W Yana Milev

EMERGENCY EMPIRE - Transformation des Ausnahmezustands

Souveränität

Mit einem Vorwort von Elisabeth von Samsonow und Regula Stämpfli

SpringerWienNewYork Dr. phil. Yana Milev, MFA Kulturphilosophin, Raum-, Medien- und Designforscherin, Autorin, Dozentin, Kuratorin, Publizistin

FB Philosophie/Ästhetik, Staatliche Hochschule für Gestaltung, HfG Karlsruhe Design2context, Institut für Designforschung, ZHdK Zürich AOBBME, Institut für Angewandte Raumforschung und Mikrotopische Kulturproduktion,

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ISBN 978-3-211-79811-9 SpringerWienNewYork Teil 1 Souveränität

„Die Tradition der Unter- Teildrückten belehrt uns darüber,1 dass der Ausnahmezustand, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht.“ Walter Benjamin VVorwort V Vorwort

Elisabeth von Samsonow

Politik der Beunruhigung: der „Ausnahmezustand“ als zeit genössische Doktrin

Es gibt wohl kaum einen Begriff, der größeren Erfolg in der kulturwissen- schaftlichen „Popularisierung“ hatte als der des Ausnahmezustandes. Die Gründe für diesen Teorieerfolg Agambens in der Nachfolge Schmitts lei- ten sich sicher nicht nur aus der gründlichen rechtshistorischen Recher- che oder der findigen Dialektik von Recht und Rechtssubjekten her. Am Ausnahmezustand hängt auch nicht nur die attraktive Bedingung der Möglichkeit, mit den diktatorischen Tendenzen der Kontrollgesellschaft abzurechnen. Im Ausnahmezustand ist auch eine atmosphärische Dis- position moderner Gesellschaften erfasst, die sich in Alarmbereitschaft befinden. Der Neo-Katastrophismus verwandelt die Welt in einen gut be- schilderten Fluchtweg, aber wohin sollte diese Flucht führen? Während Nietzsche noch notiert, dass „Rechtszustände Ausnah- mezustände“ seien und diese abhebt von denjenigen Zuständen, die ein- fache Zustände sind ohne Recht und Ausnahme, nämlich solche, in de- nen Menschen untereinander zurecht kommen, sieht das bei Schmitt schon anders aus. Nietzsche hatte offenkundig nicht dieses Interesse an Recht und Rechtlichkeit, sofern diese die Institutionalisierung des abso- luten Willens bedeuten. Schmitt hingegen beobachtet dieses emergente

EMERGENCY EMPIRE VIII Transformation des Ausnahmezustands Vorwort

Subjekt, welches dann als konstituierendes Rechtssubjekt selbst die Aus- nahme der Regel bzw. das Regelnde der Regel wird. Yana Milev versucht in ihrem in mehreren Teilen angelegten For- schungsprojekt Emergency Empire zunächst die Grundlagen der Debat- te zum Ausnahmezustand herzustellen, wobei sie sich an Schmitt orien- tiert, jedoch auch die älteren Texte wie die einschlägigen von Hobbes und Hegel berücksichtigt. Sie steckt also erst einmal das Terrain ab, um dann mit Foucaults Begriff der Gouvernementalität und Agambens Argument der Anomie die postmoderne, und, wie die Autorin in der eigenen Analy- se darstellt, konsequent die universale Figur des Ausnahmezustands he- rauszuarbeiten. „Zusehends universal“ bedeutet, dass der Ausnahmezu- stand nicht nur das Paradox der Rechtsgründung umschreibt, sondern die Bedingung darstellt, unter die alle gesellschaftlichen Bereiche gera- ten sind. Der Entzug von Recht ist das Charakteristikum der Kontrolle, die sich beispielsweise in den Sektoren–Wirtschaft, Bildung, Kommuni- kation etc. niederschlägt. Yana Milev entwirft folgerichtig ein imperiales Korporations-Modell postmoderner Souveränität, der Emergency-Cor- porations, das allerdings nicht einfach den amerikanischen Traum glo- baler Herrschaft überträgt, sondern sich aus dem Denkmodell der Aus- nahme begründet, welches sie im deutschen Idealismus lokalisiert. In Kombination mit der angelsächsischen organizistischen Rechtsphiloso- phie (u.a. Hobbes) gelangt man, so Milev, ohne Umwege zum modernen Vollstreckungs-Typ der Ausnahme (Diktatur). Wenn Hegel in systematischer Folgerichtigkeit seines Staatsbegrif- fes äußert: „[i]m Staat kann es keine Heroen geben: die kommen nur im ungebildeten Zustande vor“¹, können wir davon ausgehen, dass die Staa- tsidee überwunden ist, denn der globale und europäische Staats-Reprä- sentant (im Übrigen auch der Unternehmens-Repräsentant) verlegt sich heute auf nichts anderes als auf die habituelle Inszenierung des Hero und Parvenüs. Der Naturzustand hat den Staat, den Leviathan eingeholt. Was bleibt, ist die Haut des Leviathan als illusionistische Medienoberfläche einer leeren Formel von Demokratie, die die Bühne für die überdimensi- onierten Djangos bildet. Die Gesellschaft gerät zur hollow corporation. Das gegenwärtige Zeitalter, in welchem sich wohl eine Reihe von Unter- schieden verabschieden, scheint also demjenigen Unterschied–trotz der postmodernen Delirien zu Differenz und différance–nicht gewachsen, ¹ Carl Schmitt,, Glossari- der der Ursprung von Macht ist. Carl Schmitt meinte: „Das demokrati- um, Aufzeichnungen der Jahre 1947-1951, hg. v. Eberhard Frei- sche Urverbrechen heißt: Diskriminierung. Natürlich kann kein demo- herr von Medem, Berlin: Dun- kratisches System diesem Sündenfall entgehen.“² Der Ausnahmezustand cker & Humblot 1991, S. 236 ² ebd., S. 239f. ist vorerst die negative Definition, der dann diejenige Erweiterung zu fol- ³ Siehe dazu auch: Elisabeth gen hat, die nicht das Problem, das nicht zu lösen ist, verallgemeinert, von Samsonow: Demogorgon sondern tatsächlich hinter sich lässt³. und die wilden Ungleichen. Poli- tik aus dem Erdmittelpunkt, in: Der erste Teil von Yana Milevs Forschungsprojekt liegt hier vor, der Frauen und Politik. Nachrichten zweite wird sich in einem Entwurf des Emergency Designs mit den Kultur- aus Demokratien, hg. v. Birge Krondorfer, Miriam Wischer, techniken „aus dem Geiste des Unfalls“ beschäftigen. Die Idee ist die, dass Andrea Strutzmann: Wien: Pro- durch die Verallgemeinerung des Ausnahmezustandes jener Höhepunkt der media 2008

Souveränität IX Vorwort

Absurdität erreicht wird, der neue Möglichkeiten öffnet. „Aus dem Geiste des Unfalls“ kann als nietzscheanische Wendung und als Wendung der Cha- V ostheorie gelesen werden, als Motto einer Genealogie von Kulturen, deren Explikation das Projekt des Krieges überwindet. Der Anfang ist gemacht.

Regula Stämpfli

Emergency Empire: Von Macht, (Un)Recht und Raum

Yana Milev erlaubt uns mit ihren Gedanken vieles, nur eines nicht: Wir können uns ihren Ausführungen nicht entziehen. Sie verweigert eine Abschiebung der großen und kleinen Temen hin zu Feindbildern, sie präsentiert, reflektiert und analysiert ein neues Modell der situativen Raum- und Kulturproduktion: Das Emergency Empire. Die Künstlerin und Kulturphilosophin verbindet im vorliegenden Band performative Kompe- tenz mit kritisch-analytischen Diskursen und Inspektionen in Räumen, Archetypen, Erinnerungen, Bestandesaufnahmen und Vorausschauen. Sie geht nicht nur psycho-politischen Anomien (vgl. Staat und Seele – eine psycho-politische Allianz) auf den Grund, sondern eigentlich allem was Recht und Unrecht, Raum und Medium betrifft. Dies zunächst mit einer Übersicht und spannenden Begriffsklärung zum Emergency Empire. Politik ist dabei nicht nur Gestaltung, sondern sich permanent wandeln- de Realität korrespondierenden Designs. Einzig konstant bleibt – folgt man den Ausführungen Milevs – das Infame. Das Emergency Empire setzt unbestritten die Legitimation der Erde als Nomos voraus, als Rechtsord- nung und Raumordnung durch Landnahme. Eine „Art Freibrief, ein Ti- tel für Raubzüge und Völkermord, den die Erde erteilt, der gleichzeitig eine Hybris an der Erde selbst ist“ – wie dies Yana Milev politisch bri- sant auf den Punkt bringt. Was mit der Schmitt’schen Raum- und Rechts- ordnung seinen modernen Höhepunkt findet, nämlich im Totalen und der Kalten Krieg, schreibt sich in den Daten- und Eigentumsordnungen des postmodernen Krieges hemmungslos fort. Die Gültigkeit des Beute- rechts verkörpert sich genealogisch gesehen nicht mehr nur in der sou- veränen Person (Staat) sondern, und hier ist die Konklusion der Arbeit, in der gouvernementalen Freiheit, dem Geschäft mit Recht und Gesetz, dem rechtsfreien Raum. Diderot, der feurige Aufklärer, hatte einst geschrieben, wenn die Pest König würde, hätte sie keine Mühe, ihre Würdenträger und ihren Hofstaat zu finden. In abgewandelter Form könnte man aufgrund der

EMERGENCY EMPIRE X Transformation des Ausnahmezustands Vorwort

Ausführungen von Milev in Versuchung kommen, hinzuzufügen: Die Pest würde zuallererst das Paradigma globalen Regierens als Emergency Empire definieren. Denn eines wird im vorliegenden Band sofort klar: Emergency Empire ist der Macht immer näher als dem Recht. Ganz gleich wie „recht- mäßig“ der Ausnahmezustand immer wieder verankert wird. Die Wahr- heit des sogenannten postmodernen Hegemonialrealismus wird von den zuständigen politischen Akteuren in keinerlei Hinsicht bewiesen, son- dern muss einfach geglaubt werden, wie die jüngsten Ereignisse der glo- balen Finanzmarktkrise zeigen. Dies ist das Faszinierende an Milevs Aus- führungen, weil sie zum ersten Mal auch sprach-räumlich eröffnen, wie viel, auf welcher Weise und umfassend das Emergency Empire eine eigent- liche Glaubensrichtung darstellt, die mit Medialisierungen, Heroisierun- gen, Unterwerfungen, Rettungen und Opfern einhergeht. Wenn der Kern des postmodernen Politischen immer noch wie bei Carl Schmitt in der „Unterscheidung von Freund und Feind“ besteht, dann ist nicht die Plausibilität der rote Faden dieses Gedankens, sondern der Absolutismus absurder Konzeptionen und Inszenierungen wegwei- send, die längstens das Unterste zu Oberst und das Innenräumliche nach Außen gekehrt haben. Milev zeigt, dass wenn die Politik nicht als Hand- lungsoption, in dem unterschiedliche Interessen im Rahmen geregelter Verfahren auch transformiert werden können, verstanden wird, dann Gefahr läuft, die Macht von der Normalsituation zu abstrahieren und die (Gesetzes)Anomie zum Alltag zu erheben. Diese hemmungslose Entfes- selung der Macht, im Sinne privatisierter Gewalten, die von den meisten Staatstheoretikern nicht gesehen wird, erkennt die Kulturphilosophin Yana Milev. „Es kommt auf die Macht an, nicht auf das Recht“ – aucto- ritas non veritas facit legem – sind die Leitsätze seit Hobbes und Schmitt als Konzeption des Emergency Empires. Dabei bezieht sich Yana Milev auf Giorgio Agamben und Peter Sloterdijk, auf Michel Foucault und Her- fried Münkler, genauso wie auf medienpolitische Erzählungen. Sie ana- lysiert, beschreibt, definiert, führt aus und weiter. Nur in der Erkenntnis der Teorie des Umbruchs, der Zuspitzung, der Verschärfung und der Ra- dikalisierung, des Verständnisses von Emergency Empire eben, gelingt es vielleicht, Transformationen bezüglich gegenwärtiger und künftiger Poli- tiken einzuleiten, die sich in jenen „Kulturtechniken aus dem Geiste des Unfalls“ finden lassen, wie sie die Autorin im „Teil 4“ ihres umfassenden Forschungsprojektes entwerfen wird. Yana Milev zeigt dies nicht nur in Worten, sondern verschafft mit eindrücklichen Übersichten, rhetorischen Architekturen und Konklusio- nen einen Überblick zur historischen und gegenwärtigen Regierungstech- nik des Ausnahmezustands, der eigentlich schon längst fällig war. Wer erkennt, was, wie, warum, woher und wohin sich das Emergency Empire entwickelt, hat einen Schritt in die Zukunft gewagt. Hoffen wir mit der Autorin, dass dieser einer der Transformation sein wird. Mit dem vorlie- genden Band hat Yana Milev dazu sicher einen enorm wichtigen Beitrag geleistet.

Souveränität XI Vorwort

V Yana Milev „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“

In dieser prominenten Sentenz ist die erste Definition zur Souveränität aus der „Politischen Teologie“ von Carl Schmitt niedergelegt, welche sich im Untertitel „Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität“ nennt. „Die- se Definition kann dem Begriff der Souveränität als einem Grenzbegriff allein gerecht werden. Denn Grenzbegriff bedeutet nicht einen konfusen Begriff, wie in der unsauberen Terminologie populärer Literatur, sondern ein Begriff der äußersten Sphäre. Dem entspricht es, dass seine Definition nicht anknüpfen kann an den Normalfall, sondern an einen Grenzfall.“⁴ Wie sich der Grenzfall bei Schmitt im Rahmen seiner Entwürfe ent- wickelt, wird nicht selten als ambivalent und umstritten charakterisiert, d.h. als für verschiedene politische Mächte, linker wie rechter, in ihrem Interesse auslegbar. Wer konkret über einen Ausnahmefall von Rechts we- gen entscheiden darf, was in einem Ausnahmezustand (AZ) von Rechts wegen passieren darf und kann, wer von Rechts wegen die souveräne Ent- scheidungsmacht über den Ausnahmezustand inne hat, wird in der Poli- tischen Teologie gesagt, aber auch nicht. Als ambivalent und umstritten kann Schmitts Schrift zudem von daher gelten, da ihr ebenfalls eine ge- wisse Mystifizierung und Heroisierung des Phänomens der Ausnahme innewohnt. An der Figur des Souveräns festgemacht, beinhaltet dieser Mythos einen Übertragungsanspruch auf das Staatsrecht und tritt als sou- veräne Gesetzeskraft auf. „Die Ausnahme ist interessanter als der Normal- fall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste ei- ner in Wiederholung erstarrten Mechanik.“⁵ Wie viel politische Romantik (Schmitt, 1919) und wie viel politische Ambivalenz in beispielsweise nur ⁴ Carl Schmitt, Politische Teo- dieser Aussage steckt, wird dem Leser sofort evident. Dass in der Folge von logie I, [1922; hier vorliegend erlassenen Ausnahmenzuständen in der modernen Geschichte seit 1933 5. Aufl., unveränd. Nachdr. d. 1934 erschienenen 2. Aufl.], eben genau dieses in jede Richtung auslegbare Teorem von Ist und Nicht- Berlin: Duncker & Humblot Ist gleichzeitig Karriere gemacht hat, ist nicht verwunderlich. Was Schmitt 1990, S. 11 ⁵ ebd., S. 22 als das Problem der Souveränität⁶ und als Problem der Rechtsform der Ent- ⁶ ebd., [II. Kapitel, Das Problem scheidung⁷ herausmeißelt, gewinnt Kontur im Begriff des Entscheidungsmo- der Souveränität als Problem nopols, das bei eben jenem Souverän liegt, womit der Staat gemeint ist. der Rechtsform und der Ent- scheidung] „Der Souverän schafft und garantiert die Situation als Ganzes in ih- ⁷ ebd., [II. Kapitel, Das Problem rer Totalität. Er hat das Monopol dieser letzten Entscheidung. Darin liegt der Souveränität als Problem der Rechtsform und der Ent- das Wesen der staatlichen Souveränität, die also richtigerweise nicht als scheidung] Zwangs- oder Herrschaftsmonopol, sondern als Entscheidungsmonopol

EMERGENCY EMPIRE XII Transformation des Ausnahmezustands Vorwort

juristisch zu definieren ist. [...] Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten.“⁸ Die Hinterfragung von Staat als Figur und Netz des Regierens, sei- ne Rechtsgrundlegungen und Gesetze, sowie die immer wiederkehren- de Rechtsoption des Ausnahmezustandes, eingedenk der Konsequenzen, nicht zuletzt für das nackte Leben⁹ der Betroffenen, seine Wandlungsge- stalt im aktuellen Erscheinungsbild, in Propaganda und Marketing, wie auch die neuen Möglichkeiten von Individualwiderstand, sind das Anlie- gen des Gesamtprojektes „Transformation des Ausnahmezustands“. In die- sem vorliegenden Entwurf wird der Anfang einer Transformation des AZ gemacht, die zunächst mit der Analyse des modernen AZ beginnt und schließlich seinen aktuellen Status transparent macht, das postmoderne Emergency Empire. Indem wir den Blick auf eine Reihe von Erlassen des AZ in der mo- dernen Geschichte lenken werden, wollen wir deutlich machen, wie sehr diese, einem romantischen und theologischen Habitus der Schmitt’schen Rhetorik Rechnung tragend, personalisierten Entscheidungsmonopolen das juristische Rüstzeug für den Krieg liefern. Dass der Krieg mit dem Ende des Kalten Krieges vorbei ist, soll in Frage gestellt sein, hernach aktuelle Ausrufungen zum Antiterrorkrieg eigentlich keine Fragen mehr offen lassen. Protecting the Homeland!, die aktuelle Direktive des Weißen Hauses und des Department of Homeland Security, welche als Losung dem Frontcover dieses Entwurfs zur Verfügung steht, ist der euphemistische Aufruf der postmodernen, weltweiten securitären Diktatur zum globa- len Antiterrorkrieg. Der Euphemismus setzt seine Tradition fort und un- terscheidet sich in der postmodernen, d.h. securitären Version in keiner Weise von seinen Vorgängern: Für Ordnung und Sicherheit der Nation! Auf Carl Schmitt, dem Pionier der Teorie des modernen AZ, be- zieht sich im Verlauf der modernen Diskursgeschichte beinahe jeder Autor, der seine Philosophie im Spiegel einer politischen Teorie ent- wirft. Mit Teodor W. Adorno, Walter Benjamin, Hannah Arendt, Gior- gio Agamben, Boris Groys, Jacques Derrida, Peter Sloterdijk und Chantal Mouffe sind in der Aufzählung nur eine Reihe von signifikanten Autoren genannt, die den casus des modernen AZ, was auch immer der casus des Schmitt’schen AZ ist, der entsprechend die Gewaltkritik impliziert, zum Gegenstand ihres wissenschaftlichen Disputs wählten. Mit der nationalen Notstandsverordnung von 2001 und mit den, in deren Schatten erlassenen Sondergesetzen der Patriot Acts I bis IX durch George W. Bush, d.h. der Dekrete für eine Legalisierung des Antiterror- krieges und der weltweiten Terrorabwehr, steht die Tematisierung des AZ in den aktuellen politischen Diskursen vor der Projektionsfläche ei- ner neuen Brisanz. Kontrolle, Überwachung und Biopolitik vs. IT-Sicher- heitsarchitekturen, Mikrochiptechnologie, Antiterrordateien und RFID- ⁸ ebd., S. 20 Debatten sind Top-Temen im Medienkontext, die eine Wiederaufnahme ⁹ Giorgio Agamben, Homo sa- cer. Die souveräne Macht und des Falls Entscheidungsmonopole über den AZ erforderlich machen. An die- das nackte Leben, am ser Stelle öffnet sich deutlich der Raum einer neuen Übertragung der AZ Main: Suhrkamp 2002

Souveränität XIII Vorwort

in einen postmodernen Status hinein. Dieser ist dort zu finden, wo sämt- liche Katastrophen unterschiedslos in ein und demselben Schauraum des V Desasters, der Abwehr und des Terrors fallen, nämlich in den postmoder- nen Schauraum des Emergency Empire. So simpel die Logistik ist, so drastisch ist sie auch, wenn man be- denkt, wie viele Opfer sie fordert. Demnach sollte auch nicht versäumt werden, die List der kriegsführenden Allianzen, nämlich das Kino der De- mokratie, die Medienstrategien der Entscheidungsmonopole, transparent zu machen. Dass ein Kino der Demokratie mit Protagonisten aus Kommu- nikationstechnologie, Wissenschaft, Neuro- und Gehirnforschung, IT-In- dustrie, Militär, Polizei, Geheimdiensten, Diplomatie und Finanz nichts anderes als ein Kino des Krieges sein kann, auf der Ebene der Repräsen- tanz, des Panpoticons¹⁰, ist der paradoxe Doppelakt des Krieges schlecht- hin, der hier in seiner postmodernen Form als Emergency Empire ins Feld geräumt wird. Vom psycho-politischen Design der 5 Codes bis hin zu den Kontroll- codes der Datenbanken im Cyberspace selektieren martial laws und emer- gency powers permanent zwischen ‚verdächtig’ und ‚neutral’. Was eini- germaßen absurd klingt ist jedoch real, weil es am Ende Menschenleben fordert und Lebensräume zerstört. Denn von einer gewissen Rechtsper- vertierung kann durchaus dann die Rede sein, wenn deutlich wird, wie beispielsweise im Fall der US Patriot Acts Regierungen „sich etwa im Hin- blick auf militärische Präventivschläge, aber auch bei Maßnahmen ge- gen den Terrorismus auf das so genannte naturgegebene Recht (inherent right) der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung berufen und dabei ggf. genuin naturrechtlich begründete Menschenrechte missach- ten. Vom ‚inherent right’ der Selbstverteidigung ist überdies auch in der unmittelbar auf die Ereignisse vom 11. September folgenden Resoluti- on des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen die Rede.“¹¹ Dass sich der Staat seit jeher einer höchst individuellen Polemik bedient, um das tabu- la rasa seiner Monopolgewalten einzuleiten, ist eine historisch begründe- te Verzerrung, die den Menschen nicht nur willkürlich in Gefahr bringt, sondern ihm die Grundlagen eines Widerstandsrechts entzieht. Te Emergency, als ambivalente und umstrittene Terminologie der Moderne, sowohl im staatsrechtlichen, als auch im zivilen Sektor etab- liert, definiert nach Schmitt die Not in der sich Staatsgewalten befinden können. Darüber hinaus hat Agamben den modernen AZ auf der Ebene des öffentlichen Rechts erschlossen und diesen als rechtsfreien Raum, als Zone der Anomie in den Diskurs eingeführt. Jene Zone der Anomie ist der Raum der Gesetzlosigkeit, der sich zur weltweiten Regierungstechnik er- streckt hat, dem Emergency Empire. ¹⁰ Michel Foucault, Überwa- Diese hier vorliegende Arbeit ist der Versuch, sowohl die Herkunft chen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses, [13. Aufl.], Frank- und die Zusammenhänge des Begriffs, wie auch den Sachverhalt einer furt am Main: Suhrkamp 2001 so genannten Notlage für Staat, Allianzen und Monopole zu präzisie- ¹¹ Conradin Wolf, Ausnahmezu- stand und Menschenrechte, Zü- ren. Durch globalisierungsbedingte (kriegsbedingte) Dynamiken gera- rich: Labor 2005, S. 21f. ten immer mehr Menschen und Menschengruppen in den Zustand einer

EMERGENCY EMPIRE XIV Transformation des Ausnahmezustands Vorwort

permanenten Diaspora, in den Zustand des permanenten Ausnahmezu- stands, in den Zustand der permanenten Gefährdung ihres Lebensrau- mes, in den Zustand der Not. Staatlicher AZ und produzierte Zonen der Anomie sind die Bereiche beyond the line, die Räume des totalen Ausge- liefertseins an politische Willküren. Beyond the line ist nach Carl Schmitt der „freie Raum“ der Kampfzone, als Option des freien Zugriffs, Eingriffs und Durchgriffs für Monopolgewalten. Es ist der Raum der Rechtsleer- heit nach Schmitt und der Rechtsfreiheit nach Agamben, in dem sich un- ter Staatsschutz die Achse des Bösen entfalten kann. Was ‚dort’ geschieht ist im Jargon der US-Regierung das legal black hole. Gegenstand des zweiten Teils des Gesamtentwurfs „Transformation des Ausnahmezustands“ ist die Definierung eines jedem leagal black hole und jeder Zone beyond the line inhärenten und genuinen Widerstands. Ei- nes Widerstands, der notstandsbasiert ist in Folge von durch Staatsnot- wehr und Ausnahmezustand verursachten Anomien, welche nicht nur den politischen und geografischen Raum betreffen, sondern vor allem den psycho-sozialen und imaginierten Lebensraum von Menschen. Der Gegenentwurf von Emergency Empire I und II ist Emergency Design. Emergency Designs sind notstandsbasierte Lebensraummanage- ments in eben jenen vorinszenierten Zonen der Anomie. An dieser Stelle generiert die signifikante Abweichung von der Norm kreatives Potenzial und transformatorische Prozesse. Das Ausgeliefertsein und Gefährdet- sein reißt aus der passiven Normalität heraus und erzeugt den Akteur und das Akteurnetzwerk neuer Sub-Raum-Mächte. Die hier erzwungene Diaspora wird zur Normalität eines permanenten Ausnahmedesigns. Hier schließt sich der Kreis vom Nomos der Erde. Was mit Beginn der monotheistischen Politiken einer Ur-Akte der Erde zugeschrieben wurde, nämlich der radical titel in der Ur-Teilung durch Landnahme, im Besitz und in der Verteidigung, löst sich mit Emergency Designs und Mi- cropolitics in Richtung eines Archetypus des Nomos, der noch weit vor dem Nomos der Erde existierte, nämlich dem Nomadismus, wieder auf. Der hier vorliegende Band Emergency Empire ist der erste Teil einer mehrteiligen Arbeit. Emergency Empire erscheint bei Springer Wien New York, in einer zweibändigen Ausgabe als „Transformation des Ausnahme- zustands“, Teil 1 „Souveränität“ (2008) und Teil 2 „Schauraum“ (2009). Die ursprünglich geplante Herausgabe der Arbeit unter dem Titel Emer- gency Design wird nunmehr vor dem Hintergrund des Emergency Empire als Antithese Kontur gewinnen und als Folgeprojekt entworfen.

Karlsruhe, September 2008

Souveränität XV Gesamtübersicht

Emergency Empire - Transformation des Ausnahmezustands Teil 1: Souveränität Vorwort Einleitung 1. Genealogie A. Erde (1) B. Staat C. Ausnahmezustand C/I: Moderner AZ C/II: Postmoderner AZ 2. Grammatik A. Das Problem der Souveränität B. Antagonismus zwischen Staatsrecht und Menschenrechten C. Anomie (1): Gesetzesterror Anhang

Emergency Empire - Transformation des Ausnahmezustands Teil 2: Schauraum 3. Schauplatz A. Scene B. Opera C. Anomie (2): Medienbildterror 4. Replikation A. Replikation Emergency-Strategie B. Replikation Emergency-Szenario C. Anomie (3): Replikationsterror 5. Reversion C. Anomie (4): Geoterror B. Reverse Emergency Empire A. Erde (2) Konklusion Epilog Anhang IInhalt I Inhalt

Emergency Empire Transformation des Ausnahmezustands

Teil 1: Souveränität

Einleitung ...... 2

1. Genealogie des Krieges ...... 11 Intro: Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte ...... 12 A. Erde (1) ...... 16 1. Der Begriff der Erde und des Krieges ...... 16 1.1 Der Nomos der Erde ...... 16 1.2 Landnahme und Völkerrecht ...... 17 1.3 Raumordnung der Erde im Völkerrecht ...... 19 1.4 Der Begriff der Globalisierung (Globale Linie) ...... 20 B. Staat ...... 24 2. Der Begriff des Staates und Krieges ...... 24 2.1 Der Staat als Rechtssubjekt ...... 24 2.2 Kriegsrecht ist Raumrecht des Staates im Völkerrecht ...... 26 2.3 Moderne Völkerrechtsordnung ...... 28 2.4 Der Begriff des Politischen: Freund-Feind-Unterscheidung ...... 30

EMERGENCY EMPIRE XX Transformation des Ausnahmezustands Inhalt

C. Ausnahmezustand ...... 34 C/I: Moderner AZ ...... 34 3. Der Begriff des Ausnahmezustands ...... 34 3.1 Die Diktatur als Regierungsform des Ausnahmezustands ...... 36 3.2 Der Ausnahmezustand als Letztmittel der Souveränität ...... 38 3.3 Der Ausnahmezustand als Kriegsrecht (ius ad bellum) des modernen Krieges ...... 41 3.4 Der Ausnahmezustand als terminus technicus des Totalen Krieges ...... 44 3.5 Der Ausnahmezustand als terminus technicus des Kalten Krieges ...... 46 C/II: Postmoderner AZ ...... 48 Intro: Der Ausnahmezustand–das Kriegsrecht des Postmodernen Krieges ...... 48 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire ...... 52 4.1 Te Emergency – State of Emergency ...... 52 4.2 Transfer (1): Emergency Empire – Der AZ als aktuelles Paradigma globalen Regierens ...... 56 4.3 Agenda (der Präzedenzfälle, Maßnahmen und Institutionen des AZ/State of Emergency) ...... 60 4.4 Transfer (2): Emergency Empire – Der Ausnahmezustand im Zeichen unterschiedsloser Katastrophen ...... 78 5. Emergency-Strategie ...... 82 5.1 Enthegung des Krieges: Vom regulären Krieg zum irregulären Krieg ...... 85 5.2 Entnationalisierung des Krieges: Der diskriminierende Kriegsbegriff ...... 88 5.3 Entlegitimierung des Krieges: Asymmetrische Kriegsführung ...... 90 5.4 Transfer (3): Emergency Empire – Der Ausnahmezustand als eine privatisierte Instant- Strategie zur Herstellung des rechtsfreien Raumes . . . 95 6. Der Wandel des Feindes (1) ...... 98 6.1 Enthegung des Feindes: Vom (Nicht)Kombattanten zum virtuellen Akteur ...... 98 6.2 Entnationalisierung des Feindes: Der diskriminierende Feindbegriff ...... 99 6.3 Entlegitimierung des Feindes: Global Terror Player ...... 101 6.4 Typologie des postmodernen Akteurs ...... 103

Souveränität XXI Inhalt

7. Protecting the Homeland! – Das Branding im Designerkrieg der Supermacht ...... 106 I 7.1 Protecting Force ...... 106 7.2 Nachrichtenbeschaffung ...... 107 7.3 Intelligence Community ...... 111 7.4 Transfer (4): Emergency Empire – Präventionskrieg der Heimatschutzindustrie im Zeichen permanenter Bedrohung von (Welt-)Sicherheit und (Welt-)Demokratie ...... 112

2. Grammatik der Freiheit ...... 115 Intro: Alles Recht ist Situationsrecht ...... 116 A. Das Problem der Souveränität ...... 120 Intro: Staat und Seele –Eine psycho-politische Allianz . . 120 1. Politische Teologie ...... 125 1.1 Das Problem der Paradoxie ...... 128 1.1.1 Der nômos als göttliches Prinzip der Souveränität . . . . . 131 1.2 Das Problem der Entscheidung ...... 133 1.3 Das Problem der Doppelform ...... 135 1.3.1 Doppelort: Nomos und Physis ...... 135 1.3.2 Schwelle ...... 136 1.3.3 Doppelakt ...... 137 B. Antagonismus zwischen Staatsrecht und Menschenrechten ...... 139 Intro: Das Vorrecht des souveränen Staates ...... 139 2. Gesellschaftsverträge ...... 143 2.1 Hobbes: Leviathan ...... 143 2.2 Locke: Two Treatises of Government ...... 145 2.3 Rousseau: Contract social ...... 148 3. Wem gehört die Freiheit? ...... 151 3.1 Inhaberschaft ...... 151 3.2 Urheberschaft ...... 153 3.3 Autorenschaft ...... 155 4. Organizistische Staatskonzepte vs. Individualistische Staatskonzepte ...... 157 4.1 Leviathan und Behemoth ...... 157 5. Peacekeeping – Freiheit jenseits der Menschenrechte ...... 163 5.1 Die proportionale Aufhebung von Ausnahme und Widerstand im Gesetz ...... 163 5.2 Das Problem der humanitären Intervention ...... 165 5.3 Interventionismus und Katastrophenmarkt ...... 169 5.4 Transfer (6): Emergency Empire –Immunität und Dienstleistung, die Doppelform neo-souveräner Global-Protektion beyond the line ...... 172

EMERGENCY EMPIRE XXII Transformation des Ausnahmezustands Inhalt

C. Anomie (1): Gesetzesterror ...... 178 Intro: Demokratie in Not! ...... 178 6. Terror ist Ausnahme in ultima ratio ...... 181 6.1 Ultima Ratio Regis ...... 181 6.2 Emergency heißt Notstand für die Gesetzes- und Gewaltenlage des Staates ...... 182 6.3 Die Doppelfigur des AZ/State of Emergency: Privileg und Notstand ...... 184 6.4 Staatsterror: AZ und souveräner Kriegsdiskurs ...... 185 6.5 Revolutionsterror: Guerilla und sozialrevolutionärer Kriegsdiskurs ...... 188 6.5.1 Abgrenzung zum Begriff des Terrorismus ...... 189 6.5.2 Stadtguerilla und der Übergang zum Begriff des Terrorismus ...... 191 6.6 Verschuldung des Staates als Ursache der Ultima Ratio Regis ...... 192 6.7 Transfer (7): Emergency Empire – Zusammenfall von souveränem und revolutionärem, ökonomischem und securitärem Kriegsdiskurs im offensiven und verdeckten Gesetzesterror ...... 196 7. Gouvernementalität und Kriminalität ...... 200 7.1 Die Auflösung der Regierung ...... 200 7.2 Freiheit und Kapitalismus: Die Gewaltmandate der Unternehmen ...... 203 7.2.1 Die Wirtschafts-Performance der Schock-Strategie . . . . . 203 7.2.2 Die Mission des Liberalismus ...... 205 7.2.3 Das Management-Paradigma ...... 207 7.3 Emergency-Corporations: Die neuen Unternehmenshybride und Kriegseigentümer ...... 209 7.3.1 Von der Gouvernementalität des Staates zur Governance der Emergency-Corporations ...... 211 7.3.2 EHM–Korporatokratie ...... 213 7.4 Transfer (8): Emergency Empire – Global Monopoly und Schattenglobalisierung, das Doppel- Paradigma neo-souveräner Global Governance ...... 215 7.4.1 Global Monopoly ...... 215 7.4.2 Schattenglobalisierung ...... 217 7.4.3 Der Schweizbonus der Trusties und Investoren ...... 219 7.4.4 Sopranos, Bannanos etc. und der Mafia-Chic im neuen Europa ...... 221

Anhang ...... 225 Bibliografie ...... 226 Ein persönliches Wort ...... 236 Autorinnen ...... 238

Souveränität XXIII EEinleitung E Einleitung Transformation des Ausnahmezustands (1)

Das Inkrafttreten eines nationalen oder supranationalen Ausnahmezu- stands heißt nicht selten, dass die Grundrechte von Menschen, wie auch die Bürgerrechte des Rechtssubjekts, durch Regierungserlasse eingeschränkt oder (vorübergehend) außer Kraft gesetzt werden können. Hierbei kön- nen u.a. Wirtschaftsfreiheit, Pressefreiheit, Postgeheimnis und Schutz der Wohnung betroffen sein. Staaten und Regierungen sind nicht verlegen, sich im Ausnahmefall auf ihr quasi naturgegebenes Recht (inherent right) der Selbstverteidigung zu berufen und in Folge dessen genuin naturrecht- lich begründete Menschrechte zu suspendieren und zu annullieren. Wenn hier eine Transformation des AZ ins Kalkül gefasst wird, dann verbindet sich mit dem Anliegen die Erschließung eines umfassenden Verständnisses sowohl für die Kategorie des AZ, wie auch für die dem AZ zugrunde liegende Gesetzeslogik, Verfassungslogik und Souveränitätslo- gik. Die Untersuchung beginnt mit den AZ der Moderne und mündet in der Darstellung des Postmodernen AZ. Innerhalb dieses transformato- rischen Bogens bleiben gewisse Parameter des Gesetzes, der Gesetzes- kraft und der Souveränität, welche in den Gründungsmodellen der Frü- hen Neuzeit ihren Ausgangspunkt haben, bis heute nahezu konstant. Die Transformation in dieser Arbeit bezieht sich konkret auf den Übergang der staatspolitischen und ökonomiepolitischen Zusammenhänge des AZ von der Moderne zur Postmoderne. Da der Ausnahmezustand nicht losgelöst von einem Kriegszu- stand diskutiert werden kann, ist es die zentrale Aufgabe dieser Arbeit „Transformation des AZ“, synchron auch eine Transformation der Figur des Krieges vorzunehmen. Hierbei beziehe ich mich auf die Teorien und

EMERGENCY EMPIRE 2 Transformation des Ausnahmezustands Einleitung

Entwürfe u.a. von Carl von Clausewitz, Michel Foucault, Herfried Münk- ler und Martin van Creveld. Um zu einem vollständigen Verständnis über den modernen Be- griff des AZ zu gelangen, ist es von vorneherein notwendig, ihn als Ge- genstand von zwei differenten (obzwar auch miteinander verbundenen) Anwendungen zu betrachten. Zum einen liegt uns der AZ als Teorem der politischen Teorie vor, explizit in dieser Formulierung seit 1922 bei Carl Schmitt¹². Zum anderen liegt uns der AZ als terminus technicus für einen konkreten politischen Akt der Ermächtigung auf staatsrechtlicher Ebene vor. Die erste Differenz, die wir hier markieren, ist jene zwischen dem AZ als Topos der politischen Teorie, der politischen Philosophie, der politischen Teologie, der Staatslehre, der Verfassungslehre, der Rechtsleh- re und dem AZ als politische Maßnahme der Staatsgewalt, als Sonderfall der Rechtsordnung, mit welchem sich der Staat, bzw. eine Regierung das Privileg oder den Status des ‚ordentlichen’ Kriegsrechts, d.h. des völker- rechtlich legitimen Kriegsrechts, selbst erteilt. Beide Formate des AZ, das der politischen Teorie und das der poli- tischen Maßnahme, der Staatslehre und der Staatsgewalt, verweisen auf eine begriffshistorische, wie auch gewaltenhistorische Genealogie. Zu- dem stehen sie in einer direkten Interdependenz. Eine weitere Differen- zierung nehmen wir am Punkt des rechtssprachlichen Gebrauchs vor, so dass wir das Erscheinungsmoment des Begriffs des AZ differenzieren zwischen einem Auftreten im deutschen Sprachraum, in der deutschen Rechtslehre und einem Auftreten im angelsächsischen Sprachraum, in der englischen und amerikanischen Rechtslehre. Im deutschen Sprach- raum tritt der Begriff im politischen Vollzug erstmalig 1933 mit dem Er- lass der Reichtagsbrandverordnung und dem anschließenden Ermäch- tigungsgesetz auf den Plan. Im angelsächsischen Sprachraum wird der Präzedenzfall des AZ 1939 mit dem Erlass der Irischen Regierung wäh- rend des Zweiten Weltkrieges registriert. Darüber hinaus ist eine welt- weite Säkularisierung des Begriffs nach dem Zweiten Weltkrieg im zivi- len Sektor zu verzeichnen. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass ein erstmaliges Auftreten des Begriffs als Topos der politischen Teorie und der deutschen Rechtsleh- re, namentlich in der politischen Teologie bei Carl Schmitt 1922, vor- liegt. Ein erstmaliges Auftreten des so genannten Begriffs als politische Maßnahme der deutschen Regierung wird auf 1933 datiert, sowie ein erstmaliges Auftreten des Begriffs „Te Emergency“ oder „State of Emer- gency“ im angelsächsischen Sprachraum auf 1946. In beiden Fällen ist also deren Entstehung im Verlauf des Zweiten Weltkrieges festzustel- len. Ein weltweites säkularisiertes Auftreten des englischen Begriffs „Te Emergency“, „State of Emeregency“, bzw. emergency im zivilen Sektor, tritt etwa seit 1950 mit dem Beginn der Post War Periode in Erscheinung. Im „Kapitel 2“ wird eine begriffshistorische Klärung zum Begriff des ¹² vgl. Carl Schmitt, Die Politi- sche Teologie, Berlin: Duncker AZ mit Bezugnahmen auf Modelle und Debatten im 17. und 18. Jahrhun- & Humblot 1990, [Erstauf- dert vorgenommen. Hier wird der Fokus auf die Staatstheorie von Tomas lage 1922]

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Hobbes, dem Leviathan, gesetzt. Bei dieser Untersuchung ist es unerläss- lich, den vergleichenden Blick ebenso auf die Staatslehre von Locke, sowie E die Rousseaus und Robespierres zu lenken, da alle vier Denker die Debat- ten und den Diskurs der politischen Teorie und der politischen Ökono- mie im Vorfeld der demokratischen Revolutionen (England, Frankreich) prägen. Von Hobbes Staatslehre ausgehend, werden wiederum zentrale Begriffe wie Souveränität, Staat, Freiheit, Norm, Wille (den Aristoteles als Potenz bezeichnet) und Ausnahme, als Sonderrecht des Stellvertreters auf Freiheit (das Aristoteles als Akt bezeichnet) ihrerseits historisch veror- tet. Die Staatstheorie von Hobbes ist bindend für die Politische Teologie Carl Schmitts und nimmt direkten Einfluss auf die Bildung seines termi- nologischen Registers.¹³ Zentrale begriffliche Figuren in Schmitts Staats- theorie sind die Topoi der Diktatur, des Nomos, des Souveräns, der Er- mächtigung, schließlich dann erstmalig in dieser Wortkonstellation, des Ausnahmezustands.¹⁴ Der Ausnahmezustand, im Fokus der frühneuzeit- lichen Verträge als dritter Zustand innerhalb einer Gesellschaft bezeich- net, steht über dem Naturzustand und dem Vertragszustand – es ist der Zustand der ausschließlich der Person des Souveräns als Stellvertreter Gottes zusteht und den Begriff der Freiheit verwaltet. Hier spalten sich auch die Rechtsfragen der Freiheit in die der bürgerlichen Freiheit und der souveränen Freiheit. Während die bürgerliche Freiheit als die Freiheit zur Pflicht entworfen wird, ist die souveräne Freiheit die Freiheit zur Ausnah- me, nämlich zum persönlichen Willen.¹⁵ Von Schmitts Staatslehre ausge- ¹³ Carl Schmitt, Der Leviathan hend, wird der Bezugsrahmen vornehmlich zum Nomos gesetzt, einer der in der Staatslehre des Tomas markantesten Begriffe in der Schmitt’schen Souveränitätslehre¹⁶ und zu Hobbes: Sinn und Fehlschlag ei- nes politischen Symbols, Köln: den platonischen Terminologien physis und nômos¹⁷ hin erweitert. Ebenso Hohenheim 1982 nimmt Schmitt Bezug zum Gewaltprinzip der Souveränität bei Aristoteles ¹⁴ Carl Schmitt, Die Diktatur, Berlin: Duncker & Humblot (Metaphysik), das sich aus der Verbindung von Potenz und Akt, dynamis 1987 und energaia erklärt. Es findet sich bei Schmitt in der Auseinandersetzung ¹⁵ „[D]enn das Recht ist Frei- zu Entscheidung und Norm, zwischen konstituierender Gewalt (pouvoir heit, d.h. Ausnahme von den bürgerlichen Gesetzen.“ To- constituant) und konstituierter Gewalt (pouvoir constitué) wieder. mas Hobbes, Leviathan, Stutt- Schließlich führt die Betrachtung des Gewaltprinzips der Souverä- gart: Reclam 1980, S. 242 ¹⁶ vgl. Carl Schmitt, Der No- nität zur Unterscheidung zwischen zoe und bios zurück, wie sie in der Ni- mos der Erde, Berlin: Duncker komanischen Ethik bei Aristoteles¹⁸ formuliert ist und als Grundlagen & Humblot 1950 und Carl für die biopolitischen Debatte bei Foucault gilt. Hierzu seien zwei Zita- Schmitt, Staat, Grossraum und Nomos, Berlin: Duncker & te gegenübergestellt: „Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblie- Humblot 1995 ben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer poli- ¹⁷ Platon, Nomoi, Buch I-XII, in: Platon, Sämtliche Werke, Bd. 4, tischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen : Rowohlt 2006 Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.“¹⁹–„Doch das Ein- ¹⁸ Aristoteles, Die beste Lebens- form (bios), in: Politik, Ham- treten des zoe in die Sphäre der polis, die Politisierung des nackten Lebens burg: Rowohlt 2003 als solches bildet auf jeden Fall das entscheidende Ereignis der Moderne ¹⁹ Michel Foucault, Sicherheit, und markiert eine radikale Transformation der klassisch politisch-philo- Territorium, Bevölkerung. Ge- schichte der Gouvernementali- sophischen Kategorie.“²⁰ Die biopolitische Debatte weist zwei Merkmale tät I, Frankfurt am Main: Suhr- auf: Zum einen die Ausrichtung auf die Kontrolle und Vernichtung von kamp 2006, S. 171 ²⁰ Giorgio Agamben, Homo sa- Leben, zum anderen auf die Heiligung des Lebens, das sich opfert bzw. cer, S. 14 geopfert wird, also auf die Debatte des Opfers. Diese Debatte schließt die

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Liturgie ein und die Transformation vom Menschen als politisches Tier (zoe/bios, Aristoteles/Agamben) und als homo homini lupus est (Plautus/ Hobbes) zum geheiligten Leben, zum homo sacer. Es ist als das besondere Verdienst in Giorgio Agambens Analysen festzuhalten, dass er mit der Definierung der sog. Ununterschiedenheit, zum einen die Ununterschiedenheit zwischen Anomie und Norm festhält– was ihn zu der Tese vom AZ als permanente Regierungstechnik führt bzw. zur Erkenntnis, dass die Ausnahme überall zur Regel geworden ist (Schmitt/Agamben) – und zum anderen die Ununterschiedenheit „zwischen Außen und Innen, Ausschließung und Einschließung, nômos und physis, Gewalt und Recht“²¹. Interessant ist hierbei die Öffnung der Rechtsrheto- rik für eine Raumrhetorik. Darüber hinaus setzt sich hier der klassische Diskurs über das unergründbare Entscheidungsrecht des Souveräns, wie es seit Hobbes vorliegt fort, das Jacques Derrida den „mystischen Grund der Autorität“ nennt und schließlich Carl Schmitt das Wunder der souve- ränen Form. Die Metapher für dieses Phänomen souveräner Gewalt findet Agamben im Begriff der Schwelle²² und der Zone der Anomie. Dies ist eine weitere Synchronität, die in Agambens Souveränitäts- Analysen auf dezidierte und hervorragende Weise erschlossen wurde. Mit seiner Schrift Homo Sacer hat Agamben einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis des Prinzips der Ausnahme (exception), der Heiligkeit, der Schwelle im Prinzip des Opfers geleistet, welches sowohl dem Leben des Souveräns, wie auch dem singulären Leben des Einzelnen, Betroffe- nen inhärent ist. Von dieser Erarbeitung können wir auf eine Transfor- mation eben des Prinzips der Ausnahme und auf das Prinzip des Men- schenlebens schließen. Jedes Leben ist nacktes Leben, wie auch heiliges Leben (homo sacer) und souveränes Leben zugleich. Der von Agamben eingeführte und so bedeutsame Begriff Ununterschiedenheit ermöglicht uns, Staatslehre, Souveränitätslehre, Gesetzeslehre, Rechtslehre aus ei- nem totalitären Sichtfeld herunterzubrechen, quasi zu atomisieren und auf einer molekularen Ebene zu untersuchen, die im zweiten Teil dieser Arbeit mit dem Begriff der Mikrotopie in den Diskurs eingeführt wird. Die souveräne Mikronomie würde der Agamben’schen Position eines Unent- scheidbaren²³ unter Hinzunahme eines weiteren Begriffstopos entspre- chen: dem Bann²⁴. Was Agamben als Bann formuliert, ist die spezifische Bezirksgrenze der Mikrotopie, unter Einschluss ihrer Mikronomie. Das retroperspektivische²⁵ Erschließen jener zentralen, in der Souve- ²¹ ebd., S. 38 ²² „Der Souverän ist der Punkt ränitätslehre bei Hobbes und Locke, bei Rousseau, Robespierre und auch der Ununterschiedenheit zwi- Sieyès, wie auch bei Schmitt enthaltenen Begriffstopoi, verweist in beide schen Gewalt und Recht, die Schwelle, auf der Gewalt und Richtungen–auf die Trägerschaft evidenter Diskurslinien, sowohl in die Recht in Gewalt übergeht.“ vgl. Antike, als auch in die Moderne und Postmoderne. Giorgio Agamben, Homo sa- So können wir durchaus annehmen, dass die bei Schmitt diskutier- cer, S. 42 ²³ ebd., S. 38 ten Topoi wie physis und nômos, sowohl ihren Anker in der antiken Dis- ²⁴ ebd., S. 39 kussion beispielsweise bei Platon haben, wie auch als Agenzien in den ²⁵ Der Begriff der Retroperspek- tive wurde 1997 durch Cathe- terrestrischen, geopolitischen und geopsychologischen Teorien bei Gil- rine David zum Programm der les Deleuze, Felix Guattari und bei Peter Sloterdijk auftreten. Documenta X erklärt.

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Der in der Souveränitätslehre, Staatslehre und politischen Teologie des 17. bis 20. Jahrhunderts zentrale Topos der Gewalt vs. Gott/Göttlich fin- E det seine Herkunft in den antiken Werken Platons und seine Fortsetzung in modernen Kontroversen. Das der Gewalt oder auch göttlichen Gewalt im- manente Dualprinzip von Potenz und Akt lesen wir bei Aristoteles als Dual- prinzip von dynamis und energaia, bei Schmitt als Dualprinzip von pouvoir constituant und pouvoir constitué, von Monopol und Entscheidung, und bei Benjamin als aktive Gewalt und passive Gewalt in der Rede, als rechtssetzen- de Gewalt (Militarismus) und rechtserhaltende Gewalt (Drohung).²⁶ Das Gewaltmonopol des Souveräns beinhaltet die Ausrichtung sei- ner Position als Diktator oder Tyrann. Moderne Fortsetzungen dieser Diskursmodelle finden wir bei Chantal Mouffe, Ernesto Laclau, Antonio Gramsci, als Entwürfe zu Hegemonie und radikaler Demokratie. Es sind die im vorstaatlichen Naturzustand eingeschlossenen Kernprinzipien der Freiheit und des Widerstands, quasi der Selbstver- teidigung, wie es bei Hobbes heißt, modifiziert zum inherent right auf Le- ben, zum Überlebens- und Lebensrecht, auf das sich Staaten wie auch Individuen gleichermaßen berufen, wenn sie das Argument der Not wäh- len. Im Unterschied zu Individuen monopolisieren Staaten, Regierungen und neue gouvernementale Korporationen (Emergency-Corporations) die- ses inherent right und politisieren, das heißt kriminalisieren es als Trigger für den politischen und juristischen Ausnahmezustand. Entfachte Diskussionen zum Widerstandsrecht wie auch zum Na- turrecht als quasi inherent right zur Notwehr und Selbstverteidigung, werden in der Geschichte überwiegend zu Gunsten von Staaten und sou- veränen Personen entschieden und zu Ungunsten des Menschen. Diese Tatsache ist begründet in der Ursache der Verträge. Als Maxime der Ge- sellschaftsverträge gilt durchgängig, dass ein Naturrecht im Souverän weitertransportiert wird, quasi hinübergerettet wird in sein Monopol, als sein Recht auf Entscheidungsfreiheit, während selbe Rechte sämtlichen Untertanen, Bürgern etc. abgesprochen werden. Die akute Frage, die seit der Antike, über die Frühe Neuzeit bis in die Moderne und Postmoderne hinein kontrovers bleibt, ist die Frage nach der Trägerschaft des Wider- standsrechts. Hier gibt vor allem Sloterdijks Entwurf in Zorn und Zeit als postkommunistisches Diskursplateau Aufschluss, wie auch Groys’ Kom- munistisches Postskriptum und noch einmal Mouffe in Exodus und Stel- lungskriege–Die Zukunft radikaler Politik. Die dem Souverän zugeeignete ambivalente Topologie seiner Exis- tenz außerhalb jeder Verfassung, außerhalb der Rechtsnorm und den- noch ihr zugehörig, da über diese totalitär durch sein inhärentes Ent- scheidungs- und Gewaltmonopol verfügend, führt uns zu den Debatten über Inklusion und Exklusion, Lebensrecht und Todesstrafe – und deren ²⁶ Walter Benjamin, Zur Kritik natürlichen Folgen in rechtlichen wie existenziellen Ausnahmezuständen. der Gewalt, in: Walter Benja- Das euphemistische Charisma, das einen durch Gewaltenmonopo- min, Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt am Main: le erlassenen Ausnahmezustand bemäntelt, birgt ein hohes moralisches Suhrkamp 1999, S. 49-51 Risiko der ausführenden Instanzen in sich. Ein Euphemismus verklärt

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die Politik des AZ, die auf einer Jahrhunderte, wenn nicht sogar Jahrtau- sende²⁷ währenden Debatte basiert, wem nun die naturrechtlich begrün- dete Freiheit, das Widerstandsrecht gehören. Seit Hobbes und dem Para- digmenwechsel zum Gesamtkörper des Staates, des Volkes, vollzieht sich der AZ unter dem Edikt des Souveräns und da ihm die aus dem Naturzu- stand hinübergerettete Freiheit alleine zusteht, unter seiner Willkür. Da „Das Volk“ das Produkt eines Tauschhandel ist, so wird es jedenfalls in den Debatten seit der frühen Neuzeit besprochen, hat es sich der Dezi- sions- und Suspendierungsgewalt des Souveräns zu fügen. Dies gilt seit der Frühen Neuzeit bis heute als vertraglich geregelte Ordnung, nach der ein AZ nur von kriegführenden Souveränen erlassen werden kann (und nicht etwa von einem Individuum oder einem politischen Subjekt, sofern es nicht im Besitz irgendeines Monopols, bzw. einer Trademark ist). Das Prinzip des Euphemismus beinhaltet also den zum Gewaltakt des Staates synchronen Medienakt der Bemäntelung der Ausnahme-Ursachen. Der Euphemismus der im Jahre 1933 durch die NSDAP erlasse- nen Reichstagsbrandverordnung lautete: Verordnung des Reichspräsiden- ten zum Schutz von Volk und Staat. Ziel einer euphemistischen Propagan- da ist die Festschreibung von Feindbildern und Alibis für den totalitären Feldzug. Das Feindbild liefert dem „kleinen Menschen“²⁸ ein psycho-po- litisches Regulativ für den Verlust von Norm und Recht, der Konsequenz für den Bürger im AZ. Je nachhaltiger, je pathetischer der Feind in Sze- ne gesetzt ist, desto effektiver ist die Konsequenz in Form von Patriotis- mus, Euphorie und Hysterie, der so genannten Mitläuferschaft auf der Medienoberfläche.²⁹ Demnach handelt es sich bei dem Euphemismus von Regierungstechniken um Inszenierungstechniken bzw. Designtechniken, welche die Symptome euphemein und euphoria, wie auch pathos und pa- thologikos in einen direkten Kaulzusammenhang stellen. Aktuelle Euphemismen in kriegführenden Demokratien (Wirt- schaftskrieg, Antiterrorkrieg) sind nach wie vor in einer Rhetorik der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verankert. Eu- phemismen werden täglich im öffentlichen Leben durch Medienappara- te erzeugt. Eine zentrale euphemistische Strategie von supranationalen Unternehmen, die beispielsweise in globalen Allianzen kooperieren, ist das Marketing. Hierbei sind Produktwerbung und der daraus resultie- rende Konsumismus wie auch Inkorporation des Konsumenten in eine Markenpolitik (Brand, Trademark) von zentraler Bedeutung als psycho- politisches Regulativ der monopolisierten Ausnahme. Deshalb kann der aktuelle weltumspannende Euphemismus unseres Heimatschutzminis- teriums, Protecting the Homeland!, als Branding im Designerkrieg der Su- ²⁷ ...seit Platon und dem für das permacht akzeptiert werden. Abendland grundlegenden Ent- Der Ausnahmemensch bei Nietzsche hat noch weit vor den moder- wurf der Nomoi. ²⁸ Friedrich Nietzsche, Also nen Souveränitätseskalationen in den bekannten Führerfiguren Europas sprach Zarathustra, München: seine konkrete und hochaktuelle Benennung zwischen Tyrann und Ter- dtv, de Gruyter 1988, S. 211 ²⁹ Boris Groys, Unter Verdacht. rorist erhalten. „Die selben neuen Bedingungen, unter denen im Durch- Ein Phänomenologie der Medien, schnitt eine Ausgleichung und Vermittelmäßigung des Menschen sich he- München: Hanser 2000

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rausbilden wird – ein nützliches arbeitsames, vielfach brauchbares und anstelliges Herdenthier Mensch -, sind im höchsten Grade dazu angethan, E Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und anziehendsten Qualität den Ursprung zu geben.“³⁰ „Während also die Demokratisierung Europa’s auf die Erzeugung eines zur Sklaverei im feinsten Sinne vorbereiteten Typus hi- nausläuft: wird, im Einzel- und Ausnahmefall, der starke Mensch stärker und reicher gerathen müssen, als er vielleicht jemals bis dahin gerathen ist.“³¹ Schließlich: „[D]ie Demokratisierung Europa’s ist zugleich eine unfreiwil- lige Veranstaltung zur Züchtung von Tyrannen,–das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigen.“³² Der Kerngedanke dieser hier vorliegenden Transformation bezieht sich auf die Ermächtigungspolitik von Gewalt-, Entscheidungs-, Wirt- schafts- und Finanzmonopolen im AZ. Denn in letzter Konsequenz sind Menschen, Einzelnwesen, Individuen und Netze, Subjekte und Intersub- jekte, Opfer dieser Maßnahme. Hinzu kommt dass jeder AZ von einem Euphemismus begleitet wird, von Propaganda, Medienpolitik und Mar- keting. Dieser Euphemismus heißt durchgängig in jeder geschichtlichen Phase des AZ: für die öffentliche Sicherheit und Ordnung; bzw. im Na- men des Volkes, bzw. zum Schutz von Volk und Staat, oder für Demokra- tie und Frieden. Das Gegenteil ist der Fall. Diese Arbeit untersucht sowohl die rechtshistorischen und ökono- miepolitischen Hintergründe des AZ, wie auch rechtspolitische Bedin- gungen für den Widerspruch und das Einschreiten eines Subjekts/In- tersubjekts, beispielsweise im Widerstandsrecht. Wenn Staaten sich auf ihr Widerstandsrecht berufen, dann nur weil sie dieses aus den inherent rights der Regierten ableiten. Ein Entscheidungsmonopol, wie es bei Carl Schmitt heißt, kann aber unmöglich ausschließlich bei einem Staatssou- verän liegen, wenn nicht im selben Maße das selbe Recht zur Entschei- dung beim Subjekt liegt – vor allem das Recht auf seinen AZ, der nicht selten eingefordert werden müsste in Folge von Staats- und Monopol- willkür im Rahmen souveräner AZ. Die Arbeit zeigt die zwingende Ambivalenz in Begriffen des Rechts, des Staates und der Person auf, wie sie den Entitäten politischer Produk- tionen innewohnt–zum Beispiel „Diktatur“ und „Demokratie“, „Souve- rän“ und „Volk“, „Menschenrecht“ und „humanitärer Intervention“ – und die den Entitäten im Produktionsfeld des Emergency Empire eine neue Karriere als Medien- und Verkaufsoberflächen garantiert. Es war John Locke, der in seinen Entwürfen den Grundstein für die Menschenrechte legte, und gerade ein Staat wie die USA, für den Lockes Entwurf zum zentralen Bestandteil der Verfassungsgrundlegung wurde, annulliert im Ermächtigungsvollzug seiner Verteidigungs- und Sicher- heitspolitik diese Menschenrechte. Geltend geworden sind hingegen in ³⁰ Friedrich Nietzsche, Zur Ge- nealogie der Moral, München: aller Ausschließlichkeit die ebenfalls von Locke begründeten ökonomi- dtv, de Gruyter 1988, S. 183 sche Freiheitsrechte des Eigentums. ³¹ Friedrich Nietzsche, Zur Ge- nealogie der Moral, S. 183 Giorgio Agambens Tese vom weltweiten permanenten Ausnahme- ³² ebd. zustand, welcher die Analyse eines weltweit permanenten Bürgerkrieges

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als globale Regierungstechnik zugrunde liegt, wird in die hier vorliegen- de Arbeit aufgenommen, fortgesetzt und in die Teorie vom Emergency Empire überführt. Wie weiter unten dargestellt wird, sind die Ergebnisse über eine et- waige Verschiebung der Formation des Krieges für die weitere Einschät- zung eines aktuellen Kriegs-Typus bedeutend. Die Agamben’sche Zone der Anomie, jene Schwelle der Ununterschie- denheit betrifft nicht nur das Zusammenfallen als gleichzeitige Aufhe- bung der Potenzen und Evidenzen des Souveräns im Status der Ausnah- me, sondern vor allem den öffentlichen Raum generell. „Der Krieg gegen den Terror ist globalisiert und diffus. Er hat kein Zentrum, hat nichts, um sich seiner Identität zu vergewissern. Er wird als «fourth genertaion war» bezeichnet. In dieser Art von Krieg verschwimmen die Grenzen zwischen Krieg und Politik, Soldat und Zivilist, Frieden und Konflikt, Schlachtfeld und Sicherheit [vgl. Ununterschiedenheit]. Es ist nicht länger ein Krieg zwischen Staaten, sondern zwischen Staaten (oder Staatenbündnissen) und einem gewaltbereiten ideologischen Netzwerk.“³³ Vor allem an die- ser Stelle (wie auch an der Stelle der neuen Kriegsformation, weiter un- ten) ist es unerlässlich, Manuel Castells Begriff der Netzwerkgesellschaft³⁴ zu platzieren. Dieser besagt nämlich im hier vorgestellten Temenzu- sammenhang die konkrete Ablösung des Kriegsgeschehens vom souverä- nen Staatsterritorium und die Übertragung der Präambeln des Souveräns, seiner Potenzen und Evidenzen der totalen Willkür, auf globale Netzter- ritorien. Es sei verfehlt, nicht davon auszugehen, dass innerhalb dieser Verschiebung (betreffend Verfassung, Raum und Krieg) von Flächen- territorien auf virtuelle Territorien, die Reglements des souveränen AZ überholt sind. Eine Arbeit über die Transformation des AZ bedeutet letztlich eine Arbeit über die Transformation der Katastrophe. Nach Lars Clausen sind sämtliche Katastrophen Kulturkatastrophen und schließen Krieg, Terror, Revolte mit ein. Der Grund für die Übernahme des Clausen’schen Katast- rophenmodells ist für mich im Argument des AZ als Logistik und als Stra- tegie begründet. Der AZ, in Form einer partiellen oder totalen Suspendie- rung von Rechten, wird in jeder Katastrophe zum wirkungsmächtigsten Faktor. Somit wird hier die Tese vom Zusammenfall sämtlicher Katastro- phen in einem (ununterschiedenen) Raum des Emergency aufgestellt. Im Rückblick auf historische Katastrophen, wie beispielsweise auf das Erbeben von Lisabon 1710, wird verständlich, warum alle Katast- rophen Kulturkatastrophen sind – sie haben jeweils und immer wieder ³³ Sam Jocob, Die Utopie der nachhaltig die Grundwerte des Lebens erschüttert und neu definiert. Das Angst, in: 5 Codes, Architektur, Erdbeben von Lisabon warf auch für Philosophen und Teologen ein al- Paranoia und Risiko in Zeiten tes Problem neu auf: Wie kann ein allmächtiger und gütiger Gott ein so des Terrors, Basel: Birkhäuser 2006, S. 117-118 gewaltiges Unglück wie das Erdbeben von Lissabon zulassen? Warum ³⁴ Manuel Castells, Das Infor- hatte das Beben die Hauptstadt eines streng katholischen Landes getrof- mationszeitalter, 3 Bd., [Bd 1: Der Aufstieg der Netzwerkgesell- fen, das sich auch für die Verbreitung des Christentums in der ganzen schaft], Leverkusen: Leske & Welt eingesetzt hatte? Und warum überdies am Festtag Allerheiligen? Budrich 2001

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Und warum waren zahlreiche Kirchen dem Beben zum Opfer gefallen, aber ausgerechnet das Rotlichtviertel Lissabons, die Alfama, verschont E geblieben? An diesem Diskurs beteiligten sich Gelehrte wie Voltaire, Kant und Lessing. Es entstand Voltaires berühmter philosophischer Ro- man „Candite oder der Optimismus“ (1759), in dem er der Teodizee Leibnitz’ eine Absage erteilte und auf sarkastische Weise widersprach. „Kaum haben sie, den Tod ihres Wohltäters beweinend, die Stadt betre- ten, als sie die Erde unter ihren Füssen beben fühlen; schäumend erhebt sich das Meer im Hafen und zerbricht die Schiffe, die vor Anker liegen. Wirbel von Flammen und Asche hüllen Strassen und Plätze ein; die Häu- ser stürzen zusammen, die Dächer werden von den Mauern gefegt, und die Mauern brechen auseinander; dreißigtausend Einwohner jeden Al- ters und Geschlechts werden unter den Trümmern erschlagen. Pfeifend und fluchend bemerkte ein Matrose: «Hier wird etwas zu holen sein.«– »Was könnte wohl der Grund für dieses Phänomen sein?» sagte Pangloss. «Der Jüngste Tag ist gekommen!» rief Candite aus.“³⁵ In seinem Stück „Konversation in einer Kutsche zwischen den Her- ren Exner und van Leyden über die Möglichkeit von Metaphysik nach Lissabon“ stilisiert Peter Sloterdijk die theodizeesche Wende, ausgelöst durch das Erbeben von Lissabon, mit dem Stilmittel eines mobilen Ge- sprächsensembles (in der Reisekutsche), die praktisch die temporäre Bühne eines Zeitepos ist. „Seit der große Leibnitz deduziert hatte, dass Gott unmöglich eine bessere Welt als eben die vorhandene hätte schaffen können, war der Geist der Zeit daran gewöhnt, die Übel der Welt mit nachsichtigeren Au- gen zu betrachten. Man gefiel sich in der Annahme, dass das Negative in der Ökonomie des Universums keine Größe erster Ordnung darstellt, sondern nur durch unsere verwirrten Gedanken ins kosmische Spiel hi- neingetragen werde. Dann kamen die Nachrichten aus Portugal.“³⁶ In diesem Diskurs ist die gesamte Problematik der Souveränität, des Aus- nahmezustands, der Katastrophe, der Gesetze, des Un/Rechts und der Metaphysik zusammengefasst. Es ist bestimmt keinem Zufall zuzurech- nen, dass die theodizeesche Wende ziemlich zeitgleich mit der Geburt des terrors der Französischen Revolution (dreißig Jahre später) ausgetra- gen wurde.

³⁵ Voltaire, Candide oder Der Optimismus, [Fünftes Kapitel: Sturm, Schiffbruch, Erdbeben und was aus Doktor Pangloss, Candide und dem Widertäufer Jacques wurde], Leipzig: Re- clam 2001, S. 25 ³⁶ Peter Sloterdijk, Der Zau- berbaum. Die Entstehung der Psychoanalyse im Jahr 1785, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, S. 69

EMERGENCY EMPIRE 10 Transformation des Ausnahmezustands 1Kapitel 1 Kapitel 1 1 Genealogie des Krieges

Intro: Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte

Der französische Philosoph Michel Foucault setzte sich im Jahr 1976 mit den theoretischen Überlegungen von Clausewitz zum Krieg, der Po- litik im Krieg und der damit verbundenen Geltungsdauer des Ausnah- mezustandes auseinander. Schon mit dem Titel dieser Vorlesung „Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte“ markiert Foucault ein For- schungsprogramm, das nicht nur das Phänomen und die Geschichte der Kriege beschreibt, sondern den mit Kriegen verbundenen Ausnahmezu- stand als grundlegendes und konstituierendes Moment der modernen Geschichte und Gesellschaft auf allen ihren Ebenen bestimmt. „Die erste Frage ist folgende: wie, seit wann und warum hat man angefangen wahrzunehmen oder sich vorzustellen, dass es der Krieg ist, der unterhalb und innerhalb der politischen Beziehungen funktioniert? Seit wann, auf welche Weise, aus welchem Grund hat man gedacht, dass so etwas wie ein ununterbrochener Kampf den Frieden durchzieht und dass also die zivile Ordnung im Grunde und in ihren wesentlichsten Me- chanismen eine Schlachtordnung ist? Wer ist auf die Idee gekommen, dass die Zivilordnung eine Schlachtordnung ist? Wer hat die Idee gehabt, den Grundsatz von Clausewitz umzudrehen, wer hat die Idee gehabt zu sagen: es mag sein, dass der Krieg die mit anderen Mitteln geführte Po- ³⁷ Michel Foucault, Vom Licht litik ist – oder vielmehr: wer hat den Grundsatz formuliert, den Clause- des Krieges zur Geburt der Ge- schichte, Berlin: Merve 1986, witz umgedreht hat, als er sagte, der Krieg ist nur die anders geführte S. 7f. Politik?“³⁷

EMERGENCY EMPIRE 12 Transformation des Ausnahmezustands Intro

Clausewitz denkt den Krieg als den Akt der „Niederwerfung des Gegners“, der wie in einer Art „Zweikampf“ durch den entschlossenen Einsatz militärischer Gewalt unter Nutzung aller Ressourcen der Na- tion niedergerungen wird. Mit dem Krieg ist eine maßlose Eskalation und Kraftanstrengung eingeschrieben, der in „seiner Eigendynamik“ dazu tendiert, „sich zu einem einzigen Vernichtungsschlag ohne Dau- er zusammen zu ziehen.“³⁸ Clauswitz entwickelte seine Teorie vor dem Hintergrund der Napoleonischen Kriege und dem Befreiungskrieg der Deutschen, die ganz Europa in einen einzigen Kriegszustand versetzen. Napoleons Strategie der Bewegung und des Überraschungsangriffs ent- sprach Clausewitz’ Grundsatz, dass der Krieg den Krieg im eigenen Land und den besetzten Gebieten ernährt. In den Clausewitz’schen Denkfiguren der Niederwerfung des Feindes und der Entfesselung der Gewalt entdeckt Foucault den Diskurs über den „Krieg als dauernde soziale Beziehung und als unauslöschlichen Grund al- ler Machtverhältnisse und -institutionen“.³⁹ Bei Clausewitz erscheint der Krieg zeitlich begrenzt, um rasch zu Bündnisdiplomatie überzugehen, die durch die Androhung militärischer Gewalt Frieden sichert. Foucault dage- gen versteht „den Krieg als Boden der Gesellschaftsbeziehungen“.⁴⁰ „Eine Schlachtlinie durchquert die gesamte Gesellschaft durchgängig und andau- ernd“⁴¹ ist eine der markanten Tesen in Foucaults kriegstheoretischen Aufsatz, welche seinen Diskurs vom binarisierten Gesellschaftskörper be- siegelt, indem es schließlich heißt, dass es der Rassenkrieg ist, der die fort- währende Zweiteilung der Gesellschaften in Lager überhaupt konstituiert. Diese Überlegungen Foucaults stehen am Anfang der in dieser Ar- beit vorgelegten Analyse der Transformation des AZ in der modernen Geschichte. Hier deutet sich an, dass der Begriff des AZ gesellschaftskon- stituierend ist und nicht losgelöst vom Begriff des Krieges, vom Begriff der Souveränität und wie später dargestellt, vom Begriff des Körpers ge- dacht werden kann. Die transformatorische Bewegung dieser Arbeit er- fasst keine Sentenz treffender, als der Titel der Vorlesung Foucaults: Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte. Hier wird das politische Projekt der Moderne angesprochen, das mit dem Begriff des Terrors in der Fran- zösischen Revolution beginnt und zu unterschiedlichen Gesellschafts- konzepten bei Rousseau, Robespierre oder Bonaparte führt. Es ist mit der Landnahme der neuen Welt verbunden und findet seinen Höhepunkt in Europa und Nordamerika vor und zwischen den beiden Weltkriegen. Gerade in diesem historischen Abschnitt zwischen den Gesellschaftsver- trägen des 17. Jahrhunderts bis zum totalen Krieg entstehen der moder- ³⁸ Carl von Clausewitz, Vom Kriege, [Achtes Buch: Kriegs- ne Krieg der Massenheere, die moderne Gesellschaft der Institutionen, plan, Kapitel 9: Kriegsplan, der moderne Staat des modernen Völkerrechts. wenn Niederwerfung des Von dem Begriff der Transformation wird in dieser Arbeit in einem Feindes das Ziel ist], Bonn: F. Dümmlers 1952 [Erstausgabe methodologischen Sinne Gebrauch gemacht. Es ist vielmehr auch der Ge- 1832], S. 907f. samtplan dieser Arbeit, die im hier vorgelegten Teil 1 mit den ersten zwei ³⁹ Michel Foucault, Vom Licht, S. 10 Kapiteln von insgesamt vier Kapiteln aufwartet, eine transformatorische ⁴⁰ ebd., S. 10 Sicht im Kontinuum des AZ von Krieg-Körper-Souveränität zu erzeugen. ⁴¹ ebd., S. 12

Souveränität 13 Intro

Zudem wird darauf Bezug genommen, dass Transformationen des Krie- ges, der Staaten, der Souveränität und insgesamt des AZ tatsächlich un- 1 ter einem historischen Gesichtspunkt stattfinden, nämlich im Sinne Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte. Was ist die Geschichte in Verbindung mit dieser Geburtsrhetorik, die man bereits bei Nietzsche⁴² antrifft? In welchem Verhältnis steht das Motiv der Geburt mit der Historie der Kriege? „Welcher Art sind die Be- ziehungen zwischen der Genealogie [...] und dem, was üblicherweise His- torie genannt wird?“⁴³ Und worin unterscheidet sich diese Foucault’sche Sentenz Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte von der Sentenz Carl Schmitts vom Nomos der Erde? Sie können beide unterschiedlicher nicht sein und dennoch, formal betrachtet, liegt ihnen ein gemeinsames Prinzip zu Grunde: das Prinzip des Krieges als Hauptfaden des Fortschritts und der Geschichte. In bei- den theoretischen Konzepten findet man das Prinzip der Transformati- on wieder: im Foucault’schen Sinne die Transformation von der (Kriegs-) Institution zur Biopolitik des legal punishment, im Schmitt’schen Sinne die Transformation von der globalen Linie zum totalen Krieg des legal terrors. Bei Schmitt findet sich im radical title die juristische Urakte der Geschichte souveräner, flächenstaatlicher, großräumlicher Nationen; bei Foucault findet sich der radical title im Spaltungsprinzip einer gegenrö- mischen Historie im Diskurs vom Rassenkrieg als ein Krieg der histo- risch-politischen Spaltung. Hier insistiert Foucault bereits auf die post- moderne Wende des Politischen, die weit vor der eigentlichen politischen Postmoderne begann und sich zu dem Prinzip der politischen Asymmet- rie und mehr noch, in das „asymmetrische Recht“⁴⁴ des Politischen ent- wickelte. Foucault schreibt über das Spaltungsprinzip: „Man spricht also von zwei Rassen, wenn es zwei Gruppen gibt, die sich trotz ihres Zusam- menlebens nicht vermischt haben: aufgrund von Differenzen, von Asym- metrien, von Barrieren, die auf Privilegien, auf Sitten und Rechten, auf der Verteilung der Vermögen und auf die Weise der Machtausübung zu- rückzuführen sind.“⁴⁵ Darin ist für Foucault schon die Differenz zwischen dem modernen und postmodernen Diskurs gleichsam in seinem embryonalen Stadium an- gelegt, wenn er schreibt: „Wir können also zwei große Morphologien, zwei große politische Funktionsweisen des historischen Diskurses annehmen: einerseits die römische Historie der Souveränität, andererseits die bibli- sche Historie der Knechtschaft und der Exile.“⁴⁶ Souveränitätsdiskurs und ⁴² Friedrich Nietzsche, Die Ge- Rassendiskurs führen zu einer Spaltung zwischen dem souveränen, privile- burt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Werke in zwei Bän- gierten Krieg und dem Rassenkrieg, die darüber hinaus zur Konstituierung den, München: Hanser 1990 des historischen Wissens in Europa führte. Vom Licht des Krieges zur Geburt ⁴³ Michel Foucault, Von der Sub- der Geschichte bedeutet im Ansatz von Foucault die Geburt der großen Er- version des Wissens, Frankfurt am Main: Fischer 1987, S. 78 zählung und Wissensexplosion, die in die Geburt des Staatsrassismus und ⁴⁴ Michel Foucault, Vom Licht, schließlich der Subversion mündet.⁴⁷ Hier setzt sich die Schlachtenordnung S. 16 ⁴⁵ ebd., S. 7f. fort–der Krieg vollzieht sich unterhalb der Chiffre des Friedens! ⁴⁶ ebd., S. 45 Das Kapitel der Genealogie wollen wir hier in der Fortschreibung

EMERGENCY EMPIRE 14 Transformation des Ausnahmezustands Intro

Nietzsches durch Foucault, als Suche nach dem Ursprung des Prinzips und gleichzeitig als Suche seiner Fortschreibung, seiner Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte begreifen. „Begriffe wie Entstehung oder Herkunft bezeichnen besser als Ursprung den eigentümlichen Gegenstand der Genealogie“⁴⁸. Denn „hinter der Wahrheit, die immer neu und ein- fach ist, liegen tausendfache und tausendjährige Irrtümer.“⁴⁹ – die Ge- schichte des Begriffs der Freiheit oder des asketischen Lebens, als der verschiedenen Interpretationen, welche auf dem Teater der Handlungen und der Gerichtsverfahren auftreten.“⁵⁰ In dieser Arbeit wird die Tese vertreten und begründet, dass sich die politische Postmoderne mit dem Ende des Kalten Krieges (u.a. dem Zusammenbruch des Ostblocks und der bis dahin gültigen Aufteilung der Welt in Erste, Zweite und Dritte Welt, mit dem raschen Zusammenbruch von Staaten und Bündnissen, wie auch der Proklamation neuer Staaten) und mit dem singulären Angriff auf die US-Symbole selbstermächtigter Global-Repräsentanz, gleichsam als neuer Kriegs-Typ etabliert. Der post- partisanische Krieg agiert unterhalb der Chiffre des Friedens, mehr noch, unterhalb der Chiffre der Sicherheit und setzt den Krieg fort. Hier be- ginnt die Geschichte des Emergency Empire, eines fortgesetzten und zu- gleich neuen Krieges, der nicht mehr an den äußeren Grenzen der großen Staateneinheiten sondern in Innenräumen und unterhalb von Oberflä- chen (u.a. auf öffentlichen Plätzen, in Städten, in Flughafenterminals oder in Medien, Informationsnetzen und Kommunikationssystemen) in- szeniert wird. Hier beginnt die Geschichte des potsmodernen Ausnah- mezustands als globale Regierungstechnik. „Wir haben tatsächlich Schlachtenforscher zu sein, weil der Krieg nicht zu Ende ist.“⁵¹

⁴⁷ Michel Foucault, Von der Sub- version des Wissens, Frankfurt am Main: Fischer 1987 ⁴⁸ Michel Foucault, Von der Sub- version, S. 73 ⁴⁹ ebd., S. 72 ⁵⁰ ebd., S. 78 ⁵¹ Michel Foucault, Vom Licht, S. 13

Souveränität 15 A. Erde (1)

1 A. Erde (1) 1. Der Begriff der Erde und des Krieges Begriffsgeschichte entlang der Episteme Carl Schmitts (1)

„Das Denken der Menschen muss sich wieder auf die elementaren Ordnungen ihres terrestrischen Daseins richten.“ Carl Schmitt

1.1 Der Nomos der Erde Die große Aporie in der Überlieferung der Staatskonstrukte, den Staat- und Souveränitätsmodellen seit der frühen Neuzeit, entsteht aus zwei großen Konflikten. Bei dem ersten wird nach dem Besitz der Freiheit ge- fragt, bei dem zweiten nach dem Besitzrecht. In den bekannten Staats- und Souveränitätsmodellen der frühen Neuzeit basiert, trotz des rhe- torischen Gebrauchs aufgeklärter Gesten, das Souveränitätsprinzip auf inhärenten (gottgegebenen) Rechten sowie auf der Freiheit und Moral des Krieges. Das Werk Carl Schmitts setzt diese geistige Tradition fort, und in der Analyse dieses Denkens findet man Wege zu der postmoder- nen Transformation des AZ. Zunächst verlangt für Schmitt die fundamentale Dimension des Krieges ein umfassendes Denken, das diesem Phänomen entspricht: „Das Denken der Menschen muss sich wieder auf die elementaren Ordnungen ihres terrestrischen Daseins richten.“⁵² Vom ersten Satz an richtet sich das Hauptaugenmerk der Analyse des „terrestrischen Daseins“ im „Der Nomos der Erde“ auf die Begründung der Rechtsgrundlagen der Gesell- schaft–die Erde als „Mutter des Rechts“.⁵³ Für Schmitt ist „die Erde“ Ur- sache für das doch von Menschen gestaltete Rechtswerk, indem sie ihm im übertragenen Sinne den Auftrag erteilt, sich mit dem Recht zu ver-

⁵² Carl Schmitt, Der Nomos der binden. Hier wird auch die Hybris signifikant, nämlich die endlose Ver- Erde, im Völkerrecht des Jus messenheit einer Überantwortung eines Gewaltanspruchs, den die Erde Publicum Europaeum, Berlin: selbst vordefiniert. Die Erhöhung der Erde als Auftraggeberin des Krie- Ducker&Humblot 1988, S. 13 ⁵³ ebd., S. 13 ges ist gleichzeitig ihre Unterwerfung unter eine Kriegspolitik, welche die ⁵⁴ Walter Kaufmann: Tragö- Erde als Boden der Gefechte und Schlachten instrumentalisiert. „Hybris- die und Philosophie. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) ma bedeutet «Frevel, Vergewaltigung, Raub» und fasst im Recht alles zu- 1980, S. 74. sammen, was an schwerem Unrecht einer Person zugefügt wird.“⁵⁴

EMERGENCY EMPIRE 16 Transformation des Ausnahmezustands 1. Der Begriff der Erde und des Krieges

Der mutmaßliche Auftrag der Erde, das Kriegsrecht zu protegieren, ist nach Schmitt ein dreifacher. “So ist die Erde in dreifacher Weise mit dem Recht verbunden. Sie birgt es in sich, als Lohn der Arbeit; sie zeigt es an sich, als feste Grenze; und sie trägt es auf sich, als öffentliches Mal der Ordnung.“⁵⁵ Aus dem Ressourcengewinn, den Grenzlinien, den Umbauungen und Befestigun- gen werden „die Ordnungen und Ortungen menschlichen Zusammenle- bens offenkundig. Familie, Sippe, Stamm und Stand, die Arten des Eigen- tums und der Nachbarschaft, aber auch die Formen der Macht und der Herrschaft werden hier öffentlich sichtbar.“⁵⁶ Hier finden wir einen ersten Begriff vom Besitz (Ordnung) und da- mit von Recht (Ortung), nämlich dem aus dem Besitz resultierenden in- härenten Recht auf Verteidigung des (erd- und raumgebundenen) Be- sitzes. Dass heißt nichts anderes als Krieg! „Die sinnfällige Einheit von Raum und Recht“⁵⁷ stellt für Schmitt gleichzeitig die sinnfällige Einheit von Ordnung und Ortung dar und charakterisiert schließlich das Staats- gebiet. Im Gegensatz zur Erde unterliegt das Meer für Schmitt nicht der Rechtshybris von Ordnung und Ortung, was durch die heutigen Entwick- lungen überholt scheint. Für Schmitt ist u.a. das Meer „ein Feld freier Beute“⁵⁸ und dort gelte „kein Gesetz“.⁵⁹ Mittlerweile sind staatliche Be- sitzansprüche genauso auf den Seeraum, auf den Luftraum, wie auch auf den Kosmos und dem Meeresboden ausgedehnt.⁶⁰ Einzig ausgeschlos- sen aus einer staats- und völkerrechtlichen Verwaltung sind bislang noch Sphären, jene von Peter Sloterdijk definierten und vom terrestrischen Zwang vorerst befreiten Habitate der Kommunikation. Dies kann aller- dings nur als vorläufiger status quo einer globalen Justiz gelten. „Die Grossen Ur-Akte des Rechts dagegen bleiben erdgebundene ⁵⁵ Carl Schmitt, Der Nomos der Ortungen. Das sind: Landnahme, Städtegründungen und Gründungen Erde, S. 13 von Kolonien.“⁶¹ Der Nomos der Erde lässt sich hier in den Begriffen der ⁵⁶ ebd., S. 13 Landnahme und der Boden-Verteilung zusammenfassen. Diese Gesetzge- ⁵⁷ ebd. ⁵⁸ ebd., S. 14 bung, deren Ursache nach Schmitt in der Erde angelegt sei, ist als Hybris ⁵⁹ ebd., S. 15 an der Erde selbst zu verstehen. ⁶⁰ Mit der neuzeitlichen Entde- ckung der „Freiheit der Mee- re“ bricht ein alter juristischer 1.2 Landnahme und Völkerrecht Grundsatz völlig zusammen, Aus dem Begriff der Besitz- und Freiheitsrechte des Staates und aus dem nämlich der, dass Recht und Frieden nur auf dem Land Begriff der Erde entwickelt Carl Schmitt die Begriffe des Krieges, des Aus- gelten, einschließlich seiner nahmezustands und auch des Völkerrechtes, wenn es bei ihm heißt: „Auch Umkehrung im Krieg. Land- nahmen der neuen Welt und die bisherige Geschichte des Völkerrechts ist eine Geschichte von Land- Seenahmen werden erweitert nahmen.“⁶² durch die Okkupation des Luft- raumes (Stichwort: Überflug- Das Wesen des Völkerrechts ist „Landnahme, Städtebau und Be- rechte) und schließlich der festigung, Kriege, Gefangenschaft, Unfreiheit, Rückkehr aus der Gefan- Kontrolle und Besitznahme genschaft, Bündnisse und Friedensschlüsse, Waffenstillstand, Unver- des sphärischen, kosmischen Raumes und des virtuellen Da- letzlichkeit der Gesandten und Eheverbote mit Fremdgeborenen. Die tenraumes. Landnahme steht an erster Stelle.“⁶³ Hier zitiert Carl Schmitt aus einem ⁶¹ Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 15 Dekret des 12. Jahrhunderts, dem decretum gratiani des Isidor von Sevil- ⁶² ebd., S. 19 la. Zu diesem rechtskonstituierenden Moment der Landnahme werden ⁶³ ebd., S. 15

Souveränität 17 A. Erde (1)

zwei weitere bestimmende Aspekte des Völkerrechts hinzugefügt, der Handel und der Verkehr, das so genannte commercium, welches bereits im 1 Corpus Juris Justiniani niedergeschrieben wurde. Es ist aufschlussreich, dass in mittelalterlichen Akten von einem Völkerrecht die Rede ist, das sich über Vermessung, Aneignung, Vertei- lung und Verteidigung des nutzbaren Bodens definiert. Jedes „seinsge- rechte Urteil geht vom Boden aus“⁶⁴, was Schmitt das ontonome Urteil nennt. Hier verbindet er das Gesetz der Erde (terranomos) mit dem Ge- setz des Seins (ontonomos). Danach besteht für Carl Schmitt Seinsan- spruch ausschließlich proportional zum Besitzanspruch, sowie Seins- recht nur proportional zum Besitzrecht. Diese fatale Logik erklärt bereits die Wurzel einer Metaphysik der Auserwähltheit, wie sie in einem der folgenden Abschnitte analysiert wird. Zudem wird bereits hier eine Analogie zu den Entwürfen über Privatei- gentum, Zins und Verschuldungsfähigkeit des Individuums bei Gunnar Heinsohn und Otto Steiger deutlich, welche ebenfalls an späterer Stel- le ausführlicher betrachtet wird. In Kürze sei hier nur darauf verwiesen, dass auch die Teorien von Heinsohn und Steiger in gewisser Weise die Verbindung zwischen Besitzrecht (Kriegs- und Beuterecht) und Seins- recht aufzeigen. Die Landnahme gilt jedenfalls als Anfang des Krieges und der Beute, gleichzeitig auch als Anfang des Seins und des Rechts. Mit Landnahme wird das Besitzrecht erwirkt und somit das Kriegs- recht eines Staates oder einer Person definiert. Nach Innen gerichtet schafft die Landnahme Eigentumsverhältnisse, nach Außen entsteht Krieg. Der Akt der Landnahme hat nach Schmitt „in rechtlicher Hinsicht einen kategorialen Charakter“⁶⁵, der nach Innen und nach Außen als ers- ter Rechtstitel des Völkerrechts, wie es heißt, wirksam wird. „Landrecht und Landfolge, Landwehr und Landsturm setzen Landnahme voraus.“⁶⁶ Die Hybris dieses erdgebundenen Rechts überschlägt sich hier mehrfach und denunziert „die Erde“ als Komplizin und eigentliche Mut- ter des Krieges, der sie gleichzeitig ausbeutet, zerstört und zerstückelt, sie zur Matrix und Marionette gleichzeitig werden lässt. Im Namen der Erde ist hier zweifach zu verstehen, einerseits als no- men und andererseits als nomos. Wie bereits dargestellt, ist der für Schmitt von den Menschen nicht verstandene Name der Erde ein terranomos, eine Gesetzgebung, angeblich durch die Erde an die Menschen diktiert. Das Äquivalent zum terranomos bildet der ontonomos, das Seinsrecht oder Da- seinsrecht, das sich erst mit dem Besitz der Erde durch den Menschen kon- stituiert. Mit anderen Worten: die Erde darf im Namen des Völkerrechts nur existieren, wenn sie bereit ist, Kriege auszutragen, welche Eigentums- rechte und überhaupt erst Rechts- und Besitzverhältnisse garantieren. Dies scheint die conditio humana per se zu sein, die sich seit der Antike, dem Mittelalter, der Frühen Neuzeit bis in die Moderne in den Völker- rechten einschreibt. ⁶⁴ ebd., S. 16 ⁶⁵ ebd., S. 17 Der Begriff vom öffentlichen und privaten Eigentum ist bei Schmitt ⁶⁶ ebd. im Begriff der Landnahme legalisiert, wie er auch das mit dem Besitz ein-

EMERGENCY EMPIRE 18 Transformation des Ausnahmezustands 1. Der Begriff der Erde und des Krieges

hergehende Recht in der Erde begründet. Dieses politische Paradigma ist rechtsphilosophisch untermauert und charakterisiert die Ökonomie der Rechtsinhaber, konkret den Rechtsstaat und das Rechtssubjekt. Im Kontext von Ordnung und Ortung ist das Recht ein Begriff der Erde und des Krieges. Hier werden die Bestimmungen der Ökonomie des Staates und der Person festgelegt, an deren Anfang die Landnahme „nach Außen (gegenüber anderen Völkern) und nach Innen (für die Boden- und Eigentumsordnung innerhalb eines Landes)“⁶⁷ steht. Der von Schmitt definierte Ur-Typus eines konstituierenden Rechtsvorgangs, nämlich die Landnahme, schafft den radikalsten Rechtstitel für Staat und Person, den radicale titel. Recht heißt in radikaler Weise, Recht auf (Boden)Eigentum und Recht auf Krieg, nämlich Aneignung und Verteidigung des Eigen- tums. Beide werden durch Landnahme und Kriegsökonomie nach Innen und Außen gewährleistet und als völkerrechtliche Titel anerkannt. „Die bisherige Geschichte des Völkerrechts ist eine Geschichte von Landnahmen“⁶⁸, d.h. eine Geschichte von Kriegen und Kriegsökonomi- en. Jeder Eigentumsbegriff ist in diesem Sinne ein Begriff der Kriegspotenz und der Kriegsökonomie, der den Landraum betrifft und darüber hinaus heute zusätzlich den Meeres- und Luftraum.

1.3 Raumordnung der Erde im Völkerrecht „Die bisherige Geschichte des Völkerrechts ist eine Geschichte von Land- nahmen“⁶⁹ – d.h. des Krieges. Auf diesem Prinzip beruht die heutige Glo- balisierung und die permanente politische, wie ökonomische Neuordnung der Welt, die nichts anderes als Krieg um Raum und Ressourcen ist. Aus dem durch Carl Schmitt kanonisch vorgetragenen Ur-Ty- pus eines konstituierenden Rechtsvorgangs in der Landnahme, sowie aus der Hybris an der Erde, als Gesetzgeberin und Rechtgrundlegerin für ihre eigene Beschlagnahmung, Verwertung und Verwüstung, lei- tet sich der Begriff der Globalisierung ab. Diese vollzieht sich in der Schmitt’schen Dialektik zwischen Ortung und Ordnung, die sich je- doch ökonomisch über die Grenzen der alten Nationalstaaten hinweg- setzt. In den von Schmitt dargelegten erdgebundenen Grundzügen „der grossen Ur-Akte des Rechts“⁷⁰, nämlich von Ordnung (Hegung) und Ortung (Besitz), werden Gewinn (Erträge, Gebietserwerb, Koloni- sierung), Grenzen (Linien) und Befestigungen (Mauer, Limes, Umbau- ung, Verteidigungsanlagen) als Konstitutive jener sinnfälligen Einheit von Raum und Recht, das Wesen des Völkerrechts genannt. Diese sind mit den Merkmalen des Eigentums (dominum), der Herrschaft (impe- rium), des Krieges (guerre), sowie des Handels und Verkehrs (commer- cium) ausgestattet. Den Anfang allen Völkerrechts gründet sich nach Schmitt allerdings auf der Fähigkeit der Anerkennung des Feindes, des justus hostis. Nicht nur das Erkennen der Erdgesetze im Titel von Be- sitz und Sein gleichermaßen, sondern das Erkennen des Feindes und ⁶⁷ ebd. ⁶⁸ ebd., S. 19 das Unterscheiden von Freund und Feind, erschließt das vollständige ⁶⁹ ebd. Völkerrecht, das globale Völkerrecht. ⁷⁰ ebd., S. 15

Souveränität 19 A. Erde (1)

An dieser Stelle beginnt Schmitt aus den Linien der Erdordnung und Erdortung globale Linien zu ziehen. Sie sind in seinem Verständnis 1 stets Freundes- oder Feindeslinien, wobei sich Freundschaftslinien als Bun- deslinien im Krieg gegen den gemeinsamen Feind interpretieren lassen. Eine Weltordnung dieser Art, die auf dem hybriden Erdgesetz in seiner Namenschaft (nomen und nomos) aufbaut und den ganzen Raum einschließt, den terranen, den maritimen und den Luftraum, realisiert sich erst im juristischen Erkennen des Feindes (das zwangsläufig das La- ger des Freundes hervorhebt) als globale Ordnung. Hier wird jeder Frem- de ein Feind und jeder Krieg ein Vernichtungskrieg, alles nicht verbünde- te Ausland zu feindlichem Ausland.“⁷¹ Wie die Situation des Jahres 1941 in die Teorie Carl Schmitts hi- neinwirkte, wird in der damals von ihm formulierten „Völkerrechtlichen Großraumordnung“ deutlich, die nicht nur den völkerrechtlichen Begriff des Reiches formuliert und das mit dem Raum verbundene Volk zum Hüter dieser Erde werden lässt. Der Raum kann als der eigene bestimmt werden, der gerade durch kriegerische Interventionen behütet wird, während ein Interventionsverbot für „raumfremde“ Mächte“ bestehe, womit in erster Linie der Bolschewismus und Asien gemeint waren. „In dieser Lage besteht die Aufgabe der deutschen Völkerrechtswissenschaft darin, zwischen einer nur konservativen Beibehaltung des bisherigen zwischenstaatlichen Den- kens und einem von den westlichen Demokratien her betriebenen, unstaat- lichen und unvölkischen Übergreifen in ein universalistisches Weltrecht, den Begriff einer konkreten Großraumordnung zu finden, der beidem ent- geht und sowohl den räumlichen Massen unseres heutigen Erdbildes wie unseren neuen Begriffen von Staat und Volk gerecht wird. Das kann für uns nur der völkerrechtliche Begriff des Reiches sein als einer von bestimmten weltanschaulichen Ideen und Prinzipien beherrschten Großraumordnung, die Interventionen raumfremder Mächte ausschließt und deren Garant und Hüter ein Volk ist, das sich dieser Aufgabe gewachsen zeigt.“⁷²

1.4 Begriff der Globalisierung Im historischen Rückblick wird von Carl Schmitt der erste Freund- schafts- und Bündnisvertrag zwischen Ägyptern und Hethitern aus dem 13. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung als Prototyp völkerrechtlicher Urbeziehung dargestellt. An diesem historischen Ereignis können für ihn politische Beziehungen wie „Verhandlungen und Verhältnisse freund- schaftlicher und feindschaftlicher Art, Gesandtschaften, Handelsverträ- ge, Geleit, Bündnisse, Kriege, Waffenstillstand und Friedensschlüsse, Fa- milienbeziehungen, Asylrecht, Auslieferungen, Geiseln“⁷³ nachvollzogen werden. Darüber hinaus wurden „Bestimmungen über gegenseitige Hilfe ⁷¹ ebd., S. 21 gegen äußere und innere Feinde, über Auslieferung von Flüchtlingen und ⁷² Carl Schmitt, Völkerrechtliche Grossraumordnung, Berlin: Dun- Emigranten und über Amnestien“⁷⁴ vertraglich vereinbart. Obwohl diese cker & Humblot 1991, S. 61 Bündnisse hegemonial ausgerichtet waren und in dieser Weise funktio- ⁷³ Carl Schmitt, Völkerrechtliche Grossraumordnung, S. 22 nierten, fehlte es ihnen nach Schmitt an einer gemeinsamen, erdumfas- ⁷⁴ ebd., S. 23 senden, also globalen Raumordnung.

EMERGENCY EMPIRE 20 Transformation des Ausnahmezustands 1. Der Begriff der Erde und des Krieges

Die christlich-mittelalterliche Raumordnung dagegen stellt für Schmitt zwar immer noch eine vor-globale Raumordnung dar, lieferte aber „den einzigen Rechtstitel für den Übergang zu einer ersten globalen Ordnung des Völkerrechts“.⁷⁵ Nach Schmitt kann nur aus der Kenntnis dieser mittelalterlich-christlichen Raumordnung „ein rechtsgeschichtli- ches Verständnis des aus ihr entstandenen zwischenstaatlichen Völker- rechts“⁷⁶ gewonnen werden. Die Festlegung einer Raumordnung erfolgte in jener Zeit durch Missionierung nicht-christlicher Gebiete: „Der Bo- den nicht-christlicher, heidnischer Völker ist christliches Missionsgebiet; er kann einem christlichen Fürsten durch den päpstlichen Auftrag zur christlichen Mission zugewiesen werden.“⁷⁷ Die Ausweisung jener Land- nahmen als heilige Kriege bleibt für Schmitt theologisch umstritten. Sie gelten für ihn als gerechte Kriege, da sie im Missionsauftrag und zur Ver- teidigung Roms erfolgten.⁷⁸ Die Geschichte des Mittelalters als eine Ge- schichte des Kampfes um Rom zu verstehen, bedeutete für Schmitt jene Kontinuität zu erfassen, „die das mittelalterliche Völkerrecht mit dem Römischen Reich verbindet“.⁷⁹ „Dass nicht nur der deutsche König, son- dern auch andere christliche Könige den Titel Imperator annehmen und ihre Reiche Imperien nennen, dass sie vom Papst Missions- und Kreuz- zugsmandate, d.h. Rechtstitel auf Gebietserwerb erhalten, hat die auf sicheren Ortungen und Ordnungen gegründete Einheit der Republica Christiana nicht beseitigt, sondern nur bestätigt.“⁸⁰ Die Raumordnung des mittelalterlichen Völkerrechts wurde vom staatsbezogenen Völkerrecht abgelöst. Die neuen Rechtstitel darin sind nicht mehr Mission und Kreuzzug sondern Entdeckung und Okkupation.

Globale Linie Da die Landnahme als konstituierender Vorgang des Völkerrechts gilt, kann davon ausgegangen werden, dass der Krieg an sich der konstituie- rende Vorgang für das Völkerrecht ist. Der Krieg realisiert und bestimmt die völkerrechtliche Raumordnung, was ohne Zweifel auch auf die heuti- ge Globalisierung zutrifft. Mit den Weltumsegelungen, Missionierungen und Kolonisierungen beginnt die Epoche des neuzeitlichen europäischen Völkerrechts, welches von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne die christlichen Nationen Euro- pas als Schöpfer und Träger einer Ordnung betrachtete, die für die ganze Welt galt. Mit den globalen Landnahmen begann das Werk der Globalisie- ⁷⁵ Carl Schmitt, Nomos der Erde, S. 25 rung. Sie brachte ein neues Raumbild und zwangsläufig einen neuen Typus ⁷⁶ ebd.77 ebd., S. 27 des Krieges hervor. Wenn Carl Schmitt feststellte, dass „das neue globale ⁷⁸ Aus dieser Zeit des Papst- tums stammt der alljährliche, Raumbild [...] eine neue globale Raumordnung“⁸¹ erfordert, definierte er vom Papst gespendete österli- nichts anderes als einen neuen Kriegstypus – den globalen Krieg. che Segen urbi et orbi, der Stadt Mit der von Schmitt nachdrücklichen und nachhaltigen Bestim- Rom (im eigentlichen Sinne dem Boden Roms) und der gan- mung des Nomos im Sinne der Landnahme und der Boden-Verteilung, zen Welt und dem Erdenkreis. vollzieht sich im radical title und im rechtsbegründenden Ur-Akt, Boden- ⁷⁹ Carl Schmitt, Nomos der Erde, S. 29 gewinn, Linien-, Befestigungs- und Verteidigungsdenken. „Dieser boden- ⁸⁰ ebd., S. 31 hafte Urgrund, in dem alles Recht wurzelt und Raum und Recht, Ord- ⁸¹ ebd., S. 54

Souveränität 21 A. Erde (1)

nung und Ortung zusammentreffen“, eben der Nomos, definiert genauso die globale Raumordnung, wie auch den neuen Kriegstypus. Von der Bo- 1 denlinie der Landnahme geht für Schmitt dieser Prozess zum Linienden- ken der globalen Landnahme über. „Jetzt werden Linien gezogen, um die ganze Erde zu teilen und einzuteilen.“⁸² Hernach findet hier sein Begriff der Globalisierung eine prominente Platzierung und mündet in einen weiterführenden aktuellen Konsens. „Mit dem Wort global ist sowohl der erdumfassend-planetarische, wie auch der flächen- und oberflächenhafte Charakter dieser Denkweise bezeichnet.“⁸³ Die Entdeckung der Neuen Welt versetzte Europa selbst in den Status eines ‚alten’ Kontinents. Die Alte Welt, die im Angesicht von Rom und Jerusalem vormals als die Neue Welt galt, verlor dennoch nichts von ihrer, noch heute wirksamen, selbstgerechten Position als Mitte der Erde, als Heimstatt der Zivilisation und des Ursprungs der Völ- kerrechte. Aus dieser Position heraus entstand ein neues planetarisches Raum-Bewusstsein. In der Weise, wie Amerika okkupiert wurde (1492), entstand in den darauf folgenden fünfhundert Jahren eine geistige Tra- dition, in der ein terrestrisch-kontinentaler (teilweise sogar außerter- restrisch- planetarischer) Besitzanspruch auf die Erde und ihre Ord- nung übertragen wurde. Dieses planetarische Raum-Bewusstsein, das Carl Schmitt globales Liniendenken nennt, führte für ihn zur Neuaufteilung der Welt. Die glo- bale Welt erhält durch den völkerrechtlichen Titel der Alten und Neu- en Welt, den radical title, eine neue Boden-Verteilung, mit der auch ein neuer Raum- und Ressourcenkrieg verbunden ist. Dabei sind die geogra- phischen Vorstellungen von der Erde für die Herausbildung eines neuen strategischen Raumbewusstseins von Bedeutung. Globales Liniendenken erzeugte ein neues Raumbild, welches Land- und Meersflächen gleich setzte. Mit der Entwicklung geografischer Karten und Globen wurden „hochpolitische Anwendungs- und Verwertungsmöglichkeiten“⁸⁴ gelie- fert. Die Welt wurde in Hemisphären, Pole und Meridiane aufgeteilt und mathematisch-technische Grundlagen der modernen Kriegsführung, sowie der Kriegsökonomie entstanden. Globale Teilungslinien definieren eine völkerrechtliche Raumordnung in Alte und Neue Welt und die nach wie vor gebräuchlichen, aus der Zeit des Kalten Krieges stammenden, Be- zeichnungen der Ersten, Zweiten und Dritten Welt. Carl Schmitts Bestimmung der globalen Linie beinhaltete auch die Definitionen von Verteilungslinien (Raya), Freundschaftslinien (amity lines) und Feindeslinien. „Die Raya setzt also voraus“, so heißt es bei ihm, „dass christliche Fürsten und Völker das Recht haben, sich vom Papst einen Missionsauftrag geben zu lassen, auf Grund dessen sie nicht-christliche Gebiete missionieren und im weiteren Verlauf der Mission okkupieren.“⁸⁵ Die Raya gilt als die Linie des gerechten Krieges. ⁸² ebd. Die Freundschaftslinien „gehören wesentlich in das Zeitalter der Religi- ⁸³ ebd., S. 56 ⁸⁴ ebd., S. 56 onskriege zwischen den landnehmenden katholischen und protestanti- ⁸⁵ ebd., S. 59 schen Seemächten“ und sie gelten als die Linien des in Friedensverträgen

EMERGENCY EMPIRE 22 Transformation des Ausnahmezustands 1. Der Begriff der Erde und des Krieges

geschlossenen Waffenstillstands. Die Linien erlauben den Bündnispart- nern, das Land hinter der Linie zu okkupieren und in die Freiheit der Räume, die jenseits der Linie beginnen, zu expandieren. „Die Freiheit besteht darin, dass die Linie einen Bereich freier und rücksichtsloser Gewaltanwendung ausgrenzt.“⁸⁶„Daraus musste die allgemeine Vorstel- lung entstehen, dass alles, was «jenseits der Linie» geschieht, überhaupt außerhalb der rechtlichen, moralischen und politischen Bewertungen bleibt, die diesseits der Linie anerkannt sind. Das bedeutet eine unge- heure Entlastung der innereuropäischen Problematik, und in dieser Ent- lastung liegt der völkerrechtliche Sinn des berühmten und berüchtigten „beyond the line“.⁸⁷ Hier existiert jener durch die Freundschaftslinie gesetzte „freie Raum“ – jene ausgegrenzte Kampfzone, in der Freiheit zur „Rechtlosig- keit eines Naturzustandes“⁸⁸ wird und die den „Bereich eines geordne- ten «zivilen» Zustands“⁸⁹ davon abgrenzt. Beyond the line ist der verbor- gene Schauplatz des modernen und postmodernen AZ. In der aktuellen Terminologie von Giorgio Agamben gesprochen, repräsentiert beyond the line die Zone der Anomie⁹⁰. „Der völkerrechtliche Sinn der Freundschaftsli- nien des 16. und 17. Jahrhunderts lag darin, dass große Räume der Frei- heit, als Kampfzonen für den Kampf um die Verteilung einer neuen Welt, ausgegrenzt wurden. Als praktische Rechtfertigung konnte man ange- ben, dass durch die Abgrenzung einer freien Kampfzone der Bereich dies- seits der Linie, also der Bereich des europäischen öffentlichen Rechts als eine Sphäre des Friedens und der Ordnung, entlastet und durch Vorgän- ge jenseits der Linie nicht so unmittelbar gefährdet würde, wie das ohne eine solche Ausgrenzung der Fall gewesen wäre.“⁹¹ Die Zone der Anomie ist mit der Freundschaftslinie verortet bzw. geortet. Die Freiheit ist das Nie- mandsland, jedoch nicht das Nirgendwo. Sie ist das Gesetz der amity line, die den ausgegrenzten rechtsleeren Raum⁹² hervorbringt. Das geschieht nicht nur im Gegensatz zur juristischen Ordnung des Staatsgebiets, son- dern vor allem als freier Raum, in dem alles möglich ist. In Kategorien räumlicher Ordnung übersetzt, lässt sich das beyond the line des 20. Jahr- hunderts mit den Begriffen Lager, Block, Zone, Zelle, Bann beschreiben. Bis in die heutige Zeit sind die davon abgeleiteten Begriffe der Zone (u.a. Besatzungszone, Kampfzone, Abwurfzone, Verteidigungszone, Gefah- renzone, Sicherheitszone), des Ostblocks, der Lager (wie feindliches La- ger, Konzentrationslager, Auffanglager, Flüchtlingslager, Ferienlager), der Zelle (revolutionäre Zelle, Terrorzelle, Killerzelle), der Linie (Schlach- tenlinie, Frontlinie, Angriffs- und Verteidigungslinie, Operationslinie) ⁸⁶ ebd., S. 62 allgegenwärtig und werden im internationalen militärischen, politischen ⁸⁷ ebd. und kommerziellen Bereich verwendet. ⁸⁸ ebd., S. 64 ⁸⁹ ebd., S. 63 ⁹⁰ Giorgio Agamben, Ausnah- mezustand, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 46 ⁹¹ Carl Schmitt, Völkerrechtliche Grossraumordnung, S. 66 ⁹² ebd., S. 67

Souveränität 23 B: Staat

1 B: Staat 2. Der Begriff des Staates und des Krieges Begriffsgeschichte entlang der Episteme Carl Schmitts (2)

2.1 Der Staat als Rechtssubjekt

„Jetzt wird der Staat als Größe einer neuen Raumordnung, als neues Rechts- subjekt eines neuen Völkerrechts juristisch begriffen und als juristischer Begriff unwiderstehlich.“ Carl Schmitt

Carl Schmitt bestimmt in seiner Konstruktion des Völkerechtes, wie oben dargestellt, den Nationalstaat als Subjekt der Rechtsordnung. Der von Staaten (letztlich) notwendig zu führende Krieg beinhaltet die stän- dige Neuschöpfung des Rechtes durch das verteidigte und zu erweitern- de Staatsgebiet, die ohne den Willen zur Ordnung der Erde letztlich die Substanz und Rechtsfähigkeit des Staates selbst gefährden. Mit dieser Vorstellung ist auch der Grundsatz verbunden, dass der Bürgerkrieg im Inneren die Substanz des Staates nicht allein sicherheitspolitisch, son- dern geradezu metaphysisch angreift. In dieser Weise kann es für Carl Schmitt weder ein Widerstandsrecht gegen Tyrannen geben, noch ist mi- litärische Abrüstung zum Zwecke der Entspannung zwischen verfeinde- ten Staaten ein Ziel der Staatspolitik. Vielmehr gilt, dass allein der Staat das Monopol der Landnahme und des Krieges besitzt. Nur ein starker Staat wird gerade durch die Fähigkeit der Überwindung der Gegensätze im Inneren, im Extremfall die Überwindung des Bürgerkrieges und durch die vereinheitlichende Macht des Krieges in staatlicher Form ein starkes Rechtssubjekt des Völkerrechts. Die Stärkung seiner Position erscheint vom Standpunkt des Nomos der Erde gerecht, geordnet und human. „Der Staat [...] ist wesentlich eine «souveräne Gebietskörper- schaft«; seine Souveränität ist vor allem territoriale Geschlossenheit und Ausschließlichkeit. Staatsgebiet ist der von staatlichen Gesetzen und von staatlicher Gesetzgebung, Verwaltung und Justiz beherrschte, geschlos- sene Raum. Die hohe See ist «frei», wobei Freiheit wesentlich bedeutet: ⁹³ Carl Schmitt: Staat, Groß- nicht Staatsgebiet.“⁹³ raum, Nomos. Arbeiten aus den Die in diesem Zitat genutzten Worte der Geschlossenheit, der Aus- Jahren 1916-1969. hg. v. G. Maschke, Berlin: Duncker & schluss oder die Beherrschung unterstreichen den bei Schmitt metaphy- Humblot 1995, S. 241 sisch aufgeladenen und für das Recht geradezu heiligen Boden, durch

EMERGENCY EMPIRE 24 Transformation des Ausnahmezustands 2. Der Begriff des Staates und des Krieges

den erst Staatsgebiet und damit das Subjekt der neuen Weltordnung entsteht.⁹⁴ Der Staat ist der europäische Flächenstaat, der sich in dieser Staatstheorie als souveräne Person und mit Metaphern des gepanzerten und gestählten Körpers präsentiert. Die Verbindung zwischen „raumhaften Machtkomplexen“⁹⁵ und dem Staat als „repräsentativer Person“⁹⁶, so als Rechtssubjekt, hatte für Carl Schmitt weitreichende Folgen, wie auch für das juristische Denken der Moderne. Die europäischen Juristen gewöhnten sich „an eine Perso- nifizierung politischer Mächte und [man] sprach von Spanien, England, Frankreich, Venedig, Dänemark wie von großen Individuen.“⁹⁷ Schmitt ordnet sich mit seinem Ansatz bewusst in die Tradition der Staatsent- würfe der Frühen Neuzeit ein. Hier kann man u.a. auf Tomas Hobbes’ Leviathan als dem großen Körper oder das Organsystem verweisen, das der Herrschaft des Souveräns untersteht. In einem späteren Abschnitt werden die mit solchen Vorstellungen verbundenen Organizistischen Staatskonzepte analysiert und mit ihrem Wiederpart, den Individualisti- schen Staatskonzepten, verglichen. Was solch eine Koinzidenz von Raummacht und Person bis in die heu- tige Gegenwart politisch und geopolitisch bedeutet, wird bei dem durch die USA ausgerufenen weltweiten Antiterrorkrieg besonders evident. Da- bei beruft sich der Staat auf seine naturgegebenen Rechte (inherent rights) der individuellen (die Nation wurde angegriffen) und kollektiven Selbst- verteidigung (der permanente Sicherheitszustand aller Institutionen), um die terroristische Bedrohung abzuwehren. In diesem Katechismus des Staatskriegsrechts findet man ebenso die legale Errichtung eines Gebie- tes beyond the line, was im Fall des Iraks Abu Ghuraib oder die im Ausland liegende Militärbasis Guantanamo Bay ist. Hier hat sich Schmitts freier Raum der Kriegszone beyond the line und Agambens Zone der Anomie in die temporär-politische Farce des legal black hole transformiert. Der persona publica, als Person des öffentlichen Rechts, dessen Trä- ger der Staat ist, steht es zu, expressis verbis für einen gerechten Krieg um Raummacht und Ressourcen einzutreten. Der moderne Staat kon- stituiert sich als Staatssouverän durch Staatsvolk, Staatsgebiet, Staats- gewalt und ist nur unter diesen Bedingungen ein Völkerrechtssubjekt, d.h. Träger des Staatskriegsrechts. Der Staatssouverän verfügt über das Entscheidungsmonopol, Gewaltenmonopol und Finanzmonopol. Die Staatsgewalt konstituiert sich, nach Montesquieu, aus Legislative, Judikative und Exekutive. Staatsgebiet ist jener territoriale Bereich, in dem sich die Staatsgewalt über die dort lebenden Menschen entfaltet. Staatsvolk ist jene Ansammlung aus Staatsbürgern, nach Rousseau der Volkssouverän, der den Staatssouverän in einem fundamentalen Grün- dungsakt wählt. Mit dem beinahe einzigen Recht, das ein Volksouverän innehat, dem Wahlrecht, gibt der Staatsbürger dem Staatssouverän un- ⁹⁴ Carl Schmitt, Der Nomos der eingeschränkte Handlungsgewalt in Auftrag. In diesem circulus vitiosus Erde, S. 66 ⁹⁵ ebd., S. 116 „ernährt“ jedes Individuum, das sich Staatsbürger nennt, durch Wah- ⁹⁶ ebd. len, Volkszählung, Konsum und Arbeit, Beamtentum, Steuerzahlung ⁹⁷ ebd.

Souveränität 25 B: Staat

usw. den Staatshaushalt und die Kriegsökonomie – letztlich den Staat als Subjekt des Völkerrechts. 1 Da die Landnahme als konstituierender Vorgang des Völkerrechts gilt, kann Carl Schmitt auch annehmen und behaupten, dass der Krieg an sich der konstituierende Vorgang und entscheidende Entwicklungsmotor des Völkerrechts ist. Mit dieser staatszentristischen Sichtweise, die durch die neue Raumordnung der Erde legitimiert wird, transformiert und löst sich auch das Völkerrecht, im Unterschied zu Rom, von der Kirche und den Kreuzzügen des Feudaladels. Bei Carl Schmitt heißt es: „Jetzt wird der Staat als Größe einer neuen Raumordnung, als neues Rechtssubjekt eines neuen Völkerrechts juristisch begriffen und als juristischer Begriff unwiderstehlich. Dieser Staat aber ist wesentlich ein einheitlicher, in sich geschlossener Flächenraum europäischen Bodens, der zugleich als ein «magnus homo» repräsentiert wird. Erst jetzt ist er in Form, als Rechts- subjekt und souveräne «Person»“.⁹⁸ Im „Begriff des Politischen“ ist der Staat, wie noch ausgeführt wird, eine politische Person, das heißt eine Person, die Gegensätze schafft (Freund-Feindgruppierungen), um zur äußersten Realisierung der Feindschaft zu gelangen, zum Krieg.

2.2 Kriegsrecht ist Raumrecht des Staates im Völkerrecht „Jede Politik rechnet mit der Möglichkeit von Widerständen, die sie überwinden muss. Sie kann nicht auf den Kampf verzichten und sich auf die Taktik des bloßen Ausgleichens und Ausweichens beschränken. Eine echte «Entpolitisierung» und einen absolut unpolitischen Zustand hätte nur der erreicht, der grundsätzlich Freund und Feind nicht mehr unterscheiden wollte.“⁹⁹ Mit solchen Bestimmungen erscheint bei Carl Schmitt die oberste Priorität der Politik, den Staat als souveränes Sub- jekt des Völkerrechtes zu erhalten und zu entwickeln. Tendenziell er- scheinen die anderen Rechtssubjekte als Gegner und Konkurrenten, die von den gleichen Prinzipien der Landnahme und der Landbeherrschung getrieben sind. In dieser Gedankenwelt ist kein Platz für den ewigen Frieden, den langfristigen Ausgleich der politischen Interessen oder dem Verzicht auf militärisches Potential. Mehr noch! Die Wirtschaft kann ein Mittel zur Expansion, der Kulturexport eine Waffe zur Schwä- chung der Selbstgewissheit des Gegners oder der Kompromiss nur ein vorübergehender Strategiewechsel für die bessere Vorbereitung des Ge- meinwesen auf die unvermeidlich bevorstehenden Kriege sein. Denn ohne Entschlossenheit zum Kriege unter Nutzung aller gesellschaftli- chen Potentiale zum Erhalt und der Ausdehnung des Territoriums ver- liert der Staat seine Legitimation. Gerecht ist, was ihn als Rechtssub- jekt erhält, ungerecht sind dagegen seine Schwächung und Gefährdung. Diese Entwicklung des unentrinnbaren Freund-Feind-Schemas zwi- schen den Staaten sieht Carl Schmitt als eine welthistorische Leistung Europas an, wenn er schreibt: „Dass der Krieg in aller Schärfe zu ei- ⁹⁸ ebd., S. 115 ⁹⁹ ebd., S. 136 nem zwischen souveränen europäischen Staaten als solchen geführten ¹⁰⁰ ebd., S. 113 Kriege, dass er staatlich autorisiert und staatlich organisiert wurde, war

EMERGENCY EMPIRE 26 Transformation des Ausnahmezustands 2. Der Begriff des Staates und des Krieges

eine europäische Leistung.“¹⁰⁰ Diese Leistung geht mit der oben schon angesprochenen Transformation des Völkerrechts einher, die für Carl Schmitt in der gleichberechtigten Souveränität der Staaten liegt. Sie sind von ihren Rechtsgrundlagen aus gesehen gleich und gleich-berechtigt, sich zu erhalten oder dieses durch Landnahme zu erkämpfen, zu ver- stärken. Sie sind im übertragenen Sinne Krieger, die gleichen Zwängen zum Kampf unterliegen, nicht aber mit den gleichen Waffen und in der gleichen Gewichtsklasse kämpfen müssen. „Das nach-mittelalterliche europäische Völkerrecht des interstata- len¹⁰¹ Zeitalters vom 16. bis 20. Jahrhundert sucht die justa causa zurück- zudrängen. Der formale Anhaltspunkt für die Bestimmung des gerech- ten Krieges ist hier nicht mehr die völkerrechtliche Autorität der Kirche, sondern die gleichberechtigte Souveränität der Staaten. Die Ordnung des interstatalen Völkerrechts geht, statt von der justa causa, vom justus hos- tis aus und bezeichnet jeden zwischenstaatlichen Krieg zwischen gleich- berechtigten Souveränen als rechtmäßigen Krieg.“¹⁰² Wie sehr das Den- ken von Carl Schmitt von der Niederlage des deutschen Kaiserreiches im Ersten Weltkrieg und den zwischen Aufschwung, Krise und Bürgerkrieg gespannten Jahren der Weimarer Republik beeinflusst worden ist, zeigen die zeitgenössischen politischen Fragen, die er in seinem Text erwähnt und analysiert. Dabei gilt das absolute Primat der Souveränität des Na- tionalstaates, für den selbst ein internationales Vertragssystem zur Si- cherung des Friedens, wie der Völkerbund, nur Mittel zur Steigerung sei- ner Macht und Souveränität wird. „Kein Völkerbundmitglied“, so heißt es an einer Stelle des Textes, „ist zu einer militärischen Aktion verpflich- tet, aber die Satzung ermächtigt es zur Teilnahme an einer solchen, wenn es das nach seinem Ermessen für richtig hält. Dabei hat jedes Mitglied vernünftigerweise ein Recht darauf, sich im voraus mit einem genügend starken Teil der kooperierenden Mächte zu verständigen, wenn der zu be- kämpfende Angreifer vermutlich von seiner bewaffneten Macht Gebrauch macht, um Widerstand zu leisten.“¹⁰³ In dieser Weise ist nicht überra- schend, dass Carl Schmitt den Krieg „als Beziehung zwischen gleich-sou- veränen Personen“¹⁰⁴ definiert! Doch was geschieht im Falle der Niederlage–im übertragenen Sin- ne nach dieser Beziehung im Kriege? Im Zweiten Weltkrieg wurde der Be- ¹⁰¹ Der im Zitat stehende Be- griff „interstatal“ ist dem Ori- griff der bedingungslosen Kapitulation im Jahr 1943 auf der Konferenz ginaltext entnommen. Es han- von Casablanca zum ersten Mal von den Alliierten gegenüber Deutsch- delt sich vermutlich um eine neologe Schreibweise Schmitts, land und Japan verwendet. Dabei schloss man die Möglichkeit eines in der er den englischen Begriff Waffenstillstandes auch mit einer anderen politischen Führung aus. Der „interstate“ eindeutscht und somit auf eine eigene Art das Gegner sollte entwaffnet, das Land besetzt und eine Militärregierung der Tema der „Zwischenstaatlich- Alliierten eingesetzt werden. Der Unterlegene in einem Konflikt forderte keit“ markiert. für das Niederlegen der Waffen bestimmte Konzessionen ein. Das konn- ¹⁰² ebd., S. 91 ¹⁰³ Carl Schmitt, Die Wendung ten territoriale Forderungen oder etwa Garantien für die Zivilbevölke- zum diskriminierenden Kriegsbe- rung gegen Plünderungen und Übergriffe sein. Genauso wie man den Un- griff, Berlin: Duncker & Hum- blot 1988, S. 35f. terlegenen noch mit Würde behandelte, durften die in den Gesprächen ¹⁰⁴ Carl Schmitt, Die Wendung, ausgehandelten und in der Kapitulationsurkunde festgeschriebenen Be- S. 115

Souveränität 27 B: Staat

dingungen nicht verletzt werden. Die weiße Fahne ist offiziell seit 1907 in der Haager Landkriegsordnung juristisch als das Symbol für die Kapi- 1 tulation einzelner Verbände definiert. Die Landkriegsordnung legte fest, dass kriegführende Parteien sich „ritterlich“ verhalten müssen. Da es um 1900 noch Belagerungskriege gab, wurde ein Zeichen gewählt, das auch bei Kampflärm und intensiven Rauch aus der Ferne gut zu erkennen ist. Die Farbe Weiß hat dabei als Symbol für Reinheit und Unschuld sicherlich auch einen christlichen Hintergrund. Die weiße Fahne gilt bis heute für Solda- ten und Zivilisten als verbindliches Zeichen, das Feuer einzustellen, weil sich Menschen ergeben wollen. Kriegsrecht ist nach Schmitt in erster Hinsicht das Raumrecht des Staates. Dieses Raumrecht entfaltet sich systematisch entlang der Agen- da der globalen Linienpolitik und des Nomos der Erde und erschließt den völkerrechtlichen Großraum. Ein Machtgebilde des Großraumes, welches Staatsgebiet und Volksboden integriert, ist nach Carl Schmitt das Reich, welches das völkerrechtliche Großraumprinzip definiert. „Eine Groß- raumordnung gehört zum Begriff des Reiches, der hier als eine spezifisch völkerrechtliche Größe in die völkerrechtswissenschaftliche Erörterung eingeführt werden soll. Reiche in diesem Sinne sind die führenden und tragenden Mächte, deren politische Idee in einen bestimmten Großraum ausstrahlt und die für diesen Großraum die Interventionen fremdräumi- ger Mächte grundsätzlich ausschließen.“¹⁰⁵ Man könnte von einer Art Gleichgewicht zwischen den souveränen Nationalstaaten sprechen, das sich in einem langen historischen Pro- zess herausbildete und in dieser Weise dem Völkerrecht eine (wenn auch immer begrenzte) Dauer verleiht: „Sobald einmal die Erde ihre sichere und gerechte Großraumeinteilung gefunden hat und die verschiedenen Großräume in ihrer inneren und äußeren Ordnung als feste Größen und Gestalten vor uns stehen, werden sich wohl andere und schönere Be- zeichnungen für die neue Sache finden und durchsetzen. Bis dahin aber bleiben Wort und Begriff des Großraumes eine unentbehrliche Brücke von den überkommenen zu den künftigen Raumvorstellungen, vom al- ten zum neuen Raumbegriff.“¹⁰⁶

2.3 Moderne Völkerrechtsordnung Ein Kriegsrecht ist nach wie vor in den völkerrechtlichen Verträgen ent- halten, wie auch allgemeine und besondere Bestimmungen desselben in Zusatzabkommen und in -protokollen festgelegt wurden. Das moderne Völkerrecht versucht, zwischenstaatliche Kriege von anderen Formen ge- waltsamer Konfliktaustragung, Angriffs- und Verteidigungskrieg, Zivilis- ten und Militärpersonal und damit legitime von illegitimen Kriegshand- lungen zu unterscheiden. Der zwischenstaatliche Krieg soll gemäß seinen Regeln mit einer Kriegserklärung beginnen. Diese wurde im Mittelmeer- raum schon seit der Antike praktiziert. In der Neuzeit dagegen überge- ¹⁰⁵ Carl Schmitt, Völkerrechtli- che Grossraumordnung, S. 49 hen Kriegspartein zunehmend diese Erklärung und ersetzen sie durch ¹⁰⁶ ebd., S. 75 die Angriffshandlung selbst.

EMERGENCY EMPIRE 28 Transformation des Ausnahmezustands 2. Der Begriff des Staates und des Krieges

Ein erklärter Kriegszustand, bei dem jedoch die Waffen schweigen, heißt Waffenstillstand, ein formales Eingeständnis der Niederlage Kapi- tulation. Diese beendet regulär die Kriegshandlungen, aber noch nicht den Krieg selbst. Gegenbegriff zum „Krieg“ ist der „Frieden“. Dieser setzt völkerrechtlich wiederum einen wie auch immer gearteten Friedensab- schluss zwischen ehemaligen Kriegsgegnern voraus. Wird eine Kriegspar- tei im Krieg jedoch weitgehend oder vollständig zerrieben und zerstört, so dass sie nicht mehr Vertragspartner sein kann, spricht das Völker- recht von Debellation (Lateinisch: „Besiegung“). Damit ist der „Frieden die Chiffre des Krieges“¹⁰⁷ und die „Politik der mit anderen Mitteln fort- gesetzte Krieg“¹⁰⁸. Der organisierte Einsatz von Waffen bedeutet immer die massen- hafte Tötung von Menschen. Schon die ständige Rüstung zum Krieg er- fordert gewaltige gesellschaftliche Anstrengungen und gewaltige Mittel, die für andere Aufgaben fehlen. Auch wenn eine kriegführende Partei To- desopfer nicht anstrebt, werden sie immer als unvermeidbar in Kauf ge- nommen. Kritiker des Krieges der Nationalstaaten bezeichneten diese ge- waltsame Konfliktaustragung als „staatlich organisierten Massenmord“ (u.a. Bertha von Suttner, Karl Barth). Darin kommt zum Ausdruck, dass das Phänomen des Krieges kaum wertneutral zu betrachten ist, weil es dabei immer auch um das Leben vieler und die langfristigen Perspektiven letztlich aller Menschen geht. Zugleich zeigt die Verbindung von Staat und Krieg sowie die Schwierigkeiten bei der Unterscheidung von Krieg, Raub und Mord das Fehlen einer allgemein akzeptierten Rechtsinstanz an. Die UN-Charta und der Internationale Strafgerichtshof können als Schritte zur verbind- lichen Durchsetzung des Völkerrechts angesehen werden. Ob sie eher zur Rechtfertigung oder Verhinderung neuer Kriege beitragen, kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden werden. „Mit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beginnt die Aufspaltung und Zersetzung des überlieferten europäischen Völkerrechts. Das Völkerrecht wird aus einem zwischen europäischen und nicht-europäischen Boden unterscheiden- den, auf der Grundtatsache der außereuropäischen Kolonie aufgebauten, also immer noch westlich europäischen Völkerrecht ein unterschiedslo- ses, raumaufhebendes Weltrecht, das ohne Unterscheidungen und Zwi- schenbildungen die Beziehungen zwischen etwa fünfzig heterogenen, über die ganze Erde verstreuten, aber sämtlich «souveränen», territorial in sich geschlossenen Staaten durch generelle Normen regelt.“¹⁰⁹ Wie oben angedeutet, steht für Carl Schmitt, hinter den generellen Normen des Völkerrechts „in Wirklichkeit das System des angelsächsi- schen Weltimperialismus, neben einem aus dem 18. und 19. Jahrhundert weitergeführten System europäischer Großmächte. Ein Völkerrecht des ¹⁰⁷ Michel Foucault, Vom Licht, angelsächsischen Kriegs- und Feind-Begriffes steht neben dem des konti- S. 12 nentalen Kombattantenkrieges.“¹¹⁰ ¹⁰⁸ ebd., S. 8 ¹⁰⁹ Carl Schmitt, Staat, Groß- Vor diesem Hintergrund stellt sich für ihn die Frage, ob mit die- raum, Nomos, S. 250 sen zwei unterschiedlichen Kriegsbegriffen auch zwei unterschiedliche ¹¹⁰ ebd.

Souveränität 29 B: Staat

Vorstellungen des Friedens verbunden sind, die nicht in ein einheitliches Völkerrecht passen und letztlich zu zwei völlig „gegensätzlichen Völker- 1 rechtssystemen“¹¹¹ führen. Es ist erstaunlich, wie Schmitt die im Zusam- menhang mit der Suspendierung völkerrechtlicher Standards im Krieg gegen den Terrorismus geführte aktuelle Kontroverse zwischen europäi- schen Regierungen und amerikanischer Administration unter Präsiden- ten Bush zumindest mit Bezug auf unterschiedliche Rechtssysteme in den Grundzügen vorwegnimmt. Dennoch ist für ihn sowohl die Teilung als auch eine Suspendierung des Völkerrechts auf Grund seiner Konzep- tion des Nomos der Erde undenkbar. Er gebraucht weiter den Begriff des einen „Völkerrechts“ mit der theoretischen Annahme, dass die Weiter- wirkung der überkommenen europäischen Formeln und Begriffe in einen planetarischen Raum hinein erfolgt und durch diese Dehnung mit Hilfe normativer Generalisierungen ein „Völkerrecht der Erde“ entsteht.¹¹²

2.4 Der Begriff des Politischen: Freund-Feind-Unterscheidung „Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“¹¹³ Mit diesem Diktum von Carl Schmitt definiert Politik nicht allein Bündnisse und Verträge zwischen souveränen Staaten nach außen und verbindliche Rechtsnormen für seine Bürger nach in- nen, sondern bestimmt zunächst feindliches Territorium in Abgrenzung von dem der Verbündeten und Freunde. Wie oben dargestellt sind mit dieser realen Definitionsmacht die Momente der Landnahme, des Krieges und der völkerrechtlichen Großraumordnung in das Politische zwangsläu- fig eingeschrieben. Der nomos der Erde schwingt wie eine allumfassende Macht mehr oder weniger bewusst oder gar theoretisch reflektiert in den Handlungen der politischen Akteure, der Institutionen des Nationalstaa- tes bis hin zum Staatsbürger als Teil des Staatsvolkes mit. Deshalb wählt Schmitt die recht unscharfe Bestimmung des äußersten Intensitätsgrades, um den Sinn der Unterscheidung von Freund und Feind zu charakteri- sieren. „Die Unterscheidung von Freund und Feind hat den Sinn, den äu- ßersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assozia- tion oder Dissoziation zu bezeichnen; sie kann theoretisch und praktisch bestehen, ohne dass gleichzeitig alle jene moralischen, ästhetischen, öko- nomischen oder andern Unterscheidungen zur Anwendung kommen müssten.“¹¹⁴ Es ist die diffuse Wirkung einer entfremdenden Distanz des Landes hinter mentalen und realen Grenzen, das von den anderen, von fremden Menschen und Kulturen kontrolliert wird. Gleichzeitig kann der andere Nationalstaat selbst ohne gemeinsame reale Staatsgrenze Freund ¹¹¹ ebd., S. 250f. sein, weil aus Tradition, gemeinsam geteilten historischen Erfahrungen ¹¹² ebd., S. 251 ¹¹³ Carl Schmitt, Der Begriff des bis hin zu den familiären Bindungen der Auswanderung intensive Gefüh- Politischen, Berlin: Duncker & le der Assoziation bestehen. Carl Schmitt verdeutlicht die normative Ge- Humblot 2002, S. 26 ¹¹⁴ Carl Schmitt, Der Begriff, walt des nomos, der gleichsam zur Unterscheidung in Freund und Feind S. 27 zwingt, indem er ihre Auswirkung in paradox anmutenden Formulierun-

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gen steigert, wenn er schreibt: „Der politische Feind braucht nicht mora- lisch böse, er braucht nicht ästhetisch hässlich zu sein; er muss nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vor- teilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen.“¹¹⁵ „Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, dass er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so dass im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, die weder durch eine im voraus getroffene generelle Normierung, noch durch den Spruch eines «unbeteiligten» und daher «unparteiischen» Dritten ent- schieden werden könnte.“¹¹⁶ Was in zwischenmenschlichen Beziehungen leicht als Schizophrenie ausgelegt werden könnte, wenn die eigenen Pro- jektionen zum Schlag in das Gesicht eines ahnungslosen und völlig über- raschten gegenüberstehenden Fremden führen, ist im politischen Handeln der mit dem Territorium verbundenen Nationalstaaten für Carl Schmitt ein reales Szenarium. Dann gelten die folgenden Sätze: „Den extremen Konfliktfall können nur die Beteiligten selbst unter sich ausmachen“¹¹⁷, und „namentlich kann jeder von ihnen nur selbst entscheiden, ob das An- derssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktsfalle die Negation der eigenen Art Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsgemäße Art von Leben zu bewahren.“¹¹⁸ In dieser Weise reiht Carl Schmitt weitere Bestimmungen des Freund-Feind-Schemas aneinander, die in der folgenden Auswahl von Zi- taten zum Ausdruck kommen sollen: „[D]ass die Völker sich nach dem Gegensatz von Freund und Feind gruppieren, dass dieser Gegensatz auch heute noch wirklich und für jedes politische existierende Volk als reale Möglichkeit gegeben ist, kann man vernünftigerweise nicht leugnen.“¹¹⁹ „Feind ist nur der öffentliche Feind [...], weil alles, was auf eine sol- che Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk Bezug hat, dadurch öffentlich wird.“¹²⁰

Auf subtile Weise öffnet Schmitt einen semantischen Graben, in dem normalerweise eine Feinddifferenzierung verschwindet, nämlich die zwi- schen hostis und inimicus. Unter Verweis auf das neutestamentarische Gebot „Liebet eure Feinde“¹²¹, stellt Schmitt klar, dass aus dieser Form der Nächstenliebe der politische Feind ausgeschlossen ist. Denn es „heißt «diligite inimicos vestros» und nicht: diligite hostes vestros; vom politi- schen Feind ist nicht die Rede.“¹²² Diese gegenüberstellende Klärung konterkariert Schmitt in fast ¹¹⁵ ebd. anekdotischer Erzählweise, die für die heutige alltagspolitische Wahr- ¹¹⁶ ebd. nehmung provokanter nicht sein könnte „Auch ist in dem tausendjähri- ¹¹⁷ ebd. gen Kampf zwischen Christentum und Islam niemals ein Christ auf den ¹¹⁸ ebd. ¹¹⁹ ebd., S. 29 Gedanken gekommen, man müsse aus Liebe zu den Sarazenen oder den ¹²⁰ ebd. Türken Europa, statt es zu verteidigen, dem Islam ausliefern.“¹²³ ¹²¹ Matth. 5,44; Luk. 6,27 ¹²² Carl Schmitt, Der Begriff, Der Staat, bereits bei Schmitt als Person, Subjekt, Inhaber und Trä- S. 29 ger vorgestellt, verweist auf einen Ort, eine Organisation und ein Territo- ¹²³ ebd.

Souveränität 31 B: Staat

rium. „Staat ist nach dem heutigen Sprachgebrauch der politische Status eines in territorialer Geschlossenheit organisierten Volkes.“¹²⁴ Und es ist 1 auch der Staat, der die Freund-Feindentscheidung trifft. Diese Aussage fügt sich zu Carl Schmitts bereits an anderer Stelle formulierter Teorie, in welcher vom Entscheidungsmonopol des Staatssouveräns die Rede ist. Einen interessanten Aspekt seiner Staatstheorie bildet sein Um- gang mit dem selbst heute weit verbreiteten Phänomen des Bürgerkrie- ges, dass in seiner Teorie der Sphäre des Politischen nicht zugeord- net werden kann. „Krieg ist bewaffneter Kampf zwischen organisierten politischen [staatlichen] Einheiten, Bürgerkrieg bewaffneter Kampf in- nerhalb einer organisierten Einheit.“¹²⁵ Im Bürgerkrieg fehlt der Prätext „politisch“. Dies hat klare Hintergründe und weitreichende Folgen, be- denkt man, wie doch erst der Staat zum Inhaber der Urakte, des radical titel vom Nomos der Erde wird und mit der Landnahme ein Volk zum Staat. Bedenkt man weiterhin, dass es diese Schmitt’schen Verknüpfun- gen von Staat, Nomos und Krieg sind, die das Recht des Staates auf Teil- habe am Großraum erst prägen, dann schwächen soziale Spannungen im Inneren nicht nur seine Souveränität (was unter bestimmten Bedin- gungen nicht von der Hand zu weisen ist), sondern sie erscheinen als barbarisch-rechtlose Akte der Zertrümmerung des über Generationen hinweg gewonnen Landes. Die intellektuelle Stoßrichtung gegen die im letzten Jahrhundert wirkungsmächtige marxistische Teorie des Klas- senkampes ist nicht zu übersehen und die Teorie Schmitts charakte- risiert sie in dieser ausgesprochen tendenziösen Weise als Verräter am nomos der Erde. Genauso tendenziös sind seine Bemerkungen zu dem jüdischen Volk, für ihn Volk ohne Boden, was zur Konsequenz hat: Ein Volk ohne Boden und damit ohne Staat ist nicht nur von der völkerrechtlichen Großraumordnung in der Logik Schmitts ausgeschlossen, sondern ge- fährdet diese auch. Dabei sind es keine politischen Feinde, weil sie eben keinem Staat angehören. Was sind sie dann? In den Grundannahmen von Schmitt sind sie schon mit der Denkfigur des Volkes ohne Boden ten- denziell von den Rechtsnormen des Nationalstaates getrennt und es ist ein kleiner Schritt sie vollkommen zu entrechten. Besonders im faschis- tischen Deutschland wurden diese Akte der systematischen Entrechtung ¹²⁴ ebd., S. 20 grausame Realität. Sie steigerten sich zum Genozid, denn diese Rechtlo- ¹²⁵ ebd., S. 33 sen werden zu Fremden, zu epidemieartigen Feinden des inneren Gefü- ¹²⁶ Dies lässt uns durchaus in die Nähe einer aktuellen ges des Staates und damit seiner Souveränität nach außen.¹²⁶ Gefährder-Politik gelangen, An diesem Punkt wird der Zusammenschluss von Staatsfeind, wie sie derzeit von der Groß- raumpolitik der USA ausgeht: also dem politischen (= staatlich-organisierten) Feind und dem anderen Islamisten sind Gefährder. Ge- Feind, dem nicht-staatlichen Feind evident. Dieser meist innere Feind meint ist hier nicht das arabi- wird ebenfalls zum Staatsfeind erklärt, gerade weil er kein staatlich abge- sche Staatsgebiet, beispiels- weise der Arabischen Liga als sichertes Recht, keine Souveränität und nicht den nomos der Erde besitzt. Träger von 22 islamischen Bei Schmitt kann in jeder staatlich-organisierten Weise mit diesem nicht- Staaten, sondern der „freie Isla- mismus“, der so genannte Ter- staatlichen Feind im Inneren und im Äußeren umgegangen werden, denn rorismus. „jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegen-

EMERGENCY EMPIRE 32 Transformation des Ausnahmezustands 2. Der Begriff des Staates und des Krieges

satz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren.“¹²⁷ „Die reale Freund-Feindgruppierung ist seinsmäßig so stark und ausschlaggebend, dass der nichtpolitische Gegensatz in demselben Au- genblick, in dem er diese Gruppierung bewirkt, seinen bisherigen ‚rein’ religiösen oder ‚rein’ wirtschaftlichen und andern ‚reinen’ Ausgangspunkt gesehen, oft sehr inkonsequenten und ‚irrationalen’ Bedingungen und Folgerungen der nunmehr politischen Situation unterworfen wird.“¹²⁸ Erneut spult sich bei Carl Schmitt eine Ableitungsmaschinerie des Freund-(nicht staatlich organisierten) Feind-Schemas ab, nachdem er diese ‚Feinde’ in die Bestimmung des Politischen der staatlich-organisier- ten Souveränität wieder hineingebracht hat. Der Feind steht demnach schon im Inneren bereit und der Bürger- krieg ist zu jeder Zeit möglich. Deshalb ist schon in der ersten Bestim- mung der Ernstfall fiktiv vorweggenommen und eine Ironie dieser Ge- schichte bleibt, dass diese soziale Paranoia für die intensivste Form des Politischen gilt. „Politisch ist jedenfalls immer die Gruppierung, die sich an dem Ernstfall orientiert.“¹²⁹ „Das, worauf es ankommt, ist immer nur der Konfliktfall.“¹³⁰ „Sind die wirtschaftlichen, kulturellen oder religiösen Gegenkräfte so stark, dass sie die Entscheidung über den Ernstfall von sich aus bestimmen, so sind sie eben die neue Substanz der politischen Ein- heit geworden.“¹³¹

Mit solchen Bestimmungen bereitet Carl Schmitt seine Teorie des AZ vor, indem er die „maßgebende Einheit“¹³² Staat gegenüber dem Feind immer wieder unterstreicht und den politischen Charakter des Freund- Feind-Schemas als unhintergehbare Tatsache des menschlichen Daseins im Politischen apostrophiert. „Zum Staat als einer wesentlich politischen Einheit gehört das jus belli, d.h. die reale Möglichkeit, im gegebenen Fall Kraft eigener Entschei- dung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen.“¹³³

¹²⁷ Carl Schmitt, Der Begriff, S. 37 ¹²⁸ ebd., S. 39 ¹²⁹ ebd. ¹³⁰ ebd. ¹³¹ ebd. ¹³² ebd., S. 44 ¹³³ ebd., S. 45

Souveränität 33 C: Ausnahmezustand

C: Ausnahmezustand 1 C/I: Moderner Ausnahmezustand

3. Der Begriff des Ausnahmezustands Begriffsgeschichte entlang der Episteme Carl Schmitts (3)

Mit der Einführung des Gesellschaftsvertrags und der Gründung des von Hobbes so genannten Leviathans verlässt der Mensch de facto seine Exis- tenz in der Sphäre des Naturzustands. Hier vollzieht sich zumindest in den Debatten der politischen Philosophie des 17. Jahrhunderts ein Para- digmenwechsel. Mit diesem Vollzug entsteht ein Modell der später so ge- nannten Norm, in dem ein verabredeter Rechtsauftrag zwischen den Un- tertanen (später den Bürgern) festgeschrieben wird, wie auch dieser zu einem Stellvertreter des Staates, dem Souverän in diesen Teorien, wird. Den Naturzustand beschreibt Hobbes mit Plautus¹³⁴ Worten als homo ho- mini lupus est, um damit den permanenten Bürgerkrieg zu kennzeichnen, der diesem Zustand inne wohnen soll. Dieses Modell der Hobbes’schen Staatslehre aus dem Jahr 1651 beinhaltet ein Regelwerk, das der Einzel- ne gegenüber dem Staat und der Staat gegenüber dem Souverän eingeht, um damit den Naturzustand im Allgemeinen zu überwinden. Dadurch re- alisiert er im konkreten Willensprinzip der Autorität, wirkliche Freiheit auf der Grundlage des alleinigen Entscheidungsmonopols des Staates. Die Begriffe des Souveräns, der Macht und der Ausnahme, von Recht und Gewalt sind in den Staatslehren und der politischen Philo- sophie des 17. Jahrhunderts begründet, obzwar ihr Bedeutungshinter- grund und die Traditionen im griechischen Kanon der Schriftüberliefe- rung besonders in der Philosophie bei Platon und Aristoteles (Nomoi) sowie im römischen Recht verankert sind. Die begriffs- und rechtshistorische Verortung des Begriffs des AZ ¹³⁴ Plautus, römischer Komödi- stellt gleichzeitig eine psycho-politische Verortung desselben dar, die seinen endichter (ca. 250 v. Chr. – ca. ethischen Horizont und seine pragmatischen Konsequenzen einschließt. 184 v. Chr.). Sein berühmter Die ersten Frage, die man für eine kritische Analyse der Teorie des Ausspruch: homo homini lupus, lautete im Original: Lupus est AZ stellen muss, ist fundamental und einfach zugleich: Wer ist befugt homo homini, non homo, quom einen AZ auszurufen? Auf welchen Rechtsgrundlagen agiert eine Not- qualis sit, non novit, und in der deutschen Übersetzung: Der standsklausel (im Sinne einer ad hoc- Regel), die es vermag, einen Rechts- Mensch ist dem Menschen ein stillstand einzuleiten? In wessen Interesse erfolgen Ermächtigungen, De- Wolf, kein Mensch, wenn er nicht weiß, welcher Art [sein zisionen, in deren Folge Suspendierungen des Rechtes geschehen? Ist die Gegenüber] ist. Bekannt wur- Einführung des AZ, welche eine Ermächtigung darstellt, von Nutzen? de der Ausspruch durch den Der AZ ist ein Begriff der politischen Moderne. Erste theoretische Staatstheoretiker Tomas Hob- bes. In seinem Werk De Cive be- Begründungen des AZ wurde von Carl Schmitt 1922 mit den Aufsätzen zeichnet er auf diese Weise die „Die Diktatur“ und „Politische Teologie“ vorgelegt. In seiner Verfas- Schrecken des Naturzustandes und zugleich vorvertraglichen sungslehre entwickelte Schmitt den Begriff vom Entscheidungsmonopol Zustands. des Souveräns, der überdies von ihm als handelndes Subjekt und nicht

EMERGENCY EMPIRE 34 Transformation des Ausnahmezustands 3. Der Begriff des Ausnahmezustands

als Rechtsfigur gedacht wurde, der für die Ordnung der Nation zustän- dig ist. Auf Grund des Entscheidungsmonopols des Staates sind die im AZ getroffenen Entscheidungen wie zum Beispiel Notstandsverordnun- gen für Schmitt unanfechtbar. Am 28. Februar 1933, noch vor dem Er- scheinen des Ermächtigungsgesetzes, kam als Reichstagsbrandverordnung unter dem euphemistischen Titel „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ der AZ in Deutschland erstmalig zum Einsatz. Festgeschriebene Grundrechte wie die Artikel 114 (Freiheit der Person), 115 (Unverletzlichkeit der Wohnung), 117 (Brief-, Post-, Tele- graphen- und Fernsprechgeheimnis), 118 (Meinungsfreiheit), 123 Ver- sammlungsfreiheit), 124 (Vereinigungsfreiheit) und 153 (Eigentumsge- währleistung) wurden dadurch außer Kraft gesetzt. „Auch der englischen Konstruktion des Ausnahmezustandes, dem sogenannten Martial Law, liegt in offensichtlich analoger Weise die Vor- stellung eines ausgegrenzten, freien und leeren Raumes zu Grunde. In Frankreich wurde der Ausnahmezustand als Belagerungszustand im Lau- fe des 19. Jahrhunderts zu einer rechtlich geordneten Institution. Das Martial Law des englischen Rechts dagegen blieb ein zeitlich und räum- lich bestimmter Bereich der Suspendierung allen Rechts. Zeitlich ist es durch Verkündung des Kriegsrechts am Anfang und durch einen Indemni- tätsakt am Schluss von dem Zeitraum der normalen Rechtsordnung ab- gegrenzt; räumlich durch eine genaue Angabe des Geltungsbezirks: in- nerhalb dieses örtlichen und zeitlichen Bereichs kann alles geschehen, was nach Lage der Sache faktisch notwendig erscheint. Es gibt für diesen Vorgang ein anschaulich antikes Symbol, auf das auch Montesquieu hin- gewiesen hat: die Statur der Freiheit oder die der Gerechtigkeit wird für eine bestimmte Zeit verhüllt.“¹³⁵

¹³⁵ Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, S. 67

Souveränität 35 C: Ausnahmezustand

3.1 Die Diktatur als Regierungsform 1 des Ausnahmezustands „Abstrakt gesprochen, wäre das Prob- lem der Diktatur das in der allgemeinen Rechtslehre bisher noch wenig systema- tisch behandelte Problem der konkreten Ausnahme.“ ¹³⁶ Carl Schmitt

Der Begriff des Ausnahmerechts, in Anlehnung an das römische Recht auch Diktatur genannt, bezeichnet eine eigentümliche Dialektik insofern, als dass mit dem erklärten Ziel der Rettung der demokratischen Verfas- sung Sondermaßnahmen zur Vernichtung (Aufhebung) eben jener de- mokratischen Verfassung erlassen werden. Dieses dialektische Moment vereinigt die Dezision von Vollmachten und die Suspendierung der Ver- fassung zur letztendlichen Wiederherstellung der Verfassung. Im Vollzug eines AZ wird die Verfassung selbst zum rechtsleeren Raum, zum freien Raum beyond the line. Damit integriert der Begriff der Diktatur im Wesentlich das Mo- ment der Entscheidung bzw. des Entscheiders und führt den Diskurs der Souveränität zu einem Diskurs der Totalität und der Paradoxie, wie im Teil II der „Transformation des Ausnahmezustands“ ausführlich darge- stellt wird. Als Präzedenzfälle der Diktatur und somit des AZ im deutschen Staatsrecht werden die Erlasse der Reichtagsbrandverordnung (28. Februar 1933) und des Ermächtigungsgesetzes (vom 24. März 1933) angesehen, die immer noch formal betrachtet auf den Grundlagen der Weimarer Verfas- sung (Artikel 48) beruhten. Unter dem Vorwand „Zum Schutz von Volk und Staat“, ein Ausdruck der in einem späteren Abschnitt dieser Studie als Eu- phemismus wirkt, wurde die Reichstagsbrandverordnung als Notverordnung von Reichspräsidenten Hindenburg erlassen. „Auf Grund des Artikels 48 ¹³⁶ Carl Schmitt, Die Diktatur Absatz 2 der Reichsverfassung wird zur Abwehr kommunistischer staats- von den Anfängen des modernen gefährdender Gewaltakte“¹³⁷, sowie zur Wiederherstellung der öffentli- Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, [5. chen Sicherheit und Ordnung, der fiktive Feind produziert und mit ihm Aufl.], [unver. Nachdr. d. 1978 die Notwendigkeit einer Diktatur begründet. Eine Diktatur steht immer erschienenen 4. Aufl., basie- rend auf d. 2. Aufl. von 1928], in direktem Zusammenhang mit einem AZ. Sie tritt als ultimative staat- Berlin: Duncker & Humblot liche Sonderregelung, auch Notstandsverordnung genannt, in Kraft und 1989, S. XVII ist eingebettet in ein Rechtsinstrumentarium, das nur der souveränen Ge- ¹³⁷ Verordnung des Reichs- präsidenten zum Schutz von walt zusteht: der Dezision (Ermächtigung) und der gleichzeitigen Suspen- Volk und Staat vom 28. Febru- dierung der bis dato üblichen Rechtsnorm. „Die Notverordnung wurde nie ar 1933 ¹³⁸ Giorgio Agamben, Homo sa- widerrufen, so dass man das Dritte Reich vom juristischen Standpunkt cer. S. 8 aus als AZ betrachten kann, der sich zwölf Jahre lang hinzog.“¹³⁸

EMERGENCY EMPIRE 36 Transformation des Ausnahmezustands 3. Der Begriff des Ausnahmezustands

Die Frage nach dem Entscheider integriert zwei marginale Momen- te; zum einen die Frage der Ermächtigung, zum anderen die Frage nach dem Letztmittel des ultimativen Kriegszustands. Diese Fragen wurden seit der Frühen Neuzeit Gegenstand der Souveränitätslehren. Tomas Hobbes beantwortete sie eindeutig: Das Sonder- oder Aus- nahmerecht der Entscheidung […] liegt ohne Abstriche beim Souverän. Die Legitimität einer in ihm begründeten ultimativen Willkür ist einer- seits an den Gottesbegriff gebunden und personifiziert diesen im Sou- verän andererseits. Aus dieser Konstellation erwächst die Stringenz der politischen Teologie, wie sie bereits bei Hobbes latent existiert, bei Carl Schmitt sich jedoch als Höhepunkt der Souveränitätslehre selbst expo- niert. In „Politische Teologie I“ und „Politische Teologie II“ werden ex- emplarisch die Zusammenhänge zischen einer vom Souverän repräsen- tierten Diktatur, die seiner Person inhärenten Dezisionsgewalt und der Totalität klar von Carl Schmitt dargestellt. Diese Zusammenhänge fallen konkret in den Ausnahmezustand, der von daher nach Schmitt Diktatur und totaler Krieg (vs. totaler Frieden) gleichermaßen ist. „Die als Belagerungszustand, Kriegszustand oder Diktatur bezeich- neten Ausnahmezustände enthalten in der gesetzlichen Regelung, die sie heute in den verschiedenen europäischen Ländern gefunden haben, ver- schiedenartige Gesichtspunkte vermengt. Eine Erkenntnis der juristi- schen und politischen Natur jener Ausnahmezustände ist nur durch eine Auflösung der heterogenen Elemente möglich.“¹³⁹ Was Schmitt hier Auf- lösung von heterogenen Elementen nennt, ist ein Plädoyer für den tota- len Krieg, der seine Homogenität beispielsweise durch ein 1933 erlasse- nes Gleichschaltungsgesetz garantierte. In der Schrift „Die Diktatur“ erarbeitete Carl Schmitt 1922 den Be- griff und die Teorie des Ausnehmzustands, den er mit dem Begriff der Diktatur gleichsetzte. Dieses Standardwerk wird im Laufe seines Schaf- fens mehrfach überarbeitet, so auch der Begriff vom Ausnahmezustand, der dann in der 4. Auflage 1978, 5 Jahre vor Schmitts Tod, eine letzte von ihm selbst formulierte Fassung erhielt. Im Wandel der Begriffsversionen wird der Ausnahmezustand in zeitlich nachvollziehbaren Überarbeitungen für die Jahre 1922, 1928, 1964 und 1978 von Carl Schmitt verschieden gewichtet. „Wenn die Diktatur notwendig «Ausnahmezustand» ist, kann man durch eine Aufzählung dessen, was als das Normale vorgestellt wird, die verschiedenen Möglichkeiten ihres Begriffes aufzeigen: staatsrechtlich kann sie die Aufhebung des Rechtsstaates bedeuten, wobei Rechtsstaat wiederum Verschiedenes bezeichnen kann: eine Art der Ausübung staatli- cher Macht, die Eingriffe in die Rechtssphäre der Bürger, persönliche Frei- heit und Eigentum, nur auf Grund eines Gesetzes zulässt; oder eine verfas- sungsmäßige, auch über gesetzliche Eingriffe erhabene Garantie gewisser Freiheitsrechte, die durch die Diktatur verneint werden.“¹⁴⁰ Der Kernpunkt ¹³⁹ Carl Schmitt: Staat, Groß- des Diktatur-Entwurfs stellt die Dialektik zwischen Ausnahme und Norm raum, Nomos, [Erster Teil: Ver- fassung und Diktatur] dar. Diktatorische Entscheidung obliegt einerseits dem Souverän, anderer- ¹⁴⁰ Carl Schmitt, Die Diktatur, seits bedeutet sie Dezision und Suspendierung. S. XIV

Souveränität 37 C: Ausnahmezustand

„Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht kraft eines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt. Die zwei Elemente des Begriffs 1 «Rechts-Ordnung» treten hier einander gegenüber und beweisen ihre be- griffliche Selbständigkeit. So wie im Normalfall das selbständige Moment der Entscheidung auf ein Minimum zurückgedrängt werden kann, wird im Ausnahmefall die Norm vernichtet.“¹⁴¹ Dieser Punkt ist entscheidend, da er die totale Gewalt des Entscheiders impliziert, welche in der Ver- nichtung der Norm und der ultimativen Neusetzung der Norm gleichzei- tig liegt. Ein in dieser Weise ausgerichtetes Situationsrecht überschreibt restlos das Potential göttlicher Gewalt auf eine Person. Dies sind die Kernthemen der Souveränitätslehre, welche ebenfalls im Teil II der hier vorgelegten Studie weiter ausgebaut werden.

3.2 Der AZ als Letztmittel der Souveränität Der AZ als ultimatives Kriegsrecht des Staates gilt als sein souveränes Letztmittel. Der Krieg ist ein primäres Geschäft von Staaten zur Siche- rung von Dominanz und Einflusssphären in Weltpolitik, Weltwirtschaft und Weltmarkt. Eine Teilnahme am Krieg ist von daher ein Privileg der- jenigen Staaten, welche mit dem Krieg ihren Wirtschaftsprofit und Fi- nanzprofit steigern, sowie ihre politische Position dadurch völkerrecht- lich absichern können. Kriegspotente Staaten ermächtigen sich selbst zweifach: nach innen und nach außen. Einen Ausnahmezustand nach in- nen erlässt ein Staat kurzfristig dann, wenn seine Kriegs- und Profitpla- nung in Not gerät. Der AZ gilt als die Letztentscheidung des Souveräns, als sein letztes Mittel, wonach er greift, um seine Souveränität zu schüt- zen. Mit diesem Griff zur Letztentscheidung überschreitet der Souverän letztendlich auch die Linie der Verfassungsrechte, da das Letztmittel als solches und in seiner ganzen Form in der Verfassung nicht enthalten ist. Diese Linie der Verfassungsübertretung ist jedoch dem souveränen Ge- waltmonopol eingeschrieben, die sich nach Schmitt in der rechtsetzen- den und rechtsprechenden Gewalt gleichzeitig darstellt und die Agamben Schwelle nennt. Staatshandlungen auf dieser Schwelle, vor allem wenn sie Letztentscheidungen sind, bleiben im politischen Grenzbereich von legal/illegal, im ethischen Bereich von legitim/illegitim, sowie im meta- physischen Bereich von Leben/Tod, Ist/Nicht-Ist, was das paradoxe Cha- risma des Souveräns in seiner Totalität kennzeichnet. Diese Paradoxie im Wesenskern des AZ wird im Teil 4, Grammatik des AZ näher vorgestellt. Sie bleibt in ihrer ganzen Ambivalenz und Schizophrenie auf ewig jener Ununterschiedenheit (nach einem Begriff von Agamben) verhaftet, die wir später als Nullort definieren. Kapitalismus und Schizophrenie, ein epocha- les Werk der postmodernen Kapitalismusanalytiker Deleuze und Guatta- ri, verweist aus genau dem Motiv der Staatspathologie auf sein Kernsym- ¹⁴¹ Carl Schmitt, Politische Teo- logie I, S. 19 ptom der Schizophrenie. ¹⁴² Vgl. die unterschiedlichen Wenn Staaten ihr Letztmittel ins Spiel bringen, berufen sie sich auf Notstandsverordnungen (Pa- triot Acts) in den USA im Jahr ihr naturgegebenes Recht (inherent right) der individuellen oder kollekti- 2001. ven Selbstverteidigung.¹⁴² Diese Entscheidungswillkür ist im Privileg des

EMERGENCY EMPIRE 38 Transformation des Ausnahmezustands 3. Der Begriff des Ausnahmezustands

Staatssouveräns seit den Staatsentwürfen der frühen Neuzeit begrün- det. Das Privileg bestimmt den Souverän zum Inhaber der naturrecht- lich begründeten Freiheit, das heißt nach eigener Ermessenswillkür zu entscheiden und im Namen des Volkes die Interessen von Recht und Ge- walt zu verteidigen. Eine Verteidigungsmaßnahme vor dem Hintergrund eines solchen Privilegs schließt die totale Suspendierung der Rechte ein. Die Privilegien-Satzung des Staatssouveräns, nämlich der Dezision und Suspendierung, liegt gewissermaßen bereits im Gesellschaftsvertrag bei Hobbes vor wie auch bei Rousseau und ist aus den antiken Gesetzesbe- stimmungen (Platon, Aristoteles) und dem römischen Recht nachweislich und genealogisch hergeleitet. Bei Carl Schmitt schließlich mündet diese Satzung in eine brillante wie umstrittene Teorie des Staates. Das Ent- scheidungsprivileg des Souveräns wird von ihm aus dem Entscheidungs- monopol und Gewaltenmonopol erklärt, was an späterer Stelle als Pro- blem der Entscheidung und Zentrum souveräner Taktik vorgestellt wird. Nur im Spiegel eines solchen souveränen Monopols vermag sich ein Staat als ein solcher zu definieren. Im Paradigmenwechsel, den eine Staatsgrün- dung mit dem Übergang vom Naturzustand zum Gesellschaftsvertrag vollzieht, ist im Leviathan bei Hobbes und bei Schmitt eindeutig geklärt, dass das Volk sein Recht auf Freiheit in Form eines freiwilligen Unter- werfungsaktes an die souveräne Gewalt abgibt. Durch diesen Akt defi- niert sich ein Volk freiwillig als Untertan und Bestandteil des Staates, der nachfolgend aus Souverän, Regierungsorgan und Staatsbürger besteht. Dieses Argument der freiwilligen Abgabe der naturrechtlich begründe- ten Freiheit des Einzelnen an den Souverän definiert den Leviathan und erklärt zwangsläufig auch das Schicksal eines Einzelnen im Leviathan. Während der Leviathan dem Souverän dient und im Tauschgeschäft mit der Freiheit, Ordnung und Sicherheit als Gegenstück erhält, bedient sich im Umkehrschluss der Souverän am Leviathan, indem er sich vorbehält, in dessen Namen, im Namen von Ordnung und Sicherheit, nach eigenem Ermessen zu entscheiden. Agamben erfasst das Phänomen der souveränen Position, die ei- nerseits polarisiert und anderseits inkorporiert, vereinnahmt, vernich- tet, im Begriff der Ununterschiedenheit. „Wichtig ist zu bemerken, dass bei Hobbes der Naturzustand in der Person des Souveräns überlebt, der als einziger sein natürliches ius contra omnes bewahrt. Die Souveränität stellt sich somit wie eine Einverleibung des Naturzustandes der Gesell- schaft dar oder, wenn man will, wie eine Schwelle der Ununterschiedenheit zwischen Natur und Kultur, zwischen Gewalt und Gesetz, und genau in dieser Ununterschiedenheit liegt das Spezifische der souveränen Gewalt. Deshalb befindet sich der Naturzustand nicht wirklich außerhalb des nô- mos, sondern enthält ihn virtuell.“¹⁴³ Aus diesen definitorischen Zusammenhängen des nômos, des Sou- veräns und seiner ihm de facto zugesprochenen Monopole, sind über an- tike Rechtssetzungen, neuzeitliche Rechtssetzungen bis hin zu moder- ¹⁴³ Giorgio Agamben, Homo sa- nen Rechtssetzungen Parallelen in der Formulierung der Potenz eines cer, S. 46

Souveränität 39 C: Ausnahmezustand

Souveräns und eines Staates nachvollziehbar. „Er [der Souverän] ist das In-Potent-Sein des Rechts, seine Selbstvorrausetzung als «natürliches 1 Recht».“¹⁴⁴ Argumentationen von kriegsführenden Staaten, die sich auf ihr ‚inherent right’ berufen, sind demnach verfassungshistorisch tradiert. Die naturgegebene Rechtsargumentation von kriegsführenden Staaten, nämlich die der personifizierten (souveränen) und kollektiven (gemein- schaftlich-patriotischen) Selbstverteidigung, und weiterhin zum „Schutz von Volk und Staat“, ist eine double-bind-Argumentation, die jedem Er- mächtigungsakt nach innen und nach außen den Rücken frei hält und stärkt. Im souveränen Akt, ein Ermächtigungsgesetz zu beschließen, d.h. den Ausnahmezustand auszurufen, ist immer ein willkürlicher, per- sonengebundener Erlass, der die postume Überschreibung göttlicher Ge- walt in eine neue Form bringt. Der Ausnahmezustand kennzeichnet des- halb die Absicht des kriegsführenden Staates, des Souveräns und seiner Regierung, globalterrestrische Vormacht und Vorteile mit aller Macht zu garantieren. Dass diese ggf. in Not sind, was den Begriff des Notstands (für Souverän und Staat) nach sich zieht, ist eine taktische Wendung des Staates nach innen hin, um jene Kriegswillkür, die ein AZ mit sich bringt, zu rechtfertigen. Der Begriff der Not (von Volk und Staat) ist nicht los- gelöst von einer Feindbildproduktion, der Konstruktion von Kriegsursa- chen (im Feind), so dass eine Not das Staates ohne weiteres ein plausibles Alibi für Präventiv- oder Vergeltungsschläge liefert. Eine Mobilmachung nach innen mittels Propaganda und Einsatz, Konsum und Umsatz geht uneingeschränkt mit der Legitimität „zur Wiederherstellung der öffent- lichen Sicherheit und Ordnung“¹⁴⁵ einher, denn genau diese „Sicherheit und Ordnung“ ist das Tauschäquivalent des Bürgers von dem Zeitpunkt an, als er seine naturrechtliche Freiheit zu Gunsten von Norm und Kont- rolle an den Souverän abgegeben hat. Im AZ fallen die Monopole des Souveräns (Entscheidungs- und Gewaltmonopol) in den offensiven Tatraum der Ermächtigung, die den Ausnahmezustand bestimmen. Die Ausnahme tritt durch die willkürli- che Ermächtigung der souveränen Potenz in Kraft, d.h. durch die totale Suspendierung sämtlicher bis dahin gültigen Rechte. Diese Suspendie- rung, die im Wesentlichen den AZ von 1933 charakterisiert, heißt totale Gleichschaltung qua Zentralisierung der Gewalt und fällt als souveränes Letztmittel unter die Bedingung der Diktatur und des totalen Krieges.

Zusammenfassung: Was wir bei Giorgio Agamben zum „Ausnahmezustand“ lesen, beruht ¹⁴⁴ ebd. ¹⁴⁵ Die Verfassung des Deutschen grundlegend auf den Diktionen jener Axiomatiken des Nomos, die Carl Reiches, Weimarer Verfassung Schmitt in „Nomos der Erde“, „Staat, Großraum, Nomos“ und „Völker- vom 11. Augustin 1919, in: rechtliche Großraumordnung“ niederlegt, wie auch auf den Diktionen ei- Horst Hildebrandt, Die deutsche Verfassung des 19. und 20. JH., nes Tomas Hobbes zu den Axiomatiken der Souveränität, der Ausnah- Paderborn: UTB: Schöningh me und des Naturzustands in der Wendung Plautus’ homo homini lupus. 1985, S. 111 ¹⁴⁶ Giorgio Agamben, Ausnah- Der Begriff des Nomos, wie auch des nômos basileus bei Pindar, der mezustand, S. 62 Begriff des „rechtsfreien Raumes“¹⁴⁶, der auf Schmitts causa des rechts-

EMERGENCY EMPIRE 40 Transformation des Ausnahmezustands 3. Der Begriff des Ausnahmezustands

leeren Raumes beyond the line aufbaut, der Wolfsmensch nach Plautus und Hobbes, wie auch der Begriff der Zone, welcher der Schmitt’schen Kampf- zone beyond the line entlehnt ist, bilden in Agambens Werk zum Ausnah- mezustand das Grundgerüst. In der Querverbindung aus Zone, respek- tive Kampfzone bei Schmitt und Anomie bei Emile Durckheim, erwächst schließlich das Agambensche Kompositum von der Zone der Anomie. Die- se gilt bei Agamben ad definitionem als rechtsfreier Raum, als jener Bereich, der bei Carl Schmitt als der „Bereich der Suspendierung allen Rechts“¹⁴⁷ aus- gewiesen ist. Beyond the line eröffnet den Schauplatz des AZ. In der Weiterführung der Staats-Kriegs-Konstrukte von Carl Schmitt überführt Agamben den AZ in das Gelände des Bürgerkriegs. Was Schmitt strikt voneinander getrennt hat, nämlich den Krieg vom Bür- gerkrieg, führt Agamben zusammen, indem er vom weltweiten AZ als gleich vom weltweiten Bürgerkrieg spricht. „Der Krieg ist in diesem völ- kerrechtlichen System eine Beziehung von Ordnung zu Ortung und nicht etwa von Ordnung zu Unordnung. Diese letzte Beziehung, von Ordnung zu Unordnung, ist «Bürgerkrieg».“¹⁴⁸ Agamben dehnt den AZ aus und „überwölbt“¹⁴⁹ mit dem neuen Axiom der Zone der Anomie eine globale Kriegspolitik. Hier trifft freilich die kriegerische Kampfzone beyond the line nicht mehr nur auf den staatlich organisierten Kriegsschauplatz zu, sondern eben vor allem auf einen völkerrechtlich nicht mehr nachvoll- ziehbaren Schauplatz des weltweiten und permanenten Bürgerkrieges, bzw. des postmodernen Krieges. Diese Situation statuiert den AZ ohne dass ein Staat den AZ verhängt! So gesehen, könnte die derzeitige global- völkerrechtliche und zwischenstaatliche wie auch außerstaatliche politi- sche Situation nach der Axiomatik Agambens eher als Großraum der An- omie oder als Großzone der Anomie definiert werden. Hier formuliert sich auch das Neue im Zugriff auf das Instrument des AZ gegenüber der Te- orie Carl Schmitts. Der Ausnahmezustand ist das Letztmittel eines jeden souveränen Staates und wie in den nachfolgenden Ausführungen zu den Kriegstypen des modernen Krieges aufgezeigt wird, ist der AZ als Letztmittel Instru- ment und souveräne Sondermaßnahme, mit dem Argument der Selbst- verteidigung und der nationalen Sicherheit, in allen Kriegen des 20. Jahr- hunderts gewesen.

3.3 Der Ausnahmezustand als Kriegsrecht (ius ad bellum) des modernen Krieges Mit dem „modernen Krieg“, der als neuer Kriegstypus zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einzug hielt, wurde der klassische Staatenkrieg radikal überholt. Als erster moderner Krieg und gleichzeitig Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts ist der Erste Weltkrieg in die Geschichte eingegangen, der von 1914 bis 1918 in Europa, dem Nahen Osten, Afrika und Ostasien ge- ¹⁴⁷ Carl Schmitt, Der Nomos der führt wurde und über fünfzehn Millionen Menschenleben forderte. Der Erde, S. 67 ¹⁴⁸ Carl Schmitt, Völkerrechtli- markante Unterschied, den dieser erste moderne Krieg zum klassischen che Grossraumordnung, S. 56 Krieg setzt, findet sich in der Allianz zwischen den Führungseliten des ¹⁴⁹ ebd., S. 67

Souveränität 41 C: Ausnahmezustand

internationalen Finanzkapitals, des Militärs und der Industrie. Hier eta- bliert sich ein Prototyp der Kriegslogistik, der Kriegsindustrie und der 1 Kriegswirtschaft, der neue Dimensionen für den Krieg des 20. Jahrhun- derts geschaffen hat, nämlich den Kriegstypus der Generalmobilmachung und des Stellungskrieges, wie wohl er auch an Grauen alles bis dahin Be- kannte übertraf. Mit diesem ersten modernen Krieg, in dem Maßnahmen und Mit- tel wie Stellungskrieg, Materialeinsatz (Panzer, Flugzeuge, Luftschif- fe), Bombenterror und Massenvernichtungswaffen (Giftgas), aber auch Kameraeinsatz und journalistische Berichterstattung erstmals erprobt wurden, begannen die Industriekriege und Schrecknisse des 20. Jahr- hunderts. „Als die Armeen Europas in den Krieg zogen, der zum Ersten Weltkrieg wird, rechnet niemand damit, dass dieser Konflikt länger als vier Jahre dauern wird. Als nach einigen Monaten auf allen Seiten die Munition knapp wird, beginnt eine gigantische Mobilisierung industri- eller und intellektueller Ressourcen. Die deutsche chemische Industrie, die französische Autoindustrie, Stahlwerke, Elektrofirmen und Werften wandeln sich zu Rüstungsunternehmen. Der Industrieführer Walter Ra- thenau und der Wissenschaftler Fritz Haber in Deutschland, der Politiker Albert Tomas und der Industrielle Louis Renault in Frankreich werden zu Schlüsselfiguren der Kriegswirtschaft. Der eigenen Seite endlich den entscheidenden Vorteil im Stellungskrieg zu verschaffen, das ist das Ziel aller Anstrengungen. Auf den Meeren tobt der Kampf um die Rohstof- fe. Maschinen wie Flugzeug, Panzer und Autos erobern das Schlachtfeld. Neue chemische Kampfstoffe wie das Gas werden nach der Rezeptur der Wissenschaftler von der Industrie fronttauglich gemacht. Die Massen- fertigung von Granaten und Minen, der Einsatz von Maschinengewehren und Flammenwerfern macht aus dem Krieg ein technisiertes Sterben, ge- plant an den grünen Tischen der Erfinder und Strategen. Sechsundsech- zig Millionen Soldaten werden ins Feld geschickt. Mehr als fünfzehn Mil- lionen Menschen sterben in diesem großen Krieg, unter ihnen fast sechs Millionen Zivilisten. Das Leid von Hunderttausenden wird zur Rechen- größe in der Ökonomie des Krieges. «Maximales Blutbad zu minimalen Kosten», wie es der Philosoph Bertrand Russel formuliert hat.“¹⁵⁰ In „Luftbeben. An den Quellen des Terrors“, erschließt Peter Sloter- dijk den Gaskrieg als ein „atmoterroristisches Muster“.¹⁵¹ „Das 20. Jahr- ¹⁵⁰ Heinrich Billstein, Mathias hundert brach spektakulär enthüllend am 22. April 1915 an mit dem Haentjes, [Regisseure des Films „1914 – 1918: der Moderne Grosseinsatz von Chlorgasen als Kampfmittel durch ein eigens hierfür Krieg“, Ausstrahlung: 14. No- eingerichtetes «Gasregiment» der deutschen West-Armeen gegen fran- vember 2007 in ARTE], Kom- mentar, URL: http://www.arte. zösisch-kanadische Infanteriestellungen im nördlichen Ypern-Bogen.“¹⁵² tv/de/woche/244, Stand vom Schrittweise beschreibt Sloterdijk die Urszenen des ersten Industriekrie- 22. Juni 2008 ges als Koinzidenzen aus logistischem, ingenieurstechnischem Perfektio- ¹⁵¹ Peter Sloterdijk, Luftbe- ben. An den Quellen des Terrors, nismus und wissenschaftlichem Innovationsgeist, die schließlich zusam- Frankfurt am Main: Suhrkamp men zu einem neuen Kriegsdesign führen. „Exakt um 18 Uhr wurden von 2002 ¹⁵² Peter Sloterdijk, Luftbeben, Pionieren des neuen Regiments unter dem Kommando von Oberst Max S. 7f. Peterson 1600 große (40 kg) und 4130 kleinere (20 kg) mit Chlor ge-

EMERGENCY EMPIRE 42 Transformation des Ausnahmezustands 3. Der Begriff des Ausnahmezustands

füllte Flaschen bei vorherrschendem Nord-Nordostwind geöffnet. Durch dieses «Abblasen» der flüssigen Substanz breiteten sich circa 150 Ton- nen Chlor zu einer Gaswolke von etwa 6 Kilometern Breite und 600 bis 900 Metern Tiefe aus.“¹⁵³ Sowie: „Der militärische Erfolg der Operation war zu keinem Zeitpunkt strittig – Kaiser Wilhelm II. empfing schon we- nige Tage nach den Vorgängen bei Ypern den wissenschaftlichen Leiter des deutschen Kampfgasprogramms, den Chemiker Professor Fritz Ha- ber, Direktor des Dahlemer Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische Chemie und Elektrochemie, in persönlicher Audienz, um ihn zum Haupt- mann zu befördern.“¹⁵⁴ Sloterdijk verifiziert genau dieses Ereignis, das Pilotprojekt des modernen Gaskrieges, als die Übergangsstelle vom klassischen Krieg zum modernen Terrorismus (die Geburtsstunde des klassischen terrors ¹⁵³ ebd., S. 8, Dieser Textab- ist auf die Geschehnisse der Französischen Revolution datiert). Moder- schnitt wurde vom Autor mit ner Terrorismus wird hier mit modernem Kriegsdesign gleichgesetzt, das folgendem Kommentar ver- sehen: „Wir folgen bei diesen sich als sinistre, nicht greifbare, schwebende Militärtechnik vorstellt, Angaben der Darstellung von derer sich der souveräne Staat als Waffe bedient. Gaseinsatz als Kriegs- Dieter Martinez, Der Gas-Krieg design und Militärtechnik zu bezeichnen, erweitert das Repertoire des 1914-1918. Entwicklung, Ein- satz und Herstellung chemi- Clausewitz’schen Kriegstheaters – es erscheint erstmals ein unsichtbarer scher Kampfstoffe, Das Zusam- Feind, ein Feind in einem gasförmigen Aggregatszustand, als Hauptak- menwirken von militärischer Führung, Wissenschaft und teur des Überraschungsangriffs. Industrie, Bonn 1996; geringfü- Wenn „Gas“ und „Generalmobilmachung“ die Signifikanzen des ers- gige Varianten bei Ortsbezeich- ten Typs des modernen Krieges sind, des Industriekrieges; „Gleichschal- nungen sowie Zeit- und Men- genangaben finden sich in der tung“ und „Lager“ die Signifikanzen des zweiten Typs des modernen Krie- Monographie von Olivier Le- ges, des Totalen Krieges; „Wettrüsten“ die Signifikanz des dritten Typs pick, La grande guerre chimique: 1914-1918, Paris 1998.“ des modernen Krieges, des Kalten Krieges und „Cyborg“ und „Livetime“ ¹⁵⁴ ebd., S. 10, Dieser Text- die Signifikanzen des vierten Typs des modernen Krieges sind, des High- abschnitt wurde vom Autor mit folgendem Kommentar Tech oder Cyberkrieges, so sind all diese Signifikanzen (oder Designs) aus- versehen: „Prof. Fritz Haber nahmslos an den Regelapparat des Ausnahmezustands gebunden und (1868-1934) war zur Kriegszeit erlangen erst im Spiegel des AZ ihre vollständige Bedeutung. Der Aus- auch Leiter eines Referats für «Gaskampfwesen» im Kriegs- nahmezustand wird in dieser Arbeit als Willkür oder Wunder der Geset- ministerium. Er musste 1933 zeskraft vorgestellt, in dem eben jene Gesetzeskraft ohne Gesetz agiert als Jude Deutschland verlassen, nachdem er noch im Sommer und außerhalb der Norm das Sonderrecht konstituiert–als Anomie. Der dieses Jahres der deutschen AZ, als Begriff und Regelwerk der politischen und juristischen Moderne, Reichswehrführung Ratschläge ist das radikale Element, welches das Kriegsrecht (ius ad bellum) für den für die Wiedereinführung einer Gaswaffe gegeben haben soll. modernen Krieges situativ herstellt. Er starb am 29. Januar 1934 in Diese Tatsache verweist auf die unmittelbar kriegspolitische, wie Basel nach einem Aufenthalt in England, als er sich auf der auch rechtspolitische Bedeutung des Ausnahmezustands, welcher in An- Reise nach Palästina befand. lehnung an das römische Recht auch als „Diktatur“ bezeichnet wird. Dem Einige seiner Angehörigen ka- men in Auschwitz ums Leben. Regelapparat des AZ inhärente paradoxe Struktur liegt in der Unverein- In der Militärwissenschaft hat barkeit zwischen der Rechtsordnung selbst und einer in diese Rechts- er sich die Erinnerung an das ordnung eingeschriebenen Ausnahmeregelung, der Anomie, welche die sog. Habersche Tödlichkeitspro- dukt erhalten, das sich aus der Rechtsordnung im Fall der Diktatur, bzw. des Kriegsrechts, aufhebt. Multiplikation von Giftkonzen- „Wenn das Eigentümliche des Ausnahmezustands die (totale oder par- tration und Expositionszeit (c-t- Produkt) ergibt.“ tielle) Suspendierung der Rechtsordnung ist, wie kann dann eine solche ¹⁵⁵ Giorgio Agamben, Ausnah- Suspendierung noch in der Rechtsordnung enthalten sein?“¹⁵⁵ Die Prä- mezustand, S. 32

Souveränität 43 C: Ausnahmezustand

misse des modernen Krieges stellt Schmitt im souveränen Staatsinteres- se schlechthin dar, und im AZ als ultimativen Begriff des Krieges. Wenn 1 Besitz und Recht des souveränen Staates in Gefahr sind, muss zur Ver- teidigung von Besitz und Recht der ultimative Kriegszustand ausgerufen werden, also die Diktatur. Der moderne Krieg setzt die Diktatur voraus, um das Kriegsinteresse freizusetzen und schließlich die Signifikanzen der oben genannten Kriegstypen, jene Wunder des modernen Krieges hervor- zubringen. Erst die Diktatur erschafft die Signifikanzen des Krieges und schließlich das maximale Geschäft mit dem Produktdesign. Allein durch diese Tatsache verschafft sich der moderne Krieg sein Kriegsrecht.

3.4 Der AZ als terminus technicus des totalen Krieges Der Begriff des totalen Krieges liegt erstmals 1936 in einer Broschüre von Erich Ludendorff mit dem Titel „Der totale Krieg“¹⁵⁶ vor und kann als Fortschreibung dessen verstanden werden, was Carl von Clausewitz 1832 mit dem „absoluten Krieg”¹⁵⁷ bezeichnet hatte. „Der Lehrmeister des Krieges, von Clausewitz, stellt in seinem Werke «Vom Kriege», das von ihm vor etwa 100 Jahren auf Grund der Erfahrung der Kriege Fried- richs des Grossen und der Napoleonischen Epoche geschrieben wurde, mit Recht fest, dass der Krieg ein Akt der Gewalt ist, durch den ein Staat einen anderen unter seinen Willen zwingen will. In seinen Betrachtun- gen über die Erreichung dieses Zieles denkt Clausewitz nur an die Ver- nichtung der feindlichen Streitkräfte durch Schlachten und Gefechte. Sie ist unantastbarer Grundsatz der Kriegsführung geworden, und dessen Berücksichtigung die erste Aufgabe der Führung des totalen Krieges.“¹⁵⁸ Als Totaler Krieg wird allgemein eine Kriegführung bezeichnet, die auf eine vollständige Ausnutzung des wirtschaftlichen und zivilen Poten- tials, auf Kosten der allgemeinen Lebenshaltung, abzielt. Die Bezeich- nung wird heute meist mit der am 18. Februar 1943 von Reichsminister Joseph Goebbels während einer Propagandaveranstaltung der National- sozialisten im Berliner Sportpalast gehaltenen Rede in Verbindung ge- bracht, die unter dem Namen „Sportpalastrede” Geschichte machte. Goe- bbels appellierte mit der Rede an den Durchhaltewillen der deutschen Bevölkerung und entlockte den Massen im Stadion eine stürmische Ak- klamation mit der berühmt-berüchtigten Frage: „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ Die Versammlung, wie fast alle Propaganda-Versammlungen im Dritten Reich kalkuliert und inszeniert, schloss mit dem Singen der ers- ten Strophe des Deutschlandlieds. Mit dem totalen Krieg des 20. Jahrhunderts, dem II. WK zwischen ¹⁵⁶ General Ludendorff, Der totale Krieg, München: Luden- 1939 und 1945, war gleichzeitig der industrialisierte Krieg, die industrie- dorff Verlag 1936, [1. Aufl. produzierte Katastrophe, der industrielle Genozid, insgesamt der Super- 1935] GAU hervorgebracht. Der Super-GAU als Abkürzung für „Größter Anzu- ¹⁵⁷ Carl von Clausewitz, Vom Kriege, S. 850, [Absoluter und nehmender Unfall“ ist der Inbegriff und das Synonym des totalen Krieges. wirklicher Krieg, in: Kriegs- Der II.WK war bis dato der einzige Krieg, in dem sowohl atoma- plan, Kap. 2] ¹⁵⁸ General Ludendorff, Der to- re (von den USA in Japan) als auch biologische und chemische Waffen tale Krieg, S. 3 (beide hauptsächlich von Japan in China) eingesetzt wurden (ABC-Waf-

EMERGENCY EMPIRE 44 Transformation des Ausnahmezustands 3. Der Begriff des Ausnahmezustands

fen). Die Signifikanz des totalen Krieges, des II.WK, ist die totale Mobil- machung, in Form von Wirtschaftsmobilmachung, Mobilmachung der Reserve und Mobilmachung des Heeres, Mobilmachung der Medienprä- senz, des Journalismus, der Politik, des öffentlichen Lebens schlechthin. Ludendorff gibt diesen Umstand, wie folgt, zu verstehen: „Der to- tale Krieg hat seitdem mit der Verbesserung und Vermehrung der Flug- zeuge, die Bomben aller Art, aber auch Flugblätter und sonstiges Propa- gandamaterial über die Bevölkerung abwerfen, und durch Verbesserung und Vermehrung der Rundfunkanlagen, die Propaganda feindwärts ver- breiten, und anderes mehr, noch an Vertiefung gewonnen.“¹⁵⁹ Das zentrale Motiv des totalen Krieges war die Klärung der Begrif- fe des Volkes und der Rasse. Der Terminus Rassismus entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der kritischen Auseinandersetzung mit auf Ras- sentheorien basierenden politischen Konzepten. In anthropologischen Teorien über den Zusammenhang von Kultur und rassischer Beschaffen- heit wurde der biologische Begriff der „Rasse“ mit dem ethnisch-sozio- logischen Begriff „Volk“ vermengt. Ein Zusammenhang phänotypischer Merkmale mit charakterlichen oder intellektuellen Eigenschaften wird von der modernen Wissenschaft mehrheitlich als unhaltbar zurückge- wiesen. Nach dem Nürnberger Rassengesetz, welches am 15. September 1935 anlässlich des Siebenten Reichsparteitags der NSDAP („Reichspartei- tag der Freiheit“) in Nürnberg vom Reichstag angenommen und vom da- maligen Reichstagspräsident Hermann Göring feierlich verkündet wurde, war der totale Krieg zutiefst vom Rassismus initialisiert und initiiert. Das Nürnberger Rassengesetz beinhaltete das Blutschutzgesetz, das Reichsbürgergesetz und das Reichsflaggengesetz. Mit der Klärung der Homogenität des Volkes entstand das Motiv der Überlegenheit und daraus resultierend der nahtlose Kampfgeist des deutschen Geistes. Sämtliche Elemente des totalen Krieges setzen sich im so genannten Postmodernen Krieg und im Emergency Empire in irregulärer und asymme- trischer Dynamik fort. Was im II. WK als totale Mobilmachung der Wirt- schaft, der Propaganda, des öffentlichen Raumes, von Ressourcen und Menschen bezeichnet wurde, findet im EE sein Pendant. Zwischen Rassen- politik und Biopolitik existiert eine Synchronizität, wie Foucault diagnosti- zierte. Prekarisierung, Marginalisierung, Pornografisierung, Kriminalisie- rung sind nur Beispiele von aktuellen Formen des Bioterrors der partiellen oder totalen Suspendierung der Menschenrechte und der Menschenwürde. Was den totalen Krieg schließlich nachhaltig manifestiert, ist die Dezisionsgewalt des AZ, die unterschiedslos sämtliche Bereiche des Staa- tes einschließt: die Regierung, die Verteidigung, die Information, die Si- cherheit, den Patriotismus und auf seiner Oberfläche, den Konsumis- mus, den Lifestyle, das neoliberale Global Corporate Design (GCD). Der AZ ist der terminus technicus zur Erschaffung des totalen Kriegs- schauplatzes, des totalen Kriegsmarktes, des totalen GAU’s und der po- litischen Ökonomie eines totalen Katastrophenmarktes und Katastro- phendesigns. ¹⁵⁹ ebd., S. 5

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3.5 Der AZ als terminus technicus des Kalten Krieges Mit dem Abwurf der Atombombe über Hiroshima und Nagasaki, mit 1 der Kapitulation der Kriegsstreitmacht Japan im Pazifik, kündigte sich eine neue Ära im internationalen Mächtespiel und Kriegsszenario an, der Kampf um die weltweite Nuklearmacht in Form des „Kalten Krieges“.¹⁶⁰ Dieses neue Mächtespiel polarisierte einen Ost-West-Konflikt, zwischen Westmächten und Ostblock, deren Repräsentanz durch zwei Supermäch- te, die USA und die UdSSR, von 1947 an über weitere 42 Jahre besiegelt wurde. „Die zuerst von den USA entwickelte Atombombe stellte die ext- reme Konsequenz des modernen Prinzips dar, alle beherrschbaren physi- kalischen Effekte auch in Kriegs-Dienst zu stellen. Eine Waffe von solch ungeheurer Vernichtungskraft, die durch die Wasserstoffbombe noch einmal um den Faktor 100 verstärkt wurde, schien jeden Gedanken an ¹⁶⁰ Den englischen Begriff cold war (Kalter Krieg) prägte der Widerstand aussichtslos zu machen – bis früher als erwartet die Sowje- US-amerikanische Journalist tunion nachzog.“¹⁶¹ Von diesem Zeitpunkt an wurde die Welt von einer Walter Lippmann 1947, den er bei einer Rede von Bernard bipolaren politischen Geografie beherrscht – dem Lager der NATO und Baruch gehört hatte. Aus west- dem Lager des Warschauer Paktes und ihrer jeweiligen verdeckten Opera- licher Sicht standen dabei stets tionseinheiten, auf der einen Seite die CIA der USA, auf der anderen Seite „Freiheit und Demokratie“ ge- gen „totalitäre Diktatur“ so- der sowjetische KBG. wie „Marktwirtschaft“ gegen Für Europa und im Speziellen für Deutschland besiegelte die- „Planwirtschaft“. Aus östlicher Sicht stand gegen die „systema- se neue Mächtepolitik des Kalten Krieges ein besonderes Schicksal, je- tische Ausbeutung“ im „impe- nes der radikalen Teilung. Die politische Geografie in Europa zerfiel in rialistischen“ Kapitalismus die ein Westeuropa der Westmächte und ein Osteuropa des Ostblocks, wo- von der Staatspartei geleitete „allseitige Entfaltung der sozi- bei Deutschland als einziges europäisches Land ebenfalls halbiert wur- alistischen Persönlichkeit“ im de in ein Westdeutschland der BRD und ein Ostdeutschland der DDR. Übergang zum Kommunismus, in: Wikipedia, Stand vom 13. Die klandestin-organisierten Operationseinheiten in diesem geteilten Juni 2008 Deutschland agierten einerseits als CIA-gesteuerter BND und als KGB- ¹⁶¹ Dag Krienen, Der klassische, der moderne und der Postmoder- gesteuertes MfS. Auf die Gründung der Bundeswehr in der BRD erfolg- ne Krieg. Von der Deprivatisie- te kurz darauf die Gründung der Nationalen Volksarmee (NVA)¹⁶² in der rung zur Reprivatisierung kollek- DDR und insgesamt in beiden Teilen eine erneute Wiederbewaffnung, tiver Gewalt, Vortrag, Institut für Staatspolitik, 28. Februar das heißt eine zweifache staatliche Souveränität wie auch ein doppelt-au- 2003, in: URL: http://www. tonomes Kriegsrecht für ein geteiltes Deutschland. Dieser Akt vollzieht staatspolitik.de, Internetdown- load, PDF, S. 6, Stand vom 20. sich analog zum National Security Act in den USA (26. Juli 1947), der als Juni 2008 das Gründungsdatum der Central Intelligence Agency (CIA), des Penta- ¹⁶² Dabei wurde auch, eben- gon und des Verteidigungsministeriums (Department of Defense, DoD), so wie bei der Bundeswehr, auf ehemalige Angehörige der der US-Air Force und des Nationales Sicherheitsrates (NSA) in die Ge- Wehrmacht zurückgegriffen. schichte des Kalten Krieges eingegangen ist. Mit diesen Entscheidungen Sie kamen meist aus sowjeti- scher Kriegsgefangenschaft bekräftigte die Truman-Regierung ihren mit der „Truman-Doktrin“ ange- und hatten dort an Antifa- kündigten Kurs der Konfrontation mit dem „kommunistischen Lager“. Schulungen teilgenommen. Der bekannteste ehemalige Der Kalte Krieg war eine Zeit des Rüstungswettlaufs, der Abschre- Wehrmachtsgeneral, der auch ckung der Supermächte und eine Zeit des jeweiligen Nachrüstens zur in der NVA diente, war Vin- Wiederherstellung eines Gleichgewichts des Schreckens zwischen den Su- cenz Müller. Mitte 1956 waren im 17.500 Mann starken Of- permächten, die von Stellvertreterkriegen u.a. in Vietnam, Kambodscha, fiziersbestand der NVA circa Afghanistan und Korea, sowie verdeckten Kriegen wie in Nicaragua oder 2.600 ehemalige Mannschafts- und etwa 1.600 Unteroffi- auf Grenada flankiert waren. Schließlich eskortierten die Supermächte auf ziersdienstgrade sowie knapp diese Weise die Welt an den Rand eines neuen Weltkriegs. Nachdem die USA

EMERGENCY EMPIRE 46 Transformation des Ausnahmezustands 3. Der Begriff des Ausnahmezustands

Mittelstreckenraketen in der Türkei und Italien stationiert hatten, statio- nierte die UdSSR ihrerseits Atomraketen auf Kuba. Es kam zu einer drama- tischen Zuspitzung in der Konfrontationspolitik der Supermächte und zur Kubakrise 1962, die gleichzeitig auch aufgrund der geopolitischen Auswei- tung von Kernwaffenpräsenz einen Wendepunkt in der Geschichte des Kal- ten Krieges darstellte. In den 80er Jahren gelang es Ronald Reagan in einer superlativen Form, nämlich mit der Stigmatisierung des Ostblocks als „Reich des Bö- sen“, erfolgreich antikommunistische Außenpolitik, beispielsweise via der Kirkpatrick-Doktrin¹⁶³, zu führen. Auf diese Weise erhöhte Carters Amtsnachfolger die zuvor heruntergefahrenen Rüstungsausgaben auf ein neues Rekordniveau und führte darüber hinaus die „Strategic Defen- se Initiative“ (SDI, auch Star Wars-Programm genannt) zur Abwehr stra- tegischer Raketen ein. Damit sollte die Fähigkeit der Sowjetunion zum strategischen Zweitschlag ausgeschaltet werden. Es gehörte ausdrücklich 500 Offiziere der Wehrmacht, zu den Zielen dieses Vorhabens, einen uneinholbaren Vorsprung im Rüs- insgesamt kamen also knapp tungswettlauf zu gewinnen, um den Ostblock ökonomisch und politisch 27 Prozent aus der Wehr- zu destabilisieren. Dieser konnte sich die Militärausgaben nach westli- macht. Die ehemaligen Offi- ziere wurden vorwiegend im chen Einschätzungen nicht mehr lange leisten. In der Tat konnte die So- Ministerium, an Schulen und wjetunion in der bereits 1978 mit der Entwicklung der Neutronenbombe in Kommandostellen der Teil- streitkräfte und Militärbezirke neu eröffneten Runde eines forciert technologischen Rüstungswettlaufs, eingesetzt. Von den 82 höheren zu dem auch Stealthflugzeuge und immer komplexere EDV-Systeme ge- Kommandoposten in der Ar- hörten, nicht mehr mithalten, zumal sie ihre militärischen und ökonomi- mee waren 61 von ehemaligen Wehrmachtsangehörigen be- schen Kräfte mit den vergangenen Rüstungsprogrammen und den Inter- setzt, in: Wikipedia, Stand vom vention in Afghanistan schon überdehnt hatte. 13. Juni 2008 ¹⁶³ Die nach Jane Kirkpa- Mit der Auflösung des Ostblocks ab 1989 erfolgte eine rapide Auf- trick, Kabinettsmitglied un- lösung eines weltweiten Ausnahmezustands als terminus technicus des ter US-Präsident Reagan und UN-Botschafterin, benannte Wettrüstens von biopolaren Supermächten und der permanenten Vertei- Kirkpatrick-Doktrin befürwor- digungsbereitschaft ihrer Armeen und Geheimdienste. Das Ende dieser tet eine entschiedene Eindäm- polarisierten Machtstruktur hat eine neue globalpolitische Situation hin- mungspolitik gegen sozialis- tische und kommunistische terlassen, in der die USA durch das Verschwinden der Sowjetunion und Regierungen weltweit, selbst des Ostblocks, als direkter globaler Konkurrent, den Status der „einzi- wenn dafür – wie vielfältig in der so genannten Dritten Welt, gen Weltmacht“ erreicht haben. Ein Teil der osteuropäischen Staaten, die vor allem in Lateinamerika ge- dem Warschauer Pakt angehörten und nach 1989 ein demokratisches, schehen – rechtsgerichtete Mi- parlamentarisches und marktwirtschaftliches System angenommen ha- litärdiktaturen (wie diejenige Alfredo Stroessners in Paragu- ben, sind heute Mitglied in der NATO. Die Auflösung der sowjetischen ay, Augusto Pinochets in Chile Machtsphäre hat zudem die Globalisierung gefördert, in deren Folge heu- oder Jorge Rafael Videlas in Ar- gentinien) in Kauf genommen te die überwiegende Mehrheit der Staaten der Erde das Prinzip des neoli- und von den USA unterstützt beralen Freihandels anerkennen, der einen neuen weltweiten AZ nach sich werden müssen. Zusammen mit William Bennett und Jack zieht – das Emergency Empire. Kemp, gemeinsame Direktoren der Initiative Empower Ame- rica, appellierte sie an den US- Kongress nach den Anschlägen am 11. September 2001, eine formelle Kriegserklärung gegen das „gesamte fundamentalis- tische islamische Terroristen- Netzwerk“ abzugeben.

Souveränität 47 C: Ausnahmezustand

C/II. Postmoderner 1 Ausnahmezustand Überführung der Episteme Carl Schmitts in eine postmoderne Syntax

Intro: Der Ausnahmezustand – das Kriegsrecht (ius ad bellum) des Postmodernen Krieges

Mit dem „Endsieg“ der USA über ihren letzten realen Feind, den kom- munistischen Feind und die sowjetische Supermacht nach 1989, wur- den sämtliche damit verbundenen Hoffnungen auf eine nun möglich werdende endgültige Abschaffung des Krieges und auf „Friedenzeiten“ sehr schnell eines Besseren belehrt. Die Präsenz einer nunmehr einzi- gen Weltmacht revolutioniert die Form der weltweiten Kriegführung in eine neue Unübersichtlichkeit militärisch-industrieller Innovationen, neuer Software- und IT- Entwicklungen in Kriegstechnik und Design, so- wie neuer Strategien und Taktiken in der Kriegsführung überhaupt, wel- che international etablierte Rechtsbestimmungen und Gesetzesgrund- lagen intervenieren und sogar annullieren. Vor dem Hintergrund eines neu inszenierten Kriegstyps, dem Antiterrorkrieg, wird eine Kriegerklä- rung nicht mehr gegenüber einem Staat, einer Staatengemeinschaft, ei- nem politischen Blocksystem etc. abgegeben, wie dies noch im moder- nen Krieg der Fall war, sondern gegenüber einer kriegerischen Taktik und Methode, dem Terrorismus. Der Terrorismus als organisierte, klandestine Taktik wird im Antiterrorkrieg willkürlich Staaten und Geografien zuge- ordnet, beispielsweise islamischen Staaten, wobei hier der Irak zur gna- denlosen Zielscheibe der systematischen Abschreckung und Liquidation auserwählt wurde. Die Konsequenz ermöglicht eine willkürliche Definierung von ter- roristischen Elementen und Zonen, den so genannten Treat Environ- ments und damit die Schaffung eines weltweiten permanenten AZ, in dem das Kriegsrecht, das ius ad bellum, gegen „Alles und Jeden“ denkbar ist. Die willkürliche Schaffung rechtfreier Räume, in denen so genannte un- gesetzliche Kombattanten, also Zivilisten auf der Zielagenda stehen, ist ein neues Phänomen der Kriegsführung. Völlig zweifelhaft sind und bleiben innerhalb der neuen Kriegsbe- stimmungen die Erschaffung von neuen Lagern wie die Guantanamo Bay Naval Base (GTMO) auf Kuba oder die Besetzung des Gefängniskomple- xes Abu Ghuraib im Irak durch die US-Army und das Gefangenenlager auf der US-Navy Support Einrichtung auf Diego Garcia im Indischen Ozean. Im August 2003 wurde bekannt, dass auf Diego Garcia ein Gefangenenlager nach dem Vorbild von Guantánamo Bay auf Kuba angelegt wurde. Der

EMERGENCY EMPIRE 48 Transformation des Ausnahmezustands Intro: Der Ausnahmezustand – das Kriegsrecht

Washington Post zufolge wurden in dem kaum bekannten Lager mutmaß- liche al-Qaida-Terroristen gefangen gehalten. Bis zur seiner zufälligen Enttarnung handelte es sich anders als bei Guantánamo um ein komplett geheim gehaltenes Lager. Ebenso willkürlichen und situativen Schein-Le- galitäten unterlegen ist in diesem Antiterrorkrieg das Tema der Folter. „Bereits im Mai 2004 gelangten Berichte und Fotos in die Medien, die belegen, dass US-amerikanische Mitarbeiter von Militär- und Geheim- diensten sowie von privaten Militärunternehmen Gefangene im Abu- Ghuraib-Gefängnis nahe Bagdad gefoltert haben. Anfang 2006 tauch- ten Hunderte weiterer Fotos mit Bildern und Videos bislang ungeahnter Brutalität auf. Auf den Fotos werden Menschen während Misshandlun- gen beziehungsweise in entwürdigenden Haltungen gezeigt. Auch sind im Mai 2004 Aussagen und Bilder von Vergewaltigungen an irakischen Gefangenen im Abu Ghuraib durch US Soldaten in die Medien gelangt. Hinzu kommen nach übereinstimmenden Medienberichten ca. 100 To- desfälle. Dabei handelt es sich nicht um schlichte Unfälle, als welche die Fälle zunächst dargestellt wurden, sondern um systematische Folter bis zum Tod.“¹⁶⁴ Die neu aufkommende Debatte über die Zulässigkeit von Folter, wie auch die Debatte über die Zulässigkeit von Lagern, sind nur zwei Symptome des neuen Krieges, des Antiterrorkrieges, auch postmo- dernen Krieges, dessen besondere Signifikanz in der privatisierten, will- kürlichen und permanenten Herstellung von rechtsfreien Räumen liegt, den weltweit neuen Zonen der Anomie. „Die Unübersichtlichkeit der neuen kriegerischen Phänomene hat dazu geführt, daß sie von einigen Autoren als postmoderne Kriege bezeich- net werden. Nimmt man das Adjektiv ernst, scheint auch auf den postmo- dernen Krieg zuzutreffen, was für die postmoderne Architektur gilt: «Er- laubt» ist jeder Mix von jeder historischen Stilrichtung mit allem Neuen und Noch-Nie-Dagewesenen. Neben das völlig Neue – Cyber-War und die neueste Revolution in Military Affairs – treten alte, längst vergessene bzw. an den Rand gedrängte Formen von kollektiver Gewaltanwendung.“¹⁶⁵ In einer Reihe von Titeln wie „Te Art of War in the Information Age“, „A Revolution in Warefare“, oder „National Security in Information Age“ feiert der US-amerikanische militärisch-industrielle Komplex und die US-Regierung seit etwa Mitte der 1970er Jahre den Einzug der RMA, der „Revolution in Military Affairs“. In einschlägigen Schriften heißt es dazu: „Seit etwa drei Jahrzehnten zeichnet sich eine Revolution in der Kriegsführung ab. In der Mitte der Siebziger Jahre war das US Militär darum bemüht, eine gewisse Anzahl asymmetrischer technologischer Nachteile auszunutzen, um der zahlenmäßigen Überlegenheit der Streit- kräfte des Warschauer Paktes entgegenzuhalten. Trotz des Niedergangs ¹⁶⁴ Folterskandal, in: Wikipe- der Bedrohung, wegen derer diese «versetzten» Einsatzmöglichkeiten er- dia, URL: http://de.wikipedia. org/wiki/Abu-Ghuraib-Fol- schaffen wurden, sind sie weiterentwickelt worden und dienten erfolg- terskandal, Stand von 20. Juni reich der erweiterten Einflussnahme in einer Bandbreite von Konflikten 2008 ¹⁶⁵ Dag Krienen: Der klassische, über «Desert Storm» bis hin zu «Iraqi Freedom»” „A revolution in war has been der moderne und der postmoder- underway for nearly three decades. Beginning in the mid–1970s, in an effort to compensate for the ne Krieg, S. 9

Souveränität 49 C: Ausnahmezustand

numerical superiority of Warsaw Pact forces, the US military sought to exploit a number of asym- metric technological advantages. Despite the demise of the threat for which these “offset” capabi- 1 lities were created, they have continued to be developed, and have been leveraged to great effect in wars ranging from Desert Storm to Operation Iraqi Freedom.“¹⁶⁶

Die neue „Mission“ der USA, nämlich die Mission der weltweiten terroristischen Feindabwehr mit dem Argument der Welt-Demokratie, begründet einen neuen, asymmetrischen High-Tech-Terrorismus von bis dahin ungekanntem Ausmaß, der Land, Luft, See, Meersboden, Kos- mos, Datennetze jeder Art und Personen, sowie Innenstädte, Hafenan- lagen, Fabrikanlagen, Industrie- und Verkehrsgebiete usw. einschließt. Die neue „Mission“ stellt eine ultimative Herausforderung für die US- Homeland Security, für die Rüstungs- und IT-Industrie, den Kriegs-De- sign-Markt, den Waffenmarkt und schließlich für die Kontrolle, einer im Zuge dessen stattfindenden Neuaufteilung der Welt in Sicherheitsarchi- tekturen und Krisen- bzw. Terrorgeografien, dar. „Der wichtigste Effekt wird eher das Verlangen des Militärs sein, sich den Anforderungen der neuen und andersartigen Missionen anzupassen. Die Schlüsselrolle in- nerhalb der Frage, wie wir die neuen Informationstechnologien auf das Militär anwenden sollen, kommt der Vereinigung der sozialen und mi- litärischen Perspektiven zu, und davon ausgehend zu einem Verständ- nis darüber, wie die amerikanischen Rüstungskonzerne sich weiterent- wickeln werden.“ „Rather, the most important effect will be the need for the military to adapt itself to performing new and different missions. Te key, then, to understanding how we should ap- ply new information technologies in the military is to unite 20 Strategic Appraisal: Te Changing Role of Information in Warfare the social and military perspectives into an understanding of how the American military enterprise will evolve.“¹⁶⁷ ¹⁶⁶ Michael G. Vickers, Ro- bert C. Martinage, Te Re- volution in War, Center for “Nach den Worten von Andrew Marshall, Direktor des «Office of Strategic and Budgetary As- Net Assessment» innerhalb des Verteidigungsministeriums der USA ist sessments, CSBA 2004 PDF- File, URL: http://www.csba- die Revolution in Military Affairs (RMA) ein großer Wandel innerhalb des online.org/4Publications/ Wesens der Kriegsführung, welche durch die innovative Anwendung neu- Archive/R.20041201.RevIn- War.pdf, Stand vom 20. Juni er Technologien herbeigeführt wird, die in Kombination mit dramati- 2008 schen Veränderungen innerhalb der Militärdoktrin sowie operationalen ¹⁶⁷ Carl H. Builder, THE AME- und organisatorischen Konzepten den Charakter und die Durchführung RICAN MILITARY ENTERPRI- SE IN THE INFORMATION militärischer Operationen grundlegend verändern. Eine solche RMA tritt AGE, aus: Te Changing Role of zurzeit in Erscheinung und diejenigen, welche sie verstehen und nutzen, Information in Warfare, San- ta Monica: Rand 1999, [PDF- werden sich in Zukunft an entscheidenden Vorteilen auf den «neuen» File], URL: http://www.rand. Schlachtfeldern erfreuen können.” „According to Andrew Marshall, director of the Of- org/pubs/monograph_reports/ fice of Net Assessments in the Office of the Secretary of Defense, „a Revolution in Military Affairs MR1016/MR1016.chap2.pdf, Stand vom 20. Juni 2008 (RMA) is a major change in the nature of warfare brought about by the innovative application of ¹⁶⁸ Jeffrey McKitrick, James new technologies which, combined with dramatic changes in military doctrine and operational and Blackwell (u.a)., Te Revolution in Military Affairs, [PDF-File], organizational concepts, fundamentally alters the character and conduct of military operations.“ URL: http://www.airpower. Such an RMA is now occurring, and those who understand it and take advantage of it will enjoy a maxwell.af.mil/airchronicles/ battle/chp3.html, Stand vom decisive advantage on future battlefields.“¹⁶⁸ 20. Juni 2008

EMERGENCY EMPIRE 50 Transformation des Ausnahmezustands Intro: Der Ausnahmezustand – das Kriegsrecht

Grundlegend für diesen postmodernen Krieg ist also die Revolution of Military Affaires, welche einerseits eine neue Feindorientierung voraus- setzt und hergestellt hat, wie auch neue Signifikanzen und Phänome des Krieges nach sich zieht. Diese speziellen Ausformungen des Krieges sind im einzelnen als Asymmetrische Kriege (Münkler) zu bezeichnen, als Cy- ber-War (Weihe) und Live-Time-War (Virilio) und schließen neue Recht- sphänomene der Privatisierung kollektiver Gewalt und Materien des Staates ein, die schließlich zu den neuen Erscheinungsformen wie Privat- und Söldnerarmeen¹⁶⁹, Rückkehr von War-Lord-Modellen und Low-In- tensity-Warfare (Crefeld), zu Lagerbildung und Liberalisierung von Fol- ter, sowie zur Ausdehnung der Kriegsführungen auf private und urbane Räume (Urban-Warfare) führen. Der AZ hat in diesem Krieg nicht nur eine neue Unübersichtlichkeit erreicht, die sich in Innen- und Subräume hinein verzweigt, sondern seine weltweit maximalste Ausdehnung und Akzeptanz.

¹⁶⁹ ... bewaffnete private Si- cherheitskräfte wie beispiels- weise die privaten US-Mili- tärfirmen CACI und Titan, die US-Sicherheitsfirma US Pro- tection (USPI), oder die private US-Söldnerarmee Blackwater, welche allesamt im Irak als „Si- cherheitsdienstleister“ im Ein- satz sind.

Souveränität 51 C: Ausnahmezustand

4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

1 „Angesichts der unaufhaltsamen Steige- rung dessen, was als «weltweiter Bürger- krieg» bestimmt worden ist, erweist sich der Ausnahmezustand in der Politik der Gegenwart immer mehr als herrschendes Paradigma des Regierens.“¹⁷⁰ Giorgio Agamben

Die Figur des AZ gewinnt seit dem Anbruch der Ära „neuer Kriege“, den so genannten asymmetrischen Kriegen, und seit Giorgio Agambens Tese vom „Ausnahmezustand als weltweite Regierungstechnik“ (2003), neue Brisanz und Aktualität in den öffentlichen Debatten. Die hier vorgeleg- te Arbeit verbindet eine Fortschreibung der Teorie Agambens mit einer Überführung der Episteme Carl Schmitts in eine postmoderne Syntax. An dieser Stelle erfolgt die Begründung des Teorems Emergency Empire. Das Emergency Empire steht in Referenz, aber vor allem in Abgren- zung zu Empire-Teorien von Michael Hardt und Antonio Negri, wie auch zu Noam Chomsky, deren zentrales Anliegen jeweils in der Definie- rung einer US-Amerikanischen Global-Blase liegt. Das Empire wird sowohl bei Hardt und Negri, wie auch bei Chomsky eindeutig als US-amerikani- sche Global-Dominanz verifiziert, die zu einem neuen Typ neoliberaler Kriegsführung, Demokratiepolitik und securitären Diktatur, schließlich zur globalen Hegemonialmacht avanciert. Die Tatsache des US-Imperi- ums steht außer Frage und wird auch in dieser Arbeit bestätigt, jedoch ist es das Anliegen der hier vorgelegten Ausarbeitung, darüber hinaus, einen neuen Hegemonialtyp herauszuarbeiten. Dieser wird hier mit dem Teo- rem des Emergency Empire vorgestellt – einem potsmodernen Empire der weltweiten Explikation des AZ.

4.1 Te Emergency und State of Emergency Te Emergency bzw. State of Emergency ist die angelsächsische Termino- logie für den in der deutschen Rechtslehre geläufigen Terminus des AZ. Der Begriff des AZ wird 1922 in „Die Diktatur“¹⁷¹ von Carl Schmitt als Begriff der Souveränitäts- und Staatslehre entworfen und daraufhin in die deutsche Rechtsterminologie eingeführt. Der Präzedenzfall des mo- ¹⁷⁰ Giorgio Agaben, Ausnahme- dernen Ausnahmezustands als politischer Akt des Staatssouveräns tritt zustand, S. 9 1933 in Deutschland ein. Mit der Reichstagsbrandverordnung und dem an- ¹⁷¹ Carl Schmitt, Die Diktatur, ...a.a.O. schließenden Ermächtigungsgesetz wird in einem Ermächtigungsakt pos- ¹⁷² Carl Schmitt, Politische tumer Staatswillkür eine Gesetzesnotlage erzwungen und die Diktatur Teologie, Berlin: Duncker & Humblot 1990, [Erstauflage erschaffen. „Alles Recht ist Situationsrecht. Der Souverän schafft und ga- 1922], S. 20 rantiert die Situation als Ganzes in ihrer Totalität.“¹⁷² Der Fokus liegt hier

EMERGENCY EMPIRE 52 Transformation des Ausnahmezustands 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

auf dem Situationsrecht des Staates. Nach dieser Ausarbeitung des AZ ist es ausschließlich dem (kriegführenden) Staat und seinen Gesetzen ver- gönnt, in Not zu geraten. Das Ausnahmerecht liegt dann (in der „Not“) beim Souverän, d.h. nach Schmitt bei demjenigen, der das Monopol inne- hat (Gewaltenmonopol, Entscheidungsmonopol, Finanzmonopol). Nach 9/11 wurde von Giorgio Agamben eine Revision der Teorie des AZ im Spiegel der Hobbes’schen und Schmitt’schen Definitionen vor- genommen. „Angesichts der unaufhaltsamen Steigerung dessen, was als ‚weltweiter Bürgerkrieg‘ bestimmt worden ist, erweist sich der Ausnah- mezustand in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschen- de Paradigma des Regierens.“¹⁷³ Der AZ ist im Diskurs Agambens keine Diktatur, sondern ein rechtsfreier Raum, eine Zone der Anomie, in der alle rechtlichen Bestimmungen – insbesondere die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat selbst – deaktiviert sind. Der Ausnahmeraum ist nach Schmitt und im Fokus von Agamben der ultimative Raum, in dem das Schreckliche vorfällt. Bis in die aktuell gültigen Völkerrechte, Grundgesetze und Verfassungsrechte hinein ge- hört ein Ausnahmeraum zur Materie des Staates und zum ultimativen Hoheitsgebiet der Staatssouveränität. Die Geschichte moderner Ausnah- mezustände belegt nach wie vor ihre aktuellen Vorkommnisse und darü- ber hinaus, die Geschichte belegt ihre beschleunigte Ausweitung. Der AZ gilt als Letztmittel des Staates vornehmlich zur Sicherung seiner politi- schen und wirtschaftlichen Vorteile in kriegerischen (globalisierenden) Konflikten mit supranationaler Tragweite. „Die Unsicherheit des Begriffs entspricht zuweile einer terminolo- gischen Unsicherheit. Die hier vorgelegte Studie verwendet das Syntagma «Ausnahmezustand» als terminus technicus für ein kohärentes Ensemble von rechtlichen Phänomenen, die bestimmt werden sollen. Ausnahmezu- stand, aber auch Notstand, in der deutschen Rechtslehre geläufige Ter- mini, sind der italienischen und französischen Rechtslehre fremd – dort zieht man es vor, von decreti di urgenza und von politischem oder fiktivem stato di assedio (Belagerungszustand) bzw. état de siège fictif zu sprechen. In der angelsächsischen Rechtslehre herrschen dagegen die Termini mar- tial law und emergency powers vor.“¹⁷⁴ In „Die Diktatur“ verortet Carl Schmitt den historischen Präze- denzfall des AZ in die Zeit der Französischen Revolution. In einer Reihe von historischen Vorfällen des AZ, sowohl als Begriff der Rechtslehre, wie auch als ultimativer Begriff der Staatspolitik seit der frühen Neuzeit, fü- gen sich neue Bestimmungen des AZ seit dem Kalten Krieg, dem Ende des Kalten Krieges und dem derzeitigen globalen Emergency Empire hinzu. Wenn Agamben vom AZ als einer permanenten und weltweiten Regierungstechnik spricht, so ist dies eine Tese, die das Projekt des Emergency Empire begründet. Agamben untersucht die Permanenz ei- nes weltweiten AZ im Fokus des Bürgerkrieges. Was Carl Schmitt noch ¹⁷³ Giorgio Agamben, Ausnah- streng voneinander getrennt hat, nämlich den ordentlichen Krieg vom mezustand, S. 9 Bürgerkrieg, wie auch vom Partisanenkrieg, und was bis zum Ende des ¹⁷⁴ ebd., S. 10

Souveränität 53 C: Ausnahmezustand

Kalten Krieges noch als Ursache für die Ausrufung eines staatlichen AZ galt, nämlich der Bürgerkrieg, der subversive Aufstand, die Unordnung, 1 ist nunmehr seit etwa der Jahrtausendwende, dem Zusammenbruch von Großraummächten, der globalisierungsbedingten Neuaufteilung der Welt und dem weltweiten Antiterrorkrieg (als politisches Zweckveran- staltung zur Rechtfertigung der neoliberalen Dynamiken dahinter), zur permanenten Regierungstechnik geworden. Der klassische staatliche AZ der Moderne hat sich modifiziert. Ar- gumente des Individuums und der Anarchie wie Widerstand, Not, Selbst- verteidigung, Naturrecht oder Freiheitsrecht werden komplett und ausschließlich von Staaten beschlagnahmt und beansprucht. Diese Ab- surdität, die sich im Feld zwischen Legalität und Legitimität abspielt, verweist auf die europäische Tradition der Staatslehre. Hier werden dem Staat seit der Frühen Neuzeit seine Zuständigkeiten als Person, als Sub- jekt, als Inhaber zugesprochen. Wie ambivalent von daher die Zuordnung von Rechtstiteln zwischen Staatssubjekten und individuellen Subjekten, quasi Menschen, sowie zwischen Staatsdemokratie und Menschenrech- ten ist, wird unter der Überschrift „Antagonismus zwischen Staatsrecht und Menschenrechten“ besprochen. Zudem macht diese Ambivalenz der Gesetzeskraft (wie es Derrida und Agamben nennen) ebenso eine Revisi- on des Subjektbegriffs erforderlich. Ein Individuum, ein Akteur oder ein Akteurnetzwerk, das aus einer existenziellen notstandsbasierten Situa- tion seinen Lebensraum umkämpft, kann nicht einfach mehr „Subjekt“ oder „Rechtssubjekt“ genannt werden, vor allem dann nicht, wenn ihm keinerlei Rechtsgrundlagen für seinen Widerstand zugebilligt werden. Die Unsicherheit des Begriffs AZ oszilliert nunmehr nicht nur innerhalb der verschiedenen sprachlichen Rechtsterminologien des Deutschen, Angelsächsischen, Französischen, Italienischen, sondern vor allem in- nerhalb des Zugriffs aus unterschiedlichen Richtungen der Legalität und der Legitimität. Dies führt zu einer Radikalisierung des Begriffs in allen Gesellschaften, zur Überschneidung und Ambivalenz einer Ad-hoc-Regel des „weltweiten Bürgerkrieges“.¹⁷⁵ Worthistorisch gesehen ist „Te Emergency“ ein Neologismus, der sich etymologisch aus dem Wort Emergence (das Auftauchende, das Auf- strebende, das Emporkommende, das Heraustretende) ableitet. Emergen- cy kann als Extrem einer Emergenz gelten und bezeichnet ein unvorher- gesehenes, nicht erwartetes und plötzlich wirkendes Ereignis. In Bezug auf „Te Emergency“, also den AZ auf staatsrechtlicher Ebene, bezeichnet das Wort Emergency die plötzliche Abschaffung und Änderung von Geset- zen und der bis dahin gültigen gesellschaftlichen Normative, sowie de- ¹⁷⁵ Agamben verweist in ebd., ren Ersatz durch ein Äquivalent, den Notstandsgesetzen. Der AZ, dessen S. 9 auf den Ausdruck „welt- Urheberschaft im souveränes Urteil begründet ist, stellt den rechtsfreien weiter Bügerkrieg“, der sowohl bei Hannah Arendt „Über die Raum her, die Zonen der Anomie (Agamben), bzw. die Zonen beyond the Revolution“, als auch bei Carl line (Schmitt). In diesen Zonen wird die Norm annulliert und neu erfun- Schmitt in der „Teorie des Partisanen“ im gleichen Jahr den. Durch einen Unfall oder Krieg tritt eine Emergency im zivilen Sektor 1963 erscheint. dann ein, sofern dieser Unfall/Krieg zu einer plötzlichen Gesetzlosigkeit

EMERGENCY EMPIRE 54 Transformation des Ausnahmezustands 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

in Bezug auf die bis dahin gültigen Regeln, Konventionen und Normen von Körpern, Subjekten, sozialen Systemen führt. Te Emergency im Sprachgebrauch für Notfälle im zivilen Sektor ist nicht einfach nur ein Notfall, sondern ein Ereignis, das für betroffe- ne Systeme und Subsysteme als Zustand plötzlicher Gesetzlosigkeit ein- bricht. Diese plötzliche Gesetzlosigkeit macht die Not und insgesamt die- sen Fall zum Emergency. Es ist die definierte Not, nämlich die plötzliche Gesetzlosigkeit (Anomie), die das betroffene System in einem totalen Er- eignis – nach Schmitt auch Wunder – verschlingt. Im Spiegel des neuen Empire des Emergency steht der AZ zuneh- mend im Zeichen der Katastrophe, des Unfalls, der Krise, des Risikos und der Prävention und erstreckt sich somit auf sämtliche zivile, medienpoli- tische, wirtschaftliche und kriegsökonomische Unsicherheiten und Fik- tionen, die im selben Maße auch Feindbilder sind. Insofern steht am An- fang der Kette wie immer der Feind unter seiner Vorraussetzung, der medialen Feindbildproduktion. An dieser Stelle wird der Begriff des „Sta- te of Emergency“ neu generiert. Der Begriff des AZ gilt nun nicht nur auf staatsrechtlicher Ebene sondern auch in sozialräumlichen, psychoräum- lichen und georäumlichen Ebenen. Er bezeichnet ein psycho-politisches Paradigma des Schocks und des Terrors, der Abschreckung und Erschüt- terung, das innenräumlich, latent und plötzlich wirksam werden kann. Der State of Emergency ist ein Grundmuster beispielsweise in prekarisier- ten und marginalisierten Räumen, aber auch in Medien- und Datenräu- men und betrifft singulär jede Person und jede Plattform als potenzielle Täter oder Opfer. Emergencies sind einerseits Jetzt-Zeit-Kriege und Jetzt-Zeit-Kata- strophen, die live am Bildschirm konsumiert werden können: Bomben- attentate, Flugzeugkatastrophen, Explosionen, Embargos, Selbstmor- dattentate, Hinrichtungen, Einlieferungen in Notfallambulanzen usw., die den Begriff der News, der Nachrichtenmeldungen vor allem seit dem Ende des „Kalten Krieges“ neu charakterisieren. Emergencies sind aus ei- ner Perspektive lokaler Betroffenheit mittlerweile auch: Verlust der Ar- beitsstelle, soziale Armut, schwankende Zukunftsperspektiven, Verfall der biologischen Halbwertzeit für den Arbeitsmarkt, Prekarisierung von Lebensräumen, Marginalisierung von Bevölkerungsschichten usw. sowie die unmittelbare Irritation von Normativen und Normierungen durch eine permanente Oszillation zwischen gesellschaftsdynamischer Inklu- sion und Exklusion, zwischen Getroffensein und Nochmaldavongekom- mensein. Emergencies sind nunmehr alle räumlichen Unsicherheiten, die das Ordnungsfeld subjektiver Wahrnehmung einer Person, eines Netz- werks oder eines Systems in einen situativen AZ versetzen.

Souveränität 55 C: Ausnahmezustand

4.2 Transfer (1): Emergency Empire – Der AZ als aktuelles Paradigma globalen Regierens 1 Versuch einer Abgrenzung zum Empire-Begriff bei Michael Hardt und Antonio Negri

Neue Migrationen, neue Märkte, neue urbane und wirtschaftliche Brenn- punkte in Asien und Afrika, neue Geografien des Terrors, wie auch neue Trends der Kommunikationstechnologie und globalen Medialisierung, haben einen deutlich spürbaren Einfluss auf die individuelle und kollek- tive Selbst- und Weltwahrnehmung in Bevölkerungsschichten, die noch aus einem zentraleuropäischen Nationalgefüge ihre Identität beziehen. Mit einem rasanten Erscheinen und Verschwinden von Identifikations- kalkülen definiert sich ein neuer Typ des sozialen und gesellschaftlichen Emergencys in Europa. Wir wollen hier aufgrund einer unaufhaltsamen und unsichtbaren Gewalt und in Referenz, wie auch in Abgrenzung zu Michael Hardt und Antonio Negri, von einem Empire sprechen. Im Unterschied zum klassischen Begriff des Empire, der im wesent- lichen Imperium oder Imperialismus nach europäischer Vorlage meint, wird Emergency Empire als neue souveräne Großraumsyntax der Globa- lisierung vorgestellt, die losgelöst von Staaten agiert. Zwar nimmt die USA in diesem Entwurf durchaus eine zentrale, sozusagen privilegier- te Stellung der Kontrolle und Verwaltung des Empire ein, jedoch ist das Emergency Empire nicht explizit das US-Empire, von dem Hardt/Negri und Noam Chomsky sprechen, sondern das Zeitalter des Ausnahmezu- stands, der Katastrophen- und Sicherheitspolitik, sowie die Vermehrung des globalen Katastrophen- und Sicherheitsmarktes, des Emergency-Ka- pitalismus, der als Siegeszug einer neuen, neoliberalen Hegemonialmacht erkennbar wird. „Empire ist [vielmehr, YM] ein Begriff, der nach einem theoretischen Zugang verlangt. Den Begriff Empire charakterisiert maß- geblich das Fehlen von Grenzziehungen: Die Herrschaft des Empire kennt keine Schranken. Zuallererst setzt der Begriff des Empire ein Regime vo- raus, das den Raum in seiner Totalität vollständig umfasst, oder anders, dass wirklich über die gesamte «zivilisierte» Welt herrscht.“¹⁷⁶ In die- ser Definition des Empire bei Hardt und Negri grenzt der Begriff an das Schmitt’sche Axiom der Totalität und der totalen Großraumordnung. Wenn Hardt und Negri in ihrem pünktlich zur Jahrtausendwende auf dem Markt erschienenen Werk vom Empire sprechen, dann meinen sie natürlich ebenfalls ein neues Empire. Deshalb sprechen sie von „neuer Weltordnung“. Vor diesem Hintergrund sprechen Hardt und Negri von ei- nem Empire der Demokratie, also von einer Macht, die sich durch die Men- ge konstituiert. Der Konstitutionsvorgang der beschriebenen Macht soll entgegen den Prinzipien moderner Souveränität (hier sind die Model- ¹⁷⁶ Michael Hardt, Antonio Negri, Empire. Die neue Welt- le der Frühen Neuzeit angesprochen) verlaufen, also nicht über Verfas- ordnung, Frankfurt am Main sungsväter und Stellvertreter, sondern, wie es heißt, „aus einem Arrange- und New York: Campus 2000, S. 12f. ment innerhalb der Menge, aus einer demokratischen Interaktion der in ¹⁷⁷ ebd., S. 173 Netzwerken miteinander verbundenen Mächte“.¹⁷⁷ Diese demokratische

EMERGENCY EMPIRE 56 Transformation des Ausnahmezustands 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

Empire-Version entspricht Hardt und Negris Entwurf des neuen Empires. Die Diagnose eines Emergency Empire orientiert sich an der neo- leviathanischen Weltraumordnung der USA und ihrer Netzwerk-Macht als „Te American Empire Project“¹⁷⁸ in modellhafter Art und Weise. Die- ses Modell wird zur globalen Tatsache und scheint nach dem Zusammen- bruch der alliierten Großraummächte des II. WK und ihrer Block- und Weltsysteme nicht mehr aufhaltbar zu sein. Nach der Kapitulation des globalen Kräftemessens zwischen Erster und Zweiter Welt, Ostblock und Westmächten, das als Kalter Krieg in die Geschichte eingegangen ist, überlebt hier scheinbar nur eine Großraummacht – die USA. Das Empire der USA ist offensichtlich das, was übrig bleibt, nachdem sich die Fron- ten des Kalten Krieges aufgelöst haben–ein Alleinherrschaftsprinzip als neodarwinistisches Resultat in geopolitischer und globaler Hinsicht, ein Prototyp des postmodernen, asymmetrischen Krieges. Hardt und Negri kennzeichnen das Empire in einer Expansivität, die aus „produktiven Synergien der Menge“¹⁷⁹ entsteht. „Diese expansive Nei- gung der Demokratie, die implizit im Begriff der Netzwerk-Macht angelegt ist, ist jedoch von anderen, rein expansionistischen und imperialistischen Formen der Expansion zu unterscheiden. Der grundlegende Unterschied besteht darin, dass die Expansion des immanenten Souveränitätsbegriffs einschließend und nicht ausschließend ist. Anders ausgedrückt: Wenn die- se neue Souveränität expandiert, so annektiert oder zerstört sie andere Mächte, auf die sie trifft, nicht, sondern öffnet sich im Gegenteil ihnen ge- genüber und bindet sie in ihr Netzwerk ein.“¹⁸⁰ Hier wird das Bild eines os- motisierenden und multiplizierenden Organizismus geprägt, dass mit den Begriffen „Friede“ und „Demokratie“ gekoppelt wird. Der Entwurf von Hardt und Negri beinhaltet fragliche Positionen dort, wo es um den Begriff des Friedens geht, der friedfertigen Netzwerk- Macht, die das Prinzip des Krieges abgestellt hat und deren Expansivität ¹⁷⁸ vgl. Noam Chomsky, Hegem- rein unternehmerische Zwecke im Datenraum verfolgt. Denn die Begriffe ony or Survival: America‘s Quest for Global Dominance, Te Ame- „Frieden“ und „Demokratie“ sind zu allen Zeiten souveräner Herrschaft, rican Empire Project, New York: ob staatlich oder nicht, Ideologieprodukte und unlösbar an eine euphe- Metropolitan Book Henry Holt and Company, LLC Publishers mistische Kriegspolitik gebunden (wie im Kapitel 2, „Das Problem der hu- 2003, [deutsch: Hybris – Die manitären Intervention“, noch aufgezeigt wird). Dies wurde in jüngster endgültige Sicherung der globalen Politik, allen voran durch die USA bewiesen, im weltweiten Aufruf zum Vormachtstellung der USA, Mün- chen: Piper 2006] Antiterrorkrieg. Der übliche Euphemismus, wie in allen anderen moder- ¹⁷⁹ Michael Hardt, Antonio Ne- nen Kriegen, lautet auch hier: Für Frieden und Demokratie. gri, Empire, S. 176 ¹⁸⁰ ebd., S. 178 Zweitens sei zu überprüfen, ob das beschriebene Empire langfristig ¹⁸¹ Peter Sloterdijk, [Zitat aus gesehen tatsächlich von den USA beherrscht wird und nicht etwa von China seinem Redebeitrag in der Podi- umsdiskussion], in: Der göttliche oder Russland. Drittens sei zu überprüfen, ob das Empire nicht eine ausge- Kapitalismus. Ein Gespräch über höhlte medienpolitische Oberfläche einer 300-jährigen Kriegs- und Staa- Geld, Konsum, Kunst und Zer- tenkonvention repräsentiert? Hierzu können wir uns durch Peter Sloterdijk störung mit Boris Groys, Jochen Hörisch, Tomas Macho, Peter eines Besseren belehren lassen, der wiederum von einem „singapurischen Sloterdijk und Peter Weibel, hg. Virus“¹⁸¹ spricht, dem Enttäuschungsvirus unserer Zivilisation, welcher v. Marc Jongen, München: Wil- helm Fink Verlag, 2007, S. 16 „aufgrund seiner hoch infektiösen Qualität eine weltweite Epidemie“¹⁸² ¹⁸² ebd., S. 16 auslöst, „die das politische Weltklima entscheidend affiziert“.¹⁸³ Auf der ¹⁸³ ebd.

Souveränität 57 C: Ausnahmezustand

anderen Seite der Enttäuschung beinhaltet der Virus den „Umbau der Ge- sellschaften im Sinne des autoritären Kapitalismus“.¹⁸⁴ Hier entsteht „das 1 chinesische Wirtschaftswunder, das seither die Welt in Atem hält, [was] im Grunde auf die aufmerksame Verfolgung singapurischer Vorgänge durch die chinesische Führung zurückgeht, die zu dem Schluss gelangte, dass man auch in einem großen Land die Liaison von Kapitalismus und Autori- tarismus praktizieren kann“.¹⁸⁵ Wenn hier China als globale Virusschleuder im Vormarsch auftritt, dann wollen wir die Symptome des neuen Empire, des Emergency Empire, ebenfalls im Blickfeld eines „singapurisch-chinesi- schen Virus“ definieren und ins Zeichen setzen. Was in diesem Fokus neu in Erscheinung tritt, ist die global infektiöse Multiplikation eines „auto- ritären Kapitalismus“¹⁸⁶ aus der parteidiktatorischen Retorte des Ostens, mit einem neuem Demokratiemodell des Westens, das sich als protektio- nistisch-totalitär durchsetzt. An dieser multiplizierten Schnittstelle kulmi- niert, neben der von Sloterdijk prognostizierten Enttäuschung der euro- päischen Großraumlage, vor allem eine neue europäische Angst. Und was zusätzlich sichtbar wird, ist eine zum singapurischen Phänomen konkurrie- rende Revanche durch die Großraummacht USA. Sloterdijk beschreibt diese US-Revanchepolitik als mutwillige Infizierung im Datencode des autoritä- ren Kapitalismus, als quasi autoimmune Handlung gegenüber der eigenen Demokratie. „Man könnte soweit gehen zu sagen, dass der Bushismus in gewisser Weise den Versuch bedeutet, die singapurischen Standards in die USA zu transplantieren. Dazu lieferten die Zäsur vom 11. September 2001 und die entsprechende Kriegsrhetorik die passenden Kontexte.“¹⁸⁷ Spätestens an dieser Stelle wird Hardt und Negris Bild vom expan- dierenden demokratischen Netzwerk-Empire obsolet, denn es handelt sich erneut um eine kriegerische Konstellation, in der die Orientierung auf den Antiterrorkrieg lediglich ein Ablenkungsmanöver von der eigent- lichen Front ist. Das neue Emergency Empire ist in einem asymmetrisch oszillierenden Bewegungskrieg vernetzt. Es oszilliert zwischen einer sicht- baren, medialisierten Kriegs- und Katastrophenrhetorik auf der globalen Werbe-Oberfläche und den unsichtbaren, submedialen Fronten. Beides trägt sich konsequent als Medien- und Konsumprogramm in die multi- plizierten Netzwerke. Hier wird weltweit ein „demokratischer Autorita- rismus“¹⁸⁸ geschaffen, wie Sloterdijk es nennt, der sich perfekt mit Noam Chomskys Axiom vom „Te American Empire-Project“¹⁸⁹ deckt. Dass sich sowohl die neo-souveräne Technik des AZ, wie auch der neue Ty- pus eines demokratischen Autoritarismus in submedialen Netzwerken und Syndikaten organisieren, ist als Regierungstechnik auf Staatenebe- ne neu. Bisherige Korporationen dieser Art sind als Mafia-Syndikate be- kannt geworden, die von Staaten in der Größenordnung von Supermäch- ¹⁸⁴ ebd., S. 17 ten stets bekämpft wurden. Unter der Medienoberfläche der neoliberalen ¹⁸⁵ ebd., S. 17 ¹⁸⁶ ebd., S. 15 Globalhegemonie findet der AZ als multiplizierte und vernetzte Regie- ¹⁸⁷ ebd., S. 18 rungstechnik von Korporationen statt. Der weltweite und permanente ¹⁸⁸ ebd., S. 14 ¹⁸⁹ Noam Chomsky, Hegemony Ausnahmezustand ist ein Under-Cover-Projekt. Wir befinden uns, entge- or Survival, …a.a.O. gen den Prognosen von Hardt und Negri eben nicht in einem Empire der

EMERGENCY EMPIRE 58 Transformation des Ausnahmezustands 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

demokratisch-expandierenden Netz-Werk-Macht, sondern in einem epi- demischen Empire. Die neue Virus-Macht nennt Richard Brodie in seinem Buch „Virus of the Mind“¹⁹⁰ memetische Epidemie. Der Inkubus oder das Mem jenes Empire, was im Fokus unserer Analyse steht, heißt Emergen- cy. Er verbreitet sich global-lokal, intrinsisch, psychomental, neuromedial und erschafft die kollektiv-vernetzen Innenräume der Angst und Hysterie. Die Epidemie des Emergency entfacht sich im neuronalen Datenraum „bei gleichzeitiger Hochkonjunktur der rhetorischen Demokratie- und Libera- litätsbeschwörungen“¹⁹¹. In Abgrenzung zu Hardt und Negris Empire als „globales Projekt der Netzwerk-Macht“¹⁹² soll hier in Anlehnung an Lars Clausen¹⁹³ der Begriff des katastrophensoziologischen und katastrophenpsy- chologischen Empire gewählt werden. Die Festlegung eines historischen Ausgangspunktes des Emergency Empire orientiert sich an der Transformation der Kriegshistorien und ih- rer Gegenhistorien, mit dem Ende des II. WK, in den 1950er Jahren, spä- testens mit dem Ende des kalten Krieges in den 1990er Jahren. Das Emergency Empire weist keinen flächendeckenden Zusammen- hang mit dem klassisch-kolonialen Empire auf. Die glatte Oberfläche der zusammengezogenen Flächenstaaten und geopolitischen Gebieten zu ei- nem Empire, so wie Carl Schmitt den globalen Krieg in der völkerrecht- lichen Großraumordnung entworfen hat, steht im Zeichen neuer Me- dien- und Raumdynamiken, die den Krieg neu strukturieren. Es ist ein submedialer¹⁹⁴ Krieg der Asymmetrien und Innenräume, der hier auch als postmoderner Krieg entworfen wird. Somit kann nicht mehr einfach nur von Globalisierung als Oberflä- chenprojekt gesprochen werden, wie es noch im Kontext von Carl Schmitt möglich war. Wie von Peter Sloterdijk in seinem Buch „Im Weltinnenraum des Kapitals“¹⁹⁵ aufgezeigt wird, muss in Abgrenzung zu Carl Schmitt, ein anderer Begriff die aktuelle Kriegsdynamik repräsentieren. Mit dem Be- ¹⁹⁰ Richard Brodie, Virus of griff des Innenraumes bezeichnet Sloterdijk psycho-politische Interieurs, the mind: the new science of the meme, Seattle: Integral Press in denen sich multiplizierte und replizierte Kriegsszenarien entfalten. 1996 Der moderne Begriff der Globalisierung muss der terminologischen Anla- ¹⁹¹ Peter Sloterdijk, [Zitat aus seinem Redebeitrag in der Podi- ge Carl Schmitts zugeordnet werden. Wie der Begriff des Politischen ist der umsdiskussion] S. 18 Begriff der Globalisierung signifikant für den modernen Krieg, der sei- ¹⁹² Michael Hardt Antonio ne Beendigung mit dem Kalten Krieg gefunden hat. Auch hier, im Modell Negri, Empire, S. 191 ¹⁹³ Entsetzliche soziale Prozesse, des Kalten Krieges, standen sich noch geopolitische Flächesysteme gegen- Teorie und Empirie der Katast- über, jene der Westmächte, des Ostblocks und der Dritten Welt. Die Glo- rophen, hg. v. Lars Clausen, Elke M. Geenen, Elisio Macamo, balisierung als neoliberale Kriegsökonomie von Flächenstaaten ist längst Münster: LIT Verlag 2003 von ihren innenräumlichen Aushöhlungen eingeholt worden. ¹⁹⁴ Die Begriffe des Submedia- len und der Medienoberfläche Das Emergency Empire zeigt sich in einer Doppelform: als neolevi- werden hier explizit in Bezug athanische Medienoberfläche der Globalisierung, der Sicherheit, der De- auf die submediale Teorie von mokratie, des Friedens (der Friedenerzwingung) und in den sub- und Boris Groys verwendet. Vgl. Boris Groys, Unter Verdacht. innenräumlichen, neoliberalen Akteur- und Regierungsnetzen des Aus- Eine Phänomenologie der Medi- nahmezustands – der weltweiten Herstellung von rechtsfreien Räumen. en, München: Hanser 2000 ¹⁹⁵ Peter Sloterdijk, Im Weltin- nenraum des Kapitals, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005

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4.3 Agenda Der Präzedenzfälle, Maßnahmen und Institutionen des AZ/State of 1 Emergency, zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung

Die nachstehende Übersicht zeigt die Wandlung der Figur des poli- tisch-juristischen Ausnahmezustandes seit ihrem Inkrafttreten und im Blickfeld moderner und potsmoderner Ereignisse in einem generativen Zeitraum von circa 80 Jahren (zwischen 1929 und 2008) auf. Diese Dar- stellung möchte die Verschiebung des Axioms seit seiner Vorlage durch Carl Schmitt¹⁹⁶ und seinen Eingang in die deutsche Rechtsterminologie und in die Verfassung 1933, sowie seit seiner Vorlage in der angelsächsi- schen Verfassung als State of Emergency seit 1939, deutlich machen. Der Ausnahmezustand, bzw. Te Emergency, unterliegt als Begriff des Krieges und der Kriegsökonomien seit dem Ende des II.WK einer massiven Neu- konstituierung, die parallel mit der Militarisierung des öffentlichen Rau- mes einhergeht. Der Vollzug eines State of Emergency weitet sich nunmehr im Zeichen von Krise, Unfall, Katastrophe und Prävention (Alarmbereit- schaft, Frühwarnung) vollständig auf den zivilen Sektor aus.

Agenda: 1. „Schwarzer Freitag“. Am 25. Oktober 1929 wurde die New Yorker Wall Street Schauplatz eines bis dahin noch nicht erlebten Börsencrashs. Innerhalb von Stunden verfielen die Aktienkurse. Rekordverkäufe und Panik unter den Anlegern sorgten dafür, dass die Aktienkurse in- nerhalb einer Woche 40 Prozent ihres Wertes verloren. Der „Schwar- zer Freitag“ war gleichzeitig der Beginn einer großen Weltwirtschafts- krise, eines Ausnahmezustands auf den Finanzmärkten und gehört zu der Vorgeschichte von Entwicklungen hin zum Zweiten Weltkrieg. 2. der Präzedenzfall des AZ der deutschen Rechtsterminologie als Staatsakt im Dritten Reich: Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933; Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 (*1)

*1 In dieser Arbeit wird das Aufkommen des Begriffs des AZ in der deutschen Rechtsterminolo- gie auf der Grundlage des Artikels 48 der Weimarer Verfassung (vom 11. August 1919) festgelegt. Artikel 48: (1) Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten. (2) Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung er- heblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ord- nung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschrei- ten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen. (3) Von allen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der Reichsprä- sident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstages außer Kraft zu setzen. (4) Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen der in Abs. 2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichspräsidenten oder ¹⁹⁶ Carl Schmitt, Die Diktatur, des Reichstages außer Kraft zu setzen. ...a.a.O. (5) Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz.

EMERGENCY EMPIRE 60 Transformation des Ausnahmezustands 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

3. Die DDR als sowjetische Besatzungszone eine Regierungsform des permanenten Ausnahmezustands im Kalten Krieg zwischen 1945 und 1989 (*2, *3)

(Aufbau und Aufgaben des Reichs, Artikel 48, Siehe: Die Verfassung der Deutschen Reiches, Weima- rer Verfassung, vom 11. August 1919, in: Horst Hildebrandt, Die deutsche Verfassung des 19. und 20. JH., S. 81 – 82)

*2 Die Ex-DDR steht hier als Beispiel für einen geopolitischen AZ während des Kalten Krieges. Die politische Übermacht der Westmächte gegenüber dem Ostblock erklärte sich durch ihr Finanz- monopol, welches im Wettrüsten den Westmächten die strategisch vorteilhaftere Position ein- räumte und den Ostblock schließlich in eine Art Belagerungszustand zwang. Die Verfassung der Ex-DDR integrierte einen Toleranzbereich für Sondererlasse, die im Fall ihrer Anwendung den Staat in einen militärischen Verteidigungszustand versetzen, welcher durch eine dezisionistische Sicherheitspolitik nach Innen gewährleistet wird. Auf Grund der Einräumung von Toleranzen für Sondererlasse kann im Fall ihrer Anwendung auch nicht von Verfassungswidrigkeit gesprochen werden, wenn die Artikel der Bürgerrechte suspendiert werden. Dass dies zwischen 1948 und 1989 in der Ex-DDR der Fall war, gilt mit den Offenlegungen durch die Gauck-Behörde als unangezweifelter Tatbestand. Auch hier kann eine ähnliche Symptomatik wie im AZ des Dritten Reiches festgehalten werden. Der staatliche AZ vollzieht sich mit Sondererlassen im Interesse der Monopole (Gewalt-, Entschei- dung-, Finanzmonopole) durch eine euphemistische Sicherheitspolitik nach Innen und eine Vertei- digungspolitik nach Außen. Der AZ der Ex-DDR, inklusive seiner Notverordnungen, die unangezwei- felt die Antastung der Bürgerrechte betrafen, war mit dem Fall der Mauer aufgehoben.

*3 Anhand der aufgeführten Artikel wird die Regierungsform des permanenten AZ der Ex-DDR deutlich. Artikel 51: „Die Volkskammer bestätigt Staatsverträge der Deutschen Demokratischen Republik und anderen völkerrechtliche Verträge, soweit durch sie Gesetze der Volkskammer geändert wer- den. Sie entscheidet über die Kündigung {vgl. Suspendierung} dieser Verträge.“ Artikel 52: „Die Volkskammer beschließt über den Verteidigungszustand [vgl. AZ] der Deutschen Demokratischen Republik. Im Dringlichkeitsfall [vgl. Notstand] ist der Staatsrat berechtigt, den Verteidigungszustand zu beschließen [vgl. Ermächtigung, Dezision]. Der Vorsitzende des Staatsrates verkündet den Verteidigungszustand.“ Artikel 73: (1) „Der Staatsrat fasst grundsätzliche Beschlüsse zu Fragen der Verteidigung und Sicher- heit des Landes. Er organisiert die Landesverteidigung mit Hilfe des Nationalen Verteidigungsrates.“ Artikel 21: (1) „Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht {Pflicht}, das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben der sozialistischen Gemeinschaft und des sozialistischen Staates umfassend mitzugestalten. Es gilt der Grundsatz „Arbeite mit, plane mit, regiere mit! {vgl. Gleichschaltung}“ Artikel 70: „Im Auftrage der Volkskammer unterstützt der Staatsrat die örtliche Volksvertretungen als Organe der einheitlichen sozialistischen Staatsmacht [vgl. Gleichschaltung], fördert deren de- mokratische Aktivität bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und nimmt Einfluss auf die Wahrung sowie die ständige Festigung der sozialistischen Gesetzlichkeit in der Tä- tigkeit der örtlichen Volksvertretung.“ Artikel 71 (1): „Der [von der Volkskammer beauftragte] Staatsrat regelt die grundsätzlichen Aufga- ben, die sich aus den Gesetzen und Beschlüssen der Volkskammer ergeben, durch Erlasse. Sie wer- den der Volkskammer zur Bestätigung vorgelegt.“ Artikel 31: (1) „Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzbar.“ (2) „Sie dürfen nur auf gesetzlicher Grundlage eingeschränkt werden [vgl. Erlasse], wenn es die Si- cherheit des sozialistischen Staates oder eine strafrechtliche Verfolgung erfordern.“ (Aufbau und System der staatlichen Leitung, Artikel 51 + 52, Siehe: Die Verfassung der Deutschen De- mokratischen Republik, vom 7. Oktober 1949, in: Horst Hildebrandt, Die deutsche Verfassung des 19. und 20. JH., S. 256) Die Option eines AZ wurde in der Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1974 im Artikel 52 als Verteidigungszustand, bzw. als Zustand erhöhter Gefechtsbereitschaft für den Fall eines nationalen Notfalls ins Handlungsrepertoire der Regierung integriert.

Souveränität 61 C: Ausnahmezustand

4. Am 17. Juni 1953 verhängte der sowjetische Stadtkommandant über Ostberlin den Ausnahmezustand, der am 18. Juni auf die ge- 1 samte DDR ausgedehnt wurde. Unterstützt von der kasernierten Volkspolizei der DDR schlugen sowjetische Truppen noch am 17. Juni in Berlin den gewaltlosen Aufstand nieder. 21 Personen wur- den von sowjetischen Standgerichten zum Tode verurteilt und so- fort hingerichtet; weitere Todesurteile durch DDR-Gerichte und Hinrichtungen folgten. Etwa 1.400 am Aufstand Beteiligte erhiel- ten Freiheitsstrafen. 5. Das Verbot der Kommunistischen Partei (KPD) von 1956 war das zweite Parteienverbot in der Geschichte der BRD. Es führte zur Zwangsauflösung der KPD, dem Einzug ihrer politischen Mandate, dem Verbot der Gründung von Nachfolgeorganisationen und tau- senden Gerichtsverfahren gegen einzelne Mitglieder. Dieser Erlass entspricht einer Situation des AZ, nämlich der partiellen Suspen- dierung von Rechten. 6. Wiederbewaffnung in Deutschland und Gründung der Bundeswehr, sowie der Nationalen Volksarmee 1956, Einführung von militäri- schen Strukturen in der BRD und DDR, sowie der Verteidigungsbe- reitschaft in beiden Staaten: Dieser Akt vollzieht sich analog zum National Security Act in den USA und manifestiert die globalen Fronten des Kalten Krieges. 7. 1968: Das Notstandsgesetz als Siebzehntes Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24. Juni 1968 in der Verfassung der BRD während des Kalten Krieges. Es wurde am 30. Mai 1968, in der Zeit der Großen Koalition, vom gegen den Widerstand der außerparlamentarischen Opposition verabschiedet. Sie änderten das Grundgesetz zum 17. Mal und fügten eine Notstandsverfas- sung ein, welche die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensitu- ationen (Naturkatastrophe, Aufstand, Krieg) sichern soll. (*4)

Dass der Verteidigungszustand der Ex-DDR als verfassungsrechtlicher Begriff im Artikel 52 der Ver- fassung von 1974 militärisch und kriegsrechtlich konnotiert war, zeigt sich an der Parallele dessel- ben Begriffs im Handlungsbereich des US-amerikanischen Militärs, hier als Defense readiness con- ditions (DEFCON). Im Fall eines nationalen Notfalls sorgen sieben verschiedene Alarmstufen für den Beschluss des AZ, bzw. des Verteidigungszustands. Die DEFCON-Alarmstufen wurden als Si- cherheitsarchitektur nach dem 2. Weltkrieg ins Leben gerufen und unterstehen der Kontrolle des US-amerikanischen Präsidenten. Der militärische Verteidigungszustand der Ex-DDR unterstand der Kontrolle und dem Beschluss des Staatsrats.

*4 „Der deutsche Philosoph Teodor W. Adorno monierte wenige Wochen vor der Verabschiedung der so genannten Notstandsverfassung durch den deutschen Bundestag am 24. Juni 1968: „Die restaurativen Tendenzen, oder wie man sie nennen will, sind nicht schwächer geworden, sondern habe sich verstärkt. [...] Einzig verruchter Optimismus könnte von den Notstandsgesetzen etwas anderes erwarten als die Fortsetzung jenes Trends, nur weil sie mit so viel staatsrechtlicher umsicht formuliert sind.“ Die ‚staatsrechtliche Umsicht’ war in der Tat eines der herausragendsten Phäno- mene der in der Bundesrepublik Deutschland der 60er Jahre besonders heftig geführten Debatte um die Notstandsgesetze und des gleichsam im Schattengang derselben eingeführten Widerstands- rechts, das der oben erwähnten Ziselierung von Rechtsgrundlagen genau entspricht. Das im Art. 20

EMERGENCY EMPIRE 62 Transformation des Ausnahmezustands 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

8. Berlin als geopolitischer Ausnahmezustand auf deutschen Territo- rium im Kalten Krieg, zwischen 1961 und 1989 9. 1972: Radikalenerlass in der BRD, auch Extremistenbeschluss ge- nannt und offiziell als Einführung der Grundsätze zur Frage der ver- fassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst, bzw. Einführung des Berufsverbots für Betroffene. Dieser Erlass, entspricht einer Si- tuation des AZ, nämlich der partiellen Suspendierung von Rechten. State of Emergency: 10. Der nationale AZ als State of Emergency der USA während des II. WK zwischen 1939 und 1952 11. Der nationale AZ als State of Emergency der Irischen Regierung während des II. WK zwischen 1939 und 1946 (*5) 12. Seit dem Ende des II. WK wird der State of Emergency im Fall von Bürgerkriegen von Staaten beansprucht; z.B. State of Emergency in Bolivien, durch die Regierung 1967 ausgerufen, aufgrund des Bo- livianischen Guerillakrieges, der Fortsetzung der Kubanischen Re- volution in Bolivien unter der Führung von Ernesto Che Guevara; z.B. State of Emergency in Indien, durch Indira Gandhi ausgerufen, zwischen 1975 und 1977. 13. Ebenfalls seit dem Ende des II. WK kommt der Begriff des Emergen- cy im zivilen Raum zum Einsatz und bezeichnet hier zivile Katast- rophen und ihre (medizinische) Versorgung Emergency (Ambu- lance) Service, Emergency Department 14. Emergency -Terminologie in Signaletik und ziviler Infrastruktur: Emergency Break, Emergency Landing, Emergency Telephone, Emergency Stop, Emergency Exit, Emergency Room, Emergency Shelter, Emergency Vehicles, Emergency Signal System 15. DEFCON; nach dem II. WK wurden 1945 die Defence Condition Alarmstufen ins Leben gerufen. Sie werden vom US-amerikani- schen Präsidenten kontrolliert und signalisieren die permanente Verteidigungsbereitschaft des US-Militärs. Im Fall eines nationa- len Notfalls (Emergency) können sieben verschiedenen Alarmstu-

Abs. 4 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland (GG) gefasste Widerstandsrecht stellt eine Art letzte Legalitätsreserve dar für den Fall, dass die Mittel der Notstandsverfassung nicht ausreichen.“(Conradin Wolf, Ausnahmezustand und Menschenrechte, S. 34f.)

*5 Im weltweiten kriegspolitischen Sprachgebrauch ist das erstmalige Erscheinen des angelsäch- sischen Begriffs „Te Emergency“ auf eine offizielle Erklärung der irischen Regierung im 2. WK da- tiert, welche auf die besondere Position des Staates während des Zweiten Weltkriegs aufmerksam machen möchte. Irland war zwar im Kriegverlauf neutral geblieben, deklarierte aber dennoch am 2. September 1939 den „State of Emergency“, einen offiziellen AZ, um am nächsten Tag das „Emergen- cy Powers“ Gesetz, eine Notstandsregelung, zu verabschieden. Für den Zeitraum des AZ sicherte sich die Regierung, im Schatten des Kriegsverlaufs nach außen und mit Hilfe der Notstandsrege- lung nach innen, weitreichende Machteinflüsse. Sie konnte auf diese Weise Einsperrungen veran- lassen, Zensur von Presse und Kommunikation vornehmen und ökonomische Transfers kontrol- lieren. Dieses Gesetz wurde am 2. September 1946 zurückgenommen, wohingegen der „State of Emergency“ noch 30 Jahre bis zum 1. September 1976 in Kraft blieb.

Souveränität 63 C: Ausnahmezustand

fen aktiviert werden. Während des Kalten Krieges war permanent DEFCON-4 aktiviert. Die agierende Institution über den AZ und 1 den permanenten Verteidigungszustand der Regierung ist hier das Department of War (DoW) (*6) 16. National Security Act, 1947: Beschluss über die Erschaffung des Department of Defense (DoD), der Central Intelligence Agency (CIA), der Natioanl Security Agency (NSA) – die zentralen Institu- tionen des Emergency Empire. 17. United Nations Emergency Force, UNEF; bewaffnete Einsatztrup- pen der Vereinten Nationen (Blauhelme): UNEF I (1956) gilt als die erste Friedensmission der UN, an der bewaffnete Einheiten teilge- nommen haben. Einsatz während des Sechstagekrieges und der Su- ezkrise; UNEF II (1973 -79), zweiter Einsatz in Gaza. Die agierende Institution über den AZ und den permanenten Verteidigungszu- stand ist hier die UNO. 18. ICS; 1981: Executive Order durch Ronald Reagan über den Be- schluss der United States Intelligence Community mit der Funkti- on der Spionageabwehr und der Selbstverteidigung. 19. SDI – Strategic Defense Initiative/Strategische Verteidigungsinitiati- ve: 1983 erlässt US-Präsident Reagan eine offiziell angeordnete Initi- ative zum Aufbau eines Abwehrschirms gegen sowjetische Interkon- tinentalraketen. Dieses Projekt manifestierte die Fronten des Kalten Krieges in Begründung des „Reichs des Bösen“ (Sowjetunion).

*6 Defense readiness conditions (engl. Verteidigungsbereitschaftszustand), auch mit DEFCON ab- gekürzt, bezeichnet den Alarmzustand des US-amerikanischen Militärs. Im Fall eines nationalen Notfalls stehen sieben verschiedene Alarmstufen (engl. Alert Conditions, auch LERTCONs) zur Verfügung. Die sieben LERTCONs wurden in fünf Defense Conditions und zwei Notfallstufen (engl. Emergency Conditions, auch EMERGCONs) aufgeschlüsselt. In Großbritannien verwendet man analog hierzu den BIKINI -state. DefCon 5 – Friedenszeit DefCon 4 – Friedenszeit, erhöhte Aufklärung und erhöhte Sicherheitsmaßnahmen DefCon 3 – Erhöhte Einsatzbereitschaft DefCon 2 – Erhöhte Einsatzbereitschaft, Mobilisierung der Reserve DefCon 1 – Maximale Einsatzbereitschaft. Alle verfügbaren Truppen werden eingesetzt. Wurde bisher noch nie ausgerufen, ist aber reser- viert für einen bevorstehenden oder laufenden Angriff von einer feindlichen, ausländischen Mili- tärmacht auf US-Militär bzw. US-Territorium. DEFCON 1 sieht auch einen massiven Nuklearschlag gegen einen potenziellen Gegner vor. Verschiedene Teile des US-Militärs (z. B. US Army, US Navy, US Air Force), Basen oder auch Kom- mandogruppen können in unterschiedlichen DEFCON-Stufen aktiviert werden. So waren z. B. während des Kalten Krieges die amerikanischen Interkontinentalraketen immer auf DEFCON 4. Der höchste Alarmzustand des US-Militärs war bisher DEFCON 2. Während der Kuba-Krise wur- de am 22. Oktober 1962 das Strategic Air Command auf DEFCON 2, und der Rest des Militärs auf DEFCON 3 gesetzt. DEFCON 2 wurde bis zum 15. November 1962 beibehalten. Auch während des Jom-Kippur-Krieges (1973) wurden vom 25. bis 26. Oktober 1973 DEFCON 3 ausgerufen. Zuletzt am 11. September 2001 ließ Generalstabschef Richard Myers auf DEFCON 3 setzen. Die DEFCON-Stufen sind nach dem 2. Weltkrieg ins Leben gerufen worden und werden in erster Li- nie vom US-amerikanischen Präsidenten kontrolliert. Eine Nachfolgeprojekt im strategischen Stil der DEFCONS sind die 2001 in Verbindung mit der Gründung des DHL installierten Treat Con- dition, die „5 Codes“.

EMERGENCY EMPIRE 64 Transformation des Ausnahmezustands 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

20. „Schwarzer Montag“. Am 19. Oktober 1987 New Yorker Wall Street in einem beispiellosen finanziellen Erdbeben den schlimmsten ein- tägigen Kursverlust ihrer Geschichte. Die internationalen Börsen gerieten mit in diesen dramatischen Abwärtssog und in einen Aus- nahmezustand. Es gab eine weltweite Panik. Der Dow-Jones-Index brach um 508,32 Punkte oder 22,62 Prozent auf 1738,74 Punkte ein. Damit verloren die Anleger an einem Tag allein an der New Yor- ker Börse mehr als 500 Milliarden Dollar. 21. Am 15. Januar 1990 verhängte der sowjetische Präsident Gor- batschow den Ausnahmezustand über Armenien, Teile Aserbaid- schans, Nagornyj-Karabach und das Grenzgebiet zum Iran. Am 20. Januar besetzten 160.000 Soldaten der Roten Armee und Spezi- aleinheiten des sowjetischen Innenministeriums wichtige Positio- nen in Aserbaidschan. 22. 1991: Auflösung der UdSSR, Beginn der militärischen Interventi- on in Tschetschenien. Als direkte Reaktion auf die tschetschenische Unabhängigkeitserklärung ruft Russlands Präsident Boris Jelzin im November 1991 den nationalen Notstand aus und sendet Truppen des Innenministeriums nach Tschetschenien. Massendemonstratio- nen sind die Folge. Nur drei Tage später hebt Jelzin den Ausnahme- zustand wieder auf, was aber nicht zur Beruhigung der Lage führt. 23. Am 12. März und 2. November 1992 verhängte der autonom ge- wählte Präsident Dudajew den Ausnahmezustand über Tschetsche- nien. In Folge der tschetschenischen Unabhängigkeitserklärung kam es zu schweren militärischen Interventionen durch die Regie- rung Jelzins, sowie zu einem Ultimatum an den tschetschenischen Widerstand gegen Russland. 1994 bricht der erste Tschetschenien- krieg aus. 24. Seit dem Millenium steht Te Emergency als Begriff für sämtliche Katastrophen nationalen Ausmaßes: Landesbrände, Schneestür- me, Hurrikans, Tsunamis, Überschwemmungen, wie auch für Vi- rusepidemien (BSE, Vogelgrippe), für Terroranschläge (New York 2001, London 2005, Madrid 2004) und für antizipative Ereignis- se wie z.B. permanente terroristische Bedrohung (Antiterrorkrieg seit 2001). Das Millenium gilt mit dem Wegfall des „Eisernen Vor- hangs“ und den Angriff auf das WTC als Beginn der Ära des postmo- derenen Emergency, der sich durch den unterschiedslosen Zusam- menfall von Katastrophen in einem Raum der Anomie auszeichnet. 25. Oderhochwasser, 1997 in Deutschland, Tschechien und Polen. Ein- satz der Bundeswehr. 26. Angriff der NATO auf die Bundesrepublik Jugoslawien, ohne Man- dat der UNO, mit der Begründung der Humanitären Intervention. Selbsternanntes Kriegsrecht der NATO und militärische Interven- tion in einem nationalen Bürgerkrieg. 27. State of Emergency, deklariert durch die USA, in Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 und der weltweite Antiter-

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rorkrieg seit 2001; in Form der Erlasse Patriot Act I (Uniting and Strengthening Amerika by Providing Approbiate Tools Required to 1 Intercept and Obstruct Terrorism Act of 2001) und Patriot Act II (Domestic Security Enhancement Act of 2003) (*7) 28. 13. November 2001: Erlass der Military Order durch den Präsiden- ten der USA. Nicht-Staatsbürger, die terroristischer Taten verdäch- tigt werden, können nun in den Status der ‘unbeschränkten Haft’ (indefinite detintion) gelangen, wie auch durch einen Prozess (mili- tary detention) belangt werden. Hier wird das unmittelbar biopoli- tische Ausmaß des AZ evident. 29. Gründung des DHL, United States Department of Homeland Se- curity. Ähnlich wie die DEFCON (7 Defense Condition) ist auch das DHS in Warnstufen skaliert (5 Treat Condition) und dient der Prä- vention vor terroristischer Gefahr und Verunsicherung. (*8) 30. Protecting the Homeland , die Direktive des Weißen Hauses seit 2001, ist analog zu den klassischen Kriegs-Euphemismen „Zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit, Ordnung und Gesundheit“ die aktuel- le Losung im Kampf gegen die weltweite islamistisch-terroristische Gefahr. Da der Antiterrorkrieg als ein weltweiter ausgerufen wurde, ist im Gegenzug das zu schützende „Heimatland“ bzw. der zu schüt- zende öffentliche Raum ebenfalls ein weltweites bzw. weltweiter.

*7 „Grundsätzlich zeichnet sich heute – und verstärkt seit den Terroranschlägen vom 11. Sep- tember 2001 – die Tendenz ab, statt den AZ zu erklären, Sondergesetze zu erlassen. Am Beispiel der USA lässt sich vor diesem Hintergrund zudem eine Zweigleisigkeit aufzeigen: So hat Präsident George W. Bush zwar am 14. September 2001 den nationalen Notstand ausgerufen, mangels ein- deutiger Absicherungen des AZ, stricto sensus, in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Ame- rika muss aber den vom Präsidenten erlassenen Sondergesetzen, den sogenannten Patriot Acts I und II (*Patriot Act I (Uniting and Strenghening America by Providing Appropriate Tools Required to Intercept and Obstruct Terrorism Act of 2001), erlassen am 26. Oktober 2001. Patriot Act II (Domestic Security Enhancement Act of 2003). Als vertrauliches Dokument in einem Entwurf (Draft) vom 9. Januar 2003 ge- fasst und durch Indiskretion an die Öffentlichkeit gelangt), das zentrale Augenmerk gewidmet werden.“ (Conradin Wolf, Ausnahmezustand, S. 38)

*8 Das Heimatschutzministerium der Vereinigten Staaten (engl. United States Department of Homeland Security, DHS) ist ein im Jahr 2002 geschaffenes Ministerium der USA, als Maßnahme und Antwort auf die Terroranschläge vom 11. September 2001. Dieses Ministerium ist nach dem Pentagon und der Rentenorganisation die drittgrößte Bundesbehörde. In ihm wurden einige zu- vor unabhängige Institutionen zusammengelegt, so zum Beispiel die Sicherheitskontrollen an den Flughäfen, der Zoll, die Küstenwache und die Katastrophenschutzbehörde Federal Emergency Ma- nagement Agency. Die Installierung gilt als aktionistische, wenn nicht sogar propagandistische Maßnahme der Regie- rung, der Bevölkerung Sicherheit zu suggerieren. Analog zum Skalensystem des US-Militärs, den DEFCON-Stufen, mit denen der Verteidigungszu- stand der Streitkräfte während des Kalten Krieges angezeigt wurde, benutzt das Heimatschutzmi- nisterium ein fünf Stufen umfassendes, auf Farben basierendes Homeland Security Advisory System, um die angenommene Gefahrenlage anzuzeigen: Grün, Blau, Gelb, Orange, Rot. Mit dieser Einrichtung vollziehen sich militärpolitisch und staatsideologisch zwei Dinge: zum ei- nen die Fortsetzung des Krieges in seinem Übergang vom Kalten Krieg zum Antiterrorkrieg und zum anderen die totale Medialisierung des Krieges. Die Effizienz eines solchen Farbwarnsystems liegt nicht im Schutz der Bevölkerung oder in der Minimierung irgend eines Risikos, sondern in ei- nem Propagandafaktor, der synchron ein Medienfaktor ist.

EMERGENCY EMPIRE 66 Transformation des Ausnahmezustands 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

Die Vereinnahmungspolitik der USA wird durch den generell vor- herrschenden Geist der Globalisierung begünstigt und gecovert. Wie viel konstruierte Feindbildpropaganda zu Gunsten eines kon- struierten weltweiten Aktionsfeldes inszeniert wird und somit die gegenwärtige Weltherrschafts- und Vereinnahmungspolitik der USA legalisiert, ist die grundlegende Frage in dieser hier vorliegen- den Arbeit. 31. FEMA, Federal Emergency Management Agency, ist die nationale Ko- ordinationsstelle der Vereinigten Staaten für Katastrophenhilfe und dem DHS unterstellt. Sowohl vom DHL als auch vom FEMA gehen Emergency Population Warnings aus. (*9) 32. Madrid, 11. März 2004, Bombenattentat in vier Madrider Vor- ortzügen. Dieses Ereignis gilt als der erste und bisher schlimmste Anschlag islamistisch motivierter Terroristen, der auf Europa, seine Bürger und sein inneres Gefüge zielte. Man spricht von den „von al-Qaida moderierten Terrornetzwerken“, die ihre Kunst perfektio- nieren, „mit der Angst, der Seele und mit dem politischen Kalender der Europäer zu spielen.“ – Nationaler Ausnahmezustand. (*10)

*9 Die Federal Emergency Management Agency (FEMA) ist die nationale Koordinationsstelle der Vereinigten Staaten für Katastrophenhilfe und ist dem Heimatschutzministerium (DHS) unterstellt. Die FEMA koordiniert die Arbeit bundesstaatlicher, staatlicher und lokaler Behörden bei Über- schwemmungen, Hurrikane, Erdbeben und anderen Naturkatastrophen. Die FEMA bietet auch fi- nanzielle Unterstützungen an Einzelpersonen und lokalen bzw. staatlichen Regierungen beim Wie- deraufbau von Häusern, Geschäften und öffentlichen Einrichtungen. Ebenso wird die Ausbildung von Feuerwehrleuten und Notfallmedizinern unterstützt und die Katastrophenfall-Planung der Vereinigten Staaten sowie ihrer Überseegebiete bezahlt. Die Aufgabe der FEMA ist auf große terroristische Angriffe und Naturkatastrophen zu reagieren. Die FEMA ist zu Folgendem ermächtigt, falls dies vom Präsident der Vereinigten Staaten verord- net wurde: 1. Übernahme sämtlicher Transportmittel und Kontrolle der Autobahnen und Seehäfen 2. Übernahme und Kontrolle sämtlicher Medien (TV, Rundfunk usw.) 3. Kontrolle über den elektrischen Strom, Gas, Erdöl, Treibstoffe und Bodenschätze 4. Übernahme aller Nahrungsquellen und Farmen 5. ermächtigt den Postmaster General (Chef der Bundespost), ein nationales Register aller Perso- nen anzufertigen 6. erlaubt der Regierung, Eisenbahnen, Schifffahrtskanäle und Lagergebäude zu übernehmen 7. erlaubt der FEMA, Pläne über Produktion und Verteilung von Gütern, Energiequellen, Löhnen, Krediten und Geldflüssen bezüglich jedes undefinierten nationalen Notfalls zu erstellen.

*10 Um ca. 7.40 Uhr Ortszeit explodierten Vorortzüge des Madrider Hauptbahnhofs Atocha durch zehn Sprengsätze. Es wurden noch Bomben gefunden, die entschärft werden konnten, die vermutlich später den Bahnhof gesprengt hätten. Die Anschläge passierten drei Tage vor den Parlamentswahlen in Spanien. Deshalb wurde anschlie- ßend besonders intensiv auf die Sicherheit des ganzen Landes geachtet. Nach Angaben des spanischen Innenministeriums wurden 191 Menschen getötet, 2.051 verletzt, davon 82 schwer. Die spanische Regierung verdächtigte zunächst die baskische Terrororganisation ETA, die schon vorher um einen eigenen Staat gekämpft hatte. Als der Vorsitzende der ETA-nahen Partei Herri

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33. 2005, Hurrikan Katrina. Am 27. August, bevor der Sturm wieder die Küste erreichte, der mittlerweile auf Stufe 3 hochgestuft wor- 1 den war, rief US-Präsident George W. Bush den Notstand für die drei Bundesstaaten Louisiana, Mississippi und Alabama aus. Auf- grund von Plünderungen wurde versucht, in den Staaten Louisiana und Mississippi den Kriegszustand auszurufen und das Kriegsrecht zu verhängen, was die Gesetze der beiden Staaten eigentlich nur im tatsächlichen Kriegsfall zulassen. Am 1. September 2005 wurde in der Stadt New Orleans das Kriegsrecht verhängt und der National- garde die Erlaubnis erteilt, Plünderer zu erschießen. (*11) 34. London, 7. Juli 2005, Die britische Regierung ruft den nationalen AZ aus. Die Ursache war ein serielles Bombenattentat in drei fah- renden Londoner U-Bahn-Zügen, sowie eine Stunde später, in ei- nem Doppeldeckerbus, nahe dem Russel Square. (*12) 35. Seit 2005 ICE-Programm (In Case of Emergency), von England aus- gehend, in Reaktion auf die Bombenattentate vom 7. Juli 2005. Das ICE-Programm ist ein Präventionsprogramm und verbindet den urbanen Raum mit dem Staatsschutz. Das ICE-Programm ist weltweit codiert und im Einsatz, analog zu dem viel älteren SOS- Programm. 36. L’etat d’ urgence, Nicolas Sarkozy ruft in der Nacht zum 8. Novem- ber 2005 den Nationalen AZ in Frankreich aus. Sarkoszy führt in diesem Zusammenhang die „Doppelstrafe“ wieder ein, d.h. ein

Batasuna sich verteidigte, indem er islamistische Gruppen verdächtigte und die Londoner Zeitung „Al-Quds al-arabi“ ein Bekennerschreiben der al-Qaida erhielt, wurde der Verdacht auf islamisti- sche Terroristen gelenkt. Ein Motiv für die Bombenanschläge könnte sein, dass Spanien eines der wichtigsten Mitglieder der „Allianz im Krieg gegen den Islamismus“ war. Der Verdacht bestätigte sich, als am 14. März ein Videoband gefunden wurde, in dem der angeb- liche Militärsprecher der al-Qaida zugab, dass die islamistische Organisation hinter den Terroran- schlägen steckte. Einige Beschuldigte sprengten sich am 4. April 2004 in die Luft.

*11 Hurrikan Katrina gilt als eine der verheerendsten Naturkatastrophen in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Der Hurrikan richtete im August 2005 in den südöstlichen Teilen der USA, insbesondere an der dortigen Golfküste, enorme Schäden an und erreichte zeitweise die Stufe 5. Zu den betroffenen Bundesstaaten gehörten Florida, Louisiana (besonders der Großraum New Orle- ans), Mississippi, Alabama und Georgia. Katrina ist der kostspieligste Wirbelsturm, der die USA bisher heimsuchte. Experten schätzten an- fangs die Schäden auf mehr als 26 Milliarden Euro. Mittlerweile wurde diese Zahl auf mindestens 125 Milliarden Euro korrigiert. Mit dieser Schadensgröße übertrifft er Hurrikan Andrew, der 1992 den Süden Floridas verwüstete und die bis dahin größte Sturmkatastrophe seit Beginn der Auf- zeichnung von Stürmen in den Vereinigten Staaten darstellte. Die Größe des materiellen Schadens übersteigt ebenfalls die des Seebebens im Indischen Ozean 2004. Der Hurrikan übertrifft auch die wirtschaftlichen Schäden der Anschläge vom 11. September 2001 bei weitem.

*12 Am 8. Juli 2005 kamen erneut Terroranschläge in die Schlagzeilen von Zeitungen aus aller Welt. Am Tag zuvor kam es in den Londoner U-Bahnen und einem Doppeldeckerbus zu insgesamt vier Bombenexplosionen durch so genannte „Rucksackbomber“. Drei Bomben explodierten um etwa 8:50 Ortszeit jeweils in drei fahrenden Londoner U-Bahn-Zügen. Der schwerste Anschlag ereignete sich auf der Piccadilly Line zwischen King‘s Cross und Russell Square, da er sich mitten in einem Tun- nel befand. Die Rettungsarbeiten waren dort entsprechend schwierig. Ein vierter Anschlag erfolgte

EMERGENCY EMPIRE 68 Transformation des Ausnahmezustands 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

Strafmass, das nur Immigranten betrifft. Für die Ausschreitungen in den Trabantenstädten werden illegale und legale Einwanderer belangt und zwar mit Verhaftung plus Ausweisung. (*13) 37. BSE, auch als Rinderwahn bekannt geworden, eine Tierseuche mit tödlichen Folgen, welche Medienhysterien und Medienskanda- le mit europaweiten Massenexekutionen von Rindern zwischen 2000-2005 auslöste. Ein bio-epidemologisches Emeregncy, das zu staatlicher und supranationaler Präventionspolitik führt. 38. Vogelgrippe, der umgangssprachliche Begriff für eine spezifische Viruserkrankung bei Vögeln, führt ebenfalls 2005 zu Medienhyste- rie und staatlicher, wie supranationaler Präventionspolitik. 39. 26. Dezember 2004: Durch ein Seebeben im Indischen Ozean vor der Insel Sumatra ereignet sich eine der bisher schlimmsten Tsu- namikatastrophen der Geschichte. Mindestens 231.000 Menschen (Stand: Dezember 2005) in 8 asiatischen Ländern (Indonesien/Su- matra, Sri Lanka, Indien, Tailand, Myanmar, Malediven, Malaysia und Bangladesch) werden getötet. Die Flutwelle dringt auch meh- rere tausend Kilometer bis nach Ost- und Südostafrika vor; weitere Opfer werden aus Somalia, Tansania, Kenia, Südafrika, Madagas- kar und von den Seychellen gemeldet. Ein State of Emergency auf- grund einer Naturkatastrophe. 40. Chaos Computer Club veröffentlicht am 31. August 2007 Entwurf des BKA-Gesetzes. Es handelt sich hierbei um Terrorlaws des BKA und der Bundesregierung zur Bekämpfung des internationalen Ter- rors. Dieser Entwurf wurde am 1. Juli 2007 verabschiedet. Alarmie- rend in der Umsetzung und Anwendung der Terrorlaws ist die Tat-

ca. eine Stunde später in einem Doppeldeckerbus nahe dem Russell Square. 56 Menschen sind durch die Anschläge gestorben, darunter die Täter selbst. 600 bis 700 Menschen waren verletzt. In ersten Aussagen nach den Anschlägen berichteten Behörden, dass es sich nicht um Terroran- schläge handelte, sondern um Zusammenstöße von U-Bahnen als mögliche Ursachen. Dies war eine bewusste Fehlmeldung, um Panik im Lande zu vermeiden. Im Laufe des Morgens des 7. Juli bekannte sích eine angebliche Gruppe namens „Geheime Grup- pe von al-Qaidas Djihad in Europa“ zu den Attentaten. Man schätzte diese Gruppe als Trittbrett- fahrer ein, da sie sich nicht auf einer der Websiten Al-Qaidas stellte, sondern auf einer privaten. Bislang konnte man keine Verbindung der Täter zur al-Qaida ermitteln. Die Anschläge in London bezeichnet man auch als 7/7 (seven-seven), in Anlehnung als die Bezeichnung der Terroranschlä- ge in den USA (9/11).

*13 Der französische Innenminister Nicolas Sarkozy hat dem Ausnahmezustand, den er in der Nacht zum 8. November ausgerufen hat, einen deutlich rassistischen Einschlag gegeben. Am nächs- ten Tag stellte er der Nationalversammlung seine Anweisungen an die Präfekten vor. Diese Vertre- ter der Zentralregierung in den Regionen sind für die polizeiliche Unterdrückung der Jugendrevolte in Frankreichs Trabantenstädten zuständig. „Ich habe die Präfekten angewiesen, legale und illegale Einwanderer, gegen die Anklage erhoben wird, sofort aus unserem Land auszuweisen. Dies betrifft auch jene, die eine Aufenthaltserlaubnis haben“, sagte Sarkozy. „Wenn jemand die Ehre hat, eine Auf- enthaltserlaubnis zu besitzen, kann man zumindest erwarten, dass er nicht wegen Gewaltaktionen verhaftet wird.“ Dominique Sopo, Präsident der anti-rassistischen Gruppe SOS-Rassismus, erklärte, er habe Beschwerde beim Staatsrat (dem obersten französischen Verwaltungsgericht) eingereicht. Er bezeichnete Sarkozys Vorschlag als „illegal“ und nannte das ganze eine „Massendeportation“. (URL: http://www.wsws.org/de/2005/nov2005/fran-n19.shtml, Stand vom 20. Juni 2008)

Souveränität 69 C: Ausnahmezustand

sache, dass ein sog. Anfangsverdacht ein vollkommen zureichendes und legales Indiz für die Behörden zur Durchsetzung des gesam- 1 ten gesetzlichen Programms ist, welches mit der klassischen Be- gründung eine Gefahr im Verzuge eingeleitet wird. Durchsuchungs- beschlüsse und Ermittlungsverfahren auf der Basis innovativster Telekommunikationstechnologie sind aktuell legale Routinen der Behörden bei einem – nicht notwendig bestätigten! –also mutmaß- lichen Tatverdacht und führen zur sofortigen Kriminalisierung der verdächtigten Person. (*14) 41. China baut, mit Hilfe von US-Unternehmen, das technisch avan- cierteste Überwachungssystem auf. (*15)

*14 Wie kürzlich bekannt wurde, ist die Online-Durchsuchung nur die Spitze des Eisbergs in- nerhalb der Planungen von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble zur Ausweitung der Über- wachung der Bevölkerung. Dem Chaos Computer Club liegt ein anonym zugespielter Entwurf des neuen BKA-Gesetzes vor. Darin ist u. a. vorgesehen, dass der Einsatz des Bundestrojaners auch ohne die Genehmigung eines Richters erfolgen soll, der normalerweise bei einem Grundrechtsein- griff dieser Art obligatorisch ist. Durch die weitgehenden Befugnisse für die Ermittler entsteht der Eindruck, der Bundesinnenminister ignoriere die Vorgaben des Grundgesetzes vollständig. (Chaos Computer Club, [email protected])

Entwurf eines Gesetzes zur Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus durch das BKA vom 11. Juli 2007 Der Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates das folgende Gesetz beschlossen: Artikel 1: Änderung des Bundeskriminalamtgesetzes 1. Die Inhaltsübersicht wird wie folgt geändert: a) In Abschnitt 1 wird nach § 4 folgender § 4a eingefügt: „§ 4a Abwehr von Gefahren des interna- tionalen Terrorismus.“ b) Nach Abschnitt 1 Unterabschnitt3 wird folgender Unterabschnitt 3a eingefügt: „Unterabschnitt 3a Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus § 20a: Allgemeine Befugnisse; § 20b: Erhebung personenbezogener Daten; § 20c: Befragung und Auskunftspflicht; § 20d: Identitätsfeststellung und Prüfung von Berechtigungsscheinen; § 20e: Er- kennungsdienstliche Maßnahmen; § 20f: Vorladung; § 20g: Besondere Mittel der Datenerhebung; § 20h: Besondere Bestimmungen über den Einsatz technischer Mittel in oder aus Wohnungen; § 20i: Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung; § 20j: Rasterfahndung; § 20k: Heimlicher Zugriff auf informationstechnische Systeme; § 20l: Überwachung der Telekommunikation; § 20m: Erhebung von Telekommunikationsverkehrsdaten und Nutzungsdaten; § 20n: Identifizierung und Lokalisie- rung von Mobilfunkgeräten; § 20o: Platzverweisung; § 20p: Gewahrsam; § 20q: Durchsuchung von Personen; § 20r: Durchsuchung von Sachen; § 20s: Sicherstellung; § 20t: Betreten und Durchsu- chen von Wohnungen; § 20u: Schutz zeugnisverweigerungsberechtigter Personen; § 20v: Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung; § 20w: Kennzeichnung, Verwendung, Löschung; § 20x: Be- nachrichtigung; § 20y: Übermittlung an das Bundeskriminalamt

*15 Mit der Hilfe von US-amerikanischen Unternehmen wird in China eines der technisch „fort- schrittlichsten“ Überwachungssysteme aufgebaut, berichtet die New York Times. In der 12,4 Mil- lionen Metropole Shenzhen und Umgebung soll noch in diesem Monat damit begonnen werden, mindestens 20.000 Überwachungskameras mit Gesichts- und Verhaltenserkennung zu installie- ren. Automatisch sollen so Verdächtige und verdächtiges Verhalten erkannt werden. Die Polizei soll über das System auch Zugriff auf bereits vorhandene private und staatliche Überwachungskameras erhalten, von denen es um die 180.000 geben soll. Ergänzt wird das System durch Ausweise für die meisten Einwohner mit Chips, die nicht nur Name und Adresse, sondern auch die Erwerbs- und Bildungsgeschichte, Religionszugehörigkeit, Vorstra- fen, Krankenversicherung und die Telefonnummer des Vermieters enthalten. Zudem soll auf den Ausweisen festgehalten werden, wie viele Kinder die Person in die Welt gesetzt hat, um die Ein- Kind-Politik zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums besser überwachen zu können. Wäh- rend die 1,8 Millionen Einwohner mit festem Wohnsitz in Shenzhen die neuen Ausweise nicht er- halten, weil ihre Daten schon bekannt sind, sollen die restlichen 10,5 Millionen Einwohner, die in den letzten Jahrzehnten zugezogen sind, mit ihnen ausgestattet werden.

EMERGENCY EMPIRE 70 Transformation des Ausnahmezustands 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

42. 20.10.07, Demonstration gegen den Überwachungsstaat: Mehr als 300 Menschen haben in Bielefeld unter dem Motto „Freiheit statt Angst“ gegen die zunehmende Bürgerüberwachung in Deutschland demonstriert. (*16) 43. China hatte mit großer „Verärgerung“ auf die Zusammenkunft zwischen Merkel und dem Dalai Lama am 23. September 2007 im Kanzleramt reagiert und in der Folge mehrere Treffen mit deut- scher Beteiligung abgesagt. Die Volksrepublik wirft dem Dalai Lama vor, eine Abspaltung Tibets von China anzustreben. – Die- ses Beispiel legt Zeugnis vom Globalisierungskriegseifer Chinas ab, in dem Menschenrechte und ethnisch-kulturelle Rechte massiv ignoriert werden. China gilt innerhalb der globalisierenden Dyna- mik (Neuaufteilung der Welt) der Supraraummächte zu der aufstre- bendsten und am härtesten konkurrierenden Supermacht (emer- ging power). Die offensive Globalisierungspolitik Chinas ignoriert und suspendiert Rechte und Gesetze von Menschen und Kulturen, sofern auf diesen (Menschenrechte, Bürgerrechte) begründete Ak-

Mit den Ausweisen will man Kriminalität bekämpfen und die Bevölkerung besser versorgen, um Programme wie Sozialhilfe, Schulsystem und Mietgeldunterstützung effektiver verwalten zu kön- nen. Überlegt wird auch, weitere Informationen zu speichern, beispielsweise Kredite, Fahrkarten für die U-Bahn oder kleine Einkäufe, die mit der Karte getätigt wurden. Mit der Realisierung wurde das in Florida ansässige Unternehmen China Public Security Technology beauftragt. Überdies hat die chinesische Regierung für alle großen Städten angeordnet, den 150 Millionen Menschen, die zugewandert sind, aber noch keinen festen Wohnort besitzen, entsprechende di- gitale Identitätsausweise zu geben. Das betrifft auch die 10 Millionen Bauern, die jährlich in die Städte ziehen. Gleichzeitig ließen sich so auch politisch Oppositionelle besser verfolgen und ein- schüchtern. Die Ausweise sollen in Shenzhen und Shanghai getestet und bei Erfolg in 680 weiteren Städten eingeführt werden. Zudem hat China Public Security ein auf Microsoft Windows basierendes System für die Polizei in Shenzhen eingerichtet, durch das die Bewegung eines jeden Polizisten der Stadt in der Zentrale auf großen Karten verfolgt werden kann. Alle Polizisten führen GPS-Empfänger mit sich. Fällt der Emp- fang des Satellitensignals aus, wenn die Polizisten sich in einem Haus befinden, wird die Lokalisie- rung über Handys geleistet. Nach Robin Huang von China Public Security habe man auch gute Be- ziehungen mit anderen Unternehmen wie I.B.M., Cisco, H.P. oder Dell: „Alle diese US-Unternehmen arbeiten mit uns, um mit uns zusammen das System aufzubauen.“ (Telepolis, 12.08.2007) Man be- nutze zwar auch Server eines chinesischen Herstellers, müsse aber Programme schreiben, die nur auf den amerikanischen Servern laufen würden. US-Unternehmen wurden bereits des öfteren kritisiert, weil sie den chinesischen Behörden mit ihrer Technik helfen würden, die Kommunikation zu über- wachen und Oppositionelle zu unterdrücken. URL: http://www.heise.de/newsticker/China-baut-das- technisch-avancierteste-Ueberwachungssystem-auf--/meldung/94258, Stand vom 19. Juni 2008)

*16 Die Demonstranten von Bielefeld folgten damit einem Aufruf des Arbeitskreises Vorratsda- tenspeicherung und 17 weiteren Unterstützergruppen, darunter Attac, der Chaos Computer Club (CCC) und die Humanistische Union. Mit der Demonstration unmittelbar vor der Verleihung der diesjährigen Big Brother Awards wollten die Teilnehmer ein Zeichen für den Erhalt der Grundrechte auch in Zeiten der verstärkten Terrorismusbekämpfung setzen. Am Rande des Protestzugs durch die Stadt wurden die Passanten satirisch zur freiwilligen Abgabe von Speichelproben aufgefordert und von einer überdimensionalen Kamera „überwacht“. Redner Werner Hülsmann vom Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) for- derte einen Stopp der Pläne, sämtliche Kommunikationsdaten ohne Anfangsverdacht flächendeckend zu speichern. Weitere Temen waren die Ausweitung von Videoüberwachungen im öffentlichen Raum, automatische Kfz-Kennzeichenabgleiche sowie biometrische Verfahren und RFID-Chips in Ausweisen und Pässen. (URL: http://www.heise.de/newsticker/meldung/print/79824, Stand vom 20. Juni 2008)

Souveränität 71 C: Ausnahmezustand

tivitäten eine Infragestellung, Einschränkung und „Bedrohung“ der staats- und wirtschaftspolitischen Interessen lasten. 1 44. Birma September 2007 (*17), Niederschlagung des Mönchsauf- standes durch die Armee und Polizei des Militärregimes. Die Mön- che protestieren gegen das Militärregime, für Demokratie, genü- gend Essen, Kleidung und Obdach, nationale Versöhnung, Freiheit für alle politischen Gefangenen. 45. Berichterstattung aus Birma am 1. Oktober 2007: Tote Mönche treiben im Wasser. Die Militärjunta drängt die Mönche in Birma in den Dschungel oder Internierungslager, Kindersoldaten sollen sogar erste Massaker verüben. Die Mönche treten derweil in den Hungerstreik. (*18)

*17 Nach Angaben von Augenzeugen ignorierten am Dienstag (25. September 2007) rund 30.000 buddhistische Mönche und Zehntausende einfache Bürger den Aufruf der Militärjunta, die Protes- te zu beenden, und marschierten zur Sule-Pagode in der Hafenmetropole. Die Mönche trugen bei ihrem Protestmarsch Flaggen, auf denen unter anderem ein Symbol des pro-demokratischen Auf- standes von 1988 zu sehen war, den das Militär damals gewaltsam niederschlug. Einige Mönche hielten Schilder mit den Aufschriften „Genügend Essen, Kleidung und Obdach, nationale Versöh- nung, Freiheit für alle politischen Gefangenen“. (URL: http://www.focus.de/politik/ausland/bir- ma_aid_133815.html, Stand vom 20. Juni 2008) Die Mönchsproteste mit Zehntausenden Teilnehmern hatten im September ihren Ausgang ge- nommen. Das Regime war mit brutaler Gewalt gegen die Demonstranten vorgegangen. Nach offiziellen Anga- ben starben zehn Menschen, doch gehen Menschenrechtler von viel höheren Opferzahlen aus. Tau- sende kamen in Internierungslager und wurden dort teilweise misshandelt. – Nach der weltweiten Empörung über die Brutalität des Militärregimes hatte die Junta erst am Donnerstag (8. November 2007) ein Gespräch mit der eingesperrten Oppositionsführerin Aung San Suu Kyi inszeniert. Sie wurde dafür aus ihrem Hausarrest in ein Gästehaus der Regierung gefahren. Über den Inhalt gab es keine Angaben. Dissidenten argwöhnen, dass die internationale Gemeinschaft mit solchen Treffen beschwichtigt werden soll und in Wirklichkeit keine substanziellen Gespräche stattfinden.

*18 „Das Militär behandelt die Mönche wie Hunde“, sagt der Sprecher des Vereins Buddha Sasana Ramsi, Aung Pyait Phyo, zu FOCUS Online. „Aber die Demonstrationen gehen weiter – auch wenn die Weltöffentlichkeit immer weniger davon erfährt. Einige Leute treffen sich jetzt heimlich im Dschungel.“ Selbst dort scheinen die Aufständischen jedoch nicht vor der Grausamkeit der Soldaten geschützt zu sein. Der US-Fernsehsender ABC zeigt bereits Bilder von toten Mönchen, die in den Sümpfen treiben. Demnach sollen bereits Dutzende den Protest mit dem Leben bezahlt haben und nun mit dem Gesicht nach unten auf flachem Wasser zwischen hohen Gräsern treiben. Horror-Szenarien mit mehreren Tausend Leichen: Während die burmesische Junta das Land von der Außenwelt abgeschnitten hat, verschärft sich der Konflikt zwischen dem Militär und den Mön- chen. In dem noch zugänglichen Blog „Sone Sea Yar“ werden unter Berufung auf einen namentlich genannten Ex-General Horror-Szenen beschrieben. Der Ex-Geheimdienstler spricht von mehreren Tausend Leichen. „Berichte von anderen Exilanten kurz hinter der Grenze bestätigten, dass Hun- derte von Mönchen plötzlich spurlos verschwanden, nachdem 20 000 Soldaten in Rangun eingefal- len waren“, ergänzt der Blogger. Flüchtlinge berichten demnach von Exekutionen in den Tempeln. Der Chef der militärischen Auf- klärungsabteilung nördlich von Rangun sagte: „Ich entschied mich zu desertieren, als ich den Be- fehl bekam, zwei Klöster zu überfallen und mehrere Hundert Mönche auf Lastwagen zu zwingen. Sie sollten ermordet und ihre Leichen tief im Dschungel verscharrt werden.“ Viele Mönche verhungern: Nachdem sich die Lage durch die Demonstration und erste Todesopfer zugespitzt hat, sind die Geistlichen jetzt in den Hungerstreik getreten. Die Soldaten internieren derzeit laut Augenzeugenberichten die Mönche in ihren eigenen Klöstern oder in Gefängnissen. „Viele Mönche wurden festgenommen und hungern jetzt“, sagt Phyo, der als Exil-Birmane durch seltener werdende Telefonate und Emails Kontakt zu Landsleuten hält.

EMERGENCY EMPIRE 72 Transformation des Ausnahmezustands 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

46. Auch in diesem politischen Konflikt, der die Menschenrechte und Völkerrechte in krasser Weise negiert, benutzt die chinesische Regie- rung erneut ihr Veto, um eine Birma-Resolution zu verhindern (*19) 47. Anfangsverdacht , Gefahr im Verzuge und Kriminalisierung. Die Maßnah- men des Staatsschutzes in Deutschland zur Unterstützung des „welt- weiten Antiterrorkrieges“, bedrohen massiv die Grundrechte. (*20)

Aus Protest gegen das Regime haben die Mönche ihre Essschalen umgedreht – zum Zeichen, dass sie vom Militär keine Nahrung mehr annehmen dürfen. Die tief gläubigen Buddhisten sind jedoch auf Spenden angewiesen, weil es ihnen ihr Glaube verbietet etwas zu nehmen, was ihnen nicht ge- geben wurde: Sie müssen sich von Spenden ernähren. Bislang konnten sie sich auf die Unterstüt- zung der Bevölkerung verlassen. Da die Soldaten nun aber die Mönche unter Arrest gesetzt haben, drohen die Geistlichen zu verhungern. Junta zwingt Kinder zu Soldaten: Dass die Soldaten offenbar so blutrüstig gegen den friedlichen Protest der Mönche vorgehen, dürfte auch mit der Struktur des Militärs zusammenhängen. Die Junta zwingt auch sehr junge Birmanen dazu, Kindersoldaten zu werden. „Diese Jungen werden von der buddhistischen Friedenskultur des Landes schon sehr früh abgeschottet und stattdessen zu knochenharten Militärhandlagern erzogen“, sagt Herbert Rusche von der Deutschen Buddhis- ten Union zu FOCUS Online. Ähnlich wäre es auch beinahe Aung Pyait Phyo vom Verein Buddha Sasana Ramsi ergangen. Nachts stürmten Soldaten immer wieder die Häuser auf der Suche nach Kindern. 2002 floh Phyo als Ju- gendlicher nach Deutschland. Hier versucht er heute, den Menschen in seinem Heimatland beizu- stehen. „Sanktionen treffen nur das Volk, nicht das Regime“, sagt er. „Wir brauchen eine UN-Frie- denstruppe, um das Volk vor dem Militär zu schützen.“ Berrichterstattung FOCUS-Online-Redakteur Fabian Löhe (URL: http://www.focus.de/politik/aus- land/birma_aid_134517.html, Stand vom 20. Juni 2008)

*19 Birmas Mönche wollen derweil zu einem Boykott der Olympischen Spiele in China aufrufen, wenn Peking eine Verurteilung Birmas im Weltsicherheitsrat erneut verhindert. „Wenn die chi- nesische Regierung wieder ihr Veto benutzt um eine Birma-Resolution zu verhindern, rufen wir die Mönche weltweit auf, eine Olympiaboykott-Kampagne zu starten“, zitierte die Exilgruppe „US- Kampagne für Birma“ den Mönch U Gambira am Dienstag. Er gehört der Mönchsvereinigung „All Burma Monks´ Alliance“ an, die im Untergrund agiert und die Massenproteste gegen das Militär- regime Mitte September organisiert hat. Die Junta fahndet nach U Gambira, der nach Angaben der Exilgruppe untergetaucht ist. Die Gruppe zitiert einen anderen Mönch, U Metta Nanda, nach des- sen Angaben Soldaten nach der brutalen Niederschlagung der Demonstrationen vor zwei Wochen in mindestens 37 Klöster eindrangen und 300 bis 500 Mönche ermordeten. Offiziell hat die Junta bislang nur zehn Tote eingeräumt.

*20 Europarat: Videoüberwachung bedroht massiv die Grundrechte URL: http://www.heise.de/newsticker/meldung/print/88216, Stand vom 13. April 2007 Die Europäische Kommission für „Demokratie durch Recht“ des Europarates[1] fordert angesichts der tiefen Verletzungen der Achtung des Privatlebens, der Bewegungsfreiheit und des Datenschut- zes durch die um sich greifende Videoüberwachung öffentlicher Plätze strengere nationale und in- ternationale Regulierungsvorgaben. Der verstärkte Einsatz von Bespitzelungstechniken wie dem „Closed Circuit Television“ (CCTV) durch Strafverfolger oder andere staatliche Behörden „kann eine unabweisbare Bedrohung für die Grundrechte“ darstellen, warnt die so genannte Venedig- Kommission in einer jetzt veröffentlichten Studie[2]. Das Demokratiegremium des weit über die EU hinausreichenden Staatenbundes hat darin die Vereinbarkeit der Videoüberwachung mit gel- tendem internationalen Recht untersucht und die Politik an grundlegende Datenschutzbestim- mungen erinnert. Die Technik für CCTV hat sich laut dem Report in jüngster Zeit „dramatisch verbessert“ und kön- ne teilweise als ausgefeilt gelten. So seien Möglichkeiten zur Nachtsicht, zum Zoomen oder zur automatischen Verfolgung von Objekten Standard. Vorgänge, Details oder Gesichtszüge könnten sichtbar gemacht werden, die dem menschlichen Auge normalerweise verborgen wären. „Intelli- gente Systeme“ seien in der Lage, etwa selbst einen angeklebten Bart als Tarnung zu erkennen, und schlössen eine Stimm- oder Gesichtserkennung ein. Zudem könnten dieselben Bilder auf verschie- denen Monitoren reproduziert, von einem Beobachter gleichzeitig mehrere Orte aus der Ferne kon-

Souveränität 73 C: Ausnahmezustand

48. Rechtssuspendierungen und Verletzung des Datenschutzes im Zuge des G-8-Gipfels in Heiligendamm, 2007. 1 49. Waldbrand-Inferno in Griechenland, 2007. Die Regierung ruft den nationalen Notstand aus. 50. Waldbrand-Inferno in Kalifornien, 2007. Bundesweiter Notstand. 51. ASOG (*21) Das Allgemeine Gesetz zum Schutz der öffentlichen Si- cherheit und Ordnung in Berlin vom 14. April 1992 und vom 10. Februar 2003, auch kurz Berliner Polizeigesetz genannt, welches die Datenerfassung legalisiert, gerät im Herbst 2007 erneut in die Konfliktdebatte um den Datenschutz. Die angestrebte Verschär-

trolliert und die Daten aufgezeichnet werden. Dabei sei jederzeit auch ein Missbrauch der Aufnah- men oder eine Verbreitung über das Internet denkbar. Insgesamt, resümiert die Untersuchung an diesem Punkt, „wachsen die Möglichkeiten für eine durchdringende, unerbittliche Überwachung von Individuen und Plätzen“. Im Prinzip obliege es zwar den nationalen Behörden, über den Einsatz der Videoüberwachung öf- fentlicher Örtlichkeiten zur Verhinderung von Störungen der öffentlichen Ordnung oder von Straf- taten sowie zum Schutz der inneren Sicherheit zu befinden, heißt es in der Analyse weiter. Bei der Feststellung der Erforderlichkeit, der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit dürfte aber letztlich auch etwa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte[3] ein Wörtchen mitreden können. Dieser habe etwa befunden, dass es selbst im öffentlichen Kontext einen Bereich der In- teraktion einer Person mit anderen gebe, der dem Privatleben zuzurechnen sei. Als besonders pro- blematisch habe der Gerichtshof ferner die Aufzeichnung verdeckt gewonnener CCTV-Aufnahmen sowie die Freigabe von Bildern aus der Videoüberwachung zur Veröffentlichung gleichsam zur Vor- führung von Menschen bezeichnet. Allgemein müssen Behörden der Venedig-Kommission zufolge beim Einsatz von CCTV-Systemen zum einen die Bestimmungen des Internationalen Pakts[4] über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen berücksichtigen. Es sei also darauf zu achten, dass die Videoüberwachung „gesetzlich“ abgesichert und nicht „willkürlich“ erfolge. Darüber hinaus seien die Vorgaben aus Arti- kel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention[5] zu beachten: Eine Behörde darf demnach nur einen Eingriff in die Grundrechte vornehmen, soweit dieser „gesetzlich vorgesehen und in einer de- mokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirt- schaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ Absolut unangebracht sei demnach etwa das Anbringen von Kameraaugen in öffentlichen Toilet- ten, um die Einhaltung eines Rauchverbots zu kontrollieren. Eine flächendeckende Videoüberwa- chung sei ebenfalls nicht mit den internationalen Menschenrechtserklärungen in Vereinbarung zu bringen. Generell müsste immer geprüft werden, ob auch nicht weniger tief in die Privatsphäre ein- schneidende Maßnahmen zweckgerecht seien. Die Kommission bringt weiter Basisbestimmungen aus dem europäischen Datenschutzrecht ins Spiel. Demnach dürften zur automatischen Verarbeitung genutzte persönliche Informationen nur in einem klar gesetzlich geregelten Verfahren erhoben, für spezielle legitime Absichten gespeichert und aktuell gehalten werden. Nach einem gewissen Zeitraum zu löschende Daten müssten zudem als solche rasch zu identifizieren sein. Darüber hinaus seien den betroffenen Personen ein Zugang zu den über sie gespeicherten Informationen und Korrekturmöglichkeiten einzuräumen. Letztlich sollten Videoüberwachungsmaßnahmen von einer unabhängigen Datenschutzbehörde kontrolliert werden. Weitere Studien seien nötig, um das automatische Scannen von Kfz-Kennzeichen und Ver- kehrsflüssen durch CCTV sowie den privaten Gebrauch von Videoüberwachungssystemen zu be- rücksichtigen. (Stefan Krempl)

*21 Datenschutz Berlin: ASOG – Berliner Polizeigesetz Vom 14. April 1992 (GVBl. S.119), zuletzt geändert durch Artikel I des Gesetzes vom 10. Februar 2003 (GVBl. S. 67) Official Site. (URL: http://www.datenschutz-berlin.de/recht/bln/rv/sich_o/asog1.htm#absch1, Stand vom 20. Juni 2008) Zweiter Abschnitt: Befugnisse der Ordnungsbehörden und der Polizei Erster Unterabschnitt: Allgemeine und besondere Befugnisse: § 17: Allgemeine Befugnisse, Begriff

EMERGENCY EMPIRE 74 Transformation des Ausnahmezustands 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

fung des Polizeigesetzes erstreckt sich auf Überwachung von Perso- nen per Handyortung durch IMSI-Catcher und Videoüberwachung. Das Ganze dient der Terrorabwehr und auch zunehmend „der Ver- folgung kleinerer Delikte“. (Der Tagesspiegel Berlin, Nr.19708, 26. Oktober 2007) Beispiel für die partielle Suspendierung von Grund- rechten und für Menschenrechtsverletzung. 52. Kriminalisierung der „linken Szene“ und von G-8-Gegnern durch den Datenschutz. Es heißt, dass sich das Berliner Landeskriminalamt ei- nen „dilettantischen Fehler beim Ausspionieren der linken Szene ge- leistet“ hat. Bei einer Durchsuchung einer linken Wohngemeinschaft wurden im Anschluss deren Mitglieder observiert, überwacht und gegen sie ermittelt. Dies geschah unter Ausschluss ihrer Kenntnis- nahme. Der Grund für die Ermittlung war der Fund eines Plakats mit den Porträtfotos von 36 Neonazis. Die LKA wollte mit dieser Unter- nehmung die Rechte der Neonazis am eigenen Bild schützen und die Urheber der Fotos aufdecken. (Der Tagesspiegel Berlin, Nr.19708, 26. Oktober 2007) Beispiel für die partielle Suspendierung von Grundrechten und für Menschenrechtsverletzung. 53. Haftbefehl gegen den Berliner Soziologen Dr. Andrej Holm wegen Verdacht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Das Ermittlungsverfahren der Bundesanwaltschaft wurde gegen ihn und drei weitere Beschuldigte wegen außergewöhnlich hochkons- pirativen Verhaltens geführt. (Der Tagesspiegel Berlin, Nr.19708, 26. Oktober 2007) (*22) Beispiel für die partielle Suspendierung von Grundrechten und für Menschenrechtsverletzung.

der Straftat von erheblicher Bedeutung; § 18: Ermittlungen, Befragungen, Datenerhebungen; § 19: Erhebung von Daten zur Vorbereitung für die Hilfeleistung in Gefahrenfällen; § 20: Vorladung; § 21: Identitätsfeststellung; § 22: Prüfung von Berechtigungsscheinen; § 23: Erkennungsdienstli- che Maßnahmen; § 24: Datenerhebung bei öffentlichen Veranstaltungen und Ansammlungen; § 25: Datenerhebung an gefährdeten Objekten; § 26: Datenerhebung durch Einsatz von Personen, deren Zusammenarbeit mit der Polizei Dritten nicht bekannt ist und durch Einsatz Verdeckter Ermittler; § 27: Polizeiliche Beobachtung; § 28: Datenabfragen, Datenabgleich; § 29: Platzverweisung; Aufent- haltsverbot; § 29a: Wegweisung und Betretungsverbot zum Schutz bei Gewalttaten und Nachstel- lungen; § 30: Gewahrsam; § 31: Richterliche Entscheidung; § 32: Behandlung festgehaltener Perso- nen; § 33: Dauer der Freiheitsentziehung; § 34: Durchsuchung von Personen; § 35: Durchsuchung von Sachen; § 36: Betreten und Durchsuchung von Wohnungen; § 37: Verfahren bei der Durchsu- chung von Wohnungen; § 38: Sicherstellung; § 39: Verwahrung; § 40: Verwertung, Vernichtung; § 41: Herausgabe sichergestellter Sachen oder des Erlöses, Kosten Zweiter Unterabschnitt: Befugnisse für die weitere Datenverarbeitung: § 42: Allgemeine Regeln über die Datenspeicherung, -veränderung und -nutzung; § 43: Besondere Regeln für die Speiche- rung, Veränderung und Nutzung von Daten in Dateien; § 44: Datenübermittlung innerhalb des öf- fentlichen Bereichs; § 45: Datenübermittlung an Personen oder Stellen außerhalb des öffentlichen; § 46: Automatisiertes Abrufverfahren; § 47: Besondere Formen des Datenabgleichs; § 48: Berichti- gung, Löschung und Sperrung von Daten; § 49: Errichtungsanordnung; § 50: Auskunftsrecht; § 51: Anwendung des Berliner Datenschutzgesetzes Vierter Abschnitt: Verordnungen zur Gefahrenabwehr § 55: Ermächtigung; § 56: Inhalt; § 57: Zuwiderhandlungen gegen Verordnungen; § 58: Geltungsdauer

*22 „Der Versuch sich vor Überwachungen staatlicher Behörden zu schützen, gehört leider zur notwendigen Praxis von vielen. In der Vorbereitungszeit zu den Protesten gegen den G-8-Gipfel

Souveränität 75 C: Ausnahmezustand

54. Rom, 1. November 2007, Die Regierung Prodi fordert die Durch- setzung des Gesetzesnotstands. Die Ursache ist ein schweres Ver- 1 brechen, dass durch einen rumänischen Einwanderer an einer Italienerin verübt wurde. Dieser Fall fokussiert auf die Einwande- rungsproblematik in Italien seit dem Beitritt von Rumänien und Bulgarien in die EU. In der Konsequenz von neuen Gesetzesdekre- ten seit dem 1. November 2007 ist von einer sofortigen „Heim- schaffung von EU-Bürgern“ die Rede, welche die „öffentliche Ord- nung, Sicherheit und Gesundheit“ gefährden. 55. Islamabad, 3./4. November 2007, Staatschef Pervez Musharraf ruft den nationalen AZ aus, um seine von mehreren Seiten bedrohte Macht zu retten. Musharraf begründet den AZ mit der Bedrohung „der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ durch islamistische Ex- tremisten im Grenzgebiet zu Afghanistan und mit dem Widerstand der Oppositionspartei Bhutto. Damit ist das Kriegsrecht in Pakis- tan eingeführt. (*23)

in Heiligendamm versuchte auch ich aktiv meine Persönlichkeit zu wahren. Ich dürfte wie Tausen- de andere auch in das Fadenkreuz der Ermittler geraten sein, weil ich mich politisch engagiere in ganz konkreten sozialen Konflikten und für eine veränderte Gesellschaft.“ (Der Tagesspiegel Berlin, Nr.19708, 26. Oktober 2007)

*23 „Massenverhaftungen und Zensur: Sicherheitskräfte haben am Sonntag, den 4. November 2007, in Pakistan 1600 Oppositionspolitiker und Bürgerrechtler festgenommen oder unter Haus- arrest gestellt. Pervez Musharraf, Präsident in Uniform, hatte zuvor die Verfassung außer Kraft gesetzt und den Ausnahmezustand verhängt. Als Begründung führt er eine Rebellion islamisti- scher Fundamentalisten an. Die Übertragung privater und ausländischer Nachrichtensender wur- de gestoppt, die Telefonnetze waren zeitweilig ausser Betrieb.“ (Berliner Zeitung vom 5. November 2007, S. 1) Nach Meldungen der Associated Press sind vor einer Großveranstaltung der pakistanischen Oppo- sition am 9. November 2007 bis zu 5.000 Regierungsgegner in Islamabad festgenommen worden, wie die Partei der Oppositionsführerin Benazir Bhutto mitteilte. Die Polizei habe in der östlichen Provinz Punjab bereits am Mittwoch mit den Festnahmen begonnen und noch bis in die frühen Morgenstunden des Freitags weitere Oppositionelle festgesetzt. Die frühere pakistanische Regierungschefin Benazir Bhutto ist unter Hausarrest gestellt worden. Knapp 200 Polizisten umstellten den Wohnsitz und kontrollierten angrenzende Straßen. Die Stadt Rawalpindi, wo die Opposition nach einem Aufruf von Bhutto am Nachmittag gegen den von Prä- sident Pervez Musharraf erlassenen Ausnahmezustand protestieren will, riegelte die Polizei kom- plett ab. Bhutto wurde von Sicherheitskräften mit gepanzerten Fahrzeugen an der Fahrt nach Ra- walpindi gehindert. „Wir haben versucht, Benazir Bhutto davon zu überzeugen, die Kundgebung abzusagen, aber sie war damit nicht einverstanden“, sagte ein Polizist der Nachrichtenagentur AFP. „Wir hatten keine andere Wahl, als diese Restriktion durchzusetzen“, ergänzte er. Die Partei Bhut- tos, die Pakistanische Volkspartei PPP, kritisierte das Vorgehen. Der Arrest sei die „illegale Verhaf- tung einer demokratischen Führerin“, sagte der PPP-Vorsitzende Anwar Baig vor dem Haus der früheren Regierungschefin. Eisenbahn-Minister Sheikh Rashid begründete den Hausarrest mit „glaubwürdigen Drohungen“, Bhuttos Leben sei in Gefahr. Washington (AP): Trotz der Verhängung des Ausnahmezustands in Pakistan halten die USA zu Staatschef Pervez Musharraf. Er sei ein «unverzichtbarer» Verbündeter der Vereinigten Staaten im Kampf gegen den Terror, sagte der amerikanische Vizeaußenminister John Negroponte am Mitt- woch bei einer Anhörung vor dem Außenpolitischen Ausschuss des Repräsentantenhauses in Wa- shington. Zur Partnerschaft mit Pakistan und dessen Volk gebe es keine Alternative, erklärte er weiter. Zugleich erneuerte er aber auch die Kritik der US-Regierung an der Verhängung des Ausnah- mezustands. «Wir haben dringend davon abgeraten, aber die pakistanische Führung ist unserem Rat nicht gefolgt», sagte der Stellvertreter von Außenministerin Condoleezza Rice. (URL: http:// de.news.yahoo.com/ap, Stand vom 19. Juni 2008)

EMERGENCY EMPIRE 76 Transformation des Ausnahmezustands 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

56. Burma/Myanmar: Nationaler Katastrophenzustand. Am 2. und 3. Mai 2008 sucht der Wirbelsturm „Nargis“ Myanmar heim, früher Burma. Es gelten aktuell rund 133.000 Menschen als tot oder ver- misst. Zehntausende leben in Notunterkünften. Burmas Militärre- gierung ordnet eine ganze Serie skrupelloser Handlungen an. Die Einreise internationaler Helfer und Güter von Hilfsorganisationen wurde wochenlang gestoppt und verweigert. Die Junta vertreibt Zehntausende Sturmopfer aus ihren Notunterkünften. Burmas Ar- mee erschoss Gefangene während des Zyklons. (*24) 57. Burma/Myanmar: Die Militärregierung setzt am 29. Mai 2008 eine neue Verfassung in Kraft. (*25) Die durch den Wirbelsturm „Nar- gis“ schwer geschädigte und unter Schock stehende Bevölkerung wird zur Abstimmung über die neue Verfassung aufgerufen. Die Militärjunta missbraucht die desolate Lage des Landes und der Be- völkerung, um im Namen der Demokratie neue Sondergesetze her- zustellen und die Macht der Militärregierung weiter zu festigen, während sie die Oppositionsführung (Aung San Suu Kyi) weiterhin kalt stellt. Diese Situation kommt einem verdeckten nationalen Aus- nahmezustand gleich. 58. „Schwarzer Montag“. Der 15. September 2008 gilt an der New Yor- ker Wall Street als der zweite „Schwarze Montag“ innerhalb von 20 Jahren. Wie eine Naturkatastrophe bricht die Finanzkatastrophe über die Börse ein, und vernichtet an einem Tag 1,8 Billionen US- Dollar. Der Dow Jones erlitt eine weitaus drastischeren Kollaps als 2001, aufgrund der Ereignisse von 9/11 im Jahr 2001. Der Ausnah- mezustand der Finanzmärkte und der Banken erzwingt eine neue Gesetzeslage. Mit der Zustimmung eines 700 Milliarden US-Dol- lar-Rettungspaketes hat am 3. Oktober 2008 das US-Repräsentan- tenhaus ein neues Gesetz verabschiedet.

*24 Rangun – „Es ist skrupellos von Burmas Generälen, Sturmopfer in ihre zerstörte Heimat zu- rückzuzwingen“, sagte Asien-Direktor Brad Adams von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in Bangkok. „Ohne Obdach, Nahrung und sauberes Wasser ist der Vorschlag der Re- gierung das Gleiche, als wolle sie die Menschen in den Tod schicken und eine noch größere Katas- trophe herbeiführen.“ (URL: Spiegel-Online, http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,556935,00. html, Stand vom 20. Juni 2008) In den vom Zyklon „Nargis“ verwüsteten Gebieten in Burma drohen weitere Todesopfer durch Seu- chen. Durch die Überschwemmungen verbreiten sich Durchfallerreger wie Salmonellen und Esche- richia coli besonders gut, aber auch gefährlichere Krankheiten wie Typhus und Cholera. Wasserauf- bereitung und Abwasserbehandlung sind vielerorts zusammengebrochen. (URL: Spiegel-Online, http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,554951,00.html, Stand vom 20. Juni 2008)

*25 Drei Wochen nach dem verheerenden Wirbelsturm wird das Verfassungsreferendum auch in den Katastrophengebieten nachgeholt. Burmas Regime will einen Persilschein für die kommenden Jahre und zugleich auch die Oppositionsführerin San Suu Kyi endgültig kaltstellen. Hunderttau- sende Zyklonopfer haben am Samstag in Burma über die umstrittene neue Verfassung abgestimmt. Die Militärjunta hatte das Referendum in 47 der am schlimmsten betroffenen Bezirke um zwei Wo- chen verschoben. Im Rest des Landes wurde bereits sieben Tage nach dem Wirbelsturm „Nargis“ gewählt, bei dem nach offiziellen Angaben 78.000 Menschen ums Leben kamen. Wahrscheinlich liegt die Zahl der Todesopfer aber bei etwa 133.000. (URL: Spiegel-Online, http://www.spiegel.de/ politik/ausland/0,1518,555190,00.html, Stand vom 20. Juni 2008)

Souveränität 77 C: Ausnahmezustand

4.4 Transfer (2): Emergency Empire – Der Ausnahme- zustand (ius ad bellum) im Zeichen unterschiedsloser 1 Katastrophen In dieser Arbeit wird die Tese aufgestellt, dass sich die Spezifität des postmodernen Krieges, welcher hier als Emergency Empire definiert ist, mit dem Ende des Kalten Krieges weltweit ausbreitet. Der AZ als terminus technicus eines jeden modernen Krieges erfährt seitdem eine Transforma- tion in einen terminus technicus des postmodernen Krieges. Die nächstfol- genden Ausführungen sollen den postmodernen AZ, der hier als Grund- pattern des Emergency Empire aufgestellt wird, charakterisieren. Das Emergency Empire ist die aktuelle Form und der operationale Modus des postmodernen AZ, der sich durch Replikation, Multiplikati- on, Fraktalisierung und Virtualisierung erzeugt. In Anlehnung an Giorgio Agambens Tese vom AZ als weltweiter Regierungstechnik wurde in dieser Arbeit, aus einer Analyse des modernen AZ heraus, die so genannte Emer- gency-Strategie extrahiert und für das Emergency Empire neu definiert. Es ist die Emergency-Strategie, die hier als weltweite Regierungstechnik im Zeichen von Katastrophen, Terrorismus, Wirtschaftskriegen, supranati- onaler Kriminalität und diffuser Bedrohungen durch Welt-Risiken¹⁹⁷ zur Diskussion gestellt wird und die den aktuellen Emergency-Typ als post- politischen Handlungstyp festlegt. Eine von den USA ausgehende global-korporative Sicherheitspoli- tik initiiert seit dem Millennium einen neuen Kriegsmarkt: die Marke- tingpolitik für den Präventionskrieg gegen den neuen Feind der (US)De- mokratie, den (islamistischen) Terror und Terrorismus, sowie gegen den indifferenten und imaginären Feind aus den geopolitischen Exklaven zer- brochener Staaten. In diesem neuen Kriegstheater des Emergency Empire kulminieren Aneignungsstrategien von Elementen individueller Zustän- digkeit und Bedürftigkeit wie z.B. der Begriffe der Not, des Widerstands, der Freiheit, der inherent rights, und Marketingstrategien zur Aneignung des öffentlichen Raumes (durch Staatsapparate, Unternehmensapparate und weltumspannende Lobbys) in einem Klima supranationaler securita- tiver Doktrinen. Zu beobachten ist eine vertikale und horizontale, eine innen- und außenräumliche Replikation der Emergency-Strategie in Mik- ro- und Nanobereiche hinein. Der postmoderne AZ synchronisiert zwei Paradigmen: ein weltweit aktiviertes Katastrophenparadigma, gekennzeichnet durch die Ununter- schiedenheit von Katastrophen; und ihr Zusammenfallen in einem Kata- strophen-Verständnis und einen neuen Typus des Krieges, der das Ende des modernen flächenstaatlichen Krieges kennzeichnet. Beide Paradig- men stehen im Zeichen der klassischen Euphemismen von (nationaler vs. supranationaler) „Ordnung und Sicherheit“ im Zeichen eines securi- tären Demokratieprojekts, welches als globales Oberflächenprojekt des ¹⁹⁷ ...beispielsweise durch emer- Marketings und Sicherheitsdesigns unter der aktuellen Produktlosung ging countries wie China oder durch emerging markets wie in „Protecting the Homeland!“ unverkennbar seinen weltweiten Feldzug Südosteuropa verursacht. perpetuiert.

EMERGENCY EMPIRE 78 Transformation des Ausnahmezustands 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

Die Katastrophe – ganz gleich welchen Ursprungs –, die nationa- le Sicherheit, Ordnung und Gesundheit entweder antizipativ oder direkt gefährdet, mündet im Emergency Empire in den rechtfreien Raum des nationalen Notstands: der partiellen oder totalen Suspendierung von Gesetzen. Die Unterschiedslosigkeit der Katastrophe betrifft Naturka- tastrophen (Landesbrände, Schneestürme, Hurrikans, Tsunamis, Über- schwemmungen etc.), Wirtschaftskatastrophen, Industriekatastrophen (Reaktorunglücke), Verkehrskatastrophen, Terror, Epidemien, Infektio- nen, Verbrechen extremen Ausmaßes, Klimakatastrophen, Migrations- und Flüchtlingswellen, wie auch militärische Interventionen. Nicht mehr verifizierbar bleibt hier die Ursache der Katastrophe: ob es sich um eine Katastrophe in Folge von Terror handelt oder ob der Terror Folge einer Katastrophe ist. Das macht die sog. Ununterschiedenheit der Katastrophe aus, bzw. ihren Zusammenfall in einem Raum der Anomie. Ausgehend vom Standpunkt der Tese nach Clausen und Jäger, dass alle Katastrophen Kulturkatastrophen¹⁹⁸ sind, nämlich direkt oder indirekt durch Globalisierungs- und Kriegsdynamiken verursacht, ist ein Betroffensein durch Katastrophen weltweit, zu jeder Zeit und an jedem Ort möglich. Der globale Katastrophenraum ist ein produzierter. Auf der einen Seite stehen die Produzenten der Supermächte, die auf der Grund- lage von Medienpolitik, Wissenschaft und Wirtschaft globale Raum-Do- minanz einnehmen. Auf der anderen Seite stehen die Produzenten der Revanchedynamiken, die bei weitem nicht mehr als Revolutions- und Befreiungsdynamiken bezeichnet werden können, freilich im Licht der Weltöffentlichkeit unter dem Synonym der Revolution und Befreiung agieren. Wenn das Marketing der Humanitären Intervention gerade eine gute Medieninvestition ist, wird selbstverständlich auch dieses Argu- ment gern von allen Seiten eingesetzt. In diesen Rahmen gehören die politische und marktwirtschaftli- che Antizipation der Katastrophe, die Konditionierung einer urbanen Katastrophenwahrnehmung sowie die Aufklärung (Spionage) und Prä- vention möglicher Risiken. Potentielle Gefährdungen durch sämtliche Katastrophen, welche die nationale Ordnung, Sicherheit und Gesundheit ansprechen, aktivieren unterschiedslos den gleichen Aufklärungs-, Ver- teidigungs-, Präventions- und Sicherheitsapparat, wie in modernen Staa- tenkriegen üblich, und generieren auf diese Weise wiederum einen gi- gantischen Markt. Neue Aspekte im Emergency Empire sind, außer der Ununterscheidbarkeit von Krieg und Katastrophe in einem Raum der Anomie, die Quantensprünge in der Vermarktung der Katastrophe, die zur Generierung von weltweiten Marktdynamiken führt, zu denen auch Raumfluchten, Exilierungen, Migrationen und Tourismus gehören. Obwohl die postmodernen Kriege bzw. die postmodernen Ausnah- mezustände bei weitem nicht mehr das territoriale Ausmaß an Zerstö- rung und Liquidierung einnehmen, wie es beispielsweise im II. WK der ¹⁹⁸ „Es gibt keine Naturkatas- trophen – nur Kulturkatastro- Fall war, erzeugt das EE eine neue zivile Kondition der Angst und Dau- phen.“, in: Entsetzliche soziale erparanoia, die einer Raubökonomie zu Gute kommt und den allgemei- Prozesse, S. 8

Souveränität 79 C: Ausnahmezustand

nen Zustand einer effektiven Unschützbarkeit von Innenräumen des Ka- pitals¹⁹⁹ und des zivilen Sektors erzeugt. Herfried Münkler nennt dieses 1 Phänomen „die Abwesenheit von Friedensdividenden und die psychopoli- tische Vormacht von Kriegsdividenden. Orientierend für die hier vorliegende Auseinandersetzung mit dem postmodernen AZ und die Definierung des Emergency Empire ist u.a. Lars Clausens Klassifizierung in ABCDEF-Katastrophen, die in einer von ihm durchgeführten katastrophensoziologischen Studie am Institut für Kata- strophenforschung der Universität Kiel veröffentlicht wurde. „Was sind ABCDEF-Gefahren? Dies Merkkürzel erinnert an atomare, biologische, chemische und datenbezogene Gefahren, ferner an Gefahren durch den (nuklearen) elektromagnetischen Impuls und durch die spontane Frei- setzung von mechanischer und thermischer Energie, vulgo durch Aufprall [Detonation] und Brand. Generell gilt für alle diese A- bis F-Gefahren, dass wir seit jeher und merklich wieder seit 1989, unausweichlich in ei- ner Welt leben, in der alle Zwischenformen zwischen (völkerrechtlichem) ‚Krieg’ und ‚Frieden’ möglich sind.“²⁰⁰ Die Gleichsetzung sämtlicher Ka- tastrophengefahren, in der Formel der ABCDEF-Gefahren, mit den Ge- fahren, welche von Revolutionen, Revolten, Terrorismus und Anti-Ter- rorkrieg ausgehen, wie auch mit den sog. Natur- und Klimakatastrophen, wird hier unter zwei Argumentationen als synchrone Phänomene im Emergency Empire zusammengefasst: vom Standpunkt der Katastrophen- soziologie und vom Standpunkt des Katastrophendividende aus. Die Kon- sequenz des Emergency Empire ist ein unterschiedloser anomischer Raum, der die Grundrechte des Bürgers wie auch die Menschenrechte systema- tisch verletzt und sich gleichzeitig apologetisch als Bedingung für eine willkürliche Durchsetzung privater Interessen einsetzt. Seit den Ereignissen von 9/11 wird in der Weltöffentlichkeit von globalem, von transnationalem Terror gesprochen, welcher per definitionem als islamistisch motivierter Terror diskutiert wird, sowie von einer neu- en Weltordnung, die durch den „Dialog“ zwischen al-Qaida-moderier- ten Terrornetzwerken und der internationalen Terrorbekämpfung in der Weltöffentlichkeit produziert wird. Diese neue Weltordnung ist eine Ordnung des weltweiten Emergen- cy als Programm, Produktion und Politik – ein Emergency Empire, das mit der Replikation der Emergency-Strategie operiert. Der Erfolg der Replika- tion von Emergency-Strategien in Mikro- und Nanosphären hinein erklärt sich aus zwei Bastionen des Emergency Empire: der Produktion von Angst als Grundlagenemotion des öffentlichen Raumes und der Wirtschaftsef- fizienz im Geschäft mit der Angst. Beide Aspekte sind die Grundpfeiler einer neuen zivilen Enkulturierung, nämlich der medialisierten Desori- ¹⁹⁹ Vgl. Peter Sloterdijk, Im Wel- entierung als Hyper-Symptom und Hyper-Markt gleichzeitig. tinnenraum des Kapitals, Frank- furt am Main: Suhrkamp 2005 Diese neue Gegenüberstellung von Feind und Feindbekämpfung in ²⁰⁰ Lars Clausen, Reale Gefah- ein und dem selben Produkt, welches seit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ ren und katastrophensoziolo- gische Teorie, in: Entsetzliche in Mode kommt, erzeugt die postmoderne und postpolitische Figur der Glo- soziale Prozesse, S. 53 balisierung. Sie ist parallel an den Ereignissen von 9/11 und dem Zusam-

EMERGENCY EMPIRE 80 Transformation des Ausnahmezustands 4. Te new paradigma (1): Emergency Empire

menbruch des Ostblocks und des Wettrüstens festzumachen, welche den Feindbildwechsel vom kommunistischen zum terroristischen Feind mani- festierten – sowie die neue Kriegsform des Antiterrorkrieges festschreibt. Globalisierung und Antiterrorkrieg sind somit zwei Seiten ein und dessel- ben Programms im postmodernen Projekt des Emergency Empire. Dennoch findet das Projekt des postmoderene AZ, des Emergency Empire, in der fortgesetzten Konnotation eines historischen, bzw. mo- dernen Ausnahmezustands statt, dessen Hauptmerkmal Dezision und Suspendierung gleichermaßen ist und dessen aktuelles Verständnis nur über eine Rezeption der Schmitt’schen Denkfiguren möglich ist. Rechtsverletzung und Gesetzesanomie sind die typischen Kennzei- chen eines modernen, nunmehr auch postmodernen AZ, welche in der klassisch-euphemistischen Direktive für Sicherheit, Ordnung und Gesund- heit der Nation begründet und legalisiert ist. Partielle oder vollständige Suspendierung von Rechten des Grundgesetzes bezeichnen die histori- sche wie die aktuelle Wirkungsmächtigkeit eines latenten, wie auch prä- senten AZ: am Ort (locus) des konstituierten Staates, am Ort einer kons- tituierten Verfassung, wie auch in staatsübergreifenden Gebieten (topos) supranationaler Gemeinschaften und Allianzen, in Abhängigkeit zu ih- ren global agierenden Wirtschaftsmonopolen. Dort, wo sich partiell oder vollständig die Rechtslage ändert, herrscht die Gesetzesanomie, die sich im postmodernen AZ durch Situativität und nicht wahrnehmbare Daten- kontrolle auszeichnet. Dort, wo sich die Form des Krieges ändert, ändert sich nicht nur die Figur des Feindes, sondern das ganze (Kriegs)Teater mitsamt seinen Akteuren und Schauplätzen.

Souveränität 81 C: Ausnahmezustand

5. Emergency-Strategie

1 „Warum soll zum Beispiel der Irak eine Gefahr für die Sicherheit der «zivilisier- ten Welt» genannt werden, während von Nordkorea Raketen abgeschossen werden und sogar der Versuch einer Geiselnah- me von US-Booten gemacht wird und dies als «Regionalkonflikt» bezeichnet wird? Und wenn der Präsident der USA von der Mehrheit der Staaten aufgefordert wurde, seine Kriegsandrohung zurückzunehmen, warum fühlte er sich dieser Ansprache dann so wenig verpflichtet?“²⁰¹ Judith Butler

Intro: Die in dieser Arbeit definierte Emergency Strategie wird zentral in Hin- sicht auf die Produktion und die Politik des Feindes besprochen. Beides benötigt die gleichzeitige Erschaffung einer situativen Legitimität und Legalität der temporären Unternehmung – quasi ein Alibi. Handlungsfähig ist demnach, wer über die Definitionshoheit bei der Generierung von Feindbildern verfügt, denn: der AZ im Zeichen des ²⁰¹ Judith Butler, Gefährde- Feindes setzt die Produktion des Feindes voraus. tes Leben, Politische Essays, „Die Feinde werden meist Terroristen genannt, eine terminolo- Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 156 gische und konzeptionelle Verkürzung, die einer Polizeimentalität ent- ²⁰² Michael Hardt, Antonio Ne- springt.“²⁰² Eine solche Mentalität bewegt sich immer in strategischen gri, Empire, S. 51 Kategorien und Konstellationen, des Lagerdenkens („Achse des Bösen“) – ²⁰³ Constant, eigentlich Con- stant Anton Nieuwenhuys, der willkürlichen Setzung und Konstruktion von (Zweck)Bündnissen und niederländischer Maler und Szenarien der Aversionsaufschaukelung: Muskelspiele im postpolitischen Bildhauer, gründete 1948 mit Asger Jorn in Paris die Künst- strategischen Ausnahmeraum. In einem solchen Szenario sind Kriege fast lergruppe CoBrA und war immer Präventionskriege: Vorkehrungsunternehmungen gegen einen 1957-1959 Mitglied der Inter- nationalen Situationisten. 1956 imaginären großräumlichen Feind oder gegen eine fiktive Ortung. nennt Constant Nieuwenhuys Hierbei ist es unerlässlich, das Myriorama einer zusammenhängen- seinen Entwurf für eine situa- den, wenngleich auch asymmetrischen Katastrophendynamik in Bezug tionistische Stadt „New Baby- lon“ – ein Ort der Massenkre- auf die Untersuchung von Freund-Feind-Konstellationen zu erforschen. ativität, in dem das gesamte Ähnlich wie in Constants futuristischen „New Babylon“- Geweben²⁰³, kulturelle Leben vom Individu- alismus zur Kollektivität umge- verkörpern postmoderne aktuelle Katastrophen – in Szenarien, Akteurs- formt werden sollte. netzen und Schauplätzen – die unübersehbare Logik zwischen „sub“ und

EMERGENCY EMPIRE 82 Transformation des Ausnahmezustands 5. Emergency-Strategie

„off“, „high“ und „low“, marginal und zentral: ein neu definiertes Kriegs- theater mit virtuell vernetzten Infrastrukturen. In Bezug auf die unentbehrliche (politische und ökonomische) Notwendigkeit eines Staatsfeindes, spricht Samuel P. Huntington davon, dass der Zusammenbruch des Ostblocks und der Sowjetunion Probleme für die amerikanische Identität brachten: „die Sowjets beraubten Ame- rika eines Feindes“²⁰⁴ und damit ihrer Abschreckungspolitik gegenüber dem Ostblock. Dass die Fiktion, genauer die fiktionale Erschaffung einer Freund-Feind-Konstellation zum schier unverzichtbaren Kernrepertoire des psychopolitischen Arsenals gehört, diese Orwell’sche Intuition wird durch folgende Analogisierung Huntingtons evident: „Im Jahr 84 vor Christus, nachdem Rom Mithridates, seinen letzten ernstzunehmenden Feind besiegt hatte, fragte Sulla: «Nun, da das Universum keine Feinde mehr für uns bereit hält, wie mag das Schicksal der Republik aussehen?» 1997 fragte der Historiker David Kennedy: «Was wird aus dem Identi- tätsgefühl einer Nation, wenn sie keine Feinde mehr hat und die elektri- sierende Kraft fehlt, die von einer solchen Bedrohung ausgehen kann?» Wenige Jahrzehnte nach Sullas besorgter Frage endete die Römische Re- publik, und die Kaiserzeit begann. Es ist unwahrscheinlich, dass es den Vereinigten Staaten genauso ergehen wird. Doch vierzig Jahre lang war Amerika der Führer der «Freien Welt» im Kampf gegen das «Reich des Bösen». Wie soll sich Amerika definieren, nachdem das Reich des Bösen nicht mehr existiert? Oder wie John Updike es ausgedrückt hat: «Ohne den kalten Krieg, was für einen Sinn hat es da, Amerikaner zu sein?»“²⁰⁵ Das „Wogegen“ bildet den unverzichtbaren Kernbestandteil einer Defini- tion ex negativo bei der dialektisch-antagonistisch konstruierten Identi- tätsbildung postmoderner Kollektive. „«Ob der Feind der deutsche ‚Kai- serismus’ im ersten Weltkrieg war, der japanische Konformismus im Zweiten Weltkrieg oder der kollektivistische Kommunismus der Rus- sen im Kalten Krieg», so David Kennedy, «eine zentrale Komponente der amerikanischen Definition des Feindes hing damit zusammen, dass er die antiindividualistischen Werte verkörperte.» Der Kalte Krieg war der Inbegriff einer ideologischen Gegnerschaft. Die Sowjetunion wurde auf den Aspekt Kommunismus reduziert: Als das Reich des Bösen, das den Kommunismus in der ganzen Welt verbreiten wollte, war sie der perfek- te ideologische Feind für die Amerikaner.“²⁰⁶ Dass den Schöpfern von Rivalitäts- und Feindschaftsszenarien im postmodern zerklüfteten AZ die Aufgabe nicht leichter wurde, weil qua- si kein neuer, mächtiger Feind nach der Selbstauflösung des Sowjetkom- munismus bereitstand, führte in der Folge zu Aufzählungen und Listen- bildungen. Akkumulationen und Schnittmengenbildungen, die in ihrer ²⁰⁴ Samuel P. Huntington, Who Willkürlichkeit gezwungen wirken und die der Willkür des terroristi- are We? Die Krise der ameri- kanischen Identität, Hamburg schen Anschlags scheinbar den eigenen Willkürakt der Konstruktion von und Wien: Europaverlag 2004, Feindkonstellationen entgegensetzen. „Als einziger Staat veröffentlicht S. 329 ²⁰⁵ Samuel P. Huntington, Who Amerika Listen seiner Feinde: terroristische Organisationen (36 standen are We?, S. 329f. 2003 auf der Liste), Staaten, die Terrorismus unterstützten (7 in 2003), ²⁰⁶ ebd., S. 332

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«Schurkenstaaten» (eine eher vage Kategorie von wechselnder Anzahl, im Jahr 2002 umbenannt in «Staaten, die Anlass zur Besorgnis geben») 1 und 2002 dann die «Achse des Bösen» mit Irak, Iran und Nordkorea, vom Außenministerium ergänzt um Kuba, Libyen und Syrien.“²⁰⁷ Dass weiterhin nach dem nächsten großen Feindcharakter ge- forscht wird, erstaunt nach dem bisher Gesagten kaum – auch wenn die entstandenen ökonomischen Verstrickungen ein Sicherheitsnetz aus Ab- hängigkeiten geknüpft haben, die der politisch-ideologischen Direktive Kopfzerbrechen bereiten und zu diplomatischen Gratwanderungen bei Versuchen neuer Grenzziehungen zwingen, die als Orientierungsmarke für imposante Gegnerschaften dienen könnten. „Plausibel als potentieller Feind war China, in der Teorie, wenn auch nicht mehr in der ökonomischen Praxis, nach wie vor ein kommu- nistischer Staat, eindeutig eine Diktatur, die weder politische Freiheit, Demokratie noch Menschenrechte achtet, mit einer dynamischen Wirt- schaft, einer immer selbstbewusster nationalistischen Öffentlichkeit, einem ausgeprägten Gefühl kultureller Überlegenheit und, zumindest bei der militärischen und einigen anderen Teilen der Elite, einem klaren Feindbild: Chinas Feind ist Amerika. Diese Entwicklungen machten China zu einem aufstrebenden Hegemon in Ostasien. Die größten Bedrohungen für Amerika im 20. Jahrhundert entstanden, als seine faschistischen Geg- ner Deutschland und Japan sich in den dreißiger und vierziger Jahren zur Achse zusammenschlossen und als seine kommunistischen Feinde, die Sowjetunion und China, in den fünfziger Jahren zusammenrückten.“²⁰⁸ Das Terrorismus-Szenario – mit seinen metaphorischen Gebilden: Netzwerk, Nest und Keimzelle – ist durch seine transterritoriale Struktur nicht mehr in einfachen schematischen Formeln darstellbar, was für die Schaffung diffuser Angstblasen und Bedrohungsallgegenwärtigkeiten si- cherlich nicht von Schaden ist. Gefordert ist eine neuartige amerikanische Feindexpertise. „Manche Amerikaner sehen in fundamentalistisch islami- schen Gruppen oder allgemeiner im politischen Islam den Feind, verkörpert durch den Irak, Iran, Sudan, Libyen, Afghanistan unter den Taliban und, ab- geschwächt, andere muslimische Staaten, aber auch durch islamische Ter- rorgruppen wie Hamas, Hisbollah, islamischer Dschihad und al-Quaida. Die Anschläge in den neunziger Jahren auf das World Trade Center, die US-Ka- sernen im saudi-arabischen Khobar, die US-Botschaften in Kenia und Tansa- nia und den Zerstörer USS Cole, daneben weitere geplante Angriffe, die ver- eitelt werden konnten, waren ohne Zweifel ein sporadisch geführter Krieg der Nadelstiche gegen die USA. Fünf der sieben Staaten, die Amerika zu denjenigen zählt, die Terrorismus unterstützten, sind muslimische Staaten. Muslimische Staaten und Organisationen bedrohen Israel, das vielen Ameri- kanern als enger Verbündeter gilt. Iran und – bis zum Krieg 2004 – Irak kön- nen die Ölversorgung Amerikas und der Welt gefährden. Pakistan hat seit den neunziger Jahren Atomwaffen, und wiederholt wurde gemeldet, Iran, ²⁰⁷ ebd., S. 334 ²⁰⁸ ebd. Irak, Libyen und Saudi-Arabien verfügen über das Material für den Bau von ²⁰⁹ ebd., S. 334f. Nuklearwaffen sowie über entsprechende Pläne und/oder Programme.“²⁰⁹

EMERGENCY EMPIRE 84 Transformation des Ausnahmezustands 5. Emergency-Strategie

Schon sieht Huntington die Bedingungen erfüllt, welche seine be- rühmte Proklamation vom „Kampf der Kulturen“ zur (traurigen) Wirklich- keit werden lassen – die Zeichen der Zeit, die ihn endgültig als Propheten der neuen Weltpolitik ausweisen, sind ihm zufolge nun offensichtlich: „Die kulturelle Kluft zwischen der islamischen Religion und dem christlichen, anglo-protestantischen Glauben Amerikas verstärkt das Feindbild Islam noch. Und am 11. September 2001 machte Osama bin Laden Amerikas Su- che nach einem Feind (endlich) ein Ende. Seit den Angriffen auf New York und Washington und den anschließenden Kriegen in Afghanistan und dem Irak und dem eher vagen «Krieg gegen den Terrorismus» ist der militante Islam Amerikas Staatsfeind Nummer 1 im 21. Jahrhundert.“²¹⁰

5.1 Enthegung des Krieges: Vom regulären zum irregulären Krieg Carl Schmitts Begriff von der Hegung des Krieges²¹¹ setzt den Begriff des Krieges voraus, der nach Schmitt die konkrete Erscheinungsform der Feindschaft ist und im Begriff des Politischen seinen Ausgangspunkt hat: in der Unterscheidung nämlich von Freund und Feind. Die Hegung des Krieges ist völkerrechtlich verankert und bezieht sich auf ein konkre- tes Völkerrechtssubjekt, den Staat, mit dem Ziel, den Status eines Staa- tes innerhalb von Grenzen und seiner planetarischen²¹² Position zu sank- tionieren. „Die Hegung und klare Begrenzung des Krieges enthält eine Relativierung der Feindschaft. Jede solche Relativierung ist ein großer Fortschritt im Sinne der Humanität. Freilich ist es nicht leicht, ihn zu be- wirken, denn es fällt den Menschen schwer, ihren Feind nicht für einen Verbrecher zu halten.“²¹³ Im selben Maße, wie eine so genannte Hegung einen humanitären Forschritt darstellt, stellt Carl Schmitt ihre Praktika- bilität in Frage. Diese Problematik steht im Zentrum der Verhandlungen von Legitimität und Legalität und der Frage nach dem Entscheidungs- recht über Legalität und Legitimität. Einen Sonderstatus erhält in diesem Zusammenhang die Figur des Partisans, sowohl in der Genfer Konvention, wie auch im humanitären Völkerrecht. Da der Partisan generell als nicht erkennbarer Kombattant, aber auch als Nicht-Zivilist im Gefecht steht, befindet er sich außerhalb dieser Verordnungen und somit auch außerhalb der Hegung des Krieges. Ein auffälliges Indiz in diesem Zusammenhang ist die Umstrittenheit, ob ein Partisan im Fall seiner Gefangennahme als Kriegsgefangener an- erkannt wird oder als Kriegsverbrecher gilt. Wie auch schon an anderer Stelle erwähnt, ist es eben gerade jenes Streben nach Belligerenz, die An- erkennung als kriegsführende Partei, die einer Revolutionsarmee ihre politische Identität bestätigt. ²¹⁰ ebd., S. 335 Dass gerade die Revolutionsarmee/Guerilla stets und immer wieder ²¹¹ Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 11 in den Status des Verbrechens versetzt wird, macht in zunehmendem Maße ²¹² Begriff des Planetarischen eine völkerrechtliche Identität des Revolutionärs/Partisans schwierig, und bei Carl Schmitt, Die Wendung, S. 41 umso mehr die Unterscheidung zwischen dem modernen Revolutionstyp ²¹³ Carl Schmitt, Der Begriff, des Partisans und dem post-partisanischen Kriegstyp des Terroristen. S. 11

Souveränität 85 C: Ausnahmezustand

Somit ist der Partisan seit jeher auf der Schwelle der Einordnung zwischen politischer Legitimität und Legalität und potentieller Gefähr- 1 dung einer staatlich-völkerrechtlichen Hegung des Krieges. In Konse- quenz dessen tendiert die Figur des Partisans, aufgrund ihrer Krimina- lisierung, zum potentiellen Akteur einer Enthegung des Krieges. Während Carl Schmitt selbst für den Partisanen und den Guerillero die politischen Grundlagen, respektive die politische Legalität seiner Handlungen fest- gelegt hat und eben diesen Akteur in den Stand des modernen Krieges er- hoben hat, soll hier ein post-partisanischer Kriegs- und Feindtyp, der vorerst noch Terrorrist genannt wird, bestimmt werden. Fest steht, dass bereits der partisanische Kriegstyp von seiner Strategie her in Schmitts „Teorie des Partisanen“²¹⁴ als irregulär verifiziert wurde und so den Stand einer „Doktrin des psychologischen Krieges“²¹⁵ einnimmt. Mit der Klärung des Partisanen als „absoluten Feind“²¹⁶ wird die Aufstellung des modernen Kriegstheaters²¹⁷ komplett, nämlich zwischen den regulären Armeen – hinzugenommen die irreguläre Armeen, die Revolutionsarmeen und ihre Parteien. „Mit der Absolutsetzung der Partei war auch der Partisan abso- lut geworden und zum Träger einer absoluten Feindschaft erhoben.“²¹⁸ Wenngleich nunmehr die Legalität einer Revolutionsarmee nicht mehr in Frage gestellt ist, so doch unumwunden ihre Legitimität. Schmitt argumentiert für eine legale Kriegshandlung, wie folgt: „Die legale Re- gierung entscheidet darüber, wer der Feind ist, gegen den die Armee zu kämpfen hat. Wer für sich in Anspruch nimmt, den Feind zu bestimmen, nimmt eine eigene, neue Legalität in Anspruch, wenn er sich der Feindbe- stimmung der bisherigen legalen Regierung nicht fügen will.“²¹⁹ Die Le- gitimität des Partisans steht unterdessen auf dem Spiel, weil er „die gro- ße Bühne der offiziellen Öffentlichkeit aus den Angeln“²²⁰ hebt und das „Dunkel in einen Kampfraum verwandelt“²²¹, das heißt, weil der Partisan die äußere Symbolwelt (Heraldik) und Teaterwelt (Schauplatz) des regu- lären Krieges verlässt. Dazu gibt Schmitt zu bedenken: „Wir haben daran erinnert, dass der Partisan einer Legitimierung bedarf, wenn er sich in der Sphäre des Politischen halten und nicht einfach ins Kriminelle absin- ken will.“²²² Das Absinken des Partisanen im Gesetz des Staates ist eben genau jenes Absinken, gegen die eine Revolutionsarmee erbittert kämpft, wenn sie sich für ihre Anerkennung als kriegführende Partei stark macht. ²¹⁴ Carl Schmitt, Teorie des Partisanen. Zwischenbemer- Während die Legitimität der Revolutionsarmee, des Partisanen, zwar kung zum Begriff des Politischen, nicht das Duell, so doch den Dialog mit der legalen Regierung in irgend- Berlin: Duncker & Humblot 1963, S. 84 einer Weise voraussetzt, wird eben diese Legitimität von einem post-par- ²¹⁵ Carl Schmitt, Teorie des tisanischen Kriegstyp – einem terroristischen Akteur oder Akteursnetz – Partisanen, S. 84 ²¹⁶ ebd., S. 94 weder vorausgesetzt noch beansprucht. Diese politische Anspruchslosig- ²¹⁷ Carl von Clausewitz, Vom keit versetzt den post-partisanischen Kriegstyp ad hoc in einen post-poli- Kriege, S. 398 tischen Status. Nach der Schmitt’schen Argumentation und aus der Per- ²¹⁸ Carl Schmitt, Teorie des Partisanen, S. 94 spektive einer legalen (Staats)Regierung vollzieht sich der Kampf dieses ²¹⁹ ebd., S. 87 Kriegstyps von vornherein und per se im Kriminellen. Da hier im Vor- ²²⁰ ebd., S. 84f. ²²¹ ebd., S. 84 feld weder Duelle klassisch-modernen Typs (Flächenstaaten), noch Dia- ²²² ebd., S. 85 loge, allerhöchstens Ultimaten eingefordert werden, und ansonsten die

EMERGENCY EMPIRE 86 Transformation des Ausnahmezustands 5. Emergency-Strategie

Kriegstaktik jeder Nachvollziehbarkeit entbehrt, liegt hier im Höchst- maß der Prototyp einer Enthegung des Krieges vor. Für eine Emergency-Strategie, die an die Untersuchung des Teo- rems von Enthegung des Krieges anknüpft, sind folgende Umkehrver- hältnisse konstituierend: Umkehrverhältnis 1 – der post-partisanische Kriegstyp schafft eine Umkehrung zum legalen und legitimen Krieg und zu dem Zugriff auf die mit dem modernen Krieg entworfenen Schlachten- und Freundschaftslinien. Das berühmt-berüchtigte beyond the line ist jetzt vice versa der Großraum der etablierten Legitimität des Politi- schen und zugleich piratisches Großmeer. Umkehrverhältnis 2 – Umkehrung von Symbolik. Der Akteur tritt so- wohl als Teil einer ihn bekämpfenden Armee auf (Anti-Terror-Ein- heit) als auch als Zivilist (Nichtkombattant), Lobbyist, Privatier, Po- litiker, Unternehmer. Damit streut er sein Potential bei gleichzeitiger Unkenntlichkeit und schafft eine imaginäre Kommunikationsvirulenz. Umkehrverhältnis 3 – Regierungen eignen sich Strategien des post- partisanischen Kriegstyps an und gehen somit – innerhalb ihrer eige- nen Rechts- und Raumordnung – quasi als singuläre Subjekte vor. Umkehrverhältnis 4 – Im selben Maße wie der Akteur des post-parti- sanischen Kriegstyps seine tellurische Zuordnung verliert, hebt sich sein Rechtssubjekt und zugleich sein politisches Subjekt auf. Es ist weder gewiss, ob für Staaten, Parteien, Organisationen oder im pri- vaten Interesse gehandelt wird, ob von nationalen Territorien oder Stützpunkten ausgegangen wird, oder ob im nationalen Interesse „fremde“ Organisationen gekauft werden (dies bezieht sich auf den Aufbau der al-Qaida durch die USA), oder schließlich ob einem pri- vaten Krieg eine Parteigründung oder Staatsgründung folgen wird.

„Der Partisan, der für die klassische Kriegsführung ein bloßer ‚Ir- regulärer’ war, eine bloße Randfigur, ist inzwischen, wenn nicht zu einer zentralen, so doch zu einer Schlüsselfigur der weltrevolutionären Kriegs- führung geworden.“²²³ Während laut Schmitt Clausewitz zwar den Kriegsbegriff erweitert habe, jedoch gedanklich im Rahmen der Staatlichkeit verblieben sei, sei es Lenin gelungen, den Krieg seiner Fesselung durch zwischenstaatliche Hegung teilweise zu entziehen, indem er den konventionellen zum revo- lutionären Kriegsbegriff fortentwickelte. Für Lenin stellte sich der Krieg eben nicht mehr als Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Staa- ten im Rahmen des klassischen Völkerrechts dar, sondern als der „revo- lutionäre Parteien-Krieg des internationalen Klassenkampfes“. Schmitt impliziert an dieser Stelle recht eindeutig, dass Lenin den zwischenstaat- lichen Krieg in sein politisches Instrumentarium aufgenommen habe, da er in ihm einen geeigneten Boden für sich entwickelnde Revolutionen sah. Lenin war nach Schmitt daher auch der erste, der den Partisanen ²²³ Carl Schmitt, Der Begriff, als eine wichtige Figur des internationalen Bürgerkriegs begriff und da- S. 18

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her für seine Zwecke zu instrumentalisieren suchte. Lenin verwirklichte laut Schmitt „Das Bündnis der Philosophie mit dem Partisanen“, indem 1 er das Kennzeichen der „Irregularität“ von seinem ursprünglichen Inhalt als modus vivendi der Kriegführung hin zur prinzipiellen Infragestellung bestehender gesellschaftlicher Ordnung erweiterte. Mit der (Teil)Legiti- mierung des Partisanen als völkerrechtlicher Kriegspartner „wurde der Krieg zum absoluten Krieg und der Partisan wurde zum Träger der abso- luten Feindschaft gegen einen absoluten Feind.“²²⁴. Enthegung des Krieges bedeutet in letzter Konsequenz die Aufhe- bung und die Umkehrung des Völkerrechtssubjekts, des Staates, zu ei- nem enthegten und irregulären Subjekt im Spiegel von Weltrevolution und Weltbürgerkrieg.

5.2 Entnationalisierung des Krieges: Der diskriminierende Kriegsbegriff

„Eine weitere verhängnisvolle Wirkung der «Entnationalisierung» des Krieges und der Einführung eines diskriminierenden Kriegsbegriffs sei in diesem Zusammen- hang wenigstens angedeutet: die Auf- spaltung der bisherigen völkerrechtlichen Voraussetzungen einer inneren, geschlos- senen Einheit des staatlich organisierten Volkes.“²²⁵ Carl Schmitt

Ein Terminus wie „Kriegswirren“ dient uns als Plausibilitätsformel für ein weiteres Phänomen, das die Freund-Feind-Markierung erschwert. Carl Schmitt, der nach dem Krieg als einer Auseinandersetzungsform such- te, die mit klaren Absprachen und Zuteilungen, sauberen Trennungen ²²⁴ Carl Schmitt, Teorie des der Lager bzw. Kombattanten, den Notwendigkeiten entsprechen sollte, Partisanen, S. 91 die er selbst für unabdingbare Voraussetzungen herausgearbeitet hatte, ²²⁵ Carl Schmitt, Die Wendung, S. 45 wusste nur zu gut, dass ein Kriegsgeschehen seine Ausartung schon im- ²²⁶ Schmitt verweist an dieser mer impliziert, Lager sich neu formieren, Abspaltungen und neue Kon- Stelle auf Clausewitz’ Werk junktionen entstehen. Alle Gefährdungen für seine Modelle, die den krie- „Vom Kriege“ und zitiert hie- raus: „Der Krieg ist nichts als gerischen Akt gern als Operation konstituieren würden – wissend, dass eine Fortsetzung des politi- sein Wesen eher Eskalation ist. „Der militärische Kampf selbst ist, für sich schen Verkehrs mit Einmi- schung anderer Mittel.“ Siehe: betrachtet, nicht die «Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«²²⁶, Carl Schmitt, Der Begriff, S. 34 wie das berühmte Wort von Clausewitz meistens unrichtig zitiert wird,

EMERGENCY EMPIRE 88 Transformation des Ausnahmezustands 5. Emergency-Strategie

sondern hat, als Krieg, seine eigenen, strategischen, taktischen und an- deren Regeln und Gesichtspunkte, die aber sämtlich voraussetzen, dass die politische Entscheidung, wer der Feind ist, bereits vorliegt. Im Kriege treten sich die Gegner meistens offen als solche entgegen, normalerwei- se sogar durch eine «Uniform» gekennzeichnet, und die Unterscheidung von Freund und Feind ist deshalb kein politisches Problem mehr, das der kämpfende Soldat zu lösen hätte.“²²⁷ Nichtsdestotrotz bemühen sich seine Adepten um die klare Unter- scheidbarkeit: vor allem im Fall des weltweiten Antiterrorkrieges seit 2001 wird der diskriminierende Kriegsbegriff, wie bei Carl Schmitt definiert, par excellence angewendet. Die Achse des Guten ist immer offen für Neuzugän- ge, und forciert somit eine Internationalisierung des Krieges, bei gleich- zeitiger Fokussierung des Krieges auf möglichst entfernte Brennpunkte, die der anderen Achse zugehören. „Wenn mit überstaatlichem Geltungsan- spruch Sanktionen oder Strafmaßnahmen vorgenommen werden, so führt die «Entnationalisierung» des Krieges daher gewöhnlich auch zu einer Un- terscheidung innerhalb von Staat und Volk, in deren geschlossene Einheit von außen eine diskriminierende Aufspaltung dadurch eingeführt wird, dass sich die internationalen Zwangsmaßnahmen, wenigstens dem Vorge- ben nach, nicht gegen das Volk, sondern nur gegen die jeweils regierenden Personen und deren Gefolgschaft richten, diese aber eben dadurch aufhö- ren, ihren Staat oder ihr Volk zu repräsentieren.“²²⁸ So war der Irakkrieg zu verstehen als eine Maßnahme zur Befrei- ung des irakischen Volkes von seinem Tyrannen – wenngleich auch mit einem imaginierten Mandat. Ein technischer Versuch, diesen neuen An- sprüchen Rechnung zu tragen, ist die Entwicklung von zielgenauen, lenk- fähigen Präzisionsgeschossen, die nur treffen, was sie treffen sollen. Die- se Propagierung des Krieges als einer quasi septischen Operation, die das Geschwür entfernt, welches den heilen (Volks)Körper bedroht, gerät da- bei in eine Friktion mit dem „war against terrorism“, wo der Attentäter auch dein Untermieter sein könnte. Schmitt, der die Wortneuschöpfung des Schurkenstaates nicht mehr miterleben durfte, spricht an einer sig- nifikanten Stelle vom „Räuberstaat“: „Der Begriff der Piraterie wirft die Frage von der universalistischen und ökumenischen Seite auf. Es gehört bekanntlich zum Begriff des Piraten, dass er «entnationalisiert» ist und auch von dem Staat, dem er etwa angehört, fallen gelassen wird. Dadurch entsteht eine praktisch wichtige und sehr ausdehnungsfähige Einbruch- stelle überstaatlich-universalistischer Begriffsbildungen, die es ermögli- chen, ganze Staaten und Völker als Piraten zu behandeln und den seit ei- nem Jahrhundert unpraktisch gewordenen Begriff des «Räuberstaates» auf einer Ebene gesteigerter Intensität von neuem zu beschwören.“²²⁹ Diese Oszillation zwischen Verbrecher und Feind, zwischen Angriff und Attentat, zwischen Krieg und krimineller Handlung, zwischen Sichtba- rem und Unsichtbarem, zwischen Tatakten und Medienakten, zwischen ²²⁷ ebd. ²²⁸ Carl Schmitt, Die Wendung, Argumenten und Virtualitäten, ist eine typische Referenz für den Über- S. 45f. gang in eine postmoderne, -staatliche, -souveräne und auch -politische ²²⁹ ebd., S. 46

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weltweite Macht- und Führungssprache, die Carl Schmitt im diskriminie- renden Kriegsbegriff angelegt hat. 1 Der moderne Begriff „Staatsterrorismus“ wird für staatliche oder von staatlicher Seite geförderte Gewaltakte gebraucht, welche die jeweils zur Anwendung kommenden Kriterien für Terrorismus erfüllen. Da letz- tere nicht einheitlich sind, existiert auch keine allgemein anerkannte De- finition von Staatsterrorismus. Vielmehr wird die Bezeichnung zumeist als Kampfbegriff gebraucht. Sie bezieht sich insofern beispielsweise auf militärische Aktionen mit zivilen Opfern, Menschenrechtsverletzungen in Diktaturen oder auch auf die Anwendung von Methoden herkömmli- cher terroristischer Organisationen (etwa Sprengstoffanschläge, Ermor- dungen, Entführungen) durch Geheimdienste oder in staatlichem Auf- trag handelnde paramilitärische Gruppen. Was mit Carl Schmitts Begriff von der „Wendung zum diskriminie- renden Kriegsbegriff“ eingeleitet wurde, ist heute im Jahre 2008 eine Tatsache, die Martin van Creveld wie folgt benennt: „300 Jahre lang war der Begriff des Krieges untrennbar mit dem Begriff des Staates verbun- den. Dies galt zunächst in Europa, dann auch in anderen Teilen der Welt, doch offensichtlich geht diese Phase heute zu Ende. Angesichts der Ent- wicklungen der letzten 50 Jahre kann man davon ausgehen, dass der Krieg der Zukunft das sein wird, was man heute – wie vage auch immer – als Terrorismus bezeichnet.“²³⁰ Im Emergency Empire sind wir mit einem postmodernen Typ von ²³⁰ Martin van Crefeld, Dunkle Vorschau im Kristall. Historische Krieg und Feind konfrontiert, der die Kriterien enthegt, entnationali- Überlegungen zu den Kriegen, die siert und entlegitimiert für sich beansprucht. Es handelt sich um tota- kommen, in: Lettre Internatio- nal, Nr. 12 (Winter 2002), S. 12 le Umkehrungen bisher gültiger völkerrechtlicher, souveräner, staatlicher ²³¹ Martin van Crefeld, Dunkle Akte: was geschlossen war, der Flächenstaat, ist aufgebrochen. Was außen Vorschau, S. 18 ²³² Der Begriff der asymmetri- war, der ausgelagerte Krieg, ist innen. Obwohl Carl Schmitt diese Ten- schen Kriegführung wurde zum denz der Enthegung, der Entpolitisierung und der Entnationalisierung ersten Mal in den Medien (in klar und deutlich benannt hat, gleichzeitig auch davor warnte, konnte er Militärkreisen bereits in den 1960er Jahren) im Zusammen- den historischen Veränderungen nicht zustimmen: „Doch stellt das alles hang mit der NATO-Operati- den regulären Staatenkrieg als klassisches Modell nicht in Frage.“²³¹ on Allied Force und der Krieg- führung der Jugoslawischen Volksarmee im Jahr 1999 ver- 5.3 Entlegitimierung des Krieges: wendet. Nach dem Krieg wurde festgestellt, dass die Luftan- Asymmetrische Kriegsführung griffe der NATO ohne Wirkung Der Begriff der asymmetrischen Kriegführung²³² kam in Umlauf, als sich blieben und dass die Jugoslawi- nach dem Ende des Kalten Krieges das moderne symmetrische Kriegsthe- sche Volksarmee ungehindert gegen die UÇK (Kosovarische ater auflöste und sich von da an für Staaten und zwischen den Staaten Befreiungsarmee) Krieg führen neue Bedrohungsszenarien im Wesentlichen durch ein Remake der Strate- konnte. Grund dafür war das Konzept der Verteilung, Tar- gien des Partisanenkampfes und der Guerillabewegung im internationalen nung, Deckung und des über- Terrorismus figurierten. Seit dieser Wende vom modernen zum postmo- raschenden direkten Angriffs dernen Krieg werden sowohl die Taktiken und Gewaltanwendungen des beim Auftauchen des Gegners unter Ausnutzung der Gelän- „neuen“, weil post-partisanischen Terrorismus, wie auch die hegemoniale dekenntnisse durch die Jugos- Position der USA als einzig verbliebener Supermacht mit der Bildung des lawische Armee., in: Wikipedia, Asymmetrische Kriegsführung, Begriffes asymmetrische Kriegführung erfasst. In Bezug auf Letzteres be- Stand vom 23. August 2008 deutet asymmetrisch vielmehr die militärische, wirtschaftliche und wissen-

EMERGENCY EMPIRE 90 Transformation des Ausnahmezustands 5. Emergency-Strategie

schaftliche Überlegenheit des gesamten US-Regierungssystems weltweit, während sich das Asymmetrische im Terrorismus, wie auch im Low-In- tensity-War, auf eine Strategie und Taktik bezieht, die aus einer kolossa- len militärischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Unterlegenheit gegenüber der Supermacht heraus operiert. In diesem Sinn erscheint der Terrorismus mit der Partisanenkriegsführung nur in einem Punkt eine Gemeinsamkeit aufzuweisen, nämlich in ihrer typisch-irregulären Kampf- strategie, die, seit ihren Anfängen in der spanischen Guerilla gegen die na- poleonische Besatzung, das reguläre Kriegstheater unterwandert, da die Revolutionsarmee in einer offenen Schlacht unterlegen wäre. „Die Ablösung des Partisanenkrieges durch den Terrorismus ist mehr als eine operative Innovation auf Seiten derer, die sich keine mili- tärische Hochtechnologie leisten und keine komplexen Militärapparate unterhalten können: Partisanenkrieg ist eine wesentlich defensive, Terro- rismus hingegen im Kern offensive Strategie.“²³³ Die moderne Hauptfigur des klassisch-asymmetrischen Krieges ist auf der einen Seite der Parti- san. Während Carl Schmitt dem Partisanen vier Eigenschaften zukom- men lässt, nämlich Irregularität, gesteigerte Mobilität, Intensität und tellurischen Charakter, unterscheidet sich der post-partisanische Kriegs- typ im Begriff des Terroristen schließlich in allen vier Eigenschaften. „Terroristen haben sich dagegen weitgehend vom Raum gelöst, indem sie Gewaltanwendung und Logistik in die letzten Endes unkontrollierbaren Ströme der modernen Gesellschaften einlagern. Sie haben sich entterri- torialisiert und sind in den sozialen Raum der globalisierten Welt diffun- diert.“²³⁴ In Herfried Münklers Analysen wird die terroristische Kriegs- führung eine Kriegsform mit Zukunft sein, die in zunehmendem Maß das 21. Jahrhundert bestimmen wird, in denen neue Formen transnati- onalen Agierens und entterritorialer Politik zunehmend auftreten und zu gezielter Asymmetrisierung führen werden. Wenn nach Schmitt genau diese vier o.g. Eigenschaften die Legiti- mität des Partisans (aus der Perspektive des Regulären) verunmöglichen, so sind die fortgesetzten Eigenschaften des post-partisanischen Kriegstyps ²³³ Herfried Münkler, Der Wan- ganz gewiss jenseits jeglicher Legitimität. Der asymmetrische Krieg und der del des Krieges. Von der Symmet- innenräumliche Krieg²³⁵ sind die signifikanten Merkmale des postmodernen rie zur Asymmetrie, Weilerswist: Krieges! Asymmetrisch-innenräumliche Kriegsführungstechniken in Form Velbrück Wissenschaft 2006, S. 221 von militär-politischen und psycho-politischen Operationen, charakterisie- ²³⁴ Herfried Münkler, Der Wan- ren auf der einen Seite, nämlich auf der Seite des Terrorismus und des Low- del des Krieges, S. 222 ²³⁵ „Diese Notwendigkeit inner- Intensity-War, die Emergency-Stratgie im Emergency Empire. Dies verweist staatlicher Befriedung führt in generell auf eine Asymmetrie verschiedener Emergency-Strategien. kritischen Situationen dazu, dass der Staat als politische Während nach Münkler die Strategie des Terrorismus „wenn sie Einheit von sich aus, solange voll zum Tragen kommt, eine überaus ernstzunehmende Herausforde- er besteht, auch den inneren rung der auf diese Weise angegriffenen Gesellschaften“²³⁶ darstellt, so Feind bestimmt“(Carl Schmitt, Der Begriff, S. 46), die „inner- muss von den Konsequenzen einer RMA (Revolution of Military Affaires) staatliche Feinderklärung“ auf ähnliche Weise gesprochen werden. Die Arbeit wird an dieser Stelle (ebd., S. 47) ist „das Zeichen des Bürgerkrieges“ (ebd., S. 47). bestimmt keine Antwort in Bezug auf die Fragen nach den Ursachen des ²³⁶ Herfried Münkler, Der Wan- modernen und aktuell-postmodernen Terrors geben, doch sollte es nicht del des Krieges, S. 227

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versäumt werden zu klären, dass der Terror und der Antiterror gleicher- maßen Emergency-Stratgien in einem Asymmetrischen Krieg sind, näm- 1 lich Strategien die zweifellos lokale und globale Emergencies verursachen. Eine komparative Betrachtung von Emergency-Strategien ist von daher ohne die analoge Bewertung der RMA (Revolution of Military Affaires), der Strategie und Taktik des so genannten anderen Lagers, des „demokrati- schen Lagers“ und Homeland-Lagers, undenkbar. Wenn der Terrorismus, am Beispiel des Attentats von 9/11 bahn- brechende Folgen hatte, dann sind es die Folgen einer weltweiten RMA, welche die Welt allein im Jahr 2007 858 Milliarden Euro an Ausgaben ge- kostet hat. Diese Ausgaben stehen in keinerlei Verhältnis zum Argument des Attentats von 9/11, wenn alleine nur die Stellvertreterkriege der USA zu Zeiten des Kalten Krieges in Betracht gezogen werden. Doch wesent- lich scheint alleine der so genannte Fortschritt zu sein und zu bleiben. “Militärtheoretiker auf der ganzen Welt haben seit Langem die his- torischen Diskontinuitäten in der Kriegsführung bemerkt, welche durch die Einführung neuer Technologien und Waffensysteme herbeigeführt wurden. Die Sowjets nannten diese Diskontinuitäten «militärisch-tech- nische Revolutionen», die Analytiker in den USA begannen, sie RMA’s zu nennen. Dieser Wandel in der Terminologie sollte sich auch auf die nicht-technischen Dimensionen militärischer Organisationen und Ope- rationen beziehen, deren Gesamtsumme einen großen Teil der allumfas- senden militärischen Einsatzmöglichkeiten ausmachen.” „Military theorists around the world have long noted the historical discontinuities in the conduct of warfare caused by the advent of new technologies and weapon systems. Te Soviets called these discontinuities „mili- tary-technical revolutions.“ Recently, analysts in the United States have started calling them RMAs. Tis change in terminology was meant to capture the nontechnical dimensions of military organi- zations and operations, the sum of which provide a large part of overall military capabilities.“²³⁷

Hier definiert sich das Asymmetrische weitaus progressiver und aggressiver als in irgend einer terroristischen Bedrohung, bei der es sich, wie Noam Chomsky sich ausdrückt, „um eine rein theoretische Gefahr“²³⁸ handelt. Die hypothetischen Fakten behaupten, dass auf der einen Sei- te der Irak Massenvernichtungswaffen und terroristische Organisatio- nen produziert und dass auf der anderen Seite im Weißen Haus eine de- mokratische Vision produziert und auf globale Proportionen patentiert wird. Eine höchst zwingende und asymmetrische Konklusion in dieser hypothetischen Ordnung präsentiert die Invasion im Irak. „Weder sind asymmetrische Bedrohungen neu, noch das Interesse der Strategen, sich mit diesen zu befassen. In jeder Ära, von der vormodernen bis hin zum heutigen Tag benutzen schwächere Kräfte Elemente der Überraschung, Technologien, innovative Taktiken oder das, was man gemeinhin als die ²³⁷ Jeffrey McKitrick, James Blackwell (u.a.), Te Revolution Verletzung militärischer Etikette bezeichnen würde, um die Stärkeren in Military Affairs, [o.S.] herauszufordern. Der 1991 geführte Krieg im Irak und der ihm folgende ²³⁸ Noam Chomsky: Der geschei- terte Staat, München: Kunst- Terrorismus seitens Al-Quaeda zerstörten die Hoffungen, dass der Kol- mann 2006, S. 29 laps der Sowjetunion in ein Zeitalter des Friedens und des Wohlstands

EMERGENCY EMPIRE 92 Transformation des Ausnahmezustands 5. Emergency-Strategie

münden würde. Um den Zusammenhalt von Mitteln und Strategien ge- währleisten zu können, verabschiedete der Kongress der Vereinigten Staaten 1996 eine Legislative, die das Pentagon dazu veranlasste, in vier- jährigen Abständen Verteidigungsberichte herauszugeben. In dem ersten Bericht, der im darauf folgenden Jahr vom damaligen Verteidigungsmi- nister William Cohen veröffentlicht wurde, wurden von ihm «asymmet- rische Herausforderungen» und «asymmetrische Mittel» als eine grund- legende Komponente zukünftiger Bedrohungen charakterisiert. Gegner, so lautet der Bericht «werden sich wahrscheinlich einen Vorteil daraus er- suchen, mithilfe unkonventioneller Herangehensweisen die Stärken der USA zu umgehen oder zu untergraben und in einem weiteren Schritt un- sere Schwächen auszunutzen.»“ “Asymmetric threats are not new, nor are strategists’ attention to them. In every era, from the pre-modern to the present day, weak forces utilize sur- prise, technology, innovative tactics, or what some might consider violations of military etiquette to challenge the strong. Te 1991 Iraq War and subsequent al-Qaeda terrorism shattered notions that the collapse of the Soviet Union would usher in an age of peace or an end to history. In order to ensure cohesion in both appropriations and strategy, Congress in 1996 passed legislation requi- ring the Pentagon to conduct quadrennial defense reviews. In the first report the following year, then-Secretary of Defense William Cohen identified “asymmetric challenges” and “asymmetric me- ans” as a major component of future threats. Adversaries, the report found, “are likely to seek ad- vantage over the United States by using unconventional approaches to circumvent or undermine our strengths while exploiting our vulnerabilities.“²³⁹

In diesem asymmetrischen Krieg ändert sich nicht nur die Rolle und das Erscheinungsbild vom Partisanen zum Terroristen, sondern es geht um eine gravierende Verschiebung von Topografien und Geografien des Krieges, wie auch von Strategien und Taktiken der Kriegsführung, die global mit Beginn der Milleniumswende spürbar und wirksam werden. Wenn es vormals, noch zu Zeiten der modernen Kriege eine symmetri- sche Anordnung war, die für den Ausgleich der Gegner sorgte, so ist die Anordnung jetzt asymmetrisch. Das Ziel bleibt das gleiche, nämlich der Ausgleich einer Gegnerschaft, von jeweils unkenntlichen, unsichtbaren, diasporischen Lagern, die beide gleichermaßen Emergencies verursachen. Dieses Verhältnis hat Kausalcharakter und es ist keiner Analyse gedient, hierbei ideologisch zu werten und von einem „realen Feind“ zu sprechen. So lange Kriegsnarrative auf Feindbildpolitik bauen, auf Argumenten für Verschwörungen und Marktumsätze, ist jede Inszenierung willkommen. Und sei es die Inszenierung der Asymmetrie von 9/11, die als Geburts- stunde einer „American Experience“ gilt–dem Beginn der “Revolution in Military Affaires” und der Etablierung eines weltweit neuen Kriegstypus, dem asymmetrischen Krieg, der vom US-Imperium angeheizt wird. In diesem Sinne haben sich US-Militärs auf die Heroisierung der RMA und die Klassifizierung von Feindtypen spezialisiert. „Dr. Paul Bra- cken von der Yale University beschreibt in seinem Artikel «Te Military ²³⁹ Jeffrey McKitrick, James After Te Next» Nationen als Konkurrenten vom Typ A, B und C. Kon- Blackwell (u.a.), Te Revolution kurrenten des Typs A sind ebenbürtige Konkurrenten, welche in der Lage in Military Affairs, [o.S.]

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sind, mit den Vereinigten Staaten auf globaler Ebene in der vollen Band- breite militärischer Einsatzmöglichkeiten mitzuhalten. Konkurrenten 1 des Typs B sind regionale Konkurrenten, die lediglich auf regionaler Ebe- ne und mit einer begrenzten Anzahl militärischer Einsatzmöglichkeiten eingreifen können. Brackens Konkurrenten vom Typ C sind Terroristen, «low-intensity conflict» – Länder, Drogenbarone und dergleichen. Unsere Auffassung ist, dass diese Konkurrenten weniger Konkurrenten der natio- nalen Sicherheit sind, sondern politische Konkurrenten. Es scheint daher dienlicher zu sein, die Konkurrenten vom Typ C als Nischenkonkurrenten zu betrachten. Ein Nischenkonkurrent wäre demnach ein Land, das sich entschlossen hat, sich auf eine spezifische militärische Einsatzmöglich- keit zu spezialisieren, welche offensichtlich auf US Armeen einen großen Einfluss haben. Diese Art der Charakterisierung scheint hilfreich zu sein, die Grenzen der möglichen Konkurrenzfähigkeit in einem militärischen Sinne zu bestimmen.“ „Dr. Paul Bracken of Yale University, in his article on „Te Military Af- ter Next,“1, characterizes nations as Type A, B, and C competitors. Type A competitors are peer com- petitors, able to compete with the United States on a global basis across a full range of military ca- pabilities. Type B competitors are regional competitors, able to compete regionally, and only across a limited set of military capabilities. Bracken’s Type C competitors are terrorists, low-intensity con- flict countries, drug lords, and the like. We feel this type of competitor is not really a national secu- rity competitor but a political competitor. It is more useful to think of Type C competitors as being niche competitors. A niche competitor would be a country that has chosen to specialize in a specific military capability that appears to have high leverage against US forces. Tis type of characterization seems useful in bounding the range of possible competitiveness in a military sense.“²⁴⁰

Die Feindtypen der RMA sind unter „Asymmetric Treats“ (asymme- trische Bedrohungen) zusammengefasst. Die „Definierung“ der al-Qaida gilt den US-Strategen als Quintessenz in einem zersprengten Sammel- surium an Feindesoptionen, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, für die Gewährleistung eines RMA-optimierten asymmetrischen Krieges. Die Argumentation läuft hier logischerweise anders herum. Allein die- se Tatsache lässt keine Zweifel offen, mit welcher Nachhaltigkeit Kriegs- inszenierungen, nunmehr unter absoluter US-Dominanz, stattfinden.

²⁴⁰ Jeffrey McKitrick, James Blackwell (u.a.), Te Revolution in Military Affairs, [o.S.]

EMERGENCY EMPIRE 94 Transformation des Ausnahmezustands 5. Emergency-Strategie

5.4 Transfer (3): Emergency Empire – Der Ausnahme- zustand eine privatisierte Instant-Strategie zur Herstellung des rechtsfreien Raumes (Anomie) Die Gesetzeskraft der Eigentumsökonomie – Der Einzug des Konzepts der Gouvernementalität

Wie aus dem bisher Gesagten deutlich wurde, fokussiert sich die hier dar- gestellte Auseinandersetzung zum Tema des AZ, was auch immer das Tema des Kriegsrechts ist, in der Formierung eben jenes AZ als weltwei- te Regierungstechnik. Der Agamben’sche Begriff der weltweiten Regie- rungstechnik schließt den Begriff der Globalisierung mit ein. Im Kontext der hier vorgestellten Ergebnisse meint Globalisierung dreierlei: nämlich Landnahme und wie wir später sehen werden, Kreditnahme und Datennah- me gleichermaßen. In dieser Arbeit münden beide politischen Linien, die des nomos, konkreter des Nomos der Erde und die des oikos, des Tausches und des Handels, sowie der Schuld, die beiden Linien entspringt, in den einen großen Strom der Unternehmenskriege, die auch mit dem Begriff der Globalisierung umschrieben sind. Eine Arbeit über den AZ kann nur eine Arbeit über den Krieg sein, verbunden mit der Frage, wie sich diese „neuen“ Kriege finanzieren und wie deren Märkte in Szene gesetzt sind. Gleich im vorab besagt die Überschrift dieses Abschnittes, das eine so genannte Emergency-Strategie, die es hier zu klären gilt, eine Fusion aus zwei Prinzipien ist, die in der Literatur weitgehend getrennt vonein- ander analysiert und diskutiert werden. Es ist dies einerseits das Prinzip der Ermächtigung, die der Materie der politischen Teorie und in ihrem Kern der politischen Teologie zugeordnet werden kann. Und es ist zum anderen das Prinzip der Eigentumsökonomie, welches der Materie der Ökonomie und der politischen Ökonomie zugeordnet werden kann. Bereits in den Gesellschaftsverträgen der Frühen Neuzeit, die im zweiten Kapitel untersucht werden, steht im Zentrum sämtlicher Entwür- fe die Kernfrage nach der Entscheidung. Wer ist derjenige, der schließlich über das Verdikt der Freiheit, was immer auch das Verdikt des Krieges ist, entscheidet? In sämtlichen Entwürfen wurde geklärt, dass dies der Souve- rän ist, ganz gleich ob in der Form des Monarchen, des Diktators oder des Volkes. Obzwar die Konzepte beispielsweise von Hobbes, Rousseau oder Hegel (Rechtsphilosophie) verschiedene Diskurslinien verfolgen und auf verschiedene politische Absichten zielen – eine Übereinkunft haben sie alle, nämlich in der Frage nach dem Entscheider. Der Entscheider ist seit der Frühe Neuzeit bis in die Moderne hinein, der Stellvertreter Gottes und nach Carl Schmitt diejenige Person, die das Wunder vermag. Der Entscheider ist derjenige, der sein göttliches Stellvertreter-Po- tential realisiert und einen Emergency initiiert, das heißt ein Szenario im Zeichen der Freiheit (inherent right) anordnet, in dessen Zentrum das repräsentative Wunder (Suspendierung), der falsche Feind, wie auch der pseudodemokratische Euphemismus von Sicherheit und Ordnung insze- niert wird. In diesem Satz sind die Marginalien der Souveränität im Kon-

Souveränität 95 C: Ausnahmezustand

text der politischen Teologie zusammengefasst, die da sind: Inhaberschaft der Freiheit (inherent right) 1 Inhaberschaft des Entscheidungsmonopols Inhaberschaft der Befehlsgewalt bzw. Dezisionimus Autorenschaft des Wunders (Terror, Suspendierung, Anomie) Urheberschaft des AZ Urheberschaft einer Inszenierung der Täuschung, Tarnung und Desorientierung

Die Rolle des Entscheiders über gesellschaftliche, d.h. staatsrechtliche, völkerrechtliche und juristische Präferenzen, über das so genannte Souverä- nitäts-Prinzip, liegt in einem funktionalen Modell abendländischer Politik und politischer Ökonomie begründet, welches seit 500 Jahren Weltstaaten- politik dominiert. Der Entscheider vermag seine Entscheidung ausschließ- lich über das Regelwerk des AZ zu erwirken, über den anomischen Raum, der Außerkraftsetzung von Recht und Gesetz, in den Zonen der Anomie. Es ist Michel Foucault zugute zu schreiben, der in „Geschichte der Gou- vernementalität“, seinen Pariser Vorlesungen am Collège de France, in den Jahren 1978 und 1979 gehalten, das Prinzip der Staatsraison, einer neuen Regierungsrationalität, die sich im Laufe des 16. Jahrhunderts konstituiert hat, mit dem Merkantilismus, dem das 18. Jahrhundert als Erscheinungs- zeit zuzuordnen ist und welcher durch Adam Smith seine Verbreitung fand, zu dem innovativen Konstrukt der Gouvernementalität zusammenfügt. Der Wandel, den Foucault beschreibt, der etwa um die Mitte des 18. Jahrhundert festgestellt wurde, bringt ein neues Kalkül der Regierungspra- xis und gouvernementalen Vernunft ins Spiel–das Kalkül der politischen Öko- nomie. „Unter «politischer Ökonomie» versteht man aber auch im weiteren und, wenn Sie so wollen, auch praktischeren Sinn jede Regierungsmethode, die geeignet ist, den Wohlstand einer Nation zu sichern. Und schließlich ist politische Ökonomie übrigens auch der Begriff, der von Rousseau in seinem berühmten Artikel «politische Ökonomie» der Enzyklopädie verwendet wird -, die politische Ökonomie ist eine Art von allgemeiner Reflexion auf die Or- ganisation, die Verteilung und Begrenzung der Macht in einer Gesellschaft. Die politische Ökonomie ist, glaube ich, im Grunde das, was die Selbstbe- grenzung der gouvernementalen Vernunft zu sichern ermöglicht hat.“²⁴¹ Was Foucault auf spektakuläre Weise gelang, ist die Verknüpfung des Tauschhandels mit dem Gesetzeshandel im Konzept der Gouverne- ²⁴¹ Michel Foucault, Die Geburt mentalität, auf der Basis der Tese, dass „es die Form des Marktes [ist], der Biopolitik. Geschichte der die als Organisationsprinzip des Staates und der Gesellschaft dient“.²⁴² Gouvernementalität II, [Vorle- sungen am Collège de France In der von Foucault begründeten neuen Forschungsrichtung, die spä- 1978-1979], Frankfurt am ter als gouvernementality studies weitergeführt und etabliert wurde, de- Main: Suhrkamp 2004, S. 30 ren Gegenstand die «Genealogie des modernen Staates» ist, formuliert ²⁴² Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann (u.a.), Gouvernemen- die Untersuchung das zeitdiagnostische Epistem der Gouvernementalität. talität der Gegenwart. Studien Hier erschließt Foucault den Kanon modernen Regierungspraktiken, die zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt am Main: Suhrkamp sich nicht mehr auf ein souveränes Gesetz berufen, sondern auf die Sou- 2000, S. 15 veränität der politischen Ökonomie. Diese Verschiebung verweist einer-

EMERGENCY EMPIRE 96 Transformation des Ausnahmezustands 5. Emergency-Strategie

seits auf „Das Problem der Souveränität“, wie es bei Hans Kelsen und Carl Schmitt formuliert ist und im Kapitel 2 dieser Studie ausführlich ausge- arbeitet ist, aber auch in Konkretion des Problems, auf die Gesetzeskraft der Souveränität, die, wie bei Jacques Derrida im gleichnamigen Band, als „mystischer Grund der Autorität“ ausgearbeitet ist. Das Problem der Souveränität ist in jedem Fall²⁴³ das Problem der Entscheidung, bzw. der Entscheidungswillkür, die zweifelsohne die Ge- walt und Gewalttätigkeit der souveränen Gesetzeskraft, als gleich der Entscheidungskraft ins Feld räumt, was bei Walter Benjamin²⁴⁴ und Jac- ques Derrida²⁴⁵, bei Pierre Bourdieu²⁴⁶ und Giorgio Agamben²⁴⁷, wie auch bei Hannah Arendt²⁴⁸ und Judith Butler²⁴⁹, als Gewaltkritik aufgearbei- tet wird. Das ‚Problem der Gesetzeskraft’ hat in der Analyse und den ge- genwartsdiagnostischen Konzeptionen mindestens drei Wege einschla- gen. Einer davon ist die besagte Gewaltkritik, ein anderer die Politische Teologie und schließlich der dritte, den Foucault mit dem Konzept der Gouvernementalität vorschlägt – die Ausweitung des Problems der Souve- ränität als Problem der politischen Ökonomie. „Die politische Ökonomie denkt über Regierungspraktiken nach, und sie befragt diese Praktiken nicht auf ihr Recht, um festzustellen, ob sie legitim sind oder nicht.“²⁵⁰ Die Entscheidung, die Foucault in der Be- antwortung souveräner Regierungspraktiken trifft, schließt das ‚Mysti- sche’ als Gewaltgrund des Regierens aus und schließt den Montarismus, den Utilitarismus als Gewaltgrund des Regierens ein. [...] Der Markt ist das Gesetz, dem die Gesellschaft, der Einzelne, das Regierungshandeln sich zu unterwerfen haben.“²⁵¹ Die Konklusion in Bezugnahme auf den AZ als Regierungstechnik beinhaltet vor dem Hintergrund des Einzugs einer Eigentumsökonomie ²⁴³ ...im Fall Kelsens, Benja- mins, Derridas. in die Sphäre des gesetzlichen Regierens und vor dem Hintergrund des ²⁴⁴ Walter Benjamin, Zur Kritik Konzepts der Gouvernementalität, dass der AZ ein käufliches Verdikt ist der Gewalt, ...a.a.O. zur Herstellung rechtsfreier Räume. „Zweitens besitzt das ökonomische ²⁴⁵ Jacques Derrida, Gesetzes- kraft. Der «mystische Grund der Raster aber auch Programm-Charakter, indem es die kritische Bewertung Autorität», Frankfurt am Main: der Regierungspraktiken anhand von Marktbegriffen erlaubt: Es ermög- Suhrkamp 1991 ²⁴⁶ Pierre Bourdieu, Die Poli- licht, sie zu prüfen, ihnen Übermaß und Missbrauch entgegen zu halten tische Ontologie Martin Hei- und sie nach dem Spiel von Angebot und Nachfrage zu filtern.“²⁵² Der deggers, Frankfurt am Main: Entscheider, diejenige Person die das Wunder vermag und Inhaber, wie Suhrkamp 1988 ²⁴⁷ Giorgio Agamben, Ausnah- auch Urheber der Freiheit und der Gewalt ist, erwirkt diese erst in Voll- mezustand, ...a.a.O. endung im Modus des Liberalismus. ²⁴⁸ Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München: Piper 1970 Der AZ unterliegt im Verlauf eigentumsökonomischer Liberalisierun- ²⁴⁹ Judith Butler, Kritik der gen in zunehmenden Maße einer privatisierten Strategie, der so genannten ethischen Gewalt, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 Emergency-Strategie. Die oben dargestellten Marginalien des Souveränitäts- ²⁵⁰ Michel Foucault, Die Geburt Prinzips lösen sich im Staatenkontext auf und verlagern sich in privatwirt- der Biopolitik, S. 32 schaftliche Bereiche zu Eigentums-Korporationen. Das Souveränitäts-Prin- ²⁵¹ Susanne Krasmann, Die Kri- minalität der Gesellschaft. Zur zip ist nunmehr käuflich und (ausschließlich) von der Kaufkraft der Akteure Gouvernementalität der Gegen- abhängig. Der AZ, als privatisierte Instant-Strategie (zur Herstellung rechts- wart, Konstanz: UVK Verlags- gesellschaft 2003, S. 206 freier Räume), ist zur Regel des privatisierten Kriegsrechts geworden, wie ²⁵² Susanne Krasmann, Die Kri- auch zur politischen Souveränität einer freien Gewalt des Marktes. minalität der Gesellschaft, S. 206

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6. Der Wandel des Feindes (1)

1 „Der Kern des Politischen ist nicht Feindschaft schlechthin, sondern die Unterscheidung von Freund und Feind und setzt beides, Freund und Feind voraus.“²⁵³ Carl Schmitt

6.1 Enthegung des Feindes – Vom Kombattanten/ Nichtkombattanten zum virtuellen Akteur Die Enthegung des Feindes findet im Wesentlichen im Prozess der Auf- hebung der Figur des Kombattanten statt. Diese sind nach dem huma- nitären Völkerrecht Personen, die unabhängig von der Rechtmäßigkeit des Konflikts zu Kriegshandlungen berechtigt sind. Sie verlieren den ge- schützten Kombattantenstatus, wenn sie nicht unterscheidbar von Zivil- personen kämpfen, ihre Waffen nicht offen oder die Uniform des Kriegs- gegners tragen. In diesem Fall steht ihnen aber dennoch ein humanitärer Schutz zu, unter anderem ein faires Gerichtsverfahren und menschliche Behandlung, wie es für Strafgefangene in einer zivilisierten Rechtsord- nung auch gilt. Was Kombattanten bekämpfen dürfen, und wie sie selbst bekämpft werden dürfen, unterliegt Beschränkungen. Wird ein Kombat- tant gefangen genommen, ist er Kriegsgefangener und sein Verbrechen ein Kriegsverbrechen. Eines der spezifischen Merkmale im Wandel der Feind-Politik ist wohl die Ausweitung des Feindes auf ungenaue Größen wie Gefahrenri- siko, terroristische Gefahr usw., aufgrund des Verschwindens der Merk- male des Kombattanten. Der Feind wird erstreckt auf ethnische Gruppen (Roma, Araber, Saudis oder Juden), Organisationen (Hamas, Dschihad, al- Qaida) und geografische Gebiete (Gaza, Westjordanland, Irak, Afghanis- tan). Der Feind ist nicht mehr wie noch der Staat lokalisierbar in einem an- gestammten Territorium, sondern hat sich vollständig partikularisiert – er hat sich sinnbildlich selbst zersetzt, um nun die Zersetzung des übermäch- tigen Feindes vor Ort voranzutreiben, und kann darüber hinaus auf das volle Repertoire an Kommunikationsmöglichkeiten im Informationszeit- alter zurückgreifen. Man könnte sogar von einer völlig neuartigen Form der postmodernen Kriegsführung als einer Belagerung von Innen sprechen.

²⁵³ Carl Schmitt, Teorie des Partisanen, S. 93

EMERGENCY EMPIRE 98 Transformation des Ausnahmezustands 6. Der Wandel des Feindes (1)

6.2 Entnationalisierung des Feindes: Der diskriminierende Feindbegriff Analog zum Begriff des absoluten Krieges bei Clausewitz liegt uns der Be- griff des absoluten Feindes bei Carl Schmitt²⁵⁴ vor. Es ist anzunehmen, dass zum Begriff des diskriminierenden Krieges ein eben solches Feindpen- dant, nämlich im Begriff des diskriminierenden Feindes vorliegt. Während der absolute Feind, nach Schmitt der Partisan, vollstän- dig eine Feind-Entsprechung des modernen Staats- und Kriegstyps mar- kiert, beginnt sich bereits in seinem viel älteren Werk, der „Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff“²⁵⁵, eine Wendung zu einem post- modernen Feindverständnis abzuzeichnen. Nach Carl Schmitts justa causa, also gemäß seiner Bedingung für den gerechten Krieg, ist der Krieg eine Beziehung zwischen gleich-sou- veränen Partnern. „Gerecht im Sinne des europäischen Völkerrechts der zwischenstaatlichen Epoche ist deshalb jeder von militärisch organisier- ten Armeen anerkannter Staaten des europäischen Völkerrechts auf eu- ropäischem Boden nach den Regeln des europäischen Kriegsrechts ge- führte zwischenstaatliche Krieg.“²⁵⁶ Die Kriegspartnerschaft erklärt sich aus der repräsentativen Begegnung von Flächenstaaten als souveräne Personen, als magni homines. Der reguläre Krieg wird schließlich von Kombattanten ausgetragen, von den regulären Angehörigen einer Streitkraft. Der Kombattant ist ein Titel im humanitären Völkerrecht, welcher auf der Grundlage der Genfer Konvention von 1949, in einer Überarbeitung von 1977, festgelegt wurde. Der Status des Kombattanten legitimiert den Angehörigen der Streitkraft bei Gefangennahme in den Staus des Kriegsgefangenen überzugehen. In den Genfer Konventionen wurde diese Bestimmung um Gueril- lakämpfer, also um die Figur des Partisanen erweitert. Zivilpersonen, die während bewaffneter Auseinandersetzungen, eines Krieges oder eines na- tionalen Befreiungskampfes, zu den Waffen greifen, gelten auch dann als Kombattanten, wenn sie ihre Waffen offen tragen, solange sie für den Geg- ner sichtbar sind. Sie benötigen dann auch keine Unterscheidung von der Zivilbevölkerung in Form von Kennzeichnung oder Uniform, um als Kom- battant zu gelten. Obzwar eine Guerillaarmee oder die Partisaneneinheit einer Bürgerkriegspartei angehört, die im Untergrund und aus dem Ver- steck, im Widerstand gegen die eigene Regierung agiert, ist seit jeher ihr zentrales politisches Ziel die Anerkennung als Revolutionsarmee. Die Guerilla ist stets bemüht, ihre Legitimität (die revolutionäre Richtigkeit ihres Tuns) und ihre Legalität (die Gesetzlichkeit ihrer Kriegs- handlungen) unter Beweis zu stellen. Dazu gehört die Schaffung tatsäch- licher oder scheinbarer politisch-demokratischer Strukturen, sowie von politischen Auslandsvertretungen in unterstützenden Staaten oder in in- ternationalen Organisationen wie der UNO. Die Einführung von klaren ²⁵⁴ ebd., S. 91 Befehlsstrukturen, einer hierarchisch-militärischen Ordnung mit den ²⁵⁵ Carl Schmitt, Die Wendung, ...a.a.O. dazugehörigen Rängen, soll besonders in der letzten Phase, in der Ent- ²⁵⁶ Carl Schmitt, Der Nomos der wicklung zur Revolutionsarmee, die Gleichwertigkeit der Guerilla gegen- Erde, S. 115

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über der konventionellen gegnerischen Armee herausstellen. Erst wenn der Gegner sich gezwungen sieht, mit der Guerilla offiziell zu verhandeln, 1 ist tatsächlich die Belligerenz hergestellt. Während der Partisan noch als klarer Feind, sogar als absoluter Feind festgestellt werden kann, wird die Auseinandersetzung über den diskriminierenden Feindbegriff davon beherrscht, dass eine Freund- Feind-Unterscheidung nicht mehr möglich ist. Hier entzieht sich der Feind allen Regelungen des Kombattanten und gibt keinen Status der Zu- gehörigkeit mehr zu erkennen. Er tritt generell nur noch als getarnte Per- son im Status der Zivilperson auf, als Akteur des öffentlichen Raumes, als Global Player im Outfit einer Global Corporate Idendity. Entscheidend für die Diskriminierung des Feindbegriffs ist nach Schmitt die Entnationalisierung: „Wenn Scelle in seinem systematischen Werk die humanitäre Intervention gegen faschistische oder nationalisti- sche Staaten befürwortet und zur völkerrechtlichen Institution erheben will, so liegt das in derselben Richtung und entspricht derselben Logik, die den Krieg «entnationalisiert», das heißt den Staatenkrieg abschafft, um ihn zu «internationalisieren», das heißt in einen [weltweiten, Y.M.] Bürgerkrieg zu verwandeln.“²⁵⁷ Diese Dynamik definiert den Status des „weltweiten Bürgerkriegs“, den Agamben den status quo des aktuellen Re- gierens nennt, als Status des postmodernen neoliberalen Globalisierungsfeld- zugs. „Die Regierenden werden, mit anderen Worten «Kriegsverbrecher», «Piraten» oder – um die modern-großstädtische Erscheinungsform des Piraten zu nennen – «Gangster». Das sind nicht etwa nur Redensarten einer hochgepeitschten Propaganda; es ist die rechtslogische Folge der Entnationalisierung des Krieges, die in der Diskriminierung [des Kriegs- begriffs, Y.M.] bereits enthalten ist.“²⁵⁸ Ein Gewaltakt oder Angriff kann innerhalb eines solchen Staaten- Kriegs-Feindes-Status nicht mehr als militärische oder Kriegshandlung eingeordnet werden. An dieser Stelle werden die Begriffe des Terrors, des Attentats und des terroristischen Angriffs regeneriert, sowie die Fi- gur des Terroristen. Der Akteur in der Konnotation des diskriminierenden Feindbegriffs hat nunmehr sämtliche Attribute und Modalitäten eines regulären Feindes und einer Zuordnung zum Status des Kombattanten und/oder des Nichtkombattanten abgelegt. Dadurch wird im Wesentlichen eine neue Kampfkompetenz aufge- stellt, die eine virtuelle Frontenpräsenz, reziprok Marktpräsenz möglich macht. Diese sind die irregulären Fronten der Medien- und Guerillamärk- te, wie auch die Fronten der regulären Kriegs-, Wirtschafts-, Industrie- und Finanzmärkte gleichzeitig. Der totale Krieg hat sich im Emergency Empire multipliziert und ist mit der völligen Unkenntlichkeit des Teil- nehmers, für den Einzelakteur als Kompetenz und Ressource urbar ge- worden. Hier erzeugt sich substanziell, in der Fortsetzung des modernen Krieges, ein postmodernes Hybrid des global-situativen Medienakteurs. ²⁵⁷ Carl Schmitt, Die Wendung, S. 47 Mit der Gewalt des Akteurs in der Konnotation des diskriminie- ²⁵⁸ ebd., S. 46 renden Feindbegriffs wird die Gewalt symbolisch und medial! Diese neue

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Signifikanz könnte im Wesentlichen als der Übergang von der modernen Gewalt zur postmodernen Symbol- und Mediengewalt geltend gemacht werden.

6.3 Entlegitimierung des Feindes: Global Terror Player Der legitime Feind ist der erkennbare Feind, der Kombattant mit ei- ner designierten Zugehörigkeit zu einer Regierungsarmee, der vor völ- kerrechtlichem Kriegsgericht entsprechend als Kriegsgefangener oder Kriegsverbrecher behandelt wird. Der entlegitimierte Feind ist weder einer Nation zuzuordnen, noch nach völkerrechtlichen Bestimmungen einzuordnen. Er agiert in einem Kontext, der völkerrechtlich weder dem gerechten noch dem ungerechten Krieg entspricht, der national nicht vertretbar und repräsentativ ist, der, allgemeiner gesprochen, unter der Rubrik: Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln agiert. Der postmo- derne Feind ist nunmehr ein privatisierter Unternehmer und Manager, der jenseits von Legitimität und Legalität Kriegsgeschäfte abwickelt. Da- bei ist der Aspekt der nationalen oder transnationalen Designation nicht entscheidend, denn es geht im Emergency Empire um nicht-designierte Glo- bal Terror Player, mit einem Mandat, einer Aktie, einem Dosier des Ter- ror-Managements. Die Differenz liegt in der Asymmetrie der Kampfstra- tegien zwischen Hightech-Terror der Supermächte und Lowtech-Terror der Subraummächte. Von den jeweils unterschiedlichen Positionen aus betrachtet ist der Feind im Emergency Empire immer und in jedem Fall entlegitimiert und kriminell. Für die Supermächte, allen voran für die USA, ist der postmoderne Feind unter islamistische Terrorgefahr, Krimi- nelle, Verbrecher, Gefährder zusammengefasst, für die Subraummächte ist der Feind der hochgerüstete Staatsterror. Mit seinem Essay „Schurken“ antwortet Jacques Derrida 2003 auf die Feindpolitik der USA, die sich gegen ein neues Gefahren-Envi- ronment richtet, welches nach Ansicht der US-Regierung unter George W. Bush eine Bedrohung für die Weltsicherheit darstellt. Derrida unter- scheidet in seiner Analyse zwischen Schurke (voyou)²⁵⁹, Schurkenstaat (État vouyou)²⁶⁰, Schurkenherrschaft (voyoucratie)²⁶¹, Schurkerei (voyou- terie)²⁶² und dem Schurke[n], der ich bin²⁶³. Dabei spielt Derrida mit den taxonomischen Möglichkeiten des Schurken als Wolf oder Lamm. Er ord- net sie keinem zu, respektive beiden gleichermaßen. Keinem von beiden, da der Wolf der Souverän ist und de facto kein Schurke und da das Lamm Opfer ist, der homo sacer, der Kern der politischen Teologie und des Ent- scheidungsproblems. Wer also sind die Schurken? Nach wem sucht man, ²⁵⁹ Jacques Derrida, Schurken, wenn man einen Schurken sucht? „Wer von Schurken spricht, ruft nach Zwei Essays über die Vernunft, der Ordnungsmacht, hat schon begonnen, einen Verdächtigen zu denun- Frankfurt am Main: Suhrkamp zieren, kündigt eine Verhaftung, zumindest eine Überprüfung der Per- 2003, S. 17 ²⁶⁰ Jacques Derrida, Schurken, sonalien an, eine Vorladung, Ladung als Zeuge, eine Untersuchung: Der S. 94 Schurke hat vor dem Gesetz zu erscheinen.“²⁶⁴ ²⁶¹ ebd., S. 95 ²⁶² ebd. Bereits die Frage nach dem Schurken impliziert eine ganz andere ²⁶³ ebd., S. 93 Person als den Schurken, nämlich den gesellschaftsvertraglich konsti- ²⁶⁴ ebd., S. 94

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tuierten Leviathan. „Der Schurke ist immer der andere, stets derjenige, auf den der rechtschaffene Bürger, der Vertreter der moralischen oder 1 rechtlichen Ordnung, mit dem Finger zeigt.“²⁶⁵ Der Einzelne, der Schur- ke, wird zur Gegensouveränität, er wird der Global Terror Player. „Der Schurke kann auch einer jener «großen Verbrecher» sein, die Benjamin so faszinieren, weil sie – wie in der «Kritik der Gewalt» erklärt – den Staat herausfordern, das heißt diejenige Instanz, die als Reprä- sentantin des Rechts faktisch das Gewaltmonopol innehat und es sich vorbehält. Indem er sich eine Gegensouveränität anmaßt, stellt sich der schurkische «Großverbrecher» mit dem souveränen Staat auf gleiche Au- genhöhe; er wird zum Gegenstaat, um mit der Souveränität des legalen oder angeblich legitimen Staates, der das Monopol und die Hegemonie innehat, zu wetteifern.“²⁶⁶ Der Schurke, das ist der Global Terror Player, der sich des Dezisionismus als singulärer Instant-Strategie ermächtigt, der souveränen Wolfsstrategie, unter dem Mantel der Sicherheit und Ordnung. Die Verwendung dieses Begriffs und die Politik der USA führ- ten dazu, dass die USA selbst als Schurkenstaat bezeichnet werden. Dabei ist zu beachten, dass Akteure beider Lager miteinan- der kollaborieren und profitable Geschäfte im Waffen-, Drogen- und Menschexport/-import aushandeln. Der zentrale Akteur in einem Unter- nehmen, das beide Lager bespielt, ist der Agent Provokateur. Der Feind, ganz gleich aus welcher Perspektive betrachtet, ist lediglich im Gesetz der Ausnahme legitimiert. Wie in dieser Arbeit entwickelt und nachvollzieh- bar gemacht wird, gehört im Emergency Empire dieses Gesetz der Ausnah- me nunmehr nicht dem Staatssouverän allein, sondern jedem Akteur, der sich hinreichend dazu selbst ermächtigt (dezisioniert) und für dieses Pri- vileg Partei ergreift. Der aktuell stark strapazierte Begriff des Terrors bedient eine alte Geschichte. Terror, lateinisch terror, beinhaltet beides: die Erde, terra und den Schrecken, terreo. In das Wort terror fällt also jene Gewalt, welche die Erde erbeben lässt und erschüttert. Der terror ist mehr eine Technik, als ein Ereignis, die Ordnungen postum in Gefahr bringt und den aufgeräum- ten Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Das zentrale Ereignis des Terrors ist das Trauma, der Schock in der Strategie der plötzlichen Ent- kräftung, Lähmung und Auslieferung. Terror ereignet sich unangekün- digt und plötzlich. Der Terror ist nicht-konspirativ und nicht-kooperativ. Der Terror ist räumlich und geopsychologisch gesehen, ein Incubus, ein Nucleus, der seiner Information plötzlich und total Gestalt gibt. Diese Terror-Gestalt erscheint entweder als plötzliches und offensives Inferno oder als latente Gefahrenzone, als threat environment, dem der Nucleus des unberechenbaren und plötzlichen Infernos innewohnt. Terrorismus kann in diesem Sinne nun das strategische Vorgehen sein, Gefahrenzo- nen zu schaffen, die psychologisch erlebt werden und sich hier entwe- der als latent oder als offensiv erweisen. In beiden Möglichkeitsfällen ist ²⁶⁵ ebd., S. 95 die Unberechenbarkeit entscheidend. Die latente Gefahrenzone ist unbe- ²⁶⁶ ebd., S. 100 rechenbar, da sie im psychologischen Netz agiert und ganz ähnlich, wie

EMERGENCY EMPIRE 102 Transformation des Ausnahmezustands 6. Der Wandel des Feindes (1)

in einem biodynamischen Ereignis, einen schwer auffindbaren Inkubus, eine Keimzelle beherbergt, von der eine Bedrohung für die Umgebung ausgeht–weder weiß man „wer“ sie ist, „wo“ sie ist und „was“ sie vorhat. Eine solche Bedrohung wird im Vokabular der US-amerikanischen Bio- defense, als bioterrorist agent, als viraler Erreger bezeichnet. Der Terror- Player ist der Inbegriff des potsmodernen Kriegers, des entlegitimierten Kriegers bzw. Unternehmers. Er ist optimal ausgerüstet, digitalisiert, virtualisiert und ist durch seine Kommunikationstechnologie und durch seine Handlungsdevisen zur sofortigen Transformation von Räumen, Daten, Frequenzen, Aggregats- und Erregungszuständen bereit. Der Anekdote nach soll sich Carl Schmitt am Endes seines Lebens zu einem Bekannten wie folgt geäußert haben: „Nach dem ersten Welt- krieg habe ich gesagt: «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand ent- scheidet». Nach dem Zweiten Weltkrieg, angesichts meines Todes, sage ich jetzt: «Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt».“²⁶⁷ Sei- ne geistige Umnachtung ließ ihn überall elektronische Wanzen und un- sichtbare Verfolger, den virtuellen Agenten erblicken.

6.4 Typologie des postmodernen Akteurs Der Agent ist nicht nur die zentrale Figur moderner Kriegsspionage, son- dern er ist im Emergency Empire das Bindmittel jeder Organisation und jedes Unternehmens, das seine politischen und wirtschaftlichen Inter- essen lokal, territorial und supranational erfolgreich durchsetzen will. Der Erfolg eines Unternehmens ist durch Dominanzpräsenz in Form von Abschreckung und Potenzdrohung gekennzeichnet, wie auch durch ma- ximale Verzweigung und Vernetzung durch Informanten und Agenten. Dass auch Staaten Unternehmen sind, ist nicht neu und darin begrün- det, dass das Gewaltmonopol des Staates nur mit dem Finanzmonopol seine Gewinne zu maximieren in der Lage ist. Finanzmonopole sind be- kanntlich, trotz Reichsbank und Bank of England, seit jeher in privaten Händen. Ob Krupp, Tyssen, Messerschmitt, Bayer oder Löbbecke in Deutschland, Ringier, La Roche, Nestlé, Lindt&Sprüngli, Jungholz oder Bär in der Schweiz–sie sind die Gläubiger des Staates für seine Arme- en und Kriege. Agenten sind in diesen Geschäften die Mittelsmänner, Drahtzieher, Leitungsleger und Attentäter des Emergency Empire ²⁶⁷ Zitiert nach Christian Lin- der, Freund oder Feind, in: Lett- Agent Provokateur ist der klassische Titel für einen Geheimagen- re International, H. 68 (2005), ten under cover. Er entstammt einem verdeckten Mitarbeiterumfeld und S. 95. Zeitlebens habe Schmitt Angst vor Wellen und Strahlen agiert als V-Mann, das heißt Verdeckter Ermittler und Inoffizieller Mitar- gehabt. Radio oder Fernse- beiter. Er dient einer Mission, keiner Moral. Der Einsatz eines Agent Pro- hen ließ er Berichten zufolge in seiner Wohnung nicht zu, vocateur durch den Staat erfolgt üblicherweise im Auftrag von Behörden damit nicht „Ungebetenes wie wie Polizei oder Geheimdiensten, oder im Auftrag dubioser Unterneh- Wellen oder Strahlungen“ in men, die ein genormtes Firmenimage nach außen tragen und von supra- seinen Raum eindringen konn- te. Schon in der Nazizeit habe, national agierenden Hintermännern gemanaget werden. Der Auftrag des wenn jemand eine Rede des Agent Provokateur bezweckt in idealer Weise die Begehung eines unbe- Führers hören wollte, ein Radio ausgeliehen werden müssen. endeten Tatversuchs mit der Möglichkeit üblicher Beweissicherung und Christian Linder, Freund oder Überführung in flagranti. Dieses Vorgehen entspricht dem situativen, ja Feind, S. 84

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kriminellen Einsatz der Emergency-Strategie, einer ad hoc Dezision und Suspendierung von Macht und Gewalt. 1 Die Frage nach der Legitimität der Figur des Agenten ist komplett obsolet, denn er agiert kaum vor dem Hintergrund moralischer Krite- rien, sondern aus rein prosperierenden Gründen. Dafür kann durchaus auch ein Nationalpathos, eine Parteiüberzeugung oder eine Firmenloya- lität als psychosemantische Matrize dienen, wenn möglich auch sport- lich-maskuline Gründe, oder einfach nur die frenetische Vorliebe für die Radikalität ostasiatischer Kampfkünste, die ihn in die Nähe kultiger Filmheros, mit machistischem Sexappeal und überdressierter Befähigun- gen zum physischen und psychologischen Nahkampf, a la Lee 007²⁶⁸ ka- tapultieren. Der Agent ist die bei Weitem attraktivste Figur im Krieg. Als Eli- te-Operator dringt er nicht nur in die EP-Zentren jeder Macht und In- formation vor, sondern er überführt sie in flagranti–er entschärft sie, er kuratiert sie, er verrät sie. Ob CIA²⁶⁹, FBI²⁷⁰, STASI²⁷¹, KGB²⁷², GSG9²⁷³, NOCS²⁷⁴, KSK²⁷⁵, ENZIAN 10²⁷⁶, ALFA²⁷⁷, Delta Force²⁷⁸, SWAT²⁷⁹ und unzählige andere staatliche und private Geheimdienste, Spezialeinheiten oder Elitetruppen wie die US-Sicherheitsfirmen USPI²⁸⁰, die private US- Söldnerarmee Blackwater Worldwide²⁸¹ oder die private US-Militärfirma CACI²⁸²–der Agent ist als Treiber, Entdecker und Auslieferer, der Scout eines jeden Nervensystems bzw. Unternehmens under cover. Auf einer operational-logistischen Ebene stehen die Agenten der militärisch-indus- triellen Elite-Corps den Agenten der terroristischen Elite-Corps wie der

²⁶⁸ „Lee 007“ ist ein Hybrid aus ²⁷¹ STASI, Abkürzung für das der US Army mit dem Einsatz- Bruce Lee und James Bond. MfS, Ministerium für Staats- schwerpunkten Antiterror und James Bond, auch bekannt als sicherheit, Inlands- und Aus- Geiselbefreiung, aktiv 007, ist ein fiktiver Geheim- landsspionagedienst der DDR, ²⁷⁹ SWAT, Special Weapons and agent des britischen Geheim- aufgelöst Tactics, Spezialeinheiten der dienstes MI6. 1952 von dem ²⁷² KGB, Komitee für Staatssi- einzelnen US-amerikanischen Schriftsteller Ian Fleming er- cherheit, Auslandsspionage- Polizeibehörden, aktiv funden, wurde er vor allem dienst der UdSSR, aufgelöst ²⁸⁰ USPI, US-Protection and In- durch die seit den 1960er Jah- ²⁷³ GSG9, Grenzschutzgruppe vestigations, private US-Sicher- ren erfolgreiche Filmreihe welt- 9, Antiterroreinheit der deut- heitsfirma mit Niederlassung in bekannt. Heute gilt die Figur schen Bundespolizei, aktiv Kandahar-Stadt, Afghanistan, des James Bond als maskuline ²⁷⁴ NOCS, Nucleo Operati- Einsatzschwerpunkt Antiterror. Popikone. vo Centrale di Sicurezza, Spe- Die Sicherheitsfirma schützt Bruce Lee war ein US-ameri- zialeinheit der italienischen den Angaben zufolge Mitarbei- kanischer Schauspieler und Staatspolizei für Terrorismus- ter von internationalen Orga- Kampfkünstler. Er gilt als Iko- bekämpfung (Antiterror) und nisationen, Nichtregierungs- ne des Martial-Arts-Films und Geiselbefreiung, aktiv seit 1978 organisationen (NGOs) und wird von vielen als der größte ²⁷⁵ KSK, Kommando Spezial- ausländischen Truppen, aktiv. Kampfkünstler des 20. Jahr- kräfte, Spezialeinheit der Bun- ²⁸¹ Blackwater Worldwide, hunderts angesehen. deswehr, aktiv größte amerikanische private ²⁶⁹ CIA, Central Intelligence ²⁷⁶ ENZIAN 10, Spezialeinheit Sicherheits- und Militärfirma, Agency, Auslandsspionage- der Schweizer Polizei, aufge- militärischer Dienstleister für dienst der USA, aktiv seit 1947 stellt 1972, aktiv Regierungsbehörden, Justiz ²⁷⁰ FBI, Federal Bureau of In- ²⁷⁷ ALFA, Spezialeinheit des und Bürger, aktiv vestigation, Bundespolizeili- russischen Inlandsgeheim- ²⁸² CACI International Inc., pri- che Ermittlungsbehörde des dienstes FSB mit dem Einsatz- vate US-Militärfirma, Virginia, US-Justizministeriums, aktiv schwerpunkt Antiterror, aktiv Einsatzgebiet Irak, aktiv seit 1908 ²⁷⁸ Delta Force, Spezialeinheit

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RAF, der italienischen Brigate Rosse, der Dschihad, der al-Qaida, der ETA in nichts nach. Es gibt strategisch und taktisch keinen Unterschied zwi- schen den Kampfeinheiten des Terrors und den Kapfeinheiten des Anti- terrors. Die Differenz besteht lediglich in der Asymmetrie des inszenier- ten Symbolwerts der Akteure für die mediale Öffentlichkeit. Zwischen demokratischen Akteuren und autokratischen Akteuren, offiziellen Re- genten und inoffiziellen Drahtziehern, spannt sich ein undurchschauba- res Netz im Medien-, Daten- und Finanzdschungel, sowie im Wechsel von Rollen und Positionen auf Design-Oberflächen und in Subräumen. Personenschutz, Body Guard, Under Cover Agent, Agent Provoka- teur, Privatpolizei, Sniper, Ex-Marine oder Freikorps sind in diesem Netz nur dieselben Begriffe für die postmoderne Figur des unsichtbaren Fein- des, des allgegenwärtigen Experten, der beides kann: spionieren und überführen. Dahinter verbergen sich Parteigrößen, Regierungschefs, Warlords, Banker, Manager, Global Player, Entrepreneurs, Großhändler, Katastrophen-Sheriffs, Militärs, Würdenträger, Investoren, Oligarchen und Sicherheitsdesigner. Der Agent Provokateur ist die Vorhut der terro- ristischen, post-partisanischen Kampfstrategie einer jeder Firma oder Or- ganisation, eines jeden Staates oder Unternehmens, kurz der Agency. In diesem Sinne ist es auch unerheblich, ob das Monopol des Staates völker- rechtlich verankert ist oder nicht – mit dem Agent Provokateur verlässt je- der Staat die Zone völkerrechtlicher Legalität und Legitimität.

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7. Protecting the Homeland! – Das Branding im 1 Designerkrieg der Supermacht 7.1 Protecting Force Besonders evident wird im Aktionsradius der Agencies, die proportionale Verschränkung zwischen Illegalität, Illegitimität, Sicherheitsdesign und Medienpolitik. Dabei ist Sicherheit lediglich ein Euphemismus und ein Verkaufsprodukt. Je sucuritärer Staaten, Unternehmen, Organisationen und Firmen in ihren Regierungsdevisen (Protecting the Homeland!) vor- gehen, desto mehr kann davon ausgegangen werden, dass mit dem Ver- kaufsprodukt „Sicherheit“ terroristische Vorteilspolitik gecovert wird. An dieser Stelle sind die von Herfried Münkler erwähnten Kriegsdividenden um den Aspekt der Sicherheitsdividende zu ergänzen, die nur die zweite Seite, die euphemistische Seite, derselben Unternehmung ist. Als monströsestes Beispiel eines Security- und Intelligence Envi- ronments kann wohl das US-amerikanische (weltweite) Regierungsnetz seit dem National Security Act gelten.²⁸³ Mit dem National Security Act von 1947 entstand das zentrale Gesetz der US-amerikanischen Nach- kriegsgeschichte. Mit ihm wurde die Neuausrichtung der amerikani- schen Sicherheits- und Verteidigungspolitik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf institutioneller Ebene vollzogen und die Gründung eines nachhaltigen Nachrichtenbeschaffungsimperiums beschlossen. Das bis dahin amtierende Kriegsministerium (Department of War; DoW) wur- de vom Verteidigungsministerium (Department of Defense; DoD) abge- löst, eine unabhängige Luftwaffe (US Air Force; USAF) geschaffen, der Generalstab des Präsidenten (Joint Chiefs of Staff; JCS) rekurriert, so- wie der Nationale Sicherheitsrat (National Security Council; NSC) und der Zentrale Nachrichtendienst (Central Intelligence Agency; CIA) ins- talliert. Komplettiert wurde diese Regierungsanlage der USA 1981 mit der Gründung der US-Nachrichtendienstgemeinde, der Intelligence Com- munity of the State (ICS). In dieser sind sämtliche Nachrichtendienste der USA, einschließlich dem CIA (Central Intelligence Agency), zur CIC-Group, mit insgesamt 15 verschiedenen Geheim- und Sicherheitsdiensten aus Regierung, Verteidigung (Militär) und Sicherheit, zusammengefasst. Der CIC ist der Central Investigation Command und gilt als höchste Instanz der Überwachung innerhalb der ICS. Dieses US-Führungs-Monopol, eine Al- lianz aus Regierung (Exekutive, Legislative, Judikative), Sicherheit, In- formation und Verteidigung ist weltweit mit Abstand das folgenreichste Gebilde des Staatsterrors, der Abschreckung, Spionage, Abwehr und Be- ²⁸³ Siehe Anlage; Anmerkung: strafung, des terror of legal punishment. Alle Angaben in diesem Text- Bereits während des Kalten Krieges und vor allem nach dem Zu- abschnitt sind den öffentlichen Suchmaschinen und den offi- sammenbruch des Ostblocks und dem Verschwinden des Kommunisti- ziellen Websites der jeweiligen schen Feindes entwickelt sich dieses US-Regierungs-Monopol in der Tru- Institutionen/Agencies der Bush-Administration entnom- man- und später Reagan-Ära zum alleinherrschenden, unangreifbaren, men. URL’s – siehe Anlage supranationalen Gewaltmonopol in einer weltweit asymmetrischen Kon-

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stellation zu anderen globalen Regierungsmächten. Mit den Angriffen vom 11. September 2001 scheint die souveräne Globalgewalt aus dem Gleichgewicht zu kommen. Die offensive Präsenz einer kurzfristigen An- nullierbarkeit globaler Wirtschafts- und Regierungssymbole, wie es auf US-amerikanischen Boden jüngst der Fall war (9/11), erschüttert die Neue Welt und die Alte Welt in einem kollektiven Selbsterwertgefühl der Vorherrschaft und Unantastbarkeit. Eine Nation, die wie keine andere seit ihrer Gründung alle nur denkbaren Privilegien (Ausnahmen) für sich in Anspruch nimmt – sei es das Privileg der Landnahme, sei es das Privi- leg der Kriegsverschonung durch die beiden Weltkriege, sei es das Privi- leg der Atombombe, das Privileg der permanenten politischen und wirt- schaftlichen Einmischung, das Privileg der militärischen Interventionen, sei es das Privileg des Dollars, das Privileg der permanenten weltweiten Kriegserklärung, wie es in den Stellvertreterkriegen während des Kal- ten Krieges der Fall war, das Privileg der Menschenrechtsverletzungen in den eigens dafür geschaffenen Zonen beyond the line oder das Privileg der Amerikanischern Freiheit, der Sicherheit und Kontrolle–wird an ih- rem historischen Höhepunkt sämtlicher Privilegien-Akkumulationen in die Knie gezwungen. Ein Terror anderer Art erschüttert den bis dahin un- angefochtenen AZ des globalen US-Staatsterrors. Infolge dessen wurde der National Security Act von 2001 um weitere Regierungsinstitutionen aufgerüstet: die Patriot Acts I-X, die Gründung des Heimatschutzminis- teriums (Department of Homeland Security; DHS), der Intelligence Reform and Terrorism Prevention Act von 2004 und der Defense Authorization Act von 2006, der dem Präsidenten uneingeschränkte Verfügung über das nationale und supranationale Kriegsrecht verschafft. Von nun an wird ein neues Kapitel von Kriegsgeschichte geschrieben, nämlich der globale Antiterrorkrieg.

7.2 Nachrichtenbeschaffung Der Nationale Sicherheitsdienst der USA (National Security Agency; NSA) ist neben dem Zentralen Nachrichtendienst (CIA), dem Auslands- nachrichtendienst der USA, wahrscheinlich der größte und finanziell am besten ausgestattete Auslandsgeheimdienst der Welt. Die NSA ist für die weltweite Überwachung und Entschlüsselung elektronischer Kommuni- kation zuständig, für die Foreign Signals Intelligence (SIGNINT). Im Ge- gensatz dazu ist die Aufgabe der CIA: Beschaffung von Foreign Human In- telligence (HUMINT). Beide Geheimdienste bilden, neben den weitern 13 US-Geheimdiensten der Regierung, Verteidigung und Sicherheit, in der galaktischen US-Geheimdienst-Association Intelligence Community of the States (ICS), ein gigantisches Bollwerk der globalen Überwachung, Kont- rolle und Zensur. Dabei tritt die NSA mit folgenden Resolutionen auf: Die NSA sammelt, verarbeitet und vertritt fremde Signalintelli- genz. Das alte Sprichwort, dass Wissen Macht ist, war vielleicht nie wah- rer als heute, wenn man sie auf die heutigen Angriffe auf unsere Nation bezieht und auf die Rolle, die SIGINT spielt, um diese zu überwinden.

Souveränität 107 C: Ausnahmezustand

„Te National Security Agency collects, processes and disseminates foreign Signals In- telligence (SIGINT). Te old adage that «knowledge is power has perhaps never been 1 truer than when applied to today‘s threats against our nation and the role SIGINT plays in overcoming them.“²⁸⁴

NSA’s SIGINTS Auftrag verschafft unseren militärischen Führern und Gesetzgebern Informationen, um sicherzustellen, dass unsere natio- nale Verteidigung gewahrt bleibt und um globale US-Interessen zu avan- cieren. Diese Information ist im Speziellen limitiert auf ausländische Mächte, Organisationen oder Personen und internationale Terroristen. NSA antwortet auf die Anforderungen, die von Kunden der Informati- onsdaten erhoben werden; dies schließt alle Abteilungen und Ebenen der US-Exekutive mit ein. “NSA‘s SIGINT mission provides our military leaders and policy makers with intelligence to ensure our national defense and to advance U.S. glo- bal interests. Tis information is specifically limited to that on foreign powers, organ- izations or persons and international terrorists. NSA responds to requirements lev- ied by intelligence customers, which includes all departments and levels of the United States Executive Branch.“²⁸⁵

Die Ausführung der SIGINT-Mission hat sich von einer relativ sta- tischen, industrielles Zeitalter/Kalter Krieg-Kommunikationsumwelt zu jenen omnipräsenten, rasend schnellen, multifunktionalen Technolo- gien des heutigen Informationszeitalters entwickelt. Der immer weiter fortschreitende Umfang, Geschwindigkeit und Vielfalt heutiger Kommu- nikationsformen machen die Produktion von relevanter und zeitnaher Information für militärische Führer und nationale politische Kräfte her- ausfordernder als je zuvor. „Te prosecution of the SIGINT mission has evolved from the relatively static, industrial age, Cold War communications environment to the ubiquitous, high speed, multi-functional technologies of today‘s information age. Te ever-increasing volume, veloc- ity and variety of today‘s communications make the production of relevant and timely intelligence for military commanders and national policy makers more challenging than ever.“²⁸⁶

NSA hat eine starke Tradition von motivierten, hochqualifizierten Mitarbeitern, die sich voll für die Bewahrung der nationalen Sicherheit einsetzen. Während Technologie augenscheinlich weiterhin ein Schlüssel- element unserer Zukunft darstellt, erkennt die NSA, dass Technologie nur so gut ist wie die Leute, die sie schaffen und die, die sie nutzen. NSA bleibt seiner Kernmission verpflichtet: die großen analytischen Fähigkeiten und technologischen Kapazitäten auszuschöpfen, um sicherzugehen, dass die ²⁸⁴ National Security Agency, Central Security Service, Of- Nation einen bedeutenden strategischen Vorteil beim Vorantreiben ame- ficial Site, URL: http://www. rikanischer Interessen weltweit behauptet. „NSA has a strong tradition of dedicated, nsa.gov/sigint/index.cfm, highly qualified people deeply committed to maintaining the nation‘s security. While technology will Stand vom 19. Juni 2008 ²⁸⁵ National Security Agency, obviously continue to be a key element of our future, NSA recognizes that technology is only as good Central Security Service, Of- as the people creating it and the people using it. NSA remains committed to its core mission of ex- ficial Site, …a.a.O. ²⁸⁶ ebd. ploiting the Agency‘s deep analytical skill and technological capabilities to ensure the nation main- ²⁸⁷ ebd. tains a significant strategic advantage in the advancement of U.S. interests around the world.“²⁸⁷

EMERGENCY EMPIRE 108 Transformation des Ausnahmezustands 6. Der Wandel des Feindes (1)

SIGINT spielt eine lebhafte Rolle bei unserer nationalen Verteidi- gung, indem sie die richtigen Leute einstellt und die neueste Technologie benutzt, um Amerikas Führungsfiguren mit den kritischen Informatio- nen zu versorgen, die diese brauchen, um Leben zu retten, die Demokra- tie zu verteidigen und amerikanische Werte zu fördern. „SIGINT plays a vital role in our national security by employing the right people and using the latest technology to pro- vide America‘s leaders with the critical information they need to save lives, defend democracy, and promote American values.“²⁸⁸

Die Agencies erledigen im Verdikt von Regierung und Organisatio- nen Geheimdienstmissionen der Nachrichtenbeschaffung. Hierbei wird zwischen neun Beschaffungstypen differenziert: 1. der Human Intelligence/HumInt (Informationsbeschaffung mittels menschlicher Quellen) 2. der Signal Intelligence/SignInt (Informationsbeschaffung durch elektronische Mittel, z.B. Satellitenüberwachung, Abhören von Te- lefonen, Überwachen von E-Mails, insgesamt Abfangen von Infor- mation per Kabel, Satellit oder Radiowellen) 3. der Electronic Intelligence/ElInt (Informationsbeschaffung durch Radaranlagen) 4. der Communication Intelligence/ComInt (Informationsbeschaffung durch direkte Abhörmaßnahmen) 5. der Technical Intelligence/TechInt (Informationsbeschaffung durch Analyse feindlicher waffentechnischer Fähigkeiten) 6. der Measurement and Signature Intelligence/MasInt (Informations- beschaffung durch kombinatorische Auswertung von Daten aus verschiedene technische Sensoren und Quellen) 7. der Geospatial Intelligence /GeoInt (Informationsbeschaffung durch raumbezogene Aufklärung, d.h. kommerzielle kartografische Aus- wertungen von Karten und Geodaten, sowie Boden- und Klimaana- lyen, aus örtliche Vermessungen, Luft- und Satellitenbildern) 8. der Imagery Intelligence /ImInt (Informationsbeschaffung durch Bildaufzeichnungen jeder Art) und schließlich 9. der 2004 rekrutierten Open Source Intelligence /OsInt (Informati- onsbeschaffung aus öffentlichen Quellen, z.B. öffentlichen Daten- banken, Medien wie Zeitungen, Magazine, Radio, TV und compu- terbasierte Informationen, öffentlichen Suchmaschinen wie Google und Wikipedia).

Sämtliche Nachrichtenbeschaffungstypen werden von der Intelli- gence Community of the States (ICS) verwaltet, koordiniert und ausgewer- tet. Die ICS ist neben der US-Regierung das herrschende Informations- und Entscheidungsmonopol des US-Staates, eines Staates, der aus dem Potentat global agierender Agenten besteht. In welchem Ausmaß dieses Regierungs-System global agiert, vor allem seit der Freischaltung des Be- schaffungstyps OsInt, aufgrund der 2004 in Kraft getretenen Intelligence ²⁸⁸ ebd.

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Reform und dem Terrorism Prevention Act, zeigt das jüngste Medienbei- spiel der Kriminalisierung in Deutschland am Fall Andrej Holms.²⁸⁹ 1 Das gesamte US-Regierungsnetz ist ein weltweites Spionagenetz im Dienste nur einer Mission: dem Schutz vor terroristischen und an- deren Bedrohungen, Spionageabwehr, Terrorabwehr, Selbstverteidi- gung (Protecting Force) und nationaler Sicherheit. Unter Einbeziehung und Nutzung sämtlicher bekannter und zu Gebote stehender Kriegsfüh- rungsstrategien werden die Missionsaufgaben (auch Regierungsaufga- ben) wie umfasste Beschaffung von Informationen, Desinformation des Gegners, psychologische Kriegführung, Partisanen- und Terroristen-Un- terstützung, Sabotage sowie Spionageabwehr von den Agencies erledigt. Wie kein anderes Staatsimperium kennzeichnet das US-Regierungsnetz par excellence die post-politische Symptomatik im Emergency Empire: den totalen Zusammenfall von Staatsterror und Revolutionsterror in einem Raum der Anomie (Kriminalität) und des Terrors.²⁹⁰ Der Analyse des Militärhistorikers Martin van Creveld (2002) ist zu entnehmen, dass das Gewaltmonopol, seit Hobbes die wichtigste Funk- tion des Staates, in Zukunft wieder mit „anderen Gebilden“, wie Creveld es nennt, geteilt werden muss. Es handelt sich um postmoderne Gebilde, entsouveränisierte, entnationalisierte, enthegte, entlegitimierte Gebilde in einem asymmetrischen Krieg der Agenten und ihrer Zielagenda.

²⁸⁹ Am 31. Juli 2007 wurde der tig häufig in islamistischen In- ren 1985 und 1986 illegal Waf- Berliner Soziologe und Dozent formationszusammenhängen fen in den Iran geliefert zu ha- der Humboldt-Universität, Ber- ‚googelte’. ben, um mit den Gewinnen aus lin verhaftet. ²⁹⁰ Nicht zuletzt sei diese Tese diesen Transaktionen die Con- „Ich wurde vom Hämmern an am Beispiel der „Iran-Contra- tras zu unterstützen, wie auch der Tür geweckt. Als ich öffne- Affäre“ von 1986 konkretisiert, die Waffen hierfür in großen te, wurde ich zu Boden geris- die als Irangate in die Geschich- Mengen von einem in den USA sen, dann stürmte ein Dutzend te eingegangen ist. Dieser Fall bekannten Terroristen gekauft bewaffneter Männer die Woh- wurde als Prototyp der 80er zu haben. So konnte die Welt- nung und sicherte ein Zimmer Jahre eines staatlich geför- öffentlichkeit durch North’s nach dem anderen, darunter derten Terrorismus bekannt. Selbstauskunft erfahren, dass den Raum, wo unsere Kleinkin- Millionen Dollar wurden durch er bei seinen sämtlichen Hand- der schliefen.“ (Der Tagesspie- illegale Waffenlieferungen an lungen mit Unterstützung des gel Berlin, Nr.19708, 26. Ok- den Iran, der sich seit 1980 im damaligen Direktors des CIA tober 2007). Gemäß Paragraf Krieg mit dem Irak befand (Ers- agierte. North wurde zwar ver- 129a des ASOG / Allgemei- ter Golfkrieg), eingenommen urteilt, jedoch nach kurzer Zeit nes dem Gesetz zum Schutz und heimlich zur Unterstüt- amnestiert. Heute ist Oliver der Sicherheit und Ordnung, zung der Contras in Nicaragua North ein Idol der amerika- ist es erlaubt, jeden kritischen weitergeleitet, die in einem nischen Konservativen, hat Wissenschaftler zu kriminali- Guerilla-Krieg gegen die sandi- bereits mehrere Bücher veröf- sieren. Gegen Holm wurde seit nistische Regierung des Landes fentlicht, tritt in TV-Shows auf September 2006 ermittelt mit kämpften (Contra-Krieg). Die und wurde in der patriotischen, dem Argument „außergewöhn- Organisation dieser Vorgänge nunmehr auf Sat.1 laufenden lich hochkonspirativen Verhal- lag beim Nationalen Sicher- TV-Serie „JAG – Im Auftrag der tens“. Holm gehört zum Kreis heitsrat der Vereinigten Staa- Ehre“ mit seinem Storytelling der G-8-Gegner. Zudem wurde ten unter der Führung von Oli- verewigt. (Quelle: Wikipedia, nachgewiesen, dass er für seine ver North. Zudem wurde North Stand vom 24. Februar 2008) Forschungszwecke verdäch- schuldig befunden, in den Jah-

EMERGENCY EMPIRE 110 Transformation des Ausnahmezustands 6. Der Wandel des Feindes (1)

7.3 Intelligence Community Die Nachrichtengemeinschaft des Emergency Empire ist im Vormarsch! Die- se Tatsache trägt dazu bei, dass sich die Branche des Personenschutzes, der Spionage und Aufklärung um ein Mehrfaches repliziert und ausge- weitet hat – zur Intelligence Community. „Bis jetzt trugen diese Maßnah- men jedoch wenig dazu bei, das Problem zu lösen, sondern sie haben lediglich den Personenschutz zu einer weltweiten Wachstumsbranche ge- macht. In Deutschland hat sich die Anzahl der privaten Sicherheitsfirmen zwischen 1984 und 1996 mehr als verdoppelt (von 620 auf 1.400), und die Beschäftigung in diesem Sektor hat um 300 Prozent zugenommen. In Großbritannien waren 1950 10.000 Menschen im Personenschutz tä- tig, 1976 waren es 250.000, und da sich das Wachstum der Branche seit- dem fortgesetzt hat, dürfte die Anzahl der privaten Sicherheitskräfte die der staatlichen (237.000 im Jahr 1995) seit Jahren bei weitem übertref- fen. (In vielen Entwicklungsländern ist die Bedrohung von innen so groß, dass sich die bewaffneten Streitkräfte niemals ausschließlich auf die Si- cherung nach außen konzentrieren konnten.) In den Vereinigten Staaten arbeiteten 1994 doppelt so viele Menschen bei privaten Sicherheitsun- ternehmen wie bei der gesamten Polizei auf Bundes-, Staats- und loka- ler Ebene, und ihr Budget war 1,5 Mal so hoch wie das der Polizei. Die Sicherheitsfirmen machten damals einen Umsatz von 52 Millionen Dol- lar im Jahr, und bis zum Ende des Jahrhunderts wurde eine Verdopplung erwartet.“²⁹¹ [...] „Wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, werden die US- Bürger in nicht allzu ferner Zukunft mehr für private als für staatliche Sicherheitskräfte ausgeben. Das Verhältnis der entsprechenden Ausga- ben lag 1972 bei 1:7, inzwischen liegt es bei 1:5 – Tendenz weiter fallend. Mit 1,6 Millionen Beschäftigten gibt es bei privaten Sicherheitsfirmen bereits mehr Angestellte als bei den uniformierten staatlichen Sicher- heitskräften.“²⁹² Furore macht jüngst in diesem Kontext die Privatarmee „Black- water USA“, eine Firma, die noch vor dem Irakkrieg mittelmäßig ausge- stattet war und „in kurzer Zeit zu einem der weltweit größten Sicher- heitsdienstleister werden konnte. Begünstigt wurde der Aufstieg durch die Nähe von Blackwater-Chef Erik Prince zur Bush-Regierung.“²⁹³ Black- water steht beispielhaft für den jüngsten Zweig des militärisch-indust- riellen Komplexes, das Söldnerwesen und die Auslagerung (outsourcing) des staatlichen Gewaltmonopols an Privatunternehmen. In seinem Buch „Blackwater. Der Aufstieg der mächtigsten Privatarmee der Welt“²⁹⁴ zeigt Jeremy Scahill die Doppelgesichtigkeit von Regierungsmännern und Un- ²⁹¹ Martin van Creveld, Dunkle Vorschau, S. 12 ternehmern auf. Dieselben Männer, die als Regierungsmitarbeiter den ²⁹² ebd., S. 12 Markt für die Sicherheitsindustrie öffnen, profitieren später als Berater ²⁹³ Philipp Lichterbeck, Die oder Mitglieder der begünstigten Firmen. Oder sie wechseln von den Un- Söldner kommen, in: Der Tages- spiegel vom 4. Februar 2008, ternehmen in die Regierung. S. 25 Die Intelligence Community ist die neue Gemeinschaft im Emergency ²⁹⁴ Jeremy Scahill, Blackwater. Der Aufstieg der mächtigsten Pri- Empire, in der ein jeder jeden überwacht, in der jeder der Personenschützer vatarmee der Welt, München: des Anderen ist, sein Body Guard oder sein Agent Provokateur, ein jeder Kunstmann 2008

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ein Global Terror Player für seinen Krieg, seinen Rassismus, sein Jagdre- 1 vier, seinen Mord, seine Waffen, seine Marke (Brand) und seinen Gewinn. 7.4 Transfer (4): Emergency Empire – Präventionskrieg der Heimatschutzindustrie im Zeichen permanenter Bedrohungen von (Welt-)Sicherheit und (Welt-) Demokratie Das hier diskutierte potentielle Sicherheitsrisiko ist ein Risiko, dass durch KKK-Ereignisse antizipiert und auf Subjekte, Institutionen, Logisti- ken und Ströme projiziert wird. KKK-Ereignisse wie Katastrophen, Kriege und Krisen sind maximaleffiziente Sicherheitsrisiken in allen Bereichen des sozialen, psychischen, gesellschaftlichen Lebens. Sie sind so vielfäl- tig wie unerschöpflich, sowohl in ihrer antizipierten Darstellung als auch in ihrer Vermarktung, d.h. in der Vermarktung von Sicherheitsproduk- ten, die den prognostizierten und antizipierten KKK-Ereignissen und ih- ren Konsequenzen von vornherein entgegenwirken. Zu KKK-Ereignissen zählen unter anderem: Wirtschaftskatastrophen, Industriekatastrophen, Naturkatastrophen, Epidemien, Terrorismus, Klimakatastrophen, Bür- gerkrieg, Staatenkrieg, Demokratische Interventionen, Humanitäre In- terventionen, Finanzkrisen, Ölkrisen, Institutionskrisen, Markenkrisen, Verteilungskrisen, Wertekrisen. Der Zusammenfall sämtlicher Katastrophen in einem Raum Emer- gency, des AZ und der Anomie, wird hier auf der Argumentationslogik Lars Clausens aufgebaut, nämlich auf der Logik der Katastrophensozio- logie. Katastrophensoziologisch gesehen ist es der „krasse soziale Wan- del“, den Katastrophen in allen Gesellschaften erzeugen. Eine solche Dy- namik wird in einer sozialen, psychologischen und gesellschaftlichen Wahrnehmung von der spezifischen Katastrophenursache abgekoppelt. Vor dieser Argumentation Clausens fusionieren Katastrophen zu einer Dynamik extremer gesellschaftlicher Prozesse, in der Clausen schließlich die Katastrophe mit dem gesellschaftlichen Prozess gleich setzt. In sei- ner Herleitung existieren keine reinen Ereignisse im Sinne der reinen Na- turkatastrophe oder reinen Technikkatastrophe oder des reinen Krieges, da nach Clausen sämtliche Katastrophen entweder Produkt gesellschaft- licher Prozesse und Kommunikationen sind oder wiederum auf gesell- schaftliche Prozesse und Kommunikationen einwirken. 1. „Es existiert von diesem Standpunkt her gesehen, also keine rei- ne «Natur«–Katastrophe. Ob ein Schneefall eine Katastrophe ist, hängt von den Tatsachen ab, die Menschen einander vorgeben (z.B. von Ausrüstungen), oder von Behauptungen, die sie aufstellen (z.B. von einem Notruf).“²⁹⁵ 2. „Also kann es definitorisch auch keine reine Technische Katastro- ²⁹⁵ Lars Clausen, Krasser sozia- ler Wandel, Opladen: Leske und phe geben. Technische Verflechtungen sind geronnene soziale.“²⁹⁶ Budrich 1994, S. 15 3. „Endlich ist auch «der Krieg» kein fremd-dunkler Katastrophenver- ²⁹⁶ Lars Clausen, Krasser sozia- ler Wandel, S. 15 ursacher. Er ist eine historisch üblich gewordenen, ggf. katastro- ²⁹⁷ ebd.. phale Form sozialer Verflechtung.“²⁹⁷

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Zusammenfassend kann hier gesagt werden, dass „Nicht [also] «Natur» und (d.A.) «Technik» «Kriege» bewirken, als (d.A.) von ‚außen’ ins Sozial-Normale (die «Gesellschaft») hereinbrechende Katastrophen – sondern [es gibt] dass die (d.A.) kritischen Verflechtungen zwischen Men- schen und ihren Sinngebungsanstrengungen [, die] im Extremfall katas- trophenträchtig sind“.²⁹⁸ Hier setzt Clausen zum theopolitischen Impact der Katastrophe im souveränen Wunder, wie etwa bei Carl Schmitt her- ausgearbeitet, entschieden eine Antithese. „Ausgeschieden wird ferner das Wunder als Katastrophe-Ursache. Warum sich freilich die Menschen Gottes Finger in der Katastrophe nicht einmal von Soziologen werden ausreden lassen, bleibt ein Problem.“²⁹⁹ Interessanterweise besagt Clau- sens Tese, dass eine gewisse Katastrophenpotentialität gesellschaftli- chen Verflechtungszusammenhängen, quasi gesellschaftlichen Netzen, immanent ist. In ihrer finalen Form ist dann Katastrophe ein Sonderfall extremen sozialen Wandels. Emergencies sind Sonderfälle sozialen Wan- dels, als logische Konsequenz katastrophiler Disposition von Gesellschaf- ten, in deren Folge soziale, wie auch psychische Anomien und Krisen ste- hen. Somit stehen gesellschaftliche Prozesse generell auch für riskante Prozesse, die seit frühneuzeitlichen und modernen gesellschaftsvertrag- lichen Sicherheitsoptionen, wie auch durch postmoderne marktstrate- gische Sicherheitssuggestionen stets in mehr oder weniger erfolgreiche Kontrollkalküle von Mächten geraten. „»Katastrophe» soll hier als ein schlagender Fall sozialen Wandels behandelt werden, in dem ein wohleingespielter sozialer Prozess (ge- nannt: eine Gesellschaft oder eine Gemeinde oder ein Wohnkomplex in Hochhausform) sich (1) – in vorkatastrophischer Entwicklung – zunächst infolge besonderer sozial motivierender Ursache-Wirkungen-Verket- tungen von gesellschaftlich nicht einbezogenen («kriegerischen», «tech- nischen», «natürlichen») Ursachen (die sozial daran verhindert wurden, Motive zu werden) derart abgekoppelt, dass er (2) anschließend – in ka- tastrophischer Entwicklung – von eben diesen scheinbar abisolierten Ur- sache-Wirkungen-Ketten unvermutet («unnormal», «entsetzlich») Lügen gestraft wird – d.h. in seinem ganzen Geflecht mühsam genug gelernter, oft hochkunstvoller Offertentraditionen–, zur Kasse gebeten wird’; und was sich (3) dann abspielt. [...] Die Aufgabe der Katastrophensoziologie ist uns also, diese eigentümlichen Figurationen zu ermitteln, in denen sich eine Gesellschaft bis zu einem ‚Punkt’ bewegt, wo ihre agierenden Mitglieder sie auf eine als katastrophal empfundene Weise als ein auf ein- mal kraftlos gewordenes Offertensystem empfinden müssen“³⁰⁰, in der die Ereignisse „das Ende aller Sicherheit“ nach sich ziehen und damit ein- fach nur entsetzlich sind. Unter anderem erzeugt der von Clausen so genannte krasse soziale Wandel nicht nur das Ende aller Sicherheit, sondern auch das Ende kol- lektiver Abwehrstrategien. Demzufolge ist jede Sicherheitspolitik und von ²⁹⁸ ebd. Regierungen moderierte Präventionsstaatlichkeit nur eine euphemisti- ²⁹⁹ ebd. sche Farce, die dem aktuell explodierenden Sicherheits-Markt eine mode- ³⁰⁰ ebd., S. 19

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rierte Legitimität gibt. Aber nicht nur Sicherheit wird in diesem Kontext zur Handelsware, ebenso andere Konzepte eines Staates, die infolge von 1 Staatenauflösung und Turbokapitalismus nunmehr in privaten Händen zum Kaufgut werden. Dazu gehören Artikel wie Demokratie, Frieden, Frei- heit, Gerechtigkeit, Wohlfahrt und Wohlstand. Diese Diagnose der aktuel- len Katastrophenpolitik fokussiert direkt auf sämtliche Unternehmungen der Prävention, mit denen Katastropheninszenierungen gecovert werden: „auf der ganzen Skala zwischen der humanitären Errichtung von kleinen Rotkreuz-Diktaturen als Rettungsinseln im Chaos über Hilfe mit politi- schen Auflagen bis hin zu Annektionen. Beschönigend heißt es dann: Ein politisches Vakuum wird von außen aufgefüllt. Es erklärt sich aber auch der Zusammenbruch kollektiver Schutzvorkehrungen gegen Naturgefah- ren, also der Auftritt von Hungersnot, von Folgeseuchen, von Massenver- giftungen, von vormals harmlosen Wetterunbilden, die alle jetzt die aus- lösende Katastrophe in tiefeingreifende Verelendung umsetzen. [...] Die Außen-Interventionen verschärfen die innergesellschaftliche Krise bis zur kollektiven Handlungsunfähigkeit und machen alles zur desto leichteren Beute auswärtiger Ausplünderungen. Diese nun wieder zerstören das letz- te Zutrauen in eigene organisatorisch-politische Strukturen.“³⁰¹ Bei den grassierenden Präventionspolitiken, z.B. der Risikopräven- tion, wird konkret außer Acht gelassen, dass die Betroffenen Opfer sind, was nicht zuletzt gegenüber Organisationen wie den United Nations Eme- gergency Forces und anderen industriell aufgerüsteten Eingreiftruppen zu schweren Kritiken führt. „Den überlebenden oder eindringenden Beob- achter scheint es oft, dass die vormalige gegenseitige Nützlichkeit nur eine absolute gegenseitige Gefährlichkeit beim Kampf um die knappen Lebensressourcen verdeckt habe. Der Mensch ist des Menschen Wolf, sagten Sozialphilosophen wie Tomas Hobbes, die so etwas empirisch mitgemacht haben: Sie haben gesehen, wie engste Familienangehörige einander beim ersten Kranheitssymptom verließen, sie kennen die Plün- derungen, den gedankenlosen Mord auch bei geringstem Anlass, selbst den Kannibalismus.“³⁰² Dort wo Notstand entsteht, Betroffenheit, zerstörte Habitate und Desorientierung, machen sich explosionsartig Märkte breit – die emer- ging markets eines Emergency-Kapitalismus. Hier fusioniert das katastro- phensoziologische Entsetzen mit dem Marketing. Gleich dazu operieren Frühwarnmärkte, noch bevor Emergencies die juristischen Ausnahmezu- stände der rechtsfreien Räume produzieren. Frühwarnung prognosti- zierter und antizipierter Risiken sowie Sicherheitsprodukte bestimmen aktuell die Konkurrenz der Märkte, in einem Krieg der medialisierten und liberalisierten Emergencies.

³⁰¹ ebd., S. 4 ³⁰² ebd.

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2Kapitel 2 Kapitel 2 2 Grammatik der Freiheit

„300 Jahre lang war der Begriff des Krieges untrennbar mit dem Begriff des Staates verbunden. Dies galt zunächst in Europa, dann auch in anderen Tei- len der Welt, doch offensichtlich geht diese Phase heute zu Ende. Angesichts der Entwicklungen der letzten 50 Jah- re kann man davon ausgehen, dass der Krieg der Zukunft das sein wird, was man heute – wie vage auch immer – als Terrorismus bezeichnet.“¹ Martin van Creveld

Intro: Alles Recht ist Situationsrecht

Das Tema der Grammatik des Ausnahmezustands tangiert gewissermaßen das Kernstück der politischen Philosophie. Es befasst sich mit den zent- ralen Problemen der politischen Philosophie, jenen der Gesellschaftsver- träge, der politischen Teologie, der Souveränität, der Entscheidung und schließlich der Freiheit, denn Dreh- und Angelpunkt der Vertragsdebat- ten ist die Kategorie der Freiheit. An dieser Kategorie entzünden sich die ¹ Martin van Creveld, Dunkle Dispute und Politiken um Rechte, um jene der Urheberschaft, Inhaber- Vorschau im Kristall, in: Lettre International, Europas Kultur- schaft, Autorenschaft, um Monopole, um Eigentum und nicht zuletzt, da- zeitschrift, Nr.59, Winter 2002 raus resultierend, um Legitimität und Legalität des politischen Aktes, der

EMERGENCY EMPIRE 116 Transformation des Ausnahmezustands Intro: Alles Recht ist Situationsrecht

stets auch als Entscheidung aus dem Interpretament der Freiheit verhan- delt wird. Hier entsteht das Kalkül der Grammatik, der formalen Logik und Sprache von Rechtszusammenhängen, die ihre Begründung bereits bei Platon² wie Aristoteles³ und ihre Fortsetzung in den Gesellschaftsver- trägen der Frühen Neuzeit erfahren. Bis zum heutigen Tag sind wir mit Verfassungszusammenhängen dieser Grammatik konfrontiert. Allein der Umstand, dass ein Mensch von Geburtswegen seine Zustimmung in eine Vertragssituation gibt, zementiert ein Verdikt der letzten 300 Jahre, strapaziert es jedoch auch in Hinsicht seiner Negation. Im Emergency Empire, zentrales Axiom in dieser Arbeit für eine postmoderne Gesellschaft mit Beginn des 21. Jahrhunderts, wird die- sem Verdikt eine neue Rolle zugeschrieben. In Folge einer gouvernemen- talen Transformation von Gesetzen hin zu Interessen gehören auch die Elemente einer Grammatik des Ausnahmezustands nicht mehr allein zum Gegenstand einer modernen Souveränitätslehre und Souveränitätspoli- tik, sondern bereits auch zum Gegenstand des Begehrens, des Tausches und des Wettbewerbs. Michel Foucault nennt diesen Transformations- punkt die Verschiebung des Schwerpunktes des öffentlichen Rechts. „Das Grundproblem des öffentlichen Rechts ist nicht mehr so sehr wie im 17. oder im 18. Jahrhundert das Problem: Wie lässt sich die Souveränität begründen, unter welchen Bedingungen ist der Souverän legitim, unter welchen Bedingungen kann er seine Rechte legitim ausüben, sondern: Wie lassen sich der Ausübung öffentlicher Macht juristische Grenzen set- zen?“⁴ Dass Problem des öffentlichen Rechts modifiziert sich zum Prob- lem des Marktes und der politischen Ökonomie und wird gleichzeitig von zwei Seiten entworfen, von der Seite der Ökonomie und von der Seite des Rechts. Das Problem des Rechts im Kalkül der gleichzeitigen Analyse von Recht und Ökonomie entgrenzt schließlich die Materien und die Topoi der klassisch souveränen Grammatik zu einer neuen Staaträson des 19. und 20. Jahrhunderts, dem Utilitarismus und Liberalismus eines Jeremy Benthams oder Adam Smiths – der Heiligung des Privateigentums und der ökonomischen Effizienz. Foucault spricht hier von einer Diskrepanz zwischen zwei Freiheits- konzepten, als gleich von zwei heterogenen Systemen, „nämlich dem Sys- tem der revolutionären Axiomatik des öffentlichen Rechts und der Men- schenrechte und dem empirischen und an der Nützlichkeit orientierten Weg, der anhand der notwendigen Begrenzung der Regierung die Sphäre der Unabhängigkeit der Regierten definiert.“⁵ Diese Transformation des (Freiheits)rechts, in der das Problem der Nützlichkeit (Utilitarismus) im- ² Platon, Der Staat, hg. v. Otto mer mehr alle traditionellen Probleme des Rechts (Souveränität, Regie- Apelt, Felix Meiner: Leipzig rung) abdeckt, die etwa im 19. und 20. Jahrhundert stattfindet, kulmi- 1916 niert schließlich in eine Regierungstechnik, welche die Synchronizität von ³ Aristoteles, Kritik an den pla- tonischen Gesetzen (nômoi), in: öffentlicher Gewalt, der Polizei und dem ökonomischen Profit beinhaltet. Politik, hg. v. Burghard König, Im Emergency Empire haben sich sämtliche Konzepte, die als Be- Hamburg: Rowohlt 2003 ⁴ Michel Foucault, Biopoli- standteil einer klassischen Grammatik der Souveränität und des AZ gel- tik, S. 65 ten, zu Marktkonzepten emanzipiert, die im Rechtsfeld der öffentlichen ⁵ ebd., S. 70

Souveränität 117 Intro: Alles Recht ist Situationsrecht

Gewalt oder des öffentlichen Terrors, im Rechtsfeld des singulären AZ und der singulären Emergency-Strategie als Tauschwert wirksam werden. 2 Die Säkularisierung grammatikaler Wendungen im Kalkül des Tauschwertes, des Interessenquotienten und des Profits verleiht dem Schmitt’schen Axiom „Alles Recht ist Situationsrecht“⁶ neue Aktuali- tät. „Der Ausnahmefall, der in der geltenden Rechtsordnung nicht um- schriebene Fall, kann höchstens als Fall äußerster Not, Gefährdung der Existenz des Staates oder dergleichen bezeichnet, nicht aber tatbe- standsmäßig umschrieben werden. Erst dieser Fall macht die Frage nach dem Subjekt der Souveränität, das heißt die Frage nach der Souveräni- tät überhaupt, aktuell.“⁷ Was Carl Schmitt 1934 als Politischen Teolo- gie entwirft, ist eine Rechtfertigung des ultimativen Ausnahmerechts, durch einen Souverän beansprucht, sowie die Rechtfertigung des dezisi- onistischen Prinzips, das in dieser Arbeit als Emergency-Strategie auf den Boden einer neuen, zeitgemäßen Konzeptionsgrundlage gestellt wird. Die postume Willkür des Souveräns geschieht im Interesse der Souve- ränität, wobei der Begriff Interesse bereits neueren Datums ist und sich auf die Liberalisierung von Gesetzesmacht im Konvent von Marktpoli- tik bezieht. In den Worten von Ludwig von Mises, einem Zeitgenossen Carl Schmitts, ist das liberale Interesse folgendermaßen ausgelegt: „Das Grundprinzip des Liberalismus ist die Marktwirtschaft, d.h. die auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhende arbeitsteilige Wirtschaft. In dieser Wirtschaftsverfassung entscheidet letzten Endes das Kaufen oder Nichtkaufen von Seiten der Verbraucher über Menge und Beschaffenheit der zu erzeugenden Waren. Die Notwendigkeit, Ge- winne zu erzielen und Verluste zu meiden, zwingt die Unternehmer und die Eigentümer der Produktionsmittel, nach bestmöglicher und billigs- ter Versorgung der Verbraucher zu streben. In ihrer Eigenschaft als Er- zeuger und Verkäufer sind alle Glieder der Gesellschaft von den Käufern und Verbrauchern abhängig. Der Markt ist ein Austausch produktiver Dienste. Er ist auch als eine Demokratie bezeichnet worden, in der jeder Pfennig einen Stimmzettel bedeutet und die Gewählten sich täglich zur Neuwahl stellen müssen.“⁸ Das dezisionistische Souveränitäts-Prinzip ist in dieser liberalen Wirtschaftsverfassung ein terminus technicus der politischen Ökonomie, eine gouvernementale Vernunft, mit Foucaults Worten, die sich aus dem Argument der Not, des emergency legitimiert. „Es kann weder mit sub- summierbarer Klarheit angegeben werden, wann ein Notfall vorliegt, noch kann inhaltlich aufgezählt werden, was in einem solchen Fall gesche- ⁶ Carl Schmitt, Politische Teo- logie, S. 20 hen darf, wenn es sich wirklich um den extremen Notfall und um seine Be- ⁷ ebd., S. 12 seitigung handelt.“⁹ Der Souverän entscheidet darüber, wann ein Notfall ⁸ Ludwig von Mises, National- vorliegt und „auch darüber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen.“¹⁰ ökonomie. Teorie des Handelns und Wirtschaftens, München: Die Multiplikation des Souveränitäts-Prinzips führt uns zur Emer- Philosophia 1940, S. 27 gency-Strategie, der ultimativen Instant-Strategie eines singulären Frei- ⁹ Carl Schmitt, Politische Teo- logie, S. 12 heitsrechts mit den Mitteln des Merkantilismus, die Carl Schmitt aus der ¹⁰ ebd., S. 13 Sicht der politischen Teologie zusammenfasst: „Vorraussetzung wie In-

EMERGENCY EMPIRE 118 Transformation des Ausnahmezustands Intro: Alles Recht ist Situationsrecht

halt der Kompetenz sind hier notwendig unbegrenzt. Im rechtsstaatli- chen Sinne liegt daher überhaupt keine Kompetenz vor.“¹¹ Die Liberalisierung des Souveränitäts-Prinzips, das in dieser Arbeit als das Problem der Gewalt, das Problem der Entscheidung und das Problem der Ununterschiedenheit zusammengefasst und besprochen wird, setzt eine Multiplizierung des Souveränitätsmonopols¹² in Gang und gleich- zeitig eine De-Korporierung des Staatsmonopols in privatwirtschaftli- che Lobbys. So wie der Behemoth das Herzstück und Zentrum des souveränen Leviathans ist, wie im Abschnitt „Organizistische Staatskonzepte vs. In- dividualistische Staatskonzepte“ dargestellt, wird die Liberalisierung von Eigentumsrechten zum Herzstück und Zentrum aktueller Staatspo- litik. Das eine gilt synonym für das andere, die mythische Gewaltsym- bolik für die Gewalt einer merkantilen politischen Ökonomie von Regie- rungen und Lobbys, die ab hinc das souveräne Situationsrecht mit dem Interessenrecht zu einem neuen Paradigma der Freiheit, dem Emergen- cy-Empire verbinden.

¹¹ ebd., S. 12 ¹² „Souveränität ist höchste, nicht abgeleitete Herrscher- macht.“ ebd., S. 12

Souveränität 119 A: Das Problem der Souveränität

2 A: Das Problem der Souveränität Intro: Staat und Seele – Eine psycho-politischen Allianz In Bezugnahme auf Platons „Der Staat“ und Jean Bodins „Über den Staat“

Da das zentrale Anliegen dieses zweiten Kapitels die Darstellung des We- sens der politischen Teologie ist und dieses Anliegen untrennbar mit der Charakteristik und der „Symptomatik“ der Figur des Souveräns ver- bunden bleibt, deren spezifischer theo-politischer Auftrag im Mysterium des Entscheiders offenbar wird, führt der Text zwangsläufig zu einer Dar- stellung des psychologischen Profils eben jenes Entscheiders. Im Vorfeld einer Annäherung an die Definition der Souveränität via Hobbes, Locke und Rousseau können gewisse Grundlagen der Sou- veränitätsdefinition bereits bei Platon gefunden werden, nämlich in der Definition des Tyrannen. Interessant ist in dieser Herleitung Platons, in welcher die Tyrannei aus der Demokratie als Irrsinn¹³ hervorgeht, dass sie vergleichbare Züge mit den Darstellungen des Leviathans bei Hob- bes oder der Diktatur schließlich bei Carl Schmitt aufweist. Im „Neunten Buch“ in „Der Staat“ wird der Werdegang des Tyrannen beschrieben, der nach Platon seinen Ursprung im Eros hat. „Seit er aber unter des Eros ty- rannische Herrschaft geraten und nun für immer in Wirklichkeit ein sol- cher geworden ist, wie er vorher nur ab und zu im Traume ward, wird er vor keinem entsetzlichen Mord, vor keiner sündlichen Speise oder Tat mehr zurückschrecken.“¹⁴ Tyrannische Macht entspringt hernach einer triebhaften Gier, die sich in der Gewalt irrsinniger Alleinherrschaft Bahn bricht. Im Dialog zwischen Glaukon und Sokrates wird die psychologi- sche Natur des Tyrannen erschlossen, in dem Sokrates zu berichten weiß: „So ist denn in Wahrheit, wenn es auch mancher nicht glauben will, der ¹³ Platon, Der Staat, S. 355f., wahrhafte Tyrann in Wirklichkeit der ärgste Sklave, gar nicht zu überbie- „Ein tyrannischer Mann im ten in Liebedienerei und Bedientenhaftigkeit, ein Schmeichler der größ- vollsten Sinne, mein Treffli- ten Schurken“.¹⁵ Die Figur des Tyrannen, im Dialog zwischen Glaukon cher, wird es aber erst dann [aus dem demokratischen und Sokrates zu den drei Arten von Lust ins Verhältnis gesetzt, denen Mann, Y.M.], wenn er entweder jeweils eine Klasse entspricht, die der wahrheits- und weisheitslieben- durch Naturbestimmung oder durch vorsätzliche Lebenswei- den, der zornesmutigen und siegliebenden und der gewinngierigen Klas- se oder durch beides trunken, se, wird einer unechten und niederen Lustqualität zugeordnet. „Zu den verliebt und irrsinnig geworden ist.“ ebd., S. 355 dreierlei Lüsten, die es unserer Annahme zufolge gibt, nämlich eine von ¹⁴ ebd., S. 358 echter Art, die beiden anderen von unechter Art, ist das Verhältnis des ¹⁵ ebd., S. 366; siehe auch: Jac- Tyrannen dieses, dass er sich, fliehend vor Gesetz und Vernunft, noch ein ques Derrida, Schurken, zwei Essays über die Vernunft. [franz. ganzes Stück in das Gebiet jenseits der unechten hinein begeben hat, so Übers. v. Horst Brühmann], dass er nun ein Leben führt voll von Lüsten, wie man sie sonst nur Skla- Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 ven und Söldnern zutraut; und auf eine wie viel niedrigere Stufe er sich ¹⁶ ebd., S. 380 dadurch stellt, ist überhaupt gar nicht leicht zu sagen.“¹⁶

EMERGENCY EMPIRE 120 Transformation des Ausnahmezustands Intro: Staat und Seele – Eine psycho-politischen Allianz

Innerhalb der Klassifizierung der Lüste ist der Tyrann jene Figur, die sich zwischen den beiden unechten Lüsten aufhält, nämlich zwischen der Zorneslust (thymophilie) und der Gewinnsucht, bzw. Erwerbssucht. „Und nun müssen weiter bei dem zornmütigen Seelenteil nicht auch ganz ähnliche Entscheidungen hervortreten, wenn einer in seinen Hand- lungen dem Drange eben dieses Seelenvermögens folgt, sei es dass der Ehrgeiz seinen Neid, oder die Siegeslust seine Gewalttätigkeit oder die Übellaunigkeit seinen Jähzorn weckt, so dass er nur der Ehre, dem Sieg und dem Zorn zu ihrem vermeintlichen Rechte zu verhelfen und sie zu sättigen sucht, ohne Überlegung und Vernunft?“¹⁷ Unecht sind Zornes- lust und Gewinnsucht aus platonischer Sicht, da es Lüste sind, die den erotischen und tyrannischen Begierden entspringen und die somit am weitesten entfernt sind von der Lust der Vernunft, der Weisheits- und Wahrheitsliebe, die im platonischen Dialog quasi nur dem Philosophen als echte Herrscherqualität, als Gesetz schlechthin, zukommt. „Diesen am fernsten aber stehen doch, wie es sich uns erwiesen hat, die eroti- schen und tyrannischen Begierden.“¹⁸ Was bei Platon durch erotische und tyrannische Begierden, also durch Gemüts-, wenn nichts sogar Seelen- zustände hervorgerufen wird, nämlich zornmütiges, siegbegieriges und gewinnsüchtiges Verhalten, das sich in der Figur des tyrannischen Herr- schertypus konkretisiert, wird im Dialog zwischen Glaukon und Sokrates als zwanghaftes und somit unechtes und ungerechtes, niederes, auch ir- res Verhalten zu herrschen stilisiert. Die durchgehende Parallelität von Staat und Seele erscheint in der für Platons Werk typischen Wechselbegrifflichkeit zwischen Staat und Gerechtigkeit, resp. Tugend. „Der beste Staat ist die verwirklichte Ge- rechtigkeit, und die Gerechtigkeit kann sich nur in der Form des Staates als eigentliche Lebensmacht verwirklichen.“¹⁹ Interessant ist an diesem Punkt die Feststellung, dass es eines personellen Prinzips bedarf, welches spätestens mit Jean Bodins Staatsbegriff als Handlungs-Prinzip des Sou- veräns, bzw. souveränes Prinzip in die Geschichte der Staatstheorien und Gesellschaftsverträge eingehen wird und modifiziert als psycho-politische Symptomatik in den Herrscher-Figuren des Souveräns, des Leviathans, des Diktators in Erscheinung tritt. In einer solch gearteten Verbindung aus Herrschaft und Seelen- vermögen erscheint schließlich in Platons Staatsmodell der Tyrann zwar als Gewaltherrscher, jedoch in der Reihe des „königlichen Mannes“²⁰ mit sehr zweifelhaftem und „krankem“ Range. „Dieser Art also sind die Lei- den, um die jener Mann von tyrannischer Sinnesart, mit dessen Innerem es so schlecht bestellt ist, dass du ihn eben für den Unglückseligsten er- klärtest, sein Unglück noch erhöht in dem Fall, dass er nicht Privatmann bleibt, sondern irgend welchen Umständen nachgebend Gewaltherrscher wird und, unfähig sich selbst zu beherrschen, nunmehr sich anmaßt über ¹⁷ ebd., S. 378 andere zu herrschen.“²¹ ¹⁸ ebd., S. 379 ¹⁹ ebd., Einleitung, S. VII Schließlich offenbart die Verbindung zwischen Herrschaft und Ge- ²⁰ ebd., S. 367 müt ein Ähnlichkeitsverhältnis in Bezug auf die Staatsverfassung, die in ²¹ ebd., S. 366

Souveränität 121 A: Das Problem der Souveränität

Platons Modell zum Spiegel des tyrannischen Zustands wird. „[U]nd sein ganzes Leben lang wird er Angst, Krampf und Schmerz nicht los, wenn 2 anders sein Zustand dem der von ihm beherrschten Stadt gleicht.“²² Be- tont wird hier, dass die Sinnart des herrschenden Mannes die Art des Ge- meinwesens erzeugt. „Wird nun [nicht] ein Ähnlichkeitsverhältnis von der Art stattfinden, dass der Mann von tyrannischer Sinnart dem tyran- nisch regierten Staates entspricht.“²³ Oder an anderer Stelle heißt es: „Wenn nun der Mann dem Staate ähnlich ist, muss dann nicht auch in ihm sich die nämliche Stufenfolge finden? Muss seine Seele nicht über- voll sein von Knechtschaft und Unfreiheit und müssen nicht gerade die- jenigen Teile derselben, die an sich die edelsten waren, in Knechtschaft liegen, während ein kleiner und zwar der elendeste und tollste Teil als Herr waltet?“²⁴ Dass die Lebensmacht einer Person als Umstand für die Form und Lebensmacht des Staates gelten soll, ist in der Staatskonstruk- tion Platons eine methodische Sichtweise, welche die Analogie zwischen Staat und Seele thematisiert. Diese Sichtweise wird im Verlauf historisch folgender Staatsentwürfe, wie sie zum Teil auch hier besprochen werden, fortgesetzt. Was für Platons Urteil über den tyrannischen, den ungerechten Herrschertypus bestimmend ist, nämlich seine Herleitung aus dem See- len-Phänomen des Eros, verschiebt sich bei den weiteren Autoren der Ge- sellschafts- und Staatstheorien (Bodin, Hobbes, Schmitt, Agamben) in zu- nehmendem Maße in Richtung einer Pathologisierung (via Idealisierung) der Seelenqualität des Herrschers, bzw. Souveräns, welche in den jüngsten Abhandlungen Giorgio Agambens quasi ihren Höhepunkt findet. Agam- ben spricht von den Schwellenzuständen der Ununterschiedenheit und Paradoxie, die den Entscheider nicht nur heimsuchen, sondern die gera- dezu die Voraussetzung seiner ultimativen Entscheidung sind, gleichsam wie von psychopathischen Zuständen einer Borderline-Störung. In seinen Werken „Ausnahmezustand“ und „Homo Sacer“ fasst Agamben das Ma- terial Carl Schmitts gewissermaßen zusammen und überführt es in eine aktuelle psychologische und rechtsphilosophische Analyse postmoder- ner Souveränität. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der platonische Typ des Tyrannen in zweierlei Hinsicht als Vorläufer des Souveräns, resp. des sou- veränen Entscheiders gelten kann, wie späterhin in den Entwürfen von Bo- din, Hobbes, Schmitt, Agamben erkennbar wird. Zum einen, aus einer rechtsphilosophischen Perspektive gesehen, erscheint der Tyrann als Inhaber einer später so formulierten (vorver- traglichen) Freiheit, die „als tyrannischer Gebieter in voller Ungebunden- heit und Gesetzlosigkeit in ihm waltet.“²⁵ Hier ist bereits die Freiheit des Souveräns angekündigt, die sich durch das Prinzip auszeichnet, dass die Freiheit der Gesetzlosigkeit, wie es heißt (was eindeutig die Freiheit des ²² ebd. Naturzustands ist), nur im Souverän überlebt, als seine Kraft, die Giorgio ²³ ebd., S. 361 ²⁴ ebd., S. 362f. Agamben als Gestezeskraft hervorhebt. Hier schließt sich auch der Kreis ²⁵ ebd., S. 358 sowohl zu dem von Platon formulierten theoretischen Ansatz, nämlich

EMERGENCY EMPIRE 122 Transformation des Ausnahmezustands Intro: Staat und Seele – Eine psycho-politischen Allianz

dass der tyrannische Gewaltherrscher seine Herrschaft als Freiheit der Gesetzlosigkeit betreibt, als auch zu dem von Hobbes, welcher besagt, dass die vorvertragliche Gesetzlosigkeit des Naturzustands als Gewalt der Souveränität im Souverän überlebt. Diese Art der Herrschaft besitzt auf diese Weise im Kern ihrer Macht das Ausnahmerecht, Normative festzulegen, quasi als Privileg auf Totalität. In seinem kritischen Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ resümiert Karl Popper Platons Teorie folgendermaßen: „[S]tatt aber die Lehre von der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz mit Argumenten zu bekämpfen, vermied er es, sie überhaupt zu diskutieren. Und es gelang ihm, die humanitären Emp- findungen, deren Stärke er so gut kannte, für die Sache der totalitären Klassenherrschaft einer von Natur aus überlegenen Herrenrasse zu ge- winnen.“²⁶ Poppers kritische Einschätzung zu Platons rechtspolitischem Programm beschließt er mit folgendem Fazit: „Diese und einige ähnliche Erfahrungen Platons – der sich einer Gesamtsumme von zumindest neun Tyrannen unter seinen einstigen Schülern und Gefährten rühmen konn- te – warfen ein Licht auf die besonderen Schwierigkeiten, die mit der Auswahl von Menschen verbunden sind, die mit absoluter Macht betraut werden sollen. Es ist schwer, einen Menschen zu finden, dessen Charak- ter durch sie nicht verdorben wird. Wie Lord Acton sagt – Macht führt zur Korruption und absolute Macht zur absoluten Korruption.“²⁷ Zum anderen, aus einer psychologischen Perspektive gesehen, tritt der Tyrann als eine triebhaft-enthemmte Figur auf, die von psychoti- schen Episoden heimgesucht wird. Der bei Platon noch im Eros ursächlich begründete Irrsinn des Ty- rannen entfaltet sich in der späteren Literatur als ausgeprägte psycho- pathologische Symptomatik des Entscheiders, der das onto-theologische Wunder vermag. Diese Wunder jedoch könnten durchaus als affektive Re- sultate psychopathischen Tuns gelten. Betrachtet der Leser einschlägige Passagen in Arbeiten von Carl Schmitt oder auch Giorgio Agamben, bleibt es außer Zweifel, dass der totalen Gewalt- und Genozidbereitschaft in ab- soluten Machtsituationen unbedingt eine psychische Anomie zugrunde liegen muss, welche sich als rechtspolitische Anomie auf die Gewalten – und Gesetzeslage überträgt. Die Gefahr, die von einer „höchsten, recht- lich unabhängigen, nicht abgeleiteten Macht“²⁸ auszugehen vermag, ist nicht zu bannen, da diese souveräne Person, als Machthaber und gleich- zeitig Gefahrenträger, mit dem AZ in den Status absoluter Unantastbar- keit und Immunität gerät. Das Zentrum des Banns öffnet dem Macht- haber und Vollstrecker mit dem Gewaltenvollzug eine außergesetzliche Schutzzone, die zugleich auch seine Aporie repräsentiert. Der Irrsinn des Tyrannen, wie es noch bei Platon heißt, entfesselt sich im Machtrausch ²⁶ Karl. R. Popper, Die offene Ge- zu einer Selbstverbannung aus dem Kreis der Macht, ins Zentrum des sellschaft und ihre Feinde, [Der Zauber Platons], Bern: Francke Banns hinein, in die Selbstauslöschung und somit Neutralisierung. An 1957, S. 168 dieser Stelle findet sich die Parallele zu Platons Wort, nämlich der Gleich- ²⁷ Karl. R. Popper, Die offene Ge- sellschaft, S. 190 zeitigkeit von innerer und äußerer Anomie, beides synchron im souverä- ²⁸ Carl Schmitt, Politische Teo- nen Vollzug ausgelöst, respektive durch den pathologischen Impakt im logie I, ...a.a.O.

Souveränität 123 A: Das Problem der Souveränität

Souverän selbst, der nicht selten auf höchster Richterebene als Ruf Got- tes, als Wunder, verklärt wurde. 2 „Gleichwohl ist der Tyrann souverän“²⁹, heißt es nun endlich affir- mativ auch in Jean Bodins Souveränitätsentwurf. „Denn es ist göttliches und natürliches Gesetz, den Gesetzen dessen zu gehorchen, dem Gott die Gewalt über uns gegeben hat.“³⁰ Der Staatstheoretiker Jean Bodin gilt neben weiteren Teoretikern, wie Hobbes und Hegel, als Schlüsselfigur in der Auslegung des Staats- und Souveränitätsbegriffs bei Carl Schmitt. Seine Interpretation hat sich als grundlegend für die Konstitution des Begriffs der Ausnahme erwiesen. In der „Definition der Souveränität“³¹, wie auch in „Die kommissarischen Diktatur und die Staatslehre“³², argu- mentiert Schmitt direkt mit Bodins Entwurf. „Dass dieser Begriff sich an dem kritischen, das heißt am Ausnahmefall orientiert, tritt schon bei Bo- din hervor. Mehr als mit seiner oft zitierten Definition «la souveraineté est la puissance absolute et perpétuelle d’une République» ist er mit sei- ner Lehre von den «Vraies remaques de souveraineté» der Anfang der mo- dernen Staatslehre.“³³ Hier formuliert Bodin die „wahren Attribute der Souveränität. [...] Das hervorragendste Merkmal der fürstlichen Souverä- nität besteht in der Machtvollkommenheit, Gesetze für alle und für jeden einzelnen zu erlassen, und zwar, wie ergänzend hinzuzufügen ist, ohne dass irgendjemand [...] zustimmen müsste.“³⁴ „Staat und Seele“ ist als eine psycho-politische Allianz im Souverän selbst zu verstehen, welche die souveränen Rechtsgrundlagen erst her- stellt, gleichsam als Bedingung des Rechtssubjekts. Aus dieser Allianz heraus kristallisiert sich der „Sinn“ des Staates, wie auch die Legitimität des Rechtssubjekts in allen seinen Akten und Vollzügen. Der Rechts- und Staatsphilosoph Hasso Hofmann hebt in „Legitimität gegen Legalität“³⁵ hervor, dass es eben nur jener verifizierte Sinn vermag, das Rechtssubjekt als Träger eines Ethos des im Recht lie- ²⁹ Jean Bodin, Über den Staat, genden sittlichen Anspruchs zu rechtfertigen. „Aus diesem Sinn des Staa- [8. Kapitel, Über die Souverä- nität], Stuttgart: Reclam 2005, tes, der in einer Aufgabe besteht, aus der Wertbezogenheit des Staates im S. 21 Ganzen und der Wertintentionalität aller seiner einzelnen Akte, resul- ³⁰ ebd., S. 36 ³¹ Carl Schmitt, Politische Teo- tiert sein eigener Wert, seine überpersönliche Dignität.“³⁶ Hiermit sei hin- logie, 1. Kapitel: Definition der länglich die Würde und Unantastbarkeit des Rechtssubjekts erklärt, wie Souveränität auch die Schmitt’sche Formel „Alles Recht ist Situationsrecht“, resp. alles ³² Carl Schmitt, Die Diktatur, 1. Kapitel: Die kommissarische Recht ist Ausnahmerecht. Es sei davon auszugehen, dass sich als Instanz Diktatur und die Staatslehre des Rechtssubjekts nur eignet, wer es versteht, Gewalt und Paranoia si- ³³ Carl Schmitt, Politische Teo- logie, [1. Kapitel: Definition der tuativ aneinander zu entzünden und exklusiv in Besitz zu nehmen, wie Souveränität], S. 13 auch als Wunder und Gottes Gesetz (inherent right) zu autorisieren. Die ³⁴ Jean Bodin, Über den Staat, [10. Kapitel: Die wahren Attri- absolute Herrschaft eines Einzigen legitimiert seine Souveränität – und bute der Souveränität], S. 21 den Notfall. ³⁵ Hasso Hofmann, Legitimi- tät gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts, Berlin: Duncker & Humblot 2002 ³⁶ Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität, S. 65

EMERGENCY EMPIRE 124 Transformation des Ausnahmezustands 1. Politische Teologie

1. Politische Teologie Vom mystischen Grund souveräner Gewalt

Der heutige Gebrauch des Begriffs der Politischen Teologie wurde tat- sächlich von Carl Schmitt in seinen Büchern „Römischer Katholizismus und politische Form“ sowie „Politische Teologie“ geprägt. Er verarbei- tet darin die theologiegeschichtliche Entwicklung der Neuzeit mit Blick auf politische, staatliche und staatskirchenrechtliche Fragestellungen. Geprägt von der Philosophie der Scholastik, aber auch von den Staats- theoretikern Hobbes und Hegel, orientiert er sich an den Autoren der katholischen Restauration, vorzugsweise an dem spanischen Staatsphi- losophen Donoso Cortés. Die Politische Teologie von Cortés begreift Teologie als die immer schon anwesende und notwendige Grundlage von Politik. Schmitts Te- se, alle politischen Begriffe seien säkularisierte theologische Begriffe, hat demnach ihren Ursprung in den entsprechenden Überlegungen von Donoso Cortés, welche gleichermaßen die Anarchisten des 19. Jahrhun- derts inspirierten. In seinem Hauptwerk „Essay über den Katholizismus, den Liberalismus und den Sozialismus“ brachte Cortés die Quintessenz des politisch-theologischen Denkens auf den Punkt, als er deklarierte: „Jede große politische Frage schließt stets auch eine große theologische Frage in sich.“³⁷ Das von Schmitt definierte Wesen der Politischen Teo- logie ist ausschließlich vor dem Hintergrund dieser Einflüsse nachvoll- ziehbar. Es wird in einem Satz festgelegt, unumwunden knapp und präzi- se, wie so viele seiner berühmt gewordenen Sentenzen: „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Be- griffe.“³⁸ Und weiter heißt es bei ihm: „Nicht nur ihrer historischen Ent- wicklung nach, weil sie aus der Teologie auf die Staatslehre übertragen wurden, indem zum Beispiel der allmächtige Gott zum omnipotenten Ge- setzgeber wurde, sondern auch in ihrer systematischen Struktur, deren Erkenntnis notwendig ist für eine soziologische Betrachtung dieser Be- griffe.“; und schließlich: „Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Teologie.“³⁹ Der Begriff der Ausnahme kann in der Tat als theopolitischer Begriff aufgefasst werden, welcher exponiert seit der Frühen Neuzeit und konkret in den Diskursen der Staats- und Souveränitätslehre existiert. Mit To- ³⁷ Juan Donoso Cortés, Essay über den Katholizismus, den Li- mas Hobbes, Jean Jacques Rousseau und John Locke seien hier die feder- beralismus und den Sozialis- führenden Autoren der Ausnahmefrage und Ausnahmeregelung im Kontext mus, hg. und übers. v. Günter Maschke, Weinheim: VCH Acta von Staat und Souverän jener Zeit genannt. Als Vorläufer des modernen humaniora 1989, S. 89, [Ori- Begriffs des AZ im Staatsrecht gelten die Begriffe „Belagerungszustand“ ginaltitel: Ensayo sobre el ca- und „Kriegsrecht“. Sie gehen ursprünglich „auf den Erlass der Konstituie- tholicismo el liberalismo y el socialismo] renden Versammlung vom 8. Juli 1791 in Frankreich zurück“.⁴⁰ ³⁸ Carl Schmitt, Politische Teo- Dennoch erhält der Begriff des AZ erst mit Carl Schmitt als Rechts- logie I, S. 49 ³⁹ ebd. terminologie Eingang in die Verfassung, dessen Präzedenzfälle im Voll- ⁴⁰ Giorgio Agamben, Ausnahme- zug der Reichtagsbrandverordnung, des Ermächtigungsgesetzes, des zustand, S. 10

Souveränität 125 A: Das Problem der Souveränität

Gleichschaltungsgesetzes und des Reichskulturgesetztes in Deutschland nach 1933 in die Geschichte eingegangen sind. Im Zeitraum des II. Welt- 2 krieges rüsten die Alliierten, die betreffenden europäischen Staaten und die USA, damit begrifflich nach. Im angelsächsischen Raum tritt dieser Begriff als Te Emergency/State of Emergency in die Rechtsterminologie ein, in Italien als decreti di urgenza, stato die assedio (Belagerungszustand), in Frankreich als état de siège, état de donner und état de guerre. Charakteristisch für den Vollzug eines staatlichen Ausnahmezu- stands ist das von Carl Schmitt in den Rechtsgebrauch eingeführte Dop- pelprinzip der Dezision und Suspendierung. Im synchron wirkenden Prinzip gelten Monopolwillkür einerseits und Entrechtung andererseits. Hier verwirklicht sich der Diktaturbegriff, der schließlich in seiner Dezi- sionsgewalt die Verfassung selbst betrifft. „Ist die Verfassung eines Staa- tes demokratisch, so kann jede ausnahmsweise eintretende Aufhebung demokratischer Prinzipien, jede von der Zustimmung der Mehrheit der Regierten unabhängige Ausübung staatlicher Herrschaft Diktatur hei- ßen.“⁴¹ In einer solchen Diktatur ist Souveränität „höchste, nicht abgelei- tete Herrschermacht“.⁴² Der Begriff der Souveränität orientiert sich am Ausnahmefall, was sich in Schmitts prominenten Satz, „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“⁴³, manifestiert. „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.“⁴⁴ Die theopolitische Verschränkung zwischen Staat und Politik, Offenba- rung und Dezision (Entschlossenheit), Ausnahme und Souveränität de- finiert eine monotheistische Staatsdoktrin, die sich in einer Diktatur offenbart. In der Fortsetzung der Schmitt’schen Linie der Politischen Teologie, ist Gott an Politik gebunden und Politik von Gott bestimmt. 1. Gott = Souverän 2. Souverän = Dezisionsgewalt 3. Dezision = Ausnahmezustand 4. Ausnahmezustand = Suspendierung des Rechtsstaates/der Staats- bürgerrechte

„Ob nur Gott souverän ist, das heißt derjenige, der in der irdischen Wirklichkeit widerspruchslos als sein Vertreter handelt, oder der Kai- ser oder der Landesherr oder das Volk, das heißt diejenigen, die sich wi- derspruchslos mit dem Volk identifizieren dürfen, immer ist die Frage auf das Subjekt der Souveränität gerichtet.“⁴⁵ Das Korrelat im Subjekt des Staatssouveräns ist das souveräne Rechtssubjekt. Der Begriff der Souverä- nität ist in der europäischen Staats- und Rechtslehre unlösbar an die In-

⁴¹ Carl Schmitt, Die Diktatur, haberschaft von Staatsgewalt geknüpft. Aus dem lateinischen supremus S. XV gilt Souveränität als Prädikat der Überlegenheit, des Höchststehenden. ⁴² Carl Schmitt, Politische Teo- Die in supremus enthaltenen Grundcodierungen superus, der Obere, zum logie, S. 12 ⁴³ ebd., S. 11 Olymp gehörend, der Himmlische, beziehungsweise summus, der Höchst- ⁴⁴ Carl Schmitt, Der Begriff des stehende, das Oberhaupt, der Bedeutendste, der Vollkommenste, oder Politischen, S. 20 ⁴⁵ Carl Schmitt, Politische Teo- supera, die Oberwelt, das Himmelsgewölbe, wie auch supero, überlegen logie, S. 16 sein, die Oberhand haben, erschließen im Begriffsfeld seine Domäne und

EMERGENCY EMPIRE 126 Transformation des Ausnahmezustands 1. Politische Teologie

sein Prinzip. Bereits im lateinischen Sprachgebrauch zeigt sich die Ten- denz, Souveränität als etwas Oberes zu verstehen, welches das Untere produzieren und unterwerfen muss. Herrschaftsgebiet und Herrschaftsprinzip des Souveräns regieren aus einer metaphysischen Toposphäre, des supra, des Oben und des omnis, der Allmacht. Der Souverän in persona ist das Subjekt des Staatssouveräns, des omni-potens, als ominis regens superieur, der Stellvertreter Gottes. Seit den Souveränitätsdiskursen der Frühen Neuzeit gilt der Versuch einer ho- miniden und humanistischen Emanzipation des monotheistischen Staats- und Herrschaftsprinzips einer Emanzipation hin zum Widerstands- und Menschenrecht des Einzelnen. Wie unmöglich die Gleichsetzung von Subjektrecht des Souveräns und Menschenrechten in den Grundgesetzen und Verfassungen ist, verweist auf die Marginalien der politischen (Onto) Teologie des monotheistischen Abendlandes und ihre permanenten Ent- gleisungen im Zeichen des souveränen Ausnahmezustands. Gegen diese aus seiner Sicht „alte“ Politische Teologie Carl Schmitts wendet sich der katholische Teologe Johann Baptist Metz in einem Akt der Abgrenzung mit seiner selbst so benannten „neuen“ Poli- tischen Teologie. Aus der Sicht Metz’ und seiner Schüler wird von der Notwendigkeit einer Neuschöpfung des Begriffs gesprochen, von einer „theologisch Politischen Teologie“, die „nach Auschwitz“ und damit nach Schmitt, eine neue Gültigkeit haben kann. Aus seinem Schülerkreis entstand auch die Initiative zu einem „Jahrbuch für Politische Teolo- gie“, das in fächerübergreifenden Studien und Debatten vor allem auf diese Neubestimmung des Verhältnisses von Religion und Politik, von Christentum und politischer Kultur an den Grenzen der europäischen Moderne zielt. Für sein Gründungsprojekt der neuen Politischen Teolo- gie bezieht Johann Baptist Metz seine Einflüsse nicht nur von den Ver- tretern des katholisch modifizierten Sozialismus, bei denen er die „neue“ Politische Teologie bereits grundgelegt vorfindet, sondern vor allem von der linken Teorie der Frankfurter Schule, insbesondere von Walter Benjamin und Teodor W. Adorno. Über die Apostrophierung einer neu- en politischen Teologie durch Metz wird das Tema einer zwangsläu- figen Revision der Schmitt’schen Politischen Teologie nach Auschwitz akut, deren Neubestimmung und Neuausrichtung vor allem den Autoren Walter Benjamin, Jacques Derrida, Giorgio Agamben und Boris Groys zu verdanken ist. In der hier vorliegenden Arbeit wird die politische Teologie als Wis- senschaft vom mystischen Grund der souveränen Gewalt, bzw. vom mysti- schen Grund der Gesetzeskraft besprochen, in deren Fokus die Episteme Carl Schmitts mit den diskursiven Operationen Derridas und Agambens verknüpft und dargestellt werden. In diesem Sinne wird das hier bespro- chene Problem der Politischen Teologie in vier Subbereichen vorgestellt als „Das Problem der Paradoxie“, „Das Problem der Entscheidung“, „Das Problem der Doppelform“ und „Das Problem des Wunders“.

Souveränität 127 A: Das Problem der Souveränität

1.1 Das Problem der Paradoxie Das Problem der Souveränität erklärt sich in erster Linie aus dem Umstand 2 der souveränen Inhaberschaft des Gewaltenmonopols. Somit stellt das Problem der Souveränität das Problem der souveränen Gewalt zur Dis- position und zwar im Referat der Teologie. Souveräne Gewalt ist, den Herleitungen neuzeitlicher Gesellschaftsverträge folgend, göttliche Ge- walt und somit eine Materie der politischen Teologie. „Souveränität ist höchste, rechtlich unabhängige, nicht abgeleitete Macht.“⁴⁶ Anderseits hat diese göttliche Gewalt ihren Sitz in der Person des Stellvertreters Gottes und lässt diese in der Personenhierarchie Gott, Stellvertreter, Staat an zweiter Stelle erscheinen. Hier beginnt das Prob- lem der Paradoxie, da der Stellvertreter, anders als Gott, bereits eine Dop- pelrolle einnehmen muss: einmal außerhalb der Gesellschaft, einmal als ihr Bestandteil. Das Problem der Souveränität konstituiert das Problem des Ausnah- mezustands in einer eigentümlichen Dialektik. Der AZ setzt a priori ein Gesetz des Widerspruchs im Referat von Gewalt und Macht voraus, die ei- nem Souverän, einem Entscheider über den AZ obliegt. Dieses Gesetz ist gewissermaßen in sich ein Paradoxon, da es die Umkehrung (Abschaffung) der herrschenden Gesetze oder Normen; die Errichtung einer Anomie, nicht selten unter dem Alibi des Schutzes des Staates, beinhaltet. Der Sou- verän gilt hierbei als das Vollzugsparadigma, dem ein göttliches Prinzip zugrunde liegt, das als nômos bezeichnet wird. Das Prinzip des nômos be- deutet hernach die höchste Stellung, zwischen Gewalt und Recht zu ver- binden und damit, wie es bei Agamben heißt, in ihre Ununterscheidbar- keit zu drängen. „Der Souverän ist der Punkt der Ununterschiedenheit zwischen Gewalt und Recht, die Schwelle, auf der Gewalt in Recht und Recht in Gewalt übergeht.“⁴⁷ Dieser paradoxe Zusammenhang, den der Souverän erstellt und verkörpert, ist im Wesentlichen ein topologisches, auch territoriales Problem, das wir, hier schon einmal vorweggenommen, im nächsten Abschnitt als Doppelort vorstellen und diskutieren werden. Der Souverän steht einerseits außerhalb der geltenden Rechts- norm und agiert doch in ihrem Rahmen, als Entscheider, mit dem Schild des demokratischen Verfassungsrechts, Entscheider über ihre Suspen- dierung, als Problem der Göttlichen Gewalt, wie es bei Benjamin heißt, die das Naturrecht impliziert. „Diese göttliche Gewalt bezeugt sich nicht durch die religiöse Überlieferung allein, vielmehr findet sie mindestens in einer geheiligten Manifestation sich auch im gegenwärtigen Leben vor. Was als erzieherische Gewalt in ihrer vollendeten Form außerhalb des Rechtes steht, ist eine ihrer Erscheinungsformen. Diese definieren ⁴⁶ ebd., S.26 sich also nicht dadurch, dass Gott selber unmittelbar sie in Wundern aus- ⁴⁷ Giorgio Agamben, Homo sa- übt, sondern durch jene Momente des unblutigen, schlagenden, entsüh- cer, S. 42 ⁴⁸ Walther Benjamin, Zur Kri- nenden Vollzugs. Endlich durch die Abwesenheit jeder Rechtssetzung.“⁴⁸ tik der Gewalt, in: Walter Ben- Hier trifft sich Benjamin mit den Aussagen von Schmitt, welche beide jamin, Gesammelte Schriften, Bd. II.1, Frankfurt am Main: das inhärente Prinzip der Souveränität, nämlich des göttlichen Gesetzes, Suhrkamp 1999, S. 63 als naturgemäß oder naturgegeben festhalten und von einem Naturrecht

EMERGENCY EMPIRE 128 Transformation des Ausnahmezustands 1. Politische Teologie

her definieren, was auch immer göttliches Recht des Souveräns rechtfer- tigt. Die göttliche Gewalt beinhaltet im Wesentlichen die Synchronizität von Gewalt und Recht, die bei Agamben in die Terminologie der Ununter- schiedenheit mündet. Zudem sieht Carl Schmitt eine Doppelverortung des Souveräns in der Verfassung vor, in konstituierter Gewalt (pouvoir constitué) und kon- stituierender Gewalt (pouvoir constituant) gleichermaßen. Der Diktator ist in einer kommissarischen Diktatur eine konstituierte Gewalt (pou- voir constitué), der sich nicht über den Willen der konstituierenden Ge- walt (pouvoir constituant) hinwegsetzen kann. In Abgrenzung davon gibt es für Schmitt aber auch eine souveräne Diktatur, bei der ein Diktator eine Situation erst herstellt, in der er sich schließlich auch über die kon- stituierende Gewalt (pouvoir constituant) hinwegsetzen kann. In der Syn- chronizität von Gewalt und Recht, Legitimität und Legalität, pouvoir con- stituant und pouvoir constitué wird die Souveränität doppelt verortet. Es ist einerseits die konstituierte Gewalt, die die Souveränität gesellschafts- vertraglich begründet und andererseits muss diese konstituierte Gewalt in einem souveränen Akt hergestellt werden. Vor allem am Beispiel der Diktatur lichtet sich jener zweite Ort der Souveränität jenseits der ge- sellschaftsvertraglich konstituierten Gewalt. An diesem zweiten Ort be- gründet sich das Entscheidungsmonopol des Souveräns aus dem Natur- recht – aus dem göttlichen nômos, über den ausschließlich der Souverän verfügt, als ein Freiheitspotenzial, das aus dem Naturzustand nur un- ter der Bedingung des Souveräns weiter existiert. „Die Dezision und der eventuell individualisierte Wille des Souveräns und endlich die erwähn- ten nicht normativ gebundenen Positionen im Juristischen sind Elemen- te, die Schmitts Rechtsphilosophie einen politischen Charakter verlei- hen: Die Gefahr seiner Position liegt in der Vagheit der de facto nicht an Rechtsnormen festzumachenden Ausnahme und einer verbalen Veran- kerung seiner Tesen, die mit einer naturrechtlich begründeten Entschei- dungsgewalt des Souveräns einhergeht, wie sie gerade heute im Zeichen des Krieges gegen Terror eine starke Renaissance erlebt.“⁴⁹ Jene naturrechtlich begründete Entscheidungsgewalt, die sich, wie der Schweizer Kulturphilosoph Conradin Wolf in seinem Buch „Aus- nahmezustand und Menschenrechte“ feststellt, in der aktuellen inher- ent right-Diskussion beispielsweise der US-Regierung fortsetzt, hat ihre Grundlagen in den Gesellschaftsverträgen der Frühen Neuzeit, vor- nehmlich in Hobbes Gesellschaftsvertrag. Das Naturrecht spricht bei Hobbes jedem Menschen das Recht auf alles zu. „Von Natur hat jeder ein Recht auf alles und folglich auch ein Recht zur Herrschaft, wiewohl man dieselbe wegen des gegenseitigen Widerstandes nie wird erreichen kön- nen.“⁵⁰ Bei Hobbes wird die Freiheit eines jeden auf das „Recht alles zu ⁴⁹ Conradin Wolf, AZ und Men- tun, was nach dem eigenen Urteil der Selbsterhaltung [und Selbstvertei- schenrechte, S. 27 digung] förderlich sei“⁵¹, deutlich im Naturrecht⁵² verankert. Aus dieser ⁵⁰ Tomas Hobbes, Leviathan, S. 297 Wendung erklärt sich jedoch ein ambivalenter Freiheitsbegriff, nämlich ⁵¹ ebd., S. 321 jener, der von der Freiheit des Menschen über das Recht im Naturzu- ⁵² Vgl. ebd., S. 230

Souveränität 129 A: Das Problem der Souveränität

stand spricht, alles tun und lassen zu können, was der Selbsterhaltung und der Selbstverteidigung dient vs. jenem, der von Friede und Sicher- 2 heit im Rahmen der Rechtsordnung des Staates spricht, wo die Freiheit ein Monopol des Souveräns ist. Im Hobbesschen Freiheitsbegriff, der im vorstaatlichen Naturzustand verankert ist, steht einem jeden Menschen ein gewisses Entscheidungs- und Gewaltmonopol von Rechtswegen zu, auf das er mit der Einwilligung in den Gesellschaftsvertrag verzichtet. Der Souverän fokussiert bei Hobbes bereits, was später bei Schmitt das Entscheidungsmonopol genannt wird, im Begriff des Willens. Im staatlichen Zustand hat der Mensch seine naturrechtliche Frei- heit an den Leviathan abgeben und wird durch Befehle zum Gehorsam ge- genüber dem souveränen Willen verpflichtet.⁵³ Die Vorteile eines solchen freiwilligen Freiheitsverzichts des Einzelnen müssten im Grunde geprüft werden, weil der Vorteil einerseits im Verzicht Aller und andererseits im Gewinn bei Einem liegt. Dass in einem solchen Geschäft – in dem die Frei- heit gegen die Norm getauscht, hingegen die Norm vom Wille des Sou- veräns regiert wird zum Frieden und zur Sicherheit der Bürger – und da- mit die Freiheit monopolisiert ist, entwickelt sich bis in die heutigen Tage zu einer „neuen“ Ursache für Bürgerkriege, denen Hobbes gerade mit sei- nem Leviathan entfliehen wollte. „Das Recht ist Freiheit, d.h. Ausnahme von bürgerlichen Gesetzen [Norm]. Bürgerliches Gesetz hingegen ist Ver- pflichtung, wodurch die natürliche Freiheit entweder aufgehoben oder be- schränkt wird. Von Natur hat nämlich jeder Mensch das Recht, seine Kräf- te und Fähigkeiten nach eigenem Willen zu gebrauchen; dieses wurde aber durch das bürgerliche Gesetz aufgehoben.“⁵⁴ Das Recht ist Freiheit, die Ausnahme der Norm, somit ist Freiheit gleich Normfreiheit. Freiheit be- deutet das Recht eines jeden auf Selbsterhaltung und Selbstverteidigung, die Vernichtung der Norm, was bei Hobbes an anderer Stelle Bürgerkrieg heißt. Das Recht ist Freiheit, die Ausnahme der Norm, gilt allerdings nur auf der Ebene der Souveränität. Denn erst dort wird der naturrechtlich- freiheitliche Bürgerkrieg zum „ordentlichen Krieg“ als „Rechtmäßiger AZ“ im Entscheidungsmonopol des Souveräns. Diese Festlegung ist derartig spektakulär, betrachtet man sie als Ausgangspunkt einer modernen Ge- nealogie des Ausnahmezustands, sprich des Krieges. Hier beginnt die Differenzierung zwischen Norm und Entschei- dung qua Freiheit, die beim Souverän liegt, was bei Schmitt als Differenz zwischen konstituierter Gewalt (pouvoir constitué), der Norm, dem Volk und konstituierender Gewalt (pouvoir constituant), der Entscheidung vor- gestellt wird. Wobei die eine Gewalt souverän ist, ohne über den Aus- nahmezustand zu verfügen und die andere Gewalt das Entscheidungs- monopol über den AZ zur Entscheidung, d.h. die Verfassung [Norm] zu suspendieren, innehat. Hier beginnt der Schmitt’sche Topos des Dezisi- onismus, der Diktatur. „Es gibt keinen Royalismus mehr, weil es keine Könige mehr gibt. Es gibt daher auch keine Legitimität im überlieferten ⁵³ Vgl. ebd., S. 231 Sinne. Demnach bleibt [für ihn] nur ein Resultat: die Diktatur. Es ist das ⁵⁴ ebd., S. 242f. Resultat, zu dem auch Hobbes gekommen ist, aus derselben, wenn auch

EMERGENCY EMPIRE 130 Transformation des Ausnahmezustands 1. Politische Teologie

mit einem mathematischen Relativismus vermischten Konsequenz dezi- sionistischen Denkens. «Auctoritas, non verita facit legem.»“⁵⁵ Wenn die Bedingung der Möglichkeit einer gesellschaftsvertrag- lich konstituierten Gewalt eine ganz andere Gewalt ist, eine Gewalt, die außerhalb des Rechts steht und es legitimiert, dann hat im Sinne He- gels alles Recht seine Bedingungen im Unrecht. Daraus folgt für Schmitt: „Alles Recht ist ‚Situationsrecht’. Der Souverän schafft und garantiert die Situation als Ganzes in ihrer Totalität. Er hat das Monopol dieser letz- ten Entscheidung. Darin liegt das Wesen der staatlichen Souveränität, die also richtigerweise nicht als Zwangs- oder Herrschaftsmonopol, son- dern als Entscheidungsmonopol juristisch zu definieren ist, wobei das Wort Entscheidung in dem noch weiter zu entwickelnden allgemeinen Sinne gebraucht wird. Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der staat- lichen Autorität am klarsten. Hier sondert sich die Entscheidung von der Rechtsnorm, und (um es paradox zu formulieren) die Autorität beweist, dass sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht.“⁵⁶ Das Wesen der staatlichen Autorität, die der Ausnahmefall offen- bart, ist die Formulierung von Gesetzen aus der Gesetzlosigkeit heraus; ist die Schöpfung von Nomoi aus der Anomie. Das Wesen der staatlichen Autorität existiert also außerhalb aller Gesetze und Nomoi, in der Geset- zeslosigkeit, der Anomie. Das Wesen der staatlichen Autorität lässt sich nach Schmitt als „der metaphysische Kern aller Politik“ betrachten.

1.1.1 Der nômos als göttliches Prinzip der Souveränität Die politische Teologie hat sich nach Schmitt immer wieder auf das grie- chische Wort Nomos, als den ursprünglichsten Begriff der Rechtsordnung berufen, obwohl es sich eigentlich – will man beispielsweise den Hymnen des «Orpheus» folgen, nach «Nemesis», der Zuteilung, «Dike», der Recht- sprechung und «Dikaiosyne», dem Staatsrecht – um den vierten und his- torisch letzten Rechtsbegriff der Griechen handelt. Die historisch erste Strafsache, Erinnyen gegen Orestes, lässt sich mit Aischylos’ Drama „Die Eumeniden“ tatsächlich erst kurz nach dem Trojanischen Krieg, also um 1200 v. Chr. datieren. Auch Homer gebraucht in der Ilias oder der Odyssee ausschließlich die Worte «Arne» und «Mideia» obwohl ihm der griechische Begriff des Nomos durchaus bekannt gewesen sein könnte, wie beispiels- weise seinem Zeitgenossen Hesiod, der ihn in seiner Schrift „Werke und Tage“ bereits immer wieder gebraucht: «Und hör’ auf das Gesetz, schlag’ Dir Gewalttat ganz aus dem Sinn. Dies ist nämlich die Ordnung, die Zeus den Menschen gegeben [hat]: Fische und wildes Getier und geflügelte Vögel, die sollen eins das and’re verzehren, denn es gibt kein Gesetz un- ter ihnen; doch den Menschen verlieh er das Gesetz, das sich als das weitaus Beste erweist; denn ist man gewillt, das Gerechte zu sagen, wenn man es sieht, dann schenkt einem Zeus später Glück in ⁵⁵ Carl Schmitt, Politische Teo- Fülle. […] Doch wer im Eid ehrlich [ist], dessen Geschlecht wird künftig gedeihen.» ⁵⁷ logie, S. 66 ⁵⁶ Hesiod, Werke und Tage, übers. u. hg. v. Otto Schönber- Mit Nomos scheint Hesiod zunächst eine Art Naturgesetz zu be- ger, Stuttgart: Reclam 2004, S. 275ff. schreiben, wenn er andeutet, dass das menschliche Gesetz in der Natur ⁵⁷ Hesiod, Werke und Tage, beobachtete Prinzipien auf menschliche Verhaltensweisen überträgt und S. 275ff.

Souveränität 131 A: Das Problem der Souveränität

anwendet. Und wenn man den 65. Orpheus‘schen „Hymnos an Nomos“ heranzieht, dann könnte man fast glauben, dass selbst die „Götter“ noch 2 diesem Gesetz unterliegen, da es sich bereits durch die Planetenbahnen und die Ordner der Sterne ausdrückt. Der griechische Begriff des Nomos, so wie er von den politischen Teologen nach Schmitt gebraucht wurde, scheint also ein Naturgesetz zu bezeichnen, das tatsächlich nur insofern ursprünglich ist, soweit es sich theologisch begründet. Und gegen diese theologische Begründung des Nomos wendet sich bereits ein Fragment Pindars: «Nomos, – Herrscher über alle Sterblichen und selbst die Unsterblichen -, führt mit all- mächtiger Hand und noch das Gewaltsamste macht er zu Recht. Des sind mir des Herakles’ Taten Zeugen, der Geryones’ Rinder zu Eurystheus’ kyklopischem Tore trieb, und hatte sie nicht erbeten und auch nicht gekauft.«⁵⁸

Auch wenn dem Nomos sowohl die Sterblichen als auch die Un- sterblichen unterliegen, weist Pindar auf eine den Gesetzessätzen inne- wohnenden Mangel hin: Die von Menschen gemachten Nomoi lassen sich nahezu beliebig ändern. Die politischen Teologen haben demgegenüber immer auf einen ursprünglichen und damit göttlichen Nomos beharrt, der sich gerade deshalb nicht beliebig ändern lasse, da er ursprünglich und göttlich ist. Solch göttliche Gesetze haben jedoch einen ganz ande- ren Mangel, da man sie nämlich nicht mehr beliebig bzw. überhaupt nicht mehr ändern kann. Bleibt, wie bereits Platon feststellte, nichts weiter üb- rig, als sich an sie zu halten, so wie Marionetten, die an ihre Fäden ge- bunden sind: „Athener: machen wir uns also darüber folgende Vorstel- lung. Wir wollen ein jedes von uns Lebewesen als eine Marionette der Götter ansehen, mag sie nun als deren Spielzeug oder mit irgendeiner ernsten Absicht zusammengefügt worden sein; denn das können wir ja doch nicht erkennen. Das aber wissen wir, dass die erwähnten Gefühle, die gleichsam eine Art Drähte oder Schnüre in uns darstellen, an uns zie- hen und dass sie uns, da sie als Gegensätze einander entgegenwirken, zu entgegengesetzten Handlungen hinzerren, gerade dahin, wo Tugend und Schlechtigkeit voneinander getrennt liegen. Denn einem einzigen dieser Züge, so besagt unsere Rede, müsse ein jeder stets folgen und ihn auf kei- nen Fall loslassen und müsse so gegen die anderen Drähte anstreben; die- ser sei die goldene und heilige Leitung der vernünftigen Überlegung, die man das gemeinsame Gesetz der Stadt nenne; die anderen Züge dagegen seien starr und eisern, dieser aber biegsam, da er aus Gold sei, während die anderen den verschiedensten Arten gleichen. Daher müsse man der schönsten Leitung, der des Gesetzes [nômos], allezeit zu Hilfe kommen; denn da die vernünftige Überlegung zwar schön, aber sanft sei und kei- ne Gewalt anwende, so bedürfe ihre Leitung der Helfer, damit in uns die goldene Art die andern Arten besiege. Und auf diese Weise wäre denn der ⁵⁸ Pindari carmina cum frag- Mythos der Tugend, dass wir nämlich gleichsam Marionetten sind, geret- mentis, hg. v. Cecil M. Bowra, tet, und es dürfte so irgendwie deutlicher werden, was es bedeutet, sich Oxford: Clarendon Press 1935, [Nachdruck 2002], Fragment selbst überlegen oder unterlegen zu sein, und für die Stadt und den Ein- XXVIII zelnen würde deutlich, dass dieser in sich selbst eine wahre Ansicht über

EMERGENCY EMPIRE 132 Transformation des Ausnahmezustands 1. Politische Teologie

diese Zugkräfte gewinnen und ihr folgend leben muss, während die Stadt eine solche Ansicht von einem der Götter oder von eben dem, der dies er- kannt hat, übernehmen und sie zum Gesetz machen und dem gemäß mit sich selbst und mit den anderen Städten verkehren muss.“⁵⁹ Das Bild der Marionette lässt sich ikonologisch als antiker Vorläu- fer des Leviathans interpretieren, in dem die konstituierte Gewalt sprich- wörtlich vom Souverän abhängt. Und es sind gerade diese Fäden an de- nen die Marionette hängt, die die Abgängigkeit der antiken Stadt oder des modernen Staates von etwas anderem, im Bild des Leviathans nicht mehr sichtbar, symbolisieren und dabei auf einen Ort jenseits der politi- schen Bühne der konstituierten Gewalt verweisen, von dem aus die Göt- ter die Fäden zeihen. Im Jenseits der politischen Bühne waltet in der An- tike die göttliche Gewalt.

1.2 Das Problem der Entscheidung Das Problem der Entscheidung, bei Carl Schmitt ebenfalls in der „Po- litischen Teologie“ formuliert, lässt sich auch hier mit folgender Schmitt’schen Sentenz zusammenfassen: „Auch die Rechtsordnung, wie jede Ordnung, beruht auf einer Entscheidung und nicht auf einer Norm.“⁶⁰ In dieser Sentenz sind drei Tesen enthalten. Erstens: die Entscheidung wird von der Person des Souveräns situativ vollzogen; zweitens: die Ent- scheidung des Souveräns setzt die Norm außer Kraft und drittens: die Entscheidung des Souveräns bezeugt den Ausnahmezustand, quasi den Raum der Gesetzlosigkeit. Hierauf antwortet Agamben mit folgendem Satz: „Der Ausnahmezustand scheidet die Norm sozusagen von ihrer An- wendung um letztere zu ermöglichen. Er führt ins Recht eine Zone der Anomie ein, um eine tatsächliche Normierung des Wirklichen möglich zu machen.“⁶¹ Und weiter, „Wir können also den Ausnahmezustand in der Schmittschen Lehre definieren als den Ort, wo der Gegensatz zwischen Norm und ihrer Anwendung seine höchste Intensität erreicht.“⁶² Das Problem der Entscheidung ist im Problem der Souveränität ver- ankert, die, so Schmitt, von allen juristischen Begriffen am meisten von aktuellen Interessen beherrscht ist. Das Grundproblem der Souveräni- tät, welches sich in der Verbindung von faktischer und rechtlich höchs- ter Macht zeigt, äußert sich schließlich im Entscheidungsmodus des Souveräns, der zwischen den Materien der „höchsten Kompetenz“⁶³ und dem „soziologisch-psychologischen Machtkomplex“⁶⁴ oszilliert. Anders ⁵⁹ Platon, Nomoi (Gesetze), [Buch I – III], in: Platon, Wer- formuliert, stellt Schmitt diese Materien weiterhin als „Dualismus der ke, Göttingen: Vandenhoeck & Methoden von Soziologie und Jurisprudenz“ dar, wobei er hier für eine Ruprecht, 1994, [Erstes Buch], S. 31 „Einheit und Reinheit“⁶⁵ der Rechtsordnung, quasi des Staats, eintritt. ⁶⁰ Carl Schmitt, Politische Teo- Diese Einheit und Reinheit betrifft das Juristische, als gleich dem Teo- logie, S. 16 logischen, welches von allem Soziologischen rein und frei ist. Die Ent- ⁶¹ Giorgio Agamben, Ausnahme- zustand, S. 46 scheidung, in jedem Fall die souveräne (göttliche) Entscheidung, verfügt, ⁶² ebd., S. 47 so gesehen, über eine Bestimmung, nämlich die Bestimmung des recht- ⁶³ Carl Schmitt, Politische Teo- logie, S. 28 lichen (und rechten) Wertes und begründet somit das Problem der Ent- ⁶⁴ ebd., S. 28 scheidung: zwischen der Idee der Entscheidung und dem Resultat ihrer ⁶⁵ ebd., S. 30

Souveränität 133 A: Das Problem der Souveränität

Begründung, zwischen absolut und relativ, zwischen auctoritas (interposi- tio)und potestas, zwischen abstrakt göttlich und normativ richtig. 2 Carl Schmitt nennt das Problem der Entscheidung ein an die Rechtsform gebundenes, wie auch (schon mehrfach erwähnt) direkt pro- portional an die Souveränität gebundenes Problem. In anderer Weise formuliert, lesen wir: „Das Problem der Souveränität [gilt] als Problem der Rechtsform und der Entscheidung.“⁶⁶ In dieser Trias: Souveränität – Rechtsform – Entscheidung tritt auch jeder einzelne Begriff für sich in Erscheinung. In der Schmitt’schen Argumentation muss die Entscheidung im Wesentlichen als formaler Akt begriffen werden. Die Notwendigkeit ei- ner Entscheidung schließt die Entscheidung selbst als ein selbstständiges determinierendes Moment ab, die nur als ein solches Moment wiederum für die Bestimmung des rechtlichen Wertes bedeutsam sein kann. Was die Entscheidung nach Schmitt als rechtlichen Wert bedeutsam macht, ist eine ihr innewohnende formale Reinheit, die erst im Spiegel eines Urteils situa- tiv erwirkt wird. „In seinem frühen Aufsatz Gesetz und Urteil argumentiert Schmitt, dass ein Gerichtsurteil nicht aus einer Norm abgeleitet werden kann und deshalb nicht als ein Modus der «Urteilskraft» verstanden wer- den sollte.“⁶⁷ Eine Entscheidung ist demnach eine formale Praxis des Geset- zesvollzugs und entsteht ipso facto im singulären Urteil [des Souveräns]. Was eine Entscheidung nach sich zieht, ist der Eingriff ins Rechtssystem. Hier begründet sich das von Schmitt so genannten Problem der Entschei- dung, gleichzeitig als das Problem der Rechtsform. Aus der Entscheidung erwächst die Norm. Die Entscheidung selbst ist der Faktor X im Ermes- sensspielraum des singulären Urteils. Ein Zurechnungspunkt, wie Schmitt sagt, und niemals umgekehrt, dass die Entscheidung etwa einer Norm ent- springe. „Es wird nicht mit Hilfe einer Norm zugerechnet, sondern um- gekehrt; erst von einem Zurechnungspunkt aus bestimmt sich, was eine Norm und was normative Richtigkeit ist.“⁶⁸ Die Schmitt’sche Konklusion dieses spezifischen Problems der Entscheidung und der Norm findet sich in dem Satz: „Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren.“ Aus dieser Quintessenz erwächst der spezifische Ort und die spe- zifische Rolle des Entscheiders. Mitnichten ist er für die Rechtsordnung der Ort ab ovo und er ist zugleich der Ort der Eigenbedeutung. „Bei der selbstständigen Bedeutung der Entscheidung hat das Subjekt der Entschei- dung eine selbstständige Bedeutung neben ihrem Inhalt. Es kommt für die Wirklichkeit des Rechtslebens darauf an, wer entscheidet.“⁶⁹ Das hieraus resultierende spezifische Problem ist nach Schmitt ein Problem der juris- tischen Form. Mit anderen Worten kann das Problem der Entscheidung nur durch eine juristische Form gelöst werden, die wir später bei Schmitt ⁶⁶ ebd., S. 23 im Prinzip der Präsentation finden können, nämlich im Prinzip der Wirk- ⁶⁷ Samuel Weber, Gelegenheits- samkeit und der Wirkung. Denn nur in einem formalen Wirkungsprinzip ziele. Zur Militarisierung des Denkens, Zürich und Berlin: Di- scheint der Gegensatz von Entscheidungsursache (singuläres Urteil) und aphanes 2006, S. 57 Entscheidungsakt (aus dem Nichts), von Persönlichkeit und Befehl, von ⁶⁸ Carl Schmitt, Politische Teo- logie, S. 42 f Person und Idee überwindbar zu sein. „Was macht aber eine Entscheidung ⁶⁹ ebd., S. 46 «wirksam»? Ist es bloß die Suspension des existierenden Zustands positi-

EMERGENCY EMPIRE 134 Transformation des Ausnahmezustands 1. Politische Teologie

ven Rechts, oder beinhaltet es auch andere Faktoren? Mit diesen Fragen und Erwägungen [im Sinn] können wir zu Schmitts Behandlung der ein- zigartigen politischen Autorität des römischen Katholizismus zurückkeh- ren. Sie leitet sich [...] nicht allein von seinem legalistischen Formalismus, sondern von seiner «Kraft zur Repräsentation» ab.“⁷⁰ Dieses formale Wir- kungsprinzip mit der Kraft zur Repräsentation nennt Schmitt die formale Autorität, bzw. den „dezisionistischen Typus“.⁷¹ Personalismus, Dezisionismus und Autorität sind nach Schmitt die Grundvoraussetzungen der Entscheidung mit repräsentativer Wirkungs- macht. Diese Entscheidung ist bedingt durch einen spezifischen Begriff der Souveränität und bewirkt gleichzeitig die Geburt der (personifizier- ten) Form des „juristisch Konkreten“.⁷² Anders formuliert, kann die von Schmitt erwogene Formfrage der Entscheidung nur eine besondere Per- son, eine göttliche Person, erfüllen, die imstande ist, dem Wunder des Ausnahmezustands eine maximalrepräsentative Wirkung zu verleihen.

1.3 Das Problem der Doppelform

1.3.1 Doppelort: Nomos und Physis Dem Begriff des Naturrechts kann die Überzeugung zugrunde liegen, dass jeder Mensch „von Natur aus“ (also nicht durch Konvention) mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sei – unabhängig von Geschlecht, Alter, Ort, Staatszugehörigkeit oder der Zeit und der Staatsform, in der er lebt. Dazu gehören das Recht auf Leben und körperliche Unversehrt- heit oder das Recht auf persönliche Freiheit. Die Naturrechte werden demnach als vor- und überstaatliche „ewige“ Rechte angesehen. Prägnant ist und bleibt in den Ausführungen zum Naturzustand, sowohl bei Hobbes als auch bei Schmitt oder schließlich Benjamin, sein Doppelort. Dieser findet sich zum einen bei dem des Gewaltmonopols (Hobbes) und Entscheidungsmonopols (Schmitt) mächtigen, göttlichen Souveräns, von daher bei der göttlichen Gewalt und gleichzeitig bei je- dem Menschen. Die Unterscheidung zwischen einem Naturzustand und einem zu konstruierenden Zustand ermöglicht Hobbes die Formulierung eines Ge- sellschaftsvertrags, durch den alle Menschen unwiderruflich alle (natur- rechtliche gegebene) Macht und insbesondere ihr Selbstbestimmungs- und Selbstverteidigungsrecht aufgeben. Mit dem Gesellschaftsvertrag wird schließlich das Naturrecht aufgelöst, was de facto die Aufhebung der Selbstbestimmungs- und Selbstverteidigungsrechte eines Einzel- nen betrifft. „Jeder muss alle seine Macht oder Kraft einem oder meh- reren Menschen übertragen, wodurch der Wille aller gleichsam auf einen ⁷⁰ Samuel Weber, Gelegenheits- ziele, S. 61 Punkt vereinigt wird, so dass dieser eine Mensch oder diese eine Gesell- ⁷¹ Carl Schmitt, Politische Teo- schaft (Versammlung) eines jeden einzelner Stellvertreter werde.“⁷³ Mit logie, S. 44 ⁷² ebd., S. 46 der Legitimation des Souveräns ist der Naturzustand (für die Unterta- ⁷³ Tomas Hobbes, Leviathan, nen) aufgehoben, für den Souverän jedoch vertraglich mit in seine Ver- S. 155

Souveränität 135 A: Das Problem der Souveränität

fügungsgewalt hinein genommen. Der Souverän befindet sich weder im Naturzustand, sondern er verkörpert ihn; noch ist er innerhalb des ge- 2 schlossenen Gesellschaftsvertrages (der Untertanen, Bürger), sondern verkörpert diesen ebenfalls. Der Souverän ist bei Hobbes ein Stellvertreter sowohl der göttlichen Gewalt als auch der Staatsgewalt (Staat, Gemein- wesen). Er präsentiert geradezu die Synchronizität einer Doppelverkör- perung zwischen göttlicher Gewalt und Gesetzesgewalt in einem überge- ordneten Dritten, dem Gewalt- und Entscheidungsmonopol als höchste Gewalt. Diese dritte Kategorie ist gleichzusetzen mit der außerrechtli- chen Instanz, welche den rechtsfreien Raum herstellt. Die bei Agamben vorgelegten Topoi vom rechtfreien Raum, später Zone der Anomie, finden sich bei Carl Schmitt im Begriff der Zone beyond the line⁷⁴ als eine „Frei- heit der neuen Räume, die jenseits der Linien beginnen“.⁷⁵

1.3.2 Schwelle Das Problem einer Teorie des AZ formuliert Giorgio Agamben in der Fra- ge, wie eine Anomie in die Rechtsordnung eingeschrieben sein kann, „wenn das Eigentümliche des AZ die (totale oder partielle) Suspendierung der Rechtsordnung ist“?⁷⁶ An dieser Stelle kristallisiert sich das Phänomen des AZ als Null-Wert, denn eine partielle oder totale Suspendierung der Rechts- ordnung kann nicht in der Rechtsordnung enthalten sein, auch wenn die Wiederherstellung selbiger nach Schmitt der einzige Auftrag des Souveräns ist. Die spezifische Charakteristik des Souveräns, quasi in seinem Doppel- ort, fällt auf die oben genannte Schwelle, in der Gewalt in Recht übergeht und Recht in Gewalt, auf die Schwelle von Ist und Nicht-Ist, als Null-Ort von Gewalt/Nicht-Gewalt. „Es gibt da eine Grenzfigur des Lebens, eine Schwel- le, wo sich das Leben zugleich außerhalb und innerhalb der Rechtsordnung befindet, und diese Schwelle ist der Ort der Souveränität.“⁷⁷ In einer eigenartigen Umkehrung und Verknüpfung gelingen Agamben hier drei Begriffstopoi als spezifisches Kompositum und Te- orem seiner Analyse des Souveränitätsprinzips. Das Kompositum Unun- terschiedenheit, diese Fusion aus Unentschiedenheit und Ununterscheid- barkeit (Nichtunterscheidbarkeit), stellt das Wesen der Zone der Anomie dar. Diese Sentenz wiederum ist ein Kompositum aus dem Schmitt’schen Zonenbegriff⁷⁸, isoliert von Gefahr und Sicherheit, (wie auch Abwurf und Besatzung) verbunden mit dem soziologisch konnotierten Begriff der An- omie bei Durkheim. Die Anomie bei Durkheim resultiert wiederum aus einer wirtschaftlichen Gesetzlosigkeit und ist in Abgrenzung zu Agamben ⁷⁴ Carl Schmitt, Nomos der zu verstehen, hier als Zone der Anomie, als rechtsfreie Zone. Dieser Aspekt Erde, S. 62 ⁷⁵ ebd., S. 62 des „Freiseins“ von Attributen und Qualitäten meint nicht ihr Nicht-Vor- ⁷⁶ Giorgio Agamben, Ausnahme- handensein, sondern eher ihr virtuelles Vorhandensein, wie auch ihre vir- zustand, S. 32 tuelle Abwesenheit. In einer Zone der Anomie ist jeder Schachzug zu jeder ⁷⁷ Giorgio Agamben, Homo sa- cer, S. 37 Zeit möglich, wie auch unmöglich. Diese mystische Tendenz meint nichts ⁷⁸ Sicherheitszone, Gefahren- anderes als die potenzielle gleichzeitige Abwesenheit, gleichzeitig auch die zone; Vgl. Carl Schmitt, Völ- kerrechtliche Großraumordnung, Anwesenheit von Sicherheit und Ordnung, Recht und Gewalt, eingedenk S. 64 eines nomischen Entscheidungsmonopols im Nicht-Erstarren, sondern

EMERGENCY EMPIRE 136 Transformation des Ausnahmezustands 1. Politische Teologie

ein Schwellen in der Schwebe. Dieser nicht verortbare Zustand hat vir- tuellen Charakter. Agambens Formfindung der Ununterschiedenheit prägt den Diskurs zum Phänomen der souveränen (göttlichen) Gewalt als vir- tuelle Gewalt.

1.3.3 Doppelakt Pouvoir constituant ist ein Begriff aus der Staatsrechtslehre und bedeu- tet „verfassungsgebende Gewalt“, auch „konstituierende Gewalt“, deren Träger nach republikanischem Grundsatz das Volk ist. Das Volk gibt sich demnach in Ausübung seiner Souveränität eine Verfassung, ohne dass hierfür eine besondere geschriebene Rechtsgrundlage besteht. Sie ist zu unterscheiden von dem Begriff der pouvoir constitué als „verfasster Ge- walt des Staates“, auch „konstituierter Gewalt“, für die in der Verfassung eine Rechtsgrundlage existiert. Im Verfassungsstaat ist der Begriff pouvoir constituant subsidiär ge- genüber dem pouvoir constitué der verfassungsmäßigen Organe. Diese Unterscheidung erklärt, warum das Volk sich im Rahmen einer Revoluti- on eine neue Verfassung geben kann, ohne dass es durch die rechtlichen Regelungen der alten Verfassung gebunden ist. Inwieweit der pouvoir con- stituant an Verfassungsänderungsverbote gebunden ist (wie der „Ewig- keitsklausel“ des Artikels 79 III GG), ist umstritten. Vom rechtsdogma- tischen Ansatzpunkt aus ist eine solche Bindung wegen des originären Charakters des pouvoir constituant zu verneinen. Eine andere Ansicht be- sagt, dass neben dem pouvoir constituant zumindest die universalen Men- schenrechte als Naturrecht bestünden und somit auch für die verfas- sungsgebende Gewalt des Volkes nicht zur Disposition stehen, was dann aber kein Problem des positiven Rechts des Art. 79 III GG mehr wäre. Wenn die Verfassung eine Teilung der Gewalten vorsieht (beispiels- weise in dem Schema nach Montesquieu in Legislative, Exekutive und Judikative), kann man auch von verfassten Gewalten (pouvoirs constitués) sprechen. Die Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoir consti- tué wurde zu Beginn der Französischen Revolution von Emmanuel Jo- seph Sieyès durch sein 1789 veröffentlichtes Werk Qu‘est-ce que le Tiers État? in die Verfassungsdiskussion eingebracht. Nach Schmitt erschöpft sich Recht nicht im Gesetz. Die Anwen- dung des Rechts wird suspendiert, das Gesetz als solches bleibt aber in Kraft. Der Ausnahmezustand scheidet die Norm von ihrer Anwendung, um letztere zu ermöglichen. Hierin zeigt sich für Schmitt auch die un- reduzierbare Differenz von Staat und Recht, da im Ausnahmezustand der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt. Da der Aus- nahmezustand nicht Anarchie oder Chaos ist, besteht nach Schmitt im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechts- ordnung. Schmitts Teorie will also eine Verbindung zwischen Ausnah- mezustand und Rechtsordnung herstellen. Durch den Souverän, der über den Ausnahmezustand entscheiden kann, ist dessen Verankerung in der Rechtsnorm garantiert. Der Souverän steht außerhalb der normal gelten-

Souveränität 137 A: Das Problem der Souveränität

den Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann. Es ist 2 somit die topologische Struktur des Ausnahmezustands, außerhalb der Rechtsordnung zu stehen und doch zu ihr zu gehören. Souverän ist nach Schmitts berühmter Definition dabei, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Hierbei ist Souveränität aber als letzte, nicht appellative Entscheidung verstanden und nicht, wie an anderer Stelle, als höchste, nicht abgeleitete Staatsgewalt. Hier laufen bei Schmitt zwei Souveräni- tätsbegriffe parallel, was sich allein daran zeigt, dass der pouvoir consti- tuant zwar für ihn souverän ist, nicht aber über den Ausnahmezustand entscheiden kann. Dennoch ist es ein souveräner Akt, wenn ein pouvoir constitué per Entscheidung eine Verfassung suspendiert. Was Schmitt hier interessiert, ist dieses Element der Dezision, das sich im Akt der Ent- scheidung außerhalb der Rechtsordnung stellt und doch an diese gebun- den bleibt, da die generelle Herstellung einer Ordnung, die über Recht und Norm entscheidet, sein einziger Auftrag und Wille ist. Die jüngste theoretische Auseinandersetzung mit dem Ausnahmezustand im Fokus der politischen Teologie stammt von Giorgio Agamben. Er stützt sich auf die vorgenannten Teoretiker, will ihnen aber eine eigene Deutung gegenüberstellen. Für ihn ist die Ausnahme ein Schwellwert der existie- renden Rechtsordnung: „In Wahrheit steht der Ausnahmezustand weder außerhalb der Rechtsordnung, noch ist er ihr immanent, und das Prob- lem seiner Definition betrifft genau eine Schwelle oder eine Zone der Un- bestimmtheit, in der innen und außen einander nicht ausschließen, son- dern sich un-bestimmen. Die Suspendierung der Norm bedeutet nicht ihre Abschaffung, und die Zone der Anomie, die sie einrichtet, ist nicht ohne Bezug zur Rechtsordnung.“⁷⁹ Diese Deutung bezieht sich auf das römische Institut des „Justitiums“ – des vorübergehenden „Rechtsstill- stands“, in dem alle Rechtsorgane ihre Tätigkeit einstellten und es verbo- ten war, private Geschäfte zu tätigen – und radikalisiert damit die bishe- rigen Teorien des Ausnahmezustandes.

⁷⁹ Giorgio Agamben, Ausnahme- zustand, S. 33

EMERGENCY EMPIRE 138 Transformation des Ausnahmezustands Intro: Das Vorrecht des souveränen Staates

B: Antagonismus zwischen Staatsrecht und Menschen- rechten Intro: Das Vorrecht des souveränen Staates

In den nachgelassenen Schriften Carl Schmitts ist immer wieder zu lesen, dass Krieg und Völkerrecht nur den Völkern mit terrestrischem Besitz vorbehalten ist. Die heikle und folgenreiche Wendung Volk ohne Raum ist demnach eine Wendung für ein Volk ohne Recht. Mit anderen Worten: Ein Volk ohne Land ist kein Staat, der sich ermächtigen könnte, einen or- dentlichen Krieg auszutragen, da sich ein Volk ohne Land weder auf die völkerrechtlichen Verträge berufen kann, noch von den Verfassungen an- derer Staaten anerkannt wird. Dass Krieg, auch wenn er von Staaten ge- führt werden könnte, die einen Landbesitz verzeichnen, aber dennoch nicht geführt wird, weil die ökonomische Macht fehlt, zeigt deutlich, in welchem Maße der Krieg von den ökonomischen Mitteln eines Staates getragen wird. Somit kann unterschieden werden zwischen ökonomisch potenten Staaten und ökonomisch impotenten Staaten, die zwar staats- und völkerrechtlich sich am Krieg beteiligen könnten, jedoch aufgrund von Armut von vornherein disqualifiziert sind. Das Kriegsmonopol eines Staates geht von zwei Grundlegungen aus, dem Entscheidungs- und Ge- waltenmonopol des Souveräns und dem Finanzmonopol des Marktes. Der Krieg ist ein primäres Geschäft von Staaten zur Sicherung von Dominanz und Einflusssphären in Weltpolitik, Weltwirtschaft und Welt- markt. Eine Teilnahme am Krieg ist von daher ein Privileg derjenigen Staaten, welche mit dem Krieg ihren Wirtschaftsprofit und Finanzprofit steigern, sowie ihre politische Position dadurch völkerrechtlich absichern können. Kriegspotente Staaten ermächtigen sich selbst zweifach: nach innen und nach außen. Mit einem Ermächtigungsgesetz (Notstandsge- setz) nach innen und mit kolonialer (Markt)Invasion und Landnahme (Schmitt) nach außen. Einen Ausnahmezustand nach innen erlässt ein Staat dann kurzfristig, wenn seine Kriegs- und Profitplanung in Not ge- rät. Staaten berufen sich dann auf ihr naturgegebenes Recht (inherent right) der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung.⁸⁰ Diese Sat- zung ist im Privileg des Staatssouveräns seit der Neuzeit begründet, wel- cher sämtliche (naturrechtliche) Freiheit besitzt, nach eigenem Ermes- sen zu entscheiden und im Namen des Volkes die Interessen von Recht und Gewalt zu verteidigen. Eine solche Satzung liegt bereits im Gesell- schaftsvertrag bei Hobbes wie auch bei Rousseau vor und ist aus den an- tiken Gesetzesbestimmungen und dem Römischen Recht genealogisch hergeleitet. Das Entscheidungsprivileg des Souveräns wird auch Entscheidungs- ⁸⁰ Vgl. Notstandsverordnung, monopol (Schmitt) und Gewaltenmonopol genannt. Nur im Spiegel eines 2001, USA

Souveränität 139 B: Antagonismus zwischen Staatsrecht unf Menschenrechten

solchen souveränen Monopols kann sich ein Staat als ein solcher defi- nieren. Im Paradigmenwechsel, den eine Staatsgründung mit dem Über- 2 gang vom Naturzustand zum Gesellschaftsvertrag vollzieht, ist im Levi- athan bei Hobbes und bei Schmitt eindeutig geklärt, dass das Volk sein Recht auf Freiheit an den Souverän in Form eines freiwilligen Aktes ab- gibt. Durch diesen Akt definiert sich ein Volk freiwillig als Untertan und Bestandteil des Staates, der nachfolgend aus Souverän, Regierungsorga- nen und Staatsbürgern besteht. Dieses Argument der freiwilligen Abgabe der naturrechtlich begründeten Freiheit des Einzelnen an den Souverän definiert den Leviathan und erklärt zwangsläufig auch das Schicksal ei- nes Einzelnen im Leviathan. Während der Leviathan dem Souverän dient und im Tauschgeschäft mit der Freiheit, Ordnung und Sicherheit als Ge- genstück erhält, bedient sich im Umkehrschluss der Souverän am Levia- than, indem er in dessen Namen, im Namen von Ordnung und Sicherheit, nach eigenem Ermessen entscheidet. Agamben fasst diese Konstellation, Regierung und Souverän, zwi- schen Gesetzes- und Entscheidungsmonopol einerseits und Untertanen und Volk, zwischen vertraglicher und natürlicher Freiheit andererseits, wie folgt zusammen: „Wichtig ist zu bemerken, dass bei Hobbes der Na- turzustand in der Person des Souveräns überlebt, der als einziger sein na- türliches ius contra omes bewahrt. Die Souveränität stellt sich somit wie eine Einverleibung des Naturzustandes der Gesellschaft dar oder, wenn man will, wie eine Schwelle der Ununterschiedenheit zwischen Natur und Kultur, zwischen Gewalt und Gesetz, und genau in dieser Ununterschie- denheit liegt das Spezifische der souveränen Gewalt. Deshalb befindet sich der Naturzustand nicht wirklich außerhalb des nômos, sondern ent- hält ihn virtuell.“⁸¹ Aus diesen definitorischen Zusammenhängen des nômos, des Sou- veräns und seiner ihm de facto zugesprochenen Monopole, sind über an- tike Rechtssetzungen, neuzeitliche Rechtssetzungen bis hin zu moder- nen Rechtssetzungen Parallelen in der Formulierung der Potenz eines Souveräns und eines Staates nachvollziehbar. „Er [der Souverän] ist das In-Potent-Sein des Rechts, seine Selbstvoraussetzung als «natürliches Recht».“⁸² Argumentationen von kriegsführenden Staaten, die sich auf ihr ‚inherent right’ berufen, sind demnach verfassungshistorisch tradiert. Die naturgegebene Rechtsargumentation von kriegsführenden Staaten, nämlich die der personifizierten (souveränen) und kollektiven (gemein- schaftlich-patriotischen) Selbstverteidigung, weiterhin zum „Schutz von Volk und Staat“, ist eine double-bind-Argumentation, die jedem Ermäch- tigungsakt nach innen und nach außen den Rücken frei hält und stärkt. Mit dem souveränen Akt, ein Ermächtigungsgesetz zu beschließen, d.h. den Ausnahmezustand auszurufen, ist immer ein willkürlicher Erlass verbunden, der im Besitz der souveränen Potenz, seiner Entscheidungs- und Gewaltmonopole nach eigenem Ermessen, nach eigenem Gutdünken ⁸¹ Giorgio Agamben, Homo sa- cer, S. 46 und zusammen mit den ihm zugeordneten Regierungs- und Finanzmo- ⁸² ebd. nopolen geschieht. Der Ausnahmezustand kennzeichnet deshalb die Ab-

EMERGENCY EMPIRE 140 Transformation des Ausnahmezustands Intro: Das Vorrecht des souveränen Staates

sicht des kriegsführenden Staates, des Souveräns und seiner Regierung, globalterrestrische Vormacht und Vorteile mit aller Macht zu garantie- ren. Dass diese ggf. in Not sind, was den Begriff des Notstands (für Sou- verän und Staat) nach sich zieht, ist eine taktische Wendung des Staa- tes nach innen hin, um jede Kriegswillkür, die eine AZ mit sich bringt, zu rechtfertigen. Der Begriff der Not (von Volk und Staat) ist nicht los- gelöst von einer Feindbildproduktion, der Konstruktion von Kriegsursa- chen (im Feind), so dass eine Not des Staates ohne weiteres ein plausibles Alibi für Präventiv- oder Vergeltungsschläge liefert. Eine Mobilmachung nach innen mittels Propaganda und Einsatz, Konsum und Umsatz geht uneingeschränkt mit der Legitimität „zur Wiederherstellung der öffent- lichen Sicherheit und Ordnung“⁸³ einher, denn genau diese „Sicherheit und Ordnung“ ist das Tauschäquivalent des Bürgers von dem Zeitpunkt an, als er seine naturrechtliche Freiheit zu Gunsten von Norm und Kont- rolle an den Souverän abgegeben hat. Hinzu kommt die mythologische Dimension der Gewalt, die Agam- ben der Argumentation Mairets⁸⁴ entnimmt und die er mit dem Bann- Prinzip erklärt. „Es ist die Struktur dieses Arkanums, die wir mit der Bann-Beziehung als Beziehung der Verlassenheit [abbandono] und der «Potenz nicht zu» ans Licht bringen wollen.“⁸⁵ Hier findet sich näm- lich im Wesentlichen eine Angst vor Verlassenheit, vor Verbannung aus dem Bannkreis der Staatssouveränität und somit einer Verlassenheit aus der passiven, auch emphatischen, patriotischen Teilhabe an souve- ränen Staatsakten, die grundsätzlich Gewaltakte sind, schließlich einer Verbannung aus dem passiven Mitaufgehobensein im Bannkreis souve- räner (Gewalt)Potenz, wie die Menschen ihre teilnehmende Position er- greifen lassen. Die Angst vor der Verbannung, vor dem Bannfluch, ist die Triebkraft der Staatsbürgerschaft schlechthin, im double-bind gefangen, zur Komplizenschaft mit der souveränen Willkür und Potenz gezwungen, als Mitläuferschaft qua Mittäterschaft. Es gilt in dieser staatsrechtlichen und kriegsrechtlichen Verstrickung des double-bind zwischen Souverän und Gesellschaftsvertrag eine stillschweigende, wie auch mythologische (Potenz, Bann) Übereinkunft, die beide Instanzen zu Täter wie auch Op- ferinstanzen gleichermaßen werden lässt. Dies nennt Agamben die Sym- metrie zwischen dem Körper des Souveräns und dem des homo sacer, in einer Äquivalenz zum ausgesetzten oder ausgelieferten Leben des Ver- bannten aus dem (einen) Gesellschaftsvertrag. Das genealogische Prinzip des Nomos, das jedem Souverän natur- rechtlich inhärent ist – und sich in einem Potenzprinzip (göttliche Gewalt,

Benjamin) darstellt, wie auch in einem terrestrischen Prinzip der Austra- ⁸³ Die Verfassung des Deut- gung, des politischen Aktes, des Tötungsprinzips – konstituiert den Aus- schen Reiches, Weimarer Ver- nahmezustand, der in jedem Fall auf das Ermessensurteil des Souveräns fassung vom 11. Augustin 1919, in: Horst Hildebrandt, in Bezug auf seine eigene Not zurückfällt. Diese prinzipielle Verortung Die deutsche Verfassung des 19. des AZ im Souverän und im double bind zwischen Souverän und Gesell- und 20. JH., S. 111 ⁸⁴ Giorgio Agamben, Homo sa- schaftsvertrag erschließt den Charakter des Krieges in willkürlicher Tä- cer, S. 58 terschaft, Mittäterschaft und Opferschaft. ⁸⁵ ebd.

Souveränität 141 B: Antagonismus zwischen Staatsrecht unf Menschenrechten

Im AZ fallen die Monopole des Souveräns (Entscheidungs-, Ge- walt-, Finanz- und Medienmonopole) in den offensiven Tatraum der Er- 2 mächtigung, die den Ausnahmezustand bestimmen. Die Ausnahme tritt durch die willkürliche Ermächtigung der souveränen Potenz in Kraft, d.h. durch die totale Suspendierung sämtlicher bis dahin gültigen Rechte. Diese Suspendierung, die im Wesentlichen den AZ von 1933 charakte- risiert, heißt totale Gleichschaltung qua Zentralisierung der Gewalt und fällt somit unter die Bedingung der Diktatur und des totalen Krieges.

EMERGENCY EMPIRE 142 Transformation des Ausnahmezustands 2. Gesellschaftsverträge

2. Gesellschaftsverträge

2.1 Hobbes: Leviathan Die Staatsphilosophie von Tomas Hobbes⁸⁶ wurde mit ihrer entschei- denden Niederlegung von 1651, dem Levitahan, zu einem bis in die Ge- genwart hinein wirkungsmächtigen Hauptwerk der Staatsgründung und der politischen Philosophie. „Die von Hobbes entwickelten Argumenta- tionsformen und Teoreme prägen das gesamte neuzeitliche politikphi- losophische Denken. Sie bilden den Rahmen, in dem bis in Kants Zeiten über Recht, Staat und Herrschaft reflektiert wurde“.⁸⁷ Die argumentati- onslogischen Grundstrukturen in Hobbes Leviathan liefern die Grund- lagen für Übertragungsprinzipien der Macht auf einen Souverän, sowie für die Notwendigkeit eines Staates, in dem jeder Mensch per Dekret von seinem Freiheitsinteresse abrückt und sich der Herrschaftsausübung des souveränen Staates unterwirft. Im Gegenzug verbürgt sich die souve- räne Macht für Ordnung und Sicherheit in der Gesellschaft. Hobbes ge- lingt es, ein Konstrukt zu entwerfen, das nachhaltig die Legitimität des modernen Staates und seiner Monopolinhaberschaft rechtfertigt. „Aus- gangspunkt in der Staatskonstruktion des Hobbes ist die Angst des Na- turzustandes, Ziel und Endpunkt die Sicherheit des zivilen, staatli- chen Zustands. Im Naturzustand kann Jeder Jeden töten; Jeder weiß, dass Jeder Jeden töten kann; Jeder ist jedes Anderen Feind und Kon- kurrent – das bekannte bellum omnium contra omnes. Im zivilen staatli- chen Zustand sind alle Staatsbürger ihres physischen Daseins sicher; hier herrscht Ruhe, Sicherheit und Ordnung. Das ist bekanntlich eine Defi- nition der Polizei. Moderner Staat und moderne Polizei sind zusammen entstanden, und die wesentlichste Institution dieses Sicherheitsstaates ist die Polizei. Erstaunlicherweise übernimmt Hobbes für die Kennzeich- nung dieses durch die Polizei bewirkten Friedenszustandes die Formel des Baco von Verulam und spricht davon, dass jetzt der Mensch für den Menschen zum Gott, homo homini deus werde, nachdem im Naturzustand homo homini lupus war.“⁸⁸ Der Hobbes’sche Staatsbeweis gründet auf dem Argument, dass nur der Staat in der Lage sein kann, „die Selbsterhaltungsnot der Men- schen zu wenden“⁸⁹, eben dadurch, dass der Mensch im Vertragszustand institutionalisiert ist und dortselbst überwacht, abgeschreckt und be- straft wird. Das Hobbes’sche Paradigma begründet „die Geburt des ge- waltmonopolistischen modernen Staates aus der Selbsterhaltungsnot der Menschen“⁹⁰ – ein Paradigma, das die Karrieren moderner Staatshis- ⁸⁶ geboren 5. April 1588, ge- torien und ihrer Gegenhistorien katalysiert. Mit diesem Paradigma sind storben 4. Dezember 1679 die wesentlichen Diskurse der Moderne festgeschrieben: der Diskurs der ⁸⁷ Wolfgang Kersting, Tomas göttlichen Gewalt, der Diskurs der Biopolitik, der Diskurs der Staatsrai- Hobbes zur Einführung, Ham- burg: Junius 2002, S. 33 son, der Diskurs der politischen Ökonomie und der Kriegsökonomie. ⁸⁸ Carl Schmitt, Staat, Gross- Die Legalisierung der inherent rights, der naturrechtlich begründe- raum, Nomos, S. 140 ⁸⁹ Wolfgang Kersting, Tomas ten Freiheitsrechte beim Souverän und der terror of legal punishment ist Hobbes zur Einführung, S. 34 bei Hobbes in einem utilitaristischen Denken begründet. Generell kann ⁹⁰ ebd.

Souveränität 143 B: Antagonismus zwischen Staatsrecht unf Menschenrechten

der Hobbes’sche Gesellschaftsvertrag als Beginn des utilitaristischen Denkens in der politischen Philosophie Europas gesehen werden, das in 2 den klassischen Positionen des Utilitarismus, denen von Jeremy Ben- thams und John Sturad Mills kulminiert. Die grundlegende ethische Aus- sage des Utilitarismus besteht darin, dass richtiges Verhalten dasjenige ist, welches das Wohlergehen der Gesellschaft fördert und dass die Berechti- gung des gesellschaftlichen Moralkodexes davon abhängt, ob das Verhalten das Wohlbefinden derjenigen begünstigt, die ihn befolgen. Innerhalb von Vertragsbedingungen sind die utilitaristischen Maximen zwischen dem Gehorsam und Eifer des Leviathans und der Ausnahmepolitik des Souve- räns polarisiert. Der Hobbes’sche Gesellschaftsvertrag wird von zwei utili- taristischen Maximen definiert: jener der Sicherheit und Ordnung, als Indiz des erfolgreichen Vertrages; und jener der uneingeschränkten Freiheit des Souveräns, als Indiz seiner Monopolinhaberschaft (Gewaltmonopol, Ent- scheidungsmonopol). Beide Maximen sind ineinander verschränkt. Der Erfolg des Staates (nach innen und außen) ist von der Submissionseffi- zienz seiner Untertanen abhängig, also von der Eigenleistung in das Un- ternehmen der gesellschaftlichen Sicherheit und Ordnung, von der Instituti- onseffizienz (der Polizei) in das Unternehmen Sicherheit und Ordnung und schließlich vom Nutzen und Erfolg der Kriegsökonomie, der Außenpolitik des Staates, bzw. der diktatorischen Effizienz. Es war Michel Foucault, der in seinen Vorlesungen zur „Geburt der Biopolitik“⁹¹ die Synchronität zwischen dem Utilitarismus und dem Li- beralismus bzw. das konkrete Problem des Liberalismus in der Gegen- wart zur Sprache brachte. In der ersten Vorlesung von 1979 formuliert Foucault u.a. diese Frage: „Worum handelt es sich, wenn man vom Libe- ralismus spricht, wenn man heute eine liberale Politik auf uns selbst an- wendet, und welche Beziehung kann das zu diesen Rechtsfragen haben, die man Freiheit nennt?“⁹² Diese Foucault’sche Frage möchte ich mit dem von Conradin Wolf im Jahr 2002 formulierten Status zu liberalen Rechts- fragen (vor dem Hintergrund des aktuellen Antiterrorkrieges der US-Ad- ministration) in Beziehung setzen: „Vorausschauend sei hier bereits an- gemerkt, dass gerade heute immer wieder einzelne Regierungen, allen voran die USA, sich etwa im Hinblick auf militärische Präventivschläge, aber auch bei Maßnahmen gegen den Terrorismus auf das so genannte naturgegebene Recht (inherent right) der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung berufen und dabei gegebenenfalls genuin naturrecht- lich begründete Menschenrechte missachten. Vom ‚inherent right’ der Selbstverteidigung⁹³ ist auch in der unmittelbar auf die Ereignisse vom ⁹¹ Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik, ...a.a.O. 11. September folgenden Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten ⁹² ebd., S. 43 Nationen die Rede.“⁹⁴ ⁹³ Res. 1368 (2001) vom 12. Hier kulminiert, quasi in einem neo-hobbesschen Verdikt, die Ver- September 2002, UN Dok. S/ RES/1368 (2001), Abs. 2 Prä- tragssituation gegenwärtiger globaler Umstände von Staatspolitiken, ambel (abgedruckt in: ILM 40, nämlich der Operation Enduring Freedom⁹⁵, in eine neo-leviathanische 2001, S. 1276ff.) ⁹⁴ Conradin Wolf, AZ und Men- Globalmanifestation. Der Neo-Leviathan, der Hobbes’sche Friedensstaat, schenrechte, S. 21-22 wird als utilitaristischer Horizont heraufbeschworen, der im Gegenzug

EMERGENCY EMPIRE 144 Transformation des Ausnahmezustands 2. Gesellschaftsverträge

die Achse des Bösen festschreibt. Der besonders fragliche Punkt innerhalb dieser aktuellen Unternehmung, die auf dem Hobbes’schen kontraktua- listischen Argument fußt, ist der Punkt der Freiheit als Rechtfertigungs- prinzip einer souveränen Freiheit, die als (US)Exportgut und als Frei- heitsdienstleistung den Moralkodex der Welt rettet.

2.2 Locke: Two Treatises of Government Zeit seines Lebens hat John Locke⁹⁶ über den Einfluss Tomas Hobbes’ auf sein Werk geschwiegen und in all seinen Schriften jede direkte Bezug- nahme auf den Autor des „Leviathan“ vermieden. Nichtsdestotrotz muss man Locke heute als jüngeren Zeitgenossen und geistigen Erben des Hobbes’schen Denkens lesen, da es nicht nur den Ausgangspunkt seiner Erkenntnistheorie, sondern vor allem auch seiner politischen Philoso- phie zu bilden scheint. Locke hat über diesen Einfluss wohl aus Vorsicht vor den moralischen und religiösen Eiferern seiner Zeit geschwiegen, bei denen Hobbes als Ketzer und Atheist verschrien war. Aber Locke geht auch weit über Hobbes hinaus: In seiner Metaphysik sind beispielsweise Tendenzen zur Überwindung des Empirismus erkennbar, und auch die Vertragstheorie wird wesentlich demokratischer interpretiert. In seinem Werk Two Treatises of Government argumentiert Locke also zunächst ganz klassisch vertragstheoretisch vom Naturzustand aus- gehend. Denn „um politische Gewalt richtig zu verstehen und sie von ih- ⁹⁵ Operation Enduring Freedom rem Ursprung herzuleiten, müssen wir sehen, in welchem Zustand sich (OEF, engl. Operation dauer- hafte Freiheit) ist eine von den die Menschen von Natur aus befinden. Es ist ein Zustand vollkommener USA seit dem 7. Oktober 2001 Freiheit, innerhalb der Grenzen des Naturgesetzes seine Handlungen zu geführte militärische Opera- tion gegen „den Terrorismus“ lenken und über seinen Besitz und seine Person zu verfügen, wie es ei- mit dem Ziel, Führungs- und nem am besten scheint. – ohne jemandes Erlaubnis einzuholen und ohne Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschal- von dem Willen eines anderen abhängig zu sein.“⁹⁷ Diesen Naturzustand ten, Terroristen zu bekämpfen, scheint Locke als Vorvertragssituation zu interpretieren, sodass sich be- gefangen zu nehmen und vor reits vor jedem Recht und jeder Rechtsprechung ein Recht auf Leben, Gericht zu stellen. An der Ope- ration sind inzwischen etwa 70 Freiheit und Eigentum ableiten lässt, das sich naturrechtlich begründet. Nationen beteiligt, darunter Im Gegensatz zur Konzeption von Tomas Hobbes sind die Natur- Deutschland. Als Rechtsgrund- lage wird Resolution 1368 des rechte bei Locke durch die Rechte anderer begrenzt. Während bei Hob- Sicherheitsrats der Vereinten bes im Prinzip jeder ein Recht auf alles hat, werden die Rechte auf Frei- Nationen (engl. „United Na- heit und Eigentum bei Locke durch die Freiheits- und Eigentumsrechte tions“, UN) vom 12. September 2001 in Anspruch genommen. anderer eingeschränkt, wodurch jeder angehalten ist, einem anderen an Diese Resolution verurteilte die seinem Leben, seiner Gesundheit, seiner Freiheit oder seinem Besitz kei- Ereignisse vom 11. September 2001 als grauenhafte Terror- nen Schaden zufügen.⁹⁸ Aus dieser Einschränkung leitet er selbst Rechte anschläge und als Bedrohung ab, diejenigen zu bestrafen und Ausgleich gegenüber denen zu fordern, für den internationalen Frie- den sowie die internationale die sie verletzten. Während Hobbes von individuellen Rechten ausgeht, Sicherheit. ist Lockes „Law of Nature“ überindividuell angesiedelt: „Im Naturzustand ⁹⁶ geboren 29. August 1632, ge- herrscht ein natürliches Gesetz, das für alle verbindlich ist.“⁹⁹ Damit greift er storben 28. Oktober 1704 ⁹⁷ John Locke, Über die Regie- auf ältere naturrechtliche Konzeptionen zurück. rung, Stuttgart: Reclam 2005, Aus diesem Recht vor dem Recht, aus dem Locke’schen Naturrecht, S. 4 ⁹⁸ John Locke, Über die Regie- werden bis heute nicht nur juristisch die Menschenrechte als inherent rung, S. 6 rights abgeleitet, sondern stellen sich vor allem auch der politischen Teo- ⁹⁹ ebd.

Souveränität 145 B: Antagonismus zwischen Staatsrecht unf Menschenrechten

rie neue Probleme. Warum sollte man beispielsweise einen Gesellschafts- vertrag eingehen, wenn man bereits vorvertraglich über natürliche Rech- 2 te verfügt? „Die einzige Möglichkeit, diese natürliche Freiheit aufzugeben und die Fesseln bürgerlicher Gesellschaft anzulegen, ist die, dass man mit anderen Menschen übereinkommt, sich zusammenzuschließen und in ei- ner Gemeinschaft zu vereinigen, mit dem Ziel, behaglich, sicher und fried- lich miteinander zu leben – in dem sicheren Genuss des Eigentums und in größerer Sicherheit gegenüber allen, die ihr nicht angehören. […] So- bald eine Anzahl von Menschen auf diese Weise übereingekommen ist, eine Gemeinschaft oder Regierung zu bilden, haben sie sich ihr sogleich einverleibt, und sie bilden einen einzigen politischen Körper, in dem die Mehrheit das Recht hat, zu handeln und die übrigen Glieder mit zu ver- pflichten.“¹⁰⁰ Will man also Locke folgen, so ist der Gesellschaftsvertrag die gesetzliche Fassung der inherent rights, der natürlichen Rechte auf Le- ben, Freiheit und Eigentum, denn nur wenn diese natürlichen Rechte von einem Gesellschaftsvertrag gesichert und vergrößert werden, wird eine Anzahl von Menschen in dieser Weise übereinkommen. Die Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft machen es nötig, zwi- schen der Vorvertragssituation natürlicher Freiheit und dem Gesell- schaftsvertrag staatlicher Rechte abzuwägen, wie es Locke im Kapitel Die Ziele der politischen Gesellschaft tut: „Das große und hauptsächliche Ziel also, zu dem sich Menschen in Staatswesen zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist die Erhaltung ihres Eigentums. Im Naturzustand fehlt dazu vielerlei. Zum ersten bedarf es eines eingeführ- ten und anerkannten Gesetzes, das mit allgemeiner Zustimmung als die Norm für Recht und Unrecht und als der allgemeine Maßstab zur Ent- scheidung aller Straffälle unter ihnen angenommen und anerkannt ist. […] Zum zweiten fehlt es im Naturzustand an einem anerkannten und unparteiischen Richter mit Autorität, alle Streitfälle nach dem eingeführ- ten Gesetz zu entscheiden. […] Zum dritten fehlt es im Naturzustand häufig an einer Gewalt, die dem Urteil, wenn es gerecht ist, Rückhalt gibt, es unterstützt und für die gebührende Vollstreckung sorgt.“¹⁰¹ Es ist der Gesellschaftsvertrag, der diese Mängel des Naturzustands beheben soll und aus denen sich die Gewalt der Legislative, Exekutive und Judikative ableiten lässt. Auf diese Weise zeigt sich „das große Ziel, mit welchem die Menschen in eine Gemeinschaft eintreten, [das] der Genuss ihres Eigentums in Frieden und Sicherheit [ist], und das große Werkzeug und Mittel dazu [sind] die Gesetze, die in dieser Gesellschaft erlassen worden sind. Das erste und grundlegende positive Gesetz aller Staaten ist daher die Begründung der legislativen Gewalt – so wie das erste und grundlegende natürliche Gesetz, welches selbst über der legislativen Ge- walt gelten muss, die Erhaltung der Gesellschaft und (soweit es vereinbar ist mit dem öffentlichen Wohl) jeder einzelnen Person in ihr ist.“¹⁰² Mit der Begründung der legislativen Gewalt stellt sich für Locke das Problem ¹⁰⁰ ebd., S. 73 ¹⁰¹ ebd., S. 96 der Erhaltung der Gesellschaft, das nur durch die Erhaltung oder besser ¹⁰² ebd., S. 101 Selbsterhaltung der einzelnen Personen ihn ihr gesichert werden kann.

EMERGENCY EMPIRE 146 Transformation des Ausnahmezustands 2. Gesellschaftsverträge

Vor diesem Hintergrund wird die Dialektik der politischen Teorie von Locke deutlicher, wie auch die Verbindlichkeiten zwischen Naturzu- stand und Gesellschaftsvertrag oder Vorvertrag und Vertragssituation. Aus den Mängeln des Naturzustands entstehen die Fesseln der bürger- lichen Gesellschaft und gleichzeitig wird der Gesellschaftsvertrag immer durch die natürlichen Rechte bedingt bleiben. Denn „weder absolute und willkürliche Gewalt noch eine Regierung ohne eingeführte stehende Ge- setze ist vereinbar mit dem Ziel von Gesellschaft und Regierung, und die Menschen würden nicht auf die Freiheit des Naturzustands verzichten und sich ihnen selbst unterstellen, geschähe es nicht, um ihr Leben, ihre Freiheit und ihren Besitz zu erhalten und kraft fester Regeln für Recht und Eigentum ihren Frieden und ihre Ruhe zu sichern.“¹⁰³ Eine Regie- rung ist in diesem Sinne nur legitim, soweit sie die Zustimmung der Re- gierten besitzt. Ausgehend von der Entwicklung des Gesellschaftsvertrages besitzt Locke also Maßstäbe, nach denen sich die Legitimität oder Illegitimität einer Regierung entscheiden lässt: Legitim sind diejenigen Regierun- gen, welche die natürlich gegebenen Rechte des Menschen beschützen; illegitim diejenigen, die sie verletzen. Da eine illegitime Regierung ihre eigene Existenzbegründung ad absurdum führt, ist es wiederum recht- mäßig, gegen diese zu rebellieren: Wo immer das Gesetz endet, beginnt Tyrannei, wenn das Gesetz zum Schaden eines anderen überschritten wird. Und wer immer in Ausübung von Amtsgewalt seine gesetzlichen Kompetenzen überschreitet und von der unter seinem Befehl stehenden Gewalt Gebrauch macht, um den Untertanen etwas aufzuzwingen, was das Gesetz nicht erlaubt, hört damit auf Obrigkeit zu sein. Er handelt ohne Autorität, und man darf sich ihm widersetzen wie jedem anderen Menschen, der gewaltsam in die Rechte anderer eingreift.¹⁰⁴ Es ist ganz offenbar, dass im Locke’schen Gesellschaftsvertrags ein Recht auf Wi- derstand legalisiert ist, sowohl einer Obrigkeit gegenüber, die den ein- zelnen Menschen schadet, als auch jeder anderen Person gegenüber, die ¹⁰³ ebd., S. 105 dem Menschen und seinem Eigentum Schaden zufügt. Wie wir später- ¹⁰⁴ ebd., S. 153 ¹⁰⁵ Einleitung aus der ameri- hin sehen werden, öffnet sich hier eine Schere, die sowohl die Begrün- kanischen Unabhängigkeits- dung der Menschenrechte beinhaltet, wie auch die Begründung eines erklärung aus dem Jahr 1776, Verteidigungsrechts (welches ein Gewaltrecht einschließt) eigentums- in: Declaration of Independence, NARA, Te National Archives ökonomischer und liberaler Interessen. Experience, online-Dokument, Lockes Staatstheorie hat nicht nur die amerikanische Unabhängig- URL: http://www.archives.gov/ exhibits/charters/declaration_ keitserklärung aus dem Jahr 1776 geprägt, sondern auch den französi- transcript.html, Stand vom 23. schen Verfassungsentwurf von 1791, sowie die ganze Entwicklung des August 2008 Die Erste deutsche Überset- bürgerlich-liberalen Verfassungsstaates bis heute maßgeblich beeinflusst. zung erschien zwei Tage nach Die Einleitung der Unabhängigkeitserklärung baut beispielsweise direkt Veröffentlichung der Erklä- auf Locke auf: “We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they rung, „unterzeichnet auf Befehl und im Namen der Kongres- are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and ses“, namentlich des Präsiden- the pursuit of Happiness. – Tat to secure these rights, Governments are instituted among Men, de- ten John Hancock. Sie erschien in der deutschsprachigen Zei- riving their just powers from the consent of the governed, – Tat whenever any Form of Government tung „Henrich Millers Philadel- becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it.”¹⁰⁵ phischer Staatsbote“.

Souveränität 147 B: Antagonismus zwischen Staatsrecht unf Menschenrechten

Bei der Trias Life, Liberty and the pursuit of happiness handelt es sich um eine literarisch adaptierte Version von Lockes Naturrechten von Life, 2 Health, Liberty and Property. In den ersten Entwürfen stand Property auch noch wörtlich im Text, und erst später wurde das Wort von Tomas Jef- ferson durch das weniger eindeutige Pursuit of Happiness ersetzt. Neben den revolutionären Politikern der damaligen Zeit beeinfluss- te Locke aber auch die Entwicklung der politischen Teorie maßgeblich: die von ihm zugrunde gelegten Naturrechte sind bis heute Kernbestand des Liberalismus. Ebenso lassen sich mit ihm sämtliche Konzeptionen des Nachtwächterstaats begründen, die Eingriffe der Regierung in das Leben der Menschen nur zu eng definierten Zwecken zulassen. Mit John Locke sind die Voraussetzungen für einen etwaigen Transfer gelegt, wie er später von Foucault beschrieben wird, nämlich von der Regierungs- kunst zur Regierungstechnik, zur Gouvernementalität. Diesem Transfer weist Locke den Weg mit seinen Ausführungen zu „Die Auflösung der Regierung“.¹⁰⁶

2.3 Rousseau: Contract social Anders als Hobbes im Leviathan gelangte etwa hundert Jahre später Jean- Jacques Rousseau¹⁰⁷ auf seine Weise zum Begriff des Naturzustands. Rous- seau sieht im Unterschied zu Hobbes im Menschen des Naturzustands nicht den Wolf, die Bestie, das animalische hybride Monster, halb Mensch, halb Tier, sondern die Selbstliebe als einzigen Trieb des Menschen (amour de soi), den er später Instinkt nennt. Im Gegensatz zu Hobbes konsta- tiert Rousseau, dass eben jene tierischen und üblen Konstellationen zwi- schen den Menschen nicht die Merkmale seines Naturzustandes sondern die Konsequenzen seiner Vergesellschaftung sind. Rousseau kritisiert da- mit massiv die Gesellschaft seiner Zeit und nimmt mit seinen Teorien eine Ausnahmeposition ein. Rousseau geht von einer Logik aus, an de- ren Anfang die kritische Prüfung der aristotelischen Behauptung vom Menschen als gemeinschaftsfähiges Wesen (zoon politikon) steht. Denn wenn dies der Fall wäre, würden die gesellschaftlichen Verhältnisse kei- ne Missstände aufweisen. Er folgert daraus, dass der Mensch eben kein gemeinschaftsfähiges Wesen ist und von Natur aus ungesellig. Mit dieser Wendung unternimmt Rousseau den Schachzug, die Gesellschaft als fehl- geleitetes Kunstsystem zu kritisieren, da sie das dem Menschen von Na- tur aus einwohnende Prinzip überformt und entfremdet. Die Vergesell- schaftung wird von ihm als künstliche und krankhafte Metamorphose der menschlichen Natur bezeichnet. Erst in der vergesellschafteten Form [vgl. Gesellschaftsvertrag] erlebt der Mensch nach Rousseau eben jenen Zu- stand, den Hobbes als seinen Naturzustand mit homo homini lupus kenn- zeichnet. Da nach Rousseau der Mensch von Natur aus keine Bestie ist, ¹⁰⁶ John Locke, Die Auflösung die durch einen Souverän kontrolliert und verwaltet werden muss, son- der Regierung, in: John Locke, dern von Natur aus den göttlichen Impuls, den Instinkt, in sich trägt, ist er Über die Regierung, S. 160ff. ¹⁰⁷ geboren 28. Juni 1712; im Eigentlichen für eine Volkssouveränität geschaffen, in der die Idee der gestorben 2. Juli 1778 Vergesellschaftung des Menschen zum Gemeindewesen abgelehnt wird.

EMERGENCY EMPIRE 148 Transformation des Ausnahmezustands 2. Gesellschaftsverträge

Somit steht dem Hobbes’schen Gesellschaftsvertrag ein Rouseau’scher contact social gegenüber, der als komplette Umkehrung der Hobbes’schen Idee gelten kann: der Gesellschaftsvertrag also als Übel des homo homini lupus est und der Naturzustand nicht als jenes bestialisches Vorstadium des vergesellschafteten und domestizierten Menschen, sondern als ide- elle Matrix seines göttlichen Prinzips, dem Instinkt. Im hypothetischen Naturzustand ist der einzige Trieb des Menschen die Selbstliebe (amour de soi). Sie gebietet ihm: „Sorge für dein Wohl mit dem geringstmögli- chen Schaden für die anderen.“¹⁰⁸ Neben der Selbstliebe kennt der Na- turmensch das Mitleid (pitié), ein Gattungsgefühl, das nach Rousseaus Überzeugung auch die Tiere kennen. Alle anderen Fähigkeiten des Men- schen ruhen noch, also die Vernunft, die Einbildungskraft und das Gewis- sen. Nach Rousseau macht erst die Gesellschaft, bzw. der Gesellschafts- zwang den Menschen böse: die Selbstliebe (amour de soi) schlägt um in die böse Eigenliebe (amour propre). Der Mensch sieht sich dann nur noch mit den Augen der anderen und möchte als leidenschaftlicher Rangkämp- fer immer den ersten Platz einnehmen. Darüber hinaus verspürt er den drängenden Wunsch, dass die Nebenmenschen ihn sich selbst vorziehen. Dies ist jedoch schwer möglich, da auch alle anderen Menschen von der Eigenliebe angetrieben werden. So kommt es dazu, dass die Menschen ihre wahren Absichten verbergen. Sie geben ihr Eigeninteresse als Allgemein- interesse aus. Quelle des Übels sind also das naturferne Konkurrenzden- ken und die amour propre. Im Gesellschaftszustand erwachen zudem die Vernunft, das bewusste Mitleid sowie auch die „widernatürliche“ mora- lische Reflexion. Hier tritt ein erstes entscheidendes Differenzmerkmal zwischen der Rousseau’schen Gesellschaftslehre und der Hobbes’schen Staatslehre auf. Das bestialische Sein des Menschen, das bei Hobbes im Naturzustand wurzelt, dieses homo homini lupu est, findet sich nach Rous- seau eben nicht dort, im Naturzustand, sondern im Gesellschaftszustand. Nach Rousseau ist der Mensch von Natur aus für die Gesellschaft nicht ge- schaffen und er ist, auch im Widerspruch zu Aristoteles, kein Gemeinwe- sen (zoon politikon). Eine Vergesellschaftung des Menschen, so wie sie im Leviathan vorgestellt wird, ist nach Rousseau ein einziger Zwang und eine Entfremdung des Menschen von seinem naturgegebenen Selbst. Rousseau stellt in einem entscheidenden Merkmal seines Gesellschaftsvertrags der Hobbes’schen Staatssouveränität die Volkssouveränität gegenüber. Grundlage der Rousseau’schen Ethik ist nicht die Vernunft sondern der Instinkt, quasi der göttliche Instinkt, der jedem Menschen inne wohnt und die „angeborene Liebe zum Guten“. Rousseaus Denken zeichnet sich also dadurch aus, dass er nicht allgemeine ethische Regeln aufstellt, son- ¹⁰⁸ Jean Jacques Rousseau, dern zeigt, welches Interesse der Einzelne daran hat, „gut“ zu handeln. Discours sur l‘origine et les fon- Von daher ist jeder Mensch eine Verkörperung dieses naturrechtlichen dements de l‘inégalité parmi les hommes, [dt.: Abhandlung über nômos, des von Rousseau so genannten Instinkts und der Selbstliebe. Der den Ursprung und die Grundla- im Naturrecht begründete nômos des Menschen führt im Systemdenken gen der Ungleichheit unter den Menschen], [Zweiter Diskurs], Rousseaus zwangsläufig zur Idee der Volkssouveränität. Rousseau plädiert hg. u. übers. v. Philipp Rippel. deswegen nicht für eine Rückkehr in den Naturzustand, sondern fragt Stuttgart: Reclam 2005, S. 56

Souveränität 149 B: Antagonismus zwischen Staatsrecht unf Menschenrechten

vielmehr, wie in konkurrierenden Gesellschaften kollektives, vom In- stinkt gesteuertes Handeln möglich werden kann. Dabei beschäftigt er 2 sich nicht nur mit der „Kunst der Aufzucht des Einzelmenschen“, der Pä- dagogik, sondern auch mit der Teorie des an der Natur (des Menschen) orientierten Staates, einer Gemeinschaft des Gemeinwillens in freiwilli- ger Übereinkunft. Dieses Konzept von der volonté générale ist das Zent- rum seines contact social und der Ursprung der Volkssouveränität. Rousseaus Modellstaat der „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“¹⁰⁹ erlebte seine, wenn auch nur kurze Feuerprobe auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution. Den Weg der Revolution zur Beseitigung ge- sellschaftlicher Missstände und der Norm der Entrechtung des dritten Standes (Bürger und Bauern) hat Rousseau zwar nicht direkt empfohlen, dennoch war die Revolution für Rousseau eine Krise der Erneuerung, ein Zeitabschnitt, in welchem der in Brand gesetzte Staat wie aus der Asche wiedergeboren wird und die Kraft der Jugend wiedergewinnt. Es waren die französischen Revolutionäre höchstselbst, die ab 1793 mit Robespierre den Terrorismus und die Terrorherrschaft als staatliche Machtmittel ausriefen. In einem „Tugendstaat“ seien das Volk durch Ver- nunft zu leiten und die Feinde des Volkes durch „terreur“ zu beherrschen, so Robespierre am 5. Februar 1794 vor dem Konvent: Terror ist nichts anderes als rasche, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit. Er ist eine Offenbarung der Tugend. Der Terror ist nicht ein besonderes Prinzip der Demokratie, sondern er ergibt sich aus ihren Grundsätzen, welche dem Vaterland als dringendste Sorge am Herzen liegen müssen. Dem Exeku- tivorgan dieses Staatsterrors, dem Pariser Revolutionstribunal, fiel Ro- bespierre noch im selben Jahr schließlich selbst zum Opfer. „Am Grabe Rousseaus verweilend, meinte Napoleon, es wäre besser gewesen, wenn dieser Mann nicht gelebt hätte. Denn er sei am Terror schuld. Einer der Umstehenden erwiderte, Napoleon selbst dürfe nicht vergessen, dass er ohne die Revolution nicht Kaiser geworden wäre. Darauf wusste Napole- on nichts zu sagen.“¹¹⁰

¹⁰⁹ Während der Französi- schen Revolution war „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ eine der zahlreichen Losungen, auf die man sich berief. In einer Rede über die Organisation der Nationalgarden sprach sich Ro- bespierre im Dezember 1790 dafür aus, die Worte „Das fran- zösische Volk“ und „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ auf die Uniformen und die Flaggen zu schreiben. ¹¹⁰ Kurt Weigand, Einleitung, in: Jean Jacques Rousseau, Staat und Gesellschaft, Contract social. Grundlegende Gedanken zu ei- ner neuen Gesellschaftsordnung, München: Goldmann 1959, S. 8

EMERGENCY EMPIRE 150 Transformation des Ausnahmezustands 3. Wem gehört die Freiheit?

3. Wem gehört die Freiheit?

3.1 Inhaberschaft Mit dem Rousseau’schen Entwurf erben wir die Idee vom Selbst als nô- mos des Menschen und die Idee vom „Gehorsam gegen das selbstgegebe- ne Gesetz“.¹¹¹ Die Differenz zwischen Hobbes und Rousseau markieren zwei antipodische Freiheits-Konzepte, die einerseits dem Souverän des Staates (Hobbes) die naturrechtliche Legitimität und andererseits dem Souverän des Menschen das Naturrecht in Form des Selbst (Rousseau) geben. „Auf seine Freiheit verzichten heißt, auf seine Würde als Mensch, auf die Menschenrechte, ja sogar auf seine Pflichten verzichten. Für je- mand, der auf alles verzichtet, ist keine Entschädigung möglich. Ein sol- cher Verzicht ist mit der Natur des Menschen nicht vereinbar.“¹¹² Aus dieser Dichotomie der politischen Teorie der Frühen Neuzeit erwach- sen einerseits das Hobbes’sche Konzept der Diktatur und gleichzeitig das Rousseau’sche Konzept der Republik, das wegweisend wurde für die demo- kratische Revolution seiner Zeit. Wir finden im Hobbes’schen Konzept den Träger für sämtliche wei- terreichende Teorien und Ausführungen im Geiste der naturrechtlichen Ermächtigung des Souveräns und der Diktatur, sowie im Rousseau’schen Konzept den Träger für sämtliche weiterreichenden Teorien und Aus- führungen der Selbstermächtigung des Menschen in der Volkssouveräni- tät, also der Demokratie. „Nur ein Gesetz erfordert seiner Natur nach eine einmütige Zustimmung: Das ist der Gesellschaftspakt: denn der staats- bürgerliche Zusammenschluss ist der freiwilligste Akt der Welt. Da jeder- mann frei geboren und Herr seiner Selbst ist, kann ihn niemand, unter welchem Vorwand es auch sei, ohne seine Zustimmung unterwerfen. Wer entscheidet, der Sohn eines Sklaven werde als Sklave geboren, entschei- det, dass er nicht als Mensch geboren werde.“¹¹³ Auch wenn Rousseau die naturgegebene Freiheit des Einzelnen im Selbst bzw. der Selbsterhaltung unterstreicht, entstehen in seinen Diskur- sen durch die Tatsache eines Gesellschaftsvertrags unlösbare Freiheits- Widersprüche, nämlich zwischen dem Recht auf Selbsterhaltung des Ein- zelnen und seinem Los durch den Zuspruch an einen Vertrag; wie auch Willens-Konflikte, nämlich zwischen dem Gesamtwillen, dem Gemein- willen und dem Sonderwillen. Dies führt zu der Konsequenz, dass der freie Wille doch nicht frei ist und „das Souverän“ doch nicht allmächtig. Die widersprüchlichen Dispositionen im Rousseau’schen Diskurs wirft zwangsläufig die Frage nach dem möglichen Einklang zwischen einer Entschädigung für das Los der Unterwerfung und dem Gehorsam gegen- über dem naturrechtlichen Gesetz des Selbst auf. „Was er [der Mensch] durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist nämlich seine natürliche Frei- ¹¹¹ Kurt Weigand, Einleitung, heit sowie ein unbeschränktes Recht auf alles, was ihn lockt und was er S. 7 erlangen kann. Was er gewinnt, ist nämlich die gesellschaftliche Freiheit ¹¹² ebd., S. 14 ¹¹³ Jean Jacques Rousseau, und das Eigentum über alles, was er besitzt.“¹¹⁴ Staat und Gesellschaft, S. 94 ¹¹⁴ ebd., S. 21f.

Souveränität 151 B: Antagonismus zwischen Staatsrecht unf Menschenrechten

Eine Lösungssynthese aus den Widersprüchen zwischen Freiheits- eigentum und Freiheitsbesitz bietet Rousseau mit dem Begriff der Mo- 2 ral an: „Nach dem Vorhergehenden könnte man die moralische Freiheit, die allein den Menschen wahrhaft zum Herrn seiner selbst macht, als Errungenschaft des Gesellschaftszustands buchen. Denn der Antrieb der Begierde allein ist Sklaverei [vgl. Naturzustand bei Hobbes; der al- lerdings bei Rousseau dem Zustand der Vergesellschaftung entspricht] und Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich vorgeschrieben hat, ist Freiheit.“¹¹⁵ Damit ist jener Rousseau’sche Gehorsam gegen das selbstge- gebene Gesetz gemeint, der in der Mischform eines souveränen Unterta- nen, respektive eines untertänigen Souveräns, die später als dialektische Form erkannt wird, erhalten bleibt. Die dritte Instanz, die den Menschen des naturrechtlichen Selbstbesitzes und den Staatsbürger des Eigentums- besitzes verbindet, ist die Moralperson. Nach Rousseau vollzieht sich der Paradigmenwechsel vom Naturzustand zu einem Gesellschaftszustand im einzelnen Menschen im Übergang vom Instinkt zur Moral. Rousseau, Vordenker Hegels, gilt ebenso als Präposition des Mar- xismus. „Die Vorstellung von einer Selbstentfremdung des Menschen und deren Aufhebung führt in den Umkreis der Rousseau’schen Philosophie. Dass Marx sich nicht mehr über die Freiheit und Gleichheit zu verbrei- ten brauchte, war nur durch Rousseau möglich, der sie gründlich genug durchdacht hatte.“¹¹⁶ Generell bleibt an dieser Stelle zu vermerken, dass das Freiheitskonzept sowohl bei Hobbes wie auch bei Rousseau beim Souve- rän liegt. Bei Hobbes versteht sich Freiheit naturrechtlich, als Qualität des Bestialischen (homo homini lupus), die mit einem Gesellschaftsvertrag aus- schließlich zum Privatbesitz und Monopol eines einzigen Staatssouveräns wird. Dieser Souverän ist eine Ausnahmefigur über der Norm. Er kann nach eigenem Ermessen über die Freiheit, die auch immer Gewalt heißt, verfü- gen. Bei Rousseau versteht sich Freiheit ebenfalls naturrechtlich, allerdings nicht in der Qualität des Bestialischen, sondern in der Qualität der Selbst- liebe (amour de soi) und des Selbsterhalts. Dabei ist Selbst ein göttliches Kon- zept, das jedem Menschen in seinem ihm gegebenen Instinkt innewohnt und durchaus als nômos des Einzelnen verstanden werden kann. [Zum na- turrechtlichen Begriff des Selbsterhalts bei Rousseau kann durchaus eine Parallele zum naturrechtlichen Begriff der Selbstverteidigung bei Hobbes gezogen werden, obwohl es keine übereinstimmende Politik dieser beiden Konzepte gibt.] Im Übergang vom Naturzustand zum Gesellschaftszustand vollzieht sich bei Rousseau die Wandlung von der Freiheit des Instinkts zur Freiheit der Moral. Die moralische Person ist in diesem Modell Träger der Souveränität und somit der (gesellschaftlichen) Freiheit. Der Staatskörper bei Rousseau ist in Differenz zum Staatskörper bei Hobbes kein einziger allmächtiger Souverän, sondern die Zusammensetzung aller einzelnen sou- veränen Individuen zu einem Souverän. Dieses Konzept heißt bei Rousseau Volkssouverän, das durch den contract social zu Stande kommt. ¹¹⁵ ebd., S. 22 ¹¹⁶ Kurt Weigand, Einleitung, Es liegt deutlich auf der Hand, dass sich diese beiden Souveräni- S. 7 täts- wie Freiheitsmodelle der Frühen Neuzeit zueinander antagonistisch

EMERGENCY EMPIRE 152 Transformation des Ausnahmezustands 3. Wem gehört die Freiheit?

ins Verhältnis setzen und im Laufe der Geschichte ebenso de facto anta- gonistische Systeme wie den Nationalismus und den Sozialismus, die Dik- tatur und die (moderne) Demokratie hervorgebracht haben. Bei Hobbes besitzt der Souverän das Monopol über die Freiheit und somit die Gewalt über Recht und Norm. Bei Rousseau besitzt das Gemeinwesen das Recht und die Pflicht der moralischen Freiheit und wird somit souveräner Be- standteil des contract social. Die Deklinationslinie zwischen Hobbes und Rousseau verläuft von „der Souverän“ nach „das Souverän“, von einem männlich personifizierten, solitären Staatssouverän zu einem sächlich personifizierten, kollektiven Volkssouverän. Dennoch sind beide Modelle – und somit auch das Rousseau’sche Modell – sowohl einem Organizismus als auch einem Gesetzgeber ver- pflichtet. Der Organizismus des Volkskörpers und der Gesetzgeber über den Volkssouverän lassen schließlich Rousseaus so anders gedachten Na- turzustand vom Selbst, vom Instinkt, quasi dem Selbsterhalt, an der Re- publik und der Revolution scheitern. Das naturgegebene Recht (inherent right) auf Selbstverteidigung wird bei Hobbes eindeutig am Entscheidungs- und Gewaltmonopol des Staatssouveräns festgemacht. Im Gegenzug verkörpert das naturgegebe- ne Recht bei Rousseau das Prinzip des Selbsterhalts (amour de soi) in jedem Einzelnen, welches er nicht durch einen autoritären Willen beschließt, sondern durch seinen moralischen Willen auf die Gemeinschaft über- trägt. Auf ein inherent right des Selbsterhalts (Selbstverteidigung) kann sich nach diesem Modell jede Einzelperson berufen, wenn dieser dem mo- ralischen Willen der Gemeinschaftsrechte entspricht. Ein inherent right als (politisches) Widerstandsrecht des Einzelnen, das bei Hobbes de facto nicht vorliegt, findet sich hingegen im Modell des contract social bei Rous- seau, allerdings nur in einer Übertragungspflicht auf den Gemeinwillen des Volkskörpers. Ein individuelles Freiheitsrecht liegt demnach auch hier nicht vor, sondern es existiert lediglich das Freiheitsrecht des Staatsbür- gers, der seine Freiheit in der Moral (für die Gemeinschaft) findet. Hinge- gen kann bei Hobbes durchaus von einem individuellen Freiheitsrecht die Rede sein, welches allerdings ausschließlich im Monopol der Souveräni- tätsperson als seine Inhaberschaft eingeschlossen ist, im Diktator.

3.2 Urheberschaft Das Problem der Ausnahme wird bei Rousseau als solches topologisch nicht klar verortet, da Entscheidungen nicht an einen Staatssouverän ge- bunden sind, sondern an den Volkssouverän. Mit Vehemenz tritt in sei- nem Gesellschaftsvertrag die Geburt der Republik zu Tage. „Ich nenne also jeden durch Gesetze gelenkten Staat, unter welcher Form der Verwaltung das auch geschehen möge, Republik. Denn allein dann regiert das öffent- liche Interesse und gilt die öffentliche Sache etwas. Jede gesetzliche Re- gierung ist republikanisch.“¹¹⁷ Die Republik ist das Organ der Volkssou- veränität, in der jeder Einzelne Urheber jener Gesetze ist, denen er sich ¹¹⁷ Jean Jacques Rousseau, wiederum unterwirft. „Die Gesetze sind eigentlich nur die Bedingungen Staat und Gesellschaft, S. 36

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des gesellschaftlichen Zusammenschlusses. Ihr Urheber muss das den Gesetzen unterworfene Volk sein. Nur denen, die sich zusammenschlie- 2 ßen, steht es zu, die Bedingungen der Gesellschaft [ihre Gesetze] zu ent- werfen.“¹¹⁸ Hier oszilliert der Rousseau’sche Contact social zwischen den Konventionen des Leviathan und dessen Transformation. Gewisse Un- deutlichkeiten in der Abgrenzung des Entwurfs einer Souveränität versus Gesetzgeberschaft bleiben, obwohl der Begriff der Republik nunmehr ra- dikal in eine andere Richtung als jener der Diktatur weist. Ähnlich wie bei Hobbes findet sich auch bei Rousseau der Punkt der politischen Teologie, der sich bei der Frage nach dem Gesetzgeber deut- lich hervorhebt. Das göttliche Prinzip des nômos, das den Souverän und seine Monopole bei Hobbes lenkt, heißt bei Rousseau Genie. Obzwar im contract social der Gesetzes-Urheber das Volk, bzw. die Volkssouveränität ist, wird ein Gesetzgeber dennoch von ihm unterschieden. „Der Gesetz- geber ist in jeder Hinsicht ein außergewöhnlicher Mann im Staat. Schon durch sein Genie muss er es sein, nicht weniger durch seine Tätigkeit. Sie [die Tätigkeit] ist nicht Verwaltung, sie ist nicht Souveränität.“¹¹⁹ Das folgende Bild, welches jenem Gesetzgeber, rein topografisch ge- sehen, weder im Staatskörper, noch in der Regierung einen Platz einräumt, sondern ihn mit einer höheren Instanz verbindet, die ihn trotzdem wiede- rum in allem enthalten sein lässt, da die Tätigkeit des Gesetzgebers die Re- publik erbaut, weist Parallelen zur topografischen Platzierung des Souve- räns bei Hobbes auf. „Sie [die Tätigkeit des Gesetzgebers] ist ein besonderes und höheres Amt, das mit der menschlichen Herrschaft nichts gemein hat; denn wenn derjenige, welcher den Menschen befiehlt, nicht den Gesetzen befehlen darf, darf derjenige, welcher den Gesetzen befiehlt, auch nicht den Menschen befehlen.“¹²⁰ Und weiter: „Die große Seele des Gesetzgebers ist das tatsächliche Wunder, das seine Sendung beweisen muss.“¹²¹ So gesehen bleibt im Rousseau’schen Entwurf unklar, wer sich des (Sonder)Rechts der Ausnahme nun ermächtigen darf und wird: „Da das Gesetz die Allgemeinverbindlichkeit des Wollens mit der Allgemeinheit seiner Zuständigkeit vereint, wird auch ersichtlich, dass das, was ein Mensch – wer immer er auch sein möge – nach seinem eigenen Kopf be- fiehlt, kein Gesetz ist. Nicht einmal was der Souverän über einen Sonder- fall befiehlt, ist ein Gesetz, vielmehr ein Erlass; also kein Souveränitäts- akt, sondern eine Verwaltungsmaßnahme.“¹²² Die Ermessensfrage bleibt offen: „Ich habe bereits gesagt, dass es keinen Gemeinwillen über einen Sonderfall gibt.“¹²³ Da ein Sonderwille im contract social suspendiert ist, ist anzunehmen, dass über den Sonder- fall die aus dem Gemeinwillen (volonté générale) hervorgehende Moralper- son entscheidet. Oder eben das Los. „Die Wahl durch das Los, sagt Mon- ¹¹⁸ ebd. tesquieu, entspricht dem Wesen der Demokratie. Zugegeben, aber wieso? ¹¹⁹ ebd., S. 38 ¹²⁰ ebd. Das Los, fährt er fort, ist eine Art des Auslesens, die niemanden verletzt. ¹²¹ ebd., S. 39 Es lässt jedem Staatsbürger eine begründete Hoffnung, dem Vaterland zu ¹²² ebd., S. 36 ¹²³ ebd., S. 35 dienen.“¹²⁴ „Die Ernennung durch Los würden in einer wahrhaften De- ¹²⁴ ebd., S. 95 mokratie wenig Nachteile haben. Da alles gleich ist [vs. alle gleich sind] so-

EMERGENCY EMPIRE 154 Transformation des Ausnahmezustands 3. Wem gehört die Freiheit?

wohl durch Sitten und Talente als auch durch Gesinnung und Vermögen, würde die Wahl fast gleichgültig [immer den Richtigen treffen].“¹²⁵ Um die Differenz zur Hobbes’schen Staatslehre zu wahren und eine scheinba- re Überwindung von „Der Souverän“ zu unterstreichen, greift Rousseau zum Gesetzgeber, der verschieden ist vom Gesetzesurheber (das Volk) und der auf geniale Weise das (demokratische) Los zieht. – Doch wo kon- kret bleibt da der definitive Unterschied zu einem Hobbes’schen Souve- rän, in dessen Ermessenspielraum die Frage nach der Ausnahme, nach der Dezision und Suspendierung fällt, wenn ein Los auch nichts anderes als eine willkürliche Entscheidung über das Ganze ist, die dem Ermes- sensspielraum des Genies überlassen bleibt?

3.3 Autorenschaft Mit dem Vergleich der beiden Staatsmodelle der Frühen Neuzeit, jenes des Leviathan und jenes des contract social, stehen wir im Grunde genom- men vor zwei exemplarischen Freiheits-Modellen der Moderne, die sich als kontrovers zu erkennen geben. Ob nun einerseits die natürliche Anlage des Menschen – gemäß Hob- bes – die Bestie (homo homini lupus) ist, die es mit einem Gesellschaftsver- trag zu zähmen und zur Freiheit zu zwingen gilt, oder ob die natürliche Anlage – gemäß Rousseau – das Selbst und der Instinkt ist, den es mit- tels eines Gesellschaftsvertrags zum moralischen Gewissen für die Ge- meinschaft (Freiheit und Gleichheit) zu wandeln gilt, bleibt sich, trotz unterschiedlichen Rechtszuspruchs (Souverän vs. Volkssouverän) in den jeweiligen Modellen, ziemlich gleich. „Damit nun aber der Gesellschafts- vertrag keine Leerformel sei, schließt er stillschweigend jene Übereinkunft ein, die allein die anderen ermächtigt, daß, wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird, was nichts anderes heißt, als daß man ihn zwingt, frei zu sein; denn dies ist die Bedingung, die den einzelnen Bürger vor jeder persönlichen Abhängigkeit schützt, indem sie ihn dem Vaterland übergibt.“¹²⁶ Die Su- che nach einer gottgegebenen Autorenschaft, der Ermächtigungshoheit über den Menschen, erstirbt zyklisch in den jeweiligen Installationen der souve- ränen Gewalt (Staatssouverän, Volkssouverän), welche Freiheit, Wohl, Si- cherheit und Ordnung für den Einzelnen gegen seinen Willen erzwingen. Was immer wieder und aufs Neue bleibt, ist ein theopolitischer nômos als Gegenstand der subjektiven/intersubjektiven Kritik und des Widerstands. All diese Modelle und Kriterien, die das Gute (Bemühung um das Gute) vor das Böse setzen (Überwindung des Bösen), das Licht vor die Nacht, das Glück (Freiheit und Gleichheit) vor das Unglück (Elend und Armut), das Linke vor das Rechte, die Moral vor das Verbrechen, das (Menschen)Leben vor den Tod, den Frieden vor den Krieg, so darf festgestellt werden, erliegen in der modernen Staatengeschichte Europas dem nicht aufzuhaltenden Status quo ihrer praktischen Verkehrung. Das Phänomen der Unlösbarkeit von Fragen der politischen Teologie, wem die Freiheit zusteht, dem Sou- ¹²⁵ ebd., S. 96 verän (Einzelner) oder dem Volk (Masse); wer das gottgegeben Recht hat, ¹²⁶ ebd., S.21

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sich der Freiheit zu ermächtigen; welche Argumentation die richtige ist, jene, die entweder das göttliche Prinzip (nômos) dem auserwählten Einzel- 2 nen diktiert oder eben dem auserwählten Menschen (Genie) schlechthin; und ob der Weg zur Freiheit das Recht vor die Pflicht setzt oder die Pflicht vor das Recht, scheint sich zu perpetuieren und letztendlich das Paradig- ma der Moral zu keiner Lösung zwischen Staatsterror, Terrorismus und Antiterrorkrieg zu führen. Denn, wie Noberto Bobbio sagt, ist der Begriff der Moral schon für sich genommen problematisch.¹²⁷ „In der Geschich- te der Moral, verstanden als System von Verhaltensregeln, folgt ein Ge- setzeskodex dem anderen. Ganz gleich, ob er nun den Gewohnheiten ent- sprach, oder ob er ein Vorschlag der Weisen war oder gar von Machthabern durchgesetzt wurde: Immer waren es Vorschriften, die Gebote und Verbo- te enthielten“¹²⁸, die mit der Vollmacht eines Gesetzgebers standen und fie- len. „Diese Bewunderung für den Gesetzgeber reicht bis zu Rousseau. Die großen Werke der Moraltheorie sind Abhandlungen über die Gesetze, von Platons Nomoi über Ciceros De legibus bis hin zu Montesquieus Esprit de lois.“¹²⁹ Wenn weder Recht noch Pflicht, Gut noch Böse, Licht noch Dun- kel, Glück noch Unglück, Rechts noch Links, Vater (Gesetz) noch Sohn (Ge- setzgeber) in der bisherigen Geschichte der Staaten dem Paradigma der Moral standhielten, dann ist es der göttliche Status der Ununterschieden- heit, der eine souveräne Gesetzesnatur kennzeichnet und jede souveräne Moral rechtfertigt. In diesem Sinne ist das Axiom der Ununterschiedenheit nach wie vor eine höchst brauchbare Kategorie zur theopolitischen Legi- timierung souveräner Gewalt, wie auch um (gescheiterte) Kriterien und (vernichtende) Kriterienlosigkeit (und umgekehrt) in einer Null-Termino- logie zusammenzufassen. Agamben bezieht seinen Referenzpunkt des Axi- oms der Unterschiedenheit im Paradigma des Pindar, dem nômos basileus. Im Bezirk dieser Nullterminologie hat es alles bereits gegeben, kann es alles geben und wird es nichts mehr von all dem geben. Was bleibt ist ein Selbst. „Freiheit und Macht, die aus Anerkennung einiger fundamen- taler, unveräußerlicher und unverletzlicher Rechte herrühren, genau das sind die Menschenrechte.“¹³⁰ Das Menschenrecht ist demnach die Frei- heit der selbst gegebenen Autorenschaft, als inherent right über die (seine; des Menschen) Ausnahme zu entscheiden? Das Menschenrecht ist wei- terhin demnach die (moralische) Freiheit als jener „Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich vorgeschrieben hat“¹³¹, die keine Freiheit des „Son- derwillens“¹³² bedeutet, sondern die Freiheit des unveräußerlichen und unverletzlichen moralischen Eigenwillens voraussetzt, als Bedingung des sozialen und politischen Subjekts, in der Ermessensfrage der Ausnahme ¹²⁷ Vgl. Noberto Bobbio, Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist selbstbestimmt zu agieren? Toleranz durchsetzbar?, Berlin: Das Rousseau’sche Gesellschaftsmodell kann als eine Art Mediati- Wagenbach 2007, S. 43 on zwischen dem Hobbes’schen und dem Locke’schen Gesellschaftsmo- ¹²⁸ Jean Jacques Rousseau, Staat und Gesellschaft, S.47 dellen angesehen werden. Es befindet sich zwischen dem Denken von ¹²⁹ ebd. Hobbes und den Auffassungen von Locke, die sich zu Hobbes konträr po- ¹³⁰ ebd., S. 54 ¹³¹ ebd., S. 22 sitionieren, denn schließlich ist Locke die wichtigste Quelle für die ersten ¹³² ebd., S. 94 Gesetzgeber, die sich an Menschenrechten orientierten.

EMERGENCY EMPIRE 156 Transformation des Ausnahmezustands 4. Organizistische Staatskonzepte vs. Individualistische Staatskonzepte

4. Organizistische Staatskonzepte vs. Individualistische Staatskonzepte

4.1 Leviathan und Behemoth Sämtliche Entwürfe der Staatstheoretiker der Frühen Neuzeit (Hobbes, Rousseau, Locke, Kant) beinhalten eine Vertragstheorie, deren Prämis- sen den Spielraum zwischen organizistischen und individualistischen Kon- zeptionen entwerfen. Die Gesellschaftsverträge richten sich im Grunde genommen nur an einer Frage aus, nämlich an der Frage nach der Frei- heit. Der Freiheitsbegriff, der durch den Vertragstyp definiert wird, ist entweder die Freiheit des Staatssouveräns (Hobbes) oder die Freiheit des Volkssouveräns (Rousseau, Locke). Dem entsprechend vollzieht sich eine Freiheit im Staatsreglement entweder in der Diktatur (Monarchie) oder der Demokratie. Der signifikanteste und folgenreichste Entwurf einer organizisti- schen Konzeption liegt uns mit Hobbes’ Leviathan vor, der „hartnäckig beibehaltenen Vorstellung vom Staat als einen einheitlichen großen Kör- per, einem «künstlichen Menschen», in dem der Souverän die Seele, die Richter die Gelenke, die Strafen und Belohnungen die Nerven sind“¹³³. Noch am Ende seines Lebens lieferte Tomas Hobbes im Angesicht des englischen Bürgerkrieges den Gegenentwurf zum Leviathan, den Behe- moth. „Behemoth ist ein Ungeheuer des Chaos und des Grausamen und daher ein eindrucksvolles Symbol für einen Zustand der Ordnungslosig- keit und Gesetzlosigkeit [Anomie], des Aufruhrs und der Rebellion.“¹³⁴ Beide Figuren, Leviathan und Behemoth, sind apokalyptische Figuren, die sowohl zum Erzählinventar der biblischen Tradition gehören, als auch aus der talmudischen Überlieferung bekannt sind. Es bleibt vorerst umstritten, wieso Hobbes beiden Entwürfen die Figur einer mythisch-bestialischen Gestalt verleiht. Als weitaus auf- schlussreicher erweist sich jedoch die Beleuchtung des historischen Um- feldes, unter dessen Eindruck Hobbes es verstand, seine Absichten in ei- nen utilitaristischen Dienst zu stellen und ein Gründungspapier für die nützlichste und vorteilhafteste aller Erfindungen vorzulegen – für den leviathanischen Staat. Hobbes konnte auf einer Auslandsreise in Pisa Ga- lileo Galilei kennen lernen und ferner Bekanntschaft mit René Descar- tes schließen. Im Bann der Umbrüche seiner Zeit, vornehmlich durch die Galilei’schen Interventionen der peripatetischen Anschauungen, fußend auf der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, die eine nachhaltige Er- schütterung der katholischen Politik bewirkten und die Inquisition akti- vierten, entwirft Hobbes den Plan einer dreiteiligen Reformlektüre, wel- che die mechanisch-materialistischen Ideen seiner Zeit widerspiegelt. Die drei geplanten Werke waren mit den Titeln De Corpore, De Homi- ¹³³ Noberto Bobbio, Das Zeital- ni und De Cive versehen. „Die mathematischen Naturwissenschaften sei- ter der Menschenrechte, S. 52 ¹³⁴ Wolfgang Kersting, Tomas en, so heißt es im Widmungsbrief zu De Corpore 1655, eine «neue Sache», Hobbes zur Einführung, Ham- im wesentlichen Galilei zu verdanken, der das Tor zum «physikalischen burg: Junius 2002, S. 41

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Zeitalter» weit aufgestoßen habe. [...] [J]edoch ist die politische Philoso- phie dieses [die neue Sache] in einem weitaus größeren Maße; so ist sie 2 nicht älter als dieses Buch, das ich unter dem Titel De Cive selbst geschrie- ben habe“.¹³⁵ Hobbes sieht sich mit seiner neu begründeten politischen Philosophie an der Spitze der wissenschaftlich-philosophischen Avantgar- de seiner Zeit. „Er versteht sich als Galilei der Staatsphilosophie, als Har- vey der Lehre vom politischen Körper und seinen Bewegungen.“¹³⁶ Hobbes geht davon aus, dass sich für das politische Problem seiner Zeit, nämlich die fortwährende Friedlosigkeit der Menschen, ein genau- so verlässliches und nützliches (utilitaristisches) Wissen produzieren lie- ße, wie dies die „mathematischen Wissenschaften auf ihrem Gebiet der Größenverhältnisse und der bewegten Körper“¹³⁷ vermochten. Vor dem Hintergrund dieses naturwissenschaftlichen und geometrisch exakten Anspruches, übertragen auf die Philosophie, lässt sich das organizistische Gebilde des Leviathans durchaus nachvollziehbar interpretieren. Es war die Intention von Hobbes, eine Friedenswissenschaft zu begründen, die seiner Erfindung der politischen Philosophie folgt und in deren Zentrum der friedensstiftende Souverän, analog dem heliozentrischen Weltplan, platziert ist. „Und diese allernützlichste und allervorteilhafteste Erfin- dung ist der Staat, der nach dem Konstruktionsplan der wissenschaftli- chen politischen Philosophie Hobbes’ errichtete Leviathan“¹³⁸, als Frie- densinstrument und als Monumentalmensch in einem. Warum der in der Titelzeichnung der Originalausgabe wiedergege- bene magnus homo sich mit dem biblisch-dämonischen Urtier Leviathan in Verbindung setzt, vor allem wenn sein Zweck mathematisch-wissen- schaftlicher Friede ist, bleibt dennoch vorerst rätselhaft. Entscheidend ist wohl hier das Symbol der großen Körperschaft, „die ihrerseits die ver- tragschließende Menge zu einer einheitlichen Person, nämlich zum Staat erhebt“.¹³⁹ Die große Körperschaft muss demnach auch das Kernstück des geplanten De Corpore sein, die den Entwurf von Hobbes nachhaltig in die Richtung des großen Maschinenmenschen und der großen Maschi- ne zwingt. Jedoch fragt sich, wie kann eine große Maschine, die eo ipso den Zweck der Friedensmission erfüllt, diese Mission ohne Gewalt voll- ziehen? Nachdem in vorangegangenen Abschnitten der Clausewitz’sche Grundsatz besprochen wurde, nämlich dass die Politik der mit anderen Mitteln fortgesetzte Krieg, sowie auch der Foucault’sche Grundsatz, dass der Frieden die Chiffre des Krieges ist, kann der Hobbes’sche Entwurf als totalitärer Staatsentwurf gedeutet werden. Die Maschine des Levia- thans, von Hobbes auch als sterblicher Gott (deus mortalis) bezeichnet,

¹³⁵ Wolfgang Kersting, Tomas zwingt durch den Schrecken (terror) seiner Macht alle zum Frieden. Der Hobbes zur Einführung, S. 44 sterbliche Gott, der Staat, ist ein gewaltsamer Gott, weil er Inhaber der ¹³⁶ ebd. höchsten Macht und auch der höchsten Gewalt ist. Möglicherweise fin- ¹³⁷ ebd., S. 44 ¹³⁸ ebd., S. 47 den sich hier endlich die Bezüge zum schrecklichen Untier, dem mythi- ¹³⁹ Carl Schmitt, Der Leviathan. schen Leviathan, nämlich in seiner Totalität des Schreckens und der Ge- Sinn und Fehlschlag eines poli- tischen Symbols, Köln: Hohen- walt, ohne die sich ein Frieden expressis verbis nicht herstellen lässt. Carl heim 1982, S. 30 Schmitt gibt wiederum in seinem Leviathan eine präzise Analyse des my-

EMERGENCY EMPIRE 158 Transformation des Ausnahmezustands 4. Organizistische Staatskonzepte vs. Individualistische Staatskonzepte

thischen Symbols, die er mit dem Untertitel „Sinn und Feldschlag eines politischen Symbols“ umschreibt. Nach Schmitts Recherche findet sich am Schluss des Kapitels 28 die Auflösung des leviathanischen Rätsels und gleichzeitigen Auftrags: „Hobbes behandelt hier das Problem der Strafen und Belohnungen, die er beide als notwendige Mittel ansieht, um auf die Menschen einzuwirken.“¹⁴⁰ „Der Inhaber der höchsten Macht, der Len- ker und Regierer des Staates, der «Governor», wie er im englischen, der «rector», wie er im lateinischen Text heißt, verfügt über diese Strafen und Belohnungen“¹⁴¹. Dieser wird schließlich in Foucaults „Geburt der Bio- politik“ als die Geschichte der westlichen Gouvernementalität bezeich- net. Mit der Geburt des Leviathans erscheint die Geburt der Biopolitik, der Politik der Abschreckung, des Polizeistaates, der Inhaberschaften des Souveräns über Kontrolle und Bestrafung, über Sicherheit und Ordnung, über Unterwerfung und Staatsräson. „Die Gouvernementalität war in ei- nem bestimmten Sinne unbegrenzt. Genau dies kennzeichnete das, was man zu jener Zeit die Polizei nannte und was man am Ende des 18. Jahr- hunderts, und zwar schon mit einem rückwärtsgerichteten Blick, den Po- lizeistaat nennen wird“¹⁴² – die Gouvernementalität eines totalitären Or- ganizismus der Friedenserzwingung. Warum der Hobbes’sche Revolutionstypus, der Behemoth weniger Popularität gewinnt als sein Vorläufer, der Leviathan, liegt wohl eher an der korporativen Attraktivität, welche der Leviathan als Symbol für Flä- chenstaaten und Nationen im Rahmen völkerrechtlich-planetarischer Großraumpolitik haben kann. Der magnus homo in einer mythischen To- talität von Gott, Mensch, Tier und Maschine hat seine futuristische Mis- sion noch längst nicht ausgespielt. Als eine der furiosesten neo-behemothi- schen Perpetuierung kann das futuristische Manifest von Filippo Tomaso Marinetti gelten, ein symbollastiger Prototyp des Faschismus im Europa des 20. Jahrhunderts. In seinen 11 Tesen verherrlicht er vor allem die Gewalt und den Krieg als einzige Hygiene der Welt, wie auch den Maschi- nenmann, einen Vorläufer des Terminators, der befähigt ist, sich selbst zu reproduzieren. Friedrich Nietzsches Übermensch „Zarathustra“, der gegen die Vernunft und alle gesellschaftlichen Regeln seinen Willen ge- waltsam durchsetzt, wurde für Marinettis Verständnis von Heldentum instrumentalisiert und ideologisiert. Die anarchistische und gewalttätige Grundhaltung der Futuristen beschwört einen neo-behemothischen Revo- lutionstyp, der den Leviathan aufmischt, einnimmt und überformt. Wenn der Behemoth in der Hobbes’schen Darstellung und in der Schmitt’schen Interpretation den Revolutionstypen symbolisiert, so ist es eine futuristische Revolution, die jeglichen Utilitarismus und Hedo- nismus beiseite schiebt und einzig die Anarchie und Gewalt, also den Krieg als ästhetische Feier zählen lässt. „Der Krieg ist schön, weil er dank der Gasmasken, der schreckenerregenden Megaphone, der Flammen- ¹⁴⁰ Carl Schmitt, Der Levia- werfer und der kleinen Tanks die Herrschaft des Menschen über die Ma- than, S. 31 ¹⁴¹ ebd., 31f. schine begründet. Der Krieg ist schön, weil er die erträumte Metallisie- ¹⁴² Michel Foucault, Die Geburt rung des menschlichen Körpers inauguriert. Der Krieg ist schön, weil er der Biopolitik, S. 62

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eine blühende Wiese um die feurigen Orchideen der Mitrailleusen berei- chert. Der Krieg ist schön, weil er das Gewehrfeuer, die Kanonaden, die 2 Feuerpausen, die Parfums und Verwesungsgerüche zu einer Symphonie vereinigt. Der Krieg ist schön, weil er neue Architekturen, wie die der großen Tanks, der geometrischen Fliegergeschwader, der Rauchspiralen aus brennenden Dörfern und vieles andere schafft.“¹⁴³ Die in Marinet- tis Manifest zum äthiopischen Kolonialkrieg veräußerten Verbalexzesse zur Schönheit des technischen Tötens drücken nicht nur eine Ästhetisie- rung des Krieges sondern geradezu eine libidinöse Fetischisierung des industriellen Schlachtens aus. Walter Benjamin, Georges Bataille, Paul Virilio oder Klaus Teweleit bieten jeweils voneinander höchst verschie- dene Ausgangspunkte der Analyse und Kritik dieses Zeitphänomens, die hier nicht weiter ausgeführt werden können. Benjamins 1936 verfasster Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar- keit“, die gewaltsamen Synergien seiner Zeit aufzeigend, gespeist aus fu- turistischem Wahn, kranken Fantasien der Euthanasie, Massenhysterien und Massenmedien, gilt nach wie vor als kritisches Werk aktueller Kunst- und Gesellschaftskritik. Die totalitäre Fusion von Gott, Mensch, Tier und Maschine mün- det in die Symbolik des ästhetisierten Maschinen- und Blutrausches und kann komplett dem Behemoth zugeschrieben werden. An diesem Beispiel der futuristischen Hybridisierung, in den Manifesten Marinet- tis deutlich nachvollziehbar, annulliert der Behemoth die Hobbes’schen Maximen der Souveränitätsprivilegien, der Gesellschaftssubmission, der Gouvernementalität und der Euphemismen. Der Behemoth symbolisiert die totale Negation, den totalen Umsturz, den totalen Terror. Wobei sein teleologisches Konzept, seine causa finalis, auf nichts anderes abzielt als auf das operationale Zentrum, den Kern, das Herz des Leviathans, um es für sich einzunehmen. An dieser Stelle entsteht dann auch das voll- ständige Bild des Leviathans an der Schnittstelle zum Behemoth, näm- lich der total-anarchischen Kriegsmaschine, die zu allen Zeiten an der Spitze von Staatsrevolutionen steht. Dieses reale, aber uneinsehbare Ge- sicht, das sinsitere Gesicht des Leviathans, ist das Gesicht des Behemoth. Somit setzt sich der gesamte Gewaltapparat (Staat) aus der Parität von Leviathan (Frieden) und Behemoth (Gewalt) zusammen. „Carlyle sagt in seiner drastischen Art einfach: Anarchie plus Polizei.“¹⁴⁴ Obzwar der Leviathan eine Friedenserzwingungsmaschine ist, so ist sein Konzept totalitär-restriktiv. In der Konservierung der Souverä- nitätsmonopole und der gesellschaftlichen Sub-Missionierungen liegt der Garant für die utilitaristische Sicherheit und Ordnung. Der Behemo- th hingegen symbolisiert die totale Negation und den totalen Umsturz. ¹⁴³ Walter Benjamin: Das Kunst- Nicht zuletzt kann der Behemoth als Kernidee des Leviathans gelesen werk im Zeitalter seiner tech- nischen Reproduzierbarkeit, werden – als individualistischer Terror, als singuläre Willkür, die wir be- Frankfurt am Main: Suhrkamp reits im Problemfeld der Souveränität näher ausgelotet haben. „Im We- 1977, S. 43 ¹⁴⁴ Carl Schmitt, Der Levia- sen aber stehen beide, die den Frieden erzwingende Ordnung des Staates than, S. 34 und die revolutionäre anarchische Kraft des Naturzustandes, an elemen-

EMERGENCY EMPIRE 160 Transformation des Ausnahmezustands 4. Organizistische Staatskonzepte vs. Individualistische Staatskonzepte

tarer Gewalt einander gleich. Der Staat ist nach Hobbes nur der mit gro- ßer Macht fortwährend verhinderte Bürgerkrieg.“¹⁴⁵ Wenn also ein Staat ein Recht des Individuums beansprucht, näm- lich sein genuines Recht auf Freiheit und Autonomie (Leben, Lebens- raum, Widerstand); so dürfte in Umkehrung dessen, ein solitäres Indi- viduum das Recht des Souveräns (Hobbes) beanspruchen, nämlich sein Recht auf Ausnahme. Das individuelle Recht auf Freiheit hieße jedoch in Anbetracht der Souveränitätsprivilegien das Recht auf die Freiheit, Krieg zu führen. Kann von einer Rechtsperversion die Rede sein, wenn ein Staat ein genuines Menschenrecht in Anspruch nimmt, wie das Recht auf Freiheit, um Krieg zu führen? Mit Sicherheit nicht, wenn es um Frie- denserzwingung geht. Wie in den Ausführungen zu Carl Schmitts „No- mos der Erde“ im ersten Kapitel dargestellt wurde, ist es nicht nur die Ur-Freiheit des Staates, Kriege zu führen, sondern seine leviathanische Ur-Pflicht, den Frieden zu erzwingen. Wir wollen es hier Ur-Freiheit nen- nen, dieses völkerrechtlich anerkannte und legalisierte Staatsmandat der Landnahme, analog zu der bei Carl Schmitt definierten Freiheit des Staa- tes, die in der Urakte der Erde, des radical title begründet ist. In dieser Lo- gik gibt es keine Differenz zwischen Erde, Erdgesetz, Staat, Völkerrecht, Krieg und Freiheit. Das Recht auf Freiheit gehört nicht dem einzelnen Menschen sondern dem Souverän, dem Schirmherrn der Friedenser- zwingung. Und wie sich in der Geschichte – seit dem Gründungsereignis des Revolutionsterrors mit der Französischen Revolution – gezeigt hat, auch dem Staatsrebellen. „Was sich in dieser diktatorischen Aufwertung der Stellung des Reichspräsidenten durch Schmitt ausdrückt, ist die auch in seinen sons- tigen Schriften deutlich zutage tretende Tendenz, den Unterschied von demokratischer Willensbildung und Akklamation für einen politischen Führer einzuebnen, um sodann die plebiszitäre Willensäußerung, die pure Akklamation etwa, die den Willen der Volksmehrheit unmittelbar in einem Akt manifestiert und damit den Dezisionismus Schmitts Genü- ge tut, als demokratisch zu deklarieren. Der Schmitt’sche «Demokratie»- Begriff operiert mit dem Prinzip der Identität des konkret vorhandenen Volkes mit sich selbst als politische Einheit. Er ist gewonnen als polemi- scher Gegenbegriff zum liberalen Rechtsstaat, so dass die Institution des Parlaments als ein für die Demokratie geradezu hinderliches Element er- scheinen kann.“¹⁴⁶ Wohin hat sich das politische Kräftespiel zwischen Organizismus und Individualismus aktuell verlagert? Es ist eine der brisantesten Be- hauptungen in dieser Arbeit, dass die Konzepte der Demokratie und des Totalitarismus ineinander verschwimmen und nur noch als ununterschie- dene Begriffsoberflächen, d.h. Marktoberflächen zirkulieren. Das De Corpore aus dem ersten Entwurf zum Gesellschaftsvertrag ¹⁴⁵ ebd., S. 31 von Hobbes transformiert sich zur organizistischen Hülle, zum Corpo- ¹⁴⁶ Kurt Lenk, Arno Klönne [u. a.], Der bürgerliche Staat der rate Design einer liberal-demokratischen Globalgesellschaft. Diese trans- Gegenwart, Hamburg: Rowohlt formatorische Frage nach der Verlagerung der Demokratie, der öffentli- 1972, S. 142

Souveränität 161 B: Antagonismus zwischen Staatsrecht unf Menschenrechten

chen Gewalt, des Utilitarismus, und die Frage nach der Verlagerung der Manifestationen des Souveräns wie auch der Manifestation der Subversi- 2 on beantwortet Foucault in der Geburt der Biopolitik mit der Axiomation der neuen gouvernementalen Vernunft. „Die Regierung interessiert sich nur noch für Interessen.“¹⁴⁷ Welchen Wert hat dann noch ein Demokratie- oder ein Souveräni- tätskonzept der Diktatur im Kalkül einer politischen Ökonomie, wo sich jeder Vorteil und jede Nützlichkeit auf das Axiom des (Profit)Interesses verlagert hat? Im Ausgangspunkt der neuen gouvernementalen Vernunft haben sich die Konzepte des Leviathans/Behemoth, der Diktatur und De- mokratie multipliziert und verifiziert. Der Tauschwert eines Maximum- Happiness-Principles bei Jeremy Bentham oder des Wohlstands der Nationen bei Adam Smith hat sich perpetuiert zum Tauschwert der Emergency-Stra- tegie, des singulären Instant-Dezisionismus. Doch dieser Tauschwert ist ein neuer Euphemismus im Gouvernement des Emergency Empire.

¹⁴⁷ Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik, S. 74

EMERGENCY EMPIRE 162 Transformation des Ausnahmezustands 5. Peacekeeping – Freiheit jenseits von Menschenrechten

5. Peacekeeping – Freiheit jenseits von Menschenrechten

5.1. Die proportionale Aufhebung von Ausnahme und Widerstand im Gesetz Notstandsrecht des Staates vs. Widerstandsrecht des Individuums

„Beim Recht auf Widerstand wie beim Ausnahmezustand steht letzt- lich das Problem der juristischen Be- deutung einer Handlungssphäre in Frage, die sich per se außerhalb des Rechts befindet.“¹⁴⁸ Giorgio Agamben

Die Frage nach der Ausnahme steht in direkt proportionalem Verhält- nis zu der Frage nach dem Widerstand. Bereits innerhalb der in den po- litischen Teorien des 17. und 18. Jahrhunderts entworfenen Staatsmo- delle, wobei wir hier die Gesellschaftsverträge bei Tomas Hobbes, Jean Jacques Rousseau und John Locke analysieren, wird eine Kontrastierung zwischen Staatsrechten und Menschenrechten deutlich. In Hobbes Levi- athan finden wir eine explizite Darstellung des Staates, der an die Figur des Souveräns gekoppelt ist. In Rousseaus contract social löst sich das Du- alprinzip aus Staatsmacht und Untertan zu Gunsten des Volkssouveräns auf, d.h. das Gewaltenmonopol ist nun beim Volk. Auch wenn sich Rous- seau klar von Hobbes durch seine Definition des Menschen im Naturzu- stand und durch seinen Freiheitsbegriff (moralische Freiheit) absetzt, be- darf es dennoch eines Gesetzgebers, der letztendlich über die Ausnahme entscheidet. Dadurch ergibt sich wiederum eine Nivellierung zwischen der Hobbes’schen und der Rousseau’schen Rechtslehre: Die Entscheidung über die Ausnahme bleibt bei einer Gewaltenwillkür, ob diese nun der Sou- verän (Hobbes) ist oder der Gesetzgeber, der sich im Ausnahmefall vom Volkssouverän (Gesetzesurheber) absetzt, wie es bei Rousseau steht. Im Übergang der Abschaffung des Gesetzgebers und in der Aner- kennung des Individuums als Rechtssubjekt registriert Noberto Bobbio eine kopernikanische Wende des Naturrechts bei John Locke. „Ich spre- che hier von einer kopernikanischen Revolution im kantschen Sinne, von einer Umkehrung des Standpunktes.“¹⁴⁹ Für Bobbio ist John Locke der herausragende Staatstheoretiker der Frühen Neuzeit, da seine Auf- ¹⁴⁸ Giorgio Agamben, Ausnah- mezustand, S. 18 fassungen sowohl konträr zum Denken Hobbes als auch Rousseaus ste- ¹⁴⁹ Noberto Bobbio, Das Zeital- hen und dem Individuum naturrechtlich begründete Freiheits- und Wi- ter der Menschenrechte, S. 49

Souveränität 163 B: Antagonismus zwischen Staatsrecht unf Menschenrechten

derstandsrechte zugestehen. Mit Locke vollzieht sich der „Übergang vom Kodex der Pflichten zum Kodex der Rechte“.¹⁵⁰ Der Standpunkt verkehrt 2 sich also vom Individuum als Rechtssubjekt des Staates zum Individuum als Rechtsobjekt im Staat. Die Wende der Staatslehre vollzieht sich von der Staatsform der Monarchie, später Diktatur (Hobbes/Schmitt), über die Staatsform der Republik (Rousseau) hin zur Staatsform der Demokratie, zum Rechts- staat. Das grundlegende Problem, das auch dem Rechtsstaat anhaftet, ergibt sich aus der Definition des Staates schlechthin, nämlich der Nicht- einräumung von genuinen Rechten für staatenlose oder illegale Subjek- te. Staatenlose sind nach der Definition des Staates Menschengruppen und Gesellschaften, die keinem Staatsgebiet angehören. „Der Staat setzt sich aus drei Elementen zusammen: Staatsgebiet, Staatsvolk und Staats- gewalt. Eine Gesellschaft, die kein bestimmtes Gebiet bewohnt (Noma- den) oder völkisch keine bestimmbare blutsmässige oder historische Ein- heit darstellt oder die unter keiner Staatsgewalt zusammengefasst, ist daher kein Staat.“¹⁵¹ Dass der Ausnahmezustand in direkter und zwar konträrer Verbin- dung zu dem (Individual)recht auf Widerstand steht, wurde von Agamben bereits gleich eingangs des zweiten und siebenten Artikels im ersten Kapi- tel seines Buches „Ausnahmezustand“ hervorgehoben: „Zu dem, was eine Definition des Ausnahmezustands schwierig macht, gehört zweifellos sei- ne enge Beziehung zu Bürgerkrieg, Aufstand und Widerstandsrecht.“¹⁵² Zunächst mag es befremdliche klingen, wenn der AZ, eine Maßnahme to- talitärer Souveränität, mit so etwas wie dem Widerstandsrecht, der Pflicht einzelner sich im Notfall gegen den Staat selbst zu erheben, verglichen wird. Es ist jedoch bereits deutlich geworden, dass der AZ immer wieder als eine Form präventiven Widerstands gegen eine Bedrohung der verfas- sungsmäßigen Sicherheit und Ordnung ausgerufen wird. Der Ausnahme- zustand wird vom Souverän im Sinne der inherent rights als sein natürli- ches Widerstandsrecht verstanden. „Das Problem des AZ weist deutliche Analogien zum Problem des Widerstandsrechts auf. Besonders in verfas- sungsgebenden Versammlungen hat man viel über die Möglichkeit disku- tiert, das Recht auf Widerstand in den Verfassungstext aufzunehmen.“¹⁵³ Denn ein Recht auf Widerstand ist im Rahmen einer Verfassung nicht unproblematisch, da es im Zweifelsfall ein Recht auf Widerstand gegen jene Verfassung, die dieses Recht erst verankert, rechtfertigt. „Sicher ist jedenfalls, dass, wenn Widerstand ein Recht oder gar eine Pflicht würde (deren Unterlassung bestraft werden könnte), nicht nur die Verfassung aufhören würde, als absolut unantastbarer und allumfassender Wert zu ¹⁵⁰ ebd., S. 48 gelten, sondern letztlich dann auch die politischen Entscheidungen der ¹⁵¹ Joachim Hellmer, Recht, Das Bürger rechtlich normiert würden.“¹⁵⁴ Fischer Lexikon, Frankfurt am Main: Fischer 1959, S. 280 Ein Recht auf [individuellen] Widerstand und der souveräne, in al- ¹⁵² Giorgio Agamben, Ausnah- len Verfassung niedergelegte Anspruch auf Ausnahme stehen also per Ge- mezustand, S. 8 ¹⁵³ ebd., S.17 setz im Widerspruch, da der absolute und unantastbare Wert der Verfas- ¹⁵⁴ ebd., S.18 sung durch ein niedergeschriebenes Recht auf Widerstand im Zweifelsfall

EMERGENCY EMPIRE 164 Transformation des Ausnahmezustands 5. Peacekeeping – Freiheit jenseits von Menschenrechten

eben die Verfassung selbst und deren Dignität relativieren würde. Sowohl der AZ als auch der Widerstand sind, da sie direkt gegen das Gesetz, ge- gen die geltenden Nomoi gerichtet sind, juristisch betrachtet schlicht und ergreifend Gesetzesbrüche und potentielle Anomien. „Es stehen sich hier die Tese, Recht und Norm müssen übereinstimmen, und die andere, dass Recht über den Bereich der Norm hinausgreife, gegenüber.“¹⁵⁵ Im Für und Wieder eines Widerstandsrechts im Rahmen einer staatlichen Verfassung geht es also gar nicht so sehr um dieses Recht auf Widerstand, sondern vielmehr um jenes Hinausgreifen-über-das-Recht, jene Geset- zesbrüche, um die Anomie, die auf diese Weise in die Nomoi der staatli- chen Verfassung aufgenommen würden. Wenn also Anomien, wie AZ und Widerstandsrecht in die Nomoi der Gesellschaftsverträge aufgenommen sind, dann werden die Gesetze notwendig paradox. Wenn sie jedoch nicht vertraglich zu Rechten werden, dann verbergen die Gesetze ihr Wesen, nämlich als Nomoi aus der natürlichen Anomie abgeleitet zu sein. „Aber letztlich treffen sich die beiden Positionen darin, dass sie die Existenz einer Sphäre des menschlichen Handelns ausschließen, die sich dem Recht insgesamt entzöge.“¹⁵⁶ Interessanterweise können also beide Positionen eine Sphäre außerhalb des Rechts nicht ausschließen. Es ist diese Anomie, aus der die Nomoi; dieser Naturzustand, aus dem der Gesellschaftsvertrag; dieser pouvoir consituant, aus dem der pouvoir con- stitué hervorgeht. In neo-hobbesschen Zeiten berufen sich Staaten auf ein Recht zur Selbstverteidigung, während Individuen gesellschaftsver- traglich gezwungen sind, dieses an den Staat abzugeben. Ein Recht auf Selbsterhalt und Selbstverteidigung steht nach Hobbes naturgemäß auch dem Individuum zu, aber nicht dem Individuum als Rechtssubjekt, denn der Mensch hat im Hobbes’schen Konzept all seine natürliche Freiheit an den Souverän abgegeben. Wenn heutzutage ein Staat sein genuines Recht auf Selbstverteidigung und Widerstand im Rahmen eines Ausnah- mezustands geltend macht, indem es genuine Menschenrechte verletzt, ermächtigt er sich selbst als totalitärer Inhaber der Freiheit. In einem neo-hobbesschen Sinne gehört alle Freiheit dem Monopol der Person.

5.2 Das Problem der humanitären Intervention In erneuter Hinwendung zu Michel Foucault und mit Bezugnahme auf sei- ne Diskursgrundlagen in „Geburt der Geschichte“ und „Geburt der Biopo- litik“ sollen zunächst zwei Grundlegungen markiert werden. Erstens: der Zusammenhang von Gesellschaftsvertrag, Gesellschaftskörper und Ge- sellschaftskriegen. Und zweitens: der Zusammenhang zwischen dem phi- losophisch-juridischen Diskurs, dem historisch-biologischen Diskurs, der auch ein soziologischer Diskurs ist und dem Diskurs der politischen Öko- nomie. Diese beiden Grundlegungen, die in Foucaults Werk absolut evi- dent werden und darüber hinaus ihre analytische Innovation in der Ver- bindung von Linien aufweisen, die bis dahin gern getrennt betrachtet wurden, erzeugt ohne Zweifel ein vollständiges Bild von Machtgenealogi- ¹⁵⁵ ebd. en, vornehmlich seit der Frühen Neuzeit. Es sind jene Machtgenealogien, ¹⁵⁶ ebd.

Souveränität 165 B: Antagonismus zwischen Staatsrecht unf Menschenrechten

zunächst in den Fragen der Vertragsgrundlagen und der Privilegien, auf juridischer und politischer Ebene, die seit den Gesellschaftsverträgen fest- 2 geschrieben sind und die das aktuelle Rechtssystem (Grundrechte, Völker- rechte, Menschenrechte) nach wie vor prägen (und vor allem legitimieren), die noch bei Schmitt im Fokus des „reinen“ juridischen und theologischen Konstrukts erscheinen, die Foucault in ihrer Vielschichtigkeit und Brisanz offenlegt. Es sind vor allem jene Machtgenealogien in ihrer offenen Ver- zweigung der Diskurslinien zwischen dem Juridischen, Biopolitischen (so- ziologischen) und Ökonomischen, die in einer Untersuchung des Problems der humanitären Intervention vorausgesetzt werden müssen. „Seit jener Zeit, also seit dem 17. Jahrhundert, erscheint die Idee, dass der Krieg den Hauptfaden der Geschichte bildet.“¹⁵⁷ Welche Fäden können sich des Weiteren von dieser Idee, der Krieg sei der Hauptfaden der Geschichte, ableiten lassen? Vertragsfragen sind immer Aushand- lungsfragen mit Bezug auf Kriege und ökonomisch fixiert. Das Konzept der politischen Ökonomie existiert bereits in den Anfängen bei Jean Bo- din, dem Repräsentanten der Staatsrechts- und Souveränitätslehre von 1572, als Protokonzept des Merkantilismus. Politische Teorie kann ohne politische Ökonomie und umgekehrt souveräne Gewalt ohne wirtschaftliche Stärke des Staates nicht gedacht werden. Der Utilitarismus mit seinen Hauptvertretern Bentham und Smith fusioniert letztlich diese Koinzidenz zu einem Programm, das ausschließ- lich ökonomische Ziele vertritt. Irgendwann deckt sich die juridische und die ökonomische Diskurslinie, mit der Konsequenz des biopolitischen (so- zialen) Krieges, was sich von der Idee, der Krieg sei der Hauptfaden der Geschichte, ableiten lässt. Foucault präzisiert: „Der Krieg, der sich so un- ter der Ordnung und unter dem Frieden abspielt, der Krieg, der unsere Gesellschaft durchzieht und zweiteilt, das ist im Grund der Krieg der Ras- sen.“¹⁵⁸ Die Kriegsökonomie als Koinzidenz des juridischen und ökonomi- schen Diskurses bestimmt die Grundlagen der Gesellschaftsverträge (oder wirkt auf diese zurück), hingegen der Krieg selbst die Grundlage des Gesell- schaftskörpers prägt. Eines Gesellschaftskörpers, der in zwei Rassen geglie- dert ist, in eine Über- und eine Unterrasse, die Foucault als die „Verzweifa- chung ein und der selben Rasse“¹⁵⁹ bezeichnet, als das „Auftauchen ihrer Kehr- oder Unterseite“¹⁶⁰ innerhalb der Rasse selber. Hier bildet sich die Matrix für die spätere Suche nach dem Gesicht und den Mechanismen des Gesellschaftskrieges und Foucaults Teorie des Rassenkriegs. Rassenkrieg ist demnach zweifache Kriegsökonomie innerhalb ei- nes nach außen gekehrten Gesellschaftsvertrages gegen eine nach innen gekehrte Rasse. „Die ständige Reinigung wird zu einer grundlegenden Dimension der gesellschaftlichen Normalisierung [...] vom 17. Jahrhun- dert bis zur Bildung des Staatsrassismus im 19. Jahrhundert.“¹⁶¹ Es ist der ¹⁵⁷ Michel Foucault, Vom Licht, S. 24 Diskurs des Rassenkrieges und des Staatsrassismus in Koinzidenz mit ¹⁵⁸ ebd. den politisch-juridischen und politisch-ökonomischen Diskursen seit der ¹⁵⁹ ebd., S. 26 ¹⁶⁰ ebd. Frühen Neuzeit, der die Voraussetzung für eine Untersuchung des Prob- ¹⁶¹ ebd., S. 27 lems der humanitären Intervention bestimmt.

EMERGENCY EMPIRE 166 Transformation des Ausnahmezustands 5. Peacekeeping – Freiheit jenseits von Menschenrechten

Dieser Diskurs ist eng verknüpft mit dem Diskurs über die Privi- legien, der bei Emmanuel Sieyès¹⁶² im 18. Jahrhundert mit einer Verur- teilung der Hofaristokratie und der Definition des dritten Standes be- ginnt. Auch hier analysiert Sieyès die Verknüpfung von Macht-, Finanz-, Vertrags-, Autoritäts- (resp. Souveränitäts-) und Kriegsdiskursen, die schließlich, aufgrund der Determinierung der Gesellschaft, nämlich de- ren Gliederung in die Rassen der Privilegierten und die des dritten Stan- des, eskaliert. Sieyès gilt als der wichtigste Teoretiker der Revolution. „Am 17. Juni beantragte Emmanuel Sieyès, Abgeordneter des dritten Standes, die in seiner Schrift erhobene Forderung zu verwirklichen. Der dritte Stand erklärte sich zur Nationalversammlung. Die Revolution be- gann.“¹⁶³ Sieyès entwickelte mit seiner Teorie und als Politiker einen Modus, der bekanntlich nur von kurzer Dauer war. Die Defekte der De- mokratie zur Zeit der Revolution wurden mit ihnen kurzfristig behoben – der Rassenkrieg begann von vorn, nachdem das siegreiche Bürgertum den Stand der Privilegierten einnahm. Foucault nennt dieses Phänomen das Gesetz der doppelgesichtigen Realität: „Triumph der einen, Unter- werfung der anderen. Insofern ist diese Historie des Rassenkampfes eine Gegenhistorie.“¹⁶⁴ Die Geschichte der humanitären Intervention ist im Rechtsspruch für die Gegenhistorien begründet, mit der Intention, die Kontinuität der souveränen Glorie zu brechen und für die Rasse des dritten Standes, die Unterrasse zu sprechen. „Die Gegenhistorie, die mit der Sage vom Ras- senkampf anfängt, spricht von der Seite des Schattens, vonseiten des Schattens. Sie wird zur Rede derer, die nicht den Ruhm haben oder die ihn verloren haben und die sich jetzt – vielleicht eine Zeit lang, aber eine lange Zeit – im Dunkel und im Schweigen befinden.“¹⁶⁵ Das Problem der humanitären Interventionen, aus der Rechtsin- stitution des Völkerbundes¹⁶⁶ heraus entstanden, ist in der Selbstprivi-

¹⁶² Emmanuel Sieyès, Abhand- träge, maßgeblich initiiert von fiziell gegründet und trat am lung über die Privilegien, Frank- Lord Robert Cecil, und somit 15. November 1920 zum ersten furt am Main: Sammlung In- auch des Versailler Vertrages. Mal zusammen. Lord Robert sel 1968 Die Satzung des Völkerbundes Cecil wurde 1923 Präsident des ¹⁶³ Emmanuel Sieyès, Abhand- wurde am 28. April 1919 von Völkerbundes und blieb dies bis lung über die Privilegien, [Vor- der Vollversammlung der Frie- zur Auflösung 1946. wort], S. 15 denskonferenz von Versailles Der Ausdruck „Völkerrecht als ¹⁶⁴ Michel Foucault, Vom Licht, angenommen. Integraler Be- Bund in einer Staatengemein- S. 34 standteil der Statuten war die schaft“ benutzten erstmals ¹⁶⁵ ebd., S. 35 Monroe-Doktrin, die später Hugo Grotius (Über das Recht ¹⁶⁶ Der Völkerbund (Société des auch in die Charta der Verein- des Krieges und des Friedens, Nations, League of Nations) war ten Nationen aufgenommen Grundlagen für das Völkerrecht) eine internationale Organisa- wurde. Mit der Unterzeichnung und Immanuel Kant (Zum ewi- tion mit Sitz in Genf. Er nahm des Versailler Vertrags am 28. gen Frieden, 1795). Aufgrund am 10. Januar 1920, kurz nach Juni 1919 unterzeichneten die seines Tagungs- und Sitzortes Ende des Ersten Weltkrieges, beteiligten Staaten auch die erhielt der Völkerbund auch seine Arbeit auf, um den Frie- Satzung des Völkerbunds – der den Namen Genfer Liga, die den dauerhaft zu sichern und Bund war Teil des Versailler zumindest als indirekter, zeit- wurde 1946 wieder aufgelöst. Vertrags geworden. Mit seiner geschichtlicher Vorläufer der Die Satzung des Völkerbundes Ratifizierung am 10. Januar Vereinten Nationen (UNO) gel- war Teil der Pariser Vorortver- wurde auch der Völkerbund of- ten kann.

Souveränität 167 B: Antagonismus zwischen Staatsrecht unf Menschenrechten

legierung als dritte, übergeordnete Institution begründet, als souveräne Instanz zwischen „Über- und Unterrasse“¹⁶⁷, zwischen Privilegierten und 2 Geknechteten zu unterscheiden, zu überwachen (UN-Sicherheitsrat) und zu retten, was nicht selten auch zu strafen bedeutet. Das Problem der humanitären Interventionen ist in ihrer juristischen und moralischen Doppelrolle begründet, die Dezision bedeutet, souveräne Selbstermäch- tigung als supranationale Institution, und Suspendierung, gleichsam als Definierung der Unterrasse und der Opfer. Damit sind hier die Fragen gestellt, inwieweit eine humanitäre In- tervention eine Widerstandsdienstleistung im souveränen Rüstzeug der juristischen, ökonomischen und biopolitischen Kompetenz darstellt? Und wo genau sind Differenzen zwischen der UN-Mission des peace- keepings, einer Friedenserzwingung durch UN-emergency forces und der US-Misison in Afghanistan, der operation enduring freedom (OEF), einer Friedenserzwingung durch die aktuelle Staatsdoktrin des Antiterror- krieges festzustellen? Hier zeigt sich eine Kontroverse, die besonders eindeutig die Pro- blematik der humanitären Interventionen darstellt. Da sich der (meist ge- waltsame) Eingriff in das Hoheitsgebiet eines anderen Staates mit dem Argument des Schutzes von Menschen in einer humanitären Notlage, wie dies beispielsweise bei großflächigen Menschenrechtsverletzungen der Fall ist, verbindet, unterscheiden sich diese Eingriffe formal (siehe Schmitt) kaum von staatlicher Interventions- und Sicherheitspolitik. Die argumentative Voraussetzung, dass der betroffene Staat selbst nicht in der Lage oder nicht Willens sei, den Gefährdeten selbst Schutz zu bie- ten, gilt als zweifelhafte Legitimation für eine Interventionspolitik. Zu- dem ist die humanitäre Intervention nicht als Instrument in der Charta der Vereinten Nationen verankert und kollidiert allein schon deshalb mit dem Souveränitätsprinzip, weswegen ihre völkerrechtliche Zulässigkeit umstritten ist.

Der Völkerbund sollte sowohl im mangelnden Willen der Mit- bei Angriffshandlungen sowie die internationale Kooperation gliedstaaten, den vorgenannten ihren Zielen und Grundsätzen. fördern, in Konfliktfällen ver- Sanktionsartikel konsequent Dem Kommando der UN unter- mitteln, als auch die Einhaltung zu befolgen. stehen die UN-Friedenstrup- von Friedensverträgen überwa- Der Völkerbund, als Vorläufer pen, auch Blauhelmsoldaten chen. Im Gegensatz zur UNO der UNO enthielt noch keine genannt, mit dem Auftrag enthielt seine Satzung eine Ver- Satzungen der so genannten friedenssichernder und -erhal- pflichtung der Mitgliedstaaten, humanitären Interventionen. tender Einsätze, des PEACE- im Falle eines kriegerischen Diese Satzungen wurden erst in KEEPING. Aktes eines Staates gegen einen der Charta der UN niedergelegt Die bewaffneten Einsätze der Mitgliedstaat sofort und direkt, und 1945 unterzeichnet. Die Vereinten Nationen erfordern d.h. ohne vorherigen Beschluss Charta ist ein zeitlich nicht be- einen Beschluss des UN-Sicher- eines Gremiums, dem betrof- grenzter völkerrechtlicher Ver- heitsrates und werden nach Be- fenen Staat militärisch zu Hil- trag. Die Kapitel beschäftigen obachtermission, Friedensmis- fe zu eilen. (Siehe humanitäre sich unter anderem mit den sion und Friedenserzwingung Intervention) Der hauptsäch- verschiedenen Hauptorganen nach Kapitel VII der UN-Charta liche Grund des letztendlichen der UN, der friedlichen Beile- unterschieden. Scheiterns des Völkerbundes gung von Streitigkeiten, den ¹⁶⁷ Michel Foucault, Vom Licht, wird in der Nichtteilnahme der Maßnahmen bei Bedrohung S. 26 USA gesehen, sekundär auch oder Bruch des Friedens und

EMERGENCY EMPIRE 168 Transformation des Ausnahmezustands 5. Peacekeeping – Freiheit jenseits von Menschenrechten

Vor diesem Hintergrund bildet die humanitäre Intervention ein zentrales Problem in der Diskussion des modernen Verständnisses des Völkerrechts und der Menschenrechte. Die juristische und die politi- sche Auseinandersetzung darum wird sehr kontrovers geführt. Es geht im Kern um eine Abwägung zweier völkerrechtlicher Grundsätze: Auf der einen Seite steht die Achtung und der Schutz der staatlichen Sou- veränität, auf der anderen die Achtung und der Schutz der Menschen- rechte. Das bedeutet ergo: proportionale Aufhebung von Ausnahmerecht und Widerstandsrecht im Gesetz. Die konkrete Frage, die bleibt, ist be- ständig die gleiche: Wem steht das Handlungsrecht des Widerstands zu? Kriegsführende Staaten berufen sich auf ihr Widerstandsrecht genauso wie betroffene Individuen. Wie schwierig sich eine Garantie des Schut- zes von Menschenleben auf der Basis von Rechtsstatuten erweist, zei- gen viele Beispiele jüngster alltagspolitischer Ereignisse (siehe Agenda der Ausnahmezustände). Die Beispiele verweisen auf das Grunddilem- ¹⁶⁸ Köln, 23. Mai 2008. – Ins- ma, was bereits Agamben thematisiert, nämlich dass nicht Staatssubjekt gesamt 4.500 Hilfspakete und und nicht Rechtssubjekt, nicht Staat und nicht Mensch gleichermaßen in 1.000 Moskitonetze des Arbei- den Verfassungen das Recht auf Widerstand, sprich Selbstverteidigung ter- Samariter-Bundes (ASB) können im Irawaddy-Delta, und Selbstschutz, beanspruchen können. das am stärksten vom Zyklon Ausgehend von einer gewissen Rechtsperversion, die darin be- betroffen ist, verteilt werden. Die Hilfsgüter im Wert von steht, dass ein Staat ein inherent right auf Selbstverteidigung, auf Wi- 100.000 Euro kommen insge- derstand einklagt und unter massiver Verletzung der (naturgegebenen) samt 10.000 Familien zugute. Menschenrechte in Anspruch nimmt (wie dies sich u.a. beim US-Anti- – Der ASB lädt heute einem Flugzeug des Auswärtigen Am- terrorkrieg zeigt), ist wiederum eine humanitärer Intervention herleit- tes 1.000 Moskitonetze und bar und begründbar. In dieser Ambivalenz zwischen rechtlich herleitbar 500 Baby-Hygienepakete (Ba- byseife, -shampoo und –öl, und nicht-herleitbar, gesetzlich legitim und illegitim, moralisch vertret- waschbare Windeln, Trocken- bar und nicht vertretbar, befindet sich die humanitäre Intervention, wie tücher) zu. – In Rangun wer- den die Hilfsgüter um 4.000 jede andere Interventions- und Kriegspolitik im Grenzbereich der Ge- Familienhygienepakete (Seife, schäfte und somit der Kapitalisierung der Anomie. Denn wer entschei- Zahnpflegematerial, Shampoo, det schließlich über Betroffene und Nichtbetroffene, über Zuwendungs- Waschbehälter u.a.) und Werk- zeug (Hammer, Säge, Nägel bedürftige und Nichtbedürftige. Und letztlich, in welchem Licht sollen all u.a.) ergänzt. Diese Materia- die Taten erscheinen? lien werden auf dem lokalen Markt beschafft. „Es ist sehr wichtig, die Menschen mit Hy- 5.3 Interventionismus und Katastrophenmarkt gieneutensilien zu versorgen, Als am 3. Mail 2008 der Zyklon „Nargis“ Birma/Myanmar verwüste- denn so kann der Ausbruch von Krankheiten und Epidemien te, sprachen die Medien zu diesem Zeitpunkt von Hunderttausenden verhindert werden“, so Carsten von Menschleben, die dem Zyklon zum Opfer gefallen waren, von einer Stork, stellvertretender Leiter der ASB-Auslandshilfe. „Auch „Schneise der Verwüstung“, die sich durchs Land zieht und von Millionen Werkzeug wird dringend benö- Bewohnern, die in Folge dieser Katastrophe ihre Häuser und Wohnungen tigt, um die Häuser und Hütten reparieren zu können.“ In: Ak- verloren haben. Ganze Reisanbaufelder, Infrastrukturen und Dörfer soll- tion Deutschland Hilft, URL: ten nach diesen Berichten ausgelöscht worden sein. http://www.aktion-deutsch- Eine internationale Katastrophenhilfe setzt ein, darunter unzähli- landhilft.de/adh_artikel_14/ hilfseinsaetze_29/zyklon_bir- ge Hilfswerke wie z.B. der ASB Deutschland¹⁶⁸ und die Führungsliga der ma_myanmar_335/world_visi- internationalen Katastrophenorganisationen wie u.a. die der Vereinten on_339/2008_06_02_ein_mo- nat_nach_dem_zyklon_7701. Nationen (UNO), UN Emergency Forces und UNICEF, das Internationale php, Stand vom 23. August Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) und das Welternährungsprogramm 2008

Souveränität 169 B: Antagonismus zwischen Staatsrecht unf Menschenrechten

(WFP). Überraschend für die Weltöffentlichkeit, die nunmehr durch eine nahtlose Reihe von Katastrophenmeldungen seit „9/11“ (2001) und dem 2 Hurrikan „Katrina“ (2005) im Südosten der USA, vornehmlich in New Orleans, frequentiert wird, ist nicht das Einsetzen eines neuen Grauens, hervorgerufen durch den Zyklon, sondern überraschend war viel mehr die Verweigerung der Hilfsgüter und humanitären Hilfeleistungen durch die burmesische Regierung. „In einem beispiellosen Affront gegen die UN hat das Militärregime in Birma Hilfslieferungen des WFP beschlag- nahmt. Zudem verweigern die Generäle auch knapp eine Woche nach dem verheerenden Zyklon «Nargis» ausländischen Helfern die Einreise – auch das ein nach UN-Angaben in der Geschichte der humanitären Arbeit noch nie da gewesener Vorgang.“¹⁶⁹ Die Situation gestaltet sich als komplex und kompliziert, innenpo- litisch in Birma/Myanmar wie auch außenpolitisch für die internationale Katastrophenhilfe und ihr Image. Die in Birma durch General Tan Shwe 1992 eingeführte Militärdiktatur konfrontiert zum Anlass dieser Natur- katastrophe sowohl ihr Volk als auch die Weltöffentlichkeit mit einem militärpolitischen Ausnahmezustand. In der Bannmeile der Katastrophe lieferte das burmesische Militärregime in den letzten Monaten des Jah- res 2007, wie auch 2008, einen Prototyp der Manipulation von Verfas- sung und Gesetzen in rechtsfreien Räumen zu Gunsten des Machterhalts der amtierenden Befehlshaber. Innerhalb von acht Monaten richtet die Regierung zum zweiten Mal ein Massaker unter dem eigenen Volk an, er- innert sei hier an die blutige Niederschlagung des Mönchsaufstands im September 2007, die mit dem Argument des Schutzes der Staatsverfas- sung geschah. Sowohl die Mönche treten als verfassungsfeindliche Ele- mente auf, welche nach regierungsnahen Angaben geradezu das Massa- ker provozieren, als auch die humanitären Interventionen von außen. Der Staat appelliert in diesem Fall an seine Souveränität, Autonomie und Im- munität, die er durch die „Übergriffe“ durch Katastrophenhilfsprogram- me, wie der Vereinten Nationen und des Internationalen Roten Kreuzes ¹⁶⁹ AP, AFP, dpa: Birmas Regime beispielsweise, in Frage gestellt und attackiert sieht. Die burmesische Mi- beschlagnahmt Hilfsgüter, in Der Tagesspiegel vom 10. Mai litärregierung setzt am 29. Mai 2008 eine neue Verfassung in Kraft, wel- 2008, Nr. 19 899, S. 1 che das amtierende Machtgefüge vorerst stabilisiert und erneuert. ¹⁷⁰ Siehe Agenda der Ausnah- Pervers an dieser Situation ist eine politische Strategie, die seit je- mezustände: Die durch den Wirbelsturm „Nargis“ schwer her weltweit erfolgreich eingesetzt wird. Maynmar führte auf Grund der geschädigte und unter Schock Gefahr für Schutz und Sicherheit, Recht und Ordnung des Staates, der stehende Bevölkerung wird zur Abstimmung über die neue Demokratie oder der Diktatur und generell der herrschenden Interes- Verfassung aufgerufen. Die Mi- sen den Ausnahmezustand ad demonstrandum vor – die Manipulation des litärjunta missbraucht die de- solate Lage des Landes und der Volkes, der Wählerstimmen geschieht im Zustand des Schocks¹⁷⁰ der Na- Bevölkerung, um im Namen turkatastrophe, im Verbund mit dem Schock des vorangegangenen Mi- der Demokratie neue Sonder- litär-Terrors. Dieser Prototyp in der offensiven Causa der burmesischen gesetze herzustellen und die Macht der Militärregierung Militärregierung, den AZ im Schock der Katastrophe zu erzwingen, ent- weiter zu festigen, während spricht einem der jüngsten Beispiele der Emergency-Strategie in der aktu- sie die Oppositionsführung (Aung San Suu Kyi) weiterhin ellen Weltpolitik. Dieser Prototyp der Emergency-Strategie konfrontiert kalt stellt. die Weltöffentlichkeit im Mai 2008 mit einem anderen Prototypen der

EMERGENCY EMPIRE 170 Transformation des Ausnahmezustands 5. Peacekeeping – Freiheit jenseits von Menschenrechten

Emergency-Strategie, nämlich dem Interventionismus globaldemokrati- scher Interessenvertreter. An der Schnittstelle dieser Naturkatastrophe entwickelt sich ein Krieg politischer, militärischer und wirtschaftlicher Interessen zwischen denen der internationalen Staatengemeinschaft und denen des souveränen Staates. Die Naturkatastrophe dient so als Anlass für ein äußerst komplexes Kräftemessen von politischen Mächten und gerinnt mitsamt allen Facet- ten des Konflikts zu einer komplexen Kulturkatastrophe¹⁷¹, die zeitglei- che Wirtschaftskriege und militärische Interventionen nicht ausschließt. Auf der einen Seite steht also das von der UN oder den USA, im Ver- bund mit der EU deklarierte Interesse, den observierten Staat (Birma/ Myanmar) im Windschatten der Naturkatastrophe wie bei einer Art poli- tischen Kidnapping, das in Form der humanitären Intervention auftritt, zu unterwerfen. Auf der selben Seite stehen auch die Wirtschaftsinte- ressen internationaler Hilfsgüterorganisationen und dahinterstehender Sponsoren und Investoren aus Industrie und Privatwirtschaft, welche in dieser Maßnahme ein willkommenes und rentables Geschäft sehen. Auf der anderen Seite steht der souveräne Staat selbst, welcher die Naturka- tastrophe ebenfalls als willkommene Gelegenheit ansieht, seine Geset- zesmacht zu restaurieren. Ein solcher Staat wird nicht in den Dimensi- onen der Menschenopfer und Menschenrechte denken, sondern in den Dimensionen seiner politischen Autonomie nach innen und nach außen. „Jede Regierung eines souveränen Staates wird eine solche [interventio- nistische] Handlungsweise zurecht als feindseligen Akt empfinden und schon im Ansatz zu verhindern suchen. Erst recht Burmas Obristen, die angesichts ihrer internationalen Ächtung jedes Eingreifen von außen als Vorspiel zum Regime Change fürchten und das nicht ohne Grund.“¹⁷² Und gewissermaßen begründet scheint diese Reaktion, denn im Gefecht um Marktpräsenz und geopolitischer Dominanz zeigen sich die UN-Alli- ierten der humanitären Interventionen nicht zimperlich, wie Lutz Her- den in seinem Artikel hervorhebt: „Man kommt mit Militär und verteilt Güter. Und wenn sich dann das dortige Militär einem entgegenstellt, dann stellt man sicher, dass man die Güter weiter verteilen kann. […] Mit ¹⁷¹ Definiert durch Lars Clau- anderen Worten, falls ein solches Vorgehen Kampfhandlungen auslöst, sen. Vgl. Lars Clausen, Elke M. werden ausländische Truppen gegen burmesische Streitkräfte kämpfen, Geenen [u.a.], Entsetzliche sozi- ale Prozesse, …a.a.O. womit nur noch zu klären wäre: Entsandt und geführt von wem? Mit wel- ¹⁷² Lutz Herden, Burma und chem militärischen Auftrag? Welchem politischen Ziel?“¹⁷³ die Kreuzfahrer von heute Re- sponsibility to Protect: Eine Dem Labor vom „Protecting the Homeland!” entsteigt maßge- Intervention neuen Typs, in: schneidert eine neue Rechtsfigur für den „Baukasten globaler Ord- online-Publikation durch AG Friedensforschung an der Uni nungspolitik“¹⁷⁴: responsibility to protect. Verantwortung zum Schutz, ein Kassel, URL: http://www.uni- Programm mit dem Logo R2P. Dies „ist ein relativ neues Konzept der kassel.de/fb5/frieden/regio- internationalen Politik. Unter dem Schlagwort R2P wird eine ethische nen/Myanmar/protect.html, Stand vom 23. August 2008 und moralische Verantwortlichkeit der internationalen Staatengemein- ¹⁷³ Wolfgang Neskovic, am 13. schaft, vornehmlich der UN, gegenüber Staaten und ihrer politischen Mai gegenüber dem Tagesspie- gel, in: Lutz Herden, Burma und Führung bezeichnet, die innerhalb ihres Territoriums die Kriterien von die Kreuzfahrer, …a.a.O. Good Governance (deutsch gute Regierungsführung) entweder nicht erfül- ¹⁷⁴ ebd.

Souveränität 171 B: Antagonismus zwischen Staatsrecht unf Menschenrechten

len können oder wollen“.¹⁷⁵ Eine neue Rechtsfigur, die angezweifelt wird, denn „hier hat sich die humanitäre Intervention als – gegebenenfalls mili- 2 tärisch wahrzunehmende – Schutzverantwortung (responsibility to protect) frisch eingekleidet. Eine umstrittene Rechtsfigur, weil damit die Entmün- digung souveräner Staaten möglich und bei höchst pauschal definierten Notlagen eine Intervention legitimiert wird. Russland und China, ebenso Südafrika und Indien, haben daher 2005 darauf bestanden, eine derarti- ge «Schutzverantwortung» an Voten des Sicherheitsrates zu binden“.¹⁷⁶ Mit Birma und nach der Katastrophe „Nargis“ ergibt sich nunmehr die Gelegenheit, das Vetorecht in Frage zu stellen und auch ohne UN-Man- dat der responsibility to protect gerecht zu werden. Am Beispiel Birma wird der Trend des internationalen Katastro- phenmarktes mehr als evident. Und was den Investoren nicht den erhoff- ¹⁷⁵ Wikipedia, URL: http:// de.wikipedia.org/wiki/Respon- ten Gewinn bringt, davon profitieren die herrschenden Militärs im Land sibility_to_protect, Stand vom selbst.¹⁷⁷ 23. August 2008 ¹⁷⁶ Lutz Herden, Burma und die Kreuzfahrer, ...a.a.O. ¹⁷⁷ „Denn von jedem einzel- 5.4 Transfer (6): Emergency Empire – Immunität und nen Hilfsdollar darf die Junta aufgrund komplizierter Devi- Dienstleistung, die Doppelform neo-souveräner senbestimmungen, die seit 15 Global-Protektion beyond the line Jahren in Kraft sind, rund 25 Prozent als Nettogewinn ein- streichen. Laut der Online-Zei- „Auf internationaler Ebene jedoch fehlen tung «Asia Times» berichten hohe UN-Beauftragte von bis noch immer jene Gremien und Institutio- zu zehn Millionen Dollar, die so direkt in die Taschen der Ge- nen, die zu Entscheidungen über humanitä- neräle gewandert seien. Auch John Holmes, der UN-Chefbe- auftragte für humanitäre Hilfe, re Interventionen demokratisch legitimiert beklagt, dass der «beträchtli- che Kursverlust» zu Lasten der wären. Der UN-Sicherheitsrat ist es nicht. Hilfsleistungen gehe. Offiziell meldet die UNO einen Um- Es ist höchste Zeit, sich darüber Gedan- tauschverlust von 1,56 Millio- nen Dollar. «Wohin der Gewinn ken zu machen, gerade um das bestehende fließt, ist mir nicht ganz klar», so Holmes.“ Daniel Kestenholz, Völkerrecht zu stabilisieren. Das nämlich Bangkok, in: Myanmars Junta verdient an „Nargis“. Generä- basiert auf zwei Pfeilern: den universellen le die großen Nutznießer der internationalen Zyklon-Hilfe, Menschenrechten und dem Souveränitäts- [Online-Publikation durch AG Friedensforschung an der Uni recht.“¹⁷⁸ Tomas Gebauer, Geschäftführer Medico International Kassel], URL: http://www.uni- kassel/fb5/frieden/regionen/ Mayamar/negris.html, Stand Seit der Antiterrorkrieg seinem geopolitischen Mandat «Protecting the vom 23. August 2008 ¹⁷⁸ Humanitäre Hilfe militärisch Homeland!» in vollem Umfang gerecht wird, initiiert dieser Krieg nicht erzwingen? Medico-Chef: Hel- nur eine neue militärisch-industrielle Revolution, die RMA (Revolution fer zu behindern ist skanda- of Military Affaires), eine neue Revolution der Global- und Finanzmärkte, lös – eigennütziges Interesse der Helfer aber auch, in: Neues eine Revolution der Neuaufteilung der Welt in die internationale Staaten- Deutschland vom 20. Mai 2008, gemeinschaft der UN- und NATO-Verbündeten, in Schwellenländer und [online Dokument](Friedens- ratschlag), webarchive, Stand emerging countries. Gleichzeitig beinhaltet dieser Prozess eine neue Re- vom 23.08.2006] volution asymmetrischer Kriegstypen an Fronten und Märkten wie z.B.

EMERGENCY EMPIRE 172 Transformation des Ausnahmezustands 5. Peacekeeping – Freiheit jenseits von Menschenrechten

Schattenglobalisierung oder Terrorismus und schließlich auch eine neue Revolution in den Euphemismen, Logos und Brands, den Designs der Rechtfertigung und Argumentation dieses globalen Antiterrorkrieges. Ein innovatives Design in diesem Kontext ist die Rhetorik der R2P, der Responsibility to Protect. In einem Akt der Selbstermächtigung ver- fasste 2001 das US-Parlament der Bush-Administration und das UN-Ge- neralsekretariat unter der Leitung von Kofi Annan¹⁷⁹ ein gleichnamiges Papier, das Protektionsmandat Verantwortung zum Schutz.¹⁸⁰ Interessant an dieser Tatsache ist die offensive Anwendung Schmitt’scher Episteme, wie jenes des Dezisionismus und seine Einbettung in ein neo-souveränes Paradigma: das der weltweiten Schutz-Dienstleistung. Unter dem Aspekt der Dienstleistung von Produkten wie Demokra- tie, Frieden, Schutz, Sicherheit, all jenen Optionen, die als Argumente seit jeher einen Ausnahmezustand im Sinne von Belagerungs- und Kriegszu- stand legalisieren, agieren die Mandatsträger als Helfer im Schatten einer abgekarteten juristischen Immunität. Die neue Überformung dieses dik- tatorischen Prinzips findet sich in einem neuen Design der kombattan- ten Unkenntlichkeit: humanitäre Intervention sowie Schutz- und Ret- tungsoptimismus als securitäre Diktatur. Eine frühe und umfassende Kritik an dem Papier der Global Secuti- ty R2P beinhalten aus völkerrechtlicher und politischer Sicht im Wesent- lichen die Restauration global-staatlicher Souveränität und die systema- tischen Menschenrechtsverletzungen, die mit dem selbst-ermächtigten Recht und der selbst-ermächtigten Pflicht der UNO-Allianzen zum mi- litärischen Eingriff einhergehen. Die ausdrückliche Verantwortung, die sich die Vereinten Nationen und die „internationale Staatengemein- schaft“ zuschreiben, bei Versagen eines Staates für Schutz und Wohlerge- hen seiner Bevölkerung zu sorgen, ist ein Vexierspiel der supranationalen neo-souveränen Großraumorganisation gegen Binnensouveränitäten. Der Deal mit der erzwungenen Schutzdienstleistung unterwirft jede bin- nenstaatliche Souveränität unter das UN-Großraumverdikt. Der Schutz- bereich der Immunität, welche der UN-Sicherheitsrat für seine Organisa-

¹⁷⁹ „Angeregt worden war die Kosovo begründet und gegen tional Commission on Inter- Debatte von dem UN-Gene- geltendes Völkerrecht begon- vention and State Sovereign- ralsekretär Kofi Annan, der nen worden war. Hintergrund ty (ICISS): „Te Responsibility bereits 1999 die Frage aufge- war aber vor allem der Völ- to Protect“, online Dokument worfen hatte, ob es nicht ei- kermord in Ruanda, der 1994 der AG Friedensforschung an nen neuen Konsens darüber praktisch unter den Augen des der Uni Kassel, in: URL: http:// geben müsste, wie die Staa- UN-Sicherheitsrates gesche- www.uni-kassel.de/fb5/frie- tengemeinschaft mit massi- hen war, weil dieser sich nicht den/themen/Interventionen/ ven Menschenrechtsverlet- auf ein gemeinsames Vorgehen iciss-report.html, Stand vom zungen in Zukunft umgehen hatte einigen können und das 23. August 2006 wolle. Konkreter Anlass war von vielen Seiten geforderte ¹⁸⁰ Te Responsibilty to Protect, der gerade beendete Krieg der militärische Eingreifen somit online-Dokument, in: URL: NATO gegen Jugoslawien, der nicht zustande kam.“ Helge von http://www.uni-kassel.de/fb5/ mit den der jugoslawischen Horn, Christoph Krämer, Gibt frieden/themen/Interventio- Regierung angelasteten Men- es ein Recht zur „humanitären nen /responsibility.pdf, Stand schenrechtsverletzungen und Intervention“? Eine Übersicht vom 23. August 2006 „ethnischen Säuberungen“ im über den Bericht der Interna-

Souveränität 173 B: Antagonismus zwischen Staatsrecht unf Menschenrechten

tion und Akteure vor dem Internationalen Strafgerichtshof durchsetzten konnte, garantiert in vollem Umfang eine neo-souveräne Global-Demo- 2 kratie beyond the line. Laut Bericht der Internationalen Kommission zu Intervention und staatlicher Souveränität (International Commission on Intervention and State Sovereignty – ICISS) von 2001¹⁸¹ ist Responsibili- ty to Protect „der Versuch, ein bisher im Völkerrecht nicht existierendes Recht zur humanitären Intervention zu etablieren: Ein Recht, ja sogar eine Verpflichtung, das völkerrechtliche Kernprinzip der staatlichen Souverä- nität – unter ganz bestimmten Bedingungen – auszusetzen, um die Gren- zen von Staaten übertreten und militärisch auf ihrem Territorium und auch gegen ihre Regierung intervenieren zu können.“¹⁸² Mit dem Protek- tionsmandat R2P – einem Freibrief für jedwede Einmischung, ob huma- nitär, demokratisch oder militärisch – steht den Emergency-Corporations jeder Weg des Interventionismus¹⁸³ offen. Da Interventionismus per se Einmischung in fremde Angelegenhei- ten heißt, werden die Unternehmungen, welche sich meistens an Natur- katastrophen oder Regimeproblemen anderenorts entzünden, von vorn- herein als Notwendigkeit einer global-souveränen Causa medienpolitisch moderiert. Überwachung von Handelsschiffen, Datenkontrolle, Erpres- sung zu politischen und wirtschaftspolitischen Reformen, Privatisierung von Brunnen und Weideland, Unterstützung von binnenstaatlichen Re- volutionen, Durchführung von völkerrechtswidrigen Angriffskriegen (wie in Ex-Jugoslawien 1999) sorgen für die Sicherstellung von „aus- baufähigen Absatzmärkten“, „Investitionsstandorten“ und für „Anreize zu internationalen Unternehmenskooperation“. Die offiziell gerechtfer- tigten konkreten Interventionen mit Gründen wie „Terrorgefahr“, „Un- terdrückung der Frau“, „Demokratiedefizite“ und „schwere Menschen- rechtsverletzungen“ dienen den Allianzen zur Schaffung neuer Märkte und am allerwenigsten den Menschen in den durch Katastrophen und Verbrechen betroffenen Gebieten.

¹⁸¹ International Commission Welthandels und des ungehin- mokratiedefizite und schwere on Intervention and State So- derten Zugangs zu Märkten Menschenrechtsverletzungen.“ vereignty, Commission-Report und Rohstoffen in aller Welt» Henrik Paulitz, Interventionis- 2001, online-Dokument, PDF, wieder zu den offiziellen Recht- mus oder Souveränität? Wie die in: URL: http://www.iciss.ca/ fertigungen von Kriegen. Für westlichen Demokratien mit pdf/Commission-Report.pdf, fast alle Kriege der letzten Jah- dem Menschenrechts-, dem Stand vom 21. Juli 2008 re lässt sich nachweisen, dass Demokratie- und dem Terro- ¹⁸² Helge von Horn, Chris- der Zugang zu den Erdöl- und rismusargument die (energie-) toph Krämer, Gibt es ein Recht, Erdgasreserven zu den wesent- wirtschaftlichen Interessen ...a.a.O. lichen Kriegsgründen zählte. der Global Player mit diplo- ¹⁸³ „Interventionismus be- Von der Öffentlichkeit bislang matischen und militärischen deutet die Einmischung in kaum beachtet, haben Politik Mitteln durchsetzen, online die Angelegenheiten fremder und Wirtschaft ein besonderes Dokument der AG Friedensfor- Staaten: Einmischung in die Augenmerk auf die Rohstof- schung an der Uni Kassel, in: Wirtschaftspolitik, das Einset- fe in Afrika gelegt. Offiziell URL: http://www.uni-kassel. zen von neuen Regierungen, gerechtfertigt werden konkre- de/fb5/frieden/themen/Inter- Krieg und Besatzung. Für die te Interventionen jedoch mit ventionen/paulitz.html, Stand deutsche Politik gehören die Gründen wie Terrorgefahr, vom 24. Juli 2008 «Aufrechterhaltung des freien Unterdrückung der Frau, De-

EMERGENCY EMPIRE 174 Transformation des Ausnahmezustands 5. Peacekeeping – Freiheit jenseits von Menschenrechten

Darüber hinaus sorgen beispielsweise UN–Peacekeeping-Interven- tionen selbst für zusätzliche schwere Verbrechen und Menschrechtsver- letzungen an einer traumatisierten Bevölkerung in den betroffenen Ge- bieten. Der weltweite Diskurs, die kritische Dokumentation und Analyse beispielsweise von UN-Missionen oder CIA-Praktiken, von global-pro- tektiven Interventionen, hat sich in den letzten Jahren entscheidend emanzipiert. Erwähnt seien hier vor allem die Bücher von Peter Andreas, Te Clandestine Political Economy of War and Peace in Bosnia¹⁸⁴ und Black Markets and Blue Helmets: Te Business of Survival un Besieged Sarajevo¹⁸⁵, das Buch von Naomi Klein, Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastro- phen-Kapitalismus¹⁸⁶ und die Studie von Kenneth Cain, Heidi Postlewait und Andrew Tomson, Emergency Sex and Other Desperate Matters¹⁸⁷.

UNO und Kriminalität:

„Italienische UNO-Soldaten haben in Somalia gefoltert und vergewaltigt, das hat jetzt eine italienische Untersuchungskommission nachgewiesen. Das besondere an dieser Informati- on besteht – über ihren direkten Inhalt hinaus – vor allem in zweierlei. Erstens: nicht nur italienische, sondern auch zahlreiche andere Truppenverbände haben in Somalia schwerste Verbrechen begangen. Und zweitens: all das ist nicht neu, sondern – im Prinzip – lange be- kannt. Bereits vor über vier Jahren hatte eine Menschenrechtsorganisation in London ei- nen Bericht veröffentlicht: «Menschenrechtsverletzungen durch UNO-Einheiten», in dem deren Verhalten in Somalia untersucht wurde. Mord, Massaker an über 50 Personen, Ra- ketenangriffe auf ein Krankenhaus, Misshandlung von Kindern, Diebstahl – die Liste der Verbrechen ist lang und kann hier nur zum Teil angeführt werden. In diesen Kontext fü- gen sich die Meldungen über den italienischen Untersuchungsbericht ein. Belgische Trup- pen, italienische, pakistanische, französische, tunesische, immer wieder US-amerikanische Truppen wurden damals als Täter genannt.“¹⁸⁸ ¹⁸⁴ Peter Andreas, Te Clandes- „Wenn die nachgewiesenen Menschenrechtsverletzungen von fast allen UNO-Kontingen- tine Political Economy of War and Peace in Bosnia, International ten begangen wurden, dann müssen ein paar Fragen diskutiert werden, die bisher ver- Studies Quarterly, USA, 2004 drängt wurden. Wie kann es geschehen, dass im Rahmen einer vorgeblich «humanitären ¹⁸⁵ Peter Andreas, Black Markets and Blue Helmets: Te Business Intervention» ‚Helfer’ sich gegen die Zivilbevölkerung wenden, die sie eigentlich beschüt- of Survival un Besieged Sarajev, zen oder vor dem Hungertod retten sollen? Wenn Exzesse fast überall auftraten, dann han- Cornell University Press, USA, delte es sich kaum um die Fehltritte einzelner. Wie kann es geschehen, dass solche Prak- August 2008 ¹⁸⁶ Naomi Klein, Die Schock- tiken nicht von irgendeiner nationalistischen Soldateska, sondern im Rahmen der UNO Strategie. Der Aufstieg des Kata- begangen wurden? Was hat es zu bedeuten, dass die UNO oder ihre Repräsentanten vor strophen-Kapitalismus, Frank- furt am Main: Fischer 2007 Ort nicht gegen die Verbrechen einschritten, sie nicht anklagten, verhinderten und die Ver- ¹⁸⁷ Kenneth Cain, Heidi Postle- antwortlichen zur Rechenschaft zogen? Wie ist es zu erklären, dass die somalische Zivilbe- wait, Andrew Tomson, Emer- gency Sex and Other Desperate völkerung keinerlei Möglichkeit hatte, sich wirksam zu beschweren, sondern dass jeder Be- Matters. A true Story from hell schwerdeversuch mit Einschüchterung beantwortet wurde? Warum also hat sich die UNO on Earth, New York: Miramax im Rahmen dieser «humanitären Operation» wie eine normale, koloniale Besatzungsarmee Books 2004 ¹⁸⁸ Jochen Hippler, Wenn die verhalten?“¹⁸⁹ UNO mordet: Somalia – Wie hu- manitär sind Interventionstrup- pen?, in: Freitag vom 29. Au- gust 1997, S. 8 ¹⁸⁹ ebd.

Souveränität 175 B: Antagonismus zwischen Staatsrecht unf Menschenrechten

UNO und Immunität:

2 „24.06.2003: Trotz internationaler Kritik hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen den USA nachgegeben und die Immunität für UNO-Friedenssoldaten vor dem internationa- len Strafgerichtshof in den Haag (ICC) um ein weiteres Jahr verlängert (NZZ, 13.06.2003). Die Schweiz reagiert mit Bedauern auf diesen Entscheid, hat sie doch im Vorfeld zusam- men mit Jordanien, Kanada, Liechtenstein und Neuseeland – allesamt Staaten, die sich bereits im Hinblick auf die Gründung des ICC in hohem Maße engagiert hatten – klar ge- gen die Verlängerung Stellung bezogen. Laut Jenö Staehelin, Schweizer Botschafter bei der Uno in New York, behindere die «Resolution einen historischen Schritt in Richtung eines international gültigen Gesetzes». Die Schweiz missbillige deshalb die Resolution 1422 in ihrem Prinzip wie in ihren Modalitäten, sagte Staehelin vor dem Sicherheitsrat. Mit deut- lichen Worten nannte er in seiner kurzen Rede die schweizerischen Vorbehalte, wonach es besorgniserregend sei, dass der Sicherheitsrat einen internationalen Vertrag abändere, der im Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen stehe. Truppen, die unter Uno-Flagge stünden, von der Strafverfolgung zu befreien, sei ein fehlgeleiteter Ansatz.“¹⁹⁰

UNO und Sexgeschäfte:

„Nach den antiserbischen Ausschreitungen Mitte März, bei denen mehr als 60 der spöt- tisch als „Coca Cola-Dosen“ bezeichneten weißen UNMIK-Jeeps mit den roten Streifen in Flammen aufgingen, kommen die Vereinten Nationen nun auch auf menschenrechtlichem Gebiet in die Kritik. So soll im Juni ein Enthüllungsreport der UNO-Mitarbeiter Kenneth Cain, Heidi Postlewait und Andrew Tomson erscheinen. Titel: Emergency Sex and Other De- sperate Measures, a True Story from Hell on Earth. In ihrem Buch berichten die Autoren von ausschweifenden Sex-Parties mit zur Prostitution gezwungenen Frauen und Mädchen, Kor- ruption sowie Drogenmissbrauch auf Missionen in Haiti, Liberia, Somalia – und im Kosovo. Um das Image der ohnehin angeschlagenen Weltorganisation nicht weiter zu demolieren, erwägt Generalsekretär Kofi Annan Presseberichten zufolge rechtliche Maßnahmen gegen die Veröffentlichung.“¹⁹¹

„06.05.2004: UNO-Offizielle verärgert über neues Buch: Skandalserien bei UN-Friedens- missionen. – Emergency Sex and Other Desperate Matters heißt die Publikation, welche von Insidern, genauer von Mitarbeitern von UN-Friedensmissionen geschrieben wurde (Ken- neth Cain, Heidi Postlewait and Andrew Tomson, verlegt bei Miramax Books) und das die ¹⁹⁰ [Bericht], NZZ vom 14./15. UN-Repräsentanten am liebsten verbieten möchten. Das Buch beginnt 1993 mit der Mis- Juni 2003, S. 13, online-Do- sion in Kambodscha. Dort hätten UN-Delegierte die Wahlen überwachen sollen. Ken Cain, kument, in: Un(O)bserver. Schweizer Blick auf die Ver- Harvard-Absolvent, schreibt von jungen UN-Beobachtern, die sich in der Hauptstadt Ph- einten Nationen, in: URL: nom Penh betranken und auf Sex-Parties vergnügten, unterstützt vom UN-Feldpersonal, http://www.haefely.info/ wo Alkohol und Drogen Allgemeingut waren. Ein beliebter Drink sei «Space Shuttle» be- gesellschaft+politik_unobser- ver.htm, Stand vom 24. Au- nannt worden: Man destillierte ein Pfund Marihuana über eine Periode von sechs Wochen gust 2008 mit guten Schnäpsen. Das Endprodukt war ein Produkt, das nach Cognac schmeckt und mit ¹⁹¹ Markus Bickel, Serbien und Montenegro. Die KFOR fördert Cola gemixt getrunken wurde. All das geschah völlig offen, mit stillschweigendem Einver- die Zwangsprostitution im Koso- ständnis der UN-Verantwortlichen vor Ort. Ein weiteres pikantes Detail waren Blauhelm- vo, in: Amnesty International, online Journal, Stand vom 24. soldaten, die absolut untauglich waren, z.B. jene aus Bulgarien. Um die Kompensationszah- August 2008 lungen zu erhalten, schickte die bulgarische Regierung oft kriminelle Inhaftierte, die mit

EMERGENCY EMPIRE 176 Transformation des Ausnahmezustands 5. Peacekeeping – Freiheit jenseits von Menschenrechten

Blauhelmen ausgerüstet, sich bis zur Bewusstlosigkeit betranken, wehrlosen Frauen nach- stellten und die UN-Landrover zu Schrott fuhren. UN-Missionen werden von den Autoren häufig als mangelhaft organisiert und korrupt beschrieben.“¹⁹²

„Mit der Stationierung von zunächst mehr als 45.000 KFOR-Soldaten und den aus aller Herren Länder angereisten UNO-Bediensteten im Juni vor fünf Jahren nahm die Zahl der Bordelle, Nachtclubs und Tanzhallen in dem völkerrechtlich weiterhin zu Serbien-Monte- negro gehörenden Protektorat explosionsartig zu. Die IOM bezeichnete KFOR und UN- MIK schon nach einem halben Jahr Protektoratsherrschaft als «kausalen Faktor» für das lukrative Geschäft mit dem Sex. Da die Angestellten der internationalen Organisationen Immunität genießen, ist ein rechtliches Vorgehen selbst bei nachgewiesener Beteiligung an Frauenhandel schwierig. Amnesty international fordert deshalb eine stärkere Rechen- schaftspflicht des internationalen Personals. Rechtsprechung und Polizeigewalt fallen un- ter die Verantwortung der derzeit vom früheren finnischen Premierminister Harri Holkeri geleiteten UNO-Übergangsadministration.“¹⁹³

„Fälle, in denen die ausländischen Angestellten die juristischen Schutzmaßnahmen, die ih- nen ihr internationales Mandat beschert, ausnutzen, gibt es viele. Beispiel Orahovac, 2001: Hier meldete eine Frau der UNMIK-Polizei, dass sie von einem Kosovo-Albaner vergewal- tigt und zur Prostitution gezwungen worden sei. Zugleich gab sie an, dass auch UNMIK- Polizisten zu ihren Kunden zählten. Doch als die örtliche Filiale der internationalen Polizei den Fall übernahm, sah die eigens für solche Angelegenheiten eingerichtete UNMIK-Spe- zialeinheit für Frauenhandel und Prostitution (TPIU) keinen Grund zu intervenieren. Das Ergebnis fiel angesichts der augenzwinkernden Kumpanei der Angestellten der Weltorgani- sation mit den Tätern wenig überraschend aus: Der Frau wurde die Glaubwürdigkeit abge- sprochen, die Anklage fallen gelassen.“¹⁹⁴

20.06.2003: Die Zeitschrift Le monde diplomatique berichtete im November 2001: „Ähn- lich düster sieht es im Kosovo aus. Als die 50.000 KFOR-Soldaten, die Mitarbeiter der UN- Mission im Kosovo (Unmik) und diverser Hilfsorganisationen dort ankamen, schossen die Bordelle «wie die Pilze aus dem Boden», so der örtliche Chef der Internationalen Organisa- tion für Migration (IOM), Pasquale Lupoli. Hier werden überwiegend Frauen aus Moldawi- en, der Ukraine, Rumänien und Bulgarien zu Preisen zwischen 1.000 und 2.500 Dollar an kosovarische Zuhälter versteigert. «Diese Frauen waren nichts als Sklavinnen», befand der ¹⁹² Un(O)bserver. Schweizer Carabinieri-Hauptmann Vincenzo Coppola, nachdem er 23 von ihnen in Pristina und Priz- Blick auf die Vereinten Nationen, ...a.a.O. ren befreit hatte. Im letzten Jahr wurden aus den 350 bosnischen Bordellen lediglich 460 ¹⁹³ ebd. Frauen befreit – dem stehen schätzungsweise 10.000 Frauen gegenüber, die in aller Heim- ¹⁹⁴ Markus Bickel, KOSOVO. In schlechter Gesellschaft, Die Ver- lichkeit in diesen Häusern «aufgenommen» wurden.“¹⁹⁵ wicklung eigener Mitarbeiter in den florierenden Frauenhan- del im Kosovo bringt die UNO- beyond the line heißt: Jenseits der Menschenrechte Übergangsverwaltung UNMIK in Bedrängnis, in: Amnesty In- ternational, online Journal, in: URL: http://aidrupal.aspdiens- te.de/umleitung/2004/, Stand vom 24. August 2008 ¹⁹⁵ Un(O)bserver. Schweizer Blick auf die Vereinten Nationen, ..a.a.O.

Souveränität 177 C: Anomie I: Gesetzesterror

2 C. Anomie I: Gesetzesterror Intro: Demokratie in Not!

Im Namen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu agieren, entspricht dem ultimative Euphemismus eines jeden AZ. Sowohl die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849, als auch die Weimarer Verfas- sung vom 11. August 1919, als auch die Notverordnung von Hindenburg vom 28. Februar 1933, als auch das Bonner Grundgesetz vom 23. März 1949, die Verfassungen der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949 und vom 7. Oktober 1974 sowie die Verfassung der Bun- desländer von 2005 gelten der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. In vari- ierter Abfolge heißt dies 1849, 1919 und 1933: Zum Schutz von Volk und Staat, 1949, sowie 1949: Zur Verteidigung und zur Sicherheit des Landes. In allen Fällen ist ein Artikel über den Erlass von Sondermaßnahmen in- stalliert, der schließlich über den AZ des Staates entscheidet, als Ad-hoc- Regel der partiellen und/oder totalen Dezision und Suspendierung der Verfassungsrechte. Sämtliche Artikel des AZ der genannten Verfassun- gen enthalten einen Karenzbereich, einen Schwellenbereich, der eben- falls formuliert ist, indem z.B. festgehalten wird, dass im Ausnahmefall Sonderbevollmächtigte, Sondereinheiten oder Sonderkommissionen des Weiteren die Regierungs- und Kriegsgeschäfte übernehmen. Agamben führt seine Aufklärung zum Phänomen des juristischen AZ zu der Fest- stellung, dass ein Staat in seinem jeweiligen Artikel über den AZ unmög- lich die Suspendierung der Verfassungsrechte im Ausnahmefall, somit der Verfassung überhaupt, festschreiben kann. Deshalb wird seine Fest- schreibung vermieden, der jedoch in sublimer Weise in den Subtexten der Verfassungen verankert bleibt. Eine Demokratie muss und darf die Mög- lichkeit haben, in Not zu geraten. Dass dies in der Tat eintrifft, haben die Beispiele der Geschichte und der Gegenwart deutlich gezeigt. Agambens Tese vom weltweiten permanenten Ausnahmezustand, als gleich vom weltweiten permanenten Bürgerkrieg, als gleich von einer weltweiten permanenten Regierungstechnik in Anwendung, ist ebenfalls für die Ausarbeitung des Abschnittes Demokratie in Not! grundlegend. Die Agamben’sche Zone der Anomie, jene Schwelle der Ununterschieden- heit betrifft nicht nur das Zusammenfallen als gleichzeitige Aufhebung von Potenz, der patria potestas und Evidenz, der auctoritas und dignitas des Souveräns im Status der Ausnahme. Sie betrifft im selben Maße das Zusammenfallen von Gesetz und Recht wie auch von Souveränität und nacktem Leben (homo sacer). „Der Krieg gegen den Terror ist globalisiert und diffus. Er hat kein Zentrum, hat nichts, um sich seiner Identität zu vergewissern. Er wird als «fourth genertaion war» bezeichnet. In dieser Art von Krieg verschwimmen die Grenzen zwischen Krieg und Politik, Sol- dat und Zivilist, Frieden und Konflikt, Schlachtfeld und Sicherheit [vgl. Ununterschiedenheit]. Es ist nicht länger ein Krieg zwischen Staaten, son-

EMERGENCY EMPIRE 178 Transformation des Ausnahmezustands Intro: Demokratie in Not!

dern zwischen Staaten (oder Staatenbündnissen) und einem gewaltbe- reiten ideologischen Netzwerk.“¹⁹⁶ Vor allem an dieser Stelle (wie auch an der Stelle der neuen Kriegsformation, weiter unten) ist es unerläss- lich Maldonados Netzwerkgesellschaft zu platzieren. Diese besagt nämlich im hier vorgestellten Temenzusammenhang die konkrete Ablösung des Kriegsgeschehens von der souveränen Staatsverfassung und die Über- tragung der Präambeln des Souveräns, seiner Potenzen und Evidenz der totalen Willkür auf Netzterritorien. Es sei verfehlt, nicht davon auszu- gehen, dass diese Verschiebung von Verfassung, Raum und Krieg auf vir- tuelle Territorien, die Netze schließlich sind, in ersten und in letzter Kon- sequenz die Regelungen über den AZ betreffen. „Einer geläufigen Meinung nach gründet der Ausnahmezustand im Begriff der Not. Ein lateinisches Sprichwort [...] wiederholt hartnä- ckig necessitas legem non habet, – Not kennt kein Gebot -, und verstan- den wird es in zwei entgegengesetzte Richtungen: «Not erkennt keiner- lei Gesetz an» und «Not schafft sich ihr eigenes Gesetz» [...]. In beiden Fällen löst sich die Teorie des Ausnahmezustands vollständig auf in die des status necessaitatis, so dass sich das Problem seiner Legitimität im Urteil über das Bestehen einer Notsituation erschöpft.“¹⁹⁷ Den Absolu- tionstitel bekam die Not ebenfalls durch Ludwig Feuerbach. In seiner 1841 verfassten religionskritischen Schrift „Das Wesen des Christen- tums“¹⁹⁸ enthält das Kapitel „Das Geheimnis des christlichen Christus oder des persönlichen Gottes“ eben jenen zum Aphorismus stilisierten Satz: „Die Not kennt kein Gesetz außer sich; die Not bricht Eisen.“¹⁹⁹ Der Notbegriff bei Feuerbach ist identisch mit einer „Notwendigkeit des Gemüts“²⁰⁰, die in seiner Schrift als „Sehnsucht nach der Persön- lichkeit Gottes“²⁰¹ hervorgeht. Er spricht hier von der Gewalt der Sehn- sucht, von der Gewalt des Bedürfnisses, was die Gewalt der Notwendigkeit erzeugt. „Was aber mit der Gewalt der Notwendigkeit, das wirkt mit der Gewalt der Wirklichkeit auf den Menschen. Was namentlich dem Gemüt ein notwendiges, das ist ihm unmittelbar auch ein wirkliches Wesen. Die Sehnsucht sagt: es muß ein persönlicher Gott sein, d. h. er kann nicht nicht sein, das befriedigte Gemüt: er ist. Die Bürgschaft sei- ner Existenz liegt für das Gemüt in der Notwendigkeit seiner Existenz – die Notwendigkeit der Befriedigung in der Gewalt des Bedürfnisses.“²⁰² Not und Gewalt sind eine Einheit, die auf das Gemüt wirken und so je- des Gesetz (resp. Eisen) brechen. Was bei Feuerbach noch als die Gewalt der Not des Einzelnen her- ¹⁹⁶ Sam Jocob, Die Utopie der vorgehoben wird, entzündet an der Sehnsucht als Notwendigkeit des Ge- Angst, S. 117-118 ¹⁹⁷ Agamben, Ausnahmezu- müts und als Wirklichkeit des Menschen, gilt offenbar gleichzeitig im stand, S. 33 Zusammenhang mit Verfassungsfragen und im Zusammenhang mit der ¹⁹⁸ Ludwig Feuerbach, Das We- psycho-politischen Verfassung der souveränen Person. Die Wirklichkeit sen des Christentums, Stuttgart: Reclam 2005, S. 231 der Not in souveränen Fragen unterliegt auch hier nicht dem Gesetz, wie ¹⁹⁹ Ludwig Feuerbach, Das We- der Aphorismus besagt, sondern erlaubt sich die Aussetzung, die Lücke sen des Christentums, S. 231 ²⁰⁰ ebd. im Gesetz einzunehmen, als Sonderfall des Gesetzes. „Hier wird das Il- ²⁰¹ ebd. legitime legitim, eher dient Not der Rechtfertigung einer ausnahmswei- ²⁰² ebd.

Souveränität 179 C: Anomie I: Gesetzesterror

sen Überschreitung in einem einzelnen [juristischen] Sonderfall.“²⁰³ Im souveränen Fall, d.h. in unzähligen Entscheidungs-Fällen von Fürsten, 2 Monarchen und Diktatoren, wird der durch Not erzwungene Sonderfall im Gesetz als „Gefahr im Verzug“ ausgewiesen. Die Not der Souveränität stellt sich hier als Gesetzes-Notfall dar, der nicht dem Gesetz unterliegt und erhält so vollständige Legitimität. „Wer in einem Notfall wider den Gesetzestext handelt, urteilt nicht über das Gesetz [und wird auch nicht vom Gesetz verurteilt], sondern urteilt in einem einzelnen Fall, in dem sichtbar wird, dass der Wortlaut des Gesetzes nicht einzuhalten ist.“²⁰⁴ Obwohl „[d]er Begriff der Not ein gänzlich subjektiver Begriff [ist], je nach dem Ziel, das erreicht werden soll“²⁰⁵, findet er auf Staats- ebene und in der Rechtslehre breite Anwendung und verweist auf eine Rechtstradition des Ausnahmefalls, des Sonderfalls, des Notfalls souve- räner Macht in Demokratien. Wenn eine Demokratie in Not gerät, han- delt es sich um einen Staatsnotstand, einen Verfassungsnotstand oder einen Befehlsnotstand. Ein Staatsnotstand wird verzeichnet, wenn „Ge- fahr im Verzug“ herrscht, was in der Auslegung der rechtslateinischen Herkunft des Wortes periculum in mora, als drohende Gefahr, die bei Ver- zögerung von sofortigen Maßnahmen auftritt, verstanden wird. Ein Not- stand impliziert im Verständnis dieser Auslegung bereits die Notwehr. Als erhebliche Gefahr für eine souveräne Allianz oder Nation gilt, wenn Ordnung, Gesundheit, Freiheit, Leben und Schutz der Demokratie ange- griffen werden. An dieser Stelle sei an die Serie der Euphemismen erin- nert, wie sie im Kapitel 1, in der Agenda der Präzedenzfälle, Maßnahmen und Institutionen des AZ/State of Emergency ausführlich vorgestellt wur- den. Die Rechtswendung „Demokratie in Not!“, bzw. „Gefahr im Verzug“, ermöglicht einer Staatsmacht größtmöglichen Handlungsspielraum und größtmögliche Freiheit, d.h. die Definierung des Tatraums beyond the line im Namen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, als demokratische Staatsnotwehr.

²⁰³ Giorgio Agamben, Ausnah- mezustand, S. 34 ²⁰⁴ ebd., S. 35 ²⁰⁵ ebd., S. 39

EMERGENCY EMPIRE 180 Transformation des Ausnahmezustands 6. Terror ist Ausnahme in ultima ratio

6. Terror ist Ausnahme in ultima ratio

6.1 Ultima Ratio Regis Der lateinische Begriff der Ultima Ratio heißt in einer direkten Überset- zung „letztes Argument“, der „letzte Ausweg“ in einem Interessenkon- flikt, oder das Letztmittel der Gewalt. Diese vermeintliche letztmögliche Lösung, die Ultima Ratio, geht selten konform mit den ethischen Ansich- ten der einzelnen Akteure oder mit der völker- und menschenrechtli- chen Legitimität. Dies hindert jedoch nicht daran, sie dennoch zu benut- zen, nicht zuletzt als „gutes Argument“, auch wenn dabei Verluste, seien es materielle oder menschliche, hingenommen werden müssen. Um die Konfliktlösung zu erreichen, sind dabei dann alle Mittel recht. Oft wer- den mit dieser Bezeichnung kriegerische Handlungen gerechtfertigt und legalisiert, bei denen alles Vorhergegangene nicht zur Lösung des Kon- flikts beigetragen hatte. Vor allem zur Begründung eines so genannten gerechten Krieges ist die Ultima Ratio ein unumgängliche Strategie. Aus historisch-politischer Überlieferung stammt der Begriff aus der Frühen Neuzeit, aus der Zeit der Gesellschafts- und Staatsverträge in ei- nem absolutistischen Europa. Dem Begriff wird ein gewisser personeller Bezug zugeschrieben, der in Verbindung mit der Figur des Kardinal Riche- lieu steht, ein einflussreicher Politiker am Hofe Ludwigs XIII. Als Berater und Erster Minister kamen ihm am Hofe des Königs uneingeschränkte Entscheidungskompetenzen wie bei keinem anderen Politiker der dama- ligen Zeit zu. Seinen Einfluss auf den König nutzte Richelieu, um Frank- reich nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Dabei waren seine vor- rangigen Ziele die Umgestaltung Frankreichs zu einem absolutistischen Staat und das Ende der habsburgischen Vormachtstellung in Europa. Im Dreißigjährigen Krieg schließlich ließ Kardinal Richelieu die zweifelhafte Formel Ultima Ratio Regis – „Das letzte Mittel der Könige“ – auf die Ge- schützrohre seiner Armeen gießen. Dabei war nicht das letzte zur Ver- fügung stehende Mittel nach Ausschöpfung aller anderen Möglichkeiten gemeint, sondern das letzte, gleichsam unantastbare Wort der Könige, um einen Konflikt definitiv zu entscheiden. Hundert Jahre später regier- te Friedrich II. von Preußen mit den selben Worten und seit 1742 wa- ren auch seine Kanonen mit der gleichen Inschrift Ultima Ratio Regis, „Das letzte Mittel des Königs“, versehen. Diese Formel ist die Schnitt- stelle zwischen dem politisch-theologischen Souveränitäts-Prinzip und dem wirkungsmächtigen souveränen Akt der Ausnahme. Ultima Ratio Re- gis ist ein Formbegriff und löst eindeutig die Frage nach der «politischen Form», „die Schmitt im Zusammenhang mit dem römischen Katholizis- mus stellt, [die] sich aus der konstitutiven Rolle subjektiven Eingreifens in den Rechtsprozess ableitet.“²⁰⁶ Mit der Ultima Ratio Regis entsteht erst ²⁰⁶ Samuel Weber, Gelegenheits- die Tatsache des Eingreifens, „was für Schmitt die «konkrete» Dimension ziele. Zur Militarisierung des des «Lebens» darstellt, die sich per definitionem (also im allgemeinen) der Denkens, Zürich und Berlin: Diaphanes 2006, S. 60 Unterordnung unter allgemeine Gesetze entzieht“²⁰⁷, und darüber hin- ²⁰⁷ Samuel Weber, Gelegenheits- aus die Repräsentation des souveränen Situationsrechts bildet, welche ziele, S. 60

Souveränität 181 C: Anomie I: Gesetzesterror

die Norm erst schafft. „Alles Recht ist «Situationsrecht». Der Souverän garantiert [mit der Ultima Ratio Regis] die Situation als Ganzes in ihrer 2 Totalität.“²⁰⁸ In Reminiszenz an den zweiten Hauptsatz der Politischen Teologie, „Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Teologie“²⁰⁹, ist die Ultima Ratio Re- gis nichts anderes, als das repräsentative, wirkungsmächtige Wunder in Verkörperung des Souveräns (Monarchen, Diktator) und seiner Gewalt. „Souveränität bedeutet höchste Befehlsgewalt“²¹⁰ – in ultima ratio!

6.2 Emergency heißt Notstand für die Gesetzes- und Gewaltenlage des Staates Te Emergency heißt de facto, die Staatsgewalt ist in Not. Te Emergency ist eine Verordnung von Staaten im Krieg. In diese Notlage versetzt sich der Staat selbst, um seine Kriegsökonomie zu gewährleisten; er erstellt ad hoc und über Nacht Notstandsklauseln, Belagerungsgesetze, eben Ad- hoc-Gesetze, die durch eine quasi amtierende oder kommissarische Regie- rung durchgesetzt werden. Da diese amtierende Regierung in Kriegszeiten im Interesse der erfolgreichen Kriegsführung des Staates installiert wird, handelt es sich um eine militärische Diktatur. Heute spricht man nicht mehr von militärischer Diktatur sondern von kommissarischen Allianzen. Zur Rettung der Kriegsziele und Kriegsinteressen des kriegsführenden Staates rekrutieren sich ultimativ und ad hoc federführende Mächte aus Politik, Wirtschaft, Diplomatie und Militär, quasi aus dem strategischen, operationalen und taktischen Corps der Kriegsführung, zu einem amtie- renden, kommissarischen Kriegstribunal. Eine Militärdiktatur scheint in der heutigen Auffassung ein historischer Begriff zu sein – beispielsweise die Regime von Pol Pott, Pinochet, Mao Tse Tung, Kim Il Sung, Hussein. Dennoch handelt es sich bei den kommissarischen Tribunalen in einem aktuellen AZ um nicht anderes als um Diktaturen! Der Staat suspendiert in einem solchen Moment des AZ seine eigenen Verfassungsgrundrech- te und gestattet einer Militär- und Wirtschafts-Lobby, kurzfristig die bis dahin gültigen Rechtsgrundlagen aufzuheben, um in einem „Streich über Nacht“ (man kennt hierfür auch das Wort Putsch) die Demokratie nach in- nen aufzuheben, um dadurch wiederum in einem anderen „Streich“ nach außen (man kennt hierfür auch das Wort Terror, terror of punish legalment, Hobbes) die erfolgreiche Kriegsführung zu garantieren. Conradin Wolf be- schreibt diesen Doppelstreich in seiner Schrift Ausnahmezustand und Men- schenrechte folgendermaßen: „In Schmitts Schrift «Die Diktatur» von 1921 unterscheidet der Autor noch deutlich zwischen der «verfassungsmäßi- gen» oder «kommissarischen» auf der einen und der «souveränen Dikta- tur» auf der anderen Seite, wobei er sich vorab gegen die «Verwirrung» zwischen den beiden Formen der diktatorischen Machtausübung wendet. ²⁰⁸ Carl Schmitt, Politische Teo- logie, S. 20 Treffend bringt Helmut Quaritsch die Unterscheidungsmerkmale der sou- ²⁰⁹ ebd., S. 49 veränen Diktatur auf den Punkt: ‚Von der kommissarischen ist die «souve- ²¹⁰ Jean Bodin, Über den Staat, [1583], Stuttgart: Reclam räne» Diktatur unterschieden durch zwei Merkmale. Der Kommissar – ein 2005, S. 19 einzelner oder eine Gruppe – beseitigt (1.) das legitime Verfassungsorgan,

EMERGENCY EMPIRE 182 Transformation des Ausnahmezustands 6. Terror ist Ausnahme in ultima ratio

das ihn beauftragt hat, von dem er also seine Diktaturkompetenz ableitet, und gründet (2.) eine neue Verfassung’.“²¹¹ Einen Gesetzesnotstand ris- kiert ein so genannter demokratischer Staat nur dann, wenn er davon aus- gehen kann, dass er während des Krieges seine Gewaltenkompetenz kom- plett wieder zurückgewinnt, und darüber hinaus, dass er nach dem Krieg seine wirtschaftliche und militärische Position in einem internationalen Mächtespiel verbessert hat. Aus heutiger Perspektive heißt das, dass die federführenden Wirtschaftsunternehmen eines Staates, den Staat kau- fen und mit dem Militär komplottieren – alle drei zusammen, Staat, Mi- litär und Wirtschaft, spielen in einer Interessenlobby ihr Hasardspiel um Macht, Besitz, Einflusssphären und Vorteile. Der Staat steht in einem AZ vor zwei Aufgaben, seine Souveränität weder vor der kriegsführenden In- teressenlobby noch gegenüber der Nation zu verlieren. In dieser Doppel- forderung lässt sich die Staatsfigur im AZ von den Allianzen des AZ pro forma als Geisel nehmen (der Staat als Geisel seines eigenen Krieges), um somit sich selbst und dem lobbyistischen Komplott ein öffentlich-rechtli- ches Alibi zu verschaffen. Gleichzeitig tritt der Staat und seine Regierung als volonté générale auf, als Sprecher des Volkes, um des Volkes Willen und Recht zu repräsentieren. Eine psychologisch abgekartete, wenn auch per- fide Strategie, den korporativen Dünkel, geboren aus der Not des Staates, zu bemänteln. Vor dem Hintergrund seiner eigenen „Geiselnahme“ kann der Staat besser vom Standpunkt des Notstands aus argumentieren und dem Volk das notwendige Kriegstheater in einem manipulierten Medien- design verkaufen. Um das so genannte „[im] Interesse des Volkes“ bzw. „[im] Interesse der Bevölkerung“ für den Krieg zu gewinnen, tritt die ge- geißelte Staatsfigur mit Losungen wie Demokratie im Notstand (28. Mai 1968 in Frankfurt am Main) auf. Der rentable „Medienkonsum für alle“, sowie die Ablenkung auf unwesentliche Nebenschauplätze ist eine margi- nale Designstrategie von selbst-gegeißelten Regierungen. Die Konsequenzen dieser Medien-Hegemonien des AZ sind auf al- len Ebenen des gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens nachvollziehbar. Sie erzeugen jene von Durkheim definierten Anomien und jene von Bourdieu definierten Prekaritäten in all jenen Systemen, die nicht direkt an das Lobby-System der kriegsführenden Hegemonie ange- schlossen sind. Da die Rechtslage bzw. Gewaltenlage des Staates im AZ kom- plett suspendiert und durch eine amtierende Gewalt ersetzt ist, sind die Rechts-Opfer dieser Gewaltenannullierung stets und zuallererst die Menschenrechte und die Individualwiderstandsrechte für soziale und politische Subjekte. Es wird keine Verfassung geben, die sich für diese Rechte in irgendeiner Weise einsetzt. Damit ist das Komplott des AZ per- fekt, und de facto ist von nun an jede Intervention und jede Gegenstim- me auf Rechtsebene eingeschränkt und ausgeschaltet – natürlich im In- teresse des Volkes. Da es erklärtermaßen die Staatsgewalt ist, die in Not ist und jeder Bürger gerne einen souveränen, gewaltpotenten Staat hät- ²¹¹ Conradin Wolf, AZ und Men- te, der im Zweifelsfall auch für die Bürgerrechte Partei ergreift, gilt der schenrechte, S. 25-26

Souveränität 183 C: Anomie I: Gesetzesterror

AZ als die totale Enthemmung für die Medienindustrie. Die Oberfläche des Krieges wird von den Allianzen produziert. (Der Hüter wird zur Her- 2 de gestellt und entschläft in den friedlichen Tod der Medieneuthanasie.) Diese Staats-Notstands-Logistik entspricht der Agamben’schen Diagno- se, nämlich dass „der AZ in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschendes Paradigma des Regierens“²¹² gelten kann.

6.3 Die Doppelfigur des AZ/State of Emergency: Privileg und Notstand Der in der deutschen Rechtsterminologie als Ausnahmezustand geführte Begriff gilt im Englischen als „State of Exception“. In Verbindung mit der Erklärung eines State of Exception auf staats- und kriegsrechtlicher Ebene, wie am Beispiel der Irischen Regierung von 1939 zu sehen war, welches als begriffshistorischer Präzedenzfalls der Terminologie State of Emergen- cy in die Geschichte eingegangen ist, erfolgte auf die Erklärung des Sta- te of Exception nach außen und die Einberufung des Emergency Power Ge- setzes nach innen. Hier figuriert sich bereits der Doppelaspekt der Figur des AZ, nämlich in einer innenräumlichen Verfassung und einer außen- räumlichen Deklaration. Beides zusammen, das innenräumlich plötzliche Ereignis (Verfassungsänderung) und die außenräumliche Erklärung der Ausnahmesituation, was gleichzeitig für die innenräumlichen Suspendie- rungen und Ernennungen, die keineswegs gewaltfrei ablaufen müssen, das Privileg liefert, die Exception nach außen und das Emergency nach in- nen, macht den State of Exception zum State of Emergency. Das Emergency bezieht sich auf die plötzliche Deklaration von Ge- setzen, quasi über Nacht, welche die normalen Gesetzesregelungen des Staates außer Kraft setzen. Dieser Umstand ist der entscheidende Mo- ment, das so genannte signifikante Moment eines State of Emergency. Ein solcher ist in erster Hinsicht ein State of Exception, also die Statuierung eines Privilegs, einer Ausnahmesituation. Um in zweiter Hinsicht das Entscheidende im Rahmen dieses Privilegs zu erzwingen, die plötzliche und augenblickliche Außerkraftsetzung von Gesetzesnormativen und durch neue Regelungen, Emergency Laws oder Emergency Powers, zu er- setzen. Hier verbindet sich der Begriff des Privilegs oder des Ausnahme- status (State of Exception) mit dem Begriff des Emergency, der plötzlichen Emergenz von Verfassungen, welche die so genannten Normative auf ei- ner Regierungsebene über Nacht annullieren und suspendieren. Ein State of Emergency beinhaltet von daher immer beides: das Signifikat des Aus- nahmestatus, das Privileg, welches im Grunde ein Privileg der Selbster- mächtigung ist, und den Signifikanten der Wirkungsmacht, der Form.

²¹² Giorgio Agabmben, Ausnah- mezustand, S. 9

EMERGENCY EMPIRE 184 Transformation des Ausnahmezustands 6. Terror ist Ausnahme in ultima ratio

6.4 Staatsterror: AZ und souveräner Kriegsdiskurs

„Ich habe den Verdacht, dass sich alle Terrorismen, egal, ob die deutsche RAF, die italienischen Brigate Rosse, die Franzosen, Iren, Spanier oder Araber, in ihrer Menschenverachtung wenig nehmen. Sie werden allenfalls übertrof- fen von bestimmten Formen des Staats- terrorismus.“²¹³

Die Geschichte des Terrors gehört seit jeher zum politisch-strategischen Inventar von Staatsgewalten. Jede souveräne Staatsgewalt ist auch ter- roristisch und zwar in dem Moment, wo sie den AZ erklärt, d.h. wo sie mit einer Ultima Ratio Regis agiert. „Protecting the Homeland!“ ist die ak- tuelle Doktrin des Weißen Hauses seit 2001, ein eindeutiger klassischer Euphemismus, welchen legale Staatspolitiken propagandistisch zum Ein- satz bringen, um ihre submediale²¹⁴ Terrorpolitik oder Ausnahmepolitik konsumierbar zu bemänteln. „Der Ausnahmefall offenbart das Wesen der stattlichen Autorität am klarsten.“²¹⁵ Die Repräsentanz der Autori- tät ist verbunden mit dem, was Schmitt die Frage nach der politischen Form beschreibt, mit der Person. Foucault formuliert diesen Umstand, den auch schon Schmitt „die konkrete Dimension des Lebens“²¹⁶ nennt, als die Erweckung des lebenden Gesetzes durch das Vorbild. „Das Vor- bild ermöglicht die Beurteilung der Gegenwart, die Unterwerfung unter ein Gesetz, das stärker ist als es selber. Das Vorbild ist die Glorie des Ge- setzes, es ist das Gesetz, das im Glanz eines Namens auftritt.“²¹⁷ Ergo ist der Staatsterror in Form des AZ durch die Person der Autorität und ih- rer willkürlichen Entscheidung über einen Notstand begründet, wie auch durch die repräsentative (medienwirksame) Setzung eines Euphemis- mus. „Die Entscheidung darüber, ob eine justa causa vorliegt oder nicht, ²¹³ Giovanni di Lorenzo: „Ich bin wird ausschließlich Sache jedes staatlichen Souveräns.“²¹⁸ in Schuld verstrickt.“ Interview Die Ursprünge des Staatsterrorismus sind in den Staatsmodel- mit Helmut Schmidt. In: Die Zeit vom 30. August 2007, Nr. 36 len der Frühen Neuzeit zu finden, allen voran im Gesellschaftsvertrag ²¹⁴ Boris Groys, Unter Verdacht, von Tomas Hobbes, dem Leviathan. Hier wird der Terror als ein Mit- ...a.a.O. tel der Abschreckung, also als ein Machtmittel von Staaten beschrieben, ²¹⁵ Carl Schmitt, Politische Teo- logie, S. 20 ihre Souveränität und Omnipräsenz gegenüber potenziellen inneren ²¹⁶ Samuel Weber, Gelegenheits- und äußeren Feinden zu repräsentieren. Staatsterrorismus als Abschre- ziele, S. 60 ²¹⁷ Michel Foucault, Vom Licht, ckungspolitik hat sich als unentbehrliche politische Strategie erwiesen; S. 31 die Rüstungspolitik während des Kalten Krieges ist nur ein Beispiel. Im ²¹⁸ ebd., S. 20

Souveränität 185 C: Anomie I: Gesetzesterror

Leviathan, Kapitel 28 „Von Strafen und Belohnungen“, ist dann auch zu lesen: „Achtens, war im Gesetz eine Strafe (punishment) ausdrücklich be- 2 stimmt und wird hinterher dem Verbrecher eine schwerere Strafe zuer- kannt, ist diese schwere Strafe nicht mehr Strafe, sondern eine feindse- lige Tat. Denn da der Endzweck der Bestrafung nicht Rache, sondern die Abschreckung (terror) ist und die Furcht vor der größeren bis dahin noch unbekannten Strafe, weil eine geringere Strafe festgesetzt war, nicht be- stand, ist diese Erhöhung nicht Strafe.“²¹⁹ Die Worte Terrorismus, Terrorist und terrorisieren wurden erstmals im 18. Jahrhundert zur Bezeichnung einer gewaltsamen Regierungsmaß- nahme verwendet. Im Zusammenhang mit der Französischen Revoluti- on wurde der „Terror des Konvents“ von 1793 bis 1794 ausgerufen, als die Regierung alle als konterrevolutionär eingestuften Personen hinrich- ten oder inhaftieren ließ. Dabei fielen u.a. Ludwig XVI., Marie Antoinet- te und Gräfin Dubarry der Guillotine zum Opfer. 1796 fanden die Worte Eingang auch in den deutschen Sprachgebrauch. Die Karriere des Begriffs und der Politik des Staatsterrorismus ge- lingt also während der Französischen Revolution unter Maximilien de Robespierre und wird zur angewandten Methode der Regierung, um ge- gen ihre wirklichen Gegner vorzugehen, gegen die despotischen Regie- rungsformen der Aristokratie und Monarchie. In der Rede wird zwischen einem Terror im Dienste der Despotie und einem Terror im Dienste der Freiheit, der Demokratie unterschieden. Terror im Dienste der Freiheit gelingt nur durch Tugend, die, so Robespierre, dem Volke per se eigen ist, da es unverbildet ist und sich selbst liebt. Hier findet sich eine Parallele zu Rousseaus Begriff der amour-propre. Tugend und Terror sind demnach auch die Triebkräfte einer (demokratischen) Volksregierung in Zeiten der Revolution. In einer Demokratie wird das Volk durch Tugend gelei- tet, denn „Tugend ist die Seele der Demokratie“²²⁰, die sich zu Zeiten der Revolution mit dem «terreur» verbindet, um „die Feinde des Volkes durch Terror zu beherrschen“.²²¹ So spricht Robespierre am 5. Februar 1794 vor dem Konvent: „Der Terror ist nichts anderes als das schlagfertige, uner- bittliche, unbeugsame Recht, er ist somit eine Emanation der Tugend.“²²² Dem Exekutivorgan dieses Staatsterrors, dem Pariser Revolutionstribu- nal, fiel Robespierre noch im selben Jahr schließlich selbst zum Opfer. Der moderne Begriff Staatsterrorismus wird für staatliche oder von staatlicher Seite geförderte Gewaltakte gebraucht, die jeweils die zur ²¹⁹ Tomas Hobbes, Leviathan, Anwendung kommenden Kriterien für Terrorismus erfüllen. Da letztere [Kapitel 28: „Von Strafen und nicht einheitlich sind, existiert auch keine allgemein anerkannte Defini- Belohnungen“], Hamburg: Mei- ner 1996, S. 265 tion von Staatsterrorismus. Vielmehr wird die Bezeichnung zumeist als ²²⁰ Maximilien Robespierre, Kampfbegriff gebraucht. Sie bezieht sich insofern z.B. auf militärische Ak- Über die Prinzipien der politi- tionen mit zivilen Opfern, Menschenrechtsverletzungen in Diktaturen schen Moral. Rede am 5. Februar 1794 vor dem Konvent, Ham- oder auch auf die Anwendung von Methoden herkömmlicher terroristi- burg: Europäische Verlagsge- scher Organisationen (etwa Sprengstoffanschläge, Ermordungen, Ent- sellschaft 2000, S. 13 ²²¹ ebd., S. 75 führungen) durch Geheimdienste oder im staatlichen Auftrag handelnde ²²² ebd., S. 76 paramilitärische Gruppen.

EMERGENCY EMPIRE 186 Transformation des Ausnahmezustands 6. Terror ist Ausnahme in ultima ratio

Unter dem staatlich geförderten Terrorismus versteht man die of- fizielle oder inoffizielle Unterstützung bewaffneter Oppositionsgruppen eines Drittlandes durch einen Staat. Das Ziel des unterstützenden Staa- tes ist es, die Regierung des Drittlandes zu destabilisieren. Staatlich ge- förderter Terrorismus kann sich aber auch gegen die Zivilbevölkerung des eigenen Landes richten. Beispielsweise wurden in den 1970er- und 1980er Jahren in Italien Terroraktionen rechtsgerichteter, dem Geheim- dienst nahestehender Kräfte gedeckt und offiziell der extremen Linken zugerechnet. Ziel dieser „Strategie der Spannung“ war es, den Ruf nach einem starken Staat zu erzeugen sowie die in Italien traditionell starke Kommunistische Partei (KPI) zu diskreditieren und damit letztlich den Eurokommunismus zu schwächen. Zudem sind Guerillakriege, die auch als geheime Kriege, Kriege niedriger Heftigkeit und asymmetrischer Krieg- führung bezeichnet und oftmals mit Terrorismus gleichgesetzt werden, eine Möglichkeit für Staaten, ihre Außenpolitik auch gegen militärisch überlegene Staaten zu behaupten, indem sie Terrorismus zwar heimlich fördern, sich aber offiziell von ihm distanzieren. Der US-amerikanische Fall der Irangate-Affäre von 1986, welches im Kapitel 1 vorgestellt wurde, ist nur ein Beispiel unter vielen. Terrorismus als eine politisch-militärische Strategie existiert seit etwa den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Er entstand, beispiels- weise in Deutschland, als radikale Antwort auf das rapide Wirtschafts- wachstum nach dem Zweiten Weltkrieg und auf die liberale Politik im Um- gang mit Kriegsverbrechern. Erst die Verkopplung mit den Massenmedien macht den Terrorismus zu einer weltweit politisch-militärischen Strate- gie. Der Netzwerkforscher und Politologe Carsten Bockstette definiert Terrorismus als „nachhaltige[n] und verdeckt operierende[n] Kampf auf allen Ebenen, durch die bewusste Erzeugung von Angst, durch schwer- wiegende Gewalt oder der Androhung derselben, zum Zweck der Errei- chung eigener politischer Ziele. Dies geschieht unter teilweiser Nichtach- tung von existierenden Konventionen der Kriegsführung. Hierbei wird versucht, höchstmögliche Publizität zu erlangen. Demnach ist die Er- zeugung von Schrecken ein wichtiger Bestandteil der Definition.“²²³ Das ²²³ Carsten Bockstette, Terroris- moderne Verständnis von Terrorismus steht in direkter Verbindung mit mus und asymmetrische Kriegs- dem Begriff und Akt des Terroranschlags und wird deshalb völkerrecht- führung als kommunikative He- rausforderung, in: Strategisches lich nicht als Kriegshandlung definiert. Signifikant für den Terrorismus Informations- und Kommunika- ist eine Emergency-Strategie, die jenseits von Völkerrecht und Menschen- tionsmanagement. Handbuch der sicherheitspolitischen Kommuni- rechten zur Anwendung kommt. „Berücksichtigt man diese Entwicklung, kation und Medienarbeit; hg. v. so ist es nicht verwunderlich, dass die zahllosen in Camp X-Ray und Del- Carsten Bockstette, Siegfried Quandt, Walter Jertz, [o.O.]: ta (Guantanamo Bay, Kuba), im Haftzentrum auf dem Flughafen von Bernard & Graefe 2006, S. 43 Bagram (Afganistan), im Gefängnis von Abu Ghraib (Irak) sowie in Ge- ²²⁴ Markus Miessen, fängnissen in diversen Drittländern inhaftierten Personen in Territori- Freiheitsstatu(t)en. Räumliche Positionierung als eine Blaupause en verbracht worden sind, in denen die Einhaltung der Menschenrechte des Bösen, in: 5 Codes. Architek- nicht überwacht wird – entsprechend einer Direktive des Weißen Hauses, tur, Paranoia und Risiko in Zeiten des Terrors, hg. v. IGMADE, Ba- der zufolge «Terrorverdächtige» nicht den Schutz genießen, den Kriegs- sel, Boston und Berlin: Verlag gefangene gemäß den Genfer Konventionen erwarten dürfen.“²²⁴ für Architektur [o.J.], S. 170

Souveränität 187 C: Anomie I: Gesetzesterror

Die Terroranschläge am 11. September 2001 in den USA wurden wiederum als Kriegshandlung bezeichnet, obwohl diese Angriffe von kei- 2 nem Staat (es sei denn vom angegriffenen Staat selber) ausgingen und es daher keinen Gegner, also keinen regulären Feind im Sinne eines Krieges gab. An dieser Stelle widerspricht sich der Staat (USA), von dem seit 2001 der weltweite Antiterrorkrieg ausgeht, mehrfach selbst: 1. Eine staatliche Kriegserklärung erfolgt nach völkerrechtlichen Be- stimmungen nur gegen einen staatlichen/regulären Feind, bzw. nach Feindesangriff. Dieser ist nicht vorhanden, da den Angriffen auf das WTC und Pentagon keine staatliche Kriegserklärung zugrunde liegt. 2. Es handelt sich demnach um terroristische Attentate, die in den Stand des Kriegshandlung gehoben werden. 3. Hier oszilliert ein Terrorakt erstmalig in der Geschichte zwischen einer sofortigen Aufwertung und Belligerenz, d.h. zwischen der Le- gitimität als realer Feind und seiner Positionierung als Kriegsgeg- ner; und andererseits einer Kriminalisierung als Nicht-Kombattant und irregulär Feind, somit als Nicht-Feind und Diskriminierung als Kriegspartner wie es bei Guerillakämpfern völkerrechtlich üblich ist. 4. In diesem Spektrum wird einerseits der Begriff der Guerilla ad ab- surdum geführt, da nicht klar wird, wessen Befreiungs- und Un- abhängigkeitskrieg (was Guerilla de facto beinhaltet) mit den An- griffen in Verbindung gebracht werden kann, da es sich um keinen realen Feind handelt, sondern lediglich um kriminelle Akte. 5. Andererseits wird das weltweite Aufgebot der RMA (Revolution of Military Affaires) innerhalb des durch quasi kriminelle Übergriffe verursachten Antiterrorkrieges völkerrechtlich nicht erklärbar, da es sich doch um eine Selbstverteidigung gegen kriminelle Akteure handelt, die weder Feind noch Guerilla sind.

In Konsequenz der souveränen Inanspruchnahme von Terrortech- niken und terroristischen Strategien, vor allem auch unter dem von Fou- cault besprochenen Gesichtspunkt des Übergangs vom Recht zum Inte- resse, also zum Tauschwert von gouvernementalen Techniken, gewinnt der Schmitt’sche Raum beyond the line an neuer Attraktivität. Es ist die At- traktivität des Profits, die sich aus politischen Konzepten, Euphemismen und Medienpolitiken erwirken lässt und die wahlweise als Demokratie, Frieden, humanitäre Intervention, Globalisierung usw. gehandelt werden. Vor diesem Hintergrund wird die Oszillation zwischen Liberalismus und Totalitarismus besonders deutlich.

6.5 Revolutionsterror: Guerilla und sozialrevolutionäre Kriegsdiskurs Der politisch in der Regel links motivierte, sozialrevolutionäre Terroris- mus hat seinen geistigen Ursprung im Anarchismus vor allem des 19. Jahrhunderts. Nach dem politischen Scheitern der 68er-Revolte ent- stand im Umfeld der „Neuen Linken“ Anfang der 1970er Jahre eine neue

EMERGENCY EMPIRE 188 Transformation des Ausnahmezustands 6. Terror ist Ausnahme in ultima ratio

Spielart des linken Terrorismus, der durch die Ablehnung der Bundes- republik Deutschland gegenzeichnet war. Seinen bekanntesten Ausläufer hatte der linke Terrorismus in der RAF und in den Italienischen Roten Brigaden (Brigate Rosse) hinsichtlich der Öffentlichwirksamkeit ihrer Anschläge. Die Anschläge zielten dabei auf die revolutionäre Umwälzung der bestehenden gesellschaftlichen Herrschafts- und Besitzverhältnis- se im betroffenen Land, bisweilen auch auf den Versuch, einen revolu- tionären Bürgerkrieg zu entfesseln. In den Ländern der westlichen Welt scheiterten derartige Bewegungen als politisches Konzept. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs verlor der europäische Nachkriegs-Terrorismus an Präsenz und konstituierte sich auf dem geopolitischen Teppich globa- ler Wirtschafts-Politiken neu. In Lateinamerika sind Ausläufer der Gue- rillabewegungen der 70er Jahre in neue Vereinigungen übergegangen, wie die der FARC oder der ELN. Gegenwärtig treten Erscheinungen eines marxistisch inspirierten Terrorismus in Gestalt „maoistischer Bewegun- gen“ in einigen Ländern Süd- und Südostasiens auf. Aus Staatssicht ist jede konterrevolutionäre Gewalt terroristische Gewalt. Dazu zählen seit jeher Bürgerkriege, Partisanenkriege, Guerilla- kriege. Obwohl der Guerillakrieg immer wieder seine Legitimität und Le- galität unter Beweis stellt, wie auch mit seiner Forderung auf rechtmäßi- gen Widerstand, sein Recht auf Belligerenz einklagt, wird er ebenso oft kriminalisiert und abgedrängt.

6.5.1 Abgrenzung Der „Terrorismus“ als politisch-militärische und psycho-politische Strate- gie im öffentlichen (Medien)Raum existiert seit etwa den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Diese Entwicklung kann parallel gesehen werden zu der zunehmenden Eroberung des öffentlichen Raumes durch den Begriff des Emergency. Der einst ausschließlich in Kausalzusammenhängen von Krieg, Staat und Völkerrecht gebräuchliche Begriff der modernen Rechts- terminologie, des Ausnahmezustands im Deutschen und des Emergency im Angelsächsischen, okkupiert den zivilen Sektor. Die Notfallvorsorge und -nachsorge, erst im medizinischen Bereich terminologisch verwendet, wird erweitert durch sämtliche Katastrophentypen, die über den zivilen Raum hereinbrechen und entsprechende Emergency-Managements einfor- dern. Mit dem Terrorismus im öffentlichen Raum, das heißt mit Attenta- ten auf Plätze, Bahnhöfe, Supermärkte, Flughäfen, in Kinos, Teatern etc., wird der Terrorismus zu einem zusätzlichen – und sogar dem eigentlichen – Emergency-Träger des Millenniums. Denn erst die Verkopplung mit den Massenmedien macht den Terrorismus zu einer weltweiten politisch-mili- tärischen Strategie wie auch zu einem globalen Medienereignis. Mögen die Strategien der Guerilla und des Terrorismus auch gewis- se Parallelen beispielsweise subversive bis kriminelle Strategien wie Ent- führungen, Botschaftsbesetzungen und Terrorakte schlechthin, die unter dem Begriff Krieg ohne Fronten zusammengefasst sind, aufweisen, macht sich eine Abgrenzung zwischen Terrorismus und Guerilla erforderlich.

Souveränität 189 C: Anomie I: Gesetzesterror

Von großer Bedeutung für die Guerillabewegung ist die Frage der Belligerenz: die Anerkennung als kriegsführende Partei, als Revoluti- 2 onsarmee. Die politische Anerkennung durch Staaten von internatio- naler Bedeutung oder die Anerkennung als Verhandlungspartner durch den Gegner bildet die Grundlage für die Erreichung der politischen Ziele der Guerilla (siehe die Diskussion um die Anerkennung der palästinensi- schen PLO). Erst als kriegsführende Partei können gefangene Guerilla- Kämpfer ihren Rechtsstatus als Kriegsgefangene geltend machen. Ohne den Status als völkerrechtlich legal bewaffnete Kriegsteilnehmer (Kom- battanten) werden Guerilla-Kämpfer als Franktireurs bzw. Sniper (He- ckenschützen) angesehen und wie Schwerstkriminelle behandelt. Während Freiheits- oder Widerstandskämpfer sich vornehmlich auf militärische Ziele beschränken und damit beabsichtigen, unmittelbar die Ziele ihrer Organisation zu erreichen, geht es den Terroristen im Gegen- satz dazu primär um die psychischen Folgen der Gewaltanwendung. Die Vi- olenz des Terroristen agiert kommunikativ und indirekt und Ziele werden nur über Umwege erreicht. Seine Kommunikation ist an sein Opfer, das ein Staat und seine Apparate oder auch Zivilisten sein können, gerichtet. In diesem Sinne gilt die Definition: Der Terror dient als Druckmittel und soll vor allem Unsicherheit und Schrecken verbreiten, daneben aber auch Sympathie erzeugen. Terrorismus ist, so könnte an dieser Stelle die Te- se lauten, keine militärische Strategie sondern primär eine psychogene Kommunikationsstrategie. Terrorismus ist aktuell eine asymmetrische Kriegsführungstechnik, die einen Konflikt mit geringfügigen Ressourcen gegen eine deutlich überlegene Macht mit gewaltsamen Mitteln aus dem Untergrund heraus bewältigt. Oft reklamieren terroristische Gruppen für sich, Guerilleros zu sein und einen Partisanenkampf mit unkonventionellen Methoden des Gewaltgebrauchs aufgrund ihrer militärischen Unterlegenheit füh- ren zu müssen. Terroristen allerdings sind im Vergleich zu Partisanen normalerweise nicht in der Lage, eine direkte militärische Konfrontation zu überstehen und meiden diese, da sie dem Gegner in Anzahl und Aus- rüstung unterlegen sind. Anders als Partisanen, konzentrieren sie nicht auf die physischen sondern schwerpunktmäßig auf die psychischen Fol- gen ihrer Anschläge. Von Widerstandsbewegungen, Guerillas oder nationalen Befrei- ungsbewegungen, unterscheidet sich der Terrorismus weniger durch die Wahl seiner Waffen als in der Wahl seiner Ziele: Eine nationale Befrei- ungs- oder Widerstandsbewegung ist zumeist militärisch raumgreifend, der Terrorismus dagegen versucht, mit seinen Gewaltakten möglichst große Aufmerksamkeit zu erlangen, um geschlossene Machtstrukturen zu untergraben und diese medienwirksam zu erschüttern. An dieser Stel- le kann die Gleichung aufgestellt werden, dass die Guerilla den geopoli- tischen Raum besetzt und Terror das Denken, also psychopolitische Prä- senz einfordert. Diese Gleichung erschließt die Differenz zwischen dem Terrorismus und anderen Gewaltkonflikten wie zwischenstaatliche Krie-

EMERGENCY EMPIRE 190 Transformation des Ausnahmezustands 6. Terror ist Ausnahme in ultima ratio

ge, Guerillakrieg und Kriegsunternehmertum. (Was jedoch nicht aus- schließt, dass sich Akteure letztgenannter Konflikte auch terroristischer Mittel bedienen.) Der Terrorismus, ob linker oder rechter Terrorismus, privater oder singulärer Terrorismus, subventionierter oder liberalisierter Terroris- mus, ist im Emergency Empire nicht mehr unterscheidbar in der klassi- schen Gabel zwischen des Staatsterror und Revolutionsterror.

6.5.2 Stadtguerilla Der Guerillakrieg ist eine militärische Taktik: kleine, selbstständig ope- rierende Kampfeinheiten, welche die taktischen Zielsetzungen der Ar- meeführung, meist im Hinterland des Gegners, unterstützen und dabei außerhalb ihrer Kampfeinsätze nicht als Soldaten erkennbar sind. Zur Guerillataktik gehören ‚nadelstichartige’ militärische Operationen, die den Gegner nicht vernichten, sondern zermürben sollen. Der Guerillakrieg kann als eine spezielle Form politisch motivierter, revolutionärer oder antikolonialer Kriege gesehen werden, denn es han- delt sich hier um eine „Waffe der Schwachen“ gegen einen militärisch, vor allem militärtechnologisch überlegenen Gegner. Voraussetzung für ei- nen Guerillakrieg ist die fehlende Hoffnung der Bevölkerung, ihre politi- schen und sozialen Forderungen mit politischen und rechtlichen Mitteln erreichen zu können, wie dies in einer Diktatur, einem von einer frem- den Macht besetzten oder dominierten Land der Fall ist. Entscheidend für den Erfolg der Guerilla ist der gleichzeitige, dem militärischen Kampf gleichwertige politische Kampf, denn in einer offenen Feldschlacht müss- te die Guerilla notwendig unterliegen, weil ihr die Ausrüstung einer kon- ventionellen Armee fehlt und ihre Kämpfer meist über keine ausreichen- de militärische Ausbildung verfügen. Ein entscheidendes Kennzeichen der Guerilla ist ihre hohe Mobilität und Flexibilität, oft kombiniert mit dem Fehlen der Identifizierbarkeit als rechtmäßiger Kombattant. Gue- rilla-Einheiten sind in ständiger Bewegung, um dem militärisch überle- genen Gegner auszuweichen. Ihr Erfolg ist davon abhängig, ob es ihr ge- lingt, die Entscheidung darüber zu behalten, an welchem Ort, zu welcher Zeit und unter welchen Bedingungen die militärische Konfrontation mit dem Gegner stattfindet. Die klassische Landguerilla operiert meist aus den Bergen heraus, welche ein optimales Rückzugsgebiet bilden. Sie ist auf die Unterstützung der Landbevölkerung angewiesen, die sie mit Nah- rungsmitteln und Informationen versorgt. Genau zu diesem Impakt zwi- schen Bevölkerung und Guerilla ist es in der Bolivianischen Revolution unter Ernesto Che Guevara nicht gekommen, weswegen diese Revolution schließlich auch gescheitert ist. Die Stadtguerilla ist eine Guerilla, die im städtischen/großstädti- schen Umfeld operiert. Sie adaptiert Strategien und Methoden der Gue- rilla, welche vornehmlich in ländlichen Regionen aktiv ist, mit dem Ziel, diese erfolgreich in größeren Städten, Metropolen und Megacities, anzu- wenden. Kennzeichnend für die Guerilla/Stadtguerilla ist, dass sie mit

Souveränität 191 C: Anomie I: Gesetzesterror

oft militanten Mitteln versucht, aus dem Untergrund bzw. der Illegali- tät heraus gegen bestimmte politische Entscheidungen, vielfach jedoch 2 auch gegen ein politisches System insgesamt und damit gegen eine herr- schende Regierung Widerstand zu leisten, sowie die eigenen politischen Konzepte und Ziele durchzusetzen, wo dies mit den Mitteln einer lega- len Opposition nach Auffassung der militanten Kämpfer nicht möglich bzw. wirkungslos ist, oder zumindest wirkungslos erscheint. Die Mittel der Stadtguerilla sind vielfältig. Sie reichen von Öffentlichkeitsarbeit wie der Verbreitung von Flugschriften bis hin zu Sabotageakten und anderen gewaltsamen Anschlägen, zu denen auch Entführungen und politische Morde gehören können. Die Methodik der so verstandenen Stadtgue- rilla wird von einer herrschenden Regierung in aller Regel mit Terroris- mus gleichgesetzt. Die entsprechenden Gruppen gelten als terroristische Vereinigungen. Eine objektive Trennung zwischen illegitimem Terroris- mus und legitimem Freiheitskampf ist schwer zu vollziehen. Das Konzept Stadtguerilla²²⁵ der Roten Armee Fraktion (RAF) im April 1971 prägten den Begriff in der Bundesrepublik Deutschland. Die Stadtguerillataktik der RAF orientierte sich stark an Mao Zedongs Buch Teorie und Praxis des Guerillakrieges²²⁶. Die RAF adaptierte in ihrem Buch im Wesentlichen Maos Konzepte, obwohl dieser davor ausdrücklich gewarnt hatte.

6.6 Verschuldung des Staates als Ursache des Ultima Ratio Regis Der AZ als weltweite Regierungstechnik initiiert sowohl Staatsnetze wie auch Mikronetze der totalitären Herrschaft. In der Verschuldung der Staaten und in ihrer direkten Abhängigkeit vom Kapital liegt auch ihre totale Anfälligkeit: leviathanische Staatsgröße und Abschreckung kann schließlich nur durch Kapital und Eigentum in Form von Fonds der in- ternationalen Finanzmärkte garantiert werden. Boykotts und Sabotagen können Staatsmacht und Gesetzeskraft empfindlich schädigen, wodurch in diesem Zusammenhang deutlich wird, in welchem Umfang der Staat eben vor allem in den Fängen seiner Kapital- und Finanzmonopole, sei- ner Unternehmer ist. Insofern ist Staat als politische Korporation levia- thanisch und als Unternehmer diasporisch. Er setzt sich logischerweise aus seinen weltweit stationierten und global agierenden Privatunterneh- men zusammen, quasi aus deren Fonds. ²²⁵ Rote Armee Fraktion. Texte Die Schweiz als Staat hat die Doppelrepräsentanz des Staates als und Materialien zur Geschich- te der RAF, hg. v. Martin Hoff- Regierung und als Unternehmen signifikant gelöst: sie stellt sich als Nati- mann, Berlin: ID-Verlag 1997, on und als Unternehmen unter dem Label der Schweitzer Nationalflagge S. 27 ²²⁶ Mao Tse-Tung, Teorie des dar. Im Jahr 2005 ging die Schweiz damit an die Öffentlichkeit, ihr Nati- Guerillakrieges oder Strategie onallogo gleichzeitig als Unternehmenslogo auf Märkten zu führen. Die- der dritten. Welt. [mit einem ser Akt des national brandings führt zur Synchronität von Politik, Produk- Essay von Sebastian Haffner], Reinbek bei Hamburg: Rowohlt tion, Konsumtion und Finanzwirtschaft. Am Beispiel der Schweiz wird 1966; Mao Tse-Tung, Ausge- deutlich, dass Staaten bzw. ihre Fonds generell zu mächtigen Mitspie- wählte militärische Schriften. Pe- king: Verlag für fremdsprachige lern auf internationalen Finanzmärkten geworden sind, also zu Unter- Literatur 1969 nehmern.

EMERGENCY EMPIRE 192 Transformation des Ausnahmezustands 6. Terror ist Ausnahme in ultima ratio

In Fonds angelegtes Staatsgeld zirkuliert gleichermaßen wie auch Privatgeld auf den Finanzmärkten, dessen Gigant derzeit der Forex, der weltweit derzeit größte Finanzmarkt ist. Somit ist durchaus die Frage be- rechtigt, inwieweit sich ein Staat nicht eben auch durch seine Finanz- wirtschaft privatisiert, also als privater Unternehmer agiert. Dies kann analog zu den individualistisch inszenierten souveränen Herrschaftsin- teressen interpretiert werden. Staaten bilden solche Fonds aus verschie- denen Gründen und gemäß unterschiedlicher Interessenlagen wie z.B. zum Ausgleich von Preisschwankungen bei Rohstoffen, Schutz der Volks- wirtschaft vor Inflation, für Reserven für die Zeit nach der Erschöpfung von Rohstoffvorräten oder zur Anlage von Devisenüberschüssen. Da- mit könnten staatliche Rentenversicherungen gedeckt, dauerhafte Ein- kommen für die Bürger geschaffen oder auch nur Haushaltsüberschüs- sen angelegt werden. Nicht zuletzt dienen Fonds strategischen Zielen, das heißt der Regelung der Kriegsökonomie. In einigen Rechtsordnungen von Staaten ist es ausländischen Staaten verboten, in bestimmten Wirt- schaftszweigen zu investieren. In einigen Staaten bestehen für bestimm- te Branchen Genehmigungspflichten. Solche genehmigungspflichtige Bereiche sind typischerweise die Rüstungsindustrie, Medien, Telekom- munikation und Energieversorgung. Ist diese staatlich geprüfte Invest- ment-Grenze nicht mehr gewährleistet, wird der Staat in schleichender Dynamik aufgekauft. Da dem aufgrund von Staatsverschuldung häufig in partiellen Fäl- len stattgegeben wird, kommt es auf diese Weise zu Übergriffen und Kor- ruptionsfällen. Hierbei ist der Staat als Unternehmer genauso verwickelt wie ein Privatunternehmer. Staaten als Unternehmen definieren sich durch ihre Kreditwürdigkeit und durch ihr Kapital. Sind diese gefähr- det, ist es auch die Kriegsökonomie des Staates selbst. Als Kriegsökono- mie wird hier die ökonomische Beteiligung, Investition und Verhandlung über die Vormachtstellungen und Interessenfestlegungen innerhalb der weltweiten Globalisierungsdynamik definiert. In Differenz zu einem pri- vaten Unternehmen kann der Staat die Gefährdung seiner Wirtschafts- und Kapitalmacht durch seine Gesetzesmacht manipulieren. Der AZ ist das Letztmittel der staatlichen Gesetzeskraft zur Regulierung seiner so genannten Kriegsökonomie. Durch die Parität werden Wirtschaftsunternehmen zu unverzicht- baren Partnern des Staates, wie auch beide zu Akteuren auf den Finanz- märkten. Das Risiko für den Staat liegt in seiner Verschuldung, im Be- sonderen Schuldner von Privatunternehmen zu sein. Das Ausmaß dieser Staatsverschuldung garantiert wiederum dem Staats-Gläubiger gewisse Gesetzesfreiheit. Unter diesen Umständen wird die tiefe Verschränkung zwischen Gesetzesmacht und Wirtschaftsmacht bzw. umgekehrt auch die mögliche Ohnmacht deutlich. In einer solchen paktierenden Situati- on, in der gegenseitig Recht und Macht per Ökonomie und Gesetz abge- geben werden, geschehen selbstverständlich Gesetzesübertretungen wie auch die vielfältige Legalisierung dieser Übertretungen.

Souveränität 193 C: Anomie I: Gesetzesterror

Umstände, die zur ultimativen Vollstreckung eines nationalen AZ führen, also zur partiellen bis vollständigen Suspendierung von Rechten 2 und Gesetzen, besitzen zwei Dimensionen: Das gefährdete Kriegsinteresse des Staates aufgrund seiner Verschuldung bzw. Mittellosigkeit führt zu ei- nem Erzwingungsakt, quasi im staatlich legalisierten Terrorakt wird Staats- souveränität durchgesetzt. Hierbei wird die Rolle des Volkes durch Propa- ganda, Medienpolitik und Euphemismen inszeniert. Der Staat spricht vom Gesetzesnotstand, von der Not der Demokratie und der Verfassung. Die Gesetzesanomie als herrschendes Paradigma des Regierens, wie von Agamben konstatiert, beinhaltet zwei Strategien, den Gesetzesnot- stand und den Gesetzesterror. Die Schwelle für das Inkrafttreten oder für die Umsetzung der Strategien scheint asymptotisch zur Kapitalisierung des Staates als Privatunternehmen zu sinken. Der Zugriff von Interes- senträgern bzw. ihr Einfluss auf den Status quo der Gesetzeslage scheint dagegen zu steigen. Wie auch umgekehrt, die Möglichkeiten der Errich- tung von effizienten Sicherheits- und Informationsnetzwerken als Be- schäftigungs- und Wirtschaftsunternehmung für Privatiers, die sich da- mit gegenüber der Staatslobby positionieren, zu verbessern scheinen. Die weltweite latente Situation wie auch die Zunahme der parti- ellen Eskalationen und Suspendierungen zeigen, dass der AZ und somit die Gesetzesanomie tatsächlich ein herrschendes Paradigma des Regie- rens ist. Giorgio Agamben nennt diese Situation Ununterschiedenheit, bzw. Schwelle. Mit diesem Begriff ist der permanente Schwellenwert zwi- schen Hemmungen und Enthemmungen gekennzeichnet, der nichts an- deres beinhaltet als die potenzielle Zugriffsmöglichkeit auf Regierungen, sprich Gesetze, durch Mikro- bis Makroakteure. Analog zu den von Carl Schmitt definierten Landeigentumsverhält- nissen, die den Staat als solchen erst erkenntlich werden lassen, gehören die Kapitaleigentumsverhältnisse des Staates ebenfalls zu seiner Grund- konstitution. Wie bei Carl Schmitt vom Nomos der Erde als raumteilen- der Grundvorgang, als juristischer Ur-Akte des Staates in der Landnahme die Rede ist, so sprechen Gunnar Heinsohn und Otto Steiger von einem Nomos des Kapitals als kapitalakkumulierenden Grundvorgang und gleich- zeitig als ökonomischer Ur-Schuld des Staates in der Kreditnahme. Das Staatsterritorium erwächst aus Landnahme; der Staatshaushalt erwächst aus der Kreditnahme, aus beiden wiederum erwächst der Markt. Der moderne Staat setzt sich aus der Politik des Krieges und der Politik des Kriegs-Haushalts plus dem Markt für eine Tauschmarktwirtschaft und Geldmarktwirtschaft zusammen. „Kauf und Verkauf, Darlehn und Kre- dit sind ökonomische Kontrakte“²²⁷, wie Gunnar Heinsohn darlegt, die in zwischenstaatlichen Verhandlungen ausschließlich von Interesse sind, also der vereinbarte Geldstandard, nicht aber das „eigentliche Geld“²²⁸ ²²⁷ Gunnar Heinsohn, Eigen- tum, Zins und Geld, Hamburg: selbst. Nach Keynes wird dieser in Kontrakten vereinbarte Geldstandard Rowohlt, 1996, S. 210 money of account genannt, während das eigentliche Geld als money proper ²²⁸ Gunnar Heinsohn, Eigen- tum, Zins und Geld, S. 213 bezeichnet wird. Nur durch das money of account kann ein „Schuldtitel, ²²⁹ ebd. (absolute) Preise und allgemeine Kaufkraft ausgedrückt werden“²²⁹.

EMERGENCY EMPIRE 194 Transformation des Ausnahmezustands 6. Terror ist Ausnahme in ultima ratio

Analog zur Ur-Akte der Landnahme entsteht also eine Ur-Schuld durch Kreditnahme. Erst mit dem Staatskredit, das heißt mit dem Schuldtitel, kann überhaupt ein nennenswerter Geldstandard für die Haushaltskasse des Staates generiert werden. Eine Staatsgründung ver- läuft demgemäß über die Staatsverschuldung, über die Ur-Schuld, glei- chermaßen über die Ur-Investition in einem Kontrakt. Ein nennenswer- ter Geldstandard des Staatshaushalts ist reziprok seinem Standard im Schuldtitel, im money of account. Die Pflicht, den zinsbelasteten Schuld- titel gegenüber seinen Gläubigern zu nullifizieren, veranlasst den Staat zu Unternehmungen, die als Steuerpolitik nach innen und als Kriegsöko- nomie, nämlich der wirtschaftlichen Mobilmachung nach außen, hinrei- chend bekannt sind. Erst an dieser Stelle von Ur-Akte und Ur-Schuld kann der Staat seine Bürger subventionieren, aber auch gleichzeitig über sie ver- fügen, wie dies zum Beispiel in Form von Steuererlassen, von Wehrpflicht, von Staatsbürgerschaftspflicht (Zwangsassimilation, Einbürgerung, Neut- ralisierung) oder, in gewissen Staaten, zusätzlich in Form von Parteipflicht geschieht. Zinsbelastete Gläubiger-Schuldner-Kontrakte zwischen Eigentü- mern, in dem Fall zwischen Staaten als Landeigentümer und Kreditei- gentümer, werden nach Keynes und Heinsohn/Steiger „niemals in einem aus Gütertauschprozessen entspringenden allgemeinen Tauschmitteln ausgedrückt und ebenso wenig in einem außerökonomisch gesetzten Geld“.²³⁰ Geld wird überhaupt erst durch jene Gläubiger-Schuldner-Kon- trakte zwischen Eigentümern geschaffen, sprich durch Kredite und Dar- lehns und den mit ihnen verbundenen Titeln, wie auch Zinsbelastungen. Demnach ist nach den oben genannten Autoren die Ur-Schuld des Staa- tes in Form seines Schuldtitels im Kontrakt überhaupt das Fundament des Kapitalismus. Was es hier aufzuzeigen gilt, ist die unübersehbare Pa- rallele, ja sogar Synchronizität zwischen der Ur-Akte des Staates in der Landnahme und der Ur-Schuld des Staates in der Kreditnahme, zwischen dem radical title des Krieges und dem radical title des Kapitalismus. Denn beides zugleich und niemals einzeln gilt als Fundament des Krieges und des Kapitals, wie auch als Integral der Kriegsökonomie. Die Organisation der Kriegsökonomie erfolgt in den Industriestaa- ten heute und in der Vergangenheit zunächst auf Basis der von Vertei- digungs- oder Kriegsministerien geschätzten Bedarfsmengen des Mili- tärs. Die Aufgabe der Finanzierung obliegt in der Regel den jeweiligen Notenbanken bzw. Staatsbanken. Die Staatsbanken sind dabei keine rein weisungsgebundenen Behörden der Kriegsministerien, sondern können auch steuernd eingreifen, Verhandlungen mit der Industrie führen oder sogar Projekte des Militärs bzw. der Regierung verhindern, sofern sie sich nicht als lukrativ genug für die Banken erweisen. Vor diesem Hinter- grund wird mehr als evident, dass die Institutionen des Staates mit den Institutionen der Banken identisch sind, da nur die Banken des Staates Kriegsökonomie regeln. Wenn man sich bewusst macht, dass in einem neo-leviathanischen Staatenverbund wie den USA der Präsident dieses ²³⁰ ebd., S. 440

Souveränität 195 C: Anomie I: Gesetzesterror

Verbunds das Souveränitätsprinzip beherrscht, so heißt das mit anderen Worten, dass dieser Souverän Repräsentant des Staates ist, aber vor al- 2 lem Komplize der Finanzmonopole. Der Ausnahmezustand ist deshalb ein terminus technicus zur Rege- lung der Kriegsökonomie. Als ursächlich für einen Gesetzesnotstand gilt hier die asymptotische Zinseszinsdynamik für den Schuldinhaber, gleich- zeitig dem Kontrakt- bzw. Krediteigentümer. Des Staates Eigentum, in dem Fall der Kredit, entwickelt sich zum Minuskontingent durch die Zin- seszinsbelastung, die auf dem Kontrakt liegt. Wenn ein Staat in diesem Fall einen nationalen Notstand aufgrund einer Gefahr im Verzuge anord- net, so bedeutet dies meist, dass sich damit die ultimative Entscheidung für eine schnellstmögliche Handlungsoption eines Staates, mitsamt Re- gierung und Militär, über die willkürliche Aufstellung von Notstandsge- setzen (Dezisionismus) und der totalen oder partiellen Suspendierung der bis dahin gültigen Rechtsordnung vollzieht. An dieser Stelle entsteht natürlich die Frage, wie und ob Börsen- crashs von langer Staatshand verursachte Emergencies sind (genauso wie ausgelagerte Kriegsereignisse oder Attentate), um eine Staatsschuld zu liquidieren, was in einem solchen Falle dem Insolvenzantrag einer Privat- person gleich käme. Um die Zinsuhr auf Null zu stellen, ist jeder Person, ob der Rechtsperson oder der Privatperson, der Ausnahmezustand, ein- gedenk der typischen Szenarien und Euphemismen, heilig.

6.7 Transfer (7): Emergency Empire – Zusammenfall von souveränem und territorialem, ökonomischem und se- curitärem Kriegsdiskurs im offensiven und verdeckten Gesetzesterror Wenn Ulrich Bröckling in seinem Essay „Am Ende der großen Kriegser- zählungen?“²³¹, in dem er sich im Wesentlichen auf die Ausführungen Mi- chel Foucaults²³² stützt, noch vom Zusammenfall des souveränen und re- volutionären Kriegsdiskurses im Totalisierungsdiskurs spricht, so kann heute, acht Jahre später, davon ausgegangen werden, dass sich in einer Ära der asymmetrischen Kriege und des low intensity war dieses Überla- gerungsphänomen um einige Dimensionen erweitert hat. Diese neuen Elemente des Kriegsdiskurses finden sich nunmehr vornehmlich im libe- ral-ökonomischen Kriegsdiskurs und im securitären Kriegsdiskurs. Seit am 2. Juli 2008 die durch die kolumbianische FARC als Gei- sel inhaftierte französisch-kolumbianische Politikerin Ingrid Betancourt frei gelassen wurde, häufen sich Hintergrundmeldungen in den Medien,

²³¹ Ulrich Bröckling, Am Ende die ein ‚abgekartetes Spiel’ zwischen Generälen, Politikern, Finanziers der großen Kriegserzählungen? und Mitgliedern humanitärer Organisationen um die Figur Betancourt Zur Genealogie der „humanitä- nicht nur vermuten lassen, sondern auch transparent machen. Ihre Frei- ren Intervention“, [Teil II], in: Newsletter, hg. v. Arbeitskreis lassung aus der sechsjährigen Geiselhaft wird schließlich mit Hilfe einer Militärgeschichte e. V., Nr. 12, trickreichen Inszenierung, der Operation „Schach“, durch die für Anti- Juli 2000 ²³² Michel Foucault, Vom Licht, terrorkampf und Geiselbefreiung zuständige Sondereinheit des kolumbi- ...a.a.O. anischen Militärs (AFEUR) möglich. Aufgrund einer dreifachen Tarnung

EMERGENCY EMPIRE 196 Transformation des Ausnahmezustands 6. Terror ist Ausnahme in ultima ratio

der Spezialeinheit, nämlich als Mitglieder der FARC-Truppen selbst, als Mitglieder des IKRK (Internationalen Roten Kreuz Komitees) wie auch als Journalisten des venezolanischen Fernsehsenders teleSUR und des ecuadorianischen Fernsehens Ecuavisa getarnt, konnte die Geisel erfolg- reich aus dem Lager des FARC-Führers Gerardo Aguilar Ramirez und da- mit aus dem Gefängnis der Rebellen befreit werden. Den eingeschleus- ten Agenten des kolumbianischen Sicherheitsdienstes war es gelungen, den Bewachern vorzutäuschen, die Geisel solle in ein anderes Lager ver- legt werden und eine fiktive internationale Menschenrechtsorganisati- on würde den Transport übernehmen. Eine weitaus schlüssigere Inter- pretation erfolgte einige Tage nach der „spektakulären Befreiung“ der Geisel durch den Schweizer Radiosender RSR, welcher berichtete, „dass Betancourt und die anderen Entführten durch die kolumbianische Re- gierung gegen eine Zahlung von 20 Millionen US-Dollar freigekauft worden seien und dass die Befreiungsaktion nur eine Inszenierung ge- wesen wäre. Die FARC griff diese Behauptung auf und beschuldigten die Bewacher Betancourts des Verrats und der Korruption. Die Regierun- gen Frankreichs und Kolumbiens dementierten dies jedoch. Auch Be- tancourt selbst glaubt nicht an diese Version. Das was sie erlebt habe, könne keine Inszenierung gewesen sein. Auch «César», der für die Be- wachung Betancourts zuständige FARC-Guerillero, leugnet, für die Be- freiung Geld erhalten zu haben.“²³³ Mit dieser Deutungsversion lichtet sich das Mysterium um die Ereignisse der „grünen“ Politikerin, die in ihrem Wahlkampf als Präsidentschaftskandidatin einerseits mit der Guerilla kooperierte und andererseits, kurz vor der Wahl selbst, von der Guerilla entführt wurde. Fragen, wieso Staatschefs einer Reihe von Nationen mit Nachdruck die Freilassung der Geisel moderieren, so u.a. die von Venezuela, Ecuador, Frankreich, Spanien, der Schweiz und USA; wieso die Geisel nach ihrer Freilassung in einem unvergleichlich rasan- ten Medien-Hype und einer medialen Ikonisierung²³⁴ protegiert wird und wieso schließlich die IKRK-Tarnung der Spezialeinheiten innerhalb der Befreiungs-Inszenierung als einschlägige Medienbotschaft vor jede andere Nachricht geschoben wird, bleiben zunächst offen. Die wirklichen Zusammenhänge, Akteure und Interessen bleiben im Verborgenen. Dass Betancourt als Geisel in den Brennpunkt von Ge- schäften und Korruptionen gerät, davon ist nirgendwo die Rede. Dieser Mediennebel wirft weitere, sehr konkrete Fragen auf: Was sind die Ursa- ²³³ Wikipedia, URL: http:// de.wikipedia.org/wiki/Ingrid_ chen der Entführung? In wessen Auftrag haben die FARC-Rebellen gear- Betancourt, Stand vom 24. Au- beitet? Was hatte Betancourt zu verbergen, wieso wurde sie gefährlich? gust 2008 ²³⁴ Am 14. Juli 2008 wurde Für wen wurde sie gefährlich? Wer wurde mit Betancourts Geiselnahme Ingrid Betancourt vom fran- erpresst? Wessen Informationen sind für wen erpressbar? Wie sah das zösischen Staatspräsidenten Geschäft aus, das hinter der Erpressung stand? Was waren die Bedingun- Nicolas Sarkozy zum Ritter der Ehrenlegion geschlagen; am gen für die Beendigung der Geiselhaft? Wieso setzt sich der französische 26. Oktober 2008 wird sie bei Präsident Sarkozy so nachdrücklich bei der Regierung Kolumbiens für den Women’s World Awards als „Women of the Year 2008“ die Freilassung des ‚Außenministers’ der FARC, Rodrigo Granda, ein? („Frau des Jahres 2008“) aus- Wieso ist es ebenfalls Sarkozy, der Betancourt nach ihrer Befreiung mit gezeichnet.

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dem Titel eines Ritters der Ehrenlegion ehrt? Wieso wurde durch die Me- dien weitestgehend verschwiegen, dass die Erpressung weiterer Informa- 2 tionen und Akteure mit 20 Millionen US-Dollar befriedet wurde? Es gibt in der Geschichte keine Geiselnahme, hinter der nicht auch ein großes politisches Geschäft steht. Wie den veröffentlichten Recherchen zu entnehmen ist, hat Betan- court selbst ein internationales Drogengeschäft auf Staatsebene aufge- deckt, in das u.a. der damalige kolumbianische Präsident Ernesto Sam- per erheblich verwickelt war. „Vom 20. Juli 1994 bis zum 20. Juli 1998 war sie Abgeordnete im Repräsentantenhaus. Sie deckte auf, dass der damalige Präsident Ernesto Samper seinen Wahlkampf mit Drogengel- dern des Cali-Kartells finanziert hatte. Mit einem Hungerstreik verlieh sie ihrer Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung in diesem Fall Nachdruck. Nach einer mehrstündigen Rede im Parlament im Juni 1996 fand Ingrid Betancourt in ihrer Post das Foto einer zerstückelten Kinderleiche. Nur wenige Wochen später wurde ihr Wagen in einen Hin- terhalt gelockt, und jemand versuchte, auf sie zu schießen. Aufgrund von Todesdrohungen gegen sie und ihre Familie brachte sie ihre beiden Kin- der 1996 ins Ausland.“²³⁵ Dennoch gelang es ihr nicht, sich nachhaltig in Sicherheit zu bringen. Die Betancourt-Affäre wirft ein Licht auf die diplomatischen Bezie- hungen zwischen Kolumbien, Ecuador, Venezuela und auch verstärkt auf Frankreich und die Schweiz, deren Bindeglied ganz offenbar die FARC- Geschäfte sind. Wenn es sich um eine Offenlegung des gigantischen Ca- li-Kartells handelt, dann ist hierbei nicht nur der ehemalige kolumbia- nische Präsident an den Pranger gestellt, sondern auch die FARC selbst, die das Unternehmen entscheidend mit betreibt. Darüber hinaus werden auch andere Akteure und Netze des Kartells Gefahr laufen, an die Me- dienoberfläche zu geraten. Die Informationen über Personen und Net- ze, die bis in die internationalen Regierungsbereiche hinein unterhal- ten werden, liegen ganz offenbar bei der FARC und bei Frau Betancourt. Die FARC beschließt die Geiselnahme von Frau Betancourt, die so lange dauern wird, bis der Plan der FARC aufgeht: Freilassung der inhaftierten Mitglieder der Rebellenorganisation und Schutzgelder. Bezahlt werden muss jedoch nicht nur die Guerilla als Informations- und Datenträger, sondern eben auch Frau Betancourt als Medium der Guerilla, nunmehr als Medium der Medien. Beides ist auf Staatenebene geschehen. ²³⁵ Wikipedia, URL: http:// Skandale dieser Art, dass Regierungsmitglieder an Drogen- und de.wikipedia.org/wiki/Ingrid_ Waffengeschäften sowie mit Staatsgeldern an Investitionen jeder Art in Betancourt, Stand vom 24. Au- gust 2008 getarnte Guerilla-, Rebellen- und Terrorismuseinheiten zum Zweck des ²³⁶ Hat die Bundesregierung von Aufbaus ausgelagerter Privatarmeen und securitärer Spezialeinheiten der Ausbildung libyscher Sicher- beteiligt sind, werden seit Ende des Zweiten Weltkrieges, wie bei der Wa- heitskräfte durch eine Privatfir- ma unter Beteiligung deutscher tergate-Affäre, gefolgt von der Irongate-Affäre, als Low Intensity Conflicts Polizisten und Soldaten etwas immer präsenter. Die Betancourt-Affäre ist, ebenso wie die Libyen-Affä- gewusst?, in: Der Tagesspiegel vom 7. April 2008, Nr. 19867, re²³⁶ im Sommer 2006, eines der jüngsten Beispiele in der Geschichte der S. 4 internationalen Politik, die den Zusammenfall von souveränem und ter-

EMERGENCY EMPIRE 198 Transformation des Ausnahmezustands 6. Terror ist Ausnahme in ultima ratio

ritorialem, ökonomischem und securitärem Kriegsdiskurs im offensiven und verdeckten Gesetzesterror bestätigen. In den Zeiten des postmodernen Krieges, der asymmetrischen Kriegsführung, der Entnationalisierung, Enthegung und Entlegitimie- rung des Feindes erscheinen Kriegsdesigns in flotierender und wechseln- der Ordnung, als nicht kombattante, variable, austauschbare, verdeckte oder kopierte Insignien des demokratischen und neoliberalen internatio- nalen Verkehrs. Verfügbar für die freie Bedienung, sei es durch Raub oder ersteigerte Lizenzen, falls „Demokratien“in Not geraten und herausgefor- dert sind. In allen erdenklichen Spielarten des offensiven oder verdeck- ten Gesetzesterrors sichern sie ihr Image. Dies geschieht in Formen der „demokratischen Sicherheit“, die wie in Kolumbien Low Intensity Conflicts genannt werden, als Kämpfe bzw. Geschäfte zwischen Konservativen und Liberalen, linker Guerilla und dem Militär, Geheimdiensten, Spezialein- heiten und Paramilitärs sowie Privatunternehmern. Oder in der Form ei- nes „militärischen Humanismus“²³⁷, wie ihn Ulrich Beck nennt, in dem humanitäre und demokratische Interventionen im offensiven und ver- deckten Mediennebel für eine Vermischung von Bürgerkriegsökonomien mit Friedensökonomien und somit für einen Zusammenfall von souve- ränem und territorialem, ökonomischem und securitärem Kriegsdiskurs sorgen. „In einer Zeit, in der selbst hierzulande Staats- und Sicherheits- aufgaben bis hin zum Justizvollzug an Private verkauft werden, sind mo- ralische Bedenken schnell neutralisiert.“²³⁸

²³⁷ Ulrich Beck, Die feindlose De- mokratie. Ausgewählte Aufsätze, Stuttgart: Reclam 1995 ²³⁸ Jost Müller-Neuhof, Wissen als Waffe. Der Fall Libyen zeigt: Gewalt darf kein Exportartikel werden, in: Der Tagesspiegel vom 7. April 2008, Nr. 19867

Souveränität 199 C: Anomie I: Gesetzesterror

7. Gouvernementalität und Kriminalität 2 7.1 Die Auflösung der Regierung

„Worin besteht schließlich der Zweck, vom Liberalismus, von den Physiokraten, von d’Argenson, Adam Smith, Bentham, den englischen Utilitaristen zu sprechen, wenn nicht darin, dass dieses Problem des Liberalismus sich natürlich heute in unse- rer unmittelbaren und konkreten Gegen- wart stellt.“²³⁹ Michel Foucault

Als im Jahr 1690 John Lockes staatsphilosophisches Werk „Über die Re- gierung“ erschien, enthielt es einem Abschnitt, welcher der Auflösung ei- ner solchen gewidmet ist. In Die Auflösung der Regierung²⁴⁰ schafft Locke bereits in der Frühen Neuzeit die Grundlagen für einen Freiheitsbegriff, der auf einer Ausarbeitung von Eigentumsrechten basiert. Mit dieser Schrift wurde Locke zu einem wichtigen Begründer des Liberalismus. Das Problem der Regierung und ihrer Auflösung betrachtet Michel Foucault wiederum unter dem Gesichtspunkt einer „Geschichte der Gouver- nementalität“.²⁴¹ Hierbei lässt sich Foucaults transformatorischer Akt im Definitionsfeld von Staat, Gesellschaft und Regierungstechniken weitestge- hend in dem von ihm analysierten und formulierten Phänomen der Gouver- nementalität festschreiben. Obzwar der Begriff der Gouvernementalität be- reits vor Foucaults Forschungsprogramm existierte, haben zweifellos seine Ausarbeitungen im Rahmen der Vorlesungen am Collège de France diesen Begriff nachhaltig geprägt. Die heutige Verwendung des Konzepts der Gou- vernementalität in Politikwissenschaft, Kulturanthropologie und Soziologie bezieht sich eindeutig auf den Teorieentwurf von Foucault und hat sich mittlerweile in den governmentality studies fortgesetzt und etabliert. Foucault hat innerhalb seines Forschungsprogramm der Gouverne- mentalität im Wesentlichen das Problem des Regierens untersucht und in diesem Zusammenhang insbesondere drei Formen von Regierung analy- ²³⁹ Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II, S. 43 siert: die Staatsräson, die «Policey» und den Liberalismus. Als Bindeglied ²⁴⁰ John Locke, Über die Regie- dieser Untersuchung definiert Foucault die Verknüpfung der gouverne- rung, ...a.a.O. mentalen Vernunft mit der politischen Ökonomie. „Die politische Ökono- ²⁴¹ Michel Foucault, Geschichte I, Sicherheit, Territorium, Be- mie ist, glaube ich, im Grunde das, was die Selbstbegrenzung der gou- völkerung, Frankfurt am Main: vernementalen Vernunft zu sichern ermöglicht hat.“²⁴² In der weiteren Suhrkamp 2006, S. 162 ²⁴² Michel Foucault, Geschichte Erklärung dieser Verknüpfung interpretiert Foucault die politische Öko- der Gouvernementalität II, S. 30 nomie sogar als Kerninstanz und Zentrum der gouvernementalen Ver-

EMERGENCY EMPIRE 200 Transformation des Ausnahmezustands 7. Gouvernementalität und Kriminalität

nunft, da nur sie in der Lage zu sein scheint, die Ziele der Staatsräson zu übernehmen, „die der Polizeistaat, der Merkantilismus und das europä- ische Gleichgewicht zu verwirklichen gesucht hatten“²⁴³. Die Tragweite dieses Impakts aus gouvernementaler Vernunft und politischer Ökono- mie wird an anderer Stelle deutlich, wenn Foucault wiederum Ziele und Aufgaben des Merkantilismus und des Polizeistaates benennt: „Das Ziel- objekt des Merkantilismus ist die Macht des Souveräns, und was sind die Instrumente, die sich der Merkantilismus gibt? Es sind Gesetze, Erlasse, Verordnungen, das heißt die traditionellen Waffen der Souveränität.“²⁴⁴ Weiter heißt es bei ihm: „Der Polizeistaat ist im Grunde eine Regierung, die sich mit der Verwaltung vermischt, eine Regierung, die völlig admi- nistrativ ist, und eine Verwaltung, die das gesamte Gewicht einer Gou- vernementalität für und hinter sich hat.“²⁴⁵ Wenn also die politische Ökonomie in der Lage ist, das Programm der gouvernementalen Vernunft zu sein und die Ziele der Staatsräson und des Polizeistaates zu übernehmen, dann übernimmt mit anderen Worten die „Freiheit des Marktes“²⁴⁶ die Aufgaben der Gewalt und des öffentli- chen Rechts. Die Einschreibung der politischen Ökonomie in die gouver- nementale Vernunft bringt ein Regierungshandeln hervor, wie es Foucault nennt, das die Regierung verdrängt. „Die politische Ökonomie denkt über Regierungspraktiken nach, und sie befragt diese Praktiken nicht auf ihr Recht, um festzustellen, ob sie legitim sind oder nicht“²⁴⁷; sie befragt die Regierungspraktiken ausschließlich nach ihrem Erfolg mit der Konse- quenz, dass „die Grenzen der Regierungskompetenz durch die Grenzen der Nützlichkeit einer Regierungsintervention bestimmt werden.“²⁴⁸ Die Orte und „Ankerpunkte der neuen gouvernementalen Vernunft“²⁴⁹, durch die politische Ökonomie gesteuert, sind nunmehr zweifach verifiziert. Der eine Ort, an dem sich Nützlichkeit durch Tausch messen kann, ist also nicht mehr die Regierung, sondern der Markt. Der andere, an dem sich Nützlichkeit durch das Ausmaß an Interventionen, an Eingriffen messen kann, ist ebenfalls nicht mehr die Regierung, sondern die öffentliche Ge- walt. Die Gouvernementalität setzt sich nach Foucaults Entwurf somit aus zwei Axiomen zusammen, aus der Wissensform der politischen Ökonomie (gouvernementale Vernunft, Markt) und aus dem technischen Instru- ment der Sicherheitsdispositive (öffentliche Gewalt). Dadurch ergibt sich die Situation, dass „Regierung“ radikal mit der Grundfrage des Liberalis- mus konfrontiert wird. Die Frage lautet dabei: „Was ist der Nutzwert der Regierung und aller Regierungshandlungen in einer Gesellschaft, in dem der Tausch den wahren Wert der Dinge bestimmt?“²⁵⁰, was schließlich zu ²⁴³ ebd., S. 31 ²⁴⁴ Michel Foucault, Geschichte dem Grundsatz des Liberalismus führt, nämlich dass der Liberalismus die I, Sicherheit, Territorium, Bevöl- Grundfrage der Regierung stellt und entscheidet. kerung, S. 154 Die Auflösung der Regierung schließlich, wie sie schon von John ²⁴⁵ Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II, S. 62 Locke als Programm der Emanzipation vom Tyrannentum, Privilegien- ²⁴⁶ ebd., S. 64 missbrauch und von der Staatskorruption vorgeschlagen wurde, basiert ²⁴⁷ ebd., S. 32 ²⁴⁸ ebd., S.67 auf einem von ihm so formulierten Individualwiderstandsrecht zur Ver- ²⁴⁹ ebd., S.72 teidigung von Freiheit und Eigentum, dem naturgegebenen inhärenten ²⁵⁰ ebd., S. 76

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Recht auf Gegenwehr. In Folge der Liberalisierung und Ökonomisierung der Regierung und des Staates vermischt sich das von Locke deklarierte 2 Individualwiderstandsrecht mit einer Verteidigung des Individualrechts am Eigentum, also mit einer Verteidigung des Eigentums- und Privat- eigentumsrechts. „Dass man Untertanen oder Fremden, wenn sie sich mit Gewalt an dem Eigentum eines Volkes vergreifen, mit Gewalt Wi- derstand leisten darf, wird allgemein anerkannt.“²⁵¹ Die Ambivalenz der Locke’schen Paragrafen zum Widerstandsrecht, zum inherent right auf Individualwiderstand, impliziert einerseits eine Causa zur Verteidigung der Menschenrechte – und wie der italienische Rechtsphilosoph Noberto Bobbio hervorhob, sei Locke die wichtigste Quelle für die ersten Gesetz- geber, die sich an Menschenrechten orientierten – und impliziert anderer- seits eine Causa zur Verteidigung der Privateigentumsrechte. „Wer immer Gewalt ohne Recht gebraucht – wie es jeder in der Gesellschaft tut, wenn er sie ohne das Gesetz gebraucht –, versetzt sich denjenigen gegenüber, gegen die er sie gebraucht, in den Kriegszustand [resp. Ausnahmezustand]. In diesem Zustand aber sind alle früheren Verpflichtungen gelöst, alle an- deren Rechte habe ein Ende, und jeder hat das Recht, sich selbst zu vertei- digen und dem Angreifenden [kriegerisch] Widerstand zu leisten.“²⁵² Hier liefert Locke die Legitimität für die kriegerische Verteidigung von Eigentum auf der Grundlage eines Individualwiderstandsrechtes. Wenn die Gouvernementalität nunmehr ein Dispositiv ist, welches sämt- liche Belange von Staat und Regierung liberalisiert und ökonomisiert, das heißt auf eigentumsrechtlicher Ebene verwaltet und vermarktet, so erlaubt diese Legitimität dem Individuum den Gegenkrieg bei Angriff auf sein Eigentum. Wenn also nunmehr (privatisierte) Staaten sich auf ihr inherent right des Individualwiderstandsrechts berufen, weil sie aufgrund von Angriffen auf ihr Privateigentum in einen Ausnahmezustands gera- ten sind, wie dies z.B. in den USA mit den Angriffen auf WTC I, II und VII sowie auf das Pentagon der Fall war, so beruft sich der Staat mit sei- nem Gegenangriff, dem weltweiten Antiterrorkrieg, im Grunde genom- men auf die Grundlagen der liberalen Demokratie, die in John Lockes Regierungsabhandlungen ihren Ausgang nehmen. Die Schere, die sich in Entwürfen von Locke öffnet, jene zwischen genuinen, unveräußerlichen Menschenrechten und liberalen Eigentumsrechten, ist nicht zu schließen und führt in den Interpretationen und Auslegungen zu gewollten und ungewollten Missverständnissen. Wenn die Verteidigung des „Verlustes der Freiheit“²⁵³, des Eigentums, im inherent right durch kriegerischen Widerstand legitimiert ist, denn„ [w]er Widerstand leisten darf, muss deshalb auch schlagen dürfen.“²⁵⁴, so gelangt man schnell an einen Punkt, die Ursachen für den Freiheitsverlust, d.h. den Angriff auf die Freiheit, selbst zu inszenieren. Damit steht jedem ²⁵¹ John Locke, Die Auflösung Gegenangriff Tür und Tor offen, da er schließlich legitim ist und im inher- der Regierung, S. 174 ent right sich auf Widerstand und Selbstverteidigung gründet. ²⁵² ebd. ²⁵³ ebd., S. 183 ²⁵⁴ ebd., S. 179

EMERGENCY EMPIRE 202 Transformation des Ausnahmezustands 7. Gouvernementalität und Kriminalität

7.2 Freiheit und Kapitalismus: Die Gewaltmandate der Unternehmen

„[ ] und Diktatur ist ebensowenig der ent- scheidende Gegensatz zu Demokratie wie Demokratie der zu Diktatur.“²⁵⁵ Carl Schmitt

7.2.1 Die Wirtschafts-Performance der Schock-Strategie Als ab Mitte der 1980er Jahre der Nobelpreisträger für Wirtschaftswis- senschaften, Milton Friedman, aufgrund erster kritischer Berichte sei- ne leitende Funktion im „Chicago-Boys“- Club und dessen Rolle bei dem „Wunder von Chile“, jenem berühmten Wirtschafts-Experiment zur Eta- ²⁵⁵ Carl Schmitt, Demokratie blierung des Neoliberalismus während der Amtszeit Pinochets bekannt und Parlamentarismus, in: Die wurden, gerät seine wissenschaftliche Reputation, quasi als Diktatoren- geistesgeschichtliche Lage des Ökonom zu arbeiten, mancherorts in Verruf. Dennoch fand seine Wirt- heutigen Parlamentarismus, [2. Aufl.], München: Duncker & schafts-Performance der Schocktherapie gerade in dieser Zeit weltweit Humblot 1926, S. 41 Bewunderer und Anhänger. Sein Ruf überstand diesen Imageschaden ge- ²⁵⁶ Der IWF, Internationaler Währungsfonds, engl. IMF, In- nauso wie das Scheiten des Pilotprojektes in Chile zwischen 1975 und ternational Monetary Fund, ist 1982. Das chilenische Wirtschaftswunder war nicht, wie geplant, von eine Sonderorganisation der langer Dauer – die Visionen des chilenischen Experimentes und der „Chi- Vereinten Nationen. Er ist eine Schwesterorganisation der cago-Boys“ scheiterten 1982. Umso erstaunlicher ist, dass bis heute von Weltbank-Gruppe und hat sei- der Erfolgstory der „Chicago-Boys“ und ihrer Schocktherapie in den Busi- nen Sitz in Washington D. C., USA. Vgl. Wikipedia: http:// ness-Medien gesprochen wird. de.wikipedia.org/wiki/Inter- nationaler_Währungsfonds, Stand vom 23. Juli 2008 Die Erfolgsstory der Chicago-Boys in Chile: ²⁵⁷ Die Synchronizität mit den Das Experiment der „Chicago-Boys“ in Chile ist im Grunde genommen aktuellen Ereignissen, den An- das Pilotprojekt der Emergency-Corporations, jener Hybridunternehmen griffen auf das WTC I, II und VII, sowie das Pentagon, dem aus Wirtschaft, Regierung und Sicherheit, die weltweit für die Entstehung quasi ebenfalls ein Putsch folg- neuer gewaltiger Märkte sorgen. Das „Wunder von Chile“, von Friedmans te, nämlich der weltweite An- titerrorkrieg, ebenfalls am 11. chilenischen Schülern durchgeführt und von einer zu der Zeit totalitärs- September, wird hier evident. ten Armeen der Welt, der Militärjunta unter der Führung des Armeege- Ebenso markant erscheinen nerals Augusto Pinochet, sowie der CIA abgesichert, wurde zudem von Vergleiche zum Deutschland des Jahres 1933, dem Amtsan- dem IWF²⁵⁶ (Internationaler Währungsfonds) mit einem Darlehen in ei- tritt Hitlers, der zu der Verhaf- ner Höhe von mindestens 300 Millionen US-Dollar subventioniert. Chile tung des Vorsitzenden der DKP, Ernst Tälmann, führte, sowie bot diesem Pilotprojekt die idealen politischen Vorraussetzungen, denn zu einer Welle von Verschlep- es zählte zum einen zu den Drittweltländern und befand sich zum ande- pungen, Verhaftungen und Hinrichtungen von Anhängern ren im Ausnahmezustand. Der Militärputsch, welcher am 11. September der DKP. Auch in Deutschland 1973 mit dem Sturz Salvador Allendes durch die chilenischen Militärs folgte dem Terror ein Wirt- und der CIA eröffnet wurde, mündete in eine Welle von Verschleppun- schaftswunder der Kriegsöko- nomie. Neue Arbeitsplätze gen, Verhaftungen und Hinrichtungen von Anhängern der kommunisti- durch Straßenbau und Rüs- schen Partei Unidat Popular, sowie in die Herrschaftsperiode des Terror- tungsindustrie führten zu einer Konjunktur der Wirtschaft und regimes Pinochets.²⁵⁷ zu einer deutlichen Verbesse- rung des Lebensstandards.

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Das „Wunder von Chile“ ging als Pilotprojekt in die postmoderne Geschichte der politischen Ökonomie ein. Als Prototyp einer Unterneh- 2 mung aus Regierung, Militär, Sicherheit, Finanzmarkt und neuer ökono- mischer Teorie (Friedman, University of Chicago) wurde es mit den Mit- teln des Terrors und der Korruption der Gewalten des Staates inszeniert und unter die Kontrolle von Privatiers in Form einer Emergency-Corpo- ration par excellence gebracht. Diese Korporation setzte sich aus dem Pi- nochet-Regime, den „Chicago-Boys“, dem CIA und dem IWF zusammen- setzten. Das „Wunder von Chile“ war eine neoliberale Schocktherapie, die ihre Performance im Windschatten der UNO (IWF), der Reagan-Admi- nistration und des Ausnahmezustands erfolgreich realisieren konnte. Die stolzen, glücklichen Jahre zwischen 1977 und 1982 wurden zum prokla- mierten Entwicklungsmodell für die Dritte Welt. Der Begriff der „Schock-Terapie“ prägte der US-amerikanische Ökonom Jeffrey Sachs und bezeichnet einen Typ von Wirtschaftsperfor- mance. Neoliberale Quick Reformen, wie sie in Chile stattfanden, haben das Ziel, in kürzester Zeit ein Wirtschaftswunder mit den Mitteln von Schock-Terapien herzustellen. Solche Reformen treten seit dem Ende des zweiten Weltkrieges u.a. in West-Deutschland in Erscheinung. Als Begriff der Ökonomie bezieht sich der Terminus Schock-Terapie auf die plötzli- che Freisetzung von Preis- und Währungskontrollen, Entzug staatlicher Subventionen und auf eine sofortige Liberalisierung des Handels inner- halb eines Landes. In der Regel vollzieht sich dabei auch eine groß ange- legte Privatisierung von Mandaten wie z.B. der Sicherheit und Polizei, die sich zuvor noch im Besitz der öffentlichen Gewalt befanden. In ei- ner perfiden Allianz aus Regierung, Finanzmarkt, Wirtschaft, Terror und Privatmandaten für Sicherheit und Öffentlichkeit konnten, wie im Fall Chiles, die Ökonomen von der Diktatur Pinochets profitieren, wie auch Pinochets Regimepolitik von der Schock-Strategie der Ökonomen. Beides verhalf sich gegenseitig zu Legalität und Legitimität. In ihrem aktuellen Buch „Te Shock-Doctrine. Te Rise of Disaster Capitalism“²⁵⁸ bestätigt die Globalisierungsgegnerin Naomi Klein diese kritische Gleichung, nach der ein psychologischer Schock in der Zivilbevölkerung, ausgelöst durch mili- tärische Interventionen, Naturkatastrophen oder Medienhysterien, die sich damit de facto im Ausnahmezustand befindet, die beste Vorrausset- zung für die Durchführung einer ökonomischen Schock-Terapie bietet. Nachahmer der einstigen „Chicago Boys“ agieren mittlerweile welt- weit und reproduzieren das Modell der Schock-Terapie, der Quick-Reform, in politischen Krisengebieten wie derzeit im Irak. Die weltweite Verbrei- tung des Modells der Schock-Strategie, als Kombination von militärischen und ökonomischen Interventionen, belegt Klein kritisch mit zahlreichen Fallbeispielen.

²⁵⁸ Naomi Klein, Te Shock-Doc- trine. Te Rise of Disaster Capi- talism, New York: Metropolitan Books 2007

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7.2.2 Die Mission des Liberalismus Als im Jahr 1962 das Buch „Kapitalismus und Freiheit“²⁵⁹ von Milton Friedman den Markt eroberte, war damit ein Höhepunkt und Durchbruch in der Entwicklungsgeschichte des Neoliberalismus erreicht. Die Te- orie des Nobelpreisträgers und Adepten der Chicagoer Schule um Frank Knight²⁶⁰ begründete das Programm für einen Post-War-Neoliberalismus, respektive für einen Cold-War-Neoliberalismus, mit dem Ziel der Realisie- rung des Liberalismus in seiner kompromisslosen Form einer „wahrhaft freien Marktwirtschaft“²⁶¹ und einer radikalen Wirtschaftsglobalisierung. Freiheit und Demokratisierung also sind spätestens seit Friedman in en- ger Verbindung mit den Programmen „Privatisierung, Deregulierung und Einschnitte bei den Sozialausgaben – der Dreifaltigkeit des freien Mark- tes“²⁶² populär geworden. Die Geschichte des Liberalismus nimmt seinen Ausgang von John ²⁵⁹ Milton Friedman, Kapitalis- Lockes²⁶³ Entwurf über „Die Auflösung der Regierung“²⁶⁴ und entwickelt mus und Freiheit, München und Zürich: Piper 2007 sich über die Stationen des Merkantilismus (Adam Smith²⁶⁵) und des Uti- ²⁶⁰ Frank Knight (1885 – 1972), litarismus (Jeremy Bentham²⁶⁶, John Stuart Mill²⁶⁷) zum Neoliberalis- Hauptwerk u.a., Risk, Uncer- mus mit seinen Zwischenformen des Monetarismus als Gegenstück zum tainty and Profit (1921) ²⁶¹ Wolfgang Köhler, Die Missi- Keynesianismus. In der Folge der Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle on des Liberalismus, [Aufsatz], der großen Ökonomen des British Empire seit Locke ist es der Ökonom in: Die Zeit vom 7. August 2008, S. 74 und Politiker John Maynard Keynes²⁶⁸, der die britische Tradition der po- ²⁶² Wolfgang Köhler, Die Missi- litischen Ökonomie in das 20. Jahrhundert überführt. on des Liberalismus, S. 74 Mit dem Erscheinen von „Te Good Society“ (1937) gab der Jour- ²⁶³ John Locke (1631 – 1704), Hauptwerk u.a. Über die Re- nalist Walter Lippmann²⁶⁹ eine amerikanische Antwort auf die Fragen des gierung Liberalismus. Die Schrift enthielt im Wesentlichen eine scharfe Kritik an ²⁶⁴ John Locke, Die Auflösung der Regierung, ...a.a.O. Sozialismus, Nationalsozialismus und Faschismus als kollektivistische ²⁶⁵ Adam Smith (1723 – 1790), Ideologien, erscheint als Kritik am Kollektivismus schlechthin, aber auch Hauptwerk u.a. An Inquiry into the Nature and Causes of the an den als „New Deal“²⁷⁰ bezeichneten Wirtschafts- und Sozialreformen Wealth of Nations, (1776) in den Vereinigten Staaten. Lippmans Impulse wurden in Europa vor al- ²⁶⁶ Jeremy Bentham (1748 – lem in Frankreich aufgenommen, wo eine Interessengemeinschaft 1938 1832), Hauptwerk u.a. An Int- roduction to Principles of Morals das «Colloque Walter Lippmann» organisierte, „um seine Hauptthese zum and Legislation, (1781) Niedergang des Liberalismus und den Bedingungen seiner Erneuerung ²⁶⁷ John Stuart Mill (1806 – 1873), Hauptwerk u.a. Princip- zu diskutieren.»“²⁷¹ „Auf der Grundlage von Lippmanns Buch beraten die les of Political Economy (1848) Teilnehmer des Kolloquiums über Chancen und Bedingungen einer libe- ²⁶⁸ John Maynard Keynes ralen Renaissance, über Märkte und Krisen, den liberalen Staat und eine (1883 – 1946), Hauptwerk u.a. Te General Teory of Em- Agenda des Liberalismus. Und sie diskutieren über einen neuen Begriff ployment, Interest and Money für ihre geplante Bewegung, der sie als Liberale ausweist, gleichwohl aber (1936), [dt.: Allgemeine Te- orie der Beschäftigung, des vom verrufenen Liberalismus des 19. Jahrhunderts abgrenzt. Man dis- Zinses und des Geldes], Berlin: kutiert eine Reihe von Alternativen, darunter «Neo-Kapitalismus» oder Duncker & Humblot 2000 ²⁶⁹ Walter Lippmann (1889 – «konstruktiver Liberalismus». Am Ende aber einigt man sich auf «Neo- 1974), Hauptwerk u.a. Te Good liberalismus».“²⁷² Dieses Treffen von 1938 gilt als die historische Stun- Society (1937) de des Neoliberalismus. Von dieser Plattform aus wird der Begriff eine ²⁷⁰ ...von Franklin Roosevelt 1933 eingeführte Wirtschafts- weltumspannende Karriere machen. An die Führungsspitze weltweiter und Sozialreformen in den Verbreitung des Neoliberalismus ging eine Gruppe von Männern, ihrer USA. ²⁷¹ Wolfgang Köhler, Die Missi- Herkunft nach aus Deutschland, Österreich, Schweiz, den USA und Groß- on des Liberalismus, S. 74 britannien. In Deutschland war es der Freiburger Kreis der Ordolibera- ²⁷² ebd.

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len um Walter Eucken²⁷³ mit Wilhelm Röpke²⁷⁴ und Alexander Rüstow²⁷⁵, in Österreich wurden zu Vordenkern der sozialen Markwirtschaft Fried- 2 rich August von Hayek²⁷⁶, Ludwig von Mises²⁷⁷ und Fritz Machlup²⁷⁸, in Großbritannien agierte federführend John Maynard Keynes, in den USA Milton Friedman. Dieser Zirkel manifestiert die theoretische und politi- sche Grundlage für eine nachhaltige Liberalisierung und Deregulierung der Weltwirtschaft – und damit für die Globalisierung. Doch zeigen sich bereits schon in Paris konträre Positionen. „Bei den elementaren Grundlagen einer neoliberalen Gesellschaft sind sich die Teil- nehmer des «Colloque Walter Lippmann» zwar noch einig: Privates Eigen- tum an den Produktionsmitteln und Vertragsfreiheit für Unternehmen gelten ihnen als wesentliche Elemente einer funktionierenden Marktwirt- schaft. [...] Kontrovers aber wird die Rolle des Staates diskutiert.“²⁷⁹ Von da an gehen die Tendenzen in den Auseinandersetzung radikaler in Rich- tung einer Liberalisierung, d.h. Deregulierung des Staates. Eine Tendenz, die seit den 1960er Jahren sukzessive auch die Privatisierung des Staates und die damit einhergehende Ökonomisierung sämtlicher Lebensberei- che einleitet. Die Mission der liberalen Marktwirtschaft gelingt schließ- lich mit der „marktradikalen Fraktion des Neoliberalismus“²⁸⁰. „Die Ver- gabe des Nobelpreises an Hayek 1974 und zwei Jahre später an Friedman leitet den Richtungswechsel in den Wirtschaftswissenschaften ein.“²⁸¹ Der modernste Vertreter in der Kette der Väter und Erneuerer der libe- ralen Marktwirtschaft, Friedman²⁸², erschafft schließlich das Wunder von Chile. Mit diesem Modell gelingt ein Quantensprung in der Geschichte des Neoliberalismus, nämlich die Kompatibilität von freier Marktwirtschaft ²⁷³ Walter Eucken (1891 – 1950) Hauptwerk u.a. Die mit den Gewaltmandaten des Staates herzustellen. Dies stellt ein Modell Grundlagen der Nationalökono- dar, das schließlich in den Prozessen der Entstehung der Europäischen mie, (1939) ²⁷⁴ Wilhelm Röpke (1899 – Union und des Antiterrorkriegs mit den Akteuren der neuen Regierungs- 1966) Hauptwerk u.a. Die Lehre hybride kollabierter Staaten mannigfaltige und vor allem eine unüberseh- von der Wirtschaft, (1937) bare Zahl von Abnehmern und Anwendern zugleich findet. ²⁷⁵ Alexander Rüstow (1885 – 1963), Hauptwerk u.a. Das Ver- Das Modell, in dem Freiheit und Demokratie mit der Freiheit des Ein- sagen des Wirtschaftsliberalis- zelnen und einer auf Konkurrenz, Wettbewerb und Biopolitik konzentrier- mus, Marburg: Metropolis 2001 ²⁷⁶ Friedrich August von Hayek ten Ordnung von privaten Macht-, Gewalt- und Herrschaftsansprüchen (1899 – 1992), Hauptwerk u.a. gleichgesetzt wird, hat als Status quo der Weltdemokratie die Gegenwart ein- Te Road to Serfdom (1944), [dt. geholt und wird auch in Zukunft in allen Zonen beyond the line allgegenwär- Ausgabe: Der Weg zur Knecht- schaft. München: Olzog 2003 tig bleiben. Denn die wirtschaftliche Freiheit, die Friedman in „Kapitalismus ²⁷⁷ Ludwig von Mises (1881 – und Freiheit“ dem Einzelnen verspricht, ist auch immer eine politische Frei- 1973) Hauptwerk u.a. Die Ge- meinwirtschaft, (1922) heit. Nur in dieser Gleichung liegt für ein populäres Verständnis die Attrak- ²⁷⁸ Fritz Machlup (1902 – tivität von Freiheit. Regierungshandeln, wie Foucault es nennt, wird priva- 1983) Hauptwerk u.a. Te Production and Distribution of tes Handeln im Aktions- und Gewaltraum privater Macht. Knowledge in the United States, Die neoliberale Bruderschaft von 1938 nahm auf Veranlassung von (1962) Friedrich August von Hayek seit 1947 ihren ständigen Sitz in der Mont ²⁷⁹ Wolfgang Köhler, Die Missi- on des Liberalismus, S. 74 Pelérin Society (MPS) in der Schweiz. Die auch heute vor der Öffentlich- ²⁸⁰ ebd. keit diskret abgeschirmte Institution gilt mit nunmehr über fünfhundert ²⁸¹ ebd. ²⁸² Milton Fridman (1912 – Mitgliedern als Denkfabrik (Tink Tank) und Netzwerk des aktiven, welt- 2006) weit operierenden Neoliberalismus.

EMERGENCY EMPIRE 206 Transformation des Ausnahmezustands 7. Gouvernementalität und Kriminalität

7.2.3 Das Management-Paradigma Der Begriff des Managements bedeutet Führung, Lenkung und Entwick- lung zweckorientierter sozialer Systeme und besitzt zweifelsohne einen liberal-marktwirtschaftlichen Background. In eindeutiger Konnotation bezieht sich der Begriff darüber hinaus auch auf die Führung, Lenkung und Entwicklung von Märkten. Die Unterscheidungen innerhalb der Ma- nagementprofile sind vielfältig und reichen von Assessment Manage- ment über Key-Account– bis zum Quality Management. Allesamt orien- tieren sie auf Tätigkeiten in Märkten, Mikro- oder Makromärkten, und sorgen für deren Entstehung und Optimierung. In der Ökonomie sind zweckorientierte soziale Systeme Märkte, die, wie andere soziale Syste- me auch, Risiken und Nebenwirkungen unterliegen. Was erfolgreich im Management von Marktführung und Markoptimierung praktiziert wird, Risiko-, oder Krisenmanagement beispielsweise, wird in Zeiten der Öko- nomisierung sämtlicher Lebensbereiche auf die Gesellschaft übertragen. Der Soziologe Ulrich Bröckling stellt in seinem Aufsatz „Totale Mobilma- chung. Menschenführung im Qualitäts- und Selbstmanagement“ fest, dass nunmehr „von einem Regime des Managements die Rede“²⁸³ sein sollte, quasi von einer Diktatur des Managements, die sich durch alle Ebe- nen der Gesellschaft zieht und alle sozialen Beziehungen beeinflusst – ei- nem Management-Paradigma. „Was bedeutet es, das Marktmodell auf die internen Beziehungen in einem Unternehmen ebenso anzuwenden wie auf das Verhalten des Einzelnen zu sich selbst, auf das Verhältnis von Bürgern und staatlicher Verwaltung ebenso wie auf Eltern-Kind- oder Paarbeziehungen? Welches Wissen über sich selbst und über andere produzieren Individuen und Or- ganisationen, welche Selbst- und Sozialtechnologien entwerfen sie, wenn sie die Omnipräsenz der Marktmechanismen zugleich diagnostizieren und postulieren? Welches Programme zur persönlichen wie geschäftli- chen Leistungssteigerung folgen daraus? – So vielfältig die Antworten da- rauf im Einzelnen auch ausfallen, stets enden sie auf «-management».“²⁸⁴ Das Ausmaß des Management-Paradigmas als ökonomisches Regelwerk sämtlicher sozialer Beziehungen ist schwer einzuschätzen. Es gilt, wer anschlussfähig sein will, an Trends, Diskurse und Images, sollte ‚manage- bar’ sein. Die Ziele des Managements, wie auch das Management selbst, bestimmt der Markt: Optimierung, Maximierung, Vermeidung und Ein- schränkung von Risiken und Nebenwirkungen – Risikomanagement. ²⁸³ Ulrich Bröckling, Totale Mo- bilmachung. Menschenführung Der Begriff des Risikomanagements (Risc-Management) geht auf im Qualitäts- und Selbstma- Frank Knight zurück. Bereits in seinem 1921 verfassten Buch „Risk, nagement, in: Gouvernementa- lität der Gegenwart. Studien zur Uncertainty and Profit“²⁸⁵ verweist der Autor auf Risiken, welche die Ökonomisierung des Sozialen, Profitmaximierung einschränken können. Mit dieser Abhandlung führt hg. v. Ulrich Bröckling, Susanne er die bis heute gültige Unterscheidung zwischen Risiko und Ungewiss- Krasmann [u.a]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000 heit in die Wirtschaftstheorie ein. Risiken lassen sich berechnen, wäh- ²⁸⁴ ebd., S. 134 rend unter Bedingungen der Ungewissheit kein Erwartungswert angege- ²⁸⁵ Frank Knight, Risk, Uncer- tainty and Profit, Boston: ben werden kann. „Die volkswirtschaftliche Funktion des Unternehmers Schaffner & Marx; Houghton besteht demnach darin, nicht berechenbare Unsicherheiten (Ungewiss- Mifflin 1921

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heit) einzugehen. Knight legt damit den Grundstein zur modernen Ent- scheidungstheorie und stellt die neoklassische Wettbewerbstheorie in 2 ihrer verbindlichen Form dar.“²⁸⁶ Der Foucaultsche Begriff des gouverne- mentalen Regierungshandelns wird an dieser Stelle in Entscheidungshan- deln überführt, zum Zweck der Optimierung des Managements von Ri- siken, Krisen und Gefahren auf Märkten. Dem Risikomanagement folgen das Krisenmanagement und schließlich das Change- bzw. Turnaround Ma- nagement. Sämtliche Typen des Managements befassen sich mit Märk- ten, und im Fall ihrer Anwendung in der Gesellschaft behandeln diese Handlungskonzepte sie und den psycho-sozialen Raum als Markt. Das Turnaround-Management gilt als eine der anspruchsvollsten Formen des Managements, mit Changing Strategies, Pragmatismus und Schnelligkeit aussichtslosen oder komplizierten Kundenwünschen in kurzer Zeit zum Erfolg zu verhelfen. In dem Buch „Bekenntnisse eines Economic Hit Man“²⁸⁷ beschreibt John Perkins die Geschichte eines Top-Managers einer Top-Beraterfirma. Er wird zum Economic Hit Man (EHM) rekrutiert, zum Top-Agenten ge- tarnter und legalisierter internationaler Wirtschaftkriminalität im gro- ßen Stil. Der Economic Hit Man charakterisiert die superlative Dimension eines neoliberalen Managers von heute, der als Experte, Agent und Be- rater seinen Einfluss auf Finanz- und Rohstoffmärkten erfolgreich, d.h. gewaltsam durchsetzt. „Economic Hit Men (EHM) sind hochbezahlte Ex- perten, die Länder auf der ganzen Welt um Billionen Dollar betrügen. Sie schleusen Geld von der Weltbank, der US Agency for International De- velopment (USAID), sowie anderer ausländischen «Hilfsorganisationen» auf die Konten großer Konzerne und in die Taschen weniger reicher Fa- milien, die die natürlichen Rohstoffe unseres Planeten kontrollieren. Die Mittel der Economic Hit Man sind betrügerische Finanzanalysen, Wahl- manipulationen, Bestechung, Erpressung, Sex und Mord. Ihr Spiel ist so alt wie die Macht, doch heute, im Zeitalter der Globalisierung, hat es neue und erschreckende Dimensionen angenommen.“²⁸⁸ Zwischen Turnaround Management und EHM-Management (Econo- mic Hit Man – Management) steht das TQM-Management, das Top Quali- ty Management. Das TQM-Management ist ein alle Bereiche des Manage- ments des Unternehmens einschließendes Head-Management, das nicht von einer Abteilung für Qualitätskontrolle ausgeführt wird, sondern das eine Art selbst-implementiertes Kontrollsystem in Bezug auf die Quali- ²⁸⁶ vgl. Wikipedia, URL: http:// de.wikipedia.org/wiki/Frank_ tät der eigenen Arbeit ist. Hier wird das „Qualitätswesen zur Stabsfunkti- Knight, Stand vom 23. August on und ist direkt der Unternehmensleitung unterstellt.“²⁸⁹ Selbstkontrol- 2008 ²⁸⁷ John Perkins, Bekenntnisse le plus Kontrolle durch ein Qualitätsmanagementsystem transformieren eines Economic Hit Man – Unter- den Disziplinardiskurs zu einem Diskurs des permanenten Auto-Cont- wegs im Dienst der Wirtschafts- rollings der Produktion und des Produzenten durch den Kunden. „Die mafia, München Riemann 2005 ²⁸⁸ John Perkins, Bekenntnisse Abrichtung des Produzenten wird identisch mit ihrer Ausrichtung am eines Economic Hit Man, S. 9 Konsumenten.“²⁹⁰ Die Konsequenzen, den Kundenwünschen in einem ²⁸⁹ Ulrich Bröckling, Totale Mo- bilmachung, S. 136 radikalen TQM-Management zu folgen, können vielfältig sein. Denn der ²⁹⁰ ebd., S. 137 Kunde ist nicht nur User oder Empfänger, der Kunde ist auch Auftragge-

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ber und Markttreiber, der Kunde ist Vorstand und Aufsichtsrat, der Kun- de ist Personalchef und Chief Executive Officer. Der Kunde, als externer Abnehmer am Ende der Produktionskette, steht schon vor der Produk- tion am Anfang, als interner „Hüter“ der Unternehmensziele. Von hier aus geht die Bewegung auch in die andere Richtung: Der Mitarbeiter wird zum Kunden der Unternehmensphilosophie und je mehr das der Chefeta- ge gelingt, gelingen ihm auch der Einkauf des externen Abnehmers und somit der Verkauf der Unternehmens-Mission. Diese Doppeldynamik ist extrem wettbewerbs- und konkurrenzfähig, weil jeder der am Geschäft Beteiligten gleichzeitig Manager und Kunde ist, was wiederum durch die Strategie der Inkorporation sämtlicher Beteiligter in das Unternehmen möglich wird. Eine Corporate Idendity funktioniert im TQM-Management zweifach, auf einer Kommunikations- und Designebene und auf der Dis- ziplinarebene militärischer Hierarchien, die alle rangspezifischen Auf- stiegschancen offen hält. Unternehmen verbessern ihre Wettbewerbsfä- higkeit dadurch, indem sie jeden Mitarbeiter zum Subunternehmer und zur Trademark erklären. „In dem Maße, in dem der Einzelne sich als un- verwechselbare «Marke Ich» kreiert, hebt er sich von der Masse ab und vermag die Konkurrenz auszustechen – freilich nur, wenn das persön- liche Label zugleich Qualität verbürgt und den Anforderungen der ex- ternen Kunden genügt. [...] Das totgesagte Subjekt der abendländischen Philosophie, es lebt fort – als Trademark.“²⁹¹ Nur in dieser Version der Trademark ist das Subjekt und seine Unternehmung marktfähig, konkur- renzfähig und korporationsfähig. Der Quotient seiner Performance wird bestimmt durch den Erfolgsquotienten seiner Identität und seines De- signs als Marke. Erst im Bannkreis der Marke, zwischen Corporate Idendity und dem Corporate Design, kann der TQM-Manager alles sein: Prinzipal, Agent, Klient, Kunde, Coach, Mentor, Konsultant und Schakal.

7.3 Emergency-Corporations: Die neuen Regierungshybride und Kriegseigentümer Emergency-Corporations sind Korporationen aus Wirtschaftsunterneh- men, Regierungen, Sicherheit, Medien und Finanzen, zu Regierungshy- briden gewachsen, die den politisch-juristischen Ausnahmezustand, d.h. die Herstellung rechtsfreier Räume, entweder initiieren oder forcieren, wie beispielsweise bei Staatszerfall und Bürgerkriegen, oder die ausschließ- lich unter den Bedingungen des politisch-juristischen AZ agieren, sprich in rechtsfreien Räumen auftreten: im Fall von ‚schwachen Staaten’, bei Re- gierungswechseln und Revolutionen sowie bei Staatszerfall. Das können auch Naturkatastrophen sein, die zu den selben katastrophensoziologi- schen Konsequenzen der Betroffenheit, des Schocks und der politisch- juristischen Neutralisierung führen. Beispiele für die Wirkungen der Emergency-Corporations wurden in der vorliegenden Arbeit mit den Einsatz- und Risikogebieten in Chile und Kolumbien näher dargestellt. Weiter ließen sich Afghanistan und der Irak, Kosovo und Serbien sowie die Länder der EU-Osterweiterung nennen. ²⁹¹ ebd., S. 157f.

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Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges partizipieren und profitieren die USA an sämtlichen Emergency-Corporations weltweit aufgrund ihrer glo- 2 balen Hegemonialmacht. Die Emergency-Corporations großen Stils finden in kaum einem Fall ohne die Beteiligung von IWF, CIA und UNO statt. Emergency-Corporations erzeugen den Gesetzesterror und die Rechtsanomie bzw. setzten diese voraus, als Bedingung für die Grün- dung neuer Märkte (emerging markets) und für die Profitmaximierung der Unternehmung. Erst im Schockzustand eines Landes, einer Region, eines Staates, verursacht durch Kriege und andere Kulturkatastrophen oder den eigenen Interventionismus, sehen Investoren die Machbarkeit für eine Liberalisierung der Märkte und die Realisierung ihrer Ziele. Die Verwicklung von Regierungen betroffener Länder in Verschuldungen, aus denen es keine Entkommen gibt, ist nur eine Spielart der Emergency- Corporations und ihrer Top-Manager. Sie garantieren ihnen einen neuen loyalen Partner, den sie zu Gegenleistungen wie Gebietsabtretungen und Rechtsabtretungen bewegen können, zu einem neuen radikalen Geschäft mit einem willfährigen Klienten im rechtfreien Raum. „Aber wenn wir scheitern, greift eine ganz besonders finstere Truppe ein, die wir EHM [Economic Hit Man] als Schakale bezeichnen. [...] Die Schakale sind im- mer da, sie lauern im Schatten. Wenn sie auftauchen, werden Staatschefs gestürzt oder sterben bei «Unfällen». Und wenn die Schakale versagen sollten, wie zum Beispiel in Afghanistan oder im Irak, dann muss doch wieder das alte Modell herhalten. Dann werden junge Amerikaner in den Krieg geschickt, um zu töten und zu sterben.“²⁹² Wenn man auf die Weltkarte schaut, erkennt man ein dichtes Band, entlang dem sich ein Krisen- und Kriegsgebiet an das andere reiht – eine breite Peripherie um jenen Gesellschaften, die in abgesicherten Staaten und Staatenbündnissen verfasst sind. Dort wo Krisen und Katastrophen an der Tagesordnung sind, wie zum Beispiel in Indien, Pakistan, Afgha- nistan, Iran, Irak, Tailand, Philippinen, Indonesien, usw., entstehen Produktionsexklaven der Emergency-Corporations. Der Begriff der Pro- duktionsexklave im Kontext des Krieges setzt voraus, dass Krieg ein Pro- duktionsfeld ist. Dass dies so ist, gilt in dieser Arbeit als Tese und wird an verschiedenen Stellen des Textes ausgearbeitet. Hierbei sind die Ana- lysen u.a. des Politikwissenschaftler Herfried Münklers zum postmoder- nen Krieg orientierend. „In der zurückliegenden Zeit des Kalten Krieges haben die beiden Machtblöcke darauf geachtet, dass ihre Klientelschaften in den einzel- nen Regionen bei der Stange blieben. Das ist inzwischen nicht mehr der Fall. Es gibt Regionen, an denen die reichen Staaten des Nordens kein Interesse mehr haben, jedenfalls nicht an dem Gesamtgebiet. Das führt dazu, dass ein weiterer Akteur in diesem Spiel auftritt, nämlich internati- onale Unternehmen, die zum Beispiel nach Öl bohren, Erze schürfen oder Buntmetalle suchen und die mit Diktatoren, Clanchefs zusammengebro- ²⁹² John Perkins, Bekenntnisse chener Staaten erfolgreich Warlords Verträge schließen, um Produkti- eines Economic Hit Man, S. 29 onsexklaven in den von diesen kontrollierten Gebieten einzurichten und

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solche Produktionsexklaven auch durch Söldnerunternehmen schützen zu lassen.“²⁹³ „Diese konnte man früher in Kapstadt, heute bevorzugt in London mieten, wenn man Geld hat. Militärisch gut ausgebildetes Perso- nal aus der Ukraine, aus Weißrussland steht zur Verfügung. Das ist nicht einmal so teuer. So dass es für ein Unternehmen interessanter sein kann, eine Produktionsexklave von einem privaten Sicherheitsunternehmen schützen zu lassen, als einen korrupten Staat zu finanzieren, wie man das früher häufiger gemacht hat.“²⁹⁴

„Die Hardware der neuen Kriege sind die ökonomischen Strukturen.“²⁹⁵

7.3.1 Von der Gouvernementalität des Staates zur Governance der Emergency-Corporations Ein theoretisches Verdienst von Michel Foucaults Untersuchungen in den 1970er- und 80er Jahren liegt in der Begründung des Forschungsfeldes der «Geschichte der Gouvernementalität», die leider fragmentarisch blie- ben musste und für Foucault durch seinen frühen Tod abrupt endete. Un- ter seiner Studentenschaft und außerhalb Frankreichs stieß dieser For- schungsansatz jedoch auf breite Resonanz. Trotz der fragmentarischen Bezugspunkte der Gouvernementalitätsforschung kann man ihren For- schungsschwerpunkt als Analyse der «neoliberalen Gouvernementalität» beschreiben, die das Problem der Regierung und das Problem des Regierens, namentlich des Regierungshandelns einschließt. Was auch immer im Defi- nitionsrahmen von Neoliberalismus und Nachkriegsliberalismus zusam- mengefasst wird, signifikant bleibt, dass der Begriff eine radikale Neu- definierung des Verhältnisses zwischen Staat und Ökonomie markiert. Der Neoliberalismus ersetzt das äußere Begrenzungssystem des Staates durch ein inneres regulatorisches Prinzip. „Es ist die Form des Marktes, die als Organisationsprinzip des Staates und der Gesellschaft dient.“²⁹⁶ In Foucaults Wortschatz wird der Begriff Gouvernement in einem Zusammenhang verwendet, der charakteristisch ist für „die Lenkung ei- ²⁹³ Herfried Münkler und Eber- nes Schiffes“²⁹⁷. Dicht beieinander stehen in Foucaults Auslegungen die hard Sens, Postklassische Kriege, in: Lettre International, Nr. 59. Lenkung des Schiffes, die Lenkung des Hauses, die Lenkung der Familie, Winter 2002, S. 18 das Regierungshandeln, wie gesagt, das sich konkret von den Domänen ²⁹⁴ Herfried Münkler, Eberhard Sens, Postklassische Kriege, S. 18 der Souveränität, des Besitzens von Land und Gesetz abhebt, da es im ²⁹⁵ ebd. Unterschied dazu eine Zweckbestimmung besitzt. „Doch, wie auch immer, ²⁹⁶ Ulrich Bröckling, Susanne Krasmann, Tomas Lemke, bezeichnend für den Zweck der Souveränität, für dieses Gemeinwohl Gouvernementalität, Neolibera- oder allgemeine Wohl, ist letzten Endes nichts anderes als die absolu- lismus und Selbsttechnologie, in: te Unterwerfung.“²⁹⁸ Im Unterschied also zum souveränen Zweck ist die Gouvernementalität der Gegen- wart, Frankfurt am Main: Suhr- Zweckbestimmung des Regierungshandelns nicht das Gemeinwohl (qua kamp 2000, S. 15 Unterwerfung), sondern die Dinge einem «angemessenen Zweck» zuzufüh- ²⁹⁷ Michel Foucault, Die Gouver- nementalität, in: Gouvernemen- ren. Zweckbestimmung, Regierungshandeln und Führungsgewalt sind drei talität der Gegenwart, S. 51 von Foucault entworfene Begriffe, um die Gouvernementalität zu cha- ²⁹⁸ ebd., S. 53

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rakterisieren, die sich als innenregulatorisches Prinzip vom zirkulären Ge- waltprinzip des Staates unterscheidet. 2 Mit dem Begriff der Gouvernementalität des Staates entwirft Fou- cault eine Koexistenzlinie zwischen dem Abstraktum Staat und der Öko- nomie des Regierungshandelns. „Und dass der Staat so ist, wie er jetzt ist, dürfte wahrscheinlich dieser Gouvernementalität zu verdanken sein, die diesem Staat [inzwischen, Y.M.] zugleich innerlich und äußerlich ist. Der Einzug der Gouvernementalität in das Staatswesen ist der Anfang der Gouvernementalisierung des Staates, der Ökonomisierung des Staa- tes, die Innenregulierung des Staates durch den Markt. Die innenräumli- che Ausdehnung des Staates durch das Kapital beschreibt Peter Sloterdijk mit dem Vorgang der Interieur[isierung] des Staates zum «Weltinnen- raum des Kapitals». Derselbe Begriff „ist [hingegen] als sozialtopologi- scher Ausdruck zu verstehen, der hier für die interieurschaffende Gewalt der zeitgenössischen Verkehrs- und Kommunikationsmedien eingesetzt wird: Er umschreibt den Horizont der vom Geld erschlossenen Zugangs- chancen zu Orten, Personen, Waren und Daten – von Chancen, die aus- nahmslos aus der Tatsache abzuleiten sind, dass die maßgebliche Form von Subjektivität [das Subjekt wie oben als Version der Trademark zu verstehen] innerhalb der Grossen Installation durch die Verfügung über Kaufkraft bestimmt ist“.²⁹⁹ Zusammenfassend soll festgehalten werden, dass sich die Gouver- nementalität des Staates schließlich im Prinzip dreifacher liberalisierter Zweckbestimmung realisiert: als Landnahme, als Datennahme und als Kre- ditnahme und auf diese Weise die interieurschaffende Dynamik eines unge- bremsten, zynischen Kapitalismus herstellt.

Die Gouvernementalität des Staates:

[ 1 ] Regierung [ 2 ] Ökonomie [ 3 ] Technologie

Gebiet/ Ressourcen Kapital Information/Des-Information

Volk Zins Spionage/Verteidigung /Sicherheit

Gewalten Währung Medien

Landnahme Kreditnahme Datennahme (Schmitt) (Heinsohn/Steiger) (Foucault, Biopolitik)

Der Begriff der Governance setzt sich vom Begriff der Gouvernemen- talität deutlich ab. Alternativ zum Begriff Government entstanden, steht der Begriff dafür, dass Steuerung und Regelung von Gesellschaft nicht nur vom Staat sondern (auch) von der Privatwirtschaft wahrgenommen wird. Regierungshandeln erfolgt hier nicht mehr (nur) durch den gou- ²⁹⁹ Peter Sloterdijk, Im Weltin- vernementalisierten Staat sondern durch die Governance, durch das Füh- nenraum des Kapitals, S. 308f. rungs-Prinzip der Eigentumsökonomie.

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Die Überführung eines noch im Rahmen der Gouvernementalität vorhandenen Souveränitätsprinzips in ein auf Eigentumsrechten basier- tes Unternehmensprinzip schließt eine Liberalisierung des so genannten Terrors-Mandats ein, welches seit Hobbes vertraglich beim Souverän lag und nun zum Management überführt wird. Das Schmitt’sche a priori mo- dernen Regierens, „[j]ede souveräne Staatsperson entscheidet für sich über die justa causa“³⁰⁰, transformiert sich in ein a priori postmodernen Regierens zu dem Satz: Jeder souveräne Top-Manager entscheidet für sich über die justa causa.

Die Governance der Corporation:

[ 1 ] Governance [ 2 ] Eigentums-Ökonomie [ 3 ] IT-Governance

Gebiet/Ressourcen Finanzmarkt Information/Des-Information

Manpower Zins Strategie, Management

Öffentl. Gewalten Währung Medien/Design

Land-Management Kredit-Management Daten-Management

7.3.2 EHM – Korporatokratie In Bekenntnisse eines Economic Hit Man beschreibt der US-amerikanische Ökonom John Perkins seine eigenen Erfahrungen in einem hemmungs- los entfesselten Wirtschaftssystem. In dieser Darstellung gelingen Per- kins Einblicke in die Korporatokratie, wie er sie nennt, und der er als Top- Manager und Wirtschaftskiller verpflichtet war. In Unterwegs im Dienst der Wirtschaftsmafia beschreibt Perkins sein Auftragsprofil, dass u.a. „ex- trem optimistische Prognosen zur Wirtschaftsentwicklung aufstrebender Entwicklungsländer zu konstruieren [waren]. Verführt durch die Aussicht auf einen Wirtschaftsboom, sollten diese Staaten Staudämme und Kraft- werke, Schnellstraßen, Häfen und Flughäfen, Gewerbeparks errichten. Da sie das aus eigener Kraft nicht schaffen konnten, bot man ihnen großzügi- ge Milliardenkredite“.³⁰¹ Die Korporatokratie handelt in Perkins Bericht als Investor, der mit hohen Krediten Entwicklungsländer, Schwellenländer, Drittweltländer oder Länder der EU-Osterweiterung dauerhaft unter sei- nen Einfluss, seine Kontrolle und in die Schuldenfalle zwingt. Die betrof- fenen Länder, deren verantwortliche Politiker und Wirtschaftsexperten ³⁰⁰ Carl Schmitt, Der Nomos der nicht selten mit Bestechungsgeldern korrumpiert wurden, sind außer- Erde, S. 128 stande die Kreditsumme plus Zinsen zurückzuzahlen. Die Konsequenz ³⁰¹ Bekenntnisse eines Economic davon ist, dass sich diese Länder verpflichten müssen, im Gegenzug dem Hit Man, [Radiofeuilleton von Johannes Kaiser, Deutschland- Investor Land, Ressourcen, Daten und Rechte abzutreten. radio Kultur, 20. April 2005], An den von Perkins aufgeführten Beispielen der Korporatokratie online-Dokument, URL: http:// www.dradio.de/dkultur/sen- wird die Strategie der Emergency-Corporations präzise deutlich gemacht dungen/kritik/368500/, Stand und als Unterwerfungsstrategie formuliert. Getarnt als Finanzdienst- vom 12. Juni 2008

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leister, Friedensdienstleister, Demokratiedienstleister oder Entwick- lungshelfer machen Investoren die Schuldner mit Krediten politisch 2 und wirtschaftlich abhängig und damit erpressbar. „Obwohl das Geld also fast umgehend an Unternehmen zurückfließt, die zur Korporatokra- tie (dem Geldgeber) gehören, muss das Empfängerland alles zurückzah- len, die Schuldsumme plus Zinsen. Wenn ein EHM richtig erfolgreich ist, dann sind die Kredite so hoch, dass der Schuldner nach einigen Jahren seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann. Dann verlangen wir wie die Mafia unseren Anteil. Dazu gehören vor allem: die Kontrolle über die Stimmen in der Uno, die Errichtung von Militärstütz- punkten oder der Zugang zu wichtigen Ressourcen wie Öl oder die Kont- rolle über den Panamakanal. Natürlich erlassen wir dem Schuldner dafür nicht die Schulden und haben uns so wieder ein Land dauerhaft unter- worfen.“³⁰² Das unterworfene Land wird zum neuen dauerhaften Markt für die Korporatokratie offizieller Unternehmen und für die Schattenglo- balisierung privater Akteure. Soweit das ökonomische Handlungsmodell. Sein zentrales Gebot ist die Verschwiegenheit aller Beteiligten. Es kann nur im Verborgenen funktionieren, öffentlich vollzogen würde es in ei- nem Sturm der moralischen Empörung untergehen. Das von Perkins be- schriebene US-amerikanische unilaterale Empire operiert faktisch mit klandestinen, an Mafiamethoden erinnernde ökonomischen Strategien der Kontrolle und Bereicherung im großen Stil, welche zu krassen Folgen in den betroffenen Ländern führen. Parkins fasst die Kernkompetenz der EHM folgendermaßen zu- sammen: „Wir bauen ein Weltreich auf. Wir sind eine Elite aus Frauen und Männern, die internationale Finanzorganisationen dazu benutzen, jene Bedingungen zu schaffen, mit denen andere Länder der Korporato- kratie unterworfen werden sollen. Und diese Korporatokratie beherrscht unsere größten Konzerne, unsere Regierung und unsere Banken. Wie un- sere Pendants in der Mafia bieten wir EHM einen Dienst oder eine Gefäl- ligkeit an. Das kann zum Beispiel ein Kredit zur Entwicklung der Infra- struktur sein: Stromkraftwerke, Schnellstraßen, Häfen, Flughäfen oder Gewerbeparks. An den Kredit ist die Bedingung geknüpft, dass Ingenieur- firmen und Bauunternehmer aus unserem Land all diese Projekte bauen. Im Prinzip verlässt ein Großteil des Geldes nie die USA, es wird einfach von Banken in Washington an Ingenieurbüros in New York, Houston oder San Francisco überwiesen.“³⁰³ Das Modell entspricht in jeder Phase seiner Umsetzung der „professionalisierten Nachbesserung der Enthem- mung“³⁰⁴, einem Modell, dem Peter Sloterdijk den Erfolg organisierter Kriminalität zuschreibt. Ohne das vielfach verwobene Geflecht des glo- balen Kapitalismus, der fest gefügten Institutionen weltweit operieren- der Banken und Konzerne, der Verkehrsströme der Finanzen, Waren und ³⁰² ebd., S. 23 Informationen, ohne den Koexistenzmodus und „Wirkmodus der Dich- ³⁰³ ebd., S. 22f. te“³⁰⁵, würde das Modell jedoch nicht funktionieren. ³⁰⁴ Peter Sloterdijk, Im Weltin- nenraum des Kapitals, S. 281 ³⁰⁵ ebd., S. 280

EMERGENCY EMPIRE 214 Transformation des Ausnahmezustands 7. Gouvernementalität und Kriminalität

7.4 Transfer (8): Emergency Empire – Die Koexistenz von Global Monopoly und Schattenglobalisierung als Doppel- Paradigma der „global governance“

7.4.1 Global Monopoly Monopoly ist ein bekanntes Brettspiel, in dem um Land und Güter, um Aktien und Gold, um Daten mit dem Ziel gewürfelt wird, ein Grund- stücksmonopol aufzubauen und alle Mitspieler in die Insolvenz zu trei- ben, indem möglichst alle Straßenfelder mit Ausnahme der Sonderfel- der erworben und die anderen Spieler durch hohe Mietpreise finanziell ruiniert werden. Man setzt in der Spiel- und Würfelrunde entsprechend seine Figuren auf dem Brett ein und spielt Landnahme, Kreditnahme und Datennahme. Der hohe biopolitische Trainingsquotient hat das Spiel weltweit zu einem der erfolgreichsten Brettspiele werden lassen. Global Monopoly, der Begriff wird in Anlehnung an das dieses Brettspiel gewählt, ist eine Entsprechung für Globalisierung, für das Global Game der Emer- gency – Corporation im Emergency Empire. Top-Manager von Regierungen, multinationalen Konzernen, Ge- heimdiensten und Privatarmeen initiieren das Game der neuen Gouver- nementalitäten, der Unternehmenshybride aus Regierung, Industrie, Fi- nanz, Sicherheit und Medien. Als Scharnier und Schaltstelle gilt hierbei eine geheimnisvolle (Regierungs)Technik: die Technik des AZ und die Strategie der Herstellung rechtsfreier Räume. Diese rechtsfreien Räume sind in der Schmitt’schen Terminologie die Zonen beyond the line und in der Agamben’schen Terminologie die Zonen der Anomie. Die Besonderheit der rechtsfreien Räume besteht darin, dass sie frei von Recht sind und dass die aktuelle Gesetzeskraft die Rechtsnorm situativ erst herstellt. Dieser Herstellungsakt ist der Tatakt der Emergency-Corporations in Form von Sofortmaßnahmen, Quick Reformen, Schocktherapien, welcher die ju- ristische Bedingung des Monopoly, des Krieges erst herstellt. Global Mo- nopoly ist in der hier vorgestellten Analyse ein Spiel auf geografischen und geopolitischen Brettern / Landkarten um Landnahme, Kreditnahme und Datennahme. Der Schachzug oder Spielzug entspricht dem Raubzug um mehr Gebiet, Bevölkerung, Gewalten und Gesetze, um mehr Aktien und Profit, um mehr Einfluss bei der Datenkontrolle und Nachrichten- politik. Im Rahmen des AZ verblassen Gesetze (Grundgesetz) und Rech- te (Menschenrechte, Bürgerrechte) ultimativ zu alten historischen Erin- nerungen. Die rechtsfreien oder rechtsleeren Räume sind die legal black holes, in denen jeder Kriegsgrund (casus belli) legitim ist. Gesetze werden geändert oder neu geschrieben zur Legalisierung des Monopoly. Beklemmende Berichte zu diesem Monopoly sowie gesellschafts- diagnostische und globalisierungskritische Teorien zu diesem Tema liegen, um jüngste Veröffentlichungen zu nennen, in den Arbeiten von Susanne Krasmann „Die Kriminalität der Gesellschaft“ (2003), Michael Hardt und Antonio Negri „Multitude. Krieg und Demokratie im Empire“ (2004), Peter Sloterdijk „Im Weltinnenraum des Kapitals“ (2005), John

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Perkins „Bekenntnisse eines Economic Hit Man – Unterwegs im Dienst der Wirtschaftsmafia“ (2005), Tom Holert und Mark Terkessidis „Flieh- 2 kraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen“ (2006) und Naomi Klein „Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen- Kapitalismus“ (2007) vor. Es ist eine absurde Gleichung und Tese zugleich, die hier aufge- stellt werden kann, dass nur unter der Bedingung der Herstellung rechts- freier Räume und im Rahmen von Kulturkatastrophen Machtprofilierung und Profitmaximierungen möglich sind. Da Machtmonopole und Kapital an vielschichtige Märkte gebunden sind und demnach von vielgestaltigen Akteuren bedient werden, schmieden die Emergency-Corporations, oder die Korporatokratien, wie Perkins sie nennt, unausweichlich Komplot- te. Das Netzwerk der Emergency-Corporations schließt Institutionen und Akteure auf den Medien-Oberflächen genauso ein wie die Institutionen und Akteure im Subraum. Allianzen und Verträge werden auf Oberflä- chen von Medien- und Publikumspräsenz geschlossen, um sie im nächs- ten Moment, im Verbund organisierter Vertragsbrüchigkeit und korpo- rativer Kriminalität zu missbrauchen. Allianzen und Verträge existieren einzig aus dem Grund der Tarnung nach außen und als Alibi für die ei- gentlichen Deals dahinter: Schattenpolitiken im Verborgenen und Kar- telle verdeckten Agierens. Die grundsätzliche Motivation von privatisiertem Regierungshan- deln im Rahmen der Emergency-Strategien sympathisiert mit der suggesti- ven Attraktivität des Kriminellen und der Psychologie der Gesetzesüber- tretung. Die Jagd nach Macht und Gewinn ist nur noch „hipp“ um den Preis des trickreichen und hemmungslosen Übergehens von Ordnungen, der zum Gewinn wird. Neue Ordnungen, politische, juridische, ökonomi- sche, sind immer Ordnungen von Oberschichten, von Menschen aus der Gewinn-Hemisphäre, von wenigen Familien weltweit. „Laut Zeitschrift Forbes häuften die weltweit 691 Dollarmilliardäre 2005 ein Vermögen von 2,2 Billionen US-Dollar an. Davon gehörte mehr als die Hälfte, 1,3 Billionen, den 50 aller-reichsten. Doch die Milliardäre, über die die Wirt- schaftsmagazine und Illustrierten berichten, sind nur die Spitze des Eis- berges. Seit zwanzig Jahren steigt der Wert des Besitzes der Oberschicht – Immobilien, Wertpapiere und andere Investitionen, insbesondere solche in Kunstwerke – im Tempo der Globalisierung des Kapitals, im Tempo der durch die Globalisierung der Finanzmärkte erzielten Profite.“³⁰⁶ Die Jagd nach Macht und Gewinn, um den Preis von Kriegen, der intelligenten Ver- nichtung von Kulturraum und Menschenleben hat nur eine Obsession, zu den fünfzig aller reichsten Menschen dieses Planeten zu gehören. Global Monopoly könnte vor dem Hintergrund Sloterdijk’scher Fest- stellungen im „Weltinnenraum des Kapitals“ ein Spiel sein zwischen der ³⁰⁶ Claude Serfati, Milliardä- re aller Länder, vereinigt euch!, Vermehrung von Tathemmungen einerseits und der intelligenten Unter- in: Atlas der Globalisierung. Die wanderung dieser, als Professionalisierung der Tatenthemmung ande- neuen Daten und Fakten zur Lage der Welt, Berlin: Le Monde dip- rerseits. In einem solchen Spielfeld gilt: „[D]en Wirkmodus der Dichte lomatique und taz 2006, S. 102 [...], wie man gegenseitige Spielraumbeschränkungen als Kommunika-

EMERGENCY EMPIRE 216 Transformation des Ausnahmezustands 7. Gouvernementalität und Kriminalität

tionen bezeichnen darf“³⁰⁷, zu durchbrechen. Der Durchbruch gelingt schließlich mit der Erarbeitung „lokaler Vorsprünge vor den hemmen- den Kräften“.³⁰⁸ „Unter diesen Aspekten wird verständlich, warum der Neoliberalismus und der Terrorismus wie recto und verso desselben Blatts zusammengehören.“³⁰⁹ Die Dualphalanx zwischen Tathemmung und Ta- tenthemmung klärt den aktuellen Diskurs der asymmetrischen Kriegsfüh- rung im Kalkül der Neuropsychologie und Neurophysiologie.

7.4.2 Schattenglobalisierung Die Ausweitung illegaler Netze organisierter Verbrechen, von Wirt- schaftskriminalität und Korruption, beruhen auf den gleichen Mechanis- men wie die Globalisierung und werden aufgrund ihrer klandestinen Dy- namik Schattenglobalisierung genannt. Schattenglobalisierung umfasst im Wesentlichen die Erschließung und Optimierung von Märkten durch liberale Ökonomien mit den Mitteln der Privatisierung, Deregulierung von nationalstaatlichen Regelsystemen, Informalisierung von Geld sowie Formalisierung informellen Geldes durch Geldwäsche. Als Geldwäsche-Vortaten gelten vor allem Ökonomien, die folgende Geschäfte betreiben und in den Branchen des Import/Export kursieren: Drogenhandel Waffenhandel Menschen- und Organhandel Rohstoffhandel Produktpiraterie Daten- und Medienhandel Müll- und Giftmüllhandel Sicherheitsdienstleistung, Handel mit privatisierter Gewalt (Pri- vatsecurity, Privatarmee) Einkauf in öffentliche Rechte und Gesetze, Bestechung von Politi- kern, Aufsichtsräten, Staatsanwälten etc. Privatisierung von staatlichem Eigentum, öffentlichen Gütern und Diensten (Flughäfen, Teatern, Museen, Shoppingmalls, Straßen, Volkswirtschaft) Migrations- und Tourismusmarkt, Handel mit Arbeitskräften, die illegale Einschleusung von Arbeitsemigranten

„Diese Aktivitäten haben inzwischen globale Dimensionen ange- nommen und machen einen wachsenden Teil der Weltwirtschaft aus. So ³⁰⁷ Peter Sloterdijk, Im Weltin- wird vom IWF der Jahresumsatz, den kriminelle Organisationen weltweit nenraum des Kapitals, S. 280 ³⁰⁸ ebd., S. 281 machen, auf 1.500 Milliarden US-Dollar geschätzt, wobei allein 400 Mil- ³⁰⁹ ebd., S. 284 liarden auf den Drogenhandel entfallen.“³¹⁰ Die Schattenglobalisierung ³¹⁰ Peter Gärtner, Schattenglo- entwickelt sich in enger Wechselwirkung mit den lokalen und regionalen balisierung, in: Quetzal, Online- Magazin für Politik und Kultur Bürgerkriegs- und Gewaltökonomien so, dass hohe Investitionen von aus- in Lateinamerika, online-Do- ländischen Investoren des jeweiligen Landes in Privatarmeen und Sicher- kument, URL: file:///Users/itz/ Desktop/Schattenglobalisie- heitsdienstleistungen getätigt werden. An solchen Investitionsunterneh- rung.webarchive, Stand vom men sind Organisation wie der IWF (Internationaler Währungsfonds), die 17. August 2008

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Weltbank, die UNO (Dachgesellschaft der Vereinten Nationen), die CIA und die NSA (National Security Agency) federführend beteiligt. 2 Peter Sloterdijks Antwort auf organisierte Kriminalität, in seiner Gegenwartsdiagnose „Im Weltinnenraum des Kapitals“ nachzulesen, po- sitioniert sich im psycho-ökonomischen Bereich der professionalisierten Enthemmung. „Nachhaltige Kriminalität ist hauptsächlich ein Gespür für die Lücke, des Marktes wie des Gesetzes, gepaart mit unentmutigter Tat- kraft. Durch sie wird der Sachverhalt der Täterschaft in einem nicht nur juristisch, sondern auch philosophisch belangvolleren Sinn erfüllt. Erfolg- reich organisierte Kriminelle sind nicht Opfer ihrer Nerven, sie sind, im Gegenteil, Kronzeugen der Handlungsfreiheit, dem universellen Hem- mungszusammenhang zum Trotz.“³¹¹ Dies spricht für die komplementäre Koexistenz von legaler und illegaler Wirtschaft. Generell ist festzustellen, dass beide aufs engste miteinander verbunden sind. Die Schattenglobali- sierung stellt die dunkle und illegale, die klandestine und gewalttätige Sei- te der Globalisierung dar, deren allgemeiner Logik sie folgt. Als Risikogebiete für Schattenglobalisierung durch private Gewaltak- teure gelten Zonen des Staatszerfalls und die ‚schwachen Staaten’ wie bei- spielsweise Kolumbien, Ecuador, Brasilien, Panama, Peru und Venezuela. Hier wirken ausnahmslos alle privaten Gewaltakteure als Akteure des Staats- zerfalls. „In der Errichtung und Persistenz des Frente Nacional sind zugleich Ursache und Nährboden dafür zu finden, dass sich [jene] drei Gewaltakteu- re konstituieren konnten, die nunmehr auf jeweils spezifische Weise mit der Drogenökonomie interagieren. Diese drei Akteure sind Guerilla, Parami- litärs und Armee, zu denen sich als vierter die Drogenmafia gesellt. Alle vier Gewaltakteure profitieren nicht nur auf zum Teil höchst unterschiedliche Weise von der Drogenökonomie, sondern stellen mit der Austragung der daraus resultierenden Interessenkonflikte eine Kausalbeziehung zwischen Drogenökonomie und dem Prozess des Staatszerfalls her.“³¹² Weitere Risi- kogebiete für Schattenglobalisierung aufgrund von Staatenzerfall sind ge- nerell alle Ex-Ostblock-Länder, die Ex-Sowjetunion und die jetzigen GUS- Staaten sowie Ex-Jugoslawien. „Auch in den neuen Kriegen lässt sich mit Waffenhandel viel Geld verdienen. Was bis zum Ende der Blockkonfron- tation die Waffenlieferungen der jeweiligen Anlehnungsmächte waren, ist ³¹¹ Peter Sloterdijk, Im Weltin- nun privatisiert, internationalisiert und kriminalisiert.“³¹³ Die neuen Län- nenraum des Kapitals, S. 281 ³¹² Peter Gärtner, Der kolum- der des Staatszerfalls sind die Länder des neuen Europa, welche an die tra- bianische Konflikt. Entstehung ditionellen Schattenmärkte und an die Zirkulationsfigur der Geldwäsche – Zusammenhänge – Dimensi- onen, in: Quetzal, Online-Ma- angeschlossen werden. „Über die Kanäle und Wege, auf denen die Händler gazin für Politik und Kultur in und Schmuggler die illegalen Güter wie Drogen und Diamanten, Edelhöl- Lateinamerika, online-Doku- ment, in: URL: http://www. zer, Buntmetalle und so weiter transportieren, werden auch Waffen und quetzal-leipzig.de/lateinameri- Munition bewegt, und man wird davon ausgehen dürfen, dass sich diese ka/kolumbien/der-kolumbiani- beiden Geschäftszweige längst lukrativ miteinander verbunden haben. Im sche-konflikt-entstehung-zu- sammenhaenge-dimensionen. übrigen: Die Ursprungsquellen dieses Waffenhandels sind natürlich die zu html, Stand vom 29. August leerenden Waffenlager der Armeen des Ost-West-Konflikts.“³¹⁴ Zentrales 2008 ³¹³ ebd. Ziel der Schattenglobalisierung ist die Herstellung von Räumen mit einem ³¹⁴ ebd. reduzierten staatlichen Einfluss, also von rechtsfreien Räumen, bzw. illega-

EMERGENCY EMPIRE 218 Transformation des Ausnahmezustands 7. Gouvernementalität und Kriminalität

len Handelszonen, in denen informelles Geld aus den Geldwäsche-Vortaten formalisiert wird. Beide, die Informalisierung von Geld wie auch Formali- sierung informellen Geldes, erzeugen undurchschaubare weltweite Schat- tenmärkte. Sie stehen in komplementärer Beziehung mit den Marktdyna- miken der Märkte des globalen Freihandels. Korruption und Privatisierung, Kapitalflucht und Geldwäsche in großen Finanzinstituten oder Steuerparadiesen (u.a. Liechtenstein, Schweiz, Luxemburg, Monaco) erzeugen schließlich das Phänomen des gekaperten Staates, ein Synonym für den rechtsfreien Aktions- und Han- delsraum, in dem Gesetzgebung, Rechtsprechung und Medienpolitik pri- vatisiert sind. Auf der Plattform von „State Capture“ gehört die Zukunft nun auch den Akteuren im neuen Europa.

7.4.3 Der Schweizbonus der Trusties und Investoren Während noch die zurückhaltende Devise der Wohlhabenden in der kal- vinistischen Schweiz bis zu den rasanten Umbrüchen von Weltmarkt und Live Style, eingeläutet durch neue Globalisierungsphänomene seit dem weltweiten Antiterrorkrieg, „Seht her, ich bin nicht reich!“ lautete, rücken nun die neuen Reichen nach. Russen und Chinesen kaufen mit der Devise „Seht her, ich bin reich!“die Schweiz auf. Was in Londons City seinen Ausgang nimmt, zieht über Baden-Ba- den, einem Kurort in Baden-Württemberg, konsequent einige Kilometer weiter – nach Zürich, Genf, St. Moritz und Davos. In der Schweiz (und da- mit geografisch gesehen, im Herzen Europas) leben auch deshalb die meis- ten der fünfhundert Dollar-Milliardäre, dicht gefolgt von der britischen und der russischen Hauptstadt, den Metropolen London und Moskau. Die Schweiz ist eines der Länder in Europa, das sich auf der Liste der „Finanz- paradiese für Reiche und Terroristen“ befindet. Neben Madeira, Monaco, Malta, City of London und dem Vatikan, sowie den neu hinzugekomme- nen Möglichkeiten in der ehemaligen Sowjetunion, wie Litauen, Estland und Ukraine, ist die Schweiz aufgrund ihrer traditionsreichen Kultur in Bankgeschäften nach wie vor der wichtigste strategische Partner der Su- per-Reichen. Wer also nicht in Dubai oder auf den Seychellen für seine Si- cherheit vorsorgt, sondern gern die europäische Diskretion der dortigen Banker in Anspruch nimmt, ist mit der Schweiz nach wie vor gut beraten. Aber nicht nur die meisten Dollar-Milliardäre sind in der Schweiz ansässig, die dadurch mitbedingt über die weltweit größte Bankendichte verfügt, sondern die Schweiz gilt darüber hinaus auch als bevorzugter Standort für Weltorganisationen. Dazu zählen die Weltgesundheitsorganisation (WHO, Sitz in Genf), die Vereinten Nationen (UNO, Sitz in Genf) mit 15 Unter- organisationen, allesamt mit Sitz in der Schweiz, die Weltorganisation für den Kampf gegen Doping (WADA, Sitz in Lausanne), die Weltorganisation für Meteorologie (WMO, Sitz in Genf) und die Internationale Föderation des Verbandsfußballs (FIFA, Sitz Zürich), um nur einige zu nennen. Wie viele andere in der Schweiz etablierte Plattformen, Gesellschaf- ten und Stiftungen zählt auch das World Economic Forum (WEF) zu einer

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der aktuell einflussreichsten Einrichtungen dieser Art. Bekannt ist das Forum jedoch im Wesentlichen durch seine Medienpräsenz aufgrund der 2 ständigen Einsätze von Polizei und Armee bei seinen jährlichen Tagun- gen, ganz im Unterschied zu den diskreten Treffen der oben erwähnten Mont Pelérin Society (MPS), bei Genf. Die Gewährleistung der Sicherheit des World Economic Forums kostet den schweizer Steuerzahler jährlich mehrere Millionen Franken. Im August 2008 hat der Schweizer Bundesrat beschlossen, die For- derung der Volksinitiative Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA), welche auf ein Exportverbot für in der Schweiz produzierte Waffen drängt, aufgrund wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Überle- gungen abzulehnen. „Ein Exportverbot würde der Rüstungsindustrie die Existenzgrundlage entziehen – und ohne Rüstungsindustrie sei die Landesverteidigung infrage gestellt. Denn die Armee wäre bei ihrer Rüs- tungsbeschaffung einerseits von anderen Staaten abhängig. Dies wiede- rum bewirke, dass sie im Krisenfall den Bedürfnissen eines neutralen Staates nur geringe Priorität zumessen könne.“³¹⁵ Fraglich bleibt, ob nun die Schweizer Rüstungsindustrie für den Ernstfall vorsorgt? Ebenso frag- lich bleibt, ob ausländische Rüstungslieferanten sich aus einem etwaigen schweizer Kriegsgeschäft heraushalten würden? Wofür die Schweiz ihre Armee braucht, liegt eindeutig auf der Hand: für die Sicherheit der inter- nationalen Kunden, den Trusties und Investoren mit ihren Konten, den Stakeholdern von Emergency Coporations, den Chairmans von Standor- ten, Gesellschaften und Weltwirtschaftsforen, sowie für die strategische Konstituierung ihres Wirtschaftsapparates. Hierbei bleibt das Schweizer Modell europaweit einmalig, nämlich im synchronen Führungsmodell zwischen militärischer und wirtschaftlicher Führungsspitze. In „Der Begriff des Politischen“ schreibt Carl Schmitt zum neut- ralen Staat: „Der Begriff der Neutralität im völkerrechtlichen Sinne ist eine Funktion des Kriegsbegriffes. Die Neutralität wandelt sich daher mit dem Krieg.“³¹⁶ Und weiter heißt es bei ihm: „Der Inhalt der Neutralitäts- pflichten erweitert sich mit der Erweiterung des Kriegsinhaltes. Wo man aber nicht mehr unterscheiden kann, was Krieg und was Frieden ist, da wird es noch schwerer zu sagen, was Neutralität ist.“³¹⁷ Der Begriff der Neutralität, als Begriff des Krieges, garantiert der Schweiz somit größt- mögliche politische Ununterschiedenheit. Unter konsequenter Ausnut- zung dieses Vorteils, der Ununterschiedenheit der Neutralität, werden auf Schweizer Bank- und Nummernkonten jährlich Höchstsummen aus privaten Geschäften des Freihandels und des Schattenhandels importiert und transferiert. Im Sonderstatus des neutralen Staates kann es sich die Schweiz er- lauben, für sämtliche kriegsführende Allianzen dienstbar zu sein – ein politischer Sonderbonus für Trusties und Investoren. ³¹⁵ ebd. Der türkische Dichter Nâzim Hikmet reiste gegen Ende seines Le- ³¹⁶ Carl Schmitt, Begriff des Poli- tischen, S. 110 bens durch die Schweiz und schickte bei dieser Gelegenheit seiner Le- ³¹⁷ ebd., S. 111 bensgefährtin folgendes Gedicht:

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» (…) Du kennst die Schweiz, meine Rose, man sagt, sie sei die stumme Kasse der Gelder, die man von irgendwoher und irgendwie weggeschafft hat. (…) Warum habe ich so etwas geschrieben über die Schweiz? Vielleicht weil ich neidisch bin Auf den kleinen Garten inmitten der blutigen Wüste. Die Blumen des kleinen Gartens, sind nicht auch die Blumen ein wenig mit unserem in der Wüste fließenden Blut bewässert worden, werden noch bewässert? Und werden in ruhigen, verschneiten Nächten Die Sterne der Schweiz Nicht auch ein wenig von unseren Tränen gewaschen, zum Leuchten gebracht?» ³¹⁸

7.4.4 Sopranos, Bannanos etc. und der Mafia-Chic im neuen Europa Zwei Meisterwerke der Filmkunst, „Casino“ von Martin Scorsese (1995) und die Trilogie „Der Pate“ von Francis Ford Coppola (1972 – 1990) gel- ten nicht nur als Klassiker des Erzählfilms sondern bekamen später auch skurrile Feedbacks von Mitgliedern der realen Mafia. Mit Blick auf den Film „Der Pate“ bestätigten die Mafiosi, dass der Film ihr Lebensgefühlt exakt getroffen habe. Was perfekt von den Meistern des Kinos ins Sze- ³¹⁸ Nâzim Hikmet, Die Luft ist ne gesetzt wurde, sind die Klassiker des modernen Gangstertums, jene schwer wie Blei – Hava Kursun Gibi Agi. [übers. v. Helga Da- ebenfalls von Carl Schmitt betrachteten neuen Dimensionen urbaner Pi- gely-Bohne, Yildirim Dageli], raterie³¹⁹ auf der Kehrseite des völkerrechtlichen Krieges. Frankfurt am Main: Suhrkamp Auf der Schattenseite des Global Monoply operiert nunmehr post- 1988, S. 217/219. Vgl. auch Jean Ziegler, Die Schweiz wäscht moderne Mafia-Politik, die das klassische Modell der italo-amerikani- weißer, München: Piper 1990, schen Drogenmafia einschließt und es zugleich entgrenzt. Während die S. 123 ³¹⁹ vgl. Carl Schmitt, Die klassische sizilianische Mafia ihre Milliarden-Umsätze mit Heroin in den Wendung zum diskriminie- USA erzielte, gelingt dies beispielsweise der russischen Mafia mit Erdgas renden Kriegsbegriff, Berlin: und Erdöl. Die Ware ist unterschiedlich, die gouvernementale Struktur Duncker&Humblot 1988, S. 46 ³²⁰ Temenabend: Von Banden ist gleich: Hierarchie, Ehrenkodex, militärische Disziplin und Hörigkeit, und Banditen, „Die Mafia“, 4tlg., Blutrache, Selbstjustiz, Todesstrafe – und: die Herstellung des rechtsfrei- Sendung des Fernsehkanals Phoenix am 8. März 2008 en Raumes. Das Regierungshandeln der Emergency-Corporations setzt Die Mafia 1/4: Im Fadenkreuz postmoderne Mafia-Politik voraus und geht darüber hinaus. Während des FBI, Film von Matthew Tompson, NDR/2005 noch die italo-amerikanische Drogenmafia vom Staat strafrechtlich ver- Die Mafia 2/4: Die Pizza-Con- folgt wurde – hier sei an die Aufdeckung der Pizza-Connection und an den nection, Film von Matthew Maxi-Prozess von Palermo im Jahre 1987 sowie an die Aufdeckung des Tompson, NDR/2005 Die Mafia 3/4: Verrat und Blut- Bannano-Syndikats in New York³²⁰ erinnert – wird die Russen-Mafia im rache, Film von Charlie Smith, Vergleich dazu nicht mehr von staatlichen Geheimdiensten überführt. NDR/2005 Die Mafia 4/4: Die Paten in Während in den 70er- und 80er Jahren Staat und FBI gegen Mafia-Syn- der Klemme, Film von Charlie dikate in Palermo und New York vorgingen, sitzt der KGB-Offizier Pu- Smith, NDR/2005

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tin mitsamt seinem KGB-Clan und den Neo-Oligarchen im Zentrum der russischen Staatsgewalt. Zwar verfolgt dieser die Oligarchen, die russi- 2 schen neokapitalistischen Syndikate, ihre Profitmaximierung und ihren Einfluss auf Medien und Politik, jedoch mit dem Ziel, als oberster Pate die Gewinne der Mafia einzustreichen. Mafia-Politik an der Staatsspitze, im gouvernementalen Syndikat und im freundschaftlichen Einvernehmen mit weiteren Akteuren und (Ex)Regierungsgrößen wie Schröder oder Sarkozy ist auf dem globalen Regierungsparkett salonfähig geworden.³²¹

»Demokratie» und «Freiheit» im neue Europa: Das neue Europa ist das Südost- und Osteuropa im Projekt der EU-Ost- erweiterung und EU-Ostintegration. Hierzu zählen Länder wie u.a Russland, Weißrussland, Litauen, Lettland, Estland, Moldawien, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Kroati- en, Serbien, Bosnien und Mazedonien. Die geopolitische Größe des neuen Europas umfasst sämtliche Ex-Ostblock-Staaten, Gebiete der ehemaligen Sowjetunion und Ex-Jugoslawiens. Auf einen baldigen EU-Beitritt, somit Integration ins neue Europa, hoffen die Länder Albanien, Georgien, die Ukraine und die Türkei. Neu ist hier nicht nur das Europa, neu ist hier auch die Mafia mit ihrer Schattenökonomie. Wirtschaftliche und demografische Entwicklungen durch Öffnung der Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmärkte sind die markantesten Er- eignisse im Zuge von «Demokratisierung» und «Liberalisierung» in diesen Ländern. Jedoch erfolgte der von der europäischen Diplomatie geplante Anschluss an den internationale Markt des Freihandels nicht wie vor- gesehen, sondern erzeugte neue gesellschaftliche Krisen durch Armut, Prekarisierung und Marginalisierung sowie ein diffuses Risikospektrum durch neue sicherheits-politische Spannungen. Solche sind zwischen zer- fallenden Staaten und dem „alten Europa der Kaufleute“ wie zum Beispiel in Grenzgebieten zwischen Italien und Rumänien, Österreich und Slowe- nien oder Deutschland und Polen zu beobachten. ³²¹ PUTINS RUSSLAND, Film Die Konsequenz von all dem sind epidemische Migrationen und von Jean-Michel Carré und Jill Emery, NDR/2008, Erst- ein dadurch begünstigtes Geschäft mit der Armut. Emergencies im Sin- ausstrahlung im Fernsehka- ne von Ausnahmezuständen in rechtsfreien Räumen führen hier zu viel- nal ARD am 13. Februar 2008, schichtigen Anomien. Sie reichen von brutaler Armut, dem von Rechts- 23:30; Sendung des Fernseh- kanals Phoenix am 2. März und Perspektivlosigkeit ausgelieferten nackten Lebens bis hin zur durch 2008, 20:15. Die Dokumen- den Staatszerfall bedingten Emergenz von Geschäftsräumen: ein Gefüge tation „Putins Russland“ ver- bindet die Biografie Wladimir aus Händlern, Vermittlern und Schlepperbanden, Drogenringen, Händ- Putins mit der aktuellen Situ- lerringen für illegale und billige Arbeitskräfte, für Prostitution, für die ation in Russland, innen- und außenpolitisch, militärisch und boomende Tourismusbranche, ‚hippe’ Deals zwischen Privatiers von ehe- wirtschaftlich. Der Film ist die malig ‚volkseigenen’ Betrieben mit ausländischen Investoren, bezahlt in derzeit aufwendigste Doku- niedrigen Rohstoffpreisen und versehen mit günstigsten Mengenrabat- mentation zur Person Putin und zu seinem Herrschafts- ten. Das Anschlussversprechen an den Weltmarkt mit dem entsprechen- system, gedreht in sieben Län- den Wohlstand für alle bleibt uneingelöst und nicht selten ein Alibi und dern, mit drei Dutzend Inter- views und Archivmaterial aus Euphemismus für die Erweiterung der Schattenpolitik globaler Ringe weltweiten Quellen. und Netze im neuen Terrain. Im Zuge der Demokratisierung des neuen Eu-

EMERGENCY EMPIRE 222 Transformation des Ausnahmezustands 7. Gouvernementalität und Kriminalität

ropas öffnet sich die Schere zwischen Armut und Reichtum rasant, ohne dass sich hier ein konkretes Ende dieser Entwicklung abzeichnen wür- de. „»Demokratisierung», so haben wir gelernt, ist ein anderes Wort für Korruption. Eine solche Korruption mag im Widerspruch zum Bedürfnis nach einem stabilen nationalen politischen System stehen, gleichzeitig aber erleichtert sie die Integration in die globale Marktwirtschaft. Man sollte jedenfalls nicht überrascht sein, wenn es im Zuge der langwierigen «Nation-Building»-Prozesse [wie beispielsweise] in Afghanistan und im Irak zu solchen Formen der Korruption kommt.“³²² Das neue Europa ermöglicht eine rasante Erweiterung des Marktpo- tenzials nicht nur für Investoren aus dem Westen sondern auch für den Markt der Schattenglobalisierung. Für weltweit führende Drogenanbaugebiete wie in Iran, Afghanis- tan und Pakistan wird das neue Europa zum neuen Umschlagplatz. Die Routen des internationalen Drogenhandels verlaufen nunmehr über Po- len, Rumänien und Bulgarien, um zu ihren Bestimmungsorten, den Län- dern mit den höchsten Drogenkonsumraten, bzw. den größten Droge- numsatz wie Deutschland, Belgien und die Niederlande zu gelangen. Zudem bezieht der Waffenhandel „seine Ware vor allem aus den Lagern der ehemaligen kommunistischen Länder. Nur 2 Prozent der weltweit insgesamt 550 Millionen leichten Waffen befinden sich in den Händen staatlicher Streitkräfte. Etwa 20 Prozent des Handels mit diesen Waffen laufen angeblich über alle möglichen dunklen Kanäle und bringen mehr als eine Milliarde Dollar pro Jahr ein.“³²³ Die Korporatokratie, wie sie John Perkins beschreibt, kann sich mit den Regionen des neuen Europas eines Systemzuwachses sicher sein. „Die Korporatokratie ist keine Verschwörung, doch ihre Mitglieder haben ge- meinsame Werte und Ziele. Eine der wichtigsten Funktionen der Korpora- tokratie ist es, sich zu erhalten, kontinuierlich zu erweitern und das Sys- tem zu stärken. Das Leben derjenigen, die «es geschafft haben», und ihre Errungenschaften – die Villen, Jachten und Privatflugzeuge – werden uns ³²² Michael Hardt, Antonio Neg- allen als verlockende Beispiele des Wohllebens vorgehalten, damit wir kon- ri, Multitude, S. 202 ³²³ Pierre Conesa, Globalisierte sumieren, konsumieren und konsumieren.“³²⁴ Der prosperierende Mafia- Kriminalität, in: Atlas der Globa- Chic im neuen Europa ist ein prosperierender Economic Hit Man-Chic. lisierung, S. 49 Die Faszination der Religionsoption, die der Kapitalismus bietet, ³²⁴ John Perkins, Bekenntnisse eines Economic Hit Man, S. 16 ist spätestens seit Walter Benjamin³²⁵ ein den Diskurs bestimmendes ³²⁵ Walter Benjamin, Kapita- Tema und wird durch Autoren des aktuellen kritischen Diskurses wie lismus als Religion [Fragment], in: Gesammelte Schriften, Hrsg.: Dirk Baecker³²⁶, Boris Groys³²⁷ und Peter Sloterdijk vorangetrieben. „Die Rolf Tiedemann und Hermann Wahrheit ist, dass sich das Geld längst als operativ erfolgreiche Alternati- Schweppenhäuser, 7 Bde, Frankfurt am Main: Suhrkamp, ve zu Gott bewährt hat. Dieses tut heute für den Zusammenhang der Din- 1. Auflage, 1991, Bd. VI ge mehr, als ein Schöpfer des Himmels und der Erde leisten könnte.“³²⁸ ³²⁶ Dirk Baecker, Kapitalismus als Religion, Kadmos Kulturver- lag, Berlin 2003 Und die Wahrheit bleibt vorerst: ³²⁷ Boris Groys, Unter Verdacht, ...a.a.O. ³²⁸ Peter Sloterdijk, Im Weltin- nenraum des Kapitals, S. 328 „Souverän ist, wer über die Farbe der Saison entscheidet.“³²⁹ ³²⁹ ebd., S. 330

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EMERGENCY EMPIRE 234 Transformation des Ausnahmezustands Bibliografie

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Weblinks – Contentgeber – Portale – Blogs

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Souveränität 235 Anhang

Ein persönliches Wort

Wie am Ende einer Baumassnahme stehe ich vor dem unmittelbar fer- tig gestellten Objekt, dem Entwurf des Emergency Empire, der nach einer einjährigen Klausur des Schreibens beinahe unerwartet, als Umkehrform der permanenten Aktionsform, des Grabens und Fragens, irgendwann im Raum stand. Zu dem Klausur-Ereignis lässt sich für mich nur so viel sagen, dass es ein Experiment war und eine Übung im Sinne Nietzsches, nämlich dass „das Problem der Wissenschaft nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt“ werden kann und dass es für „jene Aufgabe“ der „Optik des Künstlers“ und der des Lebens bedarf, ein genealogischer Pro- zess also, „wo sich Leib und Geschichte verschränken“.

Mein Dank gilt dem Doktorvater, Prof. Dr. Peter Sloterdijk, für sei- ne engagierte und aufmerksame Begleitung dieses Projektes seit 2004. Ich danke ihm für die Möglichkeit des Ortes, an der HfG Karlsruhe, der ehemaligen Munitionsfabrik, meine Klausur zu zelebrieren, für die Mög- lichkeit, mit diesem Prozess mich selbst zu klären, Zusammenhänge zu erkennen, Grundlagen zu schaffen, sowie Neuanfänge zu finden.

Mein Dank geht weiterhin an meine Mitbetreuerin und Prüferin Prof. Dr. Elisabeth von Samsonow, an Prof. Diedrich Diederichsen als Gutachter und Prüfer sowie an Prof. Dr. Kari Jormakka und Prof. Dr. Bo- ris Groys für die wertvollen Gespräche und wichtigen Ratschläge. Darü- ber hinaus danke ich den studentischen Mitarbeitern der HfG Karlsruhe, Daniel Hornuff, Amos Unger und im Besonderen Oliver Krätschmer für die zuverlässige Zusammenarbeit, sowie Dr. Frank Eckart, Berlin, für die Gesamtdurchsicht der Arbeit.

EMERGENCY EMPIRE 236 Transformation des Ausnahmezustands Ein persönliches Wort

Zudem geht mein Dank an Prof. Dr. hc. Ruedi Baur und an Mag. Stefanie-Vera Kokott für die zeitgleiche Forschungsstelle am Institut für Designforschung der ZHdK in Zürich, sowie an Dr. Regula Stämpfli für die strukturellen Impulse. Mein weiterer Dank gilt Frau Monika Teilmann, Rektorat der HfG Karlsruhe, für Motivation und Rat in jeder Lebenslage, Dr. des. Uwe Hochmuth, M.A., Prorektor der HfG Karlsruhe für die administrative Unterstützung, Dr. des. Marc Jongen, M.A., Assistent des Rektors der HfG Karlsruhe und Herausgeber des Bandes „Philosophie des Raumes“, für die freundschaftlich-kollegiale Integration in den Karlsruher Semi- narkreis, wie auch Frau Erna Kaspar, Studienabteilung, Vizerektor Mag. Andreas Spiegl und Mag. Andreas Leo Findeisen, alle Akademie der Bil- denden Künste in Wien, für die freundliche Unterstützung bei der Koor- dination der Studienangelegenheiten und Prüfungsformalitäten. Meinen besonderen Dank möchte ich der Verlegerin Angela Fössl sagen, für ihre Aufgeschlossenheit gegenüber dem Tema, für ihr Ver- trauen in die Qualität und Brisanz des Temas und für Ihren persönli- chen Einsatz beim Verlag Springer Wien New York.

Schließlich danke ich meinem Lebensmenschen Philipp Beckert für seine Weitsicht und Geduld, meinen lieben Eltern, Dr. med. Geo Milev und Karin Fahr-Mileva sowie allen Verwandten und Freunden in Berlin, Sachsen und Hessen, Leipzig, Karlsruhe, Zürich und Wien, für alle wohl- wollenden, spontanen und vielfältigen Unterstützungen.

Über allen Danksagungen jedoch steht die Würdigung der unzäh- ligen biografischen Situationen, die mich zur teilnehmenden Beobach- terin werden ließen und die schließlich meine Sicht, auch für die Ausar- beitung der Tese dieses Buches, prägten. Es ist die Würdigung meines Erfahrungsschatzes, aus Betroffenheit zu einem solchen transformiert, den ich weitaus mehr Menschen und Umständen zu „verdanken“ habe, als ich sie hier erwähnen kann.

Yana Milev Karlsruhe, September 2008

Souveränität 237 Anhang

A

Autorin

Dr. phil. Yana Milev, MFA

Kulturphilosophin, Raum- Medien- und Designforscherin, Dozentin, Autorin, Kuratorin, Publizistin; geb. in Leipzig. Studium der Szenografie, Freien Kunst und Kulturtheorie in Dresden; 1992-2003 Künstlerin der Galerie EIGEN+ART Leipzig/Berlin; seit 1994 Direktorin von AOBBME, Institut für Angewandte Raumforschung und Mikro- topische Kulturproduktion, Berlin; 1997 Dokumentakünstlerin der Dokumenta X, Kassel; seit 1998 Martial Arts Stu- dies in Kyoto/Japan; seit 2000 Lehrauf- träge u.a. an der KH Berlin-Weissensee, am Kunstwissenschaftlichen Institut der Uni Salzburg, an der HfG Karlsru- Foto: Regula Bearth,Foto: Zürich he, der ZHdK Zürich; 2004 – 2008 Dok- toratsstudium der Kulturphilosophie und Medientheorie an der Akade- mie der Bildenden Künste Wien und an der HfG Karlsruhe; seit 2005 Forscherin am Institut für Designforschung, Design2context, ZHdK Zü- rich; Initiatorin und Kuratorin des F&E-Projekts „Emergency Design – De- signstrategien in den Zonen der Anomie“; 2006 Projektleiterin des Interna- tionalen Symposiums „Emergency Design – krisenbasierte Architektur- und Designstrategien“, ZHdK Zürich; 2008 Promotion zur Dr. phil. an der Aka- demie der Bildenden Künste Wien bei Prof. Dr. Peter Sloterdijk mit ei- ner Dissertation zum Tema „Emergency Empire – Transformation des Aus- nahmezustands“ (Gutachterin: Prof. Dr. Elisabeth von Samsonow, Beisitz: Prof. Diedrich Diederichsen), Initiatorin und Kuratorin der Talkreihe „talks in-between emergencies“, in Kooperation mit dem ZKM Karlsruhe; seit 2008 Habilitandin an der HfG Karslruhe.

EMERGENCY EMPIRE 238 Transformation des Ausnahmezustands Autorinnen

Vorwort-Autorinnen

O.Univ.-Prof. Dr. phil. Elisabeth von Samsonow, M.A.

Elisabeth von Samsonow, Bildhauerin und Philosophin, Ordinaria für Philosophische und Historische Anthropologie der Kunst an der Aka- demie der bildenden Künste Wien, Herausgeberin (gemeinsam mit Eric Alliez) der Reihe TRANSART (Telenoia. Kritik der virtuellen Bilder, Hy- perplastik. Kunst und Konzepte der Wahrnehmung in Zeiten der mental imagery, Chroma.Drama. Widerstand der Farbe, Biografien des organlo- sen Körpers) und „Fenster im Papier“. Weitere Publikationen u.a. „Die Kollision der Architektur mit der Schrift oder die Gedächtnisrevolution der Renaissance“ (München 2002). Ihr aktuelles Buch „Anti-Elektra. To- temismus und Schizogamie“ erschien im Diaphanes-Verlag Berlin.

Dr. phil. Regula Stämpfli

Regula Stämpfli ist promovierte Historikerin und politische Philoso- phin, arbeitet in Brüssel in der Politikberatung und unterrichtet an di- versen europäischen Fachhochschulen Politik und politische Philosophie. Aus den deutschsprachigen Medien ist die scharfsinnige Analytikerin als Kolumnistin und Autorin mehrerer Standardwerke zu Bild, Politik und Demokratie bekannt. Sie ist Mitglied des Ethikrats der öffentlichen Sta- tistik der Schweiz, des Fachbeirats beim Internationalen Forum für Ge- staltung Ulm, des Stiftungsrates des Gosteli-Archivs, sowie des Hoch- schulrats der Fachhochschule Köln. Ihr aktuelles Buch „Die Macht des richtigen Friseurs. Über Bilder, Medien und Frauen“ erschien im Bartle- by-Verlag Brüssel.

Souveränität 239 Yana Milev THE EMERGENCY STUDIES PROJECT®

Emergency Empire – Emergency Design

Teil 1 Emergency Empire – Transformation des Ausnahmezustands Souveränität

Teil 2 Emergency Empire – Transformation des Ausnahmezustands Schauraum

Teil 3 Emergency Design – Kulturtechniken aus dem Geiste des Unfalls Ökonomie der Krise

Teil 4 Emergency Design – Kulturtechniken aus dem Geiste des Unfalls Mikrotopien