Stefan Grosche Aus Marsberg/Sauerland
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1 Aus der Abteilung für Geschichte der Medizin (Prof. Dr. med. U. Tröhler, Ph.D.) im Zentrum Interdisziplinäre Einrichtungen des Fachbereiches Medizin der Universität Göttingen LEBENSKUNST UND HEILKUNDE BEI C.G. CARUS (1789-1869). ANTHROPOLOGISCHE MEDIZIN IN GOETHESCHER WELTANSCHAUUNG. Mit 16 unveröffentlichten Briefen von Carus an Goethe INAUGURAL - DISSERTATION zur Erlangung des Doktorgrades des Fachbereiches Medizin der Georg-August-Universität zu Göttingen vorgelegt von Stefan Grosche aus Marsberg/Sauerland Göttingen 1993 2 Dekan: Prof. Dr. med. E. Rüther I. Berichterstatter: Prof. Dr. med. U. Tröhler, Ph.D. II. Berichterstatter: Prof. Dr. med. Dr. phil. H. Schipperges Tag der mündlichen Prüfung: 26. April 1994 3 INHALTSVERZEICHNIS 1. EINFÜHRUNG S. 4 1.1. Stand der Forschung S. 9 1.2. Aufbau der Arbeit S. 15 2. JAHRESZEITEN EINES LEBENSLAUFES S. 16 2.1 Kindheit und Ausbildung in Leipzig (1789-1814) S. 18 2.2. Bedrohliche Anforderungen und schwere Erkrankung (1813/14) S. 21 2.3. Der neue Lebensschauplatz in Dresden (1814) S. 27 2.4. Vom Professor zum Leibarzt - nach Italien (1827/28) S. 36 2.5. Todeserlebnisse - Vereinsamung (1853-1869) S. 43 3. BEZIEHUNGEN ZUR MEDIZIN, NATURFORSCHUNG UND PHILOSOPHIE DER ROMANTIK S. 49 3.1. Die Leipziger Lehrer (1806-1814): Burdach, Heinroth, Joerg S. 53 3.2. Einflüsse der zeitgenössischen Naturforschung und Philosophie: Oken, Humboldt, Schelling, Krause, von Lüttichau S. 64 4. CARUS ALS INTERPRET GOETHES S. 85 4.1. Der Briefwechsel mit Goethe: geistige Begegnung und persönliche Distanz S. 88 4.2. Die Goethe-Schriften S. 100 4.3. Über Goethes Verhältnis zur Natur und über seine Naturwissenschaft S. 106 5. NATURERKENNTNIS UND KRANKHEITSAUFFASSUNG S. 118 5.1. Die "synthetisch-contemplative" Methode (Erkenntnistheorie) S. 120 5.2. Zeitgestalt und Lebenslehre (Bio-Philosophie) S. 137 5.3. Vom Leben des beseelten Organismus (Physio-Psychologie) S. 149 5.4. Vom Leben der Krankheiten (dreigliedrige Pathologie) S. 166 6. THERAPIE S. 184 6.1. Die viergliedrige therapeutische Methode S. 185 6.2. Konkrete Therapie und Arznei S. 189 7. LEBENSKUNST UND MEDIZIN S. 204 7.1. Die "Lebenskunst"-Schrift von 1863 S. 205 7.2. Der Einfluß Friedrich von Hardenbergs S. 215 7.3. Die Beziehung zur Lebensgestaltung und zum Werk Goethes S. 223 8. ZUSAMMENFASSUNG S. 226 9. ANHANG S. 231 9.1. Der Briefwechsel zwischen Carus und Goethe 1818-1831 S. 232 9.2. Bibliographie der Sekundärliteratur zu Carl Gustav Carus (1900-1992) S. 258 9.3 Literaturverzeichnis S. 273 9.4 Abbildungsverzeichnis S. 286 4 KAPITEL 1: EINFÜHRUNG Der Arzt, Psychologe, Philosoph, Naturforscher und Landschaftsmaler Carl Gustav Carus (1789-1869) kann als einer der letzten Universalgelehrten im klassischen Sinne gelten. Sein außerordentlich umfangreiches Lebenswerk umfaßt sowohl gynäkologische, physiologisch- anatomische, zoologische, geologische und wissenschaftsdidaktische Veröffentlichungen, als auch psychologische, philosophische und kunstästhetische Schriften, nicht zu vergessen das umfangreiche künstlerische Werk, sowie seine Reisebeschreibungen, die Fragmente der Dante-Übersetzungen, die "Poetischen Lebensspiegelungen" und die drei Goethe-Schriften. Zudem hat Carus mit einer am Lebensende nach Tagebuchaufzeichnungen und Briefen ver- faßten, mehr als 1200 Druckseiten umfassenden Autobiographie Rechenschaft über seinen Lebensgang abgelegt. Carl Gustav Carus gehört zweifellos zu den prominentesten Naturforschern und Ärzten in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts. Zu seinen wissenschaftlichen Erfolgen zählt die Erstbeschreibung des Blutkreislaufes der Insekten (1827b) und die Entdeckung des Polkörper- chens im Ei der Schnecke (1828). In vielen nationalen und internationalen wissenschaftlichen Gesellschaften und Akademien ist er Ehrenmitglied oder steht ihnen als Präsident vor. Er ist der Leibarzt dreier sächsischer Könige, dessen ärztlicher Rat auch außerhalb Sachsens gefragt ist. Als Direktor leitet er das königliche Entbindungsinstitut der neugegründeten medizinisch- chirurgischen Akademie in Dresden und die dortige Hebammenschule. Seine private Arztpra- xis wird von der Dresdner Prominenz wie von deren auswärtigen Gästen rege konsultiert. Mit seinem zweibändigen, vielfach nachgedruckten "Lehrbuch der Gynäkologie" von 1820 faßt Carus erstmalig Frauenheilkunde, Geburtshilfe und Neugeborenenmedizin in einer systemati- schen, psychosomatische Aspekte einbeziehenden Ganzheitsbetrachtung unter dem Begriff der Gynäkologie zusammen. Noch heute wird nach ihm die sogenannte Carus'sche Achse, die den Weg des kindlichen Kopfes bei der Geburt beschreibt, benannt. Von einer Reihe deut- scher Universitäten werden ihm verschiedene, ehrenvolle Lehrstühle angeboten, unter anderem in Dorpat 1814, in Breslau 1822 und 1823, in Berlin 1828 und 1829, und nicht zuletzt die Nachfolge des 1822 verstorbenen, berühmten Gynäkologen Friedrich Benjamin Osiander in der ersten akademischen Frauenklinik, dem in repräsentativer Architektur neuer- richteten Accouchierhospital in Göttingen. Mit seinen Goethe-Schriften erlangt Carus als einer der frühesten und eindringlichsten Goe- the-Interpreten einen bleibenden Ruhm. Seine Landschaftsgemälde, teilweise in engem Kon- takt mit Caspar David Friedrich entstanden, werden auf vielen bedeutenden Kunstaus- stellungen gezeigt und wohlwollend aufgenommen. Mit seinen vielgelesenen und mit Goethe besprochenen "Briefen über Landschaftsmalerei" (Leipzig 1835a) faßt er die Theorie der romantischen Malerei, der "Erdlebenbildekunst" zusammen. Mit Goethe steht Carus vor allem 5 durch einen sich über zehn Jahre erstreckenden Briefwechsel vorwiegend naturwissenschaft- lichen und künstlerischen Inhalts in enger Verbindung. Vor allem Carus' naturwissenschaftli- che Forschungen werden von Goethe enthusiastisch aufgenommen. In naturwissenschaftlicher Hinsicht findet Goethe durch Carus' morphologische Arbeiten "seine Sehnsucht verwirklicht und sein Hoffen über allen Wunsch erfüllt" (GOETHE (1887) Abt.IV, Bd.44, S.125). Die Frage, inwieweit diese Vertrautheit mit Goethes literarischem Werk und den naturwissen- schaftlichen Intentionen des Dichters für die ärztlichen Anschauungen von Carus von Belang ist, wird in der vorliegenden Arbeit immer wieder aufgegriffen. Obwohl Carus' Auffassungen sich im geistigen Horizont der Goethezeit bewegen und diesen zugleich einsam in die fol- gende Epoche hineinkonservieren, so sind sie doch auch, und das nicht allein in ihrer vielge- priesenen Universalität, originär. Besonders in seiner philosophisch-diätetischen Lebens- kunstlehre und in der Physiopsychologie heben sich die Entwürfe von Carus deutlich vom Kontext seiner Epoche ab. Unsere Zeit, der die Kompartimentierung des ungeheuren Erfahrungszuwachses der Wissen- schaften in säuberlich voneinander geschiedene Einzeldisziplinen zur selbstverständlichen Notwendigkeit geworden ist, blickt mit Unglauben und Bewunderung in die letzte Epoche der enzyklopädischen Forscherpersönlichkeiten zurück. Wir empfinden die Weitläufigkeit und Seelenruhe der verschlungenen Gedankenführung, die das geistige Streben des Idealismus und der Romantik nach einem Zusammenhang der Erscheinungen darstellt, als umständlich und subjektiv. Auch Carus erlebt, spätestens in seinem Alterswerk, schon das Unverständnis der zeitgenössischen Kritik, so z.B. bei der Rezension seiner 1859 herausgegebenen "Erfahrungsresultate aus ärztlichen Studien und ärztlichem Wirken während eines halben Jahrhunderts" von dem jüngeren Kollegen Horst Eberhardt Richter (1808-1876). Darin kommt, wenngleich in überzogener Form, auch unser unmittelbares Empfinden zum Aus- druck. Richter schreibt: "Die vorliegende (Schrift) besitzt ... alle Schriftsteller-Untugenden der abgelebten romantischen Schule (zu deren wenigen Überlebenden der Verfasser bekannt- lich gehört): Wir meinen die gespreizte, bedeutsam sein sollende Schreibweise, das süßliche Kokettieren mit der eigenen geistreichen Persönlichkeit, das anmaßlich-vornehme Herab- blicken auf die anderen minderbegabten Seelen, ... und die wortreiche Gehaltlosigkeit, welche dem Leser wie Schaumtorte nur etwas schmelzende Süßigkeit als Kern des ganzen Gebäckes im Munde hinterläßt" (RICHTER (1861), S.358). Die Zeit der idealistisch-romantischen Naturphilosophie, zu der die Medizingeschichtsschrei- bung oftmals vorschnell auch Carus rechnet, wird erst durch neuere historische Untersu- chungen von dem hartnäckigen Vorurteil schlichter Irrationalität befreit, während noch bis vor etwa zwanzig Jahren diskriminierende Charakterisierungen der Romantischen Medizin ein ablehnendes und verzerrtes Romantikbild zeichnen. Romantische Empfindsamkeit hat nach diesem Urteil in den exakten Naturwissenschaften und der Medizin nichts verloren, ihr Gebiet sind allenfalls die Literatur und die Künste. Selbst Goethe, der gewiß nicht als Romantiker 6 gelten kann, macht die Naturwissenschaft in Gestalt von Du Bois-Reymonds aufse- henerregender Rede "Goethe und kein Ende" (Leipzig 1883) den nur schwerlich hinter der Person Fausts verborgenen Vorwurf, dieser hätte "besser getan, ... Gretchen zu heiraten, sein Kind ehrlich zu machen und Elektrisiermaschinen und Luftpumpe zu erfinden, ... statt an Hof zu gehen, ungedecktes Papiergeld auszugeben, und zu den Müttern in die vierte Dimension zu steigen" (DU BOIS-REYMOND (1883), S.29). Goethe selbst beschreibt in der Einleitung des historischen Teils seiner Farbenlehre die Schwierigkeiten der Darstellung einer historischen Gedankenwelt folgendermaßen: "Es ist äußerst schwer, fremde Meinungen zu referieren, besonders wenn sie sich nachbarlich annä- hern,