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Interview Mit Andris Nelsons

Interview Mit Andris Nelsons

iCH HAtte NoCH Nie Be- SoNDeRe FReUDe DARAN, DeR ANFüHReR zU SeiN Der Verantwortung stellt er sich dennoch: Wir sprachen mit dem neuen Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons.

34 Musikstadt heute © Gewandhaus−Magazin© Gewandhaus−Magazin Herr Nelsons, wann haben Sie das Ge- Job als Profimusiker hatte ich als Trom- Nelsons: Absolut. Ich finde ohnehin, dass wandhausorchester zum ersten Mal ge- peter im Orchester der Rigaer Oper. wir mitunter zu stark trennen und in Pe- hört? Gleichzeitig habe ich zu dirigieren be- rioden denken – barock, klassisch, zeit- Andris Nelsons: Das erste Mal habe ich es gonnen und auch schon Sinfoniekonzer- genössisch und so weiter. Im Grunde be- auf einer LP gehört, noch zu Sowjetzei- te geleitet. Ich denke, jedes der beiden handelt Musik doch zu jeder Zeit ten. Es waren Brahms- und Mendels- Genres gibt dem anderen so viel Sauer- dieselben Fragen. Die Botschaft, die sohn-Sinfonien mit Maestro Masur. stoff, so viel Gutes, so viel an »Vitami- durch die Musik übertragen wird, ist je- nen«. Ein Orchester, das Oper spielt, ent- derzeit gleich stark. Egal, ob wir etwa Wie alt waren Sie? wickelt ungemein viel Flexibilität, Bach oder Widmann spielen: Beide spre- Nelsons: Ich war etwa acht oder neun kammermusikalische Qualitäten und die chen von denselben Dingen, nur in ver- Jahre alt. Es gab damals nicht viele Auf- Fähigkeit, gut aufeinander zu hören. Da- schiedenen Jahrhunderten. nahmen, die in der Sowjetunion erhält- von hat das Gewandhausorchester jede lich waren. Umso besser erinnere ich Menge. Wer sinfonische Musik spielt, Sie sprachen den Orchesterklang an. Kann mich an diese. Es war ein Hörerlebnis! entwickelt eine größere Bandbreite an ein Chefdirigent den Klang eines Orches- Schon allein der Klang und die Tradition, eigener Phantasie, an Dynamik, an Emo- ters verändern? die darin mitschwang. tionalität und Eigeninitiative. Wenn das Nelsons: In jüngerer Zeit identifizieren Nach der Unabhängigkeit Lettlands, als Gewandhausorchester sinfonisches Re- sich die Orchester immer öfter mit ihrer die Sowjetunion zusammenbrach, kamen pertoire spielt, spürt man, dass es das Geschichte und ihren Traditionen. Neh- all die anderen Aufnahmen hinzu, die kann. Man spürt, die Musiker spielen men Sie die Orchester in , Berlin historischen, später auch die mit Maes- eben auch Oper und wissen, wie man und Dresden. Sie sind räumlich nicht tro Blomstedt und mit Maestro Chailly. Sänger begleitet und auf die Balance ach- weit voneinander entfernt. Dennoch un- Ich habe alle Aufnahmen gekauft, denn tet. Sie tun das ganz automatisch und hö- terscheiden sich ihre Klänge deutlich ich bin ein leidenschaftlicher CD-Samm- ren aufeinander. Das allein ist schon et- voneinander. Das ist großartig, denn auf ler. In habe ich etwa 5000, in Boston was Besonderes. Gleichzeitig geschieht diese Weise bewahren sie sich ihre Iden- weitere 3000, und ich fange auch schon jedoch noch viel mehr: Wenn sie Sinfo- tität. Was das Gewandhausorchester be- in Leipzig an zu sammeln. Es sind lauter nik spielen, gehen sie über das Begleiten trifft, können wir auch vom ganz speziel- Originale, keine Kopien. Ich möchte im- hinaus und sind voll und ganz in ihr Mu- len Gewandhausklang sprechen: sehr mer auch die Booklets dabeihaben, weil sizieren involviert. sensibel, sehr transparent dort, wo ich die gern lese.

Haben Sie das Gewandhausorchester auch »Egal, ob wir etwa Bach oder Widmann schon als Opernorchester gehört? Nelsons: Ich habe es noch nicht im spielen: Beide sprechen von denselben Din­ Opernhaus gehört. Aber ich habe es schon gehört, wie es eine Sängerin be- gen, nur in verschiedenen Jahrhunderten.« gleitet hat – vergangenes Jahr beim Open Air im Rosental. Und ich kenne die DVD mit Verdis »Maskenball«, eine Live-Auf- Ich möchte deshalb nicht sagen, das Ge- Transparenz vonnöten ist, und dann wie- nahme mit Maestro Chailly. Ich war auch wandhausorchester sei eher ein Opern- der mit einem sehr reichhaltigen, war- bereits in der Oper, um Intendant Maes- oder eher ein Sinfonieorchester. Sondern men und vollen Klang, wenn es um tro Schirmer zu treffen und Möglichkei- es ist ein phantastisches Weltklasseor- Brahms, Mahler oder ten der Zusammenarbeit auszuloten. Ich chester mit einem sehr sensitiven, flexi- geht. Vielleicht ist dieser große, reiche möchte einen guten Kontakt halten, blen und warmen Klang und mit einer Klang für deutsche Orchester typisch. denn wenn auch Oper und Gewandhaus sehr kammermusikalisch geprägten Phi- Aber beim Gewandhausorchester kommt zwei verschiedene Institutionen sind, so losophie. Wenn man den Musikern zu- die Kombination aus Sensibilität und ist es doch dasselbe Orchester, das in bei- hört, wie sie zum Beispiel Bach spielen, Fragilität hinzu. Sie rührt, wie ich glau- den Häusern spielt. dann ist das fast Kammermusik. All das be, aus der einzigartigen Geschichte und zusammengenommen ergibt eine einzig- der Verbindung zu Bach, Mendelssohn Ist das Gewandhausorchester eher ein artige Qualität. und all den anderen großen Komponis- Konzert- oder ein Opernorchester? ten her, deren Werke hier uraufgeführt Nelsons: Ich liebe Oper und sinfonische Die Musik Bachs wird heute vielfach von worden sind. Musik gleichermaßen und unterscheide speziellen Barockensembles gespielt. Bach, nach dem Sie vorhin fragten, ist da nicht so streng. Schließlich habe ich Kann sich das Gewandhausorchester als ein gutes Beispiel: Wenn die Gewand- selbst mit Oper begonnen. Meinen ersten »Allrounder« da behaupten? hausmusiker Bach spielen, ist das kein

interview 35 © Gewandhaus−Magazin meiner Absicht, den Klang zu verän- dern. Selbst wenn ich eine derartige Ab- sicht hätte, wäre sie falsch, und ich wäre nicht in der Lage, sie willentlich umzu- setzen. Natürlich bewirkt ein Dirigent unbewusst Veränderungen, denn mit jedem Dirigenten wie auch mit jedem Gastsolisten spielt das Orchester ein bisschen anders. Es reagiert auf die Per- sönlichkeit, und das kann Veränderun- gen im Charakter, der Atmosphäre, der Farb- und Klangpalette bewirken. Ich kann als Dirigent zum Beispiel eine Far- be mehr betonen, vielleicht eine dunk- lere Nuance wählen. Auf diese Weise kann ich die so reiche Palette des Ge- wandhausorchesters nutzen und ganz individuell einsetzen, aber ohne die Ab- sicht, eine Veränderung zu manifestie- ren. Das wäre unmöglich und würde für mich als Dirigenten nur zu einem Desas- ter führen.

In Sachen Klang ist das Orchester sozusa- gen sein eigener Boss? Nelsons: Na ja, am Ende ist der Klang – ich will nicht sagen: sekundär, das wäre nicht das richtige Wort. Der Klang ist ei- epochengetreues Spiel. Sie spielen ein- feroce. Sie ist auch nicht italienisch oder nes der Dinge, die wir immer wahrneh- fach pure Musik, ohne zu denken: »Oh, französisch, sondern einfach leipzigty- men und mit der Spielweise des Orches- jetzt dürfen wir kein Vibrato spielen!« pisch. ters verbinden. Aber er hat einen Nein, sie spielen Bach eben gewand- anderen Boss: nämlich die Komposition. haustypisch. Und das ist weder roman- Ist Ihnen eine Spur dieser Spielweise auch Der Klang unterliegt dem konkreten Cha- tisch noch barock, sondern sensibel und schon beim Boston Symphony Orchestra rakter oder der Atmosphäre eines Stücks. transparent. Zurzeit nehmen wir ge- begegnet? Es gab ja historisch eine enge Wenn ein Orchester mit einem eher rei- meinsam Bruckner-Sinfonien auf. Dort Verbindung zu Leipzig. chen Klang ein transparentes Stück wie fühle ich diese Verbindung zwischen Nelsons: Das ist eine interessante Frage. etwa die »Trois Nocturnes« von Debussy Bach und Bruckner sehr stark – genau In Boston gibt es tatsächlich eine deut- spielt, dann geht es nicht mehr nur um wegen dieser Transparenz. Nur sie spie- sche, aber auch eine sehr französische Klang. Dann liegt die Priorität darin, den len Bruckner auf diese Weise. Denn sie Tradition. Die Boston Symphony spielt Charakter der Musik auszudrücken. Der haben ein Gespür für Bruckners Origina- wunderbar in französischer Tradition, Klang muss entsprechend angepasst wer- lität und zugleich für das religiöse Mo- aber gleichzeitig ist es nicht französisch, den. Ich denke, die Dinge passieren in ment in dessen Musik. Ich habe wirklich auch nicht amerikanisch, sondern eben dieser Reihenfolge. Niemand sagt: »Wir noch nie ein Orchester in dieser Weise typisch Boston. Kein anderes amerikani- spielen immer so, und das Stück ist uns Bruckner spielen gehört. Es ergibt so sches Orchester kann auf genau diese egal.« An erster Stelle kommen der Kom- viel Sinn für mich, weil ich ein religiöser Weise spielen. Das ist gut mit Leipzig ver- ponist und seine Idee, der Charakter und Mensch bin. Es gibt zwei Komponisten, gleichbar. die Atmosphäre seiner Musik. Mendels- nämlich Bach und Bruckner, wo man am Um jedoch auf Ihre vorhergehende Fra- sohns »Sommernachtstraum« zum Bei- Ende fühlt: Man kann Vergebung und ge zurückzukommen: Wenn ich eine so spiel kann nicht schwer gespielt werden. Erlösung finden. Dass das Gewand- wunderbare Gelegenheit bekomme, mit Wagner dagegen darf nicht zu leicht ge- hausorchester das auszudrücken ver- einem so wunderbaren Ensemble wie spielt werden. Der Klang dient also dem mag, freut mich ungemein. Es liegt auch dem Gewandhausorchester zu arbeiten, Komponisten. Der Komponist ist meiner in seiner Art zu spielen begründet, die dann ist es meine Aufgabe, die Tradition Meinung nach der »Diktator«. Wir spie- nicht sehr deutsch ist, eher leicht und fortzuführen. Daher liegt es nicht in len nach seinem Willen.

36 interview © Gewandhaus−Magazin Lassen Sie uns über einen Ihrer Vorgänger reden: . Er war 21, als er Musikdirektor des Leipziger Theaters wur- de. Mit 23 dirigierte er zum ersten Mal »Rheingold« und »Walküre« – beides ohne Proben, er musste einspringen – und mit 32 den kompletten »Ring«. Ein Jahr spä- ter wurde er Chefdirigent in Boston, mit 39 Gewandhauskapellmeister. Das erin- nert an Ihre Karriere. Wie gefällt Ihnen der Vergleich? Nelsons: Arthur Nikisch war eine geniale Persönlichkeit und ein genialer Dirigent. Ich bin in gesundem Maße selbstkritisch, deshalb würde ich mich niemals mit ihm vergleichen wollen. Interessant ist für mich der historische Vergleich nur inso- fern: Ich habe auch sehr früh mit dem »Ring« begonnen. Und dass ich wie Ni- kisch die beiden Positionen in Boston und Leipzig innehabe und Wagner liebe – da besteht schon eine Verbindung. Es ist sehr interessant, ihn in der historischen Filmaufzeichnung zu sehen, die es von ihm gibt. Er ist so klar in seinen Bewe- gungen und so ausdrucksstark mit seinen Augen. In dieser Hinsicht sind wir wohl sehr verschieden. Ich dirigiere ganz an- ders. Das hat sich bei mir mit der Zeit aus Die Galerie von Persönlichkeiten ist je- habe keinerlei Bedürfnis, irgendwelche den Erfahrungen entwickelt: Ich habe ge- denfalls enorm, ich bin schließlich schon egoistischen Elemente in die Aufführung merkt, was dem Orchester hilft und was der 21. Gewandhauskapellmeister. Es ist einzubauen. Nicht ich bin das Genie, son- ihm oder der Musik eher nicht hilft. eine große Ehre, aber auch eine riesige dern der Komponist ist es. Mein Ziel ist Verantwortung. Das Einzige, was ich vielmehr, mit allem Respekt das zu prä- Wie gefällt Ihnen insgesamt die Reihe Ih- wirklich tun kann, ist, der Musik, den sentieren, was der Komponist nach mei- rer Vorgänger in Leipzig? Komponisten, dem Orchester und dem nem Dafürhalten ausdrücken wollte. Das Nelsons: Im Gewandhaus gibt es einen Publikum ehrlichen Herzens zu dienen ist das eine. Das andere ist der Respekt Flur, da hängen alle ihre Porträts. Wenn und die Tradition zu respektieren. Ein gegenüber den Musikern. Es ist mir sehr ich dort entlanggehe, diese großartigen englischer Ausdruck lautet: »Looking wichtig, neben dem professionellen Kon- Persönlichkeiten sehe und ihren Geist into the future with the eyes of the past« takt auch einen menschlichen zu finden. spüre, dann frage ich mich: Was mache – durch die Augen der Vergangenheit in Ich möchte nicht nur Anweisungen ge- ich eigentlich hier? Ich wünschte, ich die Zukunft schauen. Genau das möchte ben: Das muss kürzer gespielt werden könnte sie alle persönlich kennenlernen ich tun. oder länger, feroce oder sul ponticello, und mit jedem einzelnen von ihnen re- forte oder fortissimo. Das ist reine Be- den, selbst wenn es nur fünf Minuten wä- Musiker des Gewandhausorchesters sa- rufssprache, die natürlich notwendig ist. ren, um aus der Historie zu lernen. Ich bin gen, dass sie sich mit Ihnen und in Ihren Es gibt aber auch die Sprache der Imagi- so froh, dass ich noch begeg- Händen wohlfühlen, dass es guttut, mit nation, der Metaphern. Ich versuche, in nen und mit ihm reden durfte. Das war Ihnen zu spielen. Wie machen Sie das? beiden Sprachen mit den Musikern zu nicht lange, bevor er gestorben ist. Wir Was ist Ihr Geheimnis? reden, denn ich möchte, dass wir einan- hatten ein sehr warmherziges und emoti- Nelsons: Es berührt mich, das zu hören. der als Menschen vertrauen. Manche onales Gespräch. Ebenso habe ich Herbert Vielen Dank. Ich weiß nicht, woran es Musiker sprechen mehr auf die techni- Blomstedt getroffen. Er ist so ein char- liegt. Es ist einfach eine enorme Freude schen Termini an. Wenn ich zum Beispiel manter und beeindruckender Mensch. und gleichzeitig ein großes Privileg, Mu- sage: »Können Sie sich bitte vorstellen, Auch mit konnte ich sik aufzuführen und mit anderen teilen dass diese Phrase nach Rosen duftet?«, mich viele Male unterhalten. zu dürfen. Ich bin glücklich darüber und dann fragen einige: »Was meinen Sie da-

interview 37 © Gewandhaus−Magazin mit? Können Sie nicht einfach forte oder finden, mit denen ich arbeiten durfte. 1989 gab es hierzulande eine Friedliche mezzoforte sagen?« Das akzeptiere ich. Für mich ist es auf jeden Fall sehr wich- Revolution. Im Baltikum war zu dieser Es mag für manche wie ein Witz klingen, tig, diese menschliche Verbindung her- Zeit die Singende Revolution in vollem wenn der Dirigent den ersten Violinen zustellen. Ich hatte noch nie besondere Gang. Haben Sie diese miterlebt? sagt: »Bitte spielen Sie einen Rosenduft.« Freude daran, der Anführer zu sein. Ich Nelsons: Ja, ich war in Riga und habe das Möglicherweise dreht sich der Konzert- wollte Dirigent werden, um all das Gute als Elf-, Zwölfjähriger alles miterlebt. meister dann um und sagt seinen Leuten: zu teilen, was in der Musik steckt, was Lettland ist ein Land, in dem viel gesun- »Okay, wir spielen mezzoforte.« Natür- das Publikum und auch wir selbst füh- gen wird und wo es viele gute Laienchöre lich braucht ein Spitzenorchester hohe len. gibt. In der Zeit der Besatzung war Sin- Professionalität. Die Musiker haben an gen oft die einzige Möglichkeit, die den besten Hochschulen studiert und Bei Wagners herrischem »Meistersinger«- Heimatliebe, die eigenen Gefühle, die mit den besten Dirigenten gearbeitet. Vorspiel zum Beispiel fühle ich nichts Gu- Verzweiflung und die Sehnsucht auszu- Wenn man ihnen dann also eine außer- tes. Wie gehen Sie mit derlei »Macht-Mu- drücken. Was wegen des politischen Re- musikalische Anregung gibt, muss man sik« um? gimes nicht mit Worten gesagt werden immer auch wissen, wie man das in tech- Nelsons: Wagner war als Persönlichkeit durfte, konnte man singend ausdrücken. nischen Termini ausdrückt. Das bedeu- sicher nicht einfach. Wie andere Kompo- Viele lettische Volkslieder sind metapho- tet, ich muss mich als Dirigent sehr gut nisten auch stand er in der Gefahr, sich risch, doppeldeutig, aber vordergründig vorbereiten und die Partitur sehr genau selbst für einen großen Meister zu hal- so naiv, dass die Zensur sie nicht verbie- studieren. Das erfordert Selbstdisziplin, ten. Aber wenn ich seine Musik dirigiere, ten konnte. Sie wurden vielfach auf den denn es reicht nicht aus, eine spirituelle dann denke ich trotzdem: Wenn man ein berühmten Lettischen Liederfesten ge- Idee zu haben und damit vor das Orches- Mistkerl ist, wie kann man dann etwas so sungen. Da kamen etwa 20 000 Leute zu- ter zu treten. Schönes wie »Tristan« oder »Parsifal« sammen und sangen gemeinsam die be- Ich habe immer Glück gehabt, eine wun- schreiben? Da entdecke ich eine Spiritua- kannten Volkslieder, Strophe für derbare Chemie mit den Orchestern zu lität, die durch die Komponisten spricht. Strophe, und das drei oder vier Stunden Weil sie so talentiert, so genial waren, lang. Auf diese Weise haben sie ihre Ei- bestand ihre Mission in diesem Leben da- nigkeit ausgedrückt. Als dann die rin, eine sehr starke Nachricht durch schwierigen Jahre der Revolution kamen, ihre Werke weiterzugeben. Sie waren war das die beste Waffe: Die Menschen auserwählt, durch ihre Musik etwas His- schlossen sich zusammen, und das Sin- torisches zu schaffen und die Welt zu gen vereinte sie. Man kann wirklich sa- verändern, aber sie wurden von einer Art gen, die Musik hat diese Revolution an- Spiritualität gelenkt. Sogar Wagner redet geführt, indem sie diese unglaubliche in seinen Büchern von Mitgefühl, Liebe Einheit schuf. und so weiter. Manchmal frage ich mich, wie das zusammenpasst mit dem, was er Sie haben mitgesungen? mitunter getan hat. Aber nur, weil es sich Nelsons: Natürlich. Ich war zuerst in ei- um eine schwierige Persönlichkeit han- nem Knabenchor. Weil meine Stimme delt, müssen wir sein Werk nicht damit ziemlich früh wechselte, hatte ich 1991 gleichsetzen. schon eine Männerstimme und sang in Wenn wir zum Beispiel einen Schauspie- einem Alte-Musik-Ensemble mit, das ler toll finden, den wir aus Filmen ken- meine Mutter gegründet hatte und leite- nen, dann sind wir umso enttäuschter, te. Ich sang jede Menge Renaissance-Mu- wenn er im echten Leben etwas Schlim- sik. Natürlich nahmen wir auch am mes tut. Wir denken: »O mein Gott, er Liederfest teil, hauptsächlich mit Volks- war mein Held, aber er ist genauso liedern, die für vier oder sechs Stimmen schlimm wie alle anderen, vielleicht so- arrangiert waren. Ja, ich war dabei, und gar schlimmer.« Dabei waren wir nur es ist ein Wahnsinnsgefühl, wenn da von den Rollen so begeistert, die er ge- 20 000 Menschen vereint sind. Du singst spielt hat. So ähnlich ist es mit der Mu- und bringst die Leidenschaft und die Zu- sik. Ich denke, die Komponisten wurden sammengehörigkeit einer Nation zum ohne ihr Wissen von etwas Transzen- Ausdruck. Das ist wirklich eine positive dentem geführt und haben Musik ge- Sache. Es war eine tolle Erfahrung. Das schaffen, die über ihren Charakter weit Chorsingen ist meiner Meinung nach im- hinausgeht. mer noch der größte Ausdruck der letti-

© Gewandhaus−Magazin schen Identität. Das wird in gewisser Weise von den Genen bestimmt – die Menschen wollen singen. Aber auch die Ausbildung spielt eine Rolle. Es gibt nach wie vor viele Musikschulen. Damals ging wohl jedes zweite Kind in die Musikschu- le. Es gab nicht viel anderes: Entweder wurden die Kinder zum Sport geschickt oder in den Musikunterricht. Oder zu beidem. Unser erster Fernseher war schwarz-weiß und hatte nur zwei Pro- gramme. Als wir ihn bekamen, war ich neun Jahre alt. Wir hatten auch kein Te- lefon. In dieser Umgebung hat man ein- fach mehr aus seiner Freizeit gemacht – und was man machte, war Sport oder Musik. Oder eben beides. Die Musik spiel- te also eine wichtige Rolle. Ich hoffe, dass das Land sich das bewahrt. Denn das ist etwas, worauf es stolz sein kann. Lett- land hat nur zwei Millionen Einwohner, und etwa zwei Drittel davon sind Letten. Das sind so wenige. Aber durch das Sin- gen erscheinen wir wie eine große Nati- on.

Warum sind Sie kein professioneller Sän- ger geworden? Nelsons: Ich habe Gesang studiert. norrollen. Eine der letzten Partien übri- türlich gibt es allgemeine Dinge, deren Gleichzeitig habe ich angefangen, Trom- gens, die ich als Sänger absolviert habe, Richtung sich nicht ändert. Aber bei so pete zu spielen und Dirigieren zu studie- war Bachs h-Moll-Messe. Ich spielte die vielem stellt man fest, dass es kompli- ren. Ich wollte alle drei Dinge gleichzei- erste Piccolotrompete im Orchester und zierter ist, als man dachte – oder auch tig tun. Wenn ich ein Dirigent werden ging dann nach vorn, um die beiden einfacher. Die sokratische Weisheit »Ich will, dachte ich, muss ich verschiedene Bass arien zu singen. Man kann beides weiß, dass ich nicht weiß«, ist die Grund- Erfahrungen sammeln. Ich habe extra tun, aber ich musste nach der ersten lage von allem, nicht wahr? auch ein wenig Cello gelernt, weil ich Arie, dem »Quoniam tu solus sanctus«, Interview: Claudius Böhm wissen wollte, wie es sich anfühlt, ein auf meinen Orchesterplatz zurücksprin- Aus dem Englischen: Juliane Moghimi Streichinstrument zu spielen. Eine Zeit- ten, weil im folgenden »Cum sancto spi- lang wollte ich alle vier Dinge weiterma- ritu« gleich wieder die Trompeten dabei chen. Aber es kam der Punkt, an dem mir sind. – Es war schon ein bisschen traurig, klar wurde, dass ich wählen muss. Am diese sängerische Passion aufzugeben. Ende fiel die Wahl auf das Dirigieren. Aber warum nicht auf eine Laufbahn als Herr Nelsons, vielen Dank für das lange Konzerttipps Sänger? Ich bin ein Bassbariton. Als jun- Gespräch. 22./23. und 25. Februar 2018, ger Mensch dachte ich mir, wenn ich ein Nelsons: Vielen Dank, es war wirklich Gewandhaus: Andris Nelsons dirigiert Tenor wäre – spinto, für Cavaradossi lang. Aber wenn man über Musik spricht, seine Antrittskonzerte als neuer oder Rodolfo –, dann würde ich weiter- ist das immer ein Prozess aus Diskutie- Gewandhauskapellmeister – pro- singen. Bass findet man in diesem Alter ren, Nachdenken und Philosophieren. grammatisch mit der Uraufführung nicht so interessant. Heute weiß ich, es Und es ist wichtig, sich für die Diskussion von Steffen Schleiermachers »Relief gibt so viele interessante Partien für Zeit zu nehmen. Mit jedem Gespräch für Orchester«, Alban Bergs Violin- Bassbariton. Jeder kennt Jago oder Rigo- wächst man, mit jeder Begegnung. Man konzert und letto, es gibt so viele Charaktere, oftmals erkennt neue Dinge und merkt, wo man Bartholdys »Schottischer Sinfonie«. interessanter und mit einer größeren sich geirrt hat. Ich sehe heute vieles an- Solistin ist . Bandbreite an Eigenschaften als die Te- ders als vor fünf oder zehn Jahren. Na-

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