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Atsuhiro HINA

„DIE HEUTE UNDURCHSCHAUBARE STRATEGIE DER LIEBE"

ZUR TRAKL-REZEPTION BEI ILSE AICHINGER

Man kann nur erfahren, was man schon weiß. 1

1. EINLEITUNG

Am 31. Oktober 1979 erhielt Ilse Aichinger für ihren einzigen Gedichtband Verschenkter Rat (1978) den Georg-Trakl-Preis für Lyrik.2 Anlässlich der Verlei­ hung des Preises im Trakl-Haus, dem Geburtshaus des Dichters, das heute als Georg-Trakl-Forschungs- und Gedenkstätte dient, hielt sie einen kleinen Vor­ trag, der zuerst in der Salzburger Literaturzeitung ,SALZ' erschien3 und spä• ter unter dem Titel Der geheime Leonce. Zu in ihre Essaysammlung Kleist, Moos, Fasane (1987) aufgenommen wurde.4 Aichingers Trakl-Rede kann man entstehungsgeschichtlich in zwei Ab­ schnitte einteilen. Im Kommentar zur Taschenbuchausgabe von Kleist, Moos, Fasane weist der Herausgeber Richard Reichensperger darauf hin, dass die so­ genannte „Büchner-Passage" schon im Jahr 1977 entstanden war.5 Diese Pas­ sage bildet in der Druckversion den zweiten Teil und bezieht sich inhaltlich auf Georg Büchners Drama Leonce und Lena. Der ihr vorangestellte erste Teil des Vortrags hingegen, in dem Aichinger den Dichter Trakl hauptsächlich an­ hand von Zeugnissen seiner Freunde beschreibt, wurde erst im Sommer und Herbst des Jahres 1979, also unmittelbar vor der Verleihung des Preises, voll-

1 Ilse Aichinger: Aufzeichnungen 1950-1985, in: Dies.: Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Bd. 5, Kleist, Moos, Fasane. Hrsg. v. Richard Reichensperger. Frankfurt/M. (Fi­ scher) 1991, S. 41-87, hier S. 68. 2 Hans Weichselbaum: „Zur Geschichte des Georg-Trakl-Preis für Lyrik", in: Ders.: Im Na­ men des Dichters. 45 Jahre Georg-Trakl-Preis für Lyrik - Geschichte und Dokumentation. Salz­ burg (Otto Müller) 1998, S. 7-41, hier S. 29f. 3 ,SALZ' Salzburger Literaturzeitung Jg. 5, Nr. 18. Dezember 1979, S. 1. 4 Ilse Aichinger: Der geheime Leonce. Zu Georg Trakl, in: Dies.: Kleist, Moos, Fasane (wie Anm. 1), s. 98-101. 5 Aichinger: Kleist, Moos, Fasane (wie Anm. 1), S. 121.

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endet. Nun gibt es seit kurzem die Möglichkeit, die „Büchner-Passage" der Rede mit einer früheren Schaffensphase der Autorin in Bezug zu setzen. Denn in diesem Text finden sich mehrere Passagen, die Formulierungen im Radio­ Essay Georg Trakl 6 ähneln, den Aichinger schon zwei Jahrzehnte zuvor, im Jahr 1957, als Teil einer von ihr konzipierten Sendereihe für den Rundfunk ge­ schrieben hatte. Zu den Zeugnissen von Aichingers Trakl-Rezeption gehört schließlich auch noch ein lyrisches Dokument: Das Gedicht Danach trug ursprünglich den Titel Versuch (für Georg Trakl) und erschien im Jahr 1977 anlässlich des 90. Geburtstags des Dichters ebenfalls in der Literaturzeitung ,SALZ'.7 Die Entstehungszeit des Gedichts fällt also genau mit jener der „Büchner-Pas• sage" in der Preisrede Der geheime Leonce zusammen, auf die Reichensper­ ger hinweist. Im Folgenden versuche ich zunächst mittels close-reading des erst vor kur­ zem wiederentdeckten Radio-Essays nachzuweisen, dass der zweite Teil der Preisrede von 1979, die „Büchner-Passage", ein Weiterdenken des Radio-Es­ says darstellt. Im Anschluss daran analysiere ich das Gedicht Danach, indem ich den historischen Kontext seiner Entstehung rekonstruiere. Ziel ist es, nach­ zuweisen, dass eine produktive Trakl-Rezeption bei Ilse Aichinger über eine lange dichterische Schaffensphase hinweg beobachtet werden kann, und aus­ zuloten, inwiefern diese thematisch eine wichtige Rolle gespielt hat.

2. DER VERSCHOLLENE RADIO-ESSAY GEORG T'RAKL

Aichingers Trakl-Rezeption begann sehr früh. Schon im Jahr 1946, als sie als Medizinstudentin an der Universität Wien immatrikuliert war, verfasste Ai­ chinger unter dem programmatischen Titel Aufruf zum Misstrauen ein kleines dichterisches Pamphlet in Prosa für die Wiener Zeitschrift Plan, die als das wichtigste Publikationsorgan der literarischen und künstlerischen Avant­ garde im Wien der ersten Nachkriegsjahre gilt. Viele andere später namhaft gewordene junge Schriftstellerlnnen publizierten hier erste Beiträge, unter ih­ nen und Friederike Mayröcker, Reinhard Federmann und Milo Dor, sowie, in der letzten Nummer der Zeitschrift, , der zum Zeit­ punkt ihres Erscheinens schon nach Paris weitergezogen war. So oft Aichin­ gers Aufruf zum Misstrauen 8 auch als ihre erste Publikation erwähnt wird, so

6 Ilse Aichinger: Georg Trakl, in: Christine lvanovic und Sugi Shindo (Hrsg.): Absprung zur Weiterbesinnung. Geschichte und Medien bei Ilse Aichinger. Tübingen (Stauffenburg) 2011, s. 13-29. 7 Ilse Aichinger: Versuch (fiir Georg Trakl), in: ,SALZ' Jg. 2. Nr. 7. März 1977, S. 7. 8 Ilse Aichinger: Aufruf zum Misstrauen, in: Plan. Literatur/Kunst/Kultur H. 7, 1946, S. 588.

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wenig bekannt ist, dass die betreffende Ausgabe des Plan zumindest teilweise dem Gedächtnis Georg Trakls gewidmet war. Der Lyrik-Schwerpunkt der Zeitschrift (sonst Kleine Österreichische Anthologie genannt) steht hier einmalig unter dem Motto Bekenntnis zu Georg Trakl 9 und versammelt elf Gedichte von Hans Heinz Hahnl, Hermann Priedl, Oskar Sandner, Rudolf Lind, Hans Mu­ karovsky und Hans Bausenwein. Implizit wurde damit auch ein Bekenntnis des Herausgebers Otto Basil zum Ausdruck gebracht. Denn dieser bot in sei­ ner Zeitschrift jungen Nachkriegsschriftstellerinnen eine Veröffentlichungs• möglichkeit nach dem Vorbild der halbmonatlichen Tiroler Zeitschrift Der Brenner, 10 dessen Herausgeber Ludwig von Ficker als Entdecker und Unter­ stützer Trakls bekannt war. Die ältere Generation, zu der auch Basil gehörte, versuchte die neue Literatur am Bild des früh verstorbenen Trakl auszurich­ ten. Es ist wichtig zu wissen, dass auch Aichinger sich in diesem Umfeld zur Schriftstellerin entwickelte. Aichingers gut ein Jahrzehnt später verfasster Radio-Essay Georg Trakl war Teil einer Sendereihe über „Die Frühvollendeten". Die erhaltenen Dokumente dieser Sendereihe werden heute im Vorlass Ilse Aichingers im Deutschen Li­ teraturarchiv in Marbach aufbewahrt. Hier finden sich die Manuskripte zu allen Sendungen dieser Reihe: über , Alain-Fournier, Otto Braun, Eugen Gottlob Winkler, Felix Hartlaub, Wolfgang Borchert sowie über die Ge­ schwister Scholl.11 Allein der Text der Sendung über Georg Trakl ist nicht er­ halten geblieben. Zwar wurde eine entsprechend beschriftete Mappe gefun­ den; sie ist allerdings leer. Der Text wurde nun anhand einer im NDR vorhan­ denen Aufnahme transkribiert und erst vor kurzem publiziert, was endlich die Möglichkeit einer genauen Analyse eröffnet.

2.1. Dialog durch Zitate Der Text des Radio-Essays stützt sich auf verschiedene Zitate. So zitiert Aichinger gleich zu Beginn den Bericht über Trakls Tod, den sein Bursche Matthias Roth an Ludwig von Ficker übermittelte. Aichinger entdeckt in diesem Bericht einen markanten Versprecher (mein „ Liebender Herr") und fokussiert damit auf die Beziehung zwischen Roth und Trakl.12 Nach Ruth Vogel-Klein ist das den Trakl-Essay kennzeichnende Kompositionsverfah-

9 Bekenntnis zu Georg Trakl, in: Plan, H. 7, 1946, S. 554. 10 Walter Methlagl: „Paul Celan in Mühlau", in: ,Displaced'. Hrsg. v. Peter Goßens und Mar­ cus G. Patka im Auftrag des Jüdischen Museums Wien. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2001, S. 121-130, hier S. 123. 11 Ruth Vogel-Klein: „Hörszenen. Ilse Aichingers unveröffentlichte Radio-Essays aus den fünfziger Jahren im „Vorlass" des Deutschen Literaturarchivs Marbach", in: Absprung zur Weiterbesinnung (wie Anm. 6), S. 33-50, hier S. 33. 12 Aichinger: Georg Trakl (wie Anm. 6), S. 13.

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ren - ein Dialog zwischen Zitat und Kommentar - die typische Methode für die gesamte von Aichinger damals verfasste Sendereihe: „Aichinger [stellt] erst die Zitatliste [auf], dann [werden] die Zitate gesondert ab[ge]tippt und erst dann mit dem Kommentar zusammen[ge]fügt. In einem anderen Typo­ skript hat sie das Zitat als Leerstelle schon mit eingeplant."13 Die Auswahl der Zitate vermittelt also bereits jene Perspektive, die die Autorin in ihrer Betrachtung einnimmt. In dem Text Georg Trakl gibt es insgesamt 35 Zitate. Genauer gesagt, zitiert Aichinger hier 13 Gedichte Trakls, 16 seiner Briefe und sechs weitere Zeug­ nisse. Dabei fällt auf, dass von Trakl mehr Briefe als Gedichte zitiert werden. Ferner werden nur winzige Ausschnitte aus den Briefen angeführt. Sie zeugen inhaltlich meistens von Kleinigkeiten aus dem Leben Trakls. Die sechs weite­ ren Zeugnisse sind: der schon erwähnte Brief von Matthias Roth, ein Brief von Ludwig von Ficker, eine in seinen Memoiren festgehaltene Erinnerung Oskar Kokoschkas, ein Abschnitt aus einem Essay von Rudolf Kassner, ein Brief von Adolf Loos und die biographische Beschreibung aus dem Vorwort der Aus­ gabe Die Dichtungen. 14 In ihren Kommentaren berücksichtigt Aichinger stets Trakls Lebensum­ stände sowie seinen Freundeskreis und seine verschiedenen Wohnorte. Das Zentrum dieser Beschreibungsstrategie bildet sicher Rilkes berühmte Frage „Wer mag er gewesen sein?"15. Wenn die Autorin ihrer eigenen Poetik ent­ sprechend Trakl „ vom Ende her"16 zu erklären versucht, wird diese Frage wie folgt paraphrasiert: „Aber wer ist dieser junge Tote, der elf Jahre lang auf dem Krakauer Militärfriedhof lag, in der nordöstlichen Provinz der alten Öster• reich-Ungarischen Monarchie?"17 Um diese Frage zu beantworten, zitiert Ai­ chinger die oben genannten Quellen. Die Auswahl der Gedichte selbst erscheint ebenfalls beachtenswert. Die verwendete Ausgabe Die Dichtungen wurde ursprünglich im Jahr 1919 von Karl Röck, einem Mitarbeiter des Brenners, unter Verwendung eines speziellen Editionsprinzips herausgegeben.18 Wie schon in der Trakl-Interpretation des

13 Ebd., S. 34. 14 In Bezug auf Trakls Gedichte zitierte sie aller Wahrscheinlichkeit nach aus der vierten Auf­ lage der Gesamtausgabe Die Dichtungen, die im Jahr des österreichischen Anschlusses, 1938, beim Otto Müller Verlag publiziert worden war; die betreffende biographische Be­ schreibung des Dichters war erst mit dieser Auflage hinzugefügt worden. 15 : Über Georg Trakl, in: Erinnerung an Georg Trakl. Zeugnisse und Briefe. Hrsg. v. Ignaz Zangerle. Salzburg (Otto Müller) 1959, S. 9. 16 Ilse Aichinger: Das Erzählen in dieser Zeit, in: Dies.: Werke. Bd. 2, Der Gefesselte. Erzählun- gen (1948--1952), S. 9-11, hier S. 10. . 17 Aichinger: Georg Trakl (wie Anm. 6), S. 13. 18 Vgl. Karl Röck: „Über die Anordnung der Gesamtausgabe von Trakls Dichtungen", in: Erinnerung an Georg Trakl (wie Anm. 15), S. 226-249.

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Philosophen Martin Heidegger von 1953 ersichtlich, 19 übte Röcks Editions­ prinzip nachhaltig großen Einfluss auf die Trakl-Rezeption aus. Dieses ,au­ thentische' Trakl-Verständnis durch den Brenner-Kreis veränderte sich erst mit der Publikation der ersten historisch-kritischen Ausgabe im Jahr 1969. Aber wenn man Aichinger mit Heidegger vergleicht, fallen einige eminente Unterschiede ins Auge. Erstens zitiert Heidegger nicht den vollständigen Text eines jeweiligen Gedichts, sondern greift immer nur Teile daraus auf, wäh• rend Aichinger zwölf der verwendeten Gedichte ganz anführt. Zweitens, während Heidegger die Biographie des Dichters ignoriert, entfernt sich Ai­ chinger mit ihrem Kommentar nicht davon. Das sechste zitierte Gedicht heißt z.B. An die Schwester. Es ist der erste Teil des dreiteiligen Zyklus Rosenkranzlieder. Aichinger geht bewusst auf die Bezie­ hung Trakls zu seiner jüngsten Schwester ein, als sie dieses Gedicht wieder­ gibt. Sie bemerkt dazu:

Zarter und vollendeter hat kaum jemals ein Bruder seine Schwester besun­ gen. Und wenn es auch nur der Auftakt zu dunkleren Liedern zu sein scheint, so bleibt es doch der Inbegriff des Geschwisterlichen.20

Aichinger begeht hier auf interessante Weise einen Irrtum, indem sie das Ge­ dicht mit dem falschen Titel „An meine Schwester" zitiert.21 Trakl selbst be­ stimmte nie, wer diese Schwester, die immer wieder in seinen Gedichten er­ scheint, eigentlich sei. Trotzdem geht Aichinger ohne Weiteres davon aus, dass es sich um seine jüngste Schwester Grete handeln muss. Dieser ,Schreib­ fehler' zeugt auf symbolische Weise davon, wie Aichinger sich Trakl anzunä• hern versuchte. Zum anderen lässt er sich als Freud'sche Fehlleistung auffas­ sen. „Meine Schwester" ist eine für Aichingers Selbstverständnis als Mensch und als Autorin signifikante Größe, nicht allein weil sie eine eineiige Zwil­ lingsschwester und damit sozusagen eine verdoppelte Identität hat, sondern weil die Trennung von der Schwester durch deren Emigration im Juli 1939 am Beginn ihres Schreibens steht; die ersten Texte verfasst sie, um sich der

19 Martin Heidegger: Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg Trakls Gedicht, in: Ders.: Unterwegs zur Sprache. Stuttgart (Klett-Cotta) 2007, S. 35-82, hier S. 40. Anm. 1. 20 Aichinger: Georg Trakl (wie Anm. 6), S. 20. 21 Das Gedicht An die Schwester wurde ursprünglich im Brenner (Jg. 3, H. 8, 1913) unter dem Titel An meine Schwester publiziert. Trakl veränderte es bei der Herausgabe seines ersten Gedichtbandes, wobei es als erster Teil des Zyklusgedichts Rosenkranzlieder neu gegliedert wurde. Georg Trakl: Sämtliche Werke und Briefwechsel (Innsbrucker Ausgabe). Bd. 2, Dich­ tungen Sommer 1912 bis Frühjahr 1913. Hrsg. v. Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina. Frankfurt/M. (Stroemfeld/Roter Stern), S. 273f. Wie der Herausgeber Ficker selbst nach dem Krieg berichtete, waren „[a]lle seit 1910, dem Gründungsjahr, erschiene­ nen Jahrgänge und Einzelfolgen [„.] vergriffen. Dazu konnten Neuauflagen vorläufig nicht in Aussicht gestellt werden. [Der Brenner, 16. Folge, 1946, S. 4]. Deswegen ist es un­ denkbar, dass Aichinger den ursprünglichen Titel des Gedichts kannte.

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Schwester anzunähern, und lange Zeit schreibt sie gewissermaßen auf die Schwester zu.22 „Meine Schwester" ist für Aichinger ein emphatisch besetzter Begriff, der in ihren Texten immer wieder aufscheint.23 Anhand eines anderen Beispiels kann man auf Aichingers Auswahlprin­ zip schließen. Das Gedicht Klage schrieb Trakl in seiner allerletzten Lebens­ phase an der Ostfront, wo er sich schließlich das Leben nahm. Einige Zeilen dieses Gedichts - „Schwester stürmischer Schwermut/ Sieh ein ängstlicher Kahn versinkt/ Unter Sternen" - greift Aichinger auf und lässt sie eine apoka­ lyptische Vision erzählen. Gott allein weiß, wie sehr wir der „ängstlichen Kähne" bedürftig sind, wenn die Düsenjäger über unseren Köpfen lärmen und die Atommeiler neben unseren Städten wachsen. Vielleichf wird es erst am jüngsten Tag deutlich werden, an welchen entscheidenden Stellen die heute undurch­ schaubare Strategie der Liebe die versinkenden Kähne einsetzt.24 Das Wort „Kahn" benutzt Trakl in seinem gesamten Werk nur 16 Mal. Allein zehn Nennungen sind in den Dichtungen nachweisbar.25 Von diesen zitiert Ai­ chinger vier Gedichte. Bedenkt man, dass das Gedicht Klage in der Preisrede von 1979 erneut erwähnt wird, muss man daraus schließen, dass Trakls „Kahn" bei Aichinger einen starken Eindruck hinterließ. Dasselbe kann man von dem Wort „Stern" in Trakls Gedichten sagen. Im Vergleich mit „Kahn" erscheint das Wort „Stern" bei Trakl viel öfter. Es ist in sechs der zitierten Gedichte enthalten. Und insgesamt sechs Gedichte weisen beide Worte auf. Zwei davon, Untergang und Klage, sind in Aichingers Essay eingegangen. Daraus ließe sich schließen, dass die apokalyptische Vision des versinkenden „ängstliche[n] Kahn[es] /Unter Sternen" ein sehr wichtiges Auswahlprinzip bei Aichinger darstellt.

2.2. Furcht als Zeitmaß Mit dem Bericht über Trakls Tod stellt Aichinger also, wie oben bereits er­ wähnt, eine Frage an den Anfang des Essays. Aber ihr Versuch, eine Antwort darauf zu finden, nimmt nicht die Gestalt einer chronologischen Beschreibung

22 Nikola Herweg: „,Ich schreibe für Dich und jedes Wort aus Liebe.' Der Briefwechsel der Zwillingsschwestern Helga und Ilse Aichinger", in: Wort-Anker Werfen. Ilse Aichinger und England. Hrsg. v. Rüdiger Gömer, Christine Ivanovic und Sugi Shindo. Würzburg (Königs• hausen & Neumann) 2011, S. 27-43, hier S. 34f. 23 Vgl. u. a. den Text Die Linien meiner Schwester. Linienführung nach Beckett. Zu der Zeichnung ,Queuingfor Godot' von HelgaMichie", in: Kleist, Moos, Fasane (wie Anm.1) [2. Aufl. Frank­ furt/M. (Fischer) 1987], S. 101-103 (Hinweis von Christine Ivanovic). 24 Aichinger: Georg Trakl (wie Anm. 6), S. 28. 25 Heinz Wetzel: Konkordanz zu den Dichtungen Georg Trakls. Salzburg (Otto Müller) 1971, s. 344.

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an. Stattdessen bringt Aichinger das Schlüsselwort „Furcht" in ihre Schilde­ rung von Trakls Leben ein. Diese Furcht

wendet sich auch nach außen, und kehrt bei begreiflichen und bei scheinbar unbegreiflichen Anlässen in Trakls Leben immer wieder. Sei es, dass er in der Innsbrucker Apotheke, wo er Dienst tut, in Schweiß und höchste Erregung gerät, sobald sie sich mit Menschen füllt, sei es, dass er noch vor dem Abheben eines größeren Geldbetrags, dessen Zu­ wendung ihm Ficker ermöglichte, von einer Panik ergriffen die Bank wieder verlässt. Man kann ihn sich vorstellen, diesen freundlichen Tag, die Geschäftigkeit der Bank, die Freude und Entlastung im Bewusstsein und den Freund neben sich. Aber kann man sich angesichts all dessen die Furcht vorstellen?26

Sowohl diese merkwürdige Episode wie auch die eigene Welt seiner Gedichte sind nach Aichinger mit dem Wort „Furcht" zu erklären. In den SOer Jahren äußerten sich viele Interpreten zu Trakl; keiner aber las ihn wie Aichinger. Damals dominierte die werkimmanente Lesart und der Dichter wurde oft in den Hintergrund der Werke gedrängt. Im Gegensatz dazu konzentriert sich Aichinger auf „Äußerlichkeiten", die ganz konkret mit der Person und dem Leben Trakls zu tun haben. Dass sie neben den Gedichten so viele Briefe zi­ tiert, ist ebenfalls ein Beweis dafür. Kehren wir nochmals zum Thema „Furcht" zurück. Aichinger verwendet diesen Begriff bei der Lektüre Trakls als Leitprinzip anstelle der Chronologie: „Furcht" ist das Zeitmaß Trakls. Vielleicht bezeichnen Trakls letzte Gedichte den Ort, wo die innerste und äußerste Furcht sich decken, ihr höchstes Maß annehmen und einander zugleich aufheben. Das Feld, auf dem der Engel erscheint.27 Dieser Satz bezeichnet den Kern von Aichingers Trakl-Verständnis und knüpft an ihre oben erwähnte apokalyptische Vision an. Diese gilt anderer­ seits als Kritik an der Gesellschaft, die sich auf einen chronologischen Zeitab­ lauf beruft. In Bezug auf Trakls Wahnsinn und seinen damit in Verbindung stehenden Freitod formuliert Aichinger:

Georg Trakl starb verlassen, verzweifelt und aufs tiefste gedemütigt. Wir aber haben uns zu fragen nach der sogenannten „normalen" Reaktion an­ gesichts einer Scheune mit neunzig Sterbenden. Wie so oft hat sich auch hier die Mitwelt, wo sie selbst des Psychiaters bedürftig gewesen wäre,

26 Aichinger: Georg Trakl (wie Anm. 6), S. 24. 27 Ebd., S. 24f.

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zum Psychiater aufgespielt. Denn der zuständige und sicherlich korrekte Stabarzt war wohl nur das Symptom einer Welt, die sich, ohne sich darü• ber klar zu sein, schon bereit machte, starken Mutes und festen Blickes Folterkammern und Gasöfen zu betrachten.28 Die Phrase „starken Mutes und festen Blicks" ist ein Zitat aus dem zweiten Teil der österreichischen Nationalhymne Sei gesegnet ohne Ende ... (1929- 1938).29 Mit dem Bild des sterbenden Trakl beschwört Aichinger die Zeichen dessen herauf, was sich „zwanzig, dreißig und vierzig Jahre später" ereignen sollte. Trakls Schicksal, im Viehwaggon an die Ostfront gebracht zu werden und ohne menschliche Zuwendung einsam zu sterben, erscheint überblendet mit jenem der später deportierten Juden. Und was Aichinger in Trakl sieht und wodurch sie ihn zu verstehen versucht - d. h. „Furcht" -, ist die Zeitein­ heit, die von der herrschenden Auffassung abweicht.

3. DIE ,BÜCHNER-PASSAGE' IN DER PREISREDE

Wie schon erwähnt, gibt es einige Ähnlichkeiten zwischen dem Radio-Essay von 1957 und der Preisrede von 1979. Aichinger zitiert in beiden Texten Trakls „etwa zwischen 16. und 18. Juli 1913" verfassten Brief: „Ich bekleide hier ein unbesoldetes Amt, das reichlich ekelhaft ist und wundere mich täglich mehr, daß man für das Addieren, das ich schwerfäl• lig genug wieder zulerne, keine Kaution verlangt."30

Dieses Zitat kommentiert Aichinger dann wie folgt: „Auch in diesen Zeilen erscheint der andere Leonce. Georg Trakl läßt sich einen Narren sein."31 An­ hand des Bildes des wahnsinnigen Narren verknüpft Aichinger Trakl mit Büchner. Dabei ist ihr Gebrauch des Verbums „addieren" besonders wichtig. Trakl, der als „Rechnungspraktikant" das Addieren mit Mühe wieder lernen

28 Ebd., S. 28. 29 Den Text für diese Hymne verfasste der steirische Priesterdichter Ottokar Kernstock. Nach dem Anschluss an das Dritte Reich am 11. März 1938 durfte sie nicht mehr gesungen wer­ den. Der Verfasser des Textes wurde jedoch von den Nationalsozialisten wegen der Vor­ bereitung für die NS-Bewegung in Österreich sehr verehrt. Johannes Steinbauer: Land der Hymnen. Eine Geschichte der Bundeshymnen Österreichs. Wien (Sonderzahl) 1997, S. 109. 30 Aichinger: Der geheime Leonce (wie Anm. 4), S. 100. Aichinger zitiert diesen Brief in ihrem Essay mit einem falschen Datum, das aus dem von Wolfgang Schneditz herausgegebenen Band Nachlass und Biographie (1949) stammt. Ich folge hier der historisch-kritischen Aus­ gabe von Walther Killy und Hans Szklenar. Georg Trakl: Dichtungen und Briefe. Historisch­ Kritische Ausgabe. Bd. 2, Hrsg. v. Walther Killy und Hans Szklenar. Salzburg (Otto Müller) 1969, s. 592. 31 Aichinger: Der geheime Leonce (wie Anm. 4), S. 100.

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musste, sollte sich schließlich auf dem Schlachtfeld „der unaddierbaren Angst" ausliefern. Das Gedicht Klage und der zugehörige Kommentar werden von Aichinger in beiden Texten, in der Rede und im Rundfunk-Essay, auf gleiche Weise ange­ führt. Der Kommentar zum Gedicht in der Preisrede lautet: „ Es ist alles gesagt. Niemand weiß, wie sehr wir der ängstlichen Kähne bedürftig sind, während die Atommeiler rund um uns wachsen."32 Er entspricht fast wörtlich dem Satz am Schluss des Radio-Essays. Wie oben dargestellt, bildet dieses Gedicht und mit ihm die apokalyptische Vision der Rettung durch den „Kahn" den Kern der Trakl-Lektüre Aichingers, wo sich diese in eigenen Texten der Autorin manifes­ tiert. Die Preisrede, die etwa 20 Jahre nach der Ausstrahlung des Radio-Essays geschrieben wurde, weist kaum auffällige Veränderungen in der Trakl-Lektüre Aichingers auf. Das weist nicht nur darauf hin, dass Aichinger Trakl auch 20 Jahre später noch auf dieselbe Weise las. Es lässt auch Raum für die Vermutung, dass sie möglicherweise den Text ihres Radio-Essays, der heute als , verschollen' gilt, bei der Vorbereitung der Preisrede erneut zur Hand genommen hat. Die Preisrede Der geheime Leonce stellt, so betrachtet, eine Verarbeitung oder ein Wei­ terdenken ihres Radio-Essays dar.33 Ebenso wie Aichinger mehrere ihrer Ge­ dichte, die ursprünglich in den 50er Jahren geschrieben worden waren, in den zwei Jahrzehnten bis zur Veröffentlichung ihres einzigen Gedichtbands Ver­ schenkter Rat immer wieder weiter bearbeitete, so führte sie offensichtlich auch die Gedanken ihres Essays weiter. Ihre Beschäftigung mit Trakl ist also nicht nur eine literarische Hommage an den Dichter, sondern kann als ein Dokument der Entwicklung ihrer eigenen Poetik betrachtet werden.

4. DAS GEDICHT DANACH

Das im Gedichtband Verschenkter Rat an 67. Stelle positionierte Gedicht heißt Danach. Obwohl vom Herausgeber bereits einige Informationen zur Genese der einzelnen Gedichte mitgeteilt wurden, werden die Angaben zu Danach in der editorischen Nachbemerkung der Taschenbuchausgabe nochmals ergänzt.34

32 Ebd., S. 101. 33 In diesem Essay führt Aichinger mehrfach lebensgeschichtlich relevante Daten aus der erstmals 1965 erschienenen Trakl-Biographie von Otto Basil an, dem Herausgeber der Wiener Zeitschrift Plan (vgl. Otto Basil: Georg Trakl. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumen­ ten dargestellt. Reinbek (Rowohlt) 1999). Damit schließt sich der Kreis von Aichingers frü• herer Publikation im Plan (H. 7, 1946) und deren Bezug zu Trakl über den Radio-Essay bis zur Preisrede von 1979. Vgl. Aichinger: Der geheime Leonce (wie Anm. 4), S. 99. 34 Ilse Aichinger: Werke. Bd. 8, Verschenkter Rat. Gedichte, S. 125. Reichensperger nennt dort als Entstehungsdatum des Gedichts „den 28. Oktober 1978". Es handelt sich wahrschein­ lich um jenes Datum, an dem die endgültige Fassung geschrieben worden war.

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Das Gedicht ist tatsächlich eine weitergeführte Variante des ursprünglich Ver­ such (für Georg Trakl) überschriebenen Gedichts, das Aichinger anlässlich der Verleihung des Georg Trakl-Preises für Lyrik an Reiner Kunze und Friederike Mayröcker 1977 in der Zeitschrift , SALZ' veröffentlichte. Versuch für Georg Trakl Hinausgehen auf den Flecken, der still ist, unter die Sonne, die heute das Lärmen läßt, das sanfte Geprahle. Herausfinden, jetzt herausfinden, wo die hinrannten, die hier verwegen und leise waren, in welchen Gestalten, Chören, Verfänglichkeiten sie unauffindbar sind. Bei der Aufnahme des Gedichts in ihren Gedichtband veränderte die Autorin

lediglich den Titel und ein einziges Adjektiv (anstelle von 11sanft" findet sich nun "alt") in der siebenten Zeile. Auffällig ist der Wegfall der Widmung, zu­ mal in diesem Gedichtband drei weitere Gedichte mitsamt den Widmungen enthalten sind.35 Es gibt jedoch noch ein anderes Gedicht, dessen ursprüngli• che Widmung getilgt wurde: Versuch anlässlich des 70. Geburtstags von Mar­ tin Heidegger.36 Interessanterweise trugen diese beiden Gedichte, die später gemeinsam ihre Widmungen verloren, zunächst fast gleichlautende Titel. Dass Aichinger bei der Buchpublikation dann den Titel eines Gedichtes abän• derte, spielt daher paradoxerweise auf eine ursprüngliche Korrespondenz zwischen ihnen an. 37

35 Baumzeichnen „für Eva, Pia, Florian, Julian und Manuel Aicher", Das Geburtshaus „für Mo­ nika Schoeller" und Lose Sprossen „für Heinrich Böll". 36 Ursprünglich publiziert in: Martin Heidegger zum siebzigsten Geburtstag. Festschrift. Hrsg. v. Günther Neske. Pfullingen (Neske) 1959, S. 298. 37 Aichinger soll „mit ihrem lyrischen Spätwerk zum Teil bewusst an das frühere, veröffent• lichte Werk (anknüpfen)". Hannah Markus: „Varianten und unbekannte Texte", in: Berliner Hefte zur Geschichte des literarischen Lebens, Nr. 9, 2010, S. 91-107, hier S. 92.

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Aichingers Versuch wurde im Jahre 1959 für eine Heidegger-Festschrift verfasst. Seine Entstehungsgeschichte steht in engem Zusammenhang mit der eines im selben Kontext von Günter Eich verfassten Gedichts (Altes Buch) und lässt sich anhand von Materialien im Nachlass von Günter Eich rekonstruie­ ren.38 Eich, „einer der prominentesten Hörspielautoren" nicht allein in der Blütezeit der Gattung in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten, sondern bereits während der NS-Diktatur,39 stand Anfang der 50er Jahre, seit der Pu­ blikation von Heideggers Aufsatz .. . dichterisch wohnet der Mensch, mit diesem in freundschaftlichem Kontakt. Aichinger rezipierte die Werke des Philoso­ phen und ehemaligen NSDAP-Mitglieds hauptsächlich unter dem Einfluss ih­ res Ehemanns. Die Entwürfe für die Festschrift verfassten die Eheleute auf demselben Blatt. Daher kann man davon ausgehen, dass beide Gedichttexte im Austausch und Dialog zwischen Aichinger und Eich entstanden. An eini­ gen Stellen sind identische Wörter zu finden. Thomas Wild zufolge finden sich in Eichs Gedicht Altes Buch verschiedene Zitate aus Werken Heideggers wie „Frühe", „verborgen" und „aufheben (aufgehoben)". Auch das Wort „Feuer", das hier zu einem zentralen Motiv wird, gehört ursprünglich nicht zum dichterischen Vokabular von Eich. Wild erinnert sich hier an Rilkes Ge­ dicht Magie, das „Heidegger 1951 in einer Ausgabe mit Rilkes nachgelassenen Gedichten entdeckte, hoch schätzte und an ihm nahe Personen, etwa Hannah Arendt, weitergab". Dieser Hinweis reicht aus, um zu vermuten, dass der Phi­ losoph auch Günter Eich auf das Gedicht und dessen Feuer-Motiv aufmerk­ sam gemacht haben könnte.40 1951 war das Jahr der Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit Heideggers nach dem seit 1946 für ihn bestehenden Lehrverbot. Heideggers besonderes Interesse für das Feuer-Motiv kann man auch in sei­ nem ursprünglich 1952 in Bühlerhöhe vorgetragenen Trakl-Vortrag finden.41 Was hat das Feuer-Motiv damals bedeutet? Thomas Wild meint dazu:

Heideggers Schriften denken dem „Feuer" zum einen in den Studien zu Hölderlins Dichtung nach. Zum anderen erinnert eine Redenotiz an Hei­ deggers Feuerspruch, den er im Juni 1933 auf der studentischen Sonnwend­ feier im Universitätsstadion verlas, während ein riesiger Holzstoß brannte[. ]42

38 In den zitierten Manuskripten aus dem Eich-Nachlass folge ich Walter Kühn: „Das alte Buch. Eichs Beitrag zur Festschrift von Martin Heidegger", in: Berliner Hefte, Nr. 7, 2005, S. 152-171, hier S. 167ff. 39 Thomas Wild: „Versuch. Aichinger - Eich - Heidegger - Sachs. 1959/1961", in: Absprung zur Weiterbesinnung (wie Anm. 6), S. 99-111, hier S. 101. 40 Ebd., S. 105. 41 Heidegger untersucht hier das Wort „Flamme" im letzten Gedicht - Grodek. Heidegger: Die Sprache im Gedicht (wie Anm. 19), S. 65. 42 Wild (wie Anm. 39), S. 105.

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In der Wiederentdeckung des „Feuer"-Motives in verschiedenen deutschspra­ chigen Gedichten kann, so argumentiert auch Wild, eine Paraphrase seiner Philosophie in der Zeit nach dem Krieg gesehen werden. Eichs Gedicht Altes Buch, an dessen Anfang er Heideggers Antrittsrede bei der Aufnahme in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften aus dem Jahr 1957 zitierte, ent­ stand aus seiner tiefgehenden Auseinandersetzung mit Heidegger. Sie wirkte maßgeblich nicht nur auf Eichs eigene Poetik, sondern auch auf die Lyrikthe­ orie der ersten Nachkriegsepoche, die sich unter anderem stark an den frühen Positionen Eichs orientierte.43 Aichinger zeigt sich hier distanzierter. Bei der Vorbereitung der Ausgabe der Werke Günter Eichs nach dessen Tod schloss sie als Herausgeberin dieses Gedicht von der Wiederveröffentlichung aus.44 Ursprünglich geht Aichingers Gedichttitel Versuch auf einen Gedanken von Eich zurück, den dieser „während der 1950er Jahre, zur Zeit seines inten­ siven Kontakts mit Heidegger", notierte: „Gedichte sind ein Versuch, Gedan­ ken Gottes nachzudenken. Soweit das in einer Sprache möglich ist". 45 Unge­ fähr 20 Jahre ,danach', im Jahr 1977, publizierte Aichinger dann das gleichna­ mige Gedicht samt seiner Widmung für Trakl. Der unmittelbare Anlass für dieses Gedicht war, dass sie im Jahr 1977, gerade als sie ihren eigenen Gedicht­ band zum Druck vorbereitete, zu einem Mitglied der Jury für den in Trakls Namen verliehenen Preis ernannt wurde.46 Aufgrund des Titels kann das Ge­ dicht aber auch in spannungsvoller Nähe zu ihrem Heidegger-Gedicht gese­ hen werden. Die zunächst rätselhaft erscheinende Modifikation kann dann als Schlüssel für die Interpretation verwendet werden.47 Auf den ersten Blick ließe sich die Abänderung des Titels dadurch erklä• ren, dass das frühere Gedicht im selben Gedichtband bereits diese Überschrift trägt. Das Adjektiv „sanft", das anstelle von „alt" in der ersten Fassung im Zentrum des Gedichts stand, kann man nun in der mittleren Zeile des nach­ folgenden Gedichts Chinesischer Abschied finden.48 Offensichtlich wollte die Autorin bei der Anordnung der Gedichte dieses für Trakl typische Adjektiv, das Trakl in seinen Werken 149 Mal verwendete und das neben seinen be­ kannten Farbadjektiven zu den von ihm am häufigsten gebrauchten Prädika-

43 Z.B. Günter Eich: Der Schriftsteller vor der Realität, in: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4, Ver­ mischte Schriften. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1973, S. 441-455. 44 Wild (wie Anm. 39), S. 107. Aichingers Distanzierung von der Philosophie Heideggers be­ zieht sich sicher auf seine Vergangenheit in der NS-Zeit. Ob und wie sie auf ähnliche Weise auf die Vergangenheit ihres Ehemanns reagierte, ist noch unklar. Jedoch müssten noch unzugängliche Dokumente darüber existieren (Hinweis von Rüdiger Görner). 45 Ebd., S. 104. 46 Weichselbaum: Im Namen des Dichters (wie Anm. 2), S. 57. 47 Tilgung und Chiffrierung ist ein Merkmal der Gedichte Aichingers. Markus (wie Anm. 37), s. 107. 48 Aichinger: Verschenkter Rat (wie Anm. 34), S. 77.

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ten gehört, 49 ins nächste Gedicht verschieben. Auf der akustischen Ebene ge­ langen ihr damit eine Häufung des Konsonanten „l" (Flecken/still/Lärmen/ läßt/alte/Geprahle) und eine klangliche Klimax im ersten Teil. Der hier kon­ zentriert erscheinende Konsonant „l" lässt notwendigerweise dann das erste Wort „Flecken" deutlich hervortreten.50 Einen gleichnamigen Essay verfasste Aichinger im Jahr 1974.51 Das Gedicht Danach besteht aus zwei nahezu gleich langen Teilen. Da die Anfangsverse des ersten „Hinausgehen" und die des zweiten „Heraus• finden" einander in ihrer Bewegung zu entsprechen scheinen, wirkt die Zweiteilung ganz symmetrisch. Der Infinitiv „Hinausgehen" klingt wie eine Selbstermunterung oder ein Apell. Es erscheint aber kein Subjekt, wel­ ches diesem Apell nachkommen könnte. Es wird nur aufgerufen, „auf den Flecken" hinauszugehen. Das Wort „Fleck( en)" ist semantisch nicht eindeu­ 52 tig bestimmt. Einerseits kann es Schmutz bedeuten wie „Milchflecken" . Andererseits bedeutet es „ort, platz, stelle"53. Der Ort wird hier nur mit einem akustischen Prädikat, „still", markiert. Räumlich soll der Ort „unter [der] Sonne" liegen. Die Sonne, die man normalerweise in Verbindung mit Visuellem versteht, ist hier ebenfalls akustisch gekennzeichnet: Sie hört

heute auf, zu 11 lärmen", mit dem „alte[n] Geprahle". Aufgrund des Zeilen­ bruchs erscheint das hervorgehobene Zeitadverb „heute" aufschlussreich. Der erste Teil des Gedichts konstatiert, dass der Fleck(en) heute nicht mehr lärmend ist. Gerade eine solche Feststellung weist deutlich auf seinen ge­ genteiligen Zustand in der Vergangenheit hin. Der zweite Teil beginnt mit dem Infinitiv „Herausfinden", der im Zentrum dieses Gedichts steht und stark betont ist. Die folgende neunte Zeile wiederholt dieses Wort; allein um diesen wiederholenden Einschub ist die zweite Gedichthälfte länger als die erste. Das Suchobjekt ist ein Ort, der einst das Ziel der Bewegung jener war, „die hinrannten". Der folgende Relativsatz erklärt sie näher. Das Ortsadverb „hier" wird durch den Zeilenbruch hervorgehoben und entspricht damit der Zeile 5, die die gleiche Struktur aufweist. Darauf folgt die merkwürdige Attributkombina­ tion „verwegen und leise". Nach Wild spielt die Konjunktion „und" bei Aichinger eine spezielle Rolle. Sie gilt für ihre Dichtung als „ein Schlüs• selwort", wie die Beispiele der letzten drei Gedichte im Band zeigen, die mit dieser Konjunktion beginnen: „ Eine Konjunktion, unterscheidend und

49 Wetzel (wie Anm. 25), S. 813. 50 Aichinger verwendet die lautliche Qualität als Chiffre zu ihrem Gedicht. Markus (wie Anm. 37), S. 100. 51 Ilse Aichinger: Flecken, in: Dies.: Werke. Bd. 4, Schlechte Wörter, S. 15-18. 52 Ebd., S. 16. 53 Deutsches Wörterbuch v. Jakob und . Bd. 3, München (DTV) 1984, S. 1741.

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verbindlich, die eine Haltung formuliert"54. Bei diesem Gedicht sind also „ verwegen" und „leise" unterschieden und trotzdem verbunden. Das Adjektiv „ verwegen" bedeutet ursprünglich „entschlossenheit, muth, to­ desverachtung"55. Mit denjenigen, die hier schnell entschlossen und leise hinrannten, könnten natürlich die Toten, nicht zuletzt die ,Frühverstorbe• nen', gemeint sein. In den letzten Zeilen werden diese aus einer anderen Perspektive enigmatisch paraphrasiert: „in welchen Gestalten, / Chören, Verfänglichkeiten / sie unauffindbar sind". Auffällig wandelt sich das Tempus wieder zum Präsens. Es geht nicht um die Möglichkeit, sondern um eine Unmöglichkeit: Es geht darum, herauszufinden, wie und wo sie „unauffindbar" sind. Die Aneinanderreihung dreier Substantive zur nähe• ren Bestimmung jener, „die hinrannten", „Gestalten, Chören, Verfänglich• keiten", könnte, zumal zusätzlich unterstützt durch die Steigerung der Silbenzahl, eine Klimax schaffen. „Gestalten" bezieht sich dabei auf eine visuelle und „Chören" auf eine akustisch wahrnehmbare Formation. Beim Weiterlesen stolpert man unweigerlich über das Wort „Verfänglichkeiten", das in diesem schlichten Gedicht mit seinen fünf Silben höchst auffällig ist. „Verfänglichkeit" bedeutet Gefahr oder Verwicklung und mag nicht zuletzt auch eine sexuelle Konnotation enthalten.56 Weil dieses Wort im alltäglichen Leben selten benutzt wird, drängt sich der Bezug zu einer verwandten Formulierung in Eichs Heidegger-Gedicht auf. Dessen erste Strophe lautete:

In der Frühe die zerlesenen Blätter aufeinandergelegt, unverfänglich, verborgen die Farbe von Lampenlicht, verborgen das Feuer, aufgehoben für später. [Hervorhebung Verf.] 57

Wie erwähnt, finden sich in dieser Strophe mehrere Heidegger-Wörter. Das fragliche Adjektiv „verfänglich" erscheint hier beim Beschreiben „der zerlese­ nen Blätter" des Reclam-Bandes Friedrich Hölderlins als Negation: „unver• fänglich". Nach Kühn ist der textgenetischen Lektüre der Manuskripte zu ent­ nehmen, dass Eich mit der wiederholten Rückkehr zum Adjektiv „ unverfäng-

54 Wild (wie Anm. 39), S. 111. 55 Deutsches Wörterbuch v. Jakob und Wilhelm Grimm. Bd. 25, S. 2155. 56 Ebd., S. 308f. 57 Günter Eich: Altes Buch, in: Martin Heidegger zum siebzigsten Geburtstag (wie Anm. 36), s. 301.

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lieh" die endgültige Fassung elaborierte.58 Auf der akustischen Ebene des Ge­ dichts fällt die nicht weniger elaborierte Lautstruktur der nachfolgenden Verse auf, durch welche die Vokalfolge „e-o" sowie der Anlaut „v" bzw. der exponierte Umlaut „ä" deutlich hervorgehoben werden. Im unmittelbaren Anschluss an „unverfänglich" wird das Präfix „ver-" zweimal wiederholt („ verborgen"), unterbrochen durch einen mit „ von" einsetzenden Vers. „Ver• borgen" findet eine lautliche Entsprechung im Schlussvers („aufgehoben"), „ verfänglich" eine ebensolche in „später". Es scheint nicht verfehlt, Korres­ pondenzen zwischen den hier betrachteten Gedichten von Eich und Aichinger anzunehmen. So wird das Verbum „aufheben" von beiden verwendet: Wäh• rend aber Eich das Wort als Partizip Perfekt gebraucht („aufgehoben"), steht es bei Aichinger in einer komplexen Ableitung als Adverb („unaufhebbar"), das im Suffix zugleich eine potentielle Möglichkeit anführt, um diese im Prä• fix prinzipiell wiederum zu negieren. Die Untersuchung auffälliger Kontraste in den verschiedenen textgenetischen Stufen hilft bei der Auslegung des Ge­ dichts von Aichinger. Das Adverb „unaufhebbar" in Versuch entspricht struk­ turell wie klanglich „ unauffindbar" in Danach. Aichinger meinte einmal zu ihrer schriftstellerischen Partnerschaft mit Günter Eich: „Wir haben so ver­ schieden geschrieben und zugleich waren unsere Gedanken oft so ähnlich".59 Als hätte sie das Gedicht ihres Ehemanns aus anderer Perspektive neu formu­ liert, zeigen die beiden Gedichte Unterschiede und zugleich Verwandt­ schaft.60 Das Gedicht Versuch (für Georg Trakl) entstand erst in den späteren 70er Jahren. Man könnte es also für eine Weiterentwicklung ihres Heidegger-Ge­ dichts von 1959 halten. Wieso gab die Lyrikerin ihrem neuen Gedicht den glei­ chen Titel, der ursprünglich Günter Eichs lyrische Auseinandersetzung mit der Philosophie Heideggers bezeichnet hatte? Ebenso wie sich aus dem Radio­ Essay Georg Trakl aus den 50er Jahren der spätere Essay Der geheime Leonce entwickelte, dokumentiert das Gedicht Versuch die Heidegger- (und Eich-) Er­ fahrungen Aichingers und stellt somit gewissermaßen eine Vorstufe zu Da­ nach dar. Die wiederholten Wörter in den Gedichten sind Spuren ihrer Ge­ spräche mit ihnen. Zieht man dies in Betracht, wird man doch nicht ausschlie­ ßen wollen, dass Aichinger in ihren Werken auch auf die berühmte Trakl-Lek­ türe Heideggers im Jahr 1953 reagiert hat. Gerade die Verwendung des Wortes

58 Kühn: „Das alte Buch" (wie Anm. 38), S. 169. 59 Wild (wie Anm. 39), S. 103. 60 Über die poetische Differenz und Korrespondenz zwischen Eich und Aichinger vgl. Ruth Vogel-Klein: „Jeanne d' Are, Rouen, Kurzes Schlaflied. Lyrische Korrespondenz zwischen Günter Eich und Ilse Aichinger", in: Ilse Aichinger - Misstrauen als Engagement? Hrsg. In­ geborg Rabenstein-Michel, Francois Retif und Erika Tunner. Würzburg (Königshausen & Neumann) 2009, S. 161-171.

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„Verfänglichkeiten", welches das immer wieder von Aichinger thematisierte Präfix „ver-" enthält,61 könnte eine Antwort darauf sein.62 Im Trakl-Aufsatz geht es Heidegger durchaus darum, den Ort des Gedichts zu erklären. In sei­ ner Vorrede argumentiert er, es gehe um „ein einziges Gedicht" des großen Dichters, das ungesprochen bleibt und trotzdem in allen seinen Dichtungen zu vernehmen ist. Das Ziel seiner „Erörterung" sei es deshalb, dieses einzige 63 Gedicht, d. h. „den Ort des ungesprochenen Gedichtes zu weisen" . Zu ei­ nem Ort zu gehen: Eben darin folgt Aichingers Gedicht heimlich dem Ansatz Heideggers. 64 „Hinausgehen /auf den Flecken", dieser Ort bleibt stumm, während er in der Vergangenheit ,lärmerfüllt' gewesen zu sein scheint. Dort-

61 Vgl. Ilse Aichinger: Schnee, in: Kleist, Moos, Fasane (wie Anm. 1), S. 113f. 62 Aichingers „nachhaltige[ ... ] Konzentration auf ,existenzialistisches' Denken" ist weit­ gehend bekannt. Walter Kühn: „Ein weiblicher Heidegger. Ilse Aichinger im literarisch­ philosophischen Leben der fünfziger Jahre", in: Berliner Hefte Nr. 9, 2010, S. 55-68, hier S. 55. Zur Auseinandersetzung Aichingers mit der Philosophie Heideggers liegen be­ reits mehrere Untersuchungen vor. Wild weist darauf hin, dass der Radio-Essay über Adalbert Stifter parallel zur Erwähnung von Bunte Steine durch Heidegger bei der Hei­ delberger Akademie der Wissenschaften des Jahres 1957 zu lesen ist. Wild (wie Anm. 39), S. 109 Anm. 30. Hane vermutet eine inhaltliche Korrespondenz zwischen Heide­ ggers Das Wesen der Sprache und Aichingers Erzählung Die Schwestern Jouet. Reika Hane: „Aichingers Kannibalen. Die Erschaffung der Welt durch Sprache in Die Schwes­ tern ]ouet - Genesis, kolonialer Diskurs, das Wesen der Sprache (Heidegger)", in: Ab­ sprung zur Weiterbesinnung (wie Anm. 6), S. 113-134. Pajevic versucht das Misstrauen Aichingers am technischen Weltbild stellenweise unter dem Einfluss der Bremer Rede Heideggers zu sehen. Marko Pajevic: „Am Rand. Misstrauen als Engagement in der Poetik Ilse Aichingers", in: Ilse Aichinger - Misstrauen als Engagement? (wie Anm. 60), S. 37-52. Abgesehen von ihrer Einschätzung der Philosophie Heideggers ist es plausi­ bel, dass auch sie in den 50er Jahren etwas davon beeinflusst wurde. Die Trakl-Rezep­ tion in den 50er Jahren wurde maßgeblich geprägt durch die Trakl-Lektüre Heideggers. Gerade im Jahr 1957, als Aichingers Radio-Essay ausgestrahlt wurde, veröffentlichte Otto Basil zum 70. Geburtstag Trakls einen kleinen Artikel in dem Wiener Tagblatt Neues Österreich. Dort erwähnt auch er entsprechend dem ,authentischen' Dichter-Ver­ ständnis des Brenner-Kreises den Namen Heidegger. Ferner findet sich dort ein Bei­ wort für den Dichter: „frühvollendet". Das kann auf den Radio-Essay Aichinsers hin­ weisen [Otto Basil: „Der Abgesandte Friedrich Hölderlins", in: Neues Osterreich (2.2.1957)]. So wie Paul Celan bei seiner lebenslangen Trakl-Rezeption immer Heid­ egger und den Brenner-Kreis berücksichtigte, wurden die Gedichte Trakls in der Nach­ kriegszeit wieder unter starker Verknüpfung mit dem Aufsatz Heideggers beleuchtet. Aichinger begegnete ihm im Jahr 1953, als Heideggers Trakl-Aufsatz im Merkur er­ schien. Dass seine poetologischen Überlegungen, die später unter dem Titel Unterwegs zur Sprache in einem Band herausgegeben wurden, großen Einfluss auf Nachkriegslyri­ kerinnen wie Celan, Bachmann, Kaschnitz, Krolow u. v. m. ausübten, gilt heutzutage als allgemeine Tatsache. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass Aichinger bei ihrer mehrmaligen Beschäftigung mit den Gedichten Trakls auf irgendeine Weise auch die Interpretation Heideggers thematisierte. 63 Heidegger: Die Sprache im Gedicht (wie Anm. 19), S. 37ff. 64 Der philosophische Dialog mit Heidegger in ihrem Gedicht Versuch gibt Grund zu der Annahme, dass man das Gleiche hier auch in ihrem Trakl-Gedicht finden kann. Vgl. Kühn: „Ein weiblicher Heidegger" (wie Anm. 62), S. 64ff.; Wild (wie Anm. 39), S. 110.

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hin zu gehen und „jetzt heraus[zu]finden", wohin die gingen, die hier früher „ verwegen und leise" waren, und in welchen „Gestalten, Chören, Verfänglich• keiten" sie heute und jetzt unauffindbar sind. Aichingers Konklusion steht ex­ plizit im Gegensatz zu Heidegger, der abseits des wirklichen Lebens den tran­ szendentalen Ort suchte. Ihre Entschlossenheit, den Ort aufzusuchen, setzt al­ lerdings die Unauffindbarkeit voraus, wie sie einmal im selben Jahr 1977 for­ mulierte, in dem auch dieses Gedicht entstand: „Sich immer wieder klären, daß man nicht sucht, um zu finden."65

5. ZUM SCHLUSS

Im Jahr 1993 beantwortete Aichinger einen Fragebogen der Frankfurter Allge­ meinen Zeitung. Dort findet man erstaunlicherweise erneut an exponierter Stelle auch den Namen Trakl: Ihre Lieblingsheldinnen in der Wirklichkeit? Die gescheiterten Angehörigen von Genies, ihre Lastträger, Margare­ the Trakl etwa. [. „] Ihr Lieblingslyriker? Georg Trakl. 66

36 Jahre zuvor hatte sie im Radio-Essay geschrieben:

Häufig gibt es in den Familien von Künstlern solche Lastträger, Söhne, Ge­ schwister, Eltern, die geheimnisvoll heimgesucht Schwermut, Unruhe, Furcht mittragen ohne im Ausdruck Erlösung dafür zu finden.67

Es ist dieselbe Antwort, die die Schriftstellerin im Essay wie im Fragebogen erteilt. Auch hier zögert sie nicht, die „Schwester" in den Gedichten Trakls mit der realen Margarethe zu identifizieren. Vielmehr gedenkt sie Trakls immer in einem Zug mit seiner Schwester. War der Schreibfehler im Radio-Essay vor­ sätzlich? Was Aichinger an Trakl interessiert hat, mag eben dieses spezifische Geschwisterverhältnis sein. Ein anderer Radio-Essay der eingangs angeführ• ten Sendereihe galt den Geschwistern Scholl, von deren Widerstand gegen die Nazi-Herrschaft ihr ursprünglicher Impuls zum Schreiben inspiriert war.68

65 Aichinger: Aufzeichnungen 1950-1985 (wie Anm. 1), S. 84. 66 Ilse Aichinger: Fragebogen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 1993, in: Dies.: Es muss gar nichts bleiben. Interviews 1952-2005. Hrsg. v. Simone Fässler. Wien (Edition Korrespondenzen) 2011, S. 80-84, hier S. 80ff. 67 Aichinger: Georg Trakl (wie Anm. 6), S. 19. 68 Vgl. Christine Ivanovic: Ilse Aichinger in Ulm. Spuren 93. Marbach (DLA) 2011.

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Auch Stifters Novelle Bergkristall, in der Geschwister auftreten, thematisierte sie im anderen Radio-Essay.69 Nicht übersehen werden darf dabei die Zwil­ lingsschwester der Schriftstellerin, Helga Michie. Das Geschwister-Modell, das sowohl biologisch als auch poetologisch von essentieller Bedeutung für Aichinger ist, kehrt in ihren Werken immer wieder. „Der Inbegriff des Ge­ schwisterlichen" fungiert in ihren literarischen Werken als „komplementäre• und dadurch produktive wirkende - Gegensätzlichkeit".70 Dass von zwei einander gegenübergestellten Dingen oder Phänomenen immer eines das andere erinnern läßt, kann als prinzipielles strukturelles Merkmal der Werke beider, Helga Michie wie Ilse Aichinger, gelten.71 Was Aichinger bei Trakl ständig gesehen hat, ist gerade diese Strategie der ,Gegensätzlichkeit', die ein Paar trennen und trotzdem zugleich verbinden kann. Im Vergleich mit anderen Lyrikerinnen wie Paul Celan, der sich intensiv mit der Schreibtechnik Trakls auseinandersetzte, 72 sind stilistische Spuren bei Aichinger weniger häufig zu finden. In ihrem Radio-Essay gab es, wie ange­ sprochen, mehrere Zitate aus Briefen. Stets hat Aichinger das Leben und das Schicksal dieses jung verstorbenen Dichters betrachtet. Der Radio-Essay im Jahr 1957, die Preisrede im Jahr 1979, der Fragebogen im Jahr 1993 - diele­ benslange Fortsetzung ihrer Trakl-Rezeption evoziert wiederholt das Ge­ schwister-Modell, das an allen entscheidenden Stellen, heimlich, „die heute undurchschaubare Strategie der Liebe" entwirft.

69 Ilse Aichinger: Über Adalbert Stifter. Rundfunkfeuilleton 1957, in: Text+ Kritik. Ilse Aichinger, H. 175. Juli 2007, S. 42-48. Aichinger behandelte später diesen Autor wieder. Ilse Aichin­ ger: Weiterlesen. Zu Adalbert Stifter, in: Kleist, Moos, Fasane (wie Anm. 1), S. 93-97. 70 Sugi Shindo: „Zusammenklirrende Leben - zusammenklirrende Werke. Gegenreflexionen in den Werken von Ilse Aichinger und Helga Michie", in: Wort-Anker Werfen (wie Anm. 22), S. 45-55, hier S. 48. 71 Ebd., S. 46. 72 Vgl. Bernhard Böschenstein: „Celan als Leser Trakls", in: Von Morgen nach Abend. Filiatio­ nen der Dichtung von Hölderlin zu Celan. Paderborn (Finck) 2006, S. 278-292.

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