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Das Bild der Zigeunerin in ausgewählten Werken von Adalbert Stifter, Karl Emil Franzos und

Masterarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades eines Master of Arts

an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von Strahinja Dobrivojević am Institut für Germanistik

Begutachterin: Ao.Univ.-Prof. Mag. Dr.phil. Ingrid Spörk Graz, 2017

Vorwort

Die Einstellung verschiedener Bevölkerungen der Welt gegenüber dem Fremden ist seit langem ein wichtiger Forschungspunkt, sowohl in der Politik und Geschichte, als auch in der Sprache und der Literaturwissenschaft. Die Bilder des Fremden reihen sich aneinander und sind ein unerlässlicher Bestandteil der Anerkennung jeder Minderheitsgruppe geworden. In einigen Fällen sind diese Bilder eine positive Annahme des Fremden, aber im größten Teil umfassen sie an breites Spektrum an Urteilen, Vorüberzeugungen und Verachtung.

Diese Arbeit, Das Bild der Zigeunerin in ausgewählten Werken von Stifter, Franzos und Hesse, hat das Anliegen, die eher negativen Bilder des Fremden aufgrund konkreter literarischer Beispiele aus den vorhandenen Werken darzustellen. Darunter befinden sich zwei Werke von Adalbert Stifter (Katzensilber und Der Waldbrunnen), ein Werk von Karl Emil Franzos (Die Hexe) und ein Werk von Hermann Hesse (Narziß und Goldmund). Alle Werke außer Die Hexe stellen ein Bild des Fremden dar, das obwohl als negativ am Anfang perzipiert werden könnte, resultiert eher affirmativ am Ende. Die Hexe hingegen ist eine Erzählung, an deren Beispiel sich das negative Bild des Fremden am besten verstehen lässt. Die Arbeit ist so eingegliedert, dass jeder Teil eine ausführliche Darstellung der wichtigsten Motive und Topoi umfasst. Aus diesem Grund wurden zuerst die theoretischen, mit den Roma verbundenen Ansätze präsentiert, wodurch die ganze Fragestellung besser verstanden werden kann.

Die Ergebnisse dieser Arbeit sind mit einem interdisziplinären Zugang zum heutigen Alltag und der synchronischen Position der Roma zu verbinden. Dies bedeutet, dass die Beziehung zum Fremden nicht nur die Literatur umfassen sollte, sondern auch den Film, das Theater und die Musik. Die Analysen der Werke dienen dazu, eine Ähnlichkeit zwischen der heutigen und ehemaligen Perspektive näherzubringen. Sie trachten auch zu zeigen, inwiefern sich das Bild des Fremden im Laufe der vergangenen zwei Jahrhunderte (nicht) verändert hat.

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung ...... 3

2 Herkunft, Sprache und literarische Darstellung der Zigeuner ...... 6

2.1 Die Herkunft der Roma ...... 6

2.2 Die Sprache Romanes ...... 8

2.3 Die häufigsten Darstellungsweisen der Roma in der Literatur...... 11

2.3.1 Die Roma als Fremde ...... 12

2.3.2 Die romantische Darstellung der Roma ...... 13

2.3.3 Die komische Darstellung der Roma ...... 14

3 Weiblichkeitstypen in der Literatur ...... 15

3.1 Die femme fatale ...... 15

3.2 Die femme fragile ...... 18

3.3 Die femme enfant ...... 19

3.4 Die ,,schöne“ Zigeunerin ...... 19

4 Zu den Autoren ...... 211

4.1 Adalbert Stifter ...... 21

4.2 Karl Emil Franzos ...... 23

4.3 Hermann Hesse ...... 24

5 Analyse der ausgewählten Werke im Hinblick auf die Figur der schönen Zigeunerin ...... 25

5.1 Adalbert Stifter: Katzensilber ...... 25

5.1.1 Inhalt und Symbolik ...... 255

5.1.2 Das braune Mädchen als femme enfant und als fremdes Faszinosum ...... 27

5.1.3 Die Beziehungen der Fremden zu den anderen Figuren ...... 29

5.2 Adalbert Stifter: Der Waldbrunnen ...... 32

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5.2.1 Inhaltsangabe ...... 33

5.2.2 Die Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und seiner Frau ...... 34

5.2.3 Mangel an Liebe ...... 35

5.2.4 Das Bild der ,,schönen“ Zigeunerin ...... 36

5.2.5 Das ,,wilde“ Mädchen ...... 38

5.2.6 Der Erziehungsprozess und die Domestizierung der ,,wilden“ Figur ...... 39

5.3 Karl Emil Franzos: Die Hexe ...... 45

5.3.1 Inhalt ...... 45

5.3.2 Das Bild der Zigeuner ...... 46

5.3.3 Die ,,schöne“ Zigeunerin ...... 48

5.4 Hermann Hesse: Narziss und Goldmund...... 52

5.4.1 Inhalt und die wichtigsten Figuren ...... 52

5.4.2 Das Bild der ,,schönen“ Zigeunerin ...... 55

6 Zusammenfassung ...... 60

7 Literaturverzeichnis ...... 64

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1 Einleitung

In der gesamten Entwicklung der Menschheit entwickelten sich verschiedene Bilder, die die Menschen auf andere Menschen oder auf sich selbst projiziert haben. Solche Bilder sind imstande, die ganze Gesellschaft zu polarisieren und sie zu verändern. Dazu gehören auch die Bilder des Fremden, die in jeder Gesellschaft vorkommen. Sie sind ja ein unerlässlicher Teil der Gesellschaft, sobald es darum geht, die eigene Identität in Abgrenzung von alternativen Lebensentwürfen zu finden und zu festigen. Sie beinhalten ein breites Spektrum an Abneigung, Ablehnung, Stereotypen und Klischees, das sich aus Halbwissen, Vorurteilen und eigenen Ängsten speist. Die so Ausgegrenzten bestärken diese Stereotypen manchmal auf dieselbe Art und Weise wie diejenigen, die kein Teil davon sind. Der ,,Mechanismus“ der Bestärkung dieser Stereotypen beruht darauf, dass die Minderheit sich immer wieder darauf beschränkt, was für oder gegen sie geltend gemacht wird, und dass die Mehrheit dies bestärkt, wobei sie der Minderheit bestimmte, für sie geltende Eigenschaften über eine längere Zeit hinweg zuschreibt. Oder, anders gesagt: Kennen wir eigentlich jemanden, der die Roma nicht mit Musik und Wahrsagerei assoziiert? Diese Arbeit bietet einen Überblick über den Topos der ,,schönen“ Zigeunerin anhand von exemplarischen Erzählwerken des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Dabei wird versucht, die typischen, für das Fremde geltenden Imagines aus der Handlung herauszulösen und gesondert zu betrachten. Das Interesse daran entstammt der langdauernden Betrachtung der Präsentierung von Minderheiten in den Medien, in der Literatur, in der populären Kultur und im Alltag. Die ,,schöne“ Zigeunerin ist dabei eine durchaus zwiespältige Figur: auf der einen Seite mit allen negativen Eigenschaften der Volksgruppe der Roma versehen, andererseits eine verführerische, erotische Gestalt, die es erlaubt, Wünsche und Sehnsüchte zu erfüllen, welche die bürgerlichen Liebes- und Ehe-Konventionen nicht als zulässig erscheinen lassen. Damit eignet sie sich sowohl für affirmative als auch für xenophobe Projektionen der Mehrheit. Der erste Teil dieser Arbeit enthält die wichtigsten historischen Informationen und begrifflichen Klärungen, die dabei helfen sollen, Einblick in die Position der Roma im Laufe vieler Jahrhunderte zu geben. Dabei wird auf ihre Sprache, Geschichte und die wichtigsten Merkmale ihrer literarischen Darstellung Rücksicht genommen. Danach werden drei für diese Arbeit relevante Weiblichkeitstypen in der Literatur vorgestellt, und zwar die femme fatale, die femme

3 fragile und die femme enfant. Jeder dieser Typen wird, wo es sinnvoll erscheint, auf die jeweils zu analysierende weibliche Figur angewendet. Der darauffolgende Teil ist den Autoren der zu analysierenden Werke gewidmet. Hierbei werden die wichtigsten biographischen Angaben über ihr Leben und Werk dargestellt. Die persönlichen Einstellungen der Autoren zu Fragen der Roma und der Juden wurden hierbei nicht in Rücksicht genommen. Die Auswahl der Werke erfolgte – neben ihren ästhetischen Qualitäten, der Bekanntheit und der für diese Arbeit relevanten Frauenfiguren – aufgrund ihrer historischen Verortung. Das 19. und beginnende 20. Jahrhundert war eine Epoche, in der es zur Entstehung der Nationalstaaten kommt, Deutschland bleibt davon nicht ausgeschlossen. Unter diesen politischen Umständen war die Abgrenzung von Minderheiten wie der Volksgruppe der Roma besonders virulent, vor allem im Zusammenhang mit der Schaffung einer staatlichen Identität, wie sie in den europäischen Vielvölkerstaaten im Wesentlichen nur künstlich vorgenommen werden kann. Nach diesen Kriterien wurden vier literarische Texte ausgewählt: Adalbert Stifters Katzensilber und Waldbrunnen, Karl Emil Franzos´ Die Hexe und Hermann Hesses Narziß und Goldmund. An diesen Beispielen kann man auch erkennen, inwiefern (und ob) sich das Bild des Fremden im Laufe der vergangenen Jahrhunderte verändert hat. Was die Methodologie in dieser Arbeit betrifft, bin ich davon ausgegangen, dass die Arbeit vor allem eine werkimmanente und strukturalistische Analyse des Topos der Zigeunerin darstellen sollte. In Anlehnung an die werkimmanente Interpretation wird an konkreten Beispielen gezeigt, wie der Topos der Zigeunerin dargestellt wird und wie er im Rahmen des gesamten Werkes funktioniert. Die strukturalistische Analyse umfasst die Berücksichtigung konkreter sprachlicher Mittel und Ausdrücke, die dieses Bild besser darstellen können. Der Topos der Zigeunerin unterliegt an manchen Stellen in der Arbeit auch der kontrastiven Analyse. So wird beispielsweise die Zigeunerin aus einem Werk mit der Zigeunerin aus dem anderen verglichen. An dieser Stelle möchte ich mich auch zum Gebrauch des Terminus ,,Zigeunerin/ Zigeuner“ äußern. Diese Termini, die in der Arbeit neben der Bezeichnung ,,Roma“ verwendet werden, trachten nicht danach, die Roma-Bevölkerung pejorativ zu präsentieren. In den theoretischen und Analyseteilen ist von „Roma“ die Rede, ,,Zigeuner“ oder ,,Zigeunerin“ wird nur als Zitat bzw. als Terminus mit der jeweils spezifischen Bedeutung im Zusammenhang mit den historischen Texten selbst verwendet.

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Mein Anliegen in dieser Arbeit ist, die stereotypen Bilder, die damit verbundenen Ereignisse und fremdfeindliche Bilder zu analysieren und sie miteinander zu vergleichen. Das Ziel einer solchen Analyse spiegelt sich im Versuch wider, zu zeigen, dass das 19. und 20. Jahrhundert in großem Maße nicht von unserem Alltag abweichen und dass sich diese Bilder tief in vielen Gesellschaften eingebürgert haben. In dieser Arbeit trachtete ich auch danach, meine schon existierende Vorstellung des Fremden besser wahrzunehmen und zu verstehen, indem ich sie im wissenschaftlichen Kontext erweitere und ergänze.

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2 Herkunft, Sprache und literarische Darstellung der Zigeuner

Kultur, Identität und Erscheinungsformen der ,,schönen Zigeunerin“, sowie ihre Eigenschaft, verschiedene Gefühle bei anderen als ,,Fremde“ hervorzurufen, sind der Gegenstand dieses Kapitels. Um sich mit dem Topos der ,,schönen Zigeunerin“ auseinandersetzen zu können, sind zunächst einige grundlegenden Ergebnisse der Zigeunerforschung nötig sowie Anmerkungen zur Stellung der schönen Zigeunerin im Zusammenhang mit anderen literarischen Frauenfiguren wie der femme fatale oder der schönen Jüdin.

2.1 Die Herkunft der Roma

Die Herkunftsgeschichte der Roma setzt sich zusammen aus verschiedenen Theorien, mythologischen Geschichten, Legenden und selbstkonstruierten Geschichten, wobei konkrete historische Angaben über Roma erst relativ spät1 zum Vorschein gekommen sind. Das liegt auch daran, dass diese Volksgruppe grundsätzlich kaum schriftliche Dokumente oder materielle Hinterlassenschaften besitzt. „Kein Dokument von eigener Hand, keine Hinterlassenschaft, nicht einmal ein Fetzen Stoff oder eine Scherbe zeugt heute von der Ankunft einer Gruppe von Menschen im Europa des 15. Jahrhunderts, die […] im Deutschen wohl erstmals 1427 bei Andreas von Regensburg (nach 1380- nach 1438) als ,,gens Ciganorum, volgariter Cigäwnär“ bezeichnet werden.“2 Viele Legenden3 dienen als landeskundlich interessantes, aber wissenschaftlich nicht ausreichendes Zeugnis. Erwähnungen von Roma sind bereits in Werken aus dem 10. Jahrhundert4 zu finden, etwa im Werk „Schahnamah“5, in dem man auf das mit den Roma identische Volk „Luri“6 stößt.

1 Vgl. Đurić, Rajko, Roma und Sinti im Spiegel der deutschen Literatur, S. 82. 2 Bogdal, Klaus Michael, Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, S. 23. 3 „Zunächst berichtet eine Erzählung, daß ein Zigeuner vier Nägel für die Kreuzigung Christi geschmiedet hätte. Da ein Nagel bei der Anfertigung nicht auskühlte, warf man ihn weg. Dieser glühende Nagel folgte dem Zigeuner überall hin. Auch die anderen Zigeuner fliehen vor diesem Nagel, wodurch ihr ständiges Umherziehen erklärt wird.“ In: Erb, Edith, Das Bild des Zigeuners vom 16. bis ins 18. Jahrhundert. Dargestellt anhand von Quellen- und Gesetzestexten unter besonderer Berücksichtigung der Situation im Habsburgerreich, S. 12. 4 Vgl. Đurić, Roma und Sinti im Spiegel der deutschen Literatur, S. 80. 5 Ebda, S.80. 6 Ebda. 6

Die ,,Spiezer Chronik“ von Diebold Schilling dem Älteren7 gilt als eines der ersten bildlichen Zeugnisse für die Ankunft der Roma. Die Menschen, die unweit vom Tor einer Stadt stehen, schauen in Richtung der Stadt. Ihre Blicke sind voll Erwartungen und Hoffnungen. Man vermutet, dass das Bild die Stadt Bern in der Schweiz meint, weil die Abbildung eines Bären auf dem Bild auf das Wappen der Stadt hinweist. Bogdal8 bemerkt, dass die Personen auf dem Bild den in den Chroniken beschriebenen Umständen nicht entsprechen, denn sie sind anders dargestellt. „Alle besitzen Schuhe, auch die Kinder. Die Gewänder und Hemden sind farbig, aber nicht bunt gemustert.“9 Die Herkunftstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts gehen entweder von einer Einwanderung aus Ägypten oder aus Nordwest-Indien aus. Die Vermutung, dass die Zigeuner aus Ägypten stammen, war für die bürgerlichen Gesellschaften in Europa plausibel. Zurückzuführen ist das- „einerseits auf die Selbstbezeichnung der Zigeunerführer als „Herzöge von Klein- Ägypten“ und andererseits auf die frühere Bezeichnung Kleinasiens als „Klein-Ägypten“, wo sich einige Zigeunerstämme aufgehalten haben.“10 Andere Theorien weisen auf ihre indische Herkunft hin, vor allem aus dem nordwestlichen Teil Indiens. Vermutlich kamen sie auch aus dem Gebiet des heutigen Iran. Die zweite Theorie wird auch heute noch vertreten, und zwar aus sprachlichen Gründen: „Jacob C. Chr. Rüdiger und Heinrich M. Grellmann wiesen nach, daß in der Sprache der Zigeuner ein indischer Sanskrit- Kern steckt. Die Zigeuner – so hieß es fortan - kommen aus Indien.“11 Es gibt zahlreiche Gründe dafür, warum die Roma Indien verließen. Einige davon sind im schon erwähnten Werk ,,Schahnamah“12 zu finden. Man vermutet, dass die größten Migrationsströme der Roma zwischen dem 5. und 11. Jahrhundert passiert sind, unter anderem wegen der Stärkung des religiösen Einflusses der Muslime13. ,,Das Eindringen fremder Eroberer scheint als

7 Vgl. Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, S. 23. 8 Ebda. 9 Ebda, S. 24. 10 Erb, Das Bild des Zigeuners vom 16. bis ins 18. Jahrhundert. Dargestellt anhand von Quellen- und Gesetzestexten unter besonderer Berücksichtigung der Situation im Habsburgerreich, S. 8; 11 Gronemeyer, Reimer, Rakelmann, Georgia, Die Zigeuner. Reisende in Europa, S. 13. 12 Vgl. Ebda. „Es handelt sich dabei um einen Bericht des persischen Monarchen Bahram- Gur (5. Jahr. n. Chr.) erzählt. Dieser ließ sich 12.000 Spielleute, sogenannte Luris, von Indien kommen. Für ihre Dienste erhielten die Luris Korn und Vieh zum Lebensunterhalt, das sie innerhalb eines Jahres verbrauchten und daraufhin von Bahram- Gur des Landes verwiesen wurden. Seit diesem Zeitpunkt wandern die Luris, die für Zigeuner gehalten werden, durch die Welt.“ 13 Vgl. Ebda. 7

Auslösungsmoment zur Wanderung sehr wahrscheinlich. Auch die Verschleppung von Zigeunern als Sklaven wäre denkbar.“ 14

2.2 Die Sprache Romanes

Die Sprache einer Bevölkerung ist einer der wichtigsten Beweise dafür, dass es diese Bevölkerung gab und heutzutage noch gibt. Im Falle der Roma kam das Interesse an der Sprache relativ spät zum Tragen, besonders, wenn man die Tatsache in Erwägung zieht, dass sie einigen Meinungen zufolge im 10. beziehungsweise im 14. Jahrhundert erstmals eingewandert sind. Zugleich ist es auch so, dass das Interesse an ihrer Sprache den Horizont der gesamten Bevölkerung erweitert und dabei auch für einen besseren Einstieg in das Verständnis ihrer Kultur gesorgt hat. Die wissenschaftlichen Disziplinen, die mit Sprache zu tun haben, spielten eine wichtige Rolle dabei: „Man kann die Philologie als die Königin der tsiganologischen Disziplinen bezeichnen, sie ermöglichte das erste Mal ein Herangehen an ein Element der Zigeunerkultur mit einer fundierten Methodik, deren Kern bis heute Gültigkeit hat.“15 Dabei merkt Bogdal an, dass sich andere Volksgruppen mit der Sprache der Roma beschäftigt haben.16 Obwohl sich das aus Indien stammende Volk ,,Roma“17 nennt, wobei Rom Mensch bedeutet, haben sich weltweit auch andere Bezeichnungen etabliert. So werden die Roma in verschiedenen Teilen Europas als ,,Zigeuner“, „Gypsies“ oder ,,Gitanos“ 18 bezeichnet. Diese Bezeichnungen der Roma haben sich relativ früh eingebürgert und zwar während und nach der byzantinischen Zeit19. Miklosisch20 führt an, dass die Roma in einer Hagiographie aus dem 11. Jahrhundert im Kloster Iviron auf Athos als ,,Adsinkani“ genannt werden, möglicherweise einer Vorform der heutigen Namen. So wird beispielsweise im Serbischen, Kroatischen oder Bosnischen und generell in den Balkanländern das abhängig von der Sprache hinweisende Wort ,,Ciganin“ verwendet. Obwohl pejorativ, wird es oft innerhalb der Roma- Bevölkerung ebenfalls verwendet. Ein ähnlicher Fall ist die Verwendung der Bezeichnung ,,Gipsy“ auf dem indischen Subkontinent.

14 Vgl. Ebda. 15 Ebda, S. 177. 16 Vgl. Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, S. 154. 17 Gronemeyer, Rakelmann, Die Zigeuner. Reisende in Europa, S. 178. 18 Vgl. Đurić, Roma und Sinti im Spiegel der deutschen Literatur, S. 95. 19 Vgl. Ebda. 20 Vgl. Đurić, Roma und Sinti im Spiegel der deutschen Literatur, S. 96. 8

,Die Inder haben den Begriff ,,Gypsies“ aus dem Englischen übernommen und bezeichnen damit einerseits die europäischen Roma und Sinti, andererseits aber auch verschiedene ethnische und religiöse Gemeinschaften im heutigen Indien.‘21

Die Sprache Romanes wurde seit ihrer Entstehung ausschließlich mündlich tradiert. Aus diesem Grund war der Prozess der Annäherung der Sprache schwierig. Solange sie über keine festgesetzten orthographischen und morphologischen Regeln verfügte und solange die Roma nicht alphabetisiert wurden, konnte sich die Sprache nicht vollkommen entwickeln. Dazu muss man auch die ständigen Wanderungsbewegungen22 bedenken und das Fehlen eines konstanten Territoriums. Die Aufenthalte der Roma in den verschiedenen Teilen der Welt haben zusätzlich ihre Sprache gestaltet, indem zum sprachlichen Inventar heutzutage viele Wörter aus anderen Sprachen gehören, etwa aus dem Griechischen. „Das mittelalterliche Griechisch findet sich im europäischen Romanes deutlich wieder, so z.B. in drom= Straße, kokalo= Bein, foro= Stadt/ Markt oder okto/ ochto= acht.“23 Weitere Beispiele weisen auf die Anwesenheit verschiedener technischer Mittel24 hin und sind vor der Ankunft in Europa notiert worden, andere wie ,,lagere“ für die Konzentrationslager verweisen auf die unheilvolle europäische Geschichte25. Das 18. und das 19. Jahrhundert stellen eine neue Phase der sprachlichen Entwicklung des Romanes dar. Vor allem haben die seit dem 18. Jahrhundert durchgeführten Forschungen die Vermutungen über die Herkunft der Roma- Sprache aus dem vedischen Indisch bestätigt. „Das Romanes, das aus dem Sanskrit oder Altindischen hervorgegangen ist, kann […] der indoarischen Gruppe der indoeuropäischen Sprachen zugeordnet werden und ist eine neuindische Sprache.“26

21 Ebda. S. 95. 22 “The fact that a language had existed with no coherent geographical area, and that bits and pieces of that language most obviously paralleled some of Europe´s best known idioms, while others remained obscure in their structure and origin, had led scholars and other spectators to many speculations regarding the classification and definition of the Gypsy varieties.” Matras, Introduction. Romani in Contact. The history, structure and sociology of a language, S.4. Zitiert nach: Einfalt, Julia, Projektionsfläche "ethnische" Minderheit: Eine Untersuchung der Weiblichkeitskonstruktion "Zigeunerin" in ausgewählten literarischen Werken des 19. Jahrhunderts, S. 34. 23 Gronemeyer, Rakelmann, Die Zigeuner. Reisende in Europa, S. 182. 24 „Wenn beispielsweise das Romanes- Wort für Ofen oder Schmelzofen= bow aus dem Armenischen und das Wort für Wagen, Karren = vurdon (wordin, vurdo etc.) aus dem Ossetischen aufgenommen wurde, so deutet das darauf hin, daß die entsprechenden Techniken der Fortbewegung und der Metallverarbeitung bei den Vorfahren der Roma schon sehr lange vor ihrer europäischen Zeit gebräuchlich waren.“ Ebda, S. 188. 25 Vgl. ebda. 26 Einfalt, Projektionsfläche "ethnische" Minderheit: eine Untersuchung der Weiblichkeitskonstruktion "Zigeunerin" in ausgewählten literarischen Werken des 19. Jahrhunderts, S. 34. 9

Zum indischen Stammvokabular kommen noch ,,persische, kurdische, georgische, ossetische, armenische und mittelgriechische Entlehnungen.“27 Einer der ersten Sprachwissenschaftler, der diese Verbindung des Romanes mit dem Altindischen feststellte, war Christian Wilhelm Büttner, ,,der eine der ersten vergleichenden Wortlisten zusammenstellt[e]“, und sich dabei fragte, ob die Zigeuner ,,gar ein indostanisch-afganischer Stamm“28 seien. Weitere Forschungen der Vergleichenden Sprachwissenschaft mit ähnlichen Ergebnissen stammen von Johann Rüdiger und Friedrich Pott29. Anfang des 20. Jahrhunderts beschäftigte sich John Sampson mit der Sprache der Roma- Bevölkerung, indem er die vorgängigen Untersuchungen ausweitete. Nach dem Wort für ,,Schwester“ unterteilte er das Romanes in Ben- und Phen- Dialekte in einen südöstlichen und einen westlichen Zweig.“30 Diese Teilung beruht vorwiegend auf phonologischen und lexikalischen Merkmalen. „Die Lautverschiebung läßt gh, dh und bh in den Ben-Gruppen zu kh, th und ph in den Phen- Gruppen werden. Im Unterschied zu den Ben-Gruppen weisen die Sprachen der Phen-Gruppen […] eine große Anzahl von armenischen und griechischen Wörtern auf.“ 31 Weitere, ebenfalls am Anfang des 20. Jahrhunderts durchgeführte Forschungen dienten der Systematisierung der Roma- Dialekte. Dabei spielte der Linguist Gilliat- Smith eine bedeutende Rolle, denn ,,er teilte die Dialekte in walachische und nicht- walachische […] ein.“32 Zur walachischen Dialektgruppe gehört die Sprache, die auf dem Gebiet des heutigen Moldawien gesprochen wurde. Zur anderen gehören Dialekte mit vielen Lehnwörtern griechischer Herkunft. Die Frage über die Sprache Romanes wurde nicht frei von Vorurteilen gegenüber den Roma seit ihrer Ankunft in Europa diskutiert. Man unterstellte ihnen, eine Art Gaunersprache zu haben, ,,die von niemand anderm verstanden wirt“33. Auch Johannes Becanus34 spricht in seinem Werk ,,Hermathena“ davon, dass ihre Sprache zur geheimen Planung von Diebstählen geeignet sei. geht so weit, dass er in nationalistischer Verblendung auch die Fremd- und Lehnwörter als Diebstahl an den europäischen Sprachen betrachtet:

27 Ebda. 28 Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner, S. 154. 29 Vgl. Ebda, S. 155. 30 Gronemeyer, Rakelmann, Die Zigeuner. Reisende in Europa, S. 182. 31 Ebda. S. 182. 32 Ebda. S. 183. 33 Gronemeyer, Zigeuner im Spiegel früher Chroniken und Abhandlungen, Quellen vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. S. 46. Zitiert nach: Bogdal. Europa erfindet die Zigeuner. S. 155. 34 Vgl. ebda. 10

,Die Sprache erscheint als die Mundart eines einzigen und besonderen indischen Stammes, eine verkommene Tochter des vornehmen Sanskrit; sie hat fast in jedem Lande, wo das Volk auf seiner Irrfahrt verweilte, einzelnes Fremde für sich gestohlen, und ihr Kleid ist mit Lappen aller Völker überdeckt, so daß nur noch hier und da die echten Goldfäden sichtbar sind.‘35

Damit bezweifelt er zugleich, dass die Roma-Sprache eine eigenständige Einheit sei, und behauptet, sie sei bestenfalls ein verhunztes Sanskrit, angereichert von einem Volk, das allgemein zum Stehlen neige. Bogdal meint, dass Romanes ,,als unehrenhaftes Familienmitglied“36 der indoeuropäischen Familie betrachtet werde und zwar wegen der Tatsache, dass die Roma, nach ihrer Ankunft in Europa zunächst keiner Sprachfamilie oder Religion zugeordnet werden konnten. Aus diesem Grund werden sie nicht als ebenbürtige „Christenmenschen“37 berücksichtigt und akzeptiert. Andererseits ist der Verweis auf die Herkunft aus dem ,,vornehmen“ Sanskrit38 ein Weg zur Akzeptanz der Roma und ihrem nomadischen Schicksal.

2.3 Die häufigsten Darstellungsweisen der Roma in der Literatur

Wie in den Vorurteilen, die Roma im täglichen Leben begegnen, verfestigen sich auch die literarischen Stereotype umso stärker, je weniger Kontakt die Bevölkerung eines Landes mit dieser Volksgruppe hat. „In der Literatur, aber auch in anderen Medien, sind Zigeunerfiguren mit Hilfe bestimmter Stereotype, die häufig mythischen Charakter haben, inszeniert und in ihrer Alterität festgeschrieben worden.“39 Das Bild der Roma als Fremde hat sich nicht selten als verhängnisvoll erwiesen. Zugleich eignen sie sich, wie Sylvie Langehegermann schreibt, als Projektionsfläche, ,,auf die die Sehnsüchte, Phantasien, Wünsche und auch die Ängste der Mehrheitsbevölkerung projiziert werden.“40 Sie sind scheinbar befreit von gesellschaftlichen

35 Freytag, Die fahrenden Leute. In: Gesammelte Werke, Bd. 18: Bilder aus der deutschen Vergangenheit. S.463. Zitiert nach: Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. S. 158. 36 Vgl. Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. S. 158. 37 Vgl. Ebda. S. 43. 38 „Das Sanskrit, so alt es auch sein mag, zeichnet sich durch eine wunderbare Struktur aus. Es ist vollkommener als das Griechische und reichhaltiger als das Lateinische und von viel ausgesuchterer Feinheit als diese beiden Sprachen.“ In: Olender, Die Sprachen des Paradieses. S. 18. Zitiert nach: Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner, S. 157. 39 Von Hagen, Kirsten, Inszenierte Alterität: Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film. S. 14. 40 Vgl. Langehegermann, Sylvie, Die ‚,schöne Zigeunerin“ in der deutschen Literatur: Goethes Mignon als Musterbeispiel der Zigeunerfigur im 19. Jahrhundert, S. 2. 11

Zwängen, dürfen nach romantischem Vorbild für die Kunst leben, können schön und gefährlich sein, oder sie werden aufgrund ihrer Lebensweise und ihres Aussehens zur Zielscheiben des Spottes. Mit diesen Aspekten befassen sich die nun folgenden Unterkapitel.

2.3.1 Die Roma als Fremde

Die Stigmatisierung der Einwanderer aus Asien gründete sich darauf, dass weder ihre genaue Herkunft noch ihre Abstammung und Religionszugehörigkeit geklärt waren. Das Desinteresse an diesen drei Elementen der Identität verstärkte die Rolle als Randgruppe im Laufe der Zeit nur noch mehr. „Identität wird aus der Herkunft abgeleitet, die nun neben der Genealogie auch einen bestimmten geographischen Ort bezeichnet und insgesamt einen rechtlichen Status begründet.“41 Die Chroniken zeigen, so Hannah Arendt42, dass, als die Roma in Europa erschienen, neben den Fragen nach ihrer Religion, Herkunft und Sprache auch solche Fragen auftauchten, die sich auf ihre Einstellung gegenüber der eigenen Bevölkerung beziehen. Die Identität einer Volksgruppe umfasst das Bild, das sie von sich zeigt, und das Bild, das andere auf sie projizieren. Bogdal43 findet, das Desinteresse an der Herkunft sei ein Signal, dass man von einer randständigen Gruppe sprechen kann. Man kann feststellen, dass sich das Bild, das die Roma von sich selbst machen, bis heute in vielen Ländern nicht stark geändert hat. Wenn eine Bevölkerung als ,,fremd“ dargestellt wird, dann gilt das für alle Mitglieder dieser Gruppe, so Krekovičová44. Ein wichtiges Merkmal bei der Wahrnehmung des Fremden ist, dass in vielen Fällen nur die schlechten Eigenschaften einer Randgruppe hervorgekehrt werden. Dabei merkt man sich alles, was für die nicht-fremde Gruppe typisch ist, versucht, den Mangel der Zugehörigkeit der Randgruppe hervorzuheben und die guten Seiten der Zugehörigkeit der nicht- fremden Gruppe zu betonen, das heißt, diese Wahrnehmung ,,drückt allgemein negative bis feindselige Haltungen dem ,,Fremden“ gegenüber aus.“45

41 Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. S. 45. 42 Ebda. S. 25. 43 Ebda. 44 Vgl. Krekovičová, Eva, Zwischen Toleranz und Barrieren: das Bild der Zigeuner und Juden in der slowakischen Folklore. S. 38. 45 Ebda. 12

2.3.2 Die romantische Darstellung der Roma

Vor allem die Roma- Frau ist Gegenstand einer Romantisierung in der Kunst, besonders in der Literatur, wovon auch in den weiteren Teilen der Arbeit die Rede sein wird. Diese Art der Romantisierung wird, auch in den hier zu analysierenden Werken, aus einer Perspektive betrachtet, die für sie in der Literatur typisch ist und zwar von oben nach unten. Das bedeutet, dass sie als ein vorbeigehender, ephemerer Gegenstand der Aufmerksamkeit erscheint, ,,gesehen mit den Augen vor allem der Angehörigen höherer sozialer Schichten.“46 Die Roma- Frau befindet sich in diesem Kontext im Brennpunkt bestimmter gesellschaftlicher Normen – sie ist Gegenstand der männlichen Wollust, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt empfunden wird, doch sobald ein gesellschaftliches Hindernis auftaucht, verschwindet die Leidenschaft. An ein Überschreiten der Standesgrenzen ist niemals gedacht. Dieses Bild ,,repräsentiert die Sicht aus einer größeren Entfernung, wie von der anderen Seite einer unüberwindbaren Barriere.“47 Das Unüberwindbare kommt normalerweise zum Vorschein, wenn die eventuelle Zukunft der Beziehung hinterfragt wird. Die Zeugen des Unüberwindbaren sind sich des erwartbaren Schicksals normalerweise bewusst. Die männliche Figur entscheidet üblicherweise über den Anfang und das Ende einer solchen Beziehung. Die weibliche Figur ist der Gegenstand seiner Wünsche und Forderungen. Das von ihr Gesagte drückt keine Hoffnungen auf die Zukunft mit dem Mann aus, obwohl dies in den literarischen Werken, die das Fremde nicht thematisieren, oft als etwas Erwünschtes vorkommt. In dieser Hinsicht gibt es Ähnlichkeiten zur Struktur anderer Novellen, in denen machtlose Frauen eine Rolle spielen, etwa „Fräulein Else“, ein jüdisches Mädchen, das zum kurzzeitigen Objekt der Lust von Herrn Dorsday wird. In der Zeit der Romantik wuchs das Interesse an Darstellungen von Zigeunern im Zuge der Auseinandersetzung des Menschen mit der magischen, mystischen und phantasievollen Welt. Ihr Lebensstil, die unklare Herkunft, die Kunst des Wahrsagens und die Neigung zu Musik und Tanz, was in der Literatur sehr häufig erwähnt wird, entsprachen den Themen der Romantik. Das war ein neuer Aspekt, nachdem ,,die dargestellten Zigeunerfiguren sich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich durch negative Merkmale wie Faulheit, Verlogenheit, Betrug und Diebstahl charakterisieren“.48

46 Ebda. S. 39. 47 Ebda. 48 Langehegermann, Die ‚schöne Zigeunerin’ in der deutschen Literatur: Goethes Mignon als Musterbeispiel der Zigeunerfigur im 19. Jahrhundert, S. 2. 13

2.3.3 Die komische Darstellung der Roma

Es gibt Fälle, in denen Roma mit viel Begeisterung und Respekt betrachtet werden und zwar Musiker. Dieses Bild wird teils auch komisch verzerrt, die Roma-Musiker werden verspottet oder geringgeschätzt. Die komische Seite dessen führt zum Verspotten und zur Geringschätzung ihrer musikalischen Begabung. Die Grenze zwischen dem Ernsten und Komischen scheint sehr durchlässig zu sein: ,Im Lied ist das Necken bis Verspotten durch den Vergleich mit einem Zigeuner bzw. einer Zigeunerin im negativen Sinn häufig (dunkle Haut, unsaubere oder unschöne Romin, Art der Kleidung, mangelhaftes bzw. fehlendes Schuhwerk: „barfuß wie eine Zigeunerin“ [...], Armut, Betteln, kleine Diebstähle u.ä.).‘49

49 Ebda, S.38. 14

3 Weiblichkeitstypen in der Literatur

Abhängig davon, wie das Bild von Frauen in der Literatur dargestellt wird, ist im weiteren Text die Rede von Weiblichkeitstypen. Die Darstellungsweisen variieren nach der Rolle der Frau im Text oder nach den Emotionen, die sie bei den anderen Figuren hervorruft. „Als Beispiele seien an dieser Stelle die fürsorgliche Mutter, die Hexe, die unschuldige Schönheit sowie die männermordende Verführerin genannt.“50 Einerseits gibt es Weiblichkeitstypen, welche die schwache, zurückgezogene Seite betonen, andererseits Frauengestalten, die ihre verführerische, erotische und bezaubernde Seite zeigen. „All diese Bilder lassen sich nun analog zur biblischen Auffassung von Weiblichkeit auf zwei wesentliche Hauptimaginationen zurückführen, nämlich auf die Hure und die Heilige.“51 Diese zwei Formen der Frauendarstellung werden in dieser Arbeit am Beispiel der Hauptfiguren in den ausgewählten Novellen untersucht. Es gibt allerdings auch einige Übergangsformen, die Hure spielt zur selben Zeit die Rolle der Heiligen oder umgekehrt. Die Hure wird als femme fatale dargestellt und die Heilige als femme fragile. Die dritte Gestalt entspricht einer Untergruppe der femme fragile, die femme enfant. 52

3.1 Die femme fatale

Eine Roma- Frau, die in der Rolle als femme fatale darüber entscheidet, wann die Handlung beginnt beginnt und wann sie enden wird, ,,fungiert […] als ,,générateur“ der Handlung.“53 Damit kann man diese oft dominante weibliche Figur meist zum Typus der Hure zählen, selten aber zur Heilligen. Dies lässt sich aufgrund ihres Verhaltens und der Rolle in der Handlung feststellen. „Im Allgemeinen kann jedoch konstatiert werden, dass es sich bei diesem Typus um eine sehr geheimnisvolle, attraktive Frau mit wallendem Haar, blasser Gesichtsfarbe und ausdrucksstarken Augen handelt.“54 Ihr Aussehen ist schon ein wichtiger Hinweis auf ihren Charakter. Die lebhafte, leidenschaftliche Frau wird oft wild und erotisch dargestellt. Ein Paradebeispiel für diesen Typus ist Carmen in der gleichnamigen Oper von Georges Bizet bzw. in der zugrundeliegenden Novelle von Prosper Mérimée. Ihr dominantes Auftreten trägt die

50 Ganser, Tina, ,,Ich bin eine Frau – für mich allein kann ich gar nichts“, Zur Konzeption von Weiblichkeit bei , S. 41. 51 Ebda, S. 41. 52 Vgl. Ebda. S. 42. 53 Von Hagen, Inszenierte Alterität. Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film. S. 16. 54 Ganser, Zur Konzeption von Weiblichkeit bei Stefan Zweig, S. 43. 15

Handlung, beeinflusst die männlichen Figuren und vernachlässigt die anderen weiblichen Figuren, die oft gehorsam und unterwürfig bleiben müssen. Im Grunde genommen ist die femme fatale von Anfang an als Antipode der anderen Frau dargestellt- keinesfalls ist sie ein Bestandteil der geordneten, patriarchalen Gesellschaft, sondern sein Ersatz, der anstelle von einer männlichen Figur erscheint, denn ,,sie ist emotional unabhängig, selbstbewusst, nicht domestiziert, meist unnahbar und zeichnet sich durch typisch ,,männliche“ Charaktereigenschaften aus.“ 55 Die Anfänge dieses Weiblichkeitstypus in der deutschsprachigen Literatur sind bei Sacher- Masoch („Venus im Pelz“), und Frank Wedekind („Erdgeist“ und ,,Die Büchse der Pandora“) zu finden56. Die Figur der fatalen Frau lässt sich am besten durch ihre Beziehungen zu Männern beschreiben, da dieser Konflikt oftmals im Mittelpunkt steht. Indem die femme fatale männliche Verhaltensweisen an den Tag legt, die nicht in das Bild einer in der patriarchalen Gesellschaft domestizierten Frau passen, steht sie außerhalb der etablierten Gesellschaft und ist damit eine Fremde; die Fremdheit der femme fatale und die der Zigeunerin ergänzen sich also bzw. potenzieren sich sogar. Sie wirkt bedrohlich und ruft feindselige Reaktionen hervor. Gleichzeitig hat das Bedrohliche auch seinen Reiz, ihre (sexuelle) Macht wirkt verführerisch. Sie ,,wählt ihre Partner selbst, anstatt gewählt zu werden (womit sie aus ihrem Objektstatus heraustritt und den Mann zum Objekt macht) und ist aufgrund ihrer alles andere als monogame Lebensweise - im Gegensatz zum Gros aller Frauen- sexuell sehr erfahren.“ 57 Deshalb wird sie nicht wie andere Frauen behandelt, sondern dient als Objekt der Erfüllung der Triebe und männlicher Phantasien 58, dass es zu bezwingen gilt. Erhellend in diesem Zusammenhang sind die beiden Begriffe amour und plaisir, die Niklas Luhmann in seinem Werk ,,Liebe als Passion“ als jeweils verschieden codierte Formen des Liebesdiskurses vorschlägt.59 Die Information, die im Bereich eines Codes im Sinne von der passionierten Liebe bearbeitet wird, hat ihren Unterschied. „Sie besteht in der Differenz von plaisir und amour.“60 Die

55 Ebda. 56 Vgl. Eigler, Friderike, Kord, Susanne, The Feminist Encyclopedia of . S. 164. 57 Ganser, Zur Konzeption von Weiblichkeit bei Stefan Zweig, S. 43. 58 “The following elements reveal the femme fatale as a male fantasy: her identification with the destructive and devouring aspects of sexuality; her demonization as a creature beyond morality, civility, and law; her characterization as a primitive and artificial, innocent and depraved, passionate and cold; […]” In: Eigler, Kord. The Feminist Encyclopedia of German Literature. S. 163. 59 Vgl. Niklas Luhmann. Liebe als Passion, S. 109. 60 Ebda, S. 109. 16

Änderung der Liebessemantik im 17. Jahrhundert hat auch zur Unterscheidung beispielsweise zwischen dem männlichen und weiblichen Geschlecht beigetragen und dank diesem Hauptunterschied von plaisir und amour wurde diese Unterscheidung plausibler.

,Die Unterscheidung von plaisir und amour erzeugt einen für diesen Kommunikationsbereich spezifischen Informationsbedarf und zugleich eine spezifische Struktur der Informationsgewinnung; sie erzeugt und verstärkt eine nur für diesen Relevanzbereich geltende Sensibilität für Unterschiede, für die es in anderen Zusammenhängen keine Verwendung gibt.‘61

Plaisir könnte als Terminus im anthropologischen Sinne gelten und auf die Moral eingeschränkt werden. Auf diese Weise wird, in Bezug auf Moral, der Unterschied zwischen einer wahren und einer falschen Liebe gemacht. Plaisir unterscheidet sich von Mensch zu Mensch. Dazu zählt auch das masochistische Vergnügen: „man kann Schmerz genießen, kann von Sparsamkeit bis zum Selbstmord die Ausschaltung von plaisirs mit plaisir betreiben [...].“62 „Die Liebe endet, wenn sie kein plaisir mehr bereitet.“63 Die femme fatale ist die Person, die oft über das Ende der Liebe entscheidet. Die Rollenerwartungen können nicht erfüllt werden, diese amor levis hat eine begrenzte Dauer: Kein Vergnügen, ein wichtiger Bestandteil einer solchen relativ oberflächlichen Beziehung, bedeutet auch die Rückkehr des Mannes zu seinem üblichen Leben und für die fatale Frau bedeutet dies normalerweise das Unglück. Da der Mann aus mehreren Gründen keine Möglichkeit hat, mit der fatalen Frau eine ernste Beziehung einzugehen, werden seine Wünsche hervorgehoben: er projiziert ,,seine eigene Sinnlichkeit auf die Frau, was in weiterer Folge bedeutet, dass der Kampf gegen die femme fatale als Kampf gegen die eigene verdrängte, als gefährlich erachtete Sexualität verstanden werden muss.“ 64 Zum Topos der femme fatale gehört der Tod. Der Tod der fatalen Frau ist oft Ausdruck ihrer Niederlage, da es für sie keine Alternativen mehr gibt. Damit der Mann Rettung findet, muss entweder die fatale Frau oder der Mann ums Leben kommen65. Diese ,,basale […] männliche […] Überlebensstrategie”66 hebt die männliche Rolle hervor und die Rolle der Frau, deren verführerischen Wirken nicht erwünscht ist, bleibt im Hintergrund.

61 Ebda, S. 109. 62 Ebda, S. 110. 63 Ebda, S. 114. 64 Ganser, Zur Konzeption von Weiblichkeit bei Stefan Zweig, S. 44. 65 Vgl. Ebda, S. 45. 66 Rohde Dachser, Expedition in den dunklen Kontinent, S. 121. In: Ebda, S. 45. 17

3.2 Die femme fragile

Die Stärke der fatalen Frau ist im Falle der femme fragile ihre Schwäche, ihr kränkelndes Aussehen und die Tatsache, dass sie in vielen Fällen nur dem Haushalt und der Familie verbunden ist. Auch ihr Aussehen ist gegensätzlich, sie ist „von sehr zerbrechlicher, ätherischer, beinahe durchsichtiger Gestalt.“67 Sie ist wegen einer Krankheit oft dazu gezwungen, zu Hause zu bleiben. Bei ihrem Mann und den anderen Figuren erweckt dies ein besonderes Gefühl des Mitleids. Andererseits fühlt sich der Mann bei ihr sicherer als in Gesellschaft mit einer fatalen Frau, denn sie erfüllt die gesellschaftlichen Normen und Erwartungen, obwohl die femme fragile keineswegs imstande ist, ihrem Mann große Leidenschaft entgegenzubringen. Die femme fragile wird oft als eine trübe, müde und traurige Person dargestellt, aber sie zeichnet sich auch durch ihre Unschuld und Zurückgezogenheit aus. „Dabei spielt die Farbe Weiß eine wesentliche Rolle: Sie symbolisiert die Reinheit, die kindliche Unschuld, mit der die femme fragile attribuiert wird.“68 Die Darstellung einer solchen Frau war für die Zeit, in der sie entstand, kennzeichnend. Der Schönheit einer Frau wurden, neben langen Haaren und schwarzen Augen, auch ein blasses und kleines Gesicht69 hinzugefügt, sowie andere Eigenschaften einer schwachen, ermüdeten Persönlichkeit. Diese Imagination männlicher Autoren, so Eigler und Kord70, fällt mit dem Umstand zusammen, dass sich die Frauen um die Jahrhundertwende um die Verbesserung ihres gesellschaftlichen Zustandes bemüht haben. Die femme fragile kann also als eine Art Gegenentwurf der Schriftsteller zu der sich in der Gesellschaft ändernden Frauenrolle verstanden werden. „The clash between the literary representation of female figures and the lives of women at the time reveals the neurotic relationship of these aesthetes to social reality; the strength of women is perceived as a threat to a male ego.“71

67 Ganser, Zur Konzeption von Weiblichkeit bei Stefan Zweig, S. 46. 68 Ebda, S. 46. 69 Vgl. Eigler, Kord. The Feminist Encyclopedia of German Literature. S. 166. 70 Vgl. Ebda, S. 166. 71 Ebda. S. 166. 18

3.3 Die femme enfant

Die femme enfant könnte als eine Untergruppe der femme fragile verstanden werden. Der Unterschied liegt darin, dass dieser Typus der Frau nicht kränkelnd und zurückgezogen ist, sondern sehr jung und unerfahren. Die femme enfant ist ihrem Mann unterworfen und er wirkt positiv auf sie, indem er sie erzieht und sich um sie kümmert.

,Es entsprach den Vorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft, dass dem Mann in der Ehe die Rolle des Erziehers seiner Frau zukam, mit dem Ziel, sie zu zivilisieren, zu domestizieren und somit aus ihr eine brave und gehorsame und (unmündige) Ehefrau zu machen.‘72

Aus diesem Grund gehören die mit einer femme enfant verheirateten Männer normalerweise den höheren Schichten an, sie sind gebildet und lebensreif. Ein Beispiel dafür wäre das „wilde“ Mädchen von Adalbert Stifter, das in seinem Werk „Waldbrunnen“ dargestellt wird. Dieser Topos wird später im gleichnamigen Abschnitt thematisiert werden.

3.4 Die „schöne“ Zigeunerin

Die Zigeunerin wird in den für diese Arbeit ausgewählten Werken nicht immer als ,,schön“ dargestellt, aber dieser Typus ist sehr häufig. „Die ,,Schöne Zigeunerin“ als (ver)lockende Verführerin ist die prägendste Imago der ,,Zigeunerin“ in der europäischen Kultur und Literatur.“73 Die Schönheit geht allerdings meist nicht mit bürgerlicher Bildung und Klugheit einher, sondern die „schöne Zigeunerin“ entspricht dem weiter oben dargestellten Weiblichkeitstypus der femme fatale, die gleichermaßen anziehend und bedrohlich wirkt. „Die ,,Zigeuner(innen)“, deren Exotik und Körpermaskerade bedrohen bürgerliches Besitzdenken und –streben, dass die Ebene geschlechtlicher Beziehungen subsumiert.“ 74 Über die Herkunft dieser Fremden weiß man wenig oder nichts, und die Sprachbarrieren führen zusätzlich dazu, dass diese Wissenslücke mit

72 Ganser, Zur Konzeption von Weiblichkeit bei Stefan Zweig, S. 48. 73 Hille, Almut, Identitätskonstruktionen. Die ,,Zigeunerin“ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, S. 38. 74 Ebda, S. 25. 19

Vorurteilen aufgefüllt wird. Mythen, Vorurteile und Typisierungen prägen daher das Bild der „schönen Zigeunerin“ in der Literatur und nicht reale Vorbilder.75 Die Eigenschaften der gleichermaßen anziehenden wie gefährlichen Fremdheit teilt die „schöne Zigeunerin“ mit dem Topos der „schönen Jüdin“. Auch diese steht außerhalb der zur Norm erhobenen christlich-bürgerlichen Gesellschaft und eignet sich als Projektionsfläche für lust- und angstbesetzte Phantasien bzw. als Gegenmodell zur Mehrheitsgesellschaft, an dem man die eigene Identität entwickeln kann. Die äußere Schönheit ist in beiden Fällen gepaart mit innerer Falschheit, die Rolle als Lustobjekt mit der Nicht-Zugehörigkeit. Die Imago der schönen Zigeunerin unterlag den literarischen Moden:

,Um 1800 gewinnt das Thema ,Zigeuner´ auch in der deutschen Literatur sehr stark an Bedeutung. Es begegnet zwar schon im 16. Jahrhundert, doch auffallend ist, dass die Zahl der Werke, in denen Zigeunerinnen und Zigeuner eine Rolle spielen schlagartig zunimmt.‘ 76

75 Sander L. Gilman (1992) bezeichnet in seiner Untersuchung von Stereotypen der westlichen Kultur ,,die ständige Vermischung von Mythos und unbewußter Entstellung der Realität (als) die Grundlage, auf der die Stereotypisierung stattfindet.“ In: Ebda. S. 11. 76 Langehegermann, Die ‚schöne Zigeunerin’ in der deutschen Literatur: Goethes Mignon als Musterbeispiel der Zigeunerfigur im 19. Jahrhundert, S. 2. 20

4 Zu den Autoren

Für eine literaturgeschichtliche Einordnung werden im Folgenden kurz die biografischen Daten der ausgewählten Autoren wiedergegeben.

4.1 Adalbert Stifter

,Meine ersten Schriftstellerversuche liegen in meiner Kindheit, wo ich stets Donnerwetter beschrieb. Diese Blätter sind verloren gegangen. Als Knabe quälte ich alle Leute, besonders Vater und Mutter um den Grund aller Dinge, die uns umgaben, besonders der Himmelserscheinungen und der Pflanzenwelt, was besonders die Mutter oft in arge Verlegenheit brachte, weshalb sie mich Grundschulhiesel hieß. Daraus floß wohl meine spätere Vorliebe für die Naturwissenschaften.‘77

Adalbert Stifter wurde am 23. Oktober 1805 in einem Dorf namens Oberplan im Böhmerwald geboren. „Mit dem frühen Tod des Vaters, der im November 1817 von einem Flachswagen erschlagen wurde und fünf Kinder hinterließ, ging Stifters Kindheit jäh zu Ende.“78 Seine Schulzeit wurde durch zahlreiche Erfolge und verschiedene Interessen gekennzeichnet, da Stifter zu den guten Schülern zählte. Seine philosophischen Gedanken wurden schon in der Schulzeit geprägt. Dazu zählt unter anderem der kategorische Imperativ 79 von Immanuel Kant. „Entscheidende Prägungen erhielt Stifter durch den Lehrer Placidus Hall, der ihm ein zweiter Vater wurde und vermutlich das Vorbild für den armen Pfarrer in Kalkenstein ist.“80 Nach dem Gymnasium begann Stifter im Jahre 1826 Jura zu studieren. Dieses Studium brach er ab und studierte Naturwissenschaften und Geschichte, allerdings ohne die Abschlussprüfung gemacht zu haben. 81 Die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts wurden durch Stifters Ehe mit Amalie Mohaupt gekennzeichnet. Zu dieser Zeit bestritt Stifter seinen Lebensunterhalt als Privatlehrer. „In der zweiten Hälfte der 1830-Jahre ist Stifter nicht nur als Privatlehrer engagiert, sondern zugleich einer Doppelberufung ergeben: Er wird als Maler anerkannt, wenn er sowohl über getreue Wirklichkeitsdarstellungen wie über idealisierte und idyllische Landschaftsschilderungen verfügen kann“82.

77 Mayer, Mathias, Adalbert Stifter: Erzählen als Erkennen, S. 11. 78 Ebda, S. 13. 79 Vgl. Ebda. S. 13. 80 Ebda. 81 Vgl. URL: http://gutenberg.spiegel.de/autor/adalbert-stifter-571, am 18.10. 2015. 82 Mayer, Adalbert Stifter, S. 15. 21

Sein Gesundheitszustand nahm großen Einfluss auf Stifters Leben. Nach einigen Zusammenbrüchen aufgrund des unmäßigen Essens- und Alkoholkonsums in Verbindung mit privaten Problemen wurde er dazu gezwungen, sich aus dem Arbeitsleben zurückzuziehen. Die Märzrevolution im Jahre 1848 war eines der einflussreichsten Ereignisse in Stifters Leben. „Im Schicksalsjahr 1848 ist Stifter als Liberaler in Wien zunächst begeisterter Anhänger der Märzrevolution, lässt sich sogar als Wahlmann aufstellen, zieht sich aber schon im Mai mit zerrütteten Nerven aus der Metropole zurück in das sehr viel kleinere “ 83. Der Freitod seiner Ziehtochter, deren Leiche ein paar Wochen später gefunden wurde, nachdem sie die gemeinsame Wohnung verlassen hatte, war zugleich eine persönliche Tragödie und eine Katastrophe in seiner pädagogischen Laufbahn84. Wegen des schlechten Gesundheitszustandes wurde er ,,am 25. November 1865 unter Belastung des vollen Gehaltes (mit dem er gleichwohl nie auskam) pensioniert und zum Hofrat ernannt.“85 In den weiteren zwei Jahren wurde sein Zustand immer schlechter, durch psychische Belastungen gekennzeichnet. „Den Jahreswechsel 1867/68 verbringt Stifter bereits todkrank, vermutlich bei einem Schmerzanfall fügt er sich am 26. Januar 1868 eine Schnittwunde am Hals bei, an der er zwei Tage später stirbt.“ 86 Die literarische Welt Stifters offenbart eine neue Dimension des Erzählens. Sie ist eine Verbindung von Naturbeschreibungen mit den Handlungen und Eigenschaften der literarischen Figuren. Die literarischen Figuren bleiben dabei manchmal sogar im Hintergrund, da die Naturdarstellungen atemberaubend auf das Lesepublikum wirken. „Es geht ihm um das PRINZIP der Entschlüsselungsmöglichkeit ,,schicksalhaften“ Geschehens durch die menschliche Vernunft und damit um die prinzipielle Legitimierung seiner These von der Vernünftigkeit des Weltlaufs.“ 87 Die Natur erscheint bei Stifter unauflöslich mit der Handlung verbunden zu sein. Zu den wichtigsten Werken gehören Bunte Steine (Erzählungen, 1853), Der Nachsommer (Roman, 1857), Witiko (Roman, 1865-7).

83 Ebda, S.17. 84 Vgl. Ebda. S.19. 85 Ebda, S.19. 86 Ebda, S.22. 87 Johann Lachinger, Mesmerismus und Magnetismus in Stifters Werk. In: Adalbert Stifter Institut (Vierteljahresschrift). S. 20. 22

4.2 Karl Emil Franzos

Obwohl 1848 in Podolien, in der heutigen Ukraine und in Moldawien geboren, zählt Karl Emil Franzos zu den österreichischen Autoren, da seine Familie, nach dem Tod seines Vaters, nach Czernowitz in die Habsburgermonarchie zog. Franzos war jüdischer Herkunft und gehörte zu den sephardischen Juden, die dem heutigen Spanien und Portugal entstammen. Franzos begann sein Jus-Studium 1866-68 in Wien und beendete es in Graz, nachdem er den ursprünglichen Plan verworfen hatte, Klassische Philologie zu studieren. Danach begann er für verschiedene Tageszeitungen zu schreiben. Er lieferte Erzählungen, Gedichte, Rezensionen und Satiren. „Sein Erstlingswerk fand gute Kritik; er arbeitete von nun an regelmäßig an führenden Zeitschriften (zum Beispiel „Über Land und Meer“) mit und verzichtete auf die Eröffnung einer Anwaltskanzlei.“ 88 1887 zog er nach Berlin, seit 1886 erschien die Zeitschrift Deutsche Dichtung, die er selbst herausgab. In dieser Zeitschrift wurden Werke von Theodor Strom oder veröffentlicht, aber auch von damals noch unbekannten Autoren wie z.B. Stefan Zweig. Franzos starb 1904 an Herzversagen in Berlin. Zu Lebzeiten wurden seine Werke höchstgeschätzt, insbesondere seine Reiseberichte, und er zählte zu den meistgelesenen Autoren Franzos´ Leben wurde durch seine jüdische Herkunft stark beeinflusst und sein Verhältnis zum Judentum ist ein wichtiger Teil sowohl seines schriftstellerischen als auch seines privaten Lebens. Seine Herkunft hinderte ihn an der gewünschten Studienrichtung: „Das Stipendium wurde ihm angeblich verweigert, weil er Jude war und weil er den Wink, sich taufen zu lassen, nicht habe verstehen wollen; so habe er sich zwangsläufig für das Brotstudium Jura entschieden.“ 89 Auch das zwiespältige Verhältnis zwischen Nähe und Distanz zum Judentum bestimmte sein Leben. Er setzte sich etwa nach der Entstehung des Deutschen Kaiserreichs 1871 für eine größere Anpassung der Juden an die deutsche Kultur ein, war Mitglied der Burschenschaft Teutonia und in Graz der akademischen Verbindung ,,Orion“, was auf den Einfluss seines deutschnational gesinnten Vaters zurückgehen war. Zu den wichtigsten Werken von Karl Emil Franzos gehören: Das Christusbild (1868), Aus Halb- Asien (1876), Die Hexe (Erzählung, 1880), Judith Trachtenberg (1891), Der Pojaz (1905).

88 URL: http://www.deutsche-biographie.de/ppn118702599.html, abgerufen am 01.11. 2015. 89 Ebda, S. 39. 23

4.3 Hermann Hesse

Hermann Hesse wurde am 2. Juli 1877 in der kleinen württembergischen Stadt Calw geboren.90 Sein Vater, Johann Hesse, war ein aus Estland stammender Missionar. Für seine Mutter, Marie Hesse, war dies die zweite Ehe. Um sich als Theologe ausbilden lassen zu können, besuchte Hesse die Göppinger Lateinschule und bestand das Württembergische Landesexamen. Die Lateinschule hat im Leben der Knaben eine große Rolle gespielt, weil dadurch ihre akademische Laufbahn bestimmt wurde. 1891 trat Hesse ins Kloster Maulbronn91 ein, aus dem er Anfang 1892 floh. Einer der Gründe dafür, dass er sich nicht an das Leben im Kloster gewöhnen konnte, war sein Wunsch, Dichter zu werden. Nachdem ihm im Kloster Satanismus unterstellt worden war, wurde er in eine Nervenklinik geschickt. Nach der Zeit in der Klinik besuchte Hesse das Gymnasium in Cannstatt, dass er ohne Abitur abbrach, obwohl er das Examen für Einjährig- Freiwillige bestanden hatte. Seine ersten Werke wurden 1899 veröffentlicht und zwar ein Gedichtband und das Prosawerk ,,Eine Stunde hinter Mitternacht“. 1904 erschien Hesses erster Roman ,,Peter Camenzind“, der ihm den Weg in die literarische Welt ebnete. Im selben Jahr heiratete er Maria Bernoullo und ein paar Jahre später erschienen weitere Romane wie zum Beispiel ,,Unterm Rad“. Die Zeit des Ersten Weltkriegs war auch für ihn eine persönliche Katastrophe: Seine Frau und sein jüngster Sohn wurden krank, der Vater starb. In der Folge wurde er wegen Nervenzusammenbrüchen durch Psychologen behandelt. Das Jahr 1922 bedeutet für Hesse die Trennung von seiner Familie und er zog in das Tessin. Nach seiner Scheidung erschienen seine bedeutendsten Werke. Dazu gehören: Der Steppenwolf (1927) und Narziß und Goldmund (1930). Zu erwähnen ist auch das Werk Demian, das 1913 veröffentlicht wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt Hesse 1946 den Nobelpreis für Literatur und ein Jahr später wurde er zum Ehrendoktor der Philosophie ernannt. 1962 starb er an einem Gehirnschlag in Montagnola.

90 Hesse, Hermann, Narziß und Goldmund, S. 322. 91 Vgl. ebda. 24

5 Analyse der ausgewählten Werke im Hinblick auf die Figur der schönen Zigeunerin

Der folgende Teil der Arbeit enthält die Analyse der vier Werke, in denen, neben anderen Motiven und wichtigen Topoi, das Bild der schönen Zigeunerin thematisiert wird. Zu diesen Werken gehören: Kazensilber und Waldbrunnen von Adalbert Stifter, Die Hexe von Karl Emil Franzos und Narziß und Goldmund von Hermann Hesse. Die Werke werden in chronologischer Reihenfolge nach ihrem Veröffentlichungsjahr behandelt. Zunächst wird jeweils die Handlung mitsamt allen wichtigen Figuren dargestellt, danach der Topos der Zigeunerin anhand von Textbeispielen erarbeitet.

5.1 Adalbert Stifter: Katzensilber

Die Erzählung Katzensilber gehört zur Stifters Sammlung Bunte Steine, die im Jahr 1853 erschien. Sie wurde davor nie in einer Zeitschrift oder einem Journal veröffentlicht und ist daher die einzige Erzählung, die Stifter für diese Sammlung als Originalbeitrag verfasste92. Katzensilber bietet eine ausgewogene Verknüpfung von romantischen, sagenhaften Motiven, in der Binnenerzählung mit der Realität der bürgerlichen Familie aus der Rahmenerzählung

5.1.1 Inhalt und Symbolik

Schon vor dem Beginn der Binnenerzählung gibt es Anknüpfungspunkte an Märchenelemente, und zwar bei der Beschreibung des Hofes, der eine eigene Welt zu bilden scheint. Stifter führt die Leserschaft langsam durch die malerische Beschreibung der Natur an die Erzählung heran, indem man durch Gärten, Blumen, Obstplantagen und Felder allmählich dem durch den Hof verkörperten Königreich begegnet. Der Besitzer, ein in der weiten Welt erfahrener Mann, hat nach dem Tode seines Vaters sein eigenes Königreich errichtet, und zwar aus der Erbschaft und selbst erworbenen Mitteln. Da ein solches Königreich ohne eine Königin sicherlich misslungen wäre, „holte er sich aus der entfernten Hauptstadt ein sehr schönes Mädchen und wurde mit demselben in der kleinen Pfarrerkirche eingesegnet.“93 Die Binnenerzählung beginnt schon mit der Einführung der Figuren des Besitzers, seiner Frau, und seiner Mutter, die sich auf demselben Hof befindet. Katzensilber thematisiert das Leben einer

92 Vgl. Hunfeld, Barbara, Schneider, Sabine (Hrsg.), Die Dinge und die Zeichen; Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, S. 323. 93 Stifter, Adalbert, Katzensilber, Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken, S. 1223. 25 bürgerlichen Familie, die einem fremden, ängstlichen Mädchen begegnet ist. Die Kinder, die unter Aufsicht ihrer Großmutter aufwachsen, lernen die Umgebung und die Natur kennen. Der Nußberg, der Lieblingsort der Kinder ist für sie auch der Treffpunkt, an dem das unbekannte Mädchen auftaucht. Der Versuch, sich dem fremden Mädchen zu nähern, sowohl seitens der Kinder und der Großmutter, als auch deren Eltern, indem man es ins bürgerliche Leben zu integrieren versucht, gewinnt im Laufe der Handlung immer mehr an Bedeutung. Das Fremde, das das Mädchen für die anderen Figuren bedeutet, fungiert bis ans Ende als ein wichtiger Bestandteil der Handlung. Obwohl das Mädchen auf keine Ablehnung stößt, ist es nach seinem eigenen Willen, von der Gesellschaft ausgeschlossen. Das braune Mädchen steht symbolisch für die Natur bzw. die Verknüpfung des Natürlichen, Fremden und Unklaren und in dieser Funktion wird es bis ans Ende nicht integriert, sondern verschwindet ohne Spur und kommt nie wieder zurück. Das Mädchen rettet zweimal den Kindern das Leben. Dabei werden zwei Ereignisse beschrieben, die möglicherweise auf wahren Begebenheiten basieren. „Wenn man davon ausgeht, das ein schweres Hagelunwetter von 1846 und ein Brand von 1847 Stifter angeregt haben könnten, ist eine Datierung in die späten 40-er Jahre wahrscheinlich; sicher ist nur, dass Stifter im August 1852 die Erzählung fertigstellte und dass sie ihm besonders gelungen schien.“94 Katzensilber stellt eine Verknüpfung zweier Welten dar, bei der die Romantisierung des Themas hervorgehoben wird. Die Novelle “combines a realistic tale about a bourgeois family with a strong fairy-tale element”95. Verschiedene Bilder in der Erzählung weisen auf das Sagenhafte und Unheimliche hin, insbesondere in den beiden Geschichten der Großmutter. Ihre Geschichten beinhalten einen für die Romantik spezifischen Anklang und weisen damit auf Erzählungen der Romantik hin, etwa auf Der goldene Topf von E.T.A. Hoffman. „Mit diesem Märchenton knüpft Stifter an romantische Vorbilder an; der Text spielt insofern eine Auseinandersetzung mit der Romantik innerhalb eines realistischen Erzählrahmens durch.“96 Die Namen, die Stifter den Novellen seines Zyklus ,,Bunte Steine“ gab, weisen auf eine bestehende Mineralsymbolik hin. Das Katzensilber gehört zu den so genannten

94 Mayer, Adalbert Stifter, S. 141. 95 Swales, Martin and Erika: Adalbert Stifter. A Critical Study, S.184. In: Hunfeld, Schneider (Hrsg.), Die Dinge und die Zeichen; Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, S. 320. 96 Koschorke, Erziehung zum Freitod, Adalbert Stifters pädagogischer Realismus. In: Hunfeld, Schneider (Hrsg.), Die Dinge und die Zeichen; Dimensionen des Realistischen in der Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts, S. 320. 26

Glimmermineralen97, deren Haupteigenschaft darin besteht, das sie stark flimmern können. Dieser Schein wird aber oft mit Glimmern echten Silbers verwechselt. Auf eine ähnliche Art fungieren die Leitgedanken in der Novelle Katzensilber. Wie das Schimmern des Minerals erscheint das braune Mädchen nur sporadisch, um dann wieder zu verschwinden. Manche Auftritte des braunen Mädchens sind wichtiger als andere, z.B. ist es wichtiger, dass sie dem kleinen Sigismund das Leben rettet als die unregelmäßigen Treffen mit der Großmutter und den Kindern, auf dem Nußberg. Das Schimmern ist auch etwas Unerwartetes, Unentdecktes und Fremdes, etwas, das sowohl die bürgerliche Familie, als auch die anderen auf dem Lande, nie erlebt haben. Da man das Katzensilber zugleich als etwas Betrügerisches verstehen kann, scheint auch das ständige Verschwinden nur Schein zu sein, da das braune Mädchen nur am Höhepunkt der Handlung anwesend ist.

5.1.2 Das braune Mädchen als femme enfant und als fremdes Faszinosum

Das braune Mädchen ist das treibende Element der Handlung in der Novelle. Es erscheint als dunkelhäutig und fremd, wird aber nie direkt als Zigeunermädchen bezeichnet, obwohl es viele Eigenschaften aufweist, die dem Topos der schönen Zigeunerin entsprechen. Ich werde daher im Laufe der Analyse danach trachten, das Handeln der anderen Figuren und deren Einstellung ihm gegenüber darzustellen, um Merkmale zu finden, die auf seine zigeunerische Herkunft hinweisen könnten. In Bezug auf die eingangs vorgestellten Weiblichkeitstypen, trägt das braune Mädchen zweifelsohne Züge der femme enfant, der kindlichen Frau also. Dabei ist allerdings der Einfluss einer männlichen Figur fast zu vernachlässigen. Das braune Mädchen hat in der Novelle zwei potentielle Erzieherinnen und zwar den Vater und die Mutter, die es mit gemeinsamen Kräften ins bürgerliche Leben einzuschließen versuchen, was ihnen jedoch nicht gelingt. Dieser Erziehungsversuch wird auch explizit genannt: ,Die Mutter hatte dem braunen Mädchen Stoffe gebracht, um es recht schön zu kleiden, und gab ihm dieselben, indem sie es mit liebevollen und zärtlichen Augen ansah. Der Vater und die Mutter hatten beschlossen, das braune Mädchen zu erziehen, und es demjenigen Glüke zuzuführen, dessen es nur immer fähig wäre.‘98

97 Vgl. URL: http://www.steine-und-minerale.de/artikel.php?f=4&topic=4&ID=226&keywords=Silber, am 20.01.2016. 98 Stifter, Katzensilber, S. 1284. 27

Zu einem wichtigen Teil ihrer Erziehung gehört auch die Bindung des Mädchens an die von Stifter dargestellten und geltenden bürgerlichen Normen. Unklar bleibt, ob Stifter die Wichtigkeit der Religion so hervorhebt, damit sie das Lesepublikum als ironisch wahrnimmt oder als ernst gemeint. Das fremde Mädchen soll als schöner Teil „unseres Vaterlandes“ assimiliert werden und wird zu diesem Zweck vom Ehepaar sowie einem Priester, der auch die beiden Kinder unterrichtet, unterwiesen, ,,um das Mädchen Gott und die Gebräuche unserer heiligen Religion kennen zu lehren.“ 99 Das titelgebende Katzensilber wird in der Novelle zum ersten Mal erwähnt, als die Kinder Emma, Clementia und Sigismund am Bach beisammen sind, und das Wasser und den Sand betrachten und ,,mit einem Schäufelchen Sand heraus holten100“. Das Mädchen, das an dieser Stelle zum ersten Mal erscheint, ist fremd und unbekannt, und es trifft auf die Kinder, als sie im Verlauf der Erzählung schon älter geworden waren:

,Als Blondköpfchen und Schwarzköpfchen schon schöner und wunderbarer geworden waren, als Sigismund schon groß geworden war, und sie wieder einmal auf dem hohen Nußberge an der diken veralteten Haselwurzel sassen, kam aus dem Gebüsche ein fremdes braunes Kind heraus.‘ 101

An der Erscheinung des Mädchens ist nicht zu erkennen, woher es kommen könnte. Es ähnelt Emma, ,,dem Blondköpfchen“, ist aber viel schlanker als sie. Die erste Erscheinung des fremden Mädchens ruft auch keine Feindseligkeit seitens der Kinder oder der Großmutter hervor, obwohl es so sein könnte. Während die Kinder das Mädchen interessiert betrachten, ist die Großmutter ganz ruhig und fragt, wer sie sei. Die Ruhe der Großmutter ist überraschend, wenn man bedenkt, dass sich die Einwohner des kleinen Dorfes untereinander kennen dürften und deshalb Fremde sofort auffallen. Der Vater der drei Kinder, der in der Novelle, wie das braune Mädchen keinen Namen trägt, zeigt größeres Interesse an dem fremden Mädchen erst als es seine Kinder vor dem kommenden Unwetter gewarnt hat. Sein erster, gutgemeinter Versuch, sich dem Mädchen zu nähern, endet mit dessen Flucht.

99 Ebda, S. 1285. 100 Ebda, S. 1234. 101 Ebda, S. 1235. 28

,Der Vater sagte ihr [der Mutter], daß es das braune Mädchen von dem hohen Nußberge sei, und erzählte ihr, was es heute zu dem Schutze der Großmutter und der Kinder gethan habe. Dann wendete er sich zu der Gruppe der Kinder, und sagte: „Komme her, du liebes Kind, wir werden dir sehr viel Gutes tun. Das Mädchen zog sich bei diesen Worten langsam von den Kindern zurük, und da es ein Stükchen entfernt war, fing es zu laufen an, es lief durch den Garten zurük, es lief um die Glashäuser herum, und in dem nächsten Augenblike sah man es schon in der Sandlehne empor laufen.‘102

Während die indifferente Einstellung der Großmutter keinen Einfluss auf die Beziehung zwischen den Kindern und dem Mädchen hat, stellt der Vater Nachforschungen zur Herkunft an, die jedoch ergebnislos bleiben:

,Nachmittags ging der Vater zu dem eine halbe Stunde Wegs entfernter Pfarrer hinüber, dessen Pfarrhaus neben der kleinen Pfarrkirche war, und fragte ihn wegen des braunen Mädchens. Der Pfarrer wusste nichts. […] Der Pfarrer ging zu dem Jäger, der oft durch Felder Wälder und Fluren strich, und alle Dinge derselben kennen mußte. Allein auch dieser wußte nichts. […] Sein Nachbar aus den jenseitigen Gegenden wisse auch nichts.‘ 103

Als eine feindliche Reaktion könnte der Satz eines Knechts verstanden werden, der sagte, er wolle das Mädchen finden, und zwar mit den Worten ,,Ich fange das Ding“104. Man könnte annehmen, er wolle es wie einen Gegenstand oder ein Stück Vieh unter seine Kontrolle bringen, aber vielleicht handelt es sich nur um den Beleg einer recht groben Ausdrucksweise, die seinem Stand entsprechen würde.

5.1.3 Die Beziehungen der Fremden zu den anderen Figuren

Obwohl das braune Mädchen der Großmutter und den Kindern als vollkommen fremd erscheint, wird es in der ganzen Novelle ohne negative Vorwürfe betrachte oder gar verspottet. Es bleibt dem Leser bzw. der Leserin überlassen, Hypothesen über die Herkunft anzustellen, etwa aus einer Roma-Familie, dessen stereotype Züge es trägt: Die Herkunft ist unklar, es hat eine dunkle Hautfarbe, kann Unwetter vorhersagen, erscheint und verschwindet wieder und bietet daher viel Raum für Vermutungen und Projektionen durch die anderen Figuren.

102 Ebda, S. 1249. 103 Ebda, S. 1255. 104 Ebda, S. 1249. 29

Zweimal in der Handlung erkundigt sich der Vater nach seiner Herkunft. Die zweite Suche scheint seriöser, ist aber ebenso ergebnislos wie die erste: ,Der Vater bekümmerte sich wieder um die Herkunft des braunen Mädchens. Er fragte Nachbarn und Bekannte, sie wußten gar nichts von ihm. Er beschloß nun die Landleute die armen Häusler die Holzhauer die Pechbrenner die Waldhüttler zu fragen. […] Die Holzhauer und Pechbrenner sagten, es gäbe allerlei Leute. Und wenn er das Mädchen beschrieb, so sagten sie insgesamt, sie hätten es schon gesehen, und wenn sie das Mädchen beschrieben, so beschrieb es der eine so, der andere anders, ein jeder auf seine Weise. Der Vater kehrte wieder nach Hause.‘ 105

Der vorletzte Satz des vorigen Zitats spielt bei der Beschreibung des fremden Mädchens eine wichtige Rolle. Als eine spezifische und außergewöhnliche Gestalt, weckt es bei verschiedenen Menschen auch verschiedene Gefühle und aus diesem Grund wird sie je nach Mensch anders beschrieben. Die ,,Zeugenaussagen“ besagen über die Zeugen selbst genauso viel wie über das Mädchen, umso mehr, je weniger sie wissen. Die Großmutter verhält sich ihm gegenüber recht neutral, schon bei der ersten Begegnung, nach der es heißt: „Die Großmutter und die Kinder gingen von dem hohen Nußberge, ohne weiter von dem Mädchen etwas zu sehen oder zu hören.“ 106

Die Großmutter ist in ihrem Leben schon anderen fremden Gestalten begegnet, weshalb sie der Meinung ist, die Kinder bräuchten keinen Schutz vor ihm. Die Einstellung der Mutter und des Vaters gegenüber dem Mädchen kann als ein hervorragendes Beispiel dafür dienen, wie gut gemeinte Assimilationsversuche dazu führen, Roma und Sinti an den Rand der Gesellschaft zu stellen, wenn sie sich nicht anpassen wollen. Die Unmöglichkeit einer erfolgreichen Integration haben eine Welt der Repression offenbart, in der die Roma und Sinti, ausgeschlossen von der bürgerlichen Gesellschaft, ihre eigene aufbauten, die mit der Zeit dazu beigetragen haben, dass die Stereotypisierung immer mehr an Bedeutung gewinnt. Der Vater hat nichts gegen den Kontakt seiner Kinder mit dem fremden Mädchen, denn ,,er erlaubte den Kindern gerne, daß sie auf den hohen Nußberg gingen, sagte aber, daß sie dem fremden Kinde nichts zu Leide thun sollten.“ 107 Das Mädchen dagegen erwidert den Kontakt nicht auf dieselbe Weise, denn ,,es blieb an dem Rande der Gebüsche stehen, und sah zu. Es lächelte recht

105 Ebda, S. 1267. 106 Ebda, S. 1235. 107 Ebda, S. 1236. 30 freundlich, wenn man zu ihm sprach, antwortete aber nicht. Wenn man fortging, ging es hinterher bis an das Ende der Gebüsche.“ 108 Statt sich in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren, sucht das braune Mädchen den intensiven Kontakt zu Natur, einer alternativen Heimat, aus der es kommt und in die es immer wieder verschwindet. Das stereotype Bild ist die Assoziierung mit der Tatsache, dass die Roma und Sinti im Laufe der Zeit keine sesshafte Bevölkerung waren. Aus diesem Grund ist die Suche des Vaters nach Herkunft und Wohnort ergebnislos, denn die Natur umgibt das gesamte Dorf. Mit Naturerscheinungen kennt das Mädchen sich aus, kann es doch sogar das gefährliche Unwetter vorhersagen. Da es die Natur als seine ursprüngliche Heimat erlebt, beginnt es, auf dem Berg ein Haus zu bauen, und zwar aus Bündeln, die es bringt.

,Das braune Mädchen hörte endlich mit dem Herbeitragen von Bündeln auf, und begann aus denselben gleichsam ein Häuschen zu bauen. Es suchte eine Stelle aus, die gegen Abend mit dichten Haseln umstanden war, […], und holte immer mehr und mehr Bündel auf, daß im Innern eine Höhlung war, die Unterstand both.‘109

Da es sich sprachlich nicht vollständig mitteilen kann, übersetzt es die Zeichen der Natur als Warnung an die Kinder in seine eigene Zeichensprache:

„Darauf machte es ein Zeichen, weil es die Sache nicht mit Worten sagen konnte: es hielt die linke Hand flach auf, hob die rechte hoch, machte eine Faust, und ließ dieselbe auf die geöffnete Hand niederfallen. Dann schaute es auf die Großmutter, und zeigte auf die Wolken.“ 110

Das braune Mädchen übernimmt hiermit die Rolle einer Patronin, die sich um die Kinder kümmert, wenn ihre Eltern nicht da sind. Die vier handlungstragenden Figuren, das Mädchen, die Großmutter, die Mutter und der Vater, tragen keine Namen, was ihnen einen überindividuellen Charakter verleiht, in der Art von Figuren eines Märchens. Die Großmutter stellt mit ihren Geschichten die Verbindung der realen Ereignisse mit der Vergangenheit her, wobei sie viele alte, volksmythologische Motive verwendet. Sie glaubt an die Wunder, die passieren müssen, damit die Kinder vor Unwetter geschützt werden können und ihr

108 Ebda, S. 1236. 109 Ebda, S. 1240. 110 Ebda, S. 1240. 31

Glaube erweist sich als rettend. Im Vergleich zum braunen Kind, dessen Herkunft unklar bleibt, ist die Großmutter die Figur, ,,welche nie aus ihrer Heimath entfernt gewesen war, nur die nächsten Orte kannte, und blos ein einziges Mal in der Hauptstadt des Landes gewesen war.“111 Unter solchen Umständen hat sie eine ganze Welt von abergläubischen Vorstellungen entwickelt, in der nicht zu viel Platz für andersartige Zugänge blieb. Die Geschichte, die von ihr erzählt wird, hat die Aufgabe, auf die kommenden rätselhaften Ereignisse in der Erzählung hinzuweisen. Wie von einem Zauberspruch erzählt sie eingangs, die Sture Mure und der hohe Felsen seien tot. Worte, die am Ende in Bezug auf das untröstliche braune Mädchen wieder aufgegriffen werden, nach dem es für immer verschwindet. Im Vergleich zur Großmutter, die volksmythologischen Geschichten erzählt, ist der Großvater, und mit ihm auch die Mutter, viel rationaler. Der Großvater hat, im Vergleich zur Großmutter, die Gegend, in der sie leben, mehrmals verlassen und hat mittlerweile große Leistungen erbracht. Sein Handeln ist pragmatisch, er versucht, eine Lösung zu finden und baut ein Häuschen, so dass sich die Kinder vor dem Unwetter schützen können.

5.2 Adalbert Stifter: Der Waldbrunnen

Der Waldbrunnen erschien 1866, mehr als zehn Jahre nach Katzensilber und wurde zusammen mit den drei Erzählungen Die Nachkommenschaften, Der Kuß von Sentze und Der fromme Spruch nach Stifters Tod im Düsseldorfer Künstleralbum veröffentlicht.112 Der Waldbrunnen übernimmt viele Motive aus Katzensilber, auch zwischen den Figuren gibt es Ähnlichkeiten. Wieder geht es darum, eine fremde Gestalt, in diesem Fall eine wilde Gestalt, zu domestizieren und sie an die existierenden gesellschaftlichen Normen anzupassen. Julia Einfalt113 bemerkt, dass diese wilde Gestalt im Laufe der Erzählung Juliana genannt wird, während das braune Mädchen im Werk Katzensilber namenlos bleibt. Anhand zweier beziehungsweise dreier schöner Gestalten, Juliana, der Frau des Ich-Erzählers und einer schönen Zigeunerin, werden die Einschließung und Ausschließung des Fremden und Versuche von dessen Assimilierung nun im Folgenden dargestellt.

111 Ebda, S. 1223. 112 Vgl. Achenbach, Hendrick, Natur versus Kultur? ‘Wilde Mädchen’ im Erzählwerk Adalbert Stifters, S. 87. 113 Einfalt, Projektionsfläche "ethnische" Minderheit. Eine Untersuchung der Weiblichkeitskonstruktion "Zigeunerin" in ausgewählten literarischen Werken des 19. Jahrhunderts, S. 87. 32

5.2.1 Inhaltsangabe

Wie Katzensilber, beginnt auch Der Waldbrunnen wie ein Märchen. Die in die Handlung einführende Rahmenerzählung berichtet von zwei Frauen, die der Ich-Erzähler einmal gesehen hat: „Das eine Mal ist es ein Zigeunermädchen gewesen, das andere Mal eine junge Frau.“114 Die Schönheit des Zigeunermädchens erlebt er als etwas Atemberaubendes und Unglaubliches und spricht darüber mit seiner Frau, womit die Binnenerzählung eröffnet wird. Die Binnenerzählung nun berichtet von dem alten Mann Stephan Heilkun, der mit seinen Enkelkindern auf ein ,,wildes“ Mädchen im Wald stößt. Das Mädchen Juliana, dessen Name am Ende offenbart wird, lehnt die Nähe zu Menschen ab. Es wurde von seiner Großmutter im Wald großgezogen, fernab der gesellschaftlichen Normen. Stephan gelingt es, das Mädchen immer mehr in die Gesellschaft zu integrieren und sie von ihrer Introvertiertheit zu ‚retten‘. Erst nach dem Tod der Großmutter gelingt das vollständig und das ,,wilde“ Mädchen heiratete Stephans Enkel Franz. Die Handlung der Novelle kann aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Es ist vor allem nicht klar, wer die Hauptfigur der Novelle ist: Stephan von Heilkun oder Juliana. Stephan ist wichtig, weil er den Leser durch die ganze Geschichte führt. Das zentrale Handlungselement dagegen ist die ‚Erziehung‘ Julianas. Stephan als Erzieher könnte dagegen in den Hintergrund treten, da seine pädagogische Leistung an Juliana ersichtlich ist. „Bei einer genaueren Analyse der Erzählung läßt sich die Ansicht, Stephan sei die Zentralgestalt dieses Werkes, nicht halten. Im Mittelpunkt des Werkes steht Juliana“115, meint etwa Hunter- Loughheed. In der Folge werden nun drei interpretatorische Fragen verfolgt: erstens die Stereotypisierung der weiblichen (und zigeunerischen) Figur, zweitens die Fragestellung, inwiefern es Stephan als Erzieher gelungen ist, das Mädchen in die Gesellschaft zu integrieren und in welchem Maße der Erziehungsprozess eine Rolle in der Handlung spielt. Die dritte Frage gilt der Beziehung zwischen den Ehepartnern am Anfang der Novelle. Mit dieser soll zunächst begonnen werden.

114 Stifter, Der Waldbrunnen, In: Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken, S. 1363. 115 Hunter- Loughheed, Adalbert Stifter. Der Waldbrunnen. Interpretation und Ursprungshypothese. Schriftenreihe des Adalbert- Stifter- Instituts des Landes Oberösterreich. In: Achenbach, Natur versus Kultur? ‘Wilde Mädchen’ im Erzählwerk Adalbert Stifters, S. 88. 33

5.2.2 Die Beziehung zwischen dem Ich-Erzähler und seiner Frau

Das Gespräch des Ich-Erzählers mit seiner Frau findet zwischen der Einleitung und der Binnenerzählung statt. Nachdem der Ich-Erzähler von den schönen Frauengestaltet berichtet hat, wird seine Geschichte durch dieses Zwiegespräch unterbrochen, in dem die persönliche und tiefe Bewunderung für die Schönheit einer Frau zum Ausdruck kommen. Das Gespräch mit der Frau umfasst eine ausführliche Beschreibung der Begebenheit, in der sich der Ich- Erzähler befand: Er war zu der Zeit Schüler der Rechtsschule. Die Schönheit der Frau, so wird mehrmals im Text gesagt, könne er mit keiner anderen Frau vergleichen: „Die ungemein großen Augen waren schwärzer, als das schwarze Gewand, so waren auch die reichen Haare unter dem Florentiner Hute, die Zähne waren weißer, als die Krause und der Fächer, und für die Gestalt war nichts da, womit man sie vergleichen können.“116 Dabei setzt der Ich-Erzähler den Proportionen der Schönheit enge Grenzen: ,,Sie war hoch; aber wäre sie um eine Linie höher gewesen, so wäre sie nicht mehr so schön gewesen.“117 Verbunden wird dieses Urteil mit einer recht abschätzigen laudation tempori acti: ,,damals waren Frauengestalten noch Gestalten nicht wie jetzt häßliche Kleiderhaufen.“118 Den drohenden Eifersuchtskonflikt mit seiner Ehefrau entschärft der Ich-Erzähler dadurch, dass er ein rein ästhetisches Interesse an dieser außerhalb der geltenden gesellschaftlichen Normen stehenden Frau hatte, vielleicht auch, um nicht in das Schicksal einer femme fatale verwickelt zu werden. Wie im Kapitel zur femme fatale in dieser Arbeit ausgeführt, müsste er, sofern er nicht die reine Triebbefriedigung suchte, im Fall einer Liebe zur femme fatale Standesgrenzen überschreiten und damit bürgerliche Normen verletzen. Die Frau des Ich- Erzählers fragt danach, ob ihr Mann mit dem schönen Zigeunermädchen gesprochen habe, und er antwortet:

,Gesprochen? Ich habe mit dem Mädchen gar nicht gesprochen,“ antwortete ich, ,,daran habe ich auch nicht gedacht, ich habe nur die Gestalt angeschaut und um ihr Wesen mich nicht bekümmert; denn an Seele giebt es nichts Schöneres als Dich, und da suche ich nicht weiter herum.‘119

116 Stifter, Der Waldbrunnen, In: Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken, S. 1366. 117 Ebda. 118 Ebda. 119 Ebda, S. 1368. 34

Der Ich- Erzähler beschränkt sich auf die äußere Schönheit des Zigeunermädchens. Dabei wird indirekt gesagt, dass der Ich- Erzähler, als Nicht-Rom, von jedem Kontakt zum Zigeunermädchen Abstand nimmt. „Nun, so sei Dir, wenn es so ist, verziehen,“ erwiderte die Ehefrau, ,,daß du unter Zigeunern und Malayen schönere Gestalten findest, als Deine Frau ist.“120 Damit endet das Gespräch zwischen dem Ich- Erzähler und seiner Frau. Der inneren Schönheit wird der Vorzug gegeben, dass Fremde nur aus der Ferne betrachtet und die Standesgrenzen bleiben, wo sie sind. Ganz anders dagegen in der Binnenerzählung: Das „wilde“ Mädchen Juliana wird Schritt für Schritt an die bürgerlichen Normen herangeführt. Eines der Themen dabei ist das Maß an Liebe, das jeder Mensch braucht.

5.2.3 Mangel an Liebe

Die Binnenerzählung beginnt mit der Charakterisierung der Figur des verwitweten und einsamen Stephan von Heilkun. Wie schon bei der Analyse des Werkes Katzensilber erwähnt, bezieht sich das Stifter‘sche Erzählen oft auf ein konkretes Ereignis, dem eine Verbindung mit der Natur und den naturbedingten Elementen vorangeht. In diesem Fall ist von den großen Steinen die Rede, die sich tief in der Erde befinden, und durch die die kleinen Wässer rinnen und so ein Bächlein formen. Dieses Wasser ist nachher imstande, den Erdboden, alle Wesen und Gräser zu beleben. Das Wasser bringt ihnen Gesundheit. Auf ähnliche Weise wirken auch die Erziehung und die Liebe zu anderen Menschen: Sie beginnen tief in der Kindheit und wirken sich auf das ganze Leben aus, ja ermöglichen es erst. Im Falle von ,,Katzensilber“ war das Naturelement das Charakteristikum des Minerals, das außerordentlich schimmern kann. In Waldbrunnen ist die Rede von Stein, durch dessen Öffnungen das Wasser läuft. Dieser Stein, ,,der Hunderte von Meilen lang ist, viele Meilen breit und manche Meile tief“121, könnte auch das Leben, seine ,,Gänge“ und ,,Spalten“ kennzeichnen. Stephans Geschichte ist eng mit dem Tod seiner Frau verbunden. Ihren Verlust fühlt er als einen großen Mangel. „Ich habe Eure Großmutter kennen gelernt, welche die Mutter Eures Vaters gewesen ist, sie ist meine Ehefrau geworden und hat mich sehr geliebt. Ich hatte

120 Ebda, S. 1368. 121 Ebda, S. 1370. 35

ihr alles gegeben, was ich gehabt habe, ich habe ihr aufgeopfert, was mir lieb war, sie war mir sehr dankbar, ich wurde ihr Theuerstes auf der Welt.“122

Nach ihrem Tod scheint ein Teil des „Bächleins“ in Stephans Leben versiegt zu sein. Obwohl er von Menschen umgeben ist, die ihn lieben, worauf ihn seine Enkelkinder Franz und Katharina auf der Reise von Passau hinweisen, hat er an Fröhlichkeit und Gesundheit verloren:

,Ich werde sie durch manche Dinge verloren haben, mein Kind,“ antwortete der alte Mann, ,,die Du nicht verstehst. Ich bin freiwillig in ein Amt gegangen und bin dadurch schon in einer Zeit zu viel an einem Tische gesessen, als noch Euer Vater und Eure Mutter im Grase fröhlich herumsprangen, ich habe Kummer erlebt und werde Gesundheit und Fröhlichkeit auch verloren haben, weil ich Mangel an Liebe litt.‘123

Diesen Verlust zu bewältigen scheint er aus eigener Kraft nicht zu schaffen, wie man an der Antwort an Katharina merkt, als diese fragt, wer mit ihnen im Waldhaus leben wird: „Großvater, wirst Du dann auch noch Jemand haben, der Dich liebt?“ fragte Katharina. „Das weiß ich nicht, mein Mädchen,“ antwortete der alte Mann.“124

5.2.4 Das Bild der ,,schönen“ Zigeunerin

In der Novelle Waldbrunnen findet sich der Topos der ,,schönen Zigeunerin“ am Anfang, in der Rahmenerzählung. Das schöne Zigeunermädchen ist nicht identisch mit der schwarzen Frau aus der Rahmenerzählung, denn diese schwarze Frau kann mit der Figur Julianas in der Binnenerzählung gleichgestellt werden. Juliana „wird nicht eindeutig ethnisch zugeordnet.“125 Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen dem Zigeunermädchen und dem ,,wilden“ Mädchen besteht darin, dass das Zigeunermädchen nur ein vergängliches Objekt der Schaulust ist, während man am Beispiel des „wilden“ Mädchens einem Annäherungs- und Erziehungsprozesses folgen kann, im Zuge dessen die unbekannte Figur an die schon existierenden gesellschaftlichen Normen angepasst werden muss. Schmidt126 bemerkt, dass dieser Unterschied zwischen dem ,,wilden“ Mädchen und dem Zigeunermädchen bezüglich ihrer Bindungen an diese Normen besteht. Das Zigeunermädchen muss keine Erwartungen erfüllen, während das ,,wilde“ Mädchen,

122 Ebda, S. 1372. 123 Ebda, S. 1372. 124 Ebda, S. 1374. 125 Einfalt, Projektionsfläche "ethnische" Minderheit: eine Untersuchung der Weiblichkeitskonstruktion "Zigeunerin" in ausgewählten literarischen Werken des 19. Jahrhunderts, S. 86. 126 Vgl. Schmidt, Sabine, Das domestizierte Subjekt. Subjektkonstitution und Genderdiskurs in ausgewählten Werken von Adalbert Stifter, S. 422. 36 das nach dem ,,Domestizierungsprozess“ zu Juliana wird, ihre den Erwartungen entsprechenden Aufgaben erledigt, damit sie nicht an den gesellschaftlichen Rand getrieben wird:

„Juliana tritt in Begleitung eines Mannes, ja, sogar in Begleitung ihres Ehemannes auf, sie trägt sich in das Gästebuch ein, und wird dadurch von einer namenlosen Schönheit zu einer eindeutig identifizierbaren Person. […] Die Zigeunerin dagegen ist frei von solchen Bindungen und Begrenzungen.“127

Das fremde Zigeunermädchen bleibt dagegen aus dieser Gesellschaft ausgeschlossen, auch wenn man seine Schönheit bewundert. Es steht auch im wörtlichen Sinne draußen: „Neben der Thür des Gasthauses aber, […], stand ruhig, als ginge sie das alles nicht an, ein Mädchen der Zigeuner“ 128. Mit dieser Beschreibung kann auf die anderen, für die nomadisierenden Zigeuner geltenden Stereotypien verzichtet werden. Das Fremde bleibt fremd und damit ein statisches Gegenstück zur Frau des Ich-Erzählers etwa, anders als im Fall der Erziehung Julianas, welche die anfängliche Grenze überschreitet. Ganz stereotyp ist das Bild der Zigeuner, ihren Wägen, dem Aussehen und Verhalten am Anfang der Rahmenerzählung. Hierbei wird, was neu und unbekannt ist, als ,,seltsam“ bezeichnet, das Pferd ist mager und zwischen den Wagen „lagen allerlei seltsame Dinge: bunte Stäbe, Pfannen, runde Krüge, krumme Hakmesser, Kesselpflöcke, zwei Handtrommeln und noch mehr Anderes.“129 Die Menschen zwischen den Wagen entsprechen im Details vielen Klischeebildern:

,Um diese Dinge trieben sich Zigeuner herum: Männer und Weiber so schwarz wie der Mohrenkönig auf alten Bildern der heiligen drei Könige, in Trachten verschiedener Zeiten und Länder gekleidet, feurig an Farbe, ganz oder zerrissen, und dabei schrien sie, als keiften sie, in der Angelegenheit des Abfahrens oder des Ankommens begriffen.‘130

Der Ausdruck „schwarz wie der Mohrenkönig“ kann auf zwei Arten ausgelegt werden. Im ersten Fall ist diese Beschreibung eher positiv. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die heiligen drei Könige eigentlich keine Könige waren, sondern Magier und Sterndeuter131, hätten die Roma eine wichtige Rolle: Sie sind Teil der Gesellschaft, heimliche Könige, die dazu noch die Zukunft

127 Ebda. 128 Stifter, Der Waldbrunnen, In: Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken, S. 1363. 129 Ebda, S. 1363. 130 Ebda, S. 1363. 131 http://www.kathweb.de/lexikon-kirche-religion/d/drei-koenige-hl..html, zugegriffen am 20.05.2016, 15:44. 37 vorhersagen können. Andererseits wirken ihre Trachten aus der Zeit gefallen und am falschen Ort. Damit stehen sie wieder außerhalb der geltenden Ordnung. Während die Zigeuner, die „alten Bildern“ gleichen und „Trachten verschiedener Zeiten“ tragen, zeitlich zumindest vage verankert werden, scheint die Schönheit des Zigeunermädchens zeitlos zu sein. Ihre Schönheit wird durch die Zuschreibung einer eindeutigen ethnischen Identität so mit Heimatlosigkeit, exotischer Fremdheit und Zeitlosigkeit assoziiert […]“132 Die negativen Stereotypen verblassen dagegen. Sie wird sogar mit Meisterwerken der Malerei verglichen: ,,Den Ernst in den Mienen des Mädchens würde ich dem Ernste der sixtinischen Madonna vergleichen, wenn ich nicht eine Ungerechtigkeit beginge: denn das Mädchen war schöner als die raphaelische Madonna.“133 Nicht nur die Schönheit, die sich aus maßlosen Vergleichen zusammensetzt, sondern auch die Beschreibung der Zigeuner als „seltsam“ und fremdartig führen zu einer Distanzierung des Ich-Erzählers von den Figuren, eine Distanz, die nur durch die äußerliche Beobachtung für eine kurze Zeit überbrückt wird.

5.2.5 Das ,,wilde“ Mädchen

In diesem Abschnitt werden das Motiv des ,,wilden“ Mädchens und dessen Rolle für die ganze Handlung der Novelle bearbeitet. Es wird nicht ethnisch zugeordnet wie die Zigeunerin aus der Rahmenerzählung. Dennoch gibt es Parallelen, die auf eine potentielle Roma - Herkunft hinweisen. Zunächst sollen die Unterschiede zwischen den beiden Figuren hervorgehoben werden: Einfalt134 bemerkt, dass das ,,wilde“ Mädchen durch die gesellschaftlichen Normen bzw. durch Männer diszipliniert und domestiziert wird, während das Zigeunermädchen keinen Anteil an der Handlung hat und nach einer ausführlichen Beschreibung seitens des Ich- Erzählers nicht mehr im Werk erwähnt wird. Es gibt Gründe für diese Distanzierung von der Zigeunerin: Eine fatale Frau, zu der das Zigeunermädchen sicherlich gehört, kann nicht am ,,Domestizierungsprozess“ beteiligt werden. Ihre instabile Beziehung zur Gesellschaft, id est zur Ehe und Sesshaftigkeit, für die auch die Frau des Ich-Erzählers steht, weist der Zigeunerin eine Rolle am Rande der Erzählung zu, als nicht wünschenswerte Kontrastfigur.

132 Schmidt, Das domestizierte Subjekt. Subjektkonstitution und Genderdiskurs in ausgewählten Werken von Adalbert Stifter, S. 422. 133 Stifter, Der Waldbrunnen, In: Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken, S. 1363. 134 Vgl. Einfalt, Projektionsfläche "ethnische" Minderheit: eine Untersuchung der Weiblichkeitskonstruktion "Zigeunerin" in ausgewählten literarischen Werken des 19. Jahrhunderts, S. 87. 38

Die Figur des ,,wilden“ Mädchens hingegen ist kein Lustobjekt wie das Zigeunermädchen. Es gehört nach den in dieser Arbeit vorgelegten Weiblichkeitstypen zum Typus der sogenannten femme enfant. Im entsprechenden Kapitel dieser Arbeit wurde gesagt, dass die Männer, die autoritär auf diese weibliche Figur wirken, in der Regel verheiratet sind. Das Werk Waldbrunnen stellt in dem Sinne eine Ausnahme dar, als Stephan von Heilkun nicht (mehr) verheiratet ist. Er hat aber große pädagogische Neigungen und ist aus diesem Grund sehr hilfsbereit. Seine Hilfsbereitschaft offenbart sich auf einer höheren Stufe, indem das ,,wilde“ Mädchen zu Franzens Frau wird. Der große, zwischen Heilkun und dem ,,wilden“ Mädchen existierende Generationsunterschied scheint ein Hindernis dabei zu sein, einen anderen Weg zu gehen. Da es Heilkun, wie er den Enkelkindern selbst mitteilt, an Liebe mangelte, versucht er auf diese Art und Weise, es seinem Enkelkind zu erleichtern, das Glück im Leben zu finden, wobei sich das ,,wilde“ Mädchen aber darum bemühen muss. Sein Austritt aus der gesellschaftlichen Schicht, zu der es gehört, wird mit der Übernahme neuer Pflichten besiegelt. Am Ende der Novelle heißt es:

,Da mehrere Jahre vergangen waren und Stephan die Hand seines Enkels Franz in die seines Kindes Juliana, wie er sie nannte, legte, sagte er: „Franz, Du erhältst eine Gattin, welche wirklich liebt und auch ihre Pflicht versteht, und das ist das Höchste. Halte dieses Höchste in Ehren und Du wirst glücklich sein und glücklich machen.‘135

Für Stephan von Heilkun gehen also Liebe und gesellschaftliche Pflichterfüllung Hand in Hand. Auf diese Weise möchte er verhindern, dass das „wilde“ Mädchen ein Leben in Pflicht, aber ohne Liebe führt, wie ihm das selbst widerfahren ist.

5.2.6 Der Erziehungsprozess und die Domestizierung der ,,wilden“ Figur

Nun stellen sich die Fragen, welche Erziehungsschritte Stephan setzt und worin die ‚Wildheit‘ besteht, die er dem Mädchen austreiben möchte. Das Adjektiv ,,wild“ gehört dem Topos des Fremden an. Das Fremde an Juliana ist die Unmöglichkeit, sie bei der ersten Begegnung mit Stephan der passenden sozialen Schicht zuzuordnen. Aus diesem Grund wird sie automatisch dem zugeordnet, was man nicht versteht und was fremd auf einen wirkt. Andererseits äußert sich das Mädchen ziemlich aggressiv gegenüber den anderen Figuren in der Novelle, was ebenfalls als ,,wild“ verstanden werden könnte. Es zeigt eine kampflustige Haltung.

135 Stifter, Der Waldbrunnen, In: Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken, S. 1402. 39

Dem Fremden des ,,wilden“ Mädchens begegnet man zuerst während Stephans Gespräch mit dem Lehrer, der die psychischen und physischen Erscheinungsformen des Mädchens ihren Eltern anlastet. „Und könnt Ihr die Kinder dieser Leute nicht verbessern und veredeln?“, fragt Stephan. „Ja, wenn die Eltern nicht wieder alles verdürben,“ antwortet der Lehrer[.]“136 Das Fremde am Mädchen wird zuerst in Form von Gewalt, Vernachlässigung und Aggression ausgedrückt. Es ist nicht imstande, seine anderen Seiten der Persönlichkeit zu zeigen und verhält sich alles andere als introvertiert:

,auf der Gasse stößt und schlägt es die andern Kinder, oftmals steht es auf einem Felsen und streckt den Arm aus den Lumpen hervor und predigt, oder schreit sonst etwas, wenn auch gar Niemand dabei ist, der es hört, ja dann schreit es sogar am lautesten.‘137

Die Anpassung des ,,wilden“ Mädchen an die neue, erwünschte Umgebung verläuft in mehreren Phasen und dauert drei Jahre. Am Anfang hat Stephan den Wunsch, ab und zu in den Unterricht zu kommen und die ganze Klasse zu beobachten, möglicherweise auch mitzumachen. Nach einigen Versuchen, an denen alle Schüler der Klasse beteiligt sind, scheitern die Versuche, sich der wilden Gestalt zu nähern, da das Mädchen am Unterricht nicht teilnimmt.

,,So kam er nun öfter, die Kinder gewöhnten sich an ihn, er hörte zu, wenn sie lasen, er forderte sie auf, ihm ihre Schreibbücher und Rechnungstafeln zu zeigen, und beschenkte sie darnach zu weilen mit kleinen Bildchen. Das wilde Mädchen las nie, es zeigte ihm nie ein Schreibbuch oder eine Rechnungstafel.“138

Der erste pädagogische Versuch Stephans, mit Hilfe von Geschenken und dem Vorbild der anderen Kinder beim ,,wilden“ Mädchen das Interesse an der Schule und dem Lernen zu wecken, zeigt nach und nach Erfolg, wie auch Achenbach bemerkt:

„In dem ausführlich geschilderten Prozeß, in dem es ihm gelingt, das Vertrauen der Schüler und schließlich auch das Julianas zu gewinnen, setzt Heilkun kleine Geschenke als Lernanreize ein, indem er ,,Glaskorallen, kleine Marmorkugeln, rosenrote Bändchen“ und anderes an fleißige Schüler verteilt.“139

136 Ebda. S. 1375. 137 Ebda. S. 1376. 138 Ebda. S. 1378. 139 Achenbach, Natur versus Kultur? ‘Wilde Mädchen’ im Erzählwerk Adalbert Stifters, S.99. 40

Der Wettbewerbsgedanke unter den Schülerinnen ist geweckt, und auch das „wilde“ Mädchen möchte nicht zurückstehen. Nachdem Stephan seine Geschenke zu packen begonnen hat, kommt das Mädchen vor ihn und drückt seinen Wunsch aus, auch mitzulesen. „Da stand das wilde Mädchen auf, drängte aus der Bank, ging zu dem alten Manne, hielt das Buch hin und gab Zeichen, daß es lesen wolle.“ 140 Neben der Tatsache, dass es Stephan gelungen ist, sein Interesse zu wecken, wird dabei offenbart, wie auch Achenbach141 bemerkt, dass die geistige Entwicklung des Mädchens erkennbar ist. Es gelingt ihm, die Aufgabe auf der Tafel richtig zu lösen. Heilkun allerdings spricht über diesen Erfolg kein Wort. „Der alte Mann sagte hierüber dem Lehrer gar nichts und dem wilden Mädchen auch nichts.“142 Das kann auf seine Zweifel am Bildungserfolg hinweisen oder auf Zweifel an der Familie, aus der das Mädchen kommt. Im Gegensatz zur Novelle Katzensilber, in der die Erkundigungen nach der Herkunft und Familie des braunen Mädchens erfolglos bleiben, besucht Stephan mit seinen Enkelkindern den Haushalt des Mädchens. Stifter vergleicht dabei das ,,wilde“ Mädchen mit einer Katze, die über einem alten Weib sitzt. Es sieht so aus, als ob das Mädchen dem Weib die ganze Zeit bis jetzt die Treue geschworen hätte. Die ,,Katze“ fühlt sich irgendwie eingekapselt, sicher und geborgen. Ihre Geborgenheit ist aber, nach Stepans Ansicht, nur trügerisch. Das Mädchen, noch unreif, befindet sich in der Zwickmühle, ist es doch außerstande, seine eigenen Lebensentscheidungen zu fällen. Wie vom Lehrer vorhergesagt, ist von der bisherigen Erzieherin, dem alten Weib, nicht viel zu erwarten. Sie verhält sich beim ersten Treffen recht abweisend und geht nicht einmal auf ein Gespräch über das Wetter ein:

,Stephan blieb mit den Kindern vor dem alten Weibe stehen und sagte: „das ist ein lieblicher Sonnenschein, der heute da herniederkommt.“ „Ja, ja, er scheint jeder Zeit, wann er scheint,“ erwiderte das alte Weib. „Ihr habt euch in denselben gesetzt, und zieht da Euern Faden aus dem Rocken,“ sagte Stephan. Das alte Weib sah mit großen schwarzen Augen aus dem knöchernen Angesichte auf ihn und sagte nichts. „Er wärmt Eure Glieder,“ sagte Stephan wieder. „Die Glieder möchten warm sein im Sommer und im Winter und am Morgen und am Abende,“ sagte das alte Weib.‘143

Danach erkundigt sich Stephan nach dem Namen des fremden Weibes, worauf er eine seltsame Antwort bekommt: „Sonst hieß ich Lucia, jetzt aber Katharina, manchmal hieß ich auch

140 Stifter, Der Waldbrunnen, In: Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken, S. 1379. 141 Vgl. Achenbach, Natur versus Kultur? ‘Wilde Mädchen’ im Erzählwerk Adalbert Stifters, S.99. 142 Stifter, Der Waldbrunnen, In: Sämtliche Erzählungen nach den Erstdrucken, S. 1379. 143 Ebda. S. 1381. 41

Ludmila, da er noch lebte. Der Name war ihm süß, er hat diese schwarzen Haare gestreichelt“.144 Es bleibt unklar, wovon das alte Weib spricht. Vermutlich ist hier von ihrem Mann die Rede, der sie so nannte. Stephan erkundigt sich weiter und gerät in Verwirrung, da es nicht vollkommen klar ist, in welcher Umgebung das ,,wilde“ Mädchen aufgewachsen ist. Er bemerkt nur, dass das ,,wilde“ Mädchen auch einer ,,wilden“ Familie angehört, das heißt, die Umgebung, in der es aufwächst, scheint dysfunktional zu sein, was das Leben des Mädchens beeinflusst haben dürfte. Statt eines Kommentars von Stephan äußert sich nun Katharina zum Aussehen des Mädchens, wobei sie ,,schwarz“ und ,,hässlich“ synonym setzt, während Franz diese Gleichsetzung aufgehoben sehen möchte und ins Positive verkehrt:

,„Großvater,“ sagte Katharina, ,,das kleine Mädchen ist recht häßlich. Als es den Kopf hervorstreckte, daß ihn die Sonne beschien, war es mit dem schwarzen Angesichte wie ein dunkles Bild in einem Holzrahmen.“ „Aber wie ein schönes Bild,“ sagte Franz, ,,seine Wangen glänzten wie eine Glocke der Kirche, und seine Augen leuchteten wie die Kerzen an dem Altare.“ „Nein, wie die Kohlen im Backofen,“ sagte das Mädchen. „Man soll das Kind nur rein und schön anziehen, wie Dich,“ sagte Franz, ,,dann siehe.“‘145

Katharina sieht in kindlicher Direktheit und ohne weitere Vorurteile, was man der Philanthropie Stephans zugutehalten könnte, dass das Mädchen dunkelhäutig ist. Dies stellt im Grunde genommen keine Verbindung zu einer möglichen Zigeunerherkunft des Mädchens her. Die positiven Worte von Franz und die neutrale Haltung Stephans stellen im Gespräch das Gleichgewicht zur Abwertung Katharinas wieder her. Interessant ist die Franzens Aussage, dass das äußerliche Erscheinungsbild einen anderen Eindruck auf Katharina gemacht hätte, wenn man das Mädchen „rein und schön anziehen“ würde, denn es nimmt die Möglichkeiten einer Kultivierung bereits vorweg. Wie im Werk Katzensilber spielt der Wechsel der Jahreszeiten eine wichtige Rolle in der Handlung der Novelle. Der lange Winter steht für Stillstand, der Frühling für Aufbruch und Veränderungen zum Positiven. Sobald alles in der Natur aufzublühen beginnt, werden Stephans Besuche herzlich und fröhlich angenommen und seine Hilfsbereitschaft immer größer:

,,Stephan sagte, er werde morgen wieder kommen, und ging mit den Kindern fort. Das wilde Mädchen sprang ihm nach, faßte ihn an der Hand, sah ihm mit den

144 Ebda. S. 1381. 145 Ebda. S. 1382. 42

großen Augen in das Angesicht, streichelte seine Hand ein Mal, und lief wieder zur Großmutter zurück.“146

Die Rolle Stephans als Erzieher gelangt zum Höhepunkt, als sich die Familienverhältnisse klären, er den Namen der Mutter und des Mädchens erfährt und von der Mutter mit einer Bitte den Auftrag erhält, anstelle des verstorbenen Vaters als Erzieher zu wirken und sich damit in die Familienverhältnisse einzumischen:

,„Was ich Euch bitten wollte,“ sagte das Weib, ,,ich bin die Mutter von dem Kinde Juliana, das in der Schule zu Euch gesprochen hat, ich heiße Magdalena, da ist die Stube und die Kammer, darin bin ich und meine Schwester, da steht ein schönes Bett für die Großmutter, und eines für Juliana, sagt dem Kinde, daß es zu uns geht, dann geht die Großmutter auch mit. Sie sind immer in dem schlechten Holzhüttchen und wenn ich dem Kinde Strafe drohe, so schaut es mich mit den großen Augen an, wie sein Vater, der zu früh gestorben ist. Und ich getraue mir nicht, das Kind zu strafen, sonst läuft es am Ende gar fort. Sagt es ihm doch, lieber Herr.“‘147

Während Katharina diese Rolle gleich strapazieren will, geht Stephan sehr pädagogisch vor. Er überlässt, wie das Franz vorschlägt, Juliana die Entscheidung über ihren zukünftigen Wohnort und verlässt sich dabei auf den Erfolg seiner bisherigen Erziehung:

,„Großvater,“ sagte Katharina, ,,Du mußt dem Mädchen befehlen, daß es mit seiner Großmutter aus der Holzkammer in die schönen Zimmer des Hauses herübergeht, da haben sie es besser.“ „Ich meine,“ antwortete Franz, ,,daß man das Mädchen nicht zwingen soll.“ „Ihr meint beide, wie es Euch gut dünkt,“ sagte der Großvater, ,,ich weiß noch nicht, was ich meinen soll, und wenn das Mädchen herüber geht, soll es freiwillig gehen, und dann habt ihr beide Recht.“‘148

Der Prozess der ,,Domestizierung“ des ,,wilden“ Mädchens wird immer wichtiger, als Stephan einsieht, dass Juliana und Franz sich küssten. Der Satz, den Stephan zu dieser Gelegenheit ausspricht, stellt den Höhepunkt der Handlung dar: „Der alte Stephan sagte zu sich: ,,Die menschliche Wesenheit ist endlich zur Entscheidung gekommen.“149 Im Sinne der Wesenheit werden hierbei alle sozialen Grenzen gelöscht und an ihre Stelle treten andere Werte, ein anderes Wertsystem, das es ermöglicht, die Liebe so wahrzunehmen, wie sie wirklich ist. Stephan

146 Ebda. S. 1388. 147 Ebda. S. 1389. 148 Ebda. S. 1390. 149 Ebda. S. 1397. 43 vergisst aber nicht, wie wichtig die Bildung und Kleidung sind, bevor er einer Hochzeit zustimmen kann „Juliana, ich werde Dich, wenn ich wieder von dem Walde fort fahre, mit mir nehmen. Du wirst schöne Kleider bekommen, Du wirst noch manches lernen, und wenn Du das gelernt hast, wirst du Franzens Braut werden, und dann sein Eheweib.“150 Der „menschliche[n] Wesenheit“ werden also Bedingungen mit auf den Weg gegeben. Die endgültige Trennung Julianas von ihrem alten Leben, die ihr den Weg in ein märchenhaftes Ende vom langen und glücklichen Leben freigibt, erfolgt erst nach einigen Jahren mit dem Tod der Großmutter. Obwohl sich Stephan viel Mühe mit der Erziehung gegeben hat, überlässt er Juliana die Entscheidung über ihr zukünftiges Leben wieder ihr selbst: „Ich sage wieder, wie einst, […] „Juliana, thue wie Du willst.“151 Dieser Satz ist entweder dem Ideal der freien Willensentscheidung geschuldet oder Stephans Sicherheit, dass seine Bemühungen, Juliana zu einem liebenden und pflichtbewussten Mitglied der Gesellschaft zu machen, auf fruchtbaren Boden gefallen sind.

150 Ebda. S. 1397. 151 Ebda. S. 1401. 44

5.3 Karl Emil Franzos: Die Hexe

Im Gegensatz zu Katzensilber und Der Waldbrunnen werden in der Novelle Die Hexe die negativen Stereotypen gegenüber Zigeunerinnen sehr direkt dargestellt. Die titelgebende Hexe ist den Frauentypen der ,,schönen“ Zigeunerin und der femme fatale zuzuordnen. Interessant dabei ist die Frage, welche gesellschaftlichen Normen dazu führen, dass eine als fremdartig wahrgenommene Protagonistin sich als ,,fatal“ für das Schicksal der anderen, antagonistischen Figuren erweist.

5.3.1 Inhalt

Im Mittelpunkt der Novelle steht die Liebe zwischen dem Grafen Henryk Kornicki und einer schönen Zigeunerin, die als Hexe bezeichnet wird. Die Liebe der beiden wird durch eine religiöse und eine gesellschaftliche Barriere behindert: Die religiöse besteht im christlichen Glauben des Grafen, die gesellschaftliche in der Zugehörigkeit der Frau zur Volksgruppe der Roma. Die schöne Zigeunerin wird als verführerische Figur dargestellt, die Schuld an jedem Unglück ist. Die Hexe beinhaltet auch die wichtigen literarischen Motive des 19. Jahrhunderts. Dazu zählen der Bezug zum Religionsbekenntnis oder das Motiv der schönen Zigeunerin. Gabriele von Glasenapp152 erhob, dass die Konfrontation mit den interreligiösen Motiven ein wichtiges Merkmal nicht nur der deutschen, sondern auch der gesamten europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts ist. Eine andere Dimension der Novelle ist die Erzählperspektive und die Verbindung der Erzählweise mit dem Leben von Franzos. Es gibt sowohl eine Erzählerfigur, d.h. einen Ich- Erzähler, als auch eine auktoriale Erzählinstanz, die zuweilen nicht leicht voneinander zu unterscheiden sind. Schwierig ist es deshalb auch, festzustellen, von wem die Stereotype über Zigeuner geäußert werden: Vom Ich-Erzähler oder vom Autor Franzos über den auktorialen Erzähler.

152 Vgl. Glasenapp, Gabriele, Nur die Liebe macht selig, der Glaube aber blind. Zur Inszenierung interreligiöser Liebesbeziehungen im Werk von Karl Emil Franzos. In: Karl Emil Franzos: Schriftsteller zwischen den Kulturen, S. 60. 45

5.3.2 Das Bild der Zigeuner

Die Zigeunerin der Novelle wird als „Hexe“ bezeichnet. Damit wird das Bild von etwas Fremdartigen und Unheimlichen evoziert, eine Figur, die außerhalb der moralischen Ordnung steht und den Grafen Henryk Kornicki zu seinem Unglück bezaubert. Eine andere Bezeichnung, die in der Novelle vorkommt und die sich ebenfalls außerhalb der festgesetzten Ordnung der Familienstruktur festmachen lässt, ist die „Grisette“. Die Grisette ist normalerweise eine Frau, die dem niederen Stand entstammt, sich aber unterscheidet von einer Kokotte, die als Prostituierte verstanden werden kann. Der Ausdruck hat sich in der französischen Gesellschaft und Literatur des 19. Jahrhundert eingebürgert. Darunter ist also eine unverehelichte Frau zu verstehen, die ihren Lebensunterhalt üblicherweise als Putzhilfe oder Näherin bestreitet.153 In der Novelle stößt man auf das Motiv der Zigeunerin, wenn der Ich- Erzähler den Zustand des Grafen Kornicki beschreibt: „Ach! was hatten diese Grisetten und Herzoginnen aus meinem Henryck gemacht! Die Gestalt schlank, aber die Haltung schlaff, die einst so hellen Augen müde und verschleiert, das schöne braune Haar gelichtet154. Die Haltung des Ich- Erzählers gegenüber der einer niederen Schicht entstammenden Frau ist misogyn, die Schuld an dem schlechten psychischen Zustand des Grafen liegt an solchen Frauen, die den jungen Grafen dank ihrer großen verführerischen Kraft verzaubert haben. Ein weiteres Merkmal der Zigeunerin, das der bürgerlichen Ordnung entgegensteht, ist ihr nomadisierender Lebensstil. Es scheint unmöglich zu sein, die Nichtsesshaftigkeit der Roma verstehen zu können. Das Bürgertum beruht durch Jahrhunderte auf einer Kernfamilie und es wird getrachtet, diese Familienstruktur zu bewahren. Die weibliche Figur, die Mutter, kann sich an eine solche Struktur nicht erfolgreich anpassen. Es ist auch bemerkenswert, dass solche Werte sofort, bei der ersten Begegnung also, auf die Randgruppe der Zigeuner projiziert werden. Sowohl eine nomadisierende Frau als auch jede andere Frau, die entweder aus der Unterschicht stammt oder aus einer Minderheit, erscheint also als Liebesobjekt für den Grafen ungeeignet und muss in dieser Novelle zu seinem physischen und psychischen Verfall führen. Die Frau, in die sich der Graf Kornicki verliebt, hält sich auf seinem Schloss auf und der Diener des Grafen, Janko, bemerkt zuerst, dass der Graf verhext ist. Der Diener Janko ist in diesem Fall eine

153 Vgl. Online abgerufen am 19.07.2016, URL: http://www.duden.de/rechtschreibung/Grisette; 154 Franzos, Karl Emil, Die Hexe. Online abgerufen auf ,,Projekt Gutenberg- Klassische Literatur Online“ am 17.07. 2016, URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-hexe-2733/2. 46 unerlässliche Figur und fungiert Träger der stereotypen Meinungen gegenüber der Zigeunerin, was im Gespräch mit dem Ich-Erzähler deutlich wird:

„Janko seufzte tief auf. ››Unser gnädiger Graf Henryk ist verhext.‹‹ ››Und wer hat´s getan?!‹‹ fragte ich ebenso melancholisch. ››Die Braune, die Aniula! Janko wurde entrüstet.‹‹“ 155

Der Diener Janko, der über keine Ausbildung verfügt, glaubt daran, dass man diese Zauberei auflösen könne, indem man einen Hexenmeister findet, der großes Wissen besitzt. Hierbei denkt er an den sichtlich belesenen Ich-Erzähler, dessen Alter er mit Lebenserfahrung in Verbindung zu bringen scheint:

,Wir wissen, daß die Zaubereien und die Hexenkünste in den Büchern stehen; Sie haben alle Bücher gelesen und kommen jetzt zu uns, um auch die unsrigen zu lesen, die im ›gelben Saal‹. Das hat aber niemand nötig als ein Hexenmeister. Und alle Hexenmeister sind alt, der vor zwanzig Jahren auf dem Schlosse war, war auch alt. Unserem Herrn Ökonom hat er zum Abschied einen Wetterteufel zurückgelassen...«‘156

Jankos Mangel an Ausbildung hat auch seine Weltanschauung beeinflusst. Religion und Nationalität setzen ihm enge Grenzen, was deutlich wird, als die Zigeurin ihn fragt, warum er seinen Hut vor ihr nicht abnehme: „Denken Sie, ich soll eine Zigeunerin grüßen, ich, ein Christ, ein Österreicher. Also- ich gehe natürlich rüstig weiter.“157 Janko versucht auch, sich und seinen christlichen Glauben vor einer fiktiven Gefahr zu schützen, der Hexenkunst der Zigeunerin. Für ihn sind die Grenzen zwischen sich und der Zigeunerin unverrückbar, auch in Glaubensdingen, denn: „Eher könnte man den Mond von der Stelle bringen oder einen Zigeuner zu Ehrlichkeit und Christentum!“158 Für Janko und wahrscheinlich viele andere Nicht-Zigeuner der damaligen Zeit bedeutet der Kontakt des Adels zu den Roma eine Art Schande. Einem Adligen, einem Grafen und selbst einem Bauer ist es nicht erlaubt, gegen diese festen Gesetze zu verstoßen. Jankos Entrüstung gipfelt in dem Satz: „Der letzte Bauer würde sich schämen, so mit einer Zigeunerin zu halten, aber er tut es, ein Graf, ein Kirchenpatron, ein Gutsbesitzer.“159

155 Ebda. URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-hexe-2733/1. 156 Ebda. 157 Ebda. 158 Ebda, URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-hexe-2733/6. 159 Ebda, URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-hexe-2733/1. 47

Der Ort der Handlung ist das Schloss Gonisko. Das Schloss stellt einen wichtigen Treffpunkt der feudalen Gesellschaft dar, die einer Art Versuchung ausgesetzt wird. Diese Versuchung ist die Anwesenheit der Zigeunerin, dank der ihre Fremdenfeindlichkeit schneller ans Licht kommt. Es ist schwierig, die Zigeunerin ohne Stereotype und Hintergedanken in der Gesellschaft zu akzeptieren. Dies offenbart sich, als der Ich- Erzähler über seine Erfahrung mit einer Zigeunerin spricht, die ihm seine Zukunft weissagen wollte: „Meinem Vater hatte sie langes Leben versprochen und mir viel Glück. Aber sie hatte gelogen – in beidem“160. Entweder zweifelt er damit an den Wahrsagekünsten oder an der Ehrlichkeit. Franzos zeigt jedoch an keinem Beispiel in der Novelle, dass die Figur der Zigeunerin ein ,,bürgerliches“ Ziel anstreben würde, damit sie sich integrieren kann. Sie bleibt, als eine Angehörige der Randgruppe, auch am Rande. Die bisher gesammelten Stereotype sind also: niedriger Stand, Hexenkünste, Verführung zu schlechtem Lebenswandel, unchristliche Religion, Nomadentum und Staatenlosigkeit sowie Verlogenheit. Die Handlung der Novelle lebt allerdings von der Kunst der Zigeunerin, den Grafen kraft ihrer Schönheit zu verführen. Diesem Topos ist das folgende Kapitel gewidmet.

5.3.3 Die ,,schöne“ Zigeunerin

Im Allgemeinen ist das Bild der ,,schönen“ Zigeunerin dem Bild der ,,schönen“ Jüdin, der belle juive, ähnlich. Beide beziehen sich auf eine Art der Fremdheit und Alterität und versuchen, die Frau in eine unterdrückte Position zu bringen. Zum Bild der ,,schönen“ Zigeunerin gehört die Fähigkeit, zu verführen und zu verlocken. ,,Erst die zigeunerischen Fähigkeiten und Wesenszüge lassen sie – in ungleich stärkerem Maße als ihre gesichtslosen tanzenden und singenden Schwestern in anderen Dichtungen der Epoche – zu diesem Typus werden.“161 Traten Zigeunerinnen also zunächst nur als Sängerinnen und Musikantinnen in der Literatur auf, fügten Autoren wie Goethe und Mérimée neue, auch anspruchsvollere Rollen hinzu: ,,Goethe […] mit der Figur der Mignon eine romantisch-melancholische und Prosper Mérimée (1803-1870) mit Carmen im 19. Jahrhundert eine sexualisierte Variante“.162 Am negativen Bild änderte das allerdings wenig. Die ,,schöne“ Zigeunerin ist eine verführerische Gestalt. „Sie entzündet das männliche Begehren, die ››Liebesflammen‹‹, auf eine teuflische Weise und führt es in moralische Abgründe.“163 Dieses Begehren ist allerdings nicht dauerhaft,

160 Ebda. 161 Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung, S. 99. 162 Ebda. 163 Ebda. 48 weil die Zigeunerin wie eine Art Besessenheit auf die anderen wirkt. Eine bürgerliche Liebe und Ehe sind für sie undenkbar, entspricht sie doch keineswegs Vorgaben der patriarchalen Gesellschaft 164 wie etwa den erwünschten Tugenden Schamhaftigkeit, Unschuld oder Anmut165. Im Fall der Novelle Die Hexe werden schon bei der ersten ausführlichen Beschreibung der Figur im zweiten Kapitel äußerliche Schönheit und Sünde miteinander kombiniert:

,Ein wundersames Wesen – es irrlichtert noch heute vor meinen Augen... Schön wie die Sünde und lasterhaft, toll, sinneberückend wie diese – die schönste Teufelin, die je über diese dunkle Erde gegangen und armen Menschenkindern den Kopf verdreht, eine böse Fee. Wie soll ich sie nur beschreiben? Denkt euch, der größte Maler aller Zeiten hätte als sein wundervollstes Bild die Sinnlichkeit gemalt und in seinen Tinten all' die süße, wilde, jähe Lust zusammengebraut, die nur je in Menschenadern gekocht, und dieses Bild sei plötzlich aus dem Rahmen gesprungen und zucke nun vor euren Augen hin und her... Oder denkt euch, eine flackernde, lodernde Flamme habe plötzlich Fleisch und Blut bekommen und sich in eine Mädchengestalt gewandelt, aber dennoch sehe man ganz deutlich die Flamme und das Lodern und das Flackern... Aber das taugt ja doch alles nichts! Also kurz: es war ein wunderschönes Zigeunermädchen von fünfzehn Jahren.‘166

Statt eines realen Wesens scheint es sich bei dieser Figur nur um ein „Bild“ zu handeln, das „plötzlich aus dem Rahmen gesprungen“ ist, das heißt um eine Projektion sinnlicher Begierde, die unstet wie eine Flamme ist, plötzlich kommt, die Sinne überreizt, um dann flackernd wieder zu verlöschen. Es sieht so aus, als ob der Ich- Erzähler es nicht wagen würde, das schöne Zigeunermädchen näher zu beschreiben, denn der nüchterne letzte Satz erscheint ihm als völlig ungenügend. Beschrieben wird also keine reale Zigeunerin, sondern ein Klischeebild, das alle Stereotype der femme fatale in sich vereint. Wie bei der schönen Jüdin handelt es sich um einen der männlichen Phantasie entsprungenen Topos, die äußere Imago wird auf das Innere übertragen und umgekehrt. Dunkel sind die Augen, die Haare und damit auch die Seele der „schönste[n] Teufelin, die je über diese dunkle Erde gegangen“. Im Zuge der Beschreibung der Zigeunerinnen in der Novelle kommt das Adjektiv ,,braun“ relativ oft zur Anwendung. Diese Farbe steht gleichermaßen für Schmutz, die dunkle, schmutzige Haut und die dementsprechend phantasierte Seele. Als Beispiel sei eine Passage genannt, in der die Zigeunerkinder zu lästigen Tieren degradiert werden, vor denen man sich retten muss:

164 Vgl. Hille, Identitätskonstruktionen. Die Zigeunerin in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, S.42. 165 Vgl. Ebda, S. 42. 166 Franzos, Die Hexe. Online abgerufen auf ,,Projekt Gutenberg- Klassische Literatur Online“ am 23.07.2016. URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-hexe-2733/2. 49

,Aus meinem wehmütigen Sinnen weckten mich schrille, jammernde Kinderstimmen empor: auf der Landstraße von Chorostkow her kam ein Zigeunerkarren gezogen. Kleine, schmutzige, nackte Kinder stürzten zudringlich auf mich zu und schrien und jammerten, wie es schon die Art ist dieser kleinen braunen Insekten. Ich warf ihnen einige Kupferstücke zu und rettete mich in den Wagen.‘167

Auch die schöne Zigeunerin wird in der substantivierten Form als „die Braune“ bezeichnet:

,,Das sah ich an der wilden Glut, mit der er die Braune in seinen Armen auffing und an sich preßte.“ 168 „Eine Woche lassen wir's uns gefallen, dann geben wir ihr eine Rolle Gold – hinaus mit ihr! Aber«, schloß er seufzend, »so eine Freude erleb' ich an der Braunen nicht.«“169

Zum Bild vom schmutzigen Lustobjekt kommt die Beschreibung als schöne, aber bösartige „Teufelin“, die sich in den Haushalt einschmeichelt und dort dann großen Schaden anrichtet:

,Ich weiß nicht, wie wir aussahen, aber mit dem, was sie aus dem Salon gemacht, konnte dieses wunderschöne, nichtsnutzige Ding wirklich zufrieden sein. Da sah's gerade so aus, als wären unsere alten Feinde, die Tataren, wieder einmal nach Podolien gekommen und hätten just hier acht Tage lang gehaust. Der eine Spiegel war zerbrochen, und über den anderen hing ein mitten durchgerissenes Damasttuch – »ich weiß ja ohne das Glas, daß ich schön bin«, lachte die Teufelin.‘170

Diese Szene zeugt von der symbolischen Macht der Zigeunerin. Sie ist sich ihrer Schönheit bewusst, und sie ist sich auch bewusst, welche Gefühle sie bei den anderen hervorruft und wie sie sie beeinflussen kann. Die Wahrnehmung der ,,schönen“ Zigeunerin ist daher auch ein Körperbild, das einerseits den bürgerlichen Überzeugungen von äußerer Schönheit entspricht, andererseits als unheimliches, dämonisches Gegenbild dient. Partielle Inklusion und Exklusion aus den bürgerlichen Wertvorstellungen gehen dabei Hand in Hand. Das obige Zitat, in dem die Zigeunerin als eine Teufelin wahrgenommen wird, bietet noch eine weitere Darstellung des Fremden. Das Zigeunermädchen und ihr Gefährte wirken durch ihre Sachbeschädigung wie historische Feinde, die Tartaren. Dieser historische Kontext weist auf die

167 Ebda, URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-hexe-2733/2. 168 Ebda, URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-hexe-2733/2 . 169 Ebda, URL : http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-hexe-2733/3. 170 Ebda, URL : http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-hexe-2733/2. 50 feindlichen Bilder gegenüber den Roma hin, die historischen Feinde aus der Fremde werden auf die stereotype und feindliche Betrachtung des Fremden projiziert.

51

5.4 Hermann Hesse: Narziß und Goldmund

5.4.1 Inhalt und die wichtigsten Figuren

Das im Jahr 1930 veröffentlichte Werk Narziß und Goldmund wurde vom Autor zunächst der Gattung der Erzählung zugeordnet. Im Laufe der Rezeptionsgeschichte wurde jedoch die Bezeichnung ‚Roman‘ immer öfter verwendet.171 Es finden sich darin sowohl Elemente des Bildungs- als auch des Schelmenromans: Einerseits ist der Held ein junger Mann auf der Suche nach Erfahrungen, andererseits ist er ein Außenseiter, der sich auf Reisen begibt und zahlreiche Abenteuer erlebt.172 Obwohl die Handlung in der Zeit des Mittelalters spielt, weist sie einige Merkmale des modernen Romans auf, indem beispielsweise der Held seinen „Psychoanalytiker“ findet, so wie der Autor Hesse Dr. Lang gefunden hatte.173 Die Seele dieses Knaben, der infolge der „bürgerlichen Moralanschauungen“ seines Vaters seine „sündhafte“ Mutter vergessen hat, ist erschüttert und braucht Heilung. Sein ganzes Wesen kann nur durch die Einsicht in diese Verdrängung geheilt werden174. Die Erzählung beginnt mit dem Bild des Eingangs zum Kloster Mariabronn, einem autobiographischen Bezug des Autors. Die Handlung spielt in der Zeit des Mittelalters und folgt der Lebensgeschichte und der Freundschaft von Narziß und Goldmund. Narziß, ein junger Mönch, ein „Wunderknabe“175, der durch seine Griechischkenntnisse und ritterliches Benehmen im Kloster sehr bekannt wurde, glaubt, dass er „zum Klosterleben bestimmt“176 sei, und strebt danach, eines Tages sogar Abt177 zu werden. Goldmund erscheint in der Mitte des ersten Kapitels. Er kommt ins Kloster, von seinem Vater begleitet, um sich in die Klosterschule einzuschreiben, in der Narziß als Lehrer tätig ist. Goldmund, der ohne Mutter aufgewachsen ist, verabschiedet sich von seinem Vater unter Tränen und bleibt im Kloster178. Narziß dient Goldmund zuerst als fernes Vorbild und ihre Freundschaft beginnt erst, nachdem Goldmund wegen seiner innerlichen Konflikte vor Narziß zusammengebrochen ist. Er hatte an einem nächtlichen Ausflug ins Dorf teilgenommen und dabei zwei Mädchen kennengelernt. Das jüngere

171 Vgl. Schwarz, Egon, „Narziß und Goldmund“, in: Interpretationen Hermann Hesse. Romane, S. 115. 172 Ebda. 173 Vgl. Ebda. 174 Vgl. Ebda, S. 116. 175 Hesse, Narziß und Goldmund, S. 9. 176 Ebda, S. 11. 177 Vgl. Ebda, S. 11. 178 Vgl. Ebda, S. 11. 52 hat ihm einen Kuss gegeben, und nach der Rückkehr ins Kloster wird er von Schuldgefühlen gequält.179 Narziß kümmert sich um ihn und es kommt zur gegenseitigen Annäherung. Als das Vertrauen immer größer wird, erzählt Goldmund seinem Freund sein nächtliches Abenteuer. Narziß wird klar, dass Goldmund das Böse im weiblichen Geschlecht sieht. Bald geraten die beiden in eine Diskussion über ihre Unterschiede, wobei Goldmund mit der Wahrheit über seine Kindheit konfrontiert wird. Narziß glaubt, dass die Quelle von Goldmunds seelischer Krankheit in der Tatsache liegt, dass er das Bild seiner Mutter und seine Kindheit180 unterdrückt habe. Das Gespräch endet mit einem Ohnmachtsanfall Goldmunds, der wie die anderen seelischen Erschütterungen zur Heilung führen sollte. Im nächsten Kapitel findet der Leser einen veränderten Goldmund. Er „schien zugleich jünger und älter geworden, seit er zu sich selbst gefunden hatte“181. Narziß erkennt, dass Goldmund früher oder später das Kloster verlassen würde, was schon im nächsten Kapitel erfolgt. Das Verlassen des Klosters hat viel mit dem Erscheinen der schönen Zigeunerin Lise zu tun. Das Liebesabenteuer mit ihr ist für Goldmund der Wendepunkt, nach dem er sich von seinem Freund und Lehrer Narziß verabschiedet und seine Wanderschaft beginnt182. Das Liebesabenteuer mit Lise dauert aber nicht lange, sie verlässt ihn schon am nächsten Tag und kehrt zu ihrem Ehemann zurück. Goldmund setzt seine Wanderung allein fort und lernt dabei viele Frauen kennen, aber alle bleiben nur für kurze Zeit bei ihm. Nach einigen Jahren der Wanderung gerät er in ein Rittergut, wo er sich mit dem Hausherrn und dessen beiden Töchtern befreundet. In Lydia, die ältere Tochter, ist er sofort verliebt, aber Julia, die jüngere, erregt immer wieder seine Aufmerksamkeit. Als Julia die Beziehung zwischen Goldmund und ihrer Schwester entdeckt, verrät sie sie ihrem Vater aus Eifersucht und Goldmund muss sich wieder auf den Weg machen. Er lernt Viktor, einen Landstreicher kennen, der versucht, ihn zu bestehlen und tötet ihn dabei. Goldmund wandert immer weiter, von „Hof zu Hof, von Dorf zu Dorf, von Frau zu Frau“183, bis er eine hölzerne Figur der Mutter Gottes findet. Da diese Figur auf ihn einen sehr starken Eindruck macht, bleibt er für eine Weile bei dem Meister Niklaus, der ihm die Kunst des Holzschnitzens beibringt. In dieser Kunst findet Goldmund nun sein neues Bestreben184. Er wird sich aber bald bewusst, dass sein Schicksal darin besteht, der Mutter zu folgen, und macht sich

179 Vgl. Ebda, S. 24ff. 180 Vgl. Ebda, S. 53ff. 181 Ebda, S. 61. 182 Vgl. Ebda, S. 78f. 183 Ebda, S. 147. 184 Vgl. Ebda, S. 154f. 53 von neuem auf Wanderschaft. Diesmal wird er mit dem Tod konfrontiert. Er zieht mit dem Pilger Robert, seinem neuen Mitreisenden, durch eine Gegend, in der die Pest die Oberhand gewonnen hat. Auf dem Weg lernen sie Lene, ein Dienstmädchen, kennen und bleiben im Sommer zusammen mit ihr in einer Hütte. Nachdem Lene von einem Infizierten vergewaltigt worden ist, erschlägt ihn Goldmund und kehrt wieder zum Meister Niklaus zurück, den er aber tot vorfindet. Goldmund beginnt ein neues Liebesabenteuer mit Agnes, der schönen Frau des Statthalters in der Bischofsstadt, doch die Liebenden werden bald entdeckt. Obwohl es ihm gelingt, sich als Dieb zu tarnen, wird er zum Tod verurteilt. Da erscheint nochmals sein alter Freund Narziß, der nun als Abt Johannes amtiert, und der sich als Beichtvater des Beklagten meldet. Narziß darf nun seinen Freund wieder ins Kloster Mariabronn geleiten. Dort widmet sich Goldmund fortan dem Bildschnitzen und dem Restaurieren. Das Ende des Romans wird durch Gespräche der beiden Protagonisten über ihre verschiedenen Lebensarten gekennzeichnet, bei denen sie sich neuerlich annähern. Da Goldmund Agnes wiedersehen will, verlässt er noch einmal das Kloster, kehrt aber nach einem Unfall mit einem Pferd wieder zurück und wird von Narziß bis zum Tod gepflegt. Auf den letzten Seiten des Romans reden sie überwiegend über das Mutterbild und Goldmund stirbt mit den Worten: „Ohne Mutter kann man nicht lieben. Ohne Mutter kann man nicht sterben.“185 In Hesses Werken begeben sich die Figuren häufig auf die Suche nach der menschlichen Vollständigkeit, die grundsätzlich als Einheit von Leben und Tod verstanden wird.186 Bei dieser Suche spielt die Geschlechterverteilung eine wichtige Rolle. Die männliche Hälfte der Persönlichkeit, die in einigen Werken als Vaterfigur dargestellt wird, sorgt nur für die essenziellen Lebensfunktionen. Alle anderen wichtigen Werte vermittelt im Gegensatz dazu die Mutterfigur bzw. die weibliche Hälfte der Persönlichkeit. Dazu zählen Werte wie Kunst, Liebe, spirituelle Errungenschaft oder Träume, aber auch der Tod, denn die Kunst und die Liebe sind nach Hesses Auffassung eng mit dem Tod verflochten187. Um die mütterliche Seite zu vervollständigen, muss man sich also laut Hesse auch mit dem Tod auseinandersetzen. Die Suchwanderung nach dem Weiblichen ist somit seine wesentliche literarische Fixierung geworden188.

185 Hesse, Narziß und Goldmund, S. 320. 186 Vgl. Sollars et al, The Facts on File Companion to the World Novel: 1900 to the Present, S. 556. 187 Vgl. Ebda, S. 556. 188 Vgl. Ebda. 54

,,Narziß und Goldmund“ wird durch ein kontrastives, bipolares Muster geprägt, das auch in anderen Hesses Erzählungen zu finden ist.189 Für Angelloz190 ist Narziß und Goldmund sogar der „große Roman der Polarität“191. Ihr zufolge habe Hesse mit diesem Roman die Frage gemeistert, wie die Welt des Logos und die des Eros einander anzunähern seien.192 Mit den Romanen Demian (1919) und Der Steppenwolf (1927), die von seinem hohen künstlerischen Können zeugen, hat sich Hesse unter anderem auf diesen Themenkomplex vorbereitet, der nun in Narziß und Goldmund gelöst scheint. Im Demian spürt Sinclair schon als Kind zwei koexistierende Welten in seinem Leben, die Welt der Ruhe seines Elternhauses und die Welt der Verbote, die ihm immer mehr gefällt. Frau Eva taucht zugleich als „Dämon und Mutter, Schicksal und Geliebte“ 193 auf. Im Steppenwolf entdeckt Harry Haller „unzählige Polpaare“194, aus welchen die menschliche Seele besteht. Auch Narziß und Goldmund sind ein solches Polpaar.195 Sie repräsentieren zwei gegensätzliche Lebensarten, die durch zwei Formen der Mystik bestimmt werden.196 Die eine ist die religiöse Mystik, die als Triebkraft die Liebe zu Gott versteht, und die andere ist die ästhetische Mystik, bei der die Erkenntnis durch die Kunst, Natur, Schönheit und letztendlich durch das Weibliche gewonnen wird. In dieser Hinsicht wird der Logos bzw. die Vaterwelt in der Figur des Narziß dargestellt, die Welt des Eros bzw. der Mutter in der Figur des Goldmund.197

5.4.2 Das Bild der ,,schönen“ Zigeunerin

Der Topos der schönen Zigeunerin taucht im sechsten Kapitel des Romans auf. Nachdem Goldmund einen schulfreien Nachmittag bekommen hatte, um bestimmte Pflanzen für die Apotheke Pater Anselms zu sammeln, schläft er auf einer sonnigen Wiese ein. Eine junge Frau tritt plötzlich auf und sieht ihn schlafen. Sie wird folgendermaßen beschrieben:

,,Vom fernen Walde her kam jemand gegangen, ein junges Weib in einem verblichenen blauen Rock, ein rotes Tüchlein ums schwarze Haar gebunden, mit

189 Vgl. Ebda. 190 Vgl. Angelloz, Joseph-François, Das Mütterliche und das Männliche im Werk Hermann Hesses, S. 4. 191 Ebda. 192 Vgl. Ebda, S. 1. 193 Ebda, S. 4. 194 Ebda. 195 Vgl. Ebda. 196 Vgl. Ebda, S. 5. 197 Vgl. Ebda. 55

braungebranntem Sommergesicht. Das Weib kam näher, ein Bündel in der Hand, eine kleine brennrote Steinnelke im Munde.“198

Anhand dieser Beschreibung kann man zunächst nicht eindeutig sagen, ob sie eine Zigeunerin ist oder nicht, aber mit der Erwähnung ihrer „braunen nackten Füße“ kann man es erahnen. Die Wiederholung des Adjektivs „braun“ macht deutlicher, dass Lisa eine Zigeunerin sein könnte. Hille199 bemerkt, dass Lise im Werk, Narziß und Goldmund auf eine ähnliche Art und Weise beschrieben wird wie Carmen in der gleichnamigen Novelle von Mérimée. Dort heißt es:

,Sie trug einen sehr kurzen roten Rock, der weiße, durchlöcherte Seidenstrümpfe und niedliche rote Saffianschuhe sehen ließ, die mit feuerfarbenen Bändern gebunden waren. Die Mantilla hatte sie zurückgeschoben, um ihre Schultern und einen großen Strauß Akazien zu zeigen, der aus dem Hemd hervorsah.‘200

Es gibt noch weitere Hinweise auf die Roma-Herkunft von Lise. Auf die Frage nach ihrem Wohnort sagt sie: „Ich wohne nirgends, mein Schatz.“201 Das nährt die Einschätzung von Goldmund: „Sie ist eine Fremde, eine Heimatlose, so scheint es, vielleicht eine Zigeunerin“202. Statt einen festen Wohnort zu haben, lebt sie im Wald, „ein klar umgrenzter Naturraum – von Zivilisation umschlossen, aber deutlich von dieser getrennt.“203 Die Bemerkung, dass sie „vielleicht eine Zigeunerin“ sei, bleibt daher nur eine Vermutung Goldmunds. Auch ist Lise nicht das Ziel seiner Liebe, sondern nur eine Station auf seinem Entwicklungsweg, ein Mittel der Selbstfindung. Gegenüber Narziß erklärt er:

,,Ich sagte dir schon: ein Ziel habe ich nicht. Auch jene Frau, die so sehr lieb mit mir war, ist nicht mein Ziel. Ich gehe zu ihr, aber ich gehe nicht ihretwegen. Ich gehe, weil ich muß, weil es mich ruft.“204

Lise ist eine hübsche Frau mit warmen, braunen Augen, die auf Goldmund eine starke erotische Anziehungskraft ausübt. Sie ist Goldmunds erstes echtes Liebesabenteuer. Sie verführt ihn und mit ihr entdeckt er das Sinnliche. Daher erscheint sie ,,als „Versucherin“, die den Mann an der

198 Hesse, Narziß und Goldmund, S. 77. 199 Vgl. Hille, Hille, Identitätskonstruktionen. Die ,,Zigeunerin“ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, S. 42. 200 Mérimée, Carmen, S. 29. In: Hille, Identitätskonstruktionen. Die ,,Zigeunerin“ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, S. 42. 201 Hesse, Narziß und Goldmund, S. 79. 202 Ebda, S. 82. 203 Hille, Identitätskonstruktionen. Die ,,Zigeunerin“ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, S. 39. 204 Hesse, Narziß und Goldmund, S.83. 56

Verwirklichung (s)eines (asketischen) Ideals hindert.“205 Gleichzeitig öffnet sie Goldmund die Tür zur mütterlichen Welt, denn nach ihrer Begegnung fühlt Goldmund sich berufen, die Suche nach der Mutter anzufangen. Er ist entschlossen, das Kloster zu verlassen und sein Leben der Suche nach jenem Mutter-Archetyp zu widmen, mit dem er die insgeheim ersehnte Vollständigkeit erreichen kann. Das scheint ihm jedoch an diesem Punkt noch nicht klar zu sein, denn er erzählt Narziß von seinen Erfahrungen und verabschiedet sich von ihm mit den Worten: „Ich gehe mit ihr, ja. Ein Ziel habe ich nicht.“206 Narziß hingegen kennt die Welt als ein erfahrenerer Mensch und ist sich bewusst, in welche Gefahr sich Goldmund begibt. Als Pädagoge will er ihn nicht daran hindern, obwohl er versucht, ihm alle bedenklichen Situationen vor Augen zu halten. Auch scheint er das Motiv der Suche nach der Mutter noch nicht zu kennen, sondern denkt an eine Spontanhandlung Goldmunds: „Du bist verliebt, kleiner Junge, du hast ein Weib kennengelernt.“207 Alle Frauen, mit denen Goldmund eine Beziehung hatte, gehören zur mütterlichen Welt, und diese ist eine ewige, schöne, sensuelle und amoralische Welt.208 Dabei sollte man Goldmunds sexuelle Begegnungen nicht vereinfachen, indem man behauptet, er sei nur ein Frauenheld oder Vagabund. Im tieferen Sinne „ist (da) kein Lieben um der Liebe willen, sondern Bildung durch Liebe und Kunst um der Mutter willen. In jeder Frau sucht er die Mutter, in jeder Geliebten die Madonna“209. Nicht zufällig scheint Goldmunds erstes Liebesabenteuer eine Zigeunerin zu sein, die seine Lebenssuche erst anstößt. Die Roma gehören nach gängiger Vorstellung zur Naturwelt, sie verstehen Gefühle besser und werden durch den Trieb nach Kunst und emotionaler Bedürfnisbefriedigung bestimmt. Sie symbolisieren Wesen, bei denen Freiheit vor gesellschaftlichen Normen Vorrang genießt. Diese Eigenschaften hatte auch Goldmunds leibliche Mutter. Sie war eine Tänzerin, eine Künstlerin und folglich ein unruhiger, wilder Geist. Während seiner Kindheit wurde es ihm daher vom Vater verboten, überhaupt über seine Mutter zu sprechen.210 Der Vater, dessen verzerrte Perspektive er übernimmt, erzählte ihm, dass seine Mutter eine Fremde, eine Arme gewesen sei. Er soll sie sogar taufen lassen und „zu einer

205 Hille, Identitätskonstruktionen. Die ,,Zigeunerin“ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, S. 39 206 Hesse, Narziß und Goldmund, S. 82. 207 Hesse Narziß und Goldmund, S. 81. 208 Vgl. Schwarz, Narziß und Goldmund. In: Interpretationen Hermann Hesse. Romane, S. 123. 209 Angelloz, Das Mütterliche und das Männliche im Werk Hermann Hesses, S.6. 210 Vgl. Hesse, Narziß und Goldmund, S. 57 u. 58. 57 angesehenen Frau gemacht“211 haben. Das ordentliche, bürgerliche Leben war ihr aber nicht genug. Sie vermisste ihre Kunst und verschwand eines Tages aus dem Leben ihres Mannes und Sohnes212. Der Knabe, der mit solchen Gedanken aufwächst, bettet das Mutterbild in einen Abwehrmechanismus ein. In der freud‘schen Begrifflichkeit führt das zu einer Sublimierung, einer Umlenkung von sexueller Energie in das gesellschaftlich akzeptable Benehmen.213 Goldmund assoziiert am Anfang das Mutterbild mit dem Bösen, was Narziß, der die Rolle eines Lehrers und geistigen Mentors übernimmt, mühelos erkennt. Lisa und die Mutter weisen also einige Ähnlichkeiten auf, vor allem in ihrer Beziehung zu Goldmund. Er hat beiden vertraut, und beide haben ihn verlassen – genau in den Momenten, in denen er schutzlos und verletzlich war. Seine Mutter verlässt ihn als Kind und Lisa nach seiner ersten Liebensnacht. Goldmund selbst fühlt diese Parallelen, die trotz der äußerlichen Unterschiede bestehen.

,,Nicht, daß ich diese Frau für meine Mutter hielte, sie hatte dunkle braune Augen und schwarzes Haar, und meine Mutter war blond wie ich, sie sah ganz anders aus. Aber doch war sie es, war es ihr Ruf, war eine Botschaft von ihr.“214

Die große Mutter, nach der Goldmund sucht, ist ein jungianischer Archetyp, mit dem Hesse wohl vertraut war, und der auch in seinen anderen Werken vorkommt. In diesem Roman ist sie eine Synthese aus der realen, der vom Vater verteufelten leiblichen Mutter, den vielen Frauen auf Goldmunds Abenteuerfahrt und der mythischen Gestalt, die den ganzen Roman durchzieht.215 Der Roman endet mit dem Triumph der Urmutter.216 Die Kunst und das Leben sind an ihre Grenzen gestoßen, denn die ,,Kunst war eine schöne Sache, aber sie war keine Göttin und kein Ziel, für ihn nicht; nicht der Kunst hatte er zu folgen, nur dem Ruf der Mutter.“217 Dem Topos der Zigeunerin in dem Roman könnte man mehrere Funktionen zuteilen. Vor allem erscheint die Zigeunerin an der Stelle in dem Roman, die für das Schicksal von Goldmund von großer Bedeutung ist: Er ist schon zwischen dem Klosterleben und dem Leben außer ihm gespalten, wählt aber den Weg außer dem Kloster, nachdem er Lise kennen gelernt hat. Der

211 Ebda. S.60. 212 Vgl. Ebda. 213 Vgl. Schwarz, Narziß und Goldmund. In: Interpretationen Hermann Hesse. Romane, S.124. 214 Hesse, Narziß und Goldmund, S. 81. 215 Vgl. Schwarz, Narziß und Goldmund. In: Interpretationen Hermann Hesse. Romane, S. 127. 216 Vgl. Ebda, S. 129. 217 Hesse, Narziß und Goldmund, S. 190. 58

Topos der Zigeunerin ist auch die Verbindung zwischen dem ehemaligen und zukünftigen Leben von Goldmund. An dieser Stelle taucht eine stereotype Verständigung dieses Topos auf. Da das Bild der Zigeuner oft mit der Wahrsagerei verbunden wird, wirkt Lise auf Goldmund als eine Art Prophezeiung, dass er sein Glück im Leben finden wird, wenn er das Kloster verlässt. Dieses Scheingefühl führt ihn zu einem Irrtum, da Lise ihn wegen ihres Mannes verlassen muss. Obwohl im Werk, wie oben angedeutet, nicht vollkommen klar ist, ob Lise wirklich eine Zigeunerin ist, kann dieser Topos auch als das Gegenbild vom Klosterleben verstanden werden. Einerseits befinden sich im Kloster Mariabronn die Menschen, die sich der Kirche und dem geistlichen Leben verschrieben haben und andererseits kommt das Bild der Zigeunerin zum Ausdruck, die als eine Art Drohung wirkt und kann dieses Gleichgewicht stören, weil ihre Lebensgewohnheiten, beispielsweise Nichtsesshaftigkeit, dazu nicht gehören. In der Welt, zu der Narziß gehört, kommt Lise als vollkommen fremd vor.

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6 Zusammenfassung und Resümee

Die Art und Weise, auf die man das Fremde in einer Gesellschaft betrachtet, spiegelt sich auch in der Literatur einer Epoche wider. Im Hinblick auf die Herkunft und Sprache der Roma- Bevölkerung in europäischen Ländern sind solche literarischen Zeugnisse, trotz aller Verzerrungen durch den Blick der Mehrheitsgesellschaft auf die randständige Minorität, schon allein deshalb unerlässlich, weil es von den Roma selbst kaum schriftliche Aufzeichnungen gibt. „Was das Denken und Fühlen der Romvölker betrifft, blicken wir zurück in einen undurchdringlichen Nebel, der sich wohl niemals lichten wird, da es an brauchbaren Zeugnissen mangelt“218, so Michael Bogdal. Was bleibt, ist der Blick der anderen, aus dem sich die Geschichte der Roma mehr oder weniger gut rekonstruieren lässt, insbesondere, da er auch auf das Selbstverständnis dieser Volksgruppe zurückwirkt. Eigenschaften wie die Heimatlosigkeit, die Missachtung bürgerlicher Normen oder die verführerische Schönheit der Roma-Frauen wirkt sich auch auf die Verhaltenskodizes der Roma-Familien aus: Von einer Roma-Frau wird erwartet, dem existierenden Familienideal219 zu entsprechen. Wenn sie der zugeschriebenen Rolle nicht entspricht, sticht sie automatisch hervor, was ein neues Spektrum an Vorurteilen und Verachtung offenbart: ,,Dass hiernach die Zigeunerfrauen, denen nach dem bürgerlichen Familienideal die Aufgabe zufällt, Moral und Ehrbarkeit zu hüten, das Gegenteil betreiben, setzt sie alle allgemeiner Verachtung aus.“220 Dabei wird eine solche Frau als Hexe und Verführerin dargestellt, was sie wiederum als literarische Figur geeignet erscheinen lässt. Die ausgewählten Werke Katzensilber, Der Waldbrunnen, Die Hexe und Narziß und Goldmund, die in einem Zeitrahmen von ungefähr 70 Jahren entstanden sind, zeigen sowohl unterschiedliche Perspektiven auf die Roma als auch unterschiedliche Frauentypen, denen die jeweiligen ‚Zigeunerinnen‘ zugeordnet werden können. Die im theoretischen Teil gesammelten Stereotypen waren dabei hilfreich, die jeweiligen weiblichen Figuren als Roma-Frauen zu identifizieren, denn das wird keineswegs in jedem Text explizit gemacht. Zum Teil gibt es etwa Überschneidungen mit dem literarischen Typus des wilden Waldmädchens. Katzensilber von Adalbert Stifter zeigt eine eher affirmative Einstellung gegenüber dem fremden Mädchen, das plötzlich auf einer Lichtung erscheint. Umgeben von der Großmutter, den Kleinkindern und ihren Eltern, versucht man in der Erzählung dem braunen Mädchen dabei zu

218 Bogdal, Europa erfindet die Zigeuner, S.13. 219 Ebda, S. 163. 220 Ebda, S. 163. 60 helfen, sich in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. Dieser Integrationsprozess verläuft in beiden Richtungen: Als Dank dafür, dass sich das fremde Mädchen den Kindern und der Großmutter nähert und ihnen Schutz vor Gewitter bietet, wenden sich die Eltern an es, wobei die starke Pädagogisierung des Mädchens zum Vorschein kommt. Die Grenzen aber, die seitens des fremden Mädchens oder einer anderen Figur gesetzt wurden, werden immer stärker. ,,Barrierefrei“ schafft es das braune Mädchen nicht. Es gelingt ihm nicht, ein Teil dieser Gesellschaft zu werden, und auf dieselbe Art und Weise, wie es einst erschienen ist, verschwindet es wieder. Im Vergleich zum Werk Katzensilber kennzeichnet sich die Erzählung Der Waldbrunnen durch eine stärkere Pädagogisierung, die auch gelingt. Der Figur Juliana, bei der es unklar bleibt, ob sie eine Zigeunerin ist oder nicht, wird ermöglicht, den Enkelsohn Stephan von Heilkuns zu heiraten, unter der Voraussetzung, dass sie bestimmte Aufgaben erfüllt. Die Rolle der Erziehung scheint in dieser Erzählung viel wichtiger zu sein als bloße Darstellung des allmählichen Integrationsprozesses. Die Erzählung trachtet danach, die allgemein geltenden Prinzipien darzustellen, wie ein (fremdes) Individuum in die Gesellschaft aufgenommen werden könnte. Diese Prinzipien umfassen vor allem allgemeine bürgerliche Tugenden, die Stephan zu vermitteln versucht. Der Weg ins neue Leben ist nach dem Tod der Großmutter möglich, die eine angeblich unzerbrechliche Verknüpfung ans Traditionelle und Alte darstellt, darunter auch sagen- und märchenhafte Motive. Die vergangenen Zeiten und die Erfahrungen, mit denen diese Großmütter einige Ereignisse der Gegenwart assoziieren, zeugen davon. Das könnte in diesem Fall als eine Art Romantisierung verstanden werden, weil das Sagenhafte und Märchenhafte, die an der Gegenwart verbunden sind, wichtige Merkmale der Romantik sind. Das dritte analysierte Werk, die Novelle Die Hexe von Karl Emil Franzos mit ihrem fremdenfeindlichen Unterton, zeigt ein ganz anderes Bild als die beiden Werke von Stifter. Die Hexe offenbart eine unglückstiftende Dimension des Topos der ,,schönen“ Zigeunerin. Aniula hat die Rolle einer verführerischen Figur, einer fatalen Frau, der böse Absichten zugeschrieben werden. Der verliebte Graf wird von ihr zu seinem Nachteil bezaubert und vergisst auf die Tugenden, die man von ihm erwartet. Die schöne Roma-Frau ist ein Objekt der puren Lüste, den bösen und feindlichen Vorurteilen und Stereotypen ausgesetzt, die man einer Zigeunerin entgegenbringen kann, wozu beispielsweise gehört, dass die Zigeuner oft umherziehen. In Hermann Hesses Narziß und Goldmund wiederum tritt die Figur der Lise auf, die eine Station auf dem Weg von Goldmund zur Selbsterkenntnis seiner Natur darstellt. Die Erscheinung Lises 61 ruft bei Goldmund ein einzigartiges Gefühl hervor, das mit der Askese des Klosterlebens nicht vereinbar ist. Ob Lise eine Zigeunerin ist, bleibt allerdings eine Vermutung, auch wenn es durch die stereotypen Eigenschaften, wie Nichtsesshaftigkeit, starke Hinweise dafür gibt. Im Vergleich zur Novelle Die Hexe, in der direkt auf die Herkunft der hübschen Frau hingewiesen wird, erscheint Liese als eine Art Stolperstein für Goldmund, eine Ermahnung, dass er sich davon entfernen muss, was das Klosterleben umfasst. Lise offenbart Goldmund eine neue Welt der Freiheit, die ihm angeblich eine neue Art Ruhe gewähren sollte, was schließlich nicht der Fall ist, weil Goldmund, nach dem Abschied von Lise, sich selbst überlassen bleibt. Diese vier Werke zeigen also ganz unterschiedliche Haltungen gegenüber den in ihren auftretenden Figuren der Roma-Frauen. Sie reichen von einer sehr ruhigen, fremdenfreundlichen Haltung über eine sehr negative und enden mit einer, könnte man sagen, relativ neutralen Haltung gegenüber ihnen. Das für diese Arbeit ausgewählte Thema, die Darstellung der Elemente des Fremden in der Literatur, könnte ein kleiner Schritt weiter sein im Näherungsprozess an die Frage nach dem Umgang mit dem Fremden, den eine Gesellschaft pflegt. Dieser Schritt soll es ermöglichen, eine eher positive Haltung einzunehmen, damit das Bild der Roma (und Sinti), sowie die Bilder der Minoritäten, verändert werden können. Die vier ausgewählten Frauenfiguren sind nicht nur von ihrer Zugehörigkeit zu einer als fremd empfundenen Volksgruppe gekennzeichnet, sondern auch Repräsentantinnen literarischer Frauentypen, wie man sie in Werken, die um 1900 entstanden sind, recht häufig findet: die femme fatale, die femme fragile und die femme enfant. Unter den Figuren, die in den ausgewählten Werken analysiert worden sind, ist Aniula aus dem Werk ,,Die Hexe“ das Paradebeispiel für die fatale Frau: Ihre verführerische Kraft und unbeschreibliche Schönheit wirken auf die Männer, besonders auf den Grafen, der sich in sie verliebt. Der femme fragile könnte die Figur Lises im Narziß und Goldmund entsprechen, obwohl sie diesem Typus nicht vollkommen gleichgestellt werden kann. Ihre ,,Fragilität“ spiegelt sich nicht in ihrem kränkelnden Aussehen wider, sondern in der Tatsache, dass sie an ihrem Mann gebunden ist und dass ihr Wille nicht schwankt: Sie ist entschlossen, ihn nicht zu verlassen. Das braune Mädchen aus Katzensilber und das ,,wilde“ Mädchen aus Der Waldbrunnen hingegen zeigen das Bild der femme enfant. Das braune Mädchen, als Dank für ihre Mithilfe bekommt die Chance, sich aus dem existierenden Milieu dem bürgerlichen anzuschließen, wobei dies ihm ohne Hilfe der älteren nicht gelingt. In einer

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ähnlichen Situation befindet sich die Figur des ,,wilden“ Mädchens, das dies, im Vergleich zum braunen Mädchen, erfolgreich schafft. Die Rollen dieser Weiblichkeitstypen entsprechen mehr oder weniger den gesellschaftlichen Tendenzen und Normen, die in ihrer Epoche aktuell waren. Die Darstellung des Fremden bei Adalbert Stifter beispielsweise unterscheidet sich sehr von jener bei Karl Emil Franzos. Während die Hauptfiguren Stifters auf eine eher phantasievolle und märchenhafte Art und Weise die ganze Handlung tragen, werden die Figuren von Franzos ihrem Schicksal und den Vorurteilen der anderen schutzlos ausgeliefert.

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7 Literaturverzeichnis

7.1. Primärliteratur

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