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Walter Auerbach

Sozialpolitik aus dem Exil

Dem Fachbereich Geisteswissenschaften

der Universität Duisburg – Essen

zur Erlangung des akademischen Grades

Dr. phil.

vorgelegte Dissertation

von

Ellen Babendreyer

Hamburg

Erstgutachter: Professor Dr. Peter Alter, Universität Duisburg – Essen

Zweitgutachterin: Professor Dr. Margit Szöllösi-Janze, Universität zu Köln

Disputation: 30. Mai 2007 2

Vita Walter Auerbach

22. Juli 1905 geboren in

1924 Abitur an der Oberrealschule am Holstentor in Hamburg

1924-1929 Studium Geschichte, Germanistik, Soziologie und Zeitungswissenschaft an den Universitäten Hamburg, Freiburg/Breisgau und Köln

1926 Eintritt in die SPD

1929 Promotion (Dr. phil.) an der Universität zu Köln in Zeitungswissenschaft zum Thema Presse und Gruppenbewußtsein. Vorarbeit zur Geschichte der Arbeiterpresse (Titel offiziell nach Publikation 1931)

Juni 1929 Heirat mit Käte Paulsen

1930-1933 Wissenschaftlicher Mitarbeiter und ab 1932 Sekretär des Vorsitzenden des Gesamtverbandes der Arbeitnehmer der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs in

Mai 1933 Emigration in die Niederlande

Redakteur und wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF)

August 1933 Geburt von Tochter Leonore, genannt Lore

März 1939 Geburt von Tochter Irene

Oktober 1939 Emigration nach Großbritannien

Fortsetzung der Tätigkeit bei der ITF

Oktober 1946 Remigration

1946-1948 Zentralamt für Arbeit in Lemgo (der Manpower Division der Britischen Militärregierung unterstellt) 3

1947-1972 Sozialpolitischer Ausschuss beim SPD- Parteivorstand, unter anderem Arbeitsgruppe zur Erstellung eines Sozialplanes für Deutschland

1948-1969 Beamteter Staatssekretär im Arbeits- und Sozialministerium in Hannover unter den Ministern , , und Kurt Partzsch

Ständiger Landesvertreter im Bundesrat

(Einstweiliger Ruhestand unter der Regierung Hellwege von Juni 1955 bis November 1957)

1953-1958 Beirat des Bundesarbeitsministeriums für die Neuordnung der sozialen Leistungen (Ausschuss für Grundsatzfragen)

1953-1967 Soziale Studienkommission des DGB- Bundesvorstands

1968-1974 Sozialpolitischer Beraterkreis des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften

1969-1971 Beamteter Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales in unter Minister

1971-1975 Vorsitzender der Sachverständigenkommission des Bundesarbeitsministeriums für die Erstellung des Ersten Sozialgesetzbuches

23. März 1975 Tod durch Herzinfarkt

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1

2

1 Privatsammlung Lore Auerbach: Walter Auerbach: Foto zwischen 1933 und 1939. 2 Ebd.: Walter Auerbach: Foto 1967. 5

Inhaltsverzeichnis

Vorwort 7

1 Einleitung 11

2 Herkunft, Jugend, frühe Tätigkeit 27

3 Emigration in die Niederlande 57 3.1 Rassisch und politisch Verfolgte fliehen gen Westen 57

3.2 Gewerkschaftsarbeit in 60

3.3 Walter Auerbach und die ITF 66

3.4 Im Widerstand gegen den NS-Staat 77

3.5 Arbeiterwiderstand in der Vorkriegszeit 93

4 Emigration nach England 112 4.1 Erneute Fluchtbewegung mit Kriegsbeginn 112

4.2 Walter Auerbach und die ITF 146

4.3 The Next , eine Antwort auf Vansittarts Thesen 175

4.4 Emigranten und die britische Reeducationpolitik 192

4.5 Kriegsende 1945: Das politische Exil auf dem Sprung 202

5 Remigration 228

5.1 Deutschland nach dem Zusammenbruch des NS-Systems 228

5.2 Manpower Division/Zentralamt für Arbeit 242

5.3 Ein Vierteljahrhundert Sozialpolitik in Praxis und Theorie 259

6 Walter Auerbach und die Familie 282

Exkurs 291 6

7 Schlussbetrachtung 298

8 Anhang 302

8.1 Archivarische Quellen 302

8.2 Gedruckte Quellen 303

8.2.1 Berichte 303

8.2.2 Nachschlagewerke 308

8.2.3 Zeitungen 309

8.3 Zeitzeugen 310

8.4 Literatur 310

8.5 Abkürzungen 323

7

Vorwort

»Nichts ist in der Emigration so wichtig, als niemals die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Wer dabei mithilft, hilft zugleich sich selbst und der ganzen deutschen Emigration.« 3 Der politische Emigrant Walter Auerbach (1905-1975) 4 verkörperte diesen Prototypen. Sein nie ermüdender Kampf gegen die NS- Diktatur und deren Unterdrückung elementarster Menschenrechte bewies Selbstkontrolle, Ausdauer und Disziplin. Akribische Beobachtung der Geschehnisse im Deutschen Reich war die Grundlage seiner gewerkschaftspolitischen, publizistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit bei der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF) unter dem niederländischen Generalsekretär Edo Fimmen 5 in den Jahren 1933 bis 1946, zunächst in den Niederlanden und nach Kriegsbeginn in England: »Emigration ist nicht Schicksal, sondern Aufgabe.« 6 Den Schritt ins Exil begleiteten politische Zwänge, die Rückkehr ins zerstörte Deutschland beruhte auf Freiwilligkeit. Aufgabe war beides. Remigration bedeutete für viele, auch für den Protagonisten dieser Studie, wieder ein Leben als Fremder unter Fremden, eine erneute Emigration. Doch »Exilium vita est!« 7 Diese Lebensphilosophie hinterließ Victor Hugo, Verfolgter unter dem Regime von Napoleon III., nach beinahe zwei Jahrzehnten Exil (1852-1870) auf der Kanalinsel . Auch er erlebte die

3 Franck, Wolf: Führer durch die deutsche Emigration, Paris 1935, S. 6. 4 Privatsammlung Lore Auerbach: Nachtrag zur Geburtsurkunde Nr. 424 vom 28. Juli 1905: »Hamburg am 13. November 1926. Durch Beschluß der Senatskommission für die Justizverwaltung zu Hamburg vom 30. September 1926 der nebenbezeichnete Siegmund Selig Auerbach fernerhin den weiteren Vornamen Walter an erster Stelle zu führen.« Fortan tauchte in allen Schriftstücken Auerbachs nur noch der Vorname Walter auf, mit Ausnahme offizieller Dokumente. 5 Edo Fimmen (1881-1942), 1915-1919 Generalsekretär des niederländischen Gewerkschaftsbundes, 1919-1923 Sekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) und 1923-1942 Generalsekretär der Internationalen Transportarbeiterföderation (ITF). »Tatsächlich wurde Fimmen mit seiner ITF zur Hoffnung und Stütze vieler Widerstandskämpfer, die sich von Hitler verfolgt, von Moskau bedroht und von den westlichen Demokratien im Stich gelassen fühlten«, in: Edmund Jacoby (Hrsg.): Lexikon linker Leitfiguren, Frankfurt/M./Wien 1989, S. 119 ff. 6 Kantorowicz, Alfred, zit. nach Wolf Franck: Führer durch die deutsche Emigration, Paris 1935, S. 57. 7 Molinari, Danielle: Exilium vita est, in: Paris Musées (Hrsg.): Exilium vita est. Victor Hugo à Guernesey. Ausstellungskatalog, Paris 2002, S. 11: »L’inscription latine, gravée dans le bois, couronne la porte de la salle à manger d’ Hauteville House . La présence de cette maxime dans un lieu de vie, auquel la cheminée apporte chaleur et lumière, favorise la traduction la plus ardente, à savoir: ‘L’exile, c’est la vie’.« 8

Schattenseiten: »L’Exil, c’est la nudité du droit.«8 Der Alltag bedeutete für Victor Hugo wie für Walter Auerbach: »Songer, penser, souffrir.« 9

Auerbachs Lebensumstände waren weder im Exil noch im Nachkriegsdeutschland repräsentativ für die jeweilige Epoche. Atypisch war bereits die Tatsache, dass ihn die Emigration nicht ins Bodenlose, in eine Phase der Orientierungslosigkeit stürzte. Bei der ITF in Amsterdam traf er auf gleichgesinnte Gewerkschafter und Kampfgefährten. Nach wenigen Tagen verfügte der Zeitungswissenschaftler Auerbach über einen Arbeitsplatz als Redakteur, verfasste Artikel und Flugblätter in der Muttersprache und hatte ein gesichertes, wenn auch niedriges monatliches Einkommen, Privilegien, die nur wenige Emigranten kannten. Die materiellen Konditionen erschienen geradezu perfekt, die immateriellen teilte Auerbach mit vielen anderen Flüchtlingen. Er betäubte seine Entwurzelung mit Workaholismus und Eskapismus, andere verfielen in Nichtstun und Depression, wieder andere wanderten ruhelos von einem ins nächste Land, oft unfreiwillig. Im englischen Exil der Jahre 1939 bis 1946 entstanden durch Walter Auerbachs Kontakte zu führenden Labour- Politikern, zum sozialdemokratischen Exil-Vorstand und zu englischen wie deutschen Gewerkschaftern wie absichtslos Netzwerke, die seine Mitwirkung am demokratischen Neubeginn in Deutschland nach dem Kollaps der nationalsozialistischen Terrorherrschaft begünstigten. Das englische Modell einer funktionierenden demokratischen Gesellschaft lieferte die Richtlinien für sein späteres politisches Handeln.

Engagement für unterprivilegierte Schichten, für sozial Schwache zeigte der Gewerkschafter und Sozialdemokrat Auerbach seit seiner Studienzeit bis über seine Pensionierung hinaus. Er zählte im Nachkriegsdeutschland zu den profiliertesten Theoretikern und Praktikern beim Aufbau eines neuen Sozialsystems, zunächst im Zentralamt für Arbeit (Manpower Division) in Lemgo, später als Staatssekretär in den Arbeits- und Sozialministerien in Hannover und Bonn und zugleich als sozialpolitischer Experte in Gremien der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

Walter Auerbachs Nachlass, 56,8 laufende Meter, liegt seit seinem Tod unbeachtet im Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-

8 Hugo, Victor: Ce Que C’Est Que L’Exile, La Rochelle 1998, S. 64. 9 Ebd., S. 48. 9

Stiftung (FES) in Bonn. 10 Ihn aus dieser Anonymität zu befreien und seine Verdienste in der Emigration und im Nachkriegsdeutschland einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, dient diese Studie. Über zahlreiche Persönlichkeiten, die im Exil mit Auerbach zusammenarbeiteten und im Nachkriegsdeutschland im politischen Rampenlicht standen, publizierten Historiker und Sozialwissenschaftler in den letzten Jahrzehnten umfangreiche Arbeiten. Bekanntester Emigrant und Remigrant war . Er wirkte in den Jahren 1933 bis 1945 in Norwegen und Schweden als Informant und Multiplikator der von der ITF herausgegebenen Publikation Faschismus . Als verantwortlicher Redakteur zeichnete Walter Auerbach unter dem Pseudonym Walter Dirksen, aus Sicherheitsgründen ohne Erwähnung im Impressum. Er leistete mit dieser Tätigkeit politischen Widerstand gegen die Nazi-Diktatur mit Feder 11 und wissenschaftlicher Akribie.

Auerbachs Befindlichkeit und seine Vorbehalte gegenüber der deutschen Nachkriegsgesellschaft zum Zeitpunkt der endgültigen Rückkehr seiner Tochter Irene Auerbach nach England spiegeln Tagebuchnotizen: »Beim Stehempfang fragt mich Frau Diederichs [Ehefrau des seinerzeitigen Ministerpräsidenten von Niedersachsen], weshalb ich nicht beim Schützenfest war. ’Wohl keine Zeit’ … ich bejahe und damit kam ein anderes Thema. Nachher überlege ich: durch die Emigration 1933-1945 bin ich herausgeschnitten. Als ich nach Deutschland zurückkam, nach Jahren, in denen ich zu einer Art Beichtvater und Berater für viele Emigranten vieler Länder wurde, kam ich als Bote aus der Fremde. Ich bin nur wieder in Gesinnungsgemeinschaften wie DGB und SPD verwurzelt. Nur ganz wenige Freunde wurden gewonnen - die meisten halten ängstlich Distanz zum sozialpolitischen ‚Kardinal’. Und zu Theater und Konzert bin ich meist zu abgespannt … Käte [Ehefrau von Walter Auerbach] meint, … Beteiligung am Schützenfest würde als Bekenntnis, als Einverständnis mit dem Schützenspießbürgertum ausgelegt.« 12

Ähnliche Empfindungen beschrieb der Kölner Soziologe René König (1906- 1992): »Ich bin also nicht im eigentlichen Sinne heimgekehrt: dieses Erlebnis hatte ich einzig bei Begegnungen mit Menschen, die wie ich ins Exil gegangen waren und nun hoffnungsvoll in ein neues Deutschland zurückkehrten. Klarer ist

10 AdsD der FES (Hrsg.): Bestandsübersicht, Bonn 1998, S. 17. 11 Fimmen an Auerbach, 6.1.1939 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 13, AdsD). 12 Auerbach: Tagebuch, Bd. 2, 5.7.1967, S. 134 ff. (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 2, AdsD). 10 aber wohl, daß ich als ein anderer Mensch nach Deutschland gekommen bin. Ein anderer Mensch kehrt aber nicht zurück, sondern er geht voran, und er kommt voran und muß sehen, daß er akzeptiert wird. Das geschieht aber nicht ohne Belastungen. Denn die vielen jüdischen Freunde, die ermordet wurden, kann ich nicht vergessen; ich kann bestenfalls unter Vorbehalt verzeihen.« 13

Nach Walter Auerbachs Tod kehrte seine Witwe, Käte 14 Auerbach, wie zuvor schon Tochter Irene 15 nach England zurück. Lore 16 Auerbach hingegen, die ältere der beiden Töchter, machte neben ihrem Beruf als Musiklehrerin in der niedersächsischen Kommunal- und Landespolitik Karriere.

13 König, René: »Unter Vorbehalt verzeihen«, in: Verein EL-DE-Haus Köln (Hrsg.): Unter Vorbehalt. Rückkehr aus der Emigration nach 1945. Ausstellungskatalog, Köln 1997, S. 185. 14 Käte Auerbach, geb. Paulsen (1903-1985). Lehrerausbildung an der Oberschule in Görlitz, anschließend Hauslehrerin in Pommern. Studium Anglistik, Deutsch und Geschichte u.a. in Wien (Recherche für Promotion über Jürg Jenatsch (1596-1639), Graubünder Freiheitsheld), zuletzt in Köln. 1929 Heirat mit dem Kölner Kommilitonen Walter Auerbach. 1933 Emigration in die Niederlande, 1939-1946 England. 1946-1948 Lehrerin an einer Lemgoer Grundschule. Vor 1933 in Berlin und nach der Remigration bis 1969 Engagement in der SPD (Lore Auerbach an Vf.in, 7.3.2002 und Irene Auerbach an Vf.in, 30.8.2003). 15 Irene Auerbach, geb. 1939 in Amsterdam. 1944-1946 Schulbesuch in London (»wo ich meine einzigen positiven Schuljahre erlebte.«), Lemgo und Hannover (»gerade rechtzeitig, daß ich volle neun Jahre ein Mädchengymnasium besuchen konnte, von dem ich lieber nicht viel spreche, weil ich sonst selbst jetzt noch davon träume. Zitat von einer Lehrkraft (1956): Juden mögen in Deutschland oder England oder sonstwo leben, aber gehören tun sie nach Israel.«). Abitur und Studium an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover. »Besuche in England brachten mich zu der Einsicht, daß es besser für mich wäre, dort zu wohnen … Deshalb seit 1965 Stevenage, halberweg zwischen London und Cambridge (naturalisierte Engländerin). 22 Jahre war ich Musikschullehrerin an einer Sekundarschule.« 1989-2004 Sekretärin am Musikwissenschaftlichen Institut am King’s College (Universität London). Übersetzerin für musikalische, ökumenische und grüne Organisationen (Irene Auerbach an Vf.in, 18.12.2005). 16 Dr. Leonore (Lore) Auerbach, geb. 1933 in Amsterdam. Schulbesuch in Bedfordshire, London, Lemgo und Hannover. 1951 Abitur. Studium Pädagogische Hochschule Hannover (Schwerpunkt Musik), 1956-1959 Musikvollstudium und 1975-1981 Studium Kulturwissenschaften (berufsbegleitend). 1972-1991 Ratsfrau in Hildesheim, 1976- 1991 stellvertretende Bürgermeisterin (ehrenamtlich) und 1986-1994 Landtagsabgeordnete (SPD) im von Niedersachsen. Seit 1953 diverse Ehrenämter im kulturellen und politischen Bereich und zahlreiche Veröffentlichungen zu musikpolitischen und musikpädagogischen Themen und Übersetzungsarbeiten. 1994 Ehrenpromotion an der Universität Hildesheim, 2005 Ehrenbürgerin der Stadt Hildesheim (Lore Auerbach an Vf.in, 18.12.2005).

11

1 Einleitung

Diese biographische Studie über Walter Auerbach umfasst schlaglichtartig Ausschnitte aus den Exiljahren 1933 bis 1946 und der Nachkriegszeit. Die einzelnen Fragmente 17 sollen ein Bild seiner Persönlichkeit in Form einer Collage entstehen lassen.

Walter Auerbach, promovierter Zeitungswissenschaftler, Soziologe, Gewerkschafter und Sozialpolitiker, wirkte zeit seines Lebens hinter den Kulissen und genoss in der deutschen und internationalen Fachwelt hohes Ansehen. Bescheidenheit, Zurückhaltung, Askese und eine spartanische Lebensweise zählten zu seinen primären Charakterzügen. 18 Susanne Miller 19 , die seit Londoner Emigrationstagen mit ihm bekannt war, fasste ihre Eindrücke folgendermaßen zusammen: »Mein Gesamteindruck: Walter Auerbach war ein sehr anständiger Mensch. Er war absolut integer. Er hatte Moral und Werte mit Löffeln gefressen.« Ein anderer Kenner der Londoner Szene, der Sozialdemokrat Fritz Heine 20 , hielt Auerbach für einen etwas schwierigen Menschen, »höchst

17 »In Deutschland herrscht eine große Angst vor dem Fragmentarischen«, in: Sander L. Gilman: »Wir wollen jetzt Geschichten erzählen …« Biographik in Deutschland und den USA. Sander L. Gilman im Gespräch mit Christian Klein über seine Jurek-Becker- Biographie, in: Christian Klein (Hrsg.): Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, /Weimar 2002, S. 210. Ein anderer Biographieforscher schreibt: »Auch die Biographen haben eingesehen, daß Vollständigkeit und Endgültigkeit allenfalls anstrebenswerte Ziele, aber letztlich nicht zu verwirklichen sind«, in: Helmut Scheuer: Biographie. Studien zur Funktion und zum Wandel einer literarischen Gattung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart 1979, S. 238. 18 Gespräch Susanne Miller mit der Vf.in, 3.10.2001, in Bonn. 19 Professor Dr. Susanne Miller (geb. 1915), 1938 Emigration nach England. Gehörte zum Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK), Mitarbeiterin und Lebensgefährtin (später Ehefrau) von . 1946 Remigration. Angestellte im SPD-Parteivorstand. 1963 Promotion. 1964-1978 Referentin bei der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn. 1982-1989 Vorsitzende der Historischen Kommission des SPD-Parteivorstandes, in: Dies.: Der Widerstand sozialistischer Exilgruppen gegen den Nationalsozialismus. Informationszentrum Berlin, Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße (Hrsg.), Nr. 25, Berlin 1984 (Anhang). 20 Fritz Heine (1904-2002), ab 1925 Sekretär beim SPD-Parteivorstand in Berlin und später bei der Sozialdemokratischen Partei Deutschland im Exil (SOPADE) in Prag, Paris und London. 1933 Emigration in die Tschechoslowakei, 1938 nach Frankreich, dort Internierung. 1941 über Spanien und Portugal nach England. 1946 Remigration. 1946 bis 1957 Mitglied im SPD-Parteivorstand. 1958 bis 1974 Geschäftsführer des SPD-Presseverbundes, in: Institut für Zeitgeschichte, München, und Research Foundation for Jewish Immigration, New York (Hrsg.), unter der Gesamtleitung von Werner Röder und Herbert A. Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben, München u.a. 1980, S. 280 f. 12 misstrauisch gegenüber allem und höchst skeptisch.«21 So erlebte ihn auch der amerikanische Geheimdienstoffizier Louis A. Wiesner. Er charakterisierte Auerbach zudem als »rather ruthless and very clever« 22 und sehr dominant. Mit Fritz Heine, 23 und Willi Eichler 24 , die nach ihrer Rückkehr aus dem englischen Exil öffentlichkeitswirksame Positionen besetzten, arbeitete Auerbach in den Jahren 1940 bis 1945 an Konzepten für den demokratischen Neubeginn in Politik und Gesellschaft nach dem Sturz der Hitler-Diktatur in Deutschland.

Repräsentanten aus Gewerkschaften und Sozialdemokratie, die bereits in der Weimarer Republik und in der Emigration politisch gestaltend gewirkt hatten, und Persönlichkeiten aus der internationalen Arbeiterbewegung werden in diese Studie einbezogen, soweit sie Auerbachs soziales, politisches und berufliches Umfeld tangierten. Neil Belton betonte in seinem Vorwort zur Biographie Helen Bambers: »Vielmehr muß die Biographie auch von all jenen handeln, die sie [Helen Bamber] prägten … Mitunter wird sich der Bericht also von seiner Hauptperson lösen und den Erlebnissen anderer folgen, um möglichst getreu einzufangen, was sie vernahm.« 25 Auch Auerbach lebte nicht im Vakuum. Er führte mit Freunden und Kontrahenten scharfzüngig und in geschliffener Sprache politische Diskurse, zielgerichtet und hartnäckig orientiert am Kampf gegen den Nationalsozialismus und für eine bessere Zukunft der deutschen und internationalen Arbeiterklasse. Opportunisten verabscheute er zutiefst.

Auerbach gehörte erst nach seiner Remigration im Jahr 1946 zu den gesellschaftlichen und politischen Eliten, denn zu »den Eliten zählen jene

21 Notiz (ohne Datum) aus Londoner Emigrationstagen. Fritz Heine an Vf.in, 13.12.2001. 22 Manpower Div. US Group CC Political Division APO 742, Memorandum of Conversation, March 15, 1945, Participants: Louis A. Wiesner, Walter Auerbach, (Bestand OMGUS, 17/257-2/7, BArch). 23 Erich Ollenhauer (1901-1963), Parteifunktionär, Politiker. Seit 1933 Mitglied im Parteivorstand der SPD/SOPADE. 1933 Emigration in die Tschechoslowakei, 1938 nach Frankreich. 1940 Flucht über Spanien und Portugal. 1941 England. 1946 Remigration. Mitglied des Parlamentarischen Rates, ab 1949 Mitglied des Deutschen Bundestages. 1952 Partei- und Fraktionsvorsitzender, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 540 f. 24 Willi Eichler (1896-1971), 1923-1927 Privatsekretär von Professor Leonard Nelson. Nach dessen Tod 1927 Vorsitzender des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes. 1933 Emigration nach Frankreich und 1939 über Luxemburg nach England. 1946 Remigration. Mitglied im SPD-Parteivorstand und einer der richtungsweisenden Verfasser des Godesberger Programms der Partei, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 148. 25 Belton, Neil: Die Ohrenzeugin. Helen Bamber. Ein Leben gegen die Gewalt, Frankfurt/M. 2003, S. 10. 13

Menschen, die durch besondere Fähigkeiten Anerkennung und damit verbundene Vorteile genießen und daher durch Macht, Überzeugungskraft oder als Vorbild Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen nehmen, für die sie deshalb auch verantwortlich sind … Erst die Anerkennung, die die Gemeinschaft verleiht, kann die Zugehörigkeit zu einer Elite bewirken, die daher auch wieder entzogen werden kann.« 26 Sein Engagement in politischen Institutionen und Gremien in beiden Asylländern prädestinierten ihn für Führungspositionen im Nachkriegsdeutschland. Er begann bei seiner Rückkehr nach Deutschland ganz oben in der Verwaltungshierarchie als Vizepräsident des Zentralamtes für Arbeit in Lemgo in der britisch besetzten Zone. Nach dessen Auflösung im November 1948 wurde er von dem damaligen Minister für Arbeit, Aufbau und Soziales des Landes Niedersachsen und späteren Ministerpräsidenten Alfred Kubel (1909- 1999) zum Beamteten Staatssekretär nach Hannover und 1969 von Willy Brandt nach Bonn in das Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter Minister Walter Arendt berufen.

Walter Auerbach war aber nicht nur homo politicus. Sequenzen aus dem Familienalltag 27 mit Ehefrau Käte und den beiden Töchtern Lore und Irene durchziehen diese Arbeit und zeigen den anderen, den privaten Walter Auerbach. Zunehmend »geht man davon aus, dass Leben nicht einfach gelebt wird, sondern etwas Gestaltetes ist. Begriffe wie ‚unmittelbar’ und ‚authentisch’ müssen ergänzt werden durch ‚konstruiert’ und ‚inszeniert’.« 28 Inwieweit die Bezeichnungen »authentisch« auf Verhalten im Privaten und »inszeniert« auf jenes in der Öffentlichkeit angewendet werden können, ist bei der Person Walter Auerbachs kaum zu differenzieren. Die Übergänge erscheinen fließend.

Im Bemühen um Authentizität kommt Walter Auerbach in dieser Studie mit längeren Passagen selbst zu Wort. Drei Tage nach seiner Flucht aus Deutschland verfasste er in Amsterdam ein umfangreiches Dokument 29 ,

26 Markl, Hubert: Wer nicht hören will, muss führen. Anmerkungen eines Biologen zur Elite, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.1.1989. 27 »Ohne Neugier auf lebensgeschichtliche Details und biographische Ausformungen, auf den Kleinkram des Alltäglichen und Individuellen dürfte biographische Forschung nicht gut gedeihen«, in: Werner Fuchs-Heintz: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden, Wiesbaden 2002 2, S. 207. 28 Klein, Christian: Biographik zwischen Theorie und Praxis. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: Ders. (Hrsg.): Grundlagen der Biographik, S. 14. 29 »Bericht W. A. an ITF nach Ankunft in Amsterdam, Randbemerkungen von Jahn!« [handschriftlicher Vermerk von Walter Auerbach auf Seite 1], Amsterdam, 18.5.1933 (9 Seiten) (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 80, AdsD). 14 vermutlich sein Entreebillett 30 in das Generalsekretariat der ITF. Als unmittelbarer Zeuge der Geschehnisse vor und nach dem 30. Januar 1933 berichtete er in kritischer Form über die Tolerierungspolitik von Sozialdemokratie und Gewerkschaften, über die Positionen einzelner ihrer Führungspersönlichkeiten und über interne Entscheidungen in den Gremien seines ehemaligen Arbeitgebers, des Gesamtverbandes der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs (Gesamtverband), 31 bis hin zu dessen Bruch mit der ITF. Zweiunddreißig Jahre später entstand eine siebenseitige Notiz Auerbachs 32 für eine Publikation von Helmut Esters und Hans Pelger 33 über Gewerkschafter im Widerstand 34 , in der Auerbach seine Auffassung über die Unmöglichkeit illegaler Gewerkschaften in Diktaturen präzisierte und die illegale Widerstandsarbeit ehemaliger Gewerkschafter heraushob. In einem historischen Rückblick ging er unter anderem auf die Lage im Jahr 1933 und die Ratlosigkeit führender Gewerkschaftsfunktionäre ein. Dieses Dokument ist Zeugnis eines Beobachters jener Zeit und wird in die Studie einfließen, wie auch längere Passagen aus seiner Korrespondenz und seinen zahlreichen politischen und wissenschaftlichen Publikationen in deutscher und englischer Sprache. Texte von Auerbach und von anderen emigrierten deutschsprachigen Zeitzeugen zeigen gelegentlich Unstimmigkeiten in der deutschen Orthographie, und die Interpunktion lässt bisweilen Parallelen zu den Regeln der englischen Sprache erkennen. 35

Ein Lebensentwurf kann nur in groben Strichen nachgezeichnet werden. Politische und gesellschaftliche Gegebenheiten bedingten persönliche und berufliche Entscheidungen bereits nach dem Universitätsstudium Ende der 1920er Jahre. Psychologie, Biographie- und Familienforschung gehen davon aus, dass prägnante Kindheitserfahrungen die Schablonen für die spätere Persönlichkeitsentwicklung darstellen. Der Soziologe Heinz Bude fasst diesen

30 In Anlehnung an Heinrich Heine (1797-1856): Heine versprach sich von der christlichen Taufe sein Entreebillett zur europäischen Kultur. 31 Bei der Neugründung der Gewerkschaften nach 1945: Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), seit 1.7.2001 Teil der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di). 32 Auerbach: Illegale Gewerkschaften kann es in totalen Diktaturen nicht geben, Hannover, 29.5.1965 (Bestand ITF, Mappe 88, AdsD). 33 Gespräch Hans Pelger [seinerzeit Leiter des Karl-Marx-Hauses in Trier] mit der Vf.in, 21.3.2002, in Bonn: »Er [Walter Auerbach] gehörte aber zu dem Kreis jener, die nicht allzuviel über diese Dinge erforscht wissen wollten.« 34 Esters, Helmut/Hans Pelger/Alexandra Schlingensiepen: Gewerkschafter im Widerstand, Bonn 1983 2. 35 In diesen Fällen wird auf den Zusatz [sic!] verzichtet, auch bei Irrtümern in Zitaten von nichtdeutschen Muttersprachlern (Edo Fimmen u.a.). 15

Prozess in wenigen Worten zusammen: »Die im Laufe des Lebens gesammelten Erlebnisse summieren sich nicht einfach, sondern organisieren sich immer wieder neu in Bezug auf einen tief verankerten biographischen Ausgangspunkt.« 36

Im Fall Walter Auerbachs existieren nur wenige Quellen über Kindheit und Jugend. Er selbst hatte über seine Herkunft gegenüber Ehefrau und Töchtern einen Schleier des Schweigens ausgebreitet. 37 »Über seine orthodox jüdische Kindheit + Jugend war er [der Vater] praktisch nicht bereit zu sprechen. Das tat mir damals wie heute leid, aber es wäre mir nie in den Sinn gekommen, ihn zu drängeln - um des Familienfriedens willen und auch, weil ich sein Recht, nicht zu reden, schon von klein auf respektierte,« 38 schrieb Tochter Irene Auerbach im Jahr 2002. Folgerichtige Entwicklungslinien sind aus psychologischer und soziologischer Sicht kaum nachvollziehbar. Rückschlüsse aus späteren Perioden seines Lebens auf familiengeschichtliche Ereignisse, auf Verletzungen in der Kindheit und darauf basierende Verhaltensmuster könnten nur Mutmaßungen sein und finden daher kaum Berücksichtigung.

Dennoch bietet das Kapitel »Herkunft, Jugend, frühe Tätigkeit« einige Skizzen zum Beziehungsgeflecht innerhalb der Herkunftsfamilie, zu den frühen Brüchen in der Biographie Auerbachs und zu seinem privaten und beruflichen Weg nach dem Verlassen des Elternhauses bis hin zur Flucht im Mai 1933 in die Niederlande. Schwierig gestaltete sich die Rekonstruktion der Familie von [Siegmund Selig] Walter Auerbach. Das Hamburger Staatsarchiv konnte nur wenige personenbezogene Daten beitragen. Der irreparable Bruch mit den Eltern, Aron und Helene Auerbach, und dem Judentum ist zeitlich nicht gesichert einzuordnen, datierte aber spätestens auf das Jahr 1929. 39 Die wenigen persönlichen Daten zu Walter Auerbach basieren auf mündlichen und schriftlichen Aussagen der Töchter, Lore und Irene Auerbach, die der Verfasserin Kopien von Urkunden, Abschiedsbrief, Testament und Fotos der Eltern überließen. Informationen zur Familiengeschichte der Hamburger Auerbachs beruhen auf schriftlichen Aussagen von Schmuel Auerbach in Beer Sheva, der die Familienforschungen Siegfried Moritz Auerbachs, London, aus den 1950er

36 Bude, Heinz: Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938 bis 1948, Frankfurt/M. 1995, S. 35. 37 Irene Auerbach an Vf.in, 9.11.2002. 38 Ebd. 39 Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, Staatsarchiv, an Vf.in, 1.11.2001. Hierin heißt es unter anderem, dass Walter Auerbach »Hamburg bereits 1929 verließ (Staatsangehörigkeitsaufsicht, B III 101628, Jüdische Gemeinden, 734 und 992 b).« 16

Jahren fortsetzt. Der Kontakt zu Schmuel Auerbach entstand über eine Suchanzeige im Mitteilungsblatt des Irgun Olei Merkas Europa in Tel Aviv. 40

Hypothesen bleiben in dieser Studie als unsichtbare Folie im Hintergrund, auf der das Geschehen und die Geschichte abgebildet werden. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch die gesamte Studie. Subjektiv erlebte Geschichte und objektiv gesicherte Fakten alternieren. Neben Materialien aus Auerbachs und anderen Nachlässen werden mündliche wie schriftliche Äußerungen von Zeitzeugen zitiert, deren individuelle Zeugnisse zu privaten, historischen und politischen Prozessen zuweilen die Perspektive verändern. Doch sie scheinen unverzichtbar als Quelle einer lebendigen Geschichtsschreibung, und sie zeigen die Divergenzen zwischen Selbstbild und Fremdbild auf. Die Wahrnehmung und die individuelle emotionale Verarbeitung im Erleben, Erleiden und Erdulden von Ereignissen in Nazi-Deutschland und im Exil sowie die offene oder latente Ablehnung der Daheimgebliebenen gegenüber den Rückkehrern ins Nachkriegsdeutschland differieren. Walter Auerbach machte dazu nur knappe Aussagen in Briefen und Texten. Er gehörte zu den Persönlichkeiten im zweiten oder dritten Glied, stand nie im Rampenlicht und musste seine Vita nicht hinbiegen. Auf Kommentierung und Interpretation wird weitgehend verzichtet. Über lange Strecken haben Walter Auerbach und andere Zeitgenossen selbst das Wort.

Der Leser wird rasch erkennen, dass weder der Emigrant als Typ existierte, noch der Remigrant. Nicht frühe Entwicklung, Charakter oder familiäres Milieu lenkten Emigranten oder Remigranten in eine bestimmte Richtung. Vielmehr wirkten Zeitumstände, politische, gesellschaftliche und berufliche Umwelt prägend. Politische Emigranten traten in den Aufnahmeländern selten als größere homogene Gruppe in Erscheinung, das politische Exil war zerstritten. Die Differenzen aus den Jahren der Weimarer Republik verschärften sich. Ähnliche Erfahrungen hatten die politischen Emigranten nach der gescheiteren Revolution von 1848 im Londoner Exil gemacht. Negative Auswirkungen auf die Rezeption der politischen Emigranten durch die politischen Entscheidungsträger im Gastland und die Bevölkerung waren die Folge. Dennoch spielte das Umfeld in den Aufnahmeländern, die eigene Integrationsfähigkeit, Engagement und Aktivitäten für eine spätere Rückkehr nach Deutschland eine gravierende Rolle im Leben von rückkehrwilligen Emigranten. Die Remigration der Entwurzelten

40 Mitteilungsblatt des Irgun Olei Merkas Europa, Tel Aviv 69 (2001), S. 15. 17 gestaltete sich oft problematisch. Viele Daheimgebliebene betrachteten sich als die eigentlichen Opfer des Nationalsozialismus und sahen in den Emigranten eher Vaterlandsverräter und Drückeberger denn politisch und rassisch Verfolgte. Und sie bezweifelten den Patriotismus der Rückkehrer. Manche kamen in der Siegermächte, hatten an deren Seite gekämpft, andere hatten aktiven oder passiven Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime geleistet.

Walter Auerbach passte zeit seines Lebens in kein Klischee. Er war letztlich ein Einzelgänger, der außerhalb seiner privaten und beruflichen Sphäre unbekannt blieb. Er »war in erster Linie Wissenschaftler. Seine Position als Beamteter Staatssekretär entsprach der eines Unterstaatssekretärs in England … Walter Auerbach hat die entscheidenden Weichen gestellt für das Sozialgesetzbuch. Er war einer der bedeutendsten Sozialtheoretiker.« 41 So umriss der frühere Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, , Auerbachs Wirken. In den eher proletarischen Kreisen der ITF galt er als intellektueller Außenseiter, als der Doktor, der Vordenker. 42

In einem Nachruf im April 1975 sagte Pater Oswald von Nell-Breuning 43 , der katholische Theologe und Sozialwissenschaftler, über seinen langjährigen Weggefährten bei der Entwicklung konsensfähiger Grundlagen in der bundesdeutschen Sozialpolitik: »Als ein Denker, der mit der Gründlichkeit des Gelehrten arbeitete, alles auf die letzten erkenntnismäßigen und sachlichen Grundlagen zurückführte, die Dinge und die über sie gewonnenen Erkenntnisse in ein übersichtliches und gegliedertes Gesamtbild zusammenfaßte und jedem einzelnen den richtigen Platz anwies, war Auerbach gerüstet, nicht nur das

41 Gespräch Helmut Rohde mit der Vf.in, 6. 9.2001, in Bonn. (Rohde und Auerbach waren einander seit den 1950er Jahren durch ihre Tätigkeit im niedersächsischen Ministerium für Arbeit, Aufbau und Gesundheit in Hannover freundschaftlich verbunden. In der ersten Regierung Brandt 1969 wirkten beide als Staatssekretäre im Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Bonn.) 42 Fimmen an Jahn, 10.9.1936 und 1.12.1937 (Bestand ITF, 159/3/C/a/94 und 159/3/C/a/99, MRC). 43 Professor Dr. Oswald von Nell-Breuning, SJ (1890-1991). Studium: Physik und Mathematik, Theologie, Philosophie, Rechtswissenschaft und autodidaktisch Nationalökonomie. 1911 Eintritt in den Jesuitenorden. 1921 Priesterweihe. 1928 Promotion über »Die Grundzüge der Börsenmoral«. Professor an der Philosophisch- Theologischen Hochschule der Jesuiten St. Georgen in Frankfurt/M. Über 1.800 Publikationen u.a. über Wirtschaftsethik, Wirtschafts- und Sozialordnung, das Verhältnis von Arbeit und Kapital, Mitbestimmung, katholische Soziallehre. Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik, Frankfurt/M. 18 bestehende zu verwalten, sondern immer zugleich weiter vorauszudenken, neues zu planen und sinnvoll in das Alte einzufügen.« 44

Von Nell-Breuning schrieb auch, dass Auerbach immer bereit gewesen sei, seine Meinung in Frage stellen zu lassen und eigene Positionen durchaus überzeugenden Gegenargumenten opferte. Sein Gerechtigkeitssinn und seine Wahrheitsliebe seien unbestechlich gewesen. Keine Nachsicht kannte er allerdings gegenüber Unsachlichkeit und mangelnder Einsatzbereitschaft, »dann konnte er unerbittliche Härte beweisen, die nicht immer recht verstanden wurde.« 45 Walter Arendt, Bundesminister für Arbeit und Soziales, sah in dem Hanseaten Auerbach eine Persönlichkeit, die »seiner Umgebung alle Tugenden eines nicht pervertierten preußischen Beamtentums« vorlebte. »Sein penibler Umgang mit Steuergeldern, sein tiefer Respekt vor Recht und Gesetz, … sein unermüdliches und selbstloses Bemühen um die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeitnehmer, der Schwachen und Hilfsbedürftigen [hat] vieles bewirkt.« 46 Nahm sich der Soziologe Walter Auerbach den großen und dessen »rigide Arbeitsdisziplin, eingebettet in eine asketische Lebensführung« 47 zum Vorbild? Dies bestätigte indirekt Helmut Rohde. Er bezog seine Charakterisierung Auerbachs auf dessen Herkunft: »Es schwangen viele jüdische Empfindungen bei ihm mit. Auch dafür kenne ich Beispiele bei Juden: Konzentration auf die Arbeit, spartanische Lebensweise.«48

Der Lebensweg Auerbachs war von früher Jugend an gekennzeichnet von Brüchen und Abschieden. Die Psychoanalytiker León und Rebeca Grinberg beendeten ihr Werk über Psychoanalyse von Migration und Exil mit dem Satz: »Eines steht fest: Man kehrt nie zurück, man geht immer nur fort.« 49

Emigrations- und Remigrationsforschung ist »weitgehend Elitenforschung: die meisten verfügbaren biographischen Angaben basieren auf der Analyse von

44 Nell-Breuning, Oswald von: In memoriam Walter Auerbach, in: Das Parlament, 12.4.1975. 45 Ebd. 46 Personalakte Walter Auerbach des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in Bonn: Walter Arendt an Käte Auerbach, 27.3.1975 und Gespräch Walter Arendt mit der Vf.in, 4.12.2001, in Bonn. 47 Käsler, Dirk: Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, Frankfurt/M./New York 1995, S. 24 f. 48 Gespräch Helmut Rohde mit der Vf.in, 6. 9.2001, in Bonn. 49 Grinberg, León und Rebeca Grinberg: Psychoanalyse der Migration und des Exils, München/Wien 1990, S. 267. 19 politischen, von künstlerischen und wissenschaftlichen Eliten,« 50 stellte Marita Krauss fest, und Sven Papcke meinte, dieser Themenkomplex verkörpere noch immer ein Sonderthema und sei einem geistigen Abenteuer gleichzusetzen. 51

Als Grundlage von Emigrations- und Remigrationsforschung dienen private und institutionelle Nachlässe, Korrespondenzen mit Entscheidungsträgern in Politik und Gesellschaft, persönlicher Briefwechsel, Autobiographien, Tagebuchaufzeichnungen, familienhistorische Ausarbeitungen, also Hinterlassenschaften eher von den Eliten in Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Literatur als von kleinen Leuten. Erst seit den 1990er Jahren erscheinen vermehrt deren Lebens- und Überlebensgeschichten. Um die Wende zum 21. Jahrhundert vollzog sich ein methodischer Paradigmenwechsel. Exilforschung wird aus biologischen Gründen immer seltener durch Zeitzeugen bestimmt, statt dessen immer häufiger durch deren Nachlässe.

Gedruckte Quellen 52 und Sekundärliteratur zu historischen Hintergründen und zu Emigration und Remigration, aber auch Biographien über und Autobiographien, Erzählungen und Erinnerungen von Emigranten und Remigranten sind neben Archivmaterialien in diese Studie eingeflossen. Eine Datenbank von grundlegender Bedeutung liegt seit dem Beginn der 1980er Jahre mit dem dreibändigen Biographischen Handbuch der deutschsprachigen Emigration (BHB) mit über 8.700 Einzelbiographien von Emigranten vor. 53

Im Frühjahr 1984 entstand die Gesellschaft für Exilforschung e.V. mit derzeit etwa fünfhundert Mitgliedern in Deutschland, mehreren west- und nordeuropäischen Ländern und vereinzelt in außereuropäischen Gebieten. Bereits vor Gründung dieser Gesellschaft erschien im Jahr 1983 das erste

50 Krauss, Marita: Die Rückkehr der »Hitlerfrischler«. Die Rezeption von Exil und Remigration in Deutschland als Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung nach 1945, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997), S. 152. 51 Papcke, Sven: Exil und Remigration als öffentliches Ärgernis. Zur Soziologie eines Tabus, in: Claus Dieter Krohn u.a. (Hrsg.): Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 9: Exil und Remigration, München 1991, S. 14. 52 Krohn, Claus Dieter/Patrik von zur Mühlen/Gerhard Paul/Lutz Winkler (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, 1998 und Heinz Boberach/Patrik von zur Mühlen/Werner Röder/Peter Steinbach (Hrsg.): Quellen zur deutschen politischen Emigration 1933-1945, München u.a. 1994. 53 Institut für Zeitgeschichte, München, und Research Foundation for Jewish Immigration, New York (Hrsg.), unter der Gesamtleitung von Werner Röder und Herbert A. Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1-3, München u.a. 1980-1983 [Bd. 1: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben, München u.a. 1980. Bd. 2 (1 und 2): The Arts, Sciences and Literature, München 1983. Bd. 3: Gesamtsregister, München 1983.] 20

Jahrbuch. 54 Die Halbjahreszeitschrift Exil, 55 im Jahr 1981 von Joachim H. Koch gegründet, wird seit seinem Tod von seiner Witwe, Editha Koch, und Frithjof Trapp von der Universität Hamburg redaktionell betreut.

Untersuchungen über politische Emigranten und Remigranten hatten in der Bundesrepublik vor der deutschen Wiedervereinigung ihren Schwerpunkt im linken Parteienspektrum und dem mit ihm eng verbundenen Gewerkschaftslager. »Es waren jedoch nicht unbedingt die Mitglieder, sondern meist die Führungsgruppen von Parteien emigriert, die folglich das Gros der Rückkehrer stellten. Dies erklärt, warum Remigranten während der [19]40er und [19]50er Jahre beispielsweise über die Hälfte des SPD-Parteivorstandes ausmachten.« 56

Aspekte von Emigration und Remigration werden exemplarisch dargestellt an der Biographie Walter Auerbachs. Sein Nachlass besteht aus zwei Teilen. Der erste umfasst die Periode 1933 bis zur Remigration im Jahr 1946. Der zweite Teil des Archivbestandes dokumentiert den Zeitraum von 1946 bis zu seinem Tod im Jahr 1975. Persönliche Unterlagen über die Zeit vor seiner Flucht in die Niederlande sind im Nachlass im AdsD kaum vorhanden.

Die Dekanatsakten der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln enthalten neben den Promotionsunterlagen aus dem Frühjahr 1929 die universitätsinterne und die Korrespondenz der Kölner Universität mit dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Berlin über die Aberkennung der Doktorwürde Auerbachs als Konsequenz der Ausbürgerung im Mai 1939. Das Archiv der Universität zu Köln verwahrt im Bestand des Instituts für Zeitungskunde auch Schriftwechsel aus den Jahren 1928 und 1929 zwischen dem Institutsleiter, Professor Martin Spahn 57 , und Walter Auerbach. Die Unterlagen über das Ausbürgerungsverfahren liegen im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin.

54 Gespräch Dr. Patrik von zur Mühlen (Redaktion des Neuen Nachrichtenbriefs der Gesellschaft für Exilforschung e.V.) mit der Vf.in, 1.6.2004, in Bonn. 55 Koch, Editha und Frithjof Trapp (Hrsg.): Exil. Forschung. Erkenntnisse. Ergebnisse, Frankfurt/M. 2004. 56 Krauss, Marita: Die Rückkehr der »Hitlerfrischler«, S. 152. 57 Professor Dr. Martin Spahn (1875-1945), 1910-1912 und ab 1924 Mitglied des Deutschen Reichstags für die Deutschnationale Volkspartei (Wahlkreis Koblenz-Trier) und ab 1933 für die NSDAP, in: Büro des Reichstags (Hrsg.): Reichstags-Handbuch, VIII. Wahlperiode, Berlin 1933, S. 270. [Ergänzungen zum Reichstags-Handbuch: Andreas Freitäger, Universitätsarchiv Köln.] 21

Quellenmaterial über die Tätigkeit Walter Auerbachs von 1930 bis 1933 beim Gesamtverband, seit 1. März 1932 als persönlicher Sekretär 58 des Vorsitzenden und SPD-Reichstagsabgeordneten, Anton Reißner 59 , ist kaum vorhanden. »1933 beschlagnahmten und zerstörten die Nationalsozialisten die Gewerkschaftsarchive und -bibliotheken, die noch erhalten gebliebenen Bestände wurden im Bombenhagel des Zweiten Weltkrieges oder in den Kämpfen 1945 vernichtet bzw. sind verschollen.« 60 Über geringe Bestände verfügt die Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR (SAPMO) im Bundesarchiv in Berlin und das Zentrale Staatsarchiv in Moskau (»Sonderarchiv«), dessen Bestandsverzeichnis 61 kein aussagefähiges Material aufweist.

Walter Auerbachs Tätigkeit bei der ITF von Mai 1933 bis Oktober 1946 ist dokumentiert in seinem eigenen Nachlass, im geringen ITF-Bestand des AdsD und im Modern Records Centre (MRC), University of Warwick Library in Warwick/England, das den wesentlichen Teil des ITF-Bestands und die Nachlässe Edo Fimmens und Paul Tofahrns verwaltet. Dazu ist einschränkend zu erwähnen, dass bei der Übersiedlung des ITF-Generalsekretariats von den Niederlanden nach Großbritannien im September 1939 »the largest part of the material from the time between and II remained in Amsterdam and fell into Nazi hands.«62 Auch Auerbachs private Lebenssituation der Jahre 1933 bis 1939 in Amsterdam ist nur bruchstückhaft rekonstruierbar. Das MRC in Warwick besitzt zudem den Archivbestand des Trade Union Congress (TUC), der eine kleine Anzahl von Unterlagen zu Walter Auerbach und der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien (Landesgruppe) enthält. Die Bestandslisten des Labour History Archive and Study Centre im People’s Museum in Manchester, das Archiv der Labour Party, führen den Namen Walter

58 Anlage zum Antrag auf Wiedergutmachung: »Ich wurde als ‚leitender Sekretaer’ bezahlt« (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 22, AdsD). 59 Anton Reißner (1890-1940), Vorsitzender des Gesamtverbandes, seit 1930 Mitglied des Deutschen Reichstags (Wahlkreis Frankfurt a.d.O.), in: Büro des Reichstags (Hrsg.): Reichstags-Handbuch, VIII. Wahlperiode, Berlin 1933, S. 230 f. Emigration in die Niederlande, Suizid beim Einmarsch der deutschen Truppen 1940, in: Werner Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien 1940-1945, Hannover 1968, S. 54. 60 Braun, Heinz: Zum Schicksal der Archive und Bibliotheken der deutschen Gewerkschaften nach 1933, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 34 (1998), Nr. 1, S. 1. 61 Aly, Götz und Susanne Heim (Hrsg.): Das Zentrale Staatsarchiv in Moskau (»Sonderarchiv«). Rekonstruktion und Bestandsverzeichnis verschollen geglaubten Schriftguts aus der NS-Zeit, Düsseldorf 1993, S. 48. 62 Iddon (ITF) an FES, 22.8.1968 (Bestand ITF, 159/3/D/221, MRC). 22

Auerbach nicht. Das Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (IISG) in Amsterdam verfügt über keine Materialien zu Walter Auerbach.

Die Aktenbestände der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Exil (SOPADE/Emigration) 63 enthalten Korrespondenzen von Fritz Heine, Erich Ollenhauer, Hans Vogel und anderen mit Walter Auerbach während des gemeinsamen Londoner Exils. Sein Schriftwechsel mit Hans Gottfurcht 64 , Vorsitzender der Landesgruppe in London 65 , befindet sich weitgehend in Auerbachs Nachlass und im MRC. Gottfurchts Nachlass im AdsD ist derzeit nicht zugänglich. Zwischen Fritz Heine und der Verfasserin existiert ein kurzer Briefwechsel aus den Jahren 2001/02. Einen Termin für eine persönliche Begegnung sagte der hochbetagte Fritz Heine aus gesundheitlichen Gründen ab. Er starb im Mai 2002. Ein Gespräch mit Susanne Miller über die sozialdemokratische Szene in den 1940er Jahren in London fand im Herbst 2001 in Bonn statt. Die Bestände des SPD-Parteivorstands (Erich Ollenhauer, , ) und der Nachlass Ludwig Preller im AdsD enthalten vereinzelt Verweise auf Walter Auerbach und seine politischen Aktivitäten, desgleichen die Bestände des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK).

Noch aus dem Exil hatte sich Auerbach bei Professor Bergsträsser um eine Habilitation in Frankfurt/Main bemüht. Das Bewerbungsschreiben liegt im Hessischen Staatsarchiv in Darmstadt, nicht aber die Stellungnahme Bergsträssers, 66 auch nicht in dessen Nachlass im Archiv der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. 67

Über Walter Auerbachs Tätigkeit als Vizepräsident des Zentralamtes für Arbeit (Manpower Division) in der Britischen Zone in Lemgo von 1946 bis 1948 besitzen

63 AdsD der FES (Hrsg.): Inventar zu den Nachlässen der deutschen Arbeiterbewegung. Für die zehn westdeutschen Länder und West-Berlin, München u.a. 1993, S. 949. 64 Hans Gottfurcht (1896-1982), Gewerkschaftsfunktionär. 1933-1938 Versicherungsagent und Aufbau illegaler Gewerkschaftsgruppen im Deutschen Reich. 1938 Emigration über die Niederlande nach England. Ab Februar 1941 Vorsitzender der Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien. 1945-1950 Verbindungsmann zwischen Trade Union Congress (TUC) und den deutschen Gewerkschaften. Stellvertretender Generalsekretär des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG) in Brüssel, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 237. 65 AdsD der FES (Hrsg.): Inventar zu den Nachlässen der deutschen Arbeiterbewegung, S. 184 ff. 66 Hessisches Staatsarchiv Darmstadt an Vf.in, 4.3.2002. 67 Universitätsarchiv Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. an Vf.in, 13.3.2002. 23

The National Archives (TNA), vormals Public Record Office (PRO), in Kew, und das Bundesarchiv in Koblenz Aktenbestände. Hinweise auf Auerbachs Tätigkeit als Staatssekretär in Hannover und Bonn befinden sich in seinem Nachlass bei der FES, im Bundesarchiv, im Zwischenarchiv in St. Augustin-Hangelar und Rudimente ohne Belang im Niedersächsischen Landesarchiv, Hauptstaatsarchiv Hannover.

Emigration , auch politische Emigration, definiert das Staatslexikon als »eine besondere Form der Auswanderung« 68 und spricht von einem freiwilligen Verlassen des Heimatstaates ohne bestimmte Rückkehroption 69 . In der Brockhaus Enzyklopädie heißt es, Emigration bedeutet »das freiwillige oder erzwungene Verlassen des Heimatlandes aus politischen oder weltanschaulichen Gründen.« 70 Für Evelyn Lacina gilt als Emigrant eine »Person, die sich aus politischen, weltanschaulichen, rassischen oder religiösen Gründen oder wegen dadurch bedingter wirtschaftlicher Schwierigkeiten gezwungen sah, den Machtbereich des Nationalsozialismus zu verlassen.« 71

Der Terminus Emigration ist in dem betroffenen Personenkreis umstritten. Eine exaktere Begriffsbestimmung liegt in dem Wort Exil, gleichbedeutend mit Verbannung. Eine klare Differenzierung zwischen Emigration und Exil nahm Bertolt Brecht 1937 im dänischen Exil in einem Gedicht Über die Bezeichnung Emigranten vor:

Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab:

Emigranten.

Das heißt doch Auswanderer. Aber wir

Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß

Wählend ein andres Land. Wanderten wir doch auch nicht

Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer.

68 Görres-Gesellschaft (Hrsg.): Staatslexikon, 7., völlig neu bearb. Aufl., Bd 2, Freiburg u.a. 1986, S. 244. 69 Ebd. 70 Brockhaus Enzyklopädie, 19., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 6, Mannheim 1988, S. 345. 71 Lacina, Evelyn: Emigration 1933-1945. Sozialhistorische Darstellung der deutschsprachigen Emigration und einiger ihrer Asylländer aufgrund ausgewählter zeitgenössischer Selbstzeugnisse, Stuttgart 1982, S. 26. 24

Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.

Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm. 72

Die Termini politische Emigration und politisches Exil werden alternierend und gleichwertig angewandt. Sie trafen nur auf jene kleinen Kreise zu, die in den Exilländern den Kampf gegen das NS-Regime politisch aktiv fortsetzten und auf dessen Sturz und die anschließende Rückkehr nach Deutschland hinarbeiteten. Den Gegensatz dazu bildete die passivpolitische, assimilationswillige Mehrheit der Emigranten. 73 Brechts weitere Worte spiegelten die Situation des politischen Exils:

Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen 74

Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste Veränderung

Jenseits der Grenze beobachtend 75

Der Begriff Remigration ist unumstritten, nicht aber die Rückkehr der im Dritten Reich politisch und rassisch Verfolgten nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft. Doch wie »sollten die Zurückgebliebenen … verstehen, was das ist: Exil. Emigration. Es ist eine Veränderung, die alles umfaßt, jedes bißchen Leben, jeden Alltag.« 76 Bereits unmittelbar nach der Grenze hatte für viele Emigranten die Konfrontation mit einem fremden Land, einer ihnen in der Regel unbekannten Kultur, unvertrauten Lebensgewohnheiten der Einheimischen und einer zumeist fremden Sprache begonnen. »Aus einem Land kann man auswandern, aus der Muttersprache nicht.« 77

72 Hecht, Werner (Hrsg.): Bertolt Brecht. Werke in 30 Bänden, Bd. 12, Frankfurt/M 1988, S. 81. 73 Tutas, Herbert E.: Nationalsozialismus und Exil, Die Politik des Dritten Reiches gegenüber der deutschen politischen Emigration 1933-1939, München/Wien 1975, S. 8 und Julia Franke: Paris - eine neue Heimat? Jüdische Emigranten aus Deutschland 1933-1939, Berlin 2000, S. 218. 74 Bertold Brecht (1898-1956) hielt sich in den ersten Jahren seines Exils in Deutschland benachbarten Städten respektive Staaten auf (unter anderen Prag, Wien, Zürich, Dänemark, Paris), bevor er im Juni 1941 über die UdSSR nach USA emigrierte, in: Marianne Kesting: Bertolt Brecht in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1959, S. 70 ff. 75 Hecht (Hrsg.): Bertolt Brecht, S. 81. 76 Schlör, Joachim: Exil und Rückkehr, in: Heiner Lichtenstein und Otto R. Romberg (Hrsg.): Täter - Opfer - Folgen. Der Holocaust in Geschichte und Gegenwart, Bonn 1995, S. 155 f. 77 Ben-Chorin, Schalom: Sprache als Heimat, in: Deutsch-Israelische Gesellschaft e.V., Arbeitsgemeinschaft Bonn (Hrsg.): Die »Jeckes« in Israel. Der Beitrag der deutschsprachigen Einwanderer zum Aufbau Israels, Bonn 1995, S. 64. 25

Widerstand in einem totalitären Staat, als dessen Merkmale der Politikwissenschaftler Richard Löwenthal 78 Partei-, Organisations- und Informationsmonopol nannte, wies drei Grundformen auf: bewusster politischer Kampf, gesellschaftliche Verweigerung und weltanschauliche Dissidenz. 79

Eine deutsche Widerstandsbewegung sui generis existierte nicht. Widerstand ist gruppenspezifisch zu betrachten: Widerstand in Kreisen der Arbeiterbewegung, der Kirchen, der Militärs, des konservativen Bürgertums oder der Jugend. Erst bei der Vorbereitung des Umsturzversuchs vom 20. Juli 1944 kooperierten unterschiedliche gesellschaftliche und politische Gruppierungen miteinander. 80

Bei SPD, Kommunistischer Partei Deutschlands (KPD) und den freien Gewerkschaften wurde bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten bei ihren Aktionen von Antifaschismus statt von Widerstand gesprochen. Die nach dem 30. Januar 1933 im Deutschen Reich verbliebenen Antifaschisten nannten sich Illegale. 81

»Arbeiteropposition bewegte sich personell und inhaltlich überwiegend auf dem Strang gewerkschaftlicher Tradition.« 82 Und es »war ein Resultat der zum Zeitpunkt der nationalsozialistischen Machteroberung bestehenden innenpolitischen Konstellation, daß der Widerstand der Arbeiterschaft am frühesten einsetzte, und hier in erster Linie der kommunistische Widerstand. In gewissem Kontrast dazu standen die schwächlichen Versuche des sich an die Reste der Legalität klammernden sozialdemokratischen Parteivorstandes [und der Vorstände des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) und seiner Mitgliedsgewerkschaften], mit den neuen Machthabern zu einer Art Stillhalteabkommen gelangen zu können.« 83 Der Begriff Arbeiterschaft tauchte in

78 Professor Dr. Richard Löwenthal (1908-1991) gehörte der aktiven politischen Emigration der 1940er Jahre in London an. 79 Löwenthal, Richard: Widerstand im totalen Staat, in: Ders. und Patrik von zur Mühlen (Hrsg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933 bis 1945, Berlin/Bonn 1984, S. 11 ff. 80 Hürten, Heinz: Widerstand in Deutschland, in: Michael Kißener/Harm-Hinrich Brandt/Wolfgang Altgeld (Hrsg.): Widerstand in Europa. Zeitgeschichtliche Erinnerungen und Studien, Konstanz 1995, S. 15. 81 Sator, Klaus: Zur Diskussion: Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Anmerkungen zu einem schwierigen Begriff, in: Claus Dieter Krohn u.a. (Hrsg.): Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 15: Exil und Widerstand, München 1997, S. 153. 82 Borsdorf, Ulrich: Widerstand und Illegalität, Emigration und Exil. Zur Verwendung von Begriffen in der Geschichte der Gewerkschaften, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 33 (1982), Nr. 8, S. 490. 83 Mommsen, Hans: Begriff und Problematik des deutschen Widerstands gegen Hitler in der zeitgeschichtlichen Forschung, in: Karl-Ernst Jeismann (Hrsg.): 26

Auerbachs Dokumenten und in der Forschungsliteratur immer wieder undifferenziert auf, doch das Arbeitermilieu stellte keineswegs eine homogene Gruppe dar. Parallelen bestanden zwar zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, doch die Alltagswirklichkeit und der politisch-kulturelle Hintergrund des katholischen Arbeitermilieus unterschieden sich deutlich davon. Zudem verfügte die katholische Arbeiterschaft weiterhin über intakte Institutionen. 84

Widerstandsbewegungen in Deutschland und Polen während des Zweiten Weltkrieges, 1979, S. 16. 84 Schneider, Michael: Unterm Hakenkreuz. Arbeiter und Arbeiterbewegung 1933 bis 1939, Bonn 1999, S. 1082 f. 27

2 Herkunft, Jugend, frühe Tätigkeit

»Das Leben mit Dir, Käte, war erfüllt! In Köln und Berlin, in Amsterdam und Bedford und London, in Lemgo und in Hannover. Dafür Dank sagen ist dürftig … Dass wir uns auch in der gemeinsamen Aufgabe wussten, Gerechtigkeit auf Erden zu verwirklichen, war ein Geschenk. In den langen Jahren der Emigration, als so viele Stütze von mir wollten und ich doch selbst in der Gefahr des Ausbrennens stand, da warst Du immer die Unbeirrbare. Du hast mich verstanden als ich nicht nach Übersee wollte … Aber du wusstest auch, dass unsere Aufgabe in der Heimat sein würde, dass wir tätig in der Nähe, rückkehrbereit, durchstehen mussten - jederzeit rückkehrbereit.« 1

Auerbachs Rückblick offenbarte einen Widerspruch in seiner Selbstwahrnehmung. Seine Bemühungen um die Vermittlung einer wissenschaftlichen Lehrtätigkeit in den Vereinigten Staaten bei Hans Staudinger 2 und 3 blendete er ebenso aus wie den Gedanken, nach Lateinamerika zu emigrieren. Staudinger riet dringend, »die Sache in Buenos Aires nicht fallen zu lassen,« 4 denn dieser Umweg könnte seine Chancen auf »eine ausreichend dotierte Position in einem College«5 in den USA entscheidend verbessern. Noch zwei Monate zuvor, im August 1936, schrieb Staudinger aufmunternd, »dass wir in Amerika nach wie vor Sie mit an erster Stelle für eine wissenschaftliche

1 Privatsammlung Lore Auerbach: Auerbach: Abschiedsbrief an »Käte, Lore und Ini« [Auerbach], 30.12.1961. Vom 29.12.1961 existierte ein Testament. Dazu Lore Auerbach an Vf.in, 21.10.2001: »Erst bei ihrem Umzug, mehr als 2 Jahre nach dem Tod meines Vaters, fand meine Mutter sein Testament und einen Abschiedsbrief aus den letzten Tagen des Jahres 1961 - er verweist darin auf eine frühere Fassung aus dem Juli 1961, die er vernichtet habe. Ich habe keine Ahnung, warum er dies zu jenem Zeitpunkt tat. M.W. war er nicht krank … Ich weiß also von keinem Anlaß für ‚Endzeitgedanken’.« 2 Dr. Hans Staudinger (1889-1980), 1934-1960 Professor für Wirtschaftswissenschaften an der New School for Social Research, New York. 1929-1932 Staatssekretär unter dem preußischen Ministerpräsidenten , 1932-1933 Sozialdemokratisches Mitglied des Deutschen Reichstags, Emigration in die USA, in: AdsD der FES (Hrsg.): Inventar zu den Nachlässen der deutschen Arbeiterbewegung, S. 610. 3 Dr. Paul Tillich (1886-1965), Sozialethiker und Religionsphilosoph, 1933 Emigration in die USA, 1933-1955 Professor am Union Theological Seminar, New York, in: AdsD der FES (Hrsg.): Inventar zu den Nachlässen der deutschen Arbeiterbewegung, S. 645. 4 Staudinger an Auerbach, 20.10.1936 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 10, AdsD). 5 Ebd. 28

Lehrtätigkeit führen … Ihre Sache ist nicht aussichtslos.«6 Der darauffolgende Konjunktureinbruch verschlechterte die Perspektive auf Emigration in die USA.

Auch Paul Tillich desillusionierte Auerbach im Namen von Selfhelp for German Emigrés: »Ich glaube also, dass man Ihnen jetzt nichts raten kann, als mit Zaehnen und Klauen an der Beschaeftigung in Holland festzuhalten, so lange es nur irgend geht.« 7 Weiter hieß es in dem Schreiben, dass »auch die intellektuellen Berufe unter einem ganz schweren Depressionsdruck [leiden], weil viele wissenschaftliche Anstalten von Stiftungsfonds erhalten werden, die nun tief entwertet sind.«8 Mit Kriegsausbruch sah Staudinger für Auerbach nur noch den Ausweg, über seine Freunde aus der internationalen Arbeiterbewegung in Amsterdam oder London Kontakt zu amerikanischen Gewerkschaften aufzunehmen, um für wissenschaftliche Arbeiten angefordert zu werden. 9 Auch ein Affidavit sei über eine Persönlichkeit aus dem Gewerkschaftslager leichter zu bekommen. 10 Die Erkenntnis der Chancenlosigkeit, praktische Gewerkschaftsarbeit in wissenschaftliche Forschung und Lehre an einer amerikanischen Universität umzusetzen, löste offenbar die Rückkehrwilligkeit Auerbachs in ein neues Deutschland erst aus.

Der Tenor des Abschiedsbriefes vom Dezember 1961 ließ beim Leser die Vision entstehen, Auerbach habe mit dem Leben abgeschlossen. Aber er lebte noch weitere vierzehn Jahre, und Käte Auerbach, die »Unbeirrbare«, entdeckte diesen Brief erst zwei Jahre nach seinem Tod im Sommer 1977 bei Aufräumarbeiten vor ihrer Rückkehr in das Exilland der 1940er Jahre. In Stevenage, einem kleinen Ort zwischen London und Cambridge, lebte bereits seit dem Sommer 1965 die jüngere Tochter Irene.

Auerbach bat in jenem Brief um ein Erdbegräbnis, »am liebsten auf einem Bergfriedhof in Obergurgl, Pontresina oder Todtnauberg« und um die Inschrift auf seinem Grabstein »Hebet eure Augen zu den Bergen …«11 Ob Walter Auerbach Psalm 21 12 oder das gleichnamige Oratorium von Felix Mendelssohn-Bartholdy

6 Ebd., 24.8.1936 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 10, AdsD). 7 Stolper i.A. Tillich an Auerbach, 5.5.1938 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 12, AdsD). 8 Ebd. 9 Staudinger an Auerbach, 11.10.1939 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 13, AdsD). 10 Else Staudinger i.A. Hans Staudinger an Auerbach, 20.6.1939 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 13, AdsD). 11 Privatsammlung Lore Auerbach: Auerbach: Testament, 29.12.1961. 12 Psalm 21, Der Wächter Israels (Ein Wallfahrtslied): »Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen: Woher kommt mir Hilfe?« 29 im Sinn hatte oder an die Hochgebirgswelt dachte, die er über alles liebte, 13 bleibt im Dunklen. Die Hinterbliebenen vermuteten, in seinem Interesse zu handeln, und verzichteten zunächst auf einen Stein. Lore Auerbach erinnerte sich, »wie geschockt meine Mutter war, dass mein Vater sich einen Grabstein gewünscht hatte. Sie hatte das nicht erwartet.«14 Nachträglich ließ Käte Auerbach auf dem Bad Godesberger Friedhof einen Findling setzen, 15 doch für die anderen Wünsche, keine Reden am Grab, aber »wenn es das Wetter erlaubt auf einer Geige Ave Maria und dreistimmig Ehre sei Gott in der Höh «16 , war es zu spät. Beigefügt war dem Abschiedsbrief ein Gedicht des Poeten Walter Auerbach mit dem Titel Vereint. Für Käte :

Zusammen konnten wir leben

Sterben muss ich allein

Sollst Deine Hand mir noch geben

Sterben muss ich allein

Deiner werde ich warten

Wenn einst für Dich kommt die Zeit

Dann werden die Hand wir uns reichen

Im Strom der Unendlichkeit. 17

Auch in einem ersten Abschiedsbrief aus dem Jahr 1948 meinte Auerbach, dass er ohne die Partnerin, die für ihn Heimat darstellte, das Exil in den Niederlanden und in England nicht überstanden hätte. 18 »Es war doch sehr ein Leben im Reagenzglas, immer anders als der Rest der Umwelt, und das ist ‚make or break’,« 19 kommentierte Irene Auerbach die Jahre des Exils in England.

Das traumatische Erlebnis Emigration war nicht die erste Entwurzelung im Leben Walter Auerbachs. Die Herkunft aus einer Hamburger jüdisch-orthodoxen Familie bot weder für ein Studium der Soziologie, Geschichte und Zeitungswissenschaft noch für eine Karriere in Gewerkschaft und Politik die Voraussetzung. Doch der

13 Lore Auerbach an Vf.in, 7.3.2002. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Privatsammlung Lore Auerbach: Auerbach: Testament, 29.12.1961. 17 Ebd. 18 Walter Auerbach an Käte Auerbach, 14.7.1948 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 30, AdsD). 19 Irene Auerbach an Vf.in, 30.8.2003. 30

Sohn trennte sich Mitte der 1920er Jahre von Elternhaus und Judentum oder die Eltern von ihm. Der Schriftsteller Max Brod entgegnete einmal einem seiner Professoren auf dessen Bekenntnis, aus dem Judentum ausgetreten zu sein, mit einem »Aber das Judentum nicht aus Ihnen!«20 Die Vehemenz, mit der Auerbach die »ethische Existenzberechtigung der Rabbinatskirche«21 anzweifelte, die ihm seit er »bewusster denken konnte, so ausserordentlich fragwürdig geworden [war], dass ein weiteres Verbleiben in ihr Heuchelei gewesen wäre,« 22 zeigte wenig Distanz. Mit noch drastischeren Worten verweigerte er 1953 die Aufnahme seiner Vita im Who’s Who in World Jewry : »I should consider legal steps in case I should nevertheless be mentioned in it.«23 Auerbachs Jahrzehnte anhaltenden Abwehrmechanismen lassen vermuten, dass Brods These auch auf ihn zutraf. Die Spuren der jüdisch-orthodoxen Atmosphäre des Elternhauses wurden nie ganz getilgt.

Schmuel Auerbach wusste aus Erzählungen von den Erziehungsmethoden seines Onkels Aron, Auerbachs Vater, und sah hierin den Hauptgrund für den »Bruch mit der Orthodoxie und dem haeuslichen religioesen Lebenswandel … Er [Aron Auerbach] war den ganzen Tag sehr beschaeftigt, wollte aber doch etwas fuer die Erziehung seiner Soehne tun. So weckte er sie jeden Morgen sehr frueh auf, vor Beginn der Morgengebete, um mit ihnen Thora zu lernen … Der hoch intelligente Selig [Walter] rebellierte, gewiss innerlich und fragte sich, ‚Will er mich denn zum Rabbiner machen?!’« 24 Ja, das wollte der Vater. 25 Nach jüdisch- orthodoxer Tradition erhielt der nächstgeborene Enkel nach dem Tod des Großvaters dessen Vornamen und die Bestimmung, den abgebrochenen Lebensweg fortzusetzen. Schmuel Auerbach offenbarte: »Mein sel. Vater Rabbiner Dr. Moses Auerbach war der zehnte Sohn/Tochter meines sel. Grossvaters Rabbiner Dr. Selig Auerbach in Halberstadt 26 , mein sel. Onkel Aron Auerbach war Nr. 3 seiner Kinder und Vater von Selig-Walter, der den Namen seines/unseren gemeinsamen Grossvater erhielt« 27

20 Schultz, Hans Jürgen (Hrsg.): Mein Judentum, Stuttgart/Berlin 1978, S. 5. 21 Walter Auerbach an Margit Auerbach (Witwe von Philipp Auerbach), Weihnachten 1954 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 31, AdsD). 22 Ebd. 23 Auerbach: Notiz, 5.9.1953, auf dem Schreiben von Who’s Who in World Jewry, New York, 6.8.1953 [In der im Jahr 1955 erschienenen Ausgabe war Walter Auerbach nicht aufgeführt.] (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 51, AdsD). 24 Schmuel Auerbach an Vf.in., 24.7.2002. 25 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 30.1.2002, in Bonn. 26 Schmuel Auerbach an Vf.in., 4.4.06: Rabbiner Dr. Selig Auerbach, 1840-1901. 27 Ebd., 24.7.2002. 31

Seinem Bruder Philipp, der 1945 zu den Gründern der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf und des Landesverbandes Nordrhein der Jüdischen Gemeinden zählte, verdeutlichte Walter Auerbach seine Sichtweise: »Du weisst, dass ich die Rabbinatskirche, deren technischer Organisation Du vorstehst, fuer eine soziologisch interessante, auf Tabu, Magie-Ersatz und Herrschwillen aufgebaute soziale Institution halte, deren Lehrgebaeude von Anfang an wenig Urspruengliches und sehr viel Fragwuerdiges enthielt. Du weisst, dass ich schon als junger Mensch die notwendige Konsequenz zog und mich scharf distanzierte. Du weisst allerdings auch, dass ich die persoenliche Ueberzeugung jedes echt religioesen Menschen genau so respektiere, wie ich meine Ueberzeugung respektiert sehen will.«28

Walter Auerbach setzte sich jahrzehntelang mit religiösen und philosophischen Fragen und mit Dogmatismus kritisch auseinander. In seinem Abschiedsbrief aus dem Jahr 1961 bekannte er: »Ich habe mich mit einem Problem ein Leben lang gequält und wahrscheinlich bin ich Euch [Ehefrau und Töchtern] oft mit ihm lästig gefallen. Mit dem Versuch seiner Lösung habe ich mich aus dem Elternhaus gelöst. Aber die Frage nach dem Sinn des Lebens stand nicht nur am Anfang, sie hat mich durch das Leben begleitet und wird an seinem Ende stehen. Ich bin nie mit ihr fertig geworden.«29 Seiner Tochter Lore offenbarte er, »dass er nach dem Austritt aus der Jüdischen Gemeinde mit dem Gedanken gespielt hätte, zum Katholizismus zu konvertieren und Theologie zu studieren.«30 Eine Begründung für den Verzicht darauf äußerte er nicht. Letztlich schreckte ihn der auch in der Katholischen Kirche existierende Dogmatismus ab. Die Zeitzeugin aus Londoner Tagen, Susanne Miller, wusste, dass Auerbach in Exilkreisen dem Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK) 31 zugeordnet wurde. Darauf angesprochen, reagierte Auerbach empört auf diese Unterstellung: »Ich bin doch nicht aus dem Judentum ausgetreten, um mich in einer anderen dogmatischen Organisation anzusiedeln.«32 Doch Auerbachs frühes Bekenntnis zu Sozialismus

28 Walter Auerbach an Philipp Auerbach, 5.9.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 65, AdsD). 29 Privatsammlung Lore Auerbach: Auerbach: Abschiedsbrief, 30.12.1961. 30 Lore Auerbach an Vf.in, 10.10.2002. 31 Gegründet in den 1920er Jahren von dem Göttinger Philosophie-Professor Leonhard Nelson (1882-1927). Seine Lehre basierte auf den Werken von Immanuel Kant und Jakob Friedrich Fries. Nelson entwickelte aus deren Philosophie und seiner eigenen eine Pädagogik mit antiautoritärem Charakter, gründete die Schule Walkemühle, deren Arbeit sich am wissenschaftlichen Sozialismus orientierte, in: Antje Dertinger: Der treue Partisan. Ein deutscher Lebenslauf: Ludwig Gehm, Bonn 1989, S. 27 f. 32 Gespräch Susanne Miller mit der Vf.in, 3.10.2001, in Bonn. 32 und sozialistischer Revolution in Deutschland 33 war möglicherweise ein Äquivalent zum orthodoxen Judentum seiner Kindheit.

In »der Nähe des Pantheismus … angesiedelt«34 sah sich Walter Auerbach, an einen persönlichen Gott konnte er nicht glauben. Er glaubte »an ein Eingebettetsein in eine sinnvolle Ewigkeit oder auch in einen ewigen Sinn.«35 Die Bergpredigt betrachtete er als einen der Pfeiler der Gesittung, die auch weitgehend sein »Denken und Fühlen und Handeln bestimmte.«36 Inhalt seiner Reflektionen war auch die Rede des Großinquisitors aus Dostojewskis Die Brüder Karamasow . »Anfangs nahm ich diese Rede für eine billige Rechtfertigung der Diktatur, des Missbrauchs der religio an den wehenden Geist zum Beherrschen von Menschen durch Menschen. Aber dann kamen die Jahre der Entfesselung des Tieres im Menschen. Damals begann ich die Wirkung der institutionellen Religion, der Kirchen und Religionsgemeinschaften neu zu sehen. Ich habe Respekt vor den Gläubigen aller Kirchen.«37

Der Bruch der Eltern, Aron und Helene Auerbach 38 , mit dem abtrünnigen Sohn, inzwischen nannte er sich Walter, war für beide Seiten irreparabel. »Die Familie konnte den Bazillus [Walter] nicht brauchen.«39 Für die jüngeren Geschwister erfolgte ein Kontaktverbot, von den älteren hielt nur Philipp Auerbach die Verbindung zum Bruder aufrecht. 40 Die enge Beziehung der beiden hielt, unterbrochen nur in den Jahren des Exils, bis zu dessen Suizid im August 1952.

33 Heine: Notiz Besprechung mit Auerbach, 19.9.1941. Fritz Heine an Vf.in, 13.12.2001. 34 Privatsammlung Lore Auerbach: Auerbach: Abschiedsbrief, 30.12.1961. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, Staatsarchiv, an Vf.in, 1.11.2001. Hierin teilte das Staatsarchiv mit, »dass Aron Auerbach (geb. 20.04.1869 in Fürth, gest. 05.07.1938 in Hamburg) 1892 nach Hamburg übersiedelte und hier (vor 1910) eine Im- und Exportfirma für den Handel mit Metallen und Chemikalien begründete. Seiner 1899 in Frankfurt a.M. geschlossenen Ehe mit Helene Posen (geb. 06.03.1878 in Frankfurt/M., gest. 08.12.1930 in Hamburg) entstammten, soweit hier feststellbar, neun Kinder, darunter Walter Siegmund Selig (geb. 22.07.1905), der Hamburg bereits 1929 verließ (Staatsangehörigkeitsaufsicht, B III 101628, Jüdische Gemeinden, 734 und 992 b).« Eine Publikation des Hamburger Staatsarchivs vermerkt zu Aron Auerbach: Geburtsort Halberstadt und Sterbeort KZ Hamburg-Fuhlsbüttel bei gleichen Daten, in: Staatsarchiv Hamburg (Hrsg.): Hamburger Jüdische Opfer des Nationalsozialismus. Gedenkbuch. Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg, Bd. 15, Hamburg 1995, S. 14. Eine weitere Quelle nennt als Sterbeort das Israelitische Krankenhaus in Hamburg und als Sterbedatum 06.07.1938, in: Gedenkstätte Neuengamme (Hrsg.): Gedenkbuch »KOLA-FU«. Für die Opfer aus dem Konzentrationslager, -Gefängnis und Außenlager Fuhlsbüttel, Hamburg 1987, S. 15. 39 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 30.1.2002, in Bonn. 40 Dies., 15.10.2001. 33

Nach einem spektakulären Prozess gegen Philipp Auerbach, Präsident des Landesentschädigungsamtes in München, lautete das Urteil auf zweieinhalb Jahre Gefängnis unter Anrechnung der sechzehnmonatigen Untersuchungshaft. 41 Im Laufe des Verfahrens trat der in die Affäre um Philipp Auerbach involvierte bayerische Justizminister Josef Müller zurück.

Zwei Monate vor der Urteilsverkündung schrieb Philipp Auerbach noch voller Zuversicht seinen Geschwistern in Deutschland, Israel und USA, dass die Aussage des bayerischen Ministerpräsidenten eine hundertprozentige Widerlegung der wesentlichen Anklagepunkte brachte und er mit seiner endgültigen Rehabilitierung rechnete. 42 Übrig blieben die Anschuldigungen, dass er »zu Unrecht einen Doktortitel getragen und die Mittel für die Entschädigungszahlungen [an Displaced Persons (DPs)] am Rande der Legalität auf geniale sowie unorthodoxe Weise zu beschaffen verstanden hatte,« 43 allerdings gedeckt durch bayerische Regierungskreise. In einem Abschiedsbrief an die Öffentlichkeit vom Tag der Urteilsverkündung formulierte er seine Erschütterung über das Urteil, wartete das Resultat der beantragten Revision nicht ab: »Nicht aus Feigheit, nicht aus einem Schuldbekenntnis heraus handle ich, sondern weil ein Glaube an das Recht für mich nicht mehr besteht und ich meinen Freunden und meiner Familie nicht weiter zur Last fallen will … Ich habe mich niemals persönlich bereichert und kann dieses entehrende Urteil nicht weiter ertragen … Mein Blut komme auf das Haupt der Meineidigen.«44

Der Prozess wurde bundesweit von den Medien kritisch, aber auch mit antisemitischen Tendenzen begleitet. Der Schriftsteller und Filmemacher Richard Chaim Schneider dokumentierte vor einigen Jahren die seinerzeitigen Ereignisse: »Sechs Jahre nach Kriegsende steht der Jude Auerbach vor einem deutschen Gericht. Er wird von befangenen Richtern, die teilweise Mitglied der NSDAP waren, zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt [es waren zweieinhalb Jahre und DM 2.700,- Geldstrafe]. Eine Katastrophe, eine Schande, die Auerbach nicht erträgt. Im Gefängnis [in einer Privatklinik] begeht er Selbstmord. Beim Begräbnis auf dem jüdischen Friedhof kommt es zu Tumulten und Angriffen gegen die

41 Käte Auerbach an Walter Auerbach in Obergurgl/Ötztal, 15.8.1952 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 30, AdsD). 42 Philipp Auerbach an »Liebe Geschwister!«, 8.6.1952 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 31, AdsD). 43 Pross, Christian: Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Berlin 2001, S. 76. 44 Zit. nach Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 22.8.1952 [Handschriftlicher Abschiedsbrief Philipp Auerbachs, 14.8.1952]. 34 deutsche Polizei. Die schießt in die Luft. Die Juden rufen: Nazis, Nazis. Jahre später werden die Vorwürfe gegen Auerbach revidiert, und er wird rehabilitiert. Nur sein Doktortitel war erschwindelt.«45

Walter Auerbach befand sich zum Zeitpunkt des Todes seines Bruders allein zum Bergsteigen in Obergurgl im Ötztal, weitgehend abgeschnitten von der Außenwelt. Erst drei Tage nach dem Tod des Bruders erfuhr er die Nachricht, zu spät, um an den Beisetzungsfeierlichkeiten teilnehmen zu können. Seiner Schwägerin Margit Auerbach kondolierte er schriftlich: »Dir brauche ich die Erschütterung nicht zu schildern, die der Tod Philipps für mich bedeutet. Unter dem plötzlichen Schlag der grausamen Nachricht könnte ich es auch nicht. Das verhängnisvolle Urteil kenne ich nicht, auch aus dem Kommentar der ‚Süddeutschen’ kann ich es nur erraten … Ich wollte, ich hätte den Tag der Urteilsverkündung gekannt und hätte an ihm bei Euch sein können.«46 Mit Philipp Auerbach verstarb das einzige Bindeglied zur Herkunftsfamilie. Noch Jahrzehnte später erinnerte sich Helmut Rohde an jene Wochen und Monate im Jahr 1952: »Walter Auerbach hat seinen Bruder Philipp sehr gemocht und hat unter den dramatischen Geschehnissen gelitten.«47

Auch die nächste Generation, die Töchter Walter und Philipp Auerbachs, setzte den freundschaftlich-familiären Kontakt fort. »Die Genealogie meiner Familie hat mich umgehauen. Das ist ja eine völlig unüberschaubare Menge von wohl 17 Vettern und Cousinen - ich habe aufgegeben, die Zahl von deren Kindern auszurechnen, und ich habe nicht die Absicht, mich um Verwandtschaft zu bemühen, von der ich 69 Jahre lang nichts gewusst habe,« 48 entschied Lore Auerbach. Erst die Recherche der Verfasserin entdeckte einige der weltweit verstreuten Auerbachs. Nach dem Tod von Siegfried Auerbach 49 übernahm Schmuel Auerbach 50 die Stammbaumforschung und schrieb: »Wenn zur Zeit von

45 Schneider, Richard Chaim: »Wir sind da! Juden in Deutschland nach 1945.« 4-teilige Dokumentation 3SAT, Teil 2, Wiedergutmachung und Philipp Auerbach, ausgestrahlt am 17.3.2001 (Mitschrift der Vf.in). 46 Walter Auerbach an Margit Auerbach, 19.8.1952 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 31, AdsD). 47 Gespräch Helmut Rohde mit der Vf.in, 6.9.2001, in Bonn. 48 Lore Auerbach an Vf.in, 12.10.2002. 49 Siegfried Moritz Auerbach, London, an »Liebe Vettern und Kusinen!«, September 1956. Er schrieb u.a., »dass die biographischen Daten für die 817 Nachfahren unseres Ahnherrn R. Abraham Auerbach und deren 357 Ehegatten jetzt so vollständig vorliegen, wie sie heute noch beschaffbar sind«, in: Siegfried Moritz Auerbach: The Auerbach Family (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 1, AdsD). 50 Schmuel Auerbach an Vf.in, 14.3.2003: Abdruck Computerdisk der revidierten Neuausgabe des Buches The Auerbach Family: »Liste der Nachkommen meines sel. 35

Siegfried Auerbach insgesamt kaum Tausend zur Familie gehoerten, so leben heute allein hier in Israel einige Tausend.«51 Der von Siegfried Auerbach erstellte Stammbaum begann mit David Tevele Auerbach, geboren im Jahr 1575 in Wien. 52 Sein Nachfolger Schmuel Auerbach berichtete, der »Familienname stammt von AUERBACH bei Nuernberg. Das wussten wir schon auf Grund eines Schutzbriefs des damaligen Landgraf von 1499 unserem Urahnen Mosse von Awerbach.«53

Philipp Auerbach emigrierte im Jahr 1934 nach Belgien 54 und gründete in Antwerpen Comprocir und Compromat, Firmen, die »sich zur Hauptsache mit Waren- und Sprengstofflieferungen nach Rot-Spanien« 55 befassten. Die Geheime Staatspolizei (Gestapo) in Hamburg, zuständig für die Ausbürgerung Philipp Auerbachs, unterstellte ihm, »in Emigrantenkreisen als ein ausserordentlich gerissener und rücksichtsloser Waffen- und Munitionsschieber« 56 zu gelten, ein Kompliment in antifaschistischen Zirkeln. Über den Chemikaliengroßhandel seines Vaters, Aron Auerbach in Hamburg, und unter Mitwirkung von Bruder Eli Auerbach (1901-1948) 57 soll Philipp Auerbach Aluminiumpulver, Pikrinsäure und andere für die republikanische Seite im Spanischen Bürgerkrieg bestimmte Kampfstoffe nach Belgien importiert und von dort nach Spanien weiterverschifft haben. Vater und Sohn »sind wegen dieser Verfehlungen in Haft genommen worden und werden demnächst dem Gericht zugeführt.«58 Eli Auerbach gelang die Emigration in die USA, und »Aron Auerbach kam am Ende seines Lebens ins Gefaengnis schwerkrank und starb

Onkels Aron Auerbach. Ausserdem steht ueber Selig Walter nur dass er Dr. jur. und ein hoher Beamter der Regierung Rhein Westfalen war.« [Die nicht-jüdische Ehefrau und die Töchter Walter Auerbachs sind nicht aufgeführt.] 51 Schmuel Auerbach an Vf.in, 7.7.2002. 52 Auerbach, Siegfried Moritz: The Auerbach Family, London 1962 (Supplement II), S. 17. 53 Schmuel Auerbach an Vf.in, 24.12.2002. 54 Geheime Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle, Hamburg, an Geheime Staatspolizei, Geheimes Staatspolizeiamt, Berlin, 24.5.1938 (Politisches Archiv des Auswärtiges Amts, Inland II A/B, 83-76 Ausbürgerungen (R 100010) [hier: Philipp Auerbach]). 55 Ebd. und Deutsches Generalsekretariat für Belgien, Antwerpen, an das Auswärtige Amt, Berlin, 14.4.1938 (Politisches Archiv des Auswärtiges Amts, Inland II A/B, 83-76 Ausbürgerungen (R 100010) [hier: Philipp Auerbach]). 56 Geheime Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle, Hamburg, an Geheime Staatspolizei, Geheimes Staatspolizeiamt, Berlin, 24.5.1938 (Politisches Archiv des Auswärtiges Amts, Inland II A/B, 83-76 Ausbürgerungen (R 100010) [hier: Philipp Auerbach]). 57 Schmuel Auerbach an Vf.in, 14.3.2003: Abdruck Computerdisk The Auerbach Family. 58 Geheime Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle, Hamburg, an Geheime Staatspolizei, Geheimes Staatspolizeiamt, Berlin, 24.5.1938 (Politisches Archiv des Auswärtiges Amts, Inland II A/B, 83-76 Ausbürgerungen (R 100010) [hier: Philipp Auerbach]). 36 wohl wegen mangelnder Behandlung.« 59 Walter Auerbachs Mutter, Helene Auerbach, verstarb im Jahr 1930. 60

Einen kleinen Einblick in die Situation im Hause Auerbach nach der Trennung von Sohn Selig gewährte der nach dem seinerzeitigen Palästina immigrierte Max [Mordechai] Auerbach (1918-1999) 61 dem im Londoner Exil lebenden Bruder Walter im Januar 1945: »Du weißt ja wirklich wenig über mich und Jupp [Joseph, geboren 1917 62 ]! Besonders hat unser seliger Papa schon dafür gesorgt, dass wir ‚damaligen’ ‚Kleinen’ nicht mit Dir in Kontakt kommen konnten, um uns mehr an das ‚religiöse’ Milieu zu binden.«63 Auch Max Auerbach wandte sich vom orthodoxen Judentum ab und schilderte, dass er in Petach-Tikvah, dem Wohnort der Schwester Lea (1903-1967),64 mit Familie in den Bann gelegt sei. »Soviel ich noch an Dich erinnere, hattest Du das gleiche Los! Also sind wir beide gar nicht so verschieden wie Du glaubst!«65

Trotz dieser Gemeinsamkeit hörte der Briefkontakt zwischen den Brüdern bald auf. In einem offenbar letzten Brief an Bruder Max grenzte Walter Auerbach sich deutlich ab, auch von den regelmäßig versandten Rundbriefen des ältesten Bruders Eli: »You cannot expect regular letters either circular letters to members of a family living in a different spiritual world or to you. When I am going home to work where I belong to you will not hear from me for a considerable time … Let me hope that you may understand my view that this is not the time for indulging in sentimental family feelings by writing titbits about daily activity and let me hope that one day we may meet in common action in humanitarian field.«66 Auch die Schwester Bertha Süsskind (1910-1989) 67 versuchte nach ihrer Remigration aus Frankreich einen Brückenschlag zum Bruder, »denn in Europa sind nur noch wir zwei … ich bin zwar eine geborene Auerbach, aber habe alles was früher war

59 Schmuel Auerbach an Vf.in, 16.10.2003. 60 Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, Staatsarchiv, an Vf.in., 1.11.2001. 61 Schmuel Auerbach an Vf.in, 14.3.2003: Abdruck Computerdisk The Auerbach Family. 62 Joseph Auerbach an Vf.in, 10.12.2001. Er immigrierte in das seinerzeitige Palästina und lebt seit 1938 im Kibutz Chofez Chaim [Stand Sommer 2006]. 63 Max (Mordechai) Auerbach an Walter Auerbach, 15.1.1945 [Max (Mordechai) Auerbach hatte über die Redaktion Die Zeitung in London erfahren, dass sein Bruder den Holocaust im Londoner Exil überlebt hatte.] (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 54, AdsD). 64 Joseph Auerbach an Vf.in, 10.12.2001. 65 Max (Mordechai) Auerbach an Walter Auerbach, 15.5.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 54, AdsD). 66 Walter Auerbach an Max (Mordechai) Auerbach, 29.3.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 54, AdsD). 67 Schmuel Auerbach an Vf.in, 14.3.2003: Abdruck Computerdisk The Auerbach Family. 37 abgestreift.« 68 Entscheidend geprägt hätten sie die einundzwanzig Jahre Emigration in Frankreich. 69 Der Briefwechsel lief sporadisch bis in die späten 1960er Jahre, einmal kam es anlässlich einer Dienstreise Auerbachs nach Hamburg zu einer Begegnung der Geschwister. Die Schwester Mathilde Hirsch (1904-1942) 70 »floh mit Mann und Kindern nach Frankreich, aber bevor sie beide Opfer der Nazis wurden, gelang es ihnen 5 ihrer Kinder mit dem Bruder des Mannes in die USA zu schicken.« 71 Die Eheleute Hirsch mit ihren beiden jüngsten Kindern wurden im Konzentrationslager Auschwitz ermordet. Und der Bruder Jacob Auerbach, geboren 1913, verstarb 1939 im belgischen Exil. 72

Nach dem Abitur im Jahr 1924 73 begann Walter Auerbach sein Studium zunächst in seiner Heimatstadt Hamburg. 74 Im Frühjahr 1925 immatrikulierte er sich an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau 75 und konzentrierte sich hier auf die Fächer Soziologie und Zeitungswissenschaft. Diesen Schwerpunkt verfolgte er ab dem Wintersemester 1927/28 weiter an der Universität zu Köln und schloss hier das Studium 1929 mit einer Dissertation in Zeitungswissenschaft ab. In der Promotionsurkunde vom 23. November 1931 hieß es: »Die Philosophische Fakultät der Universität Köln verleiht … Herrn Walter Auerbach aus Hamburg auf Grund seiner guten Arbeit Presse und Gruppenbewußtsein. Vorarbeit zur Geschichte der deutschen Arbeiterpresse und der sehr gut bestandenen mündlichen Prüfung Würde und Recht eines Doktors der Philosophie.« 76 Mit Verweis auf die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit im Sommer 1939 war »Auerbach auch des Tragens seines akademischen Titels unwürdig.« 77 Ob er die im Deutschen Reichs- und

68 Bertha Süsskind (geb. Auerbach) an Walter Auerbach, 5.8.1953 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 49, AdsD). 69 Dies., 1.12.1953 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 49, AdsD). 70 Schmuel Auerbach an Vf.in, 14.3.2003: Abdruck Computerdisk The Auerbach Family. 71 Schmuel Auerbach an Vf.in, 29.8.2002. 72 Ders., 30.9.2002. 73 Zeugnisse befanden sich nicht im Nachlass von Walter Auerbach. 74 Vf.in an die Universität Hamburg, 15.2.2002. 20.2.2002 urschriftlich zurück vom Zentrum für Studierende der Universität Hamburg: »Wir haben keine Unterlagen und Immatrikulationsnachweise für Herrn Dr. Auerbach.« 75 Schreiben der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg an Vf.in, 20.2.2002: «Walter Auerbach war von Sommersemester 1925 bis Sommersemester 1927 an der Universität Freiburg/Breisgau eingeschrieben. Als letzte Lehranstalt vor seiner Immatrikulation dort war die Universität Hamburg angegeben.« 76 Promotionsurkunde Walter Auerbach (Altbestand Dekanatsakten Philosophische Fakultät, Promotionsakte, Zug. 44/568 und Dissertation, Zug. 44/1109, Universitätsarchiv Köln). 77 Dekan der Philosophischen Fakultät an S. Magnifizenz, den Rektor der Universität Köln, Professor Dr. Otto Kuhn, 20.6.1939 (Altbestand Dekanatsakten Philosophische Fakultät, Promotionsakte, Zug. 44/568, Universitätsarchiv Köln). 38

Preußischen Staatsanzeiger publizierte Maßnahme kannte? Respektiert hätte er sie nicht, denn das hätte ja die Akzeptanz der Legitimität des nationalsozialistischen Regimes vorausgesetzt. 78

Etwa siebzig Jahre später schrieb Stefanie Averbeck in ihrer Dissertation Kommunikation als Prozess. Soziologische Perspektiven in der Zeitungswissenschaft 1927-1934 : »Auerbachs Dissertation war eine Ausnahmedissertation unter den historiographisch orientierten Kölner Pressedissertationen. Auerbach wandte Kenntnisse in theoretischer Soziologie und Sprachphilosophie auf zeitungswissenschaftliche Fragestellungen an und ging mit diesem Ansatz weit über die quellenkundlichen Ambitionen seines Lehrers Martin Spahn hinaus.« 79 Martin Spahn, sein Doktorvater, betonte in seinem Gutachten, »dass ein zu wissenschaftlichem Denken veranlagter und wirklich begabter Mensch sie verfasst hat.« 80 Der Zweitprüfer, der Soziologe Professor Leopold von Wiese, schrieb in seiner Beurteilung: »Vielleicht werde ich meinerseits dem soziologischen Gehalt der Arbeit gerecht, wenn ich sie als gut bis sehr gut … bezeichne.«81 Allerdings meinte er auch, der Verfasser der Studie »vermeidet das, was ihn hätte wirklich fördern können: Einfachheit und Methodenstrenge.«82

Hinweise auf die Finanzierung des Studiums fehlen. Doch die Vermutung liegt nahe, dass Vater Aron Auerbach Unterstützung leistete. In einer umfangreichen literarischen Arbeit Walter Auerbachs mit dem Titel Einer verläßt das Haus mit offensichtlich autobiographischen Zügen verfasste er einen Dialog zwischen Ernst, dem studierenden Sohn eines Geschäftsmannes, und einer jungen Frau. Auf ihre Frage »Sind Sie Sozialist?« lautete die Antwort: »Nein, ich bin gar nichts. Ich stehe zwischen allem. Ich hasse den Profit und lebe von meinem

78 Gespräch Thomas Becker, Archiv der Universität Bonn, mit der Vf.in, 10.7.2002, in Bonn: Aberkennung von akademischen Titeln war ein sittenwidriger Akt, juristisch gesehen ein nichtiger Akt. Rehabilitierung hätte aus einem nichtigen Akt einen legalen gemacht. Dennoch haben unter anderen die Universitäten Freiburg/Breisgau, Tübingen, und Bonn in Feierstunden eine Rückgabe der aberkannten Titel vorgenommen. Am 12.12.2005 schloss sich auch die Universität zu Köln an. 79 Averbeck, Stefanie: Kommunikation als Prozess. Soziologische Perspektiven in der Zeitungswissenschaft 1927-1934, Münster 1999, S. 310. 80 Gutachten Professor Dr. Spahn (ohne Datum) (Altbestand Dekanatsakten Philosophische Fakultät, Promotionsakte, Zug. 44/568, Universitätsarchiv Köln). 81 Gutachten Professor Dr. Leopold von Wiese, Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften, Köln, 28.4.1929 (Altbestand Dekanatsakten Philosophische Fakultät, Promotionsakte, Zug. 44/568, Universitätsarchiv Köln). 82 Ebd. 39

Vater. Ich will Sozialist sein und fühle mich unter Arbeitern unbehaglich.« 83 Einige Seiten weiter spricht der Autor von einem monatlichen Unterhalt für Ernst in Höhe von 120,- Reichsmark. 84 Lore Auerbach erinnerte sich, dass zu Hause »immer die Rede von Nachhilfeunterricht war, vor allem im Zusammenhang mit der Inflation, wo er [ihr Vater] sich in Naturalien (Brötchen) auszahlen ließ … Aber das sagt nichts zur Promotionsphase.«85 Offenbar nicht erwähnt wurden im Hause Auerbach ein von Januar bis Mai 1929 befristetes Darlehen in Höhe von RM 90,- monatlich 86 und ein Stipendium in Höhe von RM 600,-- für die Promotionsphase und die für die Promotion anfallenden Gebühren.

Die Kölner Universität begründete die Vergabe des Stipendiums »an diesen Ausnahmestudenten«87 in einem internen Schriftwechsel zwischen dem Dekan der Philosophischen Falkultät und dem Rektor: Auerbach habe »sich dem Spahn’schen Zeitungsinstitut seit einem Jahr unentgeltlich zur Verfügung gestellt … um die Bücherei auch in Abwesenheit von Prof. Spahn, der regelmäßig nur einen Wochentag während des Semesters in Köln anwesend ist, offenhalten zu können.«88 Stefanie Averbeck erwähnte in ihrer Dissertation auch, dass Walter Auerbach sich »während zahlreicher Abwesenheiten Spahns um die Aufrechterhaltung des Lehrbetriebs am zeitungswissenschaftlichen Institut« 89 bemühte. Auerbach bat seinerzeit wiederholt in Briefen um Abhilfe der für ihn unhaltbaren Zustände. So schrieb er zu Beginn des Wintersemesters 1928/29: »Zu den Übungen haben sich 22 Kommilitonen eingetragen, es ist jedoch für mich unmöglich, ständig im Seminar zu weilen, da ich aus wirtschaftlichen Gründen zu größter Beschleunigung meines Studiums gezwungen bin.«90 Nur knapp vier Wochen später bat Auerbach erneut um Entlastung und wies auf die Arbeit an seiner Dissertation mit ihrer zeitraubenden Berichterstattung über die internationale Arbeiterpresse in der Zeitungswissenschaft hin: »Bisher habe ich die laufenden Geschäfte des Seminars neben Studium und Erwerbsarbeit

83 Auerbach: Roman[fragment] »Einer verläßt das Haus«, (o.O. u. J., aber während des Studiums), S. 83 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 23, AdsD). 84 Ebd., S. 8. 85 Lore Auerbach an Vf.in, 13.3.2003. 86 Auerbach an Spahn, 11.1.1929 (NL Spahn, Zug 9/267, Nr. 147, Universitätsarchiv Köln). 87 Klose, Hans-Georg: Zeitungswissenschaft in Köln. Ein Beitrag zur Professionalisierung der deutschen Zeitungswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, München u.a. 1989, S. 116. 88 Dekan Philosophische Fakultät an Rektor Professor Dr. Zinsser, 11.1.1929 (NL Spahn, Zug 9/267, Nr. 147, Universitätsarchiv Köln). 89 Averbeck: Kommunikation als Prozess, S. 311. 90 Auerbach an Spahn, 19.11.1928 (NL Spahn, Zug 9/267, Nr. 147, Universitätsarchiv Köln). 40 geführt.«91 Außer der Unterstützung seines Antrags auf Stipendium durch Spahn, einem Historiker, für den »Zeitgeschichte … zugleich Zeitungsgeschichte«92 war, geschah nichts. Konnte sich Auerbach der bekannt faszinierenden Ausstrahlung und Dynamik des Wissenschaftlers und Politikers der Deutschnationalen Volkspartei nicht entziehen? Von seiner Mentalität her handelte er aus Verantwortungsbewusstsein für seine Kommilitonen.

An seinem ersten Studienort Hamburg war Auerbach Vorstandsmitglied der Pazifistischen Studentengruppe, in Freiburg/Breisgau deren Vorsitzender. Diese Funktion hatte er in Freiburg und Köln auch im Sozialistischen Studentenbund Deutschlands und Österreichs inne,93 einem 1922 gegründeten Verband, der sich »zu den Zielen der sozialdemokratischen Parteien Deutschlands und Österreichs und der Sozialistischen Internationale«94 bekannte und den »Mitgliedern eine gründliche Kenntnis des Marxismus und der gesamten Probleme des wissenschaftlichen Sozialismus« 95 abverlangte. Als Ziele dieses Verbandes galten die Förderung und Gleichstellung von Studierenden aus Arbeiterfamilien, die etwa die Hälfte der Mitglieder ausmachte, und die Anleitung zu praktischer »Tätigkeit in den politischen und gewerkschaftlichen Einrichtungen der Arbeiterschaft.« 96

Politisches Vorbild für Auerbach wurde Fritz von Unruh, dessen Erlebnisse als Offizier im Ersten Weltkrieg ihn zum Pazifisten machten. 97 Seine Verehrung für diese Persönlichkeit drückte Walter Auerbach Jahrzehnte später in einem Glückwunsch zum 80. Geburtstag Fritz von Unruhs mit den Worten aus: »Ich schwanke, ob ich Ihnen für Ihr dichterisches Werk, das mir einst sehr viel bedeutet hat und mir nach Jahrzehnten als treuer Begleiter noch viel bedeutet, mehr danken soll als für den Anstoss, den Sie dem Kreis der Freideutschen, die sich um Walter Hammers ‚Junge Menschen’ scharten, gegeben haben.«98 Deren

91 Auerbach an Spahn, 12.12.1928 (NL Spahn, Zug 9/267, Nr. 147, Universitätsarchiv Köln). 92 Klose: Zeitungswissenschaft in Köln, S. 104. 93 Privatsammlung Lore Auerbach: Walter Auerbach: Lebenslauf (o.D., letzter Eintrag Oktober 1946). 94 Die Sozialistische Studentenschaft Deutschlands und Österreichs in den Kampfjahren 1931-1933, Fotokopien-Ausgabe (Anläßlich der Einweihung des neuen Parteihauses der SPD in Bonn Oktober 1975 - überreicht von Prof. Dr. Bruno Gleitze, Staatsminister a.D., Berlin), S. 6. 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Hammer, Walter (Hrsg.): Junge Menschen, Monatshefte für Politik, Kunst, Literatur und Leben aus dem Geiste der jungen Generation 6 (1925), Nr. 9 (o.S. ). 98 Auerbach an von Unruh, 12.5.1965 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 50, AdsD). 41

Ideologie brachte der Weggefährte jener Jahre, August Hillert, 1948 in einem Brief an Walter Auerbach auf den kurzen Nenner: »Wir hofften, durch eine Synthese der Weimarer Parteien dem kommenden Rechtsradikalismus entgegen zu wirken.«99 Vergeblich hatten die Freideutschen versucht, »für eine Erneuerung der demokratischen und sozialistischen Parteien zu arbeiten« 100 und standen letztendlich den mächtigen Parteiapparaten resigniert gegenüber. 101 Dennoch trat Walter Auerbach 1926 der SPD bei. 102 Hillert fügte seinem Brief eine »anekdotische Episode« an, »die Dir in Oberfohrens Versammlung in Gross- Flottbeck begegnete, wo Dir, als Du für die Deutsche Demokratische Partei sprachst, entgegen gehalten wurde, es sei nicht zu verstehen, wie Du als germanischer Jüngling die Juden in Schutz nehmen könntest.« 103

Pazifismus war in den Statuten des Sozialistischen Studentenbundes nicht expressis verbis erwähnt, für Walter Auerbach jedoch seit seiner Mitgliedschaft als Schüler in den Hamburger Republikanischen Freischaren (Freideutsche) 104 selbstverständlich. Der neun Jahre jüngere Cousin Schmuel Auerbach hatte Anfang der 1920er Jahre die Besuche »meines Onkel Aron und seiner Soehne Selig, der schlanke und magere, und Philipp, der dicke in Berlin«105 erlebt und wusste seitdem, »dass Selig (spaeter Walter) politisch interessiert und Mitglied der ‚Wandervoegel’ war.« 106 Auerbach nannte Freideutsche und Arbeiterbewegung in einem Atemzug und sprach rückblickend davon, dass die »Arbeit für die Aufgabe betäubte. Diese Betäubung war bitter nötig 1933-1939 und vor allem 1939-1945 und unmittelbar nach der Heimkehr [1946].«107 Aus diesen Worten geht hervor, dass er bereits zum Zeitpunkt seines Eintritts in die Jugendbewegung die Flucht in die Arbeit suchte, damals zur Kompensation der Erwartungen der Eltern. In Anlehnung an eine Textstelle von George Bernard Shaw, die er nicht mehr wörtlich erinnerte, auch nicht den Buchtitel, formulierte Walter Auerbach im Dezember 1961 rückblickend seine Berufung: »Ich weiss, dass mein Leben der Allgemeinheit gehört und so lange ich lebe ist es mein

99 Hillert an Auerbach, 6.4.1948 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 39, AdsD). 100 Borinski, Fritz und Werner Milch: Jugendbewegung. Die Geschichte der deutschen Jugend 1896-1933, Frankfurt/M. 1967, S. 43. [Walter Auerbach kannte beide Autoren aus dem Exil in England.] 101 Ebd. 102 Privatsammlung Lore Auerbach: Walter Auerbach: Lebenslauf (o.D., letzter Eintrag Oktober 1946). 103 Hillert an Auerbach, 6.4.1948 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 39, AdsD). 104 Auerbach an von Unruh, 12.5.65 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 50, AdsD) und Privatsammlung Lore Auerbach: Auerbach: Abschiedsbrief, 30.12.1961. 105 Schmuel Auerbach an Vf.in, 24.7.2002. 106 Ebd. 107 Privatsammlung Lore Auerbach: Auerbach: Abschiedsbrief, 30.12.1961. 42

Vorrecht, alles für sie zu tun,« und konsequenterweise spielten Familie und Freunde dabei Nebenrollen: »Verzeiht, dass ich Euch und anderen oft weh getan habe, dass ich mit meiner Zeit gegeizt habe, weil ich glaubte keine Zeit zu haben.« 108 Trotz dieser Erkenntnis im Jahr 1961 nahm Tochter Lore keine Veränderung bis zu seinem Tod vierzehn Jahre später wahr. Arbeit dominierte weiter sein Leben. Er war und blieb auf allen Bühnen zeitlebens der Außenseiter, als der er bereits in der Herkunftsfamilie galt: »Selig Walter wurde mir schon als Kind als ‚Outsider’ erwähnt,«109 erinnerte sich Schmuel Auerbach.

Konsequenzen seiner politischen Hochschularbeit spürte Auerbach umgehend nach Abschluss des Studiums im Frühjahr 1929. In einer vergeblichen Bewerbung um Habilitation bei Professor Ludwig Bergsträsser im Jahr 1946 schilderte er die seinerzeitige Situation: »Ich wollte bereits 1929 als Assistent an einem Soziologischen Institut arbeiten, um mich spaeter fuer Soziologie, Geschichte der europaeischen Arbeiterbewegung und Gegenwartsgeschichte zu habilitieren. Die damalige politische Entwicklung schloss das aus, ich war als langjaehriger Vorsitzender der Sozialistischen Studentengruppen in Freiburg und Koeln ‚vorbelastet’.« 110 Nolens volens entschied sich Auerbach für eine gewerkschaftspolitische Karriere. Der verhinderte Wissenschaftler avancierte 1930 zum Gewerkschafter wider Willen beim Gesamtverband, eine Funktion, die ihn auf das Erwerbsleben im Exil vorbereitete. In jener Zeit wirkte Auerbach als Gastdozent an der Bundesschule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in Bernau bei Berlin. 111 Bereits während des Studiums arbeitete er als Referent bei Gewerkschafts- und Parteiveranstaltungen und als Kursleiter an Arbeiterbildungsschulen in Freiburg und Köln. 112

Den Gedanken an Habilitation und Universitätslaufbahn hatte er während seiner Tätigkeit beim Gesamtverband beibehalten. Unter den nach der Emigration im Mai 1933 zurückgelassenen und beschlagnahmten Gegenständen befand sich seine Bibliothek mit etwa 1.500 Büchern »(einschließl. einer nicht ersetzbaren Sammlung politischer Broschüren und Erstausgaben und Jubiläumsausgaben von Gewerkschaftszeitungen und sozialistischen Zeitschriften, die Grundlage für

108 Ebd. 109 Schmuel Auerbach an Vf.in, 29.8.2002. 110 Auerbach an Bergstraesser, 12.5.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 61, AdsD). 111 Privatsammlung Lore Auerbach: Walter Auerbach: Lebenslauf (o.D., letzter Eintrag Oktober 1946). 112 Auerbach an Bergstraesser, 12.5.1946 (Anlage Lebenslauf) (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 61, AdsD). 43 eine Habilitationsarbeit sein sollten).« 113 Ein Aperçu: »Gestohlen bei Walter Auerbach,« so hieß ein handschriftlicher Eintrag in der Broschüre Die neue Moral und die Arbeiterklasse von Alexandra Kollontaj, 114 die im Jahr 1950 in der Bayerischen Staatsbibliothek in München bei der Aufarbeitung von Bücherbeständen aus nationalsozialistischem Parteibesitz auftauchte. 115

Über den Pazifismus in seiner Widersprüchlichkeit angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung diskutierten viele politische Emigranten aus dem linken Spektrum der Arbeiterbewegung, der Liga für Menschenrechte und der Schriftsteller in den Jahren nach 1933. Walter Auerbach setzte sich in Gesprächen und Korrespondenzen mit Gleichgesinnten immer wieder mit Pazifismus auseinander. Sein langjähriger Freund und Studienkollege Franz Hering, bis zur Zerschlagung der deutschen Gewerkschaften am 2. Mai 1933 Sekretär beim Deutschen Holzarbeiterverband in Berlin, schrieb im November 1940: »I am now in the [British] army just one month.« 116 Auerbach reagierte darauf mit Auszügen aus gemeinsamen Diskussionen in Vorkriegstagen: »Wir waren uns darüber klar, dass jeder, der mit der Waffe in der Hand kämpft, in bestimmten Kreisen, auch der deutschen Arbeiterschaft, auf eine schwer überwindbare gefühlsmässige Abwehr stossen wird, vor allem, wenn dieser Kreis Angehörige im Krieg verloren hat. Deshalb sollten unserer Meinung nach aktive Sozialisten versuchen, sich an anderer, im totalen Krieg genau so gefährlicher Stelle einzusetzen. Als die Frage auftauchte: was wird, wenn Holland überfallen wird? bestand Einmütigkeit darüber, dass jeder, wenn er könnte, mit der Waffe kämpfen würde.«117

Die Abkehr vom Pazifismus fand Eingang in die Literatur. Grete Weil griff das Thema aus der Perspektive des niederländischen Exils in ihren autobiographischen Aufzeichnungen Leb ich denn, wenn andere leben mit dem Satz auf: »Wir sind beide leidenschaftliche Pazifisten, jäh gezwungen, den Krieg zu bejahen, weil er uns als einzige Möglichkeit erscheint, den Nationalsozialismus zu überwinden und die Welt wieder lebbar zu machen.«118

113 Auerbach, 29.11.1948, Korrespondenz Wiedergutmachung (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 22, AdsD). 114 Alexandra Kollontaj (1872-1952), russische Revolutionärin, Frauenrechtlerin, Schriftstellerin und Diplomatin, in: Jacoby (Hrsg.): Lexikon linker Leitfiguren, S. 211 ff. 115 Bayerische Staatsbibliothek an Philipp Auerbach, 3.3.1950 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 31, AdsD). 116 Hering an Auerbach, 21.11.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 22, AdsD). 117 Auerbach an Hering, 31.1.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 23, AdsD). 118 Weil, Grete: Leb ich denn, wenn andere leben, Frankfurt/M. 2001, S. 147. 44

Ein Bekenntnis zur Kontinuität seiner pazifistischen Grundüberzeugung aus den 1920er Jahren drückte Auerbach in einer Stellungnahme zu Angriffen Vansittarts 119 im Frühjahr 1942 aus: »I was somewhat amused to see that your informants had told you I wished to maintain the German army, although I appreciate their anxiousness not to let you know that I have been connected since 1924, i.e. since I went to the university, with the German anti-militarist movement; that I was nearly expelled from the Socialdemocratic Party on account of the part I took in the Socialist Students’ opposition against the construction of the Cruiser A, the symbol of German rearmament. No need to say the events of these 14 years have only deepened my convictions.«120

In der Zeit des phoney war reflektierte Auerbach in einem Brief an einen Freund, vermutlich Hans Jahn 121 , über seine, wie sich später herausstellte, berechtigten Zweifel, »ob in einem Verteidigungskrieg gegen von den Nazis kommandierte deutsche Truppen deutsche Sozialisten in feindlichen Armeen kämpfen könnten oder nicht.« 122 Er befürchtete bereits damals, »dass ein Deutscher, der in Formationen der französischen oder englischen Armee Dienst tut, nach dem Krieg bei der politischen Säuberungsarbeit in den breiten, von der nazistischen Propaganda jahrelang beeinflussten Massen auf grosse Schwierigkeiten stossen wird.«123 Er blieb jedoch bei seiner Meinung, »dass Dienst in der Armee eines kleinen, von den Nazis überfallenen Staates keine derartige politische Vorbelastung ist.«124 Bei Diskussionen mit deutschen Emigranten traf Auerbach auf keine einheitliche Linie. Manche fanden seine »Nuancierung zu gewagt und glaubten, dass auch Dienst in der französischen oder englischen Armee nicht im Vierten Reich politisch funktionsunfähig machen würde.« 125 Im Fall Finnlands

119 Robert (Gilbert) Vansittart (1881-1957), Permanent Under-Secretary at the Foreign Office. 1938-1941 Chief Diplomatic Adviser. 1942 Lord. »His views of Germany hardened; in a series of BBC talks, Black Record: Germans Past and Present (1941) … ‘Vansittartism’ provoked considerable public controversy in wartime Britain and Vansittart’s public campaign for a harsh peace was not without importance in shaping British surrender policies«, in: Keith Robbins (Hrsg.): The Blackwell Biographical Dictionary of British Political Life in the Twentieth Century, Oxford 1990, S. 405 f. 120 Auerbach an Lord Vansittart, 25.3.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 34, AdsD). 121 Hans Jahn, 1933 bis 1945 Pseudonym Hans Kramer (1888-1960), 1935 Emigration zunächst Niederlande, dann Belgien und Luxemburg, 1940 England. Remigration nach Deutschland 1945. Mitbegründer und 1949-1959 Vorsitzender der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED), 1949-1960 Mitglied des Deutschen Bundestages (SPD), 1956-1958 Präsident der ITF, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 328 f. 122 Auerbach an »Lieber Freund« [Hinweis auf Luxemburg deutet auf Hans Jahn hin.], 5.1.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 15, AdsD). 123 Ebd. 124 Ebd. 125 Ebd. 45 erschien Auerbach ein militärisches Engagement deutscher Sozialisten unbedenklich, da »der Gegner in diesem Falle der imperialistisch pervertierte russische Staat ist, sodass aus Teilnahme an diesem Kampf keine volle politische Vorbelastung für unsere kommende Arbeit entstehen wird.«126

Die Kommilitonin und spätere Ehefrau Käte Paulsen unterstützte Auerbach bei seinem Promotionsvorhaben. Sie erledigte die maschinenschriftlichen Vorlagen, die Reinschrift und stellte ihr eigenes Dissertationsvorhaben zurück. Sie selbst »arbeitete über Jürg Jenatsch (1596-1639), Graubünder Freiheitsheld … Um Archivrecherchen durchzuführen, hat sie ein Semester in Wien studiert.« 127 Dieses Projekt verwirklichte sie aus finanziellen Gründen nicht, weil die Promotion Walter Auerbachs Vorrang hatte. 128 Und warum nicht anschließend? Von 1930 bis zur Emigration 1933 lebten die Auerbachs in gesicherten Einkommensverhältnissen.

Studiert hatte Käte Auerbach Deutsch, Geschichte und Anglistik. Sie hatte die Lehrbefähigung für Höhere Schulen. 129 Nach der Emigration in die Niederlande fand sie sich schnell in der neuen Sprache zurecht und arbeitete freiberuflich als Übersetzerin. Der Roman Mutter, warum leben wir?, verfasst von Lode Zielens aus Antwerpen und übersetzt von Käte Auerbach, wurde 1938 zunächst nicht verlegt, da das eher düstere Stimmungsbild nicht dem Zeitgeist entsprach. 130 Die Büchergilde Zürich gab im Jahr 1942 das ebenfalls von Käte Auerbach übersetzte Glücksrad von Theun de Vries heraus. 131 Auch in England besserte Käte Auerbach das Familieneinkommen mit Übersetzungsarbeiten auf. 132

Am 21. Juni 1929 heirateten der Redakteur Walter Auerbach und Käte Paulsen standesamtlich in Köln. 133 »Beide Elternteile haben die Religionen ihrer Herkunftsfamilien [Judentum/Protestantismus] sehr jung aufgegeben, nicht aber die Werte, die sich jeweils daraus ableiten lassen.«134 Die Hamburger Familie Walter Auerbachs versuchte durch einen Emissär, Sohn Philipp Auerbach, die

126 Ebd. 127 Lore Auerbach an Vf.in, 7.3.2002. 128 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 15.10.2001, in Bonn. 129 Dies. 130 Genossenschaft Büchergilde Gutenberg an Käte Auerbach, 31.5.1938 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 12, AdsD). 131 Lore Auerbach an Vf.in, 10.10.2002. 132 Voigt, Christine: Es war eigentlich beinahe zwangsläufig! Leonore (Lore) Auerbach, in: Bärbel Clemens (Hrsg.): Frauen machen Politik. Parlamentarierinnen in Niedersachsen, Hannover 1996, S. 170 f. 133 Privatsammlung Lore Auerbach: Heiratsregister der Stadt Köln, Nr. 338, 1929. 134 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 15.10.2001, in Bonn. 46

Heirat zu verhindern. Doch der dachte nicht daran zu intervenieren, überbrachte nur die Botschaft und meinte lächelnd, so seine Mission erfüllt zu haben. 135 Die Eltern Paulsen ignorierten die Heirat ebenfalls. Bei ihnen galt er weiterhin als Jude, und sie brachen den Kontakt zur Tochter ab. Der Wendepunkt im Bewusstsein der Paulsens kam nach der Verhaftung ihres jüdischen Hausarztes. 136 Im Nachlass Walter Auerbachs existieren einige handschriftliche Briefe in Sütterlin, unterzeichnet abwechselnd mit Großvater, Großmutter und »Eure alten Eltern« 137 aus den Jahren 1938 und 1939 an die Amsterdamer Adresse und ein letzter Brief aus dem Jahr 1940, der die Auerbachs in Kempston über das Internationale Rote Kreuz erreichte. 138

Mit Überraschung und Verwunderung reagierten die Töchter der Auerbachs auf den Inhalt dieser Briefe. Es bestand offenbar »ein viel wärmeres Verhältnis [zu den] Großeltern mütterlicherseits, als unsere Mutter es je zu uns darstellte,«139 schrieb Irene Auerbach. Zu einer Begegnung der beiden Familien im Nachkriegsdeutschland kam es nicht mehr. Im Gespräch erwähnte Lore Auerbach, dass ihre Großmutter und möglicherweise auch der Großvater gegen Kriegsende Suizid begingen. Dies verschwieg Käte Auerbach ihren Töchtern. Erst nach ihrem Tod fanden sie Aufzeichnungen darüber. 140 Bereits in den Briefen aus der Vorkriegszeit klang Abschiedsstimmung durch: »In wenigen Tagen wird sich unser Schicksal entscheiden, Krieg oder nicht. Wenn Du keinen Brief mehr von uns bekommst, sind wir erledigt. So können wir Euch nur noch alles Liebe und alles Erfreuliche wünschen. Wir erbitten von Euch ein gutes Andenken.«141

Wenig später schöpften die beiden alten Leute in Görlitz neue Hoffnung aus dem Münchner Abkommen vom September 1938: »Ja das scheinbar ganz Unmögliche ist Tatsache geworden, vier Staatsmänner [Neville Chamberlain, Édouard Daladier, Adolf Hitler und Benito Mussolini], von denen man nie geglaubt hätte, daß sie sich unter einen Hut bringen ließen, haben der ganzen Welt den Frieden erhalten.« 142 Die Paulsens erwarteten nunmehr, dass die

135 Dies. 136 Gespräch Lore und Irene Auerbach mit der Vf.in, 12.12.2005, in Köln. 137 Privatsammlung Lore Auerbach: Der Stammbaum weist die Vornamen Emil Christian und Lina Elisabeth Hedwig aus. Die Rufnamen sind nicht markiert. 138 NL W. Auerbach, Teil 1, Mappen 12, 13 und 20, AdsD. 139 Irene Auerbach an Vf.in, 9.11.2002. 140 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 15.10.2001, in Bonn. 141 Großmutter Paulsen, ohne Datum (kurz vor Unterzeichnung des Münchner Abkommens von 1938) (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 12, AdsD). 142 Großvater Paulsen, 5.9.1938 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 12, AdsD). 47

Luftschutzübungen und die Anschaffung von Gasmasken überflüssig seien. 143 Erneute Zweifel an einem langfristigen Frieden in Europa löste bei ihnen eine beigefügte kurze Zeitungsnotiz aus mit dem Verweis auf eine im niederländischen Parlament abgegebene schriftliche Erklärung des holländischen Außenministers Patijn, in der es hieß, dass Holland an der Politik der bewaffneten Neutralität festhielte. 144

Käte Auerbach hinterließ kaum Spuren im umfangreichen Nachlass Walter Auerbachs. Schlaglichtartige Details aus wenigen erhalten gebliebenen Briefen und aus Berichten der Töchter bieten ein bruchstückhaftes Bild. Zwei Abschiedsbriefe Walter Auerbachs aus den Jahren 1948 und 1961 beleuchteten seine Verehrung für sie und ihre Bedeutung für ihn. Sie blieb die Frau im Hintergrund, die Karrierebegleiterin, eine Rolle, die sie in ihrem Lebensentwurf nicht vorgesehen hatte. Nach dem Tod der Mutter fanden Lore und Irene Auerbach stenographische Aufzeichnungen, die besagten, dass sie sich ihr Leben anders vorgestellt habe. 145 Mit Recht, ihre Intellektualität, ihre wissenschaftlichen und politischen Ambitionen, ihr Talent für Fremdsprachen waren weitgehend ungenutzte Ressourcen. Vermutlich machten gerade diese intellektuellen Stärken ihre Attraktivität für Walter Auerbach aus. In den Jahren der Emigration leistete sie Schattenarbeit als seine Privatsekretärin. Eine persönliche Mitarbeiterin bei der ITF stand ihm nicht zur Verfügung.

In einem Begleitbrief Käte Auerbachs an einen der Mitautoren von The Next Germany 146 schilderte sie ihren Part und sein Rollenverständnis, er, der Denker, sie, die Sekretärin: »Mein Mann ist, nachdem wir unsere Notizen verglichen hatten und ich das Diktat aufgenommen hatte, erschöpft ins Bett gesunken … und hat es meiner robusteren Gemütsverfassung überlassen, das Manuskript versandfertig zu machen.« 147 Als latente oder manifeste Frauenfeindlichkeit des Vaters legten die Töchter diese Worte nicht aus. Sie widersprachen heftig der Interpretation der Feministin. Die ältere, Lore Auerbach, betonte, der Vater habe sie immer ermutigt, »die traditionelle Frauenrolle nicht zu akzeptieren.«148 Beide

143 Ebd. 144 Großvater Paulsen, 12.2.1939: Zeitungsnotiz, 8.2.1939 (ohne Angabe des Presseorgans) (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 13, AdsD). 145 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 16.10.2001, in Bonn. 146 Auerbach, Walter/Hellmut von Rauschenplat [Fritz Eberhard]/Otto Kahn-Freund/Kurt Mandelbaum: The Next Germany. A Basis of Discussion on Peace in Germany, Harmondsworth/New York 1943. 147 Käte Auerbach an Kahn-Freund (ohne Datum) (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 72, AdsD). 148 Lore Auerbach an Vf.in, 14.7.2002. 48

Töchter wurden Musiklehrerinnen, blieben unverheiratet und kinderlos und wurden mit den Problemen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nie konfrontiert. Vorgestellt hatte sich Auerbach für seine Älteste eine Universitätskarriere, sie hingegen zog die Politik vor. Dieses Metier kannte sie von klein an. Nach der Kommunalwahl in Niedersachsen im Jahr 1976 bestimmte sie ihre Partei, die SPD, zur Bürgermeisterin in Hildesheim, der Oberbürgermeister wurde von der CDU gestellt, und von 1986 bis 1994 war die Sozialdemokratin Abgeordnete im Landtag von Niedersachsen in Hannover. 149

Der Blickwinkel eines Vaters ist ein anderer als der eines Ehemannes. Dieser bevorzugte offensichtlich die Karrierebegleiterin, wie zum Beispiel auch Kandinsky. Dessen Frau Nina äußerte, wenn »eine Frau einen Mann richtig liebt, dann muß sie ihm den Haushalt gewissenhaft führen … Sie muß hinter dem Mann zurücktreten und vieles aufgeben, damit er sich entfalten und ohne Sorgen arbeiten kann. Ich habe das getan: Deshalb war unsere Ehe so glücklich … Ich habe versucht, Kandinsky das Leben zu erleichtern.«150 Susanne Miller hatte in den Londoner Jahren den Eindruck einer harmonischen Partnerschaft der beiden Auerbachs.151 Lore Auerbach erzählte von einer Dampferfahrt auf dem Rhein anlässlich des siebzigsten Geburtstags der Mutter. Bei diesem Anlass habe ihr Vater »in Abwandlung des englischen ‚sweet seventeen’ von ‚sweet seventy’ gesprochen.« 152 Mit einer weiteren Geschichte aus dem Elternhaus bemühte sich die ältere Tochter um Korrektur des Bildes der Verfasserin: »Als mein Vater nach der Bundestagswahl 1969 Staatssekretär in Bonn wurde, fand er nicht gleich eine Wohnung. Also war er Wochenendpendler. Irgendwann im Frühjahr 1970 kam dann der Umzug, und als der abgeschlossen war, hat mein Vater meine Mutter so heftig gedrückt, dass er ihr eine Rippe brach.«153

In den Berliner Jahren 1930 bis 1933 betätigte sich Käte Auerbach in Wahlkämpfen für die SPD, deren Mitglied sie seit Studientagen war. Schilderungen von Diskussionsrunden ließen durchaus feministische Ansätze außerhalb des Ehealltags bei ihr erkennen: »Es war köstlich, wie die Frauen radikalisiert waren. Die Männer wussten gar nicht, was ihnen geschah, wenn die Frauen so aggressiv mit ihren funkelnagelneuen [von Käte Auerbach

149 Voigt: Es war eigentlich beinahe zwangsläufig!, S. 175 f. 150 Kandinsky, Nina: Kandinsky und ich, München 1987, S. 234 f. 151 Gespräch Susanne Miller mit der Vf.in, 3.10.2001, in Bonn. 152 Lore Auerbach an Vf.in, 28.8.2003. 153 Dies., 17.9.2003. 49 vermittelten] Argumenten um sich warfen,« 154 schrieb sie ihrem Ehemann in einem Brief. An anderer Stelle mokierte sie sich darüber, »dass heut abend auch Männer kommen wollen. Das kann ja heiter werden, wenn die meine Ketzereien hören!« 155 Wenig fortschrittlich klang Käte Auerbachs Ankündigung an einem frühen Sonntagmorgen, nach Eichwalde zurückzukehren: »Ich kann also gemütlich ein Sonntagsessen vorbereiten.«156 In einem Interview beschrieb Lore Auerbach hingegen »ihre Mutter als eine sehr emanzipierte Frau, die sich nur aufgrund der schwierigen Lebenssituation der geschlechtstypischen Arbeitsteilung fügte.«157

Theorie und Praxis in der Frauenfrage klafften bei Walter Auerbach weit auseinander. Seine Herkunft aus einer traditionsreichen jüdisch-orthodoxen Familie hinterließ unbewusst patriarchale Denkstrukturen. Möglicherweise formulierte auch nicht er, sondern einer der drei männlichen Koautoren von The Next Germany die programmatischen Gedanken zur Frauenfrage. Das Kapitel »Women« ging nicht in die von Penguin publizierte Endfassung ein, schien Auerbach aber wichtig genug, aufbewahrt zu werden. In dem Entwurf hieß es unter anderem: »It is selfunderstanding that in a future Germany complete political and legal equality between the sexes must be restored and economic equality must be safeguarded. There can be no question of relegating the women to the kitchen and the nursery. Quite apart from questions of principle the demographic structure of the nation will make it necessary for a very large number of women to be economically independent … This is manifestly impossible, unless there is complete equality between the sexes as regard wages, occupational and educational opportunities.«158 Das politische Exil war gekennzeichnet durch männliche Dominanz; die Domäne der Frauen lag im sozialdemokratisch-karitativen und pflegerischen Engagement, der in der Arbeiterbewegung traditionellen Arbeitsteilung.

In einem langen Aufsatz mit dem Titel Frauen in Deutschland. Versuch einer Bilanz setzte sich Auerbach durchaus kritisch mit dem Ungleichgewicht von Männern und Frauen in der politischen Arbeit der SPD in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren auseinander. Es ist zu vermuten, dass Käte Auerbach

154 Käte Auerbach an Walter Auerbach, 26.11.1930 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 9, AdsD). 155 Ebd. 156 Dies., 27.11.1930. 157 Voigt: Es war eigentlich beinahe zwangsläufig!, S. 171. 158 Manuskript The Next Germany, Kapitel »Women«, S. 2 [in der Endfassung von The Next Germany nicht berücksichtigt] (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 72, AdsD). 50 diesen Aufsatz konzipierte. Die Entwürfe waren mit K. unterzeichnet, und dieses K. war in der Schlussfassung handschriftlich gestrichen. Den wesentlichen Teil des Manuskripts machten deskriptive Erörterungen von Rechten und Pflichten der Frau im Dritten Reich und Zitate von männlichen NS-Vordenkern und Ideologen aus, die problemlos beide Auerbachs kritisch betrachten konnten. Die kurze Passage zur eigenen Partei in der Zwischenkriegszeit lautete: »Und die politische Erziehungsarbeit war überdies nur sehr schwer von einer Sozialdemokratie zu leisten, die wohl immer wieder zitierte, dass nach der Weimarer Reichsverfassung Mann und Frau gleichberechtigt seien, die aber in der eigenen Bewegung diese Gleichberechtigung nicht anerkannte.«159 Nicht nur »The transport trade unions and the ITF were such ‘male worlds’.«160

Die politischen Chefetagen, in denen sich Walter Auerbach nach der Remigration bewegte, blieben Männerwelten. Ein markantes Exempel für die Sichtweise und Mentalität von Gewerkschaftsfunktionären in England, aber auf Deutschland anwendbar, bot Arthur Deakin, »General Secretary of the British TGWU [Transport and General Workers’ Union] and by far the most powerful trade union leader of his day« 161 auf dem ITF-Kongress im Jahr 1950. Er behauptete unwidersprochen, die Schattenseite von Vollbeschäftigung sei: »We have to do something we do not like doing … except in the direct necessity, and that is to employ women in our transport industry. We had them during the war … but now we believe … that the women ought in some measure to go back to their homes … we do not believe - as they do in some of the slave states of Europe - in making woman another breadwinner.« 162 Auerbachs Sichtweise von Frauen im Erwerbsleben in der Nachkriegszeit trug zuweilen diskriminierende Züge. So forderte er von den weiblichen Verwaltungsangestellten im Zentralamt für Arbeit in Lemgo strikte Einhaltung des Helferinnenplans für die Essensausgabe und ließ Ausflüchte der Damen nicht gelten. Der Vizepräsident Auerbach sprach ausdrücklich von einer Gemeinschaftsaufgabe. 163 Doch wo blieben da die Herren?

159 Auerbach: Frauen in Deutschland. Versuch einer Bilanz [nach Aktenlage 1934] (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 69, AdsD). 160 Collette, Christine und Bob Reinalda: ITF and Women during the Inter-War-Period, in: Bob Reinalda (Hrsg.): The International Transport Workers Federation 1914-1945. The Edo Fimmen Era, Amsterdam 1997, S. 126. 161 Lewis, Harold: The International Transport Workers’ Federation (ITF) 1945-1965: An Organizational and Political Anatomy, Warwick 2003, S. 19. 162 Zit. nach ebd., S. 19 f. 163 Präsident (I.V. Dr. Auerbach) an die Herren Abteilungsleiter im Zentralamt für Arbeit, Lemgo, 20.8.1947 (Bestand ZfA, Z 40, Mappe 103, BArch). 51

Nach der Rückkehr aus dem Exil unterbrach Käte Auerbach für zwei Jahre die tradierte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Hause Auerbach gegen die inneren, aber unausgesprochenen Vorbehalte des Partners, der durch ihre Tätigkeit als Klassenlehrerin an einer Lemgoer Grundschule seine Bequemlichkeit im Familienalltag massiv gestört sah: »Die Intensität der Arbeit, die durch Deine Arbeit in unsere Zweizimmerwohnung für uns 4 Personen hineingetragen wurde, war eine ungeheure Überlastung. Denn Du weißt, ich habe mich trotz der widrigen äusseren Umstände, nie geschont und die häusliche Ruhe litt unter der Intensität. Und ich war oft so ruhebedürftig. Aber ich weiss wie Du die schweren Jahre seit 1933 unter der Nichtberufstätigkeit gelitten hast und erhob deshalb keine Einwendungen gegen Deine Berufstätigkeit.«164 Die Töchter erfuhren erst im Sommer 2003 durch die Autorin von der Existenz dieses Abschiedsbriefes aus dem Jahr 1948. Irene Auerbach kommentierte die Passage zur Lehrtätigkeit der Mutter mit den Worten, dass »mein Vater über die Unterrichtstätigkeit meiner Mutter in Lemgo nicht glücklich gewesen ist, war mir vollkommen neu und überraschend - ich dachte, er würde ihren Beitrag zum Aufbau eines besseren Deutschland darin sehen.«165 »Überrascht und ein wenig entsetzt« war Lore Auerbach, »daß er [der Vater] nicht Feuer und Flamme war, daß die Mutter in den Schuldienst ging - wo durch Kriegsgefangene … und Nazibelastung solcher Mangel an Lehrern herrschte. Ich hatte immer den Eindruck, daß er Berufstätigkeit der Frau für selbstverständlich hielt … Ja, Vaters Ruhebedürftigkeit dominierte den Haushalt, wenn er im Hause war - ob er arbeitete oder Mittags schlief - das war zeitlebens so.« 166 Doch unter dem Damoklesschwert seines vermeintlich bevorstehenden Todes gewann Auerbach der Berufstätigkeit seiner Frau positive Aspekte ab. »Jetzt, da ich plötzlich vom Schauplatz verschwinde, erweist sich Deine Lehrertätigkeit als ein Segen.«167 In einem Brief, verfasst in einer Sitzung der Bizonalen Arbeitsgemeinschaft, sprach er die Befürchtung aus, kurzfristig einem Gehirntumor zu erliegen, und bedauerte: »Ich scheide gerade jetzt ungern aus. Auf dem Gebiet der Sozialpolitik glaube ich noch an wichtigen Fragen mithelfen zu können. Einige

164 Walter Auerbach an Käte Auerbach, 14.7.1948 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 30, AdsD). 165 Irene Auerbach an Vf.in, 30.8.2003. 166 Lore Auerbach an Vf.in, 4.7.2003. 167 Walter Auerbach an Käte Auerbach, 14.7.1948 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 30, AdsD). 52 literarische Arbeiten hätte ich sehr gern noch abgeschlossen … Es sind viele Romane und Dramen ungeschrieben geblieben.«168

Von dieser Dramatik und der Kritik an den Störungen der häuslichen Atmosphäre erfuhr Käte Auerbach nichts, es sei denn im Gespräch. Der Umschlag trug zwar den Vermerk BITTE SOFORT ÜBERBRINGEN, doch er landete beinahe drei Jahrzehnte später mit dem gesamten Nachlass ungeöffnet im Archiv. Käte Auerbach verzichtete nach dem Umzug von Lemgo nach Hannover auf eine erneute Berufstätigkeit. Tochter Lore vermutete dahinter beamtenrechtliche Unvereinbarkeit bei verheirateten Frauen, nicht aber die Familiensituation, »da wir beiden Kinder älter und selbständiger geworden waren.« 169 Käte Auerbach griff ihre ehrenamtlichen Aktivitäten aus den frühen dreißiger Jahren in der SPD wieder auf und befasste sich vorrangig mit Kulturpolitik und bezeichnenderweise mit Frauenfragen. An zwei bis drei Abenden wöchentlich ging sie ihren Verpflichtungen in SPD-Gremien nach, hatte aber niemals ein Mandat. 170

»Ich weiß nicht, wann meine Eltern von Köln nach Berlin zogen. Dabei fällt mir auf, dass ich auch nicht weiß, was mein Vater nach Abschluss seiner Promotion gemacht hat.« 171 Weder die Erinnerungen Lore Auerbachs an Gespräche im Elternhaus noch die Lebensläufe in den Archivmaterialien ergeben konkrete Hinweise. Im Jahr 1930 begann Walter Auerbach seine Tätigkeit beim Gesamtverband. Er arbeitete in den ersten beiden Jahren als Bibliothekar und seit März 1932 als persönlicher Sekretär des Vorsitzenden und SPD- Abgeordneten im Deutschen Reichstag, Anton Reißner. Im Frühjahr 1933 hatte sich Walter Auerbach entschlossen, sein Arbeitsverhältnis aufzukündigen, sollte sich der Gesamtverband »unter Verzicht auf selbständige Gewerkschaftspolitik der Regierung« 172 unterstellen. Am 10. April 1933 schien zwar für ihn der Zeitpunkt gekommen, doch er blieb vorerst, um Entlastungsmaterial für ein gegen Reißner anhängiges Strafverfahren zu erarbeiten. 173 In einem Rundbrief Reißners an Bürger seines Wahlkreises Frankfurt an der Oder hatte die Berliner Staatsanwaltschaft »eine Nuance der Beleidigung erblickt.« 174

168 Ebd. 169 Lore Auerbach an Vf.in, 7.3.2002. 170 Irene Auerbach an Vf.in, 30.8.2003. 171 Lore Auerbach an Vf.in, 10.10.2002. 172 Bericht W. A. an ITF nach Ankunft in Amsterdam, S. 5 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 80, AdsD). 173 Ebd., S. 6. 174 Ebd., S. 5. 53

Hatte Auerbach als dessen Ghostwriter diesen Wählerbrief verfasst, und fühlte er sich für kritische Passagen gegen die neuen Machthaber verantwortlich? Er selbst bekannte einmal gegenüber dem Chefredakteur der Zeitschrift Arbeit des ADGB, Lothar Erdmann: »Ich bearbeite unter anderem das … Agitationsmaterial des Gesamtverbandes gegen die Nationalsozialisten.«175 Reißner und Auerbach vereinbarten, am 2. Mai den Zeitpunkt seines Ausscheidens zu bestimmen. 176 Daher befand sich Auerbach an dem Tag im Büro, »als um 10 Uhr S.A. das Haus des Gesamtverbandes mit ca. 130 Mann besetzte.«177 Zuerst wurden Reißner und andere Persönlichkeiten des Vorstands aus einer Besprechung heraus in Schutzhaft genommen, anschließend Auerbach und die gesamte übrige Belegschaft von der SA, »zum Teil mit gezogenem Revolver,« 178 in den Sitzungssaal in der vierten Etage befohlen: »Vor Eintreffen des Kommissars Körner 179 [im Sitzungssaal] sandte Kollege Reitz eine Stenotypistin mit der Botschaft im Saal herum, man solle sich auf Befragen zur Weiterarbeit bereit erklären.« 180 Als dann Kommissar Körner die Frage stellte, »ob jemand die Weiterarbeit verweigern werde,« 181 meldete sich als einziger Auerbach. Vorübergehend saß er ebenfalls in Schutzhaft. Seine Arbeitsverweigerung führte zu fristloser Entlassung, doch auch zur Aufhebung der Schutzhaft mit der

175 Auerbach an Erdmann (ohne Datum) (NS 26/936 und NS 26/940, BArch). 176 Bericht W. A. an ITF nach Ankunft in Amsterdam, S. 6 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 80, AdsD). 177 Ebd., S. 8. 178 Ebd. 179 Georg Körner (1907-2002), 1953-1957 Mitglied des Deutschen Bundestages, zunächst für den BHE, dann fraktionslos, kurzfristig FDP-Fraktion und wieder fraktionslos, in: Rudolf Vierhaus und Ludolf Herbst (Hrsg.): Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949-2002, Bd. 1, München 2002, S. 439 und Deutscher , Tagungsbüro, an Vf.in, 9.3.2006. Auerbach an Haferkamp, 27.8.1957 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 78, AdsD) zur erneuten (erfolglosen) Kandidatur Georg Körners zum Deutschen Bundestag im Jahr 1957: »Für alle Fälle schreibe ich Dir wer Georg Körner ist. Am 2. Mai 1933 hat unter seiner Führung SA die Zentrale des Gesamtverbandes der Öffentlichen Betriebe und des Personen und Warenverkehrs besetzt, den geschäftsführenden Vorstand und den Redakteur Dittmer verhaftet. Wir wurden als Fußvolk im Sitzungssaal zusammengetrieben und dann nach dem Alphabet befragt, ob wir bei der mithelfen würden … Am 2. Mai war Körner Unterkommissar unter Engel, der gleichzeitig Kommissar für den Deutschen Metallarbeiterverband war. Später wurde Körner in der Arbeitsfront Leiter zunächst der Nachfolgeorganisation des Gesamtverbandes, dann der Reichsfachgruppe und blieb das bis 1945. Von der Arbeitsfront wurde er auch in die Spitzenkörperschaften der Deutschen Reichsbahn entsandt.« 180 Bericht W. A. an ITF nach Ankunft in Amsterdam, S. 6 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 80, AdsD). 181 Ebd. 54

Auflage, sich der Berliner Polizei zur Verfügung zu halten und weder ins Ausland noch innerhalb Deutschlands zu reisen. 182

Emigration oder Konzentrationslager? Eine andere Alternative sah Auerbach offensichtlich nicht. In einem autobiographischen Text, einem Fragment aus dem Jahr 1935, setzte er sich mit seiner Entscheidung zur Flucht auseinander. »Vielleicht ist das KZ heute der einzige anständige Ort für unsereiner,« 183 meinte Hilde, vermutlich Käte Auerbach. Und Robert, vielleicht Walter Auerbach oder auch einer der am Diskurs beteiligten Freunde, entgegnete erregt: »So. Und wer soll darein gehen … Weshalb habt Ihr dann nicht verrückt gespielt, wie der Liebknecht 184 anno 17 + gleich auf dem Potsdamer Platz einen Speech gehalten … Feigheit ist das, Verrat, Blödsinn! Ins KZ! Und dort warten bis die Proleten die Braunen zum Teufel jagen. Warten - dass andere etwas tun. Das tut der Otto Wels 185 in Prag auch. Der wartet auch darauf, dass andere kämpfen, damit er eines Tages als Sieger durchs Brandenburger Tor reiten kann … Ja in Drei Teufels Namen weshalb seid Ihr denn nicht bei denen. Bei den Bonzen von gestern.« 186 Hubertus Prinz zu Löwenstein, Gründer der American Guild for German Cultural Freedom in New York, und seine Frau entschieden sich wie die Auerbachs für Exil. Ihren in den USA geborenen Töchtern Elisabeth und Konstanza gegenüber meinten sie: »Es war die zweitbeste Lösung, in die Emigration zu gehen. Es wäre ehrenhafter gewesen, im KZ umzukommen.«187 Emigranten aus sehr unterschiedlichen Traditionszusammenhängen wählten das Exil in dem Bewusstsein »Exilium vita est!«188 , doch einige offenbar nicht ganz ohne Schuldgefühle.

182 Ebd., S. 9. 183 Auerbach: Brücken über die Zeit (Wolken über dem Tal), 20 DIN-A-5-Seiten handschriftlicher Text, 4.3.1935, S. 11 f. (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 79, AdsD). 184 Karl Liebknecht (1871-1919). Bei den Berliner Januar-Unruhen (Spartakus-Aufstand) 1919 zusammen mit Rosa Luxemburg (1870-1919) ermordet. 185 Otto Wels (1873-1939), Parteifunktionär und Politiker. 1920-1933 Mitglied des Deutschen Reichstags, ab 1919 neben Hermann Müller Vorsitzender der SPD, später zusammen mit Hans Vogel. 1933 Emigration in die Tschechoslowakei und 1938 nach Frankreich. Berühmt wurde seine Rede am 23. März 1933 zum Ermächtigungsgesetz, die darin gipfelte: »Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht«, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 811. 186 Auerbach: Brücken über die Zeit, S. 11 f. (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 79, AdsD). 187 Dertinger, Antje: »Uns wurde immer gesagt: Wir gehen ins Gelobte Land.« Kinder des Exils: die Prinzessinnen zu Löwenstein, in: Dies.: Heldentöchter, Bonn 1997, S. 88. 188 Molinari: Exilium vita est, S. 11. 55

Walter Auerbach, gewarnt von einem früheren Gewerkschaftskollegen vor einer erneuten Inhaftierung, 189 floh trotz Reiseverbot am 15. Mai 1933 mit seiner schwangeren Ehefrau in die Niederlande. Widerstandsarbeit im Untergrund in Berlin schlossen beide Auerbachs aus. Durch den Größenunterschied, er über 1,90 m groß, sie nur wenig über 1,60 m, wäre die Auffälligkeit im Straßenbild groß gewesen und hätte Gefahr für sich und andere bedeutet, 190 wusste Lore Auerbach aus Erzählungen der Eltern. Sie wurde knapp drei Monate nach der Flucht in Amsterdam geboren, die jüngere Tochter, Irene, sechs Jahre später kurz vor der Emigration nach England.191 Lore und Irene Auerbach wuchsen konfessionslos auf. Die Ältere ist zwar Vorsitzende des Freundeskreises der Jüdischen Gemeinde Hildesheim, gehört der Gemeinde aber nicht an. Nach jüdischem Gesetz ist sie keine Jüdin. Die Jüngere schloss sich als Erwachsene den Quäkern an. 192

Ihrer Tochter Irene gegenüber äußerte Käte Auerbach, »daß der zufällige Umzug kurz vor dem 1. Mai [1933] als Spurenverwischen gedient habe, + daß sie, nicht Walter, dann das Besuchsvisum nach Holland beantragt + bekommen hatte.«193 Emigration hatten die Auerbachs also offensichtlich längerfristig angedacht, doch erst die unmittelbare physische Bedrohung am und nach dem 2. Mai veranlassten sie spontan zur Flucht. »Um einer zweiten Verhaftung zu entgehen, siedelte ich nach Amsterdam ueber. Einen kleinen Teil des Mobiliars konnte ich verkaufen. Da ich aus Sicherheitsgruenden keinen Haendler einschalten konnte, uebernahmen Freunde diesen Teil im Rahmen ihrer beschraenkten Leistungsfaehigkeit. Fuer ein Klavier im Werte von etwa 1000 Mark erhielt ich z.B. 200 Mark. Die meisten Moebel, Waesche, Geschirr usw., Buecher und Manuskripte wurden beschlagnahmt,« 194 hieß es in der Korrespondenz zur Wiedergutmachung in der Nachkriegszeit.

189 Auerbach: Illegale Gewerkschaften kann es in totalen Diktaturen nicht geben (Bestand ITF, Mappe 88, AdsD). 190 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 18.8.2002, in Bonn. 191 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 15.10.2001, in Bonn: »Die Eltern haben uns Kindern bewusst internationale Namen gegeben.« In den Jahren der Emigration handelten viele Eltern gleichermaßen. So auch Jacques Meyer, jüdischer Emigrant in Bogotá (Kolumbien). Er sagte seinen Töchtern Irene und Yvonne: »Ich habe euch Namen gegeben, die in aller Welt bekannt sind«, in: Irene Wielpütz: »Ich kehrte nirgendwohin zurück«, in: Verein EL-DE-Haus Köln (Hrsg.): Unter Vorbehalt, S. 105. 192 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 15.10.2001, in Bonn. 193 Irene Auerbach an Lore Auerbach, 9.11.2002. 194 Auerbach, 29.11.1948 (Korrespondenz Wiedergutmachung) (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 22, AdsD). 56

»Zur Flucht selbst: es ging wohl tatsächlich einfach mit Lösen einer Fahrkarte. Meine Mutter erzählte, dass sie 6 Wochen vor der Flucht von Eichwalde nach Königswusterhausen … umgezogen waren. Sie waren dort zwar ordnungsgemäß gemeldet, aber noch nicht ‚negativ’ bekannt, also hätten sie problemlos Pässe bekommen. Meine Mutter war mit mir im sechsten Monat. Sie erzählte, dass sie im Zug einen früheren Lehrer (oder Kommilitonen) gesehen und einen großen Schrecken bekommen hätte, er könne sie ansprechen. Der habe aber so getan, als kenne er sie nicht, und sie habe genauso getan,« 195 beschrieb Lore Auerbach das seinerzeitige Geschehen. Auerbachs reisten Mitte Mai 1933 mit einem Touristenvisum und unauffälligem Gepäck in die Niederlande.

195 Lore Auerbach an Vf.in, 10.10.2001. 57

3 Emigration in die Niederlande

3.1 Rassisch und politisch Verfolgte fliehen gen Westen

»Die deutsche Emigration war die unbeliebteste. Weil sie deutsch, weil sie deutsch und jüdisch war, weil sie sich nicht nur eindringlich, vordringlich, zudringlich bemerkbar machte, sondern die Heimischen mit einer Warnung belästigte, die man nicht vernehmen und jedenfalls unbeachtet lassen wollte. Und gemäß der Magie des Alltags verdächtigt man den Überbringer einer schlechten Botschaft seit jeher, an dem Unglück mitschuldig zu sein, von dem er berichtet, und wird wissentlich oder unabsichtlich Komplize jener, vor denen er warnen will.« 1 Mit diesen knappen Worten skizzierte Manès Sperber treffend die Situation vieler Emigranten in den westeuropäischen Aufnahmegesellschaften. Er selbst floh im Jahr 1933 über Österreich und Jugoslawien nach Frankreich und von dort 1940 in die Schweiz.

Rassisch und politisch verfolgte Persönlichkeiten, Politiker, Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller bevorzugten als Zufluchtsländer die westeuropäischen und nordamerikanischen Staaten, deren kulturelle, politische und soziale Bedingungen denen in der Heimat ähnelten. Doch in »dem Maß, wie die Rassenverfolgungen in Deutschland zunehmen, verschärfen die angrenzenden Länder ihrerseits die Gesetzgebung, die das Betreten des Territoriums für Ausländer in außergewöhnlichen Situationen regelt. Die Maßnahmen zielen speziell auf die Flüchtlinge des Nazi-Regimes.« 2

Die Gesamtzahl der zwischen Januar 1933 und Oktober 1941 aus Deutschland in die europäischen Nachbarstaaten und nach Übersee Geflohenen bezifferte Gerhard Hirschfeld auf knapp 400.000, von denen nach seiner Schätzung rund 90 Prozent jüdischer Abstammung waren. 3 Ähnliche Ziffern ermittelte Werner Röder. Er sprach von annähernd 390.000 Emigranten aus Deutschland, »von denen im äußersten Falle 30-35.000 aus vorwiegend politischen Gründen die

1 Manès Sperber, zit. nach Wilhelm von Sternburg: Das literarische Exil und die Zukunft Deutschlands, in: Reinhard Kühnl und Eckart Spoo (Hrsg.): Was aus Deutschland werden sollte. Konzepte des Widerstands, des Exils und der Alliierten, Heilbronn 1995, S. 194. 2 Weinstock, Nathan: Das Ende Israels? Nahostkonflikt und Geschichte des Zionismus, Berlin 1975, S. 175. 3 Hirschfeld, Gerhard (Hrsg.): Exil in Großbritannien: zur Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland, Stuttgart 1983, S. 7. 58

Heimat verlassen haben.« 4 Und »sie alle, unabhängig vom Grad ihrer Assimilationswilligkeit und ihrer Integrationsbereitschaft, befanden sich zunächst in einem Status der Unsicherheit, der Ungewißheit, des Unbehaustseins.« 5

Im Sommer 1933 lebten ungefähr 500 geflohene Sozialdemokraten in den Niederlanden. 6 Drei Jahre später veröffentlichte der Sekretär der demokratischen Flüchtlingsfürsorge in Prag, Kurt Grossmann, Material zur Situation in Holland: »Die Zahl der dort befindlichen deutschen Flüchtlinge wird mit 2.500 angegeben. Der grösste Teil der in Holland lebenden Emigranten besteht allerdings aus jüdischen Einwanderern. Die Zahl der politischen Emigranten … ist gering. Es ist unmöglich, die zahlreichen Verletzungen des Asylrechts, die in Holland vorgekommen sind, aufzuzählen. Flüchtlinge, die passlos über die Grenze kamen, sind der deutschen Polizei zurückgestellt worden.« 7 Am Ende seiner Ausführungen fasste der Autor zusammen, dass die Niederlande »eigentlich nur kapitalkräftige jüdische Flüchtlinge aufgenommen« 8 haben. Anders als Grossmann beurteilte der englische Friedensnobelpreisträger des Jahres 1933, Norman Angell, die niederländische Einwanderungspraxis: »Holland, with a population of eight and a half millions, had in October, 1938, about 25,000 refugees. Many of these were no doubt going to other countries making room for new arrivals. In this way Holland is taking the lead as a country of sanctuary. If Great Britain took an equivalent proportion of her population the number would amount to 138,000.« 9

Flüchtlinge aus Deutschland galten als unerwünschte Eindringlinge in den heimischen Arbeitsmarkt. Steigende Arbeitslosigkeit und katastrophale wirtschaftliche Verhältnisse zwangen die niederländische Regierung im Frühjahr 1934 denn auch zu radikalen Einschnitten in das bestehende Asylrecht. Im Frühjahr 1938 begann die Politik der geschlossenen Grenze. Kurzzeitige Einreiseerleichterungen nach der Reichspogromnacht im November 1938 und nach Ausbruch des Krieges endeten im September 1939 mit der Visumspflicht

4 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 17 f. 5 Hirschfeld (Hrsg.): Exil in Großbritannien, S. 8. 6 Mehringer, Hartmut: Sozialdemokraten, in: Claus Dieter Krohn u.a. (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, S. 475. 7 Grossmann, Kurt: Emigranten-»Recht«, in: Sozialistische Warte 11 (1936), Nr. 12, S. 291. 8 Ebd. 9 Angell, Norman und Dorothy Frances Buxton: You and the Refugee. The Morals and Economics of the Problem, Harmondsworth 1939, S. 258. 59 für Deutsche und Engländer. 10 Von 1933 bis zur Besetzung durch deutsche Truppen im Sommer 1940 waren die Niederlande »ein Zentrum illegaler Zusammenarbeit zwischen politischem Exil und innerdeutschem Widerstand, von den Kommunisten, Sozialisten aller Schattierungen,« 11 trotz des Verbots politischer Aktivitäten. Politische Emigranten galten in konservativen Kreisen als potentielle Unruhestifter. 12 Anerkannte Flüchtlinge hatten sozioökonomisch den gleichen Status wie niederländische Arbeitslose. Doch nicht der Staat gewährte Unterstützung, sondern Organisationen wie Kirchen, Gewerkschaften, Parteien und neu gegründete Komitees. 13 Solidarität erfuhr das politische Exil vom Nederlands Verbond van Vakverenigingen (NVV) 14 , der ITF und der Sociaal- democratischen Arbeiderpartij (SDAP) und durch das von diesen Organisationen unterstützte Matteotti-Komitee. 15

Wie Theodor W. Adorno erlebten vieler seiner Zeitgenossen die Fremde: »Jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne alle Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen, wenn er nicht hinter den dicht geschlossenen Türen seiner Selbstachtung grausam darüber belehrt werden will. Er lebt in einer Umwelt, die ihm unverständlich bleiben muß, auch wenn er sich in den Gewerkschaftsorganisationen oder dem Autoverkehr noch so gut auskennt; immerzu ist er in der Irre. Zwischen der Reproduktion des eigenen Lebens unterm Monopol der Massenkultur und der sachlich-verantwortlichen Arbeit herrscht ein unversöhnlicher Bruch. Enteignet ist seine Sprache und abgegraben die geschichtliche Dimension, aus der seine Erkenntnis die Kräfte zog. Die Isolierung wird um so schlimmer, je mehr feste und politisch kontrollierte Gruppen sich formieren, mißtrauisch gegen die Zugehörigen, feindselig gegen die

10 Langkau-Alex, Ursula und Hans Würzner: Niederlande, in: Claus Dieter Krohn u.a. (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, S. 322 f. 11 Ebd., S. 326. 12 Ebd., S. 325. 13 Ebd. 14 NVV: Niederländischer Gewerkschaftsverband. 15 Benannt nach dem italienischen Abgeordneten und Sozialisten Giacomo Matteotti (1885 - 1924), der den faschistischen Terror in Italien öffentlich angeprangert hatte und ermordet wurde, in: Beier: Die illegale Reichsleitung der Gewerkschaften, in: Richard Löwenthal und Patrik von zur Mühlen (Hrsg.): Widerstand und Verweigerung in Deutschland, S. 25. Zunächst wurde der Matteotti-Fonds gegründet, um italienische Antifaschisten zu unterstützen. 1933 wurden die Hilfsaktionen durch Beschluss der Exekutive der Sozialistischen Arbeiter-Internationale und des Ausschusses des Internationalen Gewerkschaftsbundes ausgedehnt auf die »Arbeiterbewegung in den Ländern ohne Demokratie«, in: Pressebericht des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB), Paris, 9.5.1933 (Bestand Reichssicherheitshauptamt, R 58/3388, BArch/SAPMO). 60 abgestempelten anderen.« 16 Verglichen mit diesen Erfahrungen befand sich Auerbach auf der Sonnenseite des Lebens im Exil.

Früher oder später erfolgte die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft auf »Grund des § 2 des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14. Juli 1933 (RGBl. I S. 480).« 17 Die von Expatriation betroffenen Emigranten wurden zu Staatenlosen erklärt, ihr Vermögen beschlagnahmt und eingezogen. »In den Jahren 1933 bis 1945 hat die NS-Regierung insgesamt 39.006 deutsche Emigranten ausgebürgert,« 18 nicht gerechnet die 250.000 bis 280.000 kollektiv- automatischen Ausbürgerungen emigrierter deutscher Juden. 19 Die zeitgleiche Ausbürgerung der Familienangehörigen beruhte auf der Unterstellung, dass sie ihre staatsfeindliche Gesinnung durch die Begleitung ins Exil hinreichend dokumentiert hätten. 20 Die im Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger veröffentlichten Ausbürgerungslisten glichen »einem fast vollständigen ‚Who is Who’ der demokratisch-republikanischen Prominenz aus Literatur, Politik, Wissenschaft und Publizistik.« 21

3.2 Gewerkschaftsarbeit in Amsterdam

Drei Tage nach seiner Ankunft in Amsterdam saß Walter Auerbach bereits in den Büroräumen des Generalsekretariats der ITF, dem 1896 gegründeten »international trade secretariat (ITS) for all transport workers: seafarers, dockers, inland waterway, railway, tramway, road and civil aviation workers.« 22

Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen in den Niederlanden erteilte die Fremdenpolizei nur Emigranten, die eintausend Gulden bei einer Bank

16 Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1994 22 , S. 32. 17 Privatsammlung Lore Auerbach: Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, Nr. 118, Berlin, Donnerstag, den 25. Mai, abends - 1939: Nr. 5: Auerbach, Walter Siegmund Selig, geb. am 22. Juli 1905 in Hamburg, Nr. 6: Auerbach, Käte Gertrud, geb. Paulsen, geb. am 18 Juni 1903 in Marburg/Lahn. 18 Lehmann, Hans Georg: Wiedereinbürgerung, Rehabilitation und Wiedergutmachung nach 1945. Zur Staatsangehörigkeit ausgebürgerter Emigranten und Remigranten, in: Claus Dieter Krohn u.a. (Hrsg.): Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 9: Exil und Remigration, München 1991, S. 90. 19 Ebd., S. 91. 20 Tutas: Nationalsozialismus und Exil, S. 156. 21 Benz, Wolfgang: Flucht aus Deutschland. Zum Exil im 20. Jahrhundert, München 2001, S. 86. 22 Reinalda (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 7. 61 hinterlegten. Dies widersprach Auerbachs Aussagen in seinem Antrag auf Wiedergutmachung. Er vermerkte, dass Flüchtlinge aus Deutschland überhaupt keine Arbeitserlaubnis erhielten. Er selbst erhielt »zunächst vom Matteotti-Comité … dann von der Internationalen Transportarbeiterfoederation (ITF), Amsterdam, Vondelstraat 61, 23 eine laufende Unterstuetzung in Hoehe der niederlaendischen Erwerbslosenunterstuetzung.«. 24 Nachprüfbar sind diese Angaben nicht. Gehaltslisten und Finanzunterlagen der ITF aus den Amsterdamer Jahren existieren nicht mehr. Gesichert ist, dass Walter Auerbach »had edited ‘Fascism’ as a free-lance journalist since the publication’s inception; on arrival in Britain he was made a member of the Staff [of the ITF].« 25 Als Voraussetzung für Auerbachs Tätigkeit forderte die niederländische Polizei das Verfassen einer größeren soziographischen Arbeit, um seine »Existenz als wetenschappelijk schrijver zu beweisen.«26

Der Linkssozialist, Pazifist und Antifaschist Walter Auerbach traf in Amsterdam nicht zum ersten Mal auf den legendären ITF-Generalsekretär Edo Fimmen, der »gleichsam ‚zwischen Berlin und Moskau’, zwischen den beiden großen Strömungen der Arbeiterbewegung« 27 wanderte. Ein nationalsozialistischer Staatsanwalt schlussfolgerte in einem Prozess gegen von der ITF unterstützte Widerstandskämpfer im Jahr 1938, der »Holländer Edo Fimmen ist der größte Feind Deutschlands.« 28 Beide kannten einander spätestens seit dem ITF- Kongress in Prag im Jahr 1932. Ob zwischen Fimmen und Auerbach längerfristige Absprachen bestanden, ist nicht nachvollziehbar. Doch das Reiseziel Amsterdam ließ vermuten, dass bereits vor der Abreise aus Berlin Wohnraum- und Arbeitsplatzmodalitäten geklärt waren. Es erscheint unwahrscheinlich, dass Auerbach einfach ins ITF-Generalsekretariat in der Amsterdamer Vondelstraat 61 hereinspazierte und erfolgreich seine Arbeitskraft anbot. »’Is this man a decent socialist?’ was his [Fimmen’s] first question. And if

23 Asser, Thérèse: Working with Edo Fimmen and Jaap Oldenbroek, in: Reinalda (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 68. 24 Auerbach, Beilage zum Antrag betr. §§ 65-125 BEG (Bundesentschädigungsgesetz), 27.12.1957 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 22, AdsD). 25 [ITF] Secretariat’s Report to the Executive Committee and General Council over the Period September 1939 to October 1944 [ohne Datum], S. 58 (Bestand ITF, Mappe 88, AdsD) und Lewis an Vf.in, 4.3.2003. 26 Auerbach an Mandelbaum, 25.3.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 16, AdsD). 27 Friedemann, Peter: Vorwort, in: Willy Buschak: Edo Fimmen. Der schöne Traum von Europa und die Globalisierung, Essen 2002, S. 8. 28 Zit. nach Jacoby (Hrsg.): Lexikon linker Leitfiguren, S. 119. 62 there were no straight ‘yes’ to the question, he lost interest immediately.« 29 Für Fimmen gehörte Auerbach in die Kategorie decent socialist , denn »A decent socialist to him meant some one who worked disinterestedly for the welfare of the workers… and without foul compromises.«30 Dieses Credo beherzigte Auerbach ein Leben lang. Dass Auerbach als konsequenter Linker die Hochachtung von Edo Fimmen hatte, wusste der ehemalige Leiter des Karl-Marx-Hauses in Trier, Hans Pelger aufgrund seiner und Helmut Esters’ Recherchen für ihre Publikation über Gewerkschafter im Widerstand 31 Mitte der 1960er Jahre. 32 Auf Fimmen wie Auerbach traf zu, was letzterer zwei Jahre nach Kriegsende seinen lateinamerikanischen Freunden und Informanten von La Otra Alemania attestierte, nämlich, »dass Politik nicht den Charakter verdirbt, sondern Charakter voraussetzt.« 33

Die Verfasserin einer unveröffentlichten Biographie über Edo Fimmen schrieb: »Fimmen war ein Mann … der niemandem gleichgültig war, man konnte ihn lieben oder hassen, dazwischen gab es nichts.« 34 Auch er polarisierte, er hegte entweder Sympathie oder Antipathie seinen Mitmenschen und Kollegen gegenüber. Der Briefwechsel zwischen dem über zwanzig Jahre älteren Edo Fimmen und Walter Auerbach bekundete geradezu väterliche Zuneigung, klang herzlich, fürsorglich, offen. Auerbachs Ehefrau Käte und die Töchter schloss er mit ein. Nach einem Schlaganfall selbst im Krankenhaus, schickte er Genesungsgrüße an Auerbach: »Ich höre zu meinem Bedauern, dass auch Sie infolge Erkrankung zuhause und im Bett bleiben müssen. Das kommt daher, lieber junger Mann, wenn man nicht aufpasst. Hoffentlich erholen Sie sich bald wieder und werden den Faschismus auf Papier weiter bekämpfen.« 35 Den Proletarier Fimmen und den Akademiker Auerbach verbanden politische und ethische Werte und ihre Kompromisslosigkeit gegenüber Opportunisten,

29 Zit. nach Buschak: Edo Fimmen and Willi Eichler - A Political Friendship, in: Reinalda (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 203. 30 Nachruf Heine auf Fimmen, verstorben 14.12.1942 in Mexiko (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 84, AdsD). 31 Esters und Pelger: Gewerkschafter im Widerstand, Bonn 1967. 32 Gespräch Hans Pelger mit der Vf.in, 21.3.2002, in Bonn [Die erste Auflage erschien 1967, die zweite in dieser Studie verwendete 1983]. 33 Auerbach an La Otra Alemania, 18.8.1947, abgedruckt in: La Otra Alemania, Organo de los Alemanes Democraticos de America del Sur, Buenos Aires, Numero 152, 15 de Octubre de 1947. (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 34, AdsD). 34 Krier-Becker, Lilly: Edo Fimmen [unveröffentlichte Biographie] (Bestand ITF, 159/6/42, MRC). 35 Fimmen an Auerbach, 6.1.1939 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 13, AdsD). 63

Appeasern, Taktierern: »Quite often, Fimmen could be rather rough with his collaborators. The more so, when they were intellectuals.«36

Harold Lewis 37 kommentierte die Frage, wie denn der promovierte Zeitungswissenschaftler Auerbach zu dem Privileg eines sicheren und seiner Ausbildung adäquaten Arbeitsplatzes mit geregeltem, wenn auch mit niedrigem Einkommen gelangte: »I think the answer to your question of how Auerbach came to the ITF in 1933 is probably to be found … in the personal contacts that Fimmen seemed to have everywhere. I think that in the 1930s Fimmen probably knew about everyone and everything to do with anti-fascist movement and people. It was his life, twenty-four hours a day, every day.« 38 Diese Form von Workaholismus bestätigte Fimmen indirekt seinem Freund Willi Eichler zwei Jahre vor seinem Zusammenbruch nach dem Luxemburger ITF-Kongress im Jahr 1938, von dem er sich bis zu seinem Tod vier Jahre später nie wieder richtig erholte: »Ich [Fimmen] weiß offengestanden nicht, wie das alles ausgehen soll, ich arbeite von morgens 7 bis abends 11 Uhr - 12 Uhr, esse während der Arbeit und schlafe im Büro. Bin müde wie ein Hund und kann aber trotzdem nicht an Ferien denken.« 39 Walter Auerbach beschrieb seinen Zeitaufwand für die ITF- Publikation Faschismus ähnlich: »Sie [Fimmen] wissen, das Aufspüren, Sichtung und Fundierung des Materials eine ununterbrochene Arbeit erfordert, die fast täglich bis in den frühen Morgen geht.« 40 In Notizen und Korrespondenzen Walter Auerbachs existieren zahlreiche Hinweise, die auf Arbeitssucht hindeuten. Workaholismus bewirkte und bewirkt noch heute hohe gesellschaftliche Anerkennung. Rückblickend betrachteten die Töchter die Arbeitssucht, die offenbar auch die Mutter betraf, als vorbildlich: »Das eine, daß Lore und ich garantiertestens von unseren Eltern übernommen haben, ist die Einstellung, daß im Falle eines Konfliktes mit der Zeit die Arbeit immer, immer Vorfahrt hat.« 41 In einem Dankschreiben für Lebensmittelpakete im Sommer 1947 an seine Freunde Ruth und Francis Carsten 42 in London bekannte Auerbach angesichts der

36 Buschak, Willy: Edo Fimmen and Willi Eichler - A Political Friendship, in: Reinalda (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 203. 37 Harold Lewis, geb. 1933, ITF-Generalsekretär 1977-1993. 2003 Promotion an der University of Warwick: The International Transport Workers’ Federation (ITF) 1945- 1965. 38 Lewis an Vf.in, 6.8.2002. 39 Fimmen an Eichler, 25.7.1936 (Bestand ISK, Mappe 29, AdsD). 40 Auerbach an Fimmen, 10.2.1939 (Bestand ITF, 159/6/15 (part 1 of 2), MRC). 41 Irene Auerbach an Vf.in, 4.7.2003. 42 Dr. Francis L. Carsten (1911-1998), 1936 Emigration zunächst in die Niederlande, 1939 nach England, kurzfristig nochmals Niederlande. 1942-1946 Angehöriger der britischen Armee. Professor für Geschichte in England, in: Röder/Strauss: 64 schwierigen Ernährungslage im Nachkriegsdeutschland, »dass man wie in London 16-18 Stunden moechte arbeiten koennen. Nur es geht nicht mehr, man hat herunterschrauben muessen und manchmal fiel selbst der 12 Stundentag schwer.« 43

Der französische Sozialist Paul Lafargue, Schwiegersohn von Karl Marx, ordnete 1883 in seiner Schrift über das Recht auf Faulheit Workaholismus der Arbeiterbewegung zu: »Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist dies die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht .« 44 Der Bonner Wirtschaftspsychologe Stefan Poppelreuter bestätigte dieses Phänomen in seiner im Jahr 1996 vorgelegten Dissertation über Arbeitssucht. 45 Er meinte, »das Thema ‚Arbeitssucht’ ist (auch heute noch) bei Gewerkschaften und Gewerkschaftlern sehr virulent.« 46 Max Weber gab »als Grund für seine Arbeitswut eine unbestimmte Angst vor der ‚Bequemlichkeit’ des Daseins an.« 47 Kompensierte Auerbach den desillusionierenden Alltag eines politischen Emigranten, die uneingestandene Aussichtslosigkeit des Widerstands mit Workaholismus?

Auerbach übernahm als Alleinverantwortlicher die Redaktion der ITF-Publikation Hakenkreuz über Deutschland , deren erste Ausgabe mit dem Schwerpunkt nationalsozialistische Sozialpolitik bereits im Juni 1933 erschien. Faschismus , der neue Name ab Sommer 1934, schloss soziale Fragen in den anderen faschistischen Staaten Europas ein. Die Idee zu diesen Publikationen stammte von Edo Fimmen. Anlässlich der Einstellung von Faschismus kurz vor Kriegsende verfasste Willi Eichler eine Hommage an Edo Fimmen und damit indirekt an Walter Auerbach: »Sie [die Publikation Faschismus ] war eine echte

Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 2 (1), S. 182, und Peter Alter (Hrsg.): Out of the Third Reich. Refugee Historians in Post-War Britain, London/New York 1998, S. 25 ff. 43 Auerbach an Francis L. und Ruth Carsten, 10.7.1947 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 34, AdsD). 44 Fetscher, Iring (Hrsg.): Paul Lafargue - das Recht auf Faulheit und persönliche Erinnerungen an Karl Marx, Frankfurt/M. 1969 2, S. 19. 45 Poppelreuter, Stefan: Arbeitssucht. Integrative Analyse bisheriger Forschungsansätze und Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zur Symptomatik, Witterschlick/Bonn 1996. 46 Stefan Poppelreuter an Vf.in, 15.8.2003. 47 Käsler, Dirk: Max Weber, S. 25. 65

Gründung Edo Fimmens, und sie ist auch seiner Gesinnung treu geblieben.« 48 Die inhaltliche und äußere Gestaltung beruhte auf Auerbachs Ideen. Auerbach war neben der Recherche für Faschismus und der redaktionellen Arbeit in das gewerkschaftspolitische Geschehen und in die Widerstandsaktivitäten der ITF integriert. So war er bereits in den Amsterdamer Jahren unter anderem Bindeglied zwischen Edo Fimmen und Hans Jahn, August Enderle (Deckname Max) 49 in Schweden und Willy Brandt in Norwegen. Harold Lewis’ Erfahrungen als Generalsekretär der ITF und Auerbachs Nachlass bestätigten sein weit über die eigentliche Aufgabe als Redakteur von Faschismus hinausgehendes Engagement: »I am sure he did more than edit Faschismus (though that job alone would have needed a lot of time and effort on research). More generally, it was always so in the ITF … that members of the secretariat were expected if necessary to do work that was not covered by their job description. The secretariat was a team with no place for prima donnas .« 50

Mit der Arbeit für Hakenkreuz über Deutschland und Faschismus leistete Walter Auerbach den wichtigsten Teil des politischen Widerstandes der ITF. Diese Korrespondenzen, die elf voluminöse DIN-A-4-Bände umfassten, waren sein Überlebenswerk im Exil und ein Vermächtnis an die Nachwelt. Die Gestapo in Berlin nahm diese Widerstandstätigkeit Auerbachs zum Anlass seiner Expatriation und behauptete, er »betätigt sich in hervorragendem Maße in Amsterdam deutschfeindlich … und ist Herausgeber der illegalen Schrift Faschismus .« 51 Weiterhin hieß es in der Begründung, Auerbach sei Leiter des ITF-Büros in Amsterdam. Seine Abstammung wurde mit »Mischling l. Grades« 52 statt mit Jude angegeben. Bemerkenswert in diesem Kontext erschien die parallele Überschätzung von Auerbachs Stellung bei der ITF durch den amerikanischen Geheimdienstoffizier Louis A. Wiesner im März 1945: »Physically large and temperamentfully dominating and willful, he [Auerbach] apparently holds a position of great respect in ITF and is considered its expert on

48 Eichler an Auerbach, 17.4.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 54, AdsD). 49 August Enderle, (1887-1959), Mechanikerlehre, Parteifunktionär, Journalist. 1933 Emigration in die Niederlande, dann nach Belgien und Schweden. Mitglied der Auslandsleitung der SAPD (Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands). Remigration 1945. In maßgeblich am Wiederaufbau von Gewerkschaften und SPD beteiligt, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 157. 50 Lewis an Vf.in, 6.8.2002. 51 Geheime Staatspolizei, Staatsleitstelle Berlin, an Geheime Staatspolizei, Geheimes Staatspolizeiamt, Berlin, 13.2.1939 (Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Inland II A/B, 83-76 Ausbürgerungen (R 99788) [hier: Walter Auerbach]). 52 Ebd. 66 the Nazi government and polical matters in general.« 53 Die Deutsche Gesandtschaft in Den Haag gab in einem Schreiben an das Berliner Auswärtige Amt zu erkennen, dass aus ihrer Sicht gegen die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit Walter Siegmund Selig Auerbachs und seiner Ehefrau Käte Auerbach keine außenpolitischen Bedenken bestünden. 54 Der Deckname Dirksen schien den deutschen Behörden im Sommer 1939 noch nicht bekannt gewesen zu sein. Die vom Reichssicherheitshauptamt in Berlin unter Walter Schellenberg 55 erstellte Sonderfahndungsliste GB mit »2,820 persons, British subjects and European exiles, who were to be arrested or ‚taken into protective custody’ in the event of a successful German invasion«56 enthielt beide Namen, Walter Auerbach und Walter Dirksen. 57

3.3 Walter Auerbach und die ITF

Walter Auerbach verfasste sein Entreebillett, einen neunseitigen Bericht an die ITF, unmittelbar nach seinem Eintreffen in Amsterdam. 58 Darin untersuchte er kritisch die Tolerierungspolitik von Gewerkschaften und Sozialdemokratie in der Periode vom Preußenstreich am 20. Juli 1932 bis zur Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933. Eingeleitet hatte er den Bericht W.A. an ITF nach Ankunft in Amsterdam - Randbemerkungen von Jahn! 59 mit dem Hinweis: »Ich kann mich für die Genauigkeit der einzelnen Daten nicht unbedingt verbürgen, da ich die betreffenden Notizen nicht über die Grenze nehmen konnte.« 60

53 Manpower Div. US Group CC Political Division APO 742, Memorandum of Conversation, March 15, 1945, Participants: Louis A. Wiesner, Walter Auerbach, Hans Jahn (Bestand OMGUS, 17/257-2/7, BArch). 54 Deutsche Gesandtschaft, Den Haag, an das Auswärtige Amt, Berlin, 23.3.1939 (Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Inland II A/B, 83-76 Ausbürgerungen (R 99788) [hier: Walter Auerbach]). 55 Walter Schellenberg (1910-1952), SS-Standartenführer, 1949 vom Nürnberger Tribunal schuldig gesprochen wegen Beihilfe zum Mord an sowjetischen Kriegsgefangenen und zu sechs Jahren Haft verurteilt, in: Robert Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich. Ein biographisches Lexikon. Anhänger, Mitläufer, Gegner aus Politik, Wirtschaft, Militär, Kunst und Wissenschaft, Frankfurt/M. 1987, S. 306 f. 56 Erickson, John (Hrsg.): Invasion 1940. The Nazi Invasion Plan for Britain. SS-General Walter Schellenberg, London 2001 2, S.147. 57 Ebd.: »Auerbach, Walter …, Deckn.: Dirksen.« Ebd., S. 178: »Dirksen, Walter, richtig: Auerbach, Walter.« 58 Bericht W. A. an ITF nach Ankunft in Amsterdam (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 80, AdsD). 59 Ebd. 60 Ebd., S. 1. 67

Edo Fimmen bot bei einem letzten Treffen mit dem Vorstand des Gesamtverbandes in Berlin am 17. Februar 1933 den deutschen Kollegen seine Unterstützung im Kampf gegen den Faschismus an. 61 Diese »legten auf solche Hilfe keinen Wert« 62 und reagierten mit dem Austritt aus der ITF, um die Loyalität zu den neuen Machthabern zu bezeugen, 63 obwohl deren Vorsitzender Anton Reißner auf dem Prager ITF-Kongress im August 1932 ausgeführt hatte, »daß das jetzige Präsidialkabinett, wie auch eine etwaige Regierung Hitler auf die allerschärfste Opposition der Arbeiterbewegung in Deutschland stoßen müssen.« 64 Er gab das Versprechen, »daß wir [die Freien Gewerkschaften] alles in Deutschland daran setzen werden, um die faschistische Gefahr in unserem Lande zu bannen. Wir wissen, daß von dem Kampfe, den jetzt die deutsche Arbeiterklasse zu führen hat, ungeheuer viel abhängt für die gesamte Arbeiterschaft.« 65 Fimmen bekannte in seiner Erwiderung, »es war ein Fehler unserer Bewegung, daß wir die Kräfte des Faschismus auf die leichte Achsel genommen und im allgemeinen nicht rechtzeitig genug Maßnahmen ergriffen haben, um der wachsenden Tendenz des Faschismus in allen Ländern Europas mit allen Mitteln, worüber die Arbeiterschaft verfügt, entgegenzutreten.« 66

Der Vorstand des Gesamtverbandes betrachtete im Frühjahr 1933 die ITF- Mitgliedschaft und »Edo Fimmen - Iron Fist in a Silken Glove« 67 als Störelemente im Umgang mit den neuen Machthabern und löste die Bindung. Der Einheitsverband der Eisenbahner (Einheitsverband) trat etwa zeitgleich aus der ITF aus. Anfang April 1933 forderte Hans Jahn einen außerordentlichen Gewerkschaftstag, um durch Beschluss die Organisation aufzulösen und das Vermögen ins Ausland zu retten. 68 Retten konnte er nur Teile der Mitgliederkartei, die ihm den Aufbau von Widerstandsgruppen in Deutschland erleichterte. Jahn scheiterte, wie schon im Vorjahr nach dem »Preußenschlag«,

61 Geschäfts- und Kassenbericht der ITF über die Jahre 1932, 1933 und 1934, Amsterdam 1935, S. 30 (Bestand ITF, 159/1/1/59, MRC). 62 Ebd. 63 Nelles Dieter: Der Widerstand der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) gegen Nationalsozialismus und Faschismus in Deutschland und Spanien, in: Andreas G. Graf (Hrsg.): Anarchisten gegen Hitler. Anarchisten, Anarcho-Syndikalisten, Rätekommunisten in Widerstand und Exil, Berlin 2001, S. 115. 64 Bericht über den Kongreß der Internationalen Transportarbeiter-Föderation, 7.- 13.8.1932 in Prag, S. 274 (Bestand ITF, 159/1/1/51, MRC). 65 Ebd., S. 275. 66 Ebd., S. 292 f. 67 Koch-Baumgarten, Sigrid: Edo Fimmen - Iron Fist in a Silken Glove. A Biographical Sketch, in: Reinalda (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 52. 68 Buschak: Edo Fimmen. Der schöne Traum von Europa und die Globalisierung, S. 190 f. 68 der Absetzung der sozialdemokratisch geführten preußischen Regierung unter Ministerpräsident Otto Braun, mit seinem Plädoyer für einen Generalstreik. 69 Joseph Goebbels mokierte sich denn auch über die Unentschlossenheit der Arbeiterbewegung am Tag danach in seinen Tagebuchaufzeichnungen: »Die Roten sind beseitigt. Ihre Organisationen leisten keinen Widerstand … Der Generalstreik unterbunden … Die Roten haben ihre große Stunde verpaßt. Die kommt nie wieder.«70

Die Spaltung der Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg in SPD und KPD und die erbitterten Kontroversen beider politischen Richtungen im Deutschen Reichstag und im Gewerkschaftslager schienen den Verantwortlichen selbst angesichts eines gemeinsamen Feindes unüberwindbar. Die Kontroverse um einen Generalstreik flammte nach der »Machtergreifung« erneut auf durch einen Aufruf der KPD. Diesen wiesen die Spitzenfunktionäre des ADGB jedoch in scharfer Form zurück. Dessen stellvertretender Vorsitzender, Peter Grassmann, verdeutlichte in Verkennung der Zuspitzung der Situation für die Arbeiterbewegung am 13. Februar 1933 bei einem Führerappell der Eisernen Front: »Der Streik ist die letzte Maßnahme im wirtschaftlichen Kampf, anzuwenden nur, wenn alle anderen Mittel versagen. Und erst recht der Generalstreik … Der Generalstreik ist eine furchtbare Waffe nicht nur für den Gegner; ihn veranlassen und verantworten kann man nur, wenn es gar nicht mehr anders geht, wenn es sich um Leben und Sterben der Arbeiterklasse handelt.« 71 Die Resignation der Freien Gewerkschaften und ihre kampflose Kapitulation vor den Nationalsozialisten brachte der ADGB-Vorsitzende Theodor Leipart am 31. Januar 1933 auf den Nenner »Organisation - nicht Demonstration.« 72 Die erste Ausgabe von Faschismus im Jahr 1936 stellte Auerbach unter das Thema Die deutsche Arbeiterschaft. Drei Jahre unter dem Faschismus und kritisierte nochmals vehement das Verhalten des ADGB, der »Landeszentrale der freien Gewerkschaften, bei dem die Fäden hätten zusammenlaufen müssen,« 73 doch der »glaubte, dass besondere Vorbereitungen

69 Beier: Die illegale Reichsleitung der Gewerkschaften, S. 26. 70 Fröhlich, Elke: Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente. Teil 1: Aufzeichnungen 1924-1941, Bd. 2: 1.1.1931-31.12.1936, München u.a. 1987, S. 208 (21.7.1932). 71 Grassmann, Peter: Kampf dem Marxismus!? Rede anläßlich des Führerappells der Eisernen Front am 13. Februar 1933, Berlin 1933, S. 20 f. 72 Zit. nach Michael Schneider: Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute, Bonn 2000, S. 223. 73 ITF (Hrsg.): Faschismus 4 (1936), Nr. 1, S. 2 69

überflüssig seien, dass ein erfolgreicher Abwehrkampf sich ‚aus der Situation’ heraus entwickeln würde. Es war eine folgenschwere Täuschung.« 74

Fritz Scheffel, bis zu seinem Rücktritt am 29. März 1933 75 als Vorsitzender des Einheitsverbandes einer der Gegner von Generalstreiks, hatte selbst zwei Monate nach der Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung die nationalsozialistische Politik nicht durchschaut. Er beschwor Edo Fimmen im Juli 1933, seinen Einfluss auf dem nächsten Kongress des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) geltend zu machen und einen internationalen Wirtschaftsboykott gegen das Dritte Reich abzuwehren. 76 »Man sollte das Kesseltreiben einstellen und die Hände von Deutschland lassen. Gebt ihm Raum und Bewegungsfreiheit, gebt eine Chance. Die ganzen Juden- und Greuelgeschichten sollte man auf sich beruhen lassen. Die vielen Gerüchte und Übertreibungen schädigen und verwirren nur … Wenn die Bolschewisten gesiegt hätten, würde es wahrscheinlich schlimmer stehen. Sehr empört bin ich über das Verhalten der Emigranten. Anstatt im Lande gerade zu stehen, werden aus sicherem Port die Giftpfeile abgeschossen … Ich muss Dir sagen, die Männer des heutigen Regimes in D. sind in ihrer Art ganze Kerle und unsere ‚Führer’ [Scheffel gehörte ursprünglich zu diesem Personenkreis!] waren noch nicht einmal halbe. Statt Mut und Tatkraft hatten sie immer nur Bedenken.« 77 Scheffel beendete seine Ausführungen mit den dramatischen Worten, es sei »ein grosses Verbrechen an der Menschheit,« 78 durch einen internationalen Wirtschaftsboykott die angebliche Verbesserung der Situation auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu zerstören. 79 Der Internationale Gewerkschaftskongress in Brüssel verhängte im Sommer 1933 einen allgemeinen Boykott gegen deutsche Waren und rief die internationale Arbeiterschaft auf, sich diesem Boykott-Aufruf anzuschließen und zudem »die Opfer des Kampfes gegen den Faschismus durch freigiebige Spenden für den Matteotti-Fonds zu unterstützen.« 80

Die jüdischen Organisationen in Deutschland und auch große Teile des internationalen Judentums lehnten ebenfalls einen Boykott gegen das Deutsche

74 Ebd. 75 Scheffel an Fimmen, 14.7.1933 (Bestand ITF, Mappe 13, AdsD). 76 Ebd. 77 Ebd. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 VI. Ordentlicher Internationaler Gewerkschaftskongress Brüssel, 30. Juli - 3. August 1933, in: Die Internationale Gewerkschaftsbewegung. Offizielles Organ des Internationalen Gewerkschaftsbundes 13 (1933), Nr. 7/12, S. 7. 70

Reich vehement ab. Das Reichswirtschaftsministerium und die Jewish Agency for Palestine, die Vertretung der Judenheit Palästinas, der Jischuv, 81 unterzeichneten am 7. August 1933 das Haavara-Abkommen, das kapitalkräftigen Juden den Aufbau einer Existenz in Palästina sicherte. 82 Dieses Abkommen reduzierte zwar die Devisenbestände des Deutschen Reiches, beschleunigte jedoch die Emigration deutscher Juden nach Palästina mit Kapitalistenzertifikaten 83 . Was it madness, or was it genius?, unter dieser Fragestellung untersuchte Edwin Black das Haavara-Abkommen und ermittelte, dass das Transfer-Abkommen der Neutralisierung der internationalen nicht- jüdischen Boykottbewegung diente und somit als ein geschickter Schachzug der nationalsozialistischen Machthaber gelten konnte. 84 Die internationale Boykottbewegung wurde vorwiegend getragen von Gewerkschaften und sozialistischen Parteien, hingegen waren »die Regierungen der Nachbarstaaten des Dritten Reiches allenthalben darauf bedacht, es mit den Machthabern in Berlin nicht zu verderben.« 85 Sie setzten fast ausnahmslos auf Non-Intervention und Appeasement.

Exportabhängige Unternehmen fanden zunehmend Wege, »to regularly foil the boycott’s full effectiveness by exporting via third countries and by mislabeling German merchandise as ‘Made in ’ … or ‘Made in ’.« 86 Problematische Auswirkungen hatte der internationale Boykott hingegen für den deutschen Devisen-Markt. Die Hamburg-Amerika-Linie (Hapag) und andere Reedereien verzeichneten im Jahr 1933 drastische Einbrüche bei den Passagier- und Frachtgutumsätzen. Gerade diese Branche »had been a strategic foreign-currency earner for the Reich.« 87 In der Aufsichtsratssitzung der Hamburg-Amerika-Linie Ende Juli 1933 trat der gesamte Vorstand mit der Begründung zurück: »The disaffection in the world toward Germany and the

81 Jischuv: Bezeichnung für das jüdische Siedlungsgebiet und die jüdische Bevölkerungsgruppe in Palästina bis zur Staatsgründung Israels im Jahr 1948. 82 Hilberg, Raul: The Destruction of the European Jews, Chicago/London 1961, S. 95. 83 Kapitalistenzertifikate unterlagen nicht den britischen Einwanderungsrestriktionen. Von den 53.200 deutschen Juden, die in den Jahren 1933 bis 1941 nach Palästina immigrierten, hinterlegten 18.292 jeweils 1.000 englische Pfund (umgerechnet etwa 20.000,-- Reichsmark) für ein Kapitalistenzertifikat. Inklusive Familienmitgliedern unter 18 Jahren gelangten so 38.611 deutsche Juden nach Palästina, in: Ellen Babendreyer: Die deutsch-jüdische Immigration nach Palästina 1933 bis 1948, Dipl.Arb. Bonn/Duisburg 1998, S. 18. 84 Black, Edwin: The Transfer Agreement. The Dramatic Story of the Pact between the Third Reich & Jewish Palestine, New York 1999 2. 85 Schwinghammer, Georg: Im Exil zur Ohnmacht verurteilt, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Widerstand und Exil 1933-1945, Bonn 1985, S. 240. 86 Black: The Transfer Agreement, S. 371 f. 87 Ebd., S. 264. 71 boycott movement are making themselves strongly felt. This has severely hurt the Hamburg-American’s business and it is continuing to hurt.« 88 Eine Meldung Auerbachs in Hakenkreuz über Deutschland unterstrich die fatale Wirtschaftslage der Hamburg-Amerika-Linie, allerdings verzichtete er darauf, auf den internationalen Boykott-Aufruf hinzuweisen. Sein Ansatz war der massive Personalabbau aufgrund rückläufiger Passagierzahlen in den Monaten Juli und August 1933 und die darauf zurückzuführende verstärkte Ausbeutung der Schiffsbesatzungen auf den 45 einfahrenden und 49 ausfahrenden Passagierdampfern. Die Kapazität der Schiffe lag bei jeweils 735 Passagieren, befördert wurden in dem Zeitraum aber nur 186, schrieb Auerbach in Hakenkreuz über Deutschland . 89 Den 1. April 1933, den Tag des Boykotts jüdischer Geschäfte, Ärzte und Anwälte im Deutschen Reich, bezeichnete die nationalsozialistische Propaganda als Antwort auf den internationalen Boykott deutscher Waren und Dienstleistungen. Doch die negative Resonanz auf Boykott, Plünderungen und tätliche Übergriffe auf Juden in den Medien des Auslands verhinderte Wiederholungen.

In Auerbachs Entreebillett hieß es weiter, dass die »Taktik der Sozialdemokratie in logischer Konsequenz der Tolerierungspolitik und des Ausweichens am 20. Juli 1932 weiter auf Abwarten bis mindestens 6. 90 , bzw. 23. 91 März abgestellt [war],« und er fuhr fort: »In der Gewerkschaftsführung herrschten ähnliche Auffassungen vor, doch mit einem wesentlichen Unterschied. Während in Kreisen der Sozialdemokratie neben legalem Abwehrkampf auch illegaler antifaschistischer Kampf als Möglichkeit erwogen und mancherorts bereits seit Anfang Februar organisiert wurde, war man sich darüber klar, dass eine illegale Gewerkschaftsarbeit unmöglich sei … für die Gewerkschaften blieben, falls der Abwehrkampf der Partei erfolglos blieb, nur Untergang der Organisation im Kampf gegen Hitler, Selbstauflösung … oder Rücktritt der leitenden Funktionäre und Unterstellung unter das neue Regime.« 92

Rückblickend auf den Sommer 1932 betonte Auerbach: »Das kampflose Ausscheiden der Sozialdemokratie aus der preussischen Position erschwerte nicht nur künftige Kampfvorbereitungen, es erschütterte darüber hinaus das

88 Zit. nach ebd., S. 264. 89 ITF (Hrsg.): Hakenkreuz über Deutschland 1 (1933), Nr. 7, S. 5. 90 6. März 1933: Der Tag nach der Wahl zum Deutschen Reichstag. 91 23. März 1933: Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes. 92 Bericht W. A. an ITF nach Ankunft in Amsterdam, S. 1 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 80, AdsD). 72

Vertrauen zur Leitung. Die Arbeiterschaft hatte den Staatsstreich der reaktionären Regierung gegen das von Sozialdemokraten verwaltete Preussen als entscheidenden Schlag empfunden und allgemein das Signal zum Losschlagen erwartet. Das Signal blieb aus, es kamen beschwichtigende Parolen und jahrzehntelange Gewöhnung an unbedingte Beachtung der Organisationsdisziplin verhinderte, dass die Industriegebiete auf eigene Faust losschlugen … Eine Welle der Erbitterung ging durch die Arbeiterorganisationen. Hoffnungslosigkeit verbreitete sich in ihren Reihen, der Schwung der Abwehrbewegung der Arbeiterorganisationen der ‚Eisernen Front’ war gebrochen.« 93 Als Folge verzeichneten die Gewerkschaften Massenaustritte. Exemplarisch erwähnte Auerbach den Einheitsverband, dem im Zeitraum 20. Juli 1932 bis 30. Januar 1933 etwa 30 Prozent der Mitglieder kündigten. 94 Für Auerbach stellten spätestens nach dem Preußenschlag die SPD und die Freien Gewerkschaften mit der Entscheidung gegen »den offenen Kampf um Sein oder Nichtsein« 95 die Weichen für ihren ruhmlosen Untergang. Dass die führenden deutschen Gewerkschafter im ADGB und in dessen Mitgliedsorganisationen die Intentionen der Nationalsozialisten für den Zeitpunkt der Machtübernahme kannten, wusste Auerbach durch seine Tätigkeit in der Chefetage des Gesamtverbandes. 96

Im Reichtagswahlkampf 1933 unterstützten die Freien Gewerkschaften die SPD und ihre Kandidaten, »wenn auch nicht mehr mit der gleichen Rückhaltlosigkeit wie bei den Novemberwahlen.« 97 Um etwaigen Eingriffen seitens der neuen Machthaber vorzubeugen, riefen sie zur Wahl von Freigewerkschaftern auf, »was praktisch die Wahl der S.P.D. bedeutete,« 98 da sich die Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagskandidaten zu den Freien Gewerkschaften bekannte oder zu deren Mitgliedern oder Funktionären zählte, wie auch Anton Reißner, Vorsitzender des Gesamtverbandes. Er hatte seinen Wahlkreis in Frankfurt an der Oder. Auerbach berichtete weiter: »Bereits im Wahlkampf setzten Schikanen, auch gegen den Gesamtverband, ein … Die Forster 99 -Polizei

93 ITF (Hrsg.): Faschismus 4 (1936), Nr. 1, S. 2. 94 Ebd. 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Bericht W. A. an ITF nach Ankunft in Amsterdam, S. 1 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 80, AdsD). 98 Ebd. 99 Albert Forster (1902-1952), ab 1930 Mitglied des Deutschen Reichstags (NSDAP), 1930 NS-Gauleiter von Danzig, 1933 preußischer Staatsrat. 1939 vom Senat zum Staatsoberhaupt der Freien Stadt Danzig gewählt. 1948 vom obersten Gerichtshof in 73 erliess gegen den Kollegen Reissner ein Redeverbot, da er ‚staatsgefährlich’ sei. Die Terrorwelle, die nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar mit offizieller Duldung einsetzte, richtete sich zunächst gegen die Kommunisten, erfasste sehr bald Sozialdemokraten und Gewerkschafter.« 100 Dies berichteten auch Kollegen aus vielen Teilen des Reiches auf einer Gauleiterkonferenz des Gesamtverbandes im März 1933 in Berlin, so der Teilnehmer Auerbach, »während die Länder mit älterer Naziregierung und Hamburg als Oasen geschildert wurden.« 101

Auerbach erlebte in den Gremien, wie angesichts dieser Tatsachen der Vorstand des Gesamtverbandes die Frage ventilierte: »Wie kann, nachdem nun auch in Preußen in vielen Städten eine Nazimehrheit bestand und die Partei [SPD] den Kampf als verloren aufzugeben schien, der Arbeitsplatz der Kollegen im Betrieb gesichert werden? Die Taktik der Zentrale und der grossen Ortsverwaltungen des Gesamtverbandes konzentrierte sich mehr und mehr auf den Versuch, die Funktionäre der freien Gewerkschaften durch Auslegung der Antimarxisten- Erlasse vor der Entlassung zu bewahren und damit den Stamm der Organisation zusammenzuhalten. Trotzdem war naturgemäss ein starkes Abschwenken zur N.S.B.O. 102 in allen Hoheitsbetrieben zu bemerken, in Versorgungsbetrieben, im Gesundheitswesen und im Wasserbau.« 103 Ganze Belegschaften erklärten ihren Austritt aus dem Gesamtverband. 104 Auerbach führte weiter aus: »Der A.D.G.B.- Vorstand versuchte seine abwartende Haltung fortzusetzen und fand nur beim Gesamtverband … ernsthaften Widerstand.« 105 Theodor Leipart erklärte Ende März 1933 in einem Brief an Hitler, dass sich die Gewerkschaften restlos von der SPD distanziert hätten. 106 Fritz Scheffel kommentierte im Juli 1933, dass Theodor Leipart »hätte viel retten können. Stolz und Überheblichkeit liessen es nicht

Warschau zum Tode verurteilt. »Nach heutigem Wissensstand erfolgte die Vollstreckung des Urteils am 28.2.1952«, in: Hermann Weiß (Hrsg.): Biographisches Lexikon zum Dritten Reich. Die Zeit des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1998, S. 124 f. 100 Bericht W. A. an ITF nach Ankunft in Amsterdam, S. 2 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 80, AdsD). 101 Ebd. 102 N.S.B.O.: Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation. 103 Bericht W. A. an ITF nach Ankunft in Amsterdam, S. 2 f. (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 80, AdsD). 104 Ebd., S. 3. 105 Ebd. 106 Schlingensiepen, Alexandra: Vom 2. Mai 1933 zum 20. Juli 1944. Streiflichter zum gewerkschaftlichen Widerstand in der NS-Zeit und zur Erforschung des deutschen Widerstands, insbesondere in der Arbeiterbewegung, in: Esters/Pelger/Dies.: Gewerkschafter im Widerstand, S. XII. 74 zu.« 107 Zudem erhob er den Vorwurf gegenüber seinen Gewerkschaftskollegen, nicht wie er ihre Ämter in Würde niedergelegt zu haben. 108 Im Gesamtverband bestand Einmütigkeit darüber, »dass nunmehr (Anfang April) die restlose Niederlage der sozialistischen Arbeiterschaft als feststehend betrachtet werden musste und, dass angesichts dieser Lage jede Entscheidung von dem Gesichtspunkt der möglichsten Sicherung des Arbeitsplatzes der Kollegen [in den Betrieben] diktiert werden musste.« 109 Doch Konsequenzen aus dieser Erkenntnis zog der Gesamtverband nicht, beklagte Auerbach.

Die Strategie des ADGB-Vorstands, der »in seinem Selbstbehauptungsdrang gegenüber der N.S.D.A.P. in den freien Gewerkschaften einen Rückhalt suchte,« 110 betrachtete der Gesamtverband allerdings als utopisch und prinzipiell gefährlich. Er war sich gleichzeitig bewusst, dass der Zeitpunkt für Kampfmaßnahmen verpasst sei. 111 In Verkennung der Intentionen der Nationalsozialisten hofften die großen deutschen Gewerkschaften noch Ende April 1933, durch organisatorischen Zusammenschluss den Untergang der alten Arbeiterbewegung abwenden zu können. In ihrem Beschluss vom 28. April 1933 biederten sich die Vorstände vom ADGB, dem Gesamtverband christlicher Gewerkschaften und dem Verband der Deutschen Gewerkvereine dem NS-Staat an mit den Worten: »Die deutschen Gewerkschaften sind … getreu ihrer staatspolitischen Tradition, zu positiver Mitarbeit am neuen Staat bereit.« 112 Sie installierten einen »Führerkreis der vereinigten Gewerkschaften,« 113 bestehend aus jeweils drei Persönlichkeiten der bisherigen Verbände, mit der Zielsetzung, »die geistige Grundlage der Einheitsgewerkschaften zu klären und festzulegen.« 114 Zu den Unterzeichnern zählten unter anderem die Gewerkschafter Theodor Leipart, Wilhelm Leuschner, , und . Der Aufruf des ADGB an die Mitglieder der Gewerkschaften zum 1. Mai 1933 markierte den Höhepunkt gewerkschaftlicher Anpassungspolitik und ging an die Grenze der Selbstachtung: »Wir begrüßen, daß die Reichsregierung diesen unseren Tag zum gesetzlichen Feiertag der

107 Scheffel an Fimmen, 14.7.1933 (Bestand ITF, Mappe 13, AdsD). 108 Ebd. 109 Bericht W. A. an ITF nach Ankunft in Amsterdam, S. 3 f. (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 80, AdsD). 110 Ebd., S. 4. 111 Ebd. 112 Beschluss des »Führerkreises der vereinigten Gewerkschaften« vom 28. April 1933, abgedruckt in: Schneider: Kleine Geschichte der Gewerkschaften, S. 533. 113 Ebd. 114 Ebd., S. 534. 75 nationalen Arbeit, zum deutschen Volksfeiertag erklärt hat … Der deutsche Arbeiter soll am 1. Mai standesbewußt demonstrieren.« 115 Der Bundesausschuss des ADGB gab eine zusätzliche Erklärung zum Mai-Feiertag ab, in der es unter anderem hieß, es sei dringlich, »daß die Bemühungen der Regierung um Arbeitsbeschaffung und Siedlung mit allem Nachdruck weiter gefördert werden. Die Gewerkschaften sind nach wie vor bereit, diese Bemühungen mit allen Kräften zu unterstützen.« 116

Am Tag danach, am »2. Mai werden dann die Gewerkschaftshäuser besetzt,« 117 notierte Goebbels am 17. April 1933 und fügte am 3. Mai hinzu: »Gewerkschaften wie verabredet planmäßig besetzt. Kein Zwischenfall. Bonzen verhaftet … Wir sind die Herren in Deutschland.« 118 Die Gleichschaltungsaktion gegen die Freien Gewerkschaften war minutiös geplant und stand unter der Leitung von Robert Ley 119 , dem Leiter der Deutschen Arbeitsfront (DAF), der veranlasste, »SA bzw. SS ist zur Besetzung der Gewerkschaftshäuser und der Inschutzhaftnahme der in Frage kommenden Persönlichkeiten einzusetzen.« 120 Ley achtete in seinen Regieanweisungen strikt darauf, dem Ansehen des neuen Regimes in der Bevölkerung nicht zu schaden. Das gelang ihm; da weite Kreise kaum Notiz von den Vorgängen nahmen. 121 »Die Übernahme der Freien Gewerkschaften muss in der Form vor sich gehen, dass dem Arbeiter und Angestellten das Gefühl gegeben wird, dass diese Aktion sich nicht gegen ihn, sondern gegen ein überaltertes und mit den Interessen der deutschen Nation nicht übereinstimmendes System richtet,« 122 verfügte Robert Ley. Zeitgleich mit der Besetzung der Gewerkschaftshäuser ordnete er die Sperrung aller Kassen und Konten der Gewerkschaften an. Sichergestellt wurden allerdings Unterstützungszahlungen an Arbeitslose, um Beunruhigung bei den

115 1.-Mai-Aufruf des Bundesvorstandes vom 15. April und Beschluß des Bundesausschusses des ADGB vom 19. April 1933 zur Teilnahme an regierungsoffiziellen 1.-Mai-Feiern, veröffentlicht in der Gewerkschafts-Zeitung am 22. April 1933 und abgedruckt in: Ulla Pleuer: Theodor Leipart (1867-1947). Persönlichkeit, Handlungsmotive, Wirken, Bilanz - Ein Lebensbild in Dokumenten, Bd. 2, Berlin 2000, S. 468. 116 Ebd., S. 469. 117 Fröhlich: Die Tagebücher von Joseph Goebbels, S. 408 (17.4.1933). 118 Ebd., S. 416 (3.5.1933). 119 Dr. Robert Ley (1890-1945), Leiter der Deutschen Arbeitsfront 1933-1945. Er beging noch vor Beginn seines Prozesses in seiner Nürnberger Gefängniszelle Suizid., in: Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich, S. 223 ff. 120 Rundschreiben Nr. 6/33, Die Oberste Leitung der PO, Der Stabsleiter, München 21.4.1933, unterzeichnet von Dr. Robert Ley (Bestand ITF, Mappe 117, AdsD). 121 Schlingensiepen: Vom 2. Mai 1933 zum 20. Juli 1944, S. XV. 122 Rundschreiben Nr. 6/33, Die Oberste Leitung der PO, Der Stabsleiter, München, 21.4.1933, unterzeichnet von Dr. Robert Ley (Bestand ITF, Mappe 117, AdsD). 76

Gewerkschaftsmitgliedern zu vermeiden. 123 »Etwa 400 bis 500 SA-Männer, schwer bewaffnet, zogen in das Haus des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in Berlin ein, an der Spitze Dr. Ley,« 124 beschrieb Hermann Schlimme 125 die Vorgänge jenes Tages und fuhr fort, dass er, »wie alle übrigen Mitglieder des Bundesvorstandes und deren Mitarbeiter, gewaltsam mit vorgehaltenen Revolvern aus ihren Büros geführt und auf Lastwagen in ein völlig zerstörtes Haus in der Parochialstraße gebracht [wurde] … Am 3. Mai wurden wir dann in das Polizeipräsidium am Alexanderplatz und von dort durch die Polizei nach Plötzensee in Schutzhaft« 126 transportiert. Ähnlich dramatisch verlief die Gleichschaltungsaktion beim Gesamtverband.

Mitte April 1933 bekannte Anton Reißner, dass er »die Unterwerfung nicht mitmachen wollte,« 127 ließ jedoch den Zeitpunkt seines Rücktritts noch offen. Reißner emigrierte nach der Entlassung aus der Gestapo-Haft in die Niederlande. In Amsterdam leitete er die Auslandsvertretung der deutschen Gewerkschaften (ADG) und zählte in sozialistischen Emigrantenkreisen zur SOPADE-treuen Fraktion unter dem Vorsitz von Otto Wels, 128 dem Victor Schiff, bis 1933 außenpolitischer Korrespondent der SPD-Zeitung Vorwärts , »intellektuelle Unbeweglichkeit« und »tief verankerte Vorurteile« 129 unterstellte. Reißner hielt seinen früheren persönlichen Referenten Walter Auerbach und Edo Fimmen für »zum Teil arrogante und zum andern Teil unzuverlässige, schwankende und unfähige Elemente …Auf keinen Fall gönne ich diesen Leuten irgendeinen Einfluß beim Wiederaufbau der deutschen Arbeiter- und

123 Ebd. 124 Schlimme: Material über Vorgänge 1933, S. 5 f. (NL Hermann Schlimme, NY 4416/71, BArch/SAPMO). 125 Hermann Schlimme (1882-1955), seit 1932 Mitglied des ADGB-Bundesvorstands, gehörte zusammen mit anderen im Reich gebliebener und ebenfalls verhafteter Gewerkschafter zur »Berliner Gruppe«, in: Schneider: Unterm Hakenkreuz, S. 847. »Die Pariser Tageszeitung (30. VII.) meldet Verhaftung von Schlimme.« Auerbach: Notiz an Jahn, 31.7.[1937] (Bestand ITF, 159/1/1/59, MRC). 126 Schlimme: Material über Vorgänge 1933, S. 5 f. (NL Hermann Schlimme, NY 4416/71, BArch/SAPMO). 127 Bericht W. A. an ITF nach Ankunft in Amsterdam, S. 6 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 80, AdsD). 128 SOPADE: Exil-Organisation der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 1933 unter Otto Wels (1873-1939) in Prag konstituiert. [Bekannt durch seine Rede im Deutschen Reichstag gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933.] Innerhalb der SPD zählte Otto Wels bereits seit den frühen 1920er Jahren zum rechten Flügel der Partei, in: Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich, S. 374 f. 129 Zit. nach Günter Plum: Volksfront, Konzentration und Mandatsfrage. Ein Beitrag zur Geschichte der SPD im Exil 1933-1939, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 18 (1970), Nr. 4, S. 430. 77

Gewerkschaftsbewegung.«130 Reißner und seine Frau sahen bei der Besetzung der Niederlande durch deutsche Truppen im Suizid den letzten Ausweg. 131

Wie schaffte Walter Auerbach in den Jahren 1930 bis 1933 den Spagat zwischen seiner sozialistisch-pazifistischen und antifaschistischen Grundhaltung seit den 1920er Jahren und der Tätigkeit für den Sozialdemokraten und Gewerkschaftsvorsitzenden Anton Reißner?

3.4 Im Widerstand gegen den NS-Staat

Die Artikel für Hakenkreuz über Deutschland und später für Faschismus verfasste Walter Auerbach in seiner Muttersprache, ein Privileg, das nur wenige Emigranten hatten. Deutsch, Niederländisch und Englisch galten als Umgangssprachen im Amsterdamer Generalsekretariat der ITF. Niederländisch und Englisch lernte er schnell, zudem verfügte er in Französisch über Lesekapazität. Die ITF beschäftigte für die Kommunikationen mit ihren weltweit verstreuten Mitgliedsorganisationen Übersetzer für die Sprachen Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Schwedisch und Esperanto, die auch Auerbachs deutsche Texte in die jeweilige Sprache übertrugen, aber offenbar nicht immer ganz korrekt. Otto Kahn-Freund, 132 im englischen Exil Mitverfasser von The Next Germany, monierte einmal, dass »in dem englischen Blatt mit die interessantesten Sachen aus der deutschen Ausgabe weggelassen sind« 133 und nannte als wichtiges Exempel »Betriebsspitzel im Ausland.« 134 Beide Organe erschienen 14-tägig in deutscher Sprache, Faschismus zeitweilig in sieben Sprachen. Ab 1941 »only an English and German edition were published.« 135 In einem offiziellen ITF-Bericht für den Zeitraum 1939 bis 1944 hieß es: »The French edition of Fascism was discontinued in December 1940 and the Swedish in June 1941. The Spanish edition was also dropped in 1942 … The present

130 Zit. nach Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 55 f. 131 Ebd. 132 Professor Dr. Otto Kahn-Freund (1900-1979). 1933 Emigration nach England. Dort Universitätskarriere. Seit 1976 Sir Kahn-Freund, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 2 (1), S. 585. 133 Kahn-Freund an Auerbach, 15.4.1937 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 11, AdsD). 134 Ebd. 135 Nelles, Dieter: ITF Resistance in Germany and Spain, in: Reinalda (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 199. 78 circulation of Fascism is 550 for the English and 160 for the German edition.«136 Der monatlich herausgegebene Esperanto-Pressebericht mit Auszügen aus Faschismus lag am 1. Januar 1935 bei einer Auflagenhöhe von 550 Exemplaren. 137

Walter Auerbach und letztlich das gesamte politische Exil waren trotz aller publizistischen Aktivitäten zur Ohnmacht verdammt. 138 »Die eigentliche historische Leistung exilierter deutscher demokratischer Politiker [bestand] … darin, dem NS-Regime durch tatkräftige Unterstützung des inneren Widerstandes und durch beweiskräftige Aufklärung der Weltöffentlichkeit über die Greuel der Terrorherrschaft« 139 Schaden zugefügt und theoretische und pragmatische Grundlagen für die Zeit danach entwickelt zu haben. Das Eingeständnis der eigenen politischen Ohnmacht hätte vermutlich eine noch größere Anzahl von Emigranten in Desillusionierung, Apathie, Verzweiflung und Suizid gestürzt. Von den bekannteren Schriftstellern schieden unter anderem Stefan Zweig (1881- 1942) und Ernst Toller (1893-1939) freiwillig aus dem Leben.

Auerbach hingegen hatte durch seine Integration in das Arbeitsteam der ITF und durch seine redaktionelle Tätigkeit die Chance, die eigene Ohnmacht mit Recherche und Schreiben zu kompensieren und, wie Connie Palmen es ausdrückte, »mit dem Stift nach der Macht [zu greifen], weil die Ohnmacht so unerträglich groß ist. Wer schreibt, hört für eine Weile auf, sich selbst Gewalt anzutun, zu leugnen, zu lügen, zu verschleiern und sich zu verstellen, hört mit all dem auf, wozu er sich gezwungen sieht, sobald die Angst zuschlägt, was ein anderer mit ihm machen könnte … Schreiben wird aus Schweigen, Angst, Verlegenheit und einer möglicherweise übermäßig ausgeprägten Abneigung gegen Unechtheit … geboren.« 140

Anfang Juni 1933 unterbreitete Walter Auerbach Edo Fimmen einen dreiseitigen Themenkatalog für eine antifaschistische Korrespondenz, die in der zweiten Juni- Hälfte unter dem Titel Hakenkreuz über Deutschland in Amsterdam erschien. Im Vorspann seines Manuskripts vermerkte er, regelmäßig über die wichtigsten gesellschaftlichen Ereignisse in Deutschland in Form von Tatsachen, nicht von

136 [ITF] Secretariat’s Report to the Executive Committee and General Council over the period September 1939 to October 1944, S. 56. (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 88, AdsD). 137 Geschäfts- und Kassenbericht der ITF über die Jahre 1932, 1933 und 1934, Amsterdam 1935, S. 22 (Bestand ITF, 159/1/1/59, MRC). 138 Schwinghammer: Im Exil zur Ohnmacht verurteilt, S. 239. 139 Ebd., S. 239 ff. 140 Palmen, Connie: I. M. Ischa Meijer. In Margine. In Memoriam, Zürich 2001, S. 38 f. 79

Gerüchten, zu unterrichten, wobei es allerdings der nationalsozialistische Terror in vielen Fällen nicht zuließe, Informanten zu benennen. Er betonte die Zuverlässigkeit der Quellen und versprach den Lesern gewissenhafte Überprüfung derselben. 141 Evidenz für Auerbachs methodische Sorgfalt war eine kritisch hinterfragte Information von Hans Jahn aus dem Sommer 1937: »Deine Nachricht aus Halle schien mir noch nicht genug dokumentiert. Du teilst nicht mit, ob Du die Bestätigung Deiner Hypothese, die Du in FF [ Fahrt frei ] veröffentlichst, von einem Eisenbahner, also einem Fachmann erhieltst, oder etwa in Paris, aus zweiter oder dritter Hand. Mir scheint nicht geklärt, weshalb Güterwagen mit so hochexplosivem Inhalt in glühender Sommerhitze stehen konnten. Unter Umständen ist doch Sabotage im Spiel.« 142

In seiner Einleitung zur ersten Edition übernahm Edo Fimmen sinngemäß Passagen aus Auerbachs Text und verwies auf die wirtschafts- und sozialpolitische Priorität der Publikation. Weitere Schwerpunkte sollten sein, Engagierte aus der Arbeiterbewegung innerhalb und außerhalb Deutschlands, aber auch Repräsentanten antifaschistischer Medien anzusprechen 143 und die kontinuierliche Berichterstattung über Arbeiterwiderstand in Deutschland. Doch »otherwise, Fimmen rarely voiced a political opinion in Fascism .«144 Auerbach griff in der ersten Ausgabe die Besetzung des Gewerkschaftshauses des Gesamtverbandes am 2. Mai 1933 und die Erklärung von Staatskommissar Engels vor den Beschäftigten, dass bis zum 30. September 1933 kein Lohnabbau erfolge, auf. Handschriftlich fügte er dem kurzen Artikel »selbst gehört« 145 hinzu. Der soziale Waffenstillstand wurde bereits zwei Wochen später von Robert Ley zum 15. Juli 1933 aufgekündigt. 146 Unter dem Titel Unternehmersyndikus bestimmt die Tarifpolitik prangerte Auerbach die Berufungen des bisherigen Geschäftsführers der Schwerindustrie im Ruhrgebiet, Grauert, zum Staatssekretär für Sozialpolitik, und von Mansfeld, bisheriger Leitartikler der schwerindustriellen Deutschen Bergwerkszeitung , nunmehr verantwortlich für Tarifpolitik und Arbeitsrecht, in das Reichsarbeitsministerium an. Für Auerbach war dies ein weiteres Indiz einer unternehmerfreundlichen

141 Papier »Unter dem Hakenkreuz«, Auerbach an Fimmen, 6.6.1933 (Bestand ITF, Mappe 45, AdsD). 142 Auerbach an Jahn, 6.7.1937 (Bestand ITF, 159/3/C/a/99, MRC). 143 ITF (Hrsg.): Hakenkreuz über Deutschland 1 (1933), Nr. 1, S. 1. 144 Nelles: ITF Resistance in Germany and Spain, S. 199. 145 ITF (Hrsg.): Hakenkreuz über Deutschland 1 (1933), Nr. 1, S. 2 146 Ebd. 80

Sozialpolitik. 147 Die Diskrepanz zwischen Lohndumping und finanzieller Unterstützung Hitlers und seiner Bewegung durch Großindustrielle und die fehlenden Interessensvertretungen der Arbeiterschaft wurden in den nächsten Jahren von Auerbach regelmäßig thematisiert und beherrschten viele Ausgaben von Hakenkreuz über Deutschland und Faschismus . Beide Publikationen zählten nicht zu den Exilorganen. Herausgeber war das bis 1939 in den Niederlanden und von Herbst 1939 bis 1945 in England ansässige Generalsekretariat der ITF, nicht der Emigrant Auerbach. 148

Eine »Versklavung der deutschen Arbeiterschaft« 149 stellten für Auerbach die neuen arbeitsrechtlichen Bestimmungen vom 20. Januar 1934 dar. Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit erhob den Anspruch der Verbesserung der Arbeitsleistung, auf Gestaltung und Durchführung der allgemeinen Arbeitsbedingungen in den jeweiligen Betrieben und legte arbeitsrechtlich, sozialpolitisch und ideologisch die Betriebsgemeinschaft fest. Dies bedeutete für ihn die Alleinherrschaft von Unternehmern und Werksleitern und die »Auslieferung von 20 Millionen deutscher Arbeiter und Angestellter an die Willkür des Unternehmers.« 150 Dennoch hält Hans Mommsen die vor 1933 gewerkschaftlich organisierte Industriearbeiterschaft gegenüber nationalsozialistischer Propaganda für weitgehend immun und in der Lage, die inneren Widersprüche der neuen Programmatik zu durchschauen. Ihre starke Entpolitisierung, Verbitterung und Desorientierung war seiner Ansicht nach die Folge der Anpassungspolitik der Freien Gewerkschaften. 151 »Erfolge erzielte die NSDAP bei jenen Gruppen der Arbeiter, die eine Affinität zu mittelständischen Berufen hatten« 152 oder im öffentlichen Dienst standen. 153 Die Verantwortlichen des NS-Regimes wagten es hingegen nicht, eine effektive nationalsozialistische Gewerkschaft zu installieren. Das kurzfristige Surrogat NSBO und die DAF waren außerstande, gewerkschaftliche Funktionen im traditionellen Sinne zu

147 Ebd., S. 3. 148 Greiser, Gerd: Exilpublizistik in Großbritannien, in: Hanno Hardt/Elke Hilscher/Winfried B. Lerg (Hrsg.): Presse im Exil. Beiträge zur Kommunikationsgeschichte des deutschen Exils 1933-1945, München u.a., S. 226 und S.248, Anm. 20: »Schriftl. Mitteilung von Walter Auerbach vom 30.10.1974 an den Verfasser.« 149 ITF (Hrsg.): Hakenkreuz über Deutschland 2 (1934), Nr. 15, S. 1 150 Ebd., Nr. 12, S. 1. 151 Mommsen, Hans: Aktionsformen und Bedingungen des Widerstands in der Arbeiterschaft, in: Karl-Ernst Jeismann (Hrsg.): Widerstandsbewegungen in Deutschland und in Polen während des Zweiten Weltkriegs, Braunschweig 1979, S. 41 ff. 152 Ebd., S. 41. 153 Ebd. und Timothy W. Mason: Sozialpolitik im Dritten Reich. Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft, Opladen 1977 2, S. 67 f. 81 realisieren. 154 Den Unternehmensleitungen wurden Vertrauensräte zur Seite gestellt, denen das Gesetz aber nicht die Funktion einer Interessenvertretung zuerkannte. Bei schwerwiegenden Differenzen in den Gremien der Vertrauensräte vermittelten Treuhänder, dem Reichsarbeitsministerium unterstellte Beamte. Sie galten als staatliche Instanz zur Erhaltung des Arbeitsfriedens in den Betrieben, doch nach dem Konzept des neuen Gesetzes war ihnen bewusst Zurückhaltung und »keine breitangelegte Ordnungs- und Kontrolltätigkeit« zugeordnet. 155

Auerbach publizierte in Hakenkreuz über Deutschland und Faschismus detaillierte Berichte über die Vertrauensrätewahl im Frühjahr 1934, die für die Nationalsozialisten eine schallende Ohrfeige bedeuteten. In Betrieben mit geheimer Abstimmung »hat die Mehrzahl der Arbeiter trotz Terror und Massenarbeitslosigkeit durch Stimmenthaltung oder Ungültigmachung des Stimmzettels gegen das Bündnis von Unternehmern und nationalsozialistischem Apparat opponiert.« 156 Auerbach gab einige Exempel zum Abstimmungsergebnis. So strichen im Bahnbetriebswerk Erkner bei Berlin die dort wahlberechtigten 250 Eisenbahner alle Namen bis auf einen auf der von der Direktion vorgelegten Liste, im Bahnbetriebswerk Berlin Niederschönweide zeigten 100 von 148 Stimmberechtigten ihren Protest und im Potsdam waren es 507 ungültige und 514 gültige Stimmen. Die Abstimmungsergebnisse in anderen Industriezweigen zeigten einen ähnlichen Trend. 157

Die Deutsche Nachrichtenagentur hingegen verbreitete die Meldung: »Im Durchschnitt hätten bei den Vertrauensrätewahlen 80-90 % der Belegschaften für das Bündnis von Nationalsozialisten und Unternehmern gestimmt.«158 Auerbach brandmarkte diese Ergebnisse. Sein Zahlenmaterial bezog er aus Widerstandskreisen in einzelnen Industriebetrieben. Umfassende Ergebnisse der Wahlen wurden offiziell nicht bekanntgegeben. Im Jahr 1935 fanden die letzten Vertrauensrätewahlen mit ähnlich katastrophalem Ausgang für das NS-Regime

154 Mommsen: Aktionsformen und Bedingungen des Widerstands in der Arbeiterschaft, S. 41. 155 Mason: Sozialpolitik im Dritten Reich, S. 117 f. und Ders.: Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936- 1939, Opladen 1975, S. 41 f. und ITF (Hrsg.): Hakenkreuz über Deutschland 2 (1934), Nr. 12, S. 1. 156 ITF (Hrsg.): Hakenkreuz über Deutschland 2 (1934), Nr. 20, S. 1. 157 Ebd., S. 1 f. 158 Ebd., S. 2. 82 statt, in den darauffolgenden Jahren [1936, 1937 und 1938] wurden die Abstimmungen aus Furcht vor einer erneuten Blamage ausgesetzt und die Amtszeit der Vertrauensräte um jeweils ein Jahr verlängert, 159 denn »1934 und 1935 stimmten … die Belegschaften der entscheidenden Betriebe und Verwaltungen demonstrativ gegen die Repräsentanten des Naziregimes.« 160

In den Anfangsjahren seines niederländischen Exils machte sich Auerbach offenbar noch Illusionen über Dauer und Stabilität des NS-Staates und kommentierte den Ausgang der Vertrauensrätewahlen im Jahr 1934 einerseits mit den Worten, die »Nationalsozialisten zittern vor der erwachenden Arbeiterschaft.« 161 Andererseits schätzte er die Opponierenden doch realistisch ein. Nicht alle seien Antifaschisten, auch nationalsozialistische Arbeiter hätten sich gegen die neu installierte Allmacht der Unternehmer mit ihrem Stimmzettel gewehrt. 162 In einem Rückblick im Jahr 1965 griff Auerbach diese Wahl nochmals auf und resümierte, dass die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) zu jenem Zeitpunkt noch keine realen Vorstellungen über das Wesen eines totalitären Staates hatte, denn sie »hätte sonst wissen müssen, dass ein totaler Staat keinerlei Oppositionsraum zur Kenntnis nehmen darf. Mit den Goebbel’schen 99,9 % Wahlerfolgen hat sie gezeigt, dass ihr das im politischen Raum klar war, auf der Betriebsebene aber glaubte sie ohne den bei allgemeinen Wahlen üblichen Terror auskommen zu können.« 163

Noch vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes untersuchte Auerbach Lohnsenkungen im Baugewerbe in deutschen Großstädten und bescheinigte den Bauunternehmern Gewinnmaximierung. Der Brutto-Stundenlohn eines Maurers in Köln sank von 113 Pf. im Jahr 1932 auf 87 Pf. im Februar 1934, in Berlin von 125 Pf. auf 108 Pf. 164 Der Essener Rüstungsbetrieb Krupp nahm im Zeitraum 1. Oktober 1932 bis 1. Oktober 1933 Lohnkürzungen um 23,5 Prozent vor, trotz sehr guter Auftragslage, die zur Neueinstellung von 3.700 Arbeitern zwang. »Die durch das Entgegenkommen der Regierungen Englands und Italiens bevorstehende legale Aufrüstung Hitler-Deutschlands wird den Rüstungsindustriellen deshalb ausserordentliche Gewinne ermöglichen,

159 ITF (Hrsg.): Faschismus 4 (1936), Nr. 6, S. 71; 5 (1937), [ohne Nummer], S. 80; 6 (1938), Nr. 6, S. 52. 160 Ebd., S. 64 und Schneider: Kleine Geschichte der Gewerkschaften, S. 227 ff. 161 ITF (Hrsg.): Hakenkreuz über Deutschland 2 (1934), Nr. 20, S. 2. 162 Ebd., S. 1. 163 Auerbach: Illegale Gewerkschaften kann es in totalen Diktaturen nicht geben (Bestand ITF, Mappe 88, AdsD). 164 ITF (Hrsg.): Hakenkreuz über Deutschland 2 (1934), Nr. 19, S. 2. 83

Vorschussdividende auf den künftigen Krieg.« 165 Als Quelle benannte Auerbach die gerade veröffentlichte Krupp-Bilanz. 166 Und er ergänzte: »Die Deutsche Arbeitsfront versuchte nun in ihrer Ratlosigkeit, durch Drohung mit dem Konzentrationslager die Diskussion [gegen Lohnsenkung] in den Betrieben zu unterdrücken.« 167 In den Jahren 1937 bis 1939 entwickelte sich die Arbeits- und Einkommenssituation in der Rüstungsindustrie durch spürbaren Arbeitskräftemangel zugunsten der Beschäftigten, die teilweise durch Drohung mit Arbeitsplatzwechsel übertarifliche Löhne erreichten. In rüstungsrelevanten Branchen überschritten die Reallöhne in den Jahren 1938/39 den Höchststand von 1928. 168

Die erste Ausgabe von Faschismus am 14. Juli 1934 leitete Edo Fimmen mit einem Rückblick auf die Publikation Hakenkreuz über Deutschland ein und hob hervor, »auf sachliche Weise den grossen Unterschied zwischen den Versprechungen und den Taten des Nazi-Regimes in Deutschland« 169 publik gemacht zu haben. Er verwies auf die positive Resonanz nicht nur in den Mitgliedsverbänden der ITF, sondern auch weit darüber hinaus auf deren Inhalt, Tendenz und Zuverlässigkeit. Die veränderte politische Gemengelage auf dem europäischen Kontinent erfordere Neugestaltung und die Umbenennung in Faschismus und das Aufgreifen von Themen aus anderen faschistisch regierten Ländern. Seit dem Erscheinen von Hakenkreuz über Deutschland im Juni 1933 »hat die Zahl der Länder, wo der Faschismus nach der Machtergreifung trachtete und schliesslich die Macht auch tatsächlich an sich gerissen hat … um drei zugenommen, in anderen Ländern hat er an Einfluss ganz bedeutend gewonnen.« 170

Basis der ITF-Korrespondenzen bildeten in den Amsterdamer Jahren »ca. 400 Zeitungen und Zeitschriften in 20 Sprachen. Hiervon sind 14 Tageszeitungen in 9 Sprachen, 63 Wochenschriften, 56 zweiwöchentliche Organe, 213 Monatsschriften und 30 unregelmässig erscheinende Zeitschriften. Dies bedeutet, dass monatlich etwa 1200 Veröffentlichungen hereinkommen. Es sind dies die wichtigsten Quellen für die Dokumentation und die regelmässigen

165 Ebd., Nr. 13, S. 4. 166 Ebd. 167 ITF (Hrsg.): Hakenkreuz über Deutschland 2 (1934), Nr. 15, S. 1 und Mason: Sozialpolitik im Dritten Reich, S. 118. 168 Peukert, Detlef: Der deutsche Arbeiterwiderstand 1933-1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 1979, B 28-29, S. 33. 169 ITF (Hrsg.): Faschismus 1 (1934). Nr. 1, S. 1. 170 Ebd. 84

Publikationen: des Presseberichts und des Organs Faschismus .« 171 Außerdem verfügte das ITF-Generalsekretariat über eine Bibliothek mit etwa 3.800 Bänden zu Politik und Fragen der internationalen Gewerkschaftsbewegung. 172 »Das Material für [die] Agitation liefert seit 1933 vor allem Berlin, doch,« 173 und hier bezog sich Auerbach kritisch auf internationale Presseagenturen und konservative Zeitungen im Ausland, »wird das von Berlin zur Verfügung gestellte sozialpolitische Material von den antigewerkschaftlichen Zentren in den einzelnen Staaten nach Bedarf zurechtgestutzt.« 174 Als problematisch für die Redaktion von Faschismus galten sozialpolitische Verlautbarungen von offiziellen Regierungsstellen des Auslands, die »weitgehend Veröffentlichungen und Roms ohne ein Wort der Kritik« 175 übernahmen. Die Fäden über Informationen zu Arbeits- und Sozialbedingungen bei der Deutschen Reichsbahn und Widerstandsaktivitäten von deren Mitarbeitern liefen bis zu seiner Internierung in Frankreich im Jahr 1940 bei Hans Jahn zusammen. Er war regelmäßiger Berichterstatter in Wort und Schrift für Faschismus und verfasste Freie Fahrt .

Nach Kriegsbeginn gestaltete sich die Beschaffung von Zeitungen und Zeitschriften vom Kontinent schwierig. Auerbach bemühte sich bei Gewerkschaften, Labour Party, offiziellen Regierungsstellen und Wiener Library um Einsicht in deren Pressematerialien über jene der ITF hinaus. Die »Kontakte der ITF [liefen] vor allem über Portugal, Lissabon, auch für die deutschen Zeitungen, die mein Vater als Grundlage für die Pressekorrespondenz benötigte.« 176 Unterstützung bei seiner Recherche für Faschismus erhielt Auerbach aus Schweden. Irmgard Enderle 177 lieferte unter Vermittlung des ITF- Präsidenten Charles Lindley in den Jahren 1939 bis 1945 Auszüge aus dem Reichsarbeitsblatt , der Sozialen Praxis und anderen wichtigen deutschen Publikationen. In einem Bericht aus der Nachkriegszeit schrieb August Enderle: »Man konnte aus den Veröffentlichungen z.B. klar nachweisen, das von den

171 Geschäfts- und Kassenbericht der ITF für den Kongress 1938 in Luxemburg, Amsterdam 1935, S. 34 (Bestand ITF, 159/1/1/72, MRC). 172 Ebd. 173 Dirksen [ohne Titel und Adressaten]: Über Faschismus, 10.3.1939 (Bestand ITF, Mappe 45, AdsD). 174 Ebd. 175 Ebd. 176 Lore Auerbach an Vf.in, 12.10.2002. Auerbach an Max [August Enderle], 25.10.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 88, AdsD). 177 Dr. Irmgard Enderle (1895-1985), Gymnasiallehrerin, Parteifunktionärin, Journalistin. Remigration 1945. In Bremen maßgeblich am Wiederaufbau von Gewerkschaften und SPD beteiligt. Seit 1951 freie Journalistin, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 157. 85

Einnahmen der offiziellen Sozialversicherungen, vom Winterhilfswerk u.a. einige Milliarden für Rüstungs- und sonstige Kriegszwecke abgezweigt wurden.« 178

August Enderle, Pseudonym Max, war ein wichtiger Informant für Walter Auerbach und die ITF. Beide Enderles arbeiteten in Norwegen und Schweden eng zusammen mit Willy Brandt, der im norwegischen Exil und später in Schweden Kontakt zu Edo Fimmen und Walter Auerbach hielt und illegale Druckschriften der ITF über deutsche Seeleute nach Deutschland schmuggeln ließ. 179 Brandt war regelmäßiger Bezieher von Schiffahrt und Faschismus . 180 Jahrzehnte später schrieb er in seinen Erinnerungen: »In Oslo war auch ich - wenngleich nicht intensiv - mit der Tätigkeit der ITF (Internationale Transportarbeiter-Föderation) verbunden. In Norwegen und in Amsterdam traf ich deren Generalsekretär, den eindrucksvoll löwenmähnigen und von mitmenschlicher Leidenschaft vibrierenden Holländer Edo Fimmen … über die ITF lief eine Vielzahl von Eisenbahner- und Seeleutekontakten, die seit mehreren Jahren vorbereitet worden waren.« 181 Mit großem Respekt sprach Brandt über Faschismus .182

Ein Informations- und Nachrichtenaustausch mit konspirativen Zügen 183 existierte mit dem Redaktionsmitglied Groenewald von La Otra Alemania, Organo de los Alemanes Democraticos de la America del Sur , in Montevideo (Uruguay) und der Pastorin Annemarie Rübens, die beide Auerbachs seit gemeinsamen Kölner Studientagen kannten. Nicht nur die politische Entwicklung in Argentinien und Uruguay wurde thematisiert, sondern auch die deutsche Emigration in Lateinamerika, dortige Nationalsozialisten und Falangisten und die Verbreitung von konspirativen ITF-Materialien. 184 Die Verantwortlichen von La Otra Alemania betrachteten Faschismus als Quelle »von aller grösster Bedeutung, weil der Pressedienst uns Nachrichten vermittelt, die wir sonst nirgendwo finden … Wir

178 Enderle: Bericht über antinazistische Tätigkeit der Eheleute Enderle, b) in Schweden [ohne Datum], S. 4 (Bestand ITF, Mappe 88, AdsD). 179 Merseburger, Peter: Willy Brandt 1913-1992. Visionär und Realist, Stuttgart/München 2002, S. 202. 180 Korrespondenz Fimmen/Brandt 1937/1938 (Bestand ITF, 159/3/C/a/52, MRC). 181 Brandt, Willy: Links und frei. Mein Weg 1930-1950, Hamburg 1982, S. 103. 182 Ebd., S. 104. 183 Auerbach an Groenewald, 22.6.1942: »Ich habe jenen Brief so gedeckt geschrieben, dass m.W. auch dann kein Unheil entstehen kann, wenn er in unrechte Haende geraten sein sollte.« (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 37, AdsD). 184 Ebd. 86 sind hier in ständigem Kontakt mit anderen linken, europäischen Organisationen.« 185

Die Auswertungen seiner Recherchen in deutschen und internationalen Tageszeitungen, Zeitschriften und in Veröffentlichungen der Ministerien des Deutschen Reiches und die Materialien seiner persönlichen Informanten protokollierte Auerbach akribisch in Notizbänden, 186 die häufig nur eine oder zwei Zeilen umfassten. Die Einträge auf Tausenden von Seiten lesen sich wie schlagwortartige Nachrichtenüberblicke. Unter anderem kamen Stichworte vor wie Reichsverfassung, Juden, Konzentrationslager, Schutzhaft, neues Presse- und Schriftleitergesetz, Frauen, Ehestandsdarlehen, Warenhaussteuer, Löhne, Jungarbeiter. Zumeist waren es Kurzfassungen von Zeitungsmeldungen. 187 Auerbach erwähnte in seinem Testament aus dem Jahr 1961, dass diese Notizbände zusammen mit Hakenkreuz über Deutschland , Faschismus und der dazugehörigen Korrespondenz das »vollständige dokumentarische Material über Aussperrung und Widerstand deutscher und europäischer Arbeiter unter faschistischer Diktatur« 188 darstellten. Doch die Berichte in Faschismus ergaben »in ihrer Gesamtheit kein Lexikon der faschistischen Sozialpolitik,« 189 schränkte Auerbach an anderer Stelle ein. Sie stellten vielmehr eine exemplarische Auswahl dar, an der »immer von neuem die antifaschistischen Elementarparolen illustriert werden können: dass der Faschismus das Ausbeutungsverhältnis nicht aufhebt, dass der Arbeiter das Stiefkind der faschistischen Volksgemeinschaft ist und dass der Arbeiter ohne freie Organisationen in einem freien Gemeinwesen rechtlos ist und verelendet.« 190 Hilfreich für den Leser erwiesen sich die zweimal jährlich publizierten Stichwort-Übersichten.

Die ITF-Korrespondenz Faschismus , A Forgotten ITF Publication ,191 wie auch zuvor Hakenkreuz über Deutschland , holte die deutschen Arbeiter dort ab, wo sie arbeiteten und lebten, und deckte auf, »was die Propagandazentralen des Faschismus an falschen Nachrichten über die wirtschaftliche und soziale

185 Groenewald an Auerbach, 23.3.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 37, AdsD). 186 Bis zum 25.5.1940 waren es bereits 5.180 Seiten. Ab 1940 verringerte sich der Umfang der Eintragungen eklatant (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 4 a, AdsD). 187 Auerbach: Notizband 3, 16.6.1933-11.7.1933, S. 315 f., 4.10.1933 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 4 a, AdsD). 188 Privatsammlung Lore Auerbach: Auerbach: Testament, 29.12.1961. 189 Dirksen [ohne Titel und Adressaten]: Über Faschismus, 10.3.1939 (Bestand ITF, Mappe 45, AdsD). 190 Ebd. 191 Nelles: ITF Resistance in Germany and Spain, S. 199. 87

Lage« 192 verbreiteten. Es ging den Verantwortlichen bei der ITF darum, das proletarische Bewusstsein der Arbeiterklasse wachzuhalten und ihre wahren Arbeits- und Lebensbedingungen aufzuzeigen. Berichtet wurde »über die Lohn- und Kaufkraftentwicklung, über Preissteigerungen, über die Haltung der Arbeiter zur DAF, über beschleunigte deutsche Aufrüstungsprogramme, ab 1938 auch über die Ausgrenzung von Juden aus der deutschen und österreichischen Bevölkerung« 193 und über die Bedrohung des Friedens durch den Faschismus, über Terrorakte, Konzentrationslager und Morde. 194 Beide Korrespondenzen trugen durch ihren Informationswert »zur Hebung des Widerstandswillens bei den Illegalen bei.« 195 Unter seinem Pseudonym Walter Dirksen teilte Walter Auerbach einem Genossen, Erich Binder in Oslo, im April 1940 mit, in Faschismus »werden nach Möglichkeit nur Erst-Veröffentlichungen publiziert, damit die die Korrespondenz benutzenden Redaktionen vor gleichzeitiger Veröffentlichung des selben Materials einigermassen gesichert sind.« 196

Die vielfach hohe »Qualität der durch das Exil verbreiteten Informationen und Analysen,« 197 das traf auch auf Hakenkreuz über Deutschland und Faschismus zu, »und aufgrund der Tatsache, daß diese von der Weltpresse - und eben nicht nur einer Sensationspresse - aufgegriffen wurde,« 198 verstärkte die Polemik in der NS-Propaganda gegen das politische und literarische Exil. Das NS-Regime sah in den publizistischen Tätigkeiten von Emigranten eine vermeintliche Gefährdung der eigenen Machtposition und ihres internationalen Ansehens. 199 Die Berichterstattung aus dem politischen Exil war einerseits eingebunden in dessen Widerstandskonzeptionen und diente als Diskussions- und Agitationsgrundlage der Illegalen im Deutschen Reich. Andererseits bildete sie für Multiplikatoren der öffentlichen und veröffentlichten Meinung im Ausland ein Gegengewicht zur NS-Publizistik und deckte deren Widersprüche auf. 200

192 Geschäfts- und Kassenbericht der ITF für den Kongress 1938 in Luxemburg, Amsterdam 1935, S. 36 (Bestand ITF, 159/1/1/72, MRC). 193 Buschak: Edo Fimmen. Der schöne Traum von Europa und die Globalisierung, S. 150. 194 Peukert, Detlef: Ruhrarbeiter gegen den Faschismus. Dokumentation über den Widerstand im Ruhrgebiet 1933-1945, Frankfurt/M. 1976, S. 209. 195 Ebd., S. 149. 196 Auerbach an Binder, 4.4.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 17, AdsD). 197 Tutas: Nationalsozialismus und Exil, S. 20. 197 Ebd. 198 Ebd. 199 Ebd. 200 Stöver, Bernd: Volksgemeinschaft im Dritten Reich. Die Konsensbereitschaft der Deutschen aus der Sicht sozialistischer Exilberichte, Düsseldorf 1993, S. 102. 88

Walter Auerbach verließ von Zeit zu Zeit die Ebene der objektiven Berichterstattung, verwendete Ironie, Sarkasmus, Polemik, argumentierte und kommentierte ketzerisch und überspitzt. Er war gleichermaßen Journalist, Politiker und erfahrener Wahlkämpfer in der Weimarer Zeit gewesen und agierte entsprechend. Unter dem Titel Die Champagner-Schlacht schrieb Auerbach etwa: »Den angestrengten Bemühungen der Führer der SA und der Deutschen Arbeitsfront ist es, wie das statistische Reichsamt mitteilt, gelungen, die deutsche Sektproduktion im soeben abgelaufenen Produktionsjahr um eine halbe Million Flaschen zu steigern. Zur Senkung der Lebenshaltungskosten dieser aufopferungsvollen Führerschaft verzichtet das Reich, dem die Gelder für die Erwerbslosen fehlen, auf die Weitererhebung der Sektsteuer.« 201 Sektkellereien interessierten Auerbach offenbar. Im Sommer 1934 zitierte er aus einem Bericht des Deutschen Instituts für Konjunkturforschung, dass sich die Zahl der Beschäftigten in dieser Branche beinahe verdoppelt habe. 202

Andere Texte in Hakenkreuz über Deutschland überschrieb Auerbach mit Sozialismus - für Generaldirektoren 203 , Winterhilfe - für die Unternehmer 204 , Krupp und Thyssen als Gewerkschaftsführer 205 oder Der Maulkorb-Erlass 206 . In seinen detaillierten Ausführungen zu letzterem griff er die nicht eingehaltene Garantie höherer Mindestlöhne bis zum Winter 1933/34 und die Einführung einer vierzehntägigen Kündigungsfrist 207 an und machte aufmerksam auf »die kaltschnäuzige Versicherung der Propagandaleitung, dass Versprechen, die vor der Machtergreifung abgegeben wurden, nicht unbedingt erfüllt werden müssten« 208 und auf einen Erlass vom 17. Oktober 1933 zu einem Diskussionsverbot über Wortbrüche der Nationalsozialisten. Auerbachs Kommentar: »Wenn das nicht hilft!« 209

Aufklärung bot Auerbach auch über die gesunkene Kaufkraft im ersten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft durch den Anstieg des Lebenshaltungsindex um 6,3 Prozent, gleichbedeutend einem Sinken des Reallohns. Wörtlich schrieb er: »Die Arbeiter hungern, und die Arbeitslosen? Am Abschluss des ersten

201 ITF (Hrsg.): Hakenkreuz über Deutschland 1 (1933), Nr. 8, S. 1. 202 ITF (Hrsg.): Faschismus 2 (1934), Nr. 1, S. 3. 203 ITF (Hrsg.): Hakenkreuz über Deutschland 1 (1933), Nr. 8, S. 5. 204 Ebd., S. 1. 205 Ebd. 2 (1934), Nr. 13, S. 1. 206 Ebd. 1 (1933), Nr. 9, S. 6. 207 Ebd. 208 Ebd. 209 Ebd. 89

Jahres der Nazidiktatur erhalten 3 Millionen Arbeitslose wöchentlich im Durchschnitt 14 RM Unterstützung, 4 Millionen sind ‚unsichtbar’ und erhalten keinen Pfennig. 9 Millionen Arbeiter und Angestellte müssen zu Löhnen arbeiten, die kaum höher sind als die Hungerunterstützung der Erwerbslosen.« 210 Den Anstieg der Lebensmittelpreise seit dem Machtantritt der Nationalsozialisten bezifferte Auerbach im Dezember 1934 mit etwa zwanzig Prozent. 211 In Scharfmacher Thyssen diktiert die Löhne wies er darauf hin, dass Hermann Goering als einzigen Vertreter der deutschen Wirtschaft den Großindustriellen Fritz Thyssen in den Preußischen Staatsrat berufen hatte. 212 Gleichzeitig war er seit November 1933 Mitglied des Deutschen Reichstags. 213

Diese Mandate, fünfzehn Jahre politische und finanzielle Unterstützung Hitlers und seiner Bewegung 214 und die Bilanz aus sechs Jahren NS- Unternehmensstrategie mit Vertrauensräten und Treuhändern brachten Fritz Thyssen (1873-1951) die späte Selbsterkenntnis, »welch schweren Fehler ich im Jahre 1932 beging, als ich zusammen mit den Herren von Papen, von Schroeder, Kirdorf und Krupp von Bohlen und Halbach es unternahm, die N S D A P finanziell zu sanieren, und wir sozusagen als Garanten für Hitlers gutes Verhalten Deutschland und der Welt gegenüber die Verantwortung auf uns luden, ihn zur Macht zuzulassen. Hier muss ich gestehen, dass ich der Ueberredungskunst und den glühenden Beteuerungen dieses fürchterlichen Menschen ebenso unterlegen bin wie seiner lächerlichen Mittelmässigkeit, die uns bei den schwierigen Problemen, denen er nicht gewachsen sein konnte, eine vollkommene Freiheit der Mitwirkung versprach. Wir alle, und mit uns England, Frankreich und Amerika, haben uns hier genau so getäuscht wie in allen anderen Entwicklungen, die die deutsche Politik durchmachte: grade in Hitlers unvorstellbarer Unbildung und Beschränktheit liegt seine Macht.« 215

Auch Thyssens Vertrauen in die Verantwortlichen der und, wie er vermutete, das vieler vernünftiger Deutscher, sei inzwischen grundlegend erschüttert, doch erwartete er von dieser Seite keine Kurskorrektur. »Noch niemals hat der preussische, der deutsche Offizier, so sehr alle seine Grundsätze

210 Ebd. 2 (1934), Nr. 17, S. 1. 211 ITF (Hrsg.): Faschismus 2 (1934), Nr. 13, S. 3. 212 ITF (Hrsg.): Hakenkreuz über Deutschland 1 (1933), Nr. 1, S. 3. 213 Röder/ Strauss (Hrsg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, München u.a. 1980, S. 762. 214 Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich, S. 355. 215 Friedrich Thyssen »An meine Mitarbeiter.« In der Schweiz, Weihnachten 1939, S. 1 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 180, AdsD). 90 der Objektivität, des Rechtes, der vornehmen Zurückhaltung politischen Fragen gegenüber verleugnet … wie heute.« 216 Er plädierte in dem an seine Mitarbeiter gerichteten Brief Weihnachten 1939 an die deutschen Wirtschaftsführer, bei Einstellung der Kriegshandlungen »Hand in Hand mit den Vertretern der Arbeiterschaft, die aus freien Betriebsratswahlen hervorgehen müssen, zuerst eine neue Regierung und Verwaltung zu bilden, die mit englischen und französischen Vertretern über die Bedingungen eines sofortigen Friedens« 217 verhandeln sollte. Seine Ausführungen beendete der nunmehr ehemalige Wirtschaftstycoon Thyssen mit dem für ihn einige Jahre früher unvorstellbaren Appell: »Männer der Wirtschaft! Arbeiter! Steht zusammen gegen den Feind Deutschlands - gegen diesen Adolf Hitler und gegen seinen Krieg!« 218

Thyssen war unmittelbar nach dem deutschen Angriff auf Polen zusammen mit seiner Ehefrau in die Schweiz emigriert und im Frühjahr 1940 nach Frankreich. Im Jahr 1941 verhafteten ihn dort Schergen der Vichy-Regierung und lieferten ihn nach Deutschland aus. Bis zur Deportation in die Konzentrationslager Oranienburg und später Buchenwald war Thyssen in eine Heilanstalt eingesperrt. Nach Kriegsende internierten ihn die US-Besatzungsbehörden, bis er schließlich in einem Spruchkammerverfahren im Oktober 1948 als minderbelastet eingestuft und zu einer Geldstrafe verurteilt wurde. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er in Argentinien. 219

In Faschismus blieb der Thyssen-Brief unerwähnt. Die BBC hingegen berichtete darüber in ihrem Nachrichtendienst an mehreren Abenden hintereinander. Dirksen [Auerbach] distanzierte sich davon: »Wir haben kein Interesse daran, in Deutschland den Eindruck zu erwecken, dass Labour- und BBC- Nachrichtendienst identisch sind. Im BBC-Dienst werden so häufig antisozialistische Sachen gesandt, dass ein Überdecken nur schaden kann. Das ist der Grund, weshalb wir spezielle Arbeitersendungen forderten und fordern … Die Nazis werden die Flucht Thyssens als Beweis für ihren Pseudo-Sozialismus hinstellen. Da der BBC diesen Pseudo-Sozialismus bekämpft, ist es merkwürdig, dass er seinen eigenen Argumenten auf diese Weise entgegenarbeitet.« 220

216 Ebd., S. 3. 217 Ebd., S. 4. 218 Ebd. 219 Röder/Strauss (Hrsg.): Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, München u.a. 1980, S. 762 und Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich, S. 357. 220 Dirksen an Luetkens, 4.5.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 18, AdsD). 91

Die positive internationale Resonanz auf Faschismus listete unter anderem der ITF-Geschäfts- und Kassenbericht der Jahre 1932 bis 1934 auf. 221 Zuschriften von Institutionen und einzelnen Persönlichkeiten aus vielen Teilen der Welt unterstrichen Bedeutung, Qualität und weitgehende Objektivität der Korrespondenz. Franz Neumann 222 vom Institute of Social Research, New York, schrieb: »Dear Dr. Auerbach: I hope you still remember me. I have, from time to time, seen your most excellent correspondence ‘Fascism’ and I wonder whether you would be good enough to send me a set of your reports and then regularly as soon as they appear.« 223 Kurz nach Erscheinen der ersten Ausgabe von Faschismus bat der Journalist Carl Kühndorff aus Riga um Zusendung per Luftpost, um die Nachrichten frühzeitig in der lettischen Presse verwerten zu können. 224 Auerbach selbst hielt seine Erfahrungen mit internationalen Medien in einem kurzen Text fest: »Konservative, katholische, kommunistische wie sozialistische Publikationen halten sich relativ eng an die im Faschismus angegebene kritische Linie. Redaktionen und Deutschland-Mitarbeiter von Gewerkschaftsorganen und Tageszeitungen verschiedener Länder stützten sich bei der sozialpolitischen Deutschland-Berichterstattung vornehmlich auf Faschismus . Durch ihre Vermittlung erhöht sich die Reichweite der Korrespondenz erheblich.« 225

Walter Auerbach stimmte die Leserschaft von Faschismus sukzessive auf einen bevorstehenden Krieg ein. Das Münchner Abkommen von 1938 prangerte er als Verzögerungstaktik Hitlers und Mussolinis an, denn der »faschistische Friede von München hat die Kriegsgefahr nicht beseitigt, er hat nur in einem für den faschistischen Block ungünstigen Zeitpunkt den Weltkrieg vermieden.« 226 Seine Kritik dehnte er auf die Kurzsichtigkeit Chamberlains und Daladiers aus, die mit

221 Geschäfts- und Kassenbericht der ITF über die Jahre 1932, 1933 und 1934, Amsterdam 1935, S. 22 und Geschäfts- und Kassenbericht der ITF für den Kongress 1938 in Luxemburg, Amsterdam 1938, S. 34 (Bestand ITF, 159/1/1/59 und 159/1/1/72, MRC). 222 Dr. Franz Leopold Neumann (1900-1954), Studium Ökonomie, Philosophie und Jura. 1918-1920 Mitglied der USPD, danach SPD. 1927-1933 Anwaltspraxis mit Ernst Fraenkel. Syndikus des SPD-Parteivorstandes und Verteidiger im Prozess gegen den preußischen Innenminister Carl Severing und den Ministerpräsidenten Otto Braun. 1933 Emigration nach England und 1936 nach USA, in: Matthias Stoffregen: Kämpfen für ein demokratisches Deutschland. Emigranten zwischen Politik und Politikwissenschaft, Opladen 2002, S. 289 f. 223 Neumann an Auerbach, 14.3.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 34, AdsD). 224 Kühndorff an die Internationale Transportarbeiterföderation, 21.8.1934 (Bestand SOPADE/Emigration, Mappe 57, AdsD). 225 Dirksen [ohne Titel und Adressaten]: Über Faschismus, 10.3.1939 (Bestand ITF, Mappe 45, AdsD). 226 ITF (Hrsg.): Faschismus 6 (1938), Nr. 21, S. 181. 92 dem Verrat an der Tschechoslowakei den Osten Europas dem Faschismus auslieferten und nicht begriffen, dass »die faschistischen Staaten sich auf die Dauer nicht damit begnügen, die kleinen Staaten zu bedrängen … sondern dass sich der faschistische Kriegsblock … bald gegen den Westen wenden wird, um Frankreich zu attackieren und [den] Lebensnerv des britischen Imperialismus anzugreifen … Die ‚Friedensretter’ in London und Paris haben die Macht Hitlers gestärkt.« 227

Wenige Wochen vor Kriegsausbruch veröffentlichte Faschismus Ende Juli 1939 einen Artikel Edo Fimmens zur 25. Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkrieges. Fimmens labiler Gesundheitszustand und vor allem die Diktion des Textes deuteten auf die Urheberschaft Auerbachs hin. Der Tenor: »Die Welt steht vor einem neuen Krieg und die Arbeiterschaft ist bei Entscheidung wichtigster Fragen der Weltpolitik ausgeschaltet.« 228 Beide, Fimmen und Auerbach, waren überzeugte Pazifisten, doch wenn der »Krieg nicht verhindert werden könnte, werden wir [die internationale Arbeiterklasse] zu den Waffen greifen, nicht aus Liebe zur eigenen Bourgeoisie, sondern aus Liebe zur eigenen Klasse … [werden] die Arbeitenden in den Diktaturen zu den Waffen der Unterdrückten greifen, zu Sabotage, Desertion und Erhebung gegen den gemeinsamen Feind.« 229

Fimmens und Auerbachs Waffen blieben das Wort, die Unterstützung der Illegalen im Deutschen Reich und die Kooperation mit den alliierten Geheimdiensten. Fimmen beschrieb den Part der ITF in einem Brief Lilly Krier- Becker: »Die ITF nimmt am Krieg teil, nicht hinter England und Frankreich, aber gegen Hitler und seine offenen und geheimen Verbündeten … Es lohnt sich dafür nicht nur persönlich zu arbeiten und eventuell zu krepieren, sondern auch die Organisation [ITF] einzusetzen und wenn nötig zu opfern.«230 Einer der späteren Nachfolger Fimmens, Harold Lewis, zitierte in seiner Dissertation fast sechzig Jahre nach Kriegsende: »The ITF declared, it was engaged in a fight to the death against ‚the Nazi und Fascist régimes which had crushed the free labour movements within their own frontiers, which had persecuted, imprisoned and murdered so many of its [the ITF’s] friends, and which aimed to enslave the

227 Ebd., S. 180 f. 228 Ebd. 7 (1939), Nr. 15, S. 133. 229 Ebd., S. 134. 230 Fimmen an Lilly Krier-Becker, 3.11.1939 (Bestand ITF, 159/6/24, MRC). 93 workers of the world.’ Nothing less than total war could overcome such enemies.«231

Den Beginn des Zweiten Weltkriegs titelte Auerbach mit Krieg ist das Lebensziel der Nazis 232 und sprach die Machenschaften der Nationalsozialisten an: »Den Krieg gegen Europa hat Hitler durch seinen 7jährigen Krieg gegen das deutsche Volk vorbereitet. Er hat die Organisationen der deutschen Arbeiter zerschlagen, er hat aktive Wortführer der Betriebe, aufrechte Geistliche und freiheitsliebende Bürger und Bauern in die Konzentrationslager gesteckt … Er hat die Löhne drücken lassen, um seine Kriegsvorbereitungen zu verbilligen, er hat die Arbeiter auspressen lassen … Schon bei Kriegsbeginn waren grosse Gruppen deutscher Arbeiter überanstrengt und unzureichend ernährt.« 233

3.5 Arbeiterwiderstand in der Vorkriegszeit

Widerstand, auch Arbeiterwiderstand, gegen den Nationalsozialismus war von Anbeginn das Phänomen einer Minderheit. Die Arbeiterbewegung galt zwar in den Augen des Regimes als das größte und gefährlichste Oppositionspotential, 234 stellte jedoch angesichts nur kleiner, aber homogener Widerstandszellen keine Bedrohung dar, auch wenn es gelang, bis zuletzt eine Art Gegenidentität aufrechtzuerhalten. Sich absolute Loyalität der vor 1933 gewerkschaftlich organisierten Teile der Arbeiterschaft zu sichern, missglückte den Nationalsozialisten. Wichtige Impulse und intellektuelle Initiativen gingen zumeist vom politischen Exil in den Nachbarländern aus. 235 Widerstandsarbeit von Emigranten bedeutete vordringlich die Aufklärung der deutschen und internationalen Gesellschaften über den Terror des NS-Regimes. Konträr zu dieser Informationspolitik, von Wolfgang Benz als »Offensive der Wahrheit« 236 bezeichnet, standen die Interessen großer Teile einer von Hitler faszinierten Weltöffentlichkeit bis hin zu den Regierungen der demokratischen Staaten. 237

231 Zit. nach Lewis: ITF 1945-1965, S. 36. 232 ITF (Hrsg.): Faschismus 7 (1939), Nr. 18, S. 159. 233 Ebd. 7 (1939), Nr. 19, S. 164. 234 Kleßmann, Christoph: Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland, in: Ger van Roon (Hrsg.): Europäischer Widerstand im Vergleich. Die Internationalen Konferenzen Amsterdam, Berlin 1985, S. 64 ff. 235 Pech, K.H.: Widerstand in Deutschland, in: van Roon (Hrsg.): Europäischer Widerstand im Vergleich, S. 101. 236 Benz: Flucht aus Deutschland, S. 89. 237 Ebd., S. 88. 94

Erst die Reichspogromnacht im November 1938 löste weltweit einen Umdenkungsprozess bei demokratischen Regierungen und ihren Bürgern aus. Agitation gegen einen drohenden Krieg, zunehmende Terrorisierung und Verfolgung von Juden, zunächst Marginalien in der Öffentlichkeitsarbeit deutscher politischer Exilkreise, rückten nunmehr in den Vordergrund. Es war »Patriotismus, wenn sich das politische Exil gegen Hitlerdeutschland engagierte, es waren aber auch patriotische Gefühle, die viele vom aktiven Kampf abhielten.« 238 In dieser Ambivalenz befand sich vermutlich Walter Auerbach, obwohl er sich von seinem Selbstverständnis her als Gewerkschafter der nationalen und internationalen Arbeiterbewegung verpflichtet sah.

Arbeitsschwerpunkte des sozialistischen und gewerkschaftlichen Exils waren die moralische Stärkung von Widerstandszellen und die Ermunterung zu aktivem und passivem Widerstand. Edo Fimmen und mit ihm die ITF beschritten eigene Wege. Sie setzten auf Kampf, auf Sabotage in rüstungsrelevanten Betrieben und bei der Deutschen Reichsbahn. Fimmen vertrat einen pragmatischen Ansatz, welcher der Realität eines totalitären Staates mit seiner Übermacht an Propaganda und Terror entgegenstand. Ohne den wahren Sachschaden zu beziffern, deckte Fritz Kramer [Hans Jahn] auf, dass mit Kriegsbeginn die Arbeit der Illegalen den Schwerpunkt Sabotage bekam und führte an: »Der DZ [D-Zug] 92 entgleiste bei Genthin, der GZ [Güterzug] 1008 bei Aachen und der GZ 1032 bei Juenkerath. Durch Auswechseln von Leitzetteln an Gueterwagen wurden Transporte fehl- und umgeleitet.« 239

In Faschismus berichtete Auerbach nicht über spektakuläre Sabotageakte, doch immer wieder über passiven Widerstand, aus nationalsozialistischer Perspektive Sabotage, die teilweise mit Gefängnis oder Einweisung in Arbeitslager geahndet wurde, wenn denn eindeutige Beweise vorlagen. 240 In einem Artikel Bummeln stört Hitlers Kriegsmaschine 241 verwies er aber auch auf vergebliche Einschüchterungsversuche am Exempel der Betriebsleitung des Ruhrkonzerns Bochumer Verein gegenüber der Belegschaft, die erhöhtes Arbeitstempo und längere Arbeitszeiten durch Langsamarbeiten kompensierte, wie in der Betriebszeitung des Bochumer Vereins nachzulesen war. 242 Passiver Widerstand

238 Ebd., S. 89. 239 Kramer: »Bericht ueber die illegale Taetigkeit seit Kriegsbeginn.«, 15.6.1941 (Bestand ITF, Mappe 52, AdsD). 240 ITF (Hrsg.): Faschismus 8 (1940), Nr. 21, S. 159. 241 Ebd. 9 (1941), Nr. 6, S. 48. 242 Ebd. 95 hilft gegen Nazi-Lohndruck 243 , Ein Lohnkampf in den deutschen Kriegsbetrieben 244 , Deutsche Arbeiterinnen erzwingen Arbeitszeitverkürzungen 245 waren Aktionen, die die Vorstände kriegswichtiger Industriebetriebe mit Sabotage gleichsetzten.

Die Berichterstattung über diese Form von Opposition in Faschismus implizierte den subtilen Appell an Arbeiter im Deutschen Reich und in den von Deutschen besetzten Gebieten zur Nachahmung. Wiederholt zitierte Auerbach die Frankfurter Zeitung , die sich zwar nicht für die Koalitionsfreiheit einsetzte, doch die Unternehmer warnte, »die Arbeiter nicht durch Unnachgiebigkeit zu veraergern.« 246 Erklärend fügte er seinem Artikel Grosse Gefahren 247 hinzu, dass keine andere Zeitung einen Nachdruck gewagt hätte. 248 Aus der Retrospektive betrachtet ging Auerbach im fernen England in seiner Betrachtungsweise der innerdeutschen Verhältnisse zu weit, wenn er im Jahr 1943 von Massenkampf gegen Hitler sprach und von »der inneren und organisatorischen Reife der unterirdischen europaeischen Arbeiterbewegung … [und] dass an vielen Orten offener Kampf gewagt wurde.« 249 Der Zusatz »Das wichtigste Kampfmittel waffenloser Arbeiter ist Langsamarbeiten,« 250 schränkte seine These von Massenkampf allerdings erheblich ein.

In einem Artikel in Faschismus im Jahr 1939 schrieb Auerbach zwar von illegalen Gewerkschaftsorganisationen, erklärte diese mit dem landesweiten Aufbau illegaler überbetrieblicher Netzwerke durch fast unbekannte frühere Gewerkschafter, die »die besten Arbeiter vor dem Versinken in stumpfe Resignation« 251 bewahrten, gewerkschaftliche Solidarität wachhielten und wirksame Methoden zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen erfolgreich einsetzten. 252 Diese Form von Arbeiteropposition nannte Timothy Mason Kampfmittel, »die zwischen ökonomischer Interessenwahrnehmung und offener Opposition liegen, aber zunächst nicht intentional politischer Widerstand sind.« 253

243 Ebd. 10 (1942), Nr. 1, S. 8. 244 Ebd. 8 (1940), Nr. 21, S. 162. 245 Ebd. 8 (1940), Nr. 5, S. 31. 246 Ebd. 5 (1937) Nr. 10, S. 100 und Ebd. 10 (1942), Nr. 1, S. 8. 247 Ebd. 5 (1937), Nr. 10, S. 100. 248 Ebd. 249 Ebd. 11 (1943), Nr. 2, S. 10. 250 Ebd. 251 Ebd. 7 (1939), Nr. 13, S. 112. 252 Ebd. 253 Mason, Timothy W.: Arbeiteropposition im nationalsozialistischen Deutschland, in: Detlef Peukert und Jürgen Reulecke (Hrsg.): Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unter dem Nationalsozialismus, Wuppertal 1981, S. 293 ff. 96

Er erwähnte unter anderem den häufigen Wechsel des Arbeitsplatzes, kollektive Kündigungen, Fehlen am Arbeitsplatz, Abwesenheit durch Krankheit, Bummeln, Erscheinen am Arbeitsplatz, ohne die Arbeit aufzunehmen, überflüssige Inanspruchnahme der NS-Vertrauensräte und deren Aufwiegelung gegen die Meister, schlechte Arbeit bis hin zur Sabotage. 254 Die »Konflikte entzündeten sich häufig an schlechten Lohnzahlungen, Kürzungen, verlangten Spenden oder Abgaben wie an das Winterhilfswerk, die als unreell empfunden wurden, wobei sich die Arbeiter nicht selten mit Arbeitsniederlegungen oder Aktionen ‚langsamer Arbeiten’ durchsetzten.« 255 Verstöße dieser Art, die als Widerstandshandlungen galten, wurden trotz Recherchen der jeweiligen Betriebsleitung und zuweilen auch der Gestapo selten aufgedeckt. 256

Auerbach wusste aus zuverlässigen Quellen von vielen dieser illegalen Aktionen und von den Versuchen seitens Gestapobeamter und Spitzel, das bestehende Netzwerk zu zerstören: »Gelegentlich glückt es ihnen. Märtyrer der neuen Bewegung sitzen hinter Zuchthausmauern und in Konzentrationslagern, ergraute Arbeiter und blutjunge Menschen. Mancher Gewerkschafter wurde erschlagen. Die zerrissenen Fäden wurden neu geknüpft,« 257 schrieb er in Faschismus und stellte die illegalen Arbeiternetzwerke immer wieder als politische Gefahr für die Machthaber im Dritten Reich dar. Sein Motiv lag in der Ermutigung der Illegalen zur Kontinuität. Nach sechs Jahren publizistischer Tätigkeit und detaillierter Information über die menschenverachtende Praxis im Alltags- und Erwerbsleben des NS-Staates realisierte auch er, dass Arbeiterwiderstand zwar unbequem für die leitenden Herren in den Produktionsstätten war, doch rüttelten diese punktuellen Aktivitäten nicht an den Grundfesten des Regimes. Sie trugen im Gegenteil zu dessen erhöhter Wachsamkeit bei.

So deckte die Abwehrstelle Wilhelmshaven bereits am 6. Oktober 1939 ein im September 1939 vermutlich von Auerbach verfasstes brisantes Zwölf-Punkte- Programm der Exekutive der internationalen Berufssekretariate auf, das auch von Fimmen unterzeichnet war. Das Papier enthielt Aufforderungen zu Dienst nach Vorschrift, zu Sabotage durch technische Fehler und Stagnation im Produktionsprozess etwa in der Munitionsindustrie, Verringerung der Arbeitsleistung analog zu Lohnkürzungen und Verlängerungen der Arbeitszeit.

254 Ebd. 255 Schlingensiepen: Vom 2. Mai 1933 zum 20. Juli 1944, S. XXX. 256 Ebd. 257 ITF (Hrsg.): Faschismus 7 (1939), Nr. 13, S. 113. 97

Als Geheime Kommandosache informierte die Abwehrstelle das Oberkommando der Wehrmacht und diverse Dienststellen der Gestapo. 258 Der Text des Zwölf- Punkte-Programms wies deutliche Parallelen zu Passagen in Faschismus - Artikeln und zu den späteren Erkenntnissen von Timothy Mason über Arbeiteropposition auf. In einem von Edo Fimmen, Ernest Bevin 259 und anderen publizierten Appell aus dem Frühjahr 1940 hieß es: »Der Augenblick für die totale Sabotage des Hitlerregiments ist gekommen! Ihr Kameraden in den von Hitler unterdrückten Ländern, Ihr habt die Pflicht Euch selbst gegenüber, aber auch eine Pflicht internationaler Arbeiter-Solidarität zu erfüllen: Haltet die Transporte auf, alle für Deutschland bestimmten Transporte.« 260 Dass Anfang April 1940 auf der Strecke Aachen - Köln »ein Güterzug von 120 Achsen vollständig in die Luft« 261 flog, könnte eine Reaktion gewesen sein. Hirschfeld fand allerdings heraus, dass »keine Verlautbarungen der BBC mit direkten Widerstandsaktionen im Reich« 262 in Verbindung standen, anders als in einigen besetzten Staaten West- und Nordeuropas. »Keine Gruppe des Exils propagierte im übrigen großangelegte Sabotage-Aktionen oder gar politische Attentate,« 263 ergaben Michael Schneiders Untersuchungen. Er führte das zurück auf die Befürchtung, »für einen etwaig folgenden Bürgerkrieg verantwortlich gemacht zu werden, und auf die Einsicht, daß man, nach der Rückkehr aus dem Exil, für den Wiederaufbau der Demokratie ein gewisses Ausmaß an Massenloyalität brauchen werde.« 264

258 Geheime Kommandosache der Abwehrstelle Wilhelmshaven, 11.10.1939, B.Nr. g.Kdos 512/39 III F., an das Oberkommando der Wehrmacht, Abwehrabteilung III F, Berlin, an den Grenzinspekteur West, Koblenz, an die Abwehrstellen Münster, Hamburg, Köln, Kiel, Berlin, Wien, Prag und an die Geheime Staatspolizei Köln, Aachen, Düsseldorf, Hamburg, Wilhelmshaven, Bremen (Bestand Reichssicherheitshauptamt, R 58/3388, BArch/SAPMO). 259 Ernest Bevin (1881-1951). »The most prominent Trade-union leader of his generation … Minister of Labour (1940-45) in the wartime coalition government. His successful organization of manpower was a major element in Britain’s victory. Between 1945 and 1951 he was Foreign Secretary under Clement Attlee«, in: Robbins (Hrsg.): The Blackwell Biographical Dictionary of British Political Life in the Twentieth Century, S. 53 ff. 260 »An die Transportarbeiter aller Länder! London, den 10. Mai 1940,« unterzeichnet mit: Der Geschäftsführende Ausschuss der Internationalen Transportarbeiter-Föderation, John Marchbank, Vorsitzender, W. R. Spence, Ernest Bevin, Edo Fimmen, Generalsekretär (verfasst wahrscheinlich von Walter Auerbach - mit handschriftlichen Notizen von ihm versehen) (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 81, AdsD). 261 Jahn an Oldenbroek, 15.4.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 17, AdsD). 262 Hirschfeld, Gerhard: Deutsche Emigranten in Großbritannien und ihr Widerstand gegen den Nationalsozialismus, in: Klaus-Jürgen Müller und David N. Dilks (Hrsg.): Großbritannien und der deutsche Widerstand 1933-1944, Paderborn u.a. 1994, S. 113. 263 Schneider: Unterm Hakenkreuz, S. 1077. 264 Ebd. 98

Als Fimmen erkannte, dass die internationale Arbeiterbewegung den Faschismus in Europa nicht verhindern konnte und eine militärische Konfrontation unvermeidlich schien, scheute er nicht davor zurück, Kontakt zu französischen und britischen Geheimdiensten zu suchen. 265 Im englischen Exil kooperierte die ITF auch mit dem amerikanischen Geheimdienst Office of Strategic Services (OSS), der vor allem an Auerbachs Analysen interessiert war. Mit diesen Kontakten »wurden die ‚kapitalistischen Demokratien’ zu Bündnispartnern der ITF.« 266 Die ITF »mit ihrem weitgespannten Kontaktnetz zu Gruppen ganz unterschiedlicher politischer Orientierungen [stellte] eine Art Klammer innerhalb des Widerstandes der Arbeiterbewegung« dar. 267 Der deutschen Sozialdemokratie hingegen »lag eine nüchtern-unromantische Einschätzung der Widerstandsmöglichkeiten im Dritten Reich zugrunde.« 268 Sie vertraute auf die traditionellen Bindungen ihrer Anhänger, auf deren nachbarschaftliche und innerbetriebliche Diskussionskreise, 269 die sie auf Schleichwegen über die von SOPADE auf der tschechischen Seite errichteten Grenzsekretariate mit ihren Deutschland-Berichten versorgte. In den Jahren 1937 und 1938 gelang es der Gestapo, wichtige Kommunikationswege der Widerstandszellen der beiden unabhängig voneinander operierenden Gruppierungen, SOPADE und ITF, zu zerschlagen. Die Kluft blieb unüberbrückbar. »Dennoch engagierte sich Fimmen in außergewöhnlichem Maße für den gewerkschaftlichen Widerstand in Deutschland. Er grenzte sich allerdings konsequent von der für die Kapitulationsstrategie verantwortlichen Gewerkschaftselite und vom sozialdemokratischen Exil ab.« 270

Hans Jahn wurde wichtigster Verbindungsmann zwischen der ITF und Illegalen bei der Deutschen Reichsbahn. Fimmen und Jahn kannten sich seit den 1920er Jahren von ITF-Kongressen, Auerbach und er aus der Berliner Zeit. Wie viele andere im Widerstand engagierte Gewerkschafter führte auch Jahn ein Doppelleben. Zur Tarnung arbeitete er bis zu seiner Flucht in die Niederlande im

265 Nelles, Dieter: Ungleiche Partner. Die Zusammenarbeit der Internationalen Transportarbeiter Föderation (ITF) mit den westalliierten Nachrichtendiensten 1938- 1945, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 30 (1994), Nr. 4, S. 540. 266 Ebd. 267 Schneider: Unterm Hakenkreuz, S. 848. 268 Peukert: Der deutsche Arbeiterwiderstand 1933-1945, S. 26. 269 Ebd. 270 Koch-Baumgarten, Sigrid: Ein Linkssozialist und »Sturmvogel« als internationaler Gewerkschaftssekretär. Edo Fimmen in der Internationalen Transportarbeiterföderation (1919-1942), in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 36 (2000), Nr. 1, S. 24. 99

Frühsommer 1935 als Handelsvertreter. Diese Tätigkeit bot ihm die Chance, als Kurier durch Deutschland zu reisen und den Aufbau von Widerstandszellen zu forcieren und deren Arbeit zu koordinieren, ohne Verdacht zu erregen. Hans Jahn hatte es im Frühjahr 1933 geschafft, die Karteikarten von 17.000 Mitgliedern seiner Gewerkschaft, des Einheitsverbandes, in Sicherheit zu bringen, 271 und baute kurzfristig erste Widerstandskader in 137 Orten mit etwa 270 Illegalen auf, 272 im Frühjahr 1936 waren es bereits 1.320. 273 Sein Motto lautete: »Der Kampf gegen Hitler muss kompromisslos sein! Denn, wer mit Hitler frühstückt, stirbt daran.« 274

In den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft existierte noch ein kleiner Grenzverkehr zwischen den Niederlanden und Deutschland. Venlo bot sich als konspirativer Treffpunkt für Fimmen mit westdeutschen Vertrauensleuten an. Begegnungen, Gespräche und die Übergabe von Berichten fanden bis zu ersten Verhaftungen im Februar 1937 monatlich statt. Venlo und andere grenznahe Orte auf niederländischer Seite dienten als Umschlagplatz für illegale ITF-Druckerzeugnisse, wie Hakenkreuz über Deutschland , Faschismus , Fahrt Frei , antifaschistische Flugblätter und teilweise für die Reinhart-Briefe des ISK unter Willi Eichler. Umgekehrt gelangten Publikationen aus dem nationalsozialistischen Deutschland über die Grenze in die Niederlande, transportiert in Nahverkehrs- und Güterzügen hinter Tür- und Fensterverkleidungen, unter Frachtgut und in Lieferwagen und PKWs (Personenkraftwagen). 275 Berufsmäßige Schmuggler galten langfristig als nicht finanzierbar. 276 Die Materialien wurden den Empfängern jeweils durch unverfängliche Postkarten angekündigt. Die ITF verfügte über ein weitgespanntes Netz antifaschistischer Kontaktpersonen auf Schiffen der Handelsmarine und der Rheinschiffahrt. So gelangten von 12.000 Exemplaren eines Appells an deutsche und ausländische Arbeiter 8.000 als Flaschenpost, von Luxemburg aus in die Mosel geworfen, und 2.000 mit Luftballons ins Reich.

271 Nelles: Der Widerstand der ITF gegen Nationalsozialismus und Faschismus in Deutschland und Spanien, S. 118. 272 Kramer: Bericht über die Lage in Deutschland, 29.1.1940, S. 1 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 81, AdsD). 273 Nelles, Dieter: Widerstand und internationale Solidarität. Die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF) im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Essen 2001, S. 273. 274 Kramer: Bericht über die Lage in Deutschland, 29.1.1940, S. 1 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 81, AdsD). 275 Buschak, Willy: »Arbeit im kleinsten Zirkel.« Gewerkschaften im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 80 ff. 276 Esters/Pelger/Schlingensiepen: Gewerkschafter im Widerstand, S. 63. 100

In den Kriegsjahren warfen Flugzeuge der Royal Air Force Propagandamaterialien über deutschen Industriezentren ab. 277

Walter Auerbach trat bei den zahllosen konspirativen Treffen mit Widerstandskämpfern in den Niederlanden und anderen westeuropäischen Ländern, soweit es die Quellen belegten, nicht in Erscheinung. Er bevorzugte Arbeit am Schreibtisch, als Ideologe, Querdenker, Theoretiker, Wissenschaftler. Auerbach war Ghostwriter, nicht Regisseur, aber Drehbuchautor, der die Akteure auf der politischen Bühne vom Zuschauerraum aus beobachtete. Ausweisung wegen politischer Tätigkeiten und Überstellung an Deutschland konnte sich der Familienvater nicht leisten, und die Überwachungspraktiken galten als nahezu perfekt. Niederländische Spitzel aus dem Geheimdienstmilieu, in den Niederlanden lebende deutsche Staatsbürger und Emigranten gehörten zu den Informanten. So wusste die Gestapo bereits im Januar 1935, »Jahn war gegen Weihnachten in Amsterdam und hat an einer Sitzung mit Fimmen … teilgenommen.« 278 Von Leo Magits, im ITF-Sekretariat verantwortlich für die Überprüfung der Identität von Bittstellern, war die Erkenntnis überliefert: »Quite often, a brief interview was enough to unmask false statements of these unfortunates but sometimes also to identify spies badly prepared for their role.«279

Ostern 1935 fand im dänischen Roskilde eine geheime Konferenz mit Edo Fimmen, dem international besetzten Exekutivkomitee der ITF und 31 Betriebsvertrauensleuten aus Nord- und Westdeutschland statt. Professioneller als die ITF agierte allerdings die deutsche Spionageabwehr. Nur wenige Wochen nach dem Treffen verfügte sie über genaue Informationen zu Inhalt und Anwesenden. Von der Gestapo verhaftet und vor Gericht gestellt wurde unter anderem Adolf Kummernuß 280 , Teil der illegalen Hamburger Transportarbeitergruppe und bis 1933 Funktionär beim Gesamtverband. Er vermutete, dass er auf dem Weg nach Dänemark von einem Spitzel verfolgt worden war. Hans Jahn wurde inhaftiert, doch seine Anwesenheit in Roskilde

277 Kramer: Bericht ueber die illegale Taetigkeit seit Kriegsbeginn, 15.6.1941 (Bestand ITF, Mappe 52, AdsD). 278 Bericht Geheimes Staatspolizeiamt Berlin, 19.1.1935, Blatt 28, Go 1 (Bestand ITF, Mappe 117, AdsD). 279 Magits, Leo: Working with Edo Fimmen at the ITF Secretariat, in: Reinalda (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 71. 280 Adolf Kummernuß war von 1949 bis 1964 Bundesvorsitzender der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV). 101 konnte ihm vorerst nicht nachgewiesen werden. 281 Gewarnt vor einer erneuten Festsetzung, flüchtete er über die Tschechoslowakei »in die Schweiz, wo er mit Fimmen zusammentraf, der ihn nach Amsterdam mitnahm.« 282 Von dort mobilisierte er bis zu seiner Ausweisung 1937 noch bestehende Verbindungen im Reich, setzte seine Anstrengungen dann in Antwerpen und später in Luxemburg fort. Dieses neue »Netz von Stützpunkten der Eisenbahner wurde im Frühjahr 1937 durch Massenverhaftungen fast völlig zerschlagen.« 283 In Verfahren gegen acht Illegale vor dem Volksgerichtshof wurden Haftstrafen von insgesamt 93 Jahren verhängt. 284 Die ITF in den seinerzeit noch sicheren Niederlanden fühlte sich mitverantwortlich und leistete den betroffenen Familien finanzielle Unterstützung. 285

Bereits im Januar 1935 wurden zahlreiche Textil- und Metallarbeiter im Raum Wuppertal festgenommen und etwa zeitgleich Widerstandsgruppen von SPD und KPD in vielen Orten zerschlagen, »so dass es seit 1936/37 kaum mehr einen organisierten Widerstand ‚der’ Arbeiterbewegung gab.« 286 Begleitet wurden die Aktionen der Gestapo von einem großen Propagandaaufwand in den nationalsozialistischen Medien. Übrig blieben Splittergruppen, die ihr Informationsnetz und ihre Auslandskontakte partiell aufrecht erhalten konnten, vornehmlich zur ITF in Amsterdam und zum ISK in Paris. Nach Kriegsende erfuhr Jahn das Ausmaß der Opfer seines Widerstandsnetzes: »Soweit ich bis jetzt übersehen kann, wurden von 1933 bis 1944 rund 400 meiner Jungs wegen Verbindung mit mir und der ITF von der Gestapo verhaftet.« 287 Edo Fimmen bezeichnete Hans Jahn als »konsequentesten und erfolgreichsten Kaempfer gegen Hitler. Er war daher auch einer der bestgehassten bei den Nazis. Noch im April 1940 versuchte die Gestapo, ihn ins Reich zu entfuehren.« 288 Bei der Besetzung Luxemburgs stellte die Gestapo in Jahns Wohnung umfangreiches Material sicher, erkannte seine Gefährlichkeit und bezeichnete ihn als »Leiter der illegalen Gewerkschaftsarbeit gegen Deutschland … Hinzu kommt dann seit Ausbruch des Krieges auch eine spionagemässige Tätigkeit des Jahn, der die

281 Buschak: »Arbeit im kleinsten Zirkel«, S. 72 ff. 282 Esters/Pelger/Schlingensiepen: Gewerkschafter im Widerstand, S. 45 f. 283 Schneider: Unterm Hakenkreuz, S. 974. 284 Kramer: Bericht über die Lage in Deutschland, 29.1.1940, S. 1 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 81, AdsD). 285 Eichler an (wahrscheinlich) Fimmen, 17.8.1937 (Bestand ITF, 159/3/C/a/43, MRC). 286 Schneider: Kleine Geschichte der Gewerkschaften, S. 239. 287 Jahn an Oldenbroek, 18.4.1946 (Bestand ITF, 159/3/D/67, MRC). 288 Empfehlungsschreiben Oktober 1941 (Anlage Brief Fimmen an Jahn), 8.10. 1941 (Bestand ITF, Anhang, Mappe 118, AdsD). 102 ihm übermittelten Berichte über militärisch interessierende Dinge, vor allem auch Verkehrsfragen, an feindliche ND. [Nachrichtendienste] weiterleitete.« 289 Dennoch »gelang es praktisch zu keinem Zeitpunkt, gewerkschaftlichen Widerstand in den Betrieben zu verankern.« 290

Michael Schneider, Leiter des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich- Ebert-Stiftung und ausgewiesener Experte für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, bezeichnete gewerkschaftlichen Widerstand als Wartestand. 291 Diesen Blickwinkel teilten die Aktiven jener Jahre nicht, weder im Reich noch im Exil. Sie und Auerbach hegten die Illusion, dass die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Lohnkürzungen in der sich ankündigenden Phase der Hochkonjunktur der Jahre 1935 bis 1937 einen Stimmungsumschwung in der Arbeitnehmerschaft begünstigten, der als Beginn sich verändernder Machtverhältnisse interpretiert wurde. Beschränkungen in der Lebensmittelversorgung, Erhöhung der Arbeitsnormen und die Intensität der alliierten Bombenangriffe ab 1942 verschlechterten zwar die Atmosphäre im Reich erneut, 292 doch »mußte man eingestehen, es bestehe zwar ein ‚Stimmungsverfall, aber keine revolutionäre Situation’.« 293

Die ITF-Widerstandsaktivitäten im Spanischen Bürgerkrieg 1936/39 koordinierte Edo Fimmen weitgehend persönlich. Er reiste im Mai 1937 nach Valencia und Madrid, leistete verfolgten Gewerkschaftern finanzielle und moralische Unterstützung und versuchte, einen internationalen Boykott von Waffenlieferungen an die Franco-Truppen zu organisieren. Es blieb bei Einzelmaßnahmen. Bei der Durchsetzung eines generellen internationalen Waffenembargos gegen die Franquisten scheiterte Fimmen. Zwar fand er Unterstützung bei den skandinavischen Transportgewerkschaften, doch die britischen teilten die Nichteinmischungspolitik ihrer Regierung und legten ein Veto ein. 294 Ernest Bevin, seinerzeit Vorsitzender der TGWU, erwog kurzzeitig,

289 Geheime Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Düsseldorf, an Geheime Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Stettin, 24.7.1940 (Bestand ITF, Anhang, Mappe 118, AdsD). 290 Schneider: Unterm Hakenkreuz, S. 1067. 291 Ebd. 292 Stöver, Bernd: Das sozialistische Exil und der 20. Juli 1944. Die Wahrnehmung des Attentats auf Hitler durch die Sopade und die Gruppe Neu Beginnen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 1994, B 28, S. 35. 293 Ebd. 294 Koch-Baumgarten: Ein Linkssozialist und »Sturmvogel« als internationaler Gewerkschaftssekretär. Edo Fimmen in der ITF, S. 25. 103 mit seiner Organisation aus der ITF auszutreten. 295 Fimmen kommentierte die Nichteinmischungserklärungen Englands und Frankreichs mit Verachtung: »Die spanischen Arbeiter, verraten von den europäischen Demokratien, Opfer des verbrecherischen Betruges der sogenannten Nichteinmischungspolitik, rechnen ausschliesslich auf die Hilfe und Unterstützung der Arbeiterbewegung der anderen, noch nicht faschistischen Länder.« 296

Willy Brandt, 1937 als Kriegsberichterstatter in Spanien, griff die Nichteinmischungspolitik der europäischen Demokratien auf: »Wir spürten, wie viel sich hier entscheiden würde: Spanien würde, das war uns deutlich genug, zum Vorfeld des Zweiten Weltkrieges. Was wir beobachteten, empörte, erschütterte uns und oft waren wir verzweifelt.« 297 Ähnlich äußerte sich der britische Historiker Eric Hobsbawm. Für ihn »verlief für alle, die gegen den Faschismus kämpften, die entscheidende Front in Spanien.« 298 Die internationale Arbeiterbewegung schaffte es nicht, entscheidend in den Konflikt auf der iberischen Halbinsel einzugreifen. 299 Die ITF hatte zwar mit ihren internationalen Mitgliederorganisationen im Bereich Seeschiffahrt vereinbart, Waffentransporte an Franco-Spanien durch antifaschistische Vertrauensleute auf deutschen und internationalen Schiffen zu kontrollieren, doch sie zu durchkreuzen, gelang nur selten. 300 ITF und IGB erkannten realistisch die enge Begrenzung ihrer Einwirkungsmöglichkeiten. Mit Spendenaufrufen in ihren Mitgliedsorganisationen für humanitäre Zwecke 301 finanzierten sie »ambulance units, medical supplies, food supplies, and vehicles … finding accomodation for children«302 und ein Lazarett in Valencia mit 1.200 Betten.303

295 Nelles: Der Widerstand der ITF gegen Nationalsozialismus und Faschismus in Deutschland und Spanien, S. 134. 296 ITF (Hrsg.): Faschismus, Spanien-Nummer, 14.5.1938, S. 1. 297 Brandt, Willy: Barcelona 37 - Madrid 77, in: Zeitschrift L 76 2 (1977), Nr. 3, S. 55. 298 Hobsbawm Eric: Das Zeitalter der Extreme (Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts), München 1998, S. 206 und Ders.: Interesting Times. A Twentieth-Century Life, London 2002, S. 114 ff. 299 Nelles: Der Widerstand der ITF gegen Nationalsozialismus und Faschismus in Deutschland und Spanien, S. 138. 300 Ebd., S. 133 ff. 301 Spendenlisten aus den Jahren 1937/38, Hulp Fonds voor Spanje en dienen tot instandhouding van een ambulance a/h Front (Bestand ITF, 159/1/1/59, MRC). Auerbach an Jahn, 26.6.1937: Tagung des Generalrats der ITF mit ca. 100 Organisationen von Eisenbahnern, Kraftfahrern, Seeleuten, Hafenarbeitern aus 36 Ländern am 28. und 29.6.1937 in Paris (Bestand ITF, 159/3/C/a/99, MRC). Rundbrief Walter Schevenels, Generalsekretär des IGB, Paris, 31.3.1937 (Bestand ITF, 159/3/c/b/3-2, MRC). 302 Rundbrief Walter Schevenels, 31.3.1937 (Bestand ITF, 159/3/c/b/3-2, MRC). 303 Ebd. 104

Ein weiteres Indiz für die Richtigkeit von Fimmens und Auerbachs radikaler Distanzierung gegenüber den sozialdemokratischen Eliten von Weimar, vertreten durch SOPADE, boten deren Positionen zum Bürgerkrieg auf der iberischen Halbinsel: »SOPADE [kehrte] den spanischen Ereignissen sozusagen den Rücken zu.« 304 Die beiden linken Sozialdemokraten Victor Schiff und Erich Kuttner, zeitweilig Kriegsberichterstatter, warfen in Briefen an Friedrich Stampfer 305 der SOPADE-Führung ihr Abseitsstehen im Spanischen Bürgerkrieg vor und schrieben unter anderem, »sie versage auch gegenüber dieser Herausforderung, weil sie ‚vor lauter ‚Taktik’ die großen, entscheidenden Dinge’ nicht sehe, und überlasse den Kommunisten - da der Wille ‚zu einem modus vivendi’ fehle - das Feld allein.« 306

Walter Auerbach begleitete Fimmens Spanien-Politik kontinuierlich in Faschismus . In der Sonderausgabe vom Mai 1938 307 schilderten »spanische Kameraden … ihren Kampf und die Schwierigkeiten der verfassungsmässigen Regierung.« 308 Sein vierseitiges Flugblatt Madrid! , 309 versehen mit dem handschriftlichen Vermerk: »author W.A. Distributed through ITF channels in Germany,« 310 ließ den Historiker durchschimmern, nicht nur den Gewerkschafter und Politiker. Im Kontext mit der Legion Condor erinnerte er seine Leserschaft: »Vor 160 Jahren [im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg 1775/76] geschah das gleiche schon einmal. Damals verkauften deutsche Fürsten 30 000 Bauern und Handwerker. Der saubere Braunschweiger und der Landesvater von Hessen- hatten allein 24 000 ihrer ‚Landeskinder’ gegen gutes Geld an die englische Regierung verkauft als Soldaten gegen die Nordamerikaner.« 311

Im Juli 1935 gründeten emigrierte Gewerkschafter in Reichenberg (Tschechoslowakei) unter Heinrich Schliestedt 312 die ADG, die sich umgehend in

304 Plum: Volksfront, Konzentration und Mandatsfrage, S. 432 f. 305 Friedrich Stampfer (1874-1957), Journalist und Politiker. Chefredakteur beim SPD- Zentralorgan Vorwärts. 1920 bis 1933 Mitglied des Deutschen Reichstags. Ab 1925 Mitglied des SPD-Parteivorstands. 1933 Emigration in die Tschechoslowakei, 1938 nach Frankreich. 1940 über Spanien und Portugal in die USA, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 720 f. 306 Zit. nach Plum: Volksfront, Konzentration und Mandatsfrage, S. 433. 307 ITF (Hrsg.): Faschismus, Spanien-Nummer, 14.5.1938. 308 Ebd., S. 1. 309 Flugblatt »Madrid!« (o.J., wahrscheinlich 1936) (Bestand ITF, 159/3/C/a/26, MRC). 310 Ebd., S. 4. 311 Ebd., S. 3. 312 Heinrich Schliestedt (1883-1938) war vor 1933 Vorstandsmitglied beim Deutschen Metallarbeiterverband, in: Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 54. 105 den westeuropäischen Hauptstädten in Landesgruppen organisierte. Ab Sommer 1940 existierten durch das Kriegsgeschehen auf dem Kontinent nur noch Gruppen unter 313 in Schweden und unter Hans Gottfurcht in England. Die Programmatik der ADG zielte auf die Unterstützung politischer Emigranten und der illegalen Arbeit ehemaliger Gewerkschafter im Reich, auf die Aufklärung der Weltöffentlichkeit und die Entwicklung von Konzepten für die Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung in der Nach-Hitler-Aera. 314 Edo Fimmen, Hans Jahn und Walter Auerbach lehnten diese Organisation und ihre Repräsentanten vehement ab. Sie warfen ihnen einen Aufbau der ADG analog dem ADGB-Schema und den systematischen Ausschluss der Berufssekretariate [unter anderen der ITF] vor 315 und befürchteten zu Recht die Spaltung der Gewerkschaftsemigration. »Grundsätzlich wandte sich Auerbach … gegen eine Wiedereinsetzung der alten ADGB-Führung, wie sie von Tarnow und Reissner nach dem Sturz des NS-Regimes vorgesehen war.« 316 Auerbach schrieb im August 1933 in einem Flugblatt an die Berliner Arbeiterschaft, dass die Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung »die Folge einer Politik [sei], die jahrelang von verbürgerlichten Führern unserer Bewegung getrieben wurde, die sich niemals auf der Höhe der geschichtlich gestellten Aufgabe unserer Klasse befanden … Die Abrechnung mit diesem Kapitel der Vergangenheit ist unvermeidlich.« 317 Er zweifelte Kompetenz und Legitimität der seinerzeitigen Gewerkschaftsbosse an, sah in der ADG einen »nutzlosen bürokratischen Apparat mit Sinekuren« 318 und hielt ihnen »sträfliches Versagen in der illegalen Arbeit vor, die offenbar nur ungenügend gegen Spitzel und Doppelagenten abgeschirmt war.« 319 Im Interesse der Sicherheit wollten Fimmen, Jahn und Auerbach mit allen Mitteln verhindern, dass die ADG »eine Art Bindeglied zur illegalen Bewegung [im Reich] darstellt.« 320

»Die ADG ist trotz ihrer … Anerkennung durch den I.G.B. nicht die Repräsentantin der illegalen deutschen Gewerkschaftsarbeit. Weder die aktiven Gruppen der deutschen Seeleute, Eisenbahner und anderer Transportarbeiter …

313 »Tarnow verkörperte in seiner Person und seinem Programm den alten Gewerkschaftsapparat der Weimarer Republik«, in: Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 57. 314 Schneider: Unterm Hakenkreuz, S. 859 und S. 880. 315 Auerbach an Jahn, 19.10.1937 (Bestand ITF, 159/3/C/a/99, MRC). 316 Zit. nach Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 55. 317 ITF-Flugblatt »Sozialistische Erneuerung gegen den Faschismus, Berlin im August 1933« (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 180, AdsD). 318 Zit. nach Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 55. 319 Ebd. 320 Auerbach an Jahn, 27.10.1937 (Bestand ITF, 159/3/C/a/26, MRC). 106 sind ihr angeschlossen,« 321 schrieb Auerbach an Rudolf Holowatij in Oslo und fuhr fort, dass auch einigen Landesgruppenvorsitzenden der ADG die demokratische Legitimation fehlte. Sie waren entweder von Heinrich Schliestedt ernannt oder durch Akklamation bestimmt. 322 Er ging so weit, die ADG als »die Schliestedt-Sekte« 323 zu bezeichnen. Seiner Intention nach dürfte die ADG »nicht zu einer gewerkschaftsfremden Parteifiliale« 324 [von SOPADE] verkommen. Seine massive Kritik an der ADG-Gründung dehnte er aus auf den von Walter Schevenels geführten IGB, der zu den Financiers der ADG zählte. 325 Als weiterer Geldgeber fungierte SOPADE in Prag, deren Vorsitzender Otto Wels im Frühjahr 1933 aus dem SPD-Vermögen eine größere Summe im Ausland deponiert hatte. 326

Der Amsterdamer ADG-Gruppe unter Anton Reißner unterstellte Auerbach, dass sie »praktisch nur aus der engen Sopade-Wels-Gruppe« 327 bestünde und bewusst Sympathisanten anderer sozialdemokratischer Gruppierungen die Mitarbeit verweigerte. 328 Francis Carsten versuchte vergeblich, bei den Streitigkeiten im Lager der politischen Emigration in Amsterdam zu intervenieren: »Politically I tried to bring together the fending émigré socialists in Amsterdam in a large SPD group; after the trials and the events of the Spanish Civil War, I felt strongly a Social Democrat and was very critical of the separate groups and factions. I had some success, but it was limited because the adherents of the Prague SPD leaders would not co-operate.« 329 Carsten hatte bereits im Londoner Exil, bevor er 1939 aus finanziellen Gründen kurzfristig in die Niederlande übersiedelte, Anstoß am Emigrantengezänk genommen: »I disliked the endless bickering and the personal feuds among political refugees.« 330

Anfang 1936 intensivierte die ITF im Hafen von Antwerpen ihre konspirative Arbeit, nachdem sie eine bereits existierende Seeleutegruppe unter dem Kommunisten Hermann Knüfken 331 übernommen hatte, die »keine Zukunft für

321 Dirksen an Holowatij, Oslo, 21.12.1938 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 12, AdsD). 322 Ebd. 323 Auerbach an Jahn, 19.10.1937 (Bestand ITF, 159/3/C/a/26, MRC). 324 Ebd. 325 Dirksen an Holowatij, 21.12.1938 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 12, AdsD). 326 Schwinghammer: Im Exil zur Ohmacht verurteilt, S. 241. 327 Dirksen an Holowatij, 21.12.1938 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 12, AdsD). 328 Ebd. 329 Alter (Hrsg.): Out of the Third Reich, S. 30. 330 Ebd., S. 29. 331 Hermann »Knüfken was a legend among revolutionary seamen. During the first world war, he had belonged to one of the most active of the German revolutionary sailors’ group in the Kriegsmarine . The mutiny of his comrades in October 1918 led to the 107 sich in der internationalen kommunistischen Bewegung« 332 sah. Knüfken und die ITF verfügten bald über ein Netzwerk mit 214 Agenten auf 78 Schiffen der deutschen Handelsmarine. 333 »Die ITF hatte nach der Besetzung Norwegens in Zusammenarbeit mit dem Norwegischen Seeleuteverband durch Funk alle auf hoher See befindlichen norwegischen Schiffe nach England oder USA beordert … Edo Fimmen wurde de facto Grossreeder. Das brachte sofort engen Kontakt der ITF mit den Regierungen. Da ich als Redakteur des Faschismus sofort beim Aufbau spezieller Arbeitersendungen für die besetzten Länder zu helfen hatte, war eine Zusammenarbeit mit den Presseleuten der verschiedenen Regierungen schnell hergestellt. Doch das Eis gegen den Deutschen [Walter Auerbach], der unablässig die These, dass es Widerstand der Arbeiter gegen das Hakenkreuz gab, durch Fakten belegte, war erst gebrochen, als sich die Aussenminister Norwegens, dann Hollands und Belgiens und schliesslich brummelnd sogar de Gaulle für die ITF einschalteten,« 334 schrieb Walter Auerbach im Jahr 1969 an Willy Brandt. Eine indirekte Bestätigung dieses Vorgangs machte das Reichssicherheitshauptamt, Berlin, nach der Besetzung Dänemarks und Norwegens durch den Hinweis auf einen Aufruf der ITF: »Im einzelnen wendet sich der Verband [die ITF] an die dänischen und norwegischen Seeleute mit der Aufforderung, ihre Schiffe in alliierte Häfen zu bringen und fordert die gesamte Arbeiterschaft der neutralen Länder auf, jegliche Transporte nach Deutschland zu verhindern.« 335 Kaum erfolgreich war die ITF mit Schiffen Dänemarks, Belgiens, der Niederlande und Frankreichs. 336 Die ITF hatte in Schiffahrt bereits im Jahr 1935 Anweisungen an Seeleute für den Kriegsfall publiziert und die Schiffsbesatzungen aufgefordert, »auch gegen den Widerstand der nationalsozialistischen Schiffsleitungen feindliche oder neutrale Häfen« anzulaufen oder die Schiffe durch Sabotage manövrierunfähig zu machen. 337

Dem Exempel der Volksfrontregierung in Frankreich und dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges 1936 folgend, etablierte sich in Paris ein Ausschuss

collapse of imperial Germany«, in: Nelles: ITF Resistance in Germany and Spain, S. 181 f. 332 Buschak: »Arbeit im kleinen Zirkel«, S. 91 f. 333 Ebd. 334 Auerbach an Brandt, 27.1.1969 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 33, AdsD). 335 Aufruf des Internationalen Transportarbeiterverbandes: Kundgebungen internationaler marxistischer Verbände gegen Deutschland (Bestand Reichssicherheitshauptamt, R 58/3388, Abschrift N 158012, 12.4.1940, BArch/SAPMO). 336 Auerbach an Brandt, 27.1.1969 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 33, AdsD). 337 Knüfken, Hermann: Über den Widerstand der Internationalen Transportarbeiter- Förderation gegen den Nationalsozialismus und Vorschläge zum Wiederaufbau der Gewerkschaften in Deutschland - zwei Dokumente 1944/45, in: 1999 - Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 7 (1992), Nr. 3, S. 67. 108 zur Bildung einer deutschen Volksfront unter Heinrich Mann. Außer ihm gehörten bekannte Politiker und Literaten dem Komitee an, wie Rudolf Breitscheid 338 und von der SPD, , Walter Ulbricht und Fimmens Freund Willi Münzenberg von der KPD und die Literaten Johannes R. Becher, Lion Feuchtwanger, Klaus Mann, Ernst Toller, Arnold Zweig und andere. 339 Fimmen hatte von vornherein seine Beteiligung ausgeschlossen, 340 und Auerbach legte seine konträren Positionen zum Pariser Ausschuss in einer Stellungnahme an die Wirtschaftskommission des Gremiums differenziert dar und berief sich auf eine Veröffentlichung von Auszügen einer geplanten Broschüre in der Baseler Arbeiterzeitung vom 7. April 1937. Seiner Meinung nach beruhte die Lohn- und Einkommenssituation der abhängig Beschäftigten im Reich auf falschen Quellen. Er drohte, Redaktionen und Organisationen »vor der Verwendung einiger Angaben einer derartigen Broschüre zu warnen,« 341 sollte die der Zeitung vorliegende Fassung der Denkschrift unverändert bleiben. Seine Anregungen gegenüber dem Kommissionsmitglied Paul Bernhard, Pseudonym des aus Berlin stammenden Juristen Henry Ehrmann und »former secretary of Stresemann,« 342 hatte die Redaktion bisher nicht berücksichtigt. Auerbach monierte, dass »willkürlich durcheinander die nach ganz verschiedenen Methoden aufgestellten Schätzungen des Statistischen Reichsamts, des Konjunkturinstituts und der Reichskreditgesellschaft« 343 verwendet wurden. Das Konjunkturinstitut habe »sich bis heute zu derartig groben Manövern noch nicht bereitgefunden.« 344 Dies klang wie die Verteidigung einer Institution im NS-Staat, die sich offenbar bis zu diesem Zeitpunkt der Gleichschaltung widersetzt hatte. Auerbach blieb auch Gegnern gegenüber objektiv. Und er fuhr fort, die großen Unterschiede im Lohnniveau bei Facharbeitern unterschiedlicher Industriezweige

338 Dr. Rudolf Breitscheid (1974-1944), Politiker. 1920-1933 Mitglied des Deutschen Reichstags, ab 1922 außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion. 1926 Mitglied der Völkerbundsdelegation. 1933 Emigration zunächst in die Schweiz, dann weiter nach Frankreich. 1941 zusammen mit Dr. Rudolf Hilferding von den Vichy-Behörden an die Gestapo ausgeliefert. Konzentrationslager Buchenwald. Dort 1944 bei einem Luftangriff der Alliierten ums Leben gekommen, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 92. 339 Schwinghammer: Im Exil zur Ohnmacht verurteilt, S. 250. 340 Buschak: Edo Fimmen. Der schöne Traum von Europa und die Globalisierung, S. 239. 341 Auerbach an Wirtschaftskommission Pariser Ausschuss zur Bildung einer Deutschen Volksfront, 9.4.1937 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 11, AdsD). 342 Auerbach an Crossman, 23.6.1947 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 34, AdsD). 343 Auerbach an Wirtschaftskommission Pariser Ausschuss zur Bildung einer Deutschen Volksfront, 9.4.1937 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 11, AdsD). 344 Ebd. 109 seien üblich und nicht nur Kriterium nationalsozialistischer Lohnpolitik. Er sprach von »unfreiwilligem Humor« 345 der Autoren.

Die 1936 beginnenden Moskauer Säuberungsprozesse und unüberbrückbare ideologische und strategische Gegensätze zwischen kommunistischen und nichtkommunistischen Delegierten im Volksfrontausschuss besiegelten das Ende der Idee. Im Herbst 1937 begriffen die Nichtkommunisten endgültig, dass sie von den Kommunisten nur für deren Interessen instrumentalisiert werden sollten 346 und zogen mit ihrem Ausscheiden daraus die Konsequenz. 347 Mit seinem Scheitern beendete auch der 1937 gegründete Koordinationsausschuss deutscher Gewerkschafter (Koordinationsausschuss) in Paris, eine von Fimmen und Auerbach unterstützte politische Alternative zur französischen Landesgruppe der ADG, seine Arbeit. 348 Der Koordinationsausschuss hatte sich der Volksfrontinitiative Heinrich Manns angeschlossen. 349

In Illegale Gewerkschaften kann es in totalen Diktaturen nicht geben , Materialien für Helmut Esters und Hans Pelger, unterschied Walter Auerbach zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches für die 1930er Jahren drei wichtige Perioden. Zunächst entlarvte er den Begriff »Illegale Gewerkschaften« als falsch und nur aus propagandistischen Gründen benutzt, um Arbeiter und Angestellte anzusprechen, sie zu illegalen Aktivitäten gegen die Machthaber zu ermuntern und die Staatsgewerkschaft DAF zu beunruhigen. 350 Auch der Historiker Willy Buschak 351 hielt die von seinem Kollegen Gerhard Beier 352 1981 aufgestellte These einer illegalen Reichsleitung der deutschen Gewerkschaften für unhaltbar. Und Michael Schneider bezeichnete die Aktivitäten der Illegalen als Widerstand »nicht der Gewerkschaften, aber aus den zerschlagenen Gewerkschaften« 353 und betonte, dass der in diesem Widerstand involvierte Personenkreis »dem Anspruch auf politische Mitwirkung im Deutschland der

345 Ebd. 346 Krohn, Claus Dieter: Der Kampf des politischen Exils im Westen gegen den Nationalsozialismus, in: Peter Steinbach und Johannes Tuchel (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S.496. 347 Plum: Volksfront, Konzentration und Mandatsfrage, S. 434. 348 FES (Hrsg.): Die deutsche politische Emigration 1933-45. Katalog zur Ausstellung, Bonn 1972, S. XIV. 349 Schneider: Unterm Hakenkreuz, S. 1026. 350 Auerbach: Illegale Gewerkschaften kann es in totalen Diktaturen nicht geben (Bestand ITF, Mappe 88, AdsD) und Richard Löwenthal: Widerstand im totalen Staat, S. 15. 351 Buschak: Edo Fimmen. Der schöne Traum von Europa und die Globalisierung, S. 302. 352 Beier: Die illegale Reichsleitung der Gewerkschaften 1933-1945, Köln 1981, S. 19. 353 Schneider, Michael: Gewerkschaftlicher Widerstand 1933-1945, in: Peter Steinbach und Johannes Tuchel (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 152. 110

Nachkriegszeit Berechtigung und Nachdruck verlieh.« 354 Auerbach datierte in seinen Aufzeichnungen im Jahr 1965 die erste der drei Perioden zurück auf den Papen-Putsch im Juli 1932. Dieser symbolisierte für ihn »die Illusion über das Tempo der Entwicklung zu einem totalen Staat,« 355 und er kritisierte die Form der Bemühungen der führenden Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung, »die Gewerkschaften durch den Einbau in eine Art korporativen Staat zu ‚retten’.«356

Die zweite Periode, die der »Arrangierungsversuche der Spitzen [der Freien Gewerkschaften] auf Reichsebene« 357 vom 30. Januar bis 2. Mai 1933 trug zur vollkommenen Verwirrung der Gewerkschaftsmitglieder bei, »die draußen unter zunehmendem Terror standen,« 358 während die Spitzenfunktionäre in ziemliche Ratlosigkeit verfielen. Auerbach ging weiter davon aus, dass es »viele im Einzelfall beschämende Beispiele gegeben [hätte], wenn nicht am 2. 5. automatisch nach einer Verhaftungsliste die Gewerkschaftsspitze ausnahmslos festgenommen worden wäre.«359 Exemplarisch wies Auerbach auf den Vorwurf der Fahnenflucht des letzten Vorsitzenden des Holzarbeiterverbandes, Fritz Tarnow, gegenüber seinem Mitgefangenen und früheren Mitarbeiter, Franz Hering, hin, der seit dem 2. Mai 1933 wegen Arbeitsverweigerung einsaß. 360 Es war jener Tarnow, der mit weiteren Vorstandsmitgliedern laut Auerbach bereits im März 1933 die Vereinbarung getroffen hatte, »den Verband friedlich in Nazihaende zu ueberfuehren« 361 und den Rücktransfer im Ausland deponierten Gewerkschaftsvermögens zu veranlassen. 362 Die letzte Phase, von Auerbach nicht mehr in Deutschland erlebt und zurückhaltend beschrieben, bezeichnete er als jene der allgemeinen Ernüchterung und terminierte sie auf den Herbst 1933: »Man machte sich keine Illusionen mehr über die Machtpositionen des Regimes.« 363

Den Untergang der Arbeiterbewegung in Deutschland führte Willi Eichler auf ihre innere Struktur zurück und darauf, »dass sie vom preußischen Militarismus die

354 Ebd. 355 Auerbach: Illegale Gewerkschaften kann es in totalen Diktaturen nicht geben (Bestand ITF, Mappe 88, AdsD). 356 Ebd. 357 Ebd. 358 Ebd. 359 Ebd. 360 Ebd. 361 Auerbach an Max [August Enderle], 25.10.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 48, AdsD). 362 Ebd. 363 Auerbach: Illegale Gewerkschaften kann es in totalen Diktaturen nicht geben (Bestand ITF, Mappe 88, AdsD). 111

Kunst des Aufbaus eines funktionierenden Apparats gelernt hat (was an sich nicht zu verurteilen wäre), dass sie aber auch die ganze bürokratische Seelenlosigkeit [und Unbeweglichkeit] dieser blossen Gewaltapparate mitgeerbt hat.« 364

364 Eichler an Fimmen, 19.3.1936 (Bestand ISK, Mappe 29, AdsD). 112

4 Emigration nach England

4.1 Erneute Fluchtbewegung mit Kriegsbeginn

Emigration nach Großbritannien war zunächst einer restriktiven Einwanderungspolitik unterworfen. »Like most other Western democracies Britain did not pursue any real refugee policy, which would have had to be orientated upon the scope and character of Nazi persecution. Instead it merely followed a traditional immigration policy which was based first and foremost on its own economic and political interest.« 1 Nach der Reichspogromnacht lockerte die britische Regierung die Einreisebedingungen. Bekanntgeworden sind die Kindertransporte der Jahre 1938 und 1939, die ungefähr zehntausend Kindern jüdischer Eltern aus Deutschland, Österreich und dem deutschsprachigen Raum in der Tschechoslowakei im Alter von drei bis fünfzehn Jahren das Überleben sicherten. Viele dieser Kinder sahen ihre Eltern nie wieder. 2 Führende Persönlichkeiten der englischen Judenheit, wie die Lords Samuel, Bearsted, Rothschild und der spätere israelische Präsident Chaim Weizmann, intervenierten in 10 Downing Street und gaben »a collective guarantee that no public funds would be needed for such a rescue operation« 3 ab. Die positive Resonanz von Seiten der britischen Regierung »had been partially influenced by their desire to placate public feeling in the USA.«4

Frühe Emigration in die angrenzenden Länder bedeutete nicht in jedem Fall Rettung vor nationalsozialistischer Verfolgung. Für eine große Zahl von Emigranten in den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Frankreich endeten Fluchtversuche und Untertauchen nach der Invasion deutscher Truppen in Internierungslagern im unbesetzten Teil Frankreichs, teilweise gefolgt von Auslieferung an die Gestapo und anschließender Deportation in die Vernichtungslager im Osten. Ein Exempel war die Odyssee Philipp Auerbachs. Seine Stationen nach dem Exil in Belgien waren die französischen Internierungslager St. Cyprien, Gurs und Le Vernet, Gestapo-Haft in Berlin, die

1 Hirschfeld, Gerhard: »A High Tradition of Eagerness…« - British Non-Jewish Organisations in Support of Refugees, in: Werner E. Mosse (Hrsg.): Second Chance. Two Centuries of German-speaking Jews in the United Kingdom, Tübingen 1991, S. 610. 2 Leverton, Bertha (Hrsg.): I came alone. The Stories of the Kindertransports, Lewes/Sussex 1990. 3 Stent, Ronald: Jewish Refugee Organisations, in: Werner E. Mosse (Hrsg.): Second Chance. Two Centuries of German-speaking Jews in the United Kingdom, S. 590. 4 Ebd., S. 591. 113

Konzentrationslager Auschwitz, Groß-Rosen und Buchenwald. Ein anderes Beispiel war die dramatische Flucht der Mitglieder des Exil-Parteivorstands der SPD, SOPADE, nach der Besetzung von Paris. Begleiterscheinungen ihrer Irrfahrt nach Lissabon waren Aggressionen, psychischer Stress, Querelen und die Neubelebung alter politischer Kontroversen. Rudolf Hilferding 5 und Rudolf Breitscheid mit Ehefrauen sonderten sich schließlich resigniert von der Gruppe ab und gerieten in die Fänge der Gestapo. Hilferding starb 1941 unter ungeklärten Umständen in Gestapo-Haft in Paris, Breitscheid 1944 bei einem alliierten Luftangriff auf das Konzentrationslager Buchenwald. Friedrich Stampfer, , Hans Vogel, Erich Ollenhauer mit ihren Ehefrauen und Kindern erreichten Lissabon. Stampfers und Weichmanns gingen in die Vereinigten Staaten, Vogels und Ollenhauers nach London. 6

Für viele »war Großbritannien lediglich Durchgangsstation, gleichsam ein Wartesaal, in dem sie sich bis zu ihrer Rückkehr in ein von den Alliierten befreites, demokratisches Deutschland vorübergehend einzurichten gedachten.« 7 Hans Vogel verstarb im Oktober 1945 im englischen Exil. Ollenhauer, Weichmann, Auerbach und viele andere remigrierten und machten im Nachkriegsdeutschland jene politischen Karrieren, die Sebastian Haffner 8 bereits im Jahr 1940 prognostiziert hatte: die »Emigranten von heute sind oft die ... Regierenden von morgen.« 9 Er sprach von der großen Zahl politischer Intellektueller und vermutete unter ihnen zu Recht, wenn nicht Staatschefs, so doch künftige Minister, Staatssekretäre, Parteiführer und Diplomaten. 10 Für Haffner umfasste das politische Exil auch »die Elemente, die eines Tages zum

5 Dr. Rudolf Hilferding (1877-1941), 1922-1933 Mitglied des SPD-Parteivorstandes. 1924- 1933 Mitglied des Deutschen Reichstags. 1933 Emigration zunächst nach Dänemark, dann in die Schweiz und 1938 nach Frankreich. Zusammen mit Dr. Rudolf Breitscheid von den Vichy-Behörden an die Gestapo ausgeliefert. 1941 im Pariser Gefängnis Santé verstorben. Todesursache ungeklärt, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 295 f. 6 Benz, Wolfgang (Hrsg.): Marianne Loring [geb. Stampfer]: Flucht aus Frankreich 1940. Die Vertreibung deutscher Sozialdemokraten aus dem Exil, Frankfurt/M. 1996. 7 Hirschfeld (Hrsg.): Exil in Großbritannien, S. 8. 8 Sebastian Haffner (1907-1999), ursprünglich Raimund Werner Martin Pretzel, Jurist und Publizist, Emigration nach England 1938, Rückkehr nach Deutschland 1954, zunächst als Auslandskorrespondent für The Observer, später für Die Welt und den Stern tätig, in: Sebastian Haffner: Germany: Jekyll & Hyde 1939 - Deutschland von innen betrachtet. Berlin 1996 (englische Originalausgabe London 1940), S. 2. 9 Haffner: Germany: Jekyll & Hyde 1939, S. 236. 10 Ebd., S. 242. 114

Hebel einer deutschen Revolution und zu Pionieren eines anderen Deutschland werden können.« 11

Zwischenstationen für die Emigration nach Übersee waren kleine Orte im Süden Englands. Gerhard Hirschfeld berichtet, dass zu Kriegsbeginn etwa 74.000 deutsche und österreichische Flüchtlinge in Großbritannien lebten und sich im Jahr 1940 die Zahl der offiziell anerkannten Emigranten durch Weiterwanderung auf 55.000 und im Sommer 1943 durch Deportation auf etwa 35.000 Deutsche und 15.000 Österreicher reduzierte. Über die Hälfte dieses Personenkreises waren Minderjährige oder nicht mehr im Erwerbsleben Stehende. 12 »Normally, refugees were not allowed to work, 13 except in domestic or agricultural occupations. This was in line with the British immigration policies over the previous hundred years, which had tried to confine the mass of immigrants to low-paid jobs. There was scope for relaxing the rules in individual cases, but in general the situation changed only with the outbreak of war.« 14 Ausnahmen galten für prominente Politiker, Künstler und Wissenschaftler mit hohem internationalen Bekanntheitsgrad.

Der Anteil politischer Emigranten an der Gesamteinwanderung nach Großbritannien war gering, die Majorität stellten, wie überall, rassisch Verfolgte. Schätzungen zu letzterem Personenkreis lagen bei 90 Prozent. 15 Auerbach sprach einmal von einer starken apolitischen jüdischen Wirtschaftsemigration aus Deutschland und Österreich. 16 Er selbst betrachtete sich, trotz seiner jüdischen Herkunft und des Familiennamens, als politisch, nicht als politisch und rassisch Verfolgter, und nur dem politischen Exil billigte er politische Aufgaben zu. Priorität hatten für ihn die konzeptionelle Vorarbeit und die Ausbildung von Spezialisten

11 Haffner: Realpolitik der Emigration, in: Die Zeitung, 17.4.1941. 12 Hirschfeld (Hrsg.): Exil in Großbritannien, S. 7. 13 Privatsammlung Lore Auerbach: Einreisevermerk im Vreemdelingen Passport No. 17648 von Käte Gertrud Auerbach, issued The Hague: »Permitted to land at London on 18.10.39 on Condition that the holder does not remain in the U.K. longer than 12 months and registers at once with the Police.« Zusatz 9.11.1939: »The issue of this Certificate does not entitle the holder to establish herself or to seek employment in the United Kingdom.« 14 Howald, Stefan: Everyday Life in Prewar and Wartime Britain, in: Marian Malet und Anthony Grenville (Hrsg.): Changing Countries. The Experience and Achievement of German-Speaking Exiles from Hitler in Britain, from 1933 to Today, London 2002, S. 90 f. 15 Hirschfeld (Hrsg.): Exil in Großbritannien, S. 8. 16 Auerbach an Borinski, 20.10.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 48, AdsD). 115 für das Deutschland nach Hitler, »deren einziger Ehrgeiz uneigennuetzige Leistung sein muesste« 17 und meinte damit auch sich.

Antisemitismus wurde in Großbritannien auch in der British Union of Fascists (BUF) unter Sir Oswald Mosley 18 kontrovers diskutiert. Einerseits sprach Mosley von der »conspiracy of ‘international Jewish bankers’,« 19 andererseits wurden Juden mit anderen Ausländern gleichgesetzt, denen angesichts von zwei Millionen arbeitslosen Briten die Einreise verweigert werden sollte. Und jene, »who had already come to Britain, it was suggested, should be compelled to leave. This policy was to apply to all foreigners - Poles, Jews and Lascars alike.« 20 Erst nach Kriegsende verstärkten sich antisemitische Tendenzen, ausgelöst durch die Konfrontation zwischen Jischuv und der britischen Mandatsmacht in Palästina, die bis zur Gründung des Staates Israel im Mai 1948 eskalierte. Der Bombenanschlag der Terrororganisation Ezel unter Menachim Begin, späterer israelischer Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger, auf einen Flügel des King David Hotels in Jerusalem, dem Sitz der Mandatsverwaltung, verursachte über siebzig Tote und zahlreiche Verletzte, unter ihnen wenige Juden und Araber, die Mehrzahl waren Briten. Einen weiteren Schock löste die Veröffentlichung eines Fotos in britischen Presseorganen aus, das zwei ermordete englischen Soldaten, erhängt in einem Orangenhain in Palästina, zeigte. Selbst einem damals Jugendlichen blieb das Foto unvergessen: »Though I was only 14 or so, I recall the great anger here when the bodies of assassinated British soldiers were booby-trapped,« 21 entsann sich Harold Lewis, der spätere ITF-Generalsekretär. Margot Barnard, eine Jüdin aus Bonn, die 1933 als Jugendliche nach Palästina und nach dem Krieg nach England emigrierte, erlebte in der Herkunftsfamilie ihres Ehemannes massive Vorbehalte. Sie galt als »bloody German, bloody foreigner, bloody Jew.« 22 Walter Auerbachs Tochter Lore meinte indessen: »Vorurteile haben wir wohl nicht erfahren, zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. In der Schule

17 Ebd. 18 Sir Oswald Mosley (1896-1980) gründete nach seinem Ausschluß aus der Labour Party die BUF. 1940 Verbot der Partei und Inhaftierung Mosleys. 19 Lebzelter, Gisela C.: Political Anti-Semitism in England 1918 - 1939, New York 1978, S. 91. 20 Ebd. 21 Lewis an Vf.in, 10.10.2002. 22 Gespräch Margot Barnard mit der Vf.in, 9.7.2004, in Bonn. 116 waren viele jüdische Emigrantenkinder. Vorurteile erlebte ich eher bei der Rückkehr nach Deutschland.« 23

»Wie ein Schatten hing die Welt des Exils über dem London des zweiten Weltkrieges. London war zudem das Zentrum dieser Exilwelt.« 24 Repräsentanten von Parteien aller Couleur, Gewerkschafter und Intellektuelle aus Deutschland und den von Deutschen besetzten Ländern hielten sich hier auf. Für offizielle Stellen und für die Bevölkerung galten sie als enemy aliens . In diesen Schmelztiegel geriet Walter Auerbach im Oktober 1939 25 .

Die Emigration der Familie Auerbach hatte sich bis in den Oktober hinein verzögert, obwohl »since the outbreak of war Mr Auerbach has been granted a Home Office permit to enter this country und resume his work.«26 Sein Status dort lautete friendly enemy alien, und dieser ersparte ihm und auch seiner Ehefrau 1940 die Internierung. Die Töchter berichteten übereinstimmend, dass Ernest Bevin für die Familie gebürgt hatte. Im Nachlass Walter Auerbachs befindet sich eine Unbedenklichkeitsbescheinigung eines leitenden englischen Mitarbeiters der ITF, G. R. Clutterbuck. »This is to certify that Mr. Walter Auerbach and his wife are, in my opinion, persons from whom it is safe, and even desirable, to remove all restrictions normally applying to the movement and activities of enemy aliens in this country in wartime … I have known Mr. Auerbach personally and intimately ever since he came to Amsterdam in 1933.« 27

Wie bereits vor dem Verlassen Berlins wurde auch in Amsterdam vor der Übersiedlung nach England das Mobiliar notgedrungen verschleudert, da private Transporte nicht den britischen Emigrationsrichtlinien entsprachen. 28 Nur Bücher, wichtige Akten und Quellenmaterialien begleiteten Auerbach ins nächste Exilland. Zurückgelassenes beschlagnahmten die deutschen Besatzer der Niederlande. 29 Die dritte Wohnungseinrichtung verblieb bei der Remigration

23 Lore Auerbach an Vf.in, 10.10.2002. 24 Glees, Anthony: Das deutsche politische Exil in London 1939-1945, in: Hirschfeld (Hrsg.): Exil in Großbritannien, S. 62. 25 Privatsammlung Lore Auerbach: Einreisevermerk im Vreemdelingen Passport No. 17648 von Käte Gertrud Auerbach. Walter Auerbachs Vreemdelingen Passport lag nicht vor. 26 Clutterbuck, 8.11.1939 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 1, AdsD). 27 Ebd. 28 Auerbach an den Regierungspräsidenten, Hannover, 23.3.1959 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 22, AdsD). 29 Auerbach, 29.11.1948 (Korrespondenz Wiedergutmachung) (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 22, AdsD). 117 wegen der unerschwinglichen Transportkosten in England. 30 In Lemgo »haben [wir] zwar unsere vierte ‚Wohnungseinrichtung’ mit aeusserster Primitivitaet wieder neu beginnen muessen, aber wir haben wenigstens den groessten Teil unserer Buecher gerettet. Die sind ein Schatz, der bei den zerstörten Bibliotheken gar nicht hoch genug zu werten ist.« 31 Die Amsterdamer Bibliothek stammte überwiegend von den in Görlitz lebenden Schwiegereltern Auerbachs, die auf Bestellung »viele, viele Bücher in die Emigration geschickt haben,« 32 darunter Bildbände mit deutschen Landschaften, die die Emigration nach England und die Remigration überdauerten. »Die haben meine Eltern den britischen Behörden zur Planung wohl auch von Luftangriffen zur Verfügung gestellt … Leihgaben zur Rettung von Kulturgut … nicht zur Verschlimmerung der Luftangriffe« 33 waren eine in Emigrantenkreisen nicht unumstrittene Strategie. 34 Mit den Bildbänden und, so hatte Lore Auerbach ihrer Interviewpartnerin Christine Voigt erzählt, »geretteter deutscher Literatur und Kinderliedern sowie klassischer Musik versuchte die Mutter, ihren Töchtern ein Gefühl für ihre deutsche Herkunft zu vermitteln.« 35 Auch die im Exil geborenen Prinzessinnen zu Löwenstein kannten aus den Erzählungen der Eltern nur eine heile deutsche Welt: »Uns wurde doch immer gesagt: das Gelobte Land, wir gehen ins gelobte Land, Heiliges Römisches Reich, Heimat, Heldensagen.« 36 Ihre erste Begegnung mit der Realität erlebten Lore und Irene Auerbach im Herbst 1946. »Osnabrück - das hat keiner von uns je vergessen: ziegelrote Zahnstümpfe,« 37 erinnerte sich die damals siebenjährige Irene Auerbach und die sechs Jahre ältere Schwester ergänzte: »Dennoch hat mich das zerstörte Osnabrück, die Stadt, in der wir bei der Remigration im Oktober 1946 den Zug verließen, völlig unvorbereitet geschockt, so sehr, dass ich die Stadt immer mied, bis meine Abgeordnetenpflichten [Mitglied des von Niedersachsen in den Jahren 1986 bis 1994] das nach 40 Jahren nicht mehr zuließen.« 38

30 Auerbach an den Regierungspräsidenten, Hannover, 23.3.1959 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 22, AdsD). 31 Auerbach an »Liebe Ehrmanns«, 12.4.1948 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 35, AdsD). 32 Irene Auerbach an Vf.in, 9.11.2002. 33 Dies. und Briefe Großeltern Paulsen aus den Jahren 1938 und 1939 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappen 12. und 13, AdsD). 34 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 190. 35 Voigt: Es war eigentlich beinahe zwangsläufig!, S. 171. 36 Dertinger: »Uns wurde immer gesagt: Wir gehen ins Gelobte Land«, S. 84. 37 Irene Auerbach an Lore Auerbach, 21.12.2002, weitergeleitet an Vf.in, 6.1.2003. 38 Lore Auerbach an Vf.in, 11.10.2002. 118

Edo Fimmen hatte nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Prag im März 1939 seine Anstrengungen intensiviert, das ITF-Generalsekretariat nach Großbritannien oder Frankreich zu verlegen. Ihm lag daran, »that the I.T.F. should continue its activities in case of war … There were two possibilities to be reckoned with. Either there would be a German invasion of Holland, in which case the Secretariat would be put out of action almost immediately; or Holland would remain neutral, and under German pressure the Dutch Government would be forced to place difficulties in the way of anti-Nazi propaganda, if not to forbid it entirely.« 39 Obwohl der ITF-Präsident Charles Lindley in schwedischen Regierungskreisen hohes Ansehen genoss, galt Schweden wegen der dortigen Neutralitätskriterien nur als letzte Option. 40 Dann, Ende Juli 1939, erhielt die ITF die befreiende Nachricht aus London, »that the British Home Secretary had no objections.« 41 Die entscheidenden Weichenstellungen im Innenministerium hatte der Vorsitzende der National Union of Railwaymen (NUR), John Marchbank, bewirkt. Die jahrzehntelangen Kontakte der ITF zu ihren britischen Mitgliederorganisationen ermöglichten nahtlose Kontinuität in der legalen und illegalen Arbeit und erleichterten den Zugang zu britischen Institutionen, die anderen Exilorganisationen verschlossen blieben.

Das ITF-Generalsekretariat siedelte kurz nach Ausbruch des Krieges nach England über. Für eine begrenze Übergangszeit hatten die Mitarbeiter Arbeitsmöglichkeiten in den Räumlichkeiten der ITF-Mitgliedsgewerkschaft NUR in London. Anfang Oktober 1939 übernahm die ITF Crossland Fosse, ein repräsentatives Landhaus mit Park im idyllischen Kempston. 42 Auerbach sprach ironisch von »De ITF Rittergut Crossland Fosse, 2 ½ uren van London.« 43 In jenen Kriegstagen weit entfernt von London zu residieren, galt als Privileg, und »Crossland Fosse has been a healthy place, but tiresome at the same time for those who have to do business in London and naturally causing loss of time and incurring travelling expenses.« 44

39 [ITF] Report on Activities for the period 1 June 1939 to 15 January 1940, to be submitted to the meeting of the Executive Committee to be held at Hotel Great Central, London, on 27 and 28 January 1940, S. 5 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 81, AdsD). 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 6. 43 Auerbach an Treurniet, 10.6.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 37, AdsD). 44 [ITF] Report Meeting Emergency General Council, 25/26 July 1941 in London, S. 9 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 8, AdsD). 119

Der ITF war es gelungen, den größten Teil ihres Vermögens nach Großbritannien zu transferieren, »der Gestapo fielen bei der deutschen Besetzung der Niederlande nur wenige Mittel in die Hände.« 45 Miete, Gehälter und sonstige Kosten in England waren damit sichergestellt. Die Wohnsituation war schwierig. Einige Mitarbeiter lebten anfangs in ihren Büros in Crossland Fosse. Die Familie Auerbach lebte zunächst in einem Hotel in Bedford 46 und ab November 1939 »in dem kleinen Dorf Kempston, etwa eine halbe Stunde Busfahrt von Bedford entfernt. Crossland Fosse, wo die ITF saß, war in der Nähe … Dort haben wir keine Bombenangriffe erlebt. In London [ab Februar 1943] 47 lebten wir allerdings nicht weit von einer Flakabwehr. Zur Zeit der V1 und V2 schliefen wir Kinder immer in einem sogenannten ‚table shelter’. Er bestand aus einem Metallboden, vier dicken Metallpfosten und einer darauf befestigten Metallplatte in Tischhöhe. Tagsüber wurde er als normaler Tisch benutzt. Nachts kamen Matratzen hinein und die Seiten wurden mit Metallrosten abgehängt. Das ganze sollte einstürzendes Mauerwerk abfangen. Wenn Alarm war, krochen unsere Eltern zu uns mit hinein. Natürlich haben wir in London die Bombenschäden gesehen, und unsere Eltern wiesen uns später darauf hin, dass die Zerstörungen in Deutschland viel schlimmer wären.« 48 Die erste Angriffsserie auf London und Rüstungszentren wie Coventry, Birmingham oder Sheffield, The Blitz , erfolgte im Jahr 1940, die Raketen V1 und V2 stürzten auf London vom Frühsommer 1944 bis zum März 1945. Diese deutschen Luftangriffe auf England hatten nachhaltige traumatische Auswirkungen auf die englische Bevölkerung, ähnlich wie der Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg.

Ob Auerbachs für den Fall einer deutschen Invasion auf den britischen Inseln einen Vorrat an Giftkapseln hatten oder nicht, verheimlichten sie auch später den erwachsenen Töchtern. Susanne Miller erinnerte sich, dass nach der Besetzung Frankreichs, Belgiens und der Niederlande Verzweiflung unter den Emigranten herrschte und sich viele ihrer Freunde Gift verschafften. 49 Engländer, mit denen sie zusammentraf, nahmen die Siege der Nazi-Armeen auf dem Kontinent hingegen gelassen mit dem Spruch hin: »Wir Engländer können jede Schlacht

45 Buschak: Edo Fimmen. Der schöne Traum von Europa und die Globalisierung, S. 263. 46 Privatsammlung Lore Auerbach: Vreemdelingen Passport No. 17648 von Käte Gertrud Auerbach. 47 Hofmannsthal, von u.a. an Auerbach, 21.1.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 44, AdsD). 48 Lore Auerbach an Vf.in, 10.10.2002. 49 Miller: Der Widerstand sozialistischer Exilgruppen gegen den Nationalsozialismus, S. 9 f. 120 verlieren, aber am Ende gewinnen wir den Krieg.« 50 Mit dem Ende des phoney war im Frühjahr 1940 hatten sich Ängste vor einer Invasion und fremdenfeindliches Klima in der englischen Öffentlichkeit verstärkt. Im Mai begannen die Internierungen von enemy aliens .51 Eigens eingerichtete Tribunale hatten Emigranten in drei Kategorien einzustufen. Der Gruppierung A zugeordnete Personen hatten Zweifel an ihrer Loyalität hinterlassen und stellten ein potentielles Sicherheitsrisiko dar, »because they might be a ‚fifth Column’ in case of a German invasion.«52 Dieser Personenkreis wurde entweder in England umgehend interniert oder nach Kanada oder Australien deportiert. Ausländer der Kategorie B unterlagen verschärfter Meldepflicht, und für Kategorie C galten die auch in Friedenszeiten üblichen Restriktionen. 53 Das größte Lager befand sich, wie bereits im Ersten Weltkrieg, auf der Isle of Man. Rauschenplat 54 gab Auerbach einen Situationsbericht über ein Camp bei Liverpool: »Primitiv; ausgezeichnete Haltung der Internierten; viele Professoren … Depression … Keine Zeitungen … Offenbar sehr netter Kommandant, der aber durch Liebenswürdigkeit den harten Steinboden nicht weich und warm machen kann.« 55 Die Konsequenzen einer deutschen Invasion Englands bedeuteten Verhaftung und Internierung, wenn nicht Schlimmeres. Daran herrschten in britischen Regierungs- und Emigrantenkreisen keine Zweifel, und Fluchtversuche auf dem See- oder Luftweg wären einer kleinen Elite vorbehalten. Schellenbergs Sonderfahndungsliste Großbritannien enthielt neben den Namen der Regierungsmitglieder jene der Eliten der britischen Parteien und

50 Miller, Susanne: Autobiographische Erinnerungen, politisches Engagement, Wissenschaftlerin. Ein Gespräch mit Wolfgang Luthardt, in: Perspektiven des Demokratischen Sozialismus 3 (1986), Nr. 4, S. 310. 51 Wasserstein, Bernard: Britische Regierungen und die deutsche Emigration 1933-1945, in: Gerhard Hirschfeld (Hrsg.): Exil in Großbritannien: Zur Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland, Stuttgart 1983, S. 59. 52 Koenigsberger, Helmut: Fragments of an Unwritten Biography, in: Alter (Hrsg.): Out of the Third Reich, S. 177 ff. 53 Seyfert, Michael: »His Majesty’s Most Loyal Internees«: Die Internierung und Deportation deutscher und österreichischer Flüchtlinge als »enemy aliens« Historische, kulturelle und literarische Aspekte, in: Hirschfeld (Hrsg.): Exil in Großbritannien, S. 158 f. 54 Dr. Hellmut von Rauschenplat (1896-1982). Von 1933-1937 lebte er im Deutschen Reich unter dem Pseudonym Fritz Eberhard und arbeitete illegal für den Internationalen Sozialisten Kampfbund (ISK). 1938 Emigration nach England. Den Namen Fritz Eberhard nahm er im Nachkriegsdeutschland offiziell an. 1945 Remigration. 1946 SPD-Landtagsabgeordneter im Landtag von Württemberg-Baden. 1947 Staatssekretär. 1948 Mitglied im Parlamentarischen Rat. 1949-1958 Intendant des Süddeutschen Rundfunks. Ab 1961 Honorar-Professor für Publizistik an der Freien Universität Berlin, in: Fritz Eberhard: Arbeit gegen das Dritte Reich, in: Informationszentrum Berlin, Gedenk- und Bildungsstätte Stauffenbergstraße (Hrsg.), Nr. 10, Berlin 1980, S. 60. 55 Rauschenplat, von an Auerbach, 7.6.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 19, AdsD). 121

Gewerkschaften, Schriftsteller, unter anderem Herbert George Wells, Virginia Woolf, und eine große Zahl von Repräsentanten des politischen Exils: Auerbach/Dirksen, Eichler, Fimmen, Heine, Kahn-Freund, von Knoeringen, Molitor, Oldenbroek 56 , Ollenhauer, Vogel 57 . Den früheren Freunden Hitlers, Ernst (Putzi) Hanfstängl, 58 Hermann Rauschning 59 ebenso wie General de Gaulle, dem tschechoslowakischen Ex-Präsidenten Eduard Ben ěs oder Sigmund Freud, 1939 im englischen Exil verstorben, drohte im Fall einer Invasion sofortige Verhaftung. 60

Die Labour Party lud »reliable representative refugees« 61 zur Teilnahme an einem Advisory Committee unter Leitung von Otto Kahn-Freund ein. Zu diesem Gremium, das Vorschlagsrecht für »Release from Internment« 62 hatte, zählte auch Auerbach. 63 Er setzte sich unter anderem erfolgreich für die Entlassung von Hans Gottfurcht und Waldemar von Knoeringen 64 ein. Ohne Resultat intervenierten ITF und Auerbach bis hin zum Kriegsministerium um die Freilassung des nach Kanada deportierten Willi Molitor. Trotz Fürsprache aus

56 Jacobus Hendrik Oldenbroek (1897-1970), Generalsekretär der ITF von 1942-1960, in: Reinalda (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 239. 57 Hans Vogel (1881-1945), Parteifunktionär. 1920-1933 Mitglied des Deutschen Reichstags. 1927 Mitglied des SPD-Parteivorstands. Ab 1931 zusammen mit Otto Wels und Artur Crispien SPD-Parteivorsitzender, seit 1933 nur Wels und Vogel. 1939 nach dem Tod von Otto Wels Vorsitzender des Exil-Vorstands der SPD (SOPADE). 1933 Emigration in die Tschechoslowakei, 1938 nach Frankreich und 1941 über Spanien und Portugal nach England, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 782 ff. 58 Dr. Ernst (Putzi) Hanfstängl (1887-1975), Studium in Harvard und München. Finanziell unabhängig, gewährte der NSDAP in der Inflationszeit ein Darlehen in Höhe von 1.000 Dollar zur Unterstützung des Völkischen Beobachters. Zu Beginn des Dritten Reiches Leiter des Auslandspresseamtes der NSDAP. Freundschaft mit Hitler, der seine Auslandsbeziehungen nutzte. Der politisch gemäßigte Hanfstängl wurde bei manchen NS-Spitzenpolitikern (u.a. Goebbels) zunehmend unbeliebt. Schließlich distanzierte sich Hitler von ihm. Aus Furcht um sein Leben emigrierte er 1937 nach England, in: Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich, S. 140 f. 59 Dr. Hermann Rauschning (1887-1982), 1926 Mitglied der NSDAP, 1933-1934 Senatspräsident der Freien Stadt Danzig, 1936 Emigration über die Schweiz nach England. 1941 USA. Nach dem Krieg Farmer in Portland (Oregon), in: Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich, S. 274 f. 60 Erickson (Hrsg.): Invasion 1940. The Nazi Invasion Plan for Britain. SS-General Walter Schellenberg, S.147 ff. 61 Labour Party an Auerbach, 2.9.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 21, AdsD). 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Waldemar von Knoeringen (1906-1971). Seit 1926 SPD-Mitglied. Seit 1933 Gruppe Neu Beginnen (NB). Illegale Arbeit im Deutschen Reich. 1936 Emigration in die Tschechoslowakei, 1938 Frankreich und 1939 England. Dort engagiert in Rundfunkarbeit. 1946 Remigration. Mitglied des Bayerischen Landtags, 1946-1962 Fraktionsvorsitzender. 1947-1963 Vorsitzender des SPD-Landesverbandes Bayern. 1958-1962 einer der stellvertretenden SPD-Bundesvorsitzenden, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 374 f. 122

Regierungskreisen gehörte er nicht zu den ungefähr 1.500 nach Kanada Deportierten, die bis zum Sommer 1941 nach England zurückkehrten. 65 Die Ablehnung des verantwortlichen Richters schien geradezu widersinnig, Auerbach unterstellte ihm Missachtung der Bedeutung von Gewerkschaften. 66 Der Eisenbahner Molitor hatte vier Jahre illegale Tätigkeit im Reich und drei Jahre Zuchthaus hinter sich, flüchtete in die Niederlande und emigrierte kurz vor der Kapitulation der Niederlande durch Vermittlung von Ernest Bevin, inzwischen Arbeitsminister (Minister of Labour), und John Marchbank nach England. 67 Die Internierung Molitors dauerte beinahe sechs Jahre. »[Ich] lebte in der letzten Zeit das gesunde Leben eines Holzfällers im kanadischen Busch. Und wenn nicht Frau und Kinder in der Heimat gewesen wären, und die Heimat in größter Not wie überhaupt die ganze Welt im Ringen um neue Formen des Lebens - hätte ich diese Zeit im kanadischen Busch als die schönste und unbekümmertste meines Lebens buchen können,« 68 so beschrieb Molitor nach Kriegsende seine Situation in Kanada.

Jahn, Eisenbahner wie Molitor, traf im Oktober 1940 nach einer abenteuerlichen Flucht aus einem französischen Internierungslager über Marseille, Barcelona, Madrid in Lissabon ein 69 und wurde von dort nach London ausgeflogen. 70 Er verfügte zwar über ein amerikanisches Visum, zog aber Großbritannien, den Sitz der ITF, vor. 71 In einem internen Dokument, Vorlage für ein Treffen des Emergency General Council der ITF im Sommer 1941, dem Jahn inzwischen angehörte 72 , hieß es nur lapidar: »Mr. Kramer was the leader of our clandestine groups in Germany; he was living in Luxemburg when war broke out, and continued to maintain relations with his correspondents in Germany. When Luxemburg was overrun in May 1940 he had a narrow escape, having to leave his wife and child behind in the midst of the forest because they could not carry on any further. After an eventful journey through France where he was interned in several camps he finally succeeded – thanks to the financial assistance of the

65 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 121. 66 Auerbach an Gordon-Walker, 12.8.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 20, AdsD). 67 Molitor an Oldenbroek, 26.8.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 20, AdsD). 68 Molitor an Auerbach, 21.3.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 60, AdsD). 69 Jahn: Tagebuch und Notizen über seine Flucht nach London (Bestand ITF, Anhang, Mappe 118, AdsD) und Kramer: Bericht ueber die illegale Taetigkeit seit Kriegsbeginn, 15.6.1941 (Bestand ITF, Mappe 52, AdsD). 70 Auerbach an Pollack, 4.11.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 22, AdsD). 71 Jahn an Fimmen, 11.10.1940 (Bestand ITF, 159/3/C/a/101, MRC). 72 Auerbach an Parker, 26.2.1944. Anlage: Liste mit Kurzbiographien von neun deutschen Gewerkschaftern und Sozialisten (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 51, AdsD). 123

Swiss Railwaymen’s Union – in obtaining a visa for the U.S. and was able to proceed to Lisbon. From there he made his way to this country.« 73 Jahn »became a key figure in the attempts by the ITF and the Allied intelligence agencies to sabotage German railway operations.« 74 Die Ehefrau Friedel Jahn wurde beim Einmarsch der Deutschen verhaftet und vom Volksgerichtshof Berlin wegen Hochverrats zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Jahre nach der Haftentlassung verbrachte sie im Konzentrationslager Ravensbrück. 75 Jahns Reputation verblasste auch Jahrzehnte später nicht. Harold Lewis stieß bei der Recherche für seine Dissertation im ITF-Archiv in Warwick immer wieder auf ihn und bemerkte, »He is such a hero in the ITF’s history.«76 Lewis kannte Jahn, den ITF-Präsidenten der Jahre 1955 bis 1958, noch persönlich. Er begann seine ITF- Karriere im Jahr 1955 als research assistant 77 und beendete sie 1993 als Generalsekretär. 78

Die finanzielle Situation zahlreicher Flüchtlinge war prekär. »Die Verarmung war einer der Aspekte der ‚permanenten Emigration’, der kontinenteweiten Flucht vor Hitler.« 79 Viele lebten von Zuwendungen persönlicher und politischer Freunde sowie von jüdischen, christlichen und politischen Hilfsorganisationen, die die heimische Arbeitslosenunterstützung selten überstiegen. Erich Ollenhauer, Fritz Heine und Hans Vogel standen auf der pay-roll der Labour Party, die im Oktober 1942 Ollenhauer und Heine aufforderte, »ihre politische Arbeit für die SPD einzustellen und einer geregelten Arbeit nachzugehen.« 80 Vogel wurde aus Altersgründen davon ausgenommen. Mangelnde Sprachkenntnisse und die britischen Arbeitsmarktbestimmungen machten dies für viele zu einer Illusion, so auch für Ollenhauer. Finanzielle Unterstützung fand er bei schwedischen Sozialdemokraten. Im Mai 1943 reflektierte Vogel in einem Brief an Freunde: »Unsere Erwartungen haben sich nicht voll erfüllt … bezgl. unserer Arbeitsmöglichkeiten werden wir eben doch mehr oder weniger als feindliche

73 [ITF] Report Meeting Emergency General Council, 25/26 July 1941 in London, S. 6 f. (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 82, AdsD). 74 Lewis: ITF 1945-1965, S. 155. 75 Jahn an Toni Sender, 25.10.1943 (Bestand ITF, 159/3/C/a/123, MRC) und Bericht Jahn »Opfer des Faschismus«, 29.5.1948 (Bestand ITF, Anhang, Mappe 120, AdsD). 76 Lewis an Vf.in, 4.2.2003. 77 Ebd., 12.12.2002. 78 ITF (Hrsg.): Solidarität. Die ersten 100 Jahre der Internationalen Transportarbeiter Föderation, London 1996, S. 164. 79 Domin, Hilde: Von der Natur nicht vorgesehen. Autobiographisches, München 1974, S. 15. 80 Glees: Das deutsche politische Exil in London 1939-1945, S. 75. 124

Ausländer betrachtet.« 81 Er sah allerdings Emigration auch als Chance, als Horizonterweiterung, und beneidete »die Jüngeren, die die Möglichkeit haben, das Gelernte in ihrem weiteren Leben noch gut zu verwerten.« 82

Die Gehälter bei der ITF »were at least ten times higher than any unemployment pay!« 83 Auerbachs Jahreseinkommen betrug 1940 ₤ 440 und stieg in den folgenden drei Jahren bis zur Höchstgrenze von ₤ 530, das des Generalsekretärs Oldenbroek entwickelte sich im gleichen Zeitraum von ₤ 700 auf ₤ 930 und bei dessen Stellvertreter von ₤ 630 auf ₤ 800. Zwei weitere Mitarbeiter waren Auerbach gleichgestellt, alle anderen lagen darunter. 84 Auerbachs Gehalt »does indeed give a very good idea of the [ITF-]hierarchy« 85 und unterstrich seine privilegierte Einkommenssituation, die ihn aus der Masse der Exilanten hervorhob. »WA [Walter Auerbach] enjoyed a very good salary by British standards, far more than many workers were getting. At the beginning of the war a London policeman earned ₤ 182 per year and a London bus driver, generally regarded as an ‚aristocrat’ of the working class, earned ₤ 234. And even within the ITF, it must be stressed that Auerbach did very well.« 86 Ein anderer Emigrant, der Historiker Walter Ullmann, spiegelte die generöse Einkommenssituation Auerbachs. Ullmann fand im Sommer 1939 eine Anstellung im »Ratcliff College, a Catholic boarding school in Leicestershire … and earned ₤ 50 per year, that is the same as the housemaids … After a few months, my salary was increased to ₤ 70. I felt like Croesus, and could even afford to buy books.« 87 Das Niveau der Lebenshaltungskosten lag niedrig. »It is generally agreed that a couple needed some three pounds per week to survive in the late 1930s, and a single person nearly two.« 88 Für eine Wohnung im Londoner Stadtteil East Finchley zahlte die Familie Auerbach zu Beginn des Jahres 1943 ₤ 2.2.- pro Woche. 89 Die Zahl der Räume ging aus dem Schreiben nicht hervor, nur dass es sich um mehrere handelte. Das Schulgeld für die ältere Auerbach-Tochter belief sich auf ₤ 16 bis

81 Vogel an »Meine lieben Steuerwalds«, 29.5.1943 (Bestand Fritz Heine, Widerstand und Emigration, Nr. 74 – 136, AdsD). 82 Ebd. 83 Lewis an Vf.in, 12.12.2002. 84 [ITF] Secretariat’s Report to the Executive Committee and General Council over the period of September 1939 to October 1944, S. 59 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 88, AdsD). 85 Lewis an Vf.in, 10.10.2002. 86 Ders., 4.2.2003. 87 Ullmann, Walter: A Tale of Two Cultures, in: Alter (Hrsg.): Out of the Third Reich, S. 254. 88 Howald: Everyday Life in Prewar and Wartime Britain, S. 104. 89 Hofmannsthal, von u.a. an Auerbach, 21.1.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 44, AdsD). 125

18 jährlich. 90 Kleidung wurde ab 1. Juni 1941 rationiert und nahm daher nur einen geringen Teil des monatlichen Budgets in Anspruch.91

Bis zum Beginn des Jahres 1943 lebte und arbeitete Walter Auerbach in Kempston, doch »The editor of ‚Facism’ has to visit various offices [in London] on different days of the week for the purpose of consulting foreign material, which often is only at his disposal for very limited periods,« 92 hieß es in einem ITF- Bericht. Darüber hinaus führte er als offizieller Repräsentant der ITF Gespräche mit Funktionsträgern von Labour Party, TUC, British Broadcasting Corporation (BBC) und verkehrte mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft und britischer und internationaler Politik. Auerbach war einer der Kontaktmänner, nicht Agenten, der ITF zum amerikanischen Geheimdienst OSS. Im Frühjahr 1945 verneinte Auerbach, dass »any ITF men were OSS agents. They simply perform many favors for OSS, and are willing to accept certain favors in return.« 93

Britische Geheimdienste überwachten politische Emigranten. Die englischen Dienste MI5 und MI6 verfügten über Materialien zu KPD und SPD. 94 »MI5- Berichte vermerkten, daß die SPD eine Teilung Deutschlands nicht akzeptieren wollte und die Partei sich damit verstärkt auf Kollisionskurs zu Churchills Nachkriegsplänen begab.« 95 MI5-Dossiers, seit einigen Jahren in den National Archives in Kew zugänglich, über Auerbach 96 und andere Persönlichkeiten aus dem Umfeld deutscher Gewerkschafter und Sozialisten liegen nicht vor, aber umfangreiches Material über die Politik von Die Zeitung; 97 deren ersten Herausgeber Rudolf Hans Lothar 98 und den Redakteur Sebastian Haffner. 99 Bereits 1941 berichtete der Geheimdienstoffizier Major Knight über Haffner: »He naturally did not deny that it was vitally important for his country to go on

90 Lore Auerbach an Vf.in, 12.10.2002. 91 Die Zeitung, 2.6.1941. 92 [ITF] Report Meeting Emergency General Council, 25/26 July 1941 in London, S. 9 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 82, AdsD). 93 Manpower Div. US Group CC Political Division APO 742, Memorandum of Conversation, March 15, 1945, Participants: Louis A. Wiesner, Walter Auerbach, Hans Jahn (Bestand OMGUS, 17/257-2/7, BArch). 94 Glees: Das deutsche politische Exil in London 1939-1945, S. 72. 95 Zit. nach ebd. 96 TNA an Vf.in, 16.5.2003: »It is possible although I think unlikely that there are records of the Security service, MI5, relating to the Auerbach brothers held at the PRO.« Persönliche Recherche dort ergab ebenfalls keine Erkenntnisse. 97 Die Zeitung and German Refugee Propaganda in U.K., 3.4.1941 (KV2/1130 (14 c), TNA). 98 »He [Rudolf Hans Lothar] came to London in 1936 and became a partner in the publishing firm of Secker & Warburg.« (KV2/1130 (17 b), TNA). 99 Ebd. 126 bombing and blockading Germany as intensely as possible so as to make life most uncomfortable for the Germans.«100

Die Zeitung , eine Publikation von deutschen Emigranten für deutschsprachige Emigranten, von britischen Behörden subventioniert und der indirekten Kontrolle des Foreign Office unterworfen, erschien in London ab Frühjahr 1941, die ersten zehn Monate als Tageszeitung und dann als Wochenblatt mit einer Höchstauflage von etwa 20.000 Exemplaren. Als Vorbild diente die Frankfurter Zeitung , deren ehemaliger Wirtschaftsredakteur Hans Uhlig zu den Herausgebern gehörte. 101 In einem Geheimdienstpapier hieß es: »The paper could certainly be made much more interesting and it is clear that journalistic amateurs have a hand in its production.« 102 Dilettantismus unterstellte auch Auerbach den Zeitungsmachern.

Nicht nur Auerbach vermutete bereits vor Erscheinen der ersten Ausgabe, dass die Herausgeber versuchten, »einen betont rechtsbürgerlichen Block vorzubereiten.« 103 Zudem hatte er prinzipielle »Bedenken gegen eine deutschsprachige Tageszeitung im Kriegslondon.« 104 Der Redakteur Sebastian Haffner stellte sich ursprünglich ein Organ für eine liberale politische Emigrantenelite vor. Aus seiner Sicht war Die Zeitung »bürgerlich liberal … nicht sozialistisch, auch nicht streng militaristisch-reaktionär (20. Juli). Sie war irgendwas dazwischen.« 105 Die Exilpresse diente dazu, Emigranten im Alltag zu begleiten, konkrete Eingliederungsprobleme aufzugreifen, Lösungsmöglichkeiten anzubieten »oder auch den in der Fremde oft genug mutlosen und depressiven Emigranten Mut zu machen.« 106 Wunschdenken war, die Politik der Alliierten beeinflussen zu können. Das sozialistische Londoner Exil, bei den Vorbereitungen übergangen, sparte nicht mit Opposition und Kritik an Die Zeitung . Inakzeptabel für Sozialisten war die politische Richtung. Ein MI5-Dossier enthielt die Aussage, dass Die Zeitung »adopts the stand-point of the capitalist system … The suggested boycott was, however, not carried through, and I know

100 Die Zeitung and German Refugee Propaganda in U.K., 3.4.1941 (KV2/1130 (14 c), TNA). 101 Greiser: Exilpublizistik in Großbritannien, S. 232. 102 Policy of the Paper, 27 June 1941 (KV2/1130 (14 c), TNA).. 103 Auerbach an Crossman, 27.2.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 24, AdsD). 104 Auerbach an Vogel, 23.4.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 25, AdsD). 105 Krug, Jutta: Sebastian Haffner. Als Engländer maskiert. Ein Gespräch mit Jutta Krug über das Exil, Stuttgart/München 2002, S. 46 ff. 106 Maas, Lieselotte: Thesen zum Umgang mit der Publizistik des Exils, in: Manfred Briegel und Wolfgang Frühwald (Hrsg.): Die Erfahrung der Fremde. Forschungsbericht, Weinheim u.a. 1988, S. 273. 127 of many people, who are known to me as Austrian and German socialists who were eager readers of the ‘Zeitung’.« 107 Im Mai 1945, als Die Zeitung ihr Erscheinen einstellte, bekannte auch Auerbach, zu den regelmäßigen Lesern gehört zu haben, spätestens seit dem Verzicht der Redaktion, sich in das weltpolitische Geschehen einzumischen. Die dann »besinnlichere Wochenzeitung hat das Unmoegliche versucht, eine neue Basis zu finden … Es gibt wohl kaum einen politischen Emigranten in England, der nicht Ausschnitte aus der ‚Zeitung’ beiseite legte, um sie einst Freunden in der Heimat zu zeigen. Bei allem Vorbehalt gegenueber vielem, was in der ‚Zeitung’ erschien - das ist die hoechste Anerkennung, die ein politischer Emigrant zollen kann,« 108 schrieb Auerbach dem Herausgeber Dietrich anlässlich der Einstellung des Blattes nach Kriegsende.

Im Fokus der Kontroversen stand von Beginn an Sebastian Haffner. Seine Antipathie gegen die Person Haffner, aber auch gegen Die Zeitung präzisierte Auerbach in einem Brief an Hans Vogel: »Ich möchte Dich als Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Union vertraulich über ein Gespräch informieren, das ich gestern hatte. Ich wurde gefragt, ob ich einen Sozialisten kenne, der bereit und in der Lage sei, in die Redaktion der ‚Zeitung’ einzutreten. Ich antwortete, dass meines Wissens kein Sozialist mit einem Haffner zusammenarbeiten würde. Die nächste Frage war, ‚und ohne Haffner, etwa als Haffners Nachfolger?’ Ich brachte meine Bedenken gegen eine deutschsprachige Tageszeitung im Kriegslondon vor und sagte, dass meines Erachtens vielleicht Möglichkeiten für eine revueartige Halbmonats- oder Monatszeitschrift beständen. Es wurde mir ein Name genannt, den ich bei Gelegenheit wiedergeben werde. Auf meine Frage sagte man mir, dass der betreffende Sozialist selbst noch nicht befragt worden sei.« 109 Heine notierte mit Blick auf die mangelnde öffentliche Resonanz der linken deutschen Emigration und die Effizienz der italienischen, dass nunmehr die Kreise um Die Zeitung und um Otto Strasser 110 um Anerkennung kämpften. 111 Dies misslang Strasser und Hermann Rauschning, Verfasser des

107 Policy of the Paper, 27 June 1941 (KV2/1130 (14 c), TNA). 108 Auerbach an Mende, 31.5.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 55, AdsD). 109 Auerbach an Vogel, 23.4. 1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 25, AdsD). 110 Otto Strasser (1897-1974), 1925 NSDAP, 1930 Austritt nach Auseinandersetzung mit Hitler über Kapitalismus und Sozialismus. Im selben Jahr Gründung der Kampfgemeinschaft revolutionärer Nationalsozialisten, auch »Schwarze Front« genannt. 1933 Emigration, in: Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich, S. 342 f. 111 Heine: Notiz über Besprechung mit Auerbach, 19.9.1941. Fritz Heine an Vf.in, 13.12.2001. 128

1939 in England publizierten Bestsellers Gespräche mit Hitler , 112 bereits um die Jahreswende 1939. Zwar verbreiteten die BBC am 15. November 1939, die Sunday Times vier Tage später und auch andere Medien, dass die rechte deutsche Opposition einen Nationalrat initiiert hätte mit dem Ziel, eine deutsche Gegenregierung mit Rauschning-Wirth-Breitscheid-Treviranus-Strasser zu etablieren. 113 Auerbach konterte, der »Nationalrat existiert wohl in gewissen Wunschträumen Strassers.« 114

1941 schloss sich Strasser mit seiner Schwarzen Front der »Frei-Deutschland- Bewegung« an, die ihre Chancen in der Niederlage der Roten Armee sah und die Meinung vertrat, ein schneller Sieg Hitlers über die Sowjetunion würde zu einer Ernüchterung in London und Washington führen und somit zur erhofften Anerkennung. 115 Der SOPADE-Vorstand in London blieb weiterhin bei seiner ablehnenden Haltung aus dem Jahr 1939 gegenüber einer deutschen Exil- Vertretung. 116 Mr. Scott vom European Regional Office der United Nations and Rehabilitation Administration in London schrieb Auerbach: »I am most grateful to you for the ideas you put forward in your memorandum and would like to have a chance of discussing these matters still further with you some day. Is Becu 117 still with you, and if so perhaps we could have lunch together some day next week.« 118

Selbst als Haffner im Sommer 1942 zum Observer ging, lehnten viele Sozialisten Die Zeitung weiterhin ab. Erst als sich im Herbst 1944 der nahe Zusammenbruch des Nazi-Regimes abzeichnete und die Internationale Arbeitskonferenz in Philadelphia die Denkschrift Recommendations to the United Nations for Present and Post-war Social Policy vorlegte, nutzte Walter Auerbach dieses Organ, um seine Positionen zu Kapitel III, Social Policy in the Territory of Axis Countries

112 ITF (Hrsg.): Faschismus 7 (1939), Nr. 23, S. 197 f. 113 Jahn an Auerbach, 15.11.1939 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 14, AdsD). 114 Auerbach an Jahn und Enderle, 25.11.1939 (Bestand ITF, 159/3/C/a/101, MRC). 115 Notiz »Otto Strasser wünscht Hitlers Sieg über Sowjetunion.« Herbst 1941 mit handschriftlicher Bitte Auerbachs um Gespräch mit Vogel oder Ollenhauer (Bestand SOPADE/Emigration, Mappe 57, AdsD). 116 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 131. 117 Omer Becu (1902-1982), während des Zweiten Weltkrieges Leiter des ITF-Büros in New York. Nach der Befreiung Belgiens Aufbau der Belgischen Transportarbeitergewerkschaft. 1947-1950 Präsident der ITF, 1950-1960 Generalsekretär der ITF, in: Reinalda (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 240. 118 Scott (United Nations Relief and Rehabilitation Administration, European Regional Office) an Auerbach, 22.8.1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 52, AdsD). 129

Occupied by the Forces of the United Nations , zu publizieren. 119 Auerbach verwies in seinem Testament auf dieses dritte Kapitel aus »Report II, 26 th Session, International Labour Conference … das nach meiner Vorlage erarbeitet wurde.« 120

Der Einfluss des politischen Exils auf Entscheidungen in den Gastgeberländern, auch in England, wird in der Forschungsliteratur als eher gering oder kaum vorhanden eingeschätzt. »Alle Erwartungen der unterschiedlichen Exilgruppen, von den alliierten Regierungen als autonome Repräsentanten des ‚anderen Deutschland’ anerkannt oder gar zu den Nachkriegsplanungen herangezogen zu werden, erwiesen sich als Illusionen. Ihre unzähligen Programmentwürfe … standen in auffallendem Kontrast zum Desinteresse der politischen Entscheidungsträger und sogar der politischen Freunde in den Bruderparteien oder vergleichbarer weltanschaulicher Lager in den Zufluchtsländern. Das galt selbst für die KPD-Emigration in der Sowjetunion.« 121 Fritz Heine notierte in seiner Vorlage für eine Besprechung mit Walter Auerbach im September 1941: »Jedes Amt hier in England hält sich deutsche Experten, die gegeneinander ausgespielt werden. Das ist ein unmöglicher Zustand. Die Experten müssen zusammengefaßt werden, um eine einheitliche Front gegenüber den Engländern zu bilden.« 122 Aus britischer Perspektive sah das zuweilen anders aus. So behauptete der Lieblingsfeind großer Teile des deutschen politischen Exils, Vansittart, dass »members of the extreme German Left … have been exercising too great an influence on our politics and propaganda … These people are nearly all Pangermans - for most Germans have a streak of megalomania - and they have blind English collaborators.« 123 Die Einwirkungsmöglichkeiten der Antifaschisten auf die Regierungspolitik in ihren jeweiligen Asylländern wurde auch durch die Nationalsozialisten überschätzt: »Um die Identität von Emigrant und Lüge herzustellen und glaubhaft zu machen, damit auch andere die

119 Auerbach, Walter: Sozialpolitische Probleme Nachkriegsdeutschlands, in: Die Zeitung, 15.9.1944. 120 Privatsammlung Lore Auerbach: Auerbach: Testament, 29.12.1961. 121 Krohn, Claus Dieter: Emigranten und die »Westernisierung« der deutschen Gesellschaft nach 1945. Einleitung, in: Ders. und Martin Schumacher (Hrsg.): Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland nach 1945, Düsseldorf 2000, S. 25 f. 122 Fritz Heine an Vf.in, 13.12.2001: Anlage: Notizen aus der Emigration (o.D.). In seinem Brief schrieb er unter anderem: »Natürlich erinnere ich mich an Walter Auerbach. Wir haben ja Kontakt miteinander gehabt, wie Sie wissen. Aber ich bin - zumindest gegenwärtig - leider nicht in der Lage heute noch etwas von Nutzen für Sie über W.A. mitzuteilen.« 123 Lord Vansittart: Address to the London Rotary Club on July 29, 1942, S. 7 (Bestand ITF, 159/3/C/a/128, MRC). 130

Emigranten damit identifizierten, setzte das Regime eine hemmungslos betriebene Propaganda gegen das Exil ein.« 124

Fritz Heine vermerkte im September 1941 kritisch: »Walter Auerbach … glaubt an eine sozialistische Revolution in Deutschland.« 125 Hans Jahn gegenüber präzisierte Heine seine Skepsis. Er lehnte zwar eine sozialistische Revolution nicht grundsätzlich ab, doch aus seiner Perspektive würde sie niemals die Zustimmung der alliierten Siegermächte erfahren. Heine hielt Auerbach offenbar für einen Phantasten. 126 In The Next Germany forderten Auerbach und seine Koautoren eine dezentralisierte Demokratie, »die von der proletarischen deutschen Revolution mit Zustimmung der Besatzungsmächte« etabliert werden sollte. 127 Seine Radikalität ließ ihn durch das antirevolutionäre Raster von SOPADE fallen. Rückendeckung hingegen fand er bei seinem Mentor Edo Fimmen, dessen Nachfolger Jaap Oldenbroek und in weiten Kreisen der ITF wie auch bei seinen intellektuellen Freunden. So schrieb Auerbach in einer Grußadresse zum 1. Mai 1942 an den zur Rekonvaleszenz in Mexiko weilenden Fimmen, »dass eine Revolution eine militaerische Niederlage [nicht] ueberfluessig machen wird … aber das gibt Hoffnung, dass der Wille zum neuen Start, sobald der Gewaltapparat geschwächt ist, in vielen Koepfen Fuss fassen wird.« 128 Und die Autoren von The Next Germany erkannten 1943: »A Socialist revolution in Germany is the only permanent safeguard against the recurrence of German regression. The cutting up of Germany into small states offers no safeguard at all. It would either lull the victorious nations into a false sense of security, or force them to keep in power a number of puppet rulers or princelings. 129 For the German opponents of Hitler the work of reconstruction would become impossible, but for the German reactionaries of all types it would be a boon and heaven-sent opportunity. It would present them with the traditional ideal of the ’Unification of Germany’ as a pretext for secret and, later, open militarist propaganda.«130

Zerstrittenheit und Zersplitterung des deutschen politischen Exils unterminierten dessen Reputation in amerikanischen und britischen Regierungskreisen. Das

124 Tutas: Nationalsozialismus und Exil, S. 21. 125 Notiz Besprechung Heine mit Auerbach, 19.9.1941. Fritz Heine an Vf.in, 13.12.2001. 126 Heine an Jahn, 7.1.1942 (Bestand ITF, 159/3/C/a/110, MRC). 127 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 223 und Auerbach an Mandelbaum, 24.5.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 46, AdsD). 128 Auerbach an Fimmen, 16.4.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 35, AdsD). 129 Princelings: im Originaltext. 130 Auerbach, Walter u.a.: The Next Germany, S. 122. 131 gemeinsame Exil wirkte keineswegs einigend, die politischen Kontroversen der Weimarer Zeit wurden mit verändertem Akzent fortgesetzt. »Es lag nahe, daß innerhalb der Sozialdemokratischen Partei diese Auseinandersetzungen am stärksten waren, hatte die Partei doch unter Zurückstellung der sozialistischen Komponente in den letzten Jahren der Weimarer Republik eine Tolerierungspolitik getrieben, die nun desavouiert schien.« 131 Heine, intimer Kenner der Londoner Emigrantenzirkel, griff ein in sozialistischen Exilkreisen kontrovers debattiertes Thema auf: »Nein, eine Einheitsfront der deutschen Emigranten war in GB nicht möglich. Was in der Weimarer Republik an Differenzen zwischen den Parteien bestand, hat (natürlich) auch in der Emigration eine Rolle gespielt.« 132 Annäherungsversuche von Kommunisten führten zwar gelegentlich zu punktueller Kooperation einzelner, scheiterten aber letztlich an dem berechtigten Misstrauen der Sozialdemokraten gegenüber dem Einfluss der sowjetischen Parteiführung auf das kommunistische Exil. Die Landesgruppe war die einzige politische Exilinstitution, in der Sozialdemokraten und Kommunisten kooperierten. 133 Aversion, Misstrauen und Unvereinbarkeit herrschten auf beiden Seiten, und die »Kluft zwischen den beiden Richtungen der Arbeiterbewegung im Exil war 1944 endgültig unüberbrückbar geworden.« 134 Im selben Jahr sah Hans Vogel die Zukunft der Zwangsvereinigung von SPD und KPD in der Sowjetischen Besatzungszone voraus: »Gibt es eine Zonenbesetzung, dann dürfte das russisch besetzte Gebiet für deutsche Sozialdemokraten als Rückkehrmöglichkeit wohl ausscheiden. Wir werden vor den Russen keine Gnade finden.« 135

Seit den gescheiterten Volksfrontbemühungen des Jahres 1935 in Paris und dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 herrschte weitgehend Funkstille zwischen den beiden großen deutschen Arbeiterparteien. Zu diesem Verrat Stalins an den deutschen Kommunisten publizierte Auerbach in Faschismus einen längeren Artikel und erinnerte an das verlogene Versprechen Dimitroffs, seinerzeit Generalsekretär der Kommunistischen Internationale, anlässlich des 50.

131 Knütter, Hans-Helmut: Emigration und Emigranten als Politikum im Nachkriegsdeutschland, in: Politische Studien 25 (1974), Nr. 216, S. 414 f. 132 Fritz Heine an Vf.in, 22.1.2002. Letzter Brief vor seinem Tod am 5. Mai 2002 im Alter von 98 Jahren. 133 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 61. 134 Ebd., S. 214. 135 Vogel an »Liebe Freunde [Steuerwalds]«, 8.11.1944 (Bestand Fritz Heine, Widerstand und Emigration, Nr. 74 – 136, AdsD). 132

Geburtstages von Ernst Thälmann 136 im Jahr 1936: »Du kannst dessen gewiss sein, dass die Kommunistische Internationale nicht rasten noch ruhen wird, bis die Proletarier aller Länder sich im siegreichen Kampf gegen die faschistischen Kriegsanstifter vereinigen werden.« 137 Auerbach mutmaßte, dass KZ-Aufseher Thälmann höhnisch Presseberichte über den Hitler-Stalin-Pakt aushändigten und sich an seiner Fassungslosigkeit ergötzten. 138 Im August 1944 wurde Thälmann erschossen.

Einige Monate nach der Stalingrad-Niederlage wurde in Moskau unter Mitwirkung namhafter deutscher Offiziere das Nationalkomitee Freies Deutschland 139 gegründet. Das dort verabschiedete Manifest veranlasste deutsche Kommunisten in London zu der Initiative Freie Deutsche Bewegung (FDB). Damit war erneut eine erbitterte Kontroverse zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten vorprogrammiert. 140 Kurz vor dem Gründungskongress der FDB im September 1943 in der Londoner Trinity Church Hall legte Walter Auerbach einen »Plan zur Gründung einer Arbeitsgemeinschaft von Sozialdemokraten, Kommunisten, Liberalen, Katholiken, Bekenntniskirche und sozialistischen Randgruppen unter Vorsitz des Oxforder Ökonomen Professor Burckardt« 141 vor, den der Vorstand der Union Deutscher Sozialistischer Organisationen in Großbritannien (Union) 142 als verfrüht ablehnte. 143 Im Geschichtsverständnis von Sozialdemokraten galt Kooperation mit den Abtrünnigen, den Kommunisten, nicht als opportun, Berührungsängste dominierten. Die ITF bildete in jenen Jahren, bis auf Hans Jahn, die Ausnahme.

136 Ernst Thälmann (1886-1944), Vorsitzender der KPD, 1924-1933 Mitglied des Deutschen Reichstages, im August 1944 im Konzentrationslager Buchenwald ermordet, in: Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich, S. 352 f. 137 Zit. nach ITF (Hrsg.): Faschismus 7 (1939), Nr. 18, S. 163. 138 Ebd. 139 Gründung: 12. und 13.7.1943, in: Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 198 und Daily Digest of World Broadcasts, 21st to 22nd July, 1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 47, AdsD). 140 Ebd. 141 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 206. 142 SOPADE und die Zwischengruppen Neu Beginnen (NB), Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK), Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) schlossen sich im Frühjahr 1941 zur Union Deutscher Sozialistischer Organisationen in Großbritannien zusammen. Die Landesgruppe deutscher Gewerkschafter in Großbritannien (Landesgruppe) war durch Hans Gottfurcht im Vorstand vertreten, in: Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 93 ff. Einer der Väter des Godesberger Programms der SPD von 1959, Willi Eichler: »Wir konnten, als wir nach Deutschland zurückkamen, als einen bedeutenden Erfolg der Emigration buchen, daß es Gruppen von Sozialisten außerhalb der Sozialdemokratischen Partei nicht mehr gab«, in: Willi Eichler: »Keine Sozialisten außerhalb der SPD«, in: Verein EL-DE-Haus Köln (Hrsg.): Unter Vorbehalt, S. 209. 143 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 206. 133

»Jahn … is bitterly anti-Russian, though his view does not seem to be shared by his colleague [Walter Auerbach].« 144 Auerbach bekannte sich zu den gemeinsamen Wurzeln aller Sozialisten. So bedauerte er, dass am Todestag von Karl Marx (1818-1883) keine »Blumenspende am Grabe des Mannes niedergelegt wurde, dem die deutschen Gewerkschaften so viel verdanken.« 145

Die Gründungskonferenz der FDB fand ohne Auerbach statt. In seiner Absage verwies er auf das Zehn-Punkte-Programm der Initiatoren und das Moskauer Manifest: »Beide Programme berücksichtigen weder unerlaessliche Bedingungen des europäischen Wiederaufbaus noch Existenzvoraussetzungen der deutschen Arbeiterschaft. Auf dieser Grundlage sehe ich als deutscher sozialistischer Gewerkschafter keine Moeglichkeit, zu einer Einheit der deutschen politischen Emigration in Grossbritannien zu kommen, die eine Unterstuetzung des schweren Kampfes der deutschen Illegalen bedeuten wuerde.« 146 An dem Moskauer Aufruf, der durchaus die wesentlichen Elemente eines demokratischen Staatswesen enthielt, 147 kritisierte Auerbach die Einschätzung der innerdeutschen politischen Situation und das Vermeiden, »ein ueber den Kriegsabbruch hinweisendes klares Ziel zu zeigen. Da geschulte kommunistische Funktionaere diesen Aufruf unterzeichnet und vermutlich mitredigiert haben, kann ich nur vermuten, dass das Verschweigen einer Vorstellung von der Gestaltung des Nachnazi-Deutschland als taktischer Schachzug beabsichtigt ist.« 148

Auerbach scheute vor kaum einem brisanten Thema zurück. Der zwiespältige Charakter des Krieges, der für ihn bereits 1935/36 im Mittelmeerraum begann, erschien ihm als »ein Aufeinanderprallen saturierter und nichtsaturierter Imperialismen … Die faschistische Struktur der nichtsaturierten Imperialismen machte diesen Krieg fuer die Arbeiterklasse zugleich zu einem Ringen um die

144 Manpower Div. US Group CC Political Division APO 742, Memorandum of Conversation, March 15, 1945, Participants: Louis A. Wiesner, Walter Auerbach, Hans Jahn (Bestand OMGUS, 17/257-2/7, BArch). 145 Auerbach an die Landesgruppe deutscher Gewerkschaften, 17.3.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 34, AdsD). 146 Auerbach an Kuczynski, 24.9.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 48, AdsD). 147 Daily Digest of World Broadcasts, 21st to 22nd July, 1943, S. 2 f.: »The aim is a free Germany. This means: A strong democratic order which will have nothing in common with the impotence of the Weimar regime, a democracy which will mercilessly suppress any attempt at any new conspiracies against the rights of a free people or against European peace … Restoration and expansion of the political rights and social achievements of the working people; freedom of speech, of the Press, or organisations, of conscience and religion.« (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 47, AdsD). 148 Auerbach an Kuczynski, 4.8.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 47, AdsD). 134

Existenz der organisatorischen Ansaetze [Gewerkschaften], die die Voraussetzungen einer sozialistischen Neugestaltung der Welt sind. Beide Tendenzen ringen im Kriegsverlauf um die Vorherrschaft.« 149 Doch Emigrantengezänk überließ Auerbach zumeist anderen. Seit seiner Emigration nach England führte er mit Hans Gottfurcht, dem Vorsitzenden der Landesgruppe der ADG in England, erbitterte Dispute, Fortsetzung der jahrelangen Kontroverse um die Nichtanerkennung der Alleinvertretungsforderung der ADG durch die ITF, für Auerbach der »hochstaplerische Vertretungsanspruch.« 150 Fimmen favorisierte Auerbachs Idee, gemeinsam mit dem TUC die Interessenvertretung der deutschen Gewerkschaftsemigration zu leiten, verfolgte aber diesen Gedanken wegen seines angeschlagenen Gesundheitszustandes nicht weiter, genauso wie Auerbach. 151 Gottfurcht kannte angeblich die jahrelangen Streitigkeiten nicht, lenkte aber nach einer Denkpause im Internierungslager ein, 152 und auf »Grund seiner Erfahrungen in der Illegalität teilte Gottfurcht die Argumente der Gewerkschaftsopposition um Auerbach und Eichler.« 153 Mit Gründung der Landesgruppe im Februar 1941 154 fanden die Kontrahenten endgültig einen modus vivendi, und Auerbach wurde Mitglied, Ende 1939 für ihn noch kaum vorstellbar. Damals hatte er Gottfurcht an seine Stellungnahme zur ADG erinnert und geschrieben, »dass ich das Auftreten dieses sicher sehr wohlmeinenden Zirkels emigrierter Gewerkschafter als - vielleicht anfangs unbewusste - Hochstapelei betrachte. Solange ich nicht weiss, dass Ihr ganz unabhängig von dieser Blufforganisation seid, kann ich Eurem Kreis nicht beitreten. Das ändert nichts daran, dass ich ausserordentlichen Wert darauf lege, mit Dir persönlich auch in der Zwischenzeit in Meinungs- und Materialaustausch zu bleiben.« 155 Nach seiner Ankunft in England war er der TGWU beigetreten, einer Mitgliedsgewerkschaft der ITF, 156 der Labour Party, der Fabian Society und

149 Auerbach an Fimmen, 10.6.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 37, AdsD). 150 Auerbach an Fimmen, 25.1.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 23, AdsD). 151 Auerbach: Notiz über Gespräch mit Fimmen, 13.1.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 81, AdsD). 152 Auerbach an Fimmen, 25.1.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 23, AdsD). 153 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 58. 154 Ebd., S. 59. 155 Auerbach an Gottfurcht, 10.11.1939 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 14, AdsD). 156 TGWU-Mitgliedsausweis, Eintrittsdatum 23.10.1939 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 1, AdsD). 135 wurde später berufen in die Union of Democratic Control, 157 zu deren Executive Committee der Friedensnobelpreisträger Norman Angell gehörte. 158

Das Projekt Trade Union Freedom League against the Swastika (League) ging auf eine Initiative Fimmens und Eichlers vom ISK zurück, das Sekretariat der League hatte Auerbach übernommen. Aber »What was planned as a co- operation between illegal groups inside Germany finally turned out to be co- operation in exile, as by 1940 ITF und ISK had lost the bulk of their contact points in Germany.« 159 Fimmens vordringliches Anliegen galt der Befreiung spanischer Bürgerkriegsflüchtlinge im besetzten Paris, 160 Auerbach sah die League vorrangig als Koordinationsstelle von Vertrauensleuten illegal operierender Gruppen in Nazi-Deutschland. Den Text des Flugblattes zum 1. Mai 1940 mit einem Appell an die deutschen Arbeiter, aktiven und passiven Widerstand zu leisten, 161 sendeten die BBC und Radio Straßburg. Die Besetzung west- und nordeuropäischer Staaten im Sommer 1940 und politische Differenzen mit Eichler beendeten die Aktivitäten des Gewerkschaftlichen Freiheitsbundes. 162

Vansittarts zunächst in der BBC gesendeten deutschlandpolitischen Thesen, von dem im englischen Exil weilenden Schriftsteller Heinrich Fraenkel als Vansittart’s Gift for Goebbels 163 apostrophiert, lösten nicht nur bei Auerbach, sondern auch in großen Kreisen des sozialistischen Exils und beim linken Flügel der Labour Party Empörung und Opposition aus. Genossen, die sich Vansittarts pauschaler Verurteilung der Deutschen anschlossen, verdammte der linke Labour Politiker Harold Laski 164 mit den Worten: »Nor did I expect to see leaders and officials of the Labour Party to the support of this grim campaign.« 165 In Teilen der Arbeiterbewegung, der Bevölkerung und unter Konservativen breitete sich

157 Auerbach an Bergstraesser, 12.5.46 (Anlage Lebenslauf) (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 61, AdsD). 158 The Union of Democratic Control an Auerbach, 9.3.1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 51, AdsD). 159 Buschak: Edo Fimmen and Willi Eichler, S. 207. 160 Ebd. 161 Der Gewerkschaftliche Freiheitsbund gegen das Hakenkreuz: Flugblatt an die Arbeiter Deutschlands, 9.4.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 81, AdsD). 162 Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 334 ff. 163 Fraenkel, Heinrich: Vansittart’s Gift for Goebbels. A German Exile’s Answer to Black Record, London 1941, Deckblatt (Fabian Society). 164 Harold J. Laski (1893-1950), Labour Party. »Political theorist and Professor of Political Science at the London School of Economics. His academic work combined with left- wing politics gave him considerable influence. … He was the archetypical scholar- politician and ‘red professor’«, in: Robbins (Hrsg.): The Blackwell Biographical Dictionary of British Political Life in the Twentieth Century, S. 254 f. 165 Laski in »Reynolds’«, 21.2.1942 (Paul Tofahrn Papers, 238/IT/3/1-49, MRC). 136

Vansittartismus hingegen gleichermaßen aus. 166 Paul Tofahrn zitierte in seinen Aufzeichnungen den Generalsekretär des TUC, Walter Citrine 167 : »A un autre moment de la discussion, Citrine disait: What does it matter if we frustrate a movement towards socialization in Germany? We want to be safe and we know that we cannot trust the Germans whoever they are.«168 Vansittarts Argumente implizierten eine frühe Kollektivschuldthese. Für ihn sah es so aus, als ob die Majorität des deutschen Volkes Hitlers Machtpolitik und dessen geistige Haltung unterstützte. »Aufgrund einer ‚systematischen Fehlerziehung seit 150 Jahren’ sei das deutsche Volk im Unterschied zu anderen Nationen ethisch und politisch nicht fortgeschritten, es habe sich im Gegenteil durch die Militarisierung der Volksseele in einen barbarischen Zustand zurückentwickelt.« 169

Eine nationalistische und militaristische Tradition unterstellte Vansittart auch der deutschen Arbeiterbewegung, beginnend bei bis hin zur Kapitulation der Gewerkschaften und der SPD-Reichstagsfraktion 1933. 170 In einem Essay stellte Laski die Frage The Germans - are they Human? 171 und antwortete unter anderem, »No temptation is more strong in wartime than to hate your enemy … And in this war, especially, the Germans have made the avoidance of hate peculiarly difficult.«172 Er fuhr fort, dass der Nationalcharakter eines Volkes nicht endgültig festgelegt und nicht unveränderbar sei und dass etwa die Briten im 17. Jahrhundert von den Franzosen als »a brutal and savage people, who spend their leisure in executing kings«173 betrachtet wurden. Diese französische Sichtweise änderte sich ein Jahrhundert später. Mit Bewunderung hieß es dann, die Briten seien »a great people who had discovered the secret of ordered freedom.« 174 Vansittarts konsequente Gegenposition zum Münchner Abkommen hingegen würdigte Auerbach ausdrücklich: »Sir Robert proved himself a man of character in those dark months which exposed the

166 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 159 f. 167 Walter Citrine (1897-1983). »Trade unionist and public servant. He was General Secretary of the TUC from 1926-1946 … Citrine had accepted a peerage in 1946, but it was only in the latter years that he played any significant part in the proceedings of the House of Lords«, in: Robbins (Hrsg.): The Blackwell Biographical Dictionary of British Political Life in the Twentieth Century, S. 102 f. 168 Tofahrn: Notiz, 6.5.1943 (Paul Tofahrn Papers, Personalia, 238/P/4/1-150, MRC). 169 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 144. 170 Zit. nach ebd. 171 Laski, Harold J.: The Germans - are they Human? A Reply to Sir Robert Vansittart, London 1941. 172 Ebd., S. 2. 173 Ebd. 174 Ebd. 137 feebleness of so many leading Tories.« 175 Vansittart bezog auch Position zum Massenmord an deutschen und osteuropäischen Juden. Vertreter von Exilregierungen in London hatten ihm darüber berichtet, und er »hegte im Unterschied etwa zum Foreign Office keinen Zweifel daran, dass die Berichte über die Verbrechen in Osteuropa der Wahrheit entsprachen.« 176 Eine Reaktion aus dem intellektuellen Exil um Auerbach auf Vansittarts Thesen war The Next Germany . A Basis of Discussion on Peace in Germany . Die vier Autoren hießen Hellmut von Rauschenplat, Otto Kahn-Freund, Kurt Mandelbaum 177 und Walter Auerbach.

Trotz vieler Kontakte zu Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und zu internationalen Exilkreisen blieb Auerbach weitgehend Außenseiter, privat lebten Auerbachs in Kempston und London »zurückgezogen, aber das war wohl eher eine Frage der Mentalität als der Emigration - meine Eltern haben auch später kein großes geselliges Leben geführt,« 178 meinte Lore Auerbach, und die Schwester ergänzte, wir befanden uns »in einem 4-Personen-Reagenzglas.« 179 Walter Auerbach betonte, in »Bedford habe ich … keinen Kontakt zu Emigrantenkreisen.« 180 Unter den deutschen Sozialisten und Sozialdemokraten fühlte er sich keiner Gruppierung zugehörig und machte das publik: »Ich möchte keiner Fraktion der sozialdemokratischen Bewegung beitreten.« 181 In den Protokollen der Mitgliederversammlungen der Union wurde Auerbach als »independent« 182 oder als »Gast« 183 geführt. Er warnte Hans Gottfurcht vor Praktiken der SOPADE-Fraktion, durch die Vereinnahmung der deutschen Gewerkschafter die eigene Position stärken zu wollen, und wies auf die Gefahr

175 Auerbach an Marchbank, 26.2.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 88, AdsD). 176 Später, Jörg: Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902-1945, Göttingen 2003, S. 437. 177 Dr. Kurt Mandelbaum, bis 1933 Wirtschaftsexperte des ADGB. Emigration nach England. »In der Programmdiskussion von Neu Beginnen und der übrigen linken Zwischengruppen … spielte er eine wichtige Rolle«, in: Hartmut Mehringer: Waldemar von Knoeringen. Eine politische Biographie. Der Weg vom revolutionärem Sozialismus zur sozialen Demokratie, München u.a. 1989, S. 452.[Genauere Daten sind nicht zu ermitteln.] 178 Lore Auerbach an Vf.in, 7.3.2002. 179 Irene Auerbach an Vf.in, 9.11.2002. 180 Auerbach an Lehmann-Russbueldt, 6.1.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 44, AdsD). 181 Auerbach an Vogel, 3.5.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 26, AdsD). 182 Eiber, Ludwig: Die Sozialdemokratie in der Emigration. Die »Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien« 1941-1946 und ihre Mitglieder, Bonn 1998, S. 321. 183 Ebd., S 401. 138 hin, »über kurz oder lang in den Krieg der Sekten hineingezogen [zu] werden.« 184 Themenzentrierte Mitarbeit bot er der SOPADE an und wirkte in der Landesgruppe bei den Programmentwürfen für die Nachkriegszeit mit. Die Londoner Zirkel von deutschen und englischen Intellektuellen fand Auerbach attraktiver.

Einer davon, der Arbeitskreis German Educational Reconstruction (GER), wurde im Herbst 1942 in London von Repräsentanten der britischen Erziehungsbehörden und deutschen Lehrern und Erwachsenenbildnern, die auf ihre Remigration unmittelbar nach dem Sturz der nationalsozialistischen Diktatur warteten, gegründet. 185 Andere Mitwirkende kamen von den Gewerkschaften, der katholischen und der Bekennenden Kirche und aus der Society of Friends (Quäker). 186 GER fühlte sich einerseits »durch ihre führenden Mitglieder einer sozialistischen Grundhaltung verpflichtet« 187 und wurde andererseits »als die einzige überparteiliche Organisation des [deutschen] Exils mit gesellschaftspolitischer Zielsetzung betrachtet.« 188 Wichtigste Persönlichkeit war die deutsche Reformpädagogin Minna Specht 189 aus dem Umfeld des ISK. In einem Weihnachtsgruß an Auerbachs anerkannte sie sein Engagement: »First when I met Walter he was a little bit reserved. Old ISK girl? But he has been helpful! Thank you, Walter!« 190 Walter Auerbach würdigte die Zusammenarbeit mit Minna Specht; für ihn »waren [es] mit die wichtigsten Gespräche, die in den langen Jahren in London überhaupt stattfanden.« 191

Gegen Kriegsende dehnte GER die vorwiegend theoretische Diskussion und Planung von Erwachsenenbildung und Umgestaltung des Unterrichtswesens an

184 Auerbach an Gottfurcht, 1.11.1939 (Kommentar zu »The German Trade Unions back the Socialdemocratic Party«, in: SOPADE-Broschüre »Firm our View, Firm our Aim«) (Bestand ITF, 159/3/C/a/81, MRC). 185 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 84 und Mehringer: Waldemar von Knoeringen, S. 251. 186 German Educational Reconstruction - Arbeitsgemeinschaft für deutsches Erziehungswesen - G.E.R. (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 125, AdsD). 187 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 85. 188 Ebd. 189 Dr. Minna Specht (1897-1961) zählte zum innersten Führungskreis des ISK und war Leiterin des von Leonard Nelson gegründeten Landerziehungsheims Walkemühle bei Kassel. 1933 Emigration nach Dänemark und 1938 nach Großbritannien. Weiterführung der Schule in beiden Ländern, in Wales bis zu ihrer Internierung im Jahr 1940 auf der Isle of Man. Maßgeblich beteiligt an der Vorbereitung und Gründung von German Educational Reconstruction (GER) im Juni 1943. Remigration. 1946- 1951 Leiterin der Odenwaldschule in Oberhambach. Tätigkeit für UNESCO, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 713. 190 Specht an Auerbachs, Weihnachten 1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 58, AdsD). 191 Auerbach an Erna Blencke, 29.9.1961 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 32, AdsD). 139 deutschen allgemeinbildenden Schulen auf die Umerziehung (Reeducation) 192 von deutschen Kriegsgefangenen aus. Verantwortlich dafür zeichnete auf britischer Seite das Political Intelligence Department (P.I.D.) im Foreign Office unter Heinz Koeppler. 193 P.I.D. organisisierte das Reeducation-Progamm mit etwa 80 Dozenten 194 zweigleisig. Die Camp-University Wilton Park besuchten zuerst deutsche Kriegsgefangene, zu Beginn des Jahres 1947 Zivilisten aus Deutschland und anderen Staaten auf dem Kontinent, unter Ihnen . 195 Die sechs- bis achtwöchigen Kurse beinhalteten Politik, deutsche und internationale Geschichte, Nationalökonomie und philosophisch- soziologische Grundfragen. Die Kriegsgefangenen unter den Absolventen wirkten in ihren Stammlagern als Multiplikatoren.196 Der bekannteste von ihnen war Karl Theodor Freiherr von und zu Guttenberg, später CSU-Abgeordneter im Deutschen Bundestag.

Walter Auerbach, vom P.I.D. um Mitwirkung am Reeducation-Programm für deutsche Kriegsgefangene gebeten, 197 dozierte in den Jahren 1945 bis kurz vor seiner Remigration im Herbst 1946 an zahllosen Wochenenden in oft entlegenen Camps vor jeweils vielen Hunderten Zuhörern. Manuskripte mussten dem P.I.D. zur Begutachtung im voraus eingereicht werden. Thematische Abweichungen und Eigeninitiative, so das Aufgreifen von Interessen der jeweiligen Auditorien, wurden nicht toleriert und schriftlich vom P.I.D. gerügt. Zu erstellen waren Erfahrungs- und Stimmungsberichte über die Rezeption der Vorlesungen und die anschließenden Diskussionen. Auerbach nutzte die Protokolle für Kritik an der zumeist mangelhaften Ausstattung lagerinterner Bibliotheken mit politischer Literatur und provozierte damit Korrespondenzen zwischen dem P.I.D. und Lagerkommandanten. 198 Ob das Honorar 199 den Zeitaufwand für Reisen,

192 Re-education ist die offizielle englische Schreibweise. In der deutschen Forschungsliteratur findet sich überwiegend die Schreibweise Reeducation, die in dieser Studie angewandt wird [außer in Zitaten]. 193 Dr. Heinz Koeppler, später Sir Henry Koeppler (1912-1979), 1933 Emigration nach England. Bis 1942 Dozent an verschiedenen Colleges. 1940-1945 Political Intelligence Department (P.I.D.) im Foreign Office, 1946-1977 Wilton Park (Direktor) sowie Vorlesungstätigkeiten an englischen und internationalen Universitäten, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 2 (1), S. 639 f. 194 Koeppler an Auerbach, 7.12.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 131, AdsD). 195 Dahrendorf, Ralf: Über Grenzen. Lebenserinnerungen, München 2002, S. 96 ff. 196 Stuiber, Irene: Die Initiatoren und Initiatorinnen von »German Educational Reconstruction.« Eine gruppenbiographische Skizze, in: Exil 18 (1998), Nr. 1, S. 53. 197 Koeppler an Auerbach, 25.5.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 55, AdsD). 198 NL W. Auerbach, Teil 1, Mappen 131 und 132, AdsD. 199 P.D.I. of the Foreign Office an Auerbach, 3.12.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 131, AdsD). 140

Vorbereitungen der Referate und Verfassen von Protokollen kompensierte, darf bezweifelt werden. Für Auerbach stand im Vordergrund seiner Bildungsarbeit, kritisches Denken und Bewusstsein für demokratische Grundwerte bei seiner Zuhörerschaft zu wecken und die Spuren jahrelanger Infiltration mit nationalsozialistischen Propagandamitteln durch Überzeugungsarbeit zu tilgen oder zumindest zu reflektieren.

Ein ausgewählter Kreis deutscher Kriegsgefangener mit Hörfunkerfahrungen aus nordafrikanischen Lagern wirkte an einer täglich nach Deutschland ausgestrahlten Sendung von fünfzehn Minuten, eingeleitet mit der Erkennungsmelodie »In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehen,« 200 mit. Im Lager Ascot, dem Vorläufer von Wilton Park, begann bereits im Sommer 1944 die Hörfunkserie Hier sprechen deutsche Kriegsgefangene . Der spätere Chefkommentator in Funk und Fernsehen der DDR, Karl-Eduard von Schnitzler, lernte sein Handwerk in Ascot, 201 nicht aber die in Ostberlin praktizierte Demagogie. Das Konzept der Beteiligung von Kriegsgefangenen an Hörfunkarbeit stand zunächst unter der Prämisse Feindpropaganda. Im Laufe der Zeit setzte Waldemar von Knoeringen ein mehr oder weniger eigenverantwortliches Vorbereiten der Sendungen durch. Es entstanden Texte zur nüchternen Aufklärung der deutschen Bevölkerung und der kämpfenden Truppen über die wahren Hintergründe des Krieges und Einschätzungen zur Aussichtslosigkeit der militärischen Lage. Kurze Features über Erlebnisse mit SS- und Gestapowillkür, Erfahrungen bei der Gefangenennahme und in den Lagern wurden thematisiert. 202

Das Medium Rundfunk nutzten die ITF, vertreten durch Walter Auerbach im beratenden Ausschuss der BBC, und das deutsche sozialistische Exil für Botschaften an die Industriearbeiterschaft im Deutschen Reich, genannt Arbeitersendungen. Nach dem Abschluss des Münchner Abkommens von 1938 hatte die BBC einen Deutschlanddienst installiert, doch zum politischen Exil der 1940er Jahre hielt sie weitgehend Distanz, und nach der Internierungsperiode schwand der geringe Einfluss einzelner Persönlichkeiten auf die Programmgestaltung. Der Deutschlanddienst entwickelte sich im Verlauf des

200 Winkel, Günter W.: Kriegsgefangene rufen die Heimat. Deutsche Soldaten im Londoner Rundfunk, Berlin 1948, S. 59 ff. 201 Schnitzler, Karl-Eduard von: »Ich galt als Verräter«, in: Verein EL-DE-Haus Köln (Hrsg.): Unter Vorbehalt, S. 187 f. 202 Mehringer: Waldemar von Knoeringen, S. 248 ff. 141

Krieges zu einem »forceful instrument of propaganda« 203 mit Sendezeiten bis zu fünf Stunden täglich. Zeitweilig existierte dieser Dienst parallel zu dem eigens zu Propagandazwecken vom P.I.D. auf Initiative von Linkssozialisten um Walter Auerbach und der Gruppe Neu Beginnen (NB) um Waldemar von Knoeringen etablierten Sender der Europäischen Revolution (SER). 204

Weitere Stationen, schwarze Sender, gründete Sefton Delmer,205 »the famous or infamous … former Daily Express Foreign Correspondent to Berlin … Delmer knew Hitler and other Nazi bigwigs personally, and he decided on a crude style.«206 Berühmt im Rahmen der deutschlandpolitischen Sendungen wurden Thomas Manns Rundfunkkommentare, als Schallplattenaufnahmen aus den USA eingeflogen. 207 Thomas Mann sah sich als den wahren Repräsentanten des anderen Deutschlands und übersah bewusst oder unbewusst die Existenz des politischen Exils mit seiner Widerstandsarbeit. Seine Worte »Wo ich bin, da ist Deutschland« provozierten Emigranten und Hitler gleichermaßen. Anspielend auf die BBC-Sendungen beschuldigte Hitler Mann bei einer öffentlichen Veranstaltung in München, »das deutsche Volk gegen ihn und sein System aufzuwiegeln.« 208 Die bedeutendste Gallionsfigur der deutschsprachigen jüdischen Emigration war Albert Einstein, der der politischen Emigration mit seinem pazifistischen Denkansatz nahestand, im Kampf gegen das Dritte Reich aber den Militäreinsatz der Alliierten befürwortete.

Auerbach hörte deutsche, niederländische und britische Nachrichtensendungen, ein weiterer ITF-Mitarbeiter tschechische und polnische Beiträge. Beide nutzten die Informationen als Hintergrundmaterial für ihre publizistische Tätigkeit. Als aufgrund der Aliens (Wireless Apparatus Restriction) Order, 1940, Radioapparate konfisziert werden sollten, intervenierten Auerbachs Freunde, die Labour Politiker

203 Brinson, Charmian und Richard Dove (Hrsg.): »Stimme der Wahrheit«. German Language Broadcasting by the BBC, Amsterdam/New York 2003, S. IX f. 204 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 184 ff. 205 Sefton Delmer (1904-1979). In »Berlin geboren und aufgewachsen; 1914 wurde die Familie interniert und 1917 im Austausch nach England abgeschoben. 1928 kehrte Delmer als Zeitungskorrespondent nach Berlin zurück, durfte Hitler auf dessen Wahlkampfreisen begleiten und war einer der ersten Auslandsjournalisten, dem Hitler nach der Machtübernahme ein großes Interview gab … 1934 wegen kritischer Reportagen über die Morde im Zusammenhang mit dem sogenannten Röhm-Putsch aus Deutschland ausgewiesen. 1939 Kriegsberichterstatter in Polen und Frankreich«, in: Mehringer: Waldemar von Knoeringen, S. 453. 206 Starkmann, Alfred: Changing the Guard: The Transition from Emigrés to Recruits on the Staff of the BBC’s German Service, in: Brinson und Dove (Hrsg.): ‘Stimme der Wahrheit’. German Language Broadcasting by the BBC, S. 189. 207 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 182 ff. 208 Zit. nach Hans Bürgin (Hrsg.): Thomas Mann. Politische Schriften und Reden, Bd. 3, Frankfurt/M./Hamburg 1968, S. 186. 142

Patrick Gordon-Walker, 209 verantwortlich für die Arbeitersendungen des BBC- Europadienstes, 210 und Hugh Dalton 211 erfolgreich im Home Office. 212 Nur wenigen enemy aliens gestatteten die Behörden das Abhören von Radiosendungen. Wichtige Meldungen deutscher, englischer und anderer Rundfunkstationen publizierte Auerbach als Anhang in Faschismus .213

Die deutsche Sprache galt in England und anderen Exilländern als die Sprache des Feindes und war nur für den privaten Bereich reserviert. Der Vater der Lyrikerin Hilde Domin »sprach nur englisch auf der Straße, wie es [gleichfalls] von allen Emigranten erwartet wurde.« 214 Das kannte auch Arnold Paucker 215 : »By the time of mass arrival in the late thirties, the newcomers were strongly advised not to speak German in the street.«216 Paucker emigrierte zunächst im Jahr 1933 nach Palästina, und dort war die deutsche Sprache ebenfalls verpönt, bei der britischen Mandatsmacht wie auch bei der etablierten jüdischen Gesellschaft. Die Führung des Jischuv hatte eine starke Prägung durch das Ostjudentum der zweiten Alijah der Jahre 1904 bis 1914 erfahren. Für viele Juden aus Mitteleuropa zählte Palästina nicht zu den Ländern ihrer Wahl. Sie kamen als Einwanderer wider Willen, als Flüchtlinge, nicht als Zionisten und

209 Patrick Gordon-Walker (1907-1980), Labour Party. 1945 House of Commons, 1947- 1950 Under-Secretary, 1950-1951 Secretary of State for Commonwealth Relations, 1964-1965 Secretary of State for Foreign Affairs, 1967-1968 Secretary of State for Education and Science. »His wartime service was spent in British and allied broadcasting, he eventually returned from radio Luxembourg to become director of the BBC’s German service«, in: Robbins (Hrsg.): The Blackwell Biographical Dictionary of British Political Life in the Twentieth Century, S. 169 f. 210 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 176. 211 Hugh Dalton (1887-1962), Labour Party. 1924-1959 House of Commons, 1940-1942 Minister of Economic Warfare (with responsibility for the Special Operations Executive), 1942-1945 President of the Board of Trade, 1945-1947 Chancellor of the Exchequer, 1948-1950 Chancellor of the Duchy of Lancaster, 1950-1951 Minister of Town and Country Planning, 1951 Minister of Local Government and Planning, in: Robbins (Hrsg.): The Blackwell Biographical Dictionary of British Political Life in the Twentieth Century, S. 118 ff. 212 ITF an Aliens Registration Officer, Kempston, 8.6.1940; Home Office Whitehall an Auerbach, 12.8.1940; Auerbach an Gordon-Walker, 16.8.1940 und Ministry of Economic Warfare an Auerbach, 16.8.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappen 19 und 20, AdsD). 213 ITF (Hrsg.): Faschismus 8-13 (1940-1945). Exempel: Rede des Sekretärs des Internationalen Büros des britischen Transportarbeiterverbandes, John Price, über den britischen Gewerkschaftskongress vom Oktober 1940, in: ITF (Hrsg.): Faschismus 8 (1940), Nr. 20, S. 151 f. 214 Domin: Von der Natur nicht vorgesehen, S. 15. 215 Arnold Paucker, geb. 1921 in Berlin, 1936 Emigration nach Palästina, 1941 Eintritt in die Britische Armee. Nach Kriegsende Florenz, 1950 England. Dort Universitätsstudium. 1959-2002 Direktor des Leo-Baeck-Instituts London, in: Alter (Hrsg.): Out of the Third Reich, S. 177 ff. 216 Paucker, Arnold: Speaking English with an Accent, in: Charmian Brinson/Richard Dove/Marian Malet/Jennifer Taylor (Hrsg.): »England? Aber wo liegt es?« Deutsche und österreichische Emigranten in Großbritannien 1933-1945, München 1996, S. 25. 143 wurden häufig als Hitler-Zionisten bezeichnet. 217 David Ben Gurion formulierte es spöttisch so: »Hitler tauchte auf, und die Juden begannen herzukommen.« 218

Kinder deutscher Exilanten wuchsen zweisprachig auf. Lore Auerbach verfügt über zwei Muttersprachen, wie sie es nannte. 219 Das bedeutete auch, Wanderer zwischen zwei Welten zu sein und über eine gespaltene oder multiple Identität zu verfügen. Irene Auerbach erinnerte sich nach fast 60 Jahren lebhaft an ihr »Unbehagen, als wir in Lemgo ankamen und auf einmal die ganze Umwelt unsere Privatsprache sprach.« 220 Und ihre Schwester Lore betonte: »Beide Eltern [die Mutter Anglistin], sehr sprachbewusst, legten Wert darauf, dass zu Hause gutes Deutsch gesprochen wurde. Allerdings habe ich nur Umgangssprache gelernt.« 221 In ihrem Tagebuch vermerkte Käte Auerbach über Tochter Lore: »Ihr Deutsch ist holprig; wenn sie von der Schule erzählt, merkt man richtig, wie sie in Gedanken ins Deutsche übersetzt.« 222 Ein weiterer Eintrag lautete: »Sie hat das Terzexamen in Englisch und Rechnen mit der besten Note bestanden. Die Englischlehrerin meinte, die Leistung wäre für eine Engländerin sehr gut, für eine Ausländerin ausgezeichnet.« 223

Stefanie Zweig, 1938 mit den deutsch-jüdischen Eltern als Fünfjährige nach Kenia emigriert, schilderte in ihren autobiographischen Bestsellern 224 ihren Schulalltag in einer englischen Boarding School. Die herausragenden Leistungen vieler refugees lösten bei Lehrern und Schulleitung, anders als bei den Eltern, Ablehnung und immer wieder kritische Fragen aus: »Kannst du es einfach nicht aushalten, wenn du nicht die Erste in deiner Klasse bist?« 225 Der Direktor der englischen Boarding School beendete für sich das Problem mit dem Gedanken: »Die verdammten kleinen Refugees … hatten für englische Maßstäbe einen geradezu absurden Ehrgeiz.« 226

Walter Auerbach korrespondierte teilweise auch mit Kollegen und Genossen aus Deutschland in englischer Sprache. Tochter Lore urteilte: »Ich fand bei der

217 Segev, Tom: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 51. 218 Zit. nach ebd. 219 Lore Auerbach an Vf.in, 7.3.2002. 220 Irene Auerbach an Vf.in, 7.7.2003. 221 Lore Auerbach an Vf.in, 7.3.2002. 222 Dies.: Käte Auerbach: Tagebuch, 14.9.1944. 223 Ebd., 29.11.1944. 224 Zweig, Stefanie: Nirgendwo in Afrika, München 200112 und Irgendwo in Deutschland, München 1998. 225 Zweig: Nirgendwo in Afrika, S. 101. 226 Ebd., S. 93. 144

Lektüre der von Ihnen geschickten englischen Briefe meines Vaters auch, dass er ein erlesenes, etwas steifes Englisch schrieb, ganz im Gegensatz zu seiner Aussprache mit einem ganz dicken deutschen Akzent.« 227 Die vergeblichen Anstrengungen von Ehefrau und Töchtern, diesen Akzent zu verbessern, belächelte er selbstkritisch in einem Brief in niederländischer Sprache an seinen Freund Arie Treurniet. 228 »De kinderen zijn nu alle op school en helpen Kaete, mijn engelse uitspraak te verbeteren.«229 In einem autobiographischen Aufsatz bezeichnete Arnold Paucker Speaking English with an Accent als eine »metaphor for exile itself.« 230 Kinder und Jugendliche nahm er von dieser These aus. »It would seem that fourteen or fifteen or so is the cut-off age to speak a new language without an accent, unless one is specially gifted.« 231 Er fuhr fort: »But once in the country of exile, their speeches marked them out. Although they were an educated group, however quickly they mastered the new language, however large the vocabulary they used, their English remained foreign, like that of their Gentile compatriots: English with an accent.« 232

Emigrantengezänk war bereits ein Phänomen des deutschen politischen Exils in London nach der missglückten Revolution von 1848/1849. Die Emigrantenszene jener Zeit beschrieb Johanna Kinkel in ihrem Roman Hans Ibeles in London; und Ulrike Helmer griff in einem Nachwort zur Neuauflage über hundert Jahre später einige der Persönlichkeiten und deren Feindseligkeiten untereinander heraus: »Auch Wilhelm Liebknecht, Ferdinand Freiligrath, Arnold Ruge, Carl Schurz gingen ins englische Exil und setzten die politischen Kämpfe mit anderen Mitteln - bevorzugt gegeneinander - fort. Damals war Gottfried Kinkel einer der populärsten deutschen Emigranten, während der heute wohl bekannteste, Karl Marx, 233 das Treiben der beiden feindlichen Exilzirkel um Kinkel und Ruge ab 1850/51 nur noch vom Schreibtisch im British Museum aus mit spitzigen

227 Lore Auerbach an Vf.in, 11.10.2002. 228 Arie Treurniet (1903-1992), Freund Auerbachs aus Studientagen und späterer Kollege im Generalsekretariat der ITF in Amsterdam. Er führte das dortige ITF-Büro nach der Übersiedlung des Generalsekretariats nach England weiter und wurde nach dem Einmarsch der deutschen Truppen verhaftet, vor Gericht gestellt und 1945 aus dem Konzentrationslager Buchenwald befreit. (IISG an Vf.in, 13.3.2006). 229 Auerbach an Treurniet, 10.6.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 37, AdsD). 230 Paucker: Speaking English with an Accent, S. 21. 231 Ebd. 232 Ebd., S. 22. 233 Marx, Karl: Skizzen über die deutsche kleinbürgerliche Emigration, S. 86 ff. Die großen Männer des Exils, S. 219 ff., in: Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (Hrsg.): Karl Marx und Friedrich Engels: Gesamtausgabe (Mega), Erste Abteilung, Bd. 11, Berlin 1985. 145

Kommentaren versah.« 234 Die Worte Alexander Herzens 235 , eines weiteren kritischen Beobachters des seinerzeitigen Schauplatzes, trafen auf die innere Zerrissenheit des politischen Exils der 1940er Jahre zu: »Die deutsche Emigration unterschied sich von den anderen durch ihren schwerfälligen, langweiligen und zänkischen Charakter. Es gab bei ihr keine Enthusiasten wie bei den Italienern, es gab weder Hitzköpfe noch rasche Zungen wie bei den Franzosen. Die anderen Emigrationsgruppen zeigten wenig Neigung, mit ihnen in nähere Beziehungen zu treten … Innerhalb der deutschen Emigration herrschte dieselbe Zerfallenheit wie in ihrer Heimat. Einen gemeinsamen Plan hatten die Deutschen nicht, ihre Einheit wurde aufrechterhalten durch gegenseitigen Haß und boshafte gegenseitige Verfolgung.« 236 Umso erstaunlicher mutet es an, dass jene von Herzen verspotteten Deutschen im 19. Jahrhundert »das Interesse der Briten an deutscher Sprache, Literatur, Kultur und Geschichte [weckten und verstärkten]. Sie befruchteten Wissenschaft und Kunst, sie gründeten Wirtschaftsunternehmen. Sie schrieben über Politik, Gesellschaft und Kulturleben in Großbritannien und trugen so dazu bei, das Bild der Deutschen von ihrem Nachbarland zu differenzieren.« 237 Die Zäsur durch den Ersten Weltkrieg machte »der Existenz und der eigenständigen Identität der deutschen und deutschstämmigen Bevölkerung in Großbritannien ein Ende.« 238 Die Hitler- Flüchtlinge bewirkten ein »Revival« der britisch-deutschen Interaktion, »vielleicht nur gründlicher, erfolgreicher und in seiner Wirkung anhaltender.« 239

Edo Fimmen erlebte die deutsche politische Emigration knapp ein Jahrhundert nach Alexander Herzen ähnlich kritisch: »Seit sechs Jahren schlage ich mich mit dieser Emigrantenbande herum, aber jeder muss - und kommt nicht davon ab - seinen eigenen kleinen Laden aufmachen und den kleinen Konkurrenzladen, den ein anderer aufgemacht hat, bekämpfen, wobei dann behauptet wird, alle wären Antifaschisten und es ginge gegen Hitler. In Wirklichkeit wird weniger gegen

234 Kinkel, Johanna: Hans Ibeles in London. Ein Roman aus dem Flüchtlingsleben, Ulrike Helmer (Hrsg.), Nachdruck Frankfurt/M. 1991 (Originalausgabe Stuttgart 1860 – post mortem), S. 386 (Nachwort Helmer). 235 Alexander Herzen (1812-1870), uneheliches Kind des russischen Fürsten Jakowlew und der deutschen Luise Haag aus Stuttgart. Er wuchs im Hause seines Vaters auf, schloss sich als Student revolutionären Kreisen an und wurde zeitweilig nach Sibirien verbannt. Ab 1852 lebte er in London, in: Gertrud Meyer-Hepner: Malwida von Meysenbug, Berlin/Leipzig o.J., S. 33 ff. 236 Reißner, Eberhard (Hrsg.): Alexander Herzen: Mein Leben. Memoiren und Reflexionen 1852-1868, Bd. 3., Berlin 1962, S. 190 f. 237 Alter, Peter und Rudolf Muhs (Hrsg.): Exilanten und andere Deutsche in Fontanes London, Stuttgart 1996, S. 4. 238 Ebd. 239 Ebd. 146

Hitler und seine Bande gekämpft, als untereinander.« 240 War Emigrantengezänk ein Ausdruck der psychischen Ausnahmesituation von Menschen auf der Flucht, von Hoffnungslosigkeit? Fimmens Geburtstag 1942, es war sein letzter, veranlasste Auerbach zu Reflektionen über das Exil: »Man findet haeufiger bei Emigranten, die den inneren Kontakt mit der Wirklichkeit unter dem Terror verloren haben, eine Neigung zu Unterschaetzung der Bedeutung der demokratischen Freiheiten.« 241

4.2 Walter Auerbach und die ITF

Seit der Invasion der Niederlande und Frankreichs pendelte Walter Auerbach bis zum endgültigen Umzug nach London im Jahr 1943 jeden Mittwoch und Freitag zwischen Crossland Fosse, der idyllisch gelegenen Residenz der ITF in Kempston, und der Metropole London hin und her 242 »for the purpose of consulting and collecting material for our publication ‚Fascism’ and for radio talks.«243 Durch die Ereignisse auf dem Kontinent im Frühsommer 1940 sah er sich, so erläuterte er dem amtierenden Generalsekretär Oldenbroek, abgeschnitten vom bisherigen Informationsfluss, »since the … amount of papers and documents to be looked through in London has risen so much that very often it is impossible to finish even in 2 days. The work in London is, as you know, not only looking through daily papers, mostly 150 to 180 a week, and through documents and periodicals. It is necessary to check figures, quotations and reports in libraries and to have permanent contact with the trade unionists and socialists of the continental countries engaged in research and propaganda work and with the British and Allied authorities without their help most of the papers would be inaccessible.« 244 Die Schattenseite dieser Recherche lag in der insgesamt sechs- bis siebenstündigen Hin- und Rückfahrt. 245

240 Fimmen an Weigl, 29.11.1939 (Bestand ITF, 159/6/24, MRC) und Auerbach: Notiz, 13.1.1940, über ein Gespräch mit Fimmen u.a. über die Bedeutung der Emigrantenarbeit (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 81, AdsD). 241 Auerbach an Fimmen, 10.6.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 37, AdsD). 242 Auerbach an The Home Secretary, The Home Office, 19.12.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1 Mappe 20, AdsD). 243 Ebd. 244 Auerbach: To the attention of Mr. Oldenbroek, 6.10.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 82, AdsD). 245 Auerbach an The Home Secretary, The Home Office, 19.12.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 20, AdsD). 147

Neben dieser publizistischen Tätigkeit kooperierte Auerbach mit dem amerikanischen Geheimdienst OSS auf dem Gebiet der psychologischen Kriegführung und des Nachrichtenaustausches. Er hoffte vergeblich, dass »with the same determination the Nazis show in their efforts to make Holland a stronghold of their influence, we must strive to make it a centre of resistance, a Czechoslovakia on the North Sea.« 246 Oldenbroek, Jahn und Auerbach, die drei in Geheimdienstaktivitäten involvierten Mitarbeiter der ITF, wurden indirekt aktive Kriegsteilnehmer. »From the beginning, the ITF wholeheartedly supported the allied war effort but at the same time it expressed the opinion that it was retaining its full independence and maintaining its right to criticise and to express its own views with regard to ‘the building of a new world,’ which apart from safeguarding world peace and collective security, must guarantee social security, democratic institutions and, in particular, the free right of coalition and international association.« 247

Die ITF hatte nach dem phoney war die Büros auf dem Kontinent aufgelöst, in Amsterdam allerdings nicht rechtzeitig genug, um den dortigen Verantwortlichen Arie Treurniet vor Verhaftung und Konzentrationslager zu retten. Die Kollegen der Pariser Zentrale unter Paul Tofahrn 248 wurden in das Generalsekretariat in Kempston integriert. Und Auerbach, inzwischen vom free lance journalist für Faschismus zum hauptamtlichen ITF-Mitarbeiter avanciert, sah sich plötzlich konfrontiert mit einem permanenten Kritiker, mit Paul Tofahrn. Der Diskurs über Redaktionsbeiträge in Faschismus wurde in Form von Gesprächen, Aktennotizen und Briefen vehement ausgetragen. Neben diesen inhaltlichen Divergenzen standen hinter den Aggressionen der Kontrahenten die unterschiedlichen Interpretationen von Vansittarts Thesen zu Deutschland und zum deutschen Volkscharakter und das Engagement des Belgiers Tofahrn im Komitee »Fight for Freedom« (FFF), das wesentliche Teile von Vansittarts Dogmen bejahte. Auerbach hingegen zählte zu den entschiedenen Anti-Vansittartisten.

246 Auerbach an Price (International Department, Transport & General Workers Union), 25.7.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 20, AdsD). 247 Reinalda: The ITF as International Trade Union Body during World War Two, in: Ders.: ITF. The Edo Fimmen Era, S. 219. 248 Paul Tofahrn (1901-1979), »Tofahrn … had a lifetime’s involvement with the Belgian, European und international labour movement. He was successively an officer of the Belgian Railwaymen’s Union, the International Transportworkers Federation, The Food Workers’ International, the Belgian Labour Party, and the ITF again in 1939, becoming Assistant General Secretary …Tofahrn resided in England from 1940.« (Paul Tofahrn Papers, 238, Finding Aid, MRC). 148

Beide hinterließen persönliche Aufzeichnungen. Auerbach schrieb gelegentlich seine Reflexionen auf lose Zettel, sein Gegenspieler Tofahrn ebenfalls, führte aber auch intensiv Tagebuch über familiäre Dinge und Literatur, er philosophierte über Krieg und Nachkriegszeit und brachte seine politischen Visionen zu Papier. 249 Als Protegé von Fimmen und Freund von Oldenbroek agierte Auerbach bislang völlig autonom. Fimmen, dessen Gesundheitszustand sich kontinuierlich verschlechterte, zwang ihn, kaum in England angekommen, zum Rückzug auf Raten aus der Verantwortung. Er lebte weit über ein Jahr als Rekonvaleszent in Mexiko in der Erwartung, die klimatischen Bedingungen könnten seine alte Vitalität wiederherstellen. Fimmen verstarb dort im Dezember 1942. Tofahrn lamentierte in langen Briefen an Fimmen über die politische Verödung im Generalsekretariat, unterstellte zu Recht Oldenbroek Ambitionen auf die Nachfolge und sah sich selbst als den wahren Sachwalter Fimmens. Er erwartete Entscheidungen über ein neues Machtgefüge und suggerierte als ersten Schritt: »Sie delegieren Ihre Autorität auf Hans Jahn.« 250 Tofahrn wusste, dass Jahn unmittelbar nach Kriegsende nach Deutschland zurückgehen und langfristig keine Rivalität provozieren würde.

Harold Lewis schreibt zur Kontroverse zwischen Auerbach und Tofahrn: »I knew nothing about Auerbach as a person, whereas I knew Tofahrn quite well when he was alive - and feel I know him even better after reading a lot of his archive. He loved to write and had a very active curiosity about all kinds of political and philosophical theories and practices. Those were the possible Gemeinsamkeiten I had in mind, but I did not know that Auerbach was as close to Oldenbroek as you now tell me he was. Tofahrn and Oldenbroek, by contrast, had a very bad relationship, both personally and professionally, and Tofahrn would have been likely to see Oldenbroek’s friends as his (Tofahrn’s) enemies. Tofahrn always found it very difficult to accept the authority of anyone over him (his relationship later with Becu was really terrible). He tried to stop Oldenbroek from becoming Acting General Secretary of the ITF in 1942 after Fimmen had died … Tofahrn’s big supporter in his fights with Oldenbroek and Becu was the ITF’s research officer, Max Zwalf.« 251 Beide galten im ITF-Generalsekretariat als egg-heads .252 Sigrid Koch-Baumgarten griff ebenfalls die bereits zu Fimmens Lebzeiten von

249 Paul Tofahrn Papers, 238/P/4/1-50, Diaries, MRC. 250 Tofahrn an Fimmen, 27.11.1942 (Paul Tofahrn Papers, 238/IT/9/1, MRC), zit. nach Buschak: Edo Fimmen. Der schöne Traum von Europa und die Globalisierung, S. 272. 251 Lewis an die Vf.in, 6.8.2002. 252 Lewis: ITF 1945-1965, S. 75. 149

Tofahrn initiierte Kontroverse um die Nachfolge auf und schrieb: »Oldenbroek lacked Fimmen’s charisma and political and socialist vigour. He was a pragmatist who, in the view of other left-wing socialists employees in the ITF secretariat, Tofahrn and Max Zwalf 253 , lacked vision and paramount political goals.« 254

In das Lager der left-wing socialists gehörte zweifelsfrei Walter Auerbach. Seine politischen Visionen und Ideale glichen jenen Tofahrns, nicht aber denen Oldenbroeks. Doch die Kriegsjahre erforderten pragmatisches Handeln von den Akteuren, Visionen hatten da wenig Raum. Fimmen hatte das längst erkannt und in seine strategischen Überlegungen einbezogen. Er setzte auf Oldenbroek, und Auerbach bewies Loyalität gegenüber Fimmen und Oldenbroek. Noch zwei Jahrzehnte später ersuchte Auerbach seine Frau im Abschiedsbrief, »bitte schreibe einen letzten Gruss von mir an Jaapi Oldenbroek, Omer Becu, Willi Eichler und John Hynd 255 . Sie haben das tätige Durchstehen jener Jahre [der Emigration] möglich gemacht.« 256

Eine unbedeutende Begebenheit, ein Gespräch unter den Kollegen Tofahrn, Zwalf und Auerbach in Crossland Fosse über die Unzuverlässigkeit des Postwegs zwischen dem englischen und New Yorker Büro der ITF, spiegelte Tofahrns wiederholte Versuche, räumliche Distanz zwischen Oldenbroek und Auerbach zu schaffen. Die scherzhafte Frage Zwalfs: »Kannst du nicht eigentlich ‚Fasch.’ in N.-Y. [New York] machen?«257 ergänzte Tofahrn: »Ganz ernsthaft, könntest du das nicht wirklich von N.-Y. aus besser machen?« 258 Und im Juni 1942 notierte Tofahrn: »It was agreed that office facilities be acquired in London … and that the editor of ‘Fascism’ be transferred to London.« 259 Zwei Monate später, in der Zwischenzeit waren Räumlichkeiten angemietet worden, meinte Tofahrn: »Mr. Auerbach should be attached to the London office in order to

253 Max Zwalf (1901-1954), 1923-1930 Bibliothekar und Archivar bei der Association of Social-Democratic City and County Councillors, seit 1931 wissenschaftlicher Mitarbeiter der ITF in Amsterdam, 1939 Übersiedlung mit dem ITF-Generalsekretariat nach England, in: Bertus Mulder: Max Zwalf (1901-1954) and his Vision on Post-War European Transport, in: Reinalda (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 241. 254 Koch-Baumgarten: Edo Fimmen - Iron Fist in a Silken Glove, in: Reinalda (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 66. 255 John Hynd (1902-1971), Labour Party Politiker. 1944 Mitglied des House of Commons (durch eine Nachwahl), 1945-1947 Minister für die britisch besetzte Zone Deutschlands, in: Joyce M. Bellamy und John Saville (Hrsg.): Dictionary of Labour Biography, Bd. 10, London 2000, S. 100 f. 256 Privatsammlung Lore Auerbach: Auerbach: Abschiedsbrief, 30.12.1961. 257 Auerbach: Handschriftliche Notizen zu den Schwierigkeiten mit Tofahrn, 17.11.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 82, AdsD). 258 Ebd. 259 Tofahrn: Handschriftliche Notizen, 8.6.1942 (Paul Tofahrn Papers, 238/IT/3/128, MRC). 150 reduce travelling expense and time spent in travelling.« 260 Geplant war eine kleine Dependence zur Betreuung von Seeleuten der Handelsmarine, nicht aber ein auf Auerbach zugeschnittenes Büro.

Noch im Oktober 1941 galt Tofahrns Interesse der Reduzierung von Auerbachs Fahrten nach London, denn Tofahrn »wanted to cut down the collaboration with the BBC as much as possible; he could not regard letters concerning Labour broadcasts as an ITF matter« 261 entgegen den Ambitionen Oldenbroeks und Auerbachs, die das Medium Rundfunk für Propagandazwecke exzessiv nutzten. »One of the first tasks Mr. Fimmen and you gave me after arriving in this country had been to make proposals for an improvement of the Labour broadcasts to Germany; a great part of these proposals have been accepted … With your consent I worked later in the small committee for Labour propaganda to Germany … This committee has finished its job in the meantime. But a permanent collaboration remained, one of the results of it being that the ITF is the Labour organisation by far the most mentioned in broadcasts to European countries.« 262

In der Einkommenshierarchie besetzte Oldenbroek die Spitze, gefolgt von Tofahrn und Zwalf. Im Jahr 1943 wurde Auerbachs Jahreseinkommen an das von Zwalf angeglichen. Aus dieser Hierarchie leitete Tofahrn offensichtlich seine an Zensur grenzende, oft verletzende Kritik an Artikeln in Faschismus ab. Inzwischen arbeitete und lebte Auerbach in London und reiste nur für die Schlussredaktion der vierzehntägig erscheinenden Publikation nach Kempston. Auseinandersetzungen über einzelne Artikel wurden nunmehr zumeist schriftlich ausgetragen. So ärgerte sich Auerbach, »dass Du [Tofahrn] Kollegen Santley eine mit Blaustift verzierte deutsche Ausgabe sandtest, ohne mit mir in Crossland Fosse gestern auch nur ein Wort ueber diese Angelegenheit zu wechseln … Lass mich mit der sehr dringenden Bitte beginnen, kuenftig Kuerzungsvorschlaege mit mir zu besprechen oder ueber mich zu leiten. Ohne hellseherische Gaben koennte ich keine durch derartige Streichungen arrangierten Luecken durch neuere Berichte ersetzen und damit weisse Zensurluecken vermeiden … wie Du weisst, bin ich fuer jede beratende Hilfe beim Abwaegen von Grenzfaellen sehr dankbar. Doch Blaustift-Diktate sind keine Hilfe.« 263 Auerbach verwies auch auf textliche Umstilisierungen, die ihm bis

260 Ebd., 8.8.1942. 261 Auerbach: To the attention of Mr. Oldenbroek, 6.10.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 82, AdsD). 262 Ebd. 263 Auerbach an Tofahrn, 17.6.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 46, AdsD). 151 auf einige wenige nicht einsichtig erschienen. In seiner Stellungnahme zu einem Streichungsvorschlag Tofahrns konterte er, dass »ich mit der Einschaetzung der Bedeutung dieses Berichts [Limit of speed-up] nicht allein stehe, zeigt mir unter anderm, dass der Reuter Labour-Dienst ihn in einer ausfuerlichen Wiedergabe fuer England, Asien, Afrika und Australien (Amerika ist ihm von uns gesperrt worden) durchgegeben hat.« 264

Harold Lewis’ knappe Charakterisierung des Assistant General Secretary Paul Tofahrn lautete: »all talk and no action,«265 also der absolute Gegenpol zu Walter Auerbach. Die Herausforderung durch die Publikation Faschismus , »this well informed journal,« 266 so arbeitsintensiv sie auch gewesen sein mag, machte seit der Emigration nach England nur eine von zahllosen zum Teil selbst gestellten Aufgaben aus. Seit Beginn des Jahres 1940 gehörten Linkssozialisten, SOPADE-Vertreter und Unabhängige dem nach dem Sekretär des International Departments der Labour Party, William Gillies, benannten Ausschuss an, einem Beratergremium für antifaschistische Kampagnen unter der Leitung des Arbeitsrechtlers Otto Kahn-Freund und der Publizistin Charlotte Lütgens. 267 Zu jenem Zeitpunkt existierte in England noch keine offizielle zentrale Propagandainstitution. 268 »Aufgrund der guten Informationsquellen der ITF und fachlichen Qualifikation Auerbachs als Redakteur von Faschismus legte Gillies auf dessen Mitarbeit größten Wert.« 269

Im Dezember 1939 schrieb Auerbach in einem Bericht an die ITF: »Mit dieser Sitzung [des Gillies-Ausschusses] ist der Anspruch der Sopade auf alleinige Vertretung der Deutschen von der Labourparty zum ersten Mal zurückgewiesen worden.« 270 Parallel zum Gillies-Ausschuss entstand im Sommer 1940 auf Initiative Auerbachs und seines Freundes Richard Crossman 271 ein weiteres Komitee mit Repräsentanten aus Labour Party, TUC und Emigrantenzirkeln mit

264 Auerbach an Tofahrn, 1.6.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 46, AdsD). 265 Lewis: ITF 1945-1965, S. 76. 266 Reinalda: The ITF as a Trade Union Body during World War Two, in: Ders. (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 219. 267 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 140 ff. 268 Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 336. 269 Ebd. 270 Auerbach: London, 14./15.12.1939 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 80, AdsD). 271 Richard Crossman (1907-1974), »Journalist, diarist and senior Labour politician. He held high office in the Labour governments of the 1960s. He is remembered, however, less for his ministerial record than for the publication of his voluminous diaries, which provided a unique insight into the operations of contemporary British government … In 1966 he was promoted to become Lord President of the Council and Leader of the House of Commons«, in: Robbins (Hrsg.): The Blackwell Biographical Dictionary of British Political Life in the Twentieth Century, S. 112 f. 152 der Maßgabe, Vorschläge für die Gestaltung von Rundfunksendungen zum Kontinent und für antifaschistische Propaganda auszuarbeiten. Dieses Gremium wie auch der Gillies-Ausschuss und das Fimmen-Projekt Trade Union Freedom League against the Swastika (League) [Gewerkschaftlicher Freiheitsbund gegen das Hakenkreuz] scheiterten an Kompetenzstreitigkeiten und persönlichen Querelen. Die thematische und inhaltliche Ausgestaltung der Arbeitsgrundlagen für die psychologische Kriegführung verdankten all diese und andere Gremien weitgehend Auerbachs Recherche und seinen Informanten auf dem Kontinent und in Schweden. Die erhebliche Mehrarbeit im Kontext mit der League führte Auerbach darauf zurück, dass »Arbeiten, die bisher von Freunden in neutralen Ländern oder im Reich gemacht wurden, jetzt in England erledigt werden müssen. Ich habe mich deshalb mit einigem Erfolg darum bemüht, in London lebende Gewerkschafter und Sozialisten von Fall zu Fall zur Mitarbeit an den für die Inlandsarbeit wichtigeren Aufgaben zu gewinnen.« 272

In der letzten Ausgabe von Faschismus im Frühjahr 1945 bilanzierte Auerbach: »Schwere Monate hindurch hielten Transportarbeiter die einzigen Verbindungswege zwischen den illegal Kaempfenden und den Arbeiterorganisationen der freien Laender offen. Ueber Rundfunk erreichten dann die anfeuernden Botschaften und die ermutigenden Berichte der Illegalen ihre Landsleute, die sie direkt nicht erreichen konnten.« 273 Die Sabotageaufrufe in den Arbeitersendungen von BBC 274 und SER blieben unerwähnt, waren aber Realität, auch wenn Gordon-Walker im Sommer 1941 gegenüber Auerbach die Ansicht vertrat, »the time has not yet come when we can send out such talks over the London wireless. We cannot yet assume that all the workers are on our side and that they want to sabotage the war effort … It is, of course, important to increase any tendencies to sabotage that there may be among the German workers, and we are trying to do this in various ways, such as giving them

272 Auerbach an Mandelbaum, 25.3.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 16, AdsD). 273 ITF (Hrsg.): Faschismus 13 (1945), Nr. 7, S. 31. 274 »Die Arbeitersendungen wurden Montag und Donnerstag morgens um 5 Uhr und 5.30 Uhr, abends um 7 Uhr ausgestrahlt«, in: Eiber: Die Sozialdemokratie in der Emigration, S. 5 (Anm. 9). Die tägliche Gesamtsendezeit des deutschen BBC- Dienstes betrug zu Beginn der Jahre 1941 vier Stunden und 5 Minuten und 1943 vier Stunden und fünfunddreißig Minuten, Mitte 1943 fünf Stunden und vierzig Minuten, in: Bernhard Wittek: Der britische Ätherkrieg gegen das Dritte Reich. Die deutschsprachigen Kriegssendungen der British Broadcasting Corporation, Münster 1962, S. 123. 153 detailed information about the sabotage that is going on in occupied territories.« 275

Zwei Jahre später referierte Fritz Kramer in London über Erfolge aufgrund von direkten und indirekten Appellen über den Äther: »Der subtile Widerstand der Eisenbahner und die ständige Gefahr einer Beschädigung des Schienennetzes bedeutete, daß die Nazis 60.000 SS-Angehörige zur Bewachung der Bahnhöfe einsetzen mußten, während gleichzeitig 270.000 Männer im wehrdienstfähigen Alter nicht an die Front geschickt werden konnten, weil es für sie keinen verlässlichen Ersatz gab.« 276 Informationen an Illegale im Reich liefen seit Kriegsbeginn über den Äther, kaum noch über Kuriere. Ein Eisenbahner aus dem süddeutschen Raum schilderte seinem Interviewer Bernd Eichmann nach Jahrzehnten seine Version der Arbeitersendungen der BBC und deren Appelle zum aktiven Widerstand: »Im englischen Sender kam erst Beethoven (>Freude schöner Götterfunken<) zu einer gewissen Stunde. Und dann haben sie uns Eisenbahner aufgefordert, Sabotage zu treiben … haben uns geraten, in die Schmierbüchsen Sand reinzustreuen, damit die Achsen heißlaufen.« 277

Eine unauffällige Variante, den Eisenbahnbetrieb zu stören, Warenlieferungen umzuleiten und somit zu verzögern, war das Vertauschen von Leitzetteln an Güterwagen. In einem für das Jahr 1942 vom Reichssicherheitshauptamt verfassten Bericht über Sabotageanschläge im Deutschen Reich waren insgesamt 764 Vergehen registriert, von denen »entfielen allein 171 auf Eisenbahnanlagen.« 278 Bei den Focke-Wulf-Werken in Bremen, deren »Montagehallen und Lagerhäuser bei einem Bombenangriff [im Sommer 1944] völlig zerstört und 36 Flugzeuge schwer beschädigt«279 wurden, existierte nach Erkenntnissen Enderles »eine bewußte Oppositionsgruppe (dies aber auf keinen Fall öffentlich nennen!!!!), geleitet von Funktionären des früheren Metallarbeiterverbandes. Sie haben gute Verbindungen mit Transportarbeitern u. anderen Arbeitergruppen. Sie sprechen über innen- u. außenpolitische Fragen u. wollen von außen Material haben, z.B. jetzt insbesondere über die Konferenz des Intern. Arbeitsamtes in Philadelphia, von der sie aus verzerrten Mitteilungen in deutschen Zeitungen etwas wissen. Ferner ließen sie durch den S-Mann

275 Gordon-Walker an Auerbach, 17.8.1941 (Bestand ITF, 159/3/C/a/121, MRC). 276 ITF (Hrsg.): Solidarität. Die ersten 100 Jahre der ITF, S. 97 f. 277 Eichmann, Bernd: Auch wenn andere die Weichen stellten… Exemplarische Lebensgeschichten von Eisenbahngewerkschaftern, Köln 1988, S. 97 f. 278 Zit. nach Nelles: Ungleiche Partner, S. 554. 279 Max [August Enderle] an »Liebe Freunde« [der ITF], 12.6.1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 52, AdsD). 154

[Seemann], der hiervon erzählte, um Material über Neuaufbau der Gewerkschaften bitten.« 280

Der Handlungsspielraum der ITF hatte sich in den Kriegsjahren von ihren weltweit verzweigten Mitgliederorganisationen auf Großbritannien verlagert und manifestierte sich im Kampf gegen Faschismus und Nationalsozialismus, unterstützt von Labour-Politikern und britischen Gewerkschaftern. Die jahrzehntelange Kommunikation zwischen Ernest Bevin und der ITF brach nie ab. Dieser Kontakt ebnete der ITF und Walter Auerbach bei Agitation und Propaganda, bei der Verbreitung von Flugblättern und verbal im Äther, so manchen Weg, auch in Regierungskreisen. »Both the B.B.C. and the Ministry of Information are supplied regularly with reports about conditions in enemy and enemy-occupied territory, and there is no doubt that they are very gratefully received. High officials at both the M.o.I. and the B.B.C. have told us that they would be unable to arrange for talks to German workers and workers in occupied countries without the valuable information supplied by the I.T.F. and generally contained in our publication Fascism.« 281

In beiden Institutionen arbeiteten nicht selten linksliberale Intellektuelle wie Richard Crossman oder Patrick Gordon-Walker,282 die Auerbach politisch und persönlich nahestanden. Er war sich einig mit Gordon-Walker: »Die besonderen Labour talks im Rahmen des BBC-Programms haben unter anderem die Funktion einer Visitenkarte zu erfuellen.« 283 Im Sommer 1941 sprach sich Auerbach angesichts der seinerzeitigen Kriegslage für Lähmungspropaganda in Abstimmung mit exakten kontinuierlichen Analysen der Goebbels-Propaganda aus und umriss die Aufgabe der Lähmungspropaganda damit, das Unbehagen der Menschen in Deutschland, ausgelöst durch Überanstrengung und Entbehrung, zu verstärken. 284 Ansprechpartner sah er in Arbeitern, Bauern und Soldaten. Er zweifelte jedoch daran, den Kampfwillen im Militär entscheidend beeinträchtigen zu können. Den Arbeitswillen von Arbeitern und Bauern zu

280 Ebd. 281 Report Meeting Emergency General Council, 25/26 July 1941 in London, S. 26 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 82, AdsD). 282 Kettenacker, Lothar: Krieg zur Friedenssicherung. Die Deutschlandplanung der britischen Regierung während des Zweiten Weltkrieges, Göttingen/Zürich 1989, S. 207. 283 Auerbach: Papier, 26.11.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 128, AdsD). 284 Auerbach: Bemerkungen über Arbeiter-Radiosendungen von London nach Deutschland im gegenwärtigen Kriegsstadium, 24.6.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 129, AdsD). 155 unterminieren, erschien ihm dagegen realistisch. 285 Zu den Hörern von Lähmungspropaganda zählte Auerbach die Neugierigen und jene, die »die einseitige Orientierung durch Berlin fürchten.« 286 Diese erwarteten, so vermutete Auerbach, von den BBC-Nachrichten objektive Informationen über das Kriegsgeschehen, die innenpolitische Situation in Deutschland und in den besetzten Gebieten. 287

Das Experiment, der Sender der Europäischen Revolution (SER), existierte bis zum Sommer 1942 und strahlte parallel zur BBC und einigen Schwarzsendern Programme ins Reich aus, »konnte jedoch keineswegs, was Aktualität [und Professionalität] betraf, etwa mit dem deutschen Dienst der BBC konkurrieren.« 288 Beim SER arbeiteten Deutsche aus dem linkssozialistischen Exil, unter anderen Waldemar von Knoeringen, Richard Löwenthal und Hellmut von Rauschenplat, 289 unterstützt durch Walter Auerbach, der »mit Rat und Kritik nicht sparte.« 290 In Faschismus veröffentlichte er teils komplette Sendebeiträge. 291 Auch überließ er dem SER und der BBC brisante Materialien aus dem Repertoire seiner Informanten August und Irmgard Enderle in Schweden. »The material which was sent from is excellent,« 292 bescheinigte ihm denn auch Crossman. Die ideologische These von SER, »developed during long discussions between the Labour politician … Crossman with German left-wing socialists, including the ITF’s Walter Auerbach,« 293 lautete: »Die Probleme auf dem Kontinent können nur durch eine gesamteuropäische Revolution der Industriearbeiterschaft gelöst werden.« 294

SER zählte zu den Projekten von SO1, einer von zwei Sektionen des dem Minister for Economic Warfare unterstellten Special Operations Executive (SOE), gegründet im Jahr 1940 mit der Prämisse, »durch die Lieferung von Waffen, Gerät und Informationen die militärische Aktivität der Widerstandsbewegungen

285 Ebd. 286 Ebd. 287 Ebd. 288 Mehringer: Waldemar von Knoeringen, S. 219. 289 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 186. 290 Mehringer: Waldemar von Knoeringen, S. 219. 291 Ebd. 292 Crossman an Auerbach, 3.11.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 30, AdsD). 293 Nelles: Der Widerstand der ITF gegen Nationalsozialismus und Faschismus in Deutschland und Spanien, S. 147. 294 Pütter, Conrad: Der »Sender der Europäischen Revolution« im System der britischen psychologischen Kriegführung gegen das »Dritte Reich«, in: Wolfgang Frühwald und Wolfgang Schieder (Hrsg.): Leben im Exil. Probleme der Integration deutscher Flüchtlinge im Ausland 1933-1945, Hamburg 1981, S. 170. 156 zu unterstützen.« 295 An den zwischenzeitlich errichteten politisch unabhängigen Schwarzsendern Sefton Delmers beteiligte sich der auf Seriosität, Transparenz und Glaubwürdigkeit bedachte Walter Auerbach nicht. »Deren Sendungen waren auf geschickten Lügen und Fiktionen aufgebaut und hatten das Ziel, die Moral der deutschen Bevölkerung durch Desinformation zu schwächen und zu zersetzen.« 296 Sie befanden sich auf ähnlichem Niveau wie die nationalsozialistische Rundfunkpropaganda. Auerbach warnte vor »Übersteigerungen der Sprache.« 297 Da »auf Schwankende gewirkt werden soll … wird in erster Linie nicht an politisches Ethos, sondern an nüchterne Arbeiterinteressen appelliert.« 298 Seine These Langsamarbeiten untergliederte er in die Begriffe Unfallverhütung, Luftschutz, Rohstoffschwierigkeiten, Zusatznahrung und Lohn, 299 denn, so verdeutlichte Auerbach seine Ansprüche an Rundfunkpropaganda, nur »das Sichtbarwerden eines Auswegs kann organisationsbildend wirken, und nicht Depression, sondern nur Organisationszellen koennen dem Regime zur Gefahr werden. In labilen Verhaeltnissen genuegen in Staedten und Industriebezirken relativ kleine Gruppen zum Umwerfen des politischen Ruders … Die Foerderung der Entwicklung dieser Zellen ist vom Ausland her nur beschraenkt moeglich, so lange keine eindeutige Erklaerung der United Nations ueber die der aktiven deutschen Opposition zuerkannte Stellung im Kriegs- und Nachkriegsdeutschland vorliegt.« 300

Die Ermutigung der Industriearbeiterschaft zum Langsamarbeiten zog sich wie ein roter Faden durch Auerbachs Manuskripte. Seine Appelle richteten sich seit September 1943 und noch intensiver ab Frühjahr 1944 auch an Arbeitskräfte aus den besetzten westeuropäischen Staaten und an Polen und Tschechen. Ausgestrahlt wurden die Sonderprogramme in den jeweiligen Landessprachen und in Englisch. In einem vertraulichen Papier forderte Auerbach die Zwangsarbeiter zur Flucht aus den urbanen Industriezentren in ländliche Gegenden auf, da die Kontrollinstanzen der Nationalsozialisten durch Bombenterror und Kriegsgeschehen bereits Aufweichungstendenzen zeigten. Zu

295 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 122. 296 Mehringer: Waldemar von Knoeringen, S. 221. 297 Auerbach: B.B.C.-Besprechungen 8.-9.5.1940: B.B.C. und Labour-Sendungen in deutscher Sprache (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 81, AdsD). 298 Ebd. 299 Ebd. 300 Auerbach: Bemerkungen ueber Bedeutung, politische Grundhaltung und Arbeitsweise eines deutschen sozialistischen Schwarzsenders in der jetzigen Kriegsperiode, 23.2.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 129, AdsD). 157 den Überlebensstrategien potentieller Geflüchteter machte er keine Aussagen, und das Kriegsende war zu jenem Zeitpunkt noch nicht absehbar. Dennoch übermittelte er Nachrichten, dass zum einen »the Nazis were frightened both of the potential power of the foreign workers and also of their influence on German workers and on German civilian morale«301 und zum anderen, dass »they form a definite part of allied military plans and that there are jobs for them to do inside Germany.« 302

Nicht nur in Faschismus erschienen seit April 1942 Artikel über vermehrte konspirative Kontakte von »German civilians to foreign workers and prisoners of war and Jews.« 303 Auch in der Korrespondenz mit Enderle und anderen nahm dieser Themenkomplex einen breiten Raum ein. Auerbachs deutsche Zeitungslektüre vermittelte ihm, dass »even the Nazi press has had to put up a stronger fight against this tendency. There seems to be a similar movement among the peasants, both Catholic and Protestant. The Gestapo had to come into the open with its threats in a few towns, as for instance Mannheim, whereas before it always used to try to work as silently as possible.« 304 Vertrauliche Informationen über ausländische Arbeiter erreichten Auerbach wiederkehrend von August Enderle aus Stockholm. So hatte er im Sommer 1944 von Spitzeln erfahren: »In den Städten herrsche in großen Teilen der Bevölkerung eine Riesen-Unruhe betr. der ausländischen Arbeiter … die Ausländer liefen zu frei herum, würden nicht genug bewacht, sie würden doch nur auf eine Gelegenheit warten, über das deutsche Volk herzufallen … Bewußte Oppositionelle suchen natürlich umgekehrt, mit Ausländern in Kontakt zu kommen und mit ihnen zusammen zu arbeiten … Auf den Werften würden sehr viele Sabotagen an Kriegsschiffen vorkommen, und es ist bekannt, daß insbesondere Franzosen, die als Spezialarbeiter dort tätig sind, sich daran beteiligen. Man könne sie nur selten der Tat überführen.« 305

Die nationalsozialistische Gegenpropaganda im Ätherkrieg richtete sich vorrangig gegen britische, nicht gegen sowjetische Rundfunksender. Präzise Angaben über Hörerzahlen existieren nicht. Einschaltquoten waren in jener Zeit unkalkulierbar.

301 Auerbach: Report for Joint Council on Broadcasts to Foreign Workers, 14.6.1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 130, AdsD). 302 Ebd. 303 Auerbach an The Editor, The Times, 27.4.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 35, AdsD). 304 Ebd. 305 Max an »Liebe Freunde« [der ITF], 12.6.1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 52, AdsD). 158

Vermutet wurde aus nationalsozialistischem Blickwinkel eine Zahl von etwa einer Million Hörer, britische Mutmaßungen schwankten zwischen einer und drei Millionen Hörern. 306 »Seit dem Winter 1941/42 stand [allerdings] fest, daß allein die Rote Armee den Widerstandswillen der Deutschen brechen konnte und nicht etwa die BBC. So gesehen war der Beitrag der britischen Propaganda geradezu eine quantité négligeable, die unter Umständen mehr außenpolitischen Schaden anrichten konnte, als sie der Kriegführung durch Zersetzung nutzte.« 307

Auerbach versuchte, in den Jahren 1940 und 1941 in Analysen die Rezeption der Hörer von BBC-Sendungen im Reich und in den besetzten Staaten unter drei Aspekten auszumachen: Feindpropaganda, potentielle Feindpropaganda und Freundpropaganda. Die häufige Gleichsetzung von Deutschen und Nationalsozialisten, eine Unklarheit über Friedensziele und das Verschweigen einer innerdeutschen Opposition bargen seiner Meinung nach die Gefahr, dass im Bewusstsein der Hörer aus Freundpropaganda potentielle Feindpropaganda entstünde 308 statt einer Stärkung antinationalsozialistischer Kräfte und einem Durchbrechen des Nachrichtenmonopols der Herrschenden. 309 Die BBC-Politik führte nach Auerbachs Erkenntnissen dazu, »dass fast nur noch Nachrichten, nicht aber talks [Labour talks] und inscripts gehoert werden und dass den BBC- Nachrichten mit dem gleichen kritischen Misstrauen zugehört wird wie dem Deutschlandsender (‚Die Wahrheit wird in der Mitte liegen.’) Im Zuge einer derartigen Entwicklung stumpft die Radio-Propagandawaffe ab.« 310

Um dem entgegenzuwirken, unterbreitete Auerbach Laski vom linken Flügel der Labour Party seine Vorstellungen einer effektiveren Einflussnahme auf attentistes , ein seiner Auffassung nach zahlenmäßig eher kleiner, nicht zu definierender Personenkreis mit »unknown political potential,« 311 den er als resistent gegen BBC-immanente Einschüchterung sah: »If propaganda to Germany is to be of any actual value at this moment, then it must in the first place impress that section of the ‚attentistes’ with anti-Nazi feelings, as only in

306 Wittek: Der britische Ätherkrieg gegen das Dritte Reich, S. 187. 307 Kettenacker: Krieg zur Friedenssicherung, S. 196. 308 Auerbach: Entwicklung der BBC-Sendungen in deutscher Sprache, 6.5.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 128, AdsD). 309 Auerbach: Radiosendungen nach Deutschland, 26.3.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 128, AdsD). 310 Auerbach: Entwicklung der BBC-Sendungen in deutscher Sprache, 6.5.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 128, AdsD). 311 Auerbach an Laski, 4.6.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 37, AdsD). 159 this way can propaganda extend the possibilities of the active anti-Nazis and thus help them in their efforts to shorten the war.« 312

Als Exempel für die fehlgesteuerte Informationspolitik der BBC nannte Auerbach die im Frühsommer 1942 wiederholt ausgestrahlten Exzerpte aus Reden im Unterhaus von Churchill, Eden, Lord Cranborne und Morrison, denn »they do not, however, go far enough towards making an impression on the ’attentistes’ with leaning towards the anti-Nazis.« 313 Über die Prioritäten der BBC- Verantwortlichen konnte nur spekuliert werden, denn es »gibt kaum noch Nachweise über das, was die BBC während des Krieges wirklich gesendet hat.« 314 Die Protokolle des Unterhauses verzeichneten kritische Fragen zu Sendebeiträgen. Die Antworten der Regierung erlaubten manchmal einen authentischen Einblick in die Praktiken der BBC, wie etwa: »Mr. McGovern asked the Minister of Information [Bracken] whether it was with his authority that the British Broadcasting Corporation announced on Sunday evening, 26th April [1942], that the Royal Air Force who raided Lubeck and Rostock had destroyed a large number of workmen’s houses, and that it was necessary to destroy workers’ dwellings in order to impede or disorganise the German war effort?« 315 Oder Sir H. Williams »asked the Minister of Information whether he has taken further steps to prevent the British Broadcasting Corporation from interspersing its news service with editorial comment and statements of opinion?« 316

Auf die Anfrage von Mr. McGovern verneinte Bracken jede Einflussnahme seines Ministeriums auf Verlautbarungen der BBC: »The B.B.C. does not issue news under my authority but compiles its bulletins from the same sources of information as are open to the Press. These, of course, include official bulletins and summaries.« 317 Auch die Kritik von Williams spielte Bracken herunter: »I have always faithfully conveyed my hon. Friend’s criticisms to the B.B.C. … I am quite sure that they are doing their best to meet public criticism about their bulletins, and if occasionally they do introduce explanatory matter they only do so

312 Ebd. 313 Ebd. 314 Balfour, Michael: Der Deutsche Dienst der BBC und die britische Deutschlandpolitik. Zum Verhältnis von britischer Regierung und Propagandainstitutionen im Zweiten Weltkrieg, in: Müller und Dilks (Hrsg.): Großbritannien und der deutsche Widerstand 1933-1944, S. 149. 315 Parl. Deb., H. C., 5. Serie, Bd. 379, Sp. 1362, 6.5.1942. 316 Ebd. 317 Ebd. 160 in order to make plain to ordinary listeners the significance of what is happening.« 318

In seinem Weihnachtsbrief an Hans Jahn, der im befreiten Süden Italiens den Wiederaufbau von Transportgewerkschaften unterstützte, monierte Auerbach erneut die unveränderte BBC-Strategie: »Die Arbeitersendungen kranken noch immer an dem alten Leiden, dass jede Form der Einschuechterungspropaganda erlaubt ist, aber Ermutigung der in Deutschland gegen Hitler Kaempfenden nur in kaum verstaendlicher Verhuellung gestattet wird.« 319 Manche Illegale hatten die Botschaften verstanden, gehandelt und ihr Leben riskiert. Seit Kriegsbeginn drohten Hörern ausländischer Sendungen Sanktionen bis hin zur Todesstrafe. 320 Auerbach hatte im Oktober 1941 über Radio Rom erfahren, dass der »Nürnberger Johannes Wild, ein 1892 geborener ‚marxistischer’ Funktionär, zum Tode verurteilt wurde,« 321 »weil er Auslandssender abgehört und davon inspirierte Schmähschriften gegen Führer und Reich veröffentlicht habe.« 322

Die Stichwort-Übersichten in Faschismus verzeichneten den Begriff Konzentrationslager erstmals im Jahr 1943. 323 Auerbach griff das Thema in nur wenigen kurz gefassten Artikeln auf. Auch über die martialische Niederwerfung des Aufstandes im Warschauer Ghetto und die Deportation der besiegten Kämpfer in Vernichtungslager erschienen nur einige Zeilen in Faschismus . 324 Aufschlussreich dazu ist die Korrespondenz mit Adam Ciolkosz, dem im Londoner Exil lebenden letzten sozialistischen Bürgermeister von Krakau, über das öffentliche Verschweigen des Ghetto-Aufstandes: »I can’t help that, the news about 5 weeks of fighting in ghetto is true . Believe or not, these men were able to secure their strenghtholds [Ciolkosz meinte vermutlich strongholds] against German odds for weeks … And the most sad part of the story is that the free world does not believe. These Jewish fighters knew they had to perish, but to refuse them sympathy and reverence of the outside world - why? This silence is probably worth than death.«325

318 Ebd. 319 Auerbach an Jahn (in Italien), 18.12.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 49, AdsD). 320 Diller, Ansgar: Rundfunkpolitik im Dritten Reich, München 1980, S. 304. 321 Auerbach an Vogel, 9.10.1941 (Bestand SOPADE/Emigration, Mappe 57, AdsD). 322 Naumann, Uwe: Kampf auf Ätherwellen: die deutschsprachigen Satiren der BBC im Zweiten Weltkrieg, in: Charmian Brinson (Hrsg.): Keine Klage über England?: Deutsche und österreichische Exilerfahrungen in Großbritannien 1933-1945, München 1998, S. 36. 323 ITF (Hrsg.): Faschismus 11 (1943), 12 (1944) und 13 (1945). 324 Ebd. 11 (1943), Nr. 10, S. 60. 325 Ciolkosz an Auerbach, 28.5.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 46, AdsD). 161

Auerbach reagierte mit: »I fully agree with you that there is a kind of conspiracy afoot for maintaining silence, and as a result these reports seem to be suppressed.« 326 Er beurteilte als wesentlichen Faktor für die Unterschlagung von Berichten aus der Warschauer Hölle, »that part of crimes committed by Germans and other people at the order of Nazis are so terrible that they cannot be believed and further that people imagine that only part of those reported are true. Another factor, just as important, would appear to be the most irresponsible way of reporting and releasing untrustworthy reports a thing that is done by certain offices here … But you cannot expect reports about the fate of the Jews in Poland (reports from official or semi-official Polish sources) to be believed when people know that at least five different figures for the number of Jews killed have been released during the last few months by those same offices, and when they have seen that each figure published contradicts the others.«327

Indirekt kritisierte Auerbach mit seinen Äußerungen die offizielle Informationspolitik der britischen Regierung und die Aufklärungsarbeit der Geheimdienste. Als Beweis für die Konsequenz des Lancierens unentschuldbarer Berichte fügte Auerbach einem Brief an Ciolkosz ein Beispiel aus dem Sommer 1943 an: »An allied citizen phoned to one of the leading men of the London Jewish Community and asked them to do something about the Reuter report which stated that a Jewish refugee from Belgium had made a suggestion that the dams should be bombed. ‘Millions of lives are endangered by this fabricated report,’ he said. He was most astonished to receive the answer ‘I cannot understand you. There are practically no more Jews alive under Nazi rule.’ - The person who phoned himself told me about this experience.« 328 Die Diskussion über die Frage, warum die Alliierten entschieden, die Zufahrtswege der Reichsbahn zu den Konzentrationslagern nicht zu bombardieren, war ergo im internationalen Exil bereits 1943 virulent.

Auerbach erbat immer wieder Unterstützung von anderen, von Menschen, die auf dem Kontinent lebten und dem Geschehen dort näher waren, um eine objektive, den Fakten adäquate Berichterstattung gewährleisten zu können. »Wir wollen alles vermeiden, was ein schiefes Bild gibt und ich glaube, dass ein Neutraler der Neutralität keinen besseren Dienst erweisen kann als bei der

326 Auerbach an Ciolkosz, 7.5.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 46, AdsD). 327 Ciolkosz an Auerbach, 28.5.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 46, AdsD). 328 Ebd. 162

Verhinderung entstellter Nachrichten zu helfen,« 329 schrieb er dem Schweizer Gewerkschafter René Bertholet, der dem ISK angehörte. Bertholet verfügte über vielfältige Kommunikationswege zu Gewerkschaftszirkeln der Résistance in Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg, Österreich und Deutschland 330 und hatte »gute Kontakte zu den verschiedenen Flüchtlings- und Fluchthilfeorganisationen in Marseille.« 331 Seine »Berichte waren von einer außerordentlichen Qualität und für viele Organisationen bzw. Institutionen von größtem Interesse; angefangen von der ITF.« 332 In den Kriegsjahren wurde Bertholet wichtigster Kontaktmann Auerbachs und der ITF auf dem Kontinent. 333 Jahn kannte René Bertholet aus gemeinsamer Widerstandsarbeit in Westeuropa. Seine Charakterisierung lautete: »René ist nicht nur fähig, er ist zu allem fähig … Er ist schon über mehr als eine Grenze illegal gegangen.« 334

Kooperation mit den Geheimdiensten kapitalistischer Regierungen galt unter Regimegegnern aus den sozialistischen Arbeiterparteien und Gewerkschaften als Klassenverrat, aus nationalistischer und nationalsozialistischer Perspektive als Landesverrat. Das Thema blieb in der historischen Forschung über Jahrzehnte unerwähnt. 335 Walter Auerbach gehörte »zu dem Kreis jener, die nicht allzu viel über diese Dinge erforscht wissen wollten.« 336 Er meinte die Themen Arbeiterwiderstand und die »ITF-Zusammenarbeit mit amerikanischen und mit englischen Geheimdiensten« 337 und seine eigene. »There was no official debate on this policy within the ITF, because it was forgotten in the context of the beginning Cold War.«338

Für das Selbstverständnis der Kollaborateure von der ITF war von entscheidender Bedeutung, dass sie im Kampf gegen Nazi-Deutschland ihre Unabhängigkeit behielten und nicht zu bezahlten Agenten der westlichen

329 Auerbach an Bertholet, 11.2.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 23, AdsD). 330 Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 352 f. 331 Ebd., S. 346. 332 Ebd., S. 353. 333 Nelles: Der Widerstand der ITF gegen Nationalsozialismus und Faschismus in Deutschland und Spanien, S. 148. 334 Zit. nach ebd.: Jahn an Babette Gross, Ende November 1940 (Bestand ITF, 159/3/C/a/112, MRC). 335 Koch-Baumgarten, Sigrid: Spionage für Mitbestimmung. Die Kooperation der Internationalen Transportarbeiter-Föderation mit den alliierten Geheimdiensten im Zweiten Weltkrieg als kooperatistisches Tauscharrangement, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung 33 (1997), Nr. 3, S. 361 f. 336 Gespräch Hans Pelger mit der Vf.in., 21.3.2002, in Bonn. 337 Ders. 338 Reinalda: ITF Co-Operation with American Intelligence 1942-1944, in: Ders. (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 238. 163

Alliierten wurden: »The ITF kept its independence by not accepting any money for its work.«339 Das Office of Strategic Services (OSS), Vorläufer der Central Intelligence Agency (CIA), entstand zu Beginn des Zweiten Weltkriegs als vom Militär unabhängiger Geheimdienst mit dem Schwerpunkt Labor Desk. Es nutzte vorwiegend Kanäle der europäischen Arbeiterbewegung für Recherchen, obwohl das »OSS insgesamt nicht gerade gewerkschaftsfreundlich war.« 340 Doch die OSS-Strategen erkannten, »that the labor movement would become the most important ally in the common struggle against the Axis powers.«341 Sie setzten auf die persönlichen Kontakte Oldenbroeks, Auerbachs und Jahns zu Illegalen in der deutschen städtischen Industrie- und Transportarbeiterschaft, die sie als »the largest, civil element in psychological warfare« 342 betrachteten. »Faktisch war die ITF die Drehpunktinstitution des OSS zum deutschen und europäischen Arbeiterwiderstand.« 343 Ihre Verbindungen zu Schmugglern von Materialien und Nachrichten nach Deutschland und aus Deutschland heraus, unter anderem über René Bertholet und August Enderle, der weitreichende Kontakte zu deutschen Seeleuten in schwedischen Häfen unterhielt, rissen auch während des Krieges nie ab. Der Postaustausch zwischen Enderle und der ITF lief über offizielle britische Kommunikationswege in London und Stockholm. 344 Enderle bezog seit 1937 eine monatliche finanzielle Unterstützung von der ITF, 345 und während des Krieges vermittelte Auerbach zusätzliche finanzielle Leistungen über Richard Crossman. 346

Das so entstandene Abhängigkeitsverhältnis erleichterte es Auerbach, konkrete Anforderungen und Arbeitsaufträge an die beiden Enderles zu formulieren: »Die in Schweden erschienenen Deutschland-Buecher sind hier in der buergerlichen Presse als Artikelserie im Auszug erschienen. Die Artikelserien enthielten eine Reihe ganz grober Schnitzer, die mich misstrauisch machten … Fuer den Fall, dass es Euch scheint, dass eines dieser Buecher scharfer Kritik standhaelt, d.h.

339 Ebd., S. 237. 340 Borsdorf, Ulrich und Lutz Niethammer (Hrsg.): Zwischen Befreiung und Besatzung. Analysen des US-Geheimdienstes über Positionen und Strukturen deutscher Politik 1945, Wuppertal 1976, S. 10. 341 Heideking, Jürgen und Christof Mauch (Hrsg.): American Intelligence and the German Resistance to Hitler. A Documentary History, Boulder/Oxford 1996, S. 3. 342 Reinalda: ITF Co-Operation with American Intelligence, in: Ders. (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 227. 343 Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 370. 344 Auerbach an Max, 28.4.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 35, AdsD). 345 Fimmen an Enderle, 29.4.1937: »Beiliegend für den kommenden Monat 100 schwedische Kronen und eine Quittung über diesen Betrag, die ich bitte mir unterschrieben zurückschicken zu wollen.« (Bestand ITF, 159/3/C/a/53, MRC). 346 Nelles: Widerstand und internationale Solidarität, S. 358. 164 dass in ihm Selbstbeobachtetes und von andern Gehoertes auseinandergehalten wird, waere ein Ausziehen der ueber die Lage deutscher und auslaendischer Arbeiter und ihren Widerstand handelnden Teile wertvoll. Falls noch weitere derartige Buecher erscheinen, handelt bitte unter diesem Gesichtspunkt.« 347 Die Titel der Bücher erwähnte Auerbach nicht.

Die Geheimdienste der Alliierten erleichterten konspirative Arbeit in Deutschland und in den besetzten Ländern, trugen aber auch zur Gefährdung von Informanten bei. Jahn verfügte in jener Zeit angeblich noch über Namen und Adressen von über 200 zuverlässigen Kontaktpersonen im Bereich der Deutschen Reichsbahn. 348 Die ITF »managed to maintain an illegal network in and the occupied countries. This contribution to resistance work, which has remained largely secret, helped the Americans to enter nazi Germany.« 349 Doch im Verlauf des Jahres 1944 »it quickly became apparent that the OSS und the ITF/ISK greatly overestimated the possibilities for action in Germany.« 350 Die Effizienz der psychologischen Kriegführung der Alliierten ließ sich weder in den Archivmaterialien noch in der Forschungsliteratur nachweisen, auch nicht etwaige Reaktionen auf »pamphlets and leaflets … dropped from planes over Europe.« 351

»The O.S.S. and the I.T.F. agree to cooperate,« 352 besagte eine nicht datierte, nicht signierte Sechs-Punkte-Vereinbarung. Verantwortlich zeichnete von seiten der ITF der amtierende Generalsekretär Oldenbroek. Es bestand eine ungleiche Partnerschaft. Die Spielregeln bestimmte der Geheimdienst. 353 In der Londoner Zentrale des OSS in der amerikanischen Botschaft unter George O. Pratt »liefen

347 Auerbach an Max, 25.10.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 48, AdsD). 348 Reinalda: ITF Co-Operation with American Intelligence, S. 228. 349 Ebd., S. 238. 350 Nelles: ITF Resistance in Germany and Spain, in: Reinalda (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 197. 351 Reinalda: ITF Co-Operation with American Intelligence, in: Ders. (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 226. 352 Agreement O.S.S./I.T.F. (o.D. und Unterschrift). Darin hieß es u.a.: 1. »to encourage active resistance to the enemy and to support all activities designed to promote the successful accomplishment of the mission of the armed forces of the United Nations … 2. The O.S.S. recognizes the I.T.F. as the accredited international organization of transport workers in Europe, whose potential value in assisting the O.S.S. is acknowledged. 3. Whilst maintaining its complete independence, the I.T.F. declares its willingness to cooperate, within the limits of its possibilities … 5. The O.S.S. will provide I.T.F. representatives with transportation facilities to and within the liberated areas and freedom of movement so far as the military situation permits, but neither the I.T.F. nor its representatives will claim or accept financial assistance from O.S.S.« (Bestand ITF, 159/3/C/a113, MRC). 353 Koch-Baumgarten: Spionage für Mitbestimmung, S. 363. 165 die weitaus meisten Informationen über Stimmungen und Lebensverhältnisse auf dem Kontinent, Rüstungsproduktion und Nachschubbewegung des Gegners, aber auch über die Organisation, das Potential, die Aktivitäten und Programmatik des Arbeiterwiderstandes zusammen.« 354 Dieses Londoner Büro »entwickelte sich zum wichtigsten Zentrum.« 355 Es sammelte Informationen über das sozialistische Exil und interessierte sich für Fakten über politisch belastete Wirtschaftsführer. Das OSS organisierte ab 1944 in Kooperation mit den britischen Geheimdiensten und dem Foreign Office Informations- und Unterrichtsprogramme für deutsche Kriegsgefangene in Großbritannien. 356

Um Informanten nicht zu gefährden, selektierte Auerbach die ihm für Faschismus vorliegenden Materialien. Unveröffentlichte »reports which are of military, economic and psychological interest are handed to the United governments for their information; needless to say, we [ITF] have the necessary contacts with the United States official circles too.« 357 Auerbachs Ansprechpartner für den Austausch von Dokumenten und Stimmungsberichten waren George O. Pratt und David C. Shaw in London und Toni Sender 358 in New York. Shaw interessierte sich für die in London weilenden Unterzeichner des in Moskau verabschiedeten Manifestes des Nationalkomitees Freies Deutschland. Er bat Auerbach: »Look over the list of names and give me any information you may have of these men.« 359 Diese delikate Aufgabe stand im Widerspruch zu Auerbachs ethischen Ansprüchen an sich und andere und gehörte letztlich in die Rubrik Denunziation. Anhand des Nachlasses ließ sich seine Reaktion nicht rekonstruieren und nicht der Umfang seiner Zuarbeit an das OSS. Einmal erwähnte Auerbach gegenüber Pratt »A few reports (1-6) which may be of interest to you,« 360 ein anderes Mal ewähnte Pratt Auerbachs Papier On the Mood of Workers in Germany .361

Kontakt zum OSS hatte Auerbach über die ITF und über die frühere SPD- Reichstagsabgeordnete Toni Sender, seit ihrer Emigration nach USA Leiterin des

354 Borsdorf und Niethammer (Hrsg.): Zwischen Befreiung und Besatzung, S. 10. 355 Hild-Berg, Anette: Toni Sender (1888-1964). Ein Leben im Namen der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit, Köln 1994, S. 217. 356 Borsdorf und Niethammer (Hrsg.): Zwischen Befreiung und Besatzung, S. 13. 357 Auerbach an Toni Sender, 15.9.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 40, AdsD). 358 Toni Sender (1888-1964), »a former translator of the International Metalworkers Federation and a left-wing socialist member of the German Reichstag«, in: Reinalda: ITF Co-Operation with American Intelligence, S. 226. 359 Shaw an Auerbach, 26.7.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 47, AdsD). 360 Auerbach an Pratt, 17.1.1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 51, AdsD). 361 Pratt an Auerbach, 13.5.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 46, AdsD). 166

Büros European Labor Research in New York, 362 einer Institution, die eng mit dem OSS und der amerikanischen Administration kooperierte. Sender und Auerbach kannten sich aus der politischen Arbeit im Berlin der Weimarer Jahre. Angesprochen von ihr, signalisierte er umgehend seine Bereitschaft zur Mitarbeit: »I shall be only too glad to help you in any way I can.«363 Und mit Hinweis auf diese gemeinsame Freundin kam es zu Begegnungen 364 zwischen Auerbach und Arthur Goldberg 365 , dem »chief of the new OSS Labor Branch,« 366 zuvor Anwalt amerikanischer Gewerkschaften und bekannt mit führenden Repräsentanten der europäischen Arbeiterbewegung. 367 Goldberg »created a kind of think tank for his branch with the help of Toni Sender,«368 in dem Herbert Marcuse und Franz Neumann, bekannt durch seine 1942 erschienene Strukturanalyse des NS- Systems Behemoth , mitarbeiteten. 369 Einer eher gewerkschaftsfeindlichen Organisation wie dem OSS anzugehören, löste vermutlich bei vielen Sozialisten Gewissenskonflikte aus. Bekannt wurden die Skrupel Franz Neumanns durch einen Brief an Max Horkheimer: »The great obstacle to my OSS employment is that I may be driven into a position where I will have to do work which is contrary to my convictions.« 370 Der gemeinsame Feind und Patriotismus erleichterten allerdings häufig die Entscheidung.

Die OSS-Repräsentanten und Toni Sender erwarteten von Auerbach und Jahn 371 Skripte, die dem Ziel dienten, die »Niederlage Hitler’s zu beschleunigen helfen.« 372 Interessiert war Sender als Frau an der Stimmung unter den proletarischen Frauen im Reich. 373 »And finally: Any news and information on the transport situation in Germany and the Nazi dominated countries will be eagerly

362 Toni Sender an Auerbach, 25.8.1942; Auerbach an Toni Sender, 15.9.1942 und Toni Sender an Auerbach, 8.10.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 39, 40 und 41, AdsD). 363 Auerbach an Toni Sender, 15.9.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 40, AdsD). 364 Goldberg an Auerbach, 18.9.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 40, AdsD). 365 Arthur J. Goldberg »was President Kennedy’s Secretary of Labor, 1961-62«, in: Harris R. Smith: OSS. The Secret History of America’s First Central Intelligence Agency, Berkeley/Los Angeles/London 1972, S. 12. 366 Ebd. 367 Reinalda: ITF Co-Operation with American Intelligence, in: Ders. (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 225. 368 Ebd., S. 226. 369 Stoffregen, Matthias: Kämpfen für ein demokratisches Deutschland. Emigranten zwischen Politik und Politikwissenschaft, Opladen 2002, S. 13 ff. 370 Neumann an Horkheimer vom 15. Januar 1943. Zit. nach Stoffregen: Kämpfen für ein demokratisches Deutschland, S. 20. 371 Toni Sender an Jahn, 8.6.1943 und 1.9.1943 (Bestand ITF, 159/3/C/a/124, MRC). 372 Toni Sender an Auerbach, 25.8.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 39, AdsD). 373 Ebd. 167 received by this office.«374 Die Alliierten erwarteten genaues Datenmaterial über Kontakte zwischen deutschen wie west- und osteuropäischen Zwangsarbeitern und an dem Anteil der Kommunisten unter ihnen. Geradezu prädestiniert für letztere Herausforderung erschien ihr Hans Jahn. 375 Ihn konfrontierte Sender, offensichtlich war er ihr schon aus früheren Zeiten als Antikommunist bekannt, mit der Bitte, »the strength of the communist organizations and the way in which it was effected by the dissolation of the Third International« 376 zu erforschen.

Der effizienteste ITF-Verbindungsmann zum amerikanischen Geheimdienst in England und zu Toni Sender in New York war Auerbach mit seinem profunden Wissen über Arbeiterwiderstand in Nazi-Deutschland und in den besetzten Ländern und seinen daraus abgeleiteten Analysen. »Pratt was impressed by the ITF. OSS relations with the ITF, he wrote in June 1943, were ‘involved in nearly all our relations with the trade union movements of various countries’. The ITF also gave ‘the best German contacts’ and ‘through Auerbach it has given us what I consider the best judgement on German workers in general’.« 377 Auerbachs Memorandum on the policy of a United Nations’ Army of Occupation in Germany »and its effects on political developments in Germany« 378 aus dem Mai 1942 stieß in amerikanischen Regierungs- und Geheimdienstkreisen schwerlich auf Akzeptanz. In der Einleitung sprach er seine wiederholt formulierte Erwartung einer sozialistischen Revolution an: »A revolution will become possible at the moment when the Hitler terror machine is shattered; and only if it comes about will the Nazi system be thoroughly destroyed ... This system can be routed only from below, and hence by Germany, and to rout it involves a revolution. But even if it were possible to outside powers to break the Nazi system, this could never have the same fundamental effect as a purge carried through by the German people themselves.« 379

In seinem Zwölf-Punkte-Katalog, einer Art Verhaltenskodex für die Verantwortlichen in den alliierten Streitkräften im Umgang mit Institutionen und Bevölkerung nach dem Einmarsch ins Reichsgebiet, zählte Auerbach neben

374 Toni Sender an Auerbach, 8.10.1942 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 39, AdsD). 375 Toni Sender an Jahn, 1.9.1943 (Bestand ITF, 159/3/C/a/124, MRC). 376 Toni Sender an Jahn, 8.6.1943 (Bestand ITF, 159/3/C/a/124, MRC). 377 Zit. nach Reinalda: ITF Co-Operation with American Intelligence, S. 228. (Reference, S. 268: G.O. Pratt to W.H. Shepardson 23.6.1943 in F736 B250 E190 RG226 NA). 378 Auerbach: Memorandum on the policy of a United Nations’ Army of Occupation in Germany, and its effect on political developments in Germany, May 1942 und Pratt an Auerbach, 24.6.1943 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 766, AdsD). 379 Ebd. 168

Selbstverständlichkeiten kaum zu befriedigende Forderungen auf. Unter Law and Order v. Revolution 380 hieß es: »It will not be the task of the A.O. [Army of Occupation] to maintain law and order in Germany beyond its own needs of security … Otherwise the revolutionary movement will be frustrated for fear of the superior power of the foreign troops.« 381 Er stellte sich eine Revolution unter dem Schutz der Alliierten oder gar mit deren Unterstützung vor. Seiner Meinung nach sollte zwar die Entwaffnung des Militärs unmittelbar durch alliierte Instanzen geschehen, doch die der paramilitärischen Organisationen vorzugsweise in der Verantwortung der »Germans themselves, e.g. by the workers in industrial districts, or by Catholic or Confessional Church peasants in some agricultural ones«382 liegen. Und »The A.O. should maintain their policy of non-intervention when economic and social structure of Germany is being changed and certain rights of ownership (e.g. of Nazis, Junkers and other warprofiteers) are challenged … There should be no interference e.g. when production committees are formed, say at the Leuna Works or at Krupp’s. Nor should there be any interference, if such works e.g. are nationalised.«383

Im Herbst 1941 hatte Winston Churchill die psychologische Kriegführung gegenüber dem Deutschen Reich an Außenminister Anthony Eden, den Informationsminister und Verantwortlichen für die BBC, Brendan Bracken, und kurzfristig an Hugh Dalton, Herr über ein weit verzweigt gesponnenes Agentennetz auf dem Kontinent, delegiert. Wie Churchill waren die drei »gegen jede Kompromißbereitschaft, auch gegenüber deutschen Widerstandskreisen.«384 Zwar hatte Churchill im Juni 1941 erklärt, dass »each individual fighting Hitler was regarded as an ally,« 385 doch billigte er mit dieser Aussage der innerdeutschen Opposition keinen Sonderstatus für die Nachkriegszeit zu. Die Political Warfare Executive (PWE) unter der Ägide des Außenministers übernahm Churchills Diktion. Priorität für die PWE hatten geheimdienstliche Aufklärung des deutschen Widerstands und Aufbau eines effektiven Propagandaapparats, um die Moral des Feindes zu unterminieren und

380 Ebd. 381 Ebd. 382 Ebd. 383 Ebd. 384 Zit. nach Kettenacker: Krieg zur Friedenssicherung, S. 193 f. Siehe auch ebd., S. 194, Anm. 7: »Eden, Anthony: The Reckoning, S. 386 ff.; Boyle, S. 307. Brackens Reaktion auf die Versuche von Bruce Lockhart und Crossman, die Gegensätze innerhalb der militärischen Führung Deutschlands wenigstens für propagandistische Zwecke auszunutzen, lautete: ‚It’s too late for redemption. They’re all tarred with the same brush.’ Genau das war auch Churchills Einstellung.« 385 Auerbach an Noel-Baker, 14.8.1945 (Bestand Foreign Office, FO 938/240, TNA). 169 den Widerstand im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten zu fördern.386

Auf der Konferenz von Casablanca im Januar 1943 vereinbarten Roosevelt und Churchill, von Deutschland und Japan nur die bedingungslose Kapitulation [unconditional surrender ] zu akzeptieren. Dieser Terminus schloss einen Kompromissfrieden prinzipiell aus. 387 Auerbach und acht weitere Petenten 388 unterlagen einer Fehleinschätzung der Interessen und Machtverhältnisse im Lager der Alliierten und scheiterten mit ihren Eingaben an den Abgeordneten John Parker, über Clement Attlees389 Prestige beim Premier- und Außenminister einen der beiden zu einer offiziellen Modifizierung der Formel unconditional surrender zu motivieren. 390 Auerbach und seine politischen Freunde kämpften noch zu Beginn des Jahres 1944 für die offizielle Anerkennung von Widerstandskämpfern, »who under the risk of their lives have been fighting and fight a n d Hitler’s war as allies (or at least co-belligerents) in this war.« 391 Dieser Personenkreis, betonte Auerbach, »is looking forward to collaborate with them [den Alliierten] after the crushing of the German war machine and the Nazi dictatorship in the reconstruction of a peace minded democratic Germany.« 392

Auerbach unterstrich den Widerspruch zwischen der offiziellen Politik der Alliierten nach Casablanca und den Geheimdiensten: »The British Services concerned have collaborated with German undergrounds as de facto-allies since pre-war times.« 393 Am Tag der Invasion der westlichen Alliierten in der Normandie, dem 6. Juni 1944, hörte Auerbach, überrascht nach seinen Erfahrungen mit der britischen Interpretation von unconditional surrender , in

386 Elkes, Pauline: Die »Political Warfare Executive«. Zur geheimdienstlichen Aufklärung des deutschen Widerstandes 1943-1944, in: Müller und Dilks (Hrsg.): Großbritannien und der deutsche Widerstand 1933-1944, S. 169 f. 387 Kettenacker, Lothar: Die britische Haltung zum deutschen Widerstand während des Zweiten Weltkriegs, in: Ders. (Hrsg.): Das »Andere Deutschland« im Zweiten Weltkrieg: Emigration und Widerstand in internationaler Perspektive, Stuttgart 1977, S. 61. 388 Auerbach an Parker, 26.2.1944. Anlage Liste mit nachstehenden Namen: Jahn, Gottfurcht, von Rauschenplat, Eichler, Schoettle, Vogel, Ollenhauer und Milch (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 51, AdsD). 389 Clement Attlee (1883-1967), 1935-1955 Vorsitzender der Labour Party. 1940-1945 Secretary of State for Dominion Affairs, ab 1942 Deputy Prime Minister. 1945-1951 Prime Minister, in: Robbins (Hrsg.): The Blackwell Biographical Dictionary of British Political Life in the Twentieth Century, S. 25 ff. 390 Auerbach an Parker, 3.1.1944 und 26.2.1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 51, AdsD). 391 Ebd. 392 Auerbach an Parker, 26.2.1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 51, AdsD). 393 Ebd. 170

Radio Hilversum, Eisenhower und H ǻkon [H ǻkon VII., König von Norwegen, lebte seit der Besetzung seines Landes im Exil] »erkennen die Illegalen eindeutig an … Genau so wie unser Vorschlag in Next Germany.« 394

Wie andere politische Emigranten, neigte Auerbach zu einer Überbewertung des Widerstands und der eigenen Person, denn »massenhafter Widerstand [existierte] nur in der Phantasie der Emigranten.« 395 Attlee, von Parker auf ein Ansinnen Auerbachs angesprochen, reagierte distanziert und misstrauisch gegenüber unerbetenen Ratschlägen, zumal er mit regierungsinternen Handlungsabläufen und psychologischer Kriegführung durchaus vertraut war: »I should like to know who the Germans are who have approached you, because one has to look very closely into their credentials before accepting advice. You may be sure that all questions concerning propaganda directed towards the German population are very carefully considered with expert advice.«396

Auerbach argumentierte, die offizielle britische Propaganda arbeite kontraproduktiv, sie »is doing its utmost to discourage underground revolutionaries inside Germany!« 397 Er erkannte offensichtlich in der diplomatischen Hinhaltetaktik der britischen Regierung gegenüber dem deutschen politischen Exil nicht die Unumstößlichkeit von unconditional surrender , und er resignierte nicht. Bei Pratt, dem amerikanischen Geheimdienstchef in England, bemühte sich Auerbach um Anerkennung der Antifaschisten im Deutschen Reich in der im Jahr 1944 in Dumbarton Oaks in den Grundzügen konzipierten und im Juni 1945 in San Francisco von den 50 Gründungsstaaten unterzeichneten Charta der Vereinten Nationen. Er schlug als Zusatz in Resolution 9 vor: »The United Nations’ Labour Commissioner should have to collaborate with and give every facility to those democratic workers’ committees, works councils and workers’ organisations which may arise in fighting dictatorship and the Axis war machine at the risk of their lives, or which may come into being under the leadership of members of these groups in the days of the crushing of the Axis war machine and the terror apparatus, and he should encourage the reconstruction.« 398 Auerbach befürchtete, dass »the term ‘unconditional surrender’ means a prisoner of war status for Nazis and anti Nazis,

394 Auerbach: Handschriftliche Notizen, 6.6.1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 20, AdsD). 395 Stöver: Das sozialistische Exil und der 20. Juli 1944, S. 34 f. 396 Attlee an Parker, 10.2.1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 51, AdsD). 397 Auerbach an Kahn-Freund, 22.7.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 47, AdsD). 398 Auerbach an Pratt, 15.4.1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 50, AdsD). 171 for men, women and children alike« 399 lähmende Wirkung auf Oppositionelle haben könnte, denn die Angst vor einer ungewissen Zukunft »is the main barrier between the active anti Nazis and those war weary masses who are in partial opposition to Nazism.« 400 Der von ihm formulierte Passus fand keine Aufnahme in die UN-Charta von 1945.

Der Bischof von Chichester und Mitglied des Oberhauses, George Bell, kämpfte nach einer Konferenz in Stockholm im Mai 1942 in einem mit Dietrich Bonhoeffer abgestimmten Memorandum, das »im wesentlichen auf den Plänen und Gedankengängen des Kreisauer Kreises beruhte,« 401 vergebens um Anerkennung des deutschen Widerstandes. Das Foreign Office blockte im Einvernehmen mit Churchill grundsätzlich alle Kontaktversuche deutscher Oppositioneller ab. 402 Auch eine weniger provokante Persönlichkeit als der Bischof, der als Mann der Linken seine Ernennung dem Labour-Premierminister Ramsay MacDonald verdankte, 403 wäre ohne Einfluss auf die Regierungspolitik geblieben. In Debattenbeiträgen im Oberhaus, in seinen Predigten und in Leserbriefen an The Times hatte Bischof Bell zudem immer wieder Luftmarschall Harris’ [bekannt unter der Bezeichnung Bomber-Harris] strategische Luftkriegführung und die Regierung attackiert. 404

Die konträr zum Außenminister »meist links stehenden Propagandaexperten von PWE« 405 drängten wie Bell, Auerbach und andere Gegner von unconditional surrender , »zwischen Deutschland und dem Hitler-Regime,« 406 zwischen Deutschen und Nationalsozialisten zu trennen und damit die Kollektivschuldthese von vornherein zu widerlegen. In den Erinnerungen an frühe politische Erfahrungen erwähnte Willy Brandt seine Begegnung mit Adam von Trott zu Solz im Juni 1944 in Stockholm. Trott legitimierte sich als seriöser Gesprächspartner durch Grüße von Brandts Mentor aus Kieler Tagen, Julius Leber, ehemaliger Oberbürgermeister von Kiel. Als Visitenkarte präsentierte er eine Begebenheit im Lübecker Ratskeller im Jahr 1931 und fügte Lebers Bitte an, ihm zu vertrauen. 407

399 Ebd. 400 Ebd. 401 Schlingensiepen: Vom 2. Mai 1933 zum 20. Juli 1944, S. XXIX. 402 Foot, M.R.D.: Britische Geheimdienste und deutscher Widerstand 1933-1945, in: Müller und Dilks (Hrsg.): Großbritannien und der deutsche Widerstand 1933-1944, S. 164. 403 Ebd. 404 Ebd. 405 Kettenacker: Krieg zur Friedenssicherung, S. 203. 406 Ebd. 407 Brandt: Links und Frei, S. 364. 172

»Von aufregender Neuigkeit [für Brandt] war der Hinweis, daß die Beseitigung Hitlers für die nächsten Wochen geplant sei.« 408 Brandt stellte sich im Verlauf des Gesprächs die Frage: »Weswegen kam Trott zu mir? Es ging zunächst darum, ob ich mich der neuen Regierung zur Verfügung stellen und einstweilen für eine noch näher zu bestimmende Aufgabe in Skandinavien bleiben würde. Meine Antwort lautete, ohne zu zögern, ja, zumal ich sicher annehmen durfte, daß es auch Leber sei, der diese Frage an mich richtete.« 409

Willy Brandt und August Enderle kannten sich seit Jahren durch ihre politische Arbeit in der SAP. Nach Brandts Flucht von Norwegen nach Schweden im Sommer 1940 übernahmen die beiden Genossen die Leitung der Auslandsvertretung der SAP in Stockholm. Ohne Nennung von Namen erreichten die ITF Aufzeichnungen über Kernpunkte des Gesprächs zwischen Brandt und Trott zusammen mit dem Geheimtipp auf ein kurz bevorstehendes Attentat auf Hitler. Für die Authentizität des Informanten konnte sich Enderle nicht verbürgen, »obwohl er sich auf eine zuverlässige Person berief und auch hier zuverlässige Personen als Rekommandation hat. Wenn er ‚echt’ ist, darf weder er noch sein Kreis durch Unvorsichtigkeiten unsererseits gefährdet werden gegenüber der Gestapo.« 410

Die Version Enderles vom Juni 1944 deckte sich mit jener Brandts in seinen im Jahr 1982 erschienenen Erinnerungen: »Wir haben Euch schon gelegentlich mal von einem deutsch. Beamten berichtet, der auf der Durchreise nach Norweg. Kontakt mit Norw. hier im Land hatte u. über auch illeg. Organisation in Dtschld. von Christen, bestimmten Offizieren, bestimmten Sozialdemokr. u. Gewerkschaftern, in der er selbst tätig sei, sprach. Gelegentlich nahm er auch Material von hier mit, u.a. den ‚Economist’ u. Bücher englisch. oder amerikanisch. Reporter über Deutschland. Dieser Tage hat ein anderer, hochstehender Beamter die Gelegenheit seines Hierseins benutzt, um aufgrund der Verbindungen des Ersterwähnten ausführlicher über verschiedene Dinge zu sprechen … Immerhin hat er, aufgrund von Diskussionen über Nachkriegsdeutschland, die der Vermittler mit uns öfter hatte, sich ziemlich eingehend in Diskussionsform mit dem Betreffenden [Brandt] unterhalten. Dieser Deutsche erklärte, einer schon lange bestehenden Spitzengruppe breitester

408 Ebd., S. 365. 409 Ebd., S. 368. 410 Max an »Liebe Freunde« [der ITF], 28.6.1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 2, AdsD). 173

Basis … anzugehören. Wir haben den Eindruck gewonnen, daß es sich sehr stark um Spitzenkontakt u. Beratungen handelt mit der Einstellung, diese Spitzen werden die Sache ‚schmeißen’. Aber - wenn das Ganze stimmt, doch immerhin mit Kontakt auch mit illeg. Arbeitergruppen, die mehr in der Masse verankert sind … Sie sprechen in letzter Zeit auch besonders intensiv darüber, ob u. wie sie noch von innen her einen Koup gegen das Naziregime, unter Einfluß auf die Fronten, organisieren können. Sie fühlen sich dabei besonders gehemmt, weil man so gar nichts von den Alliierten zu hören bekomme, daß glimpfliche Bedingungen für ein Nach-Hitler-Deutschland gegeben würden. Sie fürchten sich, die Träger einer Kapitulation schlechthin zu sein mit furchtbaren Bedingungen für Deutschland nach dem Krieg. Sie wollen auch nicht verantwortlich gemacht werden für Abtretung Ostpreußens etc. Sie meinen, solche Dinge würden Nährboden für große nationalistische Oppositionsbewegungen geben … Wegen dieser Befürchtungen halte auch immer noch überall die Front, ohne diese Befürchtungen würde es relativ leicht sein u. schnell gehen, Riesenbewegungen gegen das Naziregime zu entfachen.« 411

Der Gast aus Deutschland äußerte nach Aussagen Enderles auch Befürchtungen zu einem eventuellen Aufstand von Zwangsarbeitern: »Wenn gegen deren Wüten gegen alles Deutsche nicht noch ein Weg gefunden werde, befürchten sie Massenabschlachtungen, sodaß auch Antinazisten, ob sie wollen oder nicht, hineingezogen werden. Am wenigsten zu befürchten sei von den Franzosen in Deutschland.« 412 Wissenswert für die westlichen Alliierten und das sozialistische Exil in London war die Reportage Enderles über Vorbereitungen von Kommunisten für die Zeit nach Hitler. Personen aus dem Moskauer Nationalkomitee Freies Deutschland wurden ins Reich eingeschleust. »Die Kreise des Berichterstatters stehen dem gar nicht unsympathisch gegenüber, wollen aber heute keinerlei Kontakt mit jenen haben, weil sie Grund haben zu befürchten, daß Gestapoagenten in diese Bewegung eingedrungen sind. In ihren außenpolitischen Diskussionen spielt die Frage des Verhältnisses zu den Russen eine übergeordnete Rolle, weil sie deren Eindringen in Dtschl. eher kommen sehen als seitens der übrigen Alliierten, u. weil sie auch glauben, daß der russ. Einfluß sich in Deutschld. stärker geltend machen wird.« 413

411 Ebd. 412 Ebd. 413 Ebd. 174

Enderle fuhr fort: »Die Parteienbildung liegt ihnen auch nicht so sehr am Herzen, sondern irgendwie eine breite Volksfront.« 414 Zum Aufbau von Gewerkschaften erklärte der deutsche Diplomat: »Sie würden die Wichtigkeit der Bewegung in den Betrieben u. lokal betonen, hätten aber auch schon die Personen völlig zusammen (nur Personen, die heute in Dtschld. sind), die sofort eine provisor. Leitung darstellen könnten. Über zukünftige Planwirtschaft, staatl. Wirtschaftslenkung etc. diskutieren sie offenbar kaum, in der Einstellung, daß das ja heute schon vorhandene, zu übernehmende u. selbstverständlich bleibende Dinge seien. Offenbar beschäftigen sie sich (zumindest nach der Vorstellung des Berichtenden) mit der Frage der Großgrundbesitzer u. industriellen Großunternehmer nur im Zusammenhang mit der notwendigen Beseitigung aller Nazistenlakaien … Auf Erziehungsgebiet u. überhaupt im neuen Staat u. den neuen Organisationen legen sie ganz besonderes Gewicht darauf, daß der Mensch als solcher geachtet werden müsse (als sehr starke Reaktion gegen die Nazi-Mentalität).« 415

Das Attentat am 20. Juli 1944 missglückte, und Walter Auerbach und seine Freunde warteten weiter auf eine sozialistische Revolution, auf eine Revolution von unten. Noch zwei Jahrzehnte später, nach seiner Remigration, bedauerte Auerbach in Tagebuchaufzeichnungen die verpasste Chance einer Revolution in Deutschland nach 1945: »Die Grosse Koalition [1966-1969] in Bonn hat verärgert. Im Zonengrenzkreis Lüchow-Dannenberg hat die rechtsradikale NPD ausgesprengt, dass die Arbeitslosigkeit mit der Bildung der Grossen Koalition November/Dezember [1966] zu steigen begann. Viele sehen nicht, dass damit Ursache und Wirkung bewusst vertauscht werden. Bei Fortdauer des Erhard- Kurses wäre mit Hilfe der Bundesbank eine klassische Deflationspolitik eingeleitet worden. Wir hätten dann bald 3 - 4 Millionen Erwerbslose gehabt. Weil Prof. Schiller [Wirtschaftsminister] Franz-Josef Strauss [Finanzminister] von der Notwendigkeit einer deficit-spending-Politik à la Keynes überzeugt hat, war der ‚Investitionshaushalt’ möglich. Die ‚Profitspritze’ … verärgert sehr. In Goslar sagte ich den IG-Chemilern [Industriegewerkschaft Chemie, Papier, Keramik], dass diese nicht nötig gewesen wäre falls wir nach 1945 eine soziale Revolution gehabt hätten. Jetzt müsse man Politik auf der Basis der jetzigen

414 Ebd. 415 Ebd. 175 gesellschaftsstrukturellen Lage machen. Aber die Spitze der SPD schweigt zu dieser Frage.« 416

4.3 The Next Germany , eine Antwort auf Vansittarts Thesen

Das Penguin Special 417 The Next Germany nannte Walter Auerbach »the first comprehensive democratic alternative to Lord Vansittart« 418 und bat den amerikanischen Geheimdienstchef in London um Weiterleitung an Präsident Franklin D. Roosevelt. Dem Generalsekretär des TUC, Walter Citrine, gegenüber sprach er von »our Labour alternative to Vansittartism.«419 Eine dritte Variante nannte er seinem inzwischen in den USA lebenden Freund Henry Ehrmann: »A few German socialists now in this country considered it harmful that the discussion on the future of Germany centred round the Vansittart-Utopianists complexes. They therefore have worked out a platform of discussion.« 420 Auerbach bedeutete Ehrmann seine politische Unabhängigkeit und die der anderen drei Autoren: »None of them belongs to one of the refugee groups.« 421

Das Werk erschien zwar anonym, doch die Namen der Autoren waren im politisch interessierten London bekannt. Etwa dreißig Jahre nach Erscheinen offenbarte Auerbach Einzelheiten zum Procedere: »When we started work we found it necessary to have an economist with us and we contacted Mr. Mandelbaum whom we knew as an economic adviser of the ADGB … up to 1933 … Since prof Kahn-Freund had his academic duties and the undersigned [Walter Auerbach] his work with the headquarters of the International Transport Workers Federation the main editorial work fell to dr von Rauschenplat. We agreed, therefore, that he should sign the contract and receive the fee. However, all parts of the booklet have been discussed in outline by the three of us very often, parts

416 Auerbach: Tagebuch, Bd. 2, 3.6.1967, S. 96 ff. (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 2, AdsD). 417 The Next Germany erschien als Penguin Special mit einer Auflagehöhe von 200.000 in Großbritannien und 100.000 in den USA. Auerbach: Tagebuch, Bd. 2, 13.7.1967, S. 139 ff. (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 2, AdsD). 418 Auerbach an Pratt, 12.10.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 48, AdsD). 419 Auerbach an Citrine, 13.10.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 48, AdsD). 420 Auerbach an Ehrmann, 24.7.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 47, AdsD). 421 Ebd. 176 have been redrafted several times and prof Kahn-Freund did the polishing of the language and Mr. Mandelbaum gave his comments.« 422

Auerbach und seine politischen Freunde wiesen ihr Leserpublikum explizit darauf hin, dass das vorgelegte Konzept einer von der Arbeiterklasse getragenen Revolution »does not contain any prophecies - it tries to indicate possible developments and to show why some of them are desirable, no more. Nor does it try to supply any blue-prints for action … All we have tried to do is to examine the chances of an integration of a new Germany into a new Europe,« 423 und sie ergänzten: »We are envisaging a Socialist solution for the problems of Germany, both for its own sake and with a view to facilitating the integration of Germany into Europe by destroying those forces which have produced German aggression.« 424

Im Kontext mit historischen Rückblicken diskutierten die Vordenker immer wieder ihr Credo einer Revolution von unten. Aus ihrer Perspektive schieden andere gesellschaftliche Gruppierungen als die Arbeiterklasse aus, da sie weitgehend in das System der nationalsozialistischen Ideologie involviert waren, doch »Army officers in opposition to Hitler, religious opponents - all these may play a part,« 425 nicht aber die Mittelklasse. »The middle classes had lost the basis of their economic security and of their social self-assurance as a consequence of the destruction of the currency which annihilated their savings between 1918 and 1923 … Much of the success which Hitler’s master-race propaganda achieved among the middle classes is due to this fact. Racial pride became a substitute for class pride. If the ‘little man’ was no longer able to look down upon the workman, he was at least able to feel his superiority over the Czech, the Pole, and the Jew.« 426 Die Arbeiterklasse zeigte nach den Erkenntnissen jener Illegaler, mit denen Auerbach, Jahn und die ITF kooperierten, »relative immunity … to Nazi propaganda.« 427 Ihre Kontaktpersonen hatten regelmäßig aus ihrem beruflichen Umfeld berichtet, dass »Hitler’s attempt to atomise the worker’s opposition, as the only factor in Germany capable of becoming a real threat to Imperialism, has been anything but completely successful. Nor can it succeed, for the reason that Hitler cannot destroy the natural organisational basis of this opposition - the

422 Auerbach an Thomas (Lecturer in Politics, University of Kent at Canterbury), 18.10.1971 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 50, AdsD). 423 Auerbach u.a.: The Next Germany, S. 9. 424 Ebd., S. 11. 425 Ebd., S. 15. 426 Ebd., S. 20. 427 Ebd., S. 34. 177 factories and workshops.« 428 Darin lag begründet, dass »a genuine German revolution can [only] be carried through by the working classes who, in a revolutionary situation even after ten years of Terror and Nazi propaganda, can create the necessary organisation and draw in potential allies. The working class is indeed the only compact democratic force in a country where the middle classes have ceased, since Bismarck’s time, to be an independent political factor.« 429 Eine proletarische Revolution hätte nicht das einseitige Ziel, Hitler und seine Entourage zu stürzen und zu vernichten, sie »must be a fight for a better Germany.« 430

Dass ein revolutionärer Prozess unkalkulierbare Risiken für politische Akteure und die Bevölkerung in sich bergen könnte, war dem Autorenteam durchaus bewusst. Sie sprachen von »its formidable implications, of the horror and the suffering which it may involve.«431 Sie erinnerten an die Revolution von 1918 und befürchteten, dass erneut »the forces of reaction will try to entrench themselves in power by offering to the revolutionary authorities their assistance in restoring law and order. It would be fatal if such offer were accepted, but it would be equally fatal if any non-German authorities - military or civil - tried to take out of the hands of the revolutionary authorities the function of eliminating the forces of reaction and aggression,« 432 selbst bei zu erwartenden »chaotic acts of mass vengeance.« 433

Einer der Rezensenten von The Next Germany meinte: »Germany must be reconstructed from the bottom upwards as a Socialist state. We share their [the authors’] certainty.«434 Ein anderer, der Literaturkritiker Minshall, bezweifelte in International Affairs den Aufbau eines demokratischen Staates nach einer sozialistischen Revolution: »Such a Socialist State would certainly not be a democratic one and might even prove an aggressive one against States with ‘capitalist’ or other ideologies. Yet the Allies are asked to help to set up such a State - one which would retain, in a new guise, many of the evils of the totalitarian system with class war instead of race war.« 435 Das Exempel der

428 Ebd. 429 Ebd., S. 15. 430 Ebd. 431 Ebd., S. 13. 432 Ebd., S. 42. 433 Ebd. 434 The Highway, December 1943, Book Reviews, S. 35 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 50, AdsD). 435 Minshall, T.H., in: International Affairs, April 1944, Reviews of Books, S. 289 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 50, AdsD). 178 russischen Oktoberrevolution von 1917 und die Diktatur in der UdSSR untermauerten die Befürchtungen Minshalls. Auerbach, Kahn-Freund, Mandelbaum und von Rauschenplat träumten von einer dezentralisierten Rätedemokratie. Karl Marx hatte 1848 formuliert: »Jeder provisorische Staatszustand nach einer Revolution erfordert eine Diktatur, und zwar eine energische Diktatur.« 436 Skrzypczak interpretierte zwar Marx’ Thesen zur Revolution dahingehend, dass »der proletarischen Diktatur im Sinne von Marx und Engels die Aufgabe zufällt, demokratische Mehrheitsentscheidungen mit allen angemessenen Mitteln durchzusetzen … Wo die Spielregeln der Demokratie eingehalten werden, sieht auch Marx die Möglichkeit des friedlichen Weges zum Sozialismus gegeben.« 437

Auch das Autorenkollektiv hatte die Dilemmata erkannt: »A German revolution will have to steer its course warily between the Scylla of party dictatorship and the Charybdis of a formal democracy which, devoid of a necessary foundation in the active participation of the people, might serve as a screen behind which the forces of reaction might work their resurrection … We believe that democratic institutions of government cannot be introduced in the future Germany unless the local processes of administration have previously been subjected to democratic control … We envisage a decentralised democracy which, we hope, may gradually emerge from the initial system of Councils.«438 Problematisch erschien, dass »For some time - during the period of ‘transition’ - it is difficult to see how revolutionary authorities could tolerate the formation of new parties.«439 In einem Brief an den Herausgeber von International Affairs missbilligte Auerbach, dass Minshall der Leserschaft die zentrale These Economic and social transformation and the establishing of new spiritual values are the indispensable preconditions of a European minded Germany 440 verschwiegen hatte. Conditio sine qua non einer sozialistischen Revolution waren für Auerbach zentrale Wirtschaftsplanung und Vergesellschaftung der wichtigsten Produktionsmittel.

Willy Brandt beurteilte eine Revolution auf deutschem Boden aus seiner skandinavischen Perspektive realistischer als die vier Freunde in London. Er sprach von einer demokratischen, nicht einer sozialistischen Revolution. Analog

436 Zit. nach Henryk Skrzypczak: Marx. Engels. Revolution. Standortbestimmung des Marxismus der Gegenwart, Berlin 1968, S. 60. 437 Ebd., S. 61 ff. 438 Auerbach u.a.: The Next Germany, S. 52 f. 439 Ebd., S. 58. 440 Auerbach an Editor of International Affairs (Entwurf, o. D.) (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 50, AdsD). 179 zu den Thesen zum Oppositionsverhalten in Teilen der Arbeiterschaft, wie Auerbach sie regelmäßig in Faschismus formulierte, sah Brandt den Schwerpunkt nicht »in den illegalen Gruppen, sondern an den Arbeitsplätzen … Kriegswirtschaftlich ist der - sicher zu schwache - passive Widerstand in den Betrieben jedoch nicht ohne jegliche Bedeutung. Selbst ein Prozent geringere Arbeitsproduktivität bedeutet für Deutschland einen Verlust von mehr als einer Milliarde Kronen pro Jahr.« 441 Erwartungen an organisierte Aufstände hegte Brandt nicht, da Widerstandszirkel außerhalb der Betriebe zumeist voneinander isoliert arbeiteten und keinen ideologischen Zusammenhalt hatten. Deren langfristiges Interesse galt, nach Brandts Erkenntnissen, einer freien Gewerkschaftsbewegung nach dem Zusammenbruch des Nazi-Systems. 442 Dennoch war er überzeugt, »dass die militärische Niederlage eine Erhebung breitester Volksschichten«443 auslösen würde, wissend, dass die Forderung der Alliierten nach unconditional surrender die Ausschaltung aller Deutschen, Anti- Nazis, Nicht-Nazis und Nazis bedeutete. Doch Brandt stellte sich vor, dass Werke mit nationalsozialistischen Inhabern oder Direktoren »die Arbeiter selbst … übernehmen - vielleicht im Namen einer Staatsmacht, die noch im Begriff ist, sich zu konstituieren. Gesellschaftliche Kontrolle der Industrie wird eine natürliche Konsequenz einer ernsthaften antinazistischen Bewegung werden.« 444

In ihren Visionen hielten es Auerbach und seine Mitstreiter für »the duty of German workers to transform belligerent Germany in a country which can be integrated in a Europe longing for peace and social security.«445 Ähnlich wie ihr berühmter Vorgänger im London des 19. Jahrhunderts, Karl Marx, thematisierten sie nicht den eigenen Part im konzipierten Revolutionsprozess. Dennoch betrachteten sie sich nicht nur als Wissenschaftler und Theoretiker fernab vom Kontinent, sondern als »socialists who have spent most of their political lives in the German Labour Movement.«446 Die potentiellen Revolutionskader, »the men and women of the underground movement in the factories,« 447 kannten diese Theorien nicht, ebensowenig die noch zu befreienden politischen Häftlinge in Zuchthäusern und Konzentrationslagern, von denen Auerbach und seine Kollaborateure durch ihre konspirative Arbeit angeblich wussten, dass »many

441 Brandt, Willy: Zwei Vaterländer. Deutsch-Norweger im schwedischen Exil - Rückkehr nach Deutschland. 1940-1947, Berliner Ausgabe, Bd. 2, Bonn 2000, S. 146. 442 Ebd., S. 145 f. 443 Ebd., S. 140. 444 Ebd., S. 141. 445 Auerbach an Citrine, 13.10.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 48, AdsD). 446 Auerbach u.a.: The Next Germany, S. 2. 447 Ebd., S. 39. 180 political prisoners … have not been broken by imprisonment; on the contrary they have been toughened.«448 Sie wurden gebraucht, denn »in any case it must have an élite of leaders who are its driving force. That was the case with the revolutionary movements of the English seventeenth century, with the Great French Revolution, and in Russia in 1905 and 1917.«449

Mit einem Memorandum an Oldenbroek vom November 1944 verließ Auerbach den Elfenbeinturm und kehrte zurück zur Realpolitik. Im Oktober hatten die Alliierten Aachen eingenommen. Sie traten als Sieger und Besatzer, nicht als Befreier auf. Nunmehr betrachtete Auerbach die Situation nüchterner: »Im besetzten Deutschland wird zunaechst kein Raum fuer wirkliche politische Betaetigung sein, die politische Macht liegt zunaechst ausschliesslich in den Haenden der Besatzungsmaechte.« 450 Bereits zwei Monate zuvor hatte er seine Aufgabe als Repräsentant der ITF im Nachkriegsdeutschland »especially in mediating between occupation authorities and trade unions, assisting in the re- shaping of the Labour administration, preparing trade union publications and trade union broadcasts« 451 skizziert. Rückblickend reflektierte Auerbach im Januar 1946 selbstkritisch: »Wir unterschaetzten damals die Bedeutung des dort von Roosevelt gepraegten Schlagworts von der bedingungslosen Uebergabe … Die Folge war eine Isolierung demokratischer Friedensstroemungen in Deutschland und das Ausbleiben notwendiger Hilfe fuer Versuche Deutscher, den Krieg zu verkürzen und die politische Einbeziehung deutscher demokratischer Kraefte in die non-fraternisation-Politik. Wir überschaetzten weiter das Ausmass der deutschen Teilopposition und ueberschaetzten die Aktionsmoeglichkeiten der Opposition.« 452 Ähnliche Erkenntnisse hatten Jahn und Auerbach bereits ein halbes Jahr nach Erscheinen von The Next Germany : »We cannot give any figures about underground activists among German workers, not even approximate estimations. Neither can the Gestapo. Their number is still comparatively smaller in comparison with active opposition in most of the occupied countries.«453

448 Ebd., S. 40. 449 Ebd., S. 39. 450 Auerbach: To the attention of Mr. J. H. Oldenbroek, 10.11.1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 48, AdsD). 451 Ebd. 452 Auerbach an Küstermeier, Anfang Januar 1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 59, AdsD). 453 Kramer und Auerbach an Messer (Branch Secretary, T.G.W.U.), 16.5.1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 59, AdsD). 181

Im Jahr 1940 hatten BBC und Sunday Times Extrakte aus Vansittarts Black Record. Germans Past and Present 454 veröffentlicht, und im Januar 1941 erschien die erste Auflage. Black Record war entstanden unter dem Eindruck der herrschenden Kriegshysterie, der militärpolitischen Situation auf dem Kontinent, in Teilen Skandinaviens und einer drohenden Invasion des Vereinigten Königreiches. Vansittarts Thesen zum deutschen Volkscharakter »prägten in den folgenden Jahren das Bild von Deutschland und den Deutschen in der britischen Öffentlichkeit bis weit in die Labour Party hinein.« 455 Seine antideutsche Propaganda diente der Stärkung der Heimatfront und den »Interessen chauvinistischer Kreise in England und innerhalb des alliierten Exils.«456

Zahlreiche Persönlichkeiten aus den besetzten Staaten schlossen sich aus eigener Betroffenheit Vansittarts deutschfeindlichen Darstellungen an. Die Kontroverse um Vansittart, »diplomatischer Chefberater der britischen Regierung und vordem Under-Secretary of State im Foreign Office,« 457 endete mit seiner »Entlassung aus dem Regierungsdienst und seine[r] politische[n] Kaltstellung durch Verleihung der Peerswürde.«458 Fortan polemisierte er im Oberhaus gegen Deutsche, Deutschland, gegen ausgewählte Emigranten und Politiker der Labour Party. In seiner Jungfernrede am 18. März 1942 griff er namentlich Stampfer, Fraenkel, Crossman, aber auch den Belgier Louis de Brouckère, »former Président of the Labour and Socialist International,« 459 an. De Brouckère hatte im Vorwort des Penguin Special geäußert: »The fundamental idea of the book could be expressed as follows: a democratic and socialist revolution in Germany is as necessary for her own good as for peace of the world … Never before, as far as I know, have the aim and the means of the German revolution been so conscientiously faced … The world needs a German democracy.«460

Über Stampfer äußerte Vansittart, dass er »in the last war was so bellicose, was such a warmonger in fact, that when the Socialist Vorwärts was temporarily suspended the militarists allowed it to be revived with Herr Stampfer as chief editor - and he gave them every satisfaction.«461 Auerbach war nicht expressis

454 Vansittart, Robert: Black Record: Germans Past and Present, London 1941. 455 Mehringer: Waldemar von Knoeringen, S. 457. 456 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 158. 457 Mehringer: Waldemar von Knoeringen, S. 457. 458 Kettenacker: Krieg zur Friedenssicherung, S. 364. 459 Auerbach u.a.: The Next Germany, S. 7. 460 Ebd. 461 Lord Vansittart: Parl. Deb., H. L., 5. Serie, Bd. 123, Sp. 311, 18.3.1942. 182 verbis erwähnt, aber als »example of a certain publisher-author«462 apostrophiert. Vansittart unterstellte, dass »according to him [Auerbach], of course, the Germans are entirely guiltless as far as I can make out. The culprit is an ‘ism, or perhaps a whole bunch of ‘isms. But when you come to look at the ‘ism on which he wants to put his money you find that it bears a suspicious resemblance to the German horse that fooled and failed us last time. It is easy to see where that bookmaker gets his stuff. That kind of Anti-Nazism is not only worthless but flat- catching.«463

Vansittarts Kritik an Richard Crossman betraf die in der BBC beschäftigen enemy aliens. Er vermutete, »that there has been perhaps a tendency to forget some experiences of the last war, and to assume rather too easily that because a man has left Germany he is necessarily a good German … a good European, let alone Pro-British« 464 und dass gewisse Emigranten, auch wenn sie zu den Antifaschisten zählten, eine Gefahr für England und die Alliierten darstellten, denn die »combination of German Socialism plus Anti-Nazism is nothing like an adequate guarantee of security or reliability, either now or in the future … The fact is that German Socialism has been deeply tainted with militarism and expansionism. That is really why there was no change in 1918. The spirit of 1914 was carried on into Weimar, and that again is why there was no revolution. Such revolution as there was was extinguished by the Socialists themselves, in unhappy alliance with the militarists, they went into re-armament, and so laid the foundation of this war.«465 Lord Noel-Buxton bot in seiner Replik im Oberhaus der BBC und seinem Parteifreund Crossman Rückendeckung: »Everyone knows the reason why these aliens are employed by the B.B.C. … It is perfectly well known that they are not employed in influencing policy. They are employed as translators and as announcers in the main and also as programme assistants and typists and monitors … The employment of the most perfect announcers has to be applied on a very wide scale by the B.B.C. There are, I understand, no fewer than forty languages for which the B.B.C. provide.«466

In seiner ersten Rundfunkansprache verglich Vansittart die Deutschen mit einer bekannten Raubvogelart: »In 1907 I was crossing the Black Sea in a German ship. It was spring, and the rigging was full of bright-coloured birds. I noticed one

462 Ebd., Sp. 313. 463 Ebd. 464 Lord Vansittart: Parl. Deb., H. L., 5. Serie, Bd. 123, Sp. 309, 18.3.1942. 465 Ebd., Sp. 310. 466 Lord Noel-Buxton: ebd., Sp. 320. 183 among them in particular, strongly marked, heavier-beaked. And every now and then it would spring upon one of the smaller, unsuspected birds, and kill it. It was a shrike or butcher-bird; and it was steadily destroying all its fellows. Now I am a bird-lover, and I couldn’t stand this. I only had a revolver handy, and it took me the whole day to get that butcher-bird. And while I was doing it, a thought flew across my mind, and never again left it. That butcher-bird on that German ship behaved exactly like Germany behaves.«467

In einem weiteren Beitrag in der BBC griff Vansittart die Metapher butcher-bird erneut auf und beschrieb diesen Vogel als »an animal which looks harmless enough to deceive its neighbours, but which is continually springing on them when they least suspect it, and butchering them … He likes his victims to get cosy and confiding, before he pecks them to death.«468 Vansittarts antideutsches Denken, sein negatives Urteil über den deutschen Volkscharakter und sein Rassismus waren ein Konglomerat aus eigenem Erleben, Vorurteilen und Erfahrungen auf seinem ureigenen Gebiet, der internationalen Politik: »The Germans had no more intention of disarming or of limiting warfare, before 1914 than before 1938, though they sometimes dangled baits - swiftly whisked away - before the democratic nose … Have you ever wondered why the Nazis have left the ex-Kaiser unmolested in Holland? It is because his foreign policy was broadly the same as that of Hitler or any of their distinguished predecessors.«469 Anne Katrin Flohr bilanzierte in ihrer Dissertation über Feindbilder in der internationalen Politik, dass ohne Feindbilder dem Individuum in der komplexen Struktur internationaler Politik wichtige Anhaltspunkte zur kognitiven und emotionalen Orientierung fehlen. Feindbilder erleichtern auch die eigene Identitätsfindung. 470

Auerbach bekundete gegenüber Lehmann-Russbueldt 471 : »Ich schaetzte und schaetze bei Vansittart, dass er klar das politische Problem herausgearbeitet hat: werden deutsche Kraefte stark genug sein, den deutschen Kriegsherd endgueltig auszubrennen oder nicht? Diese einzige positive Seite neben der blendenden Stilistik habe ich von Anfang an verteidigt. Ueber das, was Vansittart als

467 Vansittart: Black Record, S. 1. 468 Ebd., S. 14 f. 469 Ebd., S. 27 f. 470 Flohr, Anne Katrin: Feindbilder in der internationalen Politik. Ihre Entstehung und ihre Funktion, Münster/Hamburg 1991, S. 137. 471 Otto Lehmann-Russbueldt (1873-1964), Schriftsteller und Generalsekretär der Deutschen Liga für Menschenrechte. 1933 Emigration über die Niederlande nach Großbritannien. Mitarbeiter bei Fight for Freedom, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 425 f.

184

Tatsachen vorsetzt, erlauben Sie mir, als Historiker meine eindeutige Meinung zu haben.«472 Diese formulierte er im September 1943 in einem Leserbrief an The Manchester Guardian , nachdem Vansittart in einer öffentlichen Veranstaltung erklärt hatte: »The German Left was in many ways little better than the Junkers. It had clamoured for annexations in the last war and led the Russians to believe they were going to get peace without indemnity or loss of territory. The resulting treaty of Brest-Litovsk had been ‘about the meanest and dirtiest thing ever done’ and not one of the German Social-Democrats had lifted a finger against it. The German workers, when there was no Hitler tyranny, had made no protest against rearmament … The bulk of the German Left … had gone over to Hitler by May, 1933.« 473 In dem Leserbrief stellte Auerbach richtig: »Arbeiter in Berlin, Kiel, Hamburg, Leipzig, Braunschweig, Koeln, Breslau, Muenchen, Nuernberg, Mannheim, Magdeburg, Halle, Bochum, Dortmund etc. haben durch Massenstreiks im Januar 1918 gegen Brest-Litowsk protestiert.«474 Er wies auch auf die Existenz einer aktiven Friedensbewegung in den Jahren 1918 bis 1933 hin, in der sich die Majorität der sozialdemokratischen, kommunistischen und katholischen Arbeiterorganisationen und große Teile des Reichsbanners und der Gewerkschaften gegen jede Kriegsvorbereitung engagierten.475

Vansittarts Thesen provozierten eine Pro-und-contra-Debatte im deutschen und internationalen Exil und im Januar 1942 die Gründung von Fight-for-Freedom (FFF), 476 einem Komitee, das »stands for an associated political effort of Socialists and Trade Unionists from the Occupied Territories and eminent British colleagues with a few German Social Democrats and Trade Unionists.« 477 Oldenbroek und Tofahrn von der ITF, die deutschen Sozialdemokraten Walter Loeb 478 und Kurt Geyer, Vorstandsmitglied von SOPADE, der frühere Antwerpener Bürgermeister und Gewerkschafter Camille Huysmans 479 , der Pole

472 Auerbach an Lehmann-Russbueldt, 14.1.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 44, AdsD). 473 The Manchester Guardian, Monday, September 20, 1943: Lord Vansittart on the German Menace. 474 Auerbach an die Genossen Vogel, Eichler, Schoettle, 29.9.1943 (Draft: To the Editor, The Manchester Guardian) (Bestand SOPADE/Emigration, Mappe 17, AdsD). 475 Ebd. 476 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 157. 477 Faltblatt »Fight for Freedom« (o.D.) (Paul Tofahrn Papers, 238/IT/3/1-49, MRC). 478 Walter Loeb (1895-1948), Bankier und Wirtschaftsexperte, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 451. 479 Camille Huysmans (1871-1968), Herausgeber von Volksgazet Antwerpen, Bürgermeister von Antwerpen, Parlamentsabgeordneter. 1940 Emigration nach England, 1946-1947 Premierminister in Belgien. »Er ist eine der bemerkenswertesten 185

Adam Ciolkosz und Repräsentanten der norwegischen, tschechoslowakischen, spanischen sozialistischen Exilparteien und der britischen Labour Party gehörten FFF an. 480 Geldmittel für deren zahlreiche Publikationen zur Aufklärung der internationalen Staatengemeinschaft über die »ununterbrochenen Aggressionen des deutschen Volksimperialismus gegen seine Nachbarn« 481 stellten Exilregierungen und jüdische Organisationen zur Verfügung. 482

Die Spaltung des deutschen Exils verlief quer durch die sozialdemokratische und sozialistische Szene. Geyer und Loeb verließen SOPADE. Korrespondenzen mit Loeb und Huysmans belegten die Vehemenz, mit der Walter Auerbach den antideutschen Kurs von FFF und den Vansittartismus bekämpfte. Loeb, Geyer und andere Sozialdemokraten traten mit einer Deklaration an die Öffentlichkeit, die teils wie eine Übersetzung aus Vansittarts Black Record klang. Sie umschrieben sein »Hitler is no accident«483 mit den Worten, »dass Hitler nicht ein Zufall, sondern dass er von der größten Massenbewegung der deutschen Geschichte in die Macht getragen worden sei.«484 Ihre Angriffe richteten sich vorrangig gegen die Führungselite der deutschen Arbeiterbewegung, in der sie in den Jahren 1914 bis 1918 eine »wesentliche Stütze des Kriegswillens des deutschen Volkes« 485 sahen. Der Sozialdemokratie warfen sie vor, »im November 1918 keine Revolution gegen den deutschen Nationalismus, nach dem Zeugnis ihrer Führer überhaupt keine Revolution gewollt« 486 zu haben. Zudem hätten sie gemeinsam mit den Spitzenfunktionären des ADGB »eine nationalistische Propaganda gegen den Versailler Vertrag geführt.«487

Die Sunday Times hatte einen Brief Camille Huysmans’ abgedruckt, der Auerbach zu der Brüskierung hinriss, »dieser Brief kann nicht vom roten Buergermeister von Antwerpen stammen, dieser Brief muss eine Faelschung von Goebbels sein,«488 fügte jedoch einschränkend hinzu, dass er Huysmans nicht

Figuren in der internationalen Arbeiterbewegung«, in: Gisela Brinker-Gabler (Hrsg.): Toni Sender: Autobiographie einer deutschen Rebellin, Frankfurt/M. 1981 (Originalausgabe New York 1939), 277 f. 480 Faltblatt »Fight for Freedom« (o.D.) (Paul Tofahrn Papers, 238/IT/3/1-49, MRC). 481 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 158. 482 Ebd. S. 157. 483 Vansittart: Black Record, S. 16. 484 Später, Jörg: Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902-1945, Göttingen 2003, S. 289. 485 Ebd. 486 Ebd. 487 Ebd. 488 Auerbach an Huysmans, 19.2.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 24, AdsD). 186 zutraue, »in Wirklichkeit wie Goebbels [zu] denken.« 489 Auerbach befürchtete, bei einer Publikation dieses Briefes in nationalsozialistischen Medien entstünde bei antifaschistischen Arbeitern zumindest dieser Eindruck. Loeb gegenüber drückte Auerbach seine Fassungslosigkeit darüber aus, »dass der gleiche Mann, der Hunderten illegalen Kaempfern in und ueber Antwerpen geholfen hat, es fertig bringt, die seit Vansittart so beliebten Pauschalbeschuldigungen zu vertreten.«490 Aber Loeb machte sich zum Anwalt Huysmans’: »Sie vergessen …dass Huysmans Buerger eines Landes ist, das waehrend seines Lebens zwei Mal ueberfallen wurde und beide Male von Deutschland … Darüber hinaus hat Huysmans eine lange, sehr lange Erfahrung in internationaler Arbeit, die ihm ein Urteil ueber die Deutschen erlaubt.«491

Bereits in einem früheren Brief hatte Loeb Auerbachs Unterstellung von Huysmans’ Goebbels-Diktion aufgegriffen und pauschal die Anti-Vansittartisten gemeint, die den Splitter im eigenen Auge nicht sahen: »Ihr seid merkwuerdige Leute, die Ihr Euch festgerannt habt in der Verteidigung einer Entwicklung, die zu dem Zustand gefuehrt hat, in dem wir heute sind.« 492 Politische Emigranten waren aber überwiegend deutsche Patrioten, auch Auerbach. Er, der Historiker, versuchte, die politischen Fakten des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts aus wissenschaftlicher Perspektive objektiv zu analysieren, verwechselte jedoch gelegentlich Ursache und Wirkung, wie mit seinen Worten an Walter Loeb: »Ich weiß aber, dass die Schuld nicht nur an Deutschland lag, dass auch die Stellen in Paris, Warschau, London und Antwerpen, die es fertig brachten, sich bis 1939 mit dem deutschen Nationalismus zu verstaendigen, ein geruettelt Mass Mitschuld an der heutigen Lage tragen.«493

Den Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 ignorierte Auerbach in diesem Kontext. Die russische Revolution von 1917 und die Sehnsucht nach einer Parallelentwicklung in Deutschland überlagerten offenbar das Bewusstsein für die machtpolitische Konstellation in der UdSSR. Im Penguin Special hieß es: »It is not forgotten that, in 1917-18, Russia ended the war under the leadership of Workers’ and Soldiers’ Soviets, and that similar bodies played an important part in Germany in the liquidation of the Kaiserdom and the war in 1918-19. It is still remembered by the older workers that the revolutionary movement in Germany at

489 Ebd. 490 Auerbach an Loeb, 20.1.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 23, AdsD). 491 Loeb an Auerbach, 22.1.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 23, AdsD). 492 Ders., 15.1.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 23, AdsD). 493 Auerbach an Loeb, 20.1.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 23, AdsD). 187 the end of the first World War came about spontaneously before, not after, the moment of military collapse. It is not forgotten how this revolutionary vanguard of shop stewards began its work long before the defeat became visible, how the councils formed in November 1918 had the genuine intention of building a new Germany, but were betrayed and suppressed by some of the reformist leaders.«494

Diese Einschätzung lag durchaus auch auf der Linie der Vansittartisten. In ihrer Analyse der politischen Wegbereiter einer Revolution in Deutschland nach sowjetischem Vorbild akzentuierten die Verfasser denkbare ideologisch divergierende Richtungen, erwähnten Kommunisten »strictly subservient to Moscow« 495 oder andere, »perhaps more numerous, may call themselves Communist in order to emphasise their radical character and their acceptance of the as a model, but without any intention of imitating that model slavishly, especially in matters concerning personal freedom. Other groups again, perhaps a majority, may be guided by trade union traditions, without perhaps a specific allegiance to any of those concrete trade unions which have shown so many shortcomings in the past, and without, in all probability, a recurrence of differences between former members of the free (Socialist) and the Christian unions. But, underlying all these differences, there may be expected to be powerful factors of unity. One of these is Hitler’s fight against the Soviet Union - for many the fatherland of the workers.«496 Zwischen den Zeilen schimmerte kritische Bewunderung für die Revolution im zaristischen Russland 1917 durch bei der Idee, »Russian experience can be consulted in this and in many other respects. But in the end only practical experience can show, by trial and error, what the best methods of administration are.« 497 Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit der politischen Kategorien »Democracy and Planned Society ... is not a German problem alone. It is, perhaps, the great issue which confronts the Western world in the twentieth century … ‘Democracy’ means to the authors of this book more than equality of political and cultural opportunity and a measure of civil liberties. We cannot conceive of a democratic state in an industrial society without a free trade union movement and freely formed consumers’ organisations as pillars of the democratic order.« 498

494 Auerbach u.a.: The Next Germany, S. 36. 495 Ebd. 496 Ebd. 497 Ebd., S. 79. 498 Ebd., S. 55. 188

Camille Huysmans reagierte mit ähnlichen Worten wie Loeb auf Auerbachs Anschuldigungen: »Obéir ou disparâitre? Comment ne voyez-vous pas cela? Parceque, au fond de votre âme entre la démocratie et l’Allemagne, vous choisissez l’Allemagne, vous, non seulement les Ariens, mais également les Sémites. Vous êtes tellement allemands que vous ne vous en aperçevez pas. Et cela, c’est une autre face de votre tragédie ... Le peuple allemand n’a jamais connu la démocratie: il a toujours été régenté; il faudrait maintenant instaurer en Allemagne un régime qui permettrait aux Allemands de rejoindre les autres pays, qui ont déjà la tradition et l’expérience démocratique.«499

Huysmans’ Vorwurf, dass deutsche Oppositionelle »seit 1919 gegen die gehorsamen Diener der militaristischen Clique nur protestierten, aber immer gehorchten,« 500 konterte Auerbach mit einer Parallele aus der Geschichte Belgiens: »Ist Ihnen je bekannt geworden, dass zur Zeit der Kongogreuel deutsche Sozialisten belgische Sozialisten fuer diese Greuel verantwortlich machten, weil diese belgischen Sozialisten nicht mehr tun konnten als protestieren?« 501 Huysmans nannte es »obéir«, Vansittart sprach von preußischem Untertanengeist und Militarismus, und er schrieb: »Of course there have been, and are, Germans who may not have liked executing the programmes of their leaders; but with individuals we are not concerned; the fact remains that the programmes of their leaders always have been executed.«502

Sein Landsmann Paul Tofahrn fand moderatere Töne bei seiner Charakterisierung der Deutschen: »Ich glaube an das andere Deutschland. Es ist zwar richtig, dass drei Deutsche unausstehlich sind. Richtig ist aber auch, dass ein Deutscher ein Genie - oft ein lästiges [spielte er hier auf seinen Intimfeind Auerbach an?] - ist und dass zwei Deutsche ’good company’ sind. Eben weil sie Menschen sind wie alle anderen, mit Fehlern und Schwächen, Tugenden und Fähigkeiten, Grausamkeit und Güte, deshalb glaube ich an ihre Fähigkeit zu lernen, sich politisch nicht so lächerlich ernst zu nehmen und gefährlich zu machen. Wenn meine Auffassung - und die aller wirklich ’linken’ Engländer falsch ist, dann bleibt nur die Rassentheorie übrig.« 503 Wie Tofahrn, kontrastierte Vansittart das Individuum mit der Gesamtheit: »The German is often a moral

499 Huysmans an Auerbach, 27.2.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 23, AdsD). 500 Auerbach an Huysmans, 19.2.1941 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 23, AdsD). 501 Ebd. 502 Vansittart: Black Record, S. 16 503 Tofahrn an Rimensberger, 16.3.1943 (Paul Tofahrn Papers, Personalia, 238/IT/8/1-6, MRC). 189 creature; the Germans never; and it is the Germans who count. You will always think of Germans in the plural, if you are wise.«504

In ihrem Diskurs zu Ab- und Aufrüstung in der Weimarer Republik betonten die Verfasser von The Next Germany, dass »large-scale rearmament of Germany started only in 1933, and it took Hitler three or four years to build up the strength of the Reich. The point is that there was never any secrecy about it.«505 Für sie war selbstverständlich, dass nach dem Zusammenbruch des Hitler-Regimes »Germany will be disarmed - effectively and unilaterally - stands to reason. But how can she be kept disarmed? How can she be prevented from again turning over her factories to war preparations, and from rebuilding in secrecy her military strength, revolution or no revolution?«506 Und sie forderten periodische Kontrollen von internationalen Waffeninspekteuren in Industriebetrieben, »which could possibly turn out armaments«507 durch gesetzwidrige Umstellung der Produktion etwa von Automobilen auf Flugzeuge oder von Traktoren auf Panzer. 508

Die Argumentation unter Pro-Vansittartisten über Nazi-Deutschland und die Deutschen verschärfte sich gravierend nach den V-Raketen-Angriffen auf England und der Befreiung der Konzentrationslager durch britische Truppen. BBC und Zeitungen berichteten in extenso über die in Bergen-Belsen vorgefundenen Leichenberge. Hugh Carleton Greene 509 resümierte, »daß die Leute sich fragten: Was ist das für eine Nation, die derartige Dinge tun oder dulden kann?« 510 Susanne Miller ergänzte in ihren im Jahr 2005 publizierten Erinnerungen: »Große Fotos dieses Konzentrationslagers wurden mitten in London auf Transparenten ausgestellt; sie gingen einem tief unter die Haut. Hinzu kamen die gefürchteten Luftangriffe mit V1- und V2-Raketen, die gegen Ende des Krieges eingesetzt wurden. Ich glaube, sie prägten dauerhaft das Bild des deutschen Feindes im britischen Volk. Viele Engländer sagten sich: Die

504 Vansittart: Black Record, S. 18. 505 Auerbach u.a.: The Next Germany, S. 80. 506 Ebd., S. 79 f. 507 Ebd., S. 80. 508 Ebd. 509 Hugh Carleton Greene (1910-1987), bis zur Ausweisung 1939 Korrespondent des Daily Telegraph in Berlin, anschließend Kriegsberichterstatter in Polen und auf dem Balkan, ab 1940 Nachrichtenoffizier bei der Royal Air Force. Ab 1945 Mitgründer/Mitarbeiter Nordwestdeutscher Rundfunk Hamburg, in: Alexander von Plato und Almut Leh: »Ein unglaublicher Frühling.« Erfahrene Geschichte im Nachkriegsdeutschland 1945-1948, Bonn 1997, S. 371 (Dokument 123) und (Hugh Carleton Greene, Personalia, AdsD). 510 Plato, von und Leh: »Ein unglaublicher Frühling«, S. 372 f. (Dokument 123). 190

Deutschen wissen doch, dass sie den Krieg verloren haben! Warum terrorisieren sie uns jetzt noch mit diesen Bomben?!« 511

Franz Hering, seit Oktober 1940 in der britischen Armee, 512 traf bei der Befreiung Bergen-Belsens auf seinen und Walter Auerbachs ehemaligen Kommilitonen an der Universität Freiburg im Breisgau, Rudolf Küstermeier 513 . Die drei Freunde und andere aktive Mitstreiter aus dem Sozialistischen Studentenbund verschiedener Universitäten begegneten sich unweigerlich im Berlin der frühen 1930er Jahre, denn »das intellektuelle sozialdemokratische Spektrum der Weimarer Republik [war] nicht besonders groß.« 514 Küstermeier hatte zusammen mit Franz Hering der Widerstandsgruppe Roter Stoßtrupp in Berlin angehört, die eine gleichnamige Zeitschrift mit Artikeln vorwiegend »zur grundsätzlichen Vorbereitung der kommenden proletarischen Revolution« 515 herausgab. Der Rote Stoßtrupp flog Ende 1933 auf, Hering schaffte es, nach England zu entkommen. Küstermeier wurde gefaßt und zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt; danach folgten die Konzentrationslager Sachsenhausen und Bergen-Belsen. Die ITF hatte seinerzeit finanzielle Prozesshilfe gewährt. 516

Auerbach blieb rational und intellektuell und drückte seine Anteilnahme pragmatisch aus. Er initiierte für Küstermeier und dessen Ehefrau Fany, ebenfalls langjährige KZ-Insassin, einen Rekonvaleszenzurlaub über das Schweizerische Arbeiterhilfswerk (SAH), 517 »das zunaechst politischen Emigranten, dann Verfolgten und Opfern aus Frankreich, Holland, Italien und Deutschland half … Fuer das SAH ist internationale Solidaritaet kein leeres Wort,« 518 schrieb Auerbach seinem Freund. Emotionen zeigte er kaum, sein Ventil waren soziales Engagement, Büchersendungen, für den Intellektuellen Küstermeier Überlebenshilfe, er philosophierte über den moralischen Zusammenbruch und

511 Miller, Susanne: So würde ich noch einmal leben. Erinnerungen. Aufgez. u. eingel. von Antje Dertinger, Bonn 2005, S. 85. 512 Hering an Auerbach, 21.11.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 22, AdsD). 513 Dr. Rudolf Küstermeier (1903-1977), Widerstandsarbeit Roter Stoßtrupp, November 1933 verhaftet, 1934 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, anschließend KZs Sachsenhausen und Bergen-Belsen. 1946-1950 Chefredakteur Die Welt, 1957 dpa/Israel. Mitgründer der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und Wegbereiter der deutsch-israelischen Beziehungen. (Personalia Rudolf Küstermeier, AdsD). 514 Stuiber: Die Initiatoren und Initiatorinnen von German Educational Reconstruction, S. 54. 515 Hoffmann, Paul: Bericht, 18.7.1933 (Bestand ITF, 159/3/C/a/16, MRC). 516 Hering an Fimmen, 5.2.1934 (Bestand ITF, 159/3/C/a/16, MRC). 517 Hering an Auerbach (o. D.) (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 67, AdsD). 518 Auerbach an Küstermeier, Anfang Januar 1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 59, AdsD). 191 die Zukunft Deutschlands. Anders als Auerbach offenbarte Otto Kahn-Freund seine Gefühlslage zu Konzentrationslagern und Holocaust: »Sie wissen dass ich nie ein fanatischer Jude war, aber ich beobachte an mir selbst, dass nichts aber auch nichts in meinem Leben jemals an emotionellem Gewicht die Ermordung von 6 Millionen Juden durch Deutsche wird wettmachen können. Ebenso wenig wie Polen, Tschechen oder Russen über das hinwegkommen werden, was Deutsche in ihren Ländern getan haben. Dies ist der Punkt: die fürchterliche Dialektik der nationalen Rache hat unseren ’re-education’ Illusionen den Garaus gemacht.« 519

Küstermeier reagierte auf die Offerte der Schweizer Kollegen zögerlich, berichtete Franz Hering, der bei seinen wiederholten Aufenthalten in Bergen- Belsen mit ihm und anderen DPs lange Gespräche führte. Küstermeier befürchtete, nach einem längeren Aufenthalt in der Schweiz nicht ins DP-Camp Belsen zurückkehren zu dürfen. Hering schrieb dazu: »It would then become necessary for his wife and himself to take up residence in some German town and both are quite determinded that they will not do so until the food-situation has greatly improved … To these people who were subjected to starvation for years and who escaped death by starvation by a very narrow margin, hunger is a more sinister threat yet than to others … For them the provision of sufficient food and the freedom from hunger is a consideration of the greatest possible importance overriding all less vital issues.« 520 Küstermeier begründete seine Bedenken gegen einen Erholungsurlaub in der Schweiz gegenüber Auerbach mit der Leidensgeschichte seiner Ehefrau und ihrer psychischen Befindlichkeit nach den endlosen Jahren in Konzentrationslagern und der Ermordung von Eltern, früherem Ehemann und Tochter in Polen: »Sieht sie aber die Schweiz mit ihrem Frieden, ihren schönen, unzerstörten Städten, ihrem Reichtum u. ihrer Behaglichkeit, dann wird es ihr wohl recht schwer werden, mit einer deutschen Stadt u. ihren heutigen Lebensverhältnissen vorlieb zu nehmen. Ich komme deshalb, je mehr ich überlege, aus diesen Erwägungen von der Idee der Schweizer Reise immer mehr ab.« 521

Lord Vansittart verstarb im Jahr 1957. Sein Feindbild hatte sich verändert. Vier Jahre nach Kriegsende malte Kahn-Freund Auerbach ein Stimmungsbild in London: »Die ehemaligen Vansittartisten sind, wie zu erwarten war, prompt ins

519 Kahn-Freund an Auerbach, 2.9.1949 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 4, AdsD). 520 Hering an Auerbach (o. D.) (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 67, AdsD). 521 Küstermeier an Auerbach, 4.2.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 59, AdsD). 192 entgegengesetzte Extrem gefallen und betrachten alle Deutschen als ‚Christian Gentlemen’ (dies ist natürlich übertrieben, aber es deutet die Richtung an) … Der Schritt von ‚alle Deutschen sind Nazis’ zu ‚es gibt keine Nazis mehr, hat es überhaupt je welche gegeben?’ ist sehr klein. Nun sind es ‚die’ Russen. Das Bedürfnis nach einem Teufel ist stärker als das Bedürfnis nach einem Gott, eine alte Erfahrung.«522

4.4 Emigranten und die britische Reeducationpolitik

Walter Auerbach und die drei anderen Visionäre hatten 1943 in The Next Germany die Vorrangigkeit von Reeducation in den Vordergrund gestellt und »The task of eliminating the evil effects of ten or more years of Nazi education« 523 hervorgehoben. Reeducation »means, in our view, in the first place, education towards political responsibility and spontaneous action, and it is inseparable from the development of democratic forms of administration and government,« 524 schrieben sie an anderer Stelle und analysierten, dass »in this fight for a better world we shall have to overcome two deadly enemies: One is that tradition of kneeling before the false gods of wealth and power which has been the heritage of the German middle classes ever since Bismarck broke their moral self-respect. The other one is more formidable: it is the sense of impotence and frustration, that feeling of inertia and fatigue which has already begun to seize the masses of the people. This will be our ally in the military defeat of the Nazi regime. It will become our most deadly enemy as soon as the regime collapses.« 525 Lothar Kettenacker titulierte das entsprechende Kapitel in seiner Habilitationsschrift in Anlehnung an das Vokabular Vansittarts mit Reeducation als Mittel zur Domestizierung des deutschen Volkscharakters .526

Für amerikanische Politiker war »Re-education der Vorgang der Um-Wertung der geistigen und kulturellen Werte des deutschen Volkes, eine weit über das Erziehungswesen hinausgreifende Rückführung Deutschlands in die Kulturgemeinschaft zivilisierter Nationen, die es unter der nationalsozialistischen

522 Kahn-Freund an Auerbach, 2.9.1949 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 4, AdsD). 523 Auerbach u.a.: The Next Germany, S. 86. 524 Ebd., S. 12. 525 Ebd., S. 86 f. 526 Kettenacker: Krieg zur Friedenssicherung, S. 363. 193

Herrschaft verlassen hatte.« 527 Die amerikanische Regierung ging von der Prämisse aus, dass das Konzept Reeducation parallel auf zwei Ebenen zu verwirklichen sei. Zum einen durch »die Errichtung und Förderung lokaler Selbstverwaltungsformen und -einrichtungen, durch Gründung von demokratischen Parteien, Abhaltung von Wahlen und durch Einführung von demokratischen Verfassungen, zuerst auf Länderebene in der amerikanischen Besatzungszone und später im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland für die drei westlichen Zonen, wurden die institutionellen Voraussetzungen für den demokratischen Prozess geschaffen,« 528 zum anderen durch die Reeducation-Politik. »Hier verbanden sich zweckrationale Zielsetzung der amerikanischen Politik, nämlich der Schutz der Welt vor einer neuerlichen deutschen Aggression, mit der wertrationalen Zielsetzung, nämlich der missionarischen Überzeugung der Amerikaner, daß die Demokratie die beste und menschenwürdigste Staats- und Gesellschaftsform sei. Unter dem Begriff Reeducation wurden demnach alle diejenigen Maßnahmen zusammengefaßt, die darauf abzielten, auf der geistigen und emotionalen Ebene den Deutschen Grundsätze, Prinzipien und Haltungen demokratischen Zusammenlebens verständlich zu machen, d.h. sie in die Lage zu versetzen, die demokratischen Strukturen zu erkennen, auszufüllen und die demokratischen Institutionen sinnvoll zu gebrauchen.« 529

Nicht nur die Alliierten hatten Vorbereitungen zu Reeducation getroffen. Deutsche Intellektuelle wie Fritz Borinski, Otto Kahn-Freund, Werner Milch, Hellmut von Rauschenplat, Minna Specht, Walter Auerbach und andere hatten zusammen mit englischen Erziehungswissenschaftlern das Komitee German Educational Reconstruction (GER) gegründet. Mit Ausnahme Auerbachs arbeiteten sie nach dem Krieg im Universitäts- oder Schulsektor in Deutschland und England. 530 Alle verfügten über ein »großes Maß an Sachkompetenz … praktische und theoretische Erfahrung im (Erwachsenen-)Bildungsbereich sowohl in Deutschland wie auch in England, publizistische Erfahrungen … genaue Kenntnis der politischen Struktur des Gastlandes und Zusammenarbeit mit den politischen Eliten der englischen Gesellschaft … Kenntnisse aus der Widerstandsarbeit in Deutschland, Erfahrungen in der Propagandatätigkeit gegen

527 Bungenstab, Karl-Ernst: Umerziehung zur Demokratie? Re-education im Bildungswesen in der US-Zone 1945-1949, Düsseldorf 1970, S. 19. 528 Ebd., S. 18. 529 Ebd. 530 Stuiber: Die Initiatoren und Initiatorinnen von German Educational Reconstruction, S. 56. 194

Nazi-Deutschland.« 531 GER verstand sich als Gegenöffentlichkeit zur Schulpolitik der Nationalsozialisten. In Wochenendtagungen entwickelten die durchschnittlich 50 Teilnehmer Konzepte zum Aufbau eines freiheitlichen Erziehungssystems und Programme zur politischen Bildung von Erwachsenen für die Zeit nach dem Sturz des NS-Regimes: »Freie Volksbildung als Elitenbildung (oder ‚soziale Funktionärsbildung’) wird sich nach dem Krieg an den sozial und politisch aktiven Menschentyp innerhalb der arbeitenden Schichten wenden, der geeignet und gewillt ist, beim Aufbau der neuen demokratischen Gesellschaft aktiv und verantwortlich mitzuwirken.« 532 Otto Kahn-Freund richtete den Blick auf die Vergangenheit und kritisierte, dass die »Trennung von ‚Politik’ und ‚Erziehung’, von ‚Praxis’ und ‚Theorie’ … eines der wichtigsten Hemmnisse einer demokratischen Entwicklung in Deutschland und anderwärts« 533 gewesen sei.

»In September, 1944, the Political Intelligence Department of the Foreign Office was made responsible by a decision of the War Cabinet for the segregation and re-education of German prisoners of war.« 534 Die Teilnahme von Kriegsgefangenen an Bildungsveranstaltungen beruhte auf Freiwilligkeit, und für die Dozenten galt es, Propagandamethoden weitgehend zu vermeiden. 535 Die Planungen der Initiatoren im Londoner Foreign Office sahen vor, dass »each camp in this country gets one lecture a month or at the most one lecture every three weeks.«536 Der für Reeducation deutscher Kriegsgefangener im Foreign Office verantwortliche Heinz Koeppler bilanzierte im August 1945: »It is encouraging for us to receive so many appreciative reports both from the camp authorities and from the prisoners themselves, and we are led to believe that something really worth while is being done.« 537

Das Political Intelligence Department des Foreign Office edierte auch eine deutschsprachige Zeitung, die Wochenpost, für diesen Personenkreis. 538 »The intention is merely to inform the prisoners of what appears in their home

531 Ebd., S. 53. 532 Protokoll GER (o.D., jedoch vor 26.6.1943) (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 125, AdsD). 533 Ebd. 534 The Re-education of German Prisoners of War (For Official Use only), December 1945, S. 3 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 183, AdsD). 535 Ebd., S. 5. 536 Intelligence Department of the Foreign Office an Auerbach, 15.10.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 131, AdsD). 537 Political Intelligence Department of the Foreign Office an »Dear Lecturers«, 7.8.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 131, AdsD). 538 Wochenpost, 20.9.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 212, AdsD). 195 papers.« 539 In ihrer Ausgabe vom 20. September 1946 etwa publizierte das Blatt Wahlergebnisse aus der britischen, französischen und russischen Besatzungszone, behandelte die Entnazifizierung in Bayern, brachte ein Porträt Hans Böcklers und Sportberichte. Überraschend für Walter Auerbach war das Ergebnis einer in Anlehnung an Gallup Poll durchgeführten Umfrage unter Lagerinsassen aller »Bildungsschichten, Berufsgruppen und politischen Schattierungen,« 540 ohne für die Masse deutscher Kriegsgefangener in England repräsentativ zu sein. 81,3 Prozent der Befragten antworteten im Herbst 1946 auf die Frage »Glauben Sie, dass das deutsche Volk in der Lage ist, eine ihm eigene und wirksame demokratische Staatsform zu entwickeln?« mit Ja. 541 78,7 Prozent der 150 interviewten Personen entschieden sich für Ja bei dem Item »Halten Sie eine sozialistische Regierung in Deutschland für notwendig?« 542 Das erdrutschartige Wahlergebnis vom Sommer 1945, die Labour Party errang 393 Sitze im Unterhaus, die Konservativen unter Churchill 213, 543 hatte das Umfrageergebnis vermutlich mitbeeinflußt.

Das Pendant zur Wochenpost waren Lagerzeitungen, redaktionell betreut von Kriegsgefangenen. In Der Schlackenweg schilderte der Lagerinsasse Otto Reckstat Pfingsten 1946: »Die von Wilton Park zurückgekehrten Kameraden erwähnen besonders eine Arbeit: Grundrecht und Grundgesetze der Menschen.« 544 Ein anderer Autor, Heinrich Geiger, beendete seinen mit Warum Demokratie überschriebenen Artikel: »Wir wollen nie wieder Gewalt, Grausamkeit und Chaos erleben: Darum wollen wir Demokratie.« 545 Voraus ging die Erkenntnis: »In den anderen Staatsformen herrscht immer das Bestreben, ‚Große Männer’ als Vorbilder hinzustellen.« 546

Kriegsgefangene wurden in ihren Lagern ähnlich wie seinerzeit die enemy aliens bei der Internierung in drei Kategorien eingeordnet: Antifaschisten, überzeugte Nationalsozialisten, Indifferente. Auerbach übte scharfe Kritik an den Einstufungskriterien und der Interviewmethode, nach denen screening officers zu

539 Political Intelligence Department of the Foreign Office an »Dear Lecturers«, 3.9.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 131, AdsD). 540 Wochenpost, 20.9.1946: »Gallup Poll« im Lager 17 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 212, AdsD). 541 Ebd. 542 Ebd. 543 Niedhart, Gottfried: Geschichte Englands im 19. und 20. Jahrhundert, München 1996, S. 236. 544 Der Schlackenweg, Lagerzeitung der PoW-Coys 651/659 Donnington, Pfingsten 1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 208, AdsD). 545 Ebd., Mai 1946. 546 Ebd. 196 entscheiden hatten. Standardfragen wie »’Who is the greatest man in history?’, or ‘What would you do if I (the screening officer) were Hitler?’, or ‘Would you agree that all the former occupied countries should be rebuilt first by the Germans while Germany itself should be left as it is?’« 547 boten Opportunisten die Chance, der unbewusst an sie gerichteten Erwartungshaltung zu entsprechen, während die Antworten von wirklichen Antinazis zuweilen für den Interviewer unerwartet kamen oder sie dem Offizier durch ein zu großes Selbstwertgefühl unangenehm auffielen. 548

Unter der Rubrik Some Criticisms fügte Auerbach seinem Memorandum Erkenntnisse aus Gesprächen mit Betroffenen an: »There are camps in which the genuine anti-Nazi POW’s are still treated as some sort of second-class Germans by the Camp Commandants either through lack of political understanding, or through a prejudice against everything ‚left’. Many Commandants think that the work would suffer if they allowed political freedom, or appointed genuine anti-Nazis as camp leaders instead of the regular N.C.O.’s who preserve a strict military discipline. Thus, in many camps, the German side of the administration is still in Nazi hands … The same often applies to the German camp doctors. Anti-Nazi POW’s complain that they are victimized, and that Nazis receive favours … Many camp doctors are Nazis or equally dangerous German nationalists.« 549 Zwar hatten Antifaschisten unter politisch Indifferenten in verschiedenen Camps demokratische Tugenden durch Vorbild und Reeducation gefördert, doch letztlich seitens der Offiziellen kaum Ermutigung und Anerkennung erfahren. An anderer Stelle betonte Auerbach, dass eine Segregation von Nazis in eigenen Lagern die Gefahr verstärke, dass viele junge Deutsche, »who were Nazis for idealistic reasons, and simply know nothing else but Nazism … are left under the influence of older and inveterate Nazis.« 550

Im Juni 1945 hatte Walter Auerbach seine Lehrtätigkeit in Kriegsgefangenenlagern in der näheren und weiteren Umgebung Londons aufgenommen und dozierte regelmäßig an Wochenenden bei mindestens zwei Veranstaltungen zu diversen politischen, gewerkschaftspolitischen und historischen Themen. 551 Ein Exempel für positive Resonanz kam im Bericht des

547 Auerbach: German Prisoners of War in British Hands: Some Facts and Suggestions, Februar 1946 (für P.I.D.) (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 132, AdsD). 548 Ebd. 549 Ebd. 550 Ebd. 551 NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 131, AdsD. 197

Kommandanten von Camp Nr. 28 nach seinem Auftritt im Dezember 1945 zum Ausdruck: »Dr. Auerbach has visited this Camp previously and appears to be well received by the Ps/W.«552 Auch das Foreign Office würdigte ihn und seine »excellent reports on your visit to 654/655 and 286 PW camps.«553 Er hatte in diesen Lagern Freitag abends, Samstag nachmittags und abends und Sonntag vormittags abwechselnd über Trade Unions Face Important Tasks und Four hundred Years of German Democratic struggle 554 referiert. Zwei gleichlautende Referate an einem einzigen Tag zu halten, monierte er mit der Begründung, er sei keine Schallplatte [gramophone record]. 555 Eine Synopse zum Thema Gewerkschaften, quasi als Vorzensur, lag dem Foreign Office vor. 556 Später lehnte sich Auerbach gegen dieses Verfahren auf: »Personally, I would be most astonished if I should be subjected to a sort of pre-censorship after years of co- operation with PID in a far more delicate kind of work and in by far more difficult times.« 557

In den vom Foreign Office erwähnten »excellent reports« zitierte Auerbach Kernaussagen der Diskussionen und gewährte dem Leser Einblicke in die Atmosphäre in einigen Lagern, die offizielle Dokumente nicht enthielten: »The lecture started at 7.10 p.m. in a tent before an audience of about 175. A considerable part of the audience was under 25. At the beginning there was an atmosphere of defensive apprehension, curiosity and suspicion, which did not disappear completely. There was an apparently genuine interest among the younger ones … There was no organised opposition, but it seemed that the back benches of the tent were occupied by groups of ‘blacks’. There were 16 contributions to the discussion, one of the debaters spoke three times and tried to

552 Report from the Commandant of No. 28 Camp an Intelligence Department of the Foreign Office, 10.12.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 131, AdsD). 553 Intelligence Department of the Foreign Office an Auerbach, 15.10.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 131, AdsD). 554 Auerbach: Reports Camps 654 und 655 (Purfleet, North Camp), 5. und 6.10.1945 und Camp 286 (Purfleet), 7.10.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 131, AdsD). 555 Auerbach an Captain Alexander (Political Intelligence Department of the Foreign Office), 17.12.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 131, AdsD). 556 Auerbach: Synopsis Trade Unions Face Important Tasks, 23.6.1945: »Why trade union problems concern all of us, whether wage or salary earners or not, and why German and European reconstruction widely depends on their solution. Trade unions, what they are and how they work. Short outline of trade union thoughts and practices in Great Britain, France, U.S.A., Holland, Belgium, Switzerland, Scandinavia, Italy and U.S.S.R. before and during the war and at present. German trade unions, their achievements and shortcomings. National trade union tasks. The International Labour Office … International trade union work.« (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 131, AdsD). 557 Auerbach an Major Seeds (Political Intelligence Department of the Foreign Office), 11.1.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 131, AdsD). 198 start another time. (He is a Luftwaffen-Feldwebel, soldier by profession and is faithfully repeating Nazi lectures he attended. A large part of the audience tried to boo him down when he spoke of the Fuehrer and of German superiority above all nations.« 558

Am nächsten Tag in Camp 655 erlebte Auerbach im Auditorium Ressentiments gegen Willkür bei Einstufungen von Kriegsgefangenen in Camp 17, »where, among others, a PoW Felix Lenzinger said to be decorated with the Golden Emblem of the HJ is in charge of classification. Similar complaints were made against Leo Brandenburg, also Camp 17, a member of the SA and the NSDAP, who was said to have classified with an anti-intellectual bias. There was the remark that fellows like these would have been removed by Military Government from responsible posts like this. I was told in this camp but could not check it, that in Camp 654 a former leader of the Communist Youth is classified as C [Nazi].« 559 Auerbach bemängelte an den Beständen von Lagerbibliotheken, dass deren Schwerpunkt auf geistiger, nicht auf weiterführender politischer Literatur lag. Er nannte ergänzende Autoren und Titel. In den Camps 654 und 655 erkannte er aber durchaus an, dass »the library is excellent from the literary point of view« 560 und dass »the library has obviously been selected by an expert.« 561

Das erste Nachkriegsweihnachten löste bei Gefangenen und Lagerleitung neue Varianten von Reeducation aus. Die Kommandanten zweier Camps (654 und 655) berichteten von Gefangenen, die Spielzeug herstellten, und baten Auerbach um Vermittlung von Kontakten. Die etwa 200 Gegenstände, die er als »extremely nice« bezeichnete, »could be sent to Germany to be distributed as Christmas gifts of PoWs to orphans of KZ victims in the British zone … Camp 655 had also offered a full weekly wage for additional relief for German children.« 562 Ein anderer Kommandant unterstützte den Gefangenenchor seines Lagers. Ihm sandte Auerbach auf Wunsch »the music of six German Christmas carols with the text … I hope it will reach you in time and it will be of assistance for the Christmas preparations of the camp choir.«563

558 Auerbach: Report: Camp 654 (Purfleet, North Camp), 5.10.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 131, AdsD). 559 Ders.: Report: Camp 655 (Purfleet, North Camp), 6.10.1945. 560 Ders.: Report: Camp 654 (Purfleet, North Camp), 5.10.1945. 561 Ders.: Report: Camp 655 (Purfleet, North Camp), 6.10.1945. 562 Ebd. 563 Auerbach an Commandant of Stamford Camp, 6.12.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 131, AdsD). 199

In diversen offiziellen Berichten und privaten Briefen dokumentierte Auerbach immer wieder seine Erfahrung: »Lecturing for audiences of isolated men is different from usual lectures in many respect. E.g. single lecture is regarded by a large part of the audience mainly as entertainment and the majority of the audience, unaccustomed with discussion, will not risk more than factual enquiry. A second lecture on the same day, about a subject to the first lecture will attract part of the first audience and, in this way, it is easier to overcome suspicion and resentment and provoke a fruitful discussion.« 564 Rudolf Küstermeier gegenüber argumentierte er inhaltlich: »Meine Vortragserfahrungen in Kriegsgefangenenlagern haben meine Erwartung bestaetigt: in den Altersgruppen bis zu 25, 28 Jahren befinden sich die bildungsfaehigsten und aufnahmewilligsten Menschen. Bisher liess ich einen Gesichtspunkt ausser Betracht, der vielleicht für Dich von entscheidender Bedeutung sein wird. Der weisse Fleck im deutschen Geschichtsatlas erschwert das notwendige Ueberwinden des deutschen moralischen Zusammenbruchs. Er muss ueberwunden werden, weil ohne Selbstachtung kein demokratischer Aufbau möglich ist.« 565

Frühe Repatriierung war bis dato technischen Spezialisten vorbehalten. Auerbach dagegen kämpfte beim Geheimdienst des Foreign Office um die Rückführung von Antifaschisten. Für den Neubeginn von Gewerkschaften und Politik mangelte es seiner Ansicht nach an integren Persönlichkeiten.: »A very successful effort of re-education is at present being made at Wilton Park Training Centre. The POW’s who pass through the courses at Wilton Park are mainly selected anti-Nazis. It is discouraging that, after completing the course, they are sent back to their camp instead of being repatriated. There is a grave danger that the great opportunity will be wasted of sending men back to Germany who are, or have become, sincere friends of Britain.« 566

Schon Monate zuvor hatte Auerbach Gordon-Walker auf Intervention in Regierungskreisen gedrängt. Er sei beunruhigt »about the absence of any Government statement on principles of release of German prisoners of war« 567 und empört über die Repatriierungspraxis, die »many officers and soldiers with a

564 Auerbach an Captain Alexander, 8.10.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 131, AdsD). 565 Auerbach an Küstermeier, Anfang Januar 1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 59, AdsD). 566 Auerbach: German Prisoners of War in British Hands: Some Facts and Suggestions, Februar 1946 (für P.I.D.) (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 132, AdsD). 567 Auerbach an Gordon-Walker, 13.12.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 58, AdsD). 200 pré-Nazi record« 568 die Rückkehr ermöglichte. Noch als Vizepräsident des Zentralamtes in Lemgo engagierte sich Walter Auerbach bei Erich Hirsch, einem Freund aus den Tagen der Jugendbewegung, für die berufliche Integration noch in England verbliebener Kriegsgefangener. Seine Behörde erklärte sich bereit, einen sachverständigen Berater kurzfristig zu entsenden: »Es könnten z.B. die wilden Bauarbeiterkurse … auf hiesige Umschulungskurse abgestimmt werden, so dass die Gefangenen bei ihrer Rueckkehr 2-3 Monate kostbare Zeit sparen und gleichzeitig der Wirtschaft geholfen wird. Aehnliches gilt für andere Berufe.« 569

Reeducation, die Nürnberger Prozesse gegen Nazi-Kriegsverbrecher und die Entnazifizierung von Millionen von Deutschen bewirkten Aversionen gegen die vermeintliche Siegerjustiz, jedoch keine Aufarbeitung der Vergangenheit. Die erfolgte erst Jahrzehnte später. Vorrang hatten ohnedies Überlebensstrategien, Bewältigung des Alltags und die Kultivierung von Abwehrmechanismen gegen die vermeintliche moralische Überlegenheit der Siegermächte. Die von außen oktroyierten Lernprozesse provozierten Apathie oder Opportunismus, nicht Respekt. Aus der Perspektive der westlichen Alliierten wurde nicht differenziert zwischen Nationalsozialisten, Nicht-Nazis und veritablen Antifaschisten, deren Selbstachtung durch diese Gleichmacherei tangiert wurde und Schuldzuweisungen implizierte. Reeducation und Entnazifizierung waren auf beiden Seiten umstritten, aber dennoch unbewusst effektiv. Als Indizien galten die Neugründung von politischen Parteien, die ersten Wahlen und funktionierende demokratische Institutionen nicht lange nach unconditional surrender .

Mit der zunehmenden Verhärtung der Fronten im Kalten Krieg und der Integration Westdeutschlands in die westliche Staatengemeinschaft verabschiedeten sich die Alliierten, allen voran die Briten, unausgesprochen von ihrem pädagogischen Monopolanspruch, auch aus pragmatischen Gründen, da den »1700 amerikanischen Informationsexperten, denen es an nichts fehlte, weniger als achtzig Briten gegenüberstanden, die für ihren besonderen Einsatz in Deutschland weder ausgebildet noch ausgerüstet waren.« 570 Die Verleihung von Zeitungslizenzen an potentielle deutsche Herausgeber in der britischen Zone verspätete sich wegen Mangels an Druckpapier bis zum Beginn des Jahres

568 Ebd. 569 Auerbach an Hirsch (o.D.) (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 39, AdsD). 570 Kettenacker: Krieg zur Friedenssicherung, S. 378. 201

1946, während in allen anderen Besatzungszonen seit Sommer 1945 deutschsprachige Zeitungen erschienen. »Im Stabe Eisenhowers war man dagegen der Ansicht, daß eine freie Presse und der Zugang zu ausländischen Presseerzeugnissen zu den wesentlichen Voraussetzungen für die geistige Neuorientierung Deutschlands zählten.« 571

Die Welt in Hamburg erschien erstmals am 2. April 1946 unter der Ägide von Rudolf Küstermeier, 572 denn »inzwischen fand man in dem aus dem KZ Bergen- Belsen durch die Briten befreiten Rudolf Küstermeier einen neuen Chefredakteur, einen … begabten Journalisten und einen Mann von untadeligen Prinzipien, dessen Blick niemals durch Ressentiments getrübt war, trotz der quälender Erfahrungen, die er erlitten hatte.« 573 Der ursprünglich mit der Chefredaktion beauftragte Hans Zehrer wurde kurzfristig zur Demission gezwungen, denn die »in Hamburg regierende Sozialdemokratie zeigte sich nicht damit einverstanden, daß die Leitung der ersten großen zonalen Zeitung ausgerechnet in den Händen eines Mannes liegen sollte, der als Herausgeber der ‚Tat’ für sie ein ‚Steigbügelhalter der Nationalsozialisten’ gewesen war.« 574

Bereits im Frühsommer 1945 installierte die britische Besatzungsmacht mit dem Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) ein Medium der Reeducation in Hamburg und setzte den BBC-erfahrenen Karl-Eduard von Schnitzler in führender Position ein. 575 Dort begegneten ihm sogleich Leute, die »in Goebbels Propagandakompanie« 576 gearbeitet hatten. Von Schnitzler ergänzte: »Der Gerechtigkeit halber muß ich aber sagen, daß nicht nur [Peter] von Zahn im Funkhaus rumlief, sondern natürlich auch Axel Eggebrecht, der gerade aus dem Zuchthaus kam.« 577 Nach von Schnitzler hatte der NWDR sehr bald von Reeducation der Deutschen auf einseitige Informationspolitik über die negativen Seiten in der sowjetischen Besatzungszone umgeschaltet. Von Schnitzler, seit Januar 1946 Intendant und Leiter der Politischen Abteilung im Kölner Funkhaus, wurde 1947 wegen kommunistischer Unterwanderung des NWDR fristlos entlassen und ging in den Ostteil Berlins, während Peter von Zahn im

571 Ebd. 572 Fischer, Heinz-Dietrich: Reeducation- und Pressepolitik unter britischem Besatzungsstatus. Die Zonenzeitung >Die Welt< 1946-1950. Konzeption, Artikulation und Rezeption, Düsseldorf 1978, S. 59. 573 Garland, Henry B., zit. nach Fischer: Reeducations- und Pressepolitik unter britischem Besatzungsstatus, S. 61 f. 574 Zit. nach ebd., S. 57. 575 Schnitzler, von: »Ich galt als Verräter«, S. 113. 576 Ebd. 577 Ebd., S. 114. 202

Einvernehmen mit den Briten »im Ruhrgebiet Reportagen machen konnte über die Frage, warum die Monopole und Trusts im Ruhrgebiet um Himmels willen nicht entflochten werden dürften, da das unverzichtbar für die Wirtschaft wäre. Das war ein Unterlaufen des Potsdamer Abkommens.« 578

4.5 Kriegsende 1945: Das politische Exil auf dem Sprung

Die Repatriierungspolitik der britischen Regierung gegenüber den politischen Emigranten war restriktiv; großzügiger verfuhr die amerikanische Regierung. Entscheidende Argumente für die britische Haltung waren Lothar Kettenacker zufolge Befürchtungen, dass »the German patriot émigrés could not be expected to subscribe to the terms the Allies had in mind, notably the loss of territory. Nor were they judged to be representative of German public opinion after the war.«579 Rückkehrwillige politische Emigranten aus dem sozialistischen Lager versuchten über ihre Kontakte zu Politikern der Labour Party lange Zeit vergeblich, frühzeitig zu remigrieren. Erich Ollenhauer schätzte seine Lage realistisch ein und schrieb im Mai 1945 an Karl Raloff, dass aus der Sicht der westlichen Alliierten »eine Rückkehr der politischen Emigration zur Zeit weder zweckmäßig noch wünschenswert ist.« 580 Doch ihm und Fritz Heine ermöglichte ein knappes Jahr später eine Ausnahmeregelung die Einreise in die britische Besatzungszone. Beide konnten bei der Neugründung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Hannover mitwirken. »Die sozialdemokratischen Remigranten kehrten nach 1945 … ganz überwiegend in die westlichen Besatzungszonen zurück.« 581 Bereits im Herbst 1944 hatte Ollenhauer diese Option in einem Brief an Friedrich Stampfer formuliert: »Gibt es eine Zonenbesatzung, so scheidet das russisch besetzte Gebiet für deutsche Sozialdemokraten als Rückkehrmöglichkeit aus. Soweit wir aus den Westländern kommen, werden wir vor den Augen der Russen keine Gnade finden, ganz abgesehen von unserer eigenen Entscheidung, ob in einem solchen Gebiet eine politische Betätigung in

578 Ebd. 579 Kettenacker, Lothar: The Repatriation of German Political Emigrés from Britain, in: Johannes-Dieter Steinert und Inge Weber-Newth (Hrsg.): European Immigrants in Britain 1933-1950, München 2003, S. 107. 580 Ollenhauer an Raloff, 29.5.1945 (Bestand SOPADE/Emigration, Mappe 83, AdsD). 581 Mehringer, Hartmut: Impulse sozialdemokratischer Remigranten auf die Modernisierung der SPD, in: Ders. und Patrik von zur Mühlen (Hrsg.): Rückkehr und Aufbau nach 1945. Deutsche Remigranten im öffentlichen Leben Nachkriegsdeutschlands, Marburg 1997, S. 92. 203 unserem Sinne möglich erscheint.« 582 Remigration war keine organisierte Bewegung. »Sie hing von alten Netzwerken und persönlichen Beziehungen ab.« 583

Verglichen mit 6.000 politischen Emigranten (ungefähr 60 Prozent) remigierte nur eine verschwindend kleine Minderheit der in Großbritannien lebenden jüdischen Flüchtlinge (etwa zwei Prozent). 584 Die Angaben basieren vermutlich auf Schätzungen des Inter-Governmental Committee of Refugees während des Krieges, die unterstellten, dass von den »deutschen und österreichischen Flüchtlingen in Großbritannien 6000 bis 7000 zurückkehren würden.« 585 Die Autoren des Handbuchs der deutschsprachigen Emigration beziffern die remigrierten Sozialdemokraten und Gewerkschafter mit 6.000, ohne Angabe der Exilländer. 586 Von den rassisch Verfolgten im Dritten Reich kehrten auch aus den anderen Zufluchtsländern sehr wenige in das Land der Täter zurück, und die Rückkehrquote emigrierter Wissenschaftler bewegte sich um 33 Prozent, die von Schriftstellern zwischen 20 und 25 Prozent. 587 Der Verzicht nicht-jüdischer und nicht-politischer Emigranten auf eine Rückkehr in die zerstörten deutschen Städte hatte weitgehend materielle Aspekte. Für viele von ihnen hätte dies die Aufgabe einer inzwischen gesicherten Existenz im Aufnahmeland bedeutet, außerdem mussten »die privat zu erbringenden Rückkehrkosten berücksichtigt werden.« 588 Bestätigt wurde dies durch die Aussage Lore Auerbachs, ihr Vater habe die Kosten für die Remigration durch den Verkauf seiner in England abgeschlossenen Lebensversicherung gedeckt. 589

Walter Auerbach ahnte frühzeitig Stigmatisierung und lehnte eine Remigration in amerikanischer Uniform ab. 590 Die Versuche, mit Hilfe seiner englischen politischen Freunde als Zivilist vor oder spätestens sofort nach Kriegsende in die Heimat zurückkehren zu können, schlugen immer wieder fehl. Er fühlte sich

582 Ollenhauer an Stampfer, 4.10.1944 (Bestand SOPADE/Emigration, Mappe 83, AdsD). 583 Krohn, Claus Dieter: Einleitung: Remigranten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, in: Ders. und von zur Mühlen (Hrsg.): Rückkehr und Aufbau nach 1945, S. 9. 584 Kettenacker: The Repatriation of German Political Emigrés from Britain, S. 117. 585 Foitzik, Jan: Die Rückkehr aus dem Exil und das politisch-kulturelle Umfeld der Reintegration sozialdemokratischer Emigranten in Westdeutschland, in: Briegel und Frühwald (Hrsg.): Die Erfahrung der Fremde, S. 256. 586 Krohn/von zur Mühlen/Paul/Winkler (Hrsg.): Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, S. 1158. 587 Foitzik: Die Rückkehr aus dem Exil, S. 256. 588 Ebd., S. 258. 589 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 16.10.2001, in Bonn. 590 Dies., 15.10.2001. 204 diskriminiert »as a sort of detainee of H.M. Government«591 und bestraft »for having refused an American uniform and a false Shaef 592 passport.«593 Auerbach schaltete John Hynd und Patrick Gordon-Walker ein, diese ihrerseits den Secretary of State for War. Dessen Argumentation für die Verzögerung, »we are limited, partly by the shortage of transport and partly, too, by the ability of the British Zone to absorb and make use of these men,« 594 enttäuschte Auerbach tief: 595 »It is bitter that that is done in the name of a Labour Government.« Er berief sich darauf, »that for years I had to advise British and Allied Government Departments and that I am lecturing in prisoner of war camps,« 596 und kritisierte, dass regierungsamtliche Instanzen nunmehr kein Entgegenkommen zeigten. Bei Hynd hatte er bereits im Oktober 1945 lamentiert, »that it is rather queer to see that though I was allowed to co-operate in many confidential tasks I am now being treated worse than those hundreds of prisoners of war of doubtful political allegiance who were allowed to return as they were managers in a gas work or something like that.« 597

Kooperation politischer Emigranten mit den Geheimdiensten der Alliierten blieb zwar bis auf Einzelfälle im Verborgenen, aktenkundig und unter einer Reihe deutscher Gewerkschafter umstritten war Hans Jahns Entscheidung, in amerikanischer Uniform »1944/45 [auch] als OSS-Beauftragter über Italien mit den alliierten Kampftruppen nach Deutschland« 598 zurückzukehren. Bereits 1943 war Jahn mit »Fano of the Italian Railway Workers Union … to North Africa and to Italy,« 599 von der ITF finanziert, gereist. »OSS ‘had not paid one penny piece … to the two representatives’ for the Italian trip … however, provided transport.« 600 Jahn »[was] seen even by some of his own union in 1950 as ‚paid agent of a foreign power’.«601

591 Auerbach an Deakin (TGWU), 28.12.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 58, AdsD). 592 Shaef [SHAEF]: Supreme Headquarters Allied Expeditionary Forces. 593 Auerbach an Gordon-Walker, 1.1.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 58, AdsD). 594 Secretary of State for War an Gordon-Walker, 9.1.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 58, AdsD). 595 Auerbach an Gordon-Walker, 19.1.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 58, AdsD). 596 Auerbach an Hynd, 9.10.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 57, AdsD). 597 Ebd. 598 Borsdorf und Niethammer (Hrsg.): Zwischen Befreiung und Besatzung, S. 11. 599 Heideking und Mauch (Hrsg.): American Intelligence and the German Resistance to Hitler, S. 185 f. 600 Reinalda: ITF Co-Operation with American Intelligence, in: Ders. (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 236 f. 601 Zit. nach Lewis: ITF 1945-1965, S. 155. 205

Anhaltende Emigrantenhetze und Legitimationsdruck zwangen ihn über zehn Jahre nach Kriegsende, so absurd dies klingen mag, die ITF um einen Persilschein zu bitten. Dieser besagte, Jahn sei nie Angehöriger einer alliierten Truppeneinheit gewesen und habe nie eine andere als die deutsche Staatsangehörigkeit besessen. Die Bewertung des Geheimagenten Wiesner, »Hans Jahn … is the most active, experienced, and useful German labor underground leader of whom I have knowledge,« 602 galt im Nachkriegsdeutschland nicht als Visitenkarte. »Within weeks of the end of the war in Europe, Hans Jahn had re-established the ITF’s presence in Germany … and had won the confidence of the Allied civil and military authorities.« 603 Diese Kontakte erleichterten 1945 die zügige Neugründung von Interessenvertretungen im Transportwesen auf regionaler und später auf zonaler Ebene. Daraus entstanden im Jahr 1949 die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) unter Adolf Kummernuß und die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED) unter Hans Jahn, beide Mitglied der ITF. Die Anschuldigung, Jahn sei bezahlter Agent des amerikanischen Geheimdienstes gewesen, soll Kummernuß lanciert haben. Doch dieser »had his own problems with allegations about his life during the war … although he, Kummernuss, had indeed suffered badly in prison before the war, he actually spent the war like any other German civilian, no better but no worse, and was no kind of resistance activist.« 604

Die Phase des Wiederaufbaus von Gewerkschaften und Arbeitsverwaltung beobachtete Auerbach ungeduldig und kritisch von London aus. Die Tatsache, dass »the trade unions in Germany are growing too slow and that not quite so active Nazis must be used in German Labour administration and education as there are not experienced anti Nazis,« 605 erschien ihm unzumutbar. Das schrieb er auch Robert Görlinger 606 , den er aus den 1920er Jahren aus gemeinsamer

602 Manpower Div. US Group CC Political Division APO 742, Memorandum of Conversation, March 15, 1945, Participants: Louis A. Wiesner, Walter Auerbach, Hans Jahn (Bestand OMGUS, 17/257-2/7, BArch). 603 Lewis: ITF 1945-1965, S. 154. 604 Lewis an die Vf.in, 12.12.2002. 605 Auerbach an Gordon-Walker, 1.1.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 58, AdsD). 606 Robert Görlinger (1888-1954), beteiligt an der Revolution am 9. November 1918 und Mitglied des Großberliner Soldatenrates. Ab 1920 kommunalpolitische Tätigkeit in Köln, 1923 Abgeordneter im Rheinischen Provinzial-Landtag in Düsseldorf. 1933 Emigration nach Frankreich, später Internierungslager. 1941 Verhaftung durch Wehrmachtssoldaten. Vom Volksgerichtshof in Hamm wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu Gefängnis verurteilt. Anschließend KZ Sachsenhausen. Ab 1945 erneut in der Kölner Kommunalpolitik tätig. 1948-1949 Bürgermeister und 1950-1951 206

Parteiarbeit in Köln kannte. Ihm unterbreitete er seine Vorstellungen potentieller Aufgabenbereiche und bat, »mich dann beim Military Government fuer irgendeine einschlaegige Arbeit« 607 anzufordern. »Ich habe mich nach 3jaehrigen Erfahrungen beim Gesamtverband, in 12 ½ Jahren bei der ITF auf deutsche und europaeische Sozialpolitik und Gegenwartsgeschichte der europaeischen Arbeiterbewegung spezialisiert, dass ich laufend von alliierten Regierungsstellen als Sachverstaendiger herangeholt wurde - um jetzt hier zu sitzen … Ich stellte es mir so vor: Im Auftrag der ITF, aber als ziviler Deutscher, zurueckzukehren und beim Aufbau der Transportarbeitergewerkschaften zu helfen, bis ich dort entbehrlich bin und dann entweder in die Sozialverwaltung oder einen anderen einschlaegigen oeffentlichen Verwaltungszweig zu gehen oder auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung … zu arbeiten. Die Entscheidung ueber die Art der Arbeit will ich Dir und den Genossen und Kollegen ueberlassen, da Ihr besser wisst, wo ich mich zweckmaessig nuetzlich machen kann … Wo sollte ich anpacken? In der Sozialverwaltung, in der die Grundlagen einer neuen deutschen Sozialpolitik gelegt werden muessen. Hier kaemen mir meine bei der 12jaehrigen Berichterstattung ueber europaeische Sozialpolitik und bei der Zusammenarbeit mit dem Internationalen Arbeitsamt gewonnenen Erfahrungen zustatten … Ich habe Angebote, als englischer oder USA-Beamter zurueckzukehren, ausgeschlagen, da mein Platz in der deutschen Arbeiterbewegung ist … Ich brauche Deinen Rat … Postenehrgeiz habe ich nicht. Ich moechte allerdings moeglichst in einem Hochschulort arbeiten, weil ich eines Tages mit Vorlesungen ueber deutsche und internationale Arbeiterbewegung und deutsche und internationale Sozialpolitik beginnen moechte, an einer Universitaet oder an einer Akademie wie in Duesseldorf. In Rheinland-Westfalen moechte ich vor allem deshalb arbeiten, weil ich so viele fuehrende englische, hollaendische, belgische und franzoesische Gewerkschafter und Sozialisten kenne, hollaendisch und englisch schreibe und spreche.« 608

Erleichtert wurde die Rückkehr aus dem englischen Exil erst ab Sommer 1946 bei Vorlage einer offiziellen Offerte für eine bestimmte Position in der Nachkriegsverwaltung. Der Präsident des Zentralamtes für Arbeit (Manpower Division) in Lemgo, der CDU-Mann Julius Scheuble, wusste aus

Oberbürgermeister von Köln, in: Robert Görlinger: »Von neuem beginnen«, in: Verein EL-DE-Haus Köln (Hrsg.): Unter Vorbehalt, S. 194. 607 Auerbach an Görlinger, 4.1.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 59, AdsD). 608 Ebd. 207

Gewerkschaftskreisen von Auerbachs Bereitschaft, als Vizepräsident am Aufbau der obersten Arbeitsbehörde mitzuwirken, und veranlasste Anfang September 1946, »dass seitens der ‚Manpower Division’ eine Anforderung an Sie ergeht.« 609 Die Bewertung des Zonal Executive Office in Lübbecke lautete: »Mr. Auerbach is well known to us and his knowledge and experience of Labour questions could be of the greatest service if he would accept employment with the new office … the new body should be an impartial executive organ and that its staff should have no associations with outside interests.« 610 Zurück ging die Initiative auf Sozialdemokraten und Gewerkschafter in der britischen Zone. Fritz Heine, Mitglied des neuen SPD-Parteivorstandes in Hannover, teilte Auerbach nach Rücksprache mit den Gewerkschaftern Viktor Agartz 611 und Hans Böckler 612 mit, wir »haben Dich seinerzeit an die Spitze unserer Vorschläge gesetzt … ich will nach Kräften helfen, vor allem weil Deine Tätigkeit in Deutschland eine wesentliche Hilfe für uns alle ist.« 613 Die Fäden hatte Auerbach im Frühjahr 1946 während einer Reise durch die drei Westzonen und nach Westberlin geknüpft, 614 um »endlich in der Heimat mit konstruktiver Arbeit beginnen zu können,« 615 denn mit der »Wiedereingliederung deutscher Transportarbeitergewerkschaften in Organisation und Arbeit der Gewerkschaftsinternationale ist meine letzte größere Arbeit in London abgeschlossen.« 616 Im Sommer 1946 begann auch die Repatriierung deutscher Kriegsgefangener aus England und jene von nicht eingebürgerten Emigranten in den Vereinigten Staaten.

Positiv verlief unter vielen anderen die Remigration des früheren Oberbürgermeisters von Altona, , der im Juli 1946 in amerikanischer Uniform nach Hamburg zurückkehrte. Ressentiments entstanden offenbar auf keiner Seite. »Für die Hamburger war Brauer nicht Emigrant, der irgend

609 Scheuble an Auerbach, 4.9.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 65, AdsD). 610 Bericht Britten (Deputy Military Governor, Zonal Executive Office), 9.9.1946 (Bestand Foreign Office, FO 1013/1671, TNA). 611 Dr. Viktor Agartz (1897-1964), »Wirtschaftswissenschaftler, Gewerkschafter, seit 1915 SPD-Mitglied … 1946 Leiter des Zentralamts für Wirtschaft in der britischen Besatzungszone in Minden … 1957 Verhaftung wegen angeblicher Geldzuwendungen von Seiten des FDGB (DDR) für die illegale Arbeit der verbotenen KPD, noch im selben Jahr … Freispruch durch den Bundesgerichtshof, 1957 Ausschluß aus der SPD, 1960 Ausschluß aus der IG Druck und Papier«, in: AdsD der FES (Hrsg.): Inventar zu den Nachlässen der deutschen Arbeiterbewegung, S. 1. 612 Hans Böckler (1875-1951), seit 1903 Gewerkschaftsfunktionär, 1928-1933 SPD- Reichstagsabgeordneter, 1949-1951 Vorsitzender des DGB, in: AdsD der FES (Hrsg.): Inventar zu den Nachlässen der deutschen Arbeiterbewegung, S. 63. 613 Heine an Auerbach, 26.5.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 62, AdsD). 614 Auerbach an Heine, 15.6.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, ebd.). 615 Auerbach an Scheuble, 30.8.1946 (Bestand ZfA, Z 40, Mappe 312, BArch). 616 Ebd. 208 jemanden im Stich gelassen hatte, er war nur lange weg und nun endlich wiedergekommen; für Brauer waren die Deutschen und damit die Hamburger nicht zu 95 % Nazis von gestern, sondern Menschen, von denen 95 % weiter nichts als Hitlergruß und Hakenkreuzfahne gezeigt hatten … Man verstand sich. Die Vergangenheit stand nicht zwischen ihnen. Eine Zukunft ohne Brauer schien kaum denkbar. Er kam und blieb, aufgefordert von den Massen, die ihm in Planten un Blomen zugehört hatten. Brauers vor Aktivität sprühender Optimismus riß mit. Die ersten Bürgerschaftswahlen in Hamburg am 13. Oktober 1946 brachten der SPD runde 43 % der Stimmen, sie stellte damit den Ersten Bürgermeister [Max Brauer].« 617

Brauers Freund aus gemeinsamen Emigrationsjahren in den Vereinigten Staaten und später selbst Erster Bürgermeister von Hamburg, Herbert Weichmann, beklagte hingegen im Frühjahr 1945 ähnlich wie Auerbach die Verzögerung, den demokratischen und sozialen Neubeginn mitgestalten zu können: »Wir haben überwintert, wir sind einem schrecklichen Schicksal entgangen und viele mögen unsere Lage vielleicht beneidenswert finden. Aber wir fragen uns: wozu. Wir können uns nicht helfen uns gerade jetzt verantwortlich zu fühlen und unserem Leben, das wir erhalten haben, wieder einen Sinn zu geben. Satt zu essen zu haben oder beruflich erfolgreich zu sein, kann nicht einem genügen, der nun mal eine soziale Verantwortlichkeit fühlt und dessen soziale Interessen nun einmal auch geographisch gebunden sind. Ich, und wohl die meisten von uns, kommen uns vor, wie ungebrauchte Konserven, die voll gebrauchsfähig sind und gute Dienste leisten könnten, die man aber vergessen hat.« 618

Priorität für Walter Auerbach und andere Rückkehrwillige hatten die Ausbildung von Spezialisten, »deren einziger Ehrgeiz uneigennuetzige Leistung sein muesste« 619 und die Entwicklung von Nachkriegskonzepten. Zu diesem Part der Debatten unter politischen Emigranten schrieb Markus Behmer: »Gleichsam ein konstitutionelles Merkmal des politischen Exils ist es, daß sich die Exilierten Gedanken um die staatliche und gesellschaftliche Neuordnung ihres Heimatlandes machen - eine Neuordnung nach der Überwindung des Regimes oder der Bedingungen, die sie vertrieben haben beziehungsweise zur Flucht

617 Ego, Anneliese: Herbert und Elsbeth Weichmann. Gelebte Geschichte 1896-1948, Hamburg 1998, S. 327 f. 618 Weichmann an Vogel, 29.4.1945 (Bestand SOPADE/Emigration, MF Nr. 24, AdsD). 619 Auerbach an Borinski, 20.10.1943 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 48, AdsD). 209 zwangen.« 620 Die Exilsozialdemokratie entwickelte zwischen 1933 und 1945 kaum Dokumente zur Zukunftsplanung. Hans Vogel erklärte dies so: »Uns fehlen Köpfe wie Marx oder Masaryk 621 !« 622 Erst Ende 1945 trat die Union mit »programmatischen Richtlinien zur Wirtschaftspolitik, zur Staatsverfassung, zum Aufbau von Verwaltung und Justiz, zur Kulturpolitik und zum Erziehungswesen« 623 an die Öffentlichkeit. Ein wirklich prägender Einfluss des britischen Regierungs- und Parteiensystems war kaum erkennbar. Übernommen hatten die Verfasser jedoch die Idee der Parteiendemokratie mit einem Mehrheitswahlrecht in modifizierter Form. 624 Wichtigstes Element erschien den Beteiligten nach den Erfahrungen von Weimar und den Exiljahren die absolute Abgrenzung zur KPD, gleichbedeutend mit der Kontinuität der Spaltung der Arbeiterbewegung in den westlichen Besatzungszonen und Westberlin. Die in der Landesgruppe organisierten Gewerkschafter aus Deutschland unter Mitwirkung von Auerbach, Eichler, Gottfurcht, Jahn, von Rauschenplat und dem späteren DGB-Vorsitzenden Ludwig Rosenberg hatten im Vorwort ihrer Vorschläge zum Aufbau einer neuen Gewerkschaftsbewegung konträr zur Sozialdemokratie klargestellt, dass »Socialists and Communists will cooperate with members of Christian organisations and democrats who do not belong to any political party.« 625

In der Londoner Landesgruppe existierten parteipolitische Antipoden, Konsens bestand in der Unterstützung der Arbeiteropposition im Reich und in der Ablehnung der antideutschen Thesen Vansittarts. 626 In einem Gespräch mit dem Geheimdienstoffizier Wiesner kategorisierte der Vorsitzende Gottfurcht die Mitglieder 627 in 50 Prozent Antikommunisten, 25 Prozent Kommunisten und 25

620 Behmer, Markus: »Der Tag danach.« Eine Exildebatte um Deutschlands Zukunft, in: Ders. (Hrsg.): Deutsche Publizistik im Exil 1933 bis 1945. Personen - Positionen - Perspektiven. Festschrift für Ursula E. Koch, Münster u.a. 2000, S. 223. 621 Thomas Masaryk (1850-1937), Professor für Philosophie in Prag, 1918-1935 Präsident der Tschechoslowakischen Republik. 622 Zit. nach Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 221. 623 Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien: Richtlinien für eine deutsche Staatsverfassung (November 1945), in: Wolfgang Benz (Hrsg.): Bewegt von der Hoffnung aller Deutschen. Zur Geschichte des Grundgesetzes. Entwürfe und Diskussionen 1941-1949, München 1979, S. 120. 624 Eiber, Ludwig: Nachkriegsplanungen von Emigranten in Großbritannien, in: Claus Dieter Krohn und Martin Schumacher (Hrsg.): Exil und Neuordnung. Beiträge zur verfassungspolitischen Entwicklung in Deutschland nach 1945, Düsseldorf 2000, S. 82 ff. 625 Auerbach: The New German Trade Union Movement, Draft Proposals, London, Spring, 1945 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 766, AdsD). 626 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 239. 627 Im Jahr 1943 gehörten 674 Männer und Frauen der Landesgruppe an, in: Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 25. 210

Prozent Neutrale. 628 Unter anderem thematisierten die Gesprächsteilnehmer, dazu gehörten auch Vogel und Ollenhauer, die Planung des OSS, mit Zustimmung des britischen und amerikanischen Außenministeriums Agenten ins Kampfgebiet auf deutschem Territorium einzuschleusen. Wiesner gab zwar zu bedenken, dass »the extremely important factor of our relations with the Russians is involved. Even though the Soviet Government will probably bring members of the Free Germany Committee to Germany, if it has not done so already, we cannot assume perfect freedom to introduce as our agents are members of a party which the Communists hate like poison.« 629 Letztlich gelangten etwa 150 Männer und Frauen mit Unterstützung von OSS über die grüne Grenze nach Nazi-Deutschland, 630 und ein Dutzend politischer Emigranten in England wagte den Absprung mit Fallschirmen hinter den Linien der Alliierten, um deren Einmarsch vorzubereiten und Kontakte zu noch bestehenden antifaschistischen Gruppen aufzubauen. 631

Jan Foitzik bezeichnete zwar alle Nachkriegspläne als illusorisch, das Ausmaß der Katastrophe auf deutschem Boden wäre erst vor Ort sichtbar gewesen, ergo »basierten [sie] auf unrealistischen Voraussetzungen.« 632 Doch wesentliche, in der Präambel der Richtlinie für eine Staatsverfassung verankerte Werte verloren nie ihre Gültigkeit: »Die Achtung und der Schutz der Freiheit und der Würde der Persönlichkeit sind die unveräußerlichen Grundlagen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens der deutschen Republik. In diesem Geiste erstrebt sie eine gesellschaftliche Ordnung der sozialen Gerechtigkeit, der Humanität und des Friedens; eine politische und soziale Demokratie, getragen von der Mitbestimmung und Mitverantwortung aller Bürger.« 633 Nicht realisiert wurde »die Befreiung der Wirtschaft von den Fesseln des privaten Monopoleigentums und die Planung der Wirtschaft,« 634 Forderungen analog zu Auerbach, Kahn-Freund,

628 Manpower Div. 775/19: Memorandum of Conversation, Louis A. Wiesner with Hans Vogel, Erich Ollenhauer and Hans Gottfurcht, 15.1.1945 (Bestand OMGUS, 17/257- 2/7, BArch). 629 Ebd. 630 Reinalda: ITF Co-Operation with American Intelligence, in: Ders. (Hrsg.): ITF. The Edo Fimmen Era, S. 237. 631 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 246. 632 Foitzik, Jan: Revolution und Demokratie. Zu den Sofort- und Übergangsplanungen des sozialdemokratischen Exils für Deutschland 1943-1945, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 24 (1988), Nr. 3, S. 338. 633 Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien: Richtlinien für eine deutsche Staatsverfassung (November 1945), S. 120 f. 634 Ebd., S. 121. 211

Mandelbaum und von Rauschenplat 1943 in The Next Germany und zur Landesgruppe im Frühjahr 1945.

Inwieweit die sozialdemokratischen Richtlinien auch die Handschrift des Autorenteams des Penguin Special trugen und ob es überhaupt beteiligt war, läßt sich nicht rekonstruieren. Wenige Wochen nach der Publikation der programmatischen Richtlinien vereinten sich Exil-SPD und die oppositionellen Abspaltungen NB, ISK und SAP, die schon seit 1941 in der Union kooperiert hatten, zu einer sozialdemokratischen Parteiorganisation. 635 Der Zusammenschluss erleichterte den Neubeginn der Sozialdemokratie im Nachkriegsdeutschland unter Kurt Schumacher, der im Konzentrationslager ähnliche Erkenntnisse für die Zukunft hatte wie die Londoner Genossen. Dies förderte langfristig die Entwicklung hin zum Godesberger Programm des Jahres 1959, maßgeblich konzipiert von Willi Eichler. Emigranten wie Eichler und andere hatten in den westlichen Aufnahmeländern den politischen Standort der Arbeiterbewegungen völlig anders erlebt, als er ihnen aus Kaiserreich und Weimarer Republik vertraut war, und plädierten langfristig für eine »Abkehr von marxistischer Dogmatik, vom Denken in den Strukturen des Klassenkampfes und des Kollektivs. Sie optierten für eine vom Individuum her gedachte, pluralistische Gesellschaftsordnung und setzten anstelle des bei aller Fundamentalopposition doch staatsbezogenen Politikverständnisses des deutschen Sozialismus auf das angelsächsische Repräsentationssystem. In Großbritannien, den USA und auch in Norwegen hatten Emigranten diese Prinzipien und ihre Umsetzung in die Praxis kennengelernt. Sie hatten erlebt, daß die dortigen Arbeiterbewegungen die Gesellschaftsordnung akzeptierten und dadurch zugleich in diese integriert wurden, ohne deshalb ihre ureigenen Interessen verleugnen zu müssen.« 636

Die Vorstandswahlen der SPD auf dem ersten Nachkriegsparteitag kommentierte Auerbach gegenüber Heine: »Dass Schumacher gewählt wurde, war selbstverständlich und die zu erwartende Anerkennung seiner grossen organisatorischen Leistung. Die Wahl Erich Ollenhauers aber ist die Anerkennung der Emigrationsarbeit des PV [Parteivorstand].« 637 Susanne Miller, die seit den Jahren ihres Exils in London bis in die Gegenwart das politische Geschehen innerhalb und außerhalb der Sozialdemokratie beobachtete und

635 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 239. 636 Angster, Julia: Der Zehnerkreis. Remigranten in der westdeutschen Arbeiterbewegung der 1950er Jahre, in: Exil 18 (1998), Nr. 1, S. 27. 637 Auerbach an Heine, 14.5.1946 (Bestand SPD-PV K. Schumacher, Mappe 64, AdsD). 212 wissenschaftlich begleitete, schrieb im Jahr 1976 über die Kooperation der beiden ersten SPD-Vorsitzenden: »Das entscheidende Argument für die These, daß die Emigration das politische Denken und Handeln der Arbeiterführer nicht tiefgreifend verändert hat, ist die Tatsache, daß zwischen den ehemaligen Emigranten und den Nicht-Emigranten so gut wie keine prinzipiellen Differenzen aufbrachen. Das politisch bedeutendste Beispiel dafür ist die völlige Übereinstimmung zwischen Schumacher und Ollenhauer, die sich schon bei der ersten persönlichen Begegnung dieser beiden Männer nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte und auch die Grundlage ihrer engen persönlichen Freundschaft bildete.« 638

Die Diskussionen über eine zukünftige autonome Gewerkschaftsbewegung begleiteten Diskurse in der »Zeitschrift International Socialist Forum (Gollancz 639 ),« 640 an denen die Generalsekretäre von IGB und ITF, Walter Schevenels und J. H. Oldenbroek, und der Landesgruppenvorsitzende Hans Gottfurcht mitwirkten. Nicht kontrovers unter den Disputanten war die Bedingung, alle Institutionen und Formationen der NSDAP, die Deutsche Arbeitsfront und andere nationalsozialistische Berufsorganisationen umgehend aufzulösen und die entschädigungslose Entlassung des gesamten Personals, 641 eine Parallele zum 2. Mai 1933. Die Landesgruppe hielt eine konfessionelle und damit politische Spaltung in der Zukunft für vermeidbar. Auerbach verdeutlichte dies an der Entwicklung in Italien: »Aus der Tatsache, dass die Leitung der Confederazione Generale del Lavoro durch den Papst empfangen worden ist, geht hervor, dass die katholische Kirche keine grundsätzlichen Bedenken gegen Gewerkschaftseinheit hat.« 642 Auerbach ging aber von der Wahrscheinlichkeit aus, dass »in Deutschland neben den Gewerkschaften protestantische und katholische Arbeitervereine als kulturelle Organisationen bestehen werden.« 643

638 Miller, Susanne: Deutsche Arbeiterführer in der Emigration, in: Otto Brenner Stiftung (Hrsg.): Herkunft und Mandat. Beiträge zur Führungsproblematik in der Arbeiterbewegung, Frankfurt/M./Köln 1976, S. 168. 639 Victor Gollancz (1893-1967), Verleger. »During the Second World War much of Gollancz’s energy was taken up with getting Jewish refugees out of Germany, and after it he continued to become closely involved with causes about which he felt passionately - Save Europe Now, Jewish Society for Human Service, Campaign for Nuclear Disarmament, the National Campaign for the Abolition of Capital Punishment and War on Want«, in: Greg Rosen (Hrsg.): Dictionary of Labour Biography, London 2001, S. 216 f. 640 Auerbach: Wiederaufbau deutscher Gewerkschaften, in: Die Zeitung, 13.10.1944. 641 Die Vorschläge der Landesgruppe, in: Die Zeitung, 13.10.1944. 642 Auerbach: Wiederaufbau deutscher Gewerkschaften, in: Die Zeitung, 13.10.1944. 643 Ebd. 213

Neben The Next Germany hatte Auerbach seine Empfehlungen an die Konferenz des Internationalen Arbeitsamtes (IAA) 644 im April/Mai 1944 in Philadelphia als Folie für eine progressive Sozialpolitik betrachtet, unerreichbar ohne autonome Arbeitnehmervertretungen. Beide Publikationen hatte er noch Jahrzehnte später in seinem Testament als wegweisend erwähnt. 645 Sein Denkmodell »zur Sozialpolitik in den besetzten Gebieten (Proposed Resolution Concerning Government and Administration by the United Nations of Germany and Other Totalitarian Countries in Europe) und zur Rückführung ausländischer Zwangsarbeiter« 646 wurde in wichtigen Teilen in die von der IAA-Konferenz am 10. Mai 1944 verabschiedete Philadelphia-Charter 647 integriert und diese »als Empfehlung an die Vereinten Nationen angenommen.« 648

Die Charter schaffte »die Grundlagen für eine politische Mitwirkung der Gewerkschaften an den Maßnahmen der Besatzungspolitik.« 649 Im Memorandum wurde absichtlich »der Interessenkonflikt zwischen deutschen und auslaendischen Arbeitern herausgelassen,« 650 schrieb Auerbach an Kahn- Freund. Er verzichtete auf eine schriftliche Diskussion mit ihm, »die wuerde mich wegen mental cruelty vor den Scheidungsrichter bringen.« 651 Auerbach selbst hatte an der Konferenz in Philadelphia 652 nicht teilgenommen, verfasste aber ein

644 Das IAA ist Teil der IAO: Die Internationale Arbeitsorganisation, gegründet 1919, »ist eine völkerrechtliche Organisation … die nach demokratischen Grundsätzen von Vertretern der Regierungen, der Arbeitgeber-Vereinigungen und der Arbeitnehmer- Vereinigungen der Mitgliedsstaaten gemeinsam verwaltet wird. Die Aufgabe … besteht darin, überall den sozialen Fortschritt zu fördern und … der Sache des Weltfriedens zu dienen … Die Konferenzen beschäftigen sich mit Fragen, die oft die Arbeits- und Lebensbedingungen von Millionen berühren … das Übereinkommen betreffend den Acht-Stundentag und die 48-Stundenwoche, das auf der ersten Tagung in Washington im Jahre 1919 beschlossen wurde«, in: Auerbach: German Pamphlet on I.L.O. (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 62, AdsD). 645 Privatsammlung Lore Auerbach: Auerbach: Testament, 29.12.1961. 646 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 241. 647 Auerbach: Übersetzung der Philadelphia-Charter (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 78, AdsD). 648 Röder: Die deutschen sozialistischen Exilgruppen in Großbritannien, S. 241. 649 Ebd. 650 Auerbach an Kahn-Freund, 17.4.1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 51, AdsD). 651 Ebd. 652 »Die Konferenz von Philadelphia fand ein Jahr nach Stalingrad statt. Gewerkschafter aus von deutschen Truppen besetzten Gebieten nahmen an ihr teil. Gerade sie überzeugten die weltweite Konferenz, daß die Arbeitnehmer in Deutschland, Italien und Japan nach der Zerschlagung der Diktaturen volle gesellschaftliche und soziale Rechte haben müßten: ‚Die Grundsätze dieser Erklärung haben volle Geltung für alle Völker der Welt.’ Denn ‚Armut, wo immer sie besteht, gefährdet den Wohlstand aller.’ Vgl. Report II, 26th Session, International Labour Conference: ‚Recommandations to the United Nations for Present and Post-War Social Policy’ Montreal 1944«, in: Walter Auerbach: Zusammenhänge. Illusion und Wirklichkeit der sozialen Sicherheit, Frankfurt/M. 1968, S. 11, Anm. 5. 214 längeres Bulletin über diese erste ordentliche Konferenz des IAA seit 1939 mit Repräsentanten aus 46 Staaten, und er zitierte den geschäftsführenden Direktor des IAA mit den Worten, »dass die Annahme der ‚Erklärung über die Ziele und Aufgaben der Internationalen Arbeitsorganisation’ durch die Konferenz von Philadelphia in 1944 ‚mehr bedeutet als die Ausarbeitung bestimmter Grundsätze, nach denen sich die Organisation richten soll. Die Erklärung ist sozusagen ein neuer Polarstern auf dem sozialen Firmament, nach welchem staatliche und internationale Behörden ihren Kurs in der Richtung des gemeinsamen Wohlergehens der Menschheit mit grösserer Sicherheit als bisher steuern können, und sie bezeichnet das gemeinsame Wohlergehen der Menschheit als Ziel, das schließlich erreicht werden muss, wie schwer auch die wirtschaftlichen Stürme sein mögen, die dem Schiffe begegnen und wie gefährlich auch die Felsenriffe, die es zu umsteuern gilt’.« 653

In Die Zeitung , inzwischen hoffähig im sozialistischen Exil, verwies Auerbach auf die in den Debatten umstrittene Frage sozialpolitischer Mindeststandards und die Befürchtung einiger Delegierter in Philadelphia, »dass Kriegsverwüstungen es der Regierung eines gerade befreiten Landes unmöglich machen würden, die vom IAA für Deutschland als Mindestbedingungen vorgeschlagenen Internationalen Arbeitskonventionen im eigenen Land durchzuführen. Die Arbeiter des besiegten Deutschland stünden dann unter Umständen besser da, als die Arbeiter eines alliierten Landes. Damit war das Reparationsproblem angeschnitten.« 654 Einigkeit bei den Delegierten bestand über die Forderung der sofortigen Beseitigung aller nationalsozialistischen Organisationen und über die »Neubildung freier deutscher Gewerkschaften und Unternehmerverbände.« 655 Einige Zeilen weiter erwähnte Auerbach Vansittarts Präzisierung zum Anteil der »Schuld der deutschen Arbeiter an den Verbrechen der Nazi-Diktatur,« 656 unter Kongressteilnehmern und in der Presseberichterstattung vehement diskutiert: »Wir können das deutsche Volk nicht von Schuld freisprechen, aber wir können differenzieren. Das deutsche Volk oder die Arbeiter sind weniger, bedeutend weniger schuldig als die Militaristen, Junker und Schwerindustriellen.« 657

653 Auerbach: Philadelphia Konferenz von 1944 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 62, AdsD). 654 Auerbach: Sozialpolitische Probleme nach Hitler (II): Philadelphia und Deutschland, in: Die Zeitung, 22.9.1944. 655 Ebd. 656 Ebd. 657 Ebd. 215

In einem Kommentar zu jenen Passagen der Philadelphia-Charter, die das Bekenntnis der Internationalen Arbeitsorganisation zu ihren fundamentalen Prinzipien erneuerte, 658 argumentierte Auerbach, dass erst durch die Besatzungspolitik der Alliierten »the apparent discrepancy between the Philadelphia Declaration and the plans for the treatment of Germany« 659 sichtbar wurde. »At least in Philadelphia … all formulations deliberately avoided any exclusion of Germany.«660 Die Philadelphia Charter hob hervor, dass »dauernder Friede nur auf der Grundlage sozialer Gerechtigkeit möglich ist … staatliche und internationale Politik und alle staatlichen und internationalen Massnahmen, vor allem wirtschaftlicher und finanzieller Art, sind unter diesem Gesichtspunkt zu beurteilen und nur dann zu unterstützen, wenn sie das Erreichen dieses Zieles erleichtern und nicht erschweren werden … es ist eine der Aufgaben der Internationalen Arbeitsorganisation, internationale Wirtschafts- und Finanzpolitik und alle internationalen Wirtschafts- und Finanzmassnahmen unter diesem Gesichtspunkt zu prüfen und zu beurteilen … Die Konferenz unterstreicht, dass die in dieser Erklärung niedergelegten Grundsätze voll für alle Völker, gleich wo, gelten. Die Art ihrer Anwendung muss sich zwar nach der von jedem Volk erreichten sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungsstufe richten, aber ihre immer vollständigere Verwirklichung für noch abhängige Völker wie für Völker, die bereits die Stufe der Selbstverwaltung erreicht haben, ist Angelegenheit der ganzen zivilisierten Welt.« 661

In einem Brief an Rens vom International Labour Office in Montreal unterstrich Auerbach, dass die Charter »claims the right of the ILO to be an independent judge of all measures taken in its field throughout the world. It refuses to make exceptions of principle for dependent territories. As Germany under Military Government … is in the same position as any dependent territory, far-reaching repercussions might result from an acceptance of a special status for Germany by the ILO … It is true that the Potsdam Agreement … appear[s] to contradict the Philadelphia Declaration. The declaration did not envisage planning for distress, unknown before in modern history … The par. (Ic) [»Armut, wo auch immer,

658 Auerbach: Übersetzung der Philadelphia-Charter (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 78, AdsD). 659 Auerbach an Rens (I.L.O., Montreal), 21.6.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 62, AdsD). 660 Ebd. 661 Auerbach: Übersetzung der Philadelphia-Charter (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 78, AdsD). 216 gefährdet Wohlstand überall in der Welt« 662 ] which contains the controversial issue is, however, not only a statement of a moral principle. It is at the same time stressing the parallelism of material interests between the nations.« 663

Die im Dezember 1948 von den Vereinten Nationen in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte proklamierten Forderungen basieren »auf der ‚Philadelphia Charter’ der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO). Die Konferenz in Philadelphia … war ein Wendepunkt in der Tätigkeit der seit 1919 bestehenden Organisation und der Abschluß eines Klärungsprozesses … Die maßgebend von Gewerkschaftern [Auerbach!] beeinflußte ‚Erklärung von Philadelphia’ brachte dann die Zusammenschau aller sozialen Leistungen; sie forderte im Rahmen der sozialen Sicherung ein aufeinander abgestimmtes System der sozialen Einkommenssicherungen, der ärztlichen Betreuung und der sozialen Dienste in Verbindung mit Bildungsmöglichkeiten. In Philadelphia wurde diese Forderung sozialethisch begründet: ‚Alle Menschen, gleich welcher Rasse, welchen Glaubens oder welchen Geschlechts haben das Recht, materiellen Wohlstand und geistige Entfaltung in Freiheit und Würde in wirtschaftlicher Sicherheit und unter gleich günstigen Möglichkeiten anzustreben’.«664

Das Management Committee der ITF hatte noch vor der Kapitulation entschieden, »to attach me [Auerbach] to an ITF delegation to Germany as soon as opportunity arises.« 665 Doch einer offiziellen ITF-Delegation wurde dies bis in das Jahr 1947 hinein mit der Begründung verweigert, eine TUC-Delegation hätte Vorrang. Im November 1945 reisten die TUC-Repräsentanten William Lawther (1889-1976), Abgeordneter der Labour Party und Vorsitzender der Bergarbeitergewerkschaft, Jack Tanner (1889-1965), Vorsitzender von Amalgamated Engineering Union, und Herbert L. Bullock (1885-1967) von der National Union of General and Municipal Workers nach Berlin und in die britische besetzte Zone Westdeutschlands. 666 Entgegen dem Engagement der ITF gegen den Nationalsozialismus hatte der TUC den deutschen Arbeiterwiderstand in den Jahren 1933 bis 1945 nicht unterstützt. Die TUC-Delegation galt offiziell dem

662 Ebd. 663 Auerbach an Rens (I.L.O., Montreal), 21.6.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 62, AdsD). 664 Auerbach: Zusammenhänge, S. 7 ff. 665 Auerbach an Oldenbroek, 19.3.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 54, AdsD). 666 Posener, Julius: In Deutschland 1945 bis 1946. Kommentierte Ausgabe mit einem Nachwort von Alan Posener, Berlin 2002, S. 126 und S. 190. 217

Zweck, »mit den deutschen Genossen Fühlung zu nehmen« 667 und sie zu unterstützen.

Der Zeitzeuge Julius Posener 668 berichtete, die drei Kollegen, »die sich in anderen Teilen der Zone länger aufhielten, hatten nur eine Begegnung mit den deutschen Gewerkschaftern im Ruhrgebiet. Sie trafen sie in Düsseldorf, sprachen freundliche Worte und gaben ihnen etwa eine Stunde Zeit, um Fragen zu stellen, die sie in einer etwas onkelhaften Weise beantworteten. Zu einer freien Aussprache kam es nicht. Man sagt, als die Engländer fort waren, sei der alte Böckler in Tränen ausgebrochen, und Böckler ist kein Hysteriker. Er hat ein Leben der Gewerkschaftsarbeit hinter sich.« 669 Die Delegierten hinterließen Böckler einen Brief mit der Warnung vor einer Überzentralisierung, sollte das Prinzip Einheitsgewerkschaft, wie es auch das gewerkschaftspolitische Exil in London favorisierte, verwirklicht werden. »Böckler wurde angewiesen, die Gewerkschaft statt dessen in 14 autonomen Industrieverbänden aufzubauen, die man später … in einer Dachorganisation zusammenfassen könnte.« 670 Die neuen gewerkschaftlichen Gruppierungen organisierten sich auf der Basis von Einheits- und Industriegewerkschaften. 671 Die Konkurrenzkämpfe der Richtungsgewerkschaften der Weimarer Zeit und die erst im April 1933 verspätet vereinbarte gemeinsame Linie gegen eine Übernahme durch das NS-Regime hatten tiefe Spuren hinterlassen. Auerbach ironisierte: »The TUC delegation has now finished its four-days’ stay and we may piously hope that after some time we may learn the result of the discussion - if time was left to discuss the question at all.« 672

Wiederholt hatte Oldenbroek mit Dringlichkeit um die Lizenz für eine ITF-Zeitung, »a transport workers’ journal in the Ruhr,« 673 herausgegeben von dem Zeitungswissenschaftler Walter Auerbach, nachgesucht. Die Control Commission for Germany (CCG) unter dem Major-General Bishop ließ ihn abschließend wissen: »Licences to produce any kind of publication in the British zone in Germany are not granted to persons located outside the British zone. Although it

667 Ebd.,S. 126. 668 Julius Posener (1904-1996), Architekt. 1935 Emigration nach Palästina, 1941 Freiwilliger in der britischen Armee. 1945-1946 als Geheimdienstoffizier in Deutschland, in: Posener: In Deutschland 1945 bis 1946 (Umschlag). 669 Posener: In Deutschland 1945 bis 1946, S. 127. 670 Ebd. 671 Auerbach: Vorlaeufiger Bericht ueber eine Deutschlandreise im Auftrag der ITF. Februar - April 1946, 30.4.1946, S. 5 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 94, AdsD). 672 Auerbach an Skeffington, 7.12.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 58, AdsD). 673 Auerbach an Deakin (TGWU), 28.12.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 58, AdsD). 218 is considered that publication of a journal containing trade union news would be valuable, it is felt that it would be preferable for the time being to see such publication sponsored by the Germans themselves.« 674

Auerbach intervenierte bei dem Abgeordneten Arthur Skeffington. Das Control Office for Germany and Austria (Kurzbezeichnung nach dem Londoner Amtssitz: Norfolk House) unterstützte Bishops Entscheidung und schrieb dem Petenten Skeffington ganz im Sinne britischer Repatriierungsspolitik, ohne expressis verbis emigrantenfeindliche Ressentiments durchklingen zu lassen: »We have come to the conclusion that it would be a negation of the democratic principle to press or appear to press outside views on the German Trade Union Movement. That is why we do not favour the proposal that I.T.F. should be allowed to publish a journal in Germany.« 675 Der amerikanische Geheimdienst OSS hatte im März 1945 Aktivitäten der ITF auf deutschem Boden unmittelbar nach der Kapitulation befürwortet, wie Wiesner in einem Memorandum über sein Gespräch mit Jahn und Auerbach darlegte: »We very much wanted to see democratic organisations like ITF go into Germany at the earliest possible moment. We insist only that they do this through proper channels and in such a manner as to leave no doubt that the United States Government is not financing or giving special favors to any such movement.« 676 Dies bedeutete allerdings Rückkehr in amerikanischer Uniform, für Auerbach undenkbar.

Die Finanzierung einer eigenen Zeitung hätte die ITF übernommen, schon um Autonomie zu wahren. Oldenbroek und Auerbach bemühten sich weiter über britische Regierungsinstitutionen. Ihr Projekt wurde auch später nie realisiert. In seinem Kommentar über die Diskussion mit Jahn und Auerbach betonte Wiesner das Interesse des OSS an einer Fortsetzung der seit Beginn der 1940er Jahre bestehenden Kooperation mit ITF-Repräsentanten nach unconditional surrender , den Kalten Krieg bereits im Blick: »In view of what the Russians are doing in Eastern Germany, the Western Allies run the danger of seeing most of Germany conquered by Communists while we are still trying to hold down ‚political’ activity in our zones … ITF’s organising is by long tradition kept strictly independent of political parties, but its effect is wholly democratic. If we push it successfully, we

674 Major-General Bishop an Oldenbroek, 27.10.1945 (Bestand Foreign Office, FO 938/240, TNA). 675 Control Office for Germany and Austria an Skeffington, 19.1.1946 (Bestand Foreign Office, FO 938/240, TNA). 676 Manpower Div. US Group CC Political Division APO 742, Memorandum of Conversation, March 15, 1945, Participants: Louis A. Wiesner, Walter Auerbach, Hans Jahn. (Bestand OMGUS, 17/257-2/7, BArch). 219 shall acquire some very valuable allies whose guiding ideas correspond pretty well with our own.«677

Dank seiner persönlichen Kontakte zum Minister für die britisch besetzte Zone Deutschlands, John Hynd, im Februar 1946 bekam Auerbach das Plazet für einen zweimonatigen Aufenthalt. Er bereiste die drei westlichen Zonen und Groß- Berlin mit der Distanz eines kritischen Beobachters, der nicht in den Aufbau neuer Gewerkschaften involviert, aber Insider war. Einreiseanträge für die sowjetisch besetzte Zone waren fünf bis sechs Wochen im voraus zu stellen. Norfolk House informierte Auerbach, dass die Verantwortlichen »are trying to arrange this but the difficulties in the way of arranging any visits at the present time are really formidable - transport, accommodation and food. This was explained by Mr. Hynd in reply to a Question in the House of Commons on 17 th December [1945] … You may care to know however in confidence that Mr. Hynd has interested himself personally in your case.« 678

Im Februar 1946 betrat Auerbach nach dreizehn Jahren Exil erstmals wieder deutschen Boden, ausgestattet mit Empfehlungen an die britische Militärregierung und einem Kreditbrief von Norfolk House. 679 Er und der diensthabende Offizier von Main H. Q. Manpower Division in Bad Oeynhausen 680 , Major Keeny, standen zunächst ziemlich ratlos da. Klärung der Modalitäten brachte ein telegraphischer Notruf an Auerbachs Mentor Hynd, er möge »exact scope envisaged for accommodation and travel facilities« drahten, »as otherwise journey hardly successful.« 681 Die Kommunikation bei Manpower Division und mit Vertretern der Militärregierung (MG) lief in englischer Sprache, und Auerbach stellte fest: »Ich stutze auf der Strasse noch immer wenn deutsch gesprochen wird … Jetzt fehlen mir manchmal die deutschen Worte für militärische Ausdrücke.« 682 Heinrich Heine schrieb 1844 in Deutschland. Ein Wintermärchen: »Ich liebe das Vaterland ebenso sehr wie ihr. Wegen dieser Liebe habe ich dreizehn Lebensjahre im Exile verlebt, und wegen eben dieser

677 Ebd. 678 Control Office for Germany and Austria (Norfolk House) an Auerbach, 23.1.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 59, AdsD) und Parl. Deb., H. C., 5. Serie, Bd. 417, Sp. 1084, 17.12.1945. 679 Auerbach: Tagebuch Deutschlandreise Februar/April 1946, S. 11, 23.2.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 2, AdsD). 680 Bad Oeynhausen war auch Sitz des Britischen Militärischen Oberkommandos. Die Britische Militärregierung hatte ihren Sitz in Lübbecke, Herford und Minden. 681 Auerbach: Tagebuch Deutschlandreise Februar/April 1946, S. 12, 23.2.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 2, AdsD). 682 Ebd., S. 14, 23.2.1946. 220

Liebe kehre ich wieder zurück ins Exil, vielleicht für immer.« 683 Nach Überqueren der Grenze hatte auch Heine die deutsche Sprache zunächst irritiert: »Und als ich die deutsche Sprache vernahm, /Da ward mir seltsam zumute; /Ich meinte nicht anders, als ob das Herz /Recht angenehm verblute.« 684

In seinen kurzgefassten Tagebuchaufzeichnungen fasste Auerbach seine Reiseeindrücke zusammen, zumeist blieb er, wie gewohnt, sachlich, zuweilen war er aber auch sarkastisch und zynisch. Nur den Blick zurück vom Schiff auf dem Kanal beschrieb er in sentimentalen Worten: »Die weisse Küste liegt im Sonnenschein, England sieht liebenswürdig verändert aus: eine bescheidene ländliche Insel mit frischen Pastelltönen.« 685 Angelangt auf dem Kontinent, befand er sich als einziger Zivilist im Zug. Er notierte einen kurzen Dialog mit einem Mitreisenden: »Nach einiger Zeit kommt Mr. Keeny ins Abteil … erzählt, dass er seinen einzigen Sohn im Kriege verlor. ‚Warum helfe ich diesem Volk eigentlich beim Wiederaufbau. Ich sollte hassen. Aber ich kann nicht hassen. Sie, sagt er mir, sind in einer ähnlichen, gleichen Lage. Auch sie sollten hassen. Warum hassen Sie nicht? Warum helfen wir?’ Das Gespräch wird auf Englisch geführt. ‚Ja, warum sind wir hier? Ich hasse die Naziverbrecher, sage ich, aber nicht das Volk. ‚Sie kennen das Elend noch nicht in das Sie zurückgehen wollen’.« 686

Eine Begegnung ganz anderer Art hatte Auerbach im Café Schwarze in Bad Oeynhausen mit einem ehemaligen Flieger, der ihm anvertraute, das »Leben sei sinnlos geworden … Er trüge sich mit Selbstmordabsichten. Vergeblich versuche ich ihm Hoffnung zu machen. Da kommen wir auf Wiechert, und der gemeinsame Dichter bringt die Wende. Das Gespräch kommt auf sittliche Werte; er will überlegen, ob er Agrarchemiker oder Diplomlandwirt werden kann. Goethes Gedichte kennt er nicht, nur Teile des Faust. Ich diktiere ihm eine Liste von 50 englischen, amerikanischen und deutschen Dichtern und Philosophen … Als ich zur Bahn muss, stehen ihm Tränen in den Augen und sein Wiedersehenswunsch ist echt.« 687

Der amerikanische Offizier Saul Padover hatte nach dem Einmarsch der Alliierten Vernehmungen mit Deutschen geführt und aufgezeichnet und wusste ebenfalls

683 Heine, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen, Stuttgart 2001 (Neuauflage), S. 4. 684 Auerbach: Tagebuch Deutschlandreise Februar/April 1946, S. 9, 23.2.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 2, AdsD). 685 Ebd., S. 4 f., 22.2.1946. 686 Ebd., S. 2 (o.D.). 687 Ebd., S. 1 (o.D.). 221 von Suizidgedanken: »Und sie schoben die Schuld auf den einst so geliebten Führer, machten ihn für all ihre Schwierigkeiten verantwortlich und verfluchten ihn. Und insgeheim sahen sie sich nach einem neuen Führer um. Aber sie unternahmen nichts. Sie fluchten nur, still und leise, in den eigenen vier Wänden. Und viele waren enttäuscht, demoralisiert, hoffnungslos, dachten an Selbstmord. Es war ihnen egal, was aus Deutschland wurde.« 688 Seine Berichte an das Hauptquartier wurden mit Skepsis aufgenommen und »lösten eine kleine Sensation aus - so sehr widersprachen sie dem landläufigen Bild der Deutschen, zumal dem Bild vom Übermenschen, das Goebbels für das Ausland konstruiert hatte.« 689

Zwei Monate hielt sich Auerbach in den drei Westzonen und Berlin auf »to discuss trade union and Labour problems with German transportworkers’ unions and the authorities concerned.« 690 Besprechungen führte er mit den für den Aufbau von Gewerkschaften zuständigen Abteilungen der Militärregierung in Bad Oeynhausen, Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Hannover, Mainz, München, Neustadt, Stuttgart und Wiesbaden. In seinem offiziellen an die ITF adressierten Reisebericht hieß es: Ich verhandelte »mit den verschiedenen Transportarbeitergewerkschaften, Betriebsraeten, Personalvertretungen, Gewerkschaftsbuenden und zustaendigen deutschen Behoerden und besuchte viele Schulen in Arbeitervierteln und viele Arbeiterfamilien. Ich nahm an der ersten gewerkschaftlichen Zonenkonferenz der Brit. Zone in Hannover (12.-14. Maerz) teil, an der ersten gewerkschaftlichen Zonenkonferenz in Frankfurt (14.4.), an 2 Konferenzen der Transportarbeitergewerkschaften der Brit. Zone (Hannover und Bielefeld), an einer Konferenz der Eisenbahnergewerkschaften der US Zone (Stuttgart) und an einer Konferenz der westfaelischen Gewerkschaftsvertreter (Muenster). In verschiedenen Staedten nahm ich an Vorstandssitzungen von Gewerkschaften teil, an Betriebsratssitzungen und oertlichen Gewerkschaftsversammlungen und war auf der Gruendungsversammlung der Eisenbahnergewerkschaften in Bad Homburg. Auf fast allen dieser Versammlungen und Konferenzen hatte ich zu sprechen.« 691

688 Padover, Saul K.: Lügendetektor. Vernehmungen im besiegten Deutschland 1944/45, Frankfurt/M. 1999, S. 28 f. (Erstveröffentlichung: Experiment in Germany. The Story of an American Intelligence Officer, New York 1946.) 689 Ebd. 690 Auerbach an The Editor, The Times, London, 23.4.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 60, AdsD) und Walter Auerbach: Preliminary Report on a Visit to Germany on behalf of the ITF, February - April 1946, 30.4.1946 (Bestand ITF, Mappe 66, AdsD). 691 Auerbach: Vorlaeufiger Bericht ueber eine Deutschlandreise 1946, S. 1 f. (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 94, AdsD). 222

Über die Rezeption des Londoner Exilgewerkschafters machte Auerbach keinerlei Aussagen, nicht darüber, dass er nicht unbedingt den Kriterien von einem »Modellfunktionär der ersten Stunde« 692 entsprach. Als Handicap galten Universitätsstudium und Promotion. 693 Zugute aber kam ihm sein diplomatisches Geschick, dass ihm Otto Kahn-Freund attestiert hatte: »Ich wusste gar nicht was für ein gerissener Diplomat Sie sind. Ein veritabler Metternich-cum-Richelieu.« 694

Das Verhältnis zwischen Offizieren der Besatzungsmacht und Gewerkschaftern brachte Auerbach auf den Nenner: »Es scheint, dass einige dieser Gewerkschaftsfuehrer uebersehen, dass sie bis auf weiteres, d.h. bis die MG durch Zivilverwaltung der Alliierten ersetzt wird, nicht in einer Demokratie leben, sondern unter einer Militaerdiktatur, die ein langsames Wachsen der demokratischen Kraefte gestattet.« 695 Peregrine 696 , vermutlich ein Pseudonym Sebastian Haffners, der 1946 als Korrespondent von The Observer nach Deutschland ging, berichtete am 13. April 1946 aus Hamburg: »A remark made recently by an anti-Nazi German of strong British sympathies accurately sums up the position. ‚Why don’t you practice democracy’ he asked, instead of talking so much about it?’« 697

Die für Gewerkschaftsfragen verantwortlichen Dienststellen der Alliierten verlangten von den Funktionären unter anderem monatliche Berichterstattung, je nach Besatzungszone in deutscher und englischer oder französischer Sprache, und übten in einigen Orten gelegentlich Zensur aus. Dann hatten Referenten Manuskripte oder Stichpunkte bereits im Vorfeld einzureichen. 698 Soweit militärische Interessen aber nicht tangiert waren und Rückgriffe auf nationalsozialistische Ideologie fehlten, herrschte Redefreiheit. Zahlreiche Gewerkschafter erfuhren Unterstützung von Besatzungsoffizieren, andere erlebten Einschüchterung oder hörten so skurrile Bemerkungen wie, »dass sie

692 Eichmann: Auch wenn andere die Weichen stellten, S. 153. 693 Ebd. 694 Kahn-Freund an Auerbach, 2.9.1949 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 40, AdsD). 695 Auerbach: Vorlaeufiger Bericht ueber eine Deutschlandreise 1946, S. 4 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 94, AdsD). 696 Peregrine: Foreign, imported from abroad, outlandish (Oxford Dictionary). 697 Bericht (17 Seiten) eines anonymen Autors (offensichtlich Engländer) über negative Auswirkungen der Besatzungspolitik in der britischen Zone Deutschlands (o.D., nach dem 6.4.1946) (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 78, AdsD). 698 Auerbach: Vorlaeufiger Bericht ueber eine Deutschlandreise 1946, S. 3 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 94, AdsD). 223 von ihm, der im Privatleben Industrieller sei, nicht erwarten koennten, Gewerkschaften zu foerdern.« 699

Auerbach hatte bereits ein halbes Jahr vor seiner Reise die Konstellation der für die Arbeits- und Sozialverwaltung zuständigen Verantwortlichen gekannt und kritisiert: »In der englischen Zone ist kein einziger Gewerkschafter an leitender Stelle taetig, wohl aber einige wenige civil servants mit Gewerkschaftserfahrung,« 700 ernannt durch das Kabinett Churchill, offenbar ohne Mitwirkung des TUC und ohne Berücksichtigung von »General Eisenhower’s message of Dec. 14th 1944,« 701 dass »German workers will be allowed to establish trade unions as soon as possible.« 702 Die US-Gewerkschaftszentralen hatten hingegen durchgesetzt, »dass in der Leitung der sozialpolitischen Abteilung der Militaerverwaltung der USA-Zone erfahrene USA-Gewerkschafter und ihnen nahestehende Sozialpolitiker der -Verwaltung taetig sind.« 703

In einem Fall hatten Bergarbeiter in der britischen Besatzungszone ohne Einhaltung des Instanzenweges mit der Neugründung ihrer Interessenvertretung begonnen und wurden prompt verhaftet. 704 Die Manpower-Abteilung der Militärregierung übte ihre Kontrollfunktionen gerade im Arbeitnehmerbereich in der Überzeugung aus, »dass Gewerkschaften ‚eine potentielle Gefahr fuer den Staat’ sind.« 705 Neugründungen hatten zunächst auf lokaler Ebene zu erfolgen, organisatorische Kontakte mit Nachbarstädten provozierten energisches Eingreifen. Für geradezu absurd hielt Auerbach das Exempel von Hamburg und Cuxhaven. In beiden Städten existierten Zirkel von Hafenarbeitern und Fischern ohne Kontakt zueinander. 706

Unter Arbeitern und Angestellten in vollbeschäftigten Industriezweigen wie dem Bergbau, im öffentlichen Dienst, bei Post und Bahn war der Organisationsgrad hoch, bei den Eisenbahnern lag er in einigen Städten bei bis zu 95 %. 707

699 Ebd., S. 2. 700 Auerbach: Trade Unions in Occupied Germany. Propaganda and Facts, 15.8.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 77, AdsD). 701 Auerbach: Trade Union Reconstruction in Germany, 24.3.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 90, AdsD). 702 Ebd. 703 Auerbach: Trade Unions in Occupied Germany. Propaganda and Facts, 15.8.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 77, AdsD). 704 Auerbach: Vorlaeufiger Bericht ueber eine Deutschlandreise 1946, S. 2 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 94, AdsD). 705 Ebd. 706 Ebd. 707 Ebd., S. 4 ff. 224

Auerbach sah diesen Berufszweig »in einer Sonderstellung, weil ihnen Verbindungsmoeglichkeiten zur Verfuegung stehen, die dem Durchschnittsdeutschen unerreichbar sind. Den Eisenbahnern gelang es, die Anerkennung ihrer Personalvertretungen durch die deutsche Eisenbahnverwaltung und die alliierten Behoerden nach Beendigung der eigentlichen Kampfhandlungen durchzusetzen und sie konnten daher schon sehr frueh einen Stamm erfahrener Gewerkschafter sammeln ... Die Eisenbahner der britischen Zone haben in Hans Jahn (Bielefeld) einen gewaehlten Verbindungsmann fuer die Zone. Jahn geniesst gleichzeitig grosses Ansehen unter Eisenbahnern und Gewerkschaftern in der US Zone und in Gross- Berlin.« 708

Breiten Raum nahm in Auerbachs Reportage die Ernährungslage ein. Ernteeinbußen durch den Verlust großer landwirtschaftlicher Nutzflächen im Osten Deutschlands und der Mangel an Düngemitteln und Arbeitskräften unterminierten die Produktion. Die ausländischen Zwangsarbeiter lebten in DP- Camps oder kehrten in ihre Heimatländer zurück, viele deutsche Landwirte befanden sich in Gefangenschaft der Alliierten, waren gefallen oder galten als vermisst. Bombardements der Alliierten in der letzten Kriegsphase hatten Teile der Infrastruktur der Transportsysteme zerstört. Dies sorgte für Verteilungsprobleme. Auf einer Konferenz in der Halle eines Ausbesserungswerks der Bahn an einem grauen und kaltem Samstagvormittag im Frühjahr 1946, an der Auerbach zunächst inkognito teilnahm, beklagten Kollegen in ihren Diskussionsbeiträgen sarkastisch die Reduzierung der Nahrungsmittelzufuhr in der britisch besetzten Zone von 1.550 auf täglich 1.014 Kalorien. Sie berichteten über ernährungsbedingte Betriebsunfälle und den rasanten Anstieg der Krankheitsziffern. 709 Selbst die »railway administration had turned to the unions for advice how to keep the wheels moving in spite of starvation.« 710 Auerbach beendete seinen Bericht mit den Worten eines älteren Eisenbahners: »I had fought Hitler already at a time when foreign governments appeased him. There are many guilty Germans, but there are guilty men in other countries too … Shall all Germans come at the end of the world food queue, those who suffered in concentration camps even behind Allied Nazis?« 711

708 Ebd., S. 7. 709 Auerbach: At the verge of breakdown. Kurzbericht ueber eine Deutschlandreise im Auftrag der ITF. Februar - April 1946, o.D. (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 77, AdsD). 710 Ebd. 711 Ebd. 225

An einer Begebenheit in Hamburg machte Auerbach die Auswirkungen unzureichender Versorgung deutlich. Ein Straßenbahner hatte das Bewusstsein verloren und prallte mit seinem Zug auf ein parkendes Fahrzeug. »Die Untersuchung ergab, dass der Fahrer zum Abendbrot nur eine kochfertige Suppe und am Morgen nichts gegessen hatte. Zugpersonal, Lokomotivpersonal, Lastwagenfahrer, Hafenarbeiter, Ausbesserungswerkstaettenarbeiter klagen alle ueber Schwindelanfaelle … Ich konnte bei der Einleitung der Verhandlungen ueber eine Revision der Bestimmungen ueber Schwer- und Schwerstarbeiterzulagen behilflich sein. Seit der Senkung der Grundration aber reichen diese Zusatzrationen nicht aus und der Lebensmittelmangel zwang die Behoerden sogar dazu, einigen Gruppen von Transportarbeitern die Zusatzrationen zu entziehen. In einigen anderen Berufen wurde die Arbeitszeit gekuerzt. Das ist im Verkehr unmoeglich … Bisher haben die Behoerden noch keinen Ausweg gefunden, durch den der Raubbau an der Gesundheit der Transportarbeiter vermieden werden kann, und sie muessen weiter das Risiko eines Zusammenbruchs des Transportsystems in Kauf nehmen.« 712

Auerbach, im Wissen um die fatale Ernährungssituation, hatte bereits im Herbst 1945 bei dem Kollegen Bell von der Internationalen Abteilung des TUC und bei diversen britischen Politikern moniert, dass »no UNRRA [United Nations Relief and Rehabilitation Administration] or Red Cross assistance or parcel service for trade unionists, Socialists, Communists etc. who have been victimised for their activity« 713 existierte. In drastischen Worten beschrieb er die Situation in den Industriegebieten der drei Westzonen: »Die Kartoffellinie trennt Unterernaehrungsbezirke von Hungersnotbezirken … Altersrentner … hungern mit der sogenannten Friedhofration.« 714 Statistisches Material aus dem medizinischen Bereich in Worms besagte, dass dort 88,8 Prozent von 1.249 untersuchten Arbeitern als unterernährt galten und dass das Gewicht von 34 Prozent mit zehn bis zwanzig Kilogramm unter Normalgewicht lag. In Wormser Volksschulen hatten 53,5 Prozent der Mädchen und 35,6 Prozent der Jungen zwischen fünf und zehn Kilogramm Untergewicht. 715 Auerbach kannte Unterernährung aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Damals halfen ihm und

712 Auerbach: Vorlaeufiger Bericht ueber eine Deutschlandreise 1946, S. 13 f. (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 94, AdsD). 713 Auerbach an Bell (International Department TUC), 10.9.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 57, AdsD). 714 Auerbach: Vorlaeufiger Bericht ueber eine Deutschlandreise 1946, S. 11 f. (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 94, AdsD). 715 Ebd., S. 12. 226 anderen Großstadtkindern wohlhabende Schweizer Bürger mit Ferienaufenthalten. 716

Schwerwiegend war vor allem der Mangel an tierischem Eiweiß und Fett. Zusätzliche Rationen durch Käufe auf dem Schwarzen Markt oder Hamstern bei Bauern waren Ausgebombten und Flüchtlingen wegen mangelnder Sachwerte verschlossen, und der Zugang zu CARE-Paketen, eine Aktion vorwiegend privater amerikanischer Spender ab Sommer 1946, blieb nur wenigen Menschen vorbehalten. In der Nachkriegszeit machte sich in England trotz aller Vorbehalte der Gedanke breit, »daß ein notleidender Mensch schließlich ein notleidender Mensch ist, gleichgültig, ob es ein Deutscher oder Österreicher … ist.« 717 Erbitterung erregten allerdings Nachrichten aus Deutschland, »daß die Mehrzahl der Menschen in der britischen Zone sich weigerte zu glauben, daß England irgend etwas für sie täte und statt dessen eifrigst Gerüchte über den Export von Nahrungsmitteln von Deutschland nach England verbreitete!« 718

Victor Gollancz bereiste im Herbst 1946 auf den Spuren Walter Auerbachs die drei westlichen Besatzungszonen und Berlin, in Kooperation mit ihm und ausgestattet mit dessen umfangreichem Adressmaterial und Empfehlungen an Persönlichkeiten, die er im Frühjahr auf seiner Deutschlandreise kennengelernt hatte. 719 Gollancz, geschockt über das Elend, das er angetroffen hatte, publizierte nach seiner Rückkehr in Zeitungen aller Richtungen Artikel und gründete mit anderen Prominenten das Komitee Save Europe Now . 720 Ein Spendenaufruf im Januar 1946 enthielt die Zielsetzung: »COBSRA (Council of British Societies for Relief Abroad) has received the Government’s permission to acquire foodstuff ‚not in general demand in this country but of value for relief work’. These will be used ‘to supplement the minimum rations of groups in special need - babies and children, expecting and nursing mothers, the sick, the old … Distribution will be regardless of race, nationality, or creed. (COBSRA’s activities have now been extended to cover the civilian population of Germany and Austria.« 721 Die Hilfsaktionen britischer Bürger für die Hungernden auf dem Kontinent waren untrennbar verbunden mit dem Namen ihres Initiators, und

716 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 15.10.2001, in Bonn. 717 Plato, von und Leh: »Ein unglaublicher Frühling«, S. 372 f. (Dokument 123). 718 Ebd., S. 373. 719 Auerbach an Gollancz, 31.8.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 94, AdsD). 720 Plato, von und Leh: »Ein unglaublicher Frühling«, S. 374. (Dokument 123). 721 Gollancz an »more than 60,000 men and women who responded some time ago to our appeal to help us to ‚save Europe now’ by voluntary sacrifice.« (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 59, AdsD). 227

Auerbach vernahm auf seinen Reisen quer durch Deutschland: »‚This man Gollancz…’ [Punkte im Original] I hear again and again, ‚he is a saint, he is a comrade.’ He became a personification of solidarity. In the intellectual middle classes gift parcels are received with nearly the same mixture of shame and thankfulness as in working class families.«722

722 Auerbach an Crossman, 23.6.1947 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 34, AdsD). 228

5 Remigration

Carl Zuckmayer, 1939 in die USA emigriert, kehrte 1946 als Kulturbeauftragter des amerikanischen Kriegsministeriums ins Nachkriegsdeutschland zurück. Seine Aufzeichnungen spiegeln die eigene psychische Befindlichkeit und die vieler Rückkehrer aus dem unfreiwilligen Exil: »Vom ersten Augenblick an, in dem ich deutschen Boden betreten hatte – seit der ersten Wiederbegegnung mit Menschen, die deutsch sprachen, von der ersten Stunde ab, in der ich durch eine zerbombte deutsche Stadt gegangen war, wußte ich, daß ich kein Amerikaner bin ... Ich empfand immer stärker, daß ich nicht zu denen gehörte, die mich hierher gerufen hatten und mich als einen der Ihren betrachteten, sondern zu dem Volk, dessen Sprache und Art die meine war, in dem ich geboren wurde, aufgewachsen bin. Aber auch in Deutschland waren wir nicht wirklich zu Hause. Da war ein Schatten, den man nicht überschreiten konnte … der Schatten eines grauenhaften Verbrechens … Jetzt, nach der Wiederkehr, war ich erst wirklich heimatlos geworden und wußte nicht, wie ich je wieder Heimat finden sollte.«1

5.1 Deutschland nach dem Zusammenbruch des NS-Systems

Seine zweimonatige Reise als Repräsentant der ITF durch die westlichen Besatzungszonen und nach Berlin von Februar bis April 1946 vermittelte Walter Auerbach Einblicke in das Ausmaß der deutschen Katastrophe. Die Konfrontation mit aufbauwilligen, aber stark demoralisierten Menschen, zerstörten Städten, mit Problemen der Ernährung, der Wasser-, Gas- und Stromversorgung, im Transport- und Bildungswesen bestärkte ihn geradezu in seinem Aufbauwillen. Bei anderen hätte der Anschauungsunterricht des deutschen Alltags möglicherweise das Gegenteil bewirkt, nicht so bei ihm. Im Sommer 1946 begannen die Planungen für die Übersiedlung in die britisch besetzte Zone, die in der Schule von Tochter Lore auf Unverständnis stießen. Frau Auerbach reagierte auf den Vorwurf irresponsible der Klassenlehrerin hart und konsequent mit den Worten: »You could have imagined that we are fully informed about the conditions in Germany … My husband visited Berlin and the British, French and US zone on a two months’ journey sponsored by H.M.

1 Beck, Knut und Maria Guttenbrunner-Zuckmayer (Hrsg.): : Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft, Frankfurt/M. 1997, S. 651. 229

Government, this spring … We could, of course, have a much easier life remaining in this country. However, my husband was not arrested for nothing in 1933, we did not leave Germany to have a good time but to continue a fight we felt it our duty to carry on and we did it in a way that brought my husband, together with men like Messrs. Attlee, Bevin and Churchill, on the list the Gestapo compiled of those immediately to be shot in case of an invasion of Great Britain … We do feel irresponsible enough, however, to live and bring up our children according to the dubious principle of ubi bene… [Punkte so im Original]« 2 Sie fügte allerdings relativierend hinzu, dass »with the currency regulations it would not be possible for us to leave our children in this country, even if we should think it wise.«3

Unfassbar erschien einige Monate später die Remigration der Auerbachs auch den Beamten im Lemgoer Einwohnermeldeamt: »Einer lässt mit der Betonung seiner Frage ’Wie kommen Sie denn ausgerechnet von London nach Lemgo’ durchblicken, dass wir wohl etwas verrückt sein müssen (Ähnlich hatten uns Engländer eingeschätzt, als sie hörten, dass wir nach Deutschland zurückkehren wollten).« 4 Der Dialog wurde fortgesetzt, Fragen nach den Zerstörungen durch die V1 und V2 in London gestellt. Die brisanteste Frage erschien beiden Seiten: »Gibt es bald Krieg?«5 Auerbach mutmaßte: »Wer aus England kommt muss eben alles wissen.«6 Auch Susanne Miller war bei ihrer Registrierung im Kölner Rathaus bei städtischen Beamten auf Ungläubigkeit gestoßen: »Guckt euch mal diese Frau an, die hätte in London bleiben können und ist nach Köln gekommen,« 7 eine Reaktion auf die Absurdität der Rückkehr ins zerstörte Deutschland.

Bei der Ausgabe der Lebensmittelkarten erfuhr die Familie das Neueste vom Tage: »Wir wussten nur, dass er am 16.X. in Nürnberg gehängt werden sollte. Von Görings Selbstmord 8 wussten wir noch nichts. Der uns zunächst sitzende

2 Käte Auerbach an Miss Kahn, 16.7.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 63, AdsD). 3 Ebd. 4 Auerbach: Handschriftliche Notizen, 17.10.1946, S. 12 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 2, AdsD). 5 Ebd. 6 Ebd., S. 13. 7 Miller, Susanne: »Keine Schwierigkeiten, anzuknüpfen«, in: Verein EL-DE-Haus Köln (Hrsg.): Unter Vorbehalt, S. 210. 8 Göring wurde »zum Tode durch den Strang verurteilt. Am 15. Oktober 1946, zwei Stunden, bevor die Hinrichtung stattfinden sollte, beging G. in seiner Nürnberger Gefängniszelle Selbstmord. Er zerbiß eine Giftkapsel, die er während seiner ganzen Gefangenschaft vor seinen Wächtern hatte verbergen können«, in: Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich, S. 122. 230

Beamte sagt freudestrahlend, Göring habe sich wie ein deutscher Mann benommen. Ich antwortete scharf, dass er wie ein Gangster gelebt und gestorben sei. - Vorher war es zwischen diesem (CDU?) und einem anderen (SPD?) Beamten zu scharfen Zusammenstössen gekommen.« 9

Weitere Überraschungen erlebten Käte Auerbach und ihre Töchter bei der Anmeldung in Gymnasium und Volksschule: »Lore kommt mit ihren 13 Jahren in eine Klasse mit 15/16 jährigen Mädchen - so viel Unterricht war ausgefallen. Ini, bei der es an deutscher Rechtschreibung fehlt, kommt mit 7 Jahren mit 8 jährigen zusammen.« 10 Die Lemgoer Schuljahre von Herbst 1946 bis Frühjahr 1949 hinterließen bei Lore Auerbach ungute Erinnerungen bis hinein in die Gegenwart. 11 Sie hörte mehrfach das Wort Vaterlandsverräter, und die Mitschülerinnen glorifizierten ihre Jahre im BDM.12

Erfahrungen von Tochter Irene im Dezember 1952 in Hannover dokumentiert ein Briefwechsel. Sie besuchte die Hannoveraner Wilhelm-Raabe-Schule und hatte im Elternhaus über Interpretationsansätze von Fontanes Archibald Douglas erzählt. Das Problem der Verbannung erläuterte der Lehrer »mit Erlebnissen aus seiner Kriegsgefangenschaft.« 13 Und auf seine Frage »Weshalb wohl andere Staaten nach 1933 Deutsche aufgenommen hätten,« replizierte eine Schülerin »um dem Nationalsozialismus zu schaden.« 14 Diese Antwort nahm er kritiklos auf. Zunächst hatte Auerbach an Intervention gedacht, machte dann nach einem Tag Bedenkzeit entgegen dem Willen der Tochter einen Rückzieher, zumal er Zweifel an der Zivilcourage des Verantwortlichen hegte, zu seinen Worten zu stehen:15 »Irene möchte, da sie sich als ‚Amsterdamerin’ indirekt, und für ihre Eltern direkt, getroffen fühlt, am liebsten die ganze Sache durchboxen. Weil weder wir, das Kultusministerium noch irgend jemand das Kind vor Schikaniererei schützen können, schreibe ich mit Bedauern und Resignation diesen Brief.«16 Irene Auerbach, Jahrzehnte später mit diesen Archivmaterialien konfrontiert, urteilte: »Und all das, was mein Vater da als Schikaniererei bezeichnete, war nur ein Vorspiel - in Klasse 10-12 wurde es noch viel, viel

9 Auerbach: Handschriftliche Notizen, 17.10.1946, S. 13 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 2, AdsD). 10 Ebd., S. 15. 11 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 12.12.2005, in Köln. 12 Bund Deutscher Mädchen. 13 Auerbach an Katharina Petersen, 4.12.1952 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 45, AdsD). 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Ebd., 5.12.1952 (Widerruf) 231 schlimmer. U.a. teilte mir der Hauptquälgeist mit, Juden könnten in Deutschland oder England oder sonst wo leben, aber gehören täten sie nach Israel. Ich träume heute noch gelegentlich davon.« 17

In einem langen Bericht an Richard Crossman in London beschrieb Auerbach das Lemgoer Domizil und die Integration seiner Töchter in die neue Umgebung: »Deliberately I waited with this first letter until I could give more than a few sketches. Lemgo is not Germany. It is a small town bypassed by the war, bedded between the hills of the Teutoburger Forest and the Fachwerk houses are as lovely to look at as they were a century ago when the post-coach rumbled through its streets. The Central Office for Labour in the British Zone in which I am now working as vicepresident is in the barracks at the foot of the Spiegelberg and our two-roomed flat is at the other end of the town at the foot of the Biesterberg. You can overlook the town at once and this very fact has probably eased the solution of a personal problem. As you know, both our children are Amsterdamertjes and we were not quite sure how they would take to a country they had never seen before. But they felt at once at home. And in spite of the unpleasant circumstances - small ration, irregular food distribution, non-arrival of parcels arranged for by American friends, and shivering in a room which may not be heated until 5.p.m. or so and then only a bit - they enjoy it to be here. They had their fun during the first weeks when they were the animals from the London Zoo, of course, our elder one has some difficulty not to grin during the English lessons.« 18

Auch in der idyllischen, unzerstörten Stadt Lemgo herrschte im Jahr 1947 bei manchen noch der braune Geist der Vergangenheit. Auerbach nahm daran Anstoß. Bei einem einheimischen Parteigenossen erhoffte er Intervention, schlimmstenfalls durch polizeiliche Maßnahmen, gegenüber Geschäftsinhabern, die »vier Wochen vor dem Hitlergeburtstag … Hitlerbriefmarken ausgestellt«19 hatten. Er räumte allerdings ein: »Bei der gegenwaertigen Rechtslage bleibt nur der Weg des Protestes ueber ‚Erregung oeffentlichen Aergernisses’.« 20 Selbst Hitlerflüchtlinge, wenn sie denn wie Käte Auerbach in den Öffentlichen Dienst wollten, hatten sich einem Entnazifizierungsverfahrenzu unterziehen. Über Walter Auerbach liegen keine Hinweise auf ein solches Verfahren vor, aber eine

17 Irene Auerbach an die Vf.in, 9.3.2003. 18 Auerbach an Crossman, 14.12.1946 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 34, AdsD). 19 Auerbach an Bergmann, 29.3.1947 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 32, AdsD). 20 Ebd. 232 von ihm verfasste kritische Aktennotiz zur »Entnazifizierung und Demokratisierung.« 21

Der Käte Auerbach aus dem englischen Exil gut bekannten und im neuen SPD- Parteivorstand für Frauenfragen verantwortlichen Herta Gotthelf offenbarte sie: »Noch privatisiere ich zwar, aber nachdem ich einen Denazifizierungsbogen mit herrlichen Strichen versehen habe, hat die Schulbehörde geruht, mir mitzuteilen, dass ich im Frühjahr [1947], wenn die Kinder nicht mehr klappernd in der Schule sitzen und der Unterricht wieder länger sein kann, den gesamten Englischunterricht der hiesigen Volksschule übernehmen soll. Ich sollte eigentlich an einer höheren Schule arbeiten, aber da bauen sie die verheirateten Frauen schon wieder ab (was Dir als Frauenleiterin der Partei ja sicher keine Neuigkeit ist). Ich arbeite genau so gern an der Volksschule, aber es erbost mich, dass die alte Leier der Behandlung verheirateter Frauen schon wieder anfängt … Inzwischen haben die Engländer mich zum Unterricht der hiesigen BAOR 22 - Kinder angefordert.«23

Das Thema Frauen im Beruf war nicht nur in offiziellen Institutionen und unter Männern immer wieder virulent, auch viele Frauen bevorzugten das alte Rollenverständnis. Bei gleicher Qualifikation hatten eben Männer, wie etwa auch im Zentralamt für Arbeit in Lemgo, den Vorrang. Julius Scheuble,24 Präsident

21 Auerbach: Entnazifizierung und Demokratisierung, o.D., aber in Lemgo (1946-1948): »Die meisten Entnazifizierungsausschuesse haben sich im Laufe der Zeit einer Akzentverschiebung angepasst, deren politische Auswirkung noch nicht voll zu uebersehen ist. Urspruenglich war den Ausschuessen die Doppelaufgabe gestellt worden, die persoenliche Haltung des zu Entnazifizierenden im Dritten Reich zu beurteilen und zugleich dafuer zu sorgen, dass Naziaktivisten nicht an fuehrender Stelle in Verwaltung, Wirtschaft und Kultur unerwuenschten Einfluss ausueben … so beobachten wir heute nur zu haeufig, dass Entnazifizierungsausschuesse nicht nur in laendlichen Gebieten fast ausschliesslich die Frage der Beteiligung und Nichtbeteiligung an Naziverbrechen eroertern und untersuchen, ob ein Wohlverhaltenszeugnis ausgestellt werden kann oder nicht. Das fuehrt dann vielfach dazu, dass jemand, der sich persoenlich an keinem Verbrechen beteiligte, dem es mindestens nicht nachgewiesen werden kann, und der dann noch ein netter oder gar anstaendiger Kerl zu sein scheint, in Gruppe IV oder gar in V eingestuft wird. In der Regel beruecksichtigen die Ausschuesse nicht, dass sie einem ‚Fuenfer’ mit ihrem Spruch den Rechtsansspruch darauf geben, in der Verwaltung in einer seiner frueheren Position entsprechenden Stellung beschaeftigt zu werden, und dass sie ihm in Wirtschaft und Kultur jedes politische Hindernis aus dem Wege raeumen … es geht nicht nur um die Liquidierung einer duesteren Vergangenheit, sondern um die Grundlagen einer Demokratisierung Deutschlands.« (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 95, AdsD). 22 British Army of the Rhine. 23 Käte Auerbach an Herta Gotthelf, 11.12.1946 (Bestand SPD-PV K. Schumacher, Mappe 175, AdsD). 24 Julius Scheuble (1890-1964), 1918 Bezirksleiter beim Zentralverband christlicher Holzarbeiter in Breslau und ab 1920 Redakteur von dessen Verbandszeitung in Köln. 233 dieser Behörde und von 1946 bis 1948 Vorgesetzter Walter Auerbachs, plädierte dafür, dass die »Einstellung von Frauen mit wissenschaftlicher und technischer Ausbildung« 25 nicht gerechtfertigt sei, solange »noch Männer mit einer solchen Fachausbildung ohne Beschäftigung sind … da sonst leicht der unerwünschte Zustand geschaffen wird, dass Familienväter arbeitslos sind, während ledige Frauen gute Stellen besetzt halten.« 26 Die arbeitsmarktpolitische Situation für Akademiker im öffentlichen Dienst gestaltete sich nicht nur zu Beginn des Jahres 1948 kontraproduktiv für Frauen, sie hielt lange an.

Eine Besonderheit im Nachkriegsdeutschland stellte der Graue Markt dar, auch als Kompensationsgeschäfte bekannt, die der Aufrechterhaltung der Produktion dienten. Auerbach behandelte das Thema ausführlich gegenüber Richard Crossman: »Part of the employers fully understand that nobody can live with a food ration as actually distributed and it has become a habit to let workers participate in the output or in the good things which can be bartered with the produced things. So in a few industries only 40 % of the output can now be distributed by normal channel, up to 60 % are used for bartering for various purposes to keep production going, for personal profits of the owners and managers and between 3 - 5 % to assist the workers or to keep them quiet.«27 Die ökonomische und soziale Misere, die Wohnraumsituation in den zerbombten Städten, die Unterbringung der Flüchtlinge, die Ernährungs- und Brennstoffkrisen in den strengen Wintern 1945/46 und 1946/47 verschlechterten die Stimmung kontinuierlich: »Military Government’s prestige is so damaged by the consequences of the absence of a policy and by the material deficiencies since 1945 that it will need clear-cut action before it can regain its goodwill. Whether it will ever regain the goodwill it had in 1945 may be doubted.« 28 Die Erwartungen vieler Deutscher an die Siegermächte entsprachen keinesweg der Realität des Alltags: »All of them, including Nazis, however, expected a kind of security after liberation from Nazism … security in terms of law, of housing and, after a short

1928 Direktor des Versicherungsamtes der Stadt Köln, 1933 als NS-Gegner entlassen, zunächst arbeitslos. Ab 1937 Mitarbeiter in der Rechtsabteilung der Verkehrs- und Privathaftpflicht Agrippina in Köln und ab 1943 dort Handlungsbevollmächtigter. März 1945 Direktor des Arbeitsamtes Köln, Juni 1945 Abteilungsleiter Arbeit bei der Provinzialregierung und Präsident des Landesarbeitsamtes Nord-Rheinprovinz in Düsseldorf. Juli 1946 Präsident des Zentralamtes in Lemgo [später Präsident der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg] (Bestand ZfA, Z 40, Mappe 319, BArch). 25 Scheuble an Luce ( Manpower Division), 29.1.1948 (Bestand ZfA, Z 40, Mappe 320, BArch). 26 Ebd. 27 Auerbach an Crossman, 23.6.1947 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 34, AdsD). 28 Ebd. 234 time of transition, of food, fuel and clothing too … Many Germans think they discovered the cause for the trouble over here is political muddle in London. They thought that the forces which destroyed the terrifically efficient Nazi machine must be highly efficient themselves and they are puzzled about their discovery.« 29 Auch Auerbachs litten unter dem extrem kalten Winter 1946/1947: »During a cold spell, you are not living, you are just trying to survive. With us you should not take that in a literally sense, but with millions in Germany it is so.« 30

Am 22. November 1945 hatte die Tägliche Rundschau (Zeitung für die deutsche Bevölkerung), herausgegeben von der Sowjetischen Militäradministration Deutschland (SMAD), einen Aufruf des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands 31 publiziert »an die geistige Emigration … Ihr sollt wissen, daß Euch die Heimat nicht vergessen hat und daß wir auf Euch warten, indem wir durch Schaffung eines neuen freiheitlichen Deutschlands den Tag Eurer Heimkehr vorbereiten … So haben auch die in Deutschland Verbliebenen stets Eurer in dankbarer Anerkennung gedacht, die Ihr unter der Härte und in der Seelennot der Verbannung bemüht waret, die Ehre Deutschlands hochzuhalten, und die Ihr in Werk und Tat öffentlich Zeugnis vor allen Völkern abgelegt habt davon, daß wahrer, freiheitlicher deutscher Geist noch lebt.« 32 Im Sommer 1947 verabschiedeten die Regierungschefs der westdeutschen Länder, die Verantwortlichen der sowjetisch besetzten Zone hatten die Konferenz wegen Unstimmigkeiten verlassen, einen weiteren Appell an die Emigranten, initiiert von den sozialdemokratischen Remigranten Max Brauer und Ernst Reuter. 33 Doch spätestens »1948 umgab die Politremigranten in Westdeutschland eine undurchdringliche Mauer des Schweigens, die sie in ein geistiges Ghetto verbannte.« 34 Zwischen den Hitlerflüchtlingen und Daheimgebliebenen »entstand

29 Ebd. 30 Auerbach an Bondy, London, 12.1.1947 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 32, AdsD). 31 Heider, Magdalena: Politik, Kultur, Kulturbund: Zur Gründungs- und Frühgeschichte des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands 1945-1954 in der SBZ/DDR, Köln 1993. Gründer u.a. Gustav Dahrendorf (SPD) und (CDU). 32 SMAD - Sowjetische Militäradministration Deutschland (Hrsg.): Tägliche Rundschau, Zeitung für die deutsche Bevölkerung, 22.11.1945. 33 Die Neue Zeitung. Eine amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung, 9.6.1947. 34 Lehmann, Hans Georg: In Acht und Bann. Politische Emigration, NS-Ausbürgerung und Wiedergutmachung am Beispiel Willy Brandts, München 1976, S. 165. 235 eine Wechselbeziehung gegenseitiger Ambivalenz, in Extremfällen der Ignoranz.«35

Als Projektionsfläche für CDU/CSU-Politiker, vor allem in Wahlkämpfen, diente bis Ende der 1960er Jahre Willy Brandt. Im Bundestagswahlkampf 1965 wurde hinter vorgehaltener Hand über den oppositionellen Bewerber um das Amt des Bundeskanzlers, Willy Brandt, verbreitet, er sei Emigrant gewesen, habe in der norwegischen Armee gedient - und vielleicht auf Deutsche geschossen, schrieb Brandts langjähriger Wegbegleiter und Freund in Die Zeit. 36 Alexander und Margarete Mitscherlich kommentierten die daraus resultierende Wahlniederlage der SPD mit den Worten »Das hat offenbar Willy Brandt, wenn man der vox populi trauen darf, den Sieg gekostet. Er sollte schon 1933 mehr gesehen, richtiger entschieden haben als wir alle?« 37 Erst die deutsche Studentenrevolte Ende der 1960er Jahre und mit ihr die politisch bewusst agierende jüngere Generation sah in Emigranten wie Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, den Verfassern der Kritischen Theorie, nicht mehr Außenseiter, sie gerieten zu Vorbildern. 38

Die politische Ebene veränderte sich. In der Großen Koalition (1966-1969) unter Bundeskanzler Hans Georg Kiesinger (CDU) war Willy Brandt Außenminister und Vizekanzler. Nach der Wahl im Herbst 1969 wurde er von der Mehrheit im Deutschen Bundestag zu Kiesingers Nachfolger gewählt. »Brandts Rehabilitation implizierte zugleich die Rehabilitation der politischen Emigration.« 39 Der aus dem Londoner Exil zurückgekehrte Erich Ollenhauer sah sich mit Emigrantenhetze 40 kaum konfrontiert, und zahlreiche andere Persönlichkeiten in SPD und Gewerkschaften, so auch Walter Auerbach, waren unauffällig in den demokratischen und wirtschaftlichen Neubeginn integriert. Unbekannt geblieben war die »Emigrationsgeschichte vieler Mandatsträger bei der Wählerschaft,« 41

35 Ders.: Rückkehr nach Deutschland? Motive, Hindernisse und Wege von Emigranten, in: Krohn und von zur Mühlen (Hrsg.): Rückkehr und Aufbau nach 1945, Marburg 1997, S. 55. 36 Bahr, Egon: Emigration - ein Makel?, in: Die Zeit, 29.10.1965. 37 Mitscherlich, Alexander und Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern, Leipzig 1990 (Erstausgabe München 1967), S. 74. 38 Lehmann: In Acht und Bann, S. 264. 39 Ebd., S. 267. 40 Erler, Fritz (seinerzeit Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion), in: Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode, Sten. Ber., Bd. 48, 147. Sitzung (8.3.1961), S. 8319. 41 Mehringer, Hartmut/Werner Röder/Dieter Marc Schneider: Zum Anteil ehemaliger Emigranten am politischen Leben der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen 236 denn »Voraussetzung für eine gelungene Remigration war, die Vergangenheit nicht zu thematisieren.« 42

Dieses Kuriosum beschrieb Wolfgang Koeppen in seinem 1953 erschienenen Roman Das Treibhaus 43 über den fiktiven SPD-Bundestagsabgeordneten Keetenheuve, der die Jahre der NS-Herrschaft im englischen Exil verbracht hatte. In einem Dialog bedeutete ein Journalist dem Protogonisten: »Hier schau dir das Jahrbuch des Hohen Hauses an! Den Widerstand haben deine Kollegen schon wieder [im Handbuch des Deutschen Bundestages] aus ihrem Lebenslauf gestrichen.« 44 Eine Stichprobe ergab, dass die SPD-Bundestagsabgeordneten Erich Ollenhauer und Hans Jahn ihre Vergangenheit nicht leugneten oder euphemisierten. 45 Im Klappentext seiner im Jahr 1971 erschienenen Sammlung Beiträge zur Sozialpolitik der letzten fünfundzwanzig Jahre verzichtete Auerbach auf konkrete Hinweise zu Flucht, Emigration und Widerstandsarbeit. Es hieß dort, für den ungeübten Leser nicht als Schicksal politischer und rassischer Verfolgung erkennbar: »Von 1933 bis 1939 Sekretär und Redakteur in der Zentrale der Internationalen Transportarbeiter-Föderation in Amsterdam, von 1939 bis 1946 in gleicher Eigenschaft in London.«46

Viele Zurückgebliebene waren nicht bereit, sich mit den Remigranten auseinanderzusetzen, die ihnen auch nonverbal durch ihre Präsenz einen unerwünschten Spiegel vorhielten und sie Rechtfertigungszwängen aussetzten. Ralph Giordano sprach von der zweiten Schuld und »Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus - hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945.« 47 Daraus entstand für ihn »der große Frieden mit den Tätern und der Verlust der humanen Orientierung.« 48 Marita Krauss untergliederte die »Rezeptionsgeschichte von Exil und Remigration in Westdeutschland … mit aller Vorsicht in mehrere Phasen …

Demokratischen Republik und der Republik Österreich, in: Frühwald und Schieder (Hrsg.): Leben im Exil, S. 208. 42 Kuhn, Annette: »Etwas, auf das ich neugierig war«, in: Verein EL-DE-Haus Köln (Hrsg.): Unter Vorbehalt, S. 97 (Annette Kuhn, geb. 1934, war von 1965 bis 1999 Professorin für Geschichte und ihre Didaktik und Frauengeschichte an der Universität Bonn). 43 Koeppen, Wolfgang: Das Treibhaus, Stuttgart 1953 (Neuauflage München 2004). 44 Ebd., S. 77. 45 Kürschners Volkshandbuch, 2. Wahlperiode 1953/57, Darmstadt 1954, S. 130 f. und ebd., 3. Wahlperiode 1957/61, Darmstadt 1958, S. 152 f. 46 Auerbach, Walter: Beiträge zur Sozialpolitik, Neuwied/Berlin 1971. 47 Giordano, Ralph: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987, S. 11. 48 Ebd., S. 11 f. 237 die sich ohne scharfe Grenzen vielfach«49 überlappten. Die polemische Phase dauerte nach ihren Forschungen bis Anfang der 1950er Jahre, danach folgte bis Ende der 1960er Jahre die Tabuisierungsphase, und die Nachhol- oder Aufarbeitungsphase dauerte bis zum Beginn der 1990er Jahre.50

In Vergangenheitspolitik untersuchte Norbert Frei die Anfänge der Bundesrepublik und ermittelte, dass eine große Koalition im Deutschen Bundestag innerhalb von fünf Jahren seit Bestehen der Bundesrepublik »die ‚Bundesamnestie’ von 1949, die Empfehlungen zum Abschluß der Entnazifizierung von 1950, das ‚131er’-Gesetz von 1951 sowie das zweite Straffreiheitsgesetz, das der Bundestag im Juli 1954 verabschiedete … Wie dringend es Parlament und Regierung um ein kräftiges vergangenheitspolitisches Signal zu tun war, zeigt die Tatsache, daß das Straffreiheitsgesetz von 1949 - gegen erhebliche Bedenken der Alliierten Hohen Kommission, aber mit Zustimmung des gesamten Bundestages - binnen weniger Wochen durchgepeitscht« 51 wurde. Das ‚131er’-Gesetz diente der »Wiedereingliederung von mehr als 300000 ‚verdrängten Beamten’ und ehemaligen Berufsoffizieren in den öffentlichen Dienst.« 52 Medienvertreter und Öffentlichkeit kritisierten die Gesetzgebungsverfahren kaum. Hermann Lübbe charakterisierte dieses Phänomen treffend: »In der Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland war … eher das integrative Verhalten zu braunen Biographieanteilen der gewöhnliche Fall und daher, diesseits gewisser Grenzen, ihr kommunikatives Beschweigen.« 53 Wie die teilweise aus Konzentrationslagern, Zuchthäusern, Exil oder Untergrund zurückgekehrten SPD-Bundestagsabgeordneten ihr Abstimmungsverhalten vor sich selbst rechtfertigten, sich ihre Selbstüberwindung erklärten, blieb ihr Geheimnis.

Walter Auerbach hatte nie ein Bundestagsmandat angestrebt, wie Tochter Lore, selbst zwei Legislaturperioden SPD-Landtagsabgeordnete in Niedersachsen und viele Jahre Bürgermeisterin in Hildesheim, erzählt. Auftritte in der Öffentlichkeit, in einem Wahlkreis, im Bundestag waren seine Sache nicht, Fraktionszwang ebenfalls nicht. Frei meinte zum Abstimmungsverhalten der Sozialdemokraten:

49 Krauss: Die Rückkehr der »Hitlerfrischler«, S. 154. 50 Ebd. 51 Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS- Vergangenheit, München 1996, S. 18. 52 Ebd., S. 19. 53 Lübbe, Hermann: Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Gegenwart, in: Martin Broszat u.a. (Hrsg.): Deutschlands Weg in die Diktatur. Internationale Konferenz zur nationalsozialistischen Machtübernahme, Berlin 1983, S. 341. 238

»Wenn die SPD dem zweiten Amnestiegesetz am Ende gleichwohl zustimmte, dann nicht zuletzt auch in symbolischer Anknüpfung an jene schwarz-rote Abstimmungskoalition, die bis dahin ein Kennzeichen der Vergangenheitspolitik gewesen war und entscheidend dazu beigetragen hatte, daß die Maximalforderungen der Extremisten in den Regierungsparteien FDP und DP nicht zum Zuge kamen.« 54

Im Klappentext der Neuauflage von Koeppens Roman heißt es: »Im Bonn der fünfziger Jahre beherrschten Untertanentum und wiedererstarkender Nationalismus das politische Klima. Verzweifelt kämpft der sozialdemokratische Abgeordnete Keetenheuve gegen die Wiederaufrüstung und die Militarisierung der westdeutschen Gesellschaft. Er, der aus dem Londoner Exil das Naziregime bekämpft hat, muss feststellen, dass sich in Deutschland viel zu wenig verändert: Die alten Eliten greifen wieder nach der Macht, die Mitläufer von einst sind längst wieder integriert. Die Opposition ist gelähmt, und ‚der Kanzler’ regiert mit seinem autoritären Stil beinahe nach Belieben. Selbst in der eigenen Partei gilt Keetenheuve als schwarzes Schaf, weil er sich nicht dem Fraktionszwang unterordnen will und ein Recht auf seine eigene Meinung beansprucht. Manchmal hat er das Gefühl, dass er dort als ehemaliger Emigrant lediglich eine Alibifunktion erfüllt.« 55

Das Ansehen der Remigranten, der »Hitlerfrischler«, wie der Emigrant Oskar Maria Graf sich und seinesgleichen zynisch bezeichnet hatte, 56 in der deutschen Nachkriegsgesellschaft war bis auf wenige Ausnahmen schlecht. Sie wurden mit Stereotypen aus dem Wortschatz von Goebbels und Göring wie Feigheit, Desertion, Vaterlandsverräter, Kollaboration mit den Feinden belegt. Bei den deutsch-französischen Waffenstillstandsverhandlungen in Rethondes am 22. Juni 1940 verurteilte Generaloberst Keitel die im Exil lebenden Deutschen mit den Worten: »Die Wehrmacht und das deutsche Volk halten die deutschen Emigranten für die größten Anstifter zum Krieg und zum Haß und für Verräter an ihrem Volk.« 57 Er verschwieg, dass die Alternativen zur Emigration für viele politisch und rassisch Verfolgte Haft, Konzentrationslager, Tod bedeutet hätten, nicht innere Emigration.

54 Frei: Vergangenheitspolitik, S. 398. 55 Koeppen: Das Treibhaus, Klappentext (Neuauflage, München 2004). 56 Krauss: Die Rückkehr der »Hitlerfrischler«, S. 151. 57 Zit. nach Sven Papcke: Exil und Remigration als öffentliches Ärgernis, S. 10. 239

Zu dieser inneren Emigration gehörte Frank Thiess, der in einem am 18. August 1945 in der Münchner Zeitung veröffentlichten offenen Brief an Thomas Mann der Emigration die moralische Legitimation absprach. Er schrieb unter anderem, falls »es mir gelänge, diese schauerliche Epoche (über deren Dauer wir uns freilich getäuscht hatten) lebendig zu überstehen, würde ich dadurch derart viel für meine geistige und menschliche Entwicklung gewonnen haben, daß ich reicher an Wissen und Erleben daraus hervorging, als wenn ich aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie zuschaute.«58 Eine ähnliche Tendenz war erkennbar in Marion Gräfin Dönhoffs Bericht über das Verfahren gegen den ehemaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst von Weizsäcker 59 , in Nürnberg im Jahr 1948. Dieser »wusste sehr wohl, daß man den totalen Staat nicht als Pensionär oder Emigrant bekämpfen kann, sondern nur als Mitspieler.« 60

Die hohe Akzeptanz des in amerikanischer Uniform zurückgekehrten früheren Altonaer Oberbürgermeisters Max Brauer durch die Hamburger, er wurde 1946 zum Ersten Bürgermeister gewählt, stand in krassem Gegensatz zu jener des zeitweiligen Ministerpräsidenten in München, der Schwierigkeiten hatte, »sogar den eigenen Genossen seine im Schweizer Exil erworbenen Föderalismus-Erfahrungen nahezubringen.« 61 Angelsächsisches Politikverständnis und Lebensweise hatten in der Hansestadt seit Jahrhunderten Tradition. Dominantes Thema der Nachkriegsjahre war der Wiederaufbau des Hafens. Hingegen in »München tobte - anknüpfend an die zwanziger Jahre - zwischen 1946 und 1948 eine leidenschaftliche Kulturdiskussion, wie sie in Hamburg nicht denkbar gewesen wäre.« 62 Michael Schneider attestierte der politischen Emigration: »Die Bedeutung Englands als Exilland für politische Flüchtlinge kann, wenn man den Einfluß der Remigranten auf die Gestaltung von Staat und Gesellschaft in den drei Westzonen bzw. in der Bundesrepublik

58 Zit. nach Antonia Grunenberg: »Und was tatest du?« Schriftsteller und politische Macht nach 1945. Zum Streit zwischen Thomas Mann und Walter von Molo, in: Gerd Langguth (Hrsg.): Autor, Macht, Staat. Literatur und Politik in Deutschland. Ein notwendiger Dialog, Düsseldorf 1994, S. 111 f. 59 Ernst Freiherr von Weizsäcker (1882-1951), Diplomat. Unter Außenminister Joachim von Ribbentrop Staatssekretär bis Frühjahr 1943, anschließend Botschafter beim Vatikan. »Er wurde im Juli 1947 von den Alliierten verhaftet und in Nürnberg als Kriegsverbrecher im sog. Wilhelmstraßen-Prozess angeklagt und … zu 7 Jahren Haft verurteilt … infolge einer allgemeinen Amnestie schon nach 18 Monaten« entlassen, in: Wistrich: Wer war wer im Dritten Reich, S. 374. 60 Dönhoff, Marion Gräfin: Lebendige Zeugen - totes Papier, in: Die Zeit, 10.6.1948. 61 Krauss, Marita: Die Region als erste Wirkungsstätte von Remigranten, in: Krohn und von zur Mühlen (Hrsg.): Rückkehr und Aufbau nach 1945, S. 30. 62 Ebd., S. 31. 240

Deutschland in den Blick nimmt, kaum hoch genug eingeschätzt werden.« 63 Und Hans-Helmut Knütter schrieb: »Die eigentliche Bedeutung der Emigration aus dem ‚Dritten Reich’ liegt in ihrer Nachwirkung und nicht in ihrem ziemlich wirkungslosen Kampf gegen den Nationalsozialismus oder ihrem Einfluß auf ausländische Regierungen.« 64

Zwischen den freiwillig oder unfreiwillig Daheimgebliebenen, die sich häufig als die eigentlichen Opfer betrachteten, und den Emigranten, die für sie eher Drückeberger als politisch und/oder rassisch Verfolgte waren, stand trennend die Kollektivschuldthese. Das nicht-kommunistische politische Exil in England hatte sich frühzeitig vor Kriegsende entschieden von dieser These abgesetzt. Der SPD-Parteitag im Mai 1946 schloss sich dem an. Auerbach hatte sich im Mai 1940 von der Kollektivschuldthese distanziert: »Gegen den politischen Unfug der Kollektivbeschuldigung eines ganzen Volkes habe ich mich bereits vor etwa 3 Wochen in einem Brief an Crossman gewandt. Cr. gab den Brief den BBC- Göttern weiter,« 65 bekannte er Rauschenplat gegenüber. »BBC … versuchte in seinen Sendungen für Deutschland zwischen Schuld und Verantwortung zu unterscheiden. Schuld enthalte … ein Element des Vorwurfs, Verantwortung dagegen nicht. Diese Differenzierung wurde aber weder von der Weltöffentlichkeit noch von den Besatzungsbehörden übernommen. Die erste internationale Persönlichkeit, die sich mit Entschiedenheit gegen die ‚Kollektivschuld’ aussprach und gleichzeitig um Sympathien für das deutsche Volk warb, war Papst Pius XII .« 66 Der in die USA emigrierte Sozialdemokrat Friedrich Stampfer stellte im Sommer 1947 die Frage: »Sind sich die Amerikaner, die an die Kollektivschuld des deutschen Volkes glauben, dessen bewußt, daß sie damit die kollektive und moralische Verantwortung für alles übernehmen, was die amerikanische Regierung tut oder unterläßt?« 67

Robert Kempner, Ankläger beim Nürnberger Tribunal, bescheinigte den politischen Remigranten antinazistische Wetterfestigkeit und Abneigung gegen politische Akrobatik, während die Daheimgebliebenen im Nachkriegsdeutschland

63 Schneider: Unterm Hakenkreuz, S. 865. 64 Knütter: Emigration und Emigranten als Politikum im Nachkriegsdeutschland, S. 413. 65 Auerbach an von Rauschenplat, 17.5.1940 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 18, AdsD). 66 Deuerlein, Ernst: Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg 1945-1955, Konstanz 1964, S. 68 f. 67 Stampfer, Friedrich: Erfahrungen und Erkenntnisse. Aufzeichnung aus meinem Leben, Köln 1957, S. 287. 241 eine stärkere Tendenz zu politischen Kompromissen zeigten. 68 Klischees dienten als Abwehrmechanismus, als Abwehr unangenehmer Einsichten. In ihrem Aufsatz Projektion statt Erinnerung stellte Marita Krauss folgende These auf: »Um sich nicht an die eigene Schuld, an das eigene Versagen, die eigene Gläubigkeit während der NS-Zeit erinnern zu müssen, projizieren viele Nachkriegsdeutsche ihre Ängste, ihre Selbstvorwürfe, ihre Enttäuschung auf die von Hitler vertriebenen Emigranten.« 69 Unbeeinflusst von der Abwehrhaltung und von Vorurteilen in weiten Kreisen der Nachkriegsgesellschaft und dem Wunsch vieler Deutscher, »lieber unter sich zu bleiben,« 70 spielten Remigranten »in Politik und Wissenschaft der Bundesrepublik eine wichtige Rolle, sicherlich, aber eben nicht als richtungsweisende Mitbürger, sondern bestenfalls wie alle übrigen als Getriebene des Zeitgeistes.« 71 Remigranten bildeten im Nachkriegsdeutschland keine geschlossene und wahrnehmbare Gruppe. Zwar existierte seit Herbst 1952 der »Zehnerkreis, der zwischen DGB, IG Metall und SPD-Parteivorstand angesiedelt war ... in etwa entlang der Trennlinien zwischen Exil und innerer Emigration.« 72 Walter Auerbach gehörte diesem Zirkel, der im Laufe der 1950er Jahre zerbrach, nicht an. Im SPD-Parteivorstand waren Remigranten bis weit in die 1950er Jahre mit über fünfzig Prozent repräsentiert. 73 Brandt meinte 1944, die »deutschen Emigranten werden kaum eine ausschlaggebende Rolle bei der Reorganisierung der deutschen Gesellschaft spielen,« 74 ging aber davon aus, dass in der Arbeiterbewegung deren Bedeutung ungleich größer sei als im Bürgertum.

Die »Liberalisierung der Bundesrepublik empfing Impulse von den Remigranten, die Erfahrungen aus den westlichen Zivilisationen mitgebracht hatten; zu ihren Lebzeiten wurde das allerdings selten registriert … Remigranten haben durchaus wichtige Funktionen für die Weitergabe demokratischer Ideen gehabt.« 75 Dennoch verhielt sich »die britische Besatzungspolitik als besonders skeptisch gegenüber Remigranten, weil man diese Gruppe in London als konfus und

68 Kempner, Robert M. W.: Ankläger einer Epoche. Lebenserinnerungen, Frankfurt/M. u.a. 1983, S. 358 f. 69 Krauss, Marita: Projektion statt Erinnerung: Der Umgang mit Remigranten und die deutsche Gesellschaft nach 1945, in: Exil 18 (1998), Nr. 1, S. 6. 70 Papcke: Exil und Remigration als öffentliches Ärgernis, S. 15. 71 Ebd., S. 22. 72 Angster: Der Zehnerkreis, S. 27. 73 Krauss: Die Rückkehr der »Hitlerfrischler«, S. 152. 74 Brandt: Zwei Vaterländer, S. 147. 75 Krohn, Claus Dieter und Axel Schildt (Hrsg.): Zwischen den Stühlen? Remigranten und Remigration in der deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit, Hamburg 2002, S. 12 f. 242 heterogen wahrgenommen hatte.« 76 Selbst bei den seit Sommer 1945 regierenden Labour-Politikern, nicht wenige von ihnen hatten in den Kriegsjahren enge Kontakte zum politischen Exil, und ohne Zweifel innerhalb der traditionell konservativen Ministerialbürokratie, bestanden Ressentiments, denn die »Emigré politician … represented a political system which had lost all support and had ultimately failed miserably. The re-establishment of democracy should not be associated in the eyes of the Germans with the unfortunate past. Rather it was to be built up from the local level, and that would take time. It is important to note that the British did care about presumed feelings of the German people, regardless of whether they liked them or not.« 77

Unberechtigter Weise wurde politischen Rückkehrwilligen in den Exilländern und im Nachkriegsdeutschland vorgeworfen, dass ihre politischen und gesellschaftlichen Erfahrungen auf den Gegebenheiten der Weimarer Republik basierten, dass sie rückständig in jener alten Welt verharrten und die Notwendigkeiten eines erfolgreichen Wiederaufbau verzerrt aus der Ferne sähen. Dem gegenüber standen die von den Kritikern nicht wahrgenommenen oder von ihnen bewusst verneinten Lernprozesse des politischen Exils in den demokratischen Gesellschaften der Aufnahmeländer im Umgang mit den politischen und gesellschaftlichen Institutionen und den Bürgern dort. Politische Emigranten hatten in den jeweiligen Exilländern häufig eine neue politische Sozialisation durchlaufen. Diese Erfahrungen brachten Weitblick und Distanz gleichermaßen. Robert Kempner ging in seiner Autobiographie noch weiter: »Fast jeder der Emigranten hatte eine Art zweite Ausbildung erfahren, entweder auf Universitäten oder im praktischen Leben.« 78

5.2 Manpower Division/Zentralamt für Arbeit in Lemgo

Walter Auerbach hatte im Oktober 1946 seine Tätigkeit »as deputy to Herr Scheuble, with the general responsibility under him for supervising and directing the work of the five departments into which the office will be divided,« 79

76 Ebd., S. 14. 77 Kettenacker: The Repatriation of German Political Emigrés from Britain, S. 109. 78 Kempner: Ankläger einer Epoche, S. 357. 79 Manpower Division, Zonal Executive Office, Lemgo, an Auerbach, 18.9.1946 (Bestand Foreign Office, FO 1051/612, TNA). Arbeitsgebiete des Zentralamtes für Arbeit in Lemgo: »Aufgaben der Allgemeinen Verwaltung, der Arbeitsmarkt- und der Bergbaustatistik und der Arbeitslosenunterstützung, daneben die Bereiche Arbeitsverwaltung, Berufsberatung und Arbeitslosenversicherung einschließlich der 243 aufgenommen. »Die Leitung der Behörde übertrug die Militärregierung paritätisch einem aus der sozialistischen Gewerkschaftsbewegung stammenden Sozialdemokraten (Walter Auerbach) und einem aus den christlichen Gewerkschaften kommenden Christdemokraten (Julius Scheuble); entgegen der ursprünglichen Absicht und mehr aus einer Zufallskonstellation heraus rückte der Sozialdemokrat in die Stellvertreterposition,« 80 sagte Auerbach dem Autor von Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957 , Hans Günter Hockerts. Er fügte hinzu, dass die Manpower Division, zunächst nicht ihn, sondern den Präsidenten des Landesarbeitsamtes Westfalen, August Halbfell (SPD), nominiert hatte. Doch Halbfell wurde im Sommer 1946 als Arbeitsminister in das Kabinett von Nordrhein-Westfalen berufen. 81

Die Manpower Division der Control Commission for Germany »bestand fast ausschließlich aus Beamten des Londoner Arbeitsministeriums. Auf ihre Zusammensetzung hatte Ernest Bevin … maßgeblich Einfluss genommen.« 82 Sie wurde im Verlauf des Sommers 1946 zum Zentralamt für Arbeit ausgebaut, diente der Beratung der Britischen Militärregierung und der Erarbeitung von Gesetzes- und Verordnungstexten analog zum früheren Reichsarbeitsministerium. Parallel existierte ein Zonenbeirat als Diskussionsforum für sozialpolitische Fragen »ohne reale legislative oder exekutive Kompetenzen.« 83 Der Kapitulation im Frühjahr 1945 folgte der Zusammenbruch der Reichsregierung und damit des Reichsarbeitsministeriums. »Seine Aufgaben gingen, soweit sie fortbestanden, auf die Länder über. Als einzige der westlichen Besatzungsmächte richteten die an zentralistischer

Aufsicht über den Reichsstock für Arbeitseinsatz und über die Betriebskrankenkasse des Reichs, des Arbeits- und Sozialrechts mit Lohnrecht und Aufgaben auf dem Gebiet der Sozialversicherung mit der Aufsicht über die Ausführungsbehörde der Unfallversicherung. Hinzu kamen Landesplanung, Wohnungswesen und Städtebau«, in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 2/1, 1945-1949. Die Zeit der Besatzungszonen. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten, Baden-Baden 2001, S 110. 80 Hockerts, Hans Günter: Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stuttgart 1980, S. 107. 81 Ebd., S. 107 f., Anm. 3. 82 Ebd., S. 30. 83 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, S 110 f. 244

Verwaltungsorganisation orientierten Briten eine oberste Arbeitsbehörde auf zonaler Ebene ein: das Zentralamt für Arbeit in Lemgo.« 84

Mit Zustimmung der Militärregierung griff das Zentralamt »weitgehend auf die ehemalige Reichsministerialbürokratie zurück, auf deren Fachverstand sie in Anbetracht der chaotischen Lage nicht verzichten zu können glaubte.«85 In der amerikanisch besetzten Zone lag die Kompetenz in Fragen der Arbeitspolitik bei den Ländern und ihren Arbeitsministerien. 86 Der amerikanische Militärgouverneur in Deutschland, General Lucius Clay, hatte in einem Brief an den US- Außenminister James Byrnes im Frühjahr 1945 verwundert geschrieben: »Ich glaube, daß zu viel von unserer Planung zu Hause von einem Deutschland ausging, in dem es eine Regierung gebe und große Teile des Landes funktionstüchtig seien.« 87 Doch die Besatzungstruppen fanden eine in allen Sektoren kollabierte Gesellschaft vor. In einem Memorandum vom April 1945 unterrichtete der spätere Hochkommissar John McCloy den amerikanischen Präsidenten Truman darüber: »In Mittelleuropa erfolgt derzeit ein brutaler wirtschaftlicher, sozialer und politischer Zusammenbruch in einem Ausmaß, das in der Geschichte ohnegleichen ist bis zurück zum Zusammenbruch des Römischen Reiches - und selbst damals mag das wirtschaftliche Chaos nicht so groß gewesen sein.« 88

Der Etat des Zentralamtes sah die Position eines Vizepräsidenten nicht vor. 89 Mr. Cullingford, Manpower Division Headquarter in Berlin, und Präsident Scheuble gingen bei ihren Planungen davon aus, »dass die Abteilungsleiter für ihr Aufgabengebiet den Chef des Amtes weitgehend selbst vertreten können.«90 Bei den in wenigen Tagen Abstand stattfindenden Treffen mit Vertretern der Manpower Division trat neben Scheuble gelegentlich der Leiter der Hauptabteilung Sozialversicherung, Wilhelm Dobbernack, auf. Die Materialien im Bundesarchiv lassen neben Scheuble Dobbernack als wichtigste Persönlichkeit erscheinen. Er hatte bereits im Reichsarbeitsministerium in Berlin an einer

84 Hockerts: Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland, S. 107. 85 Ebd., S. 108. 86 Ebd., S. 109. 87 Zit. nach Wolfgang Krieger: General Lucius D. Clay und die amerikanische Deutschlandpolitik 1945-1949, Stuttgart 1987, S. 60. 88 Zit. nach ebd., S. 61 [Memo for President by McCloy (26 Apr 45) NARG 107 ASW 370.8 Germany-Control; FRUS 1945/III 509]. 89 Scheuble an Godfrey Cole, 30.10.1946 (Bestand ZfA, Z 40, Mappe 312, BArch). 90 Ebd. 245

Analyse des 1942 erstellten Beveridge-Plans mitgearbeitet. 91 Auch andere leitende Beamte in Lemgo verfügten über Verwaltungspraxis »aus der Weimarer und/oder NS-Zeit« 92 und garantierten somit eine funktionale »Kontinuität deutscher Administration.«93 Ein umfassendes personelles Revirement fand nur bei Spitzenpositionen statt. Aber mit »den Administrationen überlebten auch entsprechende Traditionen. Grundsätzliche Alternativen … waren ephemer und kamen über die lokale Ebene nicht hinaus. Das lag wohl an der Haltung der Besatzungsmacht, die zwischen distanzierter Duldung und rigorosem Verbot schwankte.« 94 In diese personalpolitische Konstellation geriet 1946 Walter Auerbach. Der Vorwurf, in den Denkmodellen von Weimar verhaftet geblieben zu sein, traf eher auf die deutsche Beamtenschaft als auf Emigranten zu.

Monatelange Bemühungen, die Finanzierungslücke im Budget des Zentralamtes zu schließen, scheiterten. Ende 1947 thematisierten die Verantwortlichen erneut das Problem und entschieden, Auerbach die vakante Leitung der Hauptabteilung IV 95 zu übertragen, »unter Beibehaltung der Aufgaben, die er bisher als Vizepräsident wahrgenommen« 96 hatte. Scheuble hatte von vornherein dafür plädiert, Auerbach mit einer Hauptabteilung zu betrauen. Auch wenn er seiner Meinung nach nicht die vollen verwaltungstechnischen Voraussetzungen mitbrächte, bescheinigte er ihm aber »auf allen Gebieten in fachlicher Hinsicht gute Kenntnisse … im besonderen auf arbeitsrechtlichem und sozialpolitischem Gebiet.«97 Bis zur Übernahme der Hauptabteilung Arbeits- und Sozialrecht und Lohnordnung, seiner eigentlichen Domäne, schwebte Auerbach als eine Art Supervisor über allen Abteilungen, als Repräsentant nach innen und in Gremien wie dem Zonenbeirat, während Scheuble nach außen und gegenüber der Manpower Division wirkte. Diese Aufgabenteilung war die Vorwegnahme von Funktionen seiner späteren Karriere als Staatssekretär: Auerbach, die graue Eminenz im Hintergrund, in Hannover und Bonn.

91 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, S 44. 92 Schneider, Ullrich: Nach dem Sieg. Besatzungspolitik und Militärregierung 1945-1949, in: Josef Foschepoth und Rolf Steininger (Hrsg.): Britische Deutschland- und Besatzungspolitik 1945-1949, Paderborn 1985, S. 61. 93 Ebd., S. 59. 94 Ebd., S. 63. 95 Hauptabteilung IV: Arbeits- und Sozialrecht und Lohnordnung, Findbuch, S. XIV (Bestand ZfA, Z 40 BArch). 96 Besprechung bei Manpower Division: Cullingford/Scheuble, 23.12.1947 (Bestand ZfA, Z 40, Mappe 321, BArch). 97 Ebd., Cole/Cullingford, 28.10.1946. 246

Erwartet wurde von der Leitungsebene des Zentralamtes partei- und gewerkschaftspolitische Neutralität. Am 1. Mai [1947] Redeverbot 98 zu haben, war für den jahrzehntelangen Gewerkschafter Auerbach desillusionierend: »It is a depressing Mayday, by far more depressing for us than for the average German. For deeper than they we feel the tremendous disappointment about things done in the name, maybe even by instruction, of a Labour Government. The Minden Trades Council asked me to speak on their Mayday demonstration. I had to cancel this appointment as department chiefs and their deputies are not allowed to speak before such crowd.« 99

Die Anwesenheit Auerbachs bei einem Treffen der »delegation of the International Transportworkers’ Federation and representatives of the Transport Trade Union at Bielefeld on 4 th February [1947]« 100 als Privatmann endete mit Unstimmigkeiten. Er hatte das im Vorfeld geahnt und bei Scheuble einen freien Tag erbeten, um den englischen, niederländischen und französischen Delegierten und Freunden als Dolmetscher zur Disposition zu stehen, erinnerte er Scheuble in seiner Stellungnahme auf das Lamento der Manpower Division und fügte hinzu: »With one exception I knew all the delegates in 1931 or 1933.«101 Die Manpower Division hatte zuvor in puncto »Conduct of Officials of German Labour and Housing Agency in Relation to Trade Unions«102 Präsident Scheuble eingeschaltet und darauf verwiesen, dass »The question of the development of trade unions has been deliberately excluded from the terms of reference of your agency in order to ensure that the trade union movement in the British Zone shall be independent of German government control and I accordingly regard it as undesirable that any member of your staff should attend any trade union meeting without prior and express permission from Manpower Division.«103 Die britische Kontrollinstanz unterstellte Auerbach als langjährigem

98 Employment & Labour Supply Branch, Manpower Division, Lemgo, 13.8.1946, Subject: Public Speeches by Officials of the Labour Administration: »Officials and full time temporary employees of the labour administration … are not permitted to take an active part in political meetings or in the work of political parties … Officials … are not permitted to make political speeches in public. They are, however, permitted to attend political meetings in their official capacity at the invitation of the organizers and to speak on their professional work.« (Bestand Foreign Office, FO 1051/612, TNA). 99 Auerbach an Brailsford, 1.5.1947 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 33, AdsD). 100 Luce an Scheuble, Februar 1947: Conduct of Officials of German Labour and Housing Agency in Relation to Trade Unions (Bestand Foreign Office, FO 1051/615, TNA). 101 Auerbach an Scheuble, 5.3.1947 (Bestand Foreign Office, FO 1051/615, TNA). 102 Luce an Scheuble, Februar 1947: Conduct of Officials of German Labour and Housing Agency in Relation to Trade Unions (Bestand Foreign Office, FO 1051/615, TNA). 103 Ebd. 247

Gewerkschafter zwar »the best motives«104 und großes Interesse am Aufbau einer neuen Gewerkschaftsbewegung, doch, so fuhr Briefschreiber Luce fort, »I fear unless his activities are checked, he will cause a great deal of trouble.«105

Auerbach räumte ein, dass er neben seiner Übersetzertätigkeit »had also taken part in the discussion at the meeting as his opinion had been sought by the delegates.« 106 Scheuble solidarisierte sich mit Auerbach, 107 der sich für die Manpower Division immer wieder als ein unbequemer Individualist erwies. Kaum lag die ITF-Affäre hinter ihm, tauchte das Problem seiner Mitgliedschaft in einer Transportarbeitergewerkschaft 108 auf, was wiederum zu zeitaufwendigen Disputen und Korrespondenzen unter den britischen Bürokraten führte: »The Chief [Mr. Luce] saw President Scheuble this morning and confirmed that German officials were free to join Trade Unions and at the same time pointed out that in the British Civil Service senior officers above a certain grade were not usually members of any Staff Association.« 109 Die offiziellen Direktiven enthielten den Passus, es bestünden »no objection to public servants joining ordinary trade unions. On the face of it this would leave the way open for Auerbach to belong to one of the Transport Unions which we particularly wish to prevent.« 110

Zur Vermeidung legislativer Schritte akzeptierte das Manpower Division Headquarter den Präzedenzfall: »In fact, Auerbach will probably be the sole case. I do not think it is appropriate or desirable to legislate any directive for the odd case but if Auerbach insists on joining one of the Transport Unions, I suggest that it be put to him that such a course is not in keeping with his official position.« 111 Das Berliner Headquarter gab zu bedenken, es sei unvorstellbar für »the Deputy Secretary of the Ministry of Labour at home to join the Transport and

104 Luce an Cullingford (Manpower Division Headquarter Berlin), Februar 1947 (Bestand Foreign Office, FO 1051/615, TNA). 105 Ebd. 106 Note of an Interview with Dr. Auerbach (o.D., aber nach Aktenlage Frühjahr 1947) (Bestand Foreign Office, FO 1051/615, TNA). 107 Scheuble an Luce, 6.3.1947 (Bestand Foreign Office, FO 1051/615, TNA). 108 Mitgliedschaft ÖTV Britische Zone ab 1947 (25 Jahre Mitgliedschaft ÖTV im Jahr 1962 unter Anrechnung der Mitgliedschaften in Gesamtverband 1930-1933 und TGWU 1939-1946). ver.di-Bundesverwaltung an die Vf.in, 6.2.2006 und ÖTV Hannover an Auerbach, 2.3.1962, mit Urkunde 25 Jahre ÖTV (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 1, AdsD). 109 Manpower Division an Blumer (Industrial Relations Branch, Manpower Division Main H.Q.,Berlin), 28.3.1947 (Bestand Foreign Office, FO 1051/615, TNA). 110 Ebd. 111 Manpower Division Headquarter Berlin an Manpower Division in Lemgo, 3.4.1947 (Bestand Foreign Office, FO 1051/615, TNA). 248

General Workers’ Union as an active member.« 112 Hatte etwa der frühere Vorsitzende dieser Gewerkschaft, Ernest Bevin, im Kabinett von Churchill Arbeitsminister und seit dem Regierungswechsel im Sommer 1945 Außenminister (Foreign Secretary), seine Mitgliedschaft aufgegeben? Die leitenden Beamten der Manpower Division hatte die Militärregierung aus der Ministerialbürokratie des Londoner Arbeitsministeriums rekrutiert. Offenbar hatten sie den erdrutschartigen Sieg der Labour Party im Sommer 1945 nicht nachvollzogen. Sie pflegten weiterhin ihre konservativen Denkmodelle.

Dass Auerbach ohne vorherige Genehmigung durch die Manpower Division, ohne Einhaltung des Instanzenweges, es wagte, befreundete Abgeordnete in der Absicht zu kontaktieren, die problematische Ernährungssituation in der britischen Zone vor das Unterhaus in London zu bringen, erschien Mr. Luce als Gipfel der Unverfrorenheit eines deutschen Beamten gegenüber der Besatzungsmacht. Er verurteilte Auerbachs unorthodoxe Vorgehensweise im Interesse von notleidenden Menschen. In Luce’ Vorstellungshorizont existierte Auerbachs Maxime, »dass Politik nicht den Charakter verdirbt, sondern Charakter voraussetzt,« 113 offenbar nicht. Im Protokoll einer Besprechung hieß es dann: »Mr. Luce also had in mind a statement made by Mr. R. Stokes M.P. in the debate on the adjournment in the House of Commons on 28 th February, 1947, that Dr. Auerbach had written to him complaining that the nominal food ration of 1,550 calories had fallen short in Lemgo.« 114

Die Erfahrungen in Lemgo hatten Spuren hinterlassen. Auf die Bitte hin, ein Referat im Schulungskurs zur Vorbereitung der Landtagswahl in Niedersachsen 1951 zu halten, bekannte der Genosse Staatssekretär gegenüber seinem alten Kollaborateur aus Widerstandszeiten ironisch: »Ich bin ein armer Beamter, wie Du weisst, unpolitisch bis in die Knochen. Das Thema ‚Grundsätzliche sozialistische Sozialpolitik’ würde bedeuten, dass ich keinesfalls als Referent angeführt werden darf.« 115 Mit der Umformulierung des Themas in ‚Grundsätzliche fortschrittliche Sozialpolitik’ wäre dann »der Schaden kuriert. Mit

112 Ebd. 113 Auerbach an La Otra Alemania, 18.8.1947, abgedruckt in: La Otra Alemania. Organo de los Alemanes Democraticos de America del Sur, Buenos Aires, Numero 152, 15 de Octubre de 1947 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 34, AdsD). 114 Note of an Interview with Dr. Auerbach (o.D., aber nach Aktenlage Frühjahr 1947) (Bestand Foreign Office, FO 1051/615, TNA). 115 Auerbach an Jahn, 1.3.1951 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 188, AdsD). 249

Titel will und glücklicherweise darf ich nicht angeführt werden« 116 in der Einladung zum Seminar, signalisierte Auerbach seine Zusage.

Robert Görlinger hatte früh und zu Recht befürchtet, dass Auerbach im Zentralamt und auch in der Stadt Lemgo intellektuell verkümmern würde, und im Dezember 1946 über den SPD-Parteivorstand erreicht, Auerbach ins sozialdemokratisch geführte Ministerium für Aufbau und Arbeit in Hannover als Ministerialdirektor und Stellvertreter des Ministers zu berufen. Görlinger schrieb: »Bei dem Vorschlag habe ich angenommen, dass Du und Käthe die Atmosphäre in Lemgo auf die Dauer nicht ertragen werdet und darum eine Großstadt wie Hannover eine bessere Atmosphäre vermittelt und mehr Kontakt schafft zur Arbeiterbewegung, ohne den Ihr auf die Dauer doch nicht leben könnt.« 117 Auerbach lehnte Görlingers Unterstützung ab. »Zwar wuerde ich lieber heute als morgen aus der Lemgoer Unwirklichkeit nach Deutschland umziehen, wo man zwar genau so friert, wenn man statt keines Holzes (wie hier) keine Kohle erhaelt … Ich gehöre nun einmal nicht zu den Leuten, die es fertig bringen, aus nicht in der Sache liegenden Gruenden nach 12 Wochen abzuspringen. Ich arbeite hier als Vizepraesident des Zentralamts … und bin fuer die Abteilungen Arbeitsrecht und Lohnpolitik und Sozialversicherung direkt zustaendig … Die Zusammenarbeit mit Scheuble ist gut, trotz politischer Gegensaetze, die von beiden respektiert werden, sozialpolitisch ist weitgehend gemeinsamer Boden vorhanden … Die sozialpolitische Desorientierung in der Partei ist eines der deprimierendsten Erlebnisse der letzten Wochen.« 118 Der schien es offenbar ausreichend, ihren kompetentesten Sozialpolitiker in das Zentralamt für Arbeit delegiert zu haben.

Aus der Retrospektive zehn Jahre später bewertete Auerbach seine Tätigkeit im Zentralamt als wichtigen Meilenstein einer neuen deutschen Sozialpolitik. 119 Zunächst hatte er Hans Böckler gegenüber Bedenken geäußert. Dessen Hinweis »auf die Bedeutung der Verwaltung fuer die Sozialpolitik nahm ich sehr skeptisch auf. Nach einem halben Jahr in Lemgo fand ich Boecklers Auffassung voll bestätigt.« 120 Im Vorwort einer 1971 publizierten Aufsatzsammlung betonte Auerbach rückblickend die Bedeutung von Manpower Division und Zentralamt in Lemgo und der Entscheidungen des Military Government auf dem

116 Ebd. 117 Görlinger an Auerbach, 6.12.1946 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 37, AdsD). 118 Auerbach an Görlinger, 3.1.1947 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 37, AdsD). 119 Auerbach an Ollenhauer, 29.4.1956 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 44, AdsD). 120 Ebd. 250 sozialpolitischen Sektor. Im Nachkriegsdeutschland wäre es seiner Überzeugung nach »zu einem vollständigen Zusammenbruch der sozialen Hilfseinrichtungen gekommen, wenn nicht die Militärregierungen die Sozialversicherungen funktionsfähig gehalten hätten; sie folgten damit einer Empfehlung der Internationalen Arbeitskonferenz von Philadelphia (1944), gingen sogar darüber hinaus, als sie erlaubten, daß Anfänge einer Kriegsopferversorgung in Anlehnung an die Unfallversicherung geschaffen wurden.« 121

In London hatte Walter Auerbach die Diskussionen unter Gewerkschaftern, Sozialpolitikern und Theoretikern um das von Lord Beveridge 122 entwickelte Konzept zur Neuordnung der britischen Gesundheits- und Sozialpolitik unter einer zukünftigen Labour Party-Regierung miterlebt. Sein Textvorschlag zur Sozial- und Arbeitsmarktpolitik für die von der IAA-Konferenz 1944 verabschiedete Philadelphia-Charter enthielt jedoch die vagen Formulierungen »Erweiterung der Sozialversicherung, so dass allen eines derartigen Schutzes Bedürftigen ein Mindesteinkommen gesichert wird sowie umfassende ärztliche Betreuung; ausreichender Schutz des Lebens und der Gesundheit der Arbeiter aller Berufe; Schutz- und Wohlfahrtsmassnahmen für Mutter und Kind« 123 ohne Konkretisierung eines Versicherungssystems. Noch bis ins Jahr 1952 korrespondierten Lord Beveridge und Auerbach miteinander. 124 Im Ursprungsland wurde der Beveridge-Plan »durch die Insurance Bill vom Jahre 1947 an in die englische Gesetzgebung eingebaut.« 125 Positiv und negativ bekannt weit über die Grenzen Englands hinaus wurde der von Aneurin Bevan 126 initiierte National Health Service.

121 Auerbach: Beiträge zur Sozialpolitik, S. 5 (Vorwort). 122 Lord William Beveridge (1879-1963). »Civil servant, social administrator, academic and social reformer. While his public career spanned a number of areas, each important in its own right, he was associated primarily with the production of the Beveridge Report (1942), which drew together many strands of social policy. One of these was a collectivist strand, and the report helped to lay the basis of the welfare state as it developed in the 1940s. However, Beveridge retained a belief in individual responsibility and in the importance of the citizen making a contribution to his own welfare and to that of others; he did not, therefore, ignore the long-standing voluntarist traditional in social policy«, in: Robbins (Hrsg.): The Blackwell Biographical Dictionary of British Political Life in the Twentieth Century, S. 47. 123 Auerbach: Übersetzung der Philadelphia-Charter (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 78, AdsD). 124 Auerbach an Lord Beveridge, 28.12.1951 und Lord Beveridge an Auerbach, 8.1.1952 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 193, AdsD). 125 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, S. 366 (Anm. 97). 126 Aneurin Bevan (1897-1960), »Labour left-winger ... His greatest achievement, as Minister of Health (1945-51) in Clement Attlee’s postwar government, was the creation 251

Die britische Militärregierung hatte zunächst in Kooperation mit dem Zentralamt für Arbeit versucht, in ihrer Besatzungszone das deutsche Sozialversicherungssystem analog zum zentralistisch orientierten Beveridge-Plan und dem National Health Service-System neu zu gestalten. Dies scheiterte am Widerspruch des Sozialpolitischen Ausschusses des Länderrates,127 der einen Paradigmenwechsel hin zur staatlichen Einheitsversicherung ohne Selbstverwaltungsorgane ablehnte. Gewerkschaften und SPD verharrten im Bereich der Arbeitsämter und der Sozialversicherung in der Frage Selbstverwaltung zunächst in Passivität, klagte Auerbach im September 1949 gegenüber Kahn-Freund. 128 Initiativen im Bereich Sozialpolitik hatte die Partei seit Jahresbeginn 1947 nicht ergriffen. 129 Auerbach übernahm schließlich die Rolle des Mediators.

Den Aspekt Selbstverwaltung nahm er auch in sein Konzept zum Thema Die Auffassungen der gewerkschaftlichen Spitzenkörperschaften über die zweckmässigste Verteilung der Kompetenzen zwischen deutschen Zentralinstanzen und Länderinstanzen auf dem Gebiet der Arbeits- und Sozialpolitik 130 auf. Darin hieß es explizit: »Das Wiedererrichten von Selbstverwaltungsorganen … wird allgemein gefordert,« 131 ergo zu jenem Zeitpunkt eine eindeutige Distanzierung auch Auerbachs vom britischen Modell des Zentralismus. Mitte der 1950er Jahre griffen Walter Auerbach und die Mitautoren von Sozialplan für Deutschland 132 Elemente aus dem Beveridge-Plan erneut auf. Kahn-Freund bestärkte Auerbach zwar darin, dass juristisch gesehen später für das deutsche Parlament kein Hinderungsgrund bestünde, Selbstverwaltung durch Zentralismus nach dem britischen Modell zu ersetzen. Es stellte sich jedoch die Frage der Zweckmäßigkeit, und die war für Kahn-Freund eine administrativ-technische und eine psychologische. »Psychologisch spricht viel für die Beteiligung von Gewerkschafts- und Arbeitgebervertretern bei der

of the National Health Service«, in: Robbins (Hrsg.): The Blackwell Biographical Dictionary of British Political Life in the Twentieth Century, S. 46 f. 127 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, S 366. 128 Auerbach an Kahn-Freund, 15.9.1949 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 40, AdsD). 129 Auerbach an Görlinger, 3.1.1947 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 37, AdsD). 130 Auerbach: Die Auffassungen der gewerkschaftlichen Spitzenkörperschaften über die zweckmässigste Verteilung der Kompetenzen zwischen deutschen Zentralinstanzen und Länderinstanzen auf dem Gebiet der Arbeits- und Sozialpolitik, 1.6.1948 (Bestand DGB Britische Zone, 5/32, AdsD). 131 Ebd. 132 Auerbach, Walter u.a.: Sozialplan für Deutschland, Berlin/Hannover 1957. 252

Durchführung der Sozialversicherung.« 133 Ein Bericht des Niedersächsischen Sozialministeriums unter Minister Heinrich Albertz und Staatssekretär Walter Auerbach benannte als eine der Errungenschaften der frühen 1950er Jahre die gesetzliche Neufassung der Selbstverwaltung der Sozialversicherung. 134 Zunächst hatte der Frankfurter Wirtschaftsrat für die Länder der amerikanischen und britischen Zonen ein Selbstverwaltungsgesetz beschlossen, das aber am Einspruch der Besatzungsmächte scheiterte. 1951 verabschiedete dann der Deutsche Bundestag eine Gesetzesvorlage zur »Wiederherstellung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung.« 135

Selten nahm Auerbach an den Besprechungen bei Manpower Division mit den Herren Luce, Cole oder Cullingford teil. Eine der wenigen, Ende April 1948, beschäftigte sich mit etwaigen Auswirkungen der Währungsreform in den drei westlichen Besatzungszonen. Die Gesprächsnotizen enthielten nur die Äußerungen Luces und Scheubles, die beide eine Entlastung des Arbeitsmarktes zugunsten von Arbeitgebern und Arbeitsnehmern prognostizierten. 136 Luce ging davon aus, »dass, sobald die deutsche Wirtschaftlage sich bessert, die Bizone nicht mit Arbeitslosigkeit, sondern vielmehr auf lange Sicht mit beträchtlichem Kräftemangel zu rechnen haben werde. In der Übergangszeit zwischen diesem Stadium und dem Zeitpunkt der Währungsreform werde … wahrscheinlich Arbeitslosigkeit herrschen.«137

Seine kritischen Anmerkungen zur Währungsreform und seine Auffassung zur folgenschweren einseitigen Belastung von Arbeitnehmern präzisierte Auerbach gegenüber seinen Londoner Freunden Francis und Ruth Carsten und Victor Gollancz. »This is, I think, the first rather pessimistic letter I am writing since our return. We are not dealing with our personal situation,« 138 leitete Auerbach seinen Brief an Gollancz ein und führte weiter aus: »What we are worried about is the political aspect and the potential repercussions. The 1948 currency reform is fundamentally different from the 1923 predecessor. Then the reform had to be paid by the working class and the new and old middle class. This time, the

133 Kahn-Freund an Auerbach, 25.9.1949 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 40, AdsD). 134 Bericht des Niedersächsischen Sozialministeriums: Soziales Niedersachsen. Aufbau, Arbeit, Wohlfahrt, Gesundheit, Soziale Sicherung 1953-1954, Hannover o.J., S. 62. 135 Auerbach: Selbstverwaltungswahlen, in: Ders.: Beiträge zur Sozialpolitik, S. 291. 136 Besprechung bei Manpower Division: Luce/Cullingford/Scheuble/Auerbach, 28.4.1948 (Bestand ZfA, Z 40, Mappe 321, BArch). 137 Ebd. 138 Auerbach an Gollancz, 16.7.1948 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 37, AdsD). 253 working class appears to be selected as the only victims.« 139 Mitschuldig an der Misere erschien ihm die fehlende Flexibilität der sozialdemokratischen Mandatsträger im Wirtschaftsrat: »The political strategy of the SPD left responsibility in Frankfort entirely to the CDU. The CDU and the and the Liberal Party have a small majority owing to the nominations by the Diets, a procedure imposed by the occupation powers. With a large section of leading Socialists I think that the party executive made a mistake, as during 1948 the social foundations of the political strata are laid for years to come. The CDU made ruthlessly use of the opportunity.«140

Im Widerspruch zu Luce sah Auerbach eine arbeitsmarktpolitische Bedrohung durch die Währungsumstellung, bewusst provoziert von seiten der Arbeitgeber, wie er den Carstens in London auseinandersetzte: »Es wurden vielfach keine Endfabrikate mehr hergestellt, sondern 3/4-Fabrikate, damit man nach der Währungsreform in den ersten Wochen moeglichst viele Ungelernte entlassen und mit wenigen Facharbeitern dann Fertigfabrikate fuer den Verkauf gegen gutes Geld arrangieren koennte.«141 Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt gab Auerbach recht. Die Arbeitslosenquote für die drei Westzonen erhöhte sich im Zeitraum von Juni 1948 bis Juni 1949 von 451.091 (3,2 %) auf 1.283.302 (8,7 %) bis hin zu 1.558.469 (10,3 %) Ende Dezember 1949. 142 »Zwischen 1946 und 1948 war die Zahl der Arbeitslosen zunächst gesunken, nach der Währungsreform stieg sie jedoch stark an … Dabei spielte die Tendenz der Arbeitgeber nach der Währungsreform, teurere Arbeitskräfte zu entlassen und durch billigere zu ersetzen, eine Rolle … Insgesamt war die Fluktuation hoch, der Großteil der Arbeitslosen blieb [allerdings] nur kurz- und mittelfristig arbeitslos.« 143 Im Herbst 1949 griff Auerbach das Thema Arbeitslosigkeit erneut auf. Aus seinem Hannoveraner Alltag im Ministerium für Arbeit, Aufbau und Gesundheit berichtete er Kahn-Freund: »Briefe, die ich von Russlandheimkehrern, die keine Arbeit fanden, erhalte, zeigen die Entwicklung zum Desperadotum der Verzweiflung. Und Briefe von jugendlichen Erwerbslosen geben eine Verzweiflung wieder, die an die Jahre 1931/32 erinnert.« 144

139 Ebd. 140 Ebd. 141 Auerbach an Francis und Ruth Carsten, 24.6.1948 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 37, AdsD). 142 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, S 301. 143 Ebd., S 300 ff. 144 Auerbach an Kahn-Freund, 15.9.1949 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 40, AdsD). 254

Die Modalitäten bei der Einführung der Deutschen Mark hatten einseitig die Eigentümer von Sachwerten, also von Grund und Boden, Produktionsmitteln und Warenbeständen, begünstigt. Geldwertbesitz wurde quasi enteignet. Menschen ohne Sparkonten, die über den Gegenwert zur Kopfpauschale nicht verfügten, profitierten geringfügig. Allein in der britischen Zone lebten »rund 2,7 Millionen von der Wohlfahrt unterstuetzte Personen und Sozialversicherungsrentner. Diese und schaetzungsweise weitere 3 Millionen aus den Kreisen der Arbeiter, kleinen Angestellten und Beamten besitzen kein derartiges Konto.« 145 Die unterschiedlichen Konsequenzen des Umstellungsprozesses für Arbeitgeber und Arbeitnehmer arbeitete Max von der Grün zwei Jahrzehnte später in seinem autobiographischen Text Was ist eigentlich passiert plastischer heraus als Auerbach es in seinen Korrespondenzen wagte: »Am Tage der Währungsreform hielt mir der Bauunternehmer, bei dem ich zum Maurer umgeschult wurde, zwei Zwanzig-Mark-Scheine vor die Nase und sagte: Siehst du, jetzt habe ich genau so viel Geld wie du, jetzt kommt es nur darauf an, was man aus seinem Geld macht. Ich war so naiv, daß ich tatsächlich einige Zeitlang glaubte, durch diesen Geldumtausch wären alle Menschen gleich geworden, alle hätten nun die gleichen Startchancen, die Währungsreform wäre eine besondere Art von Sozialisierung. Der Bauunternehmer hatte ein Jahr später zwei Lastwagen und drei neue Betonmischer und ein neues Auto und einen Polier und 128 Arbeiter; ich konnte mir damals endlich ein neues Fahrrad kaufen, ich war anscheinend nicht tüchtig, ich habe nur 10 Stunden am Tag gearbeitet.« 146

Unter seinem Pseudonym Walter Dirksen aus der Periode des Widerstandes brachte auch Auerbach seine Empörung zum Ausdruck: »Genaue Ziffern liegen noch nicht vor. Aber auf Grund von Stichproben kann man schaetzen, dass die genannten Gruppen auf diese Weise ein bis eineinhalb Milliarden Mark mindestens im Werte von eins zu eins umtauschen konnten. Dank der rechtzeitigen Preisfreigabe durch den Besitzbuergerblock im Frankfurter Wirtschaftsrat haben sie in vielen Faellen fuer eine Reichsmark zwei bis drei Deutsche Mark erhalten … Die gleichen Kreise, die den Preisstop lockerten, wollen den Lohnstop nach oben halten und die Loehne nach Moeglichkeit abbauen. Sie wittern Morgenluft. Denn die Waehrungstechniker der

145 Auerbach an Francis und Ruth Carsten, 24.6.1948 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 37, AdsD). 146 Grün, Max von der: Was ist eigentlich passiert? in: Ingeborg Drewitz (Hrsg.): Städte 1945. Berichte und Erkenntnisse, Düsseldorf/Köln 1970, S. 53 f. 255

Besatzungsmaechte, fuer die Keynes 147 umsonst gelebt zu haben scheint, dekretierten eine ‚klassische’ Kreditpolitik der Deflation, die unausweichlich zur Umstellungsarbeitslosigkeit noch eine Deflationsarbeitslosigkeit gesellt. Die Kreise hoffen, dass eine Massenarbeitslosigkeit die Gewerkschaften laehmt.« 148 Dirksens Pamphlet Der Skandal des 21. Juni [1948] endete sarkastisch: »Jedenfalls wurde das Milliardengeschäft auf Kosten der Lohn- und Gehaltsempfaenger … abgewickelt. Nur wenige schienen zu sehen, dass hier ein Kapitel Klassenkampf gegen Arbeiter mitleidslos ausgekaempft wurde.« 149 Ein Begleitbrief wies auf Willi Eichler als Adressaten hin. Darin hieß es unter anderem: »Aber bedenke bitte, dass ich nur als Walter Dirksen in der Weise schreiben darf.« 150 Vielleicht verblieb der Text in der Schreibtischschublade, denn der kurze Brief an Eichler war mit zwei Strichen durchkreuzt.

Ob das Papier In letzter Stunde , ein »Entwurf f. Boeckler in Recklinghausen,« 151 diesen auf dem Außerordentlichen Gewerkschaftskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes 152 erreichte, erschien gleichermaßen zweifelhaft. Widerhall in den Reden Hans Böcklers oder in den verabschiedeten Entschließungen fand der Inhalt jedenfalls nicht. Neben künftigen Organisationsfragen nahm das Thema Marshall-Plan auf dem Kongress breiten Raum ein, nicht aber die unmittelbar bevorstehende Währungsumstellung. 153 In seinem für den Gewerkschaftstag verfaßten Entschließungsentwurf stellte Auerbach die Währungsreform als »die Liquidierung der Erbschaft der Nazi- Inflation … nach Vorschriften, die dem deutschen Volk auferlegt wurden,« 154 dar. An anderer Stelle hieß es: »Eine Kreditpolitik, die in dogmatischem

147 »Keynesianismus: erstens eine auf den englischen Nationalökonomen John Maynard Keynes (1883-1946) zurückgehende ökonomische Theorie, deren zentrale Gedanken in dessen Hauptwerk ‚Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes’ (1936) niedergelegt sind, und zweitens eine auf dieser Theorie basierende Wirtschaftspolitik. In der BRD wurde sie 1967 [Große Koalition] im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz verankert. Der Keynesianismus war die Antwort auf die Weltwirtschaftskrise«, in: Hanno Drechsler/Wolfgang Hilligen/Franz Neumann (Hrsg.): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, 8., neubearb. u. erw. Aufl., München 1992, S. 397. 148 Auerbach: Pamphlet »Der Skandal des 21. Juni [1948]« mit Brief an Willi Eichler, o.D. (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 129, AdsD). 149 Ebd. 150 Ebd. 151 Auerbach: »In letzter Stunde« (Entwurf f. Boeckler in Recklinghausen) (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 129, AdsD). 152 Außerordentlicher Bundeskongreß des Deutschen Gewerkschaftsbundes für die britische Zone vom 16.-18.6.1948 in Recklinghausen. 153 Protokoll Außerordentlicher Bundeskongreß des Deutschen Gewerkschaftsbundes für die britische Zone vom 16.-18.6.1948 in Recklinghausen, Köln o.J., S. 77. 154 Auerbach: »In letzter Stunde« (Entwurf f. Boeckler in Recklinghausen, o.D.) (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 129, AdsD). 256

Schematismus Arbeitsplatz und nackte Existenz der Arbeitenden und Arbeitsinvaliden gefährden würde, würde das Gegenteil des Erstrebten bewirken und damit durch Lahmlegung deutscher Schaffenskraft den Marshall-Plan in Deutschland und in ganz Europa behindern.« 155 Das Exposé endete mit der Forderung: »Ziel der Geldreform, der Währungsreform und der mit ihnen verbundenen Steuerreform und Lastenausgleichs-Maßnahmen muß in ganz Deutschland Vollbeschäftigung in einer Atmosphäre sozialer Gerechtigkeit sein und Schutz der Opfer des Nazi-Systems und des vom Nazi-System entfesselten Krieges vor einer Abwälzung der Folgen der Nazi-Verbrechen auf die Schultern der Opfer und der sozial Schwächsten.« 156 Seine Teilnahme am Kongress hatte Auerbach wegen anderweitiger Verpflichtungen abgesagt, 157 und sein Versuch, indirekt Einfluss auf die Beratungen zu nehmen, misslang. Als offizieller Repräsentant des Zentralamtes nahm, wie auch im Vorjahr in Bielefeld, Präsident Scheuble teil. 158

Eine Kompensation zur Währungsumstellung versprach sich Auerbach von einem Lastenausgleich, dessen gesetzliche Grundlagen der Deutsche Bundestag aber erst im Sommer 1952 schuf. Die Diskussionen in Öffentlichkeit, Finanzwelt und Länderregierungen begannen frühzeitig. Auerbach formulierte seine Position so: »Die entscheidende Frage ist wohl mit der Lastenausgleich im engeren Sinne, in erster Linie aber der Lastenausgleich im weiteren Sinne. Und der wird durch die Kreditpolitik bestimmt. Im heutigen Stadium der deutschen Entwicklung entscheidet die Kreditpolitik ueber begrenzte Umstellungsarbeitslosigkeit oder Massenarbeitslosigkeit und damit ueber Staerke und Schwaeche der Gewerkschaften. Davon wieder haengt weitgehend die Kraefteverteilung innerhalb der CDU (Arbeiterflügel), der SPD und des Zentrums ab. Zur Zeit wird der Frankfurter Apparat der deutschen Verwaltung von Deutschen beherrscht, die zwar Nationaloekonomen zu sein behaupten, aber … von Keynes haben sie entweder nichts gehoert oder alles vergessen.« 159 Auerbach erhoffte sich vom Lastenausgleich eine Veränderung der Rahmenbedingungen der Kreditpolitik und einen konsequenten Wirtschaftsaufschwung mit Vollbeschäftigung und erwartete Signale aus

155 Ebd. 156 Ebd. 157 Protokoll Außerordentlicher Bundeskongreß des Deutschen Gewerkschaftsbundes für die britische Zone vom 16.-18.6.1948 in Recklinghausen, S. 30. 158 Ebd., S. 19. 159 Auerbach an Francis und Ruth Carsten, 24.6.1948 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 37, AdsD). 257

Washington und London. Auch Hans Böckler hatte »die Aufmerksamkeit auf die zentrale Bedeutung der Kreditpolitik gelenkt.«160

Immer wieder verzweifelte Auerbach an seiner Partei. Nach dem Nürnberger Parteitag [29. Juni bis 2. Juli 1947], an dem er als Gastdelegierter 161 auf Einladung des SPD-Parteivorstandes 162 teilgenommen hatte, betätigte Auerbach sich Crossman gegenüber als Chronist: »The whole party activity is widely an ‚als ob’ activity and that will remain so until CCG 163 allows the parties to do more than playing political kindergarden. It appears that, at least in this phase, major political trends are developing not in the party machinery, but in a network of political groupings inside the party and, sometimes, across the parties. The groups mostly form around periodicals and wherever you go you will find them discussing essential articles published in these monthlies.« 164 Crossman gegenüber erwähnte er neben anderen Publikationen die Frankfurter Hefte , das von und Luise Schröder herausgegebene Sozialistisches Jahrhundert , die Stuttgarter Rundschau , Herausgeber Fritz Eberhard und Henry Bernhard.165 Bereits in seiner Dissertation hatte Auerbach die Bedeutung politischer Zeitschriften für die Meinungsbildung herausgearbeitet: »The thesis I published 19 years ago that it is the periodical and not the general daily which is forming opinion has been proved since again and again and is now proved for another time in Germany.« 166 Für die breite Masse traf dies kaum zu, jedoch für Theoretiker und Programmatiker von Parteien, Gewerkschaften und anderen gesellschaftspolitischen Institutionen.

Im September 1948 hatten Briten und Amerikaner eine bizonale Verwaltung für Arbeit in Frankfurt-Hoechst installiert, deren Mitarbeiter das personelle Gerüst »für das künftige Bundesarbeitsministerium [bildeten], was sowohl bedeutete, dass hierin die Traditionalisten das Sagen hatten.« 167 Die Besetzung der

160 Ebd. 161 Auerbach an Wischnewski, 27.1.1969: »An fachlich fundierten Verhandlungen des Parteitages habe ich seit 1947 regelmäßig teilgenommen. Nur einmal jedoch, in Godesberg [1959], war ich Delegierter, um auch im Plenum reden zu können. Bei allen anderen Parteitagen habe ich Wert darauf gelegt, keinem Hannoveraner Genossen eine Delegation zu versperren.« (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 62, AdsD). 162 Heine an Auerbach, 6.6.1947 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 56, AdsD). 163 Control Commission for Germany. 164 Auerbach an Crossman, 14.7.1947 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 34, AdsD). 165 Ebd. 166 Ebd. 167 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, S 145. 258

Spitzenpositionen der Verwaltung für Arbeit ergab sich nicht, wie noch 1946 in Lemgo, aus dem Parteienproporz [SPD/CDU], »den die alliierte Kontrollbehörde …. gern gesehen hätte -, sondern aus dem Führungsanspruch der CDU/CSU- Fraktion des Wirtschaftsrates,« 168 dem Bizonen-Parlament. Das Personal des Zentralamtes für Arbeit wurde »nahezu geschlossen von Lemgo übernommen.«169 Auerbach verzichtete nach schwierigen Verhandlungen: »Ich werde nicht nach Frankfurt [Verwaltung für Arbeit] kommen. Als die Kandidaten sich in der CDU-Fraktion vorstellten, wurde ihnen bedeutet, dass zwei Lemgoer [Scheuble und Auerbach], in erster Linie ich, hoechstens in einer ungefaehrlichen Stellung mitgenommen werden koennten. Man hat mir dann ein Nebengleis angeboten, das ich selbstverstaendlich abgelehnt habe. Ich waere voellig einflusslos gewesen … Ich gehe zum 1. November [1948] nach Hannover als Staatssekretaer im Niedersaechsischen Ministerium fuer Arbeit, Aufbau und Gesundheit.« 170 Dem Gewerkschaftskollegen Wilhelm Herschel gegenüber äußerte Auerbach, dass er für ein Abstellgleis »in der recht konservativen Hoechster Verwaltung«171 oder für ein »Altenteil nicht abgekämpft genug«172 sei und «eine geruhsame Taetigkeit … in dieser Zeit der brennenden sozialen Not nicht verantworten« 173 könne.

Eine Offerte Alfred Kubels lag Auerbach seit Sommer 1948, verfasst kurz nach dessen Nominierung zum Minister im Kabinett von Ministerpräsident 174 , vor: »Nur um unter der Zahl Dir zweifellos gebotener Möglichkeiten auch eine weitere hinzuzufügen, möchte ich Dir sagen, dass ich mich sehr freuen würde, wenn wir hier in Hannover zusammenarbeiten könnten. Ich würde einiges dafür tun, dass Du Staatssekretär im niedersächsischen Arbeitsministerium werden könntest. Nun lege diesen Brief bitte nicht mit sarkastischem Lächeln beiseite, weil Dir Höheres winkt, sondern nimm ihn als eine Vervollständigung der Raupensammlung Deiner künftigen

168 Hockerts: Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland, S. 109. 169 Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, S 113. 170 Auerbach an Fliess, 17.10.1948 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 36, AdsD). 171 Auerbach an Böckler, 15.10.1948 (Bestand DGB, Mappe 99, AdsD). 172 Auerbach an Herschel, 15.10.1948 (Bestand DGB, Mappe 99, AdsD). 173 Ebd. 174 Hinrich Wilhelm Kopf (1893-1961). Studium Jura und Volkswirtschaft. 1919 Mitglied der SPD. 1946 Ernennung zum Ministerpräsidenten, 1946-1961 Mitglied des Landtags von Niedersachsen, 1947-1955 und 1959-1961 Ministerpräsident, 1957-1959 stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister von Niedersachsen. AdsD der FES (Hrsg.): Inventar zu den Nachlässen der deutschen Arbeiterbewegung, S. 391 ff. 259

Möglichkeiten.« 175 Sarkasmus galt bei vielen als Auerbachs Markenzeichen, und Kubel hatte dieses noch über zwanzig Jahre später präsent: »Ich entsinne mich noch immer ein wenig beschämt meiner völligen Unbedarftheit, mit der ich Dich am Anfang unserer Bekanntschaft als ‚Sozialversicherungspolitiker’ bezeichnet habe. Du verbessertest mich, ohne Deinen Sarkasmus dabei sonderlich zu unterdrücken, mit der Bitte, Dich - wenn schon – als ‚Sozialpolitiker’ zu akzeptieren.«176

5.3 Ein Vierteljahrhundert Sozialpolitik in Praxis und Theorie 177

»Ich begreife Sozialpolitik nicht von der Gesellschaft, sondern von den in der Gesellschaft stehenden Menschen her,« 178 lautete Walter Auerbachs sozialpolitisches Credo.

Seine Entscheidung gegen Hoechst hatte durchaus positive Aspekte. So sah er sich bei Korrespondenzen mit englischen Politikern parteipolitisch und »in der Gewerkschaftsarbeit jetzt weniger behindert«179 als bisher in Lemgo. Er befand sich zwar »auf der Laenderseite, aber nach wie vor im sozialpolitischen Feld«180 und hoffte, »von der Laenderebene aus das Tempo etwas beschleunigen«181 zu können. Im November 1948 trat Auerbach als Staatssekretär in die Niedersächsische Landesregierung ein. Zugleich fungierte er als Ständiger Vertreter des Landes Niedersachsen im Bundesrat. Diese Positionen besetzte er, unterbrochen in den Jahren 1955 bis 1957 unter der ersten Regierung Hellwege 182 , bis zu seiner Berufung als Staatssekretär in die Sozialliberale Regierung unter Willy Brandt im Herbst 1969.

175 Kubel an Auerbach, 8.7.1948 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 40, AdsD). 176 Ders., 2.12.1971(NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 40, AdsD).

177 In der neueren Forschungsliteratur kommt Auerbach kaum oder gar nicht vor (siehe u.a. Gerhard A. Ritter). 178 Auerbach, Walter: Befreiung und Bindung durch soziale Leistungen, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 103 (1956), Nr. 9, S. 273. 179 Auerbach an Böckler, 15.10.1948 (Bestand DGB, Mappe 99, AdsD). 180 Ebd. 181 Ebd. 182 (1908-1991), 1946-1961 Landesvorsitzender der Niedersächsischen Landespartei (NLP), später umbenannt in Deutsche Partei (DP). 1949-1955 Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates. 1955-1959 Ministerpräsident von Niedersachsen. 1961 Eintritt in die CDU, in: Helmut Beyer und Klaus Müller: Der Niedersächsische Landtag in den fünfziger Jahren. Voraussetzungen, Ablauf, Ergebnisse und Folgen der Landtagswahl 1955, Düsseldorf 1988, S. 159 ff. 260

Das Ministerium für Arbeit, Aufbau und Gesundheit (Sozialministerium) in Hannover, zunächst geführt von Alfred Kubel, galt als Quelle progressiver sozialpolitischer Neugestaltung. Wesentliche Rahmenbedingungen, an denen Auerbach mitgewirkt hatte, wurden im Zentralamt für Arbeit im Lemgo entwickelt. Landesregierungen hatten bis weit über die Gründung der Bundesrepublik und die Bundestagswahl vom August 1949 hinaus Hoheit über sozialpolitische und andere Themen, die später Legislative und Exekutive auf Bundesebene vorbehalten blieben. Der Pressesprecher im Niedersächsischen Sozialministerium in den 1950er Jahren und spätere Staatssekretärskollege Auerbachs in Bonn, Helmut Rohde, hatte Auerbachs Herangehensweise an brisante sozialpolitische Themen über Jahrzehnte begleitet. Er charakterisierte dessen Arbeitsethos so: »Walter Auerbach fragte immer, was ist für die Menschen wichtig. Und er war fachlich und wissenschaftlich von großer Gestaltungskraft und machte dadurch den CDU-Arbeits- und Sozialministern das Leben schwer … Seine Zuwendung galt den arbeitenden Menschen.« 183 Im Januar 1970 erinnerte Rohde an die frühen Jahre in Hannover und an Auerbachs Verdienste: »Damals war Niedersachsen in vielfacher Hinsicht ein Motor, dessen Zündung der Staatssekretär des Arbeitsministeriums darstellte. Es war rundum eine farbige Zeit – und das Wirken jener Jahre hat seine Züge auf dem Feld der Sozialpolitik hinterlassen.« 184 In seinen Reminiszenzen nach Auerbachs Tod schrieb Pater von Nell-Breuning, er »war nicht nur streng in den Anforderungen, die er an sich selbst stellte, sondern glaubte ebenso streng sein zu dürfen, ja zu müssen gegenüber denen, die sich selbst zu den gleichen hohen ethischen Werten bekannten wie er, und von denen er als selbstverständlich erwartete, sie würden dieses ihr Bekenntnis durch entsprechende Taten einlösen. Dieses sein strenges Ethos wurde als Härte empfunden und gelegentlich als Feindseligkeit mißdeutet. Er ließ sich dadurch nicht anfechten.« 185 Helmut Rohdes Worte »Auerbach konnte bis zur Unhöflichkeit distanziert reagieren, wenn sein Wertesystem tangiert war,« 186 fügten sich nahtlos daran an.

Große Koalition oder nicht, darüber diskutierten vorbei an den politischen Realitäten SPD-Parteivolk, führende Genossen und unter anderem Auerbach

183 Gespräch Helmut Rohde mit der Vf.in, 13.10.2005, in Bonn. 184 Rohde an Auerbach, 20.1.1970 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 47, AdsD). 185 Nell-Breuning, Oswald von: Nachruf für Walter Auerbach †, in: Vierteljahreshefte für Sozialrecht 4 1976) Nr. 1/2, S. 162. 186 Gespräch Helmut Rohde mit der Vf.in, 13.10.2005, in Bonn. 261 nach der ersten Bundestagswahl im August 1949. 187 Als Feindbild kristallisierte sich schnell heraus. Fritz Heine war sich denn auch mit Auerbach darüber einig, »dass wir [die Parteispitze], wie Du richtig annimmst, ein sozialistisch geführtes Wirtschaftsministerium und eine sozialistische Wirtschaftspolitik wollen … Wir halten die Erhard’sche Wirtschaftspolitik für falsch. Sie führt nach unserer Meinung ins Chaos.«188 Kurt Schumacher hatte auf dem SPD-Parteitag in Hannover im Mai 1946 die Doktrin aufgestellt: »Der Welt wollen wir zu unserem Teil beweisen, daß es auch einen europäischen Sozialismus gibt und daß in diesem europäischen Sozialismus der deutsche Sozialismus ein nicht wegzudenkender Bestandteil ist. Und es ist die Aufgabe des Tages: entweder wird es uns gelingen, Deutschland in seiner Ökonomie sozialistisch und in seiner Politik demokratisch zu formen, oder wir werden aufhören, ein deutsches Volk zu sein .« 189 Die SPD wurde 1949 für die Regierungsbildung nicht gebraucht!

Aus seiner geographischen Distanz betrachtete Kahn-Freund wie Auerbach die Oppositionsrolle der SPD im Deutschen Bundestag als die bessere Alternative und fragte: »War es wirklich ein so schreckliches Unglück für die SPD dass sie in die Opposition geriet? Jedenfalls von hier aus gesehen, ist Opposition besser als Koalition oder gar ‚Tolerierung’. Wenn Schumacher geschickt operiert, kann er nicht als Oppositionsführer mehr erreichen als er in einer Koalition hätte erreichen können? ... Jedenfalls scheint er den Mut zur Opposition zu haben und sich wenigstens in dieser Beziehung von seinen Weimarer Vorgängern zu unterscheiden.« 190 Kahn-Freund malte ein düsteres Bild von der politischen Zukunft Deutschlands und hielt »die Errichtung der westdeutschen Bundesrepublik für einen schweren Fehler, d.h. nicht nur für einen Fehler seitens der Deutschen, sondern seitens der Westmächte.«191 Aus dieser Positionierung heraus kam Kahn-Freund zu der These: »Wohin die Reise politisch in Deutschland geht, ich meine in der deutschen inneren Politik, kann man von hier aus ziemlich klar sehen. Dass diese Entwicklung zu einer äusserst reaktionären

187 Ergebnis der Bundestagswahl 1949: CDU/CSU 31,0 % (139 Sitze), SPD 29,2 % (131 Sitze), FDP 11,9 % (52 Sitze), DP 4,0 % (17 Sitze), BP 4,2 % (17 Sitze), DZP 3,1 % (10 Sitze), KPD 5,7 % (15 Sitze), Sonstige 10,9 % (21 Sitze), in: Drechsler/Hilligen/Neumann (Hrsg.): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, S. 116. 188 Heine an Auerbach, 20.8.1949 (Bestand SPD-PV Fritz Heine, 2/5, AdsD). 189 Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 9. bis 11. Mai 1946 in Hannover, Hamburg 1947, S. 37. 190 Kahn-Freund an Auerbach, 25.9.1949 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 40, AdsD). 191 Ebd., 2.9.1949 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 40, AdsD). 262

Sozial- und Wirtschaftspolitik zu einem erheblichen Teil auf den Einfluss der Okkupationsmächte, oder sagen wir auf amerikanischen Willen und britische Schwäche zurückgeht, liegt auf der Hand.«192

Nach der Landtagswahl im Sommer 1955 hatte sich die politische Konstellation in Niedersachsen fundamental verändert. Zwar stellte die Sozialdemokratie weiterhin die stärkste Fraktion im Landtag, doch nicht mehr den Ministerpräsidenten. Nachfolger des seit 1946 amtierenden Hinrich Wilhelm Kopf wurde Heinrich Hellwege. Kopf hatte von 1946 bis 1951 einer Allparteienregierung, teils mit Ausnahme des Zentrums, und seit 1951 einer Koalitionsregierung von SPD, BHE 193 und Zentrum vorgestanden. 194 Auerbach wurde Opfer einer von allen Parteien praktizierten Vorgehensweise, die besagte, dass die oberste Hierarchie im Beamtenapparat von Ministerien bei einem Regierungswechsel mit Persönlichkeiten des jeweiligen politischen Vertrauens zu besetzen sei. Die SPD Niedersachsens hatte »die Entlassung Auerbachs als einen Bruch des von Hellwege selbst gegebenen Versprechens angeklagt, mit der Personalpolitik nicht herumzuspielen, zumal insbesondere Dr. Auerbachs Befähigung von niemandem in Zweifel gezogen«195 wurde. Nicht alle Genossen schlossen sich dieser Sichtweise an. Einer unter ihnen, der Sozialpolitiker Ludwig Preller 196 , schrieb seinem Kollegen Auerbach: »Du weißt, daß ich dies politisch für in Ordnung halte, aber für Dich persönlich ganz außerordentlich bedaure, daß Deine große Arbeitskraft nunmehr der gemeinsamen Sache im staatspolitischen Rahmen zunächst verlorengeht.«197

Seinem bisherigen Minister, dem späteren Regierenden Bürgermeister von Berlin, Pastor Heinrich Albertz, offenbarte Auerbach seine Isolation vom politischen Alltag seit der Versetzung in den Wartestand: »In den nun drei ersten bitteren Wochen des Herausgeschnittenseins aus der aktiv gestaltenden Arbeit

192 Ebd., 25.9.1949 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 40, AdsD). 193 Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE). 194 Roth, Götz: Fraktion und Regierungsbildung. Eine monographische Darstellung der Regierungsbildung in Niedersachsen im Jahre 1951, Meisenheim/Glan 1954, S. 13 ff. 195 Beyer und Müller: Der Niedersächsische Landtag in den fünfziger Jahren, S. 531. 196 Professor Dr. Ludwig Preller (1897-1974). Studium Volkswirtschaft, Statistik, Zeitungskunde. Seit 1920 Mitglied der SPD. Tätigkeiten: Reichsarbeitsverwaltung, Reichsarbeitsministerium, Sächsisches Arbeits- und Wohlfahrtsministerium. März 1933 beurlaubt. Drei Jahre Arbeitslosigkeit. 1937-1943 in der Leitung der sozialpolitischen-wissenschaftlichen Zeitschrift »Soziale Praxis«. 1943 Textilfirma Bleyle. Nach 1945: Länderrat der amerikanisch besetzten Zone, Lehrauftrag für Sozialpolitik an der Technischen Hochschule Stuttgart. 1949-1950 Minister für Wirtschaft und Verkehr in Schleswig-Holstein. 1951-1957 Mitglied des Deutschen Bundestages. Arbeit in Gremien der SPD ( NL Ludwig Preller, Findbuch, AdsD). 197 Preller an Auerbach, 27.6.1955 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 599, AdsD). 263 ist mir die Bedeutung der ‚Ministerrunde’ dieser 4 Jahre immer deutlicher geworden. Die Konfrontierung mit Deinen auf anderer Ebene gewachsenen Anschauungen praktisch loesbarer Probleme hat mich so oft zu neuer Besinnung auf die Wurzel der Problematik gezwungen, dass sehr vieles dann erst wirklich radikal gesehen wurde. Der Trost eines nicht nur gelegentlichen Gespraeches mit Dir faellt nun fort.«198

Materiell war Auerbach abgesichert. Ihm stand auf unbegrenzte Dauer ein Wartegeld von rund 900,-- DM zu. 199 Doch, so schrieb er nach einem knappen Jahr als Privatier an Ollenhauer, Kampfgefährte aus Emigrationstagen und seit Kurt Schumachers Tod im Jahr 1952 SPD-Vorsitzender: »Ich eigne mich aber nicht dafuer, mich mit 50 Jahren aufs Altenteil zurueckzuziehen, auch wenn dieses Altenteil durch Vortraege, Kurse und Artikel anregend unterbrochen wird. Von Jahr zu Jahr wuerde ich praxisfremder.«200 Er fuhr fort: »Nur schweren Herzens wuerde ich aus Deutschland fortgehen. Du weißt aus eigenem Erleben, was die 13 Jahre der Emigration bedeutet haben. Aber ich sehe keine Moeglichkeit sinnvoller laufender Arbeit fuer mich in der Bundesrepublik … So scheint mir nur der Weg zur Internationalen Arbeitsorganisation [ILO in Genf] zu bleiben,« 201 ihm seit den 1930er Jahren durch punktuelle Mitarbeit bestens vertraut. Nach einem Jahr Einstweiligen Ruhestandes, ein Ende erschien ihm weder in Hannover noch in Bonn absehbar, signalisierte er seine Bereitschaft, eine »Anfrage [aus Genf] positiv zu beantworten.«202 Hellwege hatte »unmittelbar nach meiner Versetzung in den Wartestand angeboten, mir eine Professur an einer niedersaechsischen Hochschule zu erwirken. Das habe ich sofort zurueckgewiesen … Auch wollte ich von der Regierung … keiner Fakultaet quasi aufgedraengt werden.«203 Doch der weitere Verlauf des Briefes an Ollenhauer offenbarte Widersprüche. Auerbach war durchaus an einer Universitätskarriere in einem Institut für Sozialpolitik, jahrzehntelang favorisiert, interessiert. Doch eine Bewerbung an der Universität zu Köln nach der Emeritierung von Direktor Heyde erschien ihm chancenlos, da »der andere Direktor dieses Instituts (Gerhard Weiser) Sozialdemokrat ist ... Ich hoere noch an den Hochschulen herum.« 204 Weder ILO noch Professur vermochte Auerbach zu realisieren, und Bonn blieb

198 Auerbach an Albertz, 21.7.1955 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 29, AdsD). 199 Auerbach an Ollenhauer, 29.4.1956 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 44, AdsD). 200 Ebd. 201 Ebd. 202 Auerbach an Albertz, 7.7.1956 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 29, AdsD). 203 Auerbach an Ollenhauer, 29.4.1956 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 44, AdsD). 204 Ebd. 264 ein Fernziel. Bei der Bundestagswahl im Jahr 1957 erreichte die CDU/CSU mit 50,2 Prozent die absolute Mehrheit der Mandate im Deutschen Bundestag. 205

Im Spätherbst 1957 erkannte Hellwege, mit BHE und FDP die Gestaltung seiner politischen Vorstellungen nicht realisieren zu können. Querelen und eine Affäre um die politische Vergangenheit von Kultusminister Leonhard Schlüter (FDP), der bereits wenige Wochen nach der Ernennung seinen Rücktritt einreichte, hatten ihn zermürbt, und den »Kontakt zu seinem Amtsvorgänger Hinrich Wilhelm Kopf hatte Hellwege nie ganz abreißen lassen.«206 Unter der Prämisse, eine Auflösung des Landtags und Neuwahlen zu vermeiden, vereinbarten DP/CDU und SPD eine Große Koalition 207 unter Heinrich Hellwege. Stellvertreter und Innenminister wurde »Hinrich Wilhelm Kopf, die einstige Symbolfigur des Landesvaters.« 208 Die parteipolitische Szene in Bonn verzeichnete sehr unterschiedliche Reaktionen: »Adenauer war ärgerlich.« 209 Dem SPD- Parteivorstand dagegen passte die niedersächsische Regierungsumbildung »ausgezeichnet ins gesamtpolitische Konzept. Ihr kam es darauf an, Adenauers Absicht, die SPD in der ganzen Bundesrepublik auszuschalten und ohnmächtig zu machen, zu durchkreuzen.«210 Walter Auerbach kehrte für zwölf weitere Jahre als Staatsekretär in das Sozialministerium, nunmehr unter seinem Parteifreund Georg Diederichs 211 , zurück.

Vertriebene und Flüchtlinge machten beinahe ein Drittel der Bevölkerung Niedersachsens aus. 212 Neben dem Sozialministerium hatte die Landesregierung und später auch die Bundesregierung ein Ministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegssachgeschädigte 213 errichtet. Zu den Herausforderungen Auerbachs und des Sozialministeriums bis weit in die Nachkriegszeit zählten neben

205 Drechsler/Hilligen/Neumann (Hrsg.): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, S. 116. 206 Beyer und Müller: Der Niedersächsische Landtag in den fünfziger Jahren, S. 611. 207 DP/CDU verfügten zusammen über 62 und SPD über 59 Landtagsmandate, in: Ebd., S. 729. 208 Ebd., S. 611 ff. 209 Ebd., S. 611. 210 Ebd., S. 615. 211 Dr. Georg Diederichs (1900-1983). 1957 Sozialminister, nach dem Tod von Ministerpräsident Kopf 1961-1969 Ministerpräsident von Niedersachsen. (Georg Diederichs, Personalia, AdsD). 212 »Niedersachsen hatte am 1.10.1954 eine Wohnbevölkerung von 6 580 685 Personen, davon waren: 1 693 860 = 25,4 % Vertriebene und 411 523 = 6,25 % Flüchtlinge«, in: Pressestelle der Niedersächsischen Landesregierung (Hrsg.): Aufbau 1951-1955. Ein Bericht der Niedersächsischen Landesregierung, Hannover 1955, S. 99. 213 Ebd. S. 98. 265 allgemeiner Sozialpolitik vordringlich die Sujets Wohnungsbau 214 und Versorgung von Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen. Ende 1954 lebten in Niedersachsen rund 630.000 Betroffene. 215 Basis für deren Versorgung bildete zwar das Bundesversorgungsgesetz, doch mit der Durchführung waren die Sozialministerien der Länder betraut. Das Niedersächsische Sozialministerium hatte zu seiner Unterstützung einen permanenten »Beirat für Kriegsopferrecht und soziale Fürsorge« 216 mit Repräsentanten aller betroffenen Verbände etabliert, deren »schöpferische Unruhe«217 der Auerbachs entsprach. In einer Ansprache verwies er auf die vorbildliche Rolle seines Landes, seine eigene sparte er aus: »Auf einem Gebiet aber kann Nds [Niedersachsen] auf eine besondere Leistung verweisen. Die Arbeits- und Sozialminister in Niedersachsen von Seebohm [Hans Christoph Seebohm, von 1949 bis 1966 Bundesminister für Verkehr] bis Diederichs … können stolz darauf sein, dass es bei uns möglich war, die Umschulungs- und Ausbildungseinrichtungen für Versehrte zu erhalten und so auszubauen, dass sie in ihrem Ansatz als vorbildlich gelten im Bundesgebiet, im europäischen Ausland, ja sogar in Amerika und im Fernen Osten.« 218 Das Niedersächsische Sozialministerium war auch verantwortlich für die Ressorts »Arbeit, Gesundheit, Wohnungswesen und Sozialhilfe … Das schützte vor Kästchendenken; denn es waren nicht nur die aktuellen Probleme im Lande zu beobachten und zu lösen, es war auch in vier relevanten Konferenzen der Länderminister und in drei Bundesratsausschüssen mitzuarbeiten.« 219 Auerbach als Ständiger Vertreter seines Landes nutzte die Einwirkungsmöglichkeiten in Bonn.

In dem Aufsatz Befreiung und Bindung durch soziale Leistungen definierte Auerbach seinen persönlichen Politikansatz so: »Unter Sozialpolitik im engeren Sinne verstehe ich die Gesamtheit der planmäßigen Maßnahmen, die der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz und der Würde des arbeitenden (und des nicht mehr arbeitsfähigen) Menschen und seiner Angehörigen dienen.« 220 Seine Definition beinhaltete Arbeitsrecht, Recht der Koalitionen, Tarifvertragsrecht,

214 »Von der Währungsreform bis Ende 1954 sind in Niedersachsen rd. 275 000 Wohnungen fertiggestellt und bezogen worden«, in: Bericht des Niedersächsischen Sozialministeriums: Soziales Niedersachsen. S. 5. 215 Ebd., S. 84 f. 216 Auerbach: Manuskript VdK [Verband der Kriegsopfer und Hinterbliebenen] Oldenburg, 13.9.1959 (NL W. Auerbach, Teil 2 Mappe, 420, AdsD). 217 Ebd. 218 Ebd. 219 Auerbach: Beiträge zur Sozialpolitik, S. 7 (Vorwort). 220 Auerbach: Befreiung und Bindung durch soziale Leistungen, S. 273. 266

Recht der Betriebsverfassung und des Arbeitsschutzes, das Gesundheitswesen und die Pflicht des Staates zu Sozialleistungen.221

Sechs Jahre später schloss er in der Evangelischen Akademie Loccum in einem Referat über Soziale Nöte der Überflußgesellschaft in diese Definition die Zuständigkeit der Individuen mit ein, betonte aber, »ich sage nur meine persönliche Meinung,« 222 er sprach nicht als Staatssekretär oder Parteipolitiker. Sein Auditorium forderte er auf, soziales Ethos »dreiteilig zu sehen, jeweils getrennt für den chorus der ‚Zuschauer’ oder für den chorus der ‚für gesellschaftliche Ordnung und Gerechtigkeit Verantwortlichen’ … den dritten besonderen chorus gibt es nicht. Verantwortlich für gesellschaftliche Ordnung in Freiheit und Gerechtigkeit sind wir alle, sind alle zur gesellschaftlichen Mündigkeit aufgerufenen Menschen - weil jeder von uns Verantwortung für den Mitmenschen trägt.« 223 Auerbach ging in diesem Grundsatzreferat, das bis in die Gegenwart hinein aktuell geblieben ist, davon aus, dass »Verantwortung für den Mitmenschen nur in Selbstverantwortung getragen werden kann … Notständen, die durch gesellschaftliche Zustände verursacht werden, kann weitgehend vorgebeugt werden. Persönlichen Schicksalsschlägen jedoch nicht. Hier kann oft nur lindernd geholfen werden.« 224 In seinen Überlegungen ging Auerbach davon aus, dass soziale Notstände in einer durch Industrieproduktion geprägten arbeitsteiligen Massengesellschaft durch soziale Zustände entstünden, und diese sozialen »Zustände werden von Menschen geschaffen und können von Menschen geändert werden.« 225 Für ihn stand bei der Realisierung sozialer Gerechtigkeit die individuelle Freiheitssphäre im Vordergrund: »Ausgangspunkt darf nur die Aufgabe sein, die Selbstbehauptung des Menschen in der Gesellschaft zu sichern, nicht jedoch ein Machtstreben von Organisationen und Dienststellen.« 226

Bereits im »ersten Weltkrieg hatte man in Großbritannien und dann in den USA und Kanada mit medizinischen und beruflichen Maßnahmen zur Vorbereitung der Wiedereingliederung Kriegsbeschädigter, mit sogenannten

221 Ebd. 222 Auerbach: Manuskript, 24.6.1962, Evangelische Akademie Loccum: Zur sozialen Verantwortung unserer Gesellschaft, S. 2 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 177, AdsD). 223 Ebd., S. 1. 224 Ebd., S. 2. 225 Leitsätze zum Referat Dr. Auerbach (Hannover): Zur sozialen Verantwortung unserer Gesellschaft, Loccum, 24.5.1962 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 177, AdsD). 226 Ebd. (Leitsatz 9). 267

Rehabilitationsmaßnahmen, begonnen, d.h. mit Maßnahmen zur Wiederherstellung des körperlich und seelisch Behinderten zu der bestmöglichen physischen, geistigen, sozialen, beruflichen Leistungsfähigkeit … In den USA wurden diese Maßnahmen schon 1920 auf alle Körperbeschädigten ausgedehnt. 1935 tat dann der New Deal Roosevelts einen bedeutsamen Schritt zu produktiven Sozialleistungen: Die Rehabilitationsmaßnahmen wurden systematisch ausgebaut,« 227 schrieb Auerbach in Mut zur sozialen Sicherheit und verwies auf eine im Jahr 1936 von den amerikanischen Mitgliedstaaten der Internationalen Arbeitsorganisation in Santiago de Chile verabschiedete Entschließung, die eine analoge Gesetzgebung in allen Staaten forderte. Die Philadelphia Charter von 1944 repetierte diese Empfehlung angesichts von Krieg und menschlichem Elend unverständlicherweise nicht. Seine Kenntnis angelsächsischer Sozialpolitik und die Begegnungen mit deutschen Kriegsgefangenen in England inspirierten Auerbach, gerade für diesen Personenkreis, aber auch für andere Kriegsopfer und Zivilbeschädigte, wegweisend für Landes- und Bundesregierungen den Rahmen für Rehabilitation zu schaffen. Das Schicksal der Kriegsgefangenen umriss er mit den Worten: »Isolierung und Kameradschaft … Isolierung - Abschnürung durch die Gewahrsamsmacht, oft verstärkt durch selbstgewählte Abkapselung - nach dem Schicksal der Verwundung oder im Entsetzen, als große Hoffnungen zerplatzten.« 228 Essentiell schien ihm neben Rehabilitation die Integration, also »die Heimkehrenden vor erneuter Isolation in der veränderten Heimat zu bewahren.« 229

Helmut Rohde sah Auerbach als Vorkämpfer auf dem Gebiet der medizinischen und psychischen Rehabilitation sowie in einem zweiten Schritt der beruflichen Qualifikation. 230 Auerbach selbst äußerte noch 1955 bei einer Veranstaltung zu diesem Komplex: »Wir betreten bei der Rehabilitation organisatorisches Niemandsland.« 231 Eine Dokumentation seines Ministeriums über Leistungen der Jahre 1953 und 1954 legte dar, »Niedersachsen hat sie [die Rehabilitation] in den letzten Jahren systematisch entwickelt.« 232 Gemeint war Auerbach, Anwalt der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Die Tragweite der Kriegseinwirkungen

227 Auerbach, Walter: Mut zur sozialen Sicherheit. Die drei Möglichkeiten einer Sozialreform, Köln 1955, S. 13. 228 Auerbach: Manuskript VdK Soltau, 26.5.1962 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 420, AdsD). 229 Ebd. 230 Gespräch Helmut Rohde mit der Vf.in, 13.10.2005, in Bonn. 231 Auerbach: Manuskript Fürsorgetag 1955 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 323, AdsD). 232 Bericht des Niedersächsischen Sozialministeriums: Soziales Niedersachsen, S. 90. 268 zeigte sich bei manchen Betroffenen erst Jahrzehnte später. »Wir haben vom Niedersächsischen Sozialministerium aus bereits erreicht,« 233 nicht so auf Bundesebene, schrieb Auerbach im Juni 1965 dem damaligen Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion, , »dass Spätschäden, die sich als Lebererkrankungen auswirken, auch als Spätfolgen anerkannt werden, tappen aber sowohl bei Spätheimkehrern als auch bei ehemaligen KZlern bei Fragen der Frühalterung noch etwas im Dunklen.« 234

Den Schwerpunkt physische und psychische Spätfolgen bei Kriegsgefangenen, auch benannt »Spätschäden und Frühalterung nach extremen Lebensverhältnissen,« 235 verfolgte Auerbach kontinuierlich bis weit in die 1960er Jahre hinein. Ansprechpartner waren Ärzte, Politiker, Delegierte von Verbandstagen der Kriegs- und Zivilbeschädigten und ärztliche Beiräte, die mit Unterstützung und Anerkennung nicht sparten. 236 Hans-Joachim Herberg, Autor von Vorzeitige Alterung und Kriegsgefangenschaft , 237 unterstrich Auerbachs »bewundernswerte Initiative in den Bemühungen, den ehemaligen Kriegsgefangenen Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen.« 238 Nicht nur über die Kanäle Bundesrat und Vermittlungsausschuss versuchte Auerbach Einfluss zu nehmen, er scheute auch nicht davor zurück, Lobbyisten gegen Entscheidungen der Bonner Legislative zu mobilisieren. Jochen Dauhs vom Bundesvorstand des Reichsbundes der Kriegs- und Zivilbeschädigten, Sozialrentner und Hinterbliebenen (Reichsbund) in Hamburg setzte er im Mai 1952 geradezu unter Handlungszwang: »Bitte überlege, ob Ihr zum Teuerungszulagengesetz weiter schweigen sollt oder nicht. Das Teuerungszulagengesetz ist eine sozialpolitische Spottgeburt des Finanzministers [Fritz Schäffer von der CSU], der ein sozialpolitisches Gesetz fabrizierte, das einfach nicht durchführbar war und infolgedessen durch eine Novelle durchführbar gemacht werden musste. Die Novelle enthielt wieder einige Stücke aus dem Tollhaus, vor allem soweit die Kriegsbeschädigten in Betracht kommen. Ich hatte meinem Minister den Vorschlag für den Bundesratsausschuss Arbeit mit auf den Weg gegeben, den Vermittlungsausschuss anzurufen, damit die Geschichten korrigiert werden. Er ist

233 Auerbach an Erler, 11.6.1965 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 419, AdsD). 234 Ebd. 235 Ebd. 236 Ebd. 237 Herberg, Hans-Joachim: Vorzeitige Alterung und Kriegsgefangenschaft, in: Ärztliche Praxis. Die Wochenzeitung des praktischen Arztes 15 (1963), Nr. 14, S. 1 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 417, AdsD). 238 Herberg an Auerbach, 25.10.1963 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 417, AdsD). 269 damit leider nicht durchgedrungen,« 239 auch kinderreichen Schwerstbehinderten den kompletten Teuerungsausgleich zu gewähren.

Eine Korrekturmöglichkeit in letzter Sekunde sah Auerbach in telegraphischen Appellen des Reichsbundes an die Landesregierungen, nach dem Scheitern im Ausschuss für Arbeit, »im Bundesrat den Vermittlungsausschuss anzurufen.« 240 Diese für einen deutschen Beamten konspirative Handlungsweise veranlasste Auerbach zu dem Aperçu in seinem Brief an Dauhs: »Erinnere Dich an Heines ‚grüss mich nicht unter den Linden’ und schneide den Kopf ab.« 241 Auerbach hätte auch ein weißes Blatt Papier und seinen nom de guerre Dirksen wählen können.

»Als Staatssekretär … öffentlich wenig in Erscheinung tretend, aber an der parteiinternen sozialpolitischen Programm- und Strategiediskussion maßgeblich (und vielfach zwischen divergierenden Meinungen vermittelnd) beteiligt, war Auerbach (nicht nur) in den fünfziger Jahren so etwas wie eine Graue Eminenz sozialdemokratischer Sozialpolitik.« 242 Er nutzte die Jahre der unfreiwilligen beruflichen Zwangspause zwischen 1955 und 1957 intensiv für seinen, den entscheidenden Part am Sozialplan für Deutschland (Sozialplan), 243 den außer ihm achtzehn Sozialpolitiker 244 verantworteten. Mit ihrer Initiative einer parteiübergreifend besetzten unabhängigen Studienkommission war die sozialdemokratische Opposition im Deutschen Bundestag gescheitert. 245 Ludwig Preller appellierte daraufhin an den Dortmunder Parteitag im September 1952: »Wir Sozialdemokraten haben in der kommenden Wahl sozialpolitisch etwas zu bieten. Davon wollen wir Gebrauch machen!« 246 Im Aufruf zur Mitarbeit hatte Erich Ollenhauer die Bedeutung für die Menschen postuliert: »Die bisherigen Bundesregierungen haben sich nicht zu umfassenden Taten durchringen können. Deshalb unterbreitet der Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei

239 Auerbach an Dauhs, 4.5.1952 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 414, AdsD). 240 Ebd. 241 Ebd. 242 Hockerts: Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland, S. 222 (Anm. 21). 243 Auerbach u.a.: Sozialplan für Deutschland. 244 Edmund Bruch, Hermann Ebert, Erdmuthe Falkenberg, Bruno Gleitze, Christa Hasenclever, Walter Henkelmann, Elinor Hubert, Ewin Jahn, Georg Jankowski, Lotte Lemke, Franz Lepinski, Anton Oel, Wilhelm Pieper, Ludwig Preller, Barbara von Renthe-Fink, Hans Reymann, Ernst Schellenberg und Hans Justus Schnorrenpfeil. 245 Auerbach: »Modell« eines Sozialplanes - Eine Skizze, in: Ders.: Mut zur sozialen Sicherheit, S. 39. 246 Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 24. bis 28. September 1952 in Dortmund (o.O.u.J.), S. 119. 270 diesen von einem Arbeitskreis sozialdemokratischer Sozialpolitiker 247 vorgelegten Sozialplan für Deutschland .» 248

Seiner Zeit voraus, hatte Auerbach bereits vor dem 1952er SPD-Parteitag bei einer Veranstaltung des Reichsbundes die Aufstellung eines umfassenden Sozialplanes öffentlich gefordert mit der Intention einer »Entflechtung des geschichtlich begründeten Gestrüpps unserer Sozialleistungen.« 249 Eine vorbereitende Skizze zum Sozialplan leitete er mit einer historischen Rückblende ein: »Unlösbar miteinander verwoben sind im Bewusstsein jedes Deutschen die Probleme der äußeren und der sozialen Sicherheit. Das hat seinen Grund nicht nur in der vielleicht zufälligen Gleichzeitigkeit der notwendigen Entscheidungen auf beiden Gebieten. Die Existenzangst, die in den Jahrhunderten der Entwicklung der arbeitsteiligen Wirtschaft zunehmend das Diesseitsbewusstsein erfasst hat, ist in den letzten 40 Jahren zu einem der beherrschenden Faktoren außenpolitischen und sozialpolitischen Denkens geworden. Alle großen politischen Auseinandersetzungen unserer Zeit stehen unter diesem Zeichen, auch … die Wahlen zu den Parlamenten.« 250

Sozialpolitik spielte in der 1953er Wahlkampagne indessen eine untergeordnete Rolle. Der SPD-Parteivorstand hatte sich für eine außenpolitisch orientierte Strategie entschieden. Die CDU/CSU verfehlte knapp die absolute Mehrheit, die SPD verzeichnete geringfügige Stimmenverluste. 251 Der seinerzeitige Bundesgeschäftsführer der CDU analysierte das Wahlergebnis mit Erleichterung: »Hätte die SPD wenigstens unmittelbar vor der Wahl ihre uferlose Obstruktion auf außenpolitischem Gebiet aufgegeben und statt dessen ihre ganze Kraft auf den sozialpolitischen Angriff konzentriert, dann wäre ihre Niederlage wahrscheinlich nicht so eindeutig ausgefallen.« 252

247 Sozialpolitischer Ausschuss beim SPD-Parteivorstand (Organ mit beratender Funktion). 248 Auerbach u.a.: Sozialplan für Deutschland, S. 7. 249 Auerbach: »Modell« eines Sozialplanes, S. 38 f. 250 Ebd., S. 38. 251 Ergebnis der Bundestagswahl 1953: CDU/CSU 45,2 % (243 Sitze), SPD 28,8 % (151 Sitze), FDP 9,5 % (48 Sitze), DP 3,3 % (15 Sitze), BP 1,7 %, BHE/GDP 5,9 % (27 Sitze), DZP 0,8 % (3 Sitze), KPD 2,2 %, Sonstige 2,6 %, in: Drechsler/Hilligen/Neumann (Hrsg.): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, S. 116. 252 Zit. nach Hockerts: Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland, S. 221 (Anm. 17): Protokoll der Sitzung des CDU-Bundesparteivorstands, 18. Januar 1954, S. 100. 271

Pfeiler in der deutschen Variante des Beveridge-Plans bildeten die Kategorien Gesundheitssicherung, Berufssicherung und Wirtschaftliche Sicherung. 253 Dazu zählten »eine menschenwürdige Mindestsicherung« 254 für Arbeiter und Angestellte im Alter, eine Sockelrente für Selbständige und eine Altenteil- Zuschußrente für Bauern. 255 Die »außerordentliche gedankliche Vorarbeit des Beveridge-Stabes, der Schweden und des Internationalen Arbeitsamtes,« 256 von Auerbach in seiner 1955 verfassten Skizze gerühmt, bestimmte seine Arbeit und die seiner Mitstreiter richtungsweisend. »Wie der Beveridge-Plan bezog auch der SPD-Sozialplan im Grundsatz die gesamte Bevölkerung in die Systeme des Gesundheitsdienstes und der wirtschaftlichen Sicherung ein,« 257 schreibt Hockerts und hebt hervor: »Die Rezeption des Beveridge-Plans wurde vor allem durch Auerbach gefördert,« 258 entgegen seiner früheren Distanzierung im Kontext mit der Debatte über Selbstverwaltungsorgane. Kollision mit Interessensgruppen sowie den Unionsparteien war vorprogrammiert aufgrund der geplanten Verlagerung »von der Beitragsfinanzierung (‚Versicherungsprinzip’) auf die Steuerfinanzierung (‚Versorgungsprinzip’).« 259

Aus sozialdemokratischer Perspektive lag in jener Zeit die Verantwortung der Existenzsicherung mit dem Recht auf eine Mindestrente noch primär beim Staat, demgegenüber »hielt die Union stärker an traditionellen Leitbildern bürgerlicher Lebensführung fest,« 260 wie eigenverantwortliche Vorsorge und Familie. Staatshilfe hatte Nachrangigkeit. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis innerhalb der SPD zeigte das Abstimmungsverhalten im Deutschen Bundestag bei der Rentenreform 1957, im Erscheinungsjahr des Sozialplanes , ein Spiegelbild der im politischen Alltag existierenden Schnittmenge. Dem von beiden Seiten hart erkämpften Kompromiss stimmten alle Abgeordneten von CDU/CSU und SPD zu. 261 Langfristig hatte die »niedrige Festrente der

253 Ebd., S. 222. 254 Auerbach u.a.: Sozialplan für Deutschland, S. 89. 255 Ebd. 256 Auerbach: »Modell« eines Sozialplanes, S. 39. 257 Hockerts: Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland, S. 225. 258 Ebd., S. 221 (Anm. 21). 259 Ebd., S. 226. 260 Ebd., S. 229. 261 Ebd., S. 421. 272

Beverigdegesetze« 262 in Großbritannien wie auch in Schweden mit einem analogen System zu massiver Unzufriedenheit geführt. 263

Auerbach befürchtete ähnliches für Deutschland. Drei Monate vor dem Godesberger Parteitag hatte er vergeblich bei der Parteispitze interveniert, auf den im Entwurf des Grundsatzprogramms festgelegten Passus zur Mindestrente zu verzichten mit der wahltaktischen Argumentation: »In beiden Ländern hat sich die sachlich berechtigte Forderung auf Abkehr von einer Festrente als wahlwirksam erwiesen. In der Bundesrepublik wird [sie] in der sozialversicherten Arbeitnehmerschaft als ein Rückschritt betrachtet werden.« 264 Auerbachs Appell versandete. Das Recht auf staatliche Mindestrente für alle Bürger fand Eingang in das Godesberger Programm von 1959, 265 »das das noch marxistisch geprägte Heidelberger Programm aus dem Jahr 1925 ablöste … Die SPD verstand sich nunmehr als Volkspartei .« 266 Wo stand Auerbach innerhalb dieser Partei nach Godesberg ? Heinz Reichwaldt, sein Nachfolger als Staatssekretär in Hannover, wusste: »Er war fest verwurzelt in der SPD und konnte sich mit dem Godesberger Programm anfreunden, weil Sozialismus darin enthalten war.« 267 Er apostrophierte seinen Freund aber auch als Marxisten. 268 Gerade dieser Ideologieballast sollte mit dem neuen Parteiprogramm überwunden werden. Beide Töchter folgerten aus den Gesprächen über Politik im Elternhaus: »Links von der Mitte; Vermittler zwischen den Flügeln; linker Pragmatiker,« 269 und Lore Auerbach vervollständigte das Bild mit den Worten »pragmatischer Marxist ohne ideologische Scheuklappen.« 270

Schwierig erschien zunächst die deutsche Konnotation des in der britischen Sozialpolitik verwendeten Begriffs social security. Inhaltlich galt für Beveridge: »Social Security means that subject to the fulfilment of citizen duties every citizen

262 Auerbach an Ollenhauer, von Knoeringen und Wehner, 31.8.1959 (NL Ludwig Preller, Mappe 93, AdsD). 263 Ebd. 264 Ebd. 265 »Jeder Bürger hat im Alter, bei Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit oder beim Tode des Ernährers Anspruch auf eine staatliche Mindestrente. Auf ihr bauen weitere, persönlich erworbene Rentenansprüche auf«, in: Godesberger Programm, Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Protokoll der Verhandlungen des Außerordentlichen Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 13. bis 15. November 1959 in Bad Godesberg, Bonn (o.O. u. J.), S. 22. 266 Drechsler/Hilligen/Neumann (Hrsg.): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, S. 683. 267 Gespräch Heinz Reichwaldt mit der Vf.in, 18.3.2006, in Bonn. 268 Ebd. 269 Gespräch Lore und Irene Auerbach mit der Vf.in, 12.12.2005, in Köln. 270 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 5.4.2006, in Bonn. 273 should be entitled, as a right, to a minimum provision against unavoidable misfortunes (sickness, unemployment, old age, etc. etc.).« 271 Seit der Jahreswende 1951/52 führten Auerbach und Lord Beveridge erneut Diskussionen über inhaltliche Fragen und auch über die Übersetzung des Begriffs social security . Auerbach schwankte zwischen Soziale Sicherheit , Soziales Sichern oder Soziale Sicherung und bat Beveridge um exakte themenzentrierte Ausdeutung: »It is the problem whether ‘social security’ has mainly a static or mainly a dynamic meaning and whether it should be translated by ‘Soziale Sicherheit’ or by ‘Soziale Sicherung’.«272 Auerbach bevorzugte den Begriff Soziale Sicherung , 273 der langfristig in Deutschland Allgemeingültigkeit bekam. Beveridge hingegen tendierte zu Soziale Sicherheit , es sei denn, »in German these words imply, in any way, that personal activity is superfluous then they would be misleading.«274

Knapp zwei Jahrzehnte später griff Auerbach in Zusammenhänge. Illusion und Wirklichkeit der sozialen Sicherheit das Thema erneut auf und diagnostizierte: »Im Laufe der Jahre hat sich in der Bundesrepublik der Begriff ‘soziale Sicherheit’ jedoch verengt. Heute versteht man im allgemeinen Sprachgebrauch unter ‚sozialer Sicherheit’ überwiegend nur das Geflecht der sozialen Leistungen. Damit geht der große Zusammenhang der Aufgaben verloren, die bewältigt werden müssen, damit der einzelne nicht in ständiger sozialer Gefährdung, nicht in ständiger sozialer Unsicherheit leben muß. Es geht um den wechselseitigen Zusammenhang der sozialen Leistungen mit dem Bereich des Rechts der Arbeit. Soziale Leistungen allein geben noch keine soziale Sicherheit.« 275 Auerbach plädierte für politische Korrekturen mit dem Ziel der Chancengleichheit. 276

Pater Oswald von Nell-Breuning und Walter Auerbach begleiteten einander seit den 1950er Jahren freundschaftlich mit konstruktiver Kritik. In Über das Miteinander von Sozialhilfe und freier Wohlfahrtspflege heute griff Auerbach ein Zitat aus der Zeit »unmittelbar nach der Zerschlagung einer menschenverachtenden Diktatur« 277 von Nell-Breunings auf, das ihr Miteinander

271 Lord Beveridge an Auerbach, 8.1.1952 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 193, AdsD). 272 Auerbach an Lord Beveridge, 28.12.1951 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 193, AdsD). 273 Ebd. 274 Lord Beveridge an Auerbach, 8. 1.1952 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 193, AdsD). 275 Auerbach: Zusammenhänge, S. 16. 276 Ebd., S. 17 ff. 277 Auerbach, Walter: Über das Miteinander von Sozialhilfe und freier Wohlfahrtspflege heute (1960), in: Ders: Beiträge zur Sozialpolitik, S. 148. 274 zu spiegeln schien: »Nach christlicher Lehre wahrt der Heilige Geist, der weht, wo er will, sich die Freiheit, auch im Herzen der Nichtchristen sein geheimnisvolles Wirken zu entfalten und die theologische Tugend der Caritas aufblühen zu lassen. So könnten der Christ und der Nichtchrist sogar in Übung der Caritas zusammenarbeiten.« 278 Von Nell-Breuning hielt Caritas langfristig für unzureichend, »hat aber auch Auerbach gegenüber klargemacht, dass nicht allein mit staatlicher Sozialpolitik die sozialen Probleme zu bewältigen sind.« 279 Beide lernten von einander. Auch die Dogmatiker der katholischen Soziallehre passten ihre Denkmodelle langsam der veränderten gesellschaftspolitischen Situation an, wie Auerbach in Klärung um den sozialen Rechtsstaat exemplarisch an Kardinal Höffner aufdeckte. 280 Darin hat Auerbach, so von Nell-Breuning in einem Nachruf, »in Frontstellung gegen eine unter den Staatsrechtlern einflußreiche Richtung, die dem sozialen Rechtsstaat den Verfassungsrang abspricht, nochmals … auf wenigen Seiten sein Verständnis der Sozialpolitik dargelegt; aus zwei unscheinbaren Fußnoten (24 und 25) 281 ersieht der Kundige, was die katholische Soziallehre von ihm [Auerbach] gelernt hat.«282 Was der Pater mit dem Hinweis auf zwei Fußnoten diskret andeutete, hatte Auerbach in seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte des Sozialen Rechtsstaats von der Französischen Revolution über die Ära Bismarck, die Gründung der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre so dargestellt: »Wie rasch sich jedoch unter der Wucht der tatsächlichen Entwicklung die Grundauffassung über das Wesen der Sozialpolitik ändert, zeigen zwei Thesen Joseph Höffners, des heutigen Kölner Kardinals. 1953 sah er in einer Veröffentlichung des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken noch in Sozialpolitik (im engeren Sinne) ein System der ‚Hilfsmaßnahmen zur Härtemilderung … 283 durch geeignete Maßnahmen im Rahmen der bestehenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung’ 24 – also eine Kombination von ‚Pflaster-Sozialpolitik’ à la Adolf Wagner und ‚Gruppenbefriedigung’ à la Zwiedineck-Südenhorst. Neun Jahre später zieht Höffner für die Sozialpolitik die Konsequenz aus der Entwicklung der industriellen Gesellschaft und rückt von seiner überholten

278 Zit. nach ebd. 279 Gespräch Helmut Rohde mit der Vf.in, 13.10.2005, in Bonn. 280 Auerbach: Klärung um den sozialen Rechtsstaat, in: Alfred Christmann u.a. (Hrsg.): Sozialpolitik. Ziele und Wege, Köln 1974, S. 275 f. 281 Fußnote 24: »Joseph Höffner, Soziale Sicherheit und Eigenverantwortung, Paderborn 1953, S. 6.« Fußnote 25: »Derselbe in Staatslexikon, 6. Aufl., S. 348«, in: Auerbach: Klärung um den sozialen Rechtsstaat, S. 278. 282 Nell-Breuning, von: Nachruf für Walter Auerbach †, S. 159. 283 Punkte im Original. 275

Auffassung ab: ‚Es muß deshalb (in der fortgeschrittenen industriellen Gesellschaft) als überholt bezeichnet werden, die Sozialpolitik am Pauperismus, an der Arbeiterfrage, am Klassenkampf zu orientieren oder in ihr ein sittliches Beruhigungsmittel oder ein Instrument zur Erhaltung alter Ordnungen zu sehen’ 25 .« 284

In seiner Auseinandersetzung mit dem Sozialplan bezeichnete von Nell-Breuning diesen als »in Wirklichkeit ein[en] Sozial leistungs plan. Die tragende Struktur der Gesellschaft, die Sozialverfassung oder Sozialordnung, wird nicht zur Diskussion gestellt, sondern als gegeben hingenommen. Selbst eine mit den Sozialleistungen so eng verknüpfte Angelegenheit wie die Verteilung des Sozialprodukts auf die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, z.B. die Anteile der Kontrakteinkommen, insbesondere des Faktoreneinkommens Arbeit einerseits, der Gewinn- oder Unternehmereinkommen andererseits, ist ausgeklammert.« 285 Diese Bedenken hegte auch Auerbach. Insgesamt attestierte von Nell-Breuning dem Sozialplan jedoch, dass er »eine wertvolle Diskussionsgrundlage für die durch die Rentengesetze vom Frühjahr 1957 nur in einer Einzelheit aufgegriffene Sozial leistungs reform« 286 sei, und anerkannte, dass »es den Verfassern gelungen ist, einen geschlossenen Entwurf vorzulegen ... der überhaupt einmal die Gesamtzusammenhänge im Querschnitt und Längsschnitt durchleuchtet.« 287 Er monierte aber, dass das Konvolut über Aussagen zu »einer Sozialreform, einer anzustrebenden Gestalt unserer gesellschaftlichen Ordnung« 288 nichts verraten hätte.

In einem Fazit, adressiert an von Nell-Breuning, resümierte Auerbach, dass den Verfassern des Sozialplans die Synthese zweier Pole gelungen war: »Nach Abschluss überrascht mich wie sehr die Übereinstimmung im Grundsätzlichen mit dem naturrechtlich begründeten sozialen Katholizismus und dem im evangelischen Verständnis wurzelnden Verantwortungsgefühl ist.« 289 Der Pater anerkannte Walter Auerbachs politisches Verdienst an der Programmatik des Sozialplans : »Bleibendes Dokument des Lebenswerks von Auerbach ist der von ihm in Zusammenarbeit mit mehreren anderen, vor allem E. Jahn und L. Preller ,

284 Auerbach: Klärung um den sozialen Rechtsstaat, S. 275 f. 285 Nell-Breuning, Oswald von: Sozialplan für Deutschland?, in: Stimmen der Zeit. Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart 83 (1957/1958), Nr. 1,S. 63. 286 Ebd., S. 66. 287 Ebd., S. 63 ff. 288 Ebd., S. 66. 289 Auerbach an von Nell-Breuning, 13.6.1957 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 598, AdsD). 276 aber eben doch unverkennbar unter seiner Führung erstellte ‚ Sozialplan für Deutschland’ (1957) … Der Sozialplan für Deutschland ist im wesentlichen noch zu Lebzeiten Auerbachs und unter seiner maßgeblichen Mitwirkung in die politische Praxis umgesetzt worden.« 290

Auerbachs Traum eines Bundeskanzlers und Bundesarbeitsministers aus den Reihen seiner Partei erfüllte sich spät. Zwei Jahrzehnte nach Gründung der Bundesrepublik stellte die Sozialdemokratie mit Willy Brandt erstmals den Bundeskanzler. Zwar ging die CDU/CSU aus der 1969er Bundestagswahl als stärkste Fraktion hervor, doch SPD und FDP verfügten über die Majorität der Mandate im Deutschen Bundestag und bildeten die Sozial-Liberale Koalition. 291 Persönlich kannten sich Brandt und Auerbach erst seit ihrer Remigration, aus Korrespondenzen aber bereits in den Jahren des Exils. Brandt hatte zunächst von Oslo aus und nach seiner Flucht von Norwegen nach Schweden von dort zusammen mit August Enderle die Widerstandsarbeit der ITF durch Informationen aus dem Deutschen Reich mitgetragen. Seine Kontaktpersonen waren deutsche Diplomaten, Kirchenmänner, Geschäftsreisende und Seeleute.

Brandt berief den inzwischen vierundsechzig Jahre alten sozialpolitischen Routinier zum Beamteten Staatssekretär 292 in das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Bundesarbeitsministerium) unter Minister Walter Arendt, Höhepunkt der Karriere Auerbachs. Seine Entscheidung für Bonn sah er in der Notwendigkeit, »dem ersten Arbeitsminister der SPD in der Bundesrepublik bei der für eine Umstellung notwendigen Weichenstellung zu assistieren,« 293 lehnte aber eine »Neun-Monats-Lückenbüsserei« 294 bis zum regulären Pensionsalter ab. Im Frühjahr 1970 kämpfte er aus persönlichen und politischen Motiven mit Erfolg um eine Verlängerung der Amtszeit über seinen 65. Geburtstag [22. Juli 1970] hinaus und begründete dies unter anderem gegenüber dem seinerzeitigen Kanzleramtsminister so: »Drei bedeutsame Vorhaben laufen im Augenblick im Ministerium oder laufen an. Das Betriebsverfassungsgesetz, das auch bei den kleinen Etappen durch politische Klippen geschleust werden muß;

290 Nell-Breuning, von: Nachruf für Walter Auerbach †, S. 163. 291 Ergebnis der Bundestagswahl 1969: CDU/CSU 46,1 % (242 Sitze), SPD 42,7 % (224 Sitze), FDP 5,8 % (30 Sitze), in: Drechsler/Hilligen/Neumann (Hrsg.): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, S. 116. 292 Anders als die Länderministerien verfügen Bundesministerien parallel zu Beamteten Staatssekretären über Parlamentarische Staatssekretäre mit einem Bundestagsmandat. 293 Auerbach an Ehmke, 21.4.1970 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 33, AdsD). 294 Ebd. 277 das Sozialbudget ist erst teilweise umgestellt und muß nunmehr vollständig aus der potentiellen Täuschungssphäre herausgeholt werden, und vor allem beginnen jetzt die Beratungen über das Sozialgesetzbuch. Bei diesem besteht die Gefahr eines Scheiterns an professoralem oder bürokratischem Schmalspurdenken.« 295

Die CDU/CSU-Herrschaft im Bundesarbeitsministerium, seit 1965 unter Hans Katzer, hatte im Apparat Strukturen gefestigt, die sozialdemokratischen Politikern fremd und abwehrend entgegenstanden. Auerbach hatte zwar seinerzeit gegenüber seiner Sekretärin geäußert, »Hans Katzer ist ein ganz fähiger Mann, nur in der falschen Partei.« 296 Im Parlament hatte eine Vielzahl sozialpolitischer Gesetzesvorlagen über Parteigrenzen hinaus Mehrheiten gefunden, teilweise jedoch erst im zweiten Anlauf durch Intervention der sozialdemokratisch regierten Bundesländer im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat. Bei seinem Eintritt in die Sozial-Liberale Koalition im Herbst 1969 galt Auerbachs Interesse weiterhin dem Komplex Rehabilitation. Sein Registrator, Jochem Flink, erinnerte: »Auerbach hatte das Thema ‚Rehabilitation’ aus Niedersachen mitgebracht. Für uns war es seinerzeit unbekannt, man konnte das Wort hier kaum buchstabieren.« 297 Er beschrieb ihn als einen Mann des Ausgleichs mit einem weichen sozialen Herz. Beeindruckt hatte die Mitarbeiter, dass der Staatssekretär gewachsene Hierarchien oft ignorierte und Sachbearbeiter persönlich aufsuchte, 298 für den Gewerkschafter Auerbach Selbstverständlichkeiten, die dem Abbau widernatürlicher Abgrenzung und der Effizienz der Arbeitsqualität dienten. Auch im Hannoveraner Ministerium war er bekannt dafür und für die Förderung fähiger Mitarbeiter, 299 eine Erfahrung, die auch Helmut Rohde gemacht hatte: »Für mich ist er [Walter Auerbach] Orientierung über Jahre hinweg gewesen. Bei ihm habe ich gelernt und erfahren, was soziale Politik ist und was bei ihrer Verwirklichung bedacht werden muss. Immer dann, wenn ich unsicher war, fand ich bei ihm Halt und Hilfe. Walter Auerbach hat viele fähig gemacht, schöpferisch arbeiten zu können.« 300 Sein Wechsel nach Bonn hatte in Hannover Spuren hinterlassen. »Das Ministerium ist seit Ihrem Fortgang wie gelähmt. Es muss wohl erst langsam wieder zu sich

295 Ebd. 296 Gespräch Rita Schulte mit der Vf.in, 4.7.2005, in Bonn. 297 Gespräch Jochem Flink mit der Vf.in, 4.7.2005, in Bonn. 298 Ders. 299 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 12.12.2005, in Köln. 300 Privatsammlung Lore Auerbach: Rohde an Käte Auerbach, März 1975. 278 kommen. Umso mehr werden Sie arbeiten müssen. Schade, ich würde Ihnen gerne dabei helfen,« 301 bedauerte seine Hannoveraner Sekretärin.

Auerbach blieben bis zur Pensionierung Ende April 1971 achtzehn Monate in der Bonner sozialpolitischen Schaltzentrale. Danach nahm er nahtlos die Berufung zum Vorsitzenden der Sachverständigenkommission zur Erstellung eines Ersten Sozialgesetzbuches an. Willy Brandt hatte in seiner ersten Regierungserklärung, im Bewusstsein vieler Menschen verbunden mit Brandts Devise »Wir wollen mehr Demokratie wagen,« 302 im Deutschen Bundestag proklamiert: »Die Bundesregierung ist dem sozialen Rechtsstaat 303 verpflichtet. Sie wird zur Verwirklichung dieses Verfassungsauftrags das unübersichtlich gewordene Arbeitsrecht in einem Arbeitsgesetzbuch 304 zusammenfassen. Sie wird auch mit den Arbeiten für ein den Anforderungen der Zeit entsprechendes Sozialgesetzbuch beginnen.« 305 Gefordert hatte bereits der Godesberger Parteitag von 1959 diese beiden Instrumente. 306

Ein Jahr nach Arbeitsbeginn des Gremiums, dem neben Auerbach neunundzwanzig Mitglieder aus Wissenschaft und Forschung, den Sozialverbänden, Regierungsbeamte aus Bund und Ländern und ein Bundesrichter angehörten, 307 wies Helmut Rohde erneut auf die Dringlichkeit der Initiative hin: »Das Sozialrecht ist für die meisten Bürger zu einem undurchsichtigen Dickicht geworden. Nur wenige Experten finden sich noch zurecht. Das soll jetzt anders werden. Das gesamte Sozialrecht soll vereinfacht und vereinheitlicht und damit für alle Bürger überschaubarer werden.« 308 Gedacht war nicht an eine Reform des Sozialleistungssystems, denn eine

301 Hilde Prätzlich an Auerbach, 4.11.1969 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 45, AdsD). 302 Brandt, Willy: Regierungserklärung 28. Oktober 1969, in: Archiv der Gegenwart 39 (1969), Bonn u.a. 1969, S. 15004. 303 Siehe auch Walter Auerbach: Klärung um den sozialen Rechtsstaat. 304 Beim »Arbeitsgesetzbuch [geht es] vor allem darum, Richterrecht überhaupt erst einmal in Gesetzesrecht zu transformieren. Das mag ein Grund dafür sein, warum der Gedanke des Arbeitsgesetzbuches sehr viel älter ist als der des Sozialgesetzbuches. Ist jener schon in der Weimarer Zeit virulent, so begegnet dieser, soweit zu sehen, erstmals im Godesberger Programm [herausgehoben im Original!] der SPD von 1959«, in: Hans F. Zacher: Das Vorhaben des Sozialgesetzbuches, Percha/Kempfenhausen 1973, S. 15. 305 Brandt: Regierungserklärung 28. Oktober 1969, S. 15008. 306 »Die gesamte Arbeits- und Sozialgesetzgebung ist einheitlich und übersichtlich in einem Arbeitsgesetzbuch und einem Sozialgesetzbuch zu ordnen«, in: Godesberger Programm, Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Protokoll Außerordentlicher Parteitag der SPD 1959, S. 23. 307 Liste der Mitglieder der Sachverständigenkommission für das Sozialgesetzbuch (Bestand Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, B 149/161012, Mappe 19, Zwischenarchiv, BArch). 308 Rohde, Helmut: Licht ins Rentendickicht, in: Hannoversche Presse, 12.6.1972. 279

»solche Kodifizierung kann wegen ihres Umfangs und der Kompliziertheit der Rechtsmaterie nur stufenweise verwirklicht werden.« 309 Die Sachverständigenkommission unter Auerbachs Ägide hatte inzwischen beinahe vier Jahre intensiver Beratungen hinter sich, Dutzende umfangreicher Gutachten, Entwürfe und Vorlagen für Legislative und Exekutive verfasst unter Berücksichtigung von Stellungnahmen der tangierten Ressorts, der Länder, der Sozialverbände, der Sozialpolitiker in den Regierungsfraktionen und des Bundestagsausschusses für Arbeit. 310

Im Sommer 1973 hatte die zweite Regierung Brandt 311 einen ersten Entwurf zum Allgemeinen Teil des Sozialgesetzbuches vorgelegt, den selbst das Handelsblatt anerkannte. Es titelte Ratenweise Licht ins Dickicht des Sozialrechts. Arendts Sozialgesetzbuch - ein Jahrhundertwerk.312 Die Planungen sahen vor, bis zur Bundestagswahl 1976 den Allgemeinen Teil , die Gemeinsamen Vorschriften für die Sozialversicherung und das Verwaltungsverfahren im Parlament zu verabschieden, um den Wählern eine Art sozialpolitischer Leistungsbilanz zu präsentieren. 313

Die Vollendung des sozialpolitischen Prestigeprojekts der Sozial-Liberalen Koalition erlebte Walter Auerbach nicht mehr. Den frühen Verlust der sozialpolitischen Koryphäe Auerbach betrauerte Pater von Nell-Breuning in seinem Nachruf: »Die Aufgabe, das undurchdringlich gewordene Dschungel unserer sozialen Gesetzgebung zu lichten und das Ganze unserer Sozialpolitik in einem übersichtlichen Gesetzbuch zusammenzufassen, hat Auerbach bedauerlicherweise nicht zu Ende führen können. Niemand anders war befähigter als er, diese Arbeit zwar nicht zu leisten – kein einzelner kann sie bewältigen -, wohl aber sie zu leiten … Nicht ganz 4 Jahre konnte er sich – frei von anderen Amtsgeschäften – ganz dieser ihm auf den Leib geschnittenen Aufgabe widmen.« 314

309 Referat IV/3 (Monika Wulf-Mathies) an Bundeskanzler Schmidt, 30.1.1975 (Bestand Helmut Schmidt, Mappe 7020, AdsD). 310 Bestand Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, B 149/161012-28, Mappe 19, Zwischenarchiv, BArch. 311 Ergebnis der Bundestagswahl 1969: CDU/CSU 44,8 % (225 Sitze), SPD 45,8 % (230 Sitze), FDP 8,4 % (41 Sitze), in: Drechsler/Hilligen/Neumann (Hrsg.): Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, S. 116. 312 Ratenweise Licht ins Dickicht des Sozialrechts, in: Handelsblatt, 23.7.1973. 313 Referat IV/3 (Wulf-Mathies) an Bundeskanzler Schmidt, 30.1.1975 (Bestand Helmut Schmidt, Mappe 7020, AdsD). 314 Nell-Breuning, von: Nachruf für Walter Auerbach †, S. 163. 280

Nur wenige Stunden vor Beginn einer von ihm anberaumten mehrtägigen Konferenz der Sachverständigenkommission 315 in Goslar starb Walter Auerbach in der Nacht zum 23. März 1975 in seiner Bad Godesberger Wohnung an einem Herzinfarkt. 316 Abrupt endete ein über weite Strecken steiniger Lebensweg, symbolisiert durch die Fotografie 317 Abstieg vom Similaun 318 seiner Tochter Irene aus dem Sommer 1953.

315 Die Sachverständigenkommission traf sich im monatlichen Rhythmus an mehreren Tagen. (Bestand Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, B 149/161012-28, Mappe 19, Zwischenarchiv, BArch). 316 Lore Auerbach an die Vf.in, 7.3.2002. 317 Privatsammlung Irene Auerbach: Walter und Käte Auerbach: Abstieg vom Similaun, aufgenommen von Irene Auerbach im Juli 1953. 318 »Der Similaun ist genau auf der Grenze zwischen Österreich und Italien, sprich: Nord- und Südtirol … dort war gerade schon der ganz kleine Grenzverkehr aus dem Ötztal erlaubt«, in: Irene Auerbach an Vf.in, 24.1.2006. 281

In einem Brief vom Dezember 1961 an Ehefrau Käte und Töchter Lore und Irene sinnierte Walter Auerbach: »Vielleicht ist es falsch, wenn ich den ewigen Sinn als wehenden Geist empfinde, wenn ich ihn Gott zu nennen wage, aber als unpersönliches Wesen zwischen Schöpfung und Nirwana. Vielleicht schwingt zu viel vom 1. Buch Mosis und der Edda, vom Evangelium Johannes und den Veden dabei mit. Wenn auf den Berggipfeln die Stille und das Leuchten und die Weite mich überwältigten, immer wieder neu – dann habe ich den Hauch und das Wehen der Unendlichkeit gespürt. Dann war ich Kreatur im Kreatürlichen. Dass Ihr, dass Du das mitspürten, das war höchstes Glück. Habt Dank dafür.« 319

319 Privatsammlung Lore Auerbach: Walter Auerbach: Abschiedsbrief, 30.12.1961. 282

6 Walter Auerbach und die Familie

Persönliches, Privates aus Familie und Exil

Ruhepole im rastlosen Alltag Walter Auerbachs lagen seit Jahrzehnten in alpinen Bergwelten, die er früh kennen- und liebengelernt hatte. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten wohlhabende Schweizer Bürger unterernährten Großstadtkindern Rekonvaleszenz angeboten, und er war eines von ihnen. 1 Später teilten seine Ehefrau und auch die Töchter [bis in die Gegenwart] seine Begeisterung. Jahr für Jahr verbrachten die Auerbachs die Sommerferien im Gebirge, zunächst in Oberbayern, dann im Ötztal in Österreich und, als die Einreiserestriktionen nach dem Zweiten Weltkrieg gelockert wurden, in der Schweiz. 2 Einundsechzigjährig hing der passionierte Bergsteiger Walter Auerbach, angeseilt und gesichert, pendelnd in einer Gletscherspalte. Todesangst spürte er nicht. 3 Er hatte andere Extremsituationen ohne Seil überstanden: Verhaftung in Berlin, Flucht in die Niederlande, Angst vor einer deutschen Invasion Großbritanniens, war nicht abgestürzt, nicht zerbrochen. Diese Gletscherspalte wirkt in seiner Biographie geradezu wie eine Metapher.

Zeitlebens schrieb er, doch selten über sich. Selbst in den handschriftlichen Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1965 bis 1967 4 beschränkte er Persönliches auf ein Minimum: »Ich möchte mir Rechenschaft darüber geben wie ich 12 Monate gearbeitet habe.« 5 Das ursprüngliche Verb »gelebt« hatte er korrigiert in »gearbeitet«. Die Eskapade in den Schweizer Bergen zählte zu den wenigen Ausnahmen: »Am 2. August [1965] bestiegen wir bei 30 cm Neuschnee den Chakütchin (= Kapuziner). Es ging leicht. Aber wir hatten auch fleissig trainiert - jeden Tag waren wir gelaufen. Am 3. wollten wir über den Sellapass zur Marco e

1 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 15.10.2001, in Bonn. 2 Irene Auerbach an Vf.in, 24.1.2006. 3 Auerbach: Tagebuch, Bd. 1, 3.8.1965, S. 43 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 2, AdsD). 4 Zwei Hefte, beginnend am 23.5.1965, S. 1 (Bd.1) und endend am 17.7.1967, S. 144 (Bd. 2): »Ein volles Jahr will ich eine Art Tagebuchnotizen führen. In der Erinnerung verdrängt ein Jahr das andere und ich möchte mir Rechenschaft darüber geben wie ich 12 Monate gearbeitet habe. Ohne meine Erlaubnis darf aus diesen privaten Notizen nichts veröffentlicht werden. Sollte ich die 12 Monate nicht überleben, so bitte ich den Finder dieser Hefte zu beachten, dass vielleicht zeitgeschichtlich Interessantes festgehalten wurde, das abseits der ‚großen Politik’ liegt und darum nicht anderweitig festgehalten wird. Fragen der Sozialpolitik stehen im ständigen Wechsel der Aspekte, ‚Urmaterial’ ist selten«, in: Auerbach: Tagebuch, Bd. 1, 23.5.1965, S. 1 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 2, AdsD). 5 Ebd. 283

Rosa-Hütte, um auf den Berina (Spallegrat) zu steigen. Diesen 3. August werde ich so schnell nicht vergessen. Kurz vor der Passhöhe brach ich in eine Gletscherspalte ein. Wir gingen am straffen Seil. Käte wurde auf den Rücken geworfen, aber Herr Willy sicherte grossartig. Ich fiel etwa 8 Meter tief. Die Spalte war wohl 30 Meter tief. Ich fiel mit den Füssen nach unten, verlor meinen Sonnenschutz-Überhang, aber weder Brille noch Pickel. Seltsamerweise hatte ich nicht das Gefühl, dass jetzt Schluss sei. Aber ich hatte auch kaum Initiative, ich wartete auf Weisung. Am Seil pendelnd versuchte ich, mich mit den Steigeisen zu stützen. Aber die Spalte erweiterte sich nach unten … Das Lichterspiel in der Spalte war wunderbar. Der silberweisse Gesamtton wurde tief unten grün und gelb überrieselt. Das Grün spielte ins Blau. Oben sicherte Herr Willy eisern. Herr Nigg erweiterte die Öffnung und zog mich ruckweise hoch. Oben gab es einen kurzen Handschlag. Dann bewegte ich Knochen um Knochen … Unterhalb der Marco e Rosahütte frühstückten wir. Es schmeckte grossartig … Wir hatten noch am Pass vereinbart, dass mein Spaltenabenteuer auf Jahre hinaus Geheimnis bleiben sollte; der Führer sollte keine Vorwürfe erhalten weil er bei Neuschnee diese spaltenreiche Passwanderung riskiert hatte und ich wollte nicht veräppelt werden … Am nächsten Tag stiegen wir auf die Bellavista. Es war ein überwältigender Rundblick. Der Eisnadel-Sturm war weniger schön … Die Woche darauf wollten wir von der Diavolezza-Hütte auf die Bernina … Jetzt aber hatte ich eine Art Nach-Schock. Bei Spalten ging ich zu langsam. Weil die Fortezza vereist war, stiegen wir noch einmal auf den Palü … Wehmütig war der Blick zur Bernina.« 6

Jahrelang ließen sich Auerbachs auf ihren Bergtouren von Paul Nigg führen und wussten von der schlechten Versorgungslage Schweizer Bergführer. Irene Auerbach, sie hat noch heute Kontakt zu Paul Nigg, schrieb: »In Gesprächen unterwegs stellte sich heraus, daß zu dem Zeitpunkt - frühe Siebziger Jahre – deren Alters- und Unfallversicherung praktisch nicht vorhanden war, und mein Vater half Paul Nigg und anderen im Führerverband, sich an die richtigen Leute zu wenden, daß sich das besserte.« 7 Nach »der Pensionierung [Ende April 1971] haben sich meine Eltern einen langgehegten Traum erfüllt. Sie mieteten sich … für 5 Monate in einer Ferienwohnung in Pontresina ein. Sie wollten dort Bergfrühling, Bergsommer und Bergherbst erleben. Sie hatten riesiges Pech, es

6 Ebd., Bd. 1, 3.8.1965, S. 43 ff. 7 Irene Auerbach an Vf.in, 24.1.2006. 284 war der schlechteste Sommer in Jahrzehnten, so dass sie längst nicht alles tun konnten, was sie sich vorgenommen hatten.« 8

Zurückgekehrt aus der Schweiz publizierte Walter Auerbach eine Anthologie mit einunddreißig sozialpolitischen Aufsätzen 9 aus fünfundzwanzig Jahren Nachkriegszeit. 10 Der langjähriger Freund und Gewerkschaftskollege aus Londoner Tagen, John Price, äußerte beeindruckt: »I had no idea that you had published so much on the problems of insurance and social policy, and I congratulate you on a very solid achievement. It was a pleasure to see you again in Geneva last year.«11

Die Belastung durch den Vorsitz der Sachverständigenkommission zur Erstellung eines Sozialgesetzbuches bot Auerbach wenig Freiraum für weitere Projekte. Unabhängig davon hatte er schon vor der Übersiedlung nach Bonn die Aussichtslosigkeit der eigenen Bearbeitung seiner voluminösen Dokumentensammlung erkannt und sie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Forschungszwecken angeboten. Professor Weisser, dem seinerzeitigen Vorsitzenden, schrieb er, ohne den »geradezu chaotischen Zustand«12 seines Nachlasses auch nur andeutungsweise zu erwähnen: »Ich bin Jahrgang 1905 und werde mit beginnendem Ruhestand nicht mehr in der Lage sein, das viele Material, von z.T. dokumentarischer Bedeutung oder Seltenheitswert, bei mir aufzubewahren.« 13 Er offerierte auch seine Kollektion »von Büchern und

8 Lore Auerbach an Vf.in, 7.3.2002. 9 »Ich lege diese Beiträge nicht abstrahierend vor, sondern in ihrer ursprünglichen Form als Beiträge im Ringen um die Gestaltung aktueller Sozialpolitik. Sie wurden zugleich Beiträge zu einer Theorie der Sozialpolitik in unserer hochindustriellen Gesellschaft,« schrieb Auerbach im Vorwort (S. 7 f.). Seine Themenbereiche: A Entwicklung der Grundsätze: I. Soziale Sicherung, II. Mitbürgerliche Hilfen, III. Soziale Gemeinschaftsaufgaben. B Grundsatzprobleme der Gesetzgebung: I. Rentenversicherung, II. Alterssicherung der Einzelhändler, III. Krankenversicherung, IV. Grundsatzfragen der Unfallversicherung, V. Kindergeld, VI. Stufenplan für Kriegsopferversorgung und VII. Selbstverwaltungswahlen, in: Auerbach: Beiträge zur Sozialpolitik. 10 Ebd. 11 Price an Auerbach, 22.12.1972 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 184, AdsD). 12 »Beide Nachlaßteile, insbesondere aber Teil 1 [1933-1946], befanden sich ursprünglich in einem geradezu chaotischen Zustand. Eine Registraturordnung war offensichtlich vom Nachlasser nicht vorgenommen worden. Das gesamte Schriftgut lag in vermischter Form vor. Broschüren, Korrespondenzen, Zeitungsausschnitte, Vermerke etc. waren nicht voneinander getrennt. Briefe, Manuskripte und andere Schriftstücke waren z.T. auseinandergerissen und mußten wieder zusammengefügt werden. Eine auch nur entfernt noch erkennbare Gliederung war also nicht vorgegeben«, in: AdsD: Findbuch, S. IV (NL W. Auerbach, Teil 1, AdsD). 13 Auerbach an Weisser, 3.2.1968 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 184, AdsD). 285

Broschüren, die direkt oder indirekt mit der Arbeiterbewegung im Zusammenhang stehen.«14

Die Archivalien der Epoche des Exils übergab er 1970 ungeordnet, jene der späteren Jahre, ebenfalls nicht systematisiert, erreichten das Archiv erst nach seinem Tod. Zum Inhaltlichen der Hinterlassenschaften führte er aus: »Wohl das Wertvollste ist eine vollständige, gebundene Sammlung der von mir von 1933 – 1945 als Einmannredaktion herausgegebenen gewerkschaftlichen Korrespondenz, die, als Veröffentlichung der ITF, zuerst als ‚Hakenkreuz über Deutschland’ und dann als ‚Faschismus’ erschienen ist. Durch irgendeinen Zufall habe ich auch meine Notizen zur Quellenbearbeitung gerettet. Zur wesentlichen Voraussetzung der Berichterstattung gehörte damals Spuren verwischen. Deshalb habe ich stets sorgfältig in jeder Ausgabe neben Originalberichten aus den Diktaturstaaten Material aus Nazipublikationen verwandt; einmal, um bei den Gewerkschaftsredaktionen die Glaubwürdigkeit zu untermauern, dann aber auch, um die Herkunft des illegalen Materials vor der Gestapo zu verschleiern.«15 In seinem Testament vom Dezember 1961 hatte Auerbach hervorgehoben, dass die Notizbände, die beiden Publikationen und die Korrespondenz mit den Gewährsleuten von historischer Bedeutung seien und das »vollständige dokumentarische Material über Aussperrung und Widerstand deutscher und europäischer Arbeiter unter faschistischer Diktatur« repräsentierten. 16

Das Phänomen Arbeiterwiderstand gehörte im Schulsystem der DDR zum Curriculum. In der Bundesrepublik blieb Widerstand aus dem Milieu der Arbeiterbewegung historischer Forschung vorbehalten. Weite Kreise im Westen kannten den 20. Juli und die Weiße Rose mit ihren wenigen herausragenden Persönlichkeiten. Und so kämpfte Auerbach noch aus der Retrospektive weiter um eine adäquate Anerkennung der »illegalen Betriebsgruppen, also Aktivgruppen nannten wir sie, um klar zu tun, Gewerkschaften gibt es nicht in der Illegalität. Die brauchen Demokratie, um überhaupt leben zu können und arbeiten zu können.« 17 Ein Forum für diese Zeitreise bot ihm die Podiumsdiskussion

14 Ebd. 15 Ebd. 16 Privatsammlung Lore Auerbach: Auerbach: Testament, 29.12.1961. 17 Auerbach: Westdeutscher Rundfunk (WDR): Linker Widerstand im nationalsozialistischen Deutschland, 28.4.1972, TV-Originalaufnahme, transkribiert von der Vf.in. 286

Linker Widerstand im nationalsozialistischen Deutschland,18 geleitet von Eugen Kogon 19 , die am 28. April 1972 vom Fernsehkanal des Westdeutschen Rundfunks (WDR) ausgestrahlt wurde. Der Zeitzeuge Auerbach erinnerte an die Demonstration am Tag der Arbeit [1. Mai 1933], »an der eine ganze Reihe Betriebe Mann für Mann antreten mussten … Das können wir uns nicht gefallen lassen oder besser, das will ich mir nicht gefallen lassen … Wir wollen nicht mitmachen, ein erster Schritt zur Selbständigkeit, sich nicht zu unterwerfen.«20 Davon ging eine Initialzündung aus, und die Parole lautete »Hitler ist der Krieg.« 21 Der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund im Oktober 1933 unterstrich diese These.

Für Kogon diente Betriebsgruppenarbeit zunächst der Substanzerhaltung, nicht aber der Beseitigung des Regimes, ging es doch den Multiplikatoren vordergründig um Proteste gegen Lohn- und Arbeitsbedingungen, Themen die auch Auerbach in Faschismus immer wieder behandelt hatte. Auerbach verwies auf das Flugblatt 22 »Willst Du gesund bleiben, dann musst Du die und die konspirativen Mittel anwenden, damit Du nicht geschnappt wirst. Du wirst noch nötig werden, man wird Dich brauchen.«23 Dass er das Pamphlet konzipiert hatte und die Verbreitung über illegale Kanäle von ITF und OSS erfolgte, verschwieg er dem Publikum, wie auch die eigene Rolle im Kampf gegen das nationalsozialistische Regime. Der nicht informierte Zuschauer erkannte nicht, dass er als politisch und rassisch Verfolgter 1933 aus Deutschland hatte flüchten und unfreiwillig im Exil leben müssen. Lakonisch stellte er sich vor: »Damals war

18 Linker Widerstand im nationalsozialistischen Deutschland, ausgestrahlt vom WDR- Fernsehen am 28.4.1972 unter der Rubrik Wochenendforum. Leitung: Eugen Kogon. Teilnehmer: Dr. Walter Auerbach; Hans Gottschalk, Mitautor und Mitproduzent der siebenteiligen Serie über die Rote Kapelle; Dr. Kurt Klotzbach, Leiter der Historischen Abteilung der Friedrich-Ebert-Stiftung; Professor Dr. Hans Mommsen, Ruhruniversität Bochum; Dr. Hans Joachim Reichardt, Landesarchiv Berlin; Dr. , Leiter von Archiv und Bibliothek des DGB. 19 Professor Dr. Eugen Kogon (1903-1987), 1939-1945 Konzentrationslager Buchenwald. Nach dem Krieg zusammen mit Walter Dirks Herausgeber der Frankfurter Hefte [seit 1984 Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte], 1951-1968 Professur für wissenschaftliche Politik an der Technischen Hochschule Darmstadt (Eugen Kogon, Personalia, AdsD). 20 Auerbach: Linker Widerstand im nationalsozialistischen Deutschland. 21 Ebd. 22 Das Flugblatt befindet sich nicht in den Beständen von Walter Auerbach, SOPADE und ITF bei der FES und auch nicht im ITF-Bestand der University of Warwick (Helen Ford, University of Warwick, an die Vf.in, 4.4.2006). Die FES verfügt über ca. 45.000 Flugblätter, von denen ein großer Teil unsortiert ist (Peter Pfister, FES, an die Vf.in, 4.4.2006). Es ist davon auszugehen, dass das Flugblatt »Willst Du gesund bleiben« unter anderem Auerbachs These vom Langsamarbeiten enthält. Dies diente gleichermaßen der Erhaltung der Gesundheit und der Sabotage (siehe Kapitel 3.4 und 4.1). 23 Auerbach: Linker Widerstand im nationalsozialistischen Deutschland. 287 ich Mitarbeiter der Internationalen Transportarbeiterföderation, erst in Amsterdam und dann in London, und danach war ich Staatssekretär in der britischen Zone, dann in Hannover und schließlich im Bundesarbeitsministerium,«24 analog zum Klappentext seiner 1971 publizierten Beiträge zur Sozialpolitik . Auerbach vermied konstant, die Widerstandsaktivitäten der ITF, bei denen Hans Jahn und er den wichtigsten Part gespielt hatten, und ihre Kooperation mit den Geheimdiensten der westlichen Alliierten publik zu machen. 25 Der zweite Zeitzeuge, Eugen Kogon, befand sich als politischer Häftling von 1939 bis 1945 im Konzentrationslager Buchenwald. Er behandelte seine Vergangenheit nicht minder diskret, ließ nur den Satz »Das kann ich aus den Konzentrationslagern bestätigen« 26 fallen als Antwort auf Auerbachs Hinweis auf Widerstandszirkel mit Arbeitern und Intellektuellen. Er nannte expressis verbis den Roten Stoßtrupp mit Küstermeier und Hering, die wie die Politischen in Buchenwald ihr Interesse auf die Frage »Was kommt nach Hitler?« 27 konzentriert hatten. Dieses Thema hatte auch auf der Agenda des politischen Exils Priorität. Die weiteren Diskutanten gehörten einer späteren Generation an.

Beim Thema Opfermut und hohem Anteil von Kommunisten an illegalen Widerstandsaktionen stimmten Auerbach und Mommsen zunächst überein. Auerbach wörtlich: »Ich möchte Herrn Mommsen in zwei Dingen unbedingt Recht geben, und zwar einmal, was er über die normale Tätigkeit zahlloser Kommunisten gesagt hat. Das war nur nichts Neues. Das haben die anderen Organisationen genauso gemacht, nur das muss ausdrücklich betont werden, bei Kommunisten sehr häufig unter Verletzung jeder Vorsicht … Das Aufopferungselement ist bei den Kommunisten stärker gewesen, soweit man das beurteilen kann. Aus Überkühnheit, nicht aus Naivität.« 28 Mommsen stellte die Dominanz kommunistischer Widerstandszellen exemplarisch am Ruhrgebiet dar: »Die übergroße Zahl derjenigen, die Widerstand geleistet haben, sind Kommunisten; Sozialdemokraten sind ein sehr kleiner Prozentsatz davon, wie die Verhaftungslisten uns ganz klar zeigen. Der kommunistische Widerstand hat in dieser Zeit … der Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland [1943 nach Stalingrad] eine wesentlich größere Rolle gespielt als der

24 Ebd. 25 Gespräch Hans Pelger mit der Vf.in., 21.3.2002, in Bonn. 26 Kogon: Linker Widerstand im nationalsozialistischen Deutschland. 27 Ebd. 28 Auerbach: ebd. 288 sozialdemokratische.« 29 Er begründete dies überzeugend mit der unterschiedlichen Zielkonzeption der beiden bis in die Gegenwart rivalisierenden politischen Weltanschauungen: »Für Kommunisten ist die proletarische Revolution, die Durchsetzung des Sozialismus, erklärte ideologische Grundlage, während die Sozialdemokraten, ähnlich übrigens wie Teile des konservativen Widerstands, eine gewisse Unsicherheit an den Tag legen, weil sie nicht sehen, was die Alternative des faschistischen Systems real sein soll, da sie zur Weimarer Republik auch nicht wieder zurückkehren wollen. Das erklärt die ungleiche Kräfteverteilung in der sozialistischen Widerstandsbewegung.« 30 Proletarische Revolution und Sozialismus waren Anfang der 1940er Jahre durchaus auch Thesen Auerbachs und der drei Koautoren von The Next Germany.31

Eine Woche nach der WDR-Veranstaltung widerrief Auerbach seine Anerkennung: »Nachträglich muss ich mich korrigieren, ich haette Ihrer These vom ganz besonderen Opfermut von Kommunisten im Widerstand nicht ohne weiteres zustimmen dürfen. Denn noch vorher waeren die Zeugen Jehovas, die Heiligen der letzten Tage usw. zu nennen gewesen. Sie waren die utopischen Radikalen in hoechster Potenz. Das mindert nicht den Opfermut vieler Kommunisten, Sozialisten, Konservativer, aber es zeigt, dass es sich um persoenliches Engagement handelt, das ueber Parteigrenzen nicht erfasst werden kann.« 32 Was bewog Auerbach zum Sinneswandel? Abgrenzung des Sozialdemokraten gegenüber Kommunisten, Tradition seit Weimarer Zeiten, oder Charakteristikum in den Zeiten des Kalten Krieges? Sein Erfahrungshorizont aus der Distanz des Exils unterschied sich von dem des Historikers Hans Mommsen. Dieser, drei Jahrzehnte später von der Verfasserin mit Auerbachs Dementi konfrontiert, erinnerte zwar den Vorgang nicht, doch bedeutete er in seiner Antwort: »In der Sache trifft es sicherlich zu, dass ich mich dafür verwandt habe, den kommunistischen Widerstand als solchen anzuerkennen.« 33 Er hatte sich im Verlauf des Diskurses wiederholt darum bemüht, dass das Publikum »doch die unendlich vielen Flugblätter und Aktivitäten gerade der kommunistischen Arbeiter sieht, die Fremdarbeitern helfen, die Kriegsgefangenen Lebensmittelkarten verschaffen, die also eine unglaubliche Fülle humaner Akte in diesem

29 Mommsen, ebd. 30 Ebd. 31 Auerbach u.a.: The Next Germany. 32 Auerbach an Mommsen, 6.5.1972 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 43, AdsD). 33 Mommsen an die Vf.in, 12.11.2005. 289

Widerstand vollbracht haben.« 34 Für Auerbach war dies unter anderem ein Echo auf die von politischen Emigranten und anderen Kennern der deutschen Mentalität konzipierten Kurzwellensendungen. Gerade über Hörfunk wurden in den letzten beiden Kriegsjahren Arbeiter, auch die Zwangsarbeiter in ihren jeweiligen Landessprachen, zunehmend zu Sabotageakten in rüstungsrelevanten Unternehmen und bei der Reichsbahn aufgerufen, mit der Warnung vor persönlichem Risiko. Auerbach verwies auf einen Gestapo-Bericht, adressiert an Betriebsleitungen, aus dem Jahr 1943 oder 1944. Darin »wurde davor gewarnt, die nicht gewählten, aber anerkannten Vertrauensleute der Belegschaft … zu attackieren. Das gäbe Unruhe, und Unruhe würde die Kriegswirtschaft stören. Nach 1943, nach Stalingrad, hat das Denunzieren erheblich nachgelassen, und dann war es möglich, größeren Vertrauensfundus aufzubauen, und das war praktisch das Erbe der illegalen Arbeit der ganzen Jahre vorher.« 35

In seinem Schlusswort attestierte Kogon dem Widerstand dennoch Effizienz. Er bewirkte zwar nicht den Umsturz, aber »ist es nicht eines der größten Verdienste des deutschen Widerstands gewesen, dass 1945 in der Tat breite Schichten mit Führungen hervortreten konnten, die sofort die Demokratie aufgebaut haben? Das finde ich doch, das ist eigentlich ein sehr guter Beweis, dass Substanzerhaltung von hohem Wert war, wenn auch die direkte Beseitigung des Regimes durch diese Gruppen nicht geleistet werden konnte.«36 Mommsen hatte zuvor hervorgehoben, »die Sozialdemokratische Partei war unmittelbar nach dem Zusammenbruch mit ihrer gesamten Organisation, mit ihren Mitgliedern wieder parat. Sie hatte, glaube ich, im Juni 1945 bereits 458.000 Mitglieder.«37

Das nationalsozialistische Unrechtssystem wirft Schatten bis in die Gegenwart. Einer betraf Depromotionen auf der Basis eines Gesetzes vom 7. Juni 1939. 38 Das Düsseldorfer Kultusministerium hatte die Universität zu Köln im Juni 1947 aufgefordert, diese zurückzunehmen, doch nichts geschah. Der Brief blieb unbearbeitet, unbeachtet im Universitätsarchiv. 39 Erst sechzig Jahre nach

34 Mommsen: Linker Widerstand im nationalsozialistischen Deutschland. 35 Auerbach, ebd. 36 Kogon, ebd. 37 Mommsen, ebd. 38 Szöllösi-Janze, Margit und Andreas Freitäger (Hrsg.): »Doktorgrad entzogen!«. Aberkennungen akademischer Titel an der Universität Köln 1933 bis 1945, Nümbrecht 2005, S. 119. 39 Der Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen an Seine Magnifizenz den Herrn Rektor der Universität Köln, 16.6.1947: »In den meisten Hochschulen ist die Frage der Wiederherstellung von Akademischen Graden bereits gelöst, sofern diese aus nationalsozialistischen Gründen entzogen waren. Für diejenigen Hochschulen, an 290

Kriegsende, am 12. Dezember 2005, rehabilitierte die Universität zu Köln post mortem Auerbach und andere. Die Historikerin Margit Szöllösi-Janze, der Universitätsarchivar Andreas Freitäger und Studierende hatten im Rahmen eines Hauptseminars Biographien von fünfundsechzig Persönlichkeiten 40 dokumentiert, denen der Rektor die entzogenen Titel im Rahmen eines Festaktes im voll besetzten Auditorium Maximum wieder zuerkannte.

In seiner Rede bekannte der Rektor: »Die Universität zu Köln stellt fest, dass durch Organe der Universität in den Jahren der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zwischen 1933 und 1945 im Namen der Universität aus politischen und rassistischen Gründen oder Motiven an Mitgliedern und Angehörigen der Universität Unrecht begangen worden ist. Die Universitätsorgane haben in diesen Jahren Doktorgrade entzogen, Relegationen von Studierenden vorgenommen und Verfolgungen eingeleitet, die zu Entlassungen, Vertreibungen oder Gefährdungen von Leib und Leben geführt haben. Eine nachträgliche Korrektur oder eine Wiedergutmachung des begangenen Unrechts ist heute nicht mehr möglich, so dass sich die Universität von der eigenen Schuld nicht durch einen einmaligen Akt befreien kann, zumal die Aufklärung dieser Vorgänge, die Auseinandersetzung mit ihnen und die Übernahme der Verantwortung für das seitens der Universität verübte Unrecht mehr als ein halbes Jahrhundert versäumt worden ist. Diese Akte der politischen Verfolgung haben die Menschenrechte verletzt. Sie waren willkürlich, menschenverachtend und einer Universität unwürdig. Sie widersprachen zutiefst den humanistischen Idealen, denen sich die Universität zu Köln heute verpflichtet fühlt. Die Universität hat sich an den Opfern dieser Willkürmaßnahmen schuldig gemacht und bekennt sich voller Scham zu ihrer Verantwortung. Die Universität erklärt weiterhin, dass die Aberkennung des Doktorgrades … wegen Sittenwidrigkeit nichtig ist und daher von Anfang an ungültig war.« 41

Nicht nur Auerbach, auch keiner der anderen Betroffenen erlebte die späte Rehabilitierung, und von den Angehörigen waren nur die Töchter Walter Auerbachs und Ossip K. Flechtheims anwesend. Unklarheiten über weitere Aberkennungen und eine gewisse Dunkelziffer schloss Freitäger nicht aus. Die

denen dies noch nicht abschließend geregelt ist, wird der Rat und erforderlichenfalls die Genehmigung erteilt, je nach dem Fall die betreffenden akademischen Grade wiederherzustellen. Es wird dann dem Titelträger mitzuteilen sein, dass die Entziehung des betreffenden Grades zu Unrecht geschehen und daher nichtig sei.«, Faksimile in: Szöllösi-Janze und Freitäger (Hrsg.): »Doktorgrad entzogen!«, S. 121. 40 Ebd., S. 8 ff. [Liste der von Depromotion betroffenen Persönlichkeiten]. 41 Freimuth, Axel: Erklärung, in: ebd., S. 7. 291

Zahl der ausgebürgerten Emigranten umfasste vierunddreißig Akademiker. Auch Zugehörigkeit zum Judentum, Homosexualität, Verstoß gegen § 218, Devisen- und Betrugsdelikte und Hochverrat legitimierten aus Sicht der Nationalsozialisten die Entscheidungen des seinerzeitigen Rektors Professor Otto Kuhn 42 und seiner Gremien. 43 Viele gerieten in Vergessenheit, blieben zumeist historisch Namenlose. Von einer begrenzten Öffentlichkeit im Nachkriegsdeutschland wahrgenommen wurden neben Walter Auerbach die Professoren Hans Mayer und Ossip K. Flechtheim. Der Oberstleutnant der US-Armee, Flechtheim, nahm als Sektions- und Bürochef beim US-amerikanischen Hauptankläger an den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen teil und nutzte seinen Deutschlandaufenthalt »für einen Antrag auf Erneuerung seines juristischen Doktordiploms an der Kölner Universität, dem laut Protokoll in der Fakultätssitzung am 10.4.1947 stattgegeben wurde,« 44 also vor der Empfehlung des Kultusministeriums. Auerbach hatte von der Depromotion im Amsterdamer Exil erfahren, aber, so Irene Auerbach, »den Doktortitel hat mein Vater weitergeführt, da die Maßnahme total unberechtigt war.« 45

Exkurs

Familienkontakte hatte Walter Auerbach zeitlebens verächtlich als Stammbaumkletterei abgetan. 46 Aus der weit verzweigten Auerbach-Familie 47 kannten seine Töchter über Jahrzehnte nur Philipp Auerbach, dessen zweite Ehefrau Margit und ihre gemeinsame Tochter Ruth.

Um Weihnachten 2005 begann eine späte Familienzusammenführung der Walter und Philipp Auerbach nachfolgenden Generation. Helen Rosenthal 48 , Tochter aus

42 Dekan der Philosophischen Fakultät an S. Magnifizenz, den Rektor der Universität Köln, Professor Dr. Otto Kuhn, 20.6.1939 (Altbestand Dekanatsakten Philosophische Fakultät, Promotionsakte Walter Auerbach, Zug. 44/568, Universitätsarchiv Köln). 43 Szöllösi-Janze und Freitäger (Hrsg.): »Doktorgrad entzogen!«, S. 45 f. 44 Kochann, Elke und Kerstin Theis: Dr. jur. Ossip K. Flechtheim, in: Szöllösi-Janze und Freitäger (Hrsg.): »Doktorgrad entzogen!«, S. 80. 45 Irene Auerbach, Universität zu Köln, 12.12.2005. 46 Irene Auerbach an die Vf.in, 2.4.2006. 47 Schmuel Auerbach an die Vf.in, 7.7.2002: »Wenn zur Zeit von Siegfried Auerbach [The Auerbach Family, London 1957 und 1962] insgesamt kaum Tausend zur Familie gehoerten, so leben heute allein in Israel einige Tausend.« 48 »I was born in Hamburg in 1933 and my mother quickly decided that Germany was not a safe haven for us. She convinced my father to move to Antwerp when I was approximately a year old … My father was taken away by the Gestapo and was first interned in Gurs. We ended up there as well … We stayed in Gurs for approximately one year, where I contracted a deadly form of impetigo. Due to the fact that my father 292 erster Ehe Philipp Auerbachs, wandte sich auf der Suche nach ihrer Halbschwester Ruth Robben 49 über den Umweg eines Wissenschaftlers und eines Archivars des Bayerischen Hauptstaatsarchivs in München an die Verfasserin dieser Studie. Der Brief aus New York 50 löste bei den Beteiligten emotionale Turbulenzen aus. Die beiden Halbschwestern wussten voneinander, die jüngere erst seit den 1970er Jahren. Kontakt hatten sie nie. Helen Rosenthal und Ruth Robben begegneten sich persönlich im Sommer 2006 und verbrachten eine Woche in Münchner Archiven auf den Spuren des Vaters, drei Tage lang zusammen mit den Töchtern Walter Auerbachs.

Die Begründung, neu für Ruth Robben, für das Verbleiben des Vaters im Nachkriegsdeutschland schilderte Helen Rosenthal: »I had very little real contact with my father after the war … on rare occasions, when he came to the United States. My mother and father divorced after my father decided he wanted to stay in Germany and, instead have us come to Germany. That was out of question for my mother and she already had in hand an affidavit for him to come to the US. His need to continue his work in Germany as well as to follow his political objectives was so strong, he could not be convinced to come here.«51 Philipp Auerbachs Biograph Hannes Ludyga, 52 der Helen Rosenthals Version nicht

was allowed to work with chemicals, I was cured. My mother and I, were able to get out through whatever machinations she was able perform. Our travels led us to Marseille, then through Spain and finally to Portugal. There we boarded the boat Niasa which took two weeks to arrive in Havana. We stayed two years in Cuba and then were given permission to come to New York«, in: Helen Rosenthal an die Vf.in, 28.12.2005. 49 Ruth Robben (Auerbach), geboren 1948 in München. »Ich gehöre zu denjenigen, die mit Schweigen aufgewachsen sind. Bei meiner Einschulung in München … wurden wir in der Klasse nach unseren Eltern gefragt. Ich sagte, dass mein Vater tot ist. Daraufhin ein Mädchen: Der hat sich umgebracht. So wurde ich zum ersten Mal mit der Familiengeschichte konfrontiert … Meine Mutter … ging mit mir, ich war zehn Jahre alt, nach Kolumbien. In Bogotá besuchte ich eine amerikanische Schule und wurde dort im Geschichtsunterricht wiederum mit meinem Vater konfrontiert … Erst sehr spät durch eine Erbschaftsangelegenheit … habe ich erfahren, dass ich in USA eine Schwester, Helen Rosenthal, habe. Kontakt hatte ich nie zu ihr«, in: Gespräch Ruth Robben mit der Vf.in, 2.10.2001, in Bonn [Ruth Robben lebt in Menden/Sauerland]. 50 »Dear Ms. Babendreyer … David Heredia … wrote to me that you had worked for my uncle Walter Auerbach at the University Duisburg-Essen (Prof. Peter Alter) and had had some contact with one of my father’s secretaries. My reason for writing you is that if the secretary you knew was his second wife, Margit, then would you perhaps know her present address. The last information I had was that she and their daughter, Ruth, went to South America after my father passed away. If you have any information about either one of them, would you be kind enough to share that with me«, in: Helen Rosenthal an die Vf.in, 16.12.2005. 51 Helen Rosenthal an Lore und Irene Auerbach, 10.2.2006. 52 Ludyga, Hannes: Philipp Auerbach (1906-1952). »Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte«, Berlin 2005. 293 kannte, bestätigt die Darstellung der Geschehnisse nach der Befreiung im Konzentrationslager Buchenwald: »Er blieb bewußt in Deutschland, da er nicht wollte, daß die Juden die ‚Testamentsvollstrecker Adolf Hitlers’ würden, indem sie Deutschland erbittert verließen. Auerbach war von dem Wunsch geleitet, zu einem demokratischen Neuaufbau Deutschlands beizutragen.« 53

Helen Rosenthal hatte als achtjähriges Kind im französischen Internierungslager Gurs den damals unbeabsichtigten Titelmissbrauch des Vaters miterlebt: »As you know, he worked with chemicals in the camps and people referred to him there as Dr. Auerbach. He admitted that he was loath to give up the title once he was liberated and continued to use it thereafter. That was the only charge against him which was legally sustained.« 54 Im Jahr 1949 reichte er an der Friedrich- Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg eine Dissertation zum Thema Wesen und Formen des Widerstandes im 3. Reich ein. Seine Zeilen an Bruder und Schwägerin »Ich wollte Euch nur in aller Kürze mitteilen, dass ich gestern in Erlangen mit magna cum laude meine Doktorprüfung für Philosophie abgelegt habe« 55 lösten neben einem Glückwunsch auch Befremden aus, war dort doch bekannt, dass Philipp Auerbach weder Abitur noch Studium hatte: »Du kannst Dir vorstellen, wie überrascht wir waren und wie neugierig wir jetzt sind, worin Du eigentlich promoviertest und worüber.« 56 Die Staatsanwaltschaft im spektakulären Münchner Prozess gegen Philipp Auerbach nahm in die Anklageschrift neben diversen betrügerischen Delikten und Amtsmissbrauch den umstrittenen Titel auf. Philipp Auerbach hatte sich gegenüber den Düsseldorfer und Münchner Behörden »im offiziellen Verkehr als ‚Dr. Auerbach’ bezeichnet[e].« 57 Begleitet wurde das Verfahren von etwa achtzig Berichterstattern aus dem In- und Ausland 58 und vom Committee on Fair Play for Auerbach 59 , gegründet in New York von Bruno Weil 60 und anderen 61 »zur

53 Zit. nach Ludyga: Philipp Auerbach (1906-1952), S. 34 (Berliner Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 8.8.1952). 54 Helen Rosenthal an Irene Auerbach, 20.3.2006. 55 Philipp Auerbach an Walter und Käte Auerbach, 29.6.1949 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 31, AdsD). 56 Walter Auerbach an Philipp Auerbach, 3.7.1949 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 31, AdsD). 57 Ludyga: Philipp Auerbach (1906-1952), S. 127. 58 Ebd., S. 121. 59 »Die Axis Victims League, eine 1943 von amerikanischen Juden gegründete Interessenvertretung von Verfolgten, stellte sich dagegen hinter ihn [Philipp Auerbach] und gründete ein Committee for Fair Play for Auerbach«, in: Christian Pross: Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer, Berlin 2001, S. 76. 60 Dr. Bruno Weil (1883-1961), 1935 Emigration, 1939 Reise von New York nach Paris, Internierung in Frankreich, 1940 Flucht in die USA und weiter nach Argentinien. 294 politischen, moralischen und finanziellen Unterstützung Auerbachs und seiner Familie.« 62 Kurz vor der Urteilsverkündung ließ Weil Auerbach wissen, »derjenige Teil unserer Arbeit [ist] am wenigsten erfolgreich gewesen, der sich mit der Beschaffung von Geldmitteln zur Unterstützung der Verteidigung und Ihrer Familie beschäftigen sollte … Immerhin hat mir das Komitee vor der Abreise aus New York 200,- $ zur Verfügung gestellt … zur Verwendung für Sie und Ihre Familie … ein Tropfen auf den heißen Stein.« 63 Auerbach bedankte sich umgehend »für die moralische Stütze die Sie mir in so einer Zeit gegeben haben, wo mich das sogenannte deutsche Judentum nur per weiter Distanz kennen wollte.« 64 Weil zeigte in einer längeren Synopse Parallelen und Divergenzen der Prozesse gegen Dreyfus (1894) in Paris und Auerbach (1952) in München, beide Juden, auf. 65 Er hatte beide Protagonisten persönlich gekannt und deren Gerichtsverfahren verfolgt. 66

Die Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland berichtete wenige Tage nach Prozessauftakt, dass Auerbach »sich schuldig bekannte, den Doktortitel geführt zu haben, obwohl er dazu nicht berechtigt war. ‚Ich gebe zu,

Später Rückkehr in die USA, in: Röder/Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, Bd. 1, S. 803 f. 61 »Board of Directors: Dr. Bruno Weil, Chairman, Prof. James H. Sheldon, Dr. Julius B. Weigert, Dr. Armand Eisler, Dr. Adolf Hamburger, Paul Stein, Dr. Otto L. Walter, Kurt R. Grossmann.« [Briefbogen Committee on Fair Play for Auerbach]. 62 Ludyga: Philipp Auerbach (1906-1952), S. 120. 63 Weil an Philipp Auerbach, 5.8.1952 (Axis Victims League Collection, Reel 3, 1/32-2/12, Nr.19, Leo Baeck Institut New York im Jüdischen Museum Berlin). 64 Philipp Auerbach an Weil, 8.8.1952 (Axis Victims League Collection, Reel 3, 1/32-2/12, Nr. 20, Leo Baeck Institut New York im Jüdischen Museum Berlin). 65 »Es gibt sicher heute nur sehr wenige Menschen, die Dreyfus und Auerbach beide wie ich persönlich gekannt haben. Es gibt kaum einen, der Gelegenheit hatte, in beiden Fällen eine, wenn auch nur bescheidene, Rolle zu spielen: Ich, der die Akten des Deutschen Auswärtigen Amtes zur Veröffentlichung brachte, durch die der letzte Beweis der Unschuld des Hauptmanns Dreyfus erbracht worden ist [1906 freigesprochen], und der jetzt durch die Gründung des Amerikanischen Auerbach- Komitees den Versuch unternahm, der Welt die Bedeutung des Falles zu demonstrieren … In beiden Fällen handelte es sich um einen Juden. In dem einen um einen Hauptmann, der als erster Jude eine Stellung im französischen Generalstab nach der schweren Niederlage von 1870 einzunehmen berufen wurde. In dem anderen um einen Mann, der nach der dramatischen Vernichtung der deutschen Juden und nach der Niederlage von 1945 als Erster zu einer aussergewöhnlichen Stellung und zu hohen Ehren in dem Beamtenkörper eines deutschen Landes aufstieg. Beide waren von Neidern und Intriganten umgeben. Aber bei beiden wäre es falsch, behaupten zu wollen, dass der Antisemitismus der einzige Grund zu ihrer Verfolgung und Verurteilung gewesen wäre. Aber er spielte als Begleiterscheinung … in beiden Fällen eine wichtige Rolle … Niemals gleichen sich zwei Vorgänge in der Weltgeschichte … Aber im Kern lassen sich trotz ihres strafrechtlichen Gewandes die Vorgänge von 1894 wie die von 1952 auf einen Kampf gegen die Demokratie zurückführen. Wird es in Deutschland Männer wie Clemenceau und Zola geben?«, in: Bruno Weil: Dreyfus und Auerbach, New York 1952, S. 1 ff. 66 Ebd., S. 1. 295 daß ich nach jahrelanger KZ-Haft nicht mehr den moralischen Widerstand besaß, der Versuchung zu widerstehen.’ … Später habe er dann, um diese ‚erste Lüge’ seines Lebens vor sich selbst zu rechtfertigen, bei der Universität Erlangen eine Doktordissertation eingereicht, die von ihm selbst in eigener Arbeit gefertigt wurde.« 67 Wesentliche Anklagepunkte wurden fallengelassen, die verbliebenen und der Titelmissbrauch reichten dennoch für eine Gefängnisstrafe von zweieinhalb Jahren und eine Geldstrafe in Höhe von 2.700,- DM.

Gerhard Fürmetz, verantwortlich für Philipp Auerbachs Nachlass im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, schrieb: »Am Ende kam der unberechtigten Führung des Doktortitels dann doch erhebliche Bedeutung für das Urteil zu, da ja zahlreiche ursprünglich gewichtigere Anklagepunkte fallen gelassen worden waren. Der Erlanger Doktortitel hat sich m.E. sogar negativ für Auerbach ausgewirkt, weil er den Anschein erweckte, Auerbach habe sich zum zweiten Mal einen akademischen Grad erschwindeln wollen. Die Doktorgeschichte konnte so als besonders augenfälliger ‚Beweis’ für das angeblich betrügerische Verhalten Auerbachs dienen und so auch der Öffentlichkeit präsentiert werden.« 68

Ludyga zitiert in seiner Biographie über Philipp Auerbach aus dem Urteil, dass Auerbach »sich nach Auffassung der Richter [die Dissertation] von einem Journalisten und einem Studenten [hatte] schreiben lassen.« 69 Für ihn »umfaßte der Titelmißbrauch um die vier Monate Freiheitsstrafe.« 70 Wie auch die Richter unterstellte Fürmetz: »Angesichts seiner dienstlichen Belastung ist klar, dass ihm die Anfertigung einer Dissertationsschrift nicht ohne fremde Hilfe möglich sein konnte.« 71 Ludygas Recherche im Universitätsarchiv Erlangen widersprach dieser Auffassung. Die Materialien belegen, dass »der die Dissertation betreuende Hans Joachim Schoeps von einer eigenständigen Anfertigung der Arbeit durch Auerbach überzeugt war.« 72 Ein Verfahren zur Aberkennung des Titels stellte die Erlanger Universität nach dem Tod Philipp Auerbachs ein. 73 Der Suizid 74 unmittelbar nach der Urteilsverkündung hatte das Interesse von Öffentlichkeit und Presse an der Auerbach-Affäre keinesfalls beendet. Je nach Couleur waren die Reaktionen Betroffenheit oder subtiler, zuweilen auch offener

67 Allgemeine Wochenzeitung der Juden in Deutschland, 18.4.1952. 68 Fürmetz an die Vf.in, 31.3.2006. 69 Ludyga: Philipp Auerbach (1906-1952), S. 127. 70 Ludyga an die Vf.in, 3.4.2006. 71 Fürmetz an die Vf.in, 31.3.2006. 72 Ludyga: Philipp Auerbach (1906-1952), S. 133. 73 Ludyga an die Vf.in, 3.4.2006. 74 † 16. August 1952. 296

Antisemitismus. Ein Kondolenzbrief Heinrich Albertz’ an seinen Staatssekretär zum Freitod des Bruders spiegelte die Resonanz eines Nachdenklichen trefflich: »Über alles Persönliche, Bittere, Zwielichtige hinaus ist dieser Tod nun doch ein gewisses Zeichen in Deutschland geworden. Ich glaube, dass viele nachdenklich geworden sind in diesem seltsamen Volk.« 75 Für Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, zählte Philipp Auerbach zu den letzten »der charismatischen jüdischen Repräsentanten, die während der unmittelbaren Nachkriegsjahre die politische Interessenvertretung der Juden prägten.« 76

Der Bayerische Landtag hatte im Jahr 1953 einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Sein abschließendes Urteil unter Ausklammerung des Titelmissbrauchs rehabilitierte Philipp Auerbach »letztlich in vollem Umfang.« 77

Ob und wo sich die Wege der Brüder Walter und Philipp Auerbach nach ihrer Emigration kreuzten, in Antwerpen oder später in London, bleibt im Dunklen. Dokumentiert durch Gestapo-Akten war, dass Philipp Auerbachs Antwerpener Firmen Sprengstoffe und waffenfähige Chemikalien an die republikanische Seite im Spanischen Bürgerkrieg exportierten 78 und als nützlich »für ihn erwies sich dabei die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Transportarbeiterverband.« 79 Ohne Kooperation mit Fimmens und Knüfkens weit verzweigtem Netz konspirativ arbeitender ITF-Vertrauensleute im Hafen von Antwerpen 80 hätte Philipp Auerbach seine illegalen Importe aus Deutschland und Exporte nach Spanien kaum abwickeln können. Nach seiner Ausweisung aus den Niederlanden lebte Hans Jahn [Pseudonym Fritz Kramer] in Antwerpen. Die Korrespondenz mit ihm lief unter Walter Auerbachs nom de guerre Walter Dirksen. Jahn wusste, wer sich dahinter verbarg. Jahn und Fimmen hätten bei der Erwähnung des Namens Philipp Auerbach gestutzt und vorsichtig nachgehakt, Knüfken vermutlich nicht. Eine Begegnung der beiden Brüder in Antwerpen vor Kriegsausbruch bleibt also hypothetisch. Helen Rosenthal wusste zwar, »that my father was involved with the fight against the Franco regime. I remember being told that he went to Spain

75 Alberts an Auerbach, 20.8.1952 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 29, AdsD). 76 Zit. nach Ludyga: Philipp Auerbach (1906-1952), S. 135. 77 Ebd., S. 130 f. 78 Ebd. und Deutsches Generalsekretariat für Belgien, Antwerpen, an das Auswärtige Amt, Berlin, 14.4.1938 (Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Inland II A/B, 83-76 Ausbürgerungen (R 100010) [hier: Philipp Auerbach]. 79 Ludyga: Philipp Auerbach (1906-1952), S. 24. 80 Siehe Kapitel 3.4. 297 to deliver gas masks thinking that gas would be used again as it had been in WWI [World War I],« 81 aber »I know absolutely nothing about the ITF.« 82

Auch das erste Treffen der Brüder nach dem Ende des Krieges ist nicht rekonstruierbar. Philipp Auerbach nahm im Februar/März 1946 am Jüdischen Weltkongress in London teil,83 und Walter Auerbach reiste zeitgleich im Auftrag der ITF durch die drei westdeutschen Besatzungszonen und nach Berlin. 84 Der erste überlieferte Brief Philipp Auerbachs an den Bruder in London datiert vom Sommer 1946, dessen Inhalt könnte, muss aber nicht darauf hindeuten, dass frühere aus der Nachkriegszeit existierten: »Ich habe lange von Dir nichts gehört, habe aber inzwischen bei Victor Agartz einen Brief gelesen, den Du ihm geschrieben hast. Ich freue mich sehr, wenn Du und Deine Familie im nächsten Monat nach hier kommst. Darf ich Dir anbieten, bis Du für Dich und Deine Familie Wohnung findest, Deine Frau und Deine Kinder, evtl. Du selbst, zu mir zu kommen? Ich werde alles tun, um Euch den Übergang nach hier zu erleichtern.« 85 Walter Auerbach lehnte ab mit der Begründung, seine Töchter nicht dem Einfluß der »Rabbinatskirche, deren technischer Organisation« 86 sein Bruder in Düsseldorf vorstand, aussetzen zu wollen.87

Lore und Irene Auerbach lernten den Onkel erst nach der Remigration kennen: »Es muss im Frühjahr 1947 … gewesen sein, als er uns einmal in Lemgo besuchte. Ich war fassungslos über sein Körpervolumen [Drüsenerkrankung seit Kindertagen], konnte gar nicht begreifen, wie er in der Notzeit dazu gekommen sein konnte. Aber genau so fasziniert war ich von seinem gummiballähnlichen Temperament, seiner Fröhlichkeit und seinem Witz … Die beiden Brüder waren sehr verschieden…« 88 Im persönlichen Gespräch ergänzte Lore Auerbach: »Das alter ego des jeweils anderen in jeder Hinsicht.« 89

81 Helen Rosenthal an Irene Auerbach, 20.3.2006. 82 Ebd. 83 Ludyga: Philipp Auerbach (1906-1952), S. 41. 84 Siehe Kapitel 4.4. 85 Philipp Auerbach an Walter Auerbach, 21.8.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 64, AdsD). 86 Walter Auerbach an Philipp Auerbach, 5.9.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 65, AdsD). 87 Ebd. 88 Lore Auerbach an Vf.in, 12.10.2002 [Punkte im Original]. 89 Gespräch Lore Auerbach mit der Vf.in, 5.4.2006. 298

7 Schlussbetrachtung

Das Zeitalter der Extreme titelte der britische Historiker Eric Hobsbawm (geboren 1917) seine Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, für ihn das »kurze 20. Jahrhundert«1, der Zeitraum »von 1914 bis zum Ende der Sowjetzeit« 2. Entlang dieser Zeitschiene begleitete Walter Auerbach, der Zeitungswissenschaftler, Soziologe und Historiker, gesellschaftliche und politische Entwicklungen, überzeugt »Geschichte hilft Gegenwart erkennen«. 3 Auerbachs Lebenszeit endete abrupt im März 1975, das Ende des Kalten Krieges und die Wiedervereinigung beider deutschen Staaten erlebte er nicht mehr. Der eine, der Marxist Hobsbawm, beobachtete das globale Weltgeschehen, der andere, der zwölf Jahre ältere Auerbach, lenkte früh den Fokus auf die internationale Arbeiterbewegung und die Soziale Frage, wurde Gewerkschafter, später Sozialpolitiker 4. Politiker und Intellektueller zugleich, spannte er den Bogen zur Synthese von Praxis und Theorie, Wissenschaft und Politik. Auerbach erkannte bereits vor Eintritt ins Berufsleben die Ausbeutung von Arbeitern und Akademikern durch zunehmende Spezialisierung. In der Kölner Universitäts- Zeitung schrieb er: »Nun jedoch ist der geistige Arbeiter Lohnarbeiter wie der Handarbeiter der Fabriken. Seine Erfindungen – die Chemiker Leverkusens wissen davon zu erzählen – gehören dem Unternehmer. Nur Arbeitsleistung wird bezahlt.« 5 Er nannte es »Proletarisierung der geistigen Arbeiter.« 6

Auerbachs politisches Engagement, er war »Führer der Kölner sozialistischen Studenten« 7 und Verfasser von Aufrufen gegen die »Reaktion auf den Hochschulen« 8, und die Mitarbeit in Gewerkschaften und SPD konterkarierten nach der Promotion seine Bemühungen um eine Assistentenstelle an einem Soziologischen Universitätsinstitut und die beabsichtigte spätere Habilitation im Bereich Soziologie und Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung: »Die damalige politische Entwicklung schloss das aus, ich war als langjaehriger

1 Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme, S. 7. 2 Ebd. 3 Auerbach: 400 Jahre demokratische Freiheitsbewegungen in Deutschland, in: Referat für deutsche Kriegsgefangene, o.D., nach Aktenlage im Jahr 1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 94, AdsD). 4 Kubel an Auerbach, 2.12.1971 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 40, AdsD). 5 Kölner Universitäts-Zeitung 11 (1929), Nr. 3, S. 7. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd., 9 (1927), Nr. 12, S. 7. 299

Vorsitzender der Sozialistischen Studentengruppen in Freiburg und Koeln ‚vorbelastet’.« 9 Die Redaktion der Kölner Universitäts-Zeitung , herausgegeben »in Zusammenarbeit mit den Universitäts-Behörden,« 10 hatte sich bereits 1927 in einem Vorspann zu einem Artikel Auerbachs gegen Beschwerden aus Lehrkörper und Studentenschaft abgesichert und damit Distanzierung gegenüber dem linkslastigen Studierenden angedeutet: »Gemäß unserem Grundsatz, in diesen Spalten allen weltanschaulichen Gruppen der Studentenschaft zu unbeeinflußter Aussprache Raum zu geben, veröffentlichen wir auch die nachfolgenden Ausführungen des Führers der Kölner sozialistischen Studenten ohne jeden Kommentar.« 11

Geradezu prädestiniert war Auerbach hingegen für politische und wissenschaftliche Tätigkeiten beim Gesamtverband der öffentlichen Betriebe und des Personen- und Warenverkehrs in Berlin. Dieses Arbeitsverhältnis und der persönliche Kontakt zu ITF-Generalsekretär Edo Fimmen dienten nach der Zerschlagung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933 dem rassisch und politisch Verfolgten als Sprungbrett zunächst ins niederländische und 1939 ins englische Exil. Fimmen und Auerbach einten Pazifismus, ihre kritischen Positionen zum Anpassungskurs der deutschen Gewerkschaftselite, der spätestens seit dem Preußenstreich im Sommer 1932 für Interessierte sichtbar wurde. Beide litten an der Spaltung der Arbeiterbewegung in zwei feindliche Lager (SPD und KPD) und an der Heterogenität des politischen Exils. Ihr gemeinsamer Kampf gegen Nationalsozialismus und Faschismus half ihnen, sich die eigene Menschlichkeit zu bewahren. Der Niederländer Fimmen hatte nach dem Ersten Weltkrieg Kurskorrekturen bei den internationalen Gewerkschaften eingefordert. Das bis dato unverbindliche Gerede lehnte er kategorisch ab und erwartete von der Gewerkschaftlichen Internationale Umsetzung ihrer Beschlüsse. Er gipfelte mit der These: »aus ihrer wirtschaftlichen Macht müssten die Gewerkschaften politisches Kapital schlagen. 12 «

Nahtlos knüpfte Auerbach im ITF-Generalsekretariat in Amsterdam an bisherige Arbeitsfelder an, übernahm neue in den Bereichen Publikation und internationale Gewerkschaftsbewegung. Vertraut mit Sozialpolitik, Arbeiterbewegung, Transportgewerkschaften und Redaktionsarbeit, erlebte er keinen Bruch in der

9 Auerbach an Bergstraesser, 12.5.1946 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 61, AdsD). 10 Kölner Universitätszeitung 9 (1927), Nr. 12, S. 1. 11 Ebd., S. 7. 12 Buschak: Edo Fimmen. Der schöne Traum von Europa und die Globalisierung, S. 29. 300 beruflichen Biographie, und die materielle Existenz war durch regelmäßiges Einkommen gesichert, Privilegien, die außer den prominenten Emigranten nur wenige erfuhren. Als ein wichtiger Aspekt von Identität gilt Sprache. Auerbach verfasste seine in Hakenkreuz über Deutschland und Faschismus publizierten Artikel in deutscher Sprache, die neben der niederländischen und englischen Umgangsprache im ITF-Generalsekretariat war. Sprachliche Defizite glich er im täglichen Umgang mit Kollegen aus. Die fremdsprachlichen Editionen von Hakenkreuz über Deutschland und Faschismus verantworteten Dolmetscher der ITF. In den Jahren in Bedford und London entstanden zahlreiche Berichte und Texte in englischer Sprache.

Das zeitlich nicht absehbare Exil war eine irreale Existenz und hinterließ tiefe, nie wirklich verheilende Narben und Verunsicherung, bei Auerbach nach außen häufig durch Sarkasmus spürbar. Überlebensstrategien und Schutz zog Auerbach aus dem Fundament Familie, aus der Partnerschaft mit Käte Auerbach. Ihr dankte er retrospektiv mit den Worten: »Ohne Dich hätte ich jene Jahre der rohen Entwurzelung kaum arbeitsfrisch überstanden.« 13 Nicht nur familiäre Bindungen, auch freundschaftliche Beziehungen, wie die zwischen Adorno und Horkheimer, bewirkten psychische Stabilisierung im Emigrationsalltag. Adorno, selbst Jude und beunruhigt über die Verfolgung der Juden, schrieb 1938 im amerikanischen Exil an Horkheimer: »Es ist kaum mehr daran zu zweifeln, daß in Deutschland die noch vorhandenen Juden ausgerottet werden … Ich weiß nicht, wie und ob ich die letzte Entwicklung ohne Sie ertragen hätte: aber ich weiß, daß, wenn ich sie heute überstehen kann, es nur mit Ihnen gemeinsam sein wird.« 14 Eskapismus, Flucht in die Arbeit oder das Gegenteil, zählten zu den Phänomenen von Emigration und Remigration. Die kreativen Chancen, den Gestaltungswillen, den erweiterten Erfahrungshorizont, beschrieb der Kommunikationsphilosoph Vilém Flusser, der 1940 über London nach Brasilien emigrierte, so: »Das Exil, wie immer es auch geartet sein möge, ist die Brutstätte für schöpferische Taten, für das Neue, der Migrant ein Vorbote der Zukunft, seine Wurzellosigkeit ist seine Würde.« 15

13 Walter Auerbach an Käte Auerbach, 14.7.1948 (NL W. Auerbach, Teil 2, Mappe 30, AdsD). 14 Gödde, Christoph und Henri Lonitz (Hrsg.): Theodor W. Adorno – Max Horkheimer. Briefwechsel 1927-1969, Bd. II: 1938-1944, Frankfurt/M. 2004, S. 29. 15 Flusser, Vilém, zit. nach Verein Fest der Kontinente e.V. (Hrsg.): Fest der Kontinente 2003. Ein Fest mit Freunden – György Ligeti zum 80., Berlin 2003, S. 2. [Der Kommunikationsphilosoph Flusser (1920-1991) und der Komponist Ligeti (1923-2006) hatten beide Exilerfahrungen.] 301

Ungünstige Prämissen hatten Auerbachs Remigration trotz Intervention nicht nur bei Ernest Bevin verzögert: »I am waiting for the opportunity to restart working in Germany since months as I hope I might be of some assistance in the special task ahead there in the trade union field.« 16 Auerbach verpasste den Wiederaufbau von Gewerkschaften und Redaktionsarbeit an einer von Oldenbroek und ihm konzipierten »ITF Publication in the British Zone.« 17 Sie stießen nach monatelangen Verhandlungen bei TUC und Militärregierung auf Ablehnung: »Major-General Bishop informed the ITF that only a publication sponsored by persons living in the British Zone can be licended for the time being.« 18 Die Begründung war konsequenter Ausdruck britischer Deutschlandpolitik und ihrer Restriktionen gegenüber rückkehrwilligen politischen Emigranten. Im übertragenen Sinne saß Auerbach seit Kriegsende in London auf gepackten Koffern. Die zweimonatige Deutschlandreise im Frühjahr 1946 hatte seine Ungeduld noch verstärkt. Erst die Offerte des Zentralamtes für Arbeit in Lemgo beendete im Oktober 1946 den Wartezustand und machte den Weg frei für ein Vierteljahrhundert Sozialpolitik in Lemgo, Hannover und Bonn, für Beratertätigkeit in Gremien von SPD und Gewerkschaften, fortgesetzt nach der Pensionierung als Vorsitzender der Sachverständigenkommission des Bundesarbeitsministeriums für die Erstellung des Ersten Sozialgesetzbuches.

Walter Auerbach war »der Beweis dafür, daß man gerade auch als Politiker – jedenfalls als politischer Beamter in hoher und höchster Stellung – Grundsätze haben und seine Grundsätze durchhalten, ja noch mehr, daß man aus grundsätzlicher Erkenntnis heraus die politische Praxis gestalten, sie weiterentwickeln und aus der fortentwickelten politischen Praxis wiederum die grundsätzliche Erkenntnis bereichern und vertiefen kann. Allerdings ist das ein mühseliger und nicht selten opferreicher Weg; beides – sowohl die Mühe als auch die Opfer – hat Auerbach nicht gescheut. Um einen solchen Weg zu gehen, braucht es zweierlei: überlegenes Wissen und innere, in letzter Wertüberzeugung verankerte Standfestigkeit; beides vereinigte er in sich.»19

16 Auerbach an Bevin [nach der Regierungsbildung im Sommer 1945 Außenminister], 16.7.1945 (NL W. Auerbach, Teil 1, Mappe 56, AdsD). 17 Skeffington an Hynd, 7.11.1945 (FO 938/240, TNA). 18 Ebd. 19 Nell-Breuning, Oswald von: Nachruf für Walter Auerbach †, S. 157. 302

8 Anhang

8.1 Archivarische Quellen

Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), Bonn:

Nachlass Walter Auerbach, Teil I und Teil II

Nachlass Ludwig Preller

Bestand Fritz Heine: Widerstand und Emigration

Bestand SOPADE/Emigration

Bestand SPD-Parteivorstand, Erich Ollenhauer (SPD-PV)

Bestand SPD-PV, Helmut Schmidt

Bestand SPD-PV, Kurt Schumacher

Bestand Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB)

Bestand DGB Britische Zone

Bestand Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK)

Bestand Internationale Transportarbeiterföderation (ITF)

Archiv des Westdeutschen Rundfunks (WDR), Köln

Video: Diskussion unter Leitung von Eugen Kogon zum Thema Linker Widerstand im Dritten Reich , u.a. mit Walter Auerbach und Hans Mommsen, ausgestrahlt 28.4.1972

Archiv der Universität zu Köln:

Dekanatsakten der Philosophischen Fakultät

Bundesarchiv (BArch):

Bestand Zentralamt für Arbeit in Lemgo und OMGUS, Koblenz

Bestand Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR, SAPMO/BArch (Berlin):

Nachlass Hermann Schlimme

Bestand Reichssicherheitshauptamt (RSHA)

Bestand Nationalsozialismus (NS)

Bestand Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Zwischenarchiv St. Augustin-Hangelar)

Hessisches Staatsarchiv, Darmstadt

Leo Baeck Institut New York im Jüdischen Museum, Berlin

Modern Records Centre (MRC), The University of Warwick Library, Warwick: 303

Bestand Internationale Transportarbeiterföderation (ITF)

Bestand Trade Union Congress (TUC)

Nachlass Edo Fimmen

Nachlass Paul Tofahrn

Politisches Archiv des Auswärtigen Amts, Berlin

Privatsammlung Irene Auerbach, Stevenage

Privatsammlung Lore Auerbach, Hildesheim

Senat der Freien und Hansestadt Hamburg, Staatsarchiv, Hamburg

The National Archives (TNA), Kew

8.2 Gedruckte Quellen

8.2.1 Berichte

Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1994 22

Auerbach, Walter: Befreiung und Bindung durch soziale Leistungen, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 103 (1956), Nr. 9, S. 273-278

Ders.: Beiträge zur Sozialpolitik, Neuwied/Berlin 1971

Ders.: Einer verläßt das Haus, (Romanfragment o.O. u. J.)

Ders.: Klärung um den sozialen Rechtsstaat, in: Alfred Christmann, Walter Hesselbach, Manfred Jahn und Ernst Wolf Mommsen (Hrsg.): Sozialpolitik. Ziele und Wege, Köln 1974, S. 271-278

Ders.: »Modell« eines Sozialplanes - Eine Skizze, in: Ders.: Mut zur sozialen Sicherung. Die drei Möglichkeiten einer Sozialreform, Köln 1955, S. 38- 48 (Anhang)

Ders.: Mut zur sozialen Sicherheit. Die drei Möglichkeiten einer Sozialreform, Köln 1955

Ders.: Presse und Gruppenbewußtsein. Vorarbeit zur Geschichte der deutschen Arbeiterpresse, Leipzig 1931

Ders.: Selbstverwaltungswahlen, in: Ders.: Beiträge zur Sozialpolitik, Neuwied/Berlin 1971, S. 291-292

Ders.: Über das Miteinander von Sozialhilfe und freier Wohlfahrtspflege heute, in: Ders.: Beiträge zur Sozialpolitik, Neuwied/Berlin 1971, S. 147-158 304

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8.2.2 Nachschlagewerke

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8.2.3 Zeitungen

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Das Parlament

Der Schlackenweg (von PoWs in GB)

Die Neue Zeitung. Amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung

Die Zeit

Die Zeitung (London)

Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)

Frankfurter Zeitung

Handelsblatt

Hannoversche Presse

Kölner Universitäts-Zeitung

Mitteilungsblatt (MB) Irgun Olei Merkas Europa, Tel Aviv

Münchner Zeitung

Tägliche Rundschau. Zeitung für die deutsche Bevölkerung (SMAD)

The Manchester Guardian

The Times

Vorwärts

Wochenpost (für PoWs in GB)

310

8.3 Zeitzeugen (Gespräche/Korrespondenz) Arendt, Walter, Bornheim bei Bonn (Bundesminister für Arbeit und Soziales a.D.)

Auerbach, Irene, Stevenage/England (jüngere Tochter Walter Auerbachs)

Auerbach, Dr. Leonore (Lore), Hildesheim (ältere Tochter Walter Auerbachs)

Auerbach, Schmuel, Beer Sheva (Cousin Walter Auerbachs)

Barnard, Margot (London)

Becker, Dr. Thomas, Bonn (Archivar an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms- Universität)

Flink, Jochem, Bonn (Registrator im Büro des Staatssekretärs Walter Auerbach im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung)

Heine, Fritz, Bad Münstereifel (Emigration London, SPD-Parteivorstand)

Lewis, Dr. Harold, Cobham/England (ITF-Generalsekretär von 1977 bis 1993)

Miller, Professor Dr. Susanne, Bonn (Emigration London)

Mühlen, Patrik von zur (Bonn)

Poppelreuter, Dr. Stefan, Bonn (Sozialpsychologe)

Reichwaldt, Heinz, Hannover (Staatssekretär a.D., Nachfolger Walter Auerbachs in Hannover)

Robben, Ruth, geborene Auerbach, Menden/Sauerland (Tochter Philipp Auerbachs aus zweiter Ehe)

Rohde, Helmut, St. Augustin bei Bonn (Parlamentarischer Staatssekretär a.D. im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung)

Rosenthal, Helen, geborene Auerbach, New York (Tochter Philipp Auerbachs aus erster Ehe)

Schulte, Rita, Bonn (2. Sekretärin im Vorzimmer des Staatssekretärs Walter Auerbach im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung)

8.4 Literatur

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8.5 Abkürzungen

A.O. Army of Occupation

ADG Auslandsvertretung der deutschen Gewerkschaften

ADGB Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund

AdsD Archiv der sozialen Demokratie

BAOR British Army of the Rhine

BArch Bundesarchiv

BBC/B.B.C. British Broadcasting Corporation

BDM Bund Deutscher Mädchen

BHE Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten

BMA Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 324

BP Bayern-Partei

BRD Bundesrepublik Deutschland

BUF British Union of Fascists

CCG Control Commission for Germany and Austria

CDU Christlich-Demokratische Union Deutschlands

CIA Central Intelligence Agency

COBSRA Council of British Societies for Relief Abroad

COL Central Office for Labour in the British Zone

CSU Christlich-Soziale Union Bayern

DAF Deutsche Arbeitsfront

DDP Deutsche Demokratische Partei

DDR Deutsche Demokratische Republik

DGB Deutscher Gewerkschaftsbund

DP Deutsche Partei

DPs Displaced Persons

DZ D-Zug

DZP Deutsche Zentrumspartei

FDB Freie Deutsche Bewegung

FDGB Freier Deutscher Gewerkschaftsbund

F.D.P. Freie Demokratische Partei

FES Friedrich-Ebert-Stiftung

FF Fahrt frei

FFF Fight for Freedom

FO Foreign Office

GdED Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands

GDP Gesamtdeutsche Partei

GER/G.E.R. German Educational Reconstruction

Gestapo Geheime Staatspolizei

GZ Güterzug

Hapag Hamburg-Amerika-Linie

HJ Hitler-Jugend 325

IAA Internationales Arbeitsamt

IAO Internationale Arbeitsorganisation

IBFG Internationaler Bund Freier Gewerkschaften

IGB Internationaler Gewerkschaftsbund

IGM Industriegewerkschaft Metall

IISG Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis

ILO International Labour Organisation

ISK Internationaler Sozialistischer Kampfbund

IST International Trade Secretariat

ITF/I.T.F Internationale Transportarbeiterföderation

KPD Kommunistische Partei Deutschlands

KZ Konzentrationslager

M.o.I. Ministry of Information

MB Mitteilungsblatt von Irgun Olei Merkas Europa

MG/M.G. Military Government in der Britischen Zone

M.P. Member of Parliament

MRC Modern Records Centre

N.C.O. Non Commissioned Officer

NB Neu Beginnen

NdS Niedersachsen

NL Nachlass

NLP Niedersächsische Landespartei

NS Nationalsozialismus

NSBO Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation

NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

NSM Niedersächsisches Sozialministerium

NUR National Union of Railwaymen

NVV Nederlands Verbond van Vakverenigingen

OMGUS Office of Military Government of the United States

OSS Office of Strategic Services

ÖTV Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr 326

PID/P.I.D. Political Intelligence Department of the Foreign Office

PKW Personenkraftwagen

POW . Prisoner of War (auch P.o.W, P/W, Ps/W)

PRO Public Record Office

PV Parteivorstand (der SPD)

PWE Political Warfare Executive

RSHA Reichssicherheitshauptamt

SA Sturmabteilung (der NSDAP)

SAH Schweizerisches Arbeiterhilfswerk

SAM Sozial- und Aufbauministerium Niedersachsen

SAP/SAPD Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands

SAPMO Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR

SDAP Sociaal-democratische Arbeiderpartij

SER Sender der Europäischen Revolution

SHAEF/Shaef Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Forces

SJ Societas Jesu

SMAD Sowjetische Militäradministration in Deutschland

SO1 Special Operation One (Unterorganisation von SOE)

SOE Special Operation Executive

SOPADE Sozialdemokratische Partei Deutschlands im Exil (auch Sopade)

SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands

SRP Sozialistische Reichspartei

TGWU Transport and General Workers’ Union

TH Technische Hochschule (Stuttgart)

TNA The National Archives

TUC Trade Union Congress

UdSSR Union der Sozialistischen Sowjet-Republiken

UNRRA United Nations Relief and Rehabilitation Administration

USA United States of America

VdK Verband der Kriegsopfer und Hinterbliebenen ver.di Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft 327

WDR Westdeutscher Rundfunk

ZfA Zentralamt für Arbeit