde zur Kollaboration mit Fürsten und alternativen Gottheiten einsetzten, sich damit also Allahs totalitäre Flexibilität aneigneten, die durch nichts gebremst werden kann (s.o.). So klagte die Glau- bensherde schon im 9. Jahrhundert über die Harmonie-Politik in Byzanz und Venedig, die Razzien der Muslime mit Raub, Mord und Versklavung zu ver- harmlosen, und denkwürdig ist ein Halbjahrtausend später das Verbot von Wi-

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derstand gegen die Osmanen als „Kampf gegen Gott“ (Werner, Die Geburt einer Großmacht, 139 – Wien 1985). Inzwischen ein Jahrtausend alt, hält diese Kontinuität bis in den „Dialog mit dem Islam“ an, dessen Expansion gemäß der EU-Politik auch zu den offiziellen Zie- len des Klerus gehört, wie Kardinal Marx , Bischof von München und Vorsitzen- der der Europäischen Bischofskonferenz, unermüdlich predigt. Er kann sich der Zustimmung vieler seiner Brüder im Glauben sicher sein, zu denen gewiß nicht die Juden und Christen im Orient zählen. Zumindest nicht bei Kardinal Woelki , dem imamähnlichen Bischof von Köln, der die Gewaltregeln des Islam als Be- reicherung für das Christentum sieht und für die Christenschlächter des ISIS die Anerkennung uneingeschränkter Menschenwürde einfordert (Kölner Stadt- Anzeiger 11.12.2015). Wie oben skizziert, gibt es solche Konstellationen im Judentum weniger, nicht nur materiell aufgrund der Diaspora, sondern vor allem spirituell, weil die un- teilbare Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch die Nächstenliebe auf die Gemeinschaft begrenzt, während sie sich im Christentum trinitarisch verzweigt, auf das Andere projiziert, also objektiviert und die endlose Leib-Seele- Diskussion in Gang hält. Im Sog der Moderne wandelte sich diese Struktur in eine subjektphilosophische Denkfigur zwischen Religion, Wissenschaft, Technik und Kultur und ersetzte das Gottesbild durch Motivfelder wie Kapital, Arbeit, Bildung und Unterhaltung, die ein pluralistisches Weltbild vorgaukeln und das Bewußtsein des Menschen hinreichend spalten, um es auf eine „multioptional“ vernetzte Funktionsfähigkeit zu trimmen. Dazu gehört natürlich in wachsendem Maße die koranische Dhimma , die jü- disch-christliche Pflicht, das gesamte Leben und Vermögen dem Islam dienstbar zu machen. Wie nun immer deutlicher erkennbar, stellt dieser Weltbildwandel nicht weniger als Europa und Israel als Exponenten der Altkultur zur Dispositi- on, was Benedikts historische Bedeutung verstärkt. Sein Rücktritt kann als Aus- löser für die antikulturelle Entfesselung erscheinen, die seit 2013 den damm- bruchartigen Gewaltschub im Orient und die Überflutung des Okzident nicht nur mit „Flüchtlingen“ bewirkte, sondern auch mit einem zunehmend pöbelhaften „Kulturadel“, dessen Effizienz darin besteht, jede Forderung nach Mäßigung als „Provokation“ zu ersticken. Dies kommt speziell im Umgang mit Zionismus und Schoah zum Tragen, dem Hauptthema des zweiten Teils, das von besonderer Relevanz für das Verhältnis der christlichen und jüdischen Bibel-Interpretation und deren Auswirkung auf die politreligiöse Entwicklung zwischen Judentum, Euro-Antizionismus und Islam ist.

Dr. Hans-Peter Raddatz, Orientalist und Finanzanalytiker, ist Autor zahlreicher Bücher über die moderne Gesellschaft, die Funktionen der Globalisierung und den Dialog mit dem Islam.

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Horst Schröder

Hinter den Kulissen der Demokratie

Der Autor des hier vorzustellenden Buches ist Mitglied des deutschen Bundesta- ges und gehört zur CDU/CSU-Fraktion. Sein Buch beruht auf eigenen Erfahrun- gen und finanzpolitischen Einsichten, es ist ein erschreckendes Dokument der Zeitgeschichte:

Klaus-Peter Willsch, Von Rettern und Rebellen. Ein Blick hinter die Kulis- sen unserer Demokratie, Finanzbuchverlag, München 2015

In vierfacher Hinsicht sind die Berichte und Analysen von Klaus-Peter Willsch überaus bemerkenswert. Sie zeigen auf: 1. Wie Deutschland, vertreten durch die jeweiligen Bundesregierungen, europäi- sche Vertragsregelungen, wie etwa die Maastrichter Verträge, die einen stabilen Euro gewährleisten sollten, über Bord warfen und seitdem eine vertragswidrige Regelung nach der anderen mitmachte. 2. Wider alle ökonomische Vernunft wurden milliardenschwere, sogenannte Rettungsprogramme eingeführt, ohne daß etwa am Beispiel Griechenland auch nur ein Ziel bisher erreicht wurde: Weder der Abbau der Staatsverschuldung, noch die Herstellung einer Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Wirtschaft. Noch hat sich die Arbeitsmarktlage verbessert, sondern die Zahl der Arbeitslosen ist angestiegen. 3. Das Parlament, der Deutsche Bundestag, ist mit unvollständigen, unzulängli- chen und teilweise falschen Darstellungen und mit ständigem Zeitdruck an einer kritischen Entscheidungsfindung systematisch gehindert worden; Damit wurden elementare Parlamentsrechte ausgehöhlt. 4. Die EZB praktiziert vertragswidrig ein total anderes Selbstverständnis, das weit über die festgelegten und üblichen Aufgaben einer zentralen Notenbank hinausgeht. Es war das große Verdienst der Regierung Helmut Kohls und ihres Finanzmi- nisters Theo Waigel , die Einführung des Euro als gemeinsame europäische Wäh- rung in den Maastrichter Verträgen mit den Prinzipien einer soliden Finanz- und Währungspolitik (Geldwertstabilität und Schuldenabbau) abgesichert zu haben. Man hatte ein sogenanntes „No Bail out Verbot“ in den Vertrag geschrieben, das heißt, ein Verbot, welches den Mitgliedsländern der Eurozone untersagte, für die Schulden eines anderen Mitgliedslandes aufzukommen. Wann wollte damit ei- nen faktischen Zwang ausüben, daß jedes Euromitgliedsland den jeweiligen Schuldenabbau eigenverantwortlich zu realisieren hat. Außerdem hatte man in die Maastrichter Verträge konkrete Zahlen und Zielwerte zum Thema Schuldenabbau hineingeschrieben, nämlich, daß die Gesamtver-

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schuldung im Verhältnis zum jeweiligen Bruttoinlandprodukt 60% nicht über- schreiten sollte und jährliche Neuverschuldung maximal 3% betragen dürfte. Eine monetäre Staatsfinanzierung seitens der EZB sollte nicht gestattet sein. Die EZB sollte wie die Deutsche Bundesbank eine von der Politik unabhängige Insti- tution werden. Keiner dieser Grundsätze ist bisher eingehalten worden, im Gegenteil: Diese Grundsätze wurden bewußt und mit Zustimmung aller Beteiligten, also auch Deutschlands, über Bord geworfen. Das Buch von Klaus-Peter Willsch schildert eindrucksvoll, wann und wie diese Grundsätze ignoriert wurden und daß heute keine Chance mehr besteht, kraft anderer Faktenlage jemals wieder zu einer Vertragseinhaltung zurückzufinden. Im Mai 2010 begann dieser Weg. Mit dem ersten großen sogenannten Rettungs- paket für Griechenland wurden die vertraglichen Zielsetzungen und Prinzipien durch Beschlüsse der Regierungschefs aufgehoben. Keine Regierung und kein Parlament widersprachen. Im Gegenteil: Für die Südländer begann damit der Freispruch, weiter Schulden zu machen, und die EZB läutete durch Aufkaufpro- gramme von Staatsanleihen federführend eine Mitwirkung an dieser Form der Staatsfinanzierung ein. Ökonomisch und finanzwirtschaftlich haben die diversen sogenannten Rettungs- pakete jedenfalls für Griechenland so gut wie nichts gebracht – mit Ausnahme einer Sanierung griechischer Banken zu Lasten europäischer Steuerzahler. 2010 betrug der Schuldenstand Griechenlands im Verhältnis zum Bruttoinlandspro- dukt 148,3%. In diesem Jahr (2015) stieg die Staatsverschuldung auf 180,2% im Verhältnis zum heutigen BIP. Ähnliche Ergebnisse zeigten sich auch bei anderen südeuropäischen Ländern (Portugal von 94,0% auf 124,4%, Spanien von 61,5% auf 100,4%, Italien von 119,3% auf 133,1%, siehe S. 237).

Die Behandlung des Parlaments

Die Behandlung des Parlaments und von Abgeordneten, die bezüglich der Grie- chenlandprogramme und anderer Rettungsprogramme eine von der Bundesregie- rung abweichende Meinung vertraten, ist ein besorgniserregendes Dokument für jeden, für den das Parlament Ausdruck von Demokratie und Meinungsfreiheit darstellt. Der zuständige Haushaltsausschuß des Bundestages bekam zum Bei- spiel Entscheidungspapiere und Informationen häufig zwei bis drei Tage vor der Beschlußfassung im Plenum des Bundestages. Dabei handelte es sich manchmal um Unterlagen von 100 und mehr Seiten, die teilweise auch noch unübersetzt in Englischer Sprache vorgelegt wurden. Manche dieser Unterlagen wurden als geheim eingestuft, so daß auch keine externen Sachverständigen hinzugezogen werden konnten. Unter solchen Bedingungen ist eine echte Prüfung nicht möglich. Noch schlim- mer aber war der persönliche Druck auf die Abgeordneten, die eine eigenständi- ge Auffassung vertraten. Die Fraktionsführungen griffen sogar den Bundestags- präsidenten an, weil er Abweichlern ein Rederecht einräumte. Eine diesbezügli-

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che Änderung der Geschäftsordnung wurde versucht. Der Blick hinter die Kulis- sen unserer Demokratie, wie der Untertitel des Buches von Klaus-Peter Willsch lautet, eröffnet den Blick in Abgründe unseres Verfassungssystems. Die Bundes- regierung wollte den Einfluß des Parlaments, wie auch des Bundesrechnungsho- fes, auf die laufenden Verhandlungen möglichst gering halten. Das Motiv dieser ständigen faktischen Ausschaltung, bzw. Einflußminimierung des Parlaments war und ist klar erkennbar: Die Bundesregierungen rückten Schritt für Schritt immer weiter von den üblichen, auf Stabilität ausgerichteten Vertragszielen ab und erfüllten sukzessive immer stärker die Wünsche und Ver- haltensweisen der südeuropäischen Partner – vertragsverletzend und volumen- mäßig im Hinblick auf Kredit-, Bürgschafts- und/ oder Zahlungsverpflichtungen deutscherseits. Bundesbankpräsident Weidmann kommentierte diese Entwick- lung in der ihm eigenen vornehmen, aber verständlichen Sprache mit den Wor- ten: „Die Vorgaben für die nationalen Fiskalregeln lassen noch erhebliche Spiel- räume, und auf europäischer Ebene wird nicht kontrolliert, inwieweit sie dann auch tatsächlich eingehalten werden. Ob hier tatsächlich ein grundliegendes Umdenken stattgefunden hat, wird man abwarten müssen. All dies läßt zumin- dest leise Zweifel aufkommen.“ (S. 149/150) Weidmann warnt in diesem Zu- sammenhang, daß die Schere zwischen Haftung und Kontrolle immer weiter auseinanderginge.

Die Rolle der EZB

Am 26. Juli 2012 hatte EZB-Chef Draghi (ehemaliger Goldman-Sachs-Manager und ehemaliger italienischer Notenbankpräsident) vollmundig angekündigt, daß die EZB das Eurokrisenmanagement übernehmen werde: „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the Euro. And believe me, it will be enough.“ (S. 211) Von da an durfte die EZB unbegrenzt Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt kaufen. Die strikte Trennung von Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik wurde aufgehoben. Seitdem läuft ein Billionen Euro Ankaufpro- gramm der EZB von vorrangig südeuropäischen Staatsanleihen. Die Folge ist klar: Statt Schuldenabbau werden von diesen Ländern neue Schulden gemacht – und die deutsche Regierung macht schweigend mit. Der EZB-Leitzins wurde in mehreren Schritten bis auf kaum meßbare 0,05% gesenkt, womit die EZB massiv die Schuldenstaaten subventionierte.

Eurofin-Beschlüsse

Bezüglich der Hilfsmaßnahmen der Eurofin zugunsten Spaniens, Portugals und Zyperns verfuhr die Bundesregierung gegenüber dem Bundestag ähnlich wie in Sachen Griechenlandmaßnahmen. Ein Großteil des Bundestages ließ leider aber auch so mit sich umspringen. Von der Wahrnehmung einer Kontrollaufgabe, erst recht etwas einer Bestimmungs- und/ oder Entscheidungsrolle (real und nicht nur formal) war weit und breit keine Spur. Der Staatsrechtler Prof. Murswiek , der u.a. Peter Gauweiler vor dem Bundesverfassungsgericht juristisch vertreten hat, hat zu Recht argumentiert, daß das Verbot der monetären Staatsfinanzierung

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zentrale Bedeutung für die Absicherung des Demokratieprinzips hat. Entspre- chend hat sich auch das Bundesverfassungsgericht geäußert. Ohne jegliche Par- lamentskonsultation verlaufen im übrigen auch die Hilfszahlungen an Nicht- Eurostaaten, soweit es sich dabei um EU-Länder handelt.

Die Aktionen der EZB

Das Handeln der EZB beruht auf Selbstermächtigung ohne demokratische Grundlage. Die EZB dient mit ihrer sogenannten Geldmengenpolitik der Fortset- zung der Staatsverschuldung der südeuropäischen Länder und der Börsenspeku- lation. Geschädigt werden demgegenüber mit der faktischen Nullzinspolitik die deutschen Sparer, denen man auch noch die bestehende Einlagensicherung in eine europäische einfügen will - zur Absicherung maroder südeuropäischer Ban- ken. Diese Banken kennen bisher eigene Einlagensicherungssysteme überhaupt nicht. Der Autor des Buches, MdB Klaus-Peter Willsch , kommt zu einer vernichtenden Gesamtbewertung. „Die Bilanz von 9 Jahren Eurorettungspolitik ist katastro- phal“ (S. 237). Der Schuldenstand der Eurozone ist deutlich gestiegen. „Die Eurokrise ist eine Geschichte des gebrochenen Wortes. Mahnungen und War- nungen verhallten wie die Rufe Kassandras.“ Widerspruch zu den Darstellungen und Fakten des MdB liegen bis heute von offizieller Seite nicht vor, so daß man davon ausgehen muß, daß die Fakten und Wertungen in diesem Buch zutreffend dargestellt werden.

Dr. h.c. Horst Schröder, langjähriger Bundestagsabgeordneter und Präsident des Landesrechnungshofes Sachsen-Anhalt, ist Mitarbeiter am „Institut für Ge- sellschaftswissenschaften Walberberg“ in Bonn.

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„absolute Monarch“ Benedikt hielt näm- Besprechungen lich mit seiner den Konventionen wider- sprechenden Abdankung zu Lebzeiten Lebendigkeit der Institution der „für die Problematik ihrer Legitimi- tät unempfänglichen Kurie, die lediglich In den Bereich der Vorhölle verwies den Erfordernissen der Wirtschaft und Dante Papst Coelestin V. in seiner der weltlichen Macht zu genügen sucht“ Commedia. „Feige“ sei die „große Wei- (13), die Fülle seiner überlegenen geist- gerung“, der Rücktritt von 1294, gewe- lichen Primatialgewalt entgegen. Erst sen, so der Dichter. Mehr als sieben seit Benedikt ist es für die Stellvertreter Jahrhunderte später tritt abermals ein Christi wieder legitim, im Falle „körper- Pontifex aus freien Stücken zurück, licher Gebrechlichkeit“ (so der wörtliche doch diesmal ist alles ganz anders: „Be- Abdankungsgrund Coelestins ; im An- wundernswert“, „mutig“ und „revolutio- hang sind die beiden Rücktrittserklärun- när“ – ähnlich titelten die Medien beim gen Coelestins und Benedikts angefügt) Abgang Benedikts XVI. vor gut zwei auf ihr geistliches Amt zu verzichten. Jahren. Auch der in Venedig lehrende Philosoph Giorgio Agamben respektiert Abseits dieses zeit- und kirchenge- in seinem aus dem Italienischen über- schichtlichen Ereignisses nähert sich setzten schmalen Buch den „Mut, der in Agamben mit einer frühen Schrift Rat- unserer Zeit nicht selbstverständlich ist“ zingers über das Kirchenverständnis des (9). Donatisten Tyconius einem seiner eige- nen philosophischen Hauptthemen an. Giorgio Agamben: Das Geheimnis des Es ist die Problematik der philoso- Bösen. Benedikt XVI. und das Ende phisch-politischen Tragweite des Mes- der Zeiten (Fröhliche Wissenschaft sianismus. Und zwar sei die messiani- 066). Matthes & Seitz, Berlin 2015, 70 sche Zeit als das Tempus der „Unwirk- S. samkeit des Gesetzes und der wesentli-

Daneben verweist Agamben aber auch chen Illegitimität jeder Macht“ (52) zu auf den „exemplarische(n) Charakter“ charakterisieren. Tyconius , ein vagabun- (9) dieses Schrittes. In der Entscheidung dierender Bischof des späten vierten sei mehr als nur die Resignation eines Jahrhunderts, nahm die augustinische alten, müden Mannes vor der Bürde des Zwei-Reiche-Lehre vorweg, doch er Amtes zu sehen. Vielmehr rufe sie die überspitzte sie zugleich auch: In seiner „Unterscheidung zweier wesentlicher Deutung des Zweiten Thessalonicher- Prinzipien unserer ethisch-politischen briefes lehrte er, der Leib der Kirche sei Tradition in Erinnerung (...), der sich gleichermaßen voll von Sünde wie Gna- unsere Gesellschaft nicht mehr bewußt de, erst das apokalyptische Ende scheide zu sein scheint: die zwischen Legitimität beide Seiten voneinander. Diese Zwei- und Legalität“ (10). Diese These bedarf geteiltheit sei somit die Ursache für den einer kurzen Erläuterung. In Anlehnung Aufschub der Parusie, der noch ausste- an Carl Schmitts Rechtsmodell verortet henden Wiederkunft Christi. In ihr gelte Agamben den wohl ältesten noch vertre- noch das Gesetz, das dereinst der apoka- tenen Legitimitätsanspruch bei der rö- lyptische „Mensch der Anomie“ (35), misch-katholischen Kirche. In eben der Antichrist, auflösen werde. dieser Atmosphäre habe ausgerechnet Folgt man Agamben , so hat die Kirche der ansonsten doch eher als erzkonserva- ihr „eschatologisches Büro“ (26) schon tiv verschriene Ratzinger revoltiert. Der längst geschlossen. Er diagnostiziert der

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christlichen Glaubensgemeinschaft, daß Analytisch zeigt er auf, daß die zügello- sie sich nur noch mit der Oikonomia se marktliberale Ideologie der Gegen- beschäftige, sozusagen ein spirituell wart die alte Idee der Gerechtigkeit ausgerichtetes Unternehmen sei. Ähn- abgelöst hat. Die häßliche Seite des lich kritisierte Papst Benedikt XVI. in Janusgesichtes zeige sich in einem über- seiner Freiburger Rede den Verlust des zogenen Fortschrittsoptimismus, dem Geschmacks des „Mysteriums“ der Verlust von Moralität und dem interna- Kirche. Anstelle der Wahrung des es- tionalen Terrorismus, zu dem Agamben chatologischen Elements sei die Kirche in seiner Trilogie „Homo sacer“ auch den Greifarmen einer weltlichen, end- Foltermethoden eines Rechtsstaates wie und zwecklosen Ökonomie verfallen. den USA in Guantanamo zählt. Die Benedikts Mut liegt Agamben zufolge in Demokratie befinde sich also schon erster Linie darin, daß er mit seinem längst in einem „unaufhaltsamen Nie- Schritt „mit dem eigenen Ende in Bezie- dergang“ (11). Gerechtigkeit aber sei ihr hung“ (29) trat und damit wieder „die wesentliches Fundament, darauf gelte es Sprengkraft des eschatologischen Ge- sich wieder zu besinnen. Angesichts heimnisses“ (ebd.) selbst zutage treten dieses politischen Pessimismus könnte ließ. Dieser „gesetzlosen Tat“ des Ponti- die Ratzinger‘sche Revolution ein stilles fex mißt Agamben jedoch auch eine für und dennoch aufrüttelndes Exempel die Gesellschaft in Gänze höchst essen- dafür sein, wie althergebrachte Institu- tielle Bedeutung bei, denn der Rücktritt tionen lebendig bleiben, gleich ob es Ratzingers spiegle das rechte Verhältnis sich dabei um eine absolutistische von Recht und Gerechtigkeit, Legalität Wahlmonarchie wie im Falle des und Legitimität wider. Papstamtes handelt oder um einen de- Es ist bewundernswert, wie Agamben mokratischen Staat. Die im rechten den Bogen von den theologischen Ge- Verhältnis stehenden Prinzipien von dankengängen des Paulus bis zu denen Legitimität und Legalität, von Gerech- Troeltsch‘ hin zu einer Gesellschaftskri- tigkeit und Recht, bilden mithin „das tik schlägt. kostbarste Gut der europäischen Kultur“ (31).

Alexander Ertl

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