AUFARBEITUNG UND VERANTWORTUNG –

Berichte und Dokumente zur Arbeit der Arbeitsgruppe Aufarbeitung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

1 AUFARBEITUNG UND VERANTWORTUNG –

Berichte und Dokumente zur Arbeit der Arbeitsgruppe Aufarbeitung von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Inhalt

Aufarbeitung und Verantwortung - Vorwort von und Michael Kellner 5

1 Die Tätigkeit der AG Aufarbeitung 11

1.1 Einsetzung der Arbeitsgruppe 11

1.1.1 Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung und Aufklärung der gegen die Grünen der 1980er Jahre erhobenen Vorwürfe der Unterstützung pädophiler Aktivisten und Bestrebungen - Beschluss der Bundesdelegiertenkonferenz , 20. Oktober 2013 11

1.1.2 Einsetzungsbeschluss des Bundesvorstandes vom 9. Dezember 2013 11

1.2 Zeitzeugengespräche der AG Aufarbeitung 15

1.2.1 Schwulenbewegung 15

1.2.2 Frauenbewegung 17

1.2.3 Rechtsdiskussion 19

1.2.4 Gesellschaftliche Einflüsse 21

1.2.5 Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit und Adrian Koerfer 23

1.3 Die Aufarbeitungs-Debatte auf der BDK in 38

1.3.1 Verantwortung für die eigene Geschichte übernehmen - Beschluss der Bundesdelegiertenkonferenz vom 22. November 2014 39

1.3.2 Rede von Adrian Koerfer, Vorsitzender von Glasbrechen e.V. 42

1.4 Argumentationshilfe der AG Aufarbeitung für die Kreisverbände 46

1.5 Der Anhörungsbeirat für Betroffene 49

1.5.1 Einsetzung des Anhörungsbeirats - Beschluss des Bundesvorstands vom 18.05.2015 49

1.5.2 Regeln zu Arbeit und Organisation des Anhörungsbeirats 51

1.5.3 Grüne beschließen Anerkennungszahlung an Opfer sexuellen Missbrauchs – 53 Pressemitteilung vom 21.09.2015 53 1.6 Politische und strukturelle Konsequenzen

2 1.6.1 Leitfaden für die Landes- und Kreisverbände 54

1.6.2 Ombudspersonen in den Geschäftsstellen 55

1.6.3 Kinder schützen – Prävention stärken. Bundestagsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 26.09.2014 56

2 Recherche der Landesverbände von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 66

2.1 Auszüge aus dem Bericht und Handlungsempfehlungen der Aufarbeitungskommission des Landesverbandes Berlin vom Mai 2015 68

2.2 Pädophile Vergangenheit im Landesverband Berlin konsequent aufklären und aufarbeiten - Beschluss der Berliner Landesdelegiertenkonferenz vom 30.11.2013 156

2.3 Aufklärung und Schutz vor sexueller Gewalt 158

2.4 Konsequente Aufarbeitung der Einflussnahme pädophiler Strömungen auf die Grünen Wahlprogramme der 80er Jahre - Beschluss des Parteirats der hessischen Grünen vom 02.11.2013 165

2.5 Bericht des Landesverbandes Niedersachsen 166

2.6 Bericht des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen 177

2.7 Aufarbeitung der Rolle des Themas Pädosexualität im Landesverband Schleswig-Holstein von Bündnis 90/Die Grünen 178

2.8 Der Kreisverband Bonn der GRÜNEN und die Kampagne gegen die Paragraphen 174 und 176 StGB in den 1980er Jahren 190

3 Die wissenschaftliche Aufarbeitung 194

3.1 Die Grünen und die Pädosexualität: Ergebnisse des Forschungsprojekts Umfang, Kontext und die Auswirkungen pädophiler Forderungen in den Milieus der Neuen Sozialen Bewegung / Grünen vom November 2014 194

3.2 Die Pädophiliedebatte bei den Grünen im programmatischen und gesellschaftlichen Kontext - Zwischenbericht des Göttinger Instituts für Demokratieforschung vom Dezember 2013 212

3.3 Projekt Aufarbeitung: Die Grünen und ihr Umgang mit sexualisierter Gewalt - Bericht vom Symposium des Gunda-Werner-Instituts vom 26.03.2015 326

3

Aufarbeitung und Verantwortung Vorwort von Simone Peter und Michael Kellner

Die in den Anfangsjahren der grünen Partei geführte Debatte über die Straffreiheit pädosexueller Handlungen ist ein bedrückendes Kapitel unserer Parteigeschichte, das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN viel zu lange ausgeblendet haben. Nach der Distanzierung der GRÜNEN von pädosexuellen Forderungen Ende der 1980er Jahre, haben wir als Partei den Fehler gemacht, diesen Abschnitt als politisch abgeschlossen zu betrachten. Viel zu spät wurde mit der Aufarbeitung des Geschehenen begonnen. Dadurch geriet besonders das Leid von Betroffenen pädosexueller Gewalt aus dem Blick.

In den letzten Jahren haben BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen umfassenden Prozess der Aufarbeitung angestoßen. Durch die Förderung eines Forschungsprojekts des Göttinger Instituts für Demokratieforschung haben wir eine gründliche wissenschaftliche Aufklärung der Pädophilie-Debatte bei den Grünen in den 1980er Jahren auf den Weg gebracht. Begleitend dazu hat der Bundesvorstand im Dezember 2013 eine eigene Arbeitsgruppe Aufarbeitung eingesetzt1, um die wissenschaftliche Forschung zu unterstützen, die Aufarbeitung innerhalb der Parteistrukturen voranzutreiben und den Kontakt mit Betroffenen zu suchen. In diesem Bericht wollen wir die bisherigen Ergebnisse unserer parteiinternen Recherchen dokumentieren.

Die Forderung nach Straffreiheit für pädosexuelle Handlungen war zu jedem Zeitpunkt falsch und inakzeptabel. Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern ist immer sexualisierte Gewalt gegen Kinder und eine Form des Machtmissbrauchs, mit schwerwiegenden und zum Teil lebenslangen Folgen für die Betroffenen. Die Debatten, die dazu in den 1980er Jahren in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen geführt wurden und auch in grüne Parteibeschlüsse Eingang fanden, sind im Rückblick verstörend und kaum nachzuvollziehen. Es ist schwer zu ermessen, wie sie auf Betroffene sexuellen Missbrauchs gewirkt haben müssen, während Täter sich dadurch legitimiert fühlen konnten. Das gehört zu der historischen Verantwortung, der wir uns stellen müssen.

Die Aufarbeitung bleibt für uns Grüne eine dauerhafte Aufgabe und fortwährende Verantwortung. Auch wenn die vom Bundesvorstand eingesetzte Arbeitsgruppe ihren Auftrag im Herbst 2016 nach zweieinhalb Jahren beendet, ist die Aufarbeitung unserer Parteigeschichte damit nicht abgeschlossen, genauso wenig wie die notwendige politische Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Skandal sexuellen Missbrauchs in unserer Gesellschaft. Die Arbeitsgruppe Aufarbeitung hat Strukturen geschaffen, mit deren Hilfe wir Betroffene zum Gespräch ermutigen wollen, Verantwortung übernehmen und die Funktionsträger*innen unserer Partei für den Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt sensibilisieren wollen. So ziehen wir unerlässliche Konsequenzen aus unserer Parteigeschichte.

1 Siehe Kapitel 1.1

5 Zusammenarbeit mit dem Göttinger Institut

Zu den ersten Aufgaben der AG Aufarbeitung gehörte es, die wissenschaftliche Arbeit des Göttinger Instituts für Demokratieforschung zu unterstützen und zu begleiten. Zu diesem Zweck haben die grünen Parteigliederungen und die Heinrich-Böll-Stiftung Prof. Walter und seinem Team umfassenden Zugang zu den Parteiarchiven gewährt. Nach gemeinsamer Diskussion eines Zwischenberichts in der AG wurde der Abschlussbericht des Göttinger Instituts im November 2014 von der Bundesvorsitzenden Simone Peter gemeinsam mit Prof. Walter öffentlich vorgestellt.2

Mit dem Bericht, der als Buch im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen ist3, liegt seither eine erste eingehende wissenschaftliche Behandlung der Pädophilie-Debatte der 1980er Jahre bei den GRÜNEN und in ihrem gesellschaftlichen Umfeld vor. Er zeigt auf, wie pädophile Interessengruppen den politischen Kampf gegen repressive Moralvorstellungen und für ein liberaleres Sexualstrafrecht in den 1970er Jahren nutzten, um ihre Forderungen nach einer Legalisierung von sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern als Teil einer größeren Liberalisierungsbewegung darzustellen. Er bietet Einblicke darüber, wie pädophile Standpunkte damals in Gesellschaft, Medien und Wissenschaft Rückhalt fanden.

Detailliert wird nachgezeichnet, wie es pädophilen Aktivisten in den 1980er Jahren gelang, ihre Forderungen in einigen Beschlüssen der damaligen grünen Partei auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene zu verankern. Dabei arbeitet der Bericht heraus, welche strukturellen Faktoren es pädophilen Aktivisten erleichtert haben, bei den GRÜNEN ein Forum zu finden, weist aber auch die Gegenstimmen und Gegendiskurse aus, die es bei den GRÜNEN von Anfang an gegeben hat.

Der Bericht schildert, wie ab Mitte der 1980er Jahre pädophile Positionen und Aktivisten innerhalb der GRÜNEN zunehmend an Gewicht verloren, bevor sie endgültig aus der Partei gedrängt wurden. Spätestens mit einem Beschluss des Hauptausschusses aus dem Jahr 1989, den das Institut für Demokratieforschung hervorhebt, haben sich die GRÜNEN auf Bundesebene deutlich von jeder Unterstützung pädosexueller Forderungen distanziert. In einzelnen Landesverbänden, vor allem in Berlin, reichte die Debatte allerdings noch in die Mitte der 1990er Jahre hinein.

Zeitzeugengespräche

Um die damalige Situation besser verstehen und einordnen zu können, haben Mitglieder der AG Aufarbeitung insgesamt zehn Interviews mit Personen aus den Bereichen Frauenbewegung,

2 Siehe Kapitel 3. 3 Walter, Franz / Klecha, Stephan / Hensel, Alexander (Hg.) 2015: Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte. Vandenhoeck & Ruprecht.

6 Schwulenbewegung, Rechtspolitik sowie mit weiteren Zeitzeug*innen geführt.4 Die Interviewpartner*innen kommen sowohl aus der Partei als auch aus Bewegungen oder Gruppierungen außerhalb der Partei. Die Gespräche geben Einblicke in die Diskurslage in den untersuchten Gruppen und bestätigen dabei manche Rückschlüsse der Göttinger Wissenschaftler aus den Quellen jener Zeit. So war die rechtspolitische Debatte bei den Grünen ausgerichtet am Ziel der Liberalisierung eines als freiheitsfeindlich und diskriminierend empfundenen Sexualstrafrechts, das weniger der Verteidigung schützenswerter Rechtsgüter als der Bewahrung überkommener Moralvorstellungen zu dienen schien. In Teilen der Schwulenbewegung, die selbst Diskriminierung und Kriminalisierung ausgesetzt war, gab es eine Tendenz zur instinktiven Solidarisierung mit der ebenfalls ausgegrenzten Gruppe der Pädosexuellen. Damit erhielten diese eine Legitimierung, die sich in entsprechenden Forderungen und Beschlüssen niederschlug. Den stärksten Widerstand erfuhren pädosexuelle Forderungen bei den Grünen aus der Frauenbewegung.

Umgang mit Betroffenen

Angemessene Wege für Betroffene sexuellen Missbrauchs zu eröffnen, mit uns in Kontakt zu treten und uns ihre Geschichte zu offenbaren, war zugleich eines der vorrangigen Ziele und eine der schwierigsten Aufgaben der AG. Wir wollen die Geschichten von Betroffenen hören. Wie das unter Wahrung der Rechte der Betroffenen am besten umzusetzen ist, war Gegenstand einer der ersten Sitzungen der AG im Januar 2014, zu der wir Vertreter*innen der Betroffenen- Organisationen und Beratungsstellen Tauwetter, Zartbitter, Wildwasser und Glasbrechen eingeladen hatten. Außerdem suchten wir in diesem Lernprozess wiederholt den Rat des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig.

Die Expert*innen rieten uns, sich mit qualifizierter Unterstützung und vielfältigen Angeboten auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Anliegen von Betroffenen einzustellen. Um den möglichen Reaktionen Betroffener - vom Wunsch, gehört zu werden, über die Suche nach therapeutischer Betreuung bis zur Artikulation politischer Forderungen an die Partei – gerecht zu werden, hat die AG Aufarbeitung verschiedene Angebote veranlasst. Zunächst wurde ein Mailkontakt für Betroffene und Zeitzeug*innen eingerichtet, ab August 2014 zudem eine von einer einschlägig qualifizierten Psychologin betreute telefonische Anlaufstelle. In der konkreten Arbeit zeigte sich, dass für Betroffene, die unter strikter Vertraulichkeit über Tathergänge und Täter berichten wollen, weitergehender rechtlicher Schutz der Privatsphäre notwendig wurde. Deshalb hat der Bundesvorstand im Mai 2015 auf Anraten des Unabhängigen Beauftragten zusätzlich ein mit für dieses Thema qualifizierten Jurist*innen besetzten Anhörungsbeirat ins Leben gerufen.5 Er hört Betroffene, die sich mit besonderen Anliegen an BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

4 Siehe Kapitel 1.2. 5 Siehe Kapitel 1.5.

7 wenden, vertraulich an und sucht im Gespräch mit ihnen nach angemessenen Lösungen im Einzelfall.

Zu den bittersten Erkenntnissen der Aufarbeitung gehört, dass es unter den pädophilen Aktivisten auch Täter mit grünem Parteibuch gab. Sie müssen mit aller Konsequenz des Strafrechts zur Verantwortung gezogen werden. Wir wollen, dass das Unrecht, das die Betroffenen erlitten haben, Anerkennung findet und werden uns der Frage, inwieweit individuelle Taten durch institutionelles Versagen der grünen Partei ermöglicht wurden, weiter in jedem Einzelfall stellen.

Insgesamt haben sich seit ihrer Einsetzung rund 30 Personen auf diesen unterschiedlichen Wegen an die AG Aufarbeitung gewendet, darunter 12 Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs. Sechs dieser Fälle betrafen Übergriffe in der eigenen Familie oder in Einrichtungen, bei denen kein direkter Zusammenhang zur grünen Partei ersichtlich war. In drei Fällen wurde den Betroffenen auf Empfehlung des Anhörungsbeirats eine Zahlung in Anerkennung des von ihnen erlittenen Leides gewährt. 6 Es handelte sich um Fälle langjährigen sexuellen Missbrauchs Anfang der 1980er Jahre in der christlichen Emmaus-Gemeinschaft auf dem Dachsberg in Kamp-Lintfort, in der nach den Tatumständen eine institutionelle Mitverantwortung der grünen Partei nicht auszuschließen war. In zwei Fällen konnte es bisher nicht zu einer Prüfung des Sachverhalts kommen, weil es bei einem anonymen Erstkontakt blieb. Ein weiterer Fall befindet sich derzeit im Verfahren beim Anhörungsbeirat. An diesen Anhörungsbeirat können sich Betroffene weiter wenden.

Aufarbeitung in Bundes-, Landes- und Kreisverbänden

Auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Hamburg im November 2014 haben BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eine umfassende Debatte zu ihrer früheren Forderungen geführt und sich klar zur Verantwortung für die eigene Geschichte bekannt. Mit dem maßgeblich von der AG Aufarbeitung erarbeiteten Leitantrag7 hat die Partei ihre Distanzierung von den Beschlüssen aus ihren Anfangsjahren bekräftigt und praktische Konsequenzen für die eigene Arbeit formuliert. Der Antrag mündete in eine Bitte um Entschuldigung, die an alle Opfer sexuellen Missbrauchs gerichtet war, die sich durch die grünen Positionen und Debatten in den 1980er Jahren in ihrem Schmerz und ihrem Leid verhöhnt fühlten oder heute noch fühlen. Mehrere Diskussionsveranstaltungen in verschiedenen Landesverbänden und ein Symposium der Heinrich-Böll-Stiftung8 im März 2015 in Berlin gaben weiter Gelegenheit, den öffentlichen Diskurs fortzusetzen und zu vertiefen.

6 Siehe Kapitel 1.5.3. 7 Siehe Kapitel 1.3.1. 8 Siehe Kapitel 3.3.

8 Im Zuge der Aufarbeitung sind wir allen Spuren nachgegangen: nicht nur auf Bundes-, auch auf Landes- und Kreisverbandsebene. Wir haben unsere Landesverbände aufgefordert in ihren Archiven zu dem Thema zu recherchieren. Alle Landesverbände und auch Kreisverbände sind dem nachgekommen. Dort, wo etwas gefunden wurde, wurde dies dokumentiert. Einige Landesverbände haben Veranstaltungen organisiert und es gab einige Foren zu dem Thema. Nicht alle sind fündig geworden. Oft wurden Quellen bereits vernichtet oder liegen in Händen von Privatpersonen. Einige Landesverbände haben eigene Berichte verfasst.9

Politische und strukturelle Konsequenzen

Die AG Aufarbeitung hat sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur zurückzublicken, sondern den Blick auch nach vorne zu richten, um Konsequenzen aus den Debatten und Beschlüssen der Vergangenheit zu ziehen. Aus unserer Geschichte ergibt sich die politische Verantwortung, sich weiter entschieden mit dem sexuellen Missbrauch in unserer Gesellschaft auseinander zu setzen. Wir müssen dazu beitragen, die Strukturen zu stärken, die sexueller Gewalt vorbeugen.

Auf politischer Ebene treten wir Grüne seit vielen Jahren vehement für den Kinderschutz und eine engagierte Auseinandersetzung mit sexuellem Kindesmissbrauch ein. Wir fordern die konsequente Umsetzung der Empfehlungen des „Runden Tischs sexueller Missbrauch“ und sehen uns dabei im Bund, in Ländern und Kommunen in der Pflicht.

Die Stärkung der Arbeit des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs durch den im März 2015 konstituierten Betroffenenrat haben wir ebenso nachdrücklich unterstützt wie die auf Grundlage eines Beschlusses des Deutschen Bundestages im Januar eingerichtete unabhängige Aufarbeitungskommission. Wir werden uns auch weiter dafür einsetzen, dass die Arbeit des Unabhängigen Beauftragten dauerhaft abgesichert wird.

Zudem haben wir als Partei Schritte unternommen, um unsere eigenen Strukturen stärker für das gesamte Themenfeld des sexuellen Missbrauch zu sensibilisieren. Auf Bundes- und Landesebene sowie bei der Grünen Jugend wurden Ansprechpartner*innen benannt und geschult, die bei Problemen und Fragen rund um das Thema sexueller Missbrauch ins Vertrauen gezogen werden können. Ein Leitfaden zu ihrer praktischen Unterstützung ist in Arbeit.10

Dadurch und durch die geschaffenen vertraulichen Kontaktmöglichkeiten für Betroffene wollen wir auch präventiv dazu beitragen, dass Fälle sexueller Gewalt in unserer Partei frühzeitig verhindert und erkannt werden.

9 Siehe Kapitel 3. 10 Siehe 1.6.2.

9 Dank und Ausblick

Wir bedanken uns bei allen, die den Prozess der Aufarbeitung durch Hinweise, Anregungen und Kritik unterstützt haben. Wir bedanken uns bei den Betroffenenverbänden und bei Herrn Rörig für ihren Rat und bei dem Göttinger Institut für Demokratieforschung für seine Untersuchung. Auch den grünen Landes- und Kreisverbänden, die eigene Recherchen angestellt und die Arbeit der AG dadurch mannigfach unterstützt haben, danken wir dafür.

Ein besonderer Dank gebührt den Mitgliedern der AG Aufarbeitung, die durch ihr ehrenamtliches Engagement dazu beigetragen haben, diesen wichtigen Prozess voranzutreiben: Namentlich , Arndt Klocke, Barbara Unmüßig, Benedikt Mayer, Britta Haßelmann, Christoph Becker-Schaum, Claudia Schlenker, Ekin Deligöz, Emily Büning, Katja Dörner, Marcus Bocklet, Melanie Haas, Michael Schlikker und Sibylle Knapp.

Der Auftrag der Arbeitsgruppe ist beendet. Die Aufarbeitung geht weiter. Wir wollen unsere Geschichte verstehen, um daraus zu lernen.

Simone Peter & Michael Kellner

10 1. Die Tätigkeit der AG Aufarbeitung

Die Einsetzung der AG Aufarbeitung und ihre Aufgaben wurden vom Bundesvorstand von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am 9. Dezember 2013 beschlossen. Vorhergegangen war eine Beschlussfassung der Bundesdelegiertenkonferenz Berlin. Beide Beschlüsse sind nachfolgend abgedruckt (1.1), ebenso wie Dokumente zu den wichtigsten Tätigkeitsfeldern der Arbeitsgruppe. Dazu zählen besonders die Zeitzeugengespräche (1.2), die Vorbereitung der Beschlüsse und Diskussionen der BDK in Hamburg im November 2014 (1.3), die Einrichtung des Anhörungsbeirats für Betroffene (1.5) und weitere strukturelle und politische Konsequenzen der Partei (1.6).

1.1 Einsetzung der Arbeitsgruppe

Mit der Einsetzung der AG Aufarbeitung setzte der Bundesvorstand einen Beschluss der Bundesdelegiertenkonferenz Berlin vom Oktober 2013 um.

1.1.1 Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung und Aufklärung der gegen die Grünen der 1980er Jahre erhobenen Vorwürfe der Unter- stützung pädophiler Aktivisten und Bestrebungen

Beschluss der Bundesdelegiertenkonferenz Berlin, 20. Oktober 2013 Zur Aufarbeitung und Aufklärung der gravierenden Vorwürfe der Förderung pädophiler Aktivisten und Bestrebungen durch grüne Basisgruppen, Partei- und Fraktionsstrukturen und Parteivertreter*innen in den 1980er Jahren sowie der Ergebnisse und Zwischenergebnisse der bereits mit einer entsprechenden Recherche beauftragten Politikwissenschaftler richtet der Bundesvorstand eine repräsentativ zusammengesetzte Arbeitsgruppe ein, die sich zeitnah mit allen neuen Erkenntnissen und deren Einordnung in ein Gesamtbild grüner Politik der 1980er Jahre befasst.

1.1.2 Einsetzungsbeschluss des Bundesvorstands

Beschluss des Bundesvorstandes vom 9. Dezember 2013 über die Einsetzung einer Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung und Aufklärung der gegen die Grünen der 1980er Jahre erhobenen Vorwürfe der Unterstützung pädophiler Aktivisten und Bestrebungen

Vorbemerkung

In der Debatte um eine Entkriminalisierung des Sexualstrafrechts gab es in der Grünen Partei vor allem Anfang der 1980er Jahre den Versuch pädophiler Interessensgruppen, die Straffreiheit

11 pädophiler Beziehungen im politischen Programm zu verankern. Für uns steht fest: Diese Forderungen waren zu keinem Zeitpunkt akzeptabel. Es hätten schon viel früher Konsequenzen gezogen werden müssen.

Wir sind den inakzeptablen Forderungen nicht in der nötigen Konsequenz entgegengetreten und haben erst viel zu spät die Verantwortung übernommen. Das war falsch und wir bedauern, dass viele Jahre verstrichen sind, ohne eine vollständige Aufklärung und Aufarbeitung herbeizuführen und eine Entschuldigung auszusprechen.

Wir entschuldigen uns bei denen, die sich durch unsere Debatten und Positionen in den 1980er Jahren in ihrem Schmerz und Leid verhöhnt fühlen. Wir bedauern es zutiefst, wenn durch diese Debatten Täter ein Gefühl der Legitimation für ihre Taten erhalten haben sollten. Auch wenn Parteien grundsätzlich keine mit Trägern von Heimen oder Schulen vergleichbare Aufsichtspflicht oder Fürsorgeverantwortung innehaben, sind wir uns der historischen und moralischen Verantwortung als grüne Partei bewusst.

Die Forderung von Straffreiheit für pädophile Beziehungen bei den Grünen in den 1980er Jahren hat im Bundestagswahlkampf 2013 eine große Rolle gespielt. Viele Parteimitglieder erfuhren erst durch die Medien von dem dunklen Kapitel in den Anfangsjahren der Partei. In den Medien, in der Partei, aber auch bei den Wählerinnen und Wählern wurde die berechtigte Frage laut, warum die Partei im Sinne von Transparenz und Glaubwürdigkeit über diesen Teil der Geschichte nicht ausreichend informiert hat und ihn nicht früher aufgeklärt hatte.

Die Parteispitze entschied im Mai 2013, die Geschichte der Grünen rund um die Forderung nach Straffreiheit für pädophile Beziehungen von unabhängiger Seite aufarbeiten zu lassen. Wir fördern ein Forschungsprojekt des Parteienforschers Prof. Franz Walter am Göttinger Institut für Demokratieforschung mit 209.000 Euro. Ende 2014 wird das Projekt mit einem Bericht abgeschlossen. Dann liegen wissenschaftlich fundierte und systematische Ergebnisse der Aufarbeitung vor. Ein Zwischenbericht ist bis zum Ende des Jahres 2013 geplant.

Diese fundierte wissenschaftliche Aufarbeitung von unabhängiger Seite ist und bleibt dringend notwendig, damit alle Fakten ans Licht kommen. Eine rein parteiinterne Aufarbeitung kann das nicht leisten. Andererseits zeigte sich - jenseits der unabhängigen Aufklärung durch Prof. Walter - das Bedürfnis, einen weiteren eigenen Aufklärungsprozess zu initiieren. Als jüngere Partei stehen wir vor der Aufgabe, unsere eigene Geschichte mit allen ihren Teilen und Aspekten anzunehmen, gerade in einer Zeit, in der ein Generationswechsel erfolgt. Die Bundesdelegiertenkonferenz beschloss deshalb im Oktober 2013 in Berlin, eine Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung der Forderungen nach Straffreiheit für Pädophilie einzusetzen.

12 A. Zusammensetzung

Die Arbeitsgruppe ist beim Bundesvorstand angesiedelt. Die Leitung übernimmt die Bundesvorsitzende Simone Peter, die stellvertretende Leitung der Politische Geschäftsführer Michael Kellner.

Weitere Mitglieder der Arbeitsgruppe sind:

Christoph Becker-Schaum Marcus Bocklet Emily Büning Ekin Deligöz Katja Dörner Andrea Fischer Melanie Haas Britta Haßelmann Arndt Klocke Sibylle Knapp Benedikt Mayer Claudia Schlenker Michael Schlikker Barbara Unmüßig

Die Arbeitsgruppe wird sich gezielt von externen Expertinnen und Experten beraten lassen, die Erfahrung mit Aufarbeitungsprozessen und den dabei auftauchenden spezifischen Fragestellungen haben.

B. Aufgaben

1. Gespräche mit Zeitzeugen

Ein Teil der Arbeit der Arbeitsgruppe wird darin bestehen, Zeitzeugengespräche zu führen, um umfassend Kenntnisse über die gesellschafts- und parteipolitischen Zusammenhänge jener Zeit zu gewinnen.

Ziel ist herauszufinden, wie Zeitzeugen die damalige Debatte wahrgenommen haben und warum es so lange dauerte, bis Forderungen nach Straffreiheit für pädophile Beziehungen keinen Platz mehr hatten in der Partei. Auch die Antworten auf die Fragen, warum damals nicht erkannt wurde, dass die Vorstellung von der Möglichkeit einvernehmlicher Sexualkontakte zwischen Erwachsenen und Kindern falsch und absolut inakzeptabel ist, warum nicht eingegriffen wurde, wie das gesellschaftliche Umfeld aussah und welche anderen Fragen thematisiert wurden,

13 sind gerade für jüngere Mitglieder und Aktive interessant. Warum wurde die Notwendigkeit zur Aufklärung viele Jahre nicht gesehen? Darüber wollen wir mit grünen Zeitzeugen und Vertreterinnen und Vertretern der Gründergeneration sprechen. Die Arbeitsgruppe wird geeignete Formen der öffentlichen Dokumentation der Zeitzeugengespräche suchen.

2. Umgang mit Opfern

Die Arbeitsgruppe erarbeitet einen angemessenen Umgang mit denjenigen, die unter den Debatten und Positionen der Partei zum Thema Straffreiheit für pädophile Beziehungen gelitten haben, und sucht nach Wegen, wie wir Opfer ermutigen können, Kontakt aufzunehmen und von ihren Erlebnissen zu berichten. Die Arbeitsgruppe vermittelt ihnen Kontaktmöglichkeiten zu professionellen Beratungsangeboten unter Zuhilfenahme externer Fach- und Beratungsstellen. So wurde mit dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, bereits Kontakt aufgenommen und eine Zusammenarbeit diesbezüglich besprochen. Dafür sollen auch die Ergebnisse der wissenschaftlichen Aufarbeitung durch Prof. Franz Walter als Grundlage dienen.

3. Aufarbeitung in Kreisverbänden und Landesverbänden, Fraktionen und BAG Schwule

Die Arbeit der Arbeitsgruppe richtet sich auch an die Landesverbände und Kreisverbände. Alle Untergliederungen fordern wir auf, sich für diesen Prozess zu öffnen. Das heißt auch, in ihre alten Archive zu schauen und langjährige Mitglieder zu befragen. Einige Landesverbände bereiten eigene Aufarbeitungsprozesse vor. Die Arbeitsgruppe wird zu den dortigen Arbeitsgruppen Kontakt halten und einen gemeinsamen Arbeits- und Erfahrungsaustausch organisieren.

Die Arbeitsgruppe erstellt dafür Beispiele und Leitfragen.

4. Begleitung wissenschaftlicher Prozess Institut für Demokratieforschung

Die Arbeitsgruppe hat als Ziel die wissenschaftliche Aufarbeitung vom Göttinger Institut für Demokratieforschung zu begleiten und die interne Aufklärung zu unterstützen. Wir wollen in unsere eigene Geschichte schauen, um sie besser zu verstehen.

Wir bitten erneut alle Untergliederungen und Mitglieder darum, Ergebnisse und Archivfunde an das Grüne Gedächtnis und an das Institut für Demokratieforschung zu übergeben.

5. Kontakt

Die Arbeitsgruppe dient als Kontaktstelle für alle, die uns Hinweise oder eigene Erfahrungsberichte zukommen lassen wollen. Sie ist unter [email protected] zu erreichen.

14 6. Abschlussbericht

Die Arbeitsgruppe legt dem Bundesvorstand Mitte 2015 einen Abschlussbericht vor.

1.2 Zeitzeugengespräche der AG Aufarbeitung

Im Rahmen der Aufarbeitung wurden von Mitgliedern der AG Aufarbeitung Gespräche mit Zeitzeug*innen geführt, um die damalige Situation besser verstehen und einordnen zu können. Dabei haben uns schwerpunktmäßig die Bereiche der Frauenbewegung, der Schwulenbewegung und der Rechtspolitik interessiert. Die Interviewpartner*innen kommen sowohl aus der Partei als auch aus Bewegungen oder Gruppierungen außerhalb der Partei. Die Gespräche geben Einblicke in die Diskurslage in den untersuchten Gruppen und bestätigen dabei manche Rückschlüsse der Göttinger Wissenschaftler aus den Quellen jener Zeit. Die wichtigsten Erkenntnisse sind im Folgenden zusammengefasst. Da einige Personen Wert darauf gelegt haben, dass die Interviews ohne Namen veröffentlicht werden, haben wir aus Gründen der Gleichbehandlung die Interviews anonymisiert abgedruckt.

Wir möchten uns hiermit noch einmal bei allen bedanken, die bereit waren, mit uns Gespräche zu führen und uns dadurch wertvolle Erkenntnisse zu liefern und zum Verständnis der Zeit beizutragen.

Die Interviews geben die persönlichen Erinnerungen und Sichtweisen der Interviewten wider. Sie liefern uns wichtige Hinweise und ein besseres Verständnis, haben aber keinen Anspruch auf die Korrektheit historischer Fakten.

1.2.1 Schwulenbewegung

Wir haben Interviews mit Zeitzeugen über die Debatten in der Schwulenbewegung geführt. Dabei sollte vor allem der Frage nachgegangen werden, wie damals in der Schwulenbewegung aber auch innerhalb der grünen Partei die Diskussionen um das Sexualstrafrecht geführt wurden und ob und wo eine Debatte über Kinderrechte stattfand.

Die Diskussion um Pädophilie und deren Strafbarkeit war damals wichtiger Bestandteil der Schwulendebatte und für manche Teile der Schwulenbewegung eine Identitätsfrage. Die Debatten drehten sich vor allem um die Frage der Abschaffung oder Reform der Paragraphen 175 und 176 des Strafgesetzbuches. Während darüber Einigung herrschte, den Paragraphen 175, der damals noch sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte, streichen zu wollen, wurden heftige Diskussionen über den Umgang mit Paragraph 176 geführt, der die Strafbarkeit von sexuellem Missbrauch von Kindern und das Schutzalter regelt. Uneinig war man in der Schwulenbewegung damals vor allem darüber, ob dieser Paragraph

15 dahingehend geändert werden sollte, vermeintlich einvernehmliche sexuelle Handlungen von der Strafbarkeit zu befreien und somit jedes Schutzalter aufzuheben.

Die Diskussionen wurden vor allem in Foren ausgetragen wie dem Bundesverband Homosexualität (BVH) und der Humanistischen Union. Innerhalb der grünen Partei fanden diese Diskussionen in den Landesarbeitsgemeinschaften (LAG) und Bundesarbeitsgemeinschaften (BAG) statt, insbesondere in der „BAG Schwule, Päderasten und Transsexuelle“ (SchwuP).

Die rechtliche Diskussion um die Paragraphen 175 und 176 drehte sich zum einen darum, dass Sexualität als solche nicht strafbar sein sollte. Strafbar sein sollten Nötigung und Gewalt, doch das Gesetz wie es damals formuliert war, wurde von einigen so verstanden, dass Sexualität als solche ins kriminelle Licht gerückt wurde. Zum anderen ging es um die Ablehnung des Moralstrafrechts, also darum, dass Strafgesetze nicht Ausdruck moralischer Ansichten sein sollten, sondern rationale Regeln, die sich daran orientieren, ob die Gesellschaft oder Dritte durch das inkriminierte Verhalten geschädigt werden. Ein Interviewpartner beschreibt die Stimmung in der Schwulenbewegung so: „Wer mit menschenrechtswidriger Strafverfolgung wegen seiner Sexualität zu rechnen hat von einem Staat, der das auch intensiv durchgeführt hat, strafrechtlich, ordnungsrechtlich, polizeirechtlich, hat dem Staat nichts geglaubt, wenn er sagt, er will irgendjemanden schützen. Sondern das war Moralstrafrecht im § 175, ein Ausdruck der gesellschaftlichen Verurteilung von Homosexualität. Und es ist dann den pädophilen Aktivisten recht gut gelungen zu sagen, seht, ihr Schwule wurdet jahrzehntelang wegen bestimmter Moralvorstellungen verfolgt, obwohl ihr kein Unrecht begangen habt, und uns geht es genauso. Das war leicht anschlussfähig aus dieser Erfahrung heraus.“

Das Argument, dass die Pädophilen ebenso eine Minderheit waren, die geschützt werden müsste wie die Homosexuellen, führte auch dazu, dass die Pädophiliefrage in der Schwulenbewegung zu einer Identitäts- und Solidaritätsfrage wurde, wodurch die konkreten Forderungen in Diskussionen oft in den Hintergrund gerückt wurden, wie unser Interviewpartner sich erinnert: „Also bei diesem 84er Beschluss11 war meines Wissens niemand im Raum, der sich selber als pädophil bezeichnet hat, sondern das war die Solidaritätsangelegenheit, die dort zum Tragen kam, die Solidarisierung nach dem Motto, wir sind verfolgt, die sind auch verfolgt.“ Das fand bei einigen Grünen Anklang, da der Schutz von Minderheiten eine wichtige Rolle für die Partei spielte, die nicht zuletzt auch aus Bewegungen verschiedener Minderheiten hervorgegangen war. Diesen Zustand kritisiert ein anderer unserer Interviewpartner: „Ich würde sagen, ein wichtiger Fehler der Grünen war, dass man für Minderheiten eintreten wollte, sich aber nicht mit ihren Problemen und ihrer Agenda beschäftigte. Man muss manchmal einfach sagen, wir wollen, dass sie zu ihrem Recht kommen, aber erst einmal gucken wir uns an, in welcher Form das geschieht und beschäftigen uns damit. Das gehört zu einer aufrichtigen

11 1984 wurde von der BAG SchwuP ein Beschluss gefasst, dass das Sexualstrafrecht in seiner Gänze gestrichen werden soll.

16 Unterstützung einer Minderheit einfach dazu. Das war ein Fehler in den 80er Jahren, dass man das eben bei dieser Gruppe, auch weil man Tausende Diskussionen gleichzeitig führte, nicht gemacht hat und sich nicht dafür verantwortlich fühlte.“

Warum diese Positionen nicht auf stärkeren Widerstand gestoßen sind hatte nach Einschätzung unserer Gesprächspartner damit zu tun, dass diese Diskussionen nicht in einer breiten Öffentlichkeit stattfanden. Das Thema fand in der breiten Gesellschaft wenig Beachtung und auch in der Wissenschaft war es nur eine kleine Szene, die sich mit Pädophilie und deren Auswirkungen beschäftigte. Ein Interviewpartner aus der Schwulenbewegung erinnert sich: „Es war ja nicht so, dass damals über die Pädophilie massenwirksam diskutiert worden wäre. Ich glaube, sonst hätte es Widerspruch gegeben. Das meiste, was in diesem Zeitraum an Traktaten und Positionen herumgegeistert ist, blieb weitgehend unbemerkt von einer größeren Öffentlichkeit.“

Das scheint auch mitzubegründen, dass nicht mehr Widerspruch kam. Es habe zwar in der Frauenbewegung eine klare Ablehnung gegeben, aber Initiativen oder Aktivitäten, solche Beschlüsse zu verhindern oder die SchwuP zu verdrängen, gab es nach der Erinnerung eines der Diskussionspartner nicht: „Ich glaube, die meisten haben gar nichts davon mitbekommen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich mit den Beschlüssen in einigen Landesprogrammen der 1980er Jahre kaum einer auseinandergesetzt hat. Kein Mensch wusste, was da beschlossen worden ist, außer den Initiatoren nehme ich an, aber von denen, die da mit beschlossen haben, wussten die meisten nicht, worüber sie eigentlich abstimmten.“

In den Interviews ist ein Bild entstanden, das nahelegt, dass sich Pädophile innerhalb der grünen Partei ein Forum schaffen konnten, um zu versuchen, ihre Positionen durchzusetzen. In einer Situation, in der gerade viele politische Gruppen entstanden und aktiv wurden und in der sich viele Minderheiten zum ersten Mal öffentlich Gehör verschafften. Zu einer Zeit, in der die Diskussion um Sexualität sowie über mögliche Opfer von Sexualität noch neu war und daher eine Sensibilisierung für sexuellen Missbrauch erst noch im Entstehen war, bot die grüne Partei ein Forum für pädophile Forderungen. Auch innerhalb der Schwulenbewegung wurden Sexualität und Pädophilie unterschiedlich diskutiert, wie insbesondere die Debatten um die Gesetzgebung zeigen. Damit fanden sich auch unterschiedliche Akteur*innen in der grünen Partei wider, die unterschiedlich stark ihre Positionen voranbrachten.

1.2.2 Frauenbewegung

In den Interviews wurde deutlich, dass die Stimmen aus der Frauenbewegung diejenigen waren, die gegen die Durchsetzung pädophiler Forderungen protestiert haben.

17 Eine unserer Interviewpartnerinnen sagte: „Es gab von Seiten der Frauen sehr wohl deutlichen Widerstand gegen die Vorstellungen der Pädos“. Ein anderer Interviewpartner sieht die Frauenbewegung als die Akteurin, die innerhalb der grünen Partei als erste zu protestieren begann: „Eine Wende im Denken trat im Grunde erst ein, als von Seiten der Frauenbewegung die Frage des Missbrauchs, zunächst aber misslicherweise nur des Missbrauchs an Mädchen, thematisiert wurde.“ Er erinnert sich, dass schon zu Beginn der 80er Jahre das Thema sexueller Missbrauch in der Frauenbewegung diskutiert wurde. Der Schwerpunkt der Debatten lag dabei auf dem Missbrauch von Mädchen, insbesondere im häuslichen Bereich. Deshalb waren es die Akteurinnen aus der Frauenbewegung, die in der grünen Partei am stärksten gegen pädophile Forderungen protestierten. Dabei erinnert sich unser Interviewpartner vor allem an die Kreuzberger Frauengruppe, die sich dagegen wandte, dass Kinder in den Debatten wie Erwachsene behandelt wurden.

Dass nicht vehementer dagegen protestiert wurde, begründet unsere Interviewpartnerin damit, dass in der frauenpolitischen Diskussion um sexualisierte Gewalt damals andere Fragen im Vordergrund standen: „Die Frauenbewegung war nämlich ein wenig zu eng. Sie hat immer nur auf die Vergewaltigung der Ehe geguckt.“

Auch ein weiterer Interviewpartner erinnert sich an Proteste aus den Gruppen der Frauenbewegung: „Protest kam im Zweifel immer von Frauen, also entweder Lesben- oder Frauengruppen in Kreuzberg, die sich in den „stacheligen Argumenten“ auch direkt dagegen gewandt haben. Ich glaube das war auch einer der Gründe, weshalb es bei der AL einen Lesbenbereich und einen Schwulenbereich gab, weil sie in der Pädofrage nicht übereinstimmten.“ 1983 gab es im eine große Anfrage zum Thema sexueller Missbrauch, die insbesondere von den Frauengruppen initiiert wurde. Unser Interviewpartner erinnert sich, dass dies auf Gegenwind in der BAG SchwuP stieß: „Darüber hat man sich in der SchwuP meines Wissens sehr aufgeregt, dass diese große Anfrage kam. Ansonsten hat man dort in der Bundestagsfraktion und im Feminismus an diesem Thema sexueller Missbrauch gearbeitet, und die BAG-SchwuP hat versucht, mit den Frauenarbeitskreisen der Fraktion zu reden.“ Dennoch sei es nie dazu gekommen, dass Teile der Frauenbewegung versucht haben, die SchwuP aus der Partei zu drängen.

Eine unsere Interviewpartnerinnen bemerkt mit Blick auf die Diskussion in der Frauenbewegung: „Die Grünen Frauen mussten jetzt sexuelle Gewalt herausgreifen und dann haben sie einfach spiegelverkehrt dieselbe Struktur wie die Konservativen gebraucht. Für sie war der weite Gewaltbegriff, den sie wollten, im Sexualstrafrecht bei Vergewaltigung und sexueller Nötigung angesiedelt. Bei Sitzblockaden hätten sie dagegen gerne einen engen Gewaltbegriff gehabt, als abolitionistische, demokratische, bürgerfreundliche Lösung im Sinne der Demonstranten. Das heißt, sie haben nicht erkannt, dass sowohl die Rechten als auch sie eigentlich mit einem zwiespältigen Konzept gearbeitet haben, was nicht hinhaut, weil Recht sollte möglichst objektivierbar und gleichförmig sein.“

18 Der Protest, den es gab, kam demnach überwiegend aus der Frauenbewegung. Wie die Partei an sich, war jedoch auch diese Bewegung weder homogen noch hierarchisch organisiert. Hier muss also differenziert werden. Während also beispielsweise die Frauengruppe in Kreuzberg und andere das Thema diskutierten und öffentlich Protest äußerte, waren andere Teile der Frauenbewegung teilweise zurückhaltender.

1.2.3 Rechtsdiskussionen

Es wurden weitere Interviews geführt, um zu erfahren, wie sich die Pädophilie-Debatte in der grünen Partei und in der Schwulenbewegung zu den großen Linien der damaligen Diskussionen in der Rechtswissenschaft verhält. Einem unserer Interviewpartner zufolge drehten sich diese Diskussionen zu der damaligen Zeit vor allem darum, ein einheitliches Jugendhilferecht zu schaffen und um die Frage, ob Strafrecht ein sinnvolles Mittel sei, um Jugendliche vor sexuellen Übergriffen zu schützen. Das bedeutet, dass Pädophilie in diesen Diskussionen nur am Rande vorkam und es dadurch relativ leicht war, für pädophile Aktivisten ihre Positionen unterzubringen: „Das Schutzgut des sexuellen Missbrauchs war Jugendschutz, auch bei der Pornographie. Bei der Prostitution wurde in der großen Strafrechtsreform ein Kuppelei- Tatbestand „Förderung der Prostitution“ stehen gelassen, der eigentlich überhaupt nicht begründbar ist. Die Themen, zu denen ihnen nichts eingefallen ist, haben sie ausgeklammert aus der Debatte, sodass es so Moralthemen wurden, zu denen jeder etwas sagen konnte. Und in diesem Bereich haben sich dann bagatellisierende pädophile Propagandisten platzieren können.“ Unsere Interviewpartnerin prangert hier ein Versagen der Gesamtgesellschaft an, das bis heute bestehe. Bis heute habe der Jugendschutz kein ausreichendes Gewicht. Speziell an der grünen Partei kritisiert er: „Hilfe statt Strafe bei Kindern, Behinderten und anderen ist ein guter Ansatz. Aber man muss sich klarmachen, dass Menschen, die sich hilflos fühlen oder die abhängig sind von anderen, viele Dinge einvernehmlich machen. Da ist die grüne Rechtspolitik aus meiner Sicht nicht interdisziplinär gewesen. Sie hat sich dann irgendwann nicht mehr unterschieden von dem, was die anderen Parteien machen.“

Besonders bedauerlich war aus Sicht der Interviewpartnerin, dass die Grünen eigentlich auf Grundlage ihres spezifischen Gewaltbegriffs den richtigen Ansatz gehabt hätten, um auch den Themenbereich Pädophilie sachgerecht zu bewerten: „Der weite Gewaltbegriff, den die Grünen schon 1986 in ihrem Antidiskriminierungsgesetz der Grünen hervorgehoben haben und der jede sexuelle Handlung „gegen den Willen“ des Opfers erfasste, war sehr fortschrittlich und einzigartig in der Zeit. Er wurde 1997 in der Reform des damaligen § 177 aufgegriffen und war sehr bedeutsam. Kinder waren ja im damals geltenden Recht geschützt, aber dieser weite Gewaltbegriff umfasste - vom Programm her – erstmals auch asymmetrische Machtbeziehungen.“

19 Ein weiterer Interviewpartner erinnert sich, dass das Thema Pädophilie nur am Rande diskutiert wurde und nicht Eingang in eine breite Öffentlichkeit fand. Dadurch hatten die Befürworter es leicht, weitgehend unbemerkt ihre Forderungen einzubringen. So auch innerhalb der grünen Partei. Als neu gegründete Partei fanden viele verschiedene Bewegungen und Minderheiten Eingang und versuchten, dort ihre Positionen einzubringen. Verstärkt wurde dieser Umstand auch dadurch, dass sich die grüne Partei als Vertreterin von Minderheiten verstand und damit zunächst einmal offen für alle Gruppen war. In dieser Gemengelage war es auch Pädophilie- Befürwortern möglich, sich Gehör zu verschaffen. Dies fand jedoch in untergeordneten, am Rande laufenden Debattensträngen statt, wie unser Interviewpartner meint: „Wo das ein Thema gewesen ist, wenn ich mich recht erinnere, war das in Umkreisen der Spontis, also in der Zeitschrift Pflasterstrand und so weiter. Da ist es zum Teil sehr heftig diskutiert worden, aber ich erinnere keine Parteiversammlung und auch garantiert keine Fraktionssitzung oder sonst wo, wo das jemals in diesen 12 Jahren, in denen ich aktiv gewesen bin, Thema gewesen wäre.“

Der Schutz von Minderheiten ging soweit, dass abweichende Meinungen in Programmen dokumentiert wurden, auch wenn diese bei Abstimmungen nicht von der Mehrheit unterstützt worden waren. So passierte es bei der Erstellung des Berliner Landtagswahlprogramms 1985, als 90 Prozent gegen die Streichung von § 174 und § 176 gestimmt hatten. Der Schwulenbereich setzte dann jedoch durch, dass die abweichende Meinung im Programm vermerkt wurde. Unser Interviewpartner berichtet: „Es ist letztlich schwer erklärbar, warum wir seinerzeit das sogenannte Konsensprinzip in Berlin hatten. Das bedeutete, dass eine relevante Minderheit nicht überstimmt werden durfte. Das haben wir im Laufe der Jahre aufgegeben. So ist noch das Programm 1981 erklärbar, in dem gesagt wird: Wir haben darüber nicht abgestimmt, weil es umstritten ist. Beim 85er Programm haben wir schon abgestimmt, hatten aber das Recht der Minderheit, die abweichende Meinung zu dokumentieren“

Einem weiteren Interviewpartner zufolge herrschte damals die Überzeugung vor, die wahren Opfer der Gesellschaft seien die Verurteilten und Straftäter: „Der Mainstream in den 70er Jahren war schon unter den Kriminologen, die sich als fortschrittlich angesehen haben, dass die wahren Opfer die Strafgefangenen und die Kriminalisierten sind.“

Die Strafrechtskritik war damals sehr verbreitet auch in der grünen Partei. Diese Haltung trug dazu bei, dass Strafvorschriften nicht gerne verteidigt wurden. Auch nicht der Paragraph 176. Unser Interviewpartner fasst in seiner Erinnerung zusammen: „Wir haben diese Debatte zu wenig geführt. Wir haben es im Nachhinein, muss man selbstkritisch sagen, treiben lassen – das war in Berlin immer der sogenannte Schwulenbereich, der fest in den Händen von Pädosexuellen war und das über gut 15 Jahre lang.. Wir haben es treiben lassen, wir waren also weder aktiv, was Liberalisierung und Abschaffung der Paragrafen 174 und 176 angeht, noch waren wir in der Gegenfront sonderlich aktiv. Das ist im Nachhinein überraschend, weil es eigentlich unsere Zuständigkeit gewesen wäre.“

20 Dennoch muss festgehalten werden, dass Pädophilie-Befürworter die grüne Partei als Plattform nutzten, gleichzeitig aber nicht auf dieses Forum angewiesen waren, wie der Interviewpartner beschreibt: „Mir stellt es sich so dar, dass sie die Partei in erster Linie als politische Plattform gesehen und genutzt haben. Für ihre Missbrauchstaten selbst brauchten sie die Parteizusammenhänge nicht. Das hatten sie längst alles privat organisiert oder in Jugendclubs oder Sportvereinen oder bei den Wandervögeln oder sonst wo.“

Die grünen Diskussionen um das Strafrecht lassen sich in die gesamtgesellschaftliche Rechtsdiskussion einbetten. Sie drehten sich um den Gewaltbegriff, um Bürgerrechte und die Bedingungen von Strafgefangenen, ließen dabei aber den Jugendschutz, und vor allem den Schutz von Jungen vor sexueller Gewalt, weitgehend außer Acht. Die Diskussionen um die Paragrafen 175 und 176 wurden in der grünen Partei offensichtlich nicht abschließend und ausreichend geführt. So konnten Pädophile ihre Interessen oftmals weitgehend unbemerkt voranbringen.

1.2.4 Gesellschaftliche Einflüsse

In weiteren Interviews versuchten wir, uns gesellschaftlichen Debatten und Einflüssen der Zeit zu nähern und mit Akteur*innen aus den Anfangsjahren der Grünen über die Diskussionen damals zu sprechen. Ziel der Gespräche was es, zu hören, wie Akteur*innen damals die Debatten erlebt haben und was sie zur Motivation von Personen sagen können. Eine Interviewpartnerin schildert die gesamtgesellschaftliche Situation zu der Zeit als eine, der eine Sensibilisierung für sexuellen Missbrauch fehlte. Es sei etwas sehr neues und in gewissem Sinne revolutionäres gewesen, dass überhaupt über Sexualität gesprochen und diskutiert wurde: „Ich hatte 1983 in meinem Leben einen einzigen pornografischen Film gesehen: im Hörsaal 13 in . Das war damals schon ein großes Ereignis, weil es ein riesiger Tabubruch war. Das ist heute kaum vermittelbar, dass wir oder ich keinerlei ausgebildete Antennen hatten für den gesamten Komplex des sexuellen Missbrauchs. Ich weiß heute aus Gesprächen mit Kinderärzten, dass sie sagen, Ende der 70er Jahre, Anfang der 80er Jahre wären wir nie auf den Gedanken gekommen, wenn zum Beispiel ein Kind mit Unterleibsverletzungen, Analverletzungen kam, dass das ein Missbrauchsfall sein könnte. Heute weiß das jeder Kinderarzt.“ Ein weiterer Interviewpartner schildert die Situation ähnlich – die Diskussion über offene Sexualität habe damals erst begonnen: „Die Diskussion in den 60er/70er Jahren war eine Allgemeindiskussion um Sexualität und Befreiung. Es war auch eine Diskussion der Frauen mit Forderungen wie: „Mein Bauch gehört mir!“, „Meine Sexualität gehört mir!“ Die Gesellschaft war verklemmt, in den 60er/70er Jahren hast du dich von etwas befreit. Du musst dir mal vorstellen, du seist in den 60er Jahren Student oder Studentin gewesen und hättest ein Zimmer oder irgendwo eine Wohnung gehabt. Wenn du da mit einem Mann oder einer Frau zusammen warst, konnte der Wohnungsbesitzer wegen Kuppelei angezeigt werden. Das ist die Gesellschaft, gegen

21 die man revoltiert hat. Es ist eine Gesellschaft, die prüde gegenüber Kindern ist und dachte, Kindersexualität gäbe es überhaupt nicht.“

Zu dieser gesamtgesellschaftlichen Situation kam, dass sich die Aktiven innerhalb der grünen Partei gegen eine starke staatliche Autorität richteten und es um die Organisation einer Basisdemokratie ging. Die Debattenlage innerhalb der grünen Partei beschreibt die Interviewpartnerin wie folgt: „Dass wir solche tyrannischen Auftritte wie die Stadtindianer nicht mit ganz klaren Schnitten beendet haben, hatte etwas zu tun mit der Form von Antistaatlichkeit und Basisdemokratie in dem Sinne, dass man niemals die Polizei zu Hilfe nehmen würde, der wir ja bei den Aktionen gegen Atomkraft et cetera pp. Gegenüberstanden.“

Und auch hier beschreiben zwei Interviewpartner, dass bestimmte Diskussionen in der grünen Partei benutzt wurden: „Das Schlimme ist, dass Leute die Emanzipation, auch das Problem der Emanzipation von Kindern, das Finden zu ihrer Sexualität und auch diese Debatte, für ihre eigenen Zwecke missbraucht haben.“ und „Das Bewusstsein für solche Beschlüsse hat sich inzwischen sehr verändert. Hätte es 1980 oder 1982 in irgendeiner Zeitung gestanden, ich weiß es nicht, ob es da eine große Diskussion gegeben hätte.“

Charakteristisch scheint für die Anfangszeit der Grünen ein Nebeneinander verschiedener Strömungen und Gruppen gewesen zu sein, die sich jeweils wenig um die Themen der anderen gekümmert haben. „Wir haben es [das Wahlprogramm von 1985] damals selber schon selbstironisch „das dicke Ei“ genannt damals. Jeder hat ein bisschen was eingebracht und das wurde alles aneinandergereiht – egal ob es zusammen passte oder Sinn machte oder ob es noch irgendjemand verstand draußen. Hauptsache, die jeweilige Szene verstand das. Das war die Grundidee von diesem Wahlprogramm.“ So erklärt sich ein Interviewpartner, wie die Beschlüsse zustande kamen, ohne dass es ganz große Debatten und Proteste gab: „Also ich kann mir das wirklich nur so erklären, dass das für viele Leute eigentlich kein wichtiges Thema war. Wir haben diese Riesendemos mit 500.000 Leuten organisiert. Da ging es um die Bedrohung der Erde durch Raketen und so. Das war unser Thema.“

Welche Verantwortung trägt die grüne Partei dafür, dass sich pädophile Überzeugungen und Beschlüsse im Parteirahmen durchsetzen und verbreiten konnten? War dies der Tatsache geschuldet, dass die grüne Partei in ihren Anfangsjahren viele Gruppen und Minderheiten in sich vereinte und zu Wort kommen ließ? Gab es bestimmte Strukturen und Personen, die es aktiv ermöglichten, dass sich pädophile Positionen Gehör und Anhänger verschaffen konnten. Ein Interviewpartner macht dafür weniger die Parteistrukturen als vielmehr einzelne Personen verantwortlich: „Aus meiner Sicht waren es durchaus einzelne Akteure, aber einflussreiche Akteure. Das war natürlich der Versuch einer Einflussnahme und damit einer Parteinahme einer neuen Partei.“ Inwieweit die grüne Partei mit ihren Beschlüssen zur Legitimation pädophiler Aktivitäten beigetragen haben, sieht unser Interviewpartner kritisch: „Dafür, muss ich gestehen, darf man den Einfluss der damaligen Grünen nicht überschätzen. Ich glaube, niemand hätte

22 sich darauf berufen. Grundsätzlich würde ich Euch keine täterbegünstigenden Strategien oder Szenarien vorwerfen.“

Die Beschreibungen unserer Interviewpartner*innen zeichnen eine Partei, mit vielen Untergruppen, die basisdemokratisch organisiert war und sich auch erst noch zu einer homogenen Partei entwickelte. So war es Pädophilie-Befürwortern leicht gemacht, ihre Ziele voranzubringen. Ein lauter und aktiver Protest blieb aus, eine Sensibilität für sexuellen Missbrauch gab es nur bei Einzelnen.

1.2.5 Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit und Adrian Koerfer

Zu Beginn der Zeitzeugengespräche der AG Aufarbeitung führten Katja Dörner und Michael Kellner im Mai 2014 ein Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit und Adrian Koerfer. Das Gespräch lieferte wichtige Hinweise für die weitere Auswahl von Interviewpartner*innen und der Ausrichtung von Fragestellungen und ist daher im Folgenden abgedruckt. Auch insoweit gilt natürlich, dass die Aussagen die persönlichen Erinnerungen und Sichtweisen der Gesprächsteilnehmer*innen widergeben, die sich die Arbeitsgruppe nicht zu eigen macht.

Katja: Wir haben uns unterschiedliche Komplexe vorgenommen, über die wir gerne mit euch sprechen würden. Das eine ist die zeitgeschichtliche Dimension. Ich beispielsweise bin 1998 bei den Grünen eingetreten und als ich das erste Mal gefragt wurde, ob es Beschlüsse zu straffreier Sexualität mit Kindern jemals bei den Grünen gab, habe ich mit voller Überzeugung gesagt: „Nein, das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.“ Wir wollen verstehen, wie es damals dazu gekommen ist. Und deshalb meine erste Frage an Dany, was aus deiner Sicht dazu beigetragen hat.

Dany: Keine Ahnung.

Katja: Keine Ahnung?

Dany: Wann waren die Beschlüsse?

Katja: 1985.

Dany: Ich bin 1984 in eingetreten.

Katja: Dir ist aber doch der gesamte Diskurs und der gesellschaftliche Kontext bekannt?

Dany: Ich habe mit Joschka zusammen Realpolitik gemacht. Ich habe mit den ganzen innerparteilichen Diskussionen nichts zu tun. Ich weiß nur von der Auseinandersetzung um

23 Peter Schult Ende der siebziger Jahre. Peter Schult war ein Pädophiler, der im Gefängnis saß. Die Auseinandersetzungen betrafen seine Haftbedingungen - er wurde sehr malträtiert - und zum anderen seine Taten. Die Grünen haben damals noch gar nicht existiert. Doch viele Intellektuelle sind zu Peter Schult ins Gefängnis gegangen – u.a. Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta. Es war eine gesellschaftliche Auseinandersetzung. Peter Schult war das Symbol, bei dem es um diese Auseinandersetzung - Sexualität und Jugendliche - ging. Und die spätere Auseinandersetzung innerhalb der Grünen habe ich gar nicht verfolgt.

Adrian: Ich finde es ganz gut, dass du das so sagst. Mein Gesprächsansatz wäre nämlich nicht gewesen, was du damit zu tun hast, sondern was die Gesellschaft damit zu tun hat. Mir hat auf unserer Mitgliederversammlung der Odenwaldschule vorgestern einer erzählt, dass Anfang der achtziger Jahre RAF-Unterstützer an die Schule eingeladen wurde. Und damit komme ich jetzt auf den springenden Punkt: Die Zeit interessiert mich und auch die Unordnung in den linken Gruppierungen. Ich habe bei Klett eine Lehre gemacht und bin nach Berlin zum Studieren. In jeder Kneipe, in der ich saß, bekam ich Raubdrucke angeboten. Es war super beliebt, zum Beispiel Tolkiens „Herr der Ringe“. Ich kam gerade aus dem Verlag, der dieses Buch publiziert hatte, und habe jedem, der mir so einen Band verkaufen wollte, gesagt: „Freunde, da hängen Arbeitsplätze dran“. Da haben die mich angeguckt, als sei ich der größte Spießer überhaupt. Ich will damit nur klarmachen: es gab innerhalb der linken Szene durchaus einen gewissen rechtsfreien Raum.

Michael: Sagt ihr also, dass die Forderungen nach Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen Bestandteil eines breiteren Diskurses gegen die Verkrampftheit in der Sexualität, zur Liberalität in der Gesellschaft waren?

Dany: In den achtziger Jahren – 1984 - da war der Diskurs über Sexualität fünfzehn, sechszehn Jahr alt. Die Auseinandersetzungen mit der Sexualität waren 1966 bis 1969. In den achtziger Jahren waren die schon vorbei. Es gibt ein Buch, das heißt „Zeig mal“. Das ist ein Fotoband von Will McBride über Kinder, die nackt sind. Und dieses Buch wurde an den Schulen, vom Kultusministerium, vom „Stern“, von allen gepriesen: „Ja, die Kinder müssen zu ihrer Sexualität finden. Dieses Buch ist etwas für jede Familie“. Dieses Buch ist heute auf dem Index. Damals ist überhaupt niemand auf die Idee gekommen, dies im Zusammenhang mit einer auch damals existierenden Pädophilie zu sehen. Dann ist das plötzlich problematisiert worden, wobei da sicherlich die Frauenbewegung eine große Rolle gespielt hat. Dadurch hat die Gesellschaft dann ein Bewusstsein gewonnen von Pädophilie, von Gewalt in der Ehe. Es gibt Ausbeutungen von Sexualität. Und das endet heute in der Debatte über die Prostitution.

Michael: Es gab ja auch Gegenpositionen. Du hast gerade die Frauenbewegung erwähnt.

Dany: Ja und Günther Amendt.

24 Michael: Wann hast du denn das wahrgenommen, für dich selber nachvollzogen?

Dany: Ich kannte den Günther gut - im „PflasterStrand“ gab es diese Diskussion.

Michael: Wegen dieses Artikels über ein sechsjähriges Mädchen.

Dany: Ja, den gab es, es gab einen Artikel „Gewaltfantasien eines Mannes gegenüber Frauen“. Es war eine der vielen Auseinandersetzungen, aber für mich war das nicht die Diskussion, die mich bei den Grünen interessiert hat. Ich war zum ersten Mal beim Sonderparteitag der Grünen bei der Bosnien-Debatte, wo ich einen auf die Nuss gekriegt habe.

Michael: Du provozierst gern. Über dein Buch „Der große Basar“, sagtest du, das sei einer deiner großen Fehler gewesen. Aus heutiger Sicht ist das ein für mich nicht nachvollziehbarer Text. Du musst die Debatte doch auch Mitte der achtziger Jahre präsent gehabt haben, auch wenn Dein Buch früher entstanden ist!

Dany: Dieser Text war erledigt für mich, 1984 war das vorbei. Er ist 1974 erschienen und niemand hat bis zwanzig Jahre später Anstand daran genommen. Es war ja kein Geheimtext. Es wird so getan, als ob es ein Buch war, das verschollen war und jetzt irgendwo im „Schacht Konrad“ 5000 Meter unter der Erde gefunden wurde. Dieser Text wurde aber von „Le Monde“ und von verschiedenen Zeitungen besprochen. Es hat niemand Anstand genommen.

Michael: Warum nicht? Das ist ja eine spannende Frage für meine Generation.

Dany: Weil es um die Diskussion von Sexualität und Kindern und um die Frage, wie Kinder zu ihrer Sexualität finden sollen, ging. Das ging hin und her und es wurde als das gesehen, was es war: eine Provokation. Aber niemand ist auf die Idee gekommen, ich sei ein Pädophiler.

Adrian: Richtig. Das bist du ja auch nicht und das hat dir ja auch, glaube ich, wirklich niemand unterstellt. Das Problem, wie ich es sehe, ist folgendes: Du hast das 1974/75 geschrieben. Wir sehen das aber von heute natürlich vollkommen anders an. Weil das Bewusstsein insgesamt auch durch solche Texte über eine lange Zeit geschärft worden ist. Aber erst seit vier, fünf Jahren hat die Gesellschaft wirklich mitbekommen, dass Vorsicht geboten ist.

Dany: Völlig richtig. Wir müssen feststellen: Wir haben Pädophilie und sexuelle Kindesausbeutung nicht auf dem Schirm gehabt.

Adrian: Erst 2010 hat die Bundesregierung beschlossen, eine Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs einzurichten. Erst 2010, obwohl es diesen sexuellen Kindesmissbrauch natürlich immer gegeben hat.

25 Katja: Hat es denn in den 70ern keine Gegenposition zu der Position, die du damals provokativ vorgetragen hast, gegeben?

Dany: Nein, die Leute haben gelacht oder eben nicht. Ich glaube, da hat der Adrian Recht. Das ist die Schwierigkeit für alle: Du liest den Text mit der Empörung von heute und kannst nicht verstehen, warum die Welt vor vierzig Jahren nicht empört war. Was ich einsehe. Leute bis hin zu Gerold Becker haben solche Stimmungen, die wir mit entwickelt haben, benutzt.

Michael: Sie haben das als Legitimation für ihre Taten missbraucht?

Dany: Ja. Das Schlimme ist, dass Leute die Emanzipation, auch das Problem der Emanzipation von Kindern, das Finden zu ihrer Sexualität und auch diese Debatte, für ihre eigenen Zwecke missbraucht haben. Das ist genauso, wie wenn eine kommunistische Partei den Freiheitsbegriff für ihre Zwecke missbraucht. Und ich verstehe, dass die Pädophilen von Walter als Kaderorganisation beschrieben werden.

Michael: Gab es in den 70er Jahren in der Kinderladenbewegung in Frankfurt auch Leute, die offen pädophil agiert haben?

Dany: In der Kinderladenbewegung nicht. Der Kinderladenbewegung gehörten Eltern und Bezugspersonen an, die sich auseinandergesetzt haben mit ihrer eigenen Sexualität, mit Kindererziehung, damit, was man erlauben darf und was nicht.

Adrian: Also die „Kommune 1“ zum Beispiel, nur um das Bild wieder mal größer zu machen, hat sich nackt, auch mit nacktem Kind, fotografieren lassen. Und heute weiß man, die waren alle so verklemmt, dass sie sich fast nicht getraut haben, sich nackt auszuziehen.

Dany: So ist es. Aber verstehst du: Heute kannst du die Frage stellen, ob hier das Kind in der Kommune missbraucht ist. Aber damals ging dieses Bild in Deutschland um und es war im „Stern“.

Michael: Hier geht es auch um Verständnis. Ich habe selbst zwei Kinder, der Eine wird sechs, die Andere ist drei. Aus heutiger Sicht ist das so schwer nachvollziehbar, dass es da keine Reaktion darauf gab.

Dany: Ich kenne ja viele, die Kinder im Moment haben. Neulich erzählte mir ein Vater, dass sein Kind mit ihm baden wollte. Und er sagte mir, da habe er gezögert. Das ist schlimm. Und man kann sehen, wie es heute in den Kindergärten läuft. Das Deutsche Jugendinstitut München hat jetzt eine Regel für Krabbelstuben, dass ein Mann allein kein Kind wickeln darf. Da muss immer eine zweite Person dabei sein. Oder ich erzähle Ihnen eine Geschichte von meiner

26 Frau, die ist Lehrerin. In der zehnten Klasse müssen Kinder ein Praktikum machen und einer der Jungs machte sein Praktikum in einem städtischen Kindergarten. Die Lehrerin muss ja immer die Praktikumsplätze besuchen und sie ging also in den Kindergarten, wo der Schüler ihr erzählte, dass alles sehr gut läuft und es ihm auch Spaß macht. Doch der Kindergarten sagt: „Wir wollen keine Jungs mehr. Da müssen wir immer doppelt aufpassen.“ Jeder Junge, jeder junge Mann, der heute in einen Kindergarten will, ist unter Verdacht.

Adrian: Richtig. Potenziell verdächtig.

Dany: Und wenn wir das zulassen, dann haben wir verloren. Wir haben gekämpft: „Junge Männer als Bezugsperson“. Heute heißt es: „Junge Männer – nein, weg!“. Du kannst sagen, die Pädophilen haben dazu beigetragen. Das will ich ja nicht leugnen. Kinder haben auch mal mit ihren Eltern gespielt und die Mutter und den Vater gefragt: „Was ist das?“ Und so wurde mein Text auch gesehen. Klar sind es Fantasien von mir gewesen, in dem Sinn, dass …

Michael: Fantasien, aber keine Taten?

Dany: Ja, nicht nur das. Es waren Fantasien in dem Sinn, dass es auch Projektionen sind. Wir wollten, dass die Kinder zu ihrer Sexualität finden. Aber die Kinder sind schon verdammt neugierig.

Adrian: Ich habe übrigens das Gleiche auch erlebt. Ich habe im Museum eine Führung gemacht mit Fotos von Jock Sturges und Araki zu einem Höhepunkt der ersten Diskussion 2011. Da kamen lauter Eltern zu mir und haben gesagt: „Wie soll ich jetzt mit meinem Kind noch zum Beispiel in die Badewanne gehen?“. Dann sage ich: „Freunde, das ist das Natürlichste der Welt. Wenn ihr allerdings anfangt, hier ein Problem draus zu machen, dann ist es auch zu spät.

Michael: Eure Sorge ist, dass man jetzt wieder einen Rückschlag in der Frage von der Liberalität und dem Umgang mit der Sexualität erlebt?

Dany: Man erlebt heute einerseits wirklich die Schwierigkeit, sich den pädophilen Problemen zu stellen. Und andererseits duckt man sich aufgrund dieser Unfähigkeit vor der Frage nach Kindern, Sexualität und wie sie groß werden. Früher ist man in Frankfurt immer in der Kiesgrube schwimmen gewesen. Da war die ganze Frankfurter Szene samt Kindern nackt. Frauen, Männer und oben die Bauarbeiter, die sich eins abgeguckt haben. Das war eine kollektive Provokation. Warum müssen die nackt baden? Da würde ich sagen: „Ja, warum muss man?“ Ich habe es eh nicht gern gemacht. Aber so war es, aber mitsamt den Kindern.

Adrian: Ja, das kenne ich auch noch. Bei solchen Situationen war ich auch dabei. Das war für uns eigentlich völlig normal.

27 Katja: Du sagst, dass die ganze Diskussion über Sexualität in den Siebzigern mit Pädophilie im engeren Sinn gar nichts zu tun hatte.

Dany: Wir hatten die nicht auf dem Schirm.

Adrian: Ich kannte das Wort übrigens gar nicht. Ich wusste nicht, was Sexualität ist. Als ich zum ersten Mal von den Päderasten hergenommen wurde, wusste ich weder, was das ist, noch ob es gut oder schlecht ist. Das wusste ich, als ich vierzehn war, nicht. Das wissen Vierzehnjährige heute deutlich besser.

Dany: Das ist auch das Problem der Odenwald. Aber das hat mit den Grünen nichts zu tun. Und die Debatte dann bei den Grünen, das waren Gruppen innerhalb der Grünen.

Katja: Warum hatten diese Gruppen bei den Grünen solche Anknüpfungspunkte?

Dany: Weil wir für alle Minderheiten waren. Und es wurde vermischt mit § 175, also der Zulassung der Homosexualität, und mit Jugendlichen

Adrian: Richtig.

Dany: Ich kannte die Nobelpreisträgerin Doris Lessing gut, weil ich mit ihrem Sohn auf der Schule war. Sie wurde mal gefragt, in welchem Alter ein junges Mädchen reif für Sexualität ist. Da hat sie gesagt: „Wenn ihr Körper soweit ist.“ Die hat es nicht auf ein Alter fixiert. Ich sage nicht, dass es richtig ist. Ich sage, dass das die Debatte war, die sie geführt hat in den siebziger Jahren als emanzipierte Frau. In den 60iger Jahren wurden bezüglich der Sexualität mit Älteren zum Beispiel immer die afrikanischen Dogon hochgehalten. Bei denen im Stamm wurden junger Männer in ein anderes Dorf gebracht, in dem es eine reife Frau gab, die sie alle sexuell nicht nur aufgeklärt, sondern ihnen am eigenen Körper gezeigt hat, wie das geht. Das war in der Diskussion. Die Diskussion lief über ethnische Vergleiche. Dazu kann man jetzt den Kopf schütteln, aber das war eine große Auseinandersetzung. Und es gab den Film „Herzflimmern“, in dem es um eine Mutter geht, die mit ihrem vierzehnjährigen Sohn schläft. Das war in allen Kinos dieser Gesellschaft.

Adrian: Das ist eine große Debatte. Es stimmt schon.

Michael: Der Unterschied zu Deinem Text ist, dass es dabei um Vier- bis Sechsjährige geht, eine andere Altersgruppe als junge Heranwachsende.

Dany: Ich habe es dreimal erklärt. Du hast es im „Spiegel“ gelesen, du hast es in allen meinen Interviews gelesen und ich werde heute nichts Anderes sagen: Die Kinder haben eine Neugier auf Sexualität und das habe ich zugespitzt.

28 Adrian: Ich verstehe das auch. Man muss diese Äußerungen tatsächlich vor dem damaligen Hintergrund sehen und darf sie eigentlich nicht mit dem Bewusstsein des heutigen Hintergrundes betrachten. Das ist meine entschiedene Meinung. Damit nehme ich den Dany in gewisser Weise in Schutz, das ist mir bewusst und das tue ich gerne, weil er es 1974 geschrieben hat. Das war eine andere Zeit, es kam aus einem anderen Bewusstsein heraus. Es ging um einen Aufbruch und jetzt geht es eigentlich um eine Gegenbewegung, um ein sehr viel konservativeres Denken, was sich sozusagen schützend vor die Kinder stellt. Das kann ich nur begrüßen. Aber grundsätzlich waren 1974 oder 1968 eine vollkommen andere Zeit und ein Aufbruch. Das muss man so festhalten.

Dany: Es gibt keinen Aufbruch, der nicht übers Ziel geht.

Adrian: Ja.

Dany: Die Grünen haben auch immer geglaubt, sie wissen alles besser.

Adrian: Ja, stimmt.

Adrian: Übrigens hat die FDP das Problem ja auch schon gesehen. Sie war auch eine kleine Partei, sage ich jetzt mal despektierlich, die auch Splittergruppen von Pädophilen bewusst oder unbewusst angezogen hat.

Michael: Wie bewertest du die damaligen Debatten heute rückblickend aus deiner Sicht? Was löst es in dir aus?

Adrian: Ich finde Debatten grundsätzlich richtig, muss ich sagen. Ich weiß nicht, ob die Grünen die Meinungsvertreter der Päderastenbewegung nicht früher hätten vom Tisch wieder wegschicken müssen. Das weiß ich nicht. Das kann ich nicht beurteilen.

Dany: Natürlich. Das war dieses schlechte Gefühl gegenüber Minderheiten. Ich finde nur, dass man aufpassen muss. Es gibt die Geschichte der antiautoritären Bewegung der 70iger Jahre und dann kommt die Geschichte der Grünen. Und die kann man nicht miteinander überpflügen. Es gab Leute wie Trittin, die aus dem Maoismus kommen. Das ist eine andere Verklemmtheit. Sexualität war für die überhaupt gar keine Debatte. Bei der geschichtlichen Aufarbeitung der Grünen sieht man, dass es Leute gab, die aus dem Maoismus kamen und auch welche, die bei der Stasi waren. Man kann aber nicht sagen, dass die Grünen die Stasi waren. Genauso gab es Pädophile, aber man kann nicht sagen, dass die Grünen Pädophile waren.

Michael: Die Debatte vom Ende der Sechziger, Ende Siebziger hat da nochmal einen Nachhall gefunden in der Auseinandersetzung in den Achtzigern innerhalb der Grünen über die Programmatik.

29 Dany: Ja, aber da war ich in Hessen und der Nachhall war in Nordrhein-Westfalen - das waren eh unsere Feinde. Und ich will mir den Schuh nicht anziehen. Ich hab da keine Lust drauf. Ich habe an diesen Debatten nicht teilgenommen. Ich wüsste nicht, warum ich mich als Zeitzeuge dieser Debatten ausgeben sollte. Da müsst ihr die in Nordrhein-Westfalen fragen, da ist der Beck der Beste.

Adrian: Ich wollte gerade das Stichwort „“ fallen lassen. Der war ja euer parlamentarischer Geschäftsführer und hat ja nun wirklich einen Text geschrieben, in dem er die Freiheit fordert, einvernehmlichen Sex mit Kindern zuzulassen.12 Nun sage ich und sagen alle Experten: einvernehmlichen Sex mit Kindern gibt es vielleicht in einem von 100 Prozent der Fälle, wenn überhaupt. Es gibt Leute, die sagen, es gibt gar keinen einvernehmlichen Sex von Erwachsenen mit Kindern, weil das hierarchisch ist von oben nach unten und ein Kind in der Regel abhängig ist in welcher Situation auch immer. Von daher gibt es keine Einvernehmlichkeit. Das haben wir auch öffentlich gemacht, dass der Volker Beck das geschrieben hat. Dann habt ihr den so ein bisschen in die zweite Reihe zurückgezogen, aber er taucht immer noch auf. Der hat sich eigentlich nicht wirklich dafür entschuldigt, soweit ich weiß.

Dany: Ich würde sagen, ich bin jetzt einmal Anwalt: Der Volker ist in dem Zuge der ganzen Emanzipation der Schwulen und den damit verbundenen Hürden auch übers Ziel hinausgeschossen. Da war dieser Traum, eine Ebene zu finden, wo die Sexualität im herrschaftsfreien Raum schön und gut für alle ist.

Adrian: Wenn es den gäbe.

Dany: Ja, die Kritik ist ja okay. Aber ich will ihn wirklich nicht für immer verdammen. Ich finde diesen Text schlimm. Es gab auch Leute, die die Kulturrevolution gut gefunden haben mit Millionen Toten. Es gab DKPler oder Leute, die bei den Grünen waren und die DDR bejubelt haben. Da hat man auch irgendwann gesagt, dass das falsch war. Und so würde ich mit dem Volker auch verfahren. Aber ich finde, das müsste eine Diskussion sein, die nicht strafend sein will.

12 Zu dem betreffenden Beitrag, der 1988 in einem öffentlich zugänglichen Sammelband erschien, heißt es im Zwischenbericht des Göttinger Instituts: „Dabei werden aber ausdrücklich nicht jene Argumente akzeptiert, die von einem ‚angeblich essentialistisch beim Kind vorhandene(n) Bedürfnis nach Sexualität‘ ausgehen. Eine mögliche Reform des Schutzalters oder eine Strafabsehensklausel wird an drei Bedingungen geknüpft.“ „Beck bestreitet nicht, einen solchen Beitrag verfasst zu haben und hat sich auch wiederholt, frühzeitig und deutlich von den strittigen Thesen des Beitrags distanziert.“ (vgl. unten, Kapitel 3.2, S.). Für diese Positionsänderung und für seine Rolle beim Abgrenzungsbeschluss des Bundeshauptausschusses von 1989 wurde er von den Pädophilen und ihren Unterstützern kritisiert (vgl. Klecha in: Walter/Klecha/Hensel Die Grünen und die Pädosexualität. Göttingen, 2015, 202 f.) Laut Klecha war für den Text der "Abschied von der Forderung der Streichung des Sexualstrafrechts" zentral (Klecha, Die Grünen zwischen Empathie und Distanz in der Pädosexualitätsfrage. Göttingen, 2016, 224 f.). Im Jahr 2013 erklärte Volker Beck, der erst 1990 durch Eintritt in den KV Köln zu den Grünen NRW gewechselt war, der Text sei von der „völlig falschen Annahme“ geprägt, „dass man theoretisch zwischen gewaltlosen, angeblich „harmlosen“ Sexualkontakten mit Zustimmung und gewaltförmigen, schädlichen Sexualkontakten zwischen Erwachsenen und Kindern unterscheiden könne. ... Dafür entschuldige ich mich jetzt nach Vorliegen des Originalskripts nochmals aufrichtig und distanziere mich erneut.“

30 Adrian: Ich meine, es ist nichts klarer als die Differenzierung zwischen Schwulen und Pädosexuellen. Da muss man wirklich immer eine ganz klare Trennungslinie ziehen.

Katja: Also würdet ihr nicht sagen, dass die Diskussion aus den 60ern/70ern quasi stringent in die Beschlusslage bei den Grünen gemündet ist?

Dany: Das ist völlig unbegründet. Die Diskussion um die 60er/70er Jahre war eine Allgemeindiskussion um Sexualität und Befreiung. Es war auch eine Diskussion der Frauen mit Forderungen wie: „Mein Bauch gehört mir!“, „Meine Sexualität gehört mir!“ Die Gesellschaft war verklemmt, in den 60er/70er Jahren hast du dich von etwas befreit. Du musst dir mal vorstellen, du seist in den 60er Jahren Student oder Studentin gewesen und hättest ein Zimmer oder irgendwo eine Wohnung gehabt. Wenn du da mit einem Mann oder einer Frau zusammen warst, konnte der Wohnungsbesitzer wegen Kuppelei angezeigt werden. Das ist die Gesellschaft, gegen die man revoltiert hat. Es ist eine Gesellschaft, die prüde gegenüber Kindern ist und Kindersexualität gibt es überhaupt nicht. Frag einmal Leute wie Barbara Sichtermann - es gibt ja Leute, die darüber gearbeitet haben. Lass mal das Pädophile weg. Lies Bücher wie „Sexfront“ oder „Sexualität und Klassenkampf“ aus dem Verlag Neue Kritik, die damals rauskamen. Dann schlackert ihr mit den Ohren. Aber das ist eine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft damals.

Adrian: Diese Bücher lagen damals tatsächlich in jeder WG, in jeder Schule, in jedem Lehrerzimmer. Das war also schon wirklich eine Diskussion, die breit aufgestellt war.

Michael: Und warum hat es so lange gedauert, bis es dann eine andere Wahrnehmung gegeben hat? Du hast doch vorhin gesagt, dass es bis 2010 gedauert hat.

Adrian: Ich würde sagen, das hat so lange gedauert, weil es erst mal diese Vorbereitung brauchte und dazu gehören die Jahre 60, 70, 80 auch.

Dany: Da waren auch ein paar Leute, die ihre Verdienste haben, Alice Schwarzer etwa oder Günter Amendt.

Adrian: Das Institut für Sexualforschung in Berlin nicht zu vergessen. Da gab es in den dreißiger Jahren mit Magnus Hirschfeld einen bekennenden Schwulen, der schon sehr früh richtig aufklärerisch gearbeitet hat.

Dany: Und wie lange hat es gedauert, bis das Problem erkannt wurde? Wie lange hat es gedauert, bis Vergewaltigung in der Ehe anerkannt wurde? Wann kam das Gesetz, in den 90iger Jahren?

Adrian: Frühestens.

31 Dany: Dabei ist das doch eine Selbstverständlichkeit! Das hätte doch schon in den zwanziger Jahren beschlossen werden müssen. Es dauert, bis eine Gesellschaft kollektiv bestimmte Sachen einsieht. Und da kann man den Grünen vorwerfen, dass sie unsensibel waren auf dieser politischen Ebene. Das kann man machen und das finde ich richtig. Aber dann müsste man wirklich einmal die Strömungslinien in dieser Auseinandersetzung aufarbeiten, aber ohne anklägerisch zu sein, wie schon gesagt.

Michael: Wie hast du denn damals die Indianerkommune wahrgenommen, die ja immer wieder aufgetaucht ist?

Dany: Ich habe sie nur im Fernsehen gesehen. 1984 war ich eine Randperson bei den Grünen. Ich bin kein Zeitzeuge für die Grünen-Auseinandersetzung. Für die gesellschaftliche schon.

Katja: Das heißt, diese ganze Diskussion Anfang der 80er hast du gar nicht mitgekriegt.

Dany: Nein. Zu dem Zeitpunkt stand das überhaupt nicht zur Debatte. Die Themen bei den Grünen waren da die Atombewegung und die Friedensbewegung. Später dann, als die Grünen einen bestimmten gesellschaftlichen Einfluss gewonnen haben, kamen dann diese Gruppen.

Michael: Mich interessiert noch was anderes: Wann tritt innergesellschaftlich der Lernprozess ein, dass diese Positionen, die man Ende der 60er, Anfang der 70er eingenommen hat, auch Schattenseiten haben?

Dany: Die antiautoritäre Bewegung hat Schattenseiten. Und diese Radikalisierung einer Sexualitätsdebatte ist eine der fünf, sechs Schattenseiten. Das kannst du aber nicht darauf reduzieren.

Michael: Die Frage ist aber und das ist für eine Partei wichtig: Was sind die Lernprozesse für die Zukunft?

Dany: Das können meiner Meinung nach nur ehrlich die Leute aus Nordrhein-Westfalen machen, dort haben die Fundis dominiert. Da hat es sich abgespielt. In Hessen war das nicht im Programm. Ich nehme es dem Jürgen total ab, wenn er sagt: „Das haben wir zusammengeklebt und es hat uns gar nicht interessiert.“

Michael: Ist es so? Es gibt schon 1980 eine Bundesparteitagsposition und die Forderungen waren in mehreren Kommunal- und Landtagswahlprogrammen. Waren es Strukturen oder waren das einzelne Akteure?

Adrian: Aus meiner Sicht waren es durchaus einzelne Akteure, aber einflussreiche Akteure. Das war natürlich der Versuch einer Einflussnahme und damit einer Parteinahme einer neuen Partei.

32 Katja: Mir will das echt noch nicht in den Kopf, dass man eine solche Trennung macht zwischen dem, was in den 60ern/70ern diskutiert worden ist und der Programm- und Beschlusslage der Partei.

Dany: Weil es andere Menschen waren.

Katja: Aber es geht ja um die Ideen, die da transportiert wurden.

Dany: In den 60er und 70er Jahren gab es so die Auseinandersetzung nicht, außer jetzt in meinem Text. Deswegen habe ich ja diesen Fotoband „Zeig mal“ erwähnt, der hunderttausende von Auflagen hatte und über den man heute sagt, das sei ein Pädophilenband. Und damals aber meinte die gesamte Gesellschaft, damit könne man pädagogisch mit Kindern arbeiten.

Adrian: Ich verstehe schon deine Verwunderung, dass wir hier beide im Grunde versuchen, das eine vom anderen zu trennen. Logischerweise führt das eine in die Richtung des anderen, so wie das 19. Jahrhundert ins 20. Jahrhundert führt. Aber eine wirkliche Verquickung kannst du im Schluss so nicht feststellen, meiner Ansicht nach.

Dany: Wenn uns eins fremd war in der antiautoritären Bewegung, dann waren das Parteien. Wenn du mir 1974 gesagt hättest, ich würde in eine politische Partei eintreten oder dass ich dreißig Jahre später im Parlament enden würde! Oder wenn du dem Joschka, als er mit seiner Lederjacke hier rumlief, gesagt hättest, dass er im Parlament enden würde, dann hätte er dich für verrückt erklärt. Als ich anfing, in dieser Stadt zu diskutieren und zu fordern, wir müssten uns den Grünen annähern und weg von dem Alternativghetto, da hat Joschka dazu gesagt: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“. Das ist der gleiche Mensch und er hat dann diesen Sprung gemacht - er, aber andere nicht.

Adrian: Das war übrigens nicht Joschka, sondern Adorno, der das zuerst gesagt hat.

Dany: Aber der Joschka hat das dann im Text verbrochen. Nein, ich will damit sagen, dass es eine Gesellschaft und dass es Stimmungen gibt. Für diese Stimmungen haben so Leute wie ich einen entscheidenden Beitrag geleistet. Wie z.B. in „Der große Basar“, wobei man immer sagen muss, dass das zweieinhalb von 270 Seiten sind. Was die Bedeutung dieser zwei Seiten aufgewertet hat, ist, dass der Vater Röhl diese Passagen in „das da“ abgedruckt hat - das war so ein Wichsblatt.

Adrian: Es gab „Konkret“, es gab „St. Pauli-Nachrichten“, es gab „das da“. Die sahen alle eher gleich aus.

Dany: Es gibt gesellschaftliche und personelle Brüche. Aber eine Person oder mehrere Personen führen nicht einfach eine Debatte. In den 60er/70er Jahren wurden die Notstandsgesetze

33 bekämpft. Es gibt zwei Debatten, die uns in den siebziger Jahren gar nicht in den Kopf kamen. Die eine war die Homosexuelle um § 175. Und als zweites ist in dieser Zeit niemandem aufgefallen: das Staatsbürgerrecht. Man kann viel darüber lesen, was die Notstandsgesetze aus dieser Verfassung Böses machen werden, aber dass wir ein ethnisches Staatsbürgerrecht haben, wird nicht diskutiert. Das ist heute unverständlich. Und bei den Grünen musste ja alles in Parteianträge. Das war uns so fremd und ich musste es erst mühselig im Jahr 1984 lernen. Mein erster Antrag war „Für eine Intervention in Bosnien“ im Jahr 1994 – die Abstimmung ergab 35 Stimmen gegen 800, sehr erfolgreich, wirklich.

Michael: Dann nochmal zu einem anderen Zeitpunkt: Wir haben ja 2013 mit der Theodor-Heuss- Preis-Verleihungen eine riesige Debatte erlebt, obwohl die Fakten nicht neu waren. Was ist denn eure Einschätzung, warum kam es 2013 nochmal so hoch?

Dany: Das ist eine Verkettung von Sachen. Erstmal hatten Journalisten das sehr intelligent von ihrer Sicht aus gemacht. Zweitens, als die konservative Seite hörte, dass ich den Preis kriegen sollte, war sie verstört, und dann griff irgendjemand diesen Text wieder auf. Andreas Voßkuhle hätte bei der Verleihung reden sollen und wollte dies dann aber nicht. Und so haben wir schon die Auseinandersetzung an der Spitze des Staates. Die Heuss-Stiftung stand dabei unter Druck und wollte es aber trotzdem machen. Und dann wollte ein Teil der Konservativen mal eins auswischen. Und in der Zwischenzeit war dann noch das mit der Odenwaldschule. Und all das hat dann dazu geführt, dass das nochmals skandalisiert wurde, nachdem das zehn Jahre vorher schon mal skandalisiert worden war. Es ist völlig egal, wie oft man den Text gelesen und veröffentlicht hat, das kann man jederzeit wieder machen, auch in hundert Jahren wieder. Auf meinem Grab wird dieser Text stehen. Ich glaube, jeder von den 68ern hat schon mal eine in die Fresse gekriegt, Joschka etwa mit der Gewalt. Mich haben sie ja eigentlich nie erwischen können. Nicht in Bezug auf Gewalt zum Beispiel, denn ich war derjenige, der sie davon abgehalten hat. Das sagt jeder, ich war kein Kommunist, ich war gegen totalitäre Systeme, befreundet mit Hannah Arendt. Und da gibt es einen Teil der Leute, die sagen: „Jetzt haben wir ihn, jetzt können wir ihn nochmal vorführen.“ Die Leute meinen, dass die 68er so hart mit allen waren, dass man sie dasselbe spüren lassen sollte. Genauso, wie die 68er hart waren mit den Taten der Eltern und wie sie sagten „einmal Nazi, immer Nazi“, so heißt es jetzt: einmal Pädo, immer Pädo. Und das hat sich hochgeschaukelt. Einige haben dann die Kinder und Eltern befragt, die FAZ hat das gut gemacht. Die wollten ein Kind finden, das sagt, „er hat mich angefasst“. Das ist alles verrückt.

Katja: Es hat ja auch einen Brief der Eltern zu Deiner Verteidigung gegeben, dessen Richtigkeit in Frage gestellt wurde.

Dany: Ja, es wurde gesagt, ich hätte den Brief geschrieben. Das muss man sich mal überlegen. Ich werde angeklagt und die Eltern schreiben den Brief. Sie schicken den Brief in mein Büro und

34 mein Büro schickt ihn weiter. Dann wird gesagt: „Ja, seht ihr, das kommt vom Büro von Cohn- Bandit“. Das ist doch Paranoia. So hat sich das hochgeschaukelt und nichts ist schöner als eine große Vorführung von Mythen. Jeder soll mal was abkriegen.

Adrian: Ich sehe eigentlich den Ablauf der Geschichte genauso wie du. Obwohl ich teilweise aus einer anderen Perspektive drauf geguckt habe, das gestehe ich gerne. Ich fand es nicht so klasse, dass du den Preis gekriegt hast – das weißt du ja auch – weil du dich in Sachen Odenwaldschule nicht geäußert hast. Darüber haben wir gesprochen.

Dany: Ja, darüber haben wir gesprochen.

Michael: Weil es deine Ersatzfamilie war, hast du zur Odenwaldschule geschwiegen?

Dany: Ja, ich bin als Dreizehnjähriger in die Odenwaldschule gekommen. Dann als Vierzehnjähriger ist mein Vater gestorben, als Siebzehnjähriger ist meine Mutter gestorben und die Odenwaldschule war meine Heimat bis zum Abitur. Und die Pädophilie war nicht unsere Sache. Also, es war nicht unsere Odenwaldschule. Wir waren ja auch völlig verdattert. In der Debatte der Odenwaldschule in den 80er habe ich nur gesagt: die Erwachsenen haben sich in die Sexualität der Schüler nicht einzumischen. Das Beste, was sie machen können, ist Kondomautomaten aufzustellen. Und darum ging es in der Debatte. Und dann wurde das in der Presse umgedreht.

Michael: Was umgedreht?

Dany: Es wurde gesagt, ich hätte die Sexualität zwischen Erwachsenen und Schülern bejaht. Obwohl es überhaupt nicht mein Thema war.

Michael: Wie hast du Adrian die Debatte wahrgenommen, die dann 2013 in der Bundestagswahl über die Grünen hereingebrochen ist?

Adrian: Ich habe vorhin schon gesagt, ich mag Debatten grundsätzlich gerne. Ich finde, dass Debatten, wenn sie mit Kultur geführt werden, immer etwas sehr Sinnvolles haben. Ich habe auch den Jürgen Trittin verstanden, wie der mal laut geworden ist. Ich verstehe das. Aber ich verstehe auch, dass man darüber diskutiert, warum diverse Texte in den Programmen der Grünen eben untergekommen sind. Und dass ihr dem nachgeht finde ich klasse, das finde ich wichtig. Auch dass es eine wissenschaftliche Untersuchung von außen gibt, finde ich wunderbar. Vor allen Dingen noch eine große Bitte, vielleicht sogar eine Herausforderung: dass sich die Grünen in Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs auch deutlich positionieren für Forderungen, die wir zum Beispiel als Betroffenenbeirat in Berlin stellen.

35 Dany: Ich glaube, wir haben einen Fehler gemacht. Ich weiß noch, dass sie mich konfrontiert haben, als ich mein letztes Spiegelinterview gegeben habe: „Bei den Grünen im Archiv findet man diese Beschlusslage“. Da habe ich gesagt: „Ja, das war damals“ - war nicht gut ausgedrückt – „Mainstream, das war eine Auseinandersetzung damals. Das wusste doch jeder“. Und dann bin ich irrsinnig beschimpft worden, wie ich so etwas sagen könne und ich hätte die darauf gebracht, obwohl sie das alles hatten. Das heißt: Ab dem Moment, wo es aufkam, hätten die Grünen sagen können: „Ja, da hat es den Bericht gegeben.“ Stattdessen wurde einer nach dem anderen herausgezogen, anstatt offensiv zu sagen: „Ja, das gab es und zwar aus den und den Gründen. Das war falsch usw.“ und fertig, aus!

Adrian: Es wurde so lange wie möglich geleugnet. Das ist das klassische Täterverhalten.

Katja: Ich habe es auch falsch beantwortet, weil ich es nicht wusste und Informationen hatte, die sich dann als falsch herausgestellt haben.

Dany: Ja, aber das ist ja nicht der Ansatz. Es ist ja, wie ich gesagt habe: klar, ich weiß ja, dass es diese Auseinandersetzung gab. Dann wusste das auch jeder.

Michael: Was hat es für dich persönlich bedeutet, dass es so gelaufen ist, und was bedeutet es für die Frage deiner Lebensleistung und der deiner Generation?

Dany: Das hat für mich keine Bedeutung. Das ist ja in Frankreich vor 20 Jahren auch hochgegangen. Dann wurde zwei Wochen heftig diskutiert. Die Debatte damals war unheimlich hart und nach zwei Wochen war es zu Ende. In Frankreich interessiert das niemanden mehr.

Michael: Es gibt Unterschiede in der französischen und der deutschen Debatte. Aber du hast ja vorhin gesagt, auf deinem Grabstein würden diese Sätze stehen.

Dany: In Deutschland, ja. Es ist klar, die deutschen Grünen haben so gelitten. Das war zum Teil unfair.

Adrian: Aber sie haben nicht deinetwegen gelitten. Das ist eine regelrechte Schuldumkehr.

Dany: Das Irreste an der Deutschen Debatte ist, dass das ganze Ding verschwunden war, als die Bundestagswahl vorbei war.

Michael: Weil das Ziel erreicht wurde? Deine und die Grüne Lebensleistung zu schmälern?

Dany: Die der Grünen, ja, aber nicht meine. Mich können sie nicht erreichen. Das hast du doch gesehen, die Berichterstattung als ich aufgehört habe im Parlament. Hat irgendjemand gesagt, „das ist der Pädophile, der hört auf“? Also überhaupt nicht.

36 Adrian: Ich glaub dir sofort, was du sagst. Ich hab dich auch so kennengelernt neulich. Wir waren zwar auf der gleichen Schule, aber zu anderen Zeiten. Ich glaub aber schon, dass diese Debatte, natürlich befeuert von Gegnern der Grünen, grundsätzlich auch den Grünen geschadet hat. Aber geschadet hat auch der Umgang damit. Aber das ist überhaupt nicht sein Fehler.

Dany: Na gut, mein Text war ja veröffentlicht.

Adrian: Ja, 1974.

Dany: Man kann, das ist ja das Interessante, mir alles vorwerfen, aber nicht, dass es ein Geheimtext ist.

Michael: Die Beschlüsse waren ja 1980 und fortfolgende auch alle öffentlich.

Adrian: Nein, aber das wiederum führe ich tatsächlich darauf zurück, dass sich das Bewusstsein für solche Beschlüsse einfach inzwischen sehr verändert hat. Hätte es 1980 oder 1982 in irgendeiner Zeitung gestanden, ich weiß es nicht, ob es da eine große Diskussion gegeben hätte.

Michael: Es wurde 1980 nicht über diese Beschlüsse berichtet, erst 1985 wurde es zur Auseinandersetzung in NRW.

Katja: Eigentlich hätte es da schon zu denken geben müssen.

Adrian: Eigentlich schon, das ist richtig.

Michael: Danach hören solche Beschlüsse auch weitgehend auf. Was bedeuten denn die Debatten und die Auseinandersetzungen vom letzten Jahr aus eurer Sicht heute für die Grünen Partei? Wächst daraus eine Verantwortung oder eine Verpflichtung für die Grünen?

Adrian: Das wäre ein Wunsch von mir persönlich, vielleicht auch von meinen Verein an euch, dass ihr eine Verantwortung für Kindesschutz und Kindeswohl übernehmt, verstärkt übernehmt. Das fände ich klasse.

Katja: Also auf der politischen Ebene nach vorne.

Adrian: Auf der politischen Ebene nach vorne, ja. Das wäre wünschenswert. Die FDP, muss man ja auch deutlich sagen, hat wirklich vier Jahre lang unter Leutheusser-Schnarrenberger und ihrem Staatsekretär einen Gesetzentwurf in der Schublade gehalten, der strafverschärfende Gesetze vorgesehen hatte: Verlängerung von Verjährungsfristen, Hemmungen usw. Vier Jahre lang mussten wir darauf warten, bis die schon die Türen fast zu gemacht haben und dann haben sie das nochmal vorgelegt, kurz vor Ende der letzten Legislaturperiode. Darauf hättet ihr ja auch gucken können.

37 Katja: Für uns ist auch die Frage sehr relevant: Waren wir als Partei ein Ort der Legitimation für konkrete Taten? Wie würdet ihr das aus eurer Perspektive beantworten?

Dany: Das muss er sagen.

Adrian: Also ein Ort der Legitimation? Dafür, muss ich gestehen, darf man den Einfluss der damaligen Grünen nicht überschätzen, um es mal so diplomatisch auszudrücken. Ich glaube, niemand hätte sich darauf berufen. Holzapfel zum Beispiel, der lange Zeit hessischer Kultusminister der SPD war, hat über die Odenwaldschule eine sehr schützende Hand gehalten. Grundsätzlich würde ich euch also jetzt keine täterbegünstigenden Strategien oder Szenarien vorwerfen.

Dany: Was der Walter schreibt und was mir auch plausibel erscheint, ist: Es war eine organisierte Gruppe, die versucht hat, die humanistische Union, zum Teil die FDP und die Grünen zu instrumentalisieren, um die gesellschaftliche Debatte um Sexualität mit Kindern voranzubringen. Und natürlich könnt ihr zusammenfassend sagen, dass diese Debatte um die Kindersexualität in den sechziger Jahren anfing und im größeren Rahmen mit der Anerkennung der Homosexualität zwangsläufig als Debatte gefolgt ist. Die Grünen haben hier sträflich vernachlässigt, was da eigentlich gemacht wurde, eher als dass es um Gesetze oder Programmsachen ging. Aber die grüne Funktion in der Gesellschaft war nicht, Pädophilie zu verbreiten oder zu begünstigen. Die Grünen haben damals eine ganz andere gesellschaftliche Funktion gehabt: Anti-Atomkraft, pazifistisch und für Ökologie.

Michael: Herzlichen Dank für das Gespräch. Ich frage mich ja immer, was am Ende des Tages die Irrtümer unserer Generation im Vergleich zur Grünen Gründergeneration sind. Aber da können wir ja in 20 Jahren noch mal drüber reden.

1.3. Die Aufarbeitungs-Debatte auf der BDK in Hamburg

Zur Vertiefung der parteiinternen Auseinandersetzung mit der Aufarbeitung hat der Bundesvorstand das Thema auf die Tagesordnung der Bundesdelegiertenkonferenz Hamburg im November 2014 gesetzt. Im Rahmen der Debatte war Adrian Koerfer als Vorsitzender des Betroffenenverbandes Glasbrechen e.V. als Gastredner eingeladen.

38 1.3.1. Verantwortung für die eigene Geschichte übernehmen - Beschluss der 38. Ordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz vom 22. November 2014

Verantwortung für die eigene Geschichte übernehmen: Erkenntnisse und Konsequenzen aus der Aufarbeitung der Pädophilie-Debatte bei den Grünen in den 1980er Jahren.

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben einen umfassenden Prozess der Aufarbeitung ihrer Versäumnisse in der Parteigeschichte im Umgang mit dem Thema Pädophilie angestoßen. Seit November 2014 liegt uns nun ein ausführlicher, von unabhängigen Wissenschaftlern des Göttinger Instituts für Demokratieforschung erarbeiteter Bericht zu diesem Abschnitt unserer Parteigeschichte vor. Gleichzeitig ist die parteiinterne Aufarbeitung noch nicht zu Ende, die vom Bundesvorstand im Dezember 2013 eingerichtete Arbeitsgruppe Aufarbeitung arbeitet dazu noch weiter bis Mitte 2015.

Nach allem, was diese gründliche Aufarbeitung und Rückschau bis heute darlegen konnte, ist klar: Wir Grüne haben in den 1980er Jahren Aktivisten, die eine Straffreiheit von sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern forderten, ein Forum geboten und deren Forderungen in einigen Fällen auch in Beschlüssen programmatisch unterstützt.

Diese Beschlüsse waren zu keinem Zeitpunkt akzeptabel. Wir bekräftigen, dass sie für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon lange keine Geltung mehr haben. Wir distanzieren uns in aller Entschiedenheit von den damaligen Forderungen und bedauern zutiefst, dass es in der frühen Parteigeschichte zu solchen Entscheidungen kommen konnte.

Denn wir wissen als Grüne seit langem: Eine einvernehmliche Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern kann es nicht geben. Sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern bedeuten immer sexualisierte Gewalt gegen Kinder und einen enormen Machtmissbrauch mit zum Teil schwerwiegenden, oft lebenslangen Folgen für die Betroffenen.

Wir bitten deshalb alle Opfer sexuellen Missbrauchs um Entschuldigung, die sich durch unsere Positionen und Debatten in den 1980er Jahren in ihrem Schmerz und ihrem Leid verhöhnt fühlen. Wir bedauern zutiefst, dass Täter unsere Beschlüsse als Legitimation ihrer Taten empfunden haben können. Der daraus erwachsenen historischen und moralischen Verantwortung wollen wir uns stellen.

Erkenntnisse aus der Aufarbeitung

In den 1970er Jahren nutzten pädophile Interessengruppen den politischen Kampf gegen repressive Moralvorstellungen und für ein liberaleres Sexualstrafrecht, um ihre Forderungen nach einer Legalisierung von sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern als Anliegen einer breiten Emanzipationsbewegung darzustellen. In den 1980er Jahren gelang

39 es pädophilen Aktivisten in einigen Fällen auch, die Forderung nach Straffreiheit pädophiler Handlungen in Beschlüssen der damals noch jungen grünen Partei auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene zu verankern.

Die Grünen verstanden sich zu dieser Zeit als Sammelbecken und Sprachrohr für verschiedenste gesellschaftliche Gruppen, die nicht Teil des damaligen politischen Mainstream-Diskurses waren und Minderheitenpositionen vertraten. So konnten auch die Anliegen der pädophilen Aktivisten in Teilen der grünen Partei zu dieser Zeit eine politische Vertretung finden, die zwar nicht unwidersprochen blieb, jedoch nach der damaligen Selbstbeschreibung als Bewegungspartei von zahlreichen Grünen als legitim erachtet wurde. Die Vorstellung, Straffreiheit für sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern sei eine legitime politische Forderung, verlor sich in der Partei dann ab Mitte der 1980er Jahre immer mehr, bis die pädophilen Forderungen und Aktivisten schließlich gänzlich aus der Partei gedrängt werden konnten.

Danach haben wir als Grüne den Fehler begangen, dieses Kapitel als politisch abgeschlossen zu betrachten, die Verantwortung für die eigene Parteigeschichte nicht explizit zu benennen und die bis heute verstörende Wirkung der damaligen Beschlüsse viel zu lange zu ignorieren. Eine umfassende Aufklärung und Aufarbeitung, wie sie seit Beginn des Forschungsprojekts des Göttinger Instituts für Demokratieforschung und seit dem Einsetzen der internen Arbeitsgruppe Aufarbeitung stattfindet, hätte es bereits viel früher geben müssen.

Wir sind als Partei gefordert unsere Geschichte in Gänze anzunehmen und sie aufzuarbeiten. Das sind wir den Betroffenen sexuellen Missbrauchs schuldig. Auch unsere Mitglieder wollen wissen, warum damals nicht erkannt wurde, dass die Vorstellung einvernehmlicher Sexualkontakte zwischen Erwachsenen und Kindern falsch und absolut inakzeptabel ist.

Der Bundesvorstand hat im Mai 2013 die Förderung eines Forschungsprojektes des Göttinger Instituts für Demokratieforschung übernommen, in dem Umfang, Kontext und Auswirkungen pädophiler Forderungen bei den Grünen wissenschaftlich untersucht wurden. Die Recherchen der unabhängigen Wissenschaftler wurden von der parteiinternen Arbeitsgruppe Aufarbeitung begleitet und unterstützt, die der Bundesvorstand im Dezember 2013 eingesetzt hat, um auch die parteiinterne Aufarbeitung voranzutreiben. Nach einem ersten Zwischenbericht des Instituts für Demokratieforschung vom Dezember 2013 liegt nun dessen Abschlussbericht vor.

Damit gibt es erstmals eine wissenschaftlich fundierte Untersuchung über Herkunft, Entstehung und Entwicklung der Pädophilie-Debatte bei den Grünen in den 1980er Jahren. Der Bericht zeichnet nach, wie die in einigen Medien, innerhalb der sozialen Bewegungen, auch in anderen Parteien, Organisationen und Gruppen sowie in Teilen der Rechts-, Erziehungs- und Sexualwissenschaften bereits in den 1960er und 70er Jahren diskutierten Forderungen nach Straffreiheit pädophiler Handlungen in grüne Debatten und Beschlüsse Eingang finden konnten.

40 Bei uns Grünen trugen damals die klare Haltung im Diskurs über sexuelle Befreiung, unsere Affinität für die Anliegen gesellschaftlicher Minderheiten und unsere antirepressive Grundhaltung zur Bereitschaft bei, Forderungen, sexuelle Kontakte zu Kindern straffrei zu stellen, Gehör zu schenken. Dabei dienten vor allem der Kampf für die Angleichung der Schutzaltersgrenzen bei Schwulen sowie die Forderungen nach gleichen Rechten für Kinder und Erwachsene als Anknüpfungspunkte für pädophile Aktivisten. Dagegen gab es innerhalb der grünen Partei von Anfang an auch Gegendiskurse, Einsprüche und heftigen Widerstand, der besonders von den Frauen und FeministInnen getragen wurde. Auch bei den Grünen aktive Schwule haben sich gegen die Vereinnahmung durch pädophile Aktivisten gewehrt, so dass es in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zum Bruch mit ihnen kam.

Konsequenzen aus der Aufarbeitung

Politisch engagieren wir uns seit Langem für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Missbrauch, für Präventionsprojekte und die Unterstützung der Betroffenen. Aus der Aufarbeitung unserer Geschichte ergibt sich die Verantwortung, dass sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weiter entschieden mit dem Problem des sexuellen Missbrauchs in unserer Gesellschaft auseinandersetzen.

Die grüne Bundestagsfraktion hat sich seit Mitte der 1980er Jahre mit großer Kontinuität mit dem Thema sexuelle Gewalt gegen Kinder bzw. sexueller Missbrauch von Kindern befasst und sich für Kinderschutz engagiert – angefangen bei einer Großen Anfrage zum „Sexuellen Missbrauch von Kindern“ bereits im Jahr 1984 bis hin zum aktuellen Antrag „Kinder schützen – Prävention stärken“ vom September diesen Jahres. Wir stellen uns auch heute solidarisch an die Seite aller von sexueller Gewalt Betroffener. Wir Grüne sehen uns in Bund, Ländern und Kommunen in der Verantwortung, die Empfehlungen des „Runden Tischs Sexueller Kindesmissbrauch“ konsequent umzusetzen. Wir wollen, dass Kinder überall bestmöglich vor Übergriffen geschützt werden. Die Perspektive der Opfer soll im Mittelpunkt stehen. Dazu gehören der Ausbau niedrigschwelliger Beratungsangebote, die ausreichende finanzielle Unterstützung des „Fonds Sexueller Missbrauch im familiären Bereich“ und ein breites und bedarfsgerechtes Angebot an Präventionsmaßnahmen. Die Arbeit des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs wollen wir dauerhaft absichern und im Bereich der Aufarbeitung weiter ausbauen.

Es ist eine Illusion zu glauben, dass es irgendeinen gesellschaftlichen Bereich gäbe, in dem Prävention und Achtsamkeit gegenüber sexueller Gewalt verzichtbar wären. Das haben wir aus der intensiven Beschäftigung mit dem Thema gelernt. Deshalb wollen wir auch in den Strukturen unserer Partei die Sensibilisierung für das Thema sexualisierte Gewalt schärfen. Der Bundesverband, die Landesverbände und die Grüne Jugend werden zu diesem Zweck

41 Ombudspersonen benennen, die Anlaufstellen für Parteimitglieder zum Thema sexualisierte Gewalt sind.

Wir werden die Aufarbeitung der Pädophilie-Debatte auch nach Abschluss des Forschungsprojekts des Göttinger Instituts für Demokratieforschung fortsetzen. Die Diskussion um pädophile Strömungen und Forderungen innerhalb der Grünen zeigt, wie wichtig die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist.

1.3.2. Rede von Adrian Koerfer, Vorsitzender von Glasbrechen e.V.

Vielen herzlichen Dank, liebe Simone, lieber Cem, lieber Markus, liebe Ekin, lieber Michael, liebe Delegierte.

Meine Frau riet mir, Euch zu siezen, ich habe mich entschieden, Sie zu duzen. Euch allen herzlichen Dank für Euer teilweise schon frühes Interesse an unserer Sache und daher für die Einladung, hier vor Euch allen sprechen zu dürfen. Kindesmissbrauch hinterlässt Spuren im Hirn. Unter bestimmten Bedingungen kann sich die Hinterlassenschaft von Kindesmissbrauch in den Hirnen erwachsener Opfer als Verletzung an einer ganz bestimmten Stelle nachweisen. Das entnahm ich vor Jahren der Süddeutschen Zeitung. Es handelt sich „vermutlich um die Störung eines umfassenden Netzwerkes in dem autobiografische Erinnerungen gespeichert und mit emotionalen Beiwerten verbunden werden. Ähnliches ist bei posttraumatischen Verhaltensstörungen zu erwarten.“ Das schrieb mir neulich Professor Wolf Singer, der Hirnforscher, aus Anlass meines Vortrages bei Euch. „Kindesmissbrauch ist Seelenmord.“ Das ist ein Zitat von Frau Professor Luise Reddemann.

Was will uns das bedeuten? „Kindesmissbrauch ist kein Kavaliersdelikt, keine Tat nach Gutsherrenart“, wie Alice Schwarzer neulich noch pointiert formulierte. Kindesmissbrauch versetzt die Opfer desselben in eine fatale, lebenslänglich anhaltende Form der Persönlichkeitsveränderung. Ich spreche hier von mir. Ich selbst hatte jahrzehntelang das Gefühl immer zu versagen, immer eben gerade nicht stark zu sein, wo ich hätte stark sein müssen, immer gerade nicht nein zu sagen, wo ich hätte nein sagen müssen und jede mögliche dauerhafte Nähe eines anderen Menschen bei mir wurde auf seelische Prüfstände gestellt, gegen die das Laufen über luftige Hängebrücken in größter Höhe ein Kinderspiel ist. Viele Opfer päderastischer und pädosexueller Verbrechen….

Kleiner Exkurs: Die wenigsten Täter und Täterinnen im Bereich des Kindesmissbrauchs sind sogenannte Pädophile. Die meisten von ihnen sind ganz gewöhnliche Kriminelle, die ohne jedes Gedenken an die Folgen ihrer Taten Kinder selbstsüchtig missbrauchen, benutzen, erniedrigen, in Abhängigkeiten zwingen, sie unendlich tief hinab ziehen und beschmutzen. Exkursende. Viele Opfer des pädosexuellen Kindesmissbrauchs kommen bis heute kaum vor die Tür, sind nicht

42 in der Lage, Anträge auf Anerkennungszahlungen zu stellen, sind nicht in der Lage zu Ämtergängen. Und viele Opfer des pädosexuellen Missbrauchs aus den siebziger und achtziger Jahren sind heute bereits tot. Wir haben es mit einem schweren Thema zu tun. Wir Opferverbände und Hilfsorganisationen gehen von folgenden Zahlen auch heute noch aus: Jedes vierte Mädchen, jeder achte Junge wird zum Opfer pädokriminellen Missbrauchs im Laufe der Schulzeit. Ungefähr vierzig Kinder werden pro Tag Opfer von Missbrauch. (Laut BKA, 2011). Circa 15.000 Kinder werden also in Deutschland jährlich neue Opfer pädosexueller Gewalt. Jedes zweite Mädchen im Bereich von Behinderteneinrichtungen wird mit allergrößter Wahrscheinlichkeit ein Opfer von pädosexueller Gewalt in der jeweiligen Einrichtung. Heute sprechen wir von sechs bis acht Millionen erwachsener Opfer pädosexueller Gewalt päderastischen Missbrauchs in der Bundesrepublik. Meine vier Mantren des Kindesmissbrauchs lauten – und die sind aus einer Erfahrung und einer Beschäftigung mit dem Thema entstanden: Jeder sexuelle Missbrauch findet immer in einem hierarchischen Verhältnis statt, auch der unter Erwachsenen, logischerweise, immer in einem Missverhältnis von Stärke und Schwäche, von oben nach unten. Ich wiederhole das, was schon gesagt wurde: Es gibt keinen einvernehmlichen Sex zwischen Kindern und Erwachsenen.

In Klammern: Welches Kind käme allen Ernstes auf die Idee, Sex mit mir haben zu wollen? Was für ein absurder Gedanke!

Es gibt bei fast jedem pädosexuellen Missbrauch Mitwisser. Das sind Kollegen, die Frau, die Mutter, die eigene Schwester, die Nachbarschaft. In allen Fällen fühlt sich das Opfer erniedrigt und beschmutzt, ist traumatisiert und sein Vertrauen in Instanzen und Vertraute losgeworden. Die Folgen sind sehr oft lebenslanger Alkohol- und Drogenabusus, Bindungsunfähigkeit, Vereinsamung, früher Tod. Die Beschmutzung, der Vertrauensverlust führt dann zu jener Omertà im Schweigen der Opfer, auf das die Täter sich ganz oft fast immer über lange Jahrzehnte hinweg verlassen können. Unter anderem deshalb sind die Verlängerung der Verjährungs- und Hemmfristen so dringend geboten.

Ich betrachte die jetzt formulierten veränderten Fristen als einen wichtigen Akt der Prävention. Stichwort Prävention: Da liegt noch sehr vieles im Argen. Später dazu vielleicht noch ein wenig mehr. Grundsätzlich gilt immer: Aufklärung ist die beste Prävention. Und hier meine ich schonungslose Aufklärung. Und da bin ich jetzt bei Euch und bei diesem Thema der diesjährigen Delegiertenkonferenz. Zunächst großes Kompliment und große Achtung vor Eurem Ent-schluss, den Untersuchungsbericht überhaupt in Auftrag zu geben – gegeben zu haben. Mir ist keine Partei bekannt, die zu diesem Thema, oder einem ähnlich brisanten, sich hätte so schonungslos in die Karten schauen lassen. Es gibt immer wieder Kritiker jedweden Tuns. Von mir aber gibt es zunächst mal großes Lob. Dieses Lob gebührt allen Beteiligten der Arbeitsgruppe, sehr explizit aber Simone Peter, die ganz offenbar die historische Aufarbeitung ernst genommen und bravourös gemeistert hat. Chapeau, Simone! Cem Özdemir möchte ich dabei aber auch nicht unerwähnt lassen. Mit ihm hab ich mich öfters getroffen und schon sehr früh über dieses Thema Gespräche geführt.

43 Nun hat Professor Walter doch auch von teilweise erheblichen Widerständen berichtet, die sich ihm bei der Aufklärungsarbeit entgegen stellten. Mich wundert das nicht, wir machen ähnliche Erfahrungen. Dazu passt auch die aktuelle Nachricht, dass der ehemalige Büroleiter von Tom Königs als Angeschuldigter im Verfahren um den Missbrauch minderjähriger Mädchen die Aussage verweigert hat. Nach dem Motto: Beweist es mir doch! Im Zweifel steht Aussage gegen Aussage. Es handelt sich ja fast immer um eine sogenannte Eins-zu-eins-Situation. Solche Täterstrategien sind die Regel. Sie sind deshalb allerdings nicht weniger unerträglich, weil sie die Opfer erneut zunächst einmal in eine Unglaubwürdigkeitsfalle zwingen sollen. Siebeneinhalb Jahr Haft lautete das Urteil in erster Instanz. Großartig im Gegensatz dazu die öffentliche Erklärung von Eurer Parteifreundin zu dem an ihr begangenen Kindesmissbrauch. Solche öffentlichen Äußerungen machen vielen Opfern Mut.

Ein Mitglied in unserem betroffenen Beirat schrieb mir: „Mein Täter zum Beispiel war sehr engagiert. Vor allem aber in der Frauen- und auch in der Kinderarbeit. Und viele dieser Frauen konnten daher nicht glauben, dass er, der doch ein guter geselliger und engagierter Mensch war, zu so etwas fähig sein sollte.“ Das hört man immer wieder. Gut, gesellig und engagiert: So konnte man die Grünen in den achtziger Jahren auch umschreiben. Ich rate deshalb auch hier entschieden zur Vorsicht und merke an: Die Grünen damals waren durchaus Wegbereiter und Unterstützer höchst fragwürdiger Gesetzesvorschläge, die teilweise, das habt Ihr ja schon gehört, tatsächlich durch die Gremien gewunken wurden. Dadurch haben die Grünen im Pädokriminellen starke ideologische und ideelle Freiräume geschaffen - unter dem Denkmal von Liberté, Libertinage und Liberalisierung.

Stichwort Liberté: Ich habe im Namen von Glasbrechen nach manchen Gesprächen mit Dany Cohen-Bendit unseren Frieden mit ihm gemacht. Unter der Prämisse: Es gilt das Recht der freien Meinungsäußerung und ein jeder trägt selbst die Verantwortung dafür. Andere in der Partei auch heute noch aktive Mitglieder haben am Ergebnis von 2012 sicherlich mehr Anteil. Und zwar dadurch, dass sie eher reflexhaft reagiert haben, wenn überhaupt. Ein früheres Eingeständnis der schweren Mängel in der nun unabweisbaren Gründungsgeschichte der Grünen in Westdeutschland, eine frühere Einsicht in die Notwendigkeit von Aufklärung und Positionierung hätte Eure Partei mit Sicherheit keine Stimmen gekostet. Ganz im Gegenteil. Die jungen Grünen waren ja kein Hühnerzüchterverein, der sich die Auswilderung von Füchsen auf die Fahnen geschrieben hätte.

Herr Professor Walter hat recht: Die Grünen in den frühen achtziger Jahren waren angetreten, offensiv die bundesrepublikanische Wirklichkeit zu verändern. Aus dieser Attitude der Menschheitsrettung heraus, bleibt es mir umso unverständlicher, wie die junge Partei nicht früher schon den Päderasten Einhalt gebieten konnte. Denn deren Vorhaben erscheint zumindest aus heutiger Sicht als sehr leicht zu durchschauen: Unter dem Stichwort „Kinderrechte stärken“ wollten Päderasten auf ihre Kosten kommen. Ziemlich einfach, ziemlich furchtbar, finde ich.

44 Damit komme ich zu Opferforderungen an Eure Partei. Ich habe es übrigens mit großer Freude wahrgenommen, dass hier auch immer von Opfern gesprochen wurde und nicht von Betroffenen, weil: Die kriminelle Energie, die gegen uns Opfer eingesetzt wurde, macht den Begriff Betroffene für mich eigentlich unaussprechbar.

Was bleibt zu tun, welche Fragen sind noch offen, wo kann eine Oppositionspartei sinnvoll einwirken auf Gesetzgebungsverfahren der Regierenden? Am 24. März 2010 sagt Renate Künast laut Spiegel Online: „Die Kanzlerin will eine kritische Debatte über Missbrauch verhindern.“ Tatsächlich hat die schwarz-gelbe Koalition in vier Jahren nur sehr wenig Brauchbares und Sinnvolles in Bezug auf Veränderungen von Opferschutz und Opferrechten auf den Weg gebracht. Sehr vieles wurde im Grunde verhindert und ausgesessen, insbesondere von der kleinen Koalitionspartei. Die Einrichtung einer unabhängigen Stelle für Fragen des Kindesmissbrauchs war eine gute, eine richtige Idee. Die Einrichtung eines Fonds für Entschädigungszahlungen an Opfer, ich nenne diese lieber „Anerkennungszahlungen“, schien gut zu sein, hat sich allerdings bis heute noch immer nicht vollständig realisieren lassen. Wie immer fehlt es also am Geld und wo es immer noch am Geld fehlt, fehlt es eigentlich am Bewusstsein. Am Bewusstsein, für die Notwendigkeit zu dringend notwendigen Hilfen für die Opfer der Heime in der DDR, die Opfer der Heime in der BRD, die Opfer von familiärem und weiterem institutionellem Missbrauch.

Schaut man sich das gegenwärtig praktizierte Verfahren zu Hilfe von Opfern an, so muss leider festgestellt werden, dass die meisten Opfer immer noch diskriminiert und als Bittsteller betrachtet werden. Es dauert zirka ein dreiviertel Jahr, bis ein Opfer pädosexuellen Missbrauchs im Rahmen des Opferentschädigungsgesetzes eine doch eher bescheidene Zahlung zur Fortführung des eigenen Lebens erhält, wenn überhaupt. Da muss sich dringend etwas tun. Es bedarf immer noch dringend weiterhin finanziell und personell gut ausgestatteter Beratungs- und Anlaufstellen für Opfer in Bund und Ländern. Länder und Kommunen müssen entschiedener und mehr in Anspruch genommen werden in dieser Angelegenheit.

Es bedarf nach wie vor einer unabhängigen Kommission, deren Mitglieder vom Bundestag gewählt werden, die mit einem gesetzlichen Auftrag und gesetzlichen Befugnissen zur Untersuchung der flächendeckenden pädokriminellen Taten in der Bundesrepublik ausgestattet wird. Nur so kann einer größeren Öffentlichkeit Ausmaß, Dimension und Folgen des Missbrauchs überhaupt deutlich gemacht werden. Als Oppositionspartei im Bund, als Koalitionspartner in vielen Ländern, als Regierungspartei in Baden-Württemberg, ergeben sich aus meiner Sicht hier einige Ansatzmöglichkeiten: Schulen zum Beispiel müssen durch Fortbildung und Präventionsveranstaltungen zu Schutzräumen für Kinder werden. Schulpolitik ist Ländersache. Das wäre also auch ein Feld für Euch.

45 Das Thema sexueller Kindesmissbrauch muss weiter und breiter in der Öffentlichkeit verankert werden. Kampagnen wie „Trau Dich“ und „Kein Raum für Missbrauch“ sind wichtige Instrumente dafür. Aber auch sie sind lediglich ein Beginn auf einem langen Weg. Das seht Ihr Bündnisgrünen ja inzwischen glücklicherweise auch so. So habe ich sowohl Herrn Professor Walter wie auch Eure Vorsitzende verstanden.

Und jetzt lasse ich zum Schluss noch ein verdientes Mitglied Eurer Partei sprechen: „ Was lernen wir aus alledem? Es bedarf immer eines zweiten Blicks, nicht alle Liberalisierungsvorschläge sind per se schon klug, nicht alles ist cool. Bedenken, wenn es um die offensichtliche Einschränkung von Menschenrechten geht, sind notwendig. Der Zeitgeist muss nicht immer gleich zum Vorsitzenden gewählt werden.“

Den vorliegenden Sitzungsantrag unterstütze ich sehr. Um dessen Annahme bitte ich Euch alle. In diesem Sinne herzlichen Dank.

1.4 Argumentationshilfe der AG Aufarbeitung für die Kreisverbände

Worum geht es?

Anfang der 1980er Jahre wurde die Entkriminalisierung des Sexualstrafrechts breit in der Gesellschaft diskutiert, auch bei uns Grünen. Neben der Forderung nach völliger Straffreiheit und Gleichberechtigung für Homosexuelle, die heute ein hohes Gut ist, gab es bei uns Grünen Forderungen nach Straffreiheit pädophiler Beziehungen. . Diese Forderungen finden sich in unterschiedlichen frühen Programmen auf Bundesebene, bei einigen Landes- und teilweise auch auf kommunaler Ebene. Für uns steht fest: Diese Forderungen waren zu keinem Zeitpunkt akzeptabel. Wir hätten als Partei schon viel früher Konsequenzen ziehen müssen und diese Positionierung nicht zulassen dürfen. Wir wissen auch, dass es damals grüne Mitglieder gab, die sexuelle Gewalt gegenüber Kindern ausgeübt haben. Wir verurteilen diese Taten und bieten Opfern Unterstützung an.

Wie bewerten wir Grüne die damaligen Forderungen?

Die Grünen sind den inakzeptablen Forderungen damals nicht in der nötigen Konsequenz entgegengetreten. Außerdem haben wir erst viel zu spät die Verantwortung dafür übernommen. Das war falsch. Wir bedauern zu tiefst, dass viele Jahre verstrichen sind, ohne eine vollständige Aufklärung und Aufarbeitung herbeizuführen und eine Entschuldigung auszusprechen. Wir können das nicht ungeschehen machen, wir können es nur besser machen. Dieser Verantwortung stellen wir uns.

46 Wir entschuldigen uns bei denen, die sich durch unsere Debatten und Positionen in den 1980er Jahren in ihrem Schmerz und Leid verhöhnt fühlen. Wir bedauern es zutiefst, wenn durch diese Debatten Täter ein Gefühl der Legitimation für ihre Taten erhalten haben sollten. Auch wenn Parteien grundsätzlich keine mit Trägern von Heimen oder Schulen vergleichbare Aufsichtspflicht oder Fürsorgeverantwortung innehaben, sind wir uns unserer historischen und moralischen Verantwortung als grüne Partei bewusst. Deshalb lassen wir unsere Geschichte in diesem Bereich gründlich aufarbeiten. Wir wollen aber auch festhalten - ohne unsere Schuld zu relativieren -, dass der große Teil der damaligen grünen Debatten sich um heutige

Selbstverständlichkeit gedreht hat. Die Stärkung der Frauen, gleiche Rechte für Homosexuelle - das sind und bleiben grüne Erfolge.

Wie funktioniert die wissenschaftliche Aufarbeitung?

Die damalige Parteispitze entschied im Mai 2013, die Geschichte der Grünen rund um die Forderung nach Straffreiheit für pädophile Beziehungen von unabhängiger Seite wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen. Wir fördern ein Forschungsprojekt des Parteienforschers Prof. Franz Walter am Göttinger Institut für Demokratieforschung mit 209.000 Euro. Ende 2014 wird das Projekt mit einem Bericht abgeschlossen. Der neue Bundesvorstand unterstützt diese Arbeit ausdrücklich.

Im Dezember 2013 haben Prof. Walter und sein Team einen ersten Zwischenbericht vorgelegt. Dieser stellt fest, dass es ‚propädophilen Kräften über mehrere Jahre hinweg möglich war, ihre Ansichten und Forderungen in den Willensbildungsprozess der Grünen einzuspeisen‘ und dass die ‚pädophilen Postulate und ihre Aktivisten‘ Mitte der 1980er Jahre ‚eindeutig in eine minoritäre Position‘ gerieten. Der Bericht bringt die Debatten der damaligen Zeit in den Kontext der damaligen Zeit und betont, dass sie ‚keineswegs jemals den Kern der Parteientwicklung oder Parteiidentität‘ der Grünen bildeten. Auch seien ‚die Grünen weder der erste noch der einzige Ansprechpartner für pädophile Aktivisten gewesen‘. Wir werden Prof. Walter und seine MitarbeiterInnen bis zum Abschluss ihrer Arbeit im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützen, wenn sie zum Beispiel Dokumente oder Auskünfte benötigen.

Wie funktioniert die Aufarbeitung parteiintern?

Neben der notwendigen wissenschaftlichen Aufklärung durch Prof. Walter und sein Team am Göttinger Institut betreiben wir einen weiteren parteiinternen Prozess der Aufarbeitung. Dazu hat der Bundesvorstand eine Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung eingesetzt. Zum Kern der Aufgabe der Arbeitsgruppe gehört die politische Begleitung der wissenschaftlichen Aufarbeitung durch das Göttinger Institut für Demokratieforschung. Die Arbeitsgruppe berät die Partei, wie das Gespräch und der politische und fachliche Umgang mit Betroffenen und Opfern professionell organisiert werden kann. Die Geschäftsstelle der Partei vermittelt Betroffenen - falls gewünscht -

47 professionelle Anlaufstellen. Sie trifft dazu Vereinbarungen mit dem Unabhängigen Beauftragten Sexueller Missbrauch, Johannes-Wilhelm Rörig und anderen fachlich qualifizierten Anlaufstellen.

Im Rahmen der Arbeit der Arbeitsgruppe führen wir Gespräche mit Zeitzeugen. Diese dienen dazu, tiefere Erkenntnisse zu erlangen, welche Parteistrukturen es damals begünstigt haben, dass nicht hinnehmbare Forderungen wie die nach Straffreiheit für pädophile Beziehungen und Handlungen Eingang in die grüne Parteiprogrammatik gefunden haben. Gespräche mit ZeitzeugInnen sind ein wesentlicher Teil der Präventionsaufgabe, der sich die Arbeitsgruppe neben der Aufarbeitung verpflichtet fühlt.

Der Bundesvorstand hat die Landes- und Kreisverbände gebeten, ihre Geschichte ebenfalls aufzuarbeiten und in den Prozess einzuspeisen. Diese Aufgabe nehmen alle Parteigliederungen sehr ernst. Wir senden als Grüne Partei somit das Signal proaktiver Aufarbeitung und transparenter Prozesse und wir durchleuchten unsere Strukturen, um sexuelle Gewalt zu verhindern.

Wie reagieren wir auf die Angriffe unserer politischen Gegner?

Wir verurteilen, dass konkurrierende Parteien versuchen, unsere Vergangenheit in der politischen Auseinandersetzung zu instrumentalisieren. Das mindert nicht das Leid, sondern steht der Aufarbeitung im Weg. Wir stellen uns als Partei unserer Verantwortung und leugnen unsere Vergangenheit nicht. Aus den Fehlern der Vergangenheit erwächst Verantwortung für die Zukunft. Gemeinsam sind Jüngere wie Ältere in unserer Partei gefordert, sich der eigenen Geschichte offensiv zu stellen und die richtigen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Eine dieser Antworten ist neben der Aufarbeitung, die Entschuldigung bei Opfern und Betroffenen. Wir werden aber auch nicht verschweigen, dass wir in der Vergangenheit häufig zu Recht hart gegen die gekämpft haben, die uns jetzt für unsere Vergangenheit angreifen. Wir haben uns sehr früh für die Rechte und den Schutz von Kindern und Jugendlichen eingesetzt. Bereits 1984, gerade mal ein Jahr nachdem die GRÜNEN erstmals in den Bundestag eingezogen waren, brachte die Fraktion eine Große Anfrage „Sexueller Missbrauch von Kindern“ in den Bundestag ein (Bundestagsdrucksache 10/2389). Diese sprach von den „seelischen Verletzungen“, die die Oper „ein Leben lang begleiten“, zeigte den Umfang und die Komplexität des Themas auf und machte deutlich, wie groß das Dunkelfeld und wie unzureichend das Wissen um die Problematik ist. Zudem wurde die Arbeit der staatlichen Organe, Polizei, Jugendfürsorge und Justiz kritisch hinterfragt.

Auch haben wir uns für eine Effektivierung der Strafverfolgung im Bereich der Kinderpornographie eingesetzt wie gegen den sogenannten „Kindersextourismus“. Im Jahr 1996 haben wir einen umfassenden Antrag „Maßnahmen zur wirksamen Verfolgung der sexuellen Ausbeutung von Kindern durch Deutsche im Ausland“ (Bundestagsdrucksache 13/5139) vorlegt. Das Ziel war, sexuellen Missbrauch von Kindern strafrechtlich effektiver zu verfolgen.

48 1997 schließlich hat BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Gesamtkonzept zur Verbesserung des Schutzes von Kindern vor sexualisierter Gewalt als Antrag in den Bundestag eingebracht (Bundestagsdrucksache 13/7087).

Auch die Haltung zu sexueller Gewalt hat sich erst spät in unserer Gesellschaft geändert. Dabei haben wir Grüne eine wichtige Rolle gespielt. Die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe wurde erst 1997 von den Frauen im Bundestag gegen die Mehrheit von CDU/CSU durchgesetzt. Die Verurteilung elterlicher Gewalt in der Erziehung hat noch länger gedauert: das gab es erst nach der Kohl-Ära durch die rot-grüne Bundesregierung.

1.5 Der Anhörungsbeirat

Um einen angemessenen und vertraulichen Rahmen für die Anliegen von Betroffenen zu schaffen, hat der Bundesvorstand im Mai 2015 einen mit besonders qualifizierten Jurist*innen besetzten Anhörungsbeirat ins Leben gerufen. Er ergänzt das Angebot der telefonischen Anlaufstelle und hört Betroffene, die sich mit besonderen Anliegen an BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenden, vertraulich an und sucht im Gespräch mit ihnen nach angemessenen Lösungen.

1.5.1 Einsetzung des Anhörungsbeirats

Beschluss des Bundesvorstands vom 18.05.2015

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben einen umfassenden Prozess der Aufarbeitung ihrer Versäumnisse in der Parteigeschichte im Umgang mit dem Thema Pädophilie angestoßen. Nach allem, was diese gründliche Aufarbeitung und Rückschau bis heute darlegen konnte, ist klar: Wir Grüne haben in den 1980er Jahren Aktivisten, die eine Straffreiheit von sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern forderten, ein Forum geboten und deren Forderungen in einigen Fällen auch in Beschlüssen programmatisch unterstützt. Spätestens mit dem Beschluss des Hauptausschusses vom 1989 haben sich die GRÜNEN auf Bundesebene klar von jeder Unterstützung pädosexueller Forderungen distanziert. In einzelnen Landesverbänden wurden diese Forderungen noch bis Mitte der 1990er Jahre diskutiert.

Die damaligen Forderungen waren zu keinem Zeitpunkt akzeptabel. Wir bekräftigen, dass sie für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schon lange keine Geltung mehr haben. Wir distanzieren uns in aller Entschiedenheit von den damaligen Beschlüssen und bedauern zutiefst, dass es in der frühen Parteigeschichte zu solchen Entscheidungen kommen konnte. Der daraus erwachsenen historischen und moralischen Verantwortung stellen wir uns.

49 Es gab in dieser Zeit auch Täter mit grünem Parteibuch. Grundsätzlich gilt für diese Fälle: Als Partei tragen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN keine Verantwortung für Straftaten, die einzelne Parteimitglieder begehen oder die von Parteifunktionären außerhalb ihrer Parteiaufgaben verübt werden. Auch haben wir als Partei in der Regel keine mit Trägern von Heimen oder Schulen vergleichbare Aufsichtspflicht oder Fürsorgeverantwortung inne.

Trotzdem verpflichten sich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN intensiv und im Einzelfall zu bewerten, ob und welche Verantwortung die Partei für solche Taten zu tragen hat. Wir wollen für Betroffene ansprechbar sein und ihnen zu hören. Wir werden Hinweisen konsequent nachgehen und Erkenntnisse über Taten, TäterInnen und Tatumstände dokumentieren. Wir wollen, dass das Unrecht, das die Betroffenen erlitten haben, Anerkennung findet und werden uns der Frage, inwieweit Taten durch institutionelles Versagen ermöglicht wurden, stellen.

In besonderen Härtefällen werden wir auch Maßnahmen zur Unterstützung der Betroffenen in ihrer Lebenssituation oder eine Zahlung an Betroffene zur Anerkennung des ihnen zugefügten Leides prüfen. Eine Anerkennungszahlung kommt dann in Betracht, wenn eine Tat im Zeitraum von der Parteigründung bis Mitte der 1990er Jahre erfolgte und nach der glaubhaften Darstellung der Betroffenen davon auszugehen ist dass

a. die Tat unter Verletzung einer von der Partei übernommenen Fürsorge- oder Aufsichtspflicht erfolgte

b. oder sich aus den konkreten Umständen der Tat ein vergleichbarer besonderer Verantwortungszusammenhang der Partei als Institution ergibt.

Von einem institutionellen Verantwortungszusammenhang wäre beispielsweise auszugehen, wenn die Tat im Rahmen oder am Rande einer offiziellen Veranstaltung oder Gremiensitzung der Partei und mit Wissen, Unterstützung oder Duldung von Parteigremien erfolgte.

Die Bewertung der Einzelfälle wird von einem dreiköpfigen Anhörungsbeirat vorgenommen. Er gibt den Betroffenen Gehör und geht auf ihre Anliegen ein. Der Anhörungsbeirat spricht eine Empfehlung aus mit dem Ziel, zu einer angemessenen und würdigen Lösung des Einzelfalls zu finden. Die abschließende Entscheidung trifft der Bundesvorstand im Einvernehmen mit den Vorständen der Landesverbände, zu denen der Sachverhalt einen besonderen regionalen Bezug hat.

Betroffene haben bis zum 30.06.2016 die Möglichkeit, sich mit ihren Anliegen an den Anhörungsbeirat zu wenden. Auch danach können Hinweise und Anfragen weiter an [email protected] oder an die seit August 2014 bestehende telefonische Anlaufstelle der AG Aufarbeitung unter (030) 28 44 21 97 gerichtet werden.

50 Eventuelle Leistungen erfolgen freiwillig, ohne Anerkennung einer Rechtspflicht. Ihre gemeinsame Finanzierung durch Bundesverband und Landesverbände orientiert sich an der Finanzierung vorhergehender Projekte im Bereich Aufarbeitung. Die nähere Ausgestaltung der Finanzierungsmodalitäten regelt der Bundesfinanzrat.

1.5.2 Arbeit und Organisation des Anhörungsbeirats

BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN haben im Rahmen der Aufarbeitung ihrer Versäumnisse in der Parteigeschichte im Umgang mit dem Thema Pädophilie beschlossen die Bewertung von Einzelfällen von einem Anhörungsbeirat vornehmen zu lassen.

Im Beschluss des Bundesvorstandes vom 18.5.2015 heißt es hierzu:

„ Die Bewertung der Einzelfälle wird von einem dreiköpfigen Anhörungsbeirat vorgenommen. Er gibt den Betroffenen Gehör und geht auf ihre Anliegen ein. Der Anhörungsbeirat spricht eine Empfehlung aus mit dem Ziel, zu einer angemessenen und würdigen Lösung des Einzelfalls zu finden. Die abschließende Entscheidung trifft der Bundesvorstand im Einvernehmen mit den Vorständen der Landesverbände, zu denen der Sachverhalt einen besonderen regionalen Bezug hat.“

Der Anhörungsbeirat wird nach folgenden Regelungen arbeiten:

1. Zusammensetzung Der Anhörungsbeirat besteht aus Rechtsanwältin Christina Clemm, Justizministerin a.D. Anne Lütkes und Justizsenator a.D. Wolfgang Wieland.

2. Aufgaben Der Anhörungsbeirat hört Betroffene, die sich mit besonderen Anliegen an BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenden, vertraulich an und sucht im Gespräch mit ihnen nach angemessenen Lösungen im Einzelfall. Zugleich spricht er eine Empfehlung aus, ob und in welcher Form BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in dem in Frage stehenden Fall Verantwortung übernehmen sollen. Dabei dienen ihm die im Beschluss des Bundesvorstands vom 18.05.2015 benannten Kriterien als Leitlinie.

3. Übertragung von Fällen Der Anhörungsbeirat wird in den Fällen tätig, die ihm vom Bundesvorstand übertragen werden; insbesondere in Fällen, in denen Betroffene konkrete Anliegen an BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN formulieren. Betroffene haben bis zum 30.06.2016 die Möglichkeit, sich mit ihren Anliegen an den Anhörungsbeirat zu wenden. Auch danach können Hinweise und Anfragen weiter an [email protected] oder an die telefonische Anlaufstelle der AG Aufarbeitung unter (030) 28 44 21 97 gerichtet werden.

51 4. Durchführung der Anhörung Die Anhörung findet grundsätzlich im persönlichen Gespräch und unter räumlichen Bedingungen statt, die die Vertraulichkeit des Wortes und den Schutz der Persönlichkeitsrechte aller Beteiligten gewährleisten. Betroffene können auf eigenen Wunsch bis zu zwei Personen als Begleitung zu der Anhörung mitbringen. Sofern Betroffene angehört werden möchten, nicht aber mit einer oder mehrere Personen des Anhörungsbeirates sprechen möchten, können sie dies mitteilen. Es wird dann versucht, die konkrete Anhörung in einer anderen Konstellation durchzuführen. Sofern Betroffene nicht persönlich angehört werden möchten, können sie auch zunächst schriftlich ihr Anliegen an den Anhörungsbeirat richten. Es soll dann gemeinsam nach einer möglichen Kommunikationsform gesucht werden. Sollten für die Betroffenen, deren Begleitpersonen oder den Anhörungsbeirat Reisekosten anfallen, werden diese vom Bundesverband BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nach Einreichung der Abrechnung übernommen.

5. Wahrung der Vertraulichkeit Grundsätzlich gilt für alle Gespräche, die der Anhörungsbeirat mit Betroffenen oder zu deren Vor- und Nachbereitung führt und für alle dem Anhörungsbeirat zur Verfügung gestellten Dokumente Vertraulichkeit. Zum Schutz der Betroffenen gibt der Anhörungsbeirat Informationen über mögliche Straftaten, die sie im vertraulichen Gespräch offenbaren, nicht selbständig an Behörden weiter. Die Entscheidung, rechtliche Schritte einzuleiten, lässt er in der Hand der Betroffenen. Im Einvernehmen mit den Betroffenen kann die Weitergabe bestimmter Informationen vereinbart werden.Mit den Betroffenen wird eine gesonderte Vertraulichkeitsvereinbarung abgeschlossen, nach der von dem Grundsatz der Vertraulichkeit ohne Einvernehmen der Betroffenen dann abgewichen kann, wenn die Betroffenen selbst über die Arbeit des Beirates oder ihre persönliche Lebensgeschichte und deren Behandlung durch BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN an die Öffentlichkeit gehen.

6. Sachverhaltsermittlung Der Anhörungsbeirat hört Betroffene an und prüft ihren Sachvortrag anhand der ihm vorliegenden Erkenntnisse auf Schlüssigkeit. Soweit es zur Beurteilung des Einzelfalls einer weitergehenden Sachverhaltsermittlung bedarf, kann er weitere Recherchen durch den Bundesvorstand veranlassen.

7. Entscheidungsfindung Der Anhörungsbeirat hat das Ziel, Entscheidungen im Konsens zu treffen. Ist dies einmal nicht möglich, sind die unterschiedlichen Einschätzungen dem Bundesvorstand mitzuteilen. Die Betroffenen werden über die Entscheidung sowie deren Gründe informiert.

8. Dauer der Einsetzung Der Anhörungsbeirat wird bis zum 30.09.2016 eingesetzt.

52 9. Abschlussbericht Nach Abschluss seiner Tätigkeit erstellt er einen Bericht an den Bundesvorstand, der eine anonymisierte Übersicht über die Zahl der Anhörungen und die Empfehlungen des Anhörungsbeirats gibt.

1.5.3 Grüne beschließen Anerkennungszahlung an Opfer sexuellen Missbrauchs

Pressemitteilung der Bundesvorsitzenden, Dr. Simone Peter, vom 21.09.2015 „Auf Empfehlung des Anhörungsbeirats hat der Bundesvorstand heute im Einvernehmen mit dem geschäftsführenden Landesvorstand Nordrhein-Westfalen entschieden, an drei Betroffene sexuellen Missbrauchs eine Zahlung in Anerkennung des ihnen zugefügten schweren Leides zu leisten.

Es geht um Fälle langjährigen sexuellen Missbrauchs Anfang der 1980er Jahre in der Emmaus- Gemeinschaft auf dem Dachsberg in Kamp-Lintfort. Nach dem vom Bundesvorstand in Auftrag gegebenen Gutachten des Instituts für Demokratieforschung Göttingen hat die Anhörung der Betroffenen Anfang September vertiefte Erkenntnisse ergeben. Auf dieser Grundlage sehen wir in diesen konkreten Fällen eine institutionelle Mitverantwortung der grünen Partei, der wir uns stellen. Über die Einzelheiten haben wir den Betroffenen zum Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte Vertraulichkeit zugesichert.

Wir bedauern zutiefst, dass die grüne Partei in ihren Anfangsjahren pädosexuellen Aktivisten und ihren Positionen Raum gelassen hat. Betroffene, denen von Tätern mit grünem Parteibuch Leid angetan wurde oder die sich durch die Debatten dieser Zeit verhöhnt fühlen, bitten wir noch einmal nachdrücklich um Entschuldigung.

Mit der heutigen Entscheidung setzen wir die notwendige Aufarbeitung unserer Parteigeschichte fort. Wir wollen Betroffene weiter ermutigen, auf uns zuzukommen und ihre Geschichte zu erzählen. Die zu diesem Zweck eingerichtete telefonische Anlaufstelle und der Anhörungsbeirat setzen ihre Arbeit fort.“

1.6 Politische und strukturelle Konsequenzen

Ein wichtiger Teil der Arbeit der AG Aufarbeitung war es, Strukturen in der Partei zu schaffen, die sexuelle Gewalt wenn möglich verhindern und bei Vorkommnissen eine schnelle Hilfe gewährleisten. Dazu gehört zum einen die Information der gesamten Partei über den Umgang mit dem Thema aber auch die telefonische Anlaufstelle beim Bundesverband, sowie die Benennung von Ombudspersonen auf Bundes- und Landesebene sowie bei der Grünen Jugend.

53 Zur politischen Verantwortung aus der Aufarbeitung gehört für uns der Einsatz für den Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt, den wir auf allen Ebenen führen. Der unter 1.6.3 dokumentierte Antrag der Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN steht beispielhaft für diese notwendige politische Auseinandersetzung.

1.6.1 Leitfaden für die Landes- und Kreisverbände

Leitfaden für Kreisverbände: Recherche zu Forderungen nach Straffreiheit für pädophile Handlungen

In welchem Zeitraum sollen wir suchen?

Die Forderungen wurden schwerpunktmäßig im Zeitraum 1979 bis 1985 vertreten. Wenn ihr in diesem Zeitraum etwas findet, schaut bitte auch bis zum Jahr 1987.

Nach welchen Forderungen sollen wir suchen?

Bitte sucht insbesondere nach Forderungen zur Abschaffung von § 174 und 176 StGB. Diese Forderung findet sich in Dokumenten über den Parteitag in Saarbrücken 1980. Wir wissen, dass diese teilweise in Kommunalwahlprogramme übernommen wurden.

In welchen Dokumenten suchen wir?

Bitte schaut Euch Kommunalwahlprogramme an, aber auch Unterlagen über Treffen und Kooperationen mit Arbeitsgemeinschaften oder Einzelpersonen, die mit Forderungen nach Straffreiheit für pädophile Handlungen in Verbindung stehen könnten. Ebenso Aufrufe, Flyer oder Unterstützungserklärungen.

Wie gehen wir bei der Suche vor?

• Wenn vorhanden: Recherche im eigenen KV-Archiv und in den eigenen Akten des Kreisverbandes • Recherche bei älteren Mitgliedern: haben sie Dokumente und Akten aus den 8oer-Jahren zuhause? • Recherche im Stadtarchiv: dort gibt es möglicherweise Unterlagen zum KV oder zur Ratsfraktion • Anfrage beim Archiv Grünes Gedächtnis. Wenn ihr vor Ort nicht fündig werdet oder beispielsweise im Stadtarchiv nicht weiterkommt, könnt Ihr Euch gern an Christoph Becker- Schaum vom Grünen Gedächtnis wenden.

54 Was machen wir, wenn wir fündig werden?

Bitte informiert uns umgehend unter [email protected], wenn Ihr entsprechendes Material gefunden habt und schickt es uns zu. Wir sichten es dann, beraten Euch gern im Umgang damit und leiten es ans Grüne Gedächtnis, an die Arbeitsgruppe Aufarbeitung und an Prof. Walter weiter.

1.6.2 Ombudspersonen in den Geschäftsstellen

Eine Lehre, die wir aus unserer Aufarbeitung gezogen haben ist, dass wir unsere Strukturen innerhalb der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für das Thema sexuelle Gewalt sensibilisieren. Wir haben deshalb als AG empfohlen, auf Bundes- und Landesebene sowie bei der Grünen Jugend Vertrauenspersonen zu benennen und zu schulen, die bei Problemen und Fragen rund um das Thema sexueller Gewalt ins Vertrauen gezogen werden können.

Dabei geht es zum einen darum, Aufmerksamkeit in den eigenen Reihen zu schaffen und für das Thema zu sensibilisieren. Zum anderen wird so intern eine klare Ansprechpartner*in für Fragen der Prävention gegen sexualisierte Gewalt geschaffen. Wir sehen sie als erste Anlaufstelle für Mitglieder und Mitarbeiter*innen in den Landes- und Kreisgeschäftsstellen, falls es zu sexualisierter Gewalt oder auch nur einem Verdacht diesbezüglich in den eigenen Reihen kommt. Dabei geht es nicht darum, selbst pädagogische oder psychologische Betreuung zu leisten, sondern lediglich einen Erstkontakt anzubieten und ggf. Hinweise für weitere psychologische und pädagogische Beratungsmöglichkeiten zu geben.

In der ersten Schulung haben die benannten Ombudspersonen folgendes Selbstbild verfasst.

Selbstbild Ombudsmenschen für Fälle sexualisierter Gewalt im Grünen Kontext

Als Ombudsmenschen sind wir Ansprechpartner*innen für Fälle sexualisierter Gewalt, gerade auch vor dem Hintergrund der Aufarbeitung pädokrimineller Strömungen in unserer Partei.

• Wir verstehen uns als Anlaufstelle für Vorfälle sexualisierter Gewalt im grünen Kontext. Das bedeutet, dass „Betroffene“ oder „Verdächtige“ direkten Bezug zur Partei haben • Wir sind Ansprechpartner*innen für Menschen, die Vorfälle beobachtet oder den Verdacht hegen, dass es zu Vorfällen gekommen ist. • Wir bieten einen geschützten Raum • Wir sichern Vertraulichkeit im uns möglichen Rahmen zu. • Wir übernehmen Verantwortung und stellen ein Krisenteam zusammen. • Wir haben eine koordinative Rolle zwischen den Beteiligten > Leitfaden • Wir begleiten den Prozesses so lange es notwendig ist.

55 • Wir leisten keine inhaltliche (fachliche, therapeutische oder juristische) Beratung • Wir organisieren externe Begleitung (fachlich und juristisch) • Wir befördern die offensive Sensibilisierung für das Thema • Je nach Verdacht leiten wir geeignete Schritte ein • Hilfe bei der Suche nach therapeutischer Hilfe für Betroffene • ggf. polizeiliche Anzeige gegen Mensch unter Verdacht (in Absprache mit den Beteiligten) • Zum Abschluss erstellen wir eine Fallanalyse.

1.6.3. Kinder schützen – Prävention stärken.

Antrag der Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 26.09.2014

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit Anfang dieses Jahres gibt es zu Recht eine breite Debatte, ob die strafrechtlichen Regelungen in Hinblick auf die Darstellung von unbekleideten Kindern und Jugendlichen ausreichend sind und wie sie verbessert werden können. Diese Fragen sind im parlamentarischen Verfahren intensiv unter umfassender Einbeziehung von Sachverständigen zu beraten. Zusätzlich zur Überprüfung des Strafrechts ist zudem ein breites Spektrum an praventiven Maßnahmen in Angriff zu nehmen. Es muss weit mehr getan werden, damit Mädchen und Jungen gar nicht erst sexuell missbraucht oder für die Herstellung von Fotos oder Videos instrumentalisiert werden. Es muss gewährleistet werden, dass betroffene Kinder und Jugendliche die Unterstützung und Hilfe erfahren, die sie brauchen. Bund, Länder und Kommunen sind gemeinsam in der Pflicht, die notwendige Infrastruktur für ein breites und bedarfsgerechtes Angebot an Beratungs- und Präventionsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen. Auch bezüglich der Täter, manchmal Täterinnen, muss Präventionsarbeit geleistet werden. So existieren bereits heute Einrichtungen, die auf die therapeutische Arbeit mit Pädo- und Hebephilen spezialisiert sind. Diese müssen ausgebaut und verbessert werden. Vor diesem Hintergrund konzentriert sich dieser Antrag zunächst auf die notwendige Förderung der Präventionsarbeit.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, zur Prävention bei Kindern, Jugendlichen und Eltern

1. Maßnahmen zu ergreifen, damit Kinder besser über ihre Rechte informiert sind und damit das Bewusstsein über das Recht am eigenen Bild bei Kindern und Jugendlichen zu schärfen; 2. Maßnahmen zur Sensibilisierung von Eltern hinsichtlich des Umgangs mit Bild- und Videoaufnahmen ihrer Kinder bzw. von ihren Kindern zu ergreifen; 3. im Rahmen der Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes gemeinsam mit den

56 Bundesländern zu prüfen, welche Maßnahmen geeignet sind, Schutzkonzepte und ihre Umsetzung in Kinder- und Jugendeinrichtungen innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe wie auch für private Anbieter weiterzuentwickeln; 4. darauf hinzuwirken, dass die Kooperation der für den Kinderschutz relevanten Bereiche, vor allem die Kinder- und Jugendhilfe und das Gesundheits- wesen, deutlich intensiviert und, wo nötig, verpflichtend geregelt wird; 5. auf die Bundesländer und Kommunen einzuwirken, damit diese für eine angemessene finanzielle Ausstattung des öffentlichen Gesundheitsdienstes, der Kinder- und Jugendhilfe, der Allgemeinen Sozialen Dienste sowie der Erziehungs- und Familienberatungsstellen sorgen; 6. auf die Länder einzuwirken, die Förderung der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen, Eltern und pädagogischen Fachkräften in alle staat- lichen Bildungsangebote zu verweben; 7. mit gesetzlichen bereichsspezifischen Regelungen, wie privacy by design als Grundeinstellung, höhere Datenschutzstandards festzulegen um missbräuchlichen Zugriff und die Veröffentlichung von Bilddaten in der digitalen Welt (insbesondere durch soziale Netzwerke) zu verhindern, sich bei internationalen Organisationen, insbesondere der Europäischen Union und dem Europarat, dafür einzusetzen, dass Präventionsarbeit auch international ausgebaut wird; um Opfern zu helfen 1. sich bei der Selbstverwaltung dafür einzusetzen, dass in den Regionen, in denen alle Kassensitze für Ärzte und Psychotherapeuten besetzt sind und der therapeutische Bedarf für traumatisierte Kinder und Jugendliche nicht gedeckt werden kann, ausreichende Sonderbedarfszulassungen ermöglicht werden; 2. sich bei den zuständigen Kammern dafür einzusetzen, dass vermehrt Aus-, Fort- und Weiterbildungen in der Traumatherapie angeboten werden, um unter ärztlichen und psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten die Bereitschaft zu steigern, von sexuellem Missbrauch Betroffene als Patientinnen und Patienten anzunehmen; 3. auf die Bundesländer einzuwirken, bedarfsgerecht Beratungsangebote auszubauen, die niedrigschwellig, inklusiv und barrierefrei sind und den Aus- bau und die finanzielle und personelle Absicherung des Fachberatungsstellennetzes zu fördern; 4. gemeinsam mit den Bundesländern darauf hinzuwirken, dass angemessene und kontinuierliche Schulungen für Berufsgruppen aus dem Justizbereich einschließlich der Gutachter angeboten werden, um die Berücksichtigung des Kindeswohls als Verfahrensweise stärker zu berücksichtigen; 5. den Beratungsanspruch im SGB VIII für Kinder und Jugendliche bedingungslos, das heißt, unabhängig vom Vorliegen einer Konflikt- oder Krisenprävention, zu gewährleisten;

57 zur Verbesserung medienpädagogischer Kompetenzen 1. Vorschläge für gesetzliche Regelungen zu erarbeiten, mit denen die Förderung der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen, Eltern und pädagogischen Fachkräften verbindlicher geregelt wird; 2. zur Förderung der Medienkompetenz gemeinsam mit den Bundesländern ein Projekt zu entwickeln, in dem Eltern zu Multiplikatoren von Medienkompetenz ausgebildet werden; 3. auf die Länder einzuwirken, damit diese Medienpädagogik als verpflichtenden Teil in die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern, Erzieherinnen und Erziehern sowie in anderen pädagogischen Berufen integrieren und entspre- chende Weiterbildungen für pädagogisches Fachpersonal anbieten; 4. eine Koordinationsstelle auf Bundesebene einzurichten, die als Netzwerk zwischen den Akteuren der Medienbildung fungiert; zur Prävention bei Tätern 1. die Bundesmittel für den Ausbau eines flächendeckenden und bedarfsgerechten Therapieangebots für Menschen mit pädophilen und hebephilen Neigungen zu erhöhen; 2. die Förderung von Beratungs- und Hilfsangeboten für sexuell übergriffige Kinder- und Jugendliche auszubauen;

zur weitergehenden Forschung und Verbesserung der Datenlage 1. ausreichend Mittel im Rahmen der Forschungsförderung der Bundesministerien für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie der Justiz und für Verbraucherschutz zur Verfügung zu stellen, damit die Datenbasis für eine belastbare Beschreibung phänomenologischer Konstellationen sexueller Gewalt und Ausbeutung von Kindern gesichert wird. Ebenso ist eine verstärkte Dunkelfeldforschung zur Situation der kommerziellen sexuellen Ausbeutung Minderjähriger in Deutschland notwendig; 2. in die (Weiter-)Entwicklung und Evaluation von Therapieansätzen für Nutzer von Missbrauchsabbildungen zu investieren; 3. Langzeitstudien zu fördern, die in den Blick nehmen, wie die Nutzung von Missbrauchsabbildungen bei Menschen mit pädophiler/hebephiler Präferenz wirken; 4. retrospektive Befragungen von (verurteilten) sexuellen Kindesmissbrauchern und Nutzern von Missbrauchsabbildungen zur Erhebung der kriminellen „Lebensgeschichte“ (Katamnese) zu fördern; 5. Untersuchungen zu Nutzungsmotiven von Menschen ohne sexuelle Präferenz für Kinder zu fördern, genauso wie die kriminologische Forschung zur Wirkung des Strafrechts; 6. sich auf europäischer Ebene für mehr Forschung, gemeinsame Standards bei der Datenerhebung und gemeinsame Standards für Schutzkonzepte einzusetzen;

58 zur Aufarbeitung und Monitoring der Kinderrechte 1. das Amt des Unabhängigen Beauftragen für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, die Betroffenenbeteiligung und eine unabhängige Kommis- sion zur Aufarbeitung von sexuellem Kindesmissbrauch auch gesetzlich zu verankern; 2. den Empfehlungen des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes folgend, eine unabhängige Monitoringstelle zur Begleitung der Umsetzung der UN- Kinderrechtskonvention und seiner Zusatzprotokolle wie dem Zusatzprotokoll zum Schutz vor Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie einzurichten; 3. Beschwerdestellen für Opfer von Kinderrechtsverletzungen einzurichten und damit der Empfehlung des UN-Kinderrechtsausschusses nachzukommen.

Berlin, den 23. September 2014 Katrin Göring-Eckardt, Dr. und Fraktion

Begründung

Die Bundesregierung hatte angekündigt, die Kinder- und Jugendschutzregelungen überprüfen zu wollen. Die Antwort auf die Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN „Aktuelle Fragen zur Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendschutzes“ (Bundestagsdrucksache 18/911) dokumentiert allerdings eine erschreckende Hilflosigkeit der Bundesregierung, was konkrete Maßnahmen zur Stärkung des Kinder- und Jugendschutzes angeht. Die Überprufung der Kinder- und Jugendschutzregelungen ist allerdings angezeigt, um diese den aktuellen Entwicklungen, insbesondere im Bereich der neuen Medien anzupassen.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich die grundlegende Frage, welche Kinder und Jugendliche besonders davon betroffen sind, dass Darstellungen von ihnen strafrechts- oder jugendschutzrelevant hergestellt werden, nicht beantworten lässt, da „eine gesicherte Datenbasis für eine belastbare Beschreibung phänomenologischer Konstellationen nicht besteht und grundsätzlich jedes Kind Opfer eines sexuellen Missbrauchs werden kann.“ (Antwort auf Frage 4, Bundestagsdrucksache 18/911). Die Überprüfung des Strafrechts ist wichtig, allerdings greift das Strafrecht erst, wenn der Missbrauch schon geschehen ist. Für eine Verbesserung des Kinder- und Jugendschutzes bedarf es neben den strafrechtlichen Änderungen weitreichendere Maßnahmen. So müssen die Anstrengungen im Bereich der Opferprävention wie auch im Bereich der sogenannten Täterprävention verstärkt werden, die Opferhilfe muss bedarfsgerecht ausgebaut werden, Forschung im Bereich der Tätermotivation muss gefördert werden, medienpädagogische Kompetenzen müssen frühzeitig vermittel werden, Aufklärungs- arbeit muss gesichert werden und internationale Vorgaben müssen ernst genommen und ggf. umgesetzt werden.

59 Zur Prävention bei Kindern, Jugendlichen und Eltern

Damit Kinder und Jugendliche grenzüberschreitendes Verhalten von gleichaltrigen und erwachsenen Tätern erkennen und sich helfen, beschweren und Hilfe suchen können, ist es unverzichtbar, dass sie über ihre grundlegenden Rechte informiert sind. Neben der Sensibilisierung und Aufklärung von Kindern und Jugendlichen müssen auch Eltern weiter über Persönlichkeitsrechte aufgeklärt werden.

Zur Prävention vor sexuell übergriffigem Verhalten ist es wichtig, Kinder und Jugendliche für Täterstrategien zu sensibilisieren. Frühzeitige Aufklärung kann potenzielle Opfer von sexueller Gewalt in die Lage versetzen, sich gegen diese zu wehren.

Das Internet ist längst ein zentrales und qualitativ neues Sozialisations- und Erfahrungsfeld geworden. Dies betrifft Kinder, Jugendliche und Eltern. Kinder wachsen heute von früh an und wie selbstverständlich mit dem Internet und neuen Medien auf. Daher müssen Kinder, Jugendliche und Eltern den kompetenten Umgang mit dem Internet – und auch mit dessen Gefahren – lernen. Allerdings mangelt es nach wie vor häufig an dringend benötigter Medienkompetenz und einem sensiblem Umgang mit privaten Daten.

So finden beispielsweise private Urlaubsbilder immer wieder Eingang ins Internet, die somit auch einem ano- nymen Nutzerkreis zur Verfügung gestellt werden und Eingang in Tauschbörsen und ähnliche Verbreitungs- wege finden. Auch Kinder und Jugendliche selbst stellen über die sozialen Medien entsprechende Bilder ins Netz und je nach Intensität von Sicherungsmaßnahmen damit ebenfalls einem anonymen Nutzerkreis zur Verfügung. Unter Verwendung von entsprechender Software lassen sich soziale Netzwerke gezielt nach entsprechendem Bildmaterial durchsuchen. Die technischen Möglichkeiten sind vielen Internetnutzern überhaupt nicht bewusst ist. Gerade Kinder und Jugendliche bereuen es oder werden traumatisiert, wenn ihre Fotos zu anderen Zwecken benutzt werden, als sie eigentlich gedacht waren.

Auch ist bekannt, dass Täter häufig über das Internet mit ihren Opfern in Kontakt treten. Über sogenannte soziale Netzwerke, Foren und Chatprogramme freunden sie sich mit Kindern und Jugendlichen an, oft um sie später zu persönlichen Treffen zu überreden. Der Begriff Grooming beschreibt solche Verhaltensweisen von Tätern. Daneben gibt es unter Jugendlichen Trends, bei denen sich gleichaltrige Nacktaufnahmen oder andere intime Fotos von sich schicken. Dass sie beim Verschicken der Fotos jedoch jegliche Kontrolle über diese Aufnahmen verlieren und diese eventuell zu einem späteren Zeitpunkt öffentlich gemacht werden könnten, bedenken viele nicht. Strategien des „Weghaltens“ oder „Verbietens“ sind im Umgang mit dem Internet allerdings nur sehr begrenzt wirksam. Auch technische Filter bieten beispielsweise längst keinen ausreichenden Schutz. Dies verdeutlicht, dass der Förderung von präventiv wirkender Medienkompetenzvermittlung eine zentrale Rolle zukommt.

60 Vor allem bei älteren Kindern und Jugendlichen muss es darum gehen, sich mit Inhalten und Angeboten aus- einanderzusetzen sowie bewusste Entscheidungen bei der Eigendarstellung und Gestaltung von Inhalten treffen zu können. Wichtig ist, dass Jugendliche und auch Kinder, wenn sie etwas Belastendes im Netz gesehen, gelesen oder erlebt haben, wissen, wohin sie sich wenden können, um Rat oder Hilfe zu erhalten. Dasselbe gilt für Hilfe suchende Eltern. Auch über – oftmals unzureichende – Privatsphäreneinstellung sind die meisten Nutzerinnen und Nutzer häufig nicht ausreichend aufgeklärt. Bei Nutzerinnen und Nutzern „sozialer Netzwerke“ müssen ab Anmeldung standardmäßig die weitreichendsten Sicherheits- bzw. Privatsphäreneinstellungen voreingestellt sein. Dies trägt zu einem weitaus höheren Schutz der Nutzerinnen und Nutzer bei. Um u. a. diese Forderung gegenüber international agierenden Anbietern „sozialer Netzwerke“ Nachdruck zu verleihen, darf sich die Bundesregierung nicht länger gegen die schnellstmögliche Verabschiedung EU-weiter Standards sperren.

Es gibt aktuell nur wenige Erkenntnisse darüber, wie und wo kinderpornografisches Material produziert wird. Sicher ist, dass es neben Einzeltätern auch professionelle Organisationsstrukturen gibt, welche sich auf Pro- duktion und Handel entsprechenden Materials spezialisiert haben. Solche Strukturen sind sowohl in Deutschland, als auch im Ausland tätig. Nach Medienberichten geht man davon aus, dass ein Großteil des professionell produzierten Materials aus Ländern in Südostasien und Osteuropa stammt. Hier muss die internationale Zusammenarbeit zwingend verbessert werden. Auf die entsprechenden Länder muss, sowohl national wie international, mit allen Mitteln eingewirkt werden, um so zu erreichen, dass diese effektive Maßnahmen für einen verbesserten Schutz von Kindern und Jugendlichen ergreifen. Deutschland kann hier aufgrund jahrelanger Diskussionen und zahlreicher in den letzten Jahren erreichter Verbesserungen, beispielsweise bezüglich einer Effektivierung der nachhaltigen Löschung von Missbrauchsdarstellungen und der (internationalen) Zusammenarbeit von Strafverfolgungsbehörden und Unternehmen, aber auch was den verbesserten zivilgesellschaftlichen Austausch über Erfahrungen und Strategien im Bereich der Opferprävention angeht, eine vermittelnde Rolle einnehmen. Die Bundesrepublik Deutschland muss endlich die Empfehlungen des UN-Kinderrechtsaus- schusses umsetzen (concluding observations). Nur so kann die Bundesrepublik Deutschland glaubwürdig auf die strikte Einhaltung internationaler Verträge, wie der UN-Kinderrechtskonvention beharren.

Um Opfern zu helfen

Von sexuellem Missbrauch, Vernachlässigung, Misshandlung oder häuslicher Gewalt betroffene Kinder und Jugendliche benötigen Hilfe bei der Bewältigung der Gewalterfahrungen. Angesichts der Häufigkeit von sexuellem Missbrauch in unserer Gesellschaft sind gesetzliche Regelungen und eine flächendeckende Infrastruktur notwendig, die gewährleisten, dass betroffene Kinder und Jugendliche im Gesundheitswesen und in der Ju- gendhilfe Unterstützung und Hilfe durch Personen erhalten, die für den Umgang mit Opfern von sexuellem Missbrauch qualifiziert sind. Die Förderung einzelner Modelle wird dem Bedarf von betroffenen Mädchen und Jungen an

61 Hilfe und Unterstützung nicht gerecht. Beratungsangebote müssen also zeitnah wahrgenommen werden können. Dabei müssen sie den besonderen Umständen – speziell bei Missbrauchsfällen in Familien und Institutionen sowie bei Fällen der sexuellen Ausbeutung Minderjähriger, wie sie bei online Gewaltmaterial (kinderpornographisches Material, das kommerziell vermarktet wird) gegeben ist – gerecht werden. Vor allem aber müssen die Beratungsangebote so konzipiert sein, dass es für Opfer von sexuell übergriffigem Verhalten – auch virtuell und online – keine Hemmnisse gibt, diese Beratung wahrzunehmen. Wenn zur Wahrnehmung von Beratung zunächst formale Hürden oder zu großer Vertrauensmangel überwunden werden müssen, kann das die Aufarbeitung von Taten und deren Folgeschäden bei dem Opfer behindern. Niedrigschwellige Beratungsangebote durch qualifizierte Fachkräfte wirken dem entgegen. Einer Expertise des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e. V. (DIJuF) nach besteht gegenwärtig in vielen Situationen ein Rechtsanspruch auf Beratung und therapeutische Leistungen. Diese sind jedoch meist beschränkt auf Not- und Konfliktlagen. Ein allgemeiner Rechtsanspruch auf Beratung in jeder Situation würde diese Problematik beheben und gleichzeitig den bedarfsgerechten Ausbau derartiger Angebote fördern. Eine Neuregelung der §§ 8 und 27 des SGB VIII wird unter anderem auch vom Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs vorgeschlagen. Dieses hätte neben dem Rechtsanspruch auf Beratung zur Folge, dass nicht nur Eltern bzw. Sorgeberechtigte einen Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung hätten, sondern auch Kinder und Jugendliche.

Mittlerweile gibt es in Deutschland ein relativ breites und insgesamt gut ausgebautes Netz an Therapiezentren für von sexuellem Missbrauch betroffene Kinder und Jugendliche. Es fehlen nach Aussagen vieler Experten jedoch fachlich bedarfsgerecht qualifizierte Anlaufstellen für Kinder und Jugendliche, die in online Situationen sexuelle Gewalt erfahren haben. Nicht überall ist ausreichendes Fachpersonal für die therapeutischen Maßnahmen vorhanden. Es muss daher überprüft werden, ob vorhandene Therapiezentren tatsächlich über entsprechend qualifiziertes Fachpersonal in bedarfsgerechter Anzahl verfügen. Vorhandenen Leerstellen und eventuellem Fortbildungsbedarf ist entsprechend zu begegnen. Auch hier würde ein Rechtsanspruch auf Beratung für eine sichere Infrastruktur sorgen.

Entscheidend für die Inanspruchnahme von Beratungs- und Therapieleistungen ist neben dem Vorhandensein der Infrastruktur (und dem Bekanntsein dieser Infrastruktur) in wesentlichen Teilen auch eine bedarfsgerechte Kontaktmöglichkeit. So suchen sich Kinder und Jugendliche häufig Informationen über das Internet und nehmen darüber ebenfalls Kontakt zu Beratungsstellen auf. Diese anonyme Möglichkeit der Kontaktaufnahme muss bei allen Erstberatungsstellen vorhanden sein. Auch sollten diese über eine gut ausgebaute, ansprechende und einfach zu findende Internetpräsenz verfügen. In der Praxis bewährt haben sich wegen der niedrigen Hemmschwellen auch peer to peer – Ansätze, bei denen Betroffene bei Gleichaltrigen Rat suchen können. Schließlich wäre es sinnvoll, zunächst im Rahmen eines Modellprojektes, individuelle Online-Therapie anzubieten. Gerade in der Traumatherapie kann wegen der damit

62 verbundenen Scham und der mangelhaften Zugänglichkeit für Männer und für Personen auf dem Land Online-Therapie ein wichtiger Ansatz sein.

Zur Verbesserung medienpädagogischer Kompetenzen

Im Bereich Medienbildung sind in Deutschland die verschiedensten Akteure auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene aktiv: Kindertagesstätten, Schulen, Träger der Kinder- und Jugendhilfe, öffentlichrechtlicher Rundfunk, Bürgermedien, Landesmedienanstalten, die Präventionsteams der Polizei und viele mehr. Eine übergeordnete und koordinierende Stelle auf Bundesebene ist jedoch nicht vorhanden. Eine solche sollte eingerichtet werden. Sie muss bundesweit Netzwerke schaffen und vorhandenes Wissen zugänglich machen. Nur so kann Medienbildung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene und damit auch aktive Präventionsarbeit im Bereich des Datenschutzes und der Wahrung von Persönlichkeitsrechten gelingen. Die medienpädagogische Forschung und Praxis haben deutlich gemacht, dass Medienkompetenz sich nicht wie in einem klassischen Schulfach „erlernen“ lässt. Interaktivität, der Einsatz sowie die Nutzung von Medien in verschiedensten Situationen müssen immer weiterentwickelt werden. Nur dann ist es möglich, das breite Spektrum der Möglichkeiten und Chancen zu erfahren, das Medien bieten. Derzeit ist Medienkompetenz als Lernziel auf verschiedenste Weisen in den Lehrplänen der Schulen und in der Ausbildung von Pädagogen in Deutschland verankert. Die Aktivitäten der Bundesländer sind zudem sehr unterschiedlich. Statt ständig neue Modellprojekte aufzulegen, müssen bewährte Konzepte verstetigt und ausgeweitet werden. Medienbildung muss sich schließlich als roter Faden durch alle staatlichen Bildungsangebote ziehen. Dies gilt insbesondere für die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern sowie Erzieherinnen und Erziehern.

Zur Prävention bei Tätern

Neben der Opferprävention ist es ausgesprochen wichtig, Maßnahmen zu entwickeln, zu verbessern und anzuwenden damit (potenzielle) Täter durch gezielte Maßnahmen vom Begehen einer Tat abgehalten werden.

Vorhandene Therapieangebote für Pädo- und Hebephile müssen schnellstmöglich bedarfsgerecht ausgebaut werden. Bei vielen Betroffenen ist ein Problembewusstsein bezüglich ihrer sexuellen Impulse vorhanden. Oftmals fehlt es jedoch an qualifizierten Angeboten, da es diesbezüglich nur sehr wenige qualifizierte Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten gibt. So arbeitet beispielsweise das Projekt „Kein Täter werden“ auf the- rapeutischem Feld deutschlandweit an zehn Standorten. Ziel ist es, durch präventive Therapie einen aktiven Beitrag zum Kinderschutz zu leisten. Pädophile Männer werden therapeutisch in ihrem Bestreben unterstützt, keinen erstmaligen oder wiederholten sexuellen Kindesmissbrauch zu begehen und auch keine Missbrauchsabbildungen zu konsumieren. Solche oder andere Therapieangebote sind erforderlich und mindestens in jedem Bundesland sollte eine Anlaufstelle, in großen

63 Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Wurt- temberg oder Niedersachsen sogar mehrere eingerichtet werden. Diese Anlaufstellen müssen ausgebaut wer- den. Für ein langfristiges Therapieangebot ist es wichtig, dass die Einrichtungen dauerhaft eingerichtet werden.

Bei den unterschiedlichen Tätergruppen ist festzustellen, dass „sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in etwa einem Drittel der Fälle von Jugendlichen und Heranwachsenden verübt wird. Auch bei unter 14-Jährigen sind bereits sexuell grenzverletzende Verhaltensweisen vorhanden. Diese richten sich zumeist gegen gleichaltrige, oft gegen aus Schule, Familie oder Freundeskreis bekannte Personen und werden nicht selten zu mehreren begangen. Oft spielen dabei auch neue Medien eine Rolle. Dabei erleben Opfer von sexuell übergriffigem Verhalten durch (nahezu) Gleichaltrige dies in vergleichbar belastender Weise wie sexuellen Missbrauch durch Erwachsene. Der Bedarf an speziellen Beratungs-, Hilfs- und Therapieangeboten für sexuell übergriffige Kinder und Jugendliche ist also gegeben. Dabei müssen sich solche Angebote an den speziellen altersbedingten Bedürfnissen und auch Hemmnissen von Kindern und Jugendlichen orientieren. Ziel muss es sein, übergriffiges Verhalten zu stoppen und Ursachen zu bearbeiten. Die Angebote müssen in ausreichender Zahl vorhanden, das Personal auf die besondere Situation gut geschult sein. Die Beratungsstellen müssen einerseits für jugendliche Täter, andererseits auch für pädagogische Fachkräfte, Institutionen und Familien ansprechbar sein.

Weitergehende Forschung und Verbesserung der Datenlage

Für effektive Präventionsarbeit bei jugendlichen und erwachsenen Tätern sowie für eine umfassende und fo- kussierte Verbesserung der Opferprävention ist es notwendig, das Wissen über Täter und Opfer zu verbessern. In der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der GRÜNEN-Bundestagsfraktion (Bundestags- drucksache 18/911) zeigen sich jedoch offensichtliche Lücken in Bezug auf diese Datenbasis. So sind der Bun- desregierung keine Studien bekannt, die sich explizit auf Risikofaktoren von Kindern und Jugendlichen beziehen, die Opfer von Missbrauchsdarstellungen werden. Diese und weitere Lücken müssen durch eine stärkere Förderung der Forschung geschlossen werden.

Auf den konkreten Forschungsbedarf weist auch das Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Charité in Berlin hin. So sind die bisherigen Erkenntnisse über Motivation und Verhalten von Nutzern von Missbrauchsabbildungen noch gering. Auch das Wissen über Wirkung und Einsatzmöglichkeiten von Medikamenten zur Reduktion sexueller Impulse bei Pädophilen ist noch nicht ausreichend erforscht und bedarf weiterer Anstrengungen. Nur mit diesem Wissen lassen sich spezielle Therapien für Menschen mit pädophilen oder hebephilen Präferenzen entwickeln und damit Opfer besser schützen.

64 Sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen, wie auch die Nutzung von Missbrauchsabbildungen, erfolgt nicht ausschließlich durch Menschen mit pädophilen oder hebephilen Präferenzen. Doch das Wissen um die Motivation solcher Menschen ist bisher ungenügend. Somit können Therapieangebote, ob präventiv oder nachfolgend, nur unzureichende Wirkung entfalten. Studien, die solche Täter auch langfristig untersuchen, müssen daher umfassend gefördert werden.

Aufarbeitung und Monitoring der Kinderrechte

Nach dem Bekanntwerden diverser Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs in Schulen, Heimen und in der Kirche im Jahr 2010 hatte die Bundesregierung neben der Einrichtung des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch“ auch die Einsetzung einer Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmiss- brauchs beschlossen. Um die bisher geleistete Aufklärung und Aufarbeitung der Geschehnisse auch in Zukunft sicher fortzusetzten, muss das Amt des Unabhängigen Beauftragten auf eine rechtlich abgesicherte Grundlage gestellt werden. Die dauerhafte Einrichtung des Amtes des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs ist auch eine Forderung des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes mahnte zudem im Januar dieses Jahres erneut die Einrichtung einer unabhängigen Monitoring-Stelle zur Untersuchung der Verwirklichung der Rechte des Kindes in Deutschland an. Die Stelle soll gemäß den Anregungen des UN- Ausschusses staatlich finanziert, jedoch frei von staatlichem und verbandlichem Einfluss sein und nach dem Vorbild der „Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention“ beim Deutschen Institut für Menschenrechte eingerichtet werden.

Auch gelangt der UN-Ausschuss in seinen abschließenden Beobachtungen zu dem Ergebnis, dass die Bundes- regierung Präventionsprogramme gegen sexuelle Gewalt und Beratungsangebote und Behandlungszentren für Opfer von sexuellem Missbrauch deutlich auszuweiten und finanziell besser auszustatten habe.

Darüber hinaus müssen in den Lebenswelten der Kinder Beschwerdemöglichkeiten geschaffen werden (bzw. sog. Ombudsstellen). An diese sollen sich Kinder, die Opfer von Kinderrechtsverletzungen geworden sind, wenden können. Damit wird nicht nur den vom UN-Kinderrechtsausschuss geforderten Anlaufstellen nachgekommen, sondern es wird auch die Durchlässigkeit des Monitorings für die Datenerhebung vor Ort möglich gemacht. Dies ermöglicht langfristig die Erfassung, zu welchen Kinderrechtsverletzungen es auf lokaler Ebene kommt.

65 2. Recherche der Landesverbände von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Die Aufarbeitung unserer Parteigeschichte ist eine Gesamtanstrengung auf Bundes-, Landes- und Kreisverbandsebene. Der Bundesvorstand hat die Landes- und Kreisverbände aufgefordert, selbständig in ihren Archiven zu dem Thema zu recherchieren und einschlägige Materialien an das Institut für Demokratieforschung weiterzuleiten. Alle Landesverbände haben sich daran beteiligt, nicht alle sind fündig geworden. Oft waren Quellen im Zeitverlauf untergegangen oder sie lagen in Händen von Privatpersonen, die für uns nicht mehr erreichbar waren. Dort, wo etwas gefunden wurde, wurde dies dokumentiert. Der Landesverband Bayern hat die Recherche an das Grüne Gedächtnis weitergegeben.

Daneben gab es verschiedene Veranstaltungen zum Thema Aufarbeitung auf Landesebene. Schon im November 2013 veranstalteten die Hessischen Grünen eine Diskussion mit dem Titel „Der Einfluss pädophiler Strömungen auf die Grünen – ein Thema auch in Hessen?“, an der neben Wissenschaftler*innen auch eine Vertretrerin der Beratungsstelle Zartbitter e.V. teilahm. Der Landesverband Hamburg hat im Februar 2014 ein Gespräch mit dem Göttinger Politikwissenschaftler Stephan Klecha und dem taz-Redakteur Marco Carini organsiert. Dabei wurde zum einen deutlich, dass die Aufarbeitung und Recherche sehr schwierig sei. Vieles, das diskutiert wurde, existiert nicht in Schriftform und wenn doch sind die Protokolle heute schwer verständlich und kaum nachvollziehbar. Ein organisiertes Archiv gab es damals noch nicht. Zum anderen wurde diskutiert, weshalb es keinen stärkeren Protest innerhalb der Partei gegen die Forderungen gab. Im Rahmen der Recherchen im Landesverband Bremen wurde im Wahlprogramm der Bremer Grünen zur Bürgerschaftswahl aus dem Jahre 1983 ein Passus gefunden, der zeigt, dass es auch bei den Bremer Grünen Raum für pädophile Debatten und Forderungen gab. Neben vielen richtigen politischen Forderungen, wie der Abschaffung des §175 (der bis 1994 Homosexualität unter Strafe stellte) und dem Verbot jeglicher Diskriminierung, findet sich dort auch folgende Formulierung: „Auf überregionaler Ebene setzen wir uns dafür ein, dass die Tatsache sexueller Beziehungen zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nicht generell Gegenstand strafrechtlicher Verfolgung sein darf. Vor Gewalt, Nötigung und Ausbeutung sollen Kinder – wie alle Menschen – selbstverständlich geschützt werden.“ Der Landesvorstand erklärt dazu für die Bremer Grünen: „Der Schutz der Kinder verbietet gerade jede Pädophilie grundsätzlich. Wir bedauern sehr, dass die Forderung nach Strafffreiheit in ein Wahlprogramm der Bremer Grünen aufgenommen worden ist. Wir tragen für diesen schwerwiegenden Fehler ohne Wenn und Aber die Verantwortung und bitten um Entschuldigung, falls jemand daraus persönlich einen Schaden erlitten haben sollte.“

In Mecklenburg-Vorpommern organisierte das Frauenbildungsnetzwerk im November 2013 eine Diskussionsveranstaltung in deren Rahmen der Landesvorsitzende Andreas Katz mit Dr. Stephan Klecha vom Göttinger Institut diskutierte. Zunächst gab Stephan Klecha einen inhaltlichen Input. Dabei sprach er über Sexualität als politisches Diskursthema, den Unterschied zwischen

66 Pädophilie und Missbrauch sowie die Akteure der Debatte. Seiner Analyse zufolge wäre innerhalb der grünen Partei eine stärkere Opposition zu der Pädophilenbewegung möglich gewesen. Das Argument „Es war eine andere Zeit“ ließ er nur bedingt gelten. Vielmehr führte er die schwache Gegenbewegung auf das grüne Selbstverständnis zurück, jede Diskussion zuzulassen. Anschließend stellte Andreas Katz die grüne Sicht dar. Er stellte heraus, dass viele Menschen aus ganz anderen politischen Beweggründen heraus in der grünen Partei Mitglied geworden sind, wie etwa die Friedensbewegung oder die Anti-Atombewegung. Der Pädophilie-Diskurs sei ein Randthema gewesen. Zudem fehlte es Andreas Katz zufolge in der damaligen Gesellschaft an der nötigen Sensibilität für das Thema (Kindes-)Missbrauch. Im abschließenden dritten Teil hatten das Publikum und der Moderator die Möglichkeit Fragen zu stellen. Einen großen Raum nahm die mediale Instrumentalisierung des Themas während des Bundestagswahlkampfes ein. Zuletzt formulierte Stephan Klecha noch die These, dass es für jüngere Parteimitglieder nicht die Notwendigkeit gegeben habe, sich kritisch mit den älteren Mitgliedern auseinanderzusetzen, da durch das grüne Wachstum genügend Aufstiegschancen für alle bestünden hätten. Er attestierte den Grünen ein fehlendes Bewusstsein für die eigene Geschichte.

Die Landesverbände Baden-Württemberg, , Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen- Anhalt, Saarland und Thüringen haben in ihren Recherchen nichts zu dem Thema finden können. Die Landesverbände aus Berlin, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig- Holstein haben eigene Berichte oder Beschlüsse zur Aufarbeitung verfasst, die nachfolgend dokumentiert sind. Als Beispiel der Aufarbeitung auf Kreisverbandsebene ist zudem der Bericht des Kreisverbands Bonn beigefügt.

67 2.1 Bericht und Handlungsempfehlungen der Aufarbeitungskommission des Landesverbandes Berlin vom Mai 2015

1 EINFÜHRUNG

Auf seiner Landesdelegiertenkonferenz am 30. November 2013 beschloss der Berliner Landesverband von Bündnis 90/DIE GRÜNEN, „eine Kommission bestehend aus grünen Vertreterinnen und Vertretern, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, Expertinnen und Experten“ zu berufen. Ihre Aufgabe sollte es sein, „die Haltung des Landesverbands zu Pädophilie und sexualisierter Gewalt gegen Kinder von der Gründungsphase bis in die 1990er Jahre“ zu untersuchen sowie einen Abschlussbericht und Handlungsempfehlungen vorzulegen. Der Landesverband hatte sich bereits im Jahr 2010 mit einem Parteitagsbeschluss von Positionen zugunsten der Straffreiheit von vermeintlich einvernehmlicher Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen aus der Gründungsphase der Partei distanziert. Eine gründliche Aufarbeitung sowie inhaltliche Auseinandersetzung stand aber noch aus. Zu den weiteren Gründen für die Einsetzung einer eigenen Kommission zur Aufarbeitung zählte, dass im Berliner Landesverband – anders als in anderen Landesverbänden – auch verurteilte pädosexuelle Straftäter zu den Akteuren der Debatte gehörten und diese zudem bis Mitte der 1990er Jahre andauerte, obwohl die innerparteiliche Diskussion auf Bundesebene bereits Ende der 1980er Jahre beendet worden war. Die Kommission sollte die Frage klären, wie es möglich war, dass pädosexuelle Aktivisten so lange im Landesverband wirken konnten. Vor allem aber sollte sie herausfinden, wer damals pädosexuelle Positionen aktiv in die Partei hineintrug und ob es innerhalb grüner Strukturen Opfer von sexuellem Missbrauch gegeben hat.

Als Mitglieder der Grünen berief der Landesvorstand in die Kommission: Andreas Audretsch, Thomas Birk, Marianne Burkert-Eulitz, , Ulli Reichardt, Dagmar Riedel-Breidenstein (Strohhalm e.V./Heroes e.V.), Sebastian Walter, Daniel Wesener und Wolfgang Wieland.

Externe Mitglieder waren Iris Hölling (Wildwasser e.V.), Detlef Mücke (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft/Schwules Museum) und Lutz Volkwein (Mitbegründer von HILFE-FÜR-JUNGS e.V.).

Zur Unterstützung, insbesondere der Recherche in diversen Archiven und Aktenbeständen und der professionellen Aufarbeitung der Befunde und Fundstellen, vergab der Landesvorstand Werkverträge an die HistorikerInnen Iris Hax und Sebastian Nagel.

Die HistorikerInnen und einzelne Kommissionsmitglieder recherchierten in folgenden Archiven: Archiv Grünes Gedächtnis (AGG), Archiv des Schwulen Museums (ASM), Archiv des Kreisverbands Friedrichshain-Kreuzberg von Bündnis 90/DIE GRÜ- NEN (AKFK), Berliner Landesgeschäftsstelle von Bündnis 90/DIE GRÜNEN (LGSB), Privatarchive von Thomas Birk (PTB), Elke Richardsen (PER) und Detlef Mücke (PDM) sowie Archiv des Abgeordnetenhauses von Berlin (AAB).

68 Eine kontinuierliche Archivierung der Partei- und Gremienarbeit hatte in der Gründungsphase offenbar keine Priorität. Daraus resultieren große Lücken in der Dokumentation des Parteilebens der 1980er und 1990er Jahre. Dazu kamen noch die verschiedenen Umzüge der Landesgeschäftsstelle sowie die hohe personelle Fluktuation in den einzelnen Führungsgremien und -gliederungen des Landesverbands. Um diese Lücken zu schließen, führten die Kommissionsmitglieder zahlreiche Gespräche mit ZeitzeugInnen. Es wurden für die Gespräche jeweils „Tandems“ aus grünen und externen Kommissionsmitgliedern gebildet, um eine möglichst große Objektivität und Transparenz der Gespräche und ihrer Auswertung zu gewährleisten.

Die Gespräche wurden elektronisch aufgezeichnet und mit Unterstützung der MitarbeiterInnen der Landesgeschäftsstelle transkribiert. Die politische Bewertung dieser Gespräche oblag jeweils den beteiligten Kommissionsmitgliedern. Mit Hilfe der Zeitzeugengespräche gelang es, diverse Wissenslücken zu schließen, die sich aus der Sichtung der Dokumente in Archiven sowie des Zwischen- und Abschlussberichts der Göttinger Forschungsgruppe um Professor Franz Walter ergeben hatten. Dennoch ist die Kommission sich bewusst, dass es Leerstellen im Bericht gibt, die bisher noch nicht gefüllt werden konnten. Das betrifft insbesondere die Perspektive der Betroffenen. Sie legt deshalb auch keinen Abschlussbericht vor. Vielmehr geht die Kommission davon aus, dass dieser Bericht Teil eines Prozesses ist und dass es weitere Hinweise geben wird, die sich womöglich nach der Veröffentlichung des Berichts ergeben. Der Bericht markiert insofern das Ende einer ersten Phase der Aufarbeitung. Die Kommission wendet sich deshalb mit der ausdrücklichen Bitte an die Öffentlichkeit, dass sich diejenigen melden, die zur Aufklärung der damaligen Geschehnisse beitragen können. Hinzu kommt, dass die Debatte über die bisherigen und zukünftigen Erkenntnisse aus Sicht der Kommission ein unverzichtbarer Bestandteil der Aufarbeitung ist.

In den gemeinsamen Bericht sind durch die verschiedenen Hintergründe der Kommissionsmitglieder auch verschiedene Perspektiven eingeflossen. So gibt es zwei Kapitel zum Widerstand der Kreuzberger Frauengruppe gegen pädosexuelle Positionierungen im Landesverband – eines aus der Außen- und ein zweites Kapitel aus der Binnensicht der Kreuzberger Frauengruppe. Das erschien der Kommission insbesondere deshalb gerechtfertigt, weil der Widerstand der Frauen weder damals noch in jüngster Zeit angemessen gewürdigt worden ist.

69

2 CHRONOLOGIE DER DEBATTE VON 1978 BIS 1995

Zusammenfassung

Die Themen Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen sowie das Sexualstrafrecht stellten von der Gründungsphase der Berliner Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL) bis Mitte der 1990er Jahre wiederkehrende Streit- punkte der innerparteilichen Auseinandersetzung dar. Sie fanden ihren Niederschlag im Programm der AL. Es gibt Hinweise darauf, dass in den frühen Jahren der AL eine grö- ßere Anzahl Männer aus den bestehenden pädosexuellen Netzwerken der Stadt in die junge Partei gegangen ist, um sich für die Straffreiheit von sexuellen Handlungen zwi- schen Kindern und Erwachsenen einzusetzen. Anfänglich verteilten sich diese Männer auf verschiedene Parteigliederungen, alle konkreten Initiativen zur Entkriminalisierung sogenannter einvernehmlicher Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern (Abschaf- fung der §§ 174 und 176 StGB) gingen aber aus den Reihen des Bereichs Schwule der Alternativen Liste hervor. In ihm wirkten, zumindest zeitweise, nachweislich zwei Perso- nen mit, die mehrfach wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern rechtskräftig verurteilt worden sind und sich in der Pädosexuellen-Szene herausgehoben engagiert hatten. Viele dieser pädosexuellen Aktivisten haben die Partei offenbar im Laufe der 1980er Jahre wieder verlassen. 1992 gab es eine neue Eintrittswelle in den Schwulenbereich. Es gibt Indizien dafür, dass ein Teil dieser Neumitglieder pädosexuell orientiert war (da- runter eine Person, die später wegen der Verbreitung von Kinderpornografie vor Gericht stand) und sich in der von September 1992 bis Anfang 1995 existierenden Untergruppe „Jung und Alt“ des Schwulenbereichs traf. Diese agierte allerdings konspirativer als die Pädo-Aktivisten in den Gründerjahren der AL. Widerstand gegen die Durchsetzung pro- pädosexueller Forderungen, der sich auch in Abstimmungsergebnissen auf Mitglieder- vollversammlungen ausdrückte, konnte für den gesamten Untersuchungszeitraum nach- gewiesen werden. Immer wieder betonten einzelne Mitglieder oder Gruppen die beson- dere Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendlichen sowie das strukturelle Machtun- gleichgewicht zwischen Erwachsenen und Kindern. Eine herausgehobene Position in der Auseinandersetzung mit dem Schwulenbereich nahm die Kreuzberger Frauengruppe der AL bzw. Grünen ein, die am energischsten Kritik äußerte.

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Die Gründungsphase der AL (1978-1981)

Nach der Gründung der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz am 5. Oktober 1978 in Berlin entstand nach einem kurzlebigen ersten Organisationsversuch im April 1979 innerhalb der Partei eine Interessenvertretung schwuler AL-Mitglieder – der Bereich Schwule. Regelmäßige Treffen fanden im Kreuzberger Café 18 (Graefestraße 18) statt. Die Mitglieder des Bereichs, in dem auch Personen mitwirkten, die der AL nicht angehörten, arbeiteten in dieser Zeit am Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes, das gegen die rechtliche und gesellschaftliche Diskriminierung Homosexueller gerichtet war. Neben der Abschaffung des Paragrafen 175 StGB (Homosexuelle Handlungen)1 formu- lierte der Bereich Schwule bereits kurz nach seiner Gründung die Forderung nach Strei- chung des § 176 StGB (Sexueller Missbrauch von Kindern).2 Im August 1979 riefen AL-Lesben erstmals im Mitgliederrundbrief zur Erarbeitung eines Programmteils auf, in dem es auch einen gemeinsamen Abschnitt mit dem Schwulenbereich geben sollte.3

Im Mitgliederrundbrief von Oktober 1979 äußerte sich der Bereich Schwule aber- mals im Rahmen der Programmdiskussion der noch jungen Partei. Unter dem Punkt „Situation von Lesben und Schwulen“ wurde gefordert, die Streichung der Paragrafen 174 (Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen) und 176 StGB als Ziel in das AL-Pro- gramm aufzunehmen. Über die Forderung nach Abschaffung der §§ 174 und 176 StGB hätten sich Lesben in der Alternativen Liste, so berichtete es eine Notiz im selben Mit- gliederrundbrief, „bisher noch zu wenig Gedanken gemacht“4, wollten das aber bis zur AL-Mitgliedervollversammlung (MVV) am 30. November 1979 tun.

Tatsächlich wurde die Forderung nach Abschaffung der §§174 und 176 StGB auf jener MVV, die wahrscheinlich im Zuge der Diskussion um die Ausgestaltung des Grund- satzprogramms stattfand, von Lesben und Schwulen gemeinsam erhoben.5 Es formierte sich Widerstand gegen die Streichung des § 176 StGB. Mit knapper Mehrheit erteilten die Anwesenden der Forderung eine Absage. Als eine weitere Abstimmung darüber, an dieser Stelle die Forderung nach Straffreiheit für sexuelle Beziehungen zwischen Er- wachsenen, Jugendlichen und Kindern auf „freiwilliger Basis“ zu ergänzen, ein Patt ergab, wurde die Diskussion zum Thema nach tumultartigen Szenen vertagt.6

1 Der Paragraf verbot in der damaligen Fassung (1973-1994) sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern und männlichen Minderjährigen (unter 18 Jahren). 2 4. Mitgliederrundbrief, August 1979, S. 3, AGG, Zs 320. 3 Ebd. 4 6. Mitgliederrundbrief, Oktober 1979, S. 11, AGG, Zs 320. 5 Protokoll der MVV vom 30.11.1979, AGG C Berlin I.1, 1. 6 Annette, Lesben/Schwulenredaktion: Ist diese Linke noch das Rechte? Kommentar zur Veranstaltung der AL-Berlin zum Programmentwurf der Lesben und Schwulen, in: die tageszeitung (taz), 3.12.1979, S. 5; Michael Röblitz: Offener Brief an die Alternative Liste, in: 7. Mitgliederrundbrief, Januar 1980, S. 3, AGG, Zs 320.

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Im AL-Schwulenbereich blieb das Thema „Sexualität von und mit Kindern bzw. Jugend- lichen“ präsent. Auf die heftige Kritik an den Forderungen nach Abschaffung der §§ 174 und 176 StGB in den Reihen der AL (auf der MVV vom 30. November 1979) reagierte der Schwulenbereich gemeinsam mit den AL-Lesben mit der Vorbereitung eines Wo- chenendseminars, das im Mitgliederrundbrief vom Januar 1980 unter dem Titel „Pädo- philie – Liebe mit Kindern“ für den 8./9. März 1980 im „Igel“ angekündigt wurde und auch stattfand. Dabei sollte es u.a. um die Sexualität des Kindes, sexuelle Beziehungen von Kindern zu Erwachsenen und Gefahren für Kinder gehen. „Beteiligt bzw. eingeladen“ wa- ren die AL-Bereiche Lesben, Schule, Kinder, die Arbeitsgruppe Pädophilie, die Juristen- gruppe der Allgemeinen Homosexuellen Arbeitsgemeinschaft (AHA) sowie die Oranien- straßenkommune.7

Laut des Delegiertenrats-Protokolls vom 12. März 1980 wurde der Vorschlag des Bereichs Schwule gebilligt, im Mai/Juni 1980 eine Mitgliedervollversammlung zum Thema Sexualität durchzuführen. Gleichzeitig trat der Schwulenbereich an den Delegier- tenrat heran, eine Broschüre des Bereichs zur Pädosexualität von der AL finanzieren zu lassen.8

Auf Bundesebene hatten sich die Grünen wenige Tage später in Anwesenheit Berliner AL-Delegierter auf ihrem 2. Parteitag in Saarbrücken (21.-23. März 1980) für folgende Formulierung im Grundsatzprogramm entschieden: „Die §§ 174 und 176 StGB sind so zu fassen, dass nur Anwendung oder Androhung von Gewalt oder Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses bei sexuellen Handlungen unter Strafe zu stellen sind.“ Sie stellten dieser Formulierung eine Passage voran, die den provisorischen Charakter der programmatischen Aussage betonen sollte:

„Zu diesem Beschluss konnte leider auf dem Parteitag nicht gemeinsam diskutiert werden. Auch an der Parteibasis ist diese Frage bisher teilweise nicht oder nur wenig diskutiert worden. Dies ist weder im Sinne der Betroffenen, noch der An- tragsteller, noch der Partei insgesamt. Deshalb meinen wir, dass Abs. 521 fol- gendermaßen zu verstehen ist: er ist ein Auftrag an die Partei in allen Gliederun- gen, sich mit den Auswirkungen dieser Straftatbestände intensiv auseinanderzu- setzen. Durch diesen Auftrag ist das Ergebnis dieser Diskussion natürlich nicht festgelegt. Es wird eine Kommission gebildet, die Hilfestellung bei der Diskussion gibt. Gerade im Hinblick auf die berechtigten Sorgen und Ängste, die sich mit diesem Themenbereich verbinden, halten wir es für notwendig, dass auf einem der nächsten Parteitage unter Beteiligung von Betroffenen und Fachleuten dieses Thema ausführlich behandelt wird.“9

7 7. Mitgliederrundbrief, Januar 1980, S. 3, AGG, Zs 320. 8 AGG, C Berlin I.1, 12. 9 Die Grünen, Das Bundesprogramm, o.O. 1980, S. 39.

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Nichtsdestotrotz blieb die Forderung nach einer Änderung der §§ 174 und 176 StGB bis 1993 Teil des Grundsatzprogramms der Grünen und diente oftmals als Blaupause für die Programme der Landesverbände.

In Berlin wiederum erschien im Frühjahr 1980 ein Flugblatt, das vermutlich vom AL-Schwulenbereich herausgegeben wurde und unter den Überschriften „Skandal! Schwule stören unser schönes AL-Fest!“ und „Die AL schämt sich ihrer Sittenstrolche!“ satirisch auf die vermeintliche Gefährdung durch „Kinderschänder“ anspielte und außer- dem zeigt, wie konfliktträchtig das Thema Pädophilie in dieser Zeit in der AL gewesen zu sein schien. Dezidiert wurde die Solidarität der AL-Mehrheit mit den Schwulen in der AL eingefordert.10 In der ersten Hälfte des Jahres 1980 entstand dann im Schwulenbereich die Broschüre „Ein Herz für Sittenstrolche!“, in der für die Legalisierung sexueller Bezie- hungen zwischen Erwachsenen und Kindern/Jugendlichen geworben wurde. 11

Auf der Mitgliedervollversammlung der AL am 5. Juni 1980 berieten die Mitglieder ausschließlich über den erneut eingebrachten Antrag der Schwulen und Lesben zur Auf- nahme des Programmpunkts Streichung der §§ 174-176 StGB. Eine Mehrheit der Anwe- senden sprach sich für die Annahme des Programmentwurfs aus. Ähnlich wie auf Bun- desebene wurde jedoch der Forderung nach Abschaffung der Paragrafen ein Zusatz zur Seite gestellt:

„Genauso verurteilen wir Gewalt gegen Kinder, die angewandt wird, um die Be- friedigung sexueller Bedürfnisse zu erreichen. Gewalt gegen Kinder wird aller- dings durch die §§ gegen Körperverletzung und Nötigung abgesichert.“12 Nach dieser Mitgliederversammlung regte sich neuerlich Kritik an der beschlossenen Programmatik im Hinblick auf Pädophilie. Für die AL-Bezirksgruppe Wilmersdorf teilte Bernd Köppl mit, „dass sie nicht bereit ist, den Pädophilie-Abschnitt des auf der letzten MVV verabschiedeten Schwulenprogramms zu akzeptieren. Ein entsprechender Antrag wird auf den DR eingebracht werden“13. Köppl und andere kritisierten den MVV-Be- schluss vom 5. Juni 1980 zur Streichung der §§ 174, 175 und 176 StGB und bezweifelten dessen Konsensfähigkeit. Sie argumentierten u.a. „dass neben der Frage der Gewaltan- wendung noch andere Probleme bei der Pädophilie eine Rolle spielen (...)“, und dass nach MVV-Beschluss de facto „die Schutzwürdigkeit der Ehefrauen vor sexuellen Über- griffen höher als die der Kinder“14 gesetzt werde. Die Kritiker zeigten sich zwar offen für

10 ASM, Politische Gruppierungen/Parteien – Alternative Liste. 11 Bereich Schwule der Alternativen Liste, Ein Herz für Sittenstrolche, AGG, G.01 FU Berlin, 458. 12 Protokoll der Mitgliedervollversammlung, 5.6.1980, AGG, C Berlin I.1, 1. 13 GA-Protokoll vom 13.6.1980, AGG, C Berlin I.1, 33. 14 AGG, C Berlin I.1, 12.

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Änderungen am gesamten Sexualstrafrecht, waren aber an der Vorlage eines konsens- fähigen Papiers durch die AL-Lesben und -Schwulen interessiert. Ebenfalls im Nachgang der MVV am 5. Juni 1980 forderte Kurt Hartmann, Mitglied des AL-Schwulenbereichs und einer der aktivsten Streiter für die Liberalisierung des Sexualstrafrechts, im Mitglie- derrundbrief von Oktober 1980 die „ersatzlose Streichung aller im Strafgesetzbuch auf- geführten Straftaten gegen sexuelle Selbstbestimmung“15. Bei einer Sitzung des Be- reichs Demokratische Rechte am 4. Juli 1980 wurde weiter über das Thema diskutiert. Anwesend waren auch Horst Kirchmeier aus dem Schwulenbereich und Arnd Adler aus dem Bereich Kinder, beide Autoren in „Ein Herz für Sittenstrolche“. Elf der Anwesenden sprachen sich für die im Grundsatzprogramm des Saarbrücker Parteitags gewählte Textfassung aus, fünf für die Formulierung der AL-MVV, fünf weitere enthielten sich.16

Im Vorfeld der vorgezogenen Wahlen zum Abgeordnetenhaus am 10. Mai 1981 wurden die innerparteilichen Auseinandersetzungen um das Sexualstrafrecht und Pädo- philie fortgesetzt. Das Wahlprogramm 1981 forderte letztendlich die Streichung der §§ 174, 175, 176, 180 Abs. 1, 183a, StGB. Diese Paragrafen würden Kinder, Jugendliche und Erwachsene in der freien Entfaltung ihrer Sexualität beschränken und deshalb soll- ten sexuelle Beziehungen auf freiwilliger Basis nicht bestraft werden. In Klammern zeugte neuerlich eine Anmerkung von den innerparteilichen Auseinandersetzungen um das Thema: „(Die Frage der Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern – Pädophilie – ist in der AL umstritten und wurde auf der Programm-Mitgliederversammlung nicht abge- stimmt)“. Auch im Kinderteil fand sich ein Hinweis auf das Sexualstrafrecht. Anstelle von Strafen müsse ein partnerschaftliches Verhalten treten, das zum Ziel hat, den Kindern den Weg zu einer glücklichen, von Liebe und Zärtlichkeit geprägten Sexualität zu erleich- tern. Und weiter: „Dazu gehört u.a. auch die Veränderung des Sexualstrafrechts, in dem immer noch freiwillig und gewollt eingegangene sexuelle Betätigung in verschiedener Weise kriminalisiert wird.“17

Eine Wahlbroschüre von 1981 fasste unter Verwendung der Formel aus dem Bundesprogramm die Ziele anders zusammen:

15 AGG, Zs 320. 16 AGG, G .01 FU Berlin, 414. 17 Wahlprogramm zu den Neuwahlen am 10. Mai 1981, S. 54, 75, AGG, Grün 044 Be-1a.

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„Jeder Mensch, unabhängig von Geschlecht und Alter, hat das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Deshalb fordern wir die Entkriminalisierung von einvernehm- licher Sexualität zwischen Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern. Wir fordern das Verbot der Sammlung und Vernichtung aller Daten über ‚abweichendes Se- xualverhalten‘ […] Die §§ 174 und 176 sind so zu fassen, dass nur Anwendung oder Androhung von Gewalt oder Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses bei sexuellen Handlungen unter Strafe zu stellen sind.“18 Der Diskussion über das Wahlprogramm 1981 ist wohl auch ein Änderungsantrag zuzu- ordnen, der vorgeblich von Maja und Nanna L. (12 Jahre) eingebracht worden war, aber Erwachsene als Urheber vermuten lässt. Der Antrag plädierte für die Beibehaltung der §§ 176 und 175, 1 StGB, da sie abzuschaffen, „die Kinder vogelfrei für die Gewalt und Bedürfnisse der Erwachsenen“ mache und insbesondere männliche Kinder und Jugend- liche vor dem Missbrauch durch erwachsene Männer geschützt werden müssten.19

Trotz dieser immer wieder aufkeimenden Auseinandersetzungen um die AL-Pro- grammatik setzte der AL-Schwulenbereich die Kandidatur des bekennenden Pädosexu- ellen Dieter F. Ullmann für die Abgeordnetenhauswahlen durch. Während seiner Kandi- datur (die erfolglos blieb) verbüßte er eine Haftstrafe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Ullmann, der eine zentrale Rolle in der Pädosexuellen-Bewegung und bei ihrem Wirken in die Grünen hinein einnahm, sollte noch bis Anfang 1987 unbehelligt bei der AL Politik machen und den „Pädos“ Gehör verschaffen, bis er schließlich 1989 – wieder we- gen sexuellen Missbrauchs in Haft – austrat.

Weitere Vorstöße zur Änderung des Sexualstrafrechts (1982-1985)

Nach dem Einzug der Alternativen Liste in das Berliner Abgeordnetenhaus versuchte der Bereich Schwule die AL-Abgeordneten für seine Ziele in Position zu bringen. Der Mitglie- derrundbrief vom Mai 1982 enthält Hinweise auf ein politisches Forum am 17. Februar 1982 im Igelkeller, dessen Titel folgendermaßen lautete: „Schwerpunkt: Schwule. Das Sexualstrafrecht geht uns alle an!! Für die ersatzlose Streichung der Paragrafen 174, 175 und 176 des Strafgesetzbuches“. Im Referat des Schwulenbereichs auf diesem Forum wurden die Abgeordneten der AL aufgefordert, eine parlamentarische Initiative zur Strei- chung der §§ 174, 175 und 176 StGB auf den Weg zu bringen.20 Offenbar nahmen aber

18 Wahlbroschüre zu den Neuwahlen am 10. Mai 1981, S. 24f., AGG, C Berlin I.1, 126. 19 Anträge zum Wahlprogramm der AL zu den Mitgliederversammlungen am 4., 5., 6. und 7. März 1981, AGG, C Berlin I.1, 195. 20 18. Mitgliederrundbrief, Mai 1982, S. 32, AGG, Zs 320.

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neben zahlreichen Mitgliedern des Schwulenbereichs lediglich zwei Mitglieder des Ge- schäftsführenden Ausschusses (GA) und allein Peter Finger als Mitglied des Abgeord- netenhauses an dieser Veranstaltung teil.21

Die AL-Schwulen initiierten danach weitere Vorstöße zur Änderung des Sexual- strafrechts. In einer Einladung zum Treffen der Berliner Schwulengruppen am 12. November 1982 ist ihr Vorschlag für einen Gruppenantrag der AL-Fraktion im Abgeord- netenhaus zur Reform des Sexualstrafrechts abgedruckt. Er beinhaltete die Streichung des § 175 und die Strafbefreiung einvernehmlicher Sexualität zwischen Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern.22

Um den Jahreswechsel 1982/83 wandten sich Mitglieder der Indianerkommune Nürnberg23 mit der Bitte an die Alternative Liste Berlin, sich an den Anwaltskosten im Prozess gegen das Grünen-Mitglied Uli Reschke wegen sexuellen Missbrauchs von Kin- dern zu beteiligen. Die AL-Schwulen unterstützten das Ansinnen, im Delegiertenrat fand der Antrag jedoch nach Diskussionen um das Thema Pädophilie – wenn auch knapp – keine Mehrheit.24 Reschke wurde freigesprochen.

Im Mitgliederrundbrief Nr. 22/23 vom Mai 1983 thematisierte Frank Teipel in ei- nem Leserbrief unter Bezug auf die Indianerkommune und den Prozess um Uli Reschke das Binnenklima der AL, wenn es um Pädophilie ging: „[…] Man hat in der AL für Pädo- philie zu sein, wegen derer Ulli angeklagt war und ist man es nicht, so hat Ulf [P.-L.] gleich eine tiefenpsychologische Erklärung bereit …“25.

Für Mai 1983 fand sich ein Hinweis darauf, dass im Rahmen des AL-Frauenbe- reichs überlegt wurde, eine AG Pädophilie ins Leben zu rufen und sich dort mit Forde- rungen des Schwulenbereichs auseinander zu setzen. Offen bleibt, ob diese AG wirklich gegründet worden ist.26

Über den AL-Schwulenbereich fand die Pädophilie-Debatte bei den Grünen im- mer wieder ihren Weg zu den Treffen der Berliner Schwulengruppen (TBS), von wo diese Gruppen in entgegengesetzter Richtung Einfluss auf die Politik der Alternativen Liste zu nehmen versuchten. So erreichten eine Resolution und ein Entwurf der grünen AG Fa- milien-, Sexualpolitik und alternative Lebensformen vom 4./5. Juni 1983 das Treffen der Berliner Schwulengruppen, welche schwerpunktmäßig die Abschaffung der §§ 174-176 StGB forderten. Gemäß dem TBS-Protokoll sollte der Entwurf in den Schwulengruppen

21 17. Mitgliederrundbrief, März 1982, S. 25, AGG, Zs 320. 22 Einladung zum Treffen Berliner Schwulengruppen am 12.11.1982, ASM, TBS, Teil 1. 23 Die Indianerkommune Nürnberg trat u.a. für die Legalisierung pädosexueller Beziehungen ein. 24 Protokoll des Delegiertenrats vom 9.2.1983, AGG, C Berlin I.1, 8. 25 22./23. Mitgliederrundbrief, Mai 1983, S. 49, AGG, Zs 320. 26 Protokoll des Frauenbereichs vom 24.5.1983, AGG, C Berlin I.1, 111.

11 76 diskutiert werden und „(positive) Stellungnahmen“ über Kurt Hartmann an den AL-Dele- giertenrat geschickt werden.27

Auch 1984 blieb der programmatische Kurs des AL-Schwulenbereichs unverän- dert. So wandte sich ein Programmentwurf, der vermutlich aus diesem Jahr stammt, ge- gen die Bestrafung jeglicher sexueller Beziehungen zwischen Erwachsenen, Jugendli- chen und Kindern, die auf freiwilliger Basis beruhen. Die §§ 174, 175 und 176 StGB und jegliche Schutzaltersgrenzen sollten aufgehoben werden.28 In Richtung der Grünen auf Bundesebene und im Bundestag formulierte der Bereich wiederholt Erklärungen, die auf eine radikalere Positionierung und stärkeres Engagement in der Diskussion um das Se- xualstrafrecht und die sexuelle Selbstbestimmung zielten. Im Juli 1984 brachten die Ber- liner Schwulengruppen (TBS) „Die schwulen Stolpersteine – Homosexuelle Forderungen zu den Bezirks- und Abgeordnetenhauswahlen 1985“ heraus. Von der AL erwarteten sie u.a. mehr Einsatz für die Streichung der §§ 174-176 StGB in der Bundespolitik und die Berücksichtigung entsprechender programmatischer Vorschläge des AL-Schwulenbe- reichs in der Programmdebatte zu den Abgeordnetenhauswahlen 1985.

Zwar schienen Forderungen zum Sexualstrafrecht in der Regel aus dem AL- Schwulenbereich heraus vorgebracht worden zu sein, die knappen Abstimmungsergeb- nisse am Anfang der 1980er Jahre zeigen aber, dass auch in der AL-Mehrheit in dieser Zeit keine einheitlich ablehnende Haltung bei diesen Fragen vorhanden war. Selbst im AL-Frauenbereich, der die Aufmerksamkeit zunehmend auf den sexuellen Missbrauch von Mädchen lenkte, wurde über „einvernehmliche Sexualität mit Kindern und Jugendli- chen“ kontrovers diskutiert.

Jedenfalls ging der immer wieder aufflammende Streit um sexuelle Beziehungen zu Kindern innerhalb der AL im Vorfeld der Abgeordnetenhauswahlen 1985 in eine neue Runde. Auf Initiative des Frauenbereichs und mit 90-prozentiger Zustimmung der anwe- senden AL-Mitglieder auf der MVV am 10.11.1984 machte sich die Alternative Liste nun- mehr lediglich für die Streichung des §175 StGB stark. Dem in der Abstimmung unterle- genen Schwulenbereich wurde dennoch ein Minderheitenvotum folgenden Wortlauts ein- geräumt und auch im Wahlprogramm 1985 abgedruckt: „Die §§ 174 und 176 StGB sind so zu fassen, dass nur Anwendung oder Androhung von Gewalt oder Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses bei sexuellen Handlungen unter Strafe zu stellen sind.“29

27 ASM, TBS, Teil 1. 28 ASM, Politische Gruppierungen/Parteien – Alternative Liste. 29 Protokoll der MVV vom 10.11.1984, AGG, C Berlin I.1, 2.

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Nach der Wahlniederlage der Grünen in Nordrhein-Westfalen 1985, die wohl auf erst verabschiedete und später eilig zurückgenommene Beschlüsse zur Sexualität Erwach- sener mit Kindern zurück zu führen war, gingen die Grünen im Bund und in einzelnen Landesverbänden zunehmend auf Distanz zu den umstrittenen Forderungen beim Sexu- alstrafrecht. Der bayerische Landesausschuss der Grünen wollte nach dem Erreichen der Aufhebung der Paragrafen 175 und 182 StGB keine weiteren Änderungen des Se- xualstrafrechts mehr mittragen und den Kinderschutz stärken. Aus Berlin wurde dieser Richtungswechsel vom TBS, dem die AL-Schwulen angehörten, im Entwurf eines Schrei- bens kritisiert.30

Ebenso wandte sich Dieter F. Ullmann im Namen des TBS und unterstützt von den AL-Schwulen gegen die Aussage des grünen Bundestagsabgeordneten , die grüne Gesetzesinitiative zur Streichung der §§ 175 und 182 StGB sei „kein Freibrief für geile alte Männer“.31 Rusche hatte sich darüber hinaus für das Fortbestehen der §§ 174 und 176 StGB ausgesprochen. Ullmann war es auch, der sich am 12. Juli 1985 für das TBS gegen den Versuch des Grünen-Landesvorstands Niedersachsen stellte, Pädosexuelle aus den Schwulengruppen der Grünen heraus zu drängen.32

In diesem Zusammenhang ist auch ein Brief des Geschäftsführenden Ausschus- ses der AL an den Landesvorstand der Grünen Niedersachsen vom 16. Juli 1985 inte- ressant. Darin schilderte das GA-Mitglied Sabine Fischer den von den Forderungen der Schwulen und „Päderasten“ geprägten Berliner Wahlkampf 1984/85 und benannte den Konflikt zwischen Schwulen/Päderasten und von sexueller Misshandlung betroffenen Mädchen/Frauen. Nach ihrer Darstellung wurde in diesem Wahlkampf der Begriff „ein- vernehmliche Sexualität“ entlarvt. Eine Mehrheit der AL-Mitglieder sei allein für die Ab- schaffung des § 175 StGB und lehne auch die Darstellung einer Minderheitenposition der „Päderasten“ ab. Insgesamt ermutigte Sabine Fischer in ihrem Schreiben die niedersäch- sischen Grünen, in ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Pädophilen-Forderungen fest zu bleiben.33

30 Entwurf einer Stellungnahme des TBS zum Beschluss des bayerischen Landesausschusses der Grünen (LA) vom …, o.D., ASM, TBS, Teil 1. 31 Offener Brief an Herbert Rusche vom 13.4.1985, ASM, TBS, Teil 1. 32 Treffen Berliner Schwulengruppen an den Landesvorstand der Grünen Niedersachsen, 12.7.1985, ASM, TBS, Teil 1. 33 Geschäftsführender Ausschuss der AL Berlin an den Landesvorstand der Grünen Niedersachsen, 16.7.1985, AGG, C Berlin I.1, 40.

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Langsame Abkehr von den Forderungen zum Sexualstrafrecht (1986-1989)

Auch im Jahr 1986 machte sich der AL-Schwulenbereich für die Belange Pädosexueller stark. So trat er für deren Interessen im Gründungsprozess des Bundesverbands Homo- sexualität (BVH) ein und führte dabei an, im AL-Schwulenbereich arbeiteten „Pädosexu- elle gleichberechtigt mit“34. Als im AL-eigenen Kreuzberger Stachel von Juli/August 1986 ein Artikel zum Vorwurf des sexuellen Missbrauchs in verschiedenen Jugendorganisati- onen erschien, stellten die AL-Schwulen im Delegiertenrat einen Antrag gegen vermeint- liche sexuelle Denunziation in diesem Artikel. Dort allerdings wurde die Diskussion ab- gebrochen, „da eine generelle Debatte über Päderastie bereits geführt wurde“. Den An- trag der AL-Schwulen „auf Unterlassung derartiger Denunziationen“ nahmen die Dele- gierten jedoch an.35

Im Kreuzberger Stachel entflammte nun im Sommer und Herbst 1986 eine Dis- kussion um Pädosexualität, wobei die Kontroverse vor allem zwischen den organisierten AL-Frauen in Kreuzberg und Mitgliedern des Schwulenbereichs verlief. Kurt Hartmann und Manfred Herzer hielten im Kreuzberger Stachel (9/10 1986) die Bestrafung „gewalt- freier Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern für einen politischen Fehler und für ein Unrecht“. In der gleichen Stachel-Ausgabe erhielten sie in einem Leserbrief unter Bezugnahme auf den Artikel im Juli Unterstützung: „Auch die AL scheint inzwischen von der Wende befallen. Seit sie sich als Kinderficker-Partei diffamiert sieht, diffamiert sie jetzt wohl fleißig mit, möglicherweise um sich rein zu waschen? Die Pädos sind ja schon ausgegrenzt worden!“36. Die Gegenposition vertrat Angela Schäfers vom AL-Bereich Frauen:

„Männer sollten ihren Wunsch nach sexuellen Kontakten mit Kindern endlich als ihr Problem begreifen – als ihre Unfähigkeit, mit gleichberechtigten Partnern oder Partnerinnen zu leben – und nicht als bloße – natürliche – Variante von Sexuali- tät. Und politisch aktive Schwule sollten diese Unfähigkeit nicht länger zum poli- tischen Programm erheben, sondern ihren emanzipatorischen Ansatz als auch für diesen Bereich geltend verstehen.“37 In der Folgezeit schien die Aktivität des Bereichs Schwule für ca. anderthalb Jahre er- lahmt zu sein. Erst als der Geschäftsführende Ausschuss dem Bereich wegen Inaktivität Mandate und Zuwendungen aberkennen wollte und die sogenannte PorNo-Debatte um das Verbot von Porno-Filmen aufkam, meldete sich der Bereich wieder zu Wort. Im Zuge dessen wandte er sich z.B. gegen die Beschlagnahmung von Darstellungen sexueller

34 Zur Austreibung der Pädophilen aus dem geplanten Bundesverband der Schwulen, o.D., ASM, Politische Grup- pierungen/Parteien – Alternative Liste. 35 DR-Protokoll vom 9.7.1986, AGG, C Berlin I.1, 9. 36 Leserzuschrift von Wolfgang Timmer, in: Kreuzberger Stachel, September/Oktober 1986, S. 7. 37 Angela Schäfers: Egoistische Wünsche Erwachsener, in: Kreuzberger Stachel, September/Oktober 1986, S. 7.

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Handlungen mit Jugendlichen in einem Sexshop für Schwule. Er erklärte darüber hinaus, dass einvernehmliche Sexualität gemäß AL-Programm nicht bestraft werden dürfe. Dazu gehöre auch Pädophilie ohne Zwang und Nötigung.38 Im Mai 1988 erweiterte der Bereich seine Kritik in einer „sexualpolitischen Erklärung“ und bemängelte das Nicht-Zustande- Kommen eines konsensfähigen sexualpolitischen Konzeptes der AL. Weiter hieß es, Konfliktfelder wie Pädophilie seien wenig bis gar nicht in die politische Auseinanderset- zung aufgenommen worden. Der Delegiertenrat lehnte die Erklärung des Schwulenbe- reichs daraufhin zwar ab, trat aber für eine sexualpolitische Debatte in allen Bezirken und Bereichen ein und wollte die Ergebnisse auf einem Politischen Forum im Frühherbst 1988 zusammentragen. Auch die AL-Bezirksgruppe Reinickendorf wandte sich am 2. Mai 1988 gegen die „Sexualpolitische Erklärung“ des Schwulenbereichs und bemühte sich als Kontrapunkt, in Reinickendorf die Ausstellung „Sexueller Missbrauch an Mädchen“ des Vereins Wildwasser zu zeigen.

Am 11. Mai 1988 zog der Schwulenbereich auf der Sitzung des Delegiertenrats seinen umstrittenen Antrag nach einer weiteren Kontroverse zurück und vertagte die Konzeptdiskussion auf die Zeit nach der Wahl 1989. Im Saal, so der Protokollant, habe die Stimmung „bloß keine Pädofilie-Diskussion in Berlin“39 vorgeherrscht. Unterstützung fand der AL-Schwulenbereich wie zuvor beim Treffen Berliner Schwulengruppen (TBS), der sich in einem Schreiben zu Stellenwert und Kritik der AL-Schwulenpolitik äußerte. Das TBS forderte darin auch eine innerparteiliche Diskussion über „Entfaltungsmöglich- keiten kindlicher Sexualität und de[n] Umgang von Erwachsenen damit: Sowohl der ge- wöhnlich ignorierende und der gewalttätige (Kindesmissbrauch) als auch der der Pädo- philen“40.

Im Vorfeld der Abgeordnetenhauswahl 1989 trat der Schwulenbereich mit Anträ- gen auf Änderung des AL-Wahlprogramms bei den Themen „gewaltverherrlichende Por- nographie“ und „Delikte gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ innerparteilich in Erschei- nung. Derartige programmatische Vorstöße stießen bereits im Delegiertenrat auf Ableh- nung oder wurden letztendlich auf den Mitgliedervollversammlungen wegen geringer Er- folgschancen vom Schwulenbereich selbst nicht mehr eingebracht.

In einem schwul-lesbischen Charlottenburger Stachel zur Wahl 1989 äußerte Kurt Hartmann Anteilnahme am Schicksal verurteilter Pädosexueller, „die wegen einver- nehmlicher Sexualität mit Kindern gnadenlos im Knast sitzen müssen, selbst wenn bei

38 Erklärung des Bereichs Schwule in der AL, 5.4.1988, in: DR-Info für den Delegiertenrat am 13.4.1988, AGG, C Berlin I.1, 25. 39 DR-Protokoll vom 11.5.1988, AGG, C Berlin I.1, 25. 40 Treffen Berliner Schwulengruppen an GA und DR der AL Berlin, 15.5.1988, AGG, C Berlin I.1, 25.

80 15 den Kindern nicht der geringste Schaden nachzuweisen (???, d. Säzzerin...) ist und kein Rechtsgut verletzt wurde“41. Punkt 4 der ebenfalls in diesem Stachel abgedruckten schwulenpolitischen Forderungen beinhaltete zum wiederholten Mal den Ruf nach Strei- chung der §§ 174-176 StGB.

Eine neuerliche Kontroverse um die Pädophilie entspannte sich im Sommer 1989. Im Delegiertenrats-Info vom Mai erschien der Artikel „Lustvoll leben in Berlin: Wir brauchen rosa Stacheln in der Exekutive!“ des schwulen AL-Fraktionsmitglieds im Abge- ordnetenhaus Albert Eckert.42 Neben einem Plädoyer für die Einrichtung eines Schwulen- und Lesbenreferats in der Senatsverwaltung forderte er die Akzeptanz von Sexualität zwischen „Geschlechtsgleichen und Altersungleichen und beim Doktor-Spielen der lie- ben Kleinen“. Eckert trat für die Entkriminalisierung von „einvernehmlicher Sexualität zwi- schen Kindern und Erwachsenen“ ein, räumte aber ein, dass das eines der heißesten Themen in der Lebensweisenpolitik sei und es deshalb nicht sinnvoll sei, gerade damit anzufangen. Der mittlerweile gegründete AL-Lesbenbereich reagierte auf Albert Eckerts Artikel mit einem kritischen offenen Brief, in dem auf „tiefgreifende Meinungsverschie- denheiten“ im Punkt Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern hingewiesen wurde. Artikel und Brief wurden später auch in der AL-Zeitschrift Stachlige Argumente veröffent- licht.43 In ihrer Replik äußerten die AL-Schwulen wiederum Vorfreude im Hinblick auf den Streit über „Kindersex“, Pornographie und Prostitution. Ihrer Meinung nach müsse die AL derartigen Streit aushalten.44

Auf Bundesebene hatten die Grünen zu dieser Zeit bereits einen politischen Kurs- wechsel bei den Positionen zum Sexualstrafrecht vorgenommen, obwohl eine Änderung des Grundsatzprogramms erst 1993 erfolgte. Der Bundeshauptausschuss (kleiner Par- teitag) traf sich im April 1989, um die Bundesarbeitsgemeinschaft Schwulenpolitik offiziell anzuerkennen. Im dazugehörigen Antrag, der einstimmig angenommen wurde, fand sich auch folgende Formulierung: „Die Forderung nach einer Abschaffung des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuches […] oder eine Streichung der §§ 174 und 176 […], wie sie von Teilen der Schwulenbewegung diskutiert wird, ist für DIE GRÜNEN völlig inakzeptabel.“45

41 Kurt Hartmann: Bi nde - Glied. Der Schwulenbereich der AL, in: Charlottenburger Stachel Wahl `89 „Schwule und Lesben werden toll“. Offenbar wurde vergessen, die – bezeichnenden – Fragezeichen in der redaktionellen Anmer- kung der Schriftsetzerin zu streichen. 42Delegiertenrats-Info vom 24.5.1989, AGG, C Berlin I.1, 28. 43 Albert Eckert: Lustvoll leben in Berlin: Wir brauchen rosa Stacheln in der Exekutive!, in: Stachlige Argumente Nr. 57, Juli 1989, S. 44-45. Offener Brief der AL-Lesben an Albert Eckert, in: Stachlige Argumente Nr. 58, September 1989, S. 22. 44Delegiertenrats-Info vom 21.6.1989, AGG, C Berlin I.1, 10. 45 Die Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) „Schwulenpolitik“ der GRÜNEN, in: BVH Magazinchen, Oktober 1989, S. 63.

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Dieser Satz bedeutete einen Bruch mit den Forderungen eines Teils der Schwulenbewe- gung und der Zusammenschlüsse Pädosexueller.

Die Fortsetzung der Debatte in Berlin (1989-1995)

Von diesem Kurswechsel nahmen einige schwule (G)AL-Mitglieder durchaus Notiz. Im BVH Magazinchen kritisierte Stefan Etgeton unter der Überschrift „Der BVH und das Thema Pädophilie“ allerdings diese Entwicklung: „Die Streichung der §§ 174 und 176 StGB oder gar des ganzen 13. Abschnitts steht derzeit nicht einmal bei den GRÜNEN mehr zur Debatte – dafür haben auch Schwule gesorgt.“46 Ungeachtet dessen blieb ins- besondere Kurt Hartmann bei seiner bisherigen Linie und warb weiter für seine Positio- nen hinsichtlich vermeintlicher Einvernehmlichkeit sexueller Beziehungen zwischen Er- wachsenen und Kindern.47

Die schwulen Abgeordneten der AL-Fraktion Albert Eckert und Christian Pulz meldeten sich am 5. November 1991 mit einer Kleinen Anfrage „über antihomosexuelle Einsätze in Kreuzberger Kneipen“ zu Wort. Anlass war ein Polizeieinsatz am 1.November 1991, bei dem Berliner Beamte die Identität der Teilnehmer des 2. Treffens der AG Pä- dophilie im Bundesverband Homosexualität im Café Graefe festgestellt hatten.48

Von 1990 bis zum Jahr 1994 riss die Serie von Artikeln im Kreuzberger Stachel nicht ab, welche Orte und Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern in Kreuzberg proble- matisierten (z.B. Kreuzberger Stachel Nr. 97, 4/1992: „Sexuelle Gewalt im Kiez“). Wenig später warb Joachim Eul in den Stachligen Argumenten um neue Mitglieder für den AL- Schwulenbereich und referierte, dass stets ignoriert werde, dass „Kinder ein Recht auf Sexualität“ hätten. Er bezweifelte die Relevanz des Sexualstrafrechts, da Vergewaltigung und sexueller Missbrauch auch unter Zuhilfenahme anderer Strafrechtsparagrafen ge- ahndet werden könnten.49 Im Zuge dieser Werbekampagne für den Schwulenbereich 1992, die dazu diente, durch Erhöhung der Mitgliederzahl den Status des Bereichs zu sichern, gründete Fred Karst die Untergruppe „Jung und Alt“ als schlecht getarnte Pädo- Gesprächsgruppe.

46 Stefan Etgeton: Der BVH und das Thema Pädophilie, in: BVH Magazinchen, Oktober 1989, S. 60-62. 47 Kurt Hartmann: Eine andere Sexualkultur, in: taz, 12.3.1990. 48 Kleine Anfrage Nr. 1449 der Abgeordneten Albert Eckert und Christian Pulz über antihomosexuelle Einsätze in Kreuzberger Kneipen, mit Antwort vom 17. Dezember 1991, in: Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 12/1016, S. 22 f. 49 Joachim Eul: Wanted – only alive: gay men with brain and ideas, in: Stachlige Argumente Nr. 78, Dezember 1992, S. 49f.

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Die Debatte um Pädophilie gipfelte Ende 1994 in einer Kontroverse zwischen den Kreuz- berger AL-Frauen und einem Teil der AL-Schwulen. Ausgangspunkt war der Artikel „Pä- dos bei den Grünen“ in den Stachligen Argumenten. In diesem setzte sich die Frauen- gruppe der Grünen Kreuzberg mit dem Thema auseinander und forderte eine klare Po- sitionierung ihrer eigenen Partei. Bisher hätte es keine klare Trennung zwischen „freier Sexualität“ und Missbrauch gegeben. Die Pädophiliedebatte sei von Anfang an geprägt gewesen von „Nichtwissen und sich nicht informieren über die Auswirkungen pädophiler Penetration auf die betroffenen männlichen Kinder und Jugendlichen.“50 Darauf antwor- tete Albert Eckert in der Dezember-Ausgabe der Stachligen Argumente unter der Über- schrift: „Warum ich Kindesmissbrauch verabscheue und trotzdem nicht gleich alle Pädos hasse“. Eckert rekapitulierte den Einfluss der Nürnberger Indianerkommune auf den Um- gang mit Pädophilen und verteidigte die verständnisvolle Haltung gegenüber ihnen, ob- wohl er den Missbrauch von Kindern ablehne.51

In derselben Publikation nahmen auch Mitglieder des Berliner Schwulenbereichs der Grünen Stellung zu den Positionen der Kreuzberger Frauen. Zum wiederholten Mal behaupteten sie ihre These von der Existenz „einvernehmlicher [sexueller] Handlungen“ ohne Schaden für die Kinder. Erstmals kam es aber bei der Haltung zur Pädophilie zum Bruch unter den Angehörigen des Schwulenbereichs. Am Ende des Briefes wurde be- tont, dass dessen Inhalt keinen Konsens im Schwulenbereich darstelle, da sich beide Landesausschuss-Vertreter, insbesondere Anselm Lange, vom Inhalt ausdrücklich dis- tanziert hätten.52 Abgerundet wurde die Dezember-Ausgabe 1994 der Stachligen Argu- mente von massiver Kritik an der innerparteilichen Duldung der „Pädos“ und ihrer Positi- onen in zwei Leserbriefen von Stefan Gose und Rita Kantemir.

Am 4. Februar 1995 erschien in der Berliner Zeitung ein Artikel über den Prozess und das Urteil gegen Fred Karst wegen Missbrauchs an einem zur Tatzeit achtjährigen Jungen. Es wurde berichtet, dass Karst aktives grünes Mitglied sei, eine Jugendgruppe leite und schon 1980 wegen sexuellen Missbrauchs zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden sei.53 Fred Karst gehörte dem Schwulenbereich der Berliner Grünen an und war seit Dezember 1992 sein Vertreter auf der Landesdelegiertenkonferenz. Daraufhin ver-

50 Frauengruppe der Grünen/AL Kreuzberg: Pädos bei den Grünen, in: Stachlige Argumente Nr. 89, Oktober 1994, S. 45-48. 51 Albert Eckert: Warum ich Kindesmissbrauch verabscheue und trotzdem nicht gleich alle Pädos hasse, in: Stachlige Argumente Nr. 90, Dezember 1994, S. 38-40. 52 Joachim Eul u.a.: Stellungnahme zum Artikel „Pädos bei den Grünen“, in: Stachlige Argumente Nr. 90, Dezember 1994, S. 40. 53 Berliner Zeitung, 4.2.1995.

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merkte das GA-Protokoll vom 13. Februar 1995 einen einstimmigen Beschluss zur Ein- leitung eines Ausschlussverfahrens gegen Fred Karst wegen parteischädigenden Ver- haltens.54

In einer Presseerklärung vom 16. Februar 1995 äußerten sich die Sprecher des Schwulenbereichs, Anselm Lange und Jürgen Röttger, zum laufenden Parteiausschluss- verfahren von Fred Karst und zu dessen Verurteilung. Der Schwulenbereich distanzierte sich scharf von Fred Karst und schloss jede weitere Zusammenarbeit mit ihm unabhängig vom Ausgang des Ausschlussverfahrens aus. Die Bereichsmitglieder lehnten alle For- men sexuellen Missbrauchs von Kindern ab. Gleichzeitig informierte die Presseerklärung über einen Beschluss der Bereichsmitglieder, für ein allgemeines Schutzalter von 14 Jah- ren im Sexualstrafrecht einzutreten.55

Bemerkenswert ist noch ein Schreiben des Kreisverbands Wedding, dessen Mit- glied Fred Karst war, an den Landesverband Bündnis 90/DIE GRÜNEN vom 8. März 1995. Laut diesem Brief herrschte im Kreisverband Verärgerung vor, nicht früher in die Pädophilie-Debatte [ihrer] Organisation [d.h. der Grünen] einbezogen worden zu sein. Zwar positionierten sich die Grünen aus dem Wedding gegen sogenannte einvernehmli- che, gleichberechtigte Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen, lehnten gleich- wohl ein Parteiausschlussverfahren gegen Fred Karst unter Verweis auf die Akzeptanz von Minderheitenmeinungen (sic!) bei den Grünen ab.56 Vermutlicher Schlusspunkt der zeitgenössischen Auseinandersetzung zum Thema Pädosexualität bei den Berliner Grü- nen war der Parteiaustritt Fred Karsts im Mai 1995, der somit einem möglichen Partei- ausschluss zuvorkam.

54 GA - Protokoll vom 13.2.1995, AGG, C Berlin I.8, 207. 55 Presseerklärung des AL-Schwulenbereichs vom 16.2.1995, AGG, C Berlin I.8, 121. 56 Schreiben des Grünen-Kreisverbands Wedding an Fred Karst vom 8.3.1995, AGG, C Berlin I.8, 208.

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3 DIE DEBATTE IN BERLIN

3.1 Die wichtigsten Debattenstränge in der AL Berlin

Der Sammelband „Die Grünen und die Pädosexualität“, der die Ergebnisse der wissen- schaftlichen Aufarbeitung im Auftrag des Bundesverbands der Partei zusammenträgt, hat den Untertitel „Eine bundesdeutsche Geschichte“. Ohne die spezifisch grüne Verantwor- tung zu beschönigen oder gar zu leugnen, kommen die AutorInnen zu dem Schluss, dass „die Auseinandersetzung mit Pädophilie und die konkrete Forderung nach deren Legali- sierung jedenfalls kein diskursives Kuriosum der Grünen oder des Alternativmilieus war“57. Die grüne Diskussion der späten 1970er und 1980er Jahre fand in einem gesell- schaftspolitischen und wissenschaftlichen Umfeld statt, das denjenigen, die einer Straf- freiheit von Pädosexualität das Wort redeten, eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten bot. Dazu gehörten reformpädagogische und sozialpsychologische ebenso wie (rechts-)phi- losophische Diskurse und Forschungsansätze. Die wiederum waren eingebettet in eine gesamtgesellschaftliche Politisierung von Sexualität, die Mitte der 1960er Jahre begann und gemeinhin mit dem Begriff der „sexuellen Revolution“ umschrieben wird. Charakte- ristisch für diese Entwicklung waren ein Aufbegehren gegen tradierte Normen und Ge- setze, die als überkommen und bevormundend wahrgenommen wurden, und der Kampf für die sexuelle Selbstbestimmung der Einzelnen. In ihrem Fahrwasser erlangte auch die Forderung nach einer Straffreiheit von Pädosexualität neue Prominenz und Anschluss- fähigkeit. Ihre Propagandisten stellten sich als „Opfer“ einer repressiven und rückwärts- gewandten Sexualmoral dar, die es ebenso zu „befreien“ galt wie Frauen, Homosexuelle oder Kinder und Jugendliche. Letztere sollten ihre sexuelle Identität ohne staatliche und erzieherische Bevormundung entwickeln und ausleben können. Dass nicht die pädose- xuellen TäterInnen, sondern Kinder und Jugendliche durch Missbrauch zu Opfern ge- macht werden, wurde dabei weitgehend ausgeblendet.

Die Frage, warum die Auseinandersetzung um die Legalisierung von Pädosexu- alität in der Berliner AL so offen und intensiv geführt wurde, lässt sich nur vor dem Hin- tergrund der gesamtgesellschaftlichen Grundsatzdebatten verstehen, die auch den Hin- tergrund bei der Gründung der Alternativen Liste in Berlin 1978 bildeten. Von Beginn an war das Thema Pädosexualität auch Teil der Diskussionen in der Berliner AL, zum Bei- spiel auf einer öffentlichen Programmdebatte der Lesben und Schwulen in der AL am 30.

57 Stephan Klecha/Alexander Hensel: Irrungen oder Zeitgeist? Die Pädophilie-Debatte und die Grünen, in: Franz Walter/Stephan Klecha/Alexander Hensel (Hg.): Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Ge- schichte, Göttingen 2015, S. 7-22, hier S. 10.

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November 1979. Die Formulierung „Beziehungen zwischen Erwachsenen und Jugendli- chen oder Kindern, sofern sie auf gegenseitiger Übereinstimmung beruhen und gewalt- frei sind, sollen straffrei bleiben" verfehlte zwar knapp die Mehrheit, die Debatte jedoch war eröffnet.58

Die verschiedenen gesellschaftlichen Bewegungen, welche die Diskussion um die Legalisierung von Pädosexualität führten, darunter die Jugendbewegung, die Schwu- lenbewegung, „avantgardistische“ rechtspolitische Bewegungen und natürlich die Pädo- sexuellenbewegung sowie – unter anderem Vorzeichen – die Frauenbewegung, fanden ihren Platz in der neu gegründeten Alternativen Liste in Berlin.

Gemeinsam war den Debatten in der Berliner AL, dass es im Grundsatz immer darum ging, ein neues moralisches Gerüst zu errichten, um sich aus den herrschenden gesellschaftlichen Zwängen zu lösen. Es ging darum, sich insgesamt gesellschaftlich neu zu erfinden und zu verorten. Dabei waren die Dispute häufig sowohl abstrakt als auch gleichzeitig sehr konkret und emotional. Abstrakt, weil es um große Visionen und Utopien ging. Konkret, weil gerade bei der AL immer auch der Anspruch herrschte, Politik für und gemeinsam mit Minderheiten zu machen. Dies ließ politische Diskussionen häufig nicht nur zu intellektuellen, sondern vor allem zu hoch emotionalen Auseinandersetzungen werden, bei denen Einzelne häufig mit ihrer Person und Lebensgeschichte für bestimmte Positionen standen.

Aus dieser Gemengelage, in der sich Utopien mit ganz konkreten Vorschlägen, hoher Emotionalität und einem falsch verstandenen „libertären Geist“ mischten, entstand der Nährboden für die Toleranz gegenüber pädosexuellen Forderungen. Die – aus heu- tiger Sicht – völlig absurde Idee, einvernehmliche Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern sei möglich, schuf letztlich die Klammer, die es ermöglichte, pädosexuelle Täter zu Opfern zu erklären und die wahren Opfer sexualisierter Gewalt zu leugnen, ja gar zu sexuell Befreiten zu stilisieren.

Es kristallisierten sich vor allem zwei Diskussionsstränge heraus, die der Debatte über Pädosexualität in der Berliner AL den Boden bereiteten bzw. sie vorantrieben. Ei- nerseits handelte es sich um eine rechtswissenschaftliche und rechtspolitische Debatte zur Liberalisierung des Strafrechts. Schon in Westdeutschland bildete dieser Diskurs in den 1970er Jahren einen Ausgangspunkt für Forderungen nach Straffreiheit von Pädo- sexualität. Eine ähnliche Rolle nahm dieser Diskurs auch innerhalb der Berliner AL ein.

58 Annette, Lesben/Schwulenredaktion: Ist diese Linke noch das Rechte? Kommentar zur Veranstaltung der AL- Berlin zum Programmentwurf der Lesben und Schwulen, in: taz, 3.12.1979, S. 5.

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Andererseits dominierte der Schwulenbereich eine Debatte, in der er für sexuelle Befrei- ung und gegen die Stigmatisierung „von sexuell diskriminierten Bevölkerungsteilen“ 59 kämpfte. In dieser Rolle gab er über lange Zeit auch der Pädosexuellenbewegung eine Plattform, sowohl nach innen als auch nach außen zur Mehrheit der AL-Mitglieder hin.

Doch es gab Widerstand. Die dritte relevante Kraft der Debatte innerhalb der AL war die Frauenbewegung, die sich in Berlin vor allem im Rahmen der Kreuzberger Frau- engruppen organisierte. Die Frauen standen immer wieder sowohl mit den AkteurInnen der rechtspolitischen Liberalisierungsbewegung als auch mit der Schwulen- und der se- xuellen Befreiungsbewegung in Konflikt – immer dann, wenn es um den Schutz vor se- xueller Ausbeutung ging.

Auch andere Debatten, die den Diskurs über die Straffreiheit von Pädosexualität berührten, wurden in der Berliner AL geführt. So wurde das Thema bei der AL ebenfalls aus jugendpolitischer Perspektive behandelt. Allerdings entwickelte der kinder- und ju- gendpolitische Aspekt nicht annähernd die Relevanz, die vor allem die schwulenpoliti- sche, aber auch die rechtspolitische Debatte entfalteten.

In der Kontroverse um die Legalisierung der Pädosexualität in der Berliner AL verschränkten sich die rechtspolitische Diskussion um die Liberalisierung des Strafrechts und Aspekte der Sexual-, Schwulen- und Lebensweisenpolitik. Dabei kam dem rechts- politischen Diskurs eher die Rolle zu, den Boden zu bereiten, während die starken Ak- teure, die für die Legalisierung der Pädosexualität eintraten und in dieser Frage offen in Konflikt zur Frauenbewegung gerieten, vor allem aus der Schwulenbewegung stammten.

Erklärend zu den Auswirkungen der rechtspolitischen Debatte in der Berliner AL auf den Diskurs über die Legalisierung von Pädosexualität ist festzustellen: Die Grün- dung der AL fiel in den Zeitraum eines großen rechtspolitischen Umbruchs. Über viele Jahre war es im Rahmen des sogenannten „besonderen Gewaltverhältnisses“ den Ver- waltungsbehörden überlassen, wie der Strafvollzug ausgestaltet war. Erst nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1972 wurde die Art der Einschränkung von Freiheitsrechten (Gefängnisstrafe) vom Gesetzgeber geregelt.60 Bis dahin war es im Strafvollzug vornehmlich um „einsperren“ und „wegsperren“ gegangen. Rechte von Ge-

59 Die Grünen: Das Bundesprogramm, o.O. 1980, S. 5; Institut für Demokratieforschung der Georg-August-Universi- tät Göttingen: Die Pädophiliedebatte bei den Grünen im programmatischen und gesellschaftlichen Kontext. Erste und vorläufige Befunde zum Forschungsprojekt, u.a. S. 47, abgerufen am 1.1.2015, http://www.demokratie-goettin- gen.de/content/uploads/2013/12/Paedophiliedebatte-Gruene-Zwischenbericht.pdf. 60 Vgl. Lexikon der Bundeszentrale für politische Bildung, abgerufen am 2.1.2015. http://www.bpb.de/nachschla- gen/lexika/recht-a-z/22301/gewaltverhaeltnis.

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fangenen, Therapie, Resozialisierung, Zugang zu Informationen – all dies war nicht Ge- genstand der Debatte, geschweige denn der Praxis.61 Mit dem Inkrafttreten des Strafvoll- zugsgesetzes 1977 wurde der Strafvollzug für Erwachsene umfassend geregelt. Die Dis- kussion vor der Verabschiedung und in den folgenden Jahren drehte sich zunehmend um die Frage, ob Resozialisierung, Aus- und Weiterbildung, soziale Integration und The- rapie der Gefangenen nicht noch viel stärker in den Mittelpunkt rücken sollten. Diese Fragen waren Kernthemen in der sogenannten „Knast-AG“ der AL, die schon in den ers- ten Jahren nach der Parteigründung aktiv war. Hier und im gesamten Bereich Demokra- tische Rechte wurde nicht nur der Strafvollzug, sondern auch die komplette Abschaffung der Gefängnisse debattiert. Ebenso galt das für die Liberalisierung des Strafrechts ins- gesamt – bis hin zum sogenannten „Abolitionismus“, der in letzter Konsequenz die Ab- schaffung des gesamten Strafrechts vorsah. AutorInnen wie Marlis Dürkop, Helmut Orten, Arno Plack oder Sebastian Scheerer forderten grundsätzliche Reformen des Straf- rechts bis zu dessen völliger Überwindung.62 Mit diesen Überlegungen war man, gerade in Kreisen der Alternativen Liste Berlin, keinesfalls Außenseiter, sondern vielmehr ihrem Selbstverständnis nach Teil der „Avantgarde“, die das oppressive, obrigkeitsstaatliche System an der Wurzel anpackt. Ziel war es, dieses System aufzulösen – so fasste auch Hans-Christian Ströbele die damalige Diskussion zusammen.63

Dieses Verständnis prägte auch die rechtspolitische Debatte über das Sexual- strafrecht. Exemplarisch wird dies an einem Streitgespräch zwischen Renate Künast und Helga Hentschel deutlich, das in der Dezember-Ausgabe 1986 der AL-Zeitung Stachel veröffentlicht wurde. Thema war unter anderem die Forderung nach Erweiterung von Straftatbeständen bei Vergewaltigung, die von Helga Hentschel als Vertreterin der Frau- enbewegung befürwortet wurde. Sie geriet dabei in Konflikt mit Renate Künast, die stark die rechtsphilosophische Position vertrat, welche auf einen Abbau der strafrechtlichen Vorschriften zielte.64 Zwar kämpften auch die Mitglieder der Knast-AG gegen Vergewal- tigung in der Ehe, zum Beispiel durch Fortbildungen bei der Polizei, jedoch verfolgten sie gleichzeitig eine in der Tendenz „abolitionistische“ Grundphilosophie. Heute kommentiert Renate Künast: „Wir waren praktisch orientiert, dabei leider manchmal sehbehindert und einseitig.“65

61 Vgl. Interview mit Renate Künast, 22.10.2014. 62 Vgl. Arno Plack: Plädoyer für die Abschaffung des Strafrechts. Leipzig 1974; Sebastian Scheerer: Die abolitionis- tische Perspektive, in: Kriminologisches Journal, Nr. 16, 1984, S. 90-111, https://www.wiso.uni-hamburg.de/filead- min/sowi/kriminologie/Publikationen/Scheerer_1984_Die_abolitionistische_Perspektive.pdf, abgerufen am 2.1.2015; Interview mit Renate Künast, 22.10.2014. 63 Vgl. Interview mit Hans-Christian Ströbele, 10.2.2015. 64 Was nutzt die Erweiterung von Straftatbeständen bei Vergewaltigung. Ein Streitgespräch, in: Stachel: Zeitung für Demokratie und Umweltschutz, Dezember 1986; AGG ZS 321. 65 Interview mit Renate Künast, 22.10.2014.

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Die Debatte um die Liberalisierung bzw. Abschaffung des Strafrechts spielte den Befür- wortern der Legalisierung von Pädosexualität in die Hände. Sie bereitete neben dem Kampf gegen den § 175 StGB den Boden für ihre Forderung zur Abschaffung der §§ 174 und 176 StGB. Einzelne Akteure der Schwulen- und Pädosexuellen-Bewegung wie Fred Karst engagierten sich sogar in der Knast-AG und der rechtspolitischen Diskussion, auch wenn sie dort nie eine tragende Rolle übernahmen. Andere wie Horst Kirchmeier kamen aus dem Bildungszusammenhang oder engagierten sich wie Arnd Adler im AL-Bereich Kinder, um das Thema Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern programmatisch als Element der sexuellen Selbstbestimmung von Kindern zu verankern. Treibende Kraft in der Auseinandersetzung über die Frage, ob „einvernehmliche Sexualität“ zwischen Kindern und Erwachsenen möglich ist, war aber weder die Knast-AG, noch die Rechts- politikerInnen im Bereich „Demokratische Rechte“ oder der Bereich Kinder. Die Diskus- sion wurde durch den Schwulenbereich der AL in teils harten Auseinandersetzungen mit den Frauengruppen vorangetrieben, die sich vor allem in Kreuzberg organisierten.

3.2 Debattenkultur: Schutz der Minderheiten

Die Debattenkultur der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz in den An- fangsjahren war geprägt von ihrer Entstehungsgeschichte. Mehr noch als bei dem Grün- dungsprozess der Grünen in der alten Bundesrepublik stieß in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in West-Berlin ein bunter Strauß von Politikansätzen, von Partikularinteres- sen und von Experimentierfreude aufeinander. Die tageszeitung (taz) sprach von der AL als Omnibus im Wort-Sinne: „Alle können einsteigen, mitmachen – und auch wieder aus- steigen“. In der Präambel zum ersten Wahlprogramm 1979 stellte sich die AL selbst wie folgt vor:

„Wir sind ein Zusammenschluss von Mitgliedern aus Bürgerinitiativen, Gewerk- schaften, Betriebs- und Personalräten, Frauengruppen, Mieter- und Jugendgrup- pen, demokratischen Komitees, Studentengruppen, Basisinitiativen und vielen, die es leid sind, dass in unserem Land Politik nach den wirtschaftlichen Interes- sen einer bestimmenden Minderheit gemacht wird.“66

Roland Vogt, 1978 AL-Mitbegründer und 1983 bis 1985 Mitglied des Deutschen Bundes- tages, fasste es in folgendem Bild zusammen: „Die AL hat ein rotes Bein und ein grünes Bein“. Wie der Name „Alternative“ ausweist, sollte alles, nicht nur die Inhalte, sondern vor allem die Form des Politik-Machens grundsätzlich anders sein als bei den „etablierten Parteien“. Womit selbstverständlich alle anderen gemeint waren. Der Begriff „Liste“ – und

66 Wahlprogramm der Alternativen Liste für die Abgeordnetenhauswahlen am 18.3.1979.

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nicht Partei – weist darauf hin, dass sich zunächst im Oktober 1978 bewusst nur ein Wahlbündnis für die Abgeordnetenhauswahl im März 1979 gründete. Darauf, dass dieser völlig heterogene, nach außen oft chaotisch erscheinende und im Inneren nicht selten auch so empfundene Zusammenschluss einmal von beinahe 40-jähriger Dauer sein könnte, hätte von den GründerInnen niemand gewettet.

Der Gründungszeitpunkt lag – nur – zehn Jahre nach dem für eine ganze Gene- ration namensgebenden Jahr 1968. Die Studentenbewegung und spätere Außerparla- mentarische Opposition (APO) hatte in Berlin ihren Kulminationspunkt. Nach etlichen Fahrten und Irrfahrten über K-Gruppen, Sponti-Vereinigungen, Debattier-Clubs etc. woll- ten viele der Aktiven nun von der außer- zur innerparlamentarischen Opposition werden. Jemals zu regieren erschien ausgeschlossen und wurde zunächst auch gar nicht disku- tiert. Die erste derartige Auseinandersetzung fand 1984 statt – mit einem negativen Er- gebnis: Keiner wurde für würdig befunden, Koalitions- oder auch nur Tolerierungspartner der AL zu sein. Dieser Entscheidung lag allerdings ein knappes Abstimmungsergebnis auf einer Mitgliedervollversammlung (MVV) zugrunde; zur nächsten Wahl 1989 wurde sie gekippt.

Zu Recht wird in Betrachtungen über die AL darauf hingewiesen, dass in den Anfangsjahren die ehemaligen K-Gruppen-Angehörigen, in Berlin vor allem aus der ma- oistischen KPD/AO (Kommunistische Partei Deutschlands/Aufbauorganisation) und ih- ren Untergruppierungen, ein gewisses organisatorisches Gerüst bildeten. Dabei besaß der Eigenslogan: „Alternativ geht alles schief“ jedoch keine hundertprozentige Berechti- gung. Hier rührte aber auch die sich aus den negativen Erfahrungen der Vergangenheit speisende Befürchtung vor Dominanz dieser alten Kaderstrukturen her. z. B. erklärte nach der Gründungsversammlung gegenüber der Presse, er habe den Eindruck gehabt, auf einem Parteitag der KPD gewesen zu sein.

In der Realität schluckte dann nicht die KPD/AO die AL, sondern der Erosions- prozess der KPD, der in ihrer Auflösung 1980 endete, beschleunigte sich durch die neue, undogmatische und tatsächlich basisdemokratische Art des Politik-Machens. Dies sah nach einigen Jahren auch Otto Schily ein und trat wie Hans-Christian Ströbele der AL bei.

Ein Geburtshelfer dieses Zusammenschlusses von so viel Verschiedenheit war die Fünf-Prozent-Klausel, an der in Berlin alle vorherigen Versuche neuer politischer Kräfte zum Einzug ins Parlament gescheitert waren. Sie disziplinierte ungemein. Dieser äußere Zwang zum Kompromiss stieß allerdings auch auf eine innere Bereitschaft, nach Jahren sektiererischer und rechthaberischer Diskussionen um den „roten Stein der Weisen“ (Wolf Biermann) eine offene, herrschaftsfreie Kultur des Diskurses zu pflegen.

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Anträge waren immer Personenanträge. Ein Leitantrag eines Landesvorstandes war ebenso undenkbar wie eine Antragskommission. Anträge konnten auch mündlich und noch während der Abstimmung gestellt werden. Entsprechend hoch gingen die Emotio- nen und entsprechend viel Stoff gab es für die Medien. Ein wesentliches Element, um bei Fehlen sämtlicher Filter und Vermittlungsinstanzen „den Laden zusammenzuhalten“ und den Austritt der jeweils Unterlegenen zu verhindern, war das sog. Konsensprinzip. Danach war es verboten, eine relevante Minderheit zu überstimmen. Ein entsprechender Beschluss galt als nicht gefasst.

Nur dieses Prinzip ließ die AL in den ersten Jahren überleben und führte zwangs- läufig zu Lücken in der Programmatik und zu Bereichen politischer Ungewissheit. Es ent- sprach aber dem damaligen Selbstverständnis einer Partei, die sich im Klaren war, dass ihr Programm sich ständig entwickelte, immer im Fluss war.

Eine Folge dieses Konsensprinzips für den Komplex „Umgang mit Pädophilie“ war es z.B., dass im Wahlprogramm zu der Abgeordnetenhauswahl am 10. Mai 1981 unter der Überschrift „Abschaffung der §§ 174, 175, 176, 180 Abs. 1,183a StGB – Reform des gesamten Sexualstrafrechts“ folgende Passage stand: „(Die Frage der Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern – Pädophilie – ist in der AL umstritten und wurde auf der Programm-Mitgliedervollversammlung nicht abgestimmt)“67.

Jede andere politische Partei hätte bei fehlender Willensbildung diesen Punkt in ihrem Programm ausgespart. Die AL dagegen wies auf die Lücke in der Programmatik ausdrücklich hin. Es gab im Übrigen zu der Mitteilung im Wahlprogramm, dass die Pädo- philie-Frage ungeklärt sei, keinerlei Reaktion der Medien, der eigenen Mitglieder oder des politischen Gegners. Eines Gegners, der zu dieser Zeit ansonsten alles ausschlach- tete und öffentlich dazu aufrief, „Berlin nicht den Ausgeflippten zu überlassen“.

Mit fortschreitender politischer Entwicklung ließ sich das Konsensprinzip nicht beibehalten. Die Frage, ob nach der Wahl 1985 mit der SPD Koalitionsgespräche geführt werden sollten oder nicht, konnte nicht offen bleiben und war auch nicht durch einen Kompromiss zu lösen. Deshalb trat an die Stelle des Rechtes, nicht überstimmt zu wer- den, das Recht, die überstimmte Mindermeinung nach außen adäquat darstellen zu dür- fen. Und so wartete das 340 Seiten umfassende Programm zur Abgeordnetenhauswahl im Januar 1985 auch mit Minderheitsmeinungen auf.

67 Wahlprogramm zu den Neuwahlen am 10. Mai 1981, S. 75, AGG, Grün 044 Be-1a.

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Geradezu absurd ist dieses Recht in Bezug auf die Pädophilie-Auseinandersetzung durchgesetzt worden. Der Schwulenbereich fügte nachträglich auf der letzten Seite des Programms, die ansonsten frei geblieben wäre, folgenden Text ein:

„Nachtrag zu ‚Schwulsein ist politisch‘ Sexualstrafrecht (S. 84) Minderheiten Die §§ 174,176 des StGB sind so zu fassen, dass nur Anwendung oder Andro- hung von Gewalt oder Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses bei sexuel- len Handlungen unter Strafe zu stellen sind.“68 Das langjährige Mitglied des AL-Schwulenbereichs, Kurt Hartmann, behauptete sogar, er habe diesen Zusatz persönlich in die Programme gestempelt.69 Jedenfalls liegt er in gedruckter Form vor. Aber auch diese in letzter Minute eingebrachte Passage führte zu keinen öffentlichen Reaktionen.

Als Ursache für diese Ignoranz im öffentlichen Raum ist vordergründig zu vermu- ten, dass dieses Programm genug andere Aufreger bot, wie z.B. die Forderung nach der autofreien Stadt – laut der Boulevardzeitung B.Z. der „Irrsinn des Jahres“.

Vor allem aber begann in den Jahren 1983/84 erst die durch die Frauenbewe- gung initiierte Diskussion über den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Sie wurde zunächst fast ausschließlich über den Missbrauch von Mädchen geführt und fand vor allem im alternativen Spektrum statt. So kam es, dass die AL zwar diese Prob- lematik aufgriff und auch in ihre Parlamentsarbeit einbezog, gleichzeitig aber nicht ver- hinderte, dass der Schwulenbereich als politische Lobby der pädosexuellen Missbrau- cher auftrat und sogar mehrfach verurteilten Pädosexuellen politischen Handlungsraum gab.

Dass diese Gruppierung aus dem Schwulenbereich bis Mitte der 1990er Jahre in der AL wirken konnte, ließ sich längst nicht mehr mit der offenen, den konträren Diskurs fördernden Struktur der AL erklären. Man war zu einer Professionalisierung der Arbeit gelangt. Mehrheitsentscheidungen waren selbstverständlich, auch Parteiausschlüsse fanden statt.

Der Schwulenbereich musste es schon in der Entstehungsphase des Wahlpro- gramms 1989 aufgeben, noch einmal einen Vorstoß zur Legalisierung pädosexueller Handlungen zu unternehmen. Er tat dies nicht aus besserer Einsicht, sondern in Erkennt- nis der Erfolglosigkeit. Schließlich stimmten schon 1984 90 Prozent der Anwesenden auf

68 Wahlprogramm der AL zur Abgeordnetenhauswahl 1985. 69 Interview mit Kurt Hartmann, 10.12.2014.

92 27 einer MVV gegen die Streichung der entsprechenden Paragrafen. Auch ein „Hineinmo- geln“ verschwommener Formulierungen, die als Bejahung von Pädophilie auslegbar wa- ren, schien nicht mehr möglich.70 So tauchte die Pädophilie-Frage nicht mehr auf der innerparteilichen Entscheidungs- und Abstimmungsagenda auf. Sie schien nur noch ein Teil der Debattenkultur zu sein, so in den Stachligen Argumenten – ohne Entscheidungs- zwang.

Es wäre also nötig gewesen, dass jenseits der Kreuzberger Frauengruppe rele- vante Teile der Organisation – der Geschäftsführende Ausschuss oder der spätere Lan- desvorstand – sich mit der Frage befasst hätten, was eigentlich im Rahmen solcher Ge- sprächs- und Arbeitskreise wie „Jung und Alt“ geschieht. Es nicht getan zu haben, es so lange schleifen gelassen zu haben, bis die Wende aus dem Schwulenbereich selber durch neue Mitglieder kam, war ein gravierender, nicht mehr mit den Strukturen zu erklä- render Fehler.

3.3 Der Schwulenbereich des Landesverbandes

Zusammenfassung

Der Schwulenbereich der Berliner AL, ab 1993 von Bündnis 90/DIE GRÜNEN, war rund 15 Jahre lang im Landesverband die treibende Kraft für die Forderung, das gesamte Se- xualstrafrecht zu streichen – also auch die §§ 174 und 176 StGB. Von Beginn an und insbesondere in den 1980er Jahren wurde der Schwulenbereich von pädosexuellen schwulen Männern dominiert, die in eigener Sache agierten. Er trat somit als „Pädolob- bygruppe“ auf. Das AL-Gründungsmitglied Wolf Bayer erinnert sich an ein Gespräch mit Horst Kirchmeier, der im Jahr 2004 verstarb. Er habe ihm 1981 erzählt, dass er gemein- sam mit ca. 20 weiteren Pädosexuellen in die Partei eingetreten sei, um im Schwulenbe- reich, aber auch in anderen Gliederungen, ihre Forderungen durchzusetzen.71 Die meis- ten traten bis Ende der 1980er Jahre wieder aus. Bis Anfang 1995 blieben allerdings einzelne pädosexuelle Männer im Schwulenbereich aktiv. Darunter waren mindestens zwei, Dieter F. Ullmann (Mitglied von Mai 1981 bis März 1989) und Fred Karst (Mitglied von März 1983 bis Mai 1995), die über viele Jahre in sogenannten offenen Wohnungen (darunter dem „Falckensteinkeller“) Jungen im Alter von 7 bis 12 Jahren sexuell miss-

70 Vgl. Interview mit Dieter Telge, 29.1.2015 71 Mail von Wolf Bayer an Thomas Birk, 31.3.2015.

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braucht haben. Sie gehörten, beide sind inzwischen verstorben, zu den wichtigsten pä- dosexuellen Netzwerkern in- und außerhalb . Auch Peter Schnaubelt, der später wegen der Herstellung und Verbreitung von Kinderpornografie vor Gericht stand, war von 1992 bis 1996 Mitglied der Partei und ihres Schwulenbereichs. Kurt Hartmann, ein wei- terer Hauptakteur des Schwulenbereichs, bezeichnet sich selbst zwar als nicht pädose- xuell, hatte aber die sogenannte einvernehmliche Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern zum Lebensthema gemacht.

Im Windschatten früher programmatischer Erfolge vertrat der Schwulenbereich noch Anfang der 1990er Jahre entgegen längst anderslautender Parteibeschlüsse die These der einvernehmlichen Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen. Als der Be- reich 1992 personell so ausgeblutet war, dass ihm die Aberkennung des Bereichsstatus drohte, wurde eine zweigleisige Anwerbung neuer Mitglieder gestartet. Zum einen traten neue Mitglieder ein, die im Schwulenbereich über das Pro und Kontra der Öffnung der Ehe diskutierten und zum überwiegenden Teil mit den Forderungen der Pädosexuellen wenig anfangen konnten. Zum anderen warb Fred Karst eine Gruppe von mehreren Män- nern an, die sich ab Herbst 1992 in der Untergruppe „Jung und Alt“ als schlecht getarnte „Pädogruppe“ trafen. Sie sollte den Anschein einer Freizeit- und Wohltätigkeitsgruppe vermitteln, bestand aber wohl tatsächlich aus Männern, die sexuell auf Jungen auch un- ter 14 Jahren fixiert waren. Einzelne Mitglieder des Schwulenbereichs verteidigten noch 1994 aggressiv die bisherige Linie der vermeintlich einvernehmlichen Sexualität mit Kin- dern. Dies gipfelte in der Androhung von körperlicher Gewalt durch Mitglieder der Gruppe „Jung und Alt“ gegenüber der Kreuzberger AL-Frauengruppe und anderen Bereichsmit- gliedern, die eine andere Meinung vertraten.

Der Schwulenbereich war zunächst relativ erfolgreich, seine Programmatik zur straffreien vermeintlich einvernehmlichen Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern durchzusetzen. Später konnte er entgegen der Parteimehrheit diese Position zumindest weiterhin vertreten. Ob der Landesverband das aus Rücksicht auf die Berliner Schwu- lenbewegung, als deren Sprachrohr er sich verstand, bewusst zuließ, bleibt eine Vermu- tung. Jedenfalls gab es in Teilen der Schwulenbewegung offenbar diese Erwartungshal- tung gegenüber der jungen Partei, wenn man die Positionen des Treffens der Berliner Schwulengruppen (TBS) und des Bundesverbandes Homosexualität (BVH) bis in die 1990er Jahre verfolgt. Eine klare Abgrenzung wurde durch das Fortbestehen des § 175 StGB (bis 1994 im Westteil Berlins) erschwert, der jegliche Sexualität zwischen volljähri- gen Männern und unter 18-jährigen kriminalisierte. Gleichzeitig wurden die Folgen sexu- ellen Missbrauchs für Jungen lange bagatellisiert – im Gegensatz zum aufkommenden

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Bewusstsein für die Folgen für Mädchen. Auch deshalb konnten sich die politisch orga- nisierten schwulen Pädosexuellen in und außerhalb des Schwulenbereichs auf die Soli- darität der Schwulenbewegung in Berlin bis Anfang der 1990er Jahre verlassen.

Aber selbst als sowohl innerhalb des Schwulenbereichs als auch in der Berliner schwulen Community diese Solidarität mit schwulen Pädosexuellen schwand, stießen die Aktionen der Kreuzberger AL-Frauengruppe gegen die pädosexuellen Mitglieder des Schwulenbereichs auf wenig Resonanz oder gar Unterstützung im Landesverband. Im Gegenteil: Die parteilosen schwulen Fraktionsmitglieder stellten sich in dieser Auseinan- dersetzung noch bis Anfang 1995 eher auf die Seite der „Pädos“. Erst durch den allmäh- lichen Rückzug ihres „Mentors“ Kurt Hartmann aus dem Schwulenbereich ab 1993 bei gleichzeitigem Auftauchen neuer Parteimitglieder im Bereich, die insgesamt eine völlig neue lesben- und schwulenpolitische Agenda vertraten, gerieten die pädosexuellen Schwulen im Bereich und deren Unterstützer in die Minderheit. Erst da wurde das Thema im Bereich hinterfragt, und gab es auch dort, wie schon lange zuvor im gesamten Lan- desverband, keine Mehrheit mehr für die Forderung nach Abschaffung der §§ 174 und 176 StGB.

Nach der erneuten Verurteilung des Bereichsmitglieds Fred Karst wegen sexuel- len Missbrauchs im Februar 1995 distanzierte sich der Schwulenbereich von jedwedem Missbrauch von Kindern und bekannte sich zum Schutzalter 14 Jahre. Damit wurde still- schweigend auch die These der möglichen einvernehmlichen Sexualität zwischen Kin- dern und Erwachsenen begraben. Die Mitglieder der Gruppe „Jung und Alt“ verloren mit Fred Karst ihre Führungsfigur und wurden, soweit die Kommission es nachvollziehen kann, zwischen 1995 und 1997 wegen nicht gezahlter Beiträge als „Karteileichen“ aus der Liste der Parteimitglieder gestrichen. Ab Februar 1995 traten keine Pädosexuellen mehr im Bereich in Erscheinung. Allerdings kam es bis 201072 auch nie zu einer Aufar- beitung dieses Teils der Bereichsgeschichte.

Aufklärung und Schutz vor sexueller Gewalt. Beschluss der Berliner Landesdelegiertenkonferenz von Bündnis 7290/DIE GRÜNEN vom 5.6.2010.

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Wortführer zum Thema Pädosexualität: Kurt Hartmann, Dieter F. Ullmann und Fred Karst

Drei früheren Mitgliedern kommt bei der Betrachtung eine besondere Bedeutung zu, weil sie nicht nur das Thema Pädosexualität mit Vehemenz im und für den Bereich vertraten, sondern auch in entsprechenden Netzwerken außerhalb der Partei agierten: Kurt Hartmann, Dieter F. Ullmann und Fred Karst. Ullmann und Karst wurden wiederholt we- gen Missbrauchs von Kindern angeklagt und verurteilt. Die beiden sollen gemeinsam Wohnungen angemietet und über Jahre gezielt zum Missbrauch von Jungen genutzt haben.

Kurt Hartmann

Kurt Hartmann dominierte den AL-Schwulenbereich nach innen und in der Außenwirkung von 1979 bis 1993. Er war zwar nach eigener Darstellung nicht pädosexuell, aber von sexuellen Erfahrungen mit einem erwachsenen Mann in der Kindheit geprägt.73

Kurt Hartmann war ab 1979 im Schwulenbereich der AL aktiv und hatte etwa zehn Jahre lang immer wieder Delegiertenposten inne. Anfang der 1980er Jahre war er nach eigener Aussage Mitbegründer des Treffens der Berliner Schwulengruppen (TBS) und 1984 des Magazins Siegessäule. Später gehörte er zu den Mitarbeitern des von 1989 bis 1995 erscheinenden schwulen Magazins magnus. Er machte das Thema Pädosexualität in den verschiedenen Gremien geradezu missionarisch zum Schwerpunkt. Er bestätigt heute, dass die Kampagnen des AL-Schwulenbereichs in den 1980er Jahren wohl zu 70 Prozent aus seinen Aktivitäten bestanden. Ab dem Jahr 1993 tauchte Hartmann seltener im Schwulenbereich von Bündnis 90/DIE GRÜNEN auf, weil er sich mit seinem Lebens- gefährten einen Wohnsitz außerhalb Berlins aufbaute, wo er ab 1995 dauerhaft lebte. Fortan erschien er nicht mehr bei den Treffen des Schwulenbereichs. Er trat im Jahr 2001 aus der Partei Bündnis 90/DIE GRÜNEN aus. Kurt Hartmann lebt heute in Brandenburg, war zwischenzeitlich in der PDS und hat 2013 auf der Liste der Piratenpartei für den Bundestag kandidiert. Er ist bis heute davon überzeugt, dass es eine einvernehmliche Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern (auch innerhalb der Familie) geben kann und fordert daher weiterhin die Abschaffung der §§ 174 und 176 StGB. Generell beharrt er darauf, dass sexuelle Handlungen als solche und Pornografie nicht in ein Strafrecht gehörten.

73 Interview mit Kurt Hartmann, 10.12.2014.

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Dieter F. Ullmann

Dieter Ullmann, Jahrgang 1953, war als bekennender Pädosexueller seit 1977 in der Pädosexuellenbewegung und bald darauf auch in der Schwulenbewegung sowie seit der Gründungsphase auch bei der AL und den Grünen aktiv. Er war Gründer und Vorstand der Deutschen Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie (DSAP), die von 1979 bis 1983 mit Hauptsitz in Krefeld und einer Dependance in Berlin wirkte.74 Zudem gab er das Heft PädoPower heraus. Nach Auflösung der DSAP gingen viele Mitglieder in die 1983 gegründete Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AHS), die bis heute existiert.

Ullmann kandidierte 1981, nachdem er bei einem Freigang auf einer AL-MVV nominiert worden war, auf dem sechsten Platz der Bezirksliste des AL-Kreisverbandes Neukölln für das Abgeordnetenhaus. Zu dieser Zeit verbüßte er in der Justizvollzugsan- stalt Berlin-Moabit eine Freiheitsstrafe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Dieter F. Ullmann war von Beginn an in der 1983 gegründeten grünen Bundesarbeitsgemein- schaft SchwuP (Schwule, Transsexuelle und Päderasten) aktiv.75

Anfang 1987 stellte Ullmann – nach eigenem Bekunden – seine Mitarbeit bei der AL ein. Erst im März 1989 trat er, wieder wegen Kindesmissbrauchs inhaftiert, aus.76 Nachdem er sich innerhalb der Grünen auch bundespolitisch nicht mehr gegen die Linie von Volker Beck und Günter Dworek, die eine Abkehr von der Forderung nach Streichung der §§ 174 und 176 StGB eingeleitet hatten, durchsetzen konnte, konzentrierten sich seine Aktivitäten auf den Bundesverband Homosexualität. Dort agitierte er weiter gegen Beck und Dworek, wenn er nicht gerade inhaftiert war. In einem Text für die Mitglieder- versammlung des BVH im Jahr 1989 beschrieb er offen und ausführlich, wie die Gruppen der Pädosexuellen-Bewegung entstanden waren und sie die Gremien der Schwulenbe- wegung und insbesondere die Grünen für ihre Ziele instrumentalisierten.77

Auf einem Treffen der Berliner Schwulengruppen (TBS), dem auch der AL- Schwulenbereich angehörte, wurde am 8. September 1989 ein Spendenaufruf für den inzwischen aus der AL ausgetretenen Dieter Ullmann vertagt. Aus der dem Protokoll bei- liegenden Petition für ein Gnadengesuch geht hervor, dass Ullmann allein zwischen 1986

74 „Während die Krefelder sehr gezielt auf Organisationen im bürgerlichen Lager zugingen, möglichst seriös auftraten und honorige Fürsprecher gewinnen wollten, verstanden sich die Berliner weit mehr als Selbsthilfegruppe, die einen weiteren Schwerpunkt auf die Gefangenenbetreuung legte und den Kontakt zur AL suchte.“, in: Institut für Demokra- tieforschung der Georg-August-Universität Göttingen: Die Pädophiliedebatte bei den Grünen im programmatischen und gesellschaftlichen Kontext. Erste und vorläufige Befunde zum Forschungsprojekt, Dezember 2013, S. 66, abge- rufen am 1.1.2015, http://www.demokratie-goettingen.de/content/uploads/2013/12/Paedophiliedebatte-Gruene-Zwi- schenbericht.pdf. 75Ebd., S. 84. 76 Austrittsschreiben von Dieter Ullmann vom 5.3.1989, AGG, C Berlin I.1, [159]. 77 Dieter F. Ullmann: Der Anfang lag im Deutschen Herbst... Ein Rückblick auf die Pädobewegung, in: BVH Maga- zinchen Nr. 4, Oktober 1989, S. 66-78.

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und 1989 wegen vier verschiedener Missbrauchsfälle an Jungen zwischen sieben und zwölf Jahren mehrfach verurteilt wurde.78 Er verstarb 2004.

Fred Karst

Fred Karst war wie Dieter F. Ullmann ein bundesweit vernetztes Mitglied der Pädosexu- ellenbewegung. Als solcher agitierte er auch aus dem Strafvollzug heraus, wo er u.a. bis 1985 fünf Jahre wegen sexuellen Missbrauchs von Jungen verbrachte. Er wurde wegen des gleichen Deliktes mehrmals angeklagt und verurteilt. Von 1986 bis 1989 war er er- neut inhaftiert, diesmal aufgrund sexuellen Missbrauchs, den er im sogenannten Fal- ckensteinkeller verübte. In diesem Zusammenhang wurden die Kreuzberger AL-Frauen auf ihn aufmerksam. Seine politischen Aktivitäten erstreckten sich auf die AG Pädophilie der Allgemeinen Homosexuellen Arbeitsgemeinschaft. Er war bei der Jugendbewegung Nerother Wandervogel und leitete dort Kindergruppen. Im März 1983 trat er der AL bei – während er in der JVA Tegel wegen sexuellen Missbrauchs inhaftiert war. Als Bereich, in dem er mitarbeiten wollte, gab er „Knast/Schwule (Pädophilie-sexuelle Minderheiten)“ an.79 Bei der AL gehörte Karst dann der Bezirksgruppe Wedding, dem Schwulenbereich und der Knast-AG an. Er war vom Ende der 1980er Jahre bis 1994 neben Joachim Eul Delegierter des Schwulenbereichs für den Landesausschuss und Mitbegründer der Un- tergruppe „Jung und Alt“ des Schwulenbereichs. Die Gruppe bestand etwa von Herbst 1992 bis Anfang 1995. 1993 versuchte er vergeblich, beim grünen Kreisverband Wed- ding Projektmittel zur Anmietung einer Wohnung im Partnerbezirk Prenzlauer Berg für die Gruppe „Jung und Alt“ zwecks „Hausaufgabenhilfe“ u. ä. zu beantragen.80 Nach der Vereinigung agierte er als Einzelfallhelfer in der Jugendhilfe im Ostteil der Stadt. In der Knast-AG der AL kümmerte er sich um Gefängnisinsassen, die wegen sexuellen Miss- brauchs von Kindern inhaftiert waren. Nach einer erneuten Verurteilung des damals 66- jährigen Karst wegen sexuellen Missbrauchs an einem achtjährigen Jungen im Februar 1995 kam er dem Ausgang eines daraufhin eingeleiteten Parteiausschlussverfahrens im Mai 1995 durch Austritt zuvor. Er war laut Impressum der Website des Deutschen Pfad- finderbundes gegr. 1911 e.V. (nicht zu verwechseln mit dem Deutschen Pfadfinderbund) dessen Bundesehrengerichtsvorsitzender gewesen und mittlerweile verstorben.

78 Anhang Protokoll Treffen der Berliner Schwulengruppen vom 8.9.1989; Unterstützergruppe dfu: Solidarität mit Die- ter Ullmann, 15.8.1989, PTB. 79 Beitrittserklärung Fred Karst vom 1.3.1983, AGG C Berlin I.1, [533]. 80Interview mit Martin Beck (damals Kreisvorstandsmitglied im Kreisverband Wedding), 3.12.2014.

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Es ist davon auszugehen, dass weitere Aktive des Schwulenbereichs zwischen 1979 und 1995 nicht nur aus politischer Überzeugung, sondern auch im eigenen Interesse für die Abschaffung der §§ 174 und 176 StGB eintraten. So waren weitere Mitglieder der DSAP wie Horst Kirchmeier, Olaf Stüben und Wolfgang Zander oder von externen „Pädogrup- pen“ im AL-Schwulenbereich bzw. in seiner Untergruppe „Jung und Alt“ aktiv. Einige die- ser Personen sind inzwischen verstorben, andere sind aus der Partei ausgetreten, wur- den wegen fehlender Beitragszahlungen ausgeschlossen oder waren nie deren Mitglied. Ein Teil von ihnen war offenbar auch vor, während und nach der Zeit bei der AL/den Grünen in pädosexuellen Netzwerken außerhalb der Partei organisiert. Die Kommission hat aber keine gesicherten Erkenntnisse darüber, ob und wie viele dieser Personen sich im Sinne des Sexualstrafrechts in Bezug auf Kinder und Jugendliche strafbar gemacht haben.

Anything goes (1978-1985)

In der Zeit der programmatischen und moralischen Selbstfindung der jungen Partei setzte sich der AL-Schwulenbereich am erfolgreichsten für die Änderung des Sexualstrafrechts bezüglich der §§ 174 und 176 StGB ein. Ein Abstimmungserfolg bei einer MVV 1980 sowie ein weiterer Erfolg (wenn auch in widersprüchlicher Form) bei der Erstellung des Wahlprogramms für die Abgeordnetenhauswahl 1981 bildete den Grundstein, in den fol- genden Jahren in dieser Richtung weiter aktiv zu sein. In dieser Phase konnten die pä- dosexuellen Mitglieder des Bereichs als solche offen agieren. Auch wenn der Schwulen- bereich die Forderung nach Streichung der §§ 174 und 176 StGB im Wahlprogrammpro- zess für die Abgeordnetenhauswahl 1985 nicht mehr durchsetzen konnte, wurde seine Minderheitenmeinung weiterhin toleriert.

Die Gründungsphase

Die AL war wie fast alle anderen grün-alternativen Parteien, die sich Ende der 1970er in den Bundesländern gründeten, ein Sammelbecken verschiedener Initiativen und Bürger- rechtsbewegungen – auch von Schwulen und Lesben. Die damals meist noch getrennt voneinander agierenden AkteurInnen der Lesbenbewegung und der Schwulenbewegung waren insbesondere in Berlin von Anfang an dabei. Die Forderung nach Abschaffung des § 175 StGB, der homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und männlichen Ju- gendlichen unter 18 Jahren verbot, war bei der AL völlig unumstrittener Bestandteil des Aufbruchs in eine neue emanzipierte Gesellschaft. Doch die auf minderjährige Jungen unter 14 Jahren ausgerichtete „Pädobewegung“, die sich zuvor schon unter das Dach

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einiger gerade gegründeter Schwulenorganisationen begeben hatte, hängte sich an die schwulen Männer in der jungen AL an. Es ist nach heutigen Erkenntnissen davon aus- zugehen, dass die „Pädobewegung“ in Berlin sogar von Anfang an die im Schwulenbe- reich der jungen Partei organisierten Männer dominierte.

Ein erster organisatorischer Zusammenschluss von Lesben und Schwulen in der gerade gegründeten AL scheiterte bereits Ende 1978, wobei Zusammensetzung und Gründe für das Scheitern bisher ungeklärt sind.81 Nach der Abgeordnetenhauswahl im März 1979 kam es zur Neugründung des Bereichs, der sich wohl explizit nur noch als Schwulenbereich der AL verstand. Diesem gehörten offensichtlich von Beginn an meh- rere pädosexuelle Männer an. Lesben organisierten sich zeitgleich als „Lesben der AL“ (ALL). Auch sie teilten die Forderung nach Abschaffung der §§ 174 und 176 StGB und vertraten dies gemeinsam mit dem Schwulenbereich auf Mitgliederversammlungen 1979 und 1980.82 Ihre Spur verliert sich in den Dokumenten später allerdings.

Zu dieser Zeit gab es zwei Strömungen in der Berliner Schwulenbewegung: die eher auf Integration in die Gesellschaft ausgerichteten „Integrationisten“ in der AHA und die eher auf Emanzipation ausgerichteten linken Aktivisten im SchwulenZentrum (SchwuZ). Beiden gemeinsam war die Solidarität mit Pädosexuellen, die auf Jungen fixiert waren. So gab es eine „Pädo-AG“ innerhalb der AHA und der AL-Schwulenbereich durfte Anfang der 1980er Jahre eine Soliparty für die Finanzierung seiner Broschüre „Ein Herz für Sittenstrolche“ im SchwuZ ausrichten.

In der Gründungsphase bestanden Wechselwirkungen zwischen dem AL-Schwu- lenbereich und der AHA mit ihrer „Pädo-AG“ sowie dem SchwuZ. Der Schwulenbereich traf sich anfangs genau wie die „Pädogruppe“ der AHA im Café Graefe (auch oft Café 18 genannt) in der Graefestraße 18. Die frühe Programmatik des Schwulenbereichs orien- tierte sich an Papieren, die in der AHA, in der Juristengruppe der AHA und im SchwuZ erarbeitet wurden. Diese enthielten die Forderung nach Streichung oder mindestens ei- ner radikalen Reform des Sexualstrafrechts. Ausgehend von der Forderung nach Strei- chung des § 175 StGB wurden auch die anderen Sexualstrafrechtsnormen gegen den Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 StGB) und Minderjährigen (§ 176 StGB) als repressiv empfunden. Es wurde zwischen sogenannter einvernehmlicher Sexualität zwi- schen Erwachsenen und Kindern einerseits und Nötigung bzw. Vergewaltigung anderer- seits unterschieden.

81 Wer sind wir? i n: Der Bereich Schwule der Alternativen Liste: Ein Herz für Sittenstrolche, S. 65. Die Autoren be- haupten, die Gruppe sei an der „Borniertheit der weiblichen und männlichen AL-Macker“ gescheitert. 82 Annette von der Lesben-Redaktion: Gespräch mit den Lesben der Alternativen Liste – Wir wollen weder sexuelle noch andere Unvereinbarkeitsbeschlüsse, in: taz vom 10.1.1980.

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Bei einer Programm-MVV am 30. November 1979, bei der der Schwulenbereich gemeinsam mit den Lesben der AL die Forderung nach Streichung des § 176 StGB erhob und damit knapp scheiterte, kamen auch zwei pädosexuelle Lesben zu Wort. Eine taz- Autorin zitiert zwei Frauen der Versammlung, die nach eigener Aussage sexuelle Bezie- hungen zu Mädchen hätten.83

Nach diesem Scheitern wählte der Schwulenbereich, z.T. gemeinsam mit den AL-Lesben, verschiedene Mittel, um die AL-Mitglieder zu überzeugen. Er lud in Abspra- che mit dem Geschäftsführenden Ausschuss zu einem Wochenendseminar zu den The- men Sexualität des Kindes bzw. zwischen Kindern und Erwachsenen am 8. und 9. März 1980 in die Landesgeschäftsstelle („Igel“). Horst Kirchmeier appellierte danach im AL- Mitgliederrundbrief: „Auf einer Liste, die das wirkliche alternative Leben will, darf die ge- lungene Pädosexualität nicht fehlen. Darunter ist nicht irgendeine chaotisch-schranken- lose, sondern die gewalt- und tricklose Pädosexualität zu verstehen, die allerdings die Sexualität der Kinder und Jugendlichen ernst nimmt.“84 Nach diesem mäßig besuchten Seminar erstellte der Schwulenbereich eine 68 Seiten starke Broschüre unter dem Titel „Ein Herz für Sittenstrolche“ mit einem Vorwort des damaligen Mitglieds des Geschäfts- führenden Ausschusses Martina Schmolt. In der mit Nacktbildern von Kindern aus dem Aufklärungsbuch „Zeig mal“ bebilderten Broschüre versuchten die AutorInnen, wissen- schaftliche Belege für ihre These der Unschädlichkeit von sogenanntem „einvernehmli- chem“ Sex zwischen Erwachsenen und Kindern anzuführen und attackierten GegnerIn- nen dieser These wie Alice Schwarzer oder Günther Amendt scharf. Autoren waren u.a. die DSAP-Mitglieder Horst Kirchmeier und Olaf Stüben (ebenfalls verstorben). Da der Geschäftsführende Ausschuss zwar den Druck im Namen der AL erlaubte, aber die Fi- nanzierung verweigerte, brachte der Bereich die benötigten Druckkosten von 3.700 DM über Benefizveranstaltungen im SchwuZ sowie Büchertische u.a. für den Prinz-Eisen- herz-Buchladen vor den Unis auf. Mitglieder des Schwulenbereichs stellten ihr Programm in den Bezirksgruppen vor. Kurt Hartmann schreibt, er allein sei in Tiergarten, Wedding, Wilmersdorf, Schöneberg und Neukölln dabei gewesen, als die Bezirksgruppen über den Programmentwurf des Bereichs diskutiert hätten. Der kritische Punkt sei dabei immer Pädosexualität/Pädophilie gewesen.85

83 Annette, Lesben/Schwulenredaktion: Ist diese Linke noch das Rechte? Kommentar zur Veranstaltung der AL-Berlin zum Programmentwurf der Lesben und Schwulen, in: taz, 3.12.1979, S. 5. Interessant auch hier, die taz-Journalistin Annette (ohne Nennung des Familiennamens) der Lesben- und Schwulenredaktion bezieht Position für die Pädose- xuellen und verweist auf „profilierte Sexualwissenschaftler wie Helmut Kentler“. 84 Horst Kirchmeier: Die Angst vor der Pädosexualität, in: 8. Mitgliederrundbrief, März 1980, AGG Zs 320. 85 Kurt Hartmann: Warum denn nicht gleich das ganze Sexualstrafrecht! in: 10. Mitgliederrundbrief, Oktober 1980, AGG Zs 320.

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Die Lobbyarbeit zeigte Wirkung. Nach einer langen heftigen Kontroverse auf ei- ner AL-MVV vom 5. Juni 1980, die zu den Themen Pädophilie und BVV-Arbeit geplant war (wobei die Pädophiliedebatte die ganze Sitzung einnahm), konnte sich der Schwulenbereich diesmal mit seinen Forderungen durchsetzen. Disku- tiert wurde zunächst anhand des gleichen Programmtextes, der im Herbst 1979 noch gescheitert war. Doch nach der von Martina Schmolt vorgeschlagenen Ein- fügung der Verurteilung von Gewalt gegen Kinder, die angewandt werde, um die Befriedigung sexueller Bedürfnisse zu erreichen, was jedoch durch die Paragra- fen gegen Körperverletzung und Nötigung abgesichert sei, wurde die Streichung der §§ 174 bis 176 StGB mit Mehrheit angenommen, wie die Protokollantin mit sechs Ausrufezeichen vermerkte.86 Nach Aussage von Bernd Köppl, der damals gegen diese weitgehenden Reformen war, habe er sich in seiner ablehnenden Haltung schlecht gefühlt, denn wer damals zur Avantgarde der Links-Alternativen habe gehören wollen, sei für die Streichung des Sexualstrafrechts in voller Gänze gewesen.87 In einer späteren MVV zur Programmerstellung für die vorgezogenen Abgeordnetenhauswahlen 1981 konnte der Schwulenbereich seinen Erfolg mit einer gewissen Einschränkung wiederholen. Diesmal stimmte die Versammlung im Rahmen des Lesben- und Schwulenteils des Programms der Forderung nach Abschaffung der § 174, 175, 176, 180 Abs. 1, 183 a StGB sowie nach Reform des gesamten Sexualstrafrechts zu. In einer Aufzählung von überkommenen Mo- ralvorstellungen, die das Kind, den Jugendlichen und den Erwachsenen in der freien Entfaltung ihrer Sexualität beschränke, wurden auch „sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen“ und „Sexueller Missbrauch von Kindern“ genannt. Ein in Klammern hinzu gesetzter Satz, wonach die Frage der Sexualität zwischen Er- wachsenen und Kindern – Pädophilie – in der AL umstritten sei, zeigt aber auf, dass hier weiterhin ein Dissens schwelte. Der Absatz zum Sexualstrafrecht endet mit: „Die Sexualität kann kein Rechtsgut sein, das der Staat sich zu verwalten und zu bestimmen anmaßen darf. Wir wenden uns gegen die Bestrafung von jeglichen sexuellen Beziehungen auf freiwilliger Basis und fordern eine entspre- chende Reform des Sexualstrafrechts.“88

Die Unterscheidung zwischen einvernehmlichem und (gewaltsam) erzwungenem Sex zwischen Erwachsenen und Kindern schien so weit zu tragen, dass auch heterosexuelle Mitglieder noch viele Jahre später meinten, man habe doch damals einen tragfähigen

86 Protokoll der Mitgliedervollversammlung, 5.6.1980, AGG, C Berlin I.1, 1. 87 Interview mit Bernd Köppl, 29.9.2014. 88 Wahlprogramm der Alternativen Liste zu den Neuwahlen am 10. Mai 1981, S. 75.

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Kompromiss gefunden. Sie befassten sich offenbar nicht weiter mit dem Thema, auch dann nicht, als viele Jahre später Vorwürfe gegen den Schwulenbereich laut wurden.

Zwischen 1982 und 1985 gab es weitere Aktivitäten des Schwulenbereichs rund um das Thema Pädosexualität. Er veranstaltete im Februar 1982 ein politisches Forum zur Aufforderung an die Fraktion im Abgeordnetenhaus, die Streichung der §§ 174 bis 176 StGB zu beantragen. Zu dessen Dokumentation und um diese Forderung zu unter- streichen erschien ein ausführlicher Beitrag des Schwulenbereichs über kindliche Sexu- alität im Mitgliederrundbrief.89 Mal scheiterte der Bereich im Delegiertenrat 1983 knapp mit der Forderung, die Anwaltskosten eines Grünen-Mitglieds, das wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes angeklagt war, zu übernehmen. Im selben Jahr 1983 brachte der Bereich eine Resolution der bundesgrünen AG Familien-, Sexualpolitik und alterna- tive Lebensformen mit der Forderung nach Abschaffung der §§ 174 und 176 StGB in das Treffen der Berliner Schwulengruppen (TBS) ein. Im Februar 1984 und 1985 richtete der Bereich entsprechende Forderungen an die Grünen auf Bundesebene bzw. an die Berli- ner AL, auf Bundesebene in dieser Richtung aktiv zu werden.

Programmprozess für die Wahl 1985

Die Bemühungen des Schwulenbereichs, über die AL-Fraktion im Abgeordnetenhaus ne- ben der Forderung nach Abschaffung des § 175 StGB gleichzeitig die Forderungen nach Abschaffung der §§ 174 und 176 StGB zu transportieren, blieben erfolglos. Ein 1983 eingebrachter fraktionsübergreifender Gruppenantrag beschränkte sich auf die Abschaf- fung des § 175 StGB.90

Nachdem der Gruppenantrag zur Streichung des § 175 StGB im Jahr 1984 im Abgeordnetenhaus abgelehnt worden war, nahm der Schwulenbereich dies und den an- stehenden Wahlprogrammprozess für die Abgeordnetenhauswahlen zum Anlass, zu ei- nem “Forum Sexualität“ einzuladen. Auf diesem Forum wurde allerdings Ingrid Lohstö- ters Buch „Väter als Täter“ vorgestellt, was zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den anwesenden Frauen und den Männern des Schwulenbereichs führte. Die Schwulen sahen sich mit der Problematik sexualisierter Gewalt gegen Mädchen konfrontiert und waren offensichtlich damit überfordert.

89 Schwerpunkt: Schwule, in: 18. Mitgliederrundbrief, Mai 1982, AGG Zs 320. 90 Protokoll des Abgeordnetenhauses von Berlin, 9. Wahlperiode, 39. Sitzung vom 24.2.1983, S. 2395 ff., Der Präsident des Abgeordnetenhauses von Berlin, Inhaltsprotokoll des Rechtsausschusses vom 21.4.1993, Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 9/1968 Beschlussempfehlung und Bericht.

38 103

Insofern brachte dieses Treffen dem Schwulenbereich nicht das gewünschte Ergebnis. Auf Wunsch des GA fand daraufhin im Vorfeld der Wahlprogramm-MVV ein Treffen statt, um einen möglichen Kompromiss zwischen dem Schwulenbereich, dem Bereich Demo- kratische Rechte und der Kreuzberger AL-Frauengruppe zu erwirken. Zu diesem Zweck traf sich in der Landesgeschäftsstelle Wolfgang Wieland mit Kurt Hartmann, der von zwei Unterstützerinnen aus der Oranienstraßenkommune begleitet wurde - einer Wohnge- meinschaft, in der insbesondere Frauen und Mädchen lebten. Ob auch Vertreterinnen der Kreuzberger Frauengruppe teilnahmen, ließ sich nicht rekonstruieren. Das Kompro- missangebot von Wolfgang Wieland, in den § 176 StGB – so wie es bei dem § 174 StGB der Fall ist – eine Klausel aufzunehmen, wonach das Gericht von Strafe absehen kann (z.B. bei geringem Altersunterschied von Täter und Opfer), wurde von Kurt Hartmann für den Schwulenbereich als nicht ausreichend abgelehnt.

Auf der folgenden Programm-MVV im November 1984 wurde die Forderung des Schwulenbereichs, dass die §§ 174 und 176 StGB so zu fassen seien, dass nur Anwen- dung oder Androhung von Gewalt oder Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses bei sexuellen Handlungen unter Strafe zu stellen seien, mit neunzigprozentiger Mehrheit ab- gelehnt. Trotzdem erwirkte der Schwulenbereich ein entsprechend lautendes Minderhei- tenvotum. Kurt Hartmann sagt, er habe persönlich diesen Text auf die Rückseite der Programme gestempelt.

Insgesamt blieb die beschlossene Fassung des Programms hinsichtlich des Se- xualstrafrechts immer noch ambivalent. Sie enthielt weiterhin eine Formulierung, wonach Kindern und Jugendlichen das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper durch das Se- xualstrafrecht, das die überkommene Sexualmoral von Eltern, Erziehung und Lehrern schütze, vorenthalten werde. Wäre es nur um die Streichung des § 175 StGB gegangen, hätte die Erwähnung von Kindern hier nichts zu suchen gehabt. Des Weiteren verurteilte dieser Absatz die Verfolgung der wegen der §§ 174-176 StGB verfolgten Schwulen und Lesben im Hitlerfaschismus.91

Mit der Ablehnung der Reform der §§ 174 und 176 StGB hatte die AL sich For- derungen des Treffens der Berliner Schwulengruppen (TBS) widersetzt, die noch viel weiter gingen. In den schwulen Stolpersteinen des TBS für die Wahlen zum Abgeordne- tenhaus 1985 wurden Initiativen des Senats zur Aufhebung des gesamten 13. Abschnitts

91 Dies deutet auf ein Dilemma hin, was auch die spätere Rehabilitierung der Opfer des § 175 StGB erschwerte. Durch die generelle Verurteilung jeglichen gleichgeschlechtlichen männlichen Sexualkontakts in der Nazizeit, war eine Unterscheidung zwischen Schwulen und pädosexuell auf Jungen fixierten Männern im Nachhinein schwierig. Da in den 1970er und 1980er Jahren die Rehabilitierung von allen homosexuellen Opfern der Nazizeit vorn auf der Agenda der Schwulenbewegung stand, genossen in der frühen Schwulenbewegung auch pädosexuelle Schwule Solidarität.

104 39 des StGB als gesondertes Sexualstrafrecht gefordert, wonach unter anderem die §§ 173 bis 176, 180, 183 a StGB gestrichen werden sollten. Die in diesen Paragrafen enthalte- nen Bestimmungen über sexuelle Handlungen, die gegen den Willen eines Beteiligten vollzogen wurden, sollten im Rahmen anderer Vorschriften des StGB abgedeckt wer- den.92

Entsprechend scharf wurde die Ablehnung der Reform der §§ 174 und 176 StGB durch die Programm-MVV in der Siegessäule von Andreas Salmen93 kommentiert.94 Ein Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses der AL, Trixi Frings, musste sich in einem Kurzinterview rechtfertigen. Sie versuchte eine Gratwanderung, indem sie einerseits for- mulierte, dass viele AL-Mitglieder über Dinge diskutiert hätten, mit denen sie sich vorher nie intensiv befasst hätten. Andererseits blickten viele Mitglieder der AL vor allem auf die männliche Gewalt gegenüber Kindern und hielten das Argument der sexuellen Befreiung auch von Kindern nur für ein vorgeschobenes Argument sexuell interessierter Männer. 95

Eklat beim Treffen Berliner Schwulengruppen vor der Listenaufstellung

Zuvor war es im Sommer 1984 bei der Nominierung der schwulen Kandidaten für das Abgeordnetenhaus durch das Treffen der Berliner Schwulengruppen (TBS) zum Eklat gekommen. Angesichts der noch bestehenden Rotation bei der AL hatte die für politische Kontakte zuständige Lobby-Gruppe des TBS den parteilosen Stefan Reiß von der Juris- tengruppe der AHA für die erste Hälfte und den ebenfalls parteilosen Detlef Mücke von den Schwulen Lehrern für die zweite Hälfte der Legislaturperiode für die AL-Landesliste vorgeschlagen. Während Reiß unumstritten war, schlugen die „Pädos“ überraschend mit Rainer Schädlich einen langjährigen Aktivisten der Pädoszene vor. Schädlich setzte sich gegen Mücke, der einen „pädo-kritischen“ Standpunkt vertrat, knapp durch.96 Nachdem die Lobby-Gruppe sich geweigert hatte, diesen Vorschlag an die AL-MVV weiterzu- reichen, wurde eine Sondersitzung des TBS angesetzt und die Nominierung wiederholt. Schädlich verlor, aber Mücke verfehlte die jetzt erforderliche Zweidrittelmehrheit.97 So blieb nur Reiß nominiert und wurde schließlich auf der AL-MVV auf einen aussichtsrei- chen Platz gewählt. Er war von 1985 bis 1987 Mitglied im Abgeordnetenhaus. Nach der

92 Treffen der Berliner Schwulengruppen (TBS):Die Schwulen Stolpersteine, Homosexuelle Forderungen zu den Be- zirks- und Abgeordnetenhauswahlen 1985, PDM. 93Andreas Salmen, Mitbegründer der Siegessäule und angesehener Aktivist der Szene, insbesondere zum Thema Aids, war selbst AL-Mitglied und verstarb 1992 an den Folgen von Aids. 94Andreas Salmen: Der Rechtsstaat gerät in Vergessenheit, in: Siegessäule, Dezember 1984. 95etz: AL: Noch immer ein tabu, in: Siegessäule, 2. Jahrgang, Nr. 3, März 1985. 96FFE: Friede, Freude, Eierkuchen: Knalleffekt mal zwei, in: Siegessäule, August 1984. 97Protokoll des Sonder-TBS, 3.8.1984 in der AHA, ASM, TBS, Teil 1.

40 105

Rotation gab es in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode keinen schwulen Abgeordne- ten in der AL-Fraktion.

Gegen den allgemeinen Trend (1986-1989)

In der Phase von Mitte bis Ende der 1980er Jahre sank in der Schwulenbewegung allge- mein die Solidarität mit den Pädos. Sie wurden zunehmend als Hindernis für die Durch- setzung der schwulen Interessen angesehen. Zudem veränderte die Krankheit Aids die politische und soziale Agenda der schwulen Community. Ungeachtet dessen agierte der AL-Schwulenbereich weiter im Sinne seiner bisherigen Forderungen. Auch die Recher- chen der Kreuzberger AL-Frauengruppe, die pädosexuelle Handlungen in vermeintlichen Hilfsorganisationen für Kinder und Jugendliche aufdeckte, in die auch Mitglieder des Schwulenbereichs verstrickt waren, hielt den Bereich nicht davon ab, seine Forderung nach Straffreiheit für Sex mit Kindern aufrecht zu erhalten.

Letzter politischer Erfolg

Eine vom Schwulenbereich beantragte Rüge der Kreuzberger-Stachel-Redaktion wegen „sexueller Denunziation“ durch den Delegiertenrat wurde 1986 sein letzter politischer Er- folg im Ringen um die Haltung zur Pädosexualität. Sie bezog sich auf einen Artikel des AL-Mitglieds Christian Thiel alias „Egon“ über den Verdacht des sexuellen Missbrauchs bei Pfadfindern und in Jugendprojekten. In diesem Zusammenhang hatte Kurt Hartmann mit weiteren Mitgliedern des Schwulenbereichs die Kreuzberger-Stachel-Redaktion auf- gesucht. Die Vertreter des Schwulenbereichs vertraten dabei die Ansicht, einvernehmli- che Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen bestehe auch dann, wenn ein Er- wachsener sich für fünf Mark von einem achtjährigen Jungen oral befriedigen lasse.98 Durch Abdruck des Kreuzberger-Stachel-Artikels in den Stachligen Argumenten, verse- hen mit einem langen Artikel Kurt Hartmanns zu sexueller Denunziation, wurde der Kon- flikt auch über den Delegiertenrat hinaus im Landesverband publik.99

Gleichzeitig gerieten Mitglieder des Schwulenbereichs ins Visier der Kreuzberger AL-Frauengruppe.

98 Interview mit Christian Thiel, 5.1.2014. 99Kurt Hartmann: Denunziation und Sexualität, in Stachlige Argumente, Nr. 40, September 1986, S. 31 ff.

106 41

Programmatische Isolation

In einem Siegessäule-Interview 1987 beklagte sich der Abgeordnete Stefan Reiß, dass außer den Pädo-Anfragen von Dieter Ullmann keine Anregungen für seine parlamentari- sche Arbeit aus dem TBS bzw. dem AL-Schwulenbereich gekommen seien: „Der Schwu- lenbereich hat sich im Wesentlichen auf die Verteidigung der Pädo-Positionen gegen den Rest der Bewegung festgelegt und diskutiert nur ab und zu anderes.“100

Tatsächlich war der Schwulenbereich eine Zeitlang so mitgliederschwach und in- aktiv, dass der GA im April 1988 auf dem Delegiertenrat seine Auflösung beantragte, was aber schließlich vertagt wurde. Zusätzlich sorgte im Mai 1988 ein Antrag des Schwulen- bereichs auf dem Delegiertenrat im Zuge der damals geführten PorNo-Debatte innerpar- teilich für Unmut, weil im Antrag des Schwulenbereichs die Beschlagnahmung der Dar- stellung von „einvernehmlichem Sex“ mit Jugendlichen kritisiert wurde und eine stärkere Befassung mit dem Thema Pädophilie gefordert wurde. Schließlich zog der Schwulen- bereich seinen Antrag auf der Folgesitzung nach erneuter Diskussion zurück. Das TBS schrieb im Mai 1988 eine Solidaritätsadresse zugunsten des Schwulenbereichs an den GA und den Delegiertenrat der AL und forderte eine Diskussion der AL über Entfaltungs- möglichkeiten kindlicher Sexualität, Kindesmissbrauch und Pädophilie.101

In der Programmdebatte für die Wahl 1989 wurde das Thema Pornografie weiter diskutiert. Der Schwulenbereich konnte sich mit seinen Anträgen nicht durchsetzen und wurde zunächst auf ein Minderheitenvotum vertröstet. Letztlich scheiterte er auch mit dem Versuch, seine Forderungen im Frauenteil zu platzieren und so enthielt das Pro- gramm 1989 wie das von 1990 gar keinen programmatischen Teil zur Liberalisierung des Sexualstrafrechts, obwohl 1989 mit den parteilosen Albert Eckert und Dieter Telge zwei offen schwule Männer für die AL für das Abgeordnetenhaus kandidierten und auch ein- zogen. Beide waren vom Treffen der Berliner Schwulengruppen nominiert worden.

In einem lesbisch-schwulen Charlottenburger Stachel im Dezember 1988 stellte Kurt Hartmann den Schwulenbereich vor und schrieb dabei über Pädophile, dass sie „wegen einvernehmlicher Sexualität mit Kindern gnadenlos im Knast sitzen müssen, selbst wenn bei den Kindern nicht der geringste Schaden nachzuweisen (...???, d. Säz- zerin) ist und kein Rechtsgut verletzt wurde.“102 Die dort abgedruckten Forderungen zur Abgeordnetenhauswahl enthielten erneut die Streichung der §§ 174 und 176 StGB und

100 Interview mit S tefan Reiß : An schwuler Unterstützung fehlte es, in: Siegessäule, 4. Jahrgang, Nr. 5, Mai 1987. 101Schreiben des Treffens der Berliner Schwulengruppen, vertreten durch Roland Hirsch und Christian Holtzmann an den GA und Delegiertenrat, 15.5.1988, AGG, C Berlin I.1, 25. 102 Kurt Hartmann: Binde-Glied. Der Schwulenbereich der AL, in: Charlottenburger Stachel Wahl `89 „Schwule und Lesben werden toll“.

42 107

im Übrigen „die Abschaffung aller Knäste“, obwohl das beschlossene Wahlprogramm diesbezüglich gar keine Forderungen enthielt.

Während sich die Grünen im Bund auf Betreiben von Volker Beck und Günter Dworek durch einen Beschluss des Bundeshauptausschusses im April 1989 von der For- derung nach Abschaffung des 13. Abschnitts des Strafgesetzbuches oder der §§ 174 und 176 StGB verabschiedeten, hielt der AL-Schwulenbereich unbeirrt an seiner Linie fest. Als Gegenspieler von Beck und Dworek meldete sich in Berlin Stefan Etgeton zu Wort, damals noch parteiloser Mitarbeiter der Abgeordnetenhausfraktion auf Werkver- tragsbasis. In der taz vom 8. August 1989 schrieb er: „Konkret wird dieser Übertritt der Schwulen in die Welt der Normalität stets, wo sie den Pädophilen ihre Solidarität aufkün- digen – und die isolierte Forderung nach Streichung allein des Paragrafen 175 ist bereits nichts anderes!“103 Einen Monat vor der Entscheidung des Bundeshauptausschusses trat Dieter Ullmann aus der Partei aus, während er sich wegen wiederholten sexuellen Miss- brauchs erneut im Strafvollzug befand.104

Rückenstärkung durch Albert Eckert

Zur gleichen Zeit warb Albert Eckert (der nie Parteimitglied war) als neues Mitglied der Fraktion im Abgeordnetenhaus für seine Lebensweisenpolitik und schloss dabei die ein- vernehmliche Sexualität mit Kindern mit ein. Er empfahl jedoch, nicht mit diesem heißes- ten Thema der Lebensweisenpolitik zu beginnen.105 Die Lesben in der AL griffen Albert Eckert in einem offenen Brief heftig an, weil er sie in seiner Sicht auf die Lebensweisen- politik vereinnahme, obwohl es doch Differenzen zur Sexualität mit Kindern und in der PorNo-Debatte zwischen Lesben und Schwulen gäbe.106 Der Schwulenbereich antwor- tete im Delegiertenrats-Info auf diese Anwürfe und gab ironisch an, sich auf die Diskus- sion zu „Kindersex“, Pornografie und Prostitution zu freuen. 107

Albert Eckert hatte in den Jahren zuvor, geprägt von Debatten im Arbeitskreis Sexualstrafrecht bei der Humanistischen Union, in der Siegessäule immer wieder Artikel zu Pädophilie geschrieben, darunter 1987 auch ein doppelseitiges freundliches Portrait der AG Pädophilie, die sich im Café Graefe traf. Dieses Thema war also durchaus nicht ein vom Schwulenbereich ihm aufgezwungenes, hatte er sich doch vor seiner Zeit als Abgeordneter intensiv damit befasst. Allerdings – wie er heute gesteht – nicht aus Sicht

103 Stefan Etgeton: Epitaph auf die Schwulenbeweg ung, in: taz, 8.8.1989. 104Austrittsschreiben von Dieter Ullmann vom 5.3.1989, AGG, C Berlin I.1, [159]. 105Albert Eckert: Lustvoll leben in Berlin, in: Stachlige Argumente, Nr. 57, Juli 1989, S. 44. 106Lesben in der AL: Lebensweisenpolitik, in: Stachlige Argumente, Nr. 58, September 1989, S. 22 ff. 107Delegiertenrats-Info vom 21.6.1989, AGG, C Berlin I.1, 10.

108 43 der Kinder: „Die Voraussetzungen für einvernehmliche Sexualität hab ich damals völlig blauäugig und naiv gesehen und hab gedacht, das kann auch zwischen einem Kind und einem Erwachsenen unter Umständen irgendwie sein.“108

Dass Pädosexualität im Kontext der schwulen AL-Lebensweisenpolitik immer in den Köpfen präsent war, zeigt ein Interview mit dem Mitglied der BVV Charlottenburg Micha Schulze aus dem Frühsommer 1989. Er sagte: „Dabei darf nicht übersehen wer- den, dass schwule Politik (im Bezirksparlament) immer nur Realpolitik sein kann. Eine radikale Homopolitik, die die Interessen von Pädos, S/M-LiebhaberInnen und Tunten gleichermaßen berücksichtigt, Ehe- und Familienstrukturen in Frage stellt, ist auf diesem Weg nicht durchsetzbar.“109

Rot-grün verdrängt „Pädo-Thema“ kurzzeitig

In Zuge der Regierungsbeteiligung der AL seit Frühjahr 1989 verdrängte beim Schwu- lenbereich kurzzeitig ein anderes Thema die Pädosexualität von der Prioritätenliste: die Forderung nach einem Referat für Lesben und Schwule beim Senat von Berlin. Die Be- mühungen, unterstützt vom TBS und den schwulen Abgeordneten, nahmen das Jahr 1989 in Anspruch und waren von Erfolg gekrönt. Das im November 1989 gegründete Referat für gleichgeschlechtliche Lebensweisen nahm seine Arbeit auf, griff aber zu kei- nem Zeitpunkt die Forderungen des Schwulenbereichs nach Abschaffung der §§ 174 und 176 StGB auf.

Zunehmende Isolation und Eskalation des Konflikts in und um den Schwulenbereich (1990-1995)

Der AL-Schwulenbereich sah sich zunächst weiterhin seiner Pro-Pädo-Agenda verpflich- tet und bewahrte Distanz zu Volker Beck und der Position des grünen Bundesverbandes, die sich 1989 klar gegen die Streichung der §§ 174 und 176 StGB positioniert hatten. Die Gründung der Gruppe „Jung und Alt“ 1992 als Untergruppe des Schwulenbereichs kann auch als Versuch der Pädosexuellen gewertet werden, im Bereich zu bleiben, ohne als solche noch im Plenum der Gruppe sonderlich in Erscheinung zu treten. In jedem Fall erfuhren neue Mitglieder ab 1993 bisweilen erst mit Verzögerung, welche Forderungen

108 Interview mit Albert Eckert, 25.11.2014. 109Pink Power in Charlottenburg, in: BSV (Berliner Schwulenverband)-Magazin, Nr. 1, (Mai/Juni) 1990.

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im Bereich „überwintert“ hatten. Eine Grundsatzdebatte dazu kam allerdings im Schwu- lenbereich nur zögerlich in Gang. Schließlich setzten sich die Neumitglieder aber mit ihrer Distanzierung 1994/1995 durch.

Fraktionsbildung innerhalb der Berliner Schwulenbewegung

Ende 1990 kam es zu großen Verwerfungen in der Berliner Schwulenbewegung. Das Treffen der Berliner Schwulengruppen (TBS) gründete den Berliner Schwulenverband (BSV). In dieser Gründungsphase spaltete sich eine linke Gruppe unter Protest ab, boy- kottierte eine Demo gegen den § 175 StGB als zu sehr auf Integration ausgerichtet und traf sich als neues Plenum im SchwuZ. Eines der Themen, das in Arbeitsgruppen bear- beitet werden sollte, war „Pädophilie und Patriarchat“. Diese Episode deutet wie weitere Debatten in der Zeitschrift Siegessäule und im Bundesverband Homosexualität darauf hin, dass die Solidarität mit Pädosexuellen auch nach dem Mauerfall zumindest unter den Westberliner Mitgliedern der Schwulenbewegung noch in gewissem Umfang vorhan- den, aber umstritten war. Es galt in der Schwulenbewegung als links, für „Pädos“ zu sein. Wer nur für die Streichung des § 175 StGB war, galt dagegen als spießig und SPD-nah. Die schwule Szene im Ostteil der Stadt konnte mit dieser Agenda allerdings gar nichts anfangen. Der in Ostdeutschland gegründete Schwulenverband Deutschlands (SVD), aus dem der heutige LSVD hervorging, verweigerte sich von Beginn an den Forderungen der Pädosexuellen. Durch die Wahl von Volker Beck und Günter Dworek in den SVD- Vorstand gelangte der SVD unter starken Einfluss der westdeutschen Grünen, dehnte sich rasch in ganz Deutschland aus und ging inhaltlich auf Konfrontationskurs mit dem BVH.

Unbeirrt gegen die Bundeslinie

Unbeirrt von der neuen Linie der grünen Bundespolitik setzte derweil der AL-Schwulen- bereich sein Werben für die Legalisierung von Pädosexualität fort. So warb Kurt Hart- mann am 12. März 1990 in der taz für die Einvernehmlichkeit sexueller Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern.110 Als im Kreuzberger Stachel Ende 1990 ein Arti- kel über einen Prozess wegen sexuellen Missbrauchs an einem Jungen erschien, ver- glich Fred Karst den Prozess „mit den Inquisitionsprozessen zur Zeit der Hexenverfol-

110 Kurt Hartmann: Eine andere Sexualkultur, in: taz, 12.3.1990.

110 45 gung“ und konnte „keinen Unterschied zwischen Wildwasser und Kardinal Ratzinger er- kennen“.111 Im Bundesverband Homosexualität gab es eine Gruppe Pädophilie, zu deren Co-Sprecher im Oktober 1992 Dieter F. Ullmann gewählt wurde (der inzwischen kein Parteimitglied mehr war).112 Im Dezember 1992 warb der Bereichssprecher Joachim Eul, der 2014 gestorben ist, für den AL-Schwulenbereich in den Stachligen Argumenten mit dem Argument: „Und was Personen unter 14 Jahren betrifft. Bei den sehr heftig geführten Debatten wird einfach stets ignoriert, dass auch Kinder ein Recht auf Sexualität haben, und diese Kinder nehmen sich auch ihr Recht auf Sexualität, sei es in kindlichen Doktor- spielen oder sonstwo.“113

Im Zuge der Strukturreform der AL drohte 1991/1992 dem auf acht Mitglieder geschrumpften Schwulenbereich erneut seine Auflösung bzw. der Verlust seiner Eigen- ständigkeit, weil für einen Bereichsstatus mindestens 15 Mitglieder erforderlich wurden. Deshalb warben Fred Karst und der neue Bereichssprecher Joachim Eul laut einer Rück- schau des Bereichs innerhalb von sechs Monaten neun Mitglieder, so dass Anfang 1993 der Landesausschuss dem Bereich den Status als Abteilung zuerkannte.114

Gesprächskreis „Jung und Alt“

Die meisten dieser neuen Mitglieder traten im Plenum des Schwulenbereichs gar nicht in Erscheinung, sieben von ihnen wurden 1995 und 1997 wegen nicht bzw. nie gezahlter Beiträge aus der Partei ausgeschlossen, unter ihnen auch Peter Schnaubelt. Die Kom- mission geht davon aus, dass diese Mitglieder sich in der Gruppe „Jung und Alt“ trafen, welche Fred Karst 1992 ins Leben gerufen hatte. Sie traf sich laut Eigenwerbung einmal im Monat im Mann-O-Meter und jeden Freitag zu Gesprächskreisen im Wedding oder im Sommer am Müggelsee zum Zelten („Sicheres Zelten ist möglich“). Sommerliche „But- terfahrten“ mit Ostseebaden waren geplant. Die Gruppe bot aber auch Sozialberatungen zu „Straffälligen- und Haftentlassungsfragen §§ 175/176“ an.115 Im Jahr 1993 waren in einem „Report“ des Gesprächskreises neben einer Selbstdarstellung mehrere Zeitungs- artikel über sexuelle Beziehungen von Müttern und ihren Kindern kopiert. Dies nahm das Fraktionsmitglied Albert Eckert zum Anlass, in einem Brief an den Schwulenbereich sei- ner Sorge Ausdruck zu verleihen, dass dieser Gesprächskreis wohl kaum vereinbar sei

111 Frauengruppe der Grünen/AL Kreuzberg: Pädos bei den Grünen, in Stachlige Argumente, Nr. 89, Oktober 1994. 112Gruppen zu Pädophilie existierten im Bundesverband Homosexualität (BVH) bis zu seiner Auflösung 1997. 113Joachim Eul: Wanted – only alive: Gay men with brain and ideas, in: Stachlige Argumente, Nr. 78, Dezember 1992. 114Chronologie der AL bzw. des Bereiches ab 1991 bis Anf. 1994, PTB. 115 Fred Karst: Brief Alternative Schwule – Arbeitskreis Jung und Alt -, Adressat unklar, undatiert, in: Report, Ge- sprächskreis „Jung und Alt“, 1993, PTB.

46 111

mit seinen Vorstellungen von Grüner Schwulen- und Sexualpolitik, weil es sich allem An- schein nach um eine Pädo-Selbsthilfegruppe handle.116 Fred Karst leugnete dies in sei- ner Antwort, vielmehr beschäftige sich die Gruppe mit Fragen der Ephebophilie (homo- sexuelle Neigung zu Jungen in der Pubertät).117

1993 versuchte Fred Karst bei der AL-Bezirksgruppe Wedding Projektmittel zur Anmietung einer Wohnung zur Hausaufgabenbetreuung durch die Gruppe „Jung und Alt“ in Prenzlauer Berg zu beantragen, was vom damaligen Bezirksgruppen-Sprecher Martin Beck abgelehnt wurde.118

Letzte Debatte in den Stachligen Argumenten

Der Konflikt um das Thema Pädosexualität erreichte im Oktober 1994 nochmals die Stachligen Argumente, als die Kreuzberger Frauen in einem Artikel unter dem Titel „Pä- dos bei den Grünen“ die programmatische Entwicklung innerhalb der AL zum Thema Sexualstrafrecht darlegten. Weiterhin kritisierten die Frauen die Solidarisierung mit den Forderungen der Pädosexuellen, vor allem von Mitgliedern des Schwulenbereichs. Au- ßerdem berichteten sie kritisch über die Haltung und das mangelnde Wissen der beiden schwulen Abgeordneten Albert Eckert und Christian Pulz zu dem Thema. Anlass dazu war die solidarische Haltung der beiden zum Pädophilen-Kongress des BVH im Café Graefe am 1. November 1991.

In der Erwiderung in der folgenden Ausgabe bemüht sich Albert Eckert mit Bezug auf eine Untersuchung des Rechtssoziologen Prof. Dr. Rüdiger Lautmann, ein Bild von Pädophilen zu zeichnen, die Sex mit Kindern nur mit deren Einverständnis hätten. Im Übrigen habe sich der Schwulenbereich komplett erneuert und zeige nicht die geringste Neigung, Kindersex-Zirkel zu etablieren.119

Wie um diese Aussage Lügen zu strafen, ist unter diesem Artikel eine weitere Erwiderung von fünf namentlich genannten Mitgliedern des Schwulenbereichs abge- druckt, die in aller Schärfe der Kreuzberger Frauengruppe widersprechen. Sie bekräfti- gen darin die Position der einvernehmlichen Sexualität zwischen Kindern und Erwachse- nen und betonen, dass 12-jährige sehr wohl wüssten, was sie täten. Sie werfen den Frauen eine „unsägliche Moralitätsschiene“ vor, wenn sie explizit auf die möglicherweise

116 Brief von Albert Eckert an den AL - Schwulenbereich vom 24.4.1993, PTB. 117Brief von Fred Karst an Albert Eckert vom 10.5.1993, PTB. 118Interview mit Martin Beck, 3.12.2014. 119 Albert Eckert: Warum ich Kindesmissbrauch verabscheue und trotzdem nicht gleich alle Pädos hasse, in. Stach- lige Argumente, Nr. 90, Dezember 1994.

112 47 dauerhaften Schäden einer Penetration bei männlichen Kindern und Jugendlichen hin- wiesen:

„Man fragt sich: Warum fordern diese Frauen dann nicht gleich die Wiederein- führung des Moral-§ 175? Fest steht: Homosexualität war noch vor 30 Jahren in der allgemeinen Meinung genauso verwerflich, wie es heute die Pädophilie ist. Und die sexuellen ‚Moralvorstellungen‘ werden sich auch in den nächsten Jahren ändern, auch wenn es verschiedene Leute nicht wahrhaben wollen.“120 In einer Klammer unter dem Artikel wurde darauf hingewiesen, dass dieser Brief keinen Konsens im Schwulenbereich darstellte. Insbesondere Bereichsmitglied Anselm Lange distanziere sich vom Inhalt ausdrücklich.121 Tatsächlich war dem Artikel eine kurze, hef- tige Diskussion im Schwulenbereich vorausgegangen. Eine Grundsatzdebatte wurde aber im Bereich erneut verschoben.

Konfliktlage im Schwulenbereich 1994

Ab 1993 zog sich Kurt Hartmann schrittweise aus dem Schwulenbereich zurück, weil er mit seinem Lebenspartner eine Existenz außerhalb Berlins aufbaute. Um die Jahres- wende 1993/94 wurden Anselm Lange und Thomas Birk im Schwulenbereich aktiv. Im Zuge dieses und weiterer personeller Wechsel brachen eine Reihe von Konflikten auf, wobei das Schwerpunktthema die Öffnung der Ehe für Schwule und Lesben bildete. Nur am Rande wurde der Konflikt um das Thema Pädophilie deutlich, als Fred Karst als Spre- cher der Gruppe „Jung und Alt“ nicht bereit war, auf seinen Posten als LA-Delegierter zu verzichten, schließlich aber doch abgewählt wurde.122 Auch zu dieser Sitzung waren au- ßer Fred Karst und Kurt Hartmann keine erkennbaren Mitglieder der Gruppe „Jung und Alt“ erschienen. Viele neue Bereichsmitglieder nahmen anhand der Publikation „Report“ der Gruppe „Jung und Alt“ erstaunt zur Kenntnis, welche Position zu Pädosexualität der Schwulenbereich bis dahin „tradiert“ hatte. Es wurde für den Sommer 1994 eine große Grundsatzdebatte zu diesem und anderen Themen anberaumt, die aber wegen des Bun- destagswahlkampfs 1994 und programmatischen Vorbereitungen zur Abgeordneten- hauswahl 1995 immer wieder verschoben wurde. Schließlich brach der Konflikt durch die oben benannte Auseinandersetzung in den Stachligen Argumenten offen aus, weil nur

120 Joachim Eul, Fred Karst, Kurt Hartmann, Eckart Märkel, Thomas Große: Stellungnahme zum Artikel „Pädos bei den Grünen“, in: Stachlige Argumente, Nr. 90, Dezember 1994. 121 Des Weiteren rief der Artikel „Pädos bei den Grünen“ zwei Leserbriefe mit Protesten von Stefan Gose und Rita Kantemir in der gleichen Ausgabe hervor, Stachlige Argumente, Nr. 90, Dezember 1994. 122 Joachim Eul/Alternative Schwule Berlin: Kurzprotokoll des Treffens am 1.6.1994 in Verbindung mit Anselm Lange und Christoph Wagner/Alternative Schwule Berlin: Anstatt eines Kurzprotokolls, in: Einladung zum Schwulenbe- reichstreff 20. Juli 1994, PTB.

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eine Minderheit der aktiven Bereichsmitglieder den Artikel gegen die Kreuzberger Frau- engruppe unterzeichnet hatte. Um den Jahreswechsel 1994/1995 kam es zu einer bizar- ren Begegnung. Vier bis sechs pädosexuelle Männer, die sich als Mitglieder der Gruppe „Jung und Alt“ bezeichneten, erschienen erstmals bei einer Sitzung des Schwulenbe- reichs und drohten, dass sie ihnen mit ihren Jungs zeigen würden, was Sache ist, falls sich die Kreuzberger Frauen oder andere ein weiteres Mal so äußerten wie in den Stach- ligen Argumenten.123

Abrupter Schnitt Anfang 1995

Anfang Februar 1995 wurde Fred Karst, inzwischen 66 Jahre alt, wegen Missbrauchs an einem achtjährigen Jungen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung ver- urteilt, worüber die Berliner Zeitung auch unter Bezugnahme auf seine Mitgliedschaft bei Bündnis 90/DIE GRÜNEN berichtete. Daneben wurde auf die oben benannte Debatte in den Stachligen Argumenten verwiesen.

Der Schwulenbereich nahm die Verurteilung zum Anlass, in einer Presseerklä- rung vom 16. Februar 1995 nach intensiver Diskussion am Vortag, zwei Beschlüsse zu veröffentlichen: Er lehne erstens sexuellen Missbrauch von Kindern, Kinderprostitution, Kindersextourismus und Kinderpornografie als mit seinem Verständnis von Menschen- und Kinderrechten unvereinbar entschieden ab und trete für das allgemeine Schutzalter von 14 Jahren ein. Er lehne zweitens jede weitere Zusammenarbeit mit Fred Karst unab- hängig vom Ausgang des Parteiausschlussverfahrens ab.124

Aufgrund der Verurteilung von Fred Karst hatte der Geschäftsführende Aus- schuss beschlossen, ein Parteiausschlussverfahren gegen ihn einzuleiten. Der mündli- chen Verhandlung am 18. Mai 1995 kam dieser durch seinen Austritt mit Schreiben vom 17. Mai 1995 zuvor.125 Im Kreuzberger Stachel berichtete Dagmar Riedel-Breidenstein im März 1995 über das geplante Ausschlussverfahren und den Prozess gegen Fred Karst. In einem Brief des Kreisverbands Wedding an den Geschäftsführenden Aus- schuss des Landesverbandes vom 8. März 1995 drückte der KV seine Verärgerung dar- über aus, nicht früher in die Pädophilie-Debatte einbezogen worden zu sein, sprach sich zwar gegen vermeintlich einvernehmliche Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern

123 Interview m it Anselm Lange, 17.11.2014 . 124 Jürgen Röttger, Anselm Lange für den Schwulenbereich: Presserklärung vom 16.2.1995, AGG, C Berlin I.1, [121]. 125 AGG, C Berlin I.1, [533].

114 49 aus, plädierte aber dennoch gegen das Parteiausschlussverfahren gegen Fred Karst und für die Akzeptanz von Minderheitenmeinungen.

Nach diesen wenigen Reaktionen gab es bis zum Jahr 2010 keinerlei parteiin- terne oder -externe Reaktionen mehr zu diesem Thema im Landesverband. Der inhaltli- che und personelle Kurswechsel im Schwulenbereich vollzog sich komplett und die Po- sitionen des Bereichs glichen sich der Mehrheitsmeinung im Bund an.

Wechselwirkung mit der Schwulenbewegung

Die von Dieter Ullmann 1989 für die MVV des Bundesverbandes Homosexualität be- schriebene Strategie der Pädosexuellenbewegung, sich in die Gremien der Schwulen- bewegung und der Grünen zu integrieren126, ging in Berlin besonders gut auf. Im AL- Schwulenbereich waren die „Pädos“ von Beginn an fester Bestandteil und sogar domi- nant. Auch im Treffen der Berliner Schwulengruppen waren sie integriert, wenn auch nur als eine Gruppe von vielen. Viele Protokolle und Dokumente des TBS belegen, wie an- strengend die Auseinandersetzungen mit den schwulen „Pädos“ innerhalb der Commu- nity gewesen sein müssen. Insbesondere einige Aktivisten des AL-Schwulenbereichs, die für „einvernehmliche Sexualität mit Kindern“ eintraten, wurden nach heutiger Darstel- lung von Zeitzeugen damals von vielen in der Schwulenbewegung als „nervig“ empfun- den. Die Dokumente des TBS belegen aber auch, dass das TBS bis in die 1990er Jahre die Forderungen nach einer Streichung des gesamten Sexualstrafrechts, mindestens aber der §§ 174 bis 176 StGB, aufrecht erhielt. So dokumentieren u.a. zwei einstimmig vom TBS beschlossene und von Dieter Ullmann formulierte Briefe von 1985 an den da- maligen grünen Bundestagsabgeordneten Herbert Rusche und den Landesvorstand der Grünen Niedersachsen die ausdrückliche Solidarität mit den Pädophilen und ihren For- derungen.127 Auch Albert Eckerts Vermutung, er wäre 1988 sicher nicht vom Treffen der Berliner Schwulengruppen als ihr Kandidat für das Abgeordnetenhaus aufgestellt wor- den, wenn er in dieser Frage eine andere Haltung eingenommen hätte,128 lässt Rück- schlüsse auf die Mehrheitsmeinung in der damaligen Berliner Schwulenbewegung zu. Hinzu kommt, dass sich im Magazin Siegessäule von der Gründung 1984 bis 1994 über 20 „pädofreundliche“ Artikel finden bzw. Debatten zu diesem Thema dort offen kontrovers

126 Dieter F. Ullmann: Der Anfang lag im Deutschen Herbst… Ein Rückblick auf die Pädobewegung, in: BVH Maga- zinchen Nr. 4, Oktober 1989, S. 66-78. 127 Dieter F. Ullmann für das Treffen der Berliner Schwulengruppen: Brief an Herbert Rusche, 13.4.1985, ASM, TBS, Teil 1. Dieter F. Ullmann für das Treffen der Berliner Schwulengruppen: Brief an Die Grünen, LV Niedersachsen, 12.7.1985, ASM, TBS, Teil 1. 128 Interview mit Albert Eckert, 25.11.2014.

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geführt wurden – mit deutlicher Sympathie für die Abschaffung der §§ 174 und 176 StGB seitens der damaligen Siegessäule-Redaktion.

Der Bundesverband Homosexualität vertrat diese Position bis zu seiner Auflö- sung 1997.129 Unter seinem Dach existierten mehrere lokale Pädogruppen, deren Unter- stützung immer wieder durch die BVH-MVV mit großer Mehrheit bestätigt wurde. Im BVH Magazin erschien ab 1991 regelmäßig eine „Pädoseite“. Stefan Etgeton warnte als Mit- glied der Schwulen Fachgruppe der GAL Hamburg den BVH zur MVV im November 1989 ausdrücklich, sich von den „Pädos“ zu entsolidarisieren:

„Zu widerstehen ist der allgemeinen Tendenz zur Entsolidarisierung der Schwu- len mit den Pädos, die durch den Etablierungsprozess der Schwulenbewegung und die daraus an sie ergehenden Appelle an sozial(demokratisch) erwünschtes Verhalten gefördert wird. Pädos haben als Opfer des Straf- und Knastsystems zunächst einmal Anspruch auf die uneingeschränkte Unterstützung der Schwu- len.“130 Wie stark die von Volker Beck und Günter Dworek schrittweise eingeleitete und zunächst noch innerhalb des BVH und später über den SVD angeführte Gegenbewegung war, ist historisch bisher noch nicht erforscht worden. Der Schwulenbereich des Grünen Landes- verbandes schwenkte zwar im Verlauf des Jahres 1994 mehrheitlich auf die politische Linie des SVD und damit die Abgrenzung von den Pädosexuellen und ihren Forderungen ein, blieb aber trotzdem nach einem einstimmigen Votum Mitglied des BVH.131

Darüber hinaus dominierte ein links-alternatives Milieu die Berliner Schwulenbewe- gung, aus dem sich auch der Kreis der parteilosen schwulen Mitglieder der AL-Fraktion bzw. der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN (AL)/UFV speiste. Sie verstanden sich we- niger als Sprachrohr des Schwulenbereichs denn der Berliner Schwulenbewegung, also des Treffens Berliner Schwulengruppen.

129 Beispielsweise Jörg Rowohlt: Bündnisgrüner Spagat zwischen alternativen Lebensformen und Homo-Ehe, in: BVH aktuell, August/September 1994, S. 15/16. 130 Stefan Etgeton: der BVH und das Thema Pädophilie, in: BVH Magazinchen, Nr. 4, Oktober 1989, Berichte – Informationen. Meinungen zur Mitgliederversammlung in Hamburg 11./12.11.1989, S. 60. 131 Joachim Eul, Alternative Schwule Berlin: Kurzprotokoll des Treffens vom 6.4.1994, PTB.

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3.4 Der AL-Frauenbereich und die Kreuzberger Frauen: Zweifel und Ge- genwehr

Bevor sich die Kreuzberger Frauengruppe Mitte der 1980er Jahre zusammenfand, wur- den Gegenpositionen zum Schwulenbereich in der Diskussion um die Legalisierung von Sex zwischen Erwachsenen und Kindern meist vom Frauenbereich der AL formuliert. Es gab beispielsweise 1983 Überlegungen, eine befristete Arbeitsgemeinschaft Pädophilie zur Auseinandersetzung mit der Initiative des Schwulenbereichs zu gründen.132

Besonders intensiv wurden die Auseinandersetzungen immer dann, wenn die Gliederungen der Berliner AL daran gingen, ihr Programm für die nächste Abgeordne- tenhauswahl (1981, 1985, 1989) festzuschreiben. Als im Juli 1984 im Frauenbereich ein Treffen mit dem Schwulenbereich und dem Bereich Demokratische Rechte vorbereitet wurde, traten jedoch auch innerhalb des Bereichs unterschiedliche Haltungen zur Pädo- sexualität zutage:

„Im Gegensatz zum Thema Vergewaltigung waren wir uns bei der Diskussion um die Strafbarkeit von Pädophilie weit weniger einig. Der Schwulenbereich fordert die völlige Streichung weiter Teile des sog. Sexualstrafrechts – u.a. soll die ‚Schutzaltersgrenze‘, die schwule Sexualität nur unter erwachsenen Männern er- laubt, ersatzlos gestrichen werden. Steht für den Schwulenbereich das Problem im Vordergrund, dass einige Päderasten in den Knast mussten, so interessiert den Frauenbereich v.a. der sexuelle Missbrauch von Mädchen und Jungen. Nach Darstellung der Schwulen soll ‚einvernehmliche Sexualität‘ mit Kindern und Ju- gendlichen ohne Einschränkungen erlaubt sein. Aber was verstehen wir unter ‚einvernehmlich‘? Daran und an der Frage nach dem Gewaltbegriff entbrannte unsere Diskussion.“133 Pro und Contra wurden zusammengetragen. Auch bei den Frauen des Frauenbereiches der AL gab es eine Gruppe von Vertreterinnen, die meinten,

„[e]invernehmliche Sexualität zwischen Kindern bzw. Jugendlichen und Erwach- senen ist grundsätzlich möglich, den Kindern sollten wir eine eigenständige Se- xualität zugestehen. Frau muss sich gegen die Gewalt, nicht gegen die Sexualität an sich wenden und ihre eigenen Vorurteile kritisch überprüfen. Aus den allge- meinen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen darf sie nicht auf jedes indi- viduelle Verhältnis schließen.“134 Andere Frauen im Bereich hielten entgegen:

„Der Begriff ‚einvernehmlich‘ ist viel zu schwammig – es besteht die Gefahr, dass er v.a. aus der Position der Erwachsenen bestimmt wird. Auch die Befürworterin- nen der Streichung der Altersgrenze versichern, dass sie auf jeden Fall gegen gewalttätige und hierarchische sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern sind – aber wie kann man feststellen, ob eine sexuelle Beziehung auf einem Gewaltverhältnis beruht? Untersuchungen haben ergeben, dass ein

132 Protokoll der Sitzung des AL - Frauenbereichs, 24.5.1983, AGG, C Berlin I.1, 111. 133 Protokoll der Sitzung des AL-Frauenbereichs, 9.7.1984, S. 2, AKFK, Ordner „Frauenpolitik 1985“. 134 Ebd.

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enger Zusammenhang besteht zwischen der allgemeinen Unterdrückung und Abhängigkeit, in der ein Kind gehalten wird, und der Gefahr, dass es sexuell un- terdrückt und missbraucht wird. Wie aber können wir Widerstand oder gar Ge- genwehr gerade von einem so erzogenen Kind erwarten?“135 In Auseinandersetzung mit dem Schwulenbereich wurde darüber hinaus festgehalten:

„Die Schwulen, die die Abschaffung der Altersgrenze fordern, interessieren sich überhaupt nicht für die Sexualdelikte an Mädchen (ca. 85% der Sexualdelikte an Jugendlichen werden an Mädchen begangen). Zurzeit können wir es uns nicht leisten, den – zwar minimalen, aber doch in Ansätzen vorhandenen – Schutz gegen sexuelle Übergriffe an Frauen und Mädchen preiszugeben.“136 Der Frauenbereich kam daraufhin im Sommer 1984 zu folgendem Schluss:

„Wir kamen überein, dass wir die kontroverse Diskussion auf jeden Fall weiter- führen wollen. Für das Politische Forum im Herbst schlug Elke vor, sich mal was anderes einfallen zu lassen als die langweilige Gegenüberstellung von State- ments. Sie denkt z. B. an die Beteiligung von betroffenen Frauen, Frauen aus der autonomen Bewegung …“137 Die Frage der Übergriffe gegen Jungen wurde von den AL-Frauen ausgeblendet. Den „Pädo-Protagonisten“ des Schwulenbereichs wurde durch die Partei ein breiter Raum zugestanden, ihre „Täterideologie“ zu verbreiten, in deren Rahmen sie sämtliche Schutz- vorschriften des Strafrechtes anprangerten. GegnerInnen der Straffreistellung wurden verunglimpft, eine völlig überkommene Sexualmoral schützen zu wollen. Diese Argumen- tation wurde in den folgenden Jahren von den „Pädos“ in der Partei immer wieder gegen ihre GegnerInnen verwendet. Dem Schwulenbereich gelang es so offenbar, den Schutz vor allem von Jungen vor sexuellen Übergriffen Erwachsener aus dem politischen Fokus zu nehmen. Es hat lang gedauert, bis die GegnerInnen sich gegen diese Propaganda allmählich Gehör verschaffen konnten.

Wie war es in Kreuzberg?

In den 1980er Jahren fand sich in Kreuzberg auf der einen Seite ein breites Spektrum von Frauen, die sich zumeist außerhalb der AL mit dem Thema sexueller Missbrauch an Kindern (vor allem Mädchen) politisch und fachlich auseinandersetzten. Auf der anderen Seite wurden immer wieder Täter bekannt, die unter dem Deckmantel von Jugendhilfe und -arbeit sexuelle Übergriffe verübten.

Auslöser einer wichtigen Kontroverse zwischen Kreuzberger AL-Frauen und AL- Schwulenbereich war in diesem Zusammenhang ein Artikel in der AL-eigenen Zeitschrift

135 Ebd., S. 2f. 136 Ebd., S. 3. 137 Ebd., S. 3.

118 53

Kreuzberger Stachel vom Sommer 1986. Unter der Überschrift „Wer steckt hinter ‚Kreuz- berg inform‘ Oder: Die dubiose ‚Jugendarbeit‘ des W. Herzog“ thematisierte AL-Mitglied Christian Thiel unter dem Pseudonym „Egon“ Verdachtsfälle sexuellen Missbrauchs in Berliner Jugend- und Pfadfindergruppen (Autonome Brandenburgische Jungenschaft, Nerother Wandervogel).

Dieser Artikel löste eine heftige Reaktion des Schwulenbereichs aus. Die Be- reichsmitglieder Manfred Herzer und Kurt Hartmann reagierten in der September-Aus- gabe des Kreuzberger Stachel. Unter der Überschrift „Sexuelle Verdächtigung“ stellten sie sich hinter Wolfgang Herzog und trugen ihre bereits bekannten Thesen vor. Herzer und Hartmann erläuterten:

„Egon, der Autor des Artikels, bringt darin seinen ganz persönlichen sexuellen Geschmack und seine Moralanschauungen zum Ausdruck. […] Bezirksamt und Kripo werden zwar nicht offen, aber doch indirekt aufgefordert, Egons Sexualmo- ral in Kreuzberg durchzusetzen. Diese Sexualmoral stimmt mit dem geltenden Strafrecht überein, […] Problematisch wird das aber, wenn er eine Zeitung wie den Kreuzberger Stachel benutzt, dafür Propaganda zu machen. Das stößt dann auf Widerspruch derer, die Egons Geschmack und Moral nicht teilen und – wie der AL-Schwulenbereich – die moralische Verurteilung der gewaltfreien Sexuali- tät zwischen Erwachsenen und Kindern für einen politischen Fehler und für ein Unrecht halten.“138 Die Schaffung und Ausnutzung von Machtstrukturen und die Über- und Unterordnung in der Jugendgruppe als Hintergrund für mögliche jahrelange und systematische sexuelle Übergriffe auf Jungen ließen die beiden Autoren bewusst außen vor und problematisier- ten sie erst gar nicht. Sie stellten „Egon“ als Vertreter einer überkommenen Sexualmoral und damit Verfechter schwulenfeindlicher Ansichten dar. Der Stachel wurde in ihren Au- gen zum Mittel seiner „Propaganda“. Herzog und sie selbst gehörten hingegen zur „Op- fergruppe“, die einen politischen Kampf gegen das Unrecht austragen und „Pädos“ vor staatlicher Verfolgung schützen wollten. Egons Artikel fordere dazu zur „schärferen Jagd auf Pädos“ auf. Sie nahmen aber auch die gesamte Stachel-Redaktion in Haftung:

„Egon, und falls sich in seinem Artikel die Redaktionsmeinung wiederspiegelt, auch die Stachelredaktion sollten einmal deutlich sagen, wie sie mit den Pädos in Kreuzberg, in der AL und überhaupt künftig umgehen wollen.“139 Gegen Herzer und Hartmann positionierte sich Angela Schäfers vom AL-Frauenbereich in der gleichen Stachel-Ausgabe mit ihrem Artikel „Egoistische Wünsche Erwachsener“. Zunächst beschrieb Schäfers die Einstellung des Schwulenbereichs zur Abschaffung der Teile des Sexualstrafrechtes, welche sexuelle Kontakte zwischen Minderjährigen und Er-

138 Für den Be reich Schwule in der AL: Manfred Herzer und Kurt Hartmann: Sexuelle Verdächtigung, in: Kreuzberger Stachel, September/Oktober 1986, S. 7. 139 Ebd.

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wachsenen verbieten, „die freie Entfaltung der Persönlichkeit und die sexuelle Selbstbe- stimmung“ angeblich behinderten. Sie trug die vor dem heutigen Hintergrund eher ver- halten wirkende Auffassung des Frauenbereiches der AL zu diesem Punkt vor:

„Vor allem der Frauenbereich jedoch betrachtet diese Paragrafen als minimalen, wenn auch unzureichenden Schutz von Kindern vor den sexuellen egoistischen Wünschen Erwachsener als sexueller Gewalt und besteht daher auf deren Ein- haltung.“140 Angela Schäfers beschrieb die Reaktion des Schwulenbereiches auf „Egons“ Artikel: „Kritische Stellungnahmen wurden formuliert und AL-Gremien bemüht ob dieser ‚sexuel- len Denunziation‘, so als habe es die Programmdebatte nie gegeben.“141 Aus ihrer Sicht brauchte es daher einiger Gegenargumente und Fakten. In Abgrenzung von den Positi- onen des Schwulenbereichs führte Schäfers weiter aus, sie wolle:

„die vom Schwulenbereich gezeichnete ‚heile Utopie‘ der ‚einvernehmlichen se- xuellen Kontakte‘ zwischen Erwachsenen und Kindern mit der absolut ‚unheilen‘ und brutalen Realität der alltäglichen Gewalt von Erwachsenen/Männern gegen Kinder/Mädchen konfrontieren.“142 Im Folgenden stellte sich Schäfers klar auf die Seite der Kinder:

„Wer die konsequente Ablehnung von Pädophilie als sexuellem Missbrauch von Kindern auf solche Ebenen zieht, versucht dieses von der Gesellschaft immer noch tabuisierte Thema in verantwortungsloser Weise herunter zu spielen und zu entpolitisieren. Es ist blanker Zynismus, die Interessen einer kleinen Gruppe ‚er- wachsener‘ Männer gegen die verheer[end]en Folgen sexueller Misshandlungen, unter denen jedes vierte Mädchen in der BRD zu leiden hat, in die Waagschale zu werfen. […] Wir leben nicht in einer Gesellschaft, in der Erwachsene/Männer und Kinder/Mädchen gleichberechtigt sind. Im Bemühen um die Befriedigung von Bedürfnissen jeder Art werden Kinder immer den Kürzeren ziehen. Gewalt heißt hier auch, sogenannte ‚erwachsene‘ Bedürfnisse gedankenlos auf kindliche zu übertragen und anzunehmen, dass die Sehnsucht von Mädchen und Jungen nach Liebe und Zärtlichkeit auf die gleiche Weise befriedigt werden kann oder muss wie die von Männern. Männer sollten ihren Wunsch nach sexuellen Kon- takten mit Kindern endlich als ihr Problem begreifen – als ihre Unfähigkeit, mit gleichberechtigten Partnern oder Partnerinnen zu leben – und nicht als eine bloße – natürliche – Variante von Sexualität. Und politisch aktive Schwule sollten diese Unfähigkeit nicht länger zum politischen Programm erheben, sondern ihren emanzipatorischen Ansatz als auch für diesen Bereich geltend verstehen.“143 Diesem Artikel ist kaum etwas hinzuzufügen, auch wenn auffällt, dass es den feministisch geprägten Frauen nicht leicht fiel, vor dem Hintergrund des politischen Kampfes für das Aufbrechen patriarchalischer Herrschaftsmodelle die Rolle von Jungen als Betroffene und Opfergruppe klar zu benennen. Kurt Hartmann vom Schwulenbereich nutzte in der Auseinandersetzung um Wolfgang Herzog auch die zentrale Parteizeitung der AL, um

140 Angela Schäfers: Egoistische Wünsche Erwachsener, in: Kreuzberger Stachel, September/Oktober 1986, S. 7. 141 Ebd. 142 Ebd. 143 Ebd.

120 55 gegen die Kreuzberger-Stachel-Redaktion vorzugehen und seine Thesen in der Gesamt- partei zu verbreiten. Unter der Überschrift „Sexuelle Denunziation auch in der AL?“ fragte er in den Stachligen Argumenten:

„Wie reißfest ist bei uns in der AL die Decke der Liberalität und Toleranz, die im Lauf der Zeit über alte Vorurteile, Angst- und Hassgefühle gegenüber Andersar- tigen gewachsen ist?“144 Hartmann sah durch Egons Artikel über sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugend- lichen „alle Schwulen und Pädos gleichermaßen denunziert“. Für ihn bedeutete die Auf- deckung sexualisierter Gewalt in Verkehrung des Gegenstands „die Spitze eines Eis- bergs saubermännischen Sexualmoralismus in der AL“, wohl wissend, dass im alternati- ven AL-Milieu der Vorwurf der Intoleranz und (klein-)bürgerlicher Moralvorstellungen ei- nige Zugkraft besaß. Er berichtete dann von einem Antrag des Schwulenbereichs beim AL-Delegiertenrat mit dem Ziel,

„die antifaschistisch gemeinte sexuelle Denunziation im ‚Kreuzberger Stachel‘ kri- tisch zu bewerten. Gleichzeitig sollte, bei mehrheitlicher Zustimmung zu dem An- trag, der weiteren Entfaltung politischer Unkultur in der AL ein Riegel vorgescho- ben werden.“145 Mit kaum verhohlener Häme berichtete er vom Ausgang dieser Debatte: „Wider Erwarten kam es dann im Delegiertenrat nicht zu einer überschwappenden Welle der Solidarität mit der Kreuzberger Redaktion.“146 Am Ende sah er folgende Hoffnung hinsichtlich der politischen Ziele: „Die Dialektik der Aufklärung über Sex und Politik scheint also noch nicht tot, die Möglichkeit eines Erkenntnisfortschritts in der Frage von sexueller Norm und Strafrecht ist noch offen.“147

Er beschrieb aber auch, dass der Delegiertenrat über das Thema Pädophilie und die „Frage der Kriminalisierung von Pädosexualität“ nicht länger habe diskutieren wollen. Die Diskussion sei eher wortkarg gewesen und es hätte auch schnell die Forderung nach einem Ende der Debatte gegeben.

Kreuzberger Frauen aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen setzten sich auch danach intensiv mit dem sexuellen Missbrauch von Mädchen auseinander. Davon zeugte 1989 eine Ausstellung „Gegen sexuellen Missbrauch von Mädchen“ im Rathaus Kreuzberg, an der vor allem die Frauen von Wildwasser beteiligt waren. Die Durchfüh- rung dieser Veranstaltung war nicht ganz einfach, weil das Jugendamt, vor allem in der Person des SPD-Jugendstadtrates Helmuth Borchardt das Thema nicht sofort offensiv

144 Kurt Hartmann: Sexuelle Denunziation auch in der AL?, in: Stachlige Argumente, Nr. 40, September 1986, S. 31- 37, hier S. 35. 145 Ebd,. S. 36f. 146 Ebd., S. 36f. 147 Ebd., S. 37.

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unterstützt hatte. Die Ausstellung hatte schließlich dennoch mehr als 3.000 BesucherIn- nen und ein vielfältiges Rahmenprogramm. Im Mittelpunkt standen die Themen Schutz und Prävention. Insgesamt wurden mehr als 26.000 DM für alle Veranstaltungen aufge- wendet.

Im Kreuzberger Stachel berichtete Marianne Hopfer im November 1989 und An- fang 1990 intensiv darüber und nahm den Diskurs zum sexuellen Missbrauch an Mäd- chen und Jungen wieder auf. Auch über den Träger Strohhalm – Verein zur Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen – wurde berichtet. Ihn unterstützten die Frauen der AL-Frauengruppe Kreuzberg aktiv. Immer wieder wurden im Kreuzberger Stachel Fälle sexueller Gewalt an Kindern in Kreuzberg und deren Aufdeckung und Straf- verfolgung im Rahmen der Kinder- und Jugendarbeit thematisiert. Doch es gab immer wieder Kontroversen und Angriffe gegen diejenigen, die sich klar auf die Seite der Mäd- chen und Jungen stellten.

Die Mitglieder der Kreuzberger Frauengruppe versuchten mit den schwulen AL- Fraktionsmitgliedern des Abgeordnetenhauses Christian Pulz und Albert Eckert ins Ge- spräch zu kommen. Dies gestaltete sich schwierig und wurde vor allem von Seiten der beiden Abgeordneten immer wieder verschoben. Mit Schreiben vom 29. September 1992 teilte Albert Eckert Barbara Oesterheld mit, dass ihm allerhand dazwischen gekommen sei und dass es zu einem Treffen wohl erst im Dezember kommen könne. Seine Position in der Debatte trug er aber schon einmal kurz vor:

„Leitgedanke ist für mich: ‚Einvernehmliche Sexualität darf nicht kriminalisiert werden, wohl aber sexuelle Gewalt‘. Allerdings ist auch hier für mich das Straf- recht das jeweils letzte, weil meist unpassende Mittel. Bei diesem Satz fängt es natürlich sofort an, sehr schwierig zu werden, wenn man genauer nachfragt, was bitteschön denn ‚einvernehmliche Sexualität‘ und was ‚sexuelle Gewalt‘ sei. Doch dazu sicherlich mehr in Christian Pulz‘ Brief und bei Gelegenheit mündlich.“148 Obwohl der Diskurs bereits seit vielen Jahren geführt worden war, wurde deutlich, dass Albert Eckert zu diesem Zeitpunkt es noch immer für möglich hielt, dass Sexualität auf „Augenhöhe“ zwischen Erwachsenen und Kindern stattfinden könnte. Die Kreuzberge- rInnen ließ das Thema auch in Folge nicht los. Im Kreuzberger Stachel vom Dezember 1993 fand sich ein weiterer Bericht zu einem „Prozess wegen sexuellem Missbrauch“. Interessant ist dabei schon die Unterüberschrift: „Was haben Kinderrechte mit sexuellem Missbrauch zu tun?“. Mit harten Worten wurde der Artikel eingeleitet:

148 Brief von Albert Eckert an Barbara Oesterheld und die Frauengruppe der AL, 29.9.1992, in: AKFK, Frauenordner.

122 57

„Aus Sicht des Jungen [11 Jahre alt] ist die Sache klar: Er hat ein Wochenende mit Stefan H. und seinen Freunden verbracht und ist von Stefan H. zweimal ‚in den Arsch gefickt‘ worden. […] Für Stefan H. ist die Sache ebenfalls klar: er hat so etwas nicht getan.“149 Alle Personen, die jemals Kontakt zu dem Jungen hatten, wurden als Zeugen geladen und stundenlang vernommen. Stefan H. soll kein Unbekannter in Kreuzberg gewesen sein:

„Mitte der achtziger Jahre knüpfte er seine Knabenbekanntschaften auf dem Kin- derbauernhof an der Mauer an, bot alleinerziehenden Müttern aus der Szene seine Dienste als Babysitter an und er vertrat recht offen seine Vorstellungen von freier Sexualität mit Kindern. Auch seine Zugehörigkeit zur Indianerkommune in Nürnberg war für viele kein Geheimnis. Schließlich stieß sein Umgang mit Kin- dern auf so starke Kritik, dass er auf einem internen ‚Femeprozess‘ für schuldig befunden und 1987 von einer Kiezmiliz verprügelt wurde. Einige Jahre später tauchten Stefan H. und seine Freunde wieder in Kreuzberg auf. Diesmal insze- nierten sie von der Reichenbergerstr. 115a aus ein ‚Kinder-Info-Telefon‘, das bei ‚Lust und Laune, Ärger und Liebesfrust‘ angerufen werden konnte.“ […] „Ermitt- lungen im Zusammenhang mit dem jetzt laufenden Prozess führten zu Anklagen auch gegen Freunde von Stefan H. Diese sitzen nun im Zuschauerraum des Ge- richtssaals, und stellen sich mittlerweile als zu Unrecht verfolgte Kinderrechtler dar, denen aus politischen Gründen der Prozess gemacht wird. Denn Schuld an den Problemen der Kindertelefonbetreiber sind nicht ihre pädophilen sexuellen Aktivitäten, sondern Frauen, nämlich ‚...linke machtmackerinnen‘. Zitat: ‚Vor al- lem erziehers können uns nicht ab, weil wir ihre in unseren augen wirklich fa- schistischen umwertungen von gewaltfreier liebe mit kindern zu ‚missbrauch‘ und ‚gewalt‘ nicht mitmachen…Mit dem SCHLAGwort ‚verantwortung‘ wollen sie sich selber ein zärtliches zusammensein mit kids sichern und daher ihr besitzrecht an ihnen erschleichen.‘ Mit ähnlich wirren Aussagen warben sie derweil weiter um Kids für ihr ‚Kinderbedürfnistelefon‘.“150 Die Stachel-Redaktion wurde weiterhin angegriffen. So erhielt sie als Reaktion auf den oben beschriebenen Artikel einen Leserbrief. Der Redaktion warf man darin vor, den Sachverhalt falsch dargestellt zu haben und Angriffen auf den Täter und seine Freunde Tür und Tor geöffnet zu haben.151 Im Juni 1994 berichtete der Kreuzberger Stachel aber noch einmal über einen weiteren Prozess und Verurteilung um das Kinderbedürfnistele- fon. Johanna Schmidt stellte in ihrem Artikel fest: „Ob dies die Missbrauchsaktivitäten dieser einschlägigen Szene beendet, bleibt abzuwarten. Allerlei Flugblätter deuten erst einmal nicht in diese Richtung…“152

149 Prozess wegen sexuellem Missbrauch. (ohne Autor), in: Kreuzberger Stachel, Nr. 106, Dezember 1993, S. 5. 150 Ebd. 151 Oliver Schattel an den Kreuzberger Stachel, o.D., in: AKFK. 152 Johanna Schmidt: 2. Kreuzberger Pädo-Prozess: „Balu“ verurteilt, in: Kreuzberger Stachel, Nr. 109, 15. Jahrgang, Juni 1994.

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Im Anschluss verfasste Stefan H., der sich als Mitglied des Kinder- und Jugendinfotele- fons bezeichnete, eine „Gegendarstellung“ an den Kreuzberger Stachel, wobei der Sta- chel den Artikel in 11 Punkten korrigieren sollte.153 Die Stachel-Redaktion lehnte den Abdruck der Gegendarstellung aber ab.

Im Kreuzberger Stachel folgten anschließend kontinuierlich weiterhin Artikel, die sich mit dem Thema sexueller Missbrauch von Kindern auseinander setzten. Dagmar Riedel-Breidenstein schrieb im März 1995 unter der Überschrift „Erster Parteiausschluss bei den Grünen? Grüner Kindesmissbraucher erneut verurteilt“ über die Verurteilung von AL-Mitglied Fred Karst am 4. Februar 1995. Fred Karst hatte in Kreuzberg den soge- nannten Falckensteinkeller betrieben, in dem „Lückekinder“ aus Kreuzberg betreut wur- den. Als „Lückekinder“ werden in der Jugendhilfe Kinder bezeichnet, die zwischen 9 und 13 Jahre alt sind und in diesem Übergangsalter vom Kind zum Jugendlichen bei Ange- boten der Jugendhilfe oft durch das Raster fallen. Dagmar Riedel-Breidenstein berichtete vom Prozess gegen Karst:

„Nach seinen sozialen Kontakten, seinem Umfeld befragt, nannte Karst die Grü- nen: die Freitagsgruppe gegen den § 175, den Schwulenbereich und seine Mit- arbeit beim Weddinger Stachel. Außerdem lud er für die Grünen zu kommunal- politischen Themen ein und beschrieb seine geselligen Aktivitäten so, dass un- befangene ZuhörerInnen den Eindruck gewinnen mussten, dass sich grüne Schwule immer von nackten Knaben bedienen ließen. Ebenso entstand der Ein- druck, dass die Nacktfotos, die im Prozess eine Rolle spielten, eigentlich für den Weddinger Stachel gedacht waren. Jedenfalls auf dem Flur vor dem Gerichtssaal wurden diese Eindrücke heftig diskutiert.“154 Weiter führte sie in dem Artikel für den Kreuzberger Stachel aus:

„Die Diskussion über das Verhältnis zwischen den Grünen, den Schwulen und Pädos war im letzten Herbst von der Kreuzberger Frauengruppe der AL in Gang gesetzt worden. Politische Relevanz erhielt das Thema aber erst durch die Be- richterstattung der Tagespresse über diesen letzten Karst-Prozess. Inzwischen hat der GA ein Parteiausschlussverfahren gegen Fred Karst eingeleitet. Endgültig wird das Landesschiedsgericht über den Parteiausschluss beschließen. Dies wäre der erste Parteiausschluss in Berlin.“155 Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Thema und Konsequenzen für die Zukunft hat es aber nach dem Prozess bei den Berliner Grünen wieder nicht gegeben.

In Kreuzberg haben sich nicht nur die Frauen aus der Frauengruppe mit den „Pä- dos“ und dem sexuellen Missbrauch an Kindern über viele Jahre auseinander gesetzt, sondern eine in der öffentlichen Wahrnehmung engagierte Stachel-Redaktion, der immer

153 Gegendarstellung von S . H. , 12.12.1993, unter Bezugnahme auf den Artikel „Prozess wegen sexuellem Miss- brauch“ (ohne Autor), in: Kreuzberger Stachel, Nr. 106, Dezember 1993, S. 5, in: AKFK. 154 Dagmar Riedel-Breidenstein: Erster Parteiausschluss bei den Grünen? Grüner Kindesmissbraucher erneut ver- urteilt, in: Kreuzberger Stachel, Nr. 114, 16. Jahrgang, März 1995, S. 3. 155 Ebd.

124 59 auch Männer angehörten. Die Auseinandersetzung bezog sich allerdings erst in den 1990er Jahren nach außen sichtbar auf Vorgänge in der Partei. Vorher richteten sich die Aktivitäten vor allem auf die Vielzahl der in Kreuzberg agierenden Pädo-Gruppen und die dort verübten Straftaten. Die parteiöffentliche Auseinandersetzung entzündete sich schon vor der Verurteilung von Fred Karst am Artikel „Pädos bei den Grünen“ in den Stachligen Argumenten von Oktober 1994. Die Kreuzberger Frauengruppe nahm darin Fälle von sexuellem Missbrauch an Kreuzberger Jungen zum Anlass ihres Beitrags:

„Es werden im Bezirk ständig neue sogenannte ‚private Betreuungseinrichtun- gen‘ ausgehoben. Und immer wieder begegnen uns in dieser Auseinanderset- zung ALler, die diese Leute unterstützen und als ‚eine Art der sexuellen Orientie- rung‘ für die Straffreiheit ihres Tuns eintreten. Deshalb finden wir es an der Zeit, die Geschichte dieses Themas bei den Grünen/AL zu betrachten, uns mit den Argumenten von Pädophilen auseinanderzusetzen, […] und die Diskussion mit zwei unserer Abgeordneten zu dokumentieren, um eine eindeutige Positionsbe- stimmung innerhalb des Bündnis 90/DIE GRÜNEN zu erreichen, die einen klaren Strich zieht zwischen ‚freier Sexualität‘ einerseits und dem Missbrauch von Kin- dern andererseits.“156 Die Frauen 1994 kamen rückblickend auf die Programmdebatten in den 1980er Jahren zu dem Schluss,

„dass eine starke Strömung sich pädophile Positionen zu eigen gemacht hatten. Die AL bot sich damals als Interessenvertreterin also auch denjenigen an, die mitnichten an der Emanzipation gesellschaftlicher Normen und Wertevorstellun- gen interessiert waren, sondern nur eine Möglichkeit suchten, die Strafrechtsre- formdebatte für ihre eigenen sexuellen Interessen zu nutzen.“157 Insbesondere setzte der Artikel sich mit dem „Mythos“ von der Einvernehmlichkeit männ- licher Sexualität mit Jungen auseinander, der im Landesverband weiter existierte, auch als die pädosexuellen Positionen zum Sexualstrafrecht 1985 im Programm keine Mehr- heit mehr fanden. Die Kreuzberger Frauen resümierten dazu:

„Die Selbstverständlichkeit, dass sexuelle Kontakte im gegenseitigen Einverneh- men aufgenommen werden, scheint so selbstverständlich nicht zu sein, sonst müsste dies nicht so betont werden. Die Problematisierung von Herrschaftsver- hältnissen, die in den Beziehungen zwischen Mann und Frauen zum Standard- repertoire gehören, fehlte in Bezug auf sexuelle Kontakte zwischen Älteren/Er- wachsenen und Kindern völlig. In dem Bestreben nach sexueller Befreiung und Aufhebung von Diskriminierungen wurde und wird Pädophilie nicht als Miss- brauch von Jungen und Mädchen gewertet, sondern galt und gilt als eine mögli- che Art der ‚sexuellen Vorliebe‘.“158

Frauengruppe der Grünen/AL Kreuzberg: Pädos bei den Grünen, in: Stachlige Argumente Nr. 89, Oktober 1994, 156S. 45-48, hier S. 45. 157 Ebd. 158 Ebd.

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Nach Auffassung der Kreuzberger ALerinnen gab es innerhalb der Partei vor allem im Schwulenbereich immer wieder Mitglieder und Sprecher, welche die Forderungen der „Pädos“ in die Öffentlichkeit trugen und sich mit ihnen solidarisierten.

Als es endlich zu Einzelgesprächen mit den schwulen Abgeordneten kam, be- schrieben die Frauen den Verlauf folgendermaßen:

„Einigkeit bestand auch darin, dass Kinder eine eigene Sexualität besitzen und diese auch ausleben sollen. Es ist unser Interesse, dass sie ihre Gefühle ernst nehmen und um ihr Recht wissen, sich gegen unangenehme Gefühle zu Wehr zu setzen. […] Sexueller Missbrauch an Mädchen wurde von unseren Ge- sprächspartnern ebenfalls strikt abgelehnt. […] Damit näherten wir uns der Frage des sexuellen Missbrauchs an Jungen. […] Damit kamen wir zur eigentlichen Fragestellung: gibt es einvernehmliche Sexualität zwischen Kindern und Erwach- senen. […] Der Wunsch, dass einvernehmliche Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen bestehen möge, war bei beiden Gesprächspartnern sehr stark. Christian [Pulz] zog sich auf die Position zurück, er wisse gar nicht, welche Aus- wirkungen der sexuelle Verkehr von Erwachsenen für Jungen hätte. […] Damit machte Christian ein Problem deutlich, das die Pädophiliedebatte innerhalb der AL von Anfang an geprägt hat: das Nichtwissen und sich nicht informieren über die Auswirkungen pädophiler Penetration auf die betroffenen männlichen Kinder und Jugendlichen.“159 Die Frauen merkten an, dass das Gespräch mit Albert Eckert differenzierter war:

„Er kannte die Auswirkungen, und er sah auch den Zusammenhang zu der sozi- alen Lage dieser Kinder. Es wunderte ihn nicht, dass gerade ein Bezirk wie Kreuzberg zum Spielfeld der Pädophilen wird und die meisten Prozesse Kreuz- berger Ursprungs sind. Er sah auch die Machtstrukturen, die innerhalb dieser Gesellschaft bestehen und sich auch in diesen Zusammenhängen ausdrücken. Dennoch wollte er sich nicht von der prinzipiellen Möglichkeit, dass irgendwann, irgendwie, so eine Einvernehmlichkeit herstellbar wäre, trennen. […] Er teilt damit die Einstellung der schwulen Männer in der Bundesrepublik, dass Pädophile ein Teil ihrer Gruppe sind. Als ihm eine lesbische Frau entgegengehalten hat, dass lesbische Frauen sich keinesfalls mit pädophilen Lesben solidarisch erklären, zeigte er sich höchst erstaunt. Diese schwule Solidarität mit Pädophilen gibt es in anderen Ländern so nicht. […] Nach den Diskussionen blieb das schale Gefühl, dass wir mit den beiden, die die Jugendpolitik der Grünen/AL im Abgeordneten- haus vertreten, nicht gerade die wahren Streiter für die Rechte der Kinder und Jugendlichen im Abgeordnetenhaus haben.“160

159 Ebd., S. 46. 160 Ebd., S. 46f.

126 61

Zusammenfassung

Zwischen dem Frauenbereich der AL und der Kreuzberger Frauengruppe gab es so gut wie keinen inhaltlichen Austausch. Für den Frauenbereich der AL war in der Auseinan- dersetzung mit dem Schwulenbereich und deren Forderung nach der Abschaffung des gesamten Sexualstrafrechtes und damit der Abschaffung jeglichen Schutzalters vor al- lem wichtig, dass wenigstens die rudimentären Teile von Schutznormen erhalten blieben. In der Frage der „einvernehmlichen Sexualität“ zwischen Erwachsenen und Kindern kon- zentrierten sie sich darauf, dass dies zumindest für Mädchen, die der Sexualität von männlichen Personen ausgesetzt waren, nicht zutreffen könnte. Sie seien patriarchalen Herrschaftsverhältnissen ausgesetzt. Bei dem strukturbedingten Machtgefälle könne keine Einvernehmlichkeit bestehen. Dass diese Asymmetrie selbstverständlich auch bei männlichen Kindern vorliegt, wurde nicht diskutiert, so dass für die Protagonisten des Schwulenbereiches immer Raum blieb, ihre Forderungen und Ideen aufrecht zu erhalten, wenn sie die These für die Mädchen jeweils mittrugen. Der Diskurs im Frauenbereich war geprägt von Protagonistinnen, die vollständig die pro-pädophilen Forderungen ablehn- ten, und solchen, die Kompromisse mit den Pädosexuellen suchten. Aus heutiger Sicht ist diese Kompromissbereitschaft unverständlich: Kinder stehen immer in einem asym- metrischen Macht- und Abhängigkeitsverhältnis zu Erwachsenen. Eine „Gleichheit“, die die Voraussetzung für selbstbestimmte Entscheidungen ist, kann so gar nicht hergestellt werden. Deshalb kann es auch keine „einvernehmliche Sexualität“ zwischen Kindern und Erwachsenen geben.

Kreuzberg war als Bezirk einer der wichtigsten Aktionsräume für „Pädos“ in West- berlin. Vor diesem Hintergrund setze sich sowohl die Frauengruppe der Kreuzberger AL als auch die Redaktion des Kreuzberger Stachels mit diesen Gruppen und den dort agie- renden „Pädos“ auseinander. Dies rief heftigen Gegenwind, auch von Mitgliedern der AL, auf den Plan. Insbesondere der Schwulenbereich in Person von Manfred Herzer und Kurt Hartmann griffen die Stachel-Redaktion öffentlich an. Es wurde unterstellt, dass nicht nur „Pädos“, sondern auch alle Schwulen insgesamt diffamiert werden würden.

Für die Kreuzberger Frauengruppe war von Anfang an klar, dass es keine Form von einvernehmlicher Sexualität zwischen Erwachsenen und allen Kindern (sowohl Mäd- chen als auch Jungen) geben kann, weil es sich immer um ein asymmetrisches Verhält- nis zwischen Erwachsenen und Kindern handelt und Kinder immer zu schützen sind.

Mit Einzug von Albert Eckert und Christian Pulz als Abgeordnete der Fraktion Bünd- nis 90/DIE GRÜNEN (AL)/UFV, wobei letzterer für Kinder- und Jugendpolitik zuständig war, suchte die Kreuzberger Frauengruppe das Gespräch mit diesen beiden. Dieser Pro-

62 127

zess zog sich über längere Zeit hin. Beide sprachen letztendlich getrennt mit der Frau- engruppe. Albert Eckert hielt lediglich die These aufrecht, dass es aus seiner Sicht zu- mindest theoretisch den Fall geben kann, in dem Kinder und Erwachsene auf Grundlage des freien Willens des Kindes Sex miteinander haben könnten. Beiden Abgeordneten gelang es zum damaligen Zeitpunkt nicht, sich von der Ansicht, dass es „einvernehmliche Sexualität“ zwischen Erwachsenen und Kindern geben könnte, zu trennen. Die Frauen- gruppe kam in den Stachligen Argumenten zu dem Schluss, dass beide als Verantwort- liche für die Kinder- und Jugendpolitik der AL im Abgeordnetenhaus nicht geeignet wa- ren.

3.4.1 Die Kreuzberger AL-Frauengruppe: Eine Innenansicht

Anfang der 1980er Jahre entstand die Frauengruppe der Kreuzberger AL aus der Basis- bzw. Bezirksgruppe, die im Blauen Salon im Mehringhof tagte. Sie entschied autonom, wo sie ihre Aktivitäten und Diskurse aufnahm. Als Mitglieder der AL hatten die Frauen allerdings keinen Zweifel daran, dass deshalb ihre Interessen und Positionen zugleich Positionen der Partei waren.

Von Anfang an wurden nicht nur Themen aus dem Frauenspektrum bearbeitet, sondern auch aus dem Kinder- und Jugendbereich. So hat die Frauengruppe in den di- versen Wahlprogrammen der AL Kreuzberg nicht nur den Teil über Frauen, sondern auch über Kinder- und Jugendpolitik im Bezirk entwickelt und geschrieben. Ebenso begleiteten Artikel in der AL-eigenen Zeitschrift Kreuzberger Stachel die Arbeitsschwerpunkte der Frauen. Neben dieser Diskussions- und Schreibarbeit gehörten jedoch von Anfang an politische Aktionen zum Selbstverständnis.

Im Herbst 1984 stürmte ein Mann in den Kreuzberger Treff- und Informationsort für Frauen aus der Türkei (TIO) und erschoss eine türkische Besucherin. Er verletzte die damalige Jura-Studentin Seyran Ateş lebensgefährlich, die dort Frauen aus der Türkei u.a. zum Schutz vor häuslicher Gewalt beriet. In der ersten Zeit nach dem Attentat orga- nisierten mehrere Kreuzberger Frauengruppen eine durchgehende Taxibewachung des TIO, um die Frauen mit der Angst und weiteren Bedrohungen nicht allein zu lassen. Die AL Frauengruppe war dabei. Viele weitere Aktionen trug sie aber allein. Dabei ging es um Sex Shops oder den Missbrauchsverdacht an der Kreuzberger Musikschule.

Kreuzberg als sozialer Brennpunkt und „Heimstatt“ vieler Außenseiter und alter- nativer Zusammenschlüsse bot einen „passenden“ Hintergrund als Ort sexueller Miss- brauchsfälle. Einerseits gab es hier Ansatzpunkte für Strategien Pädosexueller, die sich oft auf Kinder richteten, die nach materieller und emotionaler Zuwendung suchten – und

128 63 die bereits erfahren hatten, dass sie dafür einen „Preis“ zahlen müssen. Andererseits wurden die ideologischen Kernsätze der Pädosexuellen, die eine freie kindliche Sexuali- tät forderten (damit aber die Realisierungsmöglichkeit ihrer eigenen sexuellen Wünsche meinten) durchaus als Befreiung eingeschätzt und aufgenommen. Das war gerade in den politisierten und alternativen Kreuzberger Wohn- und Arbeitszusammenhängen aktuell, wo viele sich vorgenommen hatten, Utopien zu verwirklichen.

Der grüne Bundesfrauenkongress in Hamburg Mitte der 1980er Jahre war für die Frauengruppe der Anstoß zur Beschäftigung mit dem Thema sexueller Missbrauch. Dort hatte Dolle Deerns e.V., ein 1983 gegründeter Verein zur Förderung feministischer Mäd- chenarbeit, eine Arbeitsgemeinschaft (AG) angeboten und die Kreuzberger Frauen, die daran teilgenommen hatten, kamen voller Entsetzen und Elan zurück. „Dagegen wollen wir was machen“ war das einhellige Ergebnis. Und zunächst sollte die Forderung der Hamburgerinnen nach einem Mädchenhaus auch nach Kreuzberg getragen und die Um- setzung politisch unterstützt werden. Erste Kontakte mit Wildwasser e.V., einem Verein, der sich seit 1983 gegen sexuelle Gewalt engagierte, zogen eher Missverständnisse und Konkurrenz nach sich, so dass sich die Kreuzberger AL-Frauen stärker der einschlägigen Szene im Bezirk zuwandten. Sie kamen in Kontakt mit der Sozialarbeiterin Frauke Homann, die aufgrund ihrer Tätigkeit im Jugendgesundheitsdienst ein umfassendes Wis- sen über die Missbrauchsvorgänge im Bezirk hatte. Bei einem allen Teilnehmerinnen in Erinnerung gebliebenen Adventstreffen 1985 schilderte sie der Frauengruppe die Situa- tion und erzeugte damit tiefe Betroffenheit und Aktionswillen. Die Tatsache, dass eine Broschüre des AL-Schwulenbereichs zum Thema Pädophilie „Ein Herz für Sittenstrolche“ existierte, kam noch dazu und sorgte dafür, dass die Kreuzberger Frauengruppe sich also auf Kreuzberg und die realen Probleme orientierte.

Zunächst kam es zu Treffen und dann dem Bündnis mit einer Erzieherinnen- gruppe aus den sogenannten Sonderprojekten im Künstlerhaus Bethanien, das sozialen und kulturellen Projekten eine Heimstatt war. Viele der Jungen, die im von Pädophilen 1986 gegründeten „Nachbarschaftskeller für Schlüsselkinder“ in der Falckensteinstraße missbraucht worden waren, wurden dort betreut. Dass der Haupttäter Fred Karst eben- falls Mitglied der Alternativen Liste war, stellte für die Frauengruppe eine besondere Ver- pflichtung dar.

Hier begann auch die für diese Frauengruppe typische pädagogische Fachlich- keit: Es wurde Fachliteratur (viel gab es noch nicht, hauptsächlich aus den USA) gelesen und diskutiert und darin keine Veranlassung gesehen, aus den settings, den Strategien sowie der Situation der Opfer und der Befindlichkeit der Täter eine besondere Einver- nehmlichkeit abzuleiten. Dies passte auch exakt in die Kreuzberger Situation: Fred Karst

64 129

und sein Umfeld wie auch S. H. und seine „Kinderfreunde und -helfer“161 nannten sich pädophil. Die Mitglieder der Frauengruppe hingegen kannten die Opfer, die keinen Sex, sondern Zuwendung und materielle Aufmerksamkeiten wollten. Zudem waren sie wegen ihres geringen Selbstwertgefühls leicht unter Druck zu setzen. In diesen Jahren saß die Frauengruppe der Kreuzberger AL zwischen mehreren Stühlen.

Artikel, welche die Frauengruppe zur Verfachlichung der Thematik in den Stach- ligen Argumenten veröffentlichen wollte, erschienen mit großer Verzögerung oder gar nicht. Auch von den Gremien und offiziellen Parteivertretern fühlten die Kreuzberger Frauen sich eher hingehalten. Sie kamen mit dem Thema einfach nicht durch. Im Gegen- teil: AL-Mitglied und Redakteur des Kreuzberger Stachel, Christian Thiel, der 1986 als “Egon“ mit und für die Frauengruppe einen Artikel gegen Machenschaften Pädosexueller im Kreuzberger Stachel geschrieben hatte, wurde offiziell und öffentlich von Parteigre- mien gemaßregelt. Sowohl diese Maßregelung als auch die etwa zu gleicher Zeit statt- gefundene „Diskussion“ mit Kurt Hartmann und anderen Mitgliedern des AL-Schwulen- bereichs bei der Stachel-Redaktion wirkte damals in Bezug auf die Haltung der Gesamt- partei zur Pädophilie-Frage sehr entmutigend. Die Auseinandersetzung mit den inner- parteilichen Befürwortern der Straffreistellung sexueller Kontakte von Erwachsenen und Kindern aus dem Schwulenbereich fand nämlich in einer sehr bedrohlichen Atmosphäre statt.

Im Jahr 1987 wurde Strohhalm e.V., ein Verein zu Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen, gegründet. Darin waren das AL-Mitglied Barbara Oesterheld, Mit-Gründerin und später im Vorstand, und ab 1991 als Geschäftsführerin Dagmar Riedel-Breidenstein aktiv. Die Gründerinnen kamen sowohl aus der Frauen- gruppe als auch aus den kulturellen und sozialen Projekten im Bethanien. Das hat die Verfachlichung des Themas „Pädophilie“ in der Frauengruppe weiter gefördert.

In der Kreuzberger-Stachel-Redaktion saß fast durchgängig ein Mitglied der Frauengruppe, so dass der Kontakt und die Unterstützung dort stabil waren. Was nicht bedeutete, dass alle Stachel-Redakteure von der Sichtweise der Kreuzberger Frauen überzeugt waren. Aber in Kreuzberg war die aktive Frauengruppe eben eine starke Min- derheit. So kam es dann auch weiterhin zu einigen Stachel-Artikeln zum Thema: z.B. 1988 über die Verdachtsfälle sexuellen Missbrauchs an der Kreuzberger Musikschule.

Innerhalb der Frauenbewegung, die um die Öffentlichkeit und Akzeptanz des Themas Missbrauch von Mädchen kämpfte und sich durch das Thema Missbrauch von

161 Vgl. Kreuzberger Stachel vom Juni 1994 zum „2. Kreuzberger Pädo-Prozess“, der sich gegen die Betreiber eines sogenannten Kinderbedürfnistelefons richtete, zu denen auch S. H. gehörte.

130 65

Jungen („wieder rücken die Jungen/Männer in den Vordergrund und verallgemeinern das Thema“) wieder übergangen fühlte, war das Thema Pädophilie nicht sehr interessant. Es wurde außerdem als Konkurrenz abgelehnt. Diese Haltung teilte letztlich der (Landes-) Frauenbereich der AL. Das war ein Grund, weshalb es zwischen der Kreuzberger Frau- engruppe und dem Frauenbereich kaum Kontakte gab. Die Tätigkeit von Strohhalm e.V. wurde wegen seines gemeinsamen Schutz- und Präventionsansatzes für Mädchen und Jungen bis weit in die 1990er Jahre kontrovers diskutiert oder abgelehnt. Ende der 1980er Jahre strebte Strohhalm – ermuntert durch die AL-Senatorin für Jugend, Frauen und Familie Anne Klein – eine Professionalisierung und damit Förderung durch die Se- natsverwaltung an. Der Antrag wurde von der Verwaltung allerdings dennoch abgelehnt. Deshalb begaben sich die Strohhalm-UnterstützerInnen auf den mühseligen Weg der Suche nach politischer Unterstützung. Die AL-Abgeordneten wurden dabei nicht in Be- tracht gezogen. Die Frauen waren sich sicher, dass die AL ihre Mitglieder bei dieser Ini- tiative nicht unterstützen würde. Der Erfolg glückte, als die SPD-Abgeordnete Ingrid Holz- hüter sich des Themas annahm und für die Förderung ab 1991 sorgte. Nichtsdestotrotz galt Strohhalm (immer noch) als grünennahes Projekt, weil es nach 1995 dann doch mit Anfragen und Anträgen durch Bündnis 90/DIE GRÜNEN unterstützt wurde.

Bis im Oktober 1994 der Artikel „Pädos bei den Grünen“ in den Stachligen Argu- menten erschien (nach vielen Mühen, Enttäuschungen und langem Verschobenwerden), blieb die geringe Akzeptanz der Haltung der Kreuzberger Frauengruppe auf Landes- ebene bestehen. Die anschließende öffentliche Diskussion – auch mit den Mitgliedern des Abgeordnetenhauses Albert Eckert und Christian Pulz – machte einiges deutlich. Die Bedrohung der Kreuzberger Frauen durch die Mitglieder des Nerother Wandervogel, die im Schwulenbereich aufliefen, hatte eine klare, endgültige und eindeutige Distanzierung des neuen Vorstandes zur Folge. Dem geplanten Parteiausschluss konnte Fred Karst (mehrfach wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt) nur durch seinen kurzfristigen Austritt im Mai 1995 zuvor kommen.

Außerdem wurde die Kreuzberger Frauengruppe Ende 1994 schließlich eingeladen, der Abgeordnetenhaus-Fraktion das Thema sexueller Missbrauch inklusive Pädosexua- lität vorzustellen. Die langjährige Fraktionsvorsitzende Sibyll Klotz stellte sich daraufhin grundsätzlich und solidarisch an die Seite der Frauengruppe und hat dies in den folgen- den Jahren z.B. in Bezug auf die Zusammenarbeit mit Strohhalm e.V. eingehalten.

66 131

3.5 Die Rolle der Gremien und Parteistrukturen

Die AL hat sich bewusst – im Gegensatz zu den anderen Parteien – eine Struktur gege- ben, wonach das Mitglied seine Rechte entweder in einem Bezirk oder in einem politi- schen Bereich wahrnehmen kann. Es sollte z.B. ein Interessent für Gesundheitspolitik nicht gezwungen sein, sich auch noch um die Belange seines Wohnbezirkes zu küm- mern, wenn er dies nicht wollte.

Dieser zunächst sehr lebendige sogenannte Dualismus zwischen Bereichen und Bezirken verschob sich im Laufe der Jahre quantitativ und qualitativ immer mehr zu den Bezirken, weil die Möglichkeit, Politik aktiv zu gestalten, dort in den Bezirksverordneten- versammlungen (BVV) und bezirklichen Gremien mannigfaltiger war. In der Zeit der gro- ßen Programmdebatten in den Anfangsjahren war dies noch anders. Es gab einen klaren Auftrag an die Bereiche, die jeweilige Programmatik weiterzuentwickeln, in Interaktion mit Initiativen und sozialen Bewegungen. Man war dem Selbstverständnis nach Bewe- gungspartei. Infolgedessen verstanden sich die AL-Gremien primär als Moderatoren die- ses Diskurses, die die entsprechenden Papiere verteilten und den Diskussionsprozess im Delegiertenrat, auf häufigen MVV oder in Spezialforen gestalteten.

Die Bezeichnung Geschäftsführender Ausschuss (GA) war zutreffend für diese reduzierte Rolle. Zunächst gab es auch keine Sprecherfunktion des GA, die Tätigkeit im GA war immer befristet. Man wollte keinen starken Parteivorstand, man wollte im Grunde gar keinen. Die Angst vor einer abgehobenen Funktionärsschicht war bestimmend. Hierin sah man einen Hauptgrund für Fehlentwicklungen, z.B. bei der SPD.

Mittel, einer solchen Verselbstständigung der Führung zu begegnen, waren zum einen das imperative Mandat, das insbesondere die ParlamentarierInnen an die Be- schlüsse der AL-Basis binden sollte. Daneben gab es als deutliches Symbol des Egali- tären den Einheitslohn in Höhe eines fiktiven Facharbeiterlohnes (Vorbild der Pariser Kommune). So erhielt die Fraktionsvorsitzende dieselben Bezüge wie die sog. Büro-Igel, die MitarbeiterInnen im Parteibüro. Schließlich sollten eine strikte Zweijahresrotation und die halbjährliche Rotation der Fraktionsvorsitzenden bewirken, dass Führungsfunktionen immer nur temporär ausgeübt wurden.

Dieses Fehlen einer formalen Hierarchie gab den Bereichen viel Spielraum. Ver- vielfältigt und verteilt wurde alles. Eine Zensur irgendeines Papiers fand nicht statt, es sei denn im Extremfall, wenn z.B. ein Assistent des GA die Bombardierung des Silicon Valley forderte.

Dies erklärt allerdings noch nicht das Vorwort des GA zu der Broschüre „Ein Herz für Sittenstrolche“ im Jahr 1980. Hier hat er sich ohne jedes Problembewusstsein vor den

132 67

Karren des Schwulenbereichs spannen lassen, der zu dieser Zeit als Lobby der Pädo- philen-Bewegung agierte.

Bei den Verabschiedungen von Wahlprogrammen legten die Bereiche ihre um- fangreichen Programmteile schriftlich vor. Diese wurden sodann in mehreren Wochen- end-MVV Abschnitt für Abschnitt abgestimmt, ergänzt und verändert. So wurde zwar 1984 im Programmteil „Schwulsein ist politisch“ die später als Minderheitsvotum gekenn- zeichnete Passage zur Streichung der Paragrafen 174 (Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen) und 176 (Sexueller Missbrauch von Kindern) Strafgesetzbuch (StGB) eingebracht und niedergestimmt, nicht aber undeutlichere Formulierungen, die so den Weg ins Wahlprogramm fanden:

„Sexualität als solche darf nicht strafbar sein. Der derzeitige Abschnitt 13 des StGB über Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung kommt diesem An- spruch nicht nach, sondern wird missbraucht, um die überkommene Sexualmoral Unbeteiligter zu schützen – eine Sexualmoral von Eltern, Erziehern, Lehrern, die Kindern und Jugendlichen noch immer das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper vorenthalten. Wir fordern die Veränderung des Sexualstrafrechts, insbe- sondere die sofortige und ersatzlose Streichung des §175. […] Im Hitlerfaschis- mus wurden auf der Grundlage der §§ 174-176 Schwule und Lesben als ‚Volks- schädlinge‘ und ‚bevölkerungspolitische Blindgänger‘ verfolgt. Hunderttausende kamen in KZ`s um.“162 Das bedeutete zunächst, dass die aus dem Text genommenen §§ 174 und 176 StGB wieder auftauchten und bei dem Hinweis auf die NS-Diktatur niemand eine nochmalige nervige Auseinandersetzung führen wollte, ob ihre Erwähnung hier notwendig sei. Auch eine Diskussion, welche Änderungen über die Abschaffung des § 175 StGB (Homosexu- elle Handlungen) hinaus denn angestrebt würden, fand nicht statt. Heute werden solche Programmaussagen so verstanden, wie sie von den Initiatoren auch gemeint waren. Das Verbleiben solcher Aussagen im Programm war auch eine Folge davon, dass die inhalt- liche Federführung über die Programmteile immer bei den jeweiligen Bereichen blieb. Es wäre zu dieser Zeit undenkbar gewesen, dass eine Gruppe von Personen etwa einen alternativen Programmentwurf zum Teil „Schwulsein ist politisch“ geschrieben hätte.

Was für die Weiterentwicklung der Programmatik galt, galt erst recht für die Publika- tionen der AL. Mitgliederrundbrief und Delegiertenratsinfo waren Kompendien einge- reichter Beiträge ohne redaktionellen Anspruch. Dies änderte sich mit den gewählten Redaktionen von Zentral – Stachel und Stachligen Argumenten, denen ein Statut Unab- hängigkeit von allen Gremien zubilligte. Sie verstanden ihre Arbeit zwar konzeptionell

162 Das Schwulenprogramm der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz zu den Berliner Wahlen 1985, ASM, Politische Gruppierungen/Parteien, AL.

68 133

und forderten Artikel an, redigierten diese aber nicht inhaltlich und wollten weiter in altem AL-Geist den herrschaftsfreien Diskurs. Und der liefert Stoff bis heute.

3.6 Die Rolle der Abgeordnetenhausfraktion

Zusammenfassung

Die Straffreistellung sogenannter einvernehmlicher Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern wurde in der ersten Abgeordnetenhausfraktion zwischen 1981 und 1985 quasi nur im Auftrag des AL-Schwulenbereichs behandelt. Dabei traten die Abgeordne- ten selbst thematisch und parlamentarisch diesbezüglich nicht in Erscheinung, sondern boten eine Plattform für Diskussionen zum Thema. In den Abgeordnetenhausfraktionen zwischen 1985 und 1995 ist das Thema mit den offen schwulen Abgeordneten der Frak- tion verbunden. Sie waren in diesem Zeitraum parteilos und im Vorfeld der Listenaufstel- lungen vom Treffen der Berliner Schwulengruppen nominiert worden, dem auch der Schwulenbereich der AL bzw. von Bündnis 90/DIE GRÜNEN angehörte. Lediglich Chris- tian Pulz wurde von der Ost-Berliner Initiative für Frieden und Menschenrechte nominiert. Mit jeweils individuellen Abstrichen vertraten sie die politische Linie des Schwulenbe- reichs, des Treffens der Berliner Schwulengruppen und des Bundesverbandes Homose- xualität. Wenn die Möglichkeit von einvernehmlichem Sex zwischen Erwachsenen und Kindern von diesen Abgeordneten thematisiert wurde, meinten sie wohl in der Regel gleichgeschlechtlichen Sex insbesondere zwischen Männern und Jungen. Das Thema Missbrauch und sexuelle Gewalt gegen Mädchen wurde vornehmlich von den Frauen- politikerinnen der Fraktion parlamentarisch behandelt und vorangetrieben. Erst 1994 wurden Jungen auch in der Fraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN (AL)/UFV ausdrücklich als Zielgruppe der Präventions- und Hilfsangebote im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch in den Blick genommen.

Das Thema Pädosexualität spielte bis auf den Zeitraum 1985-1987 in der Frak- tion eine sehr untergeordnete Rolle, während das Thema Missbrauch und sexualisierte Gewalt gegen Kinder von 1986 an in der Fraktion an Bedeutung gewann.

Zu den zentralen Themen in der Lebensweisenpolitik gehörten ab 1989 der Auf- bau des Referats für gleichgeschlechtliche Lebensweisen sowie antihomosexuelle Ge- walt und der Umgang mit HIV/Aids. Die Auseinandersetzungen zum Thema Pädosexua- lität führten die jeweiligen offen schwulen Abgeordneten ab 1989 vor allem außerhalb des Parlaments mit der Kreuzberger Frauengruppe der Grünen/AL.

134 69

Anders als im Landesverband der Partei oder dem Kreisverband Kreuzberg, wo es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit dem Schwulenbereich kam, scheint das Thema im Plenum der Fraktion oder zwischen einzelnen Fachabgeordneten nur sehr selten disku- tiert worden zu sein. Zumindest erinnert sich keiner der Beteiligten daran. Offenbar fand auch keine problematisierende Diskussion zu den Themen „Reform des Sexualstraf- rechts“ mit dem Ziel, sogenannte einvernehmliche Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern straffrei zu stellen einerseits und sexuellem Missbrauch von Kindern und Ju- gendlichen andererseits statt. Eine Ausnahme bildete eine Fraktionsdiskussion kurz vor Ende des Untersuchungszeitraums am 29. November 1994. Bis dahin hatten sich die meisten heterosexuellen Abgeordneten in der Fraktion nicht an dem Konflikt beteiligt. Einige der Befragten hatten nur noch eine vage Erinnerung an die Kontroverse in den Stachligen Argumenten in den 1990er Jahren. Sibyll Klotz, ab Ende 1990 zuständig für Frauen und Mädchen und zu dieser Zeit noch nicht Mitglied von Bündnis 90 bzw. den Grünen (AL), kannte als ehemalige Ostberlinerin den Vorlauf der Debatte nicht. Barbara Oesterheld, streitbare Vertreterin der Kreuzberger Frauen in dieser Frage, wurde erst 1995 Mitglied der Fraktion, als der Konflikt vorbei war.

Der Abolitionismus schien im politischen Alltag der Fraktionsarbeit kaum eine Rolle zu spielen und erst recht nicht in Verbindung mit dem Thema Pädosexualität. Die Fraktion beschränkte sich mehr auf Bemühungen zur Abschaffung der Bestrafung von Bagatelldelikten, für einen erträglicheren Alltag im Strafvollzug und bessere Resozialisie- rungschancen der Strafgefangenen allgemein.

Durch die Nominierung und Wahl offen schwuler Abgeordneter, die keine oder keine klare Abgrenzung zur Pädosexualität vornahmen, mussten sich die Mitglieder des Schwulenbereichs, die auch nach 1985 weiterhin gegen die Mehrheitsmeinung des Lan- desverbandes die Abschaffung der §§ 174 und 176 StGB forderten, ermutigt fühlen, diese Position weiterhin zu vertreten. Nach der Verurteilung von Fred Karst und den Re- aktionen auch aus der Fraktion wurde spätestens durch die personelle Besetzung mit Anselm Lange als lesben- und schwulenpolitischem Sprecher nach der Wahl 1995 das Kapitel jeglicher Toleranz gegenüber Pädosexualität beendet. Eine Aufarbeitung fand auch hier bis zum Jahr 2010 nicht statt.

70 135

Die Fraktion als gelegentliches Forum des Schwulenbereichs (1981-1985)

Die Abgeordneten der ersten Fraktion im Abgeordnetenhaus haben sich kaum aus eige- ner Initiative mit dem Thema Sexualstrafrecht befasst. Alle diesbezüglichen Aktivitäten der Fraktion gingen wahrscheinlich auf Initiativen des Schwulenbereichs zurück.

Mit Peter Finger zog 1981 der erste offen Schwule ins Abgeordnetenhaus von Berlin ein. Er verstand sich jedoch nicht als Schwulenpolitiker, sondern engagierte sich in der Bau- und Mietenpolitik. Er war von 1981 bis 1983 Mitglied der ersten AL-Fraktion und ein halbes Jahr lang Fraktionsvorsitzender.

Vermutlich auf Initiative des Schwulenbereichs lud die AL-Fraktion 1982 zu einer Veranstaltung mit dem Ziel, die §§ 174 bis 176 StGB abzuschaffen. Diese Einladung erging auch an viele andere Organisationen, darunter die AHA, die Schwusos, die AL- Gruppe für Frauen und Kinder und die Deutsche Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pä- dophilie (DSAP).163 Der Forderung, eine Initiative zur Abschaffung der §§ 174 bis 176 StGB einzubringen, kam die Fraktion nur insoweit nach, als sie 1983 einen Gruppenan- trag für eine Bundesratsinitiative zur Abschaffung des § 175 StGB mit initiierte, den sie- ben der neun AL-Fraktionsmitglieder, vierzehn SPD- und zwei FDP-Fraktionsmitglieder einbrachten.164 Die Begründung im Plenum und im Fachausschuss hielt dazu aber die SPD-Abgeordnete Gisela Fechner. In den Debatten fand sich kein Wort zu weitergehen- den Forderungen.

Der Antrag wurde im Sommer 1984 von der Mehrheit der Abgeordneten abge- lehnt. Dies kommentierte die AL-Fraktion in der Siegessäule mit einer Anzeige, in der sie die Forderung nach der Abschaffung des § 175 StGB folgendermaßen ergänzte: „Wei- terhin fordern wir eine Reform des gesamten Sexualstrafrechts, damit einvernehmliche Sexualität nicht mehr mit Strafe belegt wird, wie dies die §§ 174 und 176 auch tun“ 165. Die Fraktion warb in der Folgeausgabe der Siegessäule auch mit einer weiteren Anzeige für ein „Forum Sexualität“, das am 24. Oktober 1984 in der AL-Landesgeschäftsstelle in der Badenschen Straße stattfand. Die Anzeige enthielt die Fragen: „Abschaffung aller Knäste?“ und „einvernehmliche Sexualität?“166. In einem Artikel derselben Ausgabe war-

163 Institut für Demokratieforschung der Ge org-August-Universität Göttingen: Die Pädophiliedebatte bei den Grünen im programmatischen und gesellschaftlichen Kontext. Erste und vorläufige Befunde zum Forschungsprojekt; abge- rufen am 1.1.2015, http://www.demokratie-goettingen.de/content/uploads/2013/12/Paedophiliedebatte-Gruene-Zwi- schenbericht.pdf, S. 84. 164 Antrag über Änderung des Sexualstrafrechts, Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 9/1020, 18.2.1983. 165 Anzeige der Fraktion Alternative Liste im Abgeordnetenhaus Berlin, in: Siegessäule, Nr. 6, September 1984. 166 Anzeige der Fraktion Alternative Liste im Abgeordnetenhaus Berlin, in: Siegessäule, Nr. 7, Oktober 1984.

136 71 ben Kurt Hartmann und ein Erwin für diesen Kongress und stellten die Frage: „Ist einver- nehmliche Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern überhaupt möglich aufgrund der bestehenden Machtstrukturen?“167.

Der damalige Fraktionsvorsitzende Jürgen Wachsmuth und seine Nachfolgerin Kordula Schulz-Asche, beide ab 1983 in der Fraktion, können sich vage an die Diskus- sion über die geplanten Anzeigen erinnern und vermuten, dass damals Parteimitglieder in die Fraktion gekommen sind, um diese zu beantragen. Das habe es damals häufiger gegeben. Derartige Entscheidungen fielen im Plenum der kleinen Fraktion.168 Das „Fo- rum Sexualität“ ergab keinen neuen Schub für die Forderung nach Abschaffung der §§ 174 und 176 StGB.

Zwei Züge fahren parallel (1985-1989)

Die zweite Legislaturperiode mit AL-Beteiligung spiegelt die Ambivalenz wider, mit der das Thema Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern bis Anfang 1995 in der Frak- tion behandelt wurde. Der Abgeordnete Stefan Reiß reichte eine Reihe von kleinen An- fragen zu Erkenntnissen über Straftaten nach dem Sexualstrafrecht ein. Diese waren von dem pädosexuellen Schwulenbereichsmitglied Dieter Ullmann vorformuliert worden. An- dererseits stellte die Fraktion nur wenig später – initiiert durch die weiblichen Fraktions- mitglieder – die erste Große Anfrage zum Thema Gewalt gegen Kinder in der Familie. Hinzu kam ein Antrag zu Hilfen für sexuell misshandelte Mädchen. Es ist auffällig, dass sich die AL-Fraktion beim Thema sexueller Missbrauch stark auf Mädchen konzentrierte. Wahrscheinlich tat sie dies, um die weiteren Bemühungen, den § 175 StGB abzuschaf- fen, nicht zu gefährden, da die CDU-Fraktion die Argumentationslinie, man müsse diesen wegen des Jugendschutzes aufrechterhalten, fortführte. Wie kompliziert sich diese Kons- tellation politischer Motive darstellte, zeigt sich an der Tatsache, dass es die Regierungs- fraktionen von CDU und FDP waren, die einen Ersetzungsantrag mit dem Ziel stellten, die Präventionsarbeit und die Hilfen bei sexuellem Missbrauch auf Kinder beiderlei Ge- schlechts zu erweitern.

Der parteilose Stefan Reiß, der später im Referat für gleichgeschlechtliche Le- bensweisen der Senatsverwaltung für Frauen, Jugend und Familie mitarbeitete, zog mit der Wahl 1985 für die AL ins Abgeordnetenhaus ein. Er war in der Juristengruppe der AHA aktiv gewesen. Er wollte im Abgeordnetenhaus eigentlich ein breites Spektrum der

167 Kurt und Er win: AL diskutiert Sexualstrafrecht, in: Siegessäule, Nr. 7, Oktober 1984. 168 Interview mit Kordula Schulz-Asche und Jürgen Wachsmuth, 18.12.2014.

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Schwulenpolitik abbilden, aber es fehlte offensichtlich an Unterstützung durch die Basis im TBS und im AL-Schwulenbereich. So habe er nie eine Große Anfrage zur Situation der Homosexuellen in Berlin gemacht, weil es an Zuarbeit gefehlt habe. Lediglich Dieter Ullmann habe seine „Pädo-Anfragen“ an ihn weitergegeben.169 Diese seien von der AG Pädosexualität erarbeitet worden und hätten, so vermutet Stefan Reiß rückblickend, dazu gedient, das Wissen der Behörden über die Aktivitäten der Pädosexuellen, z. B. im Kreuzberger Falckensteinkeller, abzufragen. Fragen zu Straffälligkeiten von Jugendli- chen nach dem Sexualstrafrecht sollten wohl die Schutzaltersgrenzen in Frage stellen.170 Tatsächlich stellte Stefan Reiß im Sommer 1985 neun Kleine Anfragen zum Themen- komplex Homosexualität, Razzien und Schließung von Lokalen sowie Sexualstraftaten nach den Paragrafen 175, 176, 177, 178 und 179 StGB von u. a. Jugendlichen und noch nicht strafmündigen Personen.171 Viele dieser Anfragen wurden vom Senat nicht voll- ständig beantwortet, weil die Ermittlungsbehörden nach eigener Auskunft nicht über ent- sprechende Daten verfügten. Auffällig ist eine Anfrage zu Sexualstraftaten in Berlin Kreuzberg (SO 36), in der Stefan Reiß explizit danach fragte, ob dem Senat bekannt sei, ob der subjektive Eindruck einer Sozialarbeiterin beim Gesundheitsamt Kreuzberg zu- treffe, dass insbesondere die Delikte der §§ 175 und 176 StGB in diesem örtlichen Be- reich häufiger vorkämen als im übrigen Stadtgebiet. Der Senat antwortete, dass ihm keine Erkenntnisse vorlägen, um dies zu bestätigen.172

Nach seinem rotationsbedingten Ausscheiden aus dem Abgeordnetenhaus be- klagte sich Stefan Reiß in einem Interview der Siegessäule, dass der AL-Schwulenbe- reich sich im Wesentlichen auf die Verteidigung der Pädo-Positionen gegen den Rest der Bewegung festgelegt hätte und nur ab und zu anderes diskutierte.173 Heute sagt er, er hätte es damals begrüßt, wenn der Schwulenbereich wegen der Unterwanderung durch

169 Interv iew mit Stefan Reiß : An schwuler Unterstützung fehlte es, in: Siegessäule, 4. Jahrgang, Nr. 5, Mai 1987. 170 Interview mit Stefan Reiß, 9.12.2014. 171 Kleine Anfrage Nr. 415 des Abgeordneten Stefan Reiß (AL) über Schließung von Lokalen in der Motzstraße, mit Antwort vom 22. Juli 1985, in: Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 10/185, S. 48. Kleine Anfrage Nr. 562 des Abgeordneten Stefan Reiß (AL) über Polizeiliche und staatsanwaltliche Ermittlungen auf Grund von Razzien in Berliner Lokalen, mit Antwort vom 12. August 1985, in: Abgeordnetenhaus von Berlin, Druck- sache 10/191, S. 34. Kleine Anfrage Nr. 563 des Abgeordneten Stefan Reiß (AL) über Razzien (Personenüberprüfungen) in Berliner Lo- kalen, mit Antwort vom 9. August 1985, in: Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 10/191, S. 34. Kleine Anfrage Nr. 579 des Abgeordneten Stefan Reiß (AL) über Anwendung des § 175 StGB im Land Berlin, mit Antwort vom 13. August 1985, in: Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 10/191, S. 36. Kleine Anfrage Nr. 582 des Abgeordneten Stefan Reiß (AL) über Beteiligung Homosexueller beim Delikt der Körper- verletzung, mit Antwort vom 13. August 1985, in: Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 10/191, S. 37 f. Kleine Anfrage Nr. 604 des Abgeordneten Stefan Reiß (AL) über Kriminalstatistik zum 13. Abschnitt des Strafgesetz- buches, mit Antwort vom 15. August 1985, in: Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 10/191, S. 39. Kleine Anfrage Nr. 693 des Abgeordneten Stefan Reiß (AL) über Ermittlungsverfahren gegen Kinder, mit Antwort vom 16. September 1985, in: Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 10/267, S. 33. Kleine Anfrage Nr. 759 des Abgeordneten Stefan Reiß (AL) über Unterbringung jugendlicher Straftäter im „Haus Kieferngrund“, mit Antwort vom 16. September 1985, in: Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 10/286, S. 27. 172 Kleine Anfrage Nr. 734 des Abgeordneten Stefan Reiß (AL) über Sexualstraftaten in Berlin-Kreuzberg (SO 36), mit Antwort vom 4. Oktober 1985, in: Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 10/322, S. 27 f. 173 Interview mit Stefan Reiß: An schwuler Unterstützung fehlte es, in: Siegessäule, 4. Jahrgang, Nr. 5, Mai 1987.

138 73 die Pädosexuellen 1986 aufgelöst worden wäre, wozu es damals Überlegungen gegeben hätte. In der Rückschau räumt er selbstkritisch ein, dass die Juristen der AHA und auch er selbst sich damals nicht mit den Folgen des Missbrauchs für die Kinder beschäftigt hätten. Die Schwulen hätten das damals nicht als ihre Aufgabe empfunden.174

In der Legislaturperiode 1985-1989 nahm die AL-Fraktion ihre systematische par- lamentarische Arbeit zu Gewalt und sexuellem Missbrauch an Kindern auf. In einer Gro- ßen Anfrage vom 12. März 1986 fragten Ingvild Kiele, Heidi Bischoff-Pflanz und die an- deren Mitglieder der AL-Fraktion unter der Überschrift „Gewalt gegen Kinder in Familien“ neben physischer und seelischer Gewalt auch nach sexueller Motivation von Gewalt. Der Senat wurde auch nach seinen Erkenntnissen über Geschlecht und Alter der misshan- delnden Erwachsenen und der misshandelten Kinder befragt. Die Fraktion fragte nach Symptomen und Entwicklungsstörungen bei Kindern als Folge von Kindesmisshandlun- gen. Die FragestellerInnen intendierten eine Abkehr von täterfixierten Handlungsansät- zen zugunsten von Hilfsprogrammen für die Betroffenen und fragten in dem Zusammen- hang auch nach der Beurteilung der Arbeit der Frauenhäuser, des Kinderschutzzentrums und des Vereins Wildwasser.175

Während der Begründung zu dieser Anfrage wurde der AL-Abgeordneten Ingvild Kiele vom Abgeordneten Manfred Jewarowski (CDU) die Zwischenfrage gestellt, wie sie zu dem Antrag stehe, den die nordrhein-westfälischen Grünen zur Aufhebung der Straf- androhung wegen sexueller Handlungen an Kindern gestellt hätten. Darauf erfolgte ein Zwischenruf von Renate Künast: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!“176, der auf den konkreten Inhalt des Antrags der nordrhein-westfälischen Grünen Bezug nahm. Ing- vild Kiele antwortete auf die Zwischenfrage laut Protokoll wie folgt:

„Ich möchte (...) auf eine spätere Möglichkeit verweisen, diese Frage zu diskutie- ren, weil ich den sexuellen Missbrauch von Kindern ausdrücklich bei dieser Ge- schichte heraushalten möchte. Der ist sowohl innerfamiliär wie auch gesellschaft- lich ganz anders begründet. Wir werden dazu einen Antrag einbringen und sind dann gern bereit, darüber etwas differenzierter zu diskutieren. Sie wollen mich jetzt doch hier, so glaube ich, nur vorführen.“177 Sowohl die Antworten der Senatorin Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP) als auch der wei- tere Verlauf der Debatte brachten keine neuen Erkenntnisse zu sexuellem Missbrauch, weil sich alle RednerInnen schwerpunktmäßig auf das Thema Gewalt in der Familie be- schränkten.

174 Inte rview mit Stefan Reiß, 9. 1 2.2014. 175 Große Anfrage der Fraktion AL über Gewalt gegen Kinder in Familien, Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 10/651, 11.4.1986. 176 Abgeordnetenhaus von Berlin: Plenarprotokoll – 10. Wahlperiode, 30. Sitzung vom 29. Mai 1986, S. 1702. 177 Protokoll der 30. Sitzung des Abgeordnetenhauses von Berlin vom 29. Mai 1986, S. 1702.

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Am 22. September 1986 folgte ein umfassender Antrag zu Hilfen für sexuell misshandelte Mädchen. Außer der Forderung nach Verbot von Pornographie mit Kindern und einem kurzen Verweis auf die Statistik bezüglich sexuellen Missbrauchs von Mädchen und Jun- gen in der Familie in der Begründung bezog sich der Antrag ausschließlich auf Mäd- chen.178 In der Anhörung zum Besprechungspunkt „Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen“ auf Antrag der SPD im Ausschuss für Jugend und Familie am 24.9.1986, wozu der vorab überwiesene Antrag der AL hinzugezogen worden war, wurde von mehreren Anzuhörenden ausdrücklich auf den sexuellen Missbrauch von Jungen verwiesen.179 Dabei wurden mehrere Statistiken zitiert, die von einem Verhältnis von ca. zwei Dritteln Mädchen und einem Drittel Jungen bei den Opfern sprachen. Bei der Anhö- rung kam auch Frauke Homann zu Wort, die damals im Gesundheitsamt Kreuzberg für das Thema sexueller Missbrauch zuständig war. Sie begann ihre Rede mit dem Hinweis, dass sexueller Missbrauch auch häufig bei Jungen vorkomme, allerdings viel häufiger im außerfamiliären Bereich mit Tätern, die als Betreuer, Trainer oder Erzieher den Kindern bekannt seien. Nachfragen der CDU-Fraktion über Täter und Orte bezüglich des sexuel- len Missbrauchs von Jungen beantwortete sie leider nicht mehr, weil sie sich unter Zeit- druck auf einen anderen Schwerpunkt konzentrierte. Sicher auch als Konsequenz aus der Anhörung änderten die CDU/FDP-Fraktionen den AL-Antrag dahingehend, dass an fast allen Stellen der Begriff „Mädchen“ durch „Kinder“ ersetzt wurde.180

Die innerparteiliche Debatte zum Artikel von Christian Thiel alias „Egon“ im Kreuzberger Stachel über den Verdacht sexuellen Missbrauchs an einem Jungen durch den Herausgeber von „Kreuzberg inform“ ereignete sich kurz vor Einbringung des An- trags zu sexuellem Missbrauch von Mädchen und der oben beschriebenen Anhörung. Diese Parallelität zeigt, wie kompliziert sich dieses Spannungsfeld zu diesem Zeitpunkt darstellte. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass zu der Zeit noch immer jeglicher Sexualkontakt zwischen volljährigen Männern bzw. Männern und männlichen Jugendli- chen unter 18 Jahren durch den § 175 StGB strafbar war. Das Ziel, den § 175 StGB aufzuheben, sexuellen Missbrauch von Mädchen und Jungen zu bekämpfen und es gleichzeitig denjenigen aus dem Schwulenbereich Recht zu machen, die sich für Straf- freiheit für vermeintlich einvernehmlichen Sex zwischen Erwachsenen und Kindern ein- setzten, musste eine Fraktion überfordern, die zudem alle zwei Jahre rotierte, also per- sonell komplett ausgetauscht wurde.

178 Antrag der Fraktio n AL über Hilfen für sexuell misshandelte Mädchen, Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 10/989, 3.10.1986. 179 Abgeordnetenhaus von Berlin: Wortprotokoll, Ausschuss für Jugend und Familie, 20. Sitzung, 24.9.1986. 180 Ersetzungsantrag der Fraktionen der FDP und der CDU zum Antrag der Fraktion der AL (Drucksache 10/989) über Hilfen für sexuell misshandelte Mädchen, in: Anlage 1 zum Protokoll JugFam 10/29, 25.2.1987.

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Die rotgrüne Regierungsphase überlagert den Streit (1989-1990)

Obwohl in den Wahlprogrammen 1989 (genau wie 1990) das Sexualstrafrecht ausge- spart blieb, schwelte während der kurzen rot-grünen Regierungsphase der programma- tische Streit um das Thema Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern weiter. Eine Kontroverse in den Stachligen Argumenten wurde durch einen Beitrag des schwulen Ab- geordneten Albert Eckert ausgelöst und rief die Lesben in der AL auf den Plan, die in dieser Zeit begannen, sich eigenständig zu organisieren. Überlagert wurde dieser Streit vom gemeinsamen erfolgreichen Bestreben für ein Referat für gleichgeschlechtliche Le- bensweisen und durch den Kampf gegen Aids. Die Mehrheit der Fraktion und die Partei insgesamt waren in der kurzen rot-grünen Regierungsphase und spätestens mit dem Fall der Mauer mit anderen Themen beschäftigt.

Erneut wurden für die Abgeordnetenhauswahl 1989 zwei parteilose Kandidaten durch das Treffen der Berliner Schwulengruppen nominiert, von der AL-MVV bestätigt und auch ins Abgeordnetenhaus gewählt: Albert Eckert und Dieter Telge. Albert Eckert war Vorstandsmitglied der Bürgerrechtsvereinigung Humanistische Union, wo er im Ar- beitskreis Sexualstrafrecht aktiv war, und Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AHS).181 Er hatte in den 1980er Jahren mehrere Artikel zum Themenkomplex Pädosexualität für die Siegessäule geschrieben, u.a. ein Portrait über die AG Pädophilie Berlin.182 Dieter Telge bezeichnete sich, obwohl parteilos, als Mitglied des Schwulenbe- reichs der AL und war als solcher auch Mitglied im Delegiertenrat.183 Beide vertraten die Linie zur Liberalisierung des Sexualstrafrechts, in der eine einvernehmliche Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern straffrei bleiben sollte. Dieter Telge wurde in der Bild am Sonntag vom 19. März 1989 auf die Frage, wie er zur Forderung der Berliner Schwulengruppen stehe, dass Sex mit Kindern straffrei bleiben solle, mit folgender Ant- wort zitiert:

„Bestrafung ist kein Schutz. Die Gesellschaft muss so verändert werden, dass die Kinder von Erwachsenen weniger abhängig sind. Je unabhängiger das Kind vom Erwachsenen ist, desto eher kann man auch gleichgeschlechtliche Hand- lungen zwischen beiden akzeptieren.“ Ihm seien vor seinem ersten Mann mit 18 Jahren doch „einige wesentliche Jahre verloren gegangen“.184 Dieses Zitat muss wiederum vor dem Hintergrund bewertet werden, dass der § 175 StGB, der schwule Sexualkontakte zwischen volljährigen Männern und männlichen Jugendli- chen unter 18 Jahren verbot, noch existierte. Albert Eckert und Dieter Telge befanden sich mit derartigen Aussagen auf der programmatischen Linie des Treffens der Berliner

181 Handbuch des Abgeordnetenhauses von Berlin, 11. Wahlperiode – Mai 1989. 182 Albert Eckert: Pädobewegung vorübergehend geschlossen, in: Siegessäule, Juli 1987, S. 14f. 183 Handbuch des Abgeordnetenhauses von Berlin, 11. Wahlperiode – Mai 1989. 184 Menso Heyl: Der rosa Dieter von den Grünen, in: Bild am Sonntag, 19.3.1989.

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Schwulengruppen und des Bundesverbandes Homosexualität, während der grüne Bun- desverband diese Linie mit dem Beschluss des Bundeshauptausschusses am 22. April 1989 ausdrücklich verließ.

In der kurzen rot-grünen Koalition lag allerdings der Schwerpunkt der Aktivitäten Eckerts und Telges in der Durchsetzung und Verwirklichung des Referats für gleichge- schlechtliche Lebensweisen, das am 15. November 1989 seine Arbeit aufnahm. Dane- ben erreichten sie die Einsetzung des ersten Vertrauensbeamten für Schwule bei der Berliner Polizei. Was die Tätigkeit des Referats anging, spielte das Thema Pädosexuali- tät nach aktuellem Wissen nie eine Rolle. Außerdem beschäftigte das Thema HIV/Aids die Fraktion, insbesondere Dieter Telge, intensiv.

Für heftigen Widerspruch der Lesben in der AL sorgte Albert Eckert mit seinem Artikel „Lustvoll Leben in Berlin“ aus dem Mai 1989, in dem er seine Agenda der Lebens- weisenpolitik vorstellte. In dem Artikel, der erst im Delegiertenrats-Info und später auch in den Stachligen Argumenten erschien, heißt es:

„Lebensweisen-Politik kann jetzt und heute begonnen werden. Dabei wird es we- nig sinnvoll sein, mit den heißesten Themen anzufangen. Während ich davon ausgehe, dass einvernehmliche Sexualität mit Kindern und Erwachsenen mög- lich ist und entkriminalisiert werden sollte (was keineswegs Straffreiheit für ver- gewaltigende Väter bedeutet!), halten andere dies für gänzlich ausgeschlos- sen.[...] Auch mit der Forderung nach Abschaffung der staatlichen Ehe oder dem Reizthema PorNo!, mit dem die AL im letzten Jahr Staatsanwaltschaften in Sexs- hops hetzte, empfiehlt es sich wahrlich nicht, in eine akzeptierende Lebenswei- sen-Politik einzusteigen.“185 Der Artikel stieß auf heftigen Widerspruch bei den Lesben in der AL, die insbesondere die Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern und die PorNo-Debatte zum Anlass nahmen, Albert Eckert in einem offenen Brief heftig zu widersprechen.186 An Stelle von Albert Eckert antwortete zunächst der Schwulenbereich auf diesen Anwurf der Lesben und gab ironisch an, sich auf die nahende Diskussion zu „Kindersex“, Pornografie und Prostitution zu freuen.187

Stefan Etgeton, damals noch parteiloser Mitarbeiter der Abgeordnetenhausfrak- tion auf Werkvertragsbasis, schrieb im September 1990 in den Stachligen Argumenten zum Thema einen umfassenden Beitrag und resümierte:

185 Albert Eckert: Lustvoll leben in Berlin, in: Stachlige Argumente, Nr. 57, Juli 1989, S. 44. 186 Lesben in der AL: Lebensweisenpolitik, in: Stachlige Argumente, Nr. 58, September 1989, S. 22-24. 187 Delegiertenrats-Info, 21.6.1989, AGG, C Berlin I.1, 10.

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„Weder die Verharmlosung des pädophilen Verlangens noch eine Gleichsetzung mit Gewalt halten m. E. einer differenzierten Betrachtung stand. Den Pädophilen aber dafür zu bestrafen, dass Männer, die eben gerade keine Pädos sind, ihre sexuellen Bedürfnisse an Kindern befriedigen, ist absurd und verharmlost in Wirk- lichkeit gerade jene Gewalt, die es zu bekämpfen gälte.“188 In der parlamentarischen und außerparteilichen Öffentlichkeit wurde diese Kontroverse allerdings offensichtlich nicht wahrgenommen.

Befürworter der einvernehmlichen Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern in der Defensive (1990-1995)

In der ersten Gesamtberliner Legislaturperiode setzte sich die Zweigleisigkeit des Enga- gements, einerseits gegen sexuellen Missbrauch von Kindern durch die frauenpolitische Sprecherin der Fraktion Sibyll Klotz, andererseits die Aufrechterhaltung der These einer möglichen einvernehmlichen Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern durch die beiden offen schwulen Abgeordneten Albert Eckert und Christian Pulz fort. Erst gegen Ende der Legislaturperiode führte die scharfe Kontroverse zwischen der Kreuzberger Frauengruppe der AL und Albert Eckert bzw. dem Schwulenbereich zu einer offenen Kontroverse in einer Fraktionssitzung, in der Eckert und Pulz mit ihrer Position isoliert waren, wonach Pulz sich schließlich eindeutig für das Schutzalter 14 positionierte. Nach der Verurteilung von Fred Karst zu einer Bewährungsstrafe wegen sexuellen Miss- brauchs im Februar 1995 wandte sich die Fraktion mit ihrer Vorsitzenden Sibyll Klotz eindeutig gegen jeglichen Missbrauch und ging auf scharfe Distanz zu denen, die das innerparteilich anders sahen.

Für die Listenaufstellung der ersten Gesamtberliner Wahlen am 2. Dezember 1990 bestätigte die MVV die erneute Nominierung Albert Eckerts durch das TBS und platzierte ihn auf einem sicheren Listenplatz 13. Neben Albert Eckert zog als zweiter offen schwuler Abgeordneter Christian Pulz in die Fraktion ein. Er war für die Listenvereinigung Bündnis 90/Grüne/UFV von der Initiative für Frieden und Menschenrechte nominiert wor- den. Pulz war zuvor in der DDR seit 1982 in der Gruppe Arbeitskreis „Schwule in der Kirche – Arbeitskreis Homosexuelle Selbsthilfe“ aktiv gewesen. Pulz war schwulenpoliti- scher Sprecher und jugend- und familienpolitscher Sprecher der Fraktion. Albert Eckert war formal zwar nicht zuständig für das Thema Lesben- und Schwulenpolitik, blieb aber in diesem Bereich auch weiterhin aktiv.

188 Stefan Etgeton: Zum Thema: Pädophilie Beitrag zur Klärung einer bislang allzu verworrenen Diskussion, in: Stach- lige Argumente, Nr. 64, September 1990, S. 56-58.

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Christian Pulz war das Thema Pädosexualität nach eigener Aussage neu, weil es in der Lesben- und Schwulenbewegung der DDR keine Rolle gespielt habe. Noch vor dem Mauerfall Anfang 1989 hatte er einmal ein Treffen zum Thema organisiert, wo neben Pädophilen aus der West-Szene des Café Graefe auch ein Oberarzt der forensischen Psychiatrie der Charité und dessen Chefpsychologin teilnahmen, um sich ein Bild zu dem im Westteil der Stadt so viel diskutierten Thema zu machen.189 Nach außen und innerhalb der Fraktion agierten Albert Eckert und Christian Pulz solidarisch in der Toleranz gegen- über Pädosexuellen, auch wenn es Christian Pulz, wie er heute sagt, schon damals un- angenehm gewesen sei und er sich in der solidarischen Pflicht zu Eckert gesehen hätte. Er habe sich auch im Schwulenbereich nicht wohl gefühlt.190

Parlamentarisch wurden Albert Eckert und Christian Pulz gemäß der von Albert Eckert in den Stachligen Argumenten ausgegebenen politischen Agenda nur selten zu dem Thema Pädosexualität aktiv. Anlässlich einer Polizeirazzia gegen das zweite bun- desweite Treffen der Arbeitsgemeinschaft Pädophilie im Bundesverband Homosexualität im Café Graefe am 1. November 1991191 stellten sie allerdings eine Kleine Anfrage, in der sie dieses Treffen verteidigten. Die Polizei begründete ihr Vorgehen damals mit dem Erscheinen von zwei zehnjährigen Jungen, die den Versammlungsraum aufgesucht hät- ten.192

Für ihre gemäßigte Position in der Frage der Pädosexualität gerieten Albert Eckert und Christian Pulz zwischen die Fronten. Teilen des Schwulenbereichs waren sie nicht radikal genug, der Kreuzberger AL-Frauengruppe zu tolerant gegenüber Pädose- xuellen.

Albert Eckert machte in einem Brief 1993 an Fred Karst deutlich, dass er die von Karst gegründete Gruppe „Jung und Alt“ für eine Pädo-Selbsthilfegruppe hielt, was mit der Programmatik der Partei schwer zu vereinbaren wäre.193 Fred Karst wies den Vorwurf zurück und warf Eckert vor, sich der Kreuzberger Frauengruppe anzubiedern.194

Im Nachgang der Solidarisierung von Albert Eckert und Christian Pulz mit dem Pädophilenkongress im Café Graefe suchte die Kreuzberger Frauengruppe der Grü- nen/AL Kreuzberg in getrennten Gesprächen den Dialog mit Albert Eckert und Christian Pulz. Die Kreuzberger Frauengruppe schilderte den Verlauf dieser Gespräche 1994 in

189 Interv iew mit Christian Pulz, 9.12.2014. 190 Ebd. 191 André Altmann: Berliner Polizeieinsatz hat parlamentarisches Nachspiel, in: BVH Magazin, Dezember 1991, S. 22. 192 Kleine Anfrage Nr. 1449 der Abgeordneten Albert Eckert und Christian Pulz (Bündnis 90/Grüne (AL)/UFV) über antihomosexuelle Einsätze in Kreuzberger Kneipen, mit Antwort vom 17.12.1991, in: Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 12/1016, S. 22f. 193 Brief von Albert Eckert an den AL-Schwulenbereich, 26.4.1993, PTB. 194 Brief von Fred Karst an Albert Eckert, 10.5.1993, PTB.

144 79 dem Artikel „Pädos bei den Grünen“ in den Stachligen Argumenten.195 In diesem Artikel richteten die Kreuzberger Frauen heftige Vorwürfe an den Schwulenbereich, griffen aber auch die beiden Abgeordneten dafür an, dass sie „nicht gerade die wahren Streiter für die Rechte der Kinder und Jugendlichen“ seien. Auffällig bei beiden Abgeordneten sei nach Darstellung der Frauengruppe gewesen, dass sie sich eindeutig gegen jeglichen Missbrauch von Mädchen durch Männer aussprachen, allerdings beim Thema Sexualität zwischen Jungen und Männern entweder auf Nichtwissen über die Folgen für die Jungen (Pulz) oder wenigstens für die Utopie einer Einvernehmlichkeit (Eckert) plädierten.

Eine Erwiderung von Albert Eckert erschien in der Folgeausgabe im Dezember 1994 unter dem Titel „Warum ich Kindesmissbrauch verabscheue und trotzdem nicht alle Pädos hasse“. Hier unterschied Eckert noch einmal stark zwischen sexueller Gewalt ge- gen Kinder und der durch Zustimmung des Kindes vermeintlich legitimierten Beziehun- gen bzw. Sexualkontakten zwischen Pädophilen und Kindern. Eine Unterscheidung zwi- schen Mädchen und Jungen fand hier nicht statt. Er bezog sich insbesondere auf Rüdiger Lautmanns Studie „Die Lust am Kind. Portrait des Pädophilen“, die damals gerade er- schienen war.196

Eine Erwiderung von Christian Pulz auf den Artikel der Kreuzberger Frauen, die aus heutiger Sicht ausgewogen zum Thema Stellung nahm, lag zwar als Entwurf vor und sollte 1995 noch veröffentlicht werden. Dazu kam es aber nicht mehr.

Die Fraktion stellte unter Federführung von Sibyll Klotz eine Reihe von Anfragen und Anträgen zum Thema Missbrauch und sexueller Gewalt, u. a. zum Erhalt der Zu- fluchtswohnung und einer Beratungsstelle von Wildwasser im Mai 1993.197 In einer Klei- nen Anfrage vom 31. Januar 1994 fragte sie explizit nach der Bewertung von Projekten im Bereich der Prävention gegen sexuellen Missbrauch und Hilfsangeboten für Mädchen und Jungen durch den Senat.198

Nach Erscheinen des Artikels „Pädos bei den Grünen“ in den Stachligen Argu- menten kam es Ende 1994 auch in der Fraktion erstmals zum offenen Konflikt um das Thema Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern. Die Fraktion setzte am 29. No- vember 1994 eine Diskussion zum Thema sexueller Missbrauch an und lud dazu die

195 Frauengruppe der Grünen/Al Kreuzberg: Pädos bei den Grünen, in Stachlige Argumente, Nr. 89, Oktober 1994, S. 45ff. 196 Albert Eckert: Warum ich Kindesmissbrauch verabscheue und trotzdem nicht gleich alle Pädos hasse, in. Stach- lige Argumente, Nr. 90, Dezember 1994. 197 Antrag der Fraktion Bündnis 90/Grüne (AL)/UFV über 1. Sicherstellung der Weiterarbeit der einzigen Zufluchts- wohnung für misshandelte Mädchen in Berlin bei Wildwasser e. V. 2. Sicherstellung der Weiterarbeit der Wildwasser- Beratungsstelle in Ostberlin, Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 12/2608, 17.3.1993. 198 Kleine Anfrage Nr. 5014 der Abgeordneten Dr. Sibyll-Anka Klotz (Bündnis 90/Grüne (AL/UFV) über die Tagung „sexueller Missbrauch“ an der Alice-Salomon-Fachhochschule, mit Antwort vom 3.3.1994, in: Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 12/3989, S. 38 f.

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Kreuzberger Frauengruppe ein. Albert Eckert und Christian Pulz mussten ihre Haltung verteidigen, mit der sie laut ZeitzeugInnen zu diesem Zeitpunkt alleine standen.

In der Folge schrieb Christian Pulz einen Artikel für die Stachligen Argumente, der Anfang 1995 erscheinen sollte, wozu es aber nicht mehr kam, In diesem Artikel zeigte er sich beeindruckt von den Argumenten der Frauen und positionierte sich eindeutig für das Schutzalter 14 Jahre. Er schrieb:

„In der Regel schließt der grundsätzliche Erfahrungs- und Wissensvorsprung, die ausgeprägtere soziale Kompetenz des Erwachsenen, eine grundsätzliche Ab- hängigkeit der Kinder in allen Lebenssituationen von den Handlungen Erwachse- ner und die viel deutlicheren sexuellen Zielvorstellungen von Erwachsenen, Ein- vernehmlichkeit in den sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und Kin- dern aus. Die Frage, ob nicht im Einzelfall eine Einvernehmlichkeit möglich ist, führt nicht sehr viel weiter, weil die Erfahrungen mit sexueller Gewalt und Aus- beutung und deren Folgen, die die Frauen vorlegen, von so großem Gewicht ist, dass präventives Handeln erstes Gebot sein muss.“199 Als das Schwulenbereichsmitglied Fred Karst Anfang Februar 1995 wegen sexuellen Missbrauchs eines achtjährigen Jungen zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt wurde, bezeugte Sibyll Klotz als stellvertretende Fraktionsvorsitzende ihre Sprachlosigkeit dar- über und bezeichnete die Personalunion (außerhalb der Fraktion) zwischen denen, die die Pädophilendebatte theoretisch führten und denen, die selbst Täter würden, als er- schreckend.200

Sowohl Albert Eckert als auch Christian Pulz kandidierten nicht noch einmal für Bünd- nis 90/DIE GRÜNEN. Albert Eckert unterstützte in einem Brief an die LDK-Delegierten gemeinsam mit Thomas Birk die Kandidatur von Anselm Lange, der programmatisch eine Erneuerung des Schwulenbereichs vorangetrieben hatte. Lange vertrat ab 1995 in der Fraktion eine Lesben- und Schwulenpolitik, die auch mit der längst auf Bundesebene vollzogenen Wende hin zur Integrations- und Gleichstellungspolitik bei klarer Abgren- zung zu den Forderungen nach Absenkung der Schutzaltersgrenzen übereinstimmte. Seine Kandidatur wurde auch ausdrücklich durch einen Aufruf vieler lesbisch-schwuler Träger und Organisationen unterstützt. Dies dokumentiert, dass sich auch die Berliner Schwulenbewegung zu diesem Zeitpunkt von dem Ziel der radikalen Sexualstrafrechts- reform abgewandt hatte.

199 Christian Pulz, un veröffentlichter Artikel , Januar 1995, PTB. 200 Ute Sturmhoebel: Grüne Debatte über Pädophilie, in: Berliner Zeitung, 4./5.2.1995.

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3.7 Umgang mit Tätern und Opfern

Heute steht außer Frage, wenn es um sexuelle Gewalt geht, wer Täter ist und wer Opfer. Besonders in der ersten Hälfte des Berichtszeitraums von 1978 bis 1995 existierte jedoch ein Durcheinander der Begrifflichkeiten und der Wahrnehmungen. Dies führte dazu, dass in der Berliner AL Täter nicht deutlich und Opfer gar nicht oder nur am Rande wahrge- nommen wurden. Schlimmer noch: Die Täter und ihre Sympathisanten verstanden es, eine Opferrolle für die Täter zu konstruieren. Die Opfer dagegen wurden als selbstbe- stimmte Kinder und Jugendliche dargestellt, denen sexuelle Übergriffe nicht schaden würden. Im Rahmen der Kommissionstätigkeit gab es Erkenntnisse über mindestens zwei pädosexuelle Täter, die zumindest zeitweise der AL (später Bündnis 90/DIE GRÜ- NEN) angehörten. Bei ihren Opfern handelte es sich im Wesentlichen um Jungen im Alter von 7 bis 12 Jahren. Die Kommission hat bislang keine Hinweise darauf, dass im institu- tionellen Kontext der Partei – also in Parteiräumlichkeiten, am Rande von Veranstaltun- gen oder Sitzungen (etwa der Gruppe „Jung und Alt“), bei Parteiaktivitäten wie Gruppen- fahrten, Feiern, etc. – sexueller Missbrauch stattgefunden hat. Allerdings ist die Kommis- sion bei ihrer Arbeit auch immer wieder auf große Erkenntnislücken gestoßen – insbe- sondere die Vorgänge in der Gruppe „Jung und Alt“ sind bislang weitgehend im Dunklen geblieben. Deshalb kann die Kommission die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es doch auch im institutionellen Rahmen der Partei Opfer von sexuellem Missbrauch gab. Gleiches gilt für mögliche weitere Täter mit grünem Parteibuch.

Die Täter

Es war bekannt, dass im Schwulenbereich der AL Pädosexuelle aktiv waren, die sich zumindest in der Frühphase der Partei auch offen zu ihrer Pädosexualität bekannten. Auch wenn nicht alle AL-Mitglieder waren, wurde ihnen innerhalb der Partei über lange Zeit viel Verständnis entgegen gebracht. Diejenigen, welche bereits wegen einschlägiger Straftaten in Haft waren, wurden als Verfolgte eines moralisierenden überholten Rechts- systems dargestellt. Dies war umso leichter, weil parallel für die Abschaffung des § 175 gekämpft wurde. Außerdem spielte den auf Jungen fixierten Pädosexuellen das unter- schiedliche Schutzalter für Jungen (18) und Mädchen (14) in die Hände. So konnten sie mit der Ungleichbehandlung von Jungen und Mädchen argumentieren und sprachen von der Befreiung der Jungen, wenn es tatsächlich um Missbrauch ging.

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Albert Eckert schrieb 1987 in der Siegessäule: „[E]inige wurden bestraft, manche saßen mehrfach wegen ihrer Neigung im Gefängnis.“201

Es wurde nicht differenziert zwischen pädophiler Veranlagung und dem Ausleben pädosexueller Begierde. Das Benutzen und Ausnutzen von Kindern zur Befriedigung se- xueller Bedürfnisse Erwachsener wurde zu selbstbestimmter Sexualität der Kinder um- definiert. Das Versäumnis des damaligen Schwulenbereichs der AL war es, dies nicht erkannt zu haben und so einer falschen Solidarität aufgesessen zu sein.

Elke A. Richardsen brachte es in einem Redebeitrag auf einer Programm-MVV der AL (wahrscheinlich 1984) auf den Punkt: „Das also ist die Strategie. Dieser Brei aus Pädagogik, Weg-mit-Knast, Freiheit für alle, Minderheitenschutz und juristischen Miss- ständen wird umgerührt und der alternativen Öffentlichkeit mundgerecht serviert.“202

Schwule Aktivisten, die nicht mit den Forderungen der Pädosexuellen einverstan- den waren, zogen sich aus dem Schwulenbereich der AL zurück. Der Einfluss der Pädo- sexuellen wurde so noch größer. Der lauteste Widerstand gegen die Aktivitäten der Pä- dosexuellen kam von den AL-Frauen aus Kreuzberg. In Zeitdokumenten und Zeitzeuge- ninterviews wurden immer wieder die Namen Kurt Hartmann, Dieter F. Ullmann und Fred Karst genannt. An dieser Stelle nur kurze Anmerkungen: Kurt Hartmann stand Mitglie- dern der AG-Aufarbeitung zu einem zweistündigen Interview zur Verfügung. Er schilderte zu Beginn den an ihm verübten sexuellen Missbrauch im 8./9. Lebensjahr als Erfahrung, die er „immer sehr gerne genossen“203 habe. Er wurde, auch in der Schwulengruppe der AL, zu einem der eifrigsten Fürsprecher der Pädosexuellen. Es gibt keine Hinweise da- rauf, dass er Täter war.

Dieter F. Ullmann war einigen Zeitzeugen namentlich bekannt, es konnte sich allerdings kaum jemand an ein Gesicht zu diesem Namen erinnern. Eine Erklärung dafür wäre, dass er wegen sexuellen Missbrauchs längere Zeit in Haft war und als Inhaftierter deshalb zu einem Verfolgten stilisiert wurde.

Fred Karst war bereits wegen sexuellen Missbrauchs von Jungen mehrfach vor- bestraft. Während seiner politischen Aktivitäten bei der AL unterhielt er zusammen mit anderen Pädosexuellen Wohnungen und private Betreuungseinrichtungen wie den Fal-

201 Albert Eckert: Pädobewegung vorübergehend geschlossen, in: Siegessäule, Nr. 7, 1987. 202 Elke A. Richardsen: Feministin contra Pädosexuelle: Redebeitrag auf einer Programm MVV der Alternativen Liste Berlin, o.D., PER. 203 Interview mit Kurt Hartmann, 10.12.2014.

148 83 ckensteinkeller für Lückekinder zwischen 9 und 13 Jahren. Hier missbrauchte er zusam- men mit anderen Pädosexuellen Jungen. Zur selben Zeit war er bei der bündischen Ju- gendorganisation Nerother Wandervogel aktiv.

Erst 1995, als Fred Karst erneut wegen sexuellen Missbrauchs eines achtjähri- gen Jungen vor Gericht stand und verurteilt wurde, distanzierte sich der Schwulenbereich der AL eindeutig von ihm. Dass dies nicht früher geschah, ist aus heutiger Sicht nicht nachvollziehbar. In den Zeitzeugeninterviews wurde Fred Karst als jemand beschrieben, zu dem lieber Abstand gehalten wurde. Aber Konsequenzen zog niemand daraus.

Das ehemalige Mitglied des Schwulenbereichs Peter Schnaubelt wurde im Feb- ruar 1997 in Kolumbien verhaftet und wegen der Herstellung und Verbreitung von kin- derpornografischem Material in Deutschland angeklagt. Bei einer Hausdurchsuchung wurden tausende von kinderpornografischen Bildern und Videokassetten sicherge- stellt.204 Aus der Partei war Schnaubelt 1996 ausgeschlossen worden – wegen nicht ge- zahlter Beiträge.

Die Rechercheergebnisse für den Zeitraum von 1978 bis 1995 enthalten für die ersten Jahre einige Hinweise, dass sich auch pädosexuelle Lesben (z.B. aus der Orani- enstraßenkommune und der Indianerkommune) in AL-Diskussionen für die Abschaffung der Paragrafen 173-176 StGB eingesetzt haben. In einem Flugblatt der Oranienstraßen- kommune mit dem Titel „Mädchen im Kampf“ vom März 1980 wurde die Streichung der Paragrafen 173-176 StGB und die Legalisierung sexueller Beziehungen von Erwachse- nen und Kindern gefordert.

Verschiedene Gruppen (Schwule, Frauen) innerhalb der AL waren auf den hete- rosexuellen Mann als Sexualstraftäter fixiert. Dies führte dazu, dass gleichgeschlechtli- cher Missbrauch durch Männer verharmlost und Missbrauch durch Frauen gar nicht the- matisiert wurde.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Pädosexuellen die offenen Struktu- ren und die Affinität zu Minderheiten der AL/Grünen genutzt und benutzt haben, um Gleichgesinnte in die AL/Grünen einzuschleusen und ihre Interessen auf politischer Ebene durchzusetzen.

Berliner Zeitung, 27.11.1997 und 6.1.1998. 204

84 149

Die Opfer

Die Recherche hat ergeben, dass das sexuelle Interesse der bekannten Täter aus- schließlich auf Jungen gerichtet war. Frauke Homann (damals Sozialarbeiterin in Kreuz- berg) hat in einem beeindruckenden Zeitzeugeninterview ihre Arbeit mit betroffenen Jun- gen in Kreuzberg geschildert, die Opfer von pädosexuellen Netzwerken wurden, an de- nen auch Karst und Ullmann beteiligt waren. Dabei berichtet sie auch von den Schwie- rigkeiten, welchen sie begegnete, wenn sie sich für diese Jungen einsetzen wollte: Vor allem in den sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen habe es Opfer außerfamiliären pädosexuellen Missbrauchs gegeben. Sie waren zwar unterschiedlicher Herkunft, es handelte sich aber immer um Jungen.205 Seitens der linken Männer habe es bis Ende der 1980er Jahre für diese Opfer so gut wie keine Unterstützung gegeben.206 Ihr wurde ent- gegnet: „Wir wollen doch niemanden diskriminieren. Bei Jungen ist es vielleicht nicht so schlimm, bei Mädchen viel schlimmer. Im pädosexuellen Bereich ist das ja einvernehm- lich, wir üben keine Gewalt aus.“207 Als sie bei Wildwasser berichtete, dass sie von einer großen Gruppe Jungen wisse, die außerhalb der Familie von Pädosexuellen missbraucht werde, wurde ihr entgegnet: „Wir kümmern uns hier um Mädchen“208.

Im Herbst 1984 schrieb Andreas Salmen, Schwulen- und Aids-Aktivist, in einem Bericht über das „Forum Sexualität“ im AL-Büro am 24. Oktober 1984 unter Verteidigung der Pädosexuellen: „Dass sicher der Großteil sexueller Beziehungen zwischen Erwach- senen und Kindern mit Gewalt abläuft, haben wir in der Auseinandersetzung mit schwu- len Pädos (statt heterosexuellen Kindervergewaltigern) vergessen.“209

Dazu kamen rechtliche Rahmenbedingungen wie diese: Die Vergewaltigung ei- nes männlichen Opfers war bis 1997 kein Straftatbestand und wurde erst dann zusam- men mit der Vergewaltigung in der Ehe in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Das heißt, dass bis dahin Vergewaltigungen männlicher Opfer lediglich als sexuelle Nötigung ge- ahndet werden konnten.

Auf Nachfragen bei den Zeitzeugeninterviews von AL-Mitgliedern wurde bestä- tigt, dass mögliche Opfer von Pädosexuellen nicht Gegenstand der Überlegungen waren, wenn es um die Beseitigung der entsprechenden Paragrafen zum Schutz von Kindern ging. Es wurde eher die vermeintliche Diskriminierung der Täter (die damals oft als die Opfer bezeichnet wurden) in den Vordergrund geschoben.

205 Interview mit Frauke Homann, 4.6.2014. 206 Ebd. 207 Ebd. 208 Ebd. 209 Andreas Salmen: Der Rechtsstaat gerät in Vergessenheit, in: Siegessäule, Ausgabe 8, November 1984.

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Außerdem wurde über das Thema Pädosexuelle außerhalb des Schwulenbereichs der AL nur sehr wenig diskutiert. Andere, aus damaliger Sicht wichtigere Themen, beherrsch- ten den politischen Alltag.

Diese einseitige Wahrnehmung von sexueller Gewalt und sexuellem Missbrauch führte dazu, dass sexuelle Übergriffe auf Jungen verharmlost wurden und der Missbrauch von Mädchen verübt durch Frauen gar nicht thematisiert wurde. Die betroffenen Jungen wurden nicht mit Empathie wahrgenommen. Das erklärt auch, warum die meisten dama- ligen Mitglieder (bis auf wenige Ausnahmen wie die Kreuzberger AL-Frauen und der Kreuzberger-Stachel-Autor Christian Thiel) keinerlei Kenntnis von deren Existenz haben.

Die Kommission geht allerdings davon aus, dass es neben den aktenkundigen Fällen, für die Karst und Ullmann mehrfach verurteilt wurden, eine hohe Dunkelziffer von Opfern dieser beiden Täter mit grünem Parteibuch gegeben haben muss. Ob es neben den bekannten weitere Täter in den Reihen der AL bzw. der Berliner Bündnisgrünen gab, ist für die Kommission eine offene Frage. Aber zweifelsohne war die AL mit ihrer Offen- heit gegenüber pädosexuellen Forderungen für Pädosexuelle attraktiv. Vieles deutet da- rauf hin, dass sich ein Teil derjenigen, die (zumindest zeitweise) der Partei angehörten, aus den bestehenden pädosexuellen Netzwerken in der Stadt rekrutierte, darunter mög- licherweise auch weitere Täter. Belegen kann die Kommission das derzeit nicht.

Fest steht hingegen, dass die Partei den Opfern ein verheerendes Signal gesandt hat, indem sie jahrelang zugelassen hat, dass pädosexuelle Täter und Agitatoren im Na- men der Partei sexuellen Missbrauch als einvernehmliches Handeln dargestellt und ge- rechtfertigt haben. Wie sehr muss das die Hemmschwelle für Opfer erhöht haben, über ihren Missbrauch und ihren Schmerz zu sprechen. Daher kann der hier vorliegende Be- richt nur ein erster Schritt sein. Er sendet an die Betroffenen die Bitte und ein klares Signal, sich zu melden und ihre Geschichte zu erzählen. Der Prozess der Aufarbeitung muss weitergehen.

Die Geschichte der Berliner AL und Bündnisgrünen zeigt ein weiteres Mal: Der Blick auf die Opfer sexueller Gewalt muss geschärft werden und darf nicht durch ideolo- gische Brillen erfolgen. Unvoreingenommenes Hinschauen und eine unmissverständli- che Positionierung gegen sexualisierte Gewalt hätten dann neben den betroffenen Mäd- chen womöglich auch die betroffenen Jungen sichtbar gemacht. Jede Verletzung durch sexuelle Gewalt ist eine eigenständige Qualität von Schmerz, die es nicht zu relativieren gilt.

86 151

4 FAZIT UND HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN

Im Umgang mit pädosexuellen Forderungen und Aktivitäten haben die AL (bzw. später der Landesverband von Bündnis 90/DIE GRÜNEN) und ihre Führungsgremien ganz of- fensichtlich institutionell versagt. Die Forderung nach Straffreiheit für vermeintlich einver- nehmliche Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen fand 1980 und – in wider- sprüchlicher Form – 1981 Eingang in das Programm, war danach aber nicht mehr mehr- heitsfähig. Aus der Ablehnung dieser Position wurden aber nie organisatorische Konse- quenzen gezogen. Erst nach der erneuten Verurteilung von Fred Karst wegen sexuellen Missbrauchs an einem Jungen 1995 leitete der Geschäftsführende Ausschuss ein Par- teiausschlussverfahren ein. Der Schwulenbereich distanzierte sich deutlich von pädose- xuellen Positionen sowie von Fred Karst und die letzten pädosexuellen Aktivisten ver- schwanden aus der Partei und ihrem Umfeld. Bis zuletzt hatte der GA weder die fortwäh- rende Lobbyarbeit pädosexueller Aktivisten unterbunden noch versucht herauszufinden, was in der Gruppe „Jung und Alt“ – einer von Fred Karst gegründeten Untergruppe des grünen Schwulenbereichs – eigentlich vor sich ging.

Das Selbstverständnis der jungen Partei bietet dafür zwar Erklärungen, aber keine Entschuldigung:

Ideologisch herrschte lange Zeit ein „Minderheitendogma“: Man verstand sich als Sprachrohr und Lobby gesellschaftlich diskriminierter Gruppen. Diese Einstellung, die aus der kritischen Gegenposition zu etablierten gesellschaftlichen Strukturen und Nor- men und dem etablierten Parteiensystem entstand, führte dazu, dass der Blick auf die Opfer von sexuellem Missbrauch verstellt war. Die pädosexuellen Täter konnten sich er- folgreich als die „Opfer“ gesellschaftlicher Diskriminierung darstellen, für die wahren Op- fer des Missbrauchs war man daher blind.

Das Minderheitendogma hat zudem programmatische Klärungen viele Jahre ver- hindert: Die Position der pädosexuellen Aktivisten wurde von der jungen Partei zwar – bis auf 1980 und in widersprüchlicher Form 1981 – nicht übernommen, aber auch nie geächtet oder zumindest programmatisch klar verneint. Vielmehr wurde sie als Minder- heitenposition geduldet. Die AL war Sammelbecken diverser Strömungen und Initiativen und wollte den „offenen, herrschaftsfreien Diskurs“ pflegen. Anfangs galt das Konsens- prinzip: Es war verboten, eine relevante Minderheit zu überstimmen. Später wurden Mehrheitsentscheidungen zwar akzeptiert, allerdings hatten überstimmte Minderheiten das Recht, ihre Minderheitenmeinungen nach außen darzustellen, sogar im Parteipro- gramm.

Während der Schwulenbereich jahrelang von pädosexuellen Aktivisten mitge- prägt und teils sogar dominiert wurde, setzte die Mehrheit der Partei sich bis in die 1990er

152 87

Jahre hinein nicht ernsthaft mit pädosexuellen Positionen auseinander. Das Thema galt offenbar als eines, das die Schwulen unter sich ausmachen sollten, die Opferperspektive wurde ausgeblendet – ebenso wie die Frage, ob es eine „einvernehmliche Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen“ tatsächlich geben kann. Eine Ausnahme waren ei- nige Feministinnen, allen voran die Kreuzberger Frauengruppe, sowie wenige einzelne Aktive, die pädosexuelle Positionierungen offen bekämpften. Ihre Hinweise und Warnun- gen – auch auf pädosexuelle Täter in den eigenen Parteireihen – fanden zu lange viel zu wenig Gehör.

Diese Gleichgültigkeit wurde durch taktische Motive weiter verstärkt: Das Thema wurde als eines der zentralen Anliegen der Berliner Schwulenbewegung wahrgenom- men, die man als Bündnispartner nicht verlieren wollte. Die Schwulenbewegung galt als integraler Bestandteil der AL-Bewegung, und zumindest bis Anfang der 1990er Jahre gab es im Schwulenbereich des Landesverbandes nie eine klare Gegenposition zu den For- derungen der Pädosexuellen. Das galt allerdings auch für die Berliner Schwulenbewe- gung insgesamt. Sie bot ein unterstützendes Umfeld für die pädosexuellen Aktivisten bei der AL, das diese Aktivisten anderswo so nicht gehabt hätten.

Bitter sind vor allem zwei Erkenntnisse: In unserem Landesverband gab es da- mals nicht nur Agitatoren, sondern es gab auch pädosexuelle Täter, die unsere Partei- strukturen gezielt genutzt haben und das viel zu lange auch ungehindert tun konnten. Wir wissen aufgrund des Strafregisters zweier ehemaliger Parteimitglieder und Hinweisen auf die von ihnen außerhalb der Partei betriebenen Netzwerke, dass viele Jungen Opfer von sexualisierter Gewalt durch diese und möglicherweise weitere Parteimitglieder wur- den. Und wir können nicht ausschließen, dass es auch Opfer sexuellen Missbrauchs in- nerhalb grüner Strukturen gab. Wir werden in dieser Frage womöglich mit einer bleiben- den Ungewissheit leben müssen. Es ist uns vor allem nicht gelungen, Licht in die Aktivi- täten der Gruppe „Jung und Alt“ zu bringen, die Fred Karst in den 1990er Jahren als Untergruppe des Schwulenbereichs gegründet hat. Die Hauptakteure sind alle tot und wir haben niemanden gefunden, die oder der diese Frage über Mutmaßungen hinaus aufklären konnte. Die Gruppe „Jung und Alt“ ist für uns bislang eine Blackbox geblieben.

Der grüne Landesverband hat bis in die Mitte der 1990er Jahre zugelassen, dass im Namen der AL (später Bündnis 90/DIE GRÜNEN) pädosexuelle Positionen propagiert wurden. Das hat mit dazu beigetragen, ein gesellschaftliches Umfeld zu schaffen, in dem die Opferperspektive ausgeblendet wurde und pädosexuelle Täter sich als die vermeint- lichen Opfer darstellen konnten.

88 153

Dafür bitten wir um Entschuldigung. Unsere Bitte um Entschuldigung gilt vor allem den tatsächlichen Opfern sexuellen Missbrauchs, deren Missbraucher sich durch solche grü- nen Stimmen sowie durch ähnliche Stimmen womöglich zu ihren Taten ermutigt gefühlt haben.

Wir übernehmen Verantwortung für das institutionelle Versagen unseres Landesverban- des und ziehen daraus folgende Konsequenzen:

- Der Landesverband soll sich weiterhin an der Opfer-Anlaufstelle beteiligen, die von der Bundespartei eingerichtet wurde. Dort stehen ausgebildete externe Fachleute zur Verfügung. Wir bitten Betroffene, die sich direkt an uns wenden möchten, folgende Mailadresse zu nutzen: kontakt-aufarbeitung@gruene-ber- lin.de. Außerdem hat der Landesverband Berlin eine neutrale, ehrenamtliche Ombudsstelle für Opfer von sexuellem Missbrauch und sexuellen Übergriffen ein- gerichtet: www.gruene-berlin.de/aufarbeitung. Der Landesverband soll die Arbeit dieser Ombudsstelle in jeder Hinsicht unterstützen.

- Der Landesverband soll sich außerdem dafür einsetzen, dass der bundesweite Hilfe-Fonds für Opfer sexuellen Missbrauchs im familiären Umfeld endlich auch um Leistungen für Opfer im institutionellen Bereich ergänzt und von den Bundes- ländern mit finanziert wird. Falls es Menschen gibt, die im institutionellen Verant- wortungszusammenhang der Berliner Grünen (zum Beispiel in der Gruppe „Jung und Alt“) Opfer sexuellen Missbrauchs geworden sind, soll ihr Leid durch den Landesverband Anerkennung finden, einschließlich der Möglichkeit einer Anker- kennungszahlung.

- Der Landesverband soll sich auf allen politischen Ebenen gegen sexualisierte Gewalt stark machen und dafür sorgen, dass zivilgesellschaftliche Initiativen, die sich für diese Opfer einsetzen, dauerhaft und auskömmlich finanziert werden.

- Der Landesverband soll die Thematik bewusst in die einzelnen Gliederungen und Gremien der Partei tragen und dort insbesondere auch über Denkmuster und institutionelle Defizite diskutieren, die es ermöglicht haben, dass pädosexuelle Aktivisten so lange im Landesverband tätig sein konnten.

- Der Landesverband soll die Thematik sexuellen Missbrauchs möglichst gemein- sam mit anderen, ähnlich involvierten Organisationen in Berlin auch öffentlich aufarbeiten und so zur gesellschaftlichen Bewusstseinsbildung beitragen.

154 89

- Der Landesverband soll konkret überprüfen, ob bei seinen eigenen Aktivitäten, Veranstaltungen usw. ein größtmöglicher Schutz gegen sexuelle Übergriffe ge- währleistet ist. Insbesondere bei der Kinderbetreuung bei Veranstaltungen, Par- teitagen usw. sind hohe Standards einzuhalten.

Berlin, Mai 2015

90 155 2.2 Pädophile Vergangenheit im Landesverband Berlin konsequent aufklären und aufarbeiten

Beschluss der Berliner Landesdelegiertenkonferenz vom 30.11.2013

Die zurückliegenden Monate brachten in doppelter Hinsicht Versäumnisse unserer Partei hinsichtlich des Umgangs mit dem Thema Pädophilie zu Tage. In unseren Gründungsjahren und im Berliner Landesverband bis Mitte der 90er Jahre haben wir Menschen, die die Straffreiheit von sexuellen Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern forderten, ein Forum geboten und diese Forderungen z. T. sogar programmatisch unterstützt. Nach der Abkehr von diesen Forderungen haben wir diesen Teil unserer Geschichte lange verdrängt und zu spät und zu zögerlich aufgearbeitet. Dafür bitten wir um Entschuldigung, vor allem bei den Betroffenen, denn sie waren und sind die Leidtragenden unseres Versagens. Ihre Perspektive muss deshalb im Zentrum der Aufarbeitung stehen. Als Grundlage für die Aufarbeitung dieses Teils unserer Parteigeschichte stellt der Landesverband Bündnis 90/Die Grünen Berlin fest:

Einvernehmliche Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen kann es nicht geben. Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern ist immer sexualisierte Gewalt gegen Kinder und eine Form von Machtmissbrauch, mit fatalen, zum Teil lebenslangen Folgen für die Betroffenen.

In den Anfängen unserer Partei sind hingegen offenbar viele von der Grundthese ausgegangen, dass es eine Unterscheidung geben könne zwischen erzwungenem Kindesmissbrauch, den es zu bekämpfen gälte einerseits, und einvernehmlicher Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern andererseits. Daraus wurde die Schlussfolgerung zur Streichung oder Relativierung der Paragrafen des Strafgesetzesbuches zu Missbrauch von Kindern und Schutzbefohlenen gezogen.

Der Landesverband distanziert sich entschieden von diesen Forderungen der frühen Parteigeschichte, auch des Berliner Landesverbandes, und bedauert die Entscheidungen von damals. Uns ist bewusst, dass die damalige Forderung nach Straffreiheit für pädophile Handlungen Einfluss auf das gesellschaftliche Klima und das Verhalten von Menschen mit pädophilen Neigungen oder gestörtem Sexualverhalten bezüglich Kindern hatte. Der Landesverband bekennt sich zu seiner historischen und moralischen Verantwortung bezüglich dieser falschen Forderungen und der Aktivitäten, die von einzelnen und Gruppen bis Mitte der 90er Jahre innerhalb des Landesverbandes ausgingen, um diese Forderungen zu unterstützen. Wir wollen gleichzeitig betonen, dass es von Anfang an auch heftigen Widerstand gegen diese Positionen innerhalb der Partei gab. Insbesondere Feministinnen wehrten sich gegen die Theorie einer einvernehmlichen Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern. Welches Gewicht die jeweilige Position entwickeln konnte, gilt es noch zu untersuchen.

156 Der Landesverband Berlin hat bereits 2010 in einem Beschluss „Aufklärung und Schutz vor sexueller Gewalt“ in einem Kapitel selbstkritisch die eigene Geschichte des Landesverbandes und seine zu späte Distanzierung von pädophilen Mitgliedern und von den Forderungen nach Abschaffung oder Relativierung der Strafvorschriften zu sexuellem Missbrauch von Kindern beleuchtet. Allerdings fehlte in unserem damaligen Beschluss ein ganz wesentlicher Aspekt: Das Leid der Kinder, die möglicherweise durch Menschen, die sich durch die grünen Forderungen nach Straffreiheit ermutigt fühlten, sexuelle Gewalt erfahren haben, oder derjenigen, die durch grüne Mitglieder selbst sexuelle Gewalt erleiden mussten. Die Kinder von damals sind heute erwachsene Menschen. Wir bitten diese Menschen in aller Aufrichtigkeit um Entschuldigung.

Wir sind diesen Menschen, der Öffentlichkeit und uns selbst angemessene Antworten darauf schuldig, wie es sein konnte, dass bei den Grünen so lange diese verhängnisvollen Forderungen für Straffreiheit für sexuelle Handlungen an Kindern Raum greifen konnten.

Vor diesem Hintergrund wird der Landesvorstand beauftragt:

1. den Bundesvorstand und das von ihm beauftragte unabhängige Institut bei der Aufarbeitung der fehlgeleiteten Haltung zur Pädophilie bei den Grünen der 70er bis 90er Jahre weiterhin inhaltlich, organisatorisch und finanziell zu unterstützen, 2. gemeinsam mit anderen grünen Landesverbänden und dem Bundesvorstand für eine geeignete Ansprechstelle für Menschen, die als Kinder oder Jugendliche durch (damalige) grüne Mitglieder Opfer von sexueller Gewalt geworden sind, zu sorgen, 3. im Einvernehmen mit dem Landesparteirat eine Kommission bestehend aus grünen Vertreterinnen und Vertretern, Zeitzeuginnen und –zeugen, Expertinnen und Experten zu berufen, die die Haltung des Landesverbandes zu Pädophilie und sexualisierter Gewalt gegen Kinder von der Gründungsphase bis in die 90er Jahre untersucht und dazu einen eigenen Abschlussbericht und Handlungsempfehlungen vorlegt. Die Kommission soll u.a. den Fragen nachgehen, welche Wechselwirkung es zwischen den damaligen grünen Forderungen zu Pädophilie und der gesellschaftlichen Debatte dazu gegeben hat und welche Verfehlungen es aus der Partei selbst heraus gegeben hat. 4. einen öffentlichen Diskussionsprozess zur Rolle der Partei und des Landesverbandes bezüglich des Umgangs mit Pädophilie in den späten 70er bis 90er Jahren und der späteren Haltung dazu zu organisieren. 5. Die Landesdelegiertenkonferenz ruft alle Mitglieder und Parteigliederungen des Landesverbandes dazu auf, sowohl einen Diskurs in den Parteigremien zur Aufarbeitung der früheren Haltung zum Thema Pädophilie zu führen als auch alle entsprechenden Dokumente und Hinweise an den Landesvorstand bzw. Bundesvorstand weiterzuleiten. 6. Darüber hinaus bekräftigt der Landesverband seine Unterstützung der kommunalen, landespolitischen, nationalen und internationalen Aktivitäten, die sexueller Gewalt gegen Kinder Einhalt gebieten und präventiv tätig sind.

157 2.3 Aufklärung und Schutz vor sexueller Gewalt

Beschluss der Berliner Landesdelegiertenkonferenz vom 5. Juni 2010

Der mutige Schritt des Schulleiters des Canisius-Collegs in Berlin, Pater Mertes, sexuelle Gewalt an seiner Schule öffentlich zu machen, hat eine Welle von Veröffentlichungen sexueller Gewalttaten durch die Opfer in Gang gesetzt. Seitdem kommen immer mehr Missbrauchsfälle in kirchlichen und weltlichen Schulen, in Einrichtungen der Jugendhilfe aber auch in anderen Bereichen wie dem Sport an den Tag.

Klar ist: sexueller Missbrauch ist eine Form von Gewalt und Machtmissbrauch und nicht eine Form von Sexualität. Es ist dem Eindruck von Medien und aktuellen Debatten entgegen zu treten, dass sexueller Missbrauch vor allem in Institutionen statt findet. Fakt ist: Sexueller Missbrauch findet vor allem im familiären und sozialen Nahbereich statt. Alle gesellschaftlichen Schichten sind von dieser Form der Gewalt betroffen – immer noch ein gesellschaftlicher Tabubereich. Viele Kinder und Jugendliche sind zum Schweigen verurteilt, weil der Missbrauch durch enge Bezugspersonen, von denen sie vollkommen abhängig sind, mit besonderer Scham verbunden ist und sie in große Loyalitätskonflikte stürzt. Allein der Täter trägt immer die alleinige Verantwortung für die Tat – sie darf niemals den Kindern oder Erziehenden aufgebürdet werden. Es gibt ein strukturelles Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen, das sich nicht einfach auflösen lässt. Prävention ist in erster Linie Aufgabe und Verantwortung der Erwachsenen. Dennoch sind wegen der besonderen Fürsorgepflicht des Staates für Kinder und Jugendliche in pädagogischen Einrichtungen Schritte notwendig.

Sexuelle Gewalt in Institutionen mit quasi in sich geschlossenen Strukturen wirft besondere Probleme auf. Dort stehen Kinder und Jugendliche in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis, wenn diese Strukturen ihr ausschließliches soziales Alltagsumfeld ausmachen und unabhängige AnsprechpartnerInnen kaum erreichbar sind. Es muss alles getan werden, um sexuelle Gewalt an Schulen und anderen Institutionen, denen Kinder und Jugendliche anvertraut sind, frühzeitig zu erkennen und zu verhindern.

I) Rückhaltlos aufklären heißt die Ursachen benennen

1. Kooperation aller Beteiligten verbessern

Institutionen müssen sich ihrer Verantwortung für den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt stellen. Die gemeldeten Fälle müssen rückhaltlos aufgeklärt und alles daran gesetzt werden, derartige Fälle für die Zukunft zu vermeiden. Es muss sichergestellt werden, dass Personen, die unzweifelhaft des Kindesmissbrauchs überführt sind, nicht mehr in der Arbeit mit Kindern eingesetzt werden. Die Schulaufsichtsbehörden und Sportverbände haben in der Vergangenheit ebenso wie die Kirchen bis auf wenige Ausnahmen gewalttätige Erziehungs- /Trainingsmethoden und sexuelle Gewalt auch vertuscht und die Täter häufig

158 an die nächste Schule versetzt bzw. an den nächsten Verein vermittelt. Hier bedarf es einer besseren Kooperation mit Beratungsstellen und der Polizei. Nicht nur die Träger der Einrichtungen, sondern auch die für Jugend und Bildung zuständige Senatsverwaltung und die Sportverbände müssen unabhängige Experten/Expertinnen benennen, bei denen sich Opfer melden können, die sexuelle Gewalt und gewalttätige Erziehungs- und Trainingsmethoden in Schulen, Jugendhilfe und in Sportvereinen erlitten haben. Eltern, die betroffenen Kinder und Jugendlichen, LehrerInnen, ErzieherInnen, SchulpsychologInnen, SozialarbeiterInnen sowie die in Fragen des Kinderschutzes erfahrenen Träger und Einrichtungen der Jugendhilfe und die Strafverfolgungsbehörden müssen hierbei zusammenwirken.

Die Aufklärungsprozesse und Maßnahmen sollen dort, wo es einen sinnvollen Kontext gibt, mit der Aufarbeitung der Schicksale der ehemaligen Heimkinder verzahnt werden, die bis in die 70er-Jahre hinein unter brutalen Erziehungsmethoden, Gewalt und Missbrauch in Heimen gelitten haben.

Menschen, die als Kinder oder Jugendliche in Erziehungseinrichtungen der DDR Opfer von sexueller und anderer körperlicher Gewalt wurden, brauchen ebenso Beratung und Unterstützung für den Umgang mit der belastenden Vergangenheit.

2. Aufarbeitung auf Bundesebene

Der Runde Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ auf Bundesebene ist gefordert, die Fragen zur Anerkennung und Entschädigung der Opfer, Verbesserungen in der Prävention und dem Schutz in Einrichtungen sowie den rechtspolitischen Folgerungen zügig zu beantworten. Es genügt nicht, wenn sich drei Ministerien mit Alibiveranstaltungen begnügen, statt eine öffentliche und konsequente Aufarbeitung durchzuführen mit Foren, die den Betroffenen breiten Raum und trotzdem Schutz bieten.

Die Arbeit des Runden Tisches ist mit der Arbeit an der Neuauflage des „Aktionsplans zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller Gewalt und Ausbeutung“ und dem geplanten Bundeskinderschutzgesetz zu koordinieren und zusammen zu führen. Die Themen überschneiden sich und in die Arbeitsprozesse sind größtenteils die gleichen Fachverbände und ExpertInnen eingebunden. Statt die gleichen Diskussionen in verschiedenen Gremien zu führen, muss die Bundesregierung endlich die Opfer stärker in den Mittelpunkt stellen und ihnen mehr Gehör verschaffen.

Bündnis 90/Die Grünen werden sich auf Landes- und Bundesebene an der Aufarbeitung und an Maßnahmen zur Verbesserung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt und sexuellem Missbrauch aktiv beteiligen. Wir wollen, dass jedes Kind in Selbstbestimmung und ohne Angst aufwachsen und leben kann.

159 3. Die Betroffenen brauchen Unterstützung durch einen Entschädigungsfonds

Einmal begangenes Unrecht kann nicht wieder gutgemacht werden. Dennoch zeigen die vielfältigen Erfahrungen in anderen Bereichen, dass ohne eine Entschädigung die Betroffenen das Gefühl haben, ein zweites Mal missachtet und gedemütigt zu werden. Die Diskussion über die Entschädigung von Heimkindern, die ebenfalls misshandelt, gequält und auch missbraucht wurden, zeigt die große Schwierigkeit, auf dem Klageweg eine Entschädigung für das erlittene Leid zu bekommen. Daher ist der Bund in der Verantwortung, einen Entschädigungsfonds einzurichten, der sich um die Betroffenen kümmert und beispielsweise die psychotherapeutische Behandlung mit finanziert. Die Opfer dürfen nicht gezwungen werden, sich ausgerechnet mit den Verantwortlichen für ihr Leiden auseinandersetzen zu müssen. An diesem Fonds sind die Kirchen und die anderen Träger angemessen zu beteiligen, in deren Einrichtungen sexuelle Gewalt stattgefunden hat.

Die Entschädigungszahlungen müssen ohne kleinliche bürokratische Gängelung erfolgen. Sie müssen auch Opfern aus der ehemaligen DDR offen stehen.Sie dürfen keinesfalls mit einer Prüfung der Bedürftigkeit verknüpft werden. Es darf auch keine Schweigeverpflichtung geben, wie dies in der Vergangenheit oft geschehen ist. Anders als in Irland darf die Zahlung einer Entschädigung auch nicht mit der Bedingung verbunden sein, auf Rechtsmittel zu verzichten. Die Abwicklung der Zahlungen muss völlig unabhängig von Verjährungsfristen erfolgen.

4. Dringender Reformbedarf – nicht nur bei der Katholischen Kirche

Von den bekannten Vorfällen müssen sich katholische, evangelische, und staatliche und Schulen sowie Einrichtungen in privater Trägerschaft schweren Vorwürfen stellen. An der reformpädagogischen Odenwaldschule kam es jahrelang und systematisch zu zahlreichen Fällen sexueller Gewalt. Auffällig ist jedoch, dass sexuelle Gewalt besonders häufig in katholischen Einrichtungen zu beklagen sind. Begünstigt wurden diese Taten und ihre Vertuschung auch durch die eigene kirchliche Rechtsordnung und Gerichtsbarkeit. In Deutschland gilt seit 1919 die allumfassende Garantie der Selbstverwaltung und ein halbstaatlicher Status als öffentlich- rechtliche Körperschaft mit eigener Personalhoheit.

Diese Sonderrolle hat es Tätern und Vertuschern leicht gemacht, Belastendes der Schulaufsicht und den Strafverfolgungsbehörden zu verschweigen. Eine reine fall- oder täterbezogene Aufarbeitung der Vorwürfe genügt hier nicht, um eine Wiederholung solcher Fälle zu vermeiden. Von der Katholischen Kirche wurde das Thema sexualisierter und anderer Gewalt, begangen durch das eigene Personal, mehr noch als von anderen Einrichtungen lange geleugnet und vertuscht.

Erst im Zuge der jüngsten Entwicklungen erkennen auch katholische Bischöfe – leider sehr zögerlich - die uneingeschränkte Zuständigkeit der staatlichen Strafverfolgungsbehörden für

160 die Verfolgung sexueller Gewalt in ihren Einrichtungen an. Der Dekan des Kardinalskollegiums, Angelo Sodano tat die Diskussion allerdings mit der Bemerkung ab, man sollen sich nicht „von dem „unbedeutenden Geschwätz dieser Tage beeinflussen lassen“. Ob das alte Lob der Heimlichkeit „Si non caste, tamen caute“ (Wenn nicht keusch, doch vorsichtig) endlich der Vergangenheit angehört und tatsächlich ein nachhaltiger Kurswechsel zu erwarten ist, muss die Zukunft zeigen.

5. Abgrenzung gegen Pädosexualität kam aus falscher Toleranz oft zu spät

Zur Aufarbeitung des Umgangs in Institutionen mit dem Thema sexuelle Gewalt gegen Minderjährige gehört auch eine selbstkritische Betrachtung der frühen linksalternativen Bewegung in der Bundesrepublik und (West-)Berlin im Umgang mit Pädosexualität.

In den 70er Jahren hängten sich pädophile Netzwerke als Trittbrettfahrer an die im Aufbau befindliche Homosexuellenbewegung. Im Zuge des Kampfes um die Abschaffung des § 175 versuchten einige Aktivisten bis Mitte der 90er Jahre auch die Streichung der Paragrafen zu Missbrauch zu erwirken. Auch heterosexuelle Pädophile versuchten, in linken Medien und der alternativen Männerbewegung der siebziger/achtziger Jahre Fuß zu fassen.

Auch wir Grünen waren in unserer Gründungsphase den Versuchen einer Einflussnahme gegen die Strafverfolgung für pädophile Handlungen ausgesetzt. Bisweilen erfolgte die Gegenreaktion aus falsch verstandener Toleranz nicht schnell und konsequent genug. In Berlin schaffte es 1981 die Forderung nach einer Relativierung der Strafvorschriften §§ 174 (Missbrauch von Schutzbefohlenen) und 176 (Missbrauch von Minderjährigen) - als Minderheitenvotum - ins Landeswahlprogramm. Bis 1994 lieferten sich die kleine Minderheit der Anhänger und die große Mehrheit der GegnerInnen dazu eine Debatte im Landesverband; 1995 kappten Schwulenbereich, Landesvorstand und Fraktionsvorstand im Abgeordnetenhaus jede Verbindung und distanzierten sich klar von solchen Forderungen.

Gleichzeitig waren es Grüne, die frühzeitig unter dem Einfluss der Frauenbewegung, energisch vor den verheerenden Folgen sexueller Übergriffe gegenüber Kindern und Jugendlichen gewarnt und parlamentarische Initiativen zum Schutz von Kindern ergriffen haben.

II) Konsequenzen ziehen heißt Verantwortung übernehmen

1. Kinder und Jugendliche stark machen

Bündnis 90/Die Grünen wollen Kinder und Jugendliche durch Aufklärung und Unterstützungsstrukturen stärken. Erfolgreiche Prävention erfordert eine hohe Sensibilität und die Entwicklung angemessener Handlungsstrategien der Erziehungs- und Bildungsinstitutionen sowie die Stärkung des Vertrauensverhältnisses von Kindern zu ihren Eltern und den

161 Erziehungs- und Betreuungspersonen. Alle am Erziehungs- und Bildungsprozess Beteiligten haben die Aufgabe, Kinder und Jugendliche zu stärken und zu selbstbewussten Menschen zu erziehen, damit sie Übergriffe erkennen und sich dagegen wehren können. Sie brauchen Vertrauenspersonen, um sich zu offenbaren und Hilfe zu suchen. Hierzu bieten sich u.a. ausgebildete SozialpädagogInnen als AnsprechpartnerInnen und Vertrauenspersonen für Probleme aller Art für die Heranwachsenden an. Präventionsmaßnahmen und Unterstützungsstrukturen müssen in diesem Zusammenhang weiter gestärkt werden. Hierzu gibt es ein vielfältiges Instrumentarium zur Förderung und Stärkung von Kindern und Jugendlichen. Es muss Sorge getragen werden, dass es auch überall und jederzeit zur Anwendung kommen kann.

2. Mehr Aufklärung im Erziehungsalltag

Wir brauchen mehr Aufklärung und Sensibilisierung für das Thema bei Eltern und Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Die Chancen liegen in der Prävention im Erziehungsalltag. Hier sollte ein Umgang mit Kindern und Jugendlichen praktiziert werden, der möglichst wenige Anknüpfungspunkte für Täterstrategien hat. Erwachsene beeinflussen teilweise gewollt oder ungewollt den Gefährdungsgrad von Kindern und Jugendlichen, in dem sie in ihrer Erziehungspraxis etwa missbrauchsbegünstigende Faktoren fördern. Es bedarf hier spezieller Angebote für Opfer sexueller Gewalt, die im sozialen Nahbereich erfolgt. Zum einen müssen Kinder und Jugendliche gestärkt werden, Vertrauenspersonen zu finden, um aus dem Teufelskreis Schweigen ausbrechen zu können, zum anderen müssen Familien im Umgang mit Tätern, die enge Bezugspersonen sind, gestärkt werden – damit eine klare Abgrenzung erfolgen kann und das Opfer geschützt wird.

3. Klare Regeln für den Umgang bei Verdacht auf sexuelle Gewalt schaffen

In den Einrichtungen müssen konkrete und verbindliche Handlungsanweisungen für den Umgang mit Verdacht auf sexuelle Gewalt und bei Übergriffen vorliegen, die allen Beschäftigten bekannt sind. Das am 1.10.05 in Kraft getretene Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetz bietet klare gesetzliche Regelungen, um in Fällen von sexueller Gewalt eine für das Kindeswohl notwendige Kooperation der Institutionen und Einrichtungen mit staatlichen Stellen sicherzustellen. Der in diesem Gesetz festgeschriebene Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung (SBG VIII §8a) verpflichtet alle Institutionen mit hauptamtlichen MitarbeiterInnen in Fällen von Kindeswohlgefährdung – auch bei sexueller Gewalt– mit den Jugendämtern oder Fachstellen zu kooperieren. Diese Regelungen müssen konsequent umgesetzt werden und auch für die Schulen, Internate, Kirchen und ehrenamtlich tätige Organisationen gelten.

In Berlin wurden mit dem „Netzwerk Kinderschutz“ grundsätzliche Maßnahmen zur Verbesserung des Schutzes von Kindern und Jugendlichen und die Kooperation von Jugendhilfe, Schule und Strafverfolgungsbehörden im Umgang mit Verdachtsfällen getroffen. Sie gelten auch für

162 den Umgang mit Fällen sexueller Gewalt. Danach sind alle Träger der Jugendhilfe gesetzlich verpflichtet, den besonderen Schutzauftrag eigenverantwortlich und in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt wahrzunehmen. Die entwickelten Verfahren und Abläufe schließen auch die Einschaltung der Strafverfolgungsbehörde nach dem erhärteten Verdacht der Verletzung des Kinderschutzes ein. Für Kitas und Einrichtungen der Jugendhilfe muss die Einrichtungsaufsicht der Senatsverwaltung jedem Hinweis auf Gewalt und sexuelle Gewalt unverzüglich nachgehen und geeignete Maßnahmen ergreifen, um den Schutz der Kinder zu gewährleisten.

Grundlage für den Umgang mit Gewalt und sexuellem Missbrauch an Schulen sind § 5a des Schulgesetzes, das Schul- und Jugendrundschreiben 2006 Nr. 1 über die gegenseitige Information und Zusammenarbeit von Jugendämtern und Schule, das Informationsschreiben des Bildungssenators zum Umgang mit Gewalt und Notfallsituationen an Berliner Schulen und die Notfallpläne für die Berliner Schulen sowie der Handlungsleitfaden Zusammenarbeit zwischen Schulen und dem bezirklichen Jugendamt. Danach sind Schulen in öffentlicher Trägerschaft verpflichtet, Fällen von Gewalt und sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen umgehend nachzugehen und der Senatsverwaltung für Bildung, der Schulaufsicht, der Schulpsychologie, den Trägern und dem zuständigen Jugendamt zu melden. Opferhilfe und Aufarbeitung sind in Kooperation mit dem Jugendamt zu gewährleisten. Bei Verdacht auf eine Straftat ist Strafanzeige durch die Schulleitung oder durch die Schulaufsicht zu stellen. Die bestehenden rechtlichen Regelungen sind zügig, unabhängig und umfassend zu evaluieren. Es ist zu prüfen, ob sie in der Vergangenheit immer befolgt wurden und sicherzustellen, dass sie in Zukunft zum Schutz und Wohl der Kinder in allen Einrichtungen angewandt werden. Insbesondere ist die Aufsichts- und Kontrollfunktion der Schul- und Einrichtungsaufsicht der Jugendhilfe zu stärken. Evtl. bestehende Lücken zwischen verschiedenen Kompetenzbereichen müssen durch bessere Koordination und Kooperation geschlossen werden.

Erforderlich ist eine genaue Eignungsprüfung und verbesserte Qualifizierung der Beschäftigten. Bei der Auswahl des Personals mit besonders intensivem Kontakt mit Jugendlichen bedarf es gesonderter Richtlinien. In Berlin wird bei Einstellungen im Bereich der Jugendhilfe bereits ein erweitertes Führungszeugnis verlangt. Dies gilt auch für ehrenamtlich im Bereich in der Jugendhilfe und in Sportvereinen Tätige. Es darf aber nicht übersehen werden, dass viele Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung nicht zur Anzeige kommen und daher auch im erweiterten Führungszeugnis nicht auftauchen. Damit sexuelle Gewalt an Schutzbefohlenen konsequent verfolgt wird, bedarf es der Sensibilisierung und konsequenten Qualifizierung aller, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten.

Für die Zukunft muss das Thema „Sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ zu einem verpflichtenden Teil der Aus- und Fortbildung aller werden, die mit Schutzbefohlenen arbeiten. Dazu gehören neben pädagogischen Berufen auch die Ausbildung kirchlicher Amtsträger und der Beschäftigten in den Verwaltungen sowie bei den Trägern, den Vereinen – insbesondere den Sportvereinen.

163 Gerichte, Staatsanwaltschaften, Polizei und Jugendämter müssen ebenfalls für die Probleme im Zusammenhang sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen besser sensibilisiert werden. Qualifizierungs- und Fortbildungsmaßnahmen für das mit sexueller Gewalt befasste Justizpersonal und für die Angehörigen der Strafverfolgungsbehörden müssen hier das Bewusstsein schärfen.

4. Anlauf- und Beratungsstellen für Opfer sexueller Gewalt ausbauen

Opfer sexueller Gewalt, Mädchen und Jungen sowie Erwachsene haben ein Recht auf Schutz, Hilfe und Unterstützung durch Beratung und Therapie. Die Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen müssen bedarfsgerecht ausgestattet und finanziell abgesichert werden. Die Öffentlichkeitsarbeit und kontinuierliche Sensibilisierung über sexuelle Gewalt muss gestärkt werden, damit alle Opfer Hilfe in Anspruch nehmen können. Trotz angespannter Haushaltslage müssen in Berlin Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, um bewährte Konzepte der Intervention und Prävention flächendeckend umzusetzen. Das gilt insbesondere auch für spezifische Angebote für Jungen wie das Präventionsprojekt „berliner jungs“ und die Beratungsstelle von Tauwetter e.V. für Männer, die als Jungen sexuell missbraucht wurden.

Gebraucht werden auch mehr Kinder-, Jugend- und Elterntelefone als zentrale Ansatzpunkte für wirksamen Opferschutz für bessere Prävention. Hier bietet sich die Verbreitung von verlässlichen Notfall-Telefonhotlines wie die der Berliner Kinder- und Jugendnotdienste und des Kinderschutzzentrums an.

5. Die Veränderung der Verjährungsregeln ist nötig, aber kein Allheilmittel.

Es ist verständlich, wenn auch für die lange zurückliegenden Missbrauchsfälle eine Verlängerung der Verjährungsfristen ins Gespräch gebracht wird. Gerade die tiefen seelischen Verletzungen wirken noch Jahrzehnte nach. Der Gedanke einer Verjährung der begangenen schweren Straftaten ist hier nur sehr schwer erträglich, gerade weil sich die Opfer erst lange Zeit nach diesen Vorfällen offenbaren können. Allerdings wirft die Verlängerung oder gar Aufhebung der Verjährungsfristen eine Reihe schwerwiegender Folgeprobleme auf, die sehr sorgfältig zu bedenken sind. Die Diskussion muss in jedem Fall mit dem größten Respekt vor der schwierigen persönlichen Situation der Opfer geführt werden.

Unabhängig davon, ob es zu einer Verlängerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen kommt oder nicht: Die Frist für die Verjährung zivilrechtlicher Ansprüche gegen die Täter muss deutlich verlängert werden. Die bestehenden drei Jahre sind viel zu kurz. Wichtig ist nicht nur die Frist selbst, sondern auch die Bestimmung des Zeitpunkts, ab dem sie beginnt. Sie darf erst beginnen, wenn das Opfer mindestens 25 (statt nach geltendem Recht 21) Jahre alt ist. Besteht das Abhängigkeitsverhältnis weiter fort, sollte die Frist auch noch länger „angehalten“ werden.

164 6. Verbesserung der Therapieangebote als Schutz vor sexueller Gewalt

Angesichts der Gefährdung, die von den Tätern auch nach verbüßter Straftat bzw. bei einer Bewährungsstrafe ausgehen kann, ist es völlig unverständlich, dass von einem psychologischen Täterprofil und sich daraus ableitenden Therapieangeboten im Rahmen des Strafverfahrens oder nach Haftantritt bzw. mit Beginn der Bewährungsphase i. d. R. abgesehen wird. Hier sind entsprechende Angebote und die notwendige Fachkompetenz vorzuhalten, um auf diese Weise die Gefahr von Wiederholungstaten zu vermindern. Sexuelle Gewalt an Kindern taucht in überwiegender Zahl nicht in den Kriminalstatistiken auf; sie bleibt im Dunkelfeld.

Viele Personen mit pädophilen Neigungen oder bezüglich Kindern gestörtem Sexualverhalten erkennen selbst, dass sie therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen müssen, um Gefahren gerade auch für Kinder und Jugendliche zu vermeiden. Die öffentlichen Stellen von Bund und Ländern müssen alles daransetzen, bereits bestehende Hilfsangebote wie das Projekt „Prävention von sexuellem Missbrauch im Dunkelfeld“ im Institut für Sexualmedizin der Berliner Charité zu erhalten und neue zu fördern. Diese Form der Prävention darf nicht an der Finanzierung der Therapie scheitern. Ziel muss ein krankenkassenfinanziertes Regelangebot sein. Das wäre praktischer Schutz von Kindern und Jugendlichen, der an den Ursachen ansetzt und das Risiko mindert, dass es zu sexueller Gewalt mit ihren unabsehbaren Folgen für das Leben der Opfer kommt.

2.4 Konsequente Aufarbeitung der Einflussnahme pädophiler Strömungen auf die Grünen Wahlprogramme der 80er Jahre

Beschluss des Parteirats der hessischen Grünen vom 02.11.2013

Während der zurückliegenden Monate ist ein schweres Versäumnis unserer Partei zu Tage getreten. Zu lange haben wir Forderungen von Einzelpersonen und einzelnen Gruppen nach einer Straffreiheit von Pädophilie, die in den Anfangsjahren der GRÜNEN in der Partei diskutiert wurden und teilweise sogar in Beschlüssen mündeten, ausgeblendet. Zu zögerlich sind wir bisher mit diesem Teil unserer Parteigeschichte umgegangen. Dies hat unsere Glaubwürdigkeit stark beschädigt. Diesem Kapitel müssen wir uns jetzt mit aller Konsequenz widmen. Wir begrüßen, dass der Bundesvorstand ein unabhängiges Institut mit der Aufarbeitung unserer Parteigeschichte zur Straffreiheit von Pädophilie beauftragt hat und sich die Landesverbände an diesem Projekt beteiligen. Darüber hinaus begrüßen wir, dass der Bundesvorstand parallel zur laufenden externen Aufarbeitung einen Kreis grüner Vertreterinnen und Vertreter, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie Expertinnen und Experten berufen wird, der ebenfalls zu diesem Thema arbeiten wird.

165 Wir werden uns als hessischer Landesverband aktiv daran beteiligen und empfehlen Gleiches auch den Kreisverbänden und Landesarbeitsgemeinschaften. Darüber hinaus wollen wir aus dem Fehler des Verdrängens lernen, uns mit den Ergebnissen der Aufarbeitung auseinandersetzen und mögliche Konsequenzen erörtern. Die Grüne Partei hat dank konsequenten Widerstands, allen voran aus der Frauenbewegung, die Diskussion um die mögliche Straffreiheit von Pädophilie schon lange und eindeutig beendet und als falsch erkannt. Der Ausbau der Rechte und des Schutzes von Kindern ist eines unserer wichtigsten politischen Ziele. Auch aufgrund grüner Initiativen haben sich die Rechte und Schutzmöglichkeiten für Kinder verbessert. Wir werden diesen Weg konsequent weiter gehen.

2.5 Bericht des Landesverbandes Niedersachsen

Bericht Arbeitskreis Aufarbeitung Landesverband Niedersachsen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 29. Oktober 2014

I. Einsetzung und Arbeit des AK Aufarbeitung

Im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 wurde in verschiedenen Medien die Einflussnahme von Personen und Gruppen, die sich als „pädophil“ bezeichneten, auf DIE GRÜNEN thematisiert. Diesen war es in den Anfangsjahren der Partei gelungen, ihre Forderung nach Straffreiheit für sexuelle Handlungen an Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Partei- und Wahlprogrammen zu verankern. Diese mediale Auseinandersetzung war mit kritischen Anfragen verbunden, warum die GRÜNEN nicht längst ihre frühe Programmatik dahingehend untersucht und aufgearbeitet hatten. Dieser Vorwurf wog unter anderem deshalb besonders schwer, da die Öffentlichkeit durch Missbrauchsfälle insbesondere im katholischen Canisiuskolleg und in der reformorientierten Odenwaldschule für das Thema Pädophilie hochgradig sensibilisiert war.

In Reaktion darauf beauftragte der Bundesvorstand von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Frühjahr 2013 das Göttinger Institut für Demokratieforschung in einer umfassenden Studie zu untersuchen, welche politischen Vorgänge und Kontexte hierzu geführt hatten. Der Bundesvorstand entschied dann im Herbst des vergangenen Jahres, einen Arbeitskreis zur Aufarbeitung einzurichten und forderte die Landesverbände auf, ebenfalls eine innerparteiliche Aufarbeitung anzustoßen. Am 09. Oktober 2013 beschloss der Landesvorstand von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Niedersachsen, einen eigenen Arbeitskreis zur Aufarbeitung pädophiler Forderungen und Debatten innerhalb des Landesverbandes einzusetzen. Dieser sollte einen Rahmen für die innerparteiliche Diskussion schaffen und die Arbeit des Göttinger Instituts für Demokratieforschung sowie des Bundesverbandes ergänzen.

166 Zu den Aufgaben des Arbeitskreises gehörte: • Sichtung und Auswertung vorliegender Dokumente und Kenntnisse zu pädophilen Debatten und Forderungen innerhalb des Landesverbandes • Einordnung der Vorgänge in den historischen Kontext sowie in die allgemeine politische Debatte in den 1980er Jahren und innerhalb der grünen ParteiDiskussion der Frage, weshalb pädophile Forderungen innerhalb der Partei Gehör finden konnten, wie lange und in welchem Umfang dies erfolgte • Bewertung und Klärung des weiteren Umgangs mit den gewonnen Erkenntnissen Der Landesvorstand benannte gemeinsam mit dem Landesparteirat folgende Personen als

Mitglieder des Arbeitskreises: • Für den Landesvorstand: Sybille Mattfeldt-Kloth, Jan Haude • Für die Landtagsfraktion: • Aus den Kreisverbänden: Silke Stokar (RV Hannover), Barbara David (RV Hannover), Dr. Ingo Stürmer (KV Göttingen), Sonja Schreiner (KV Göttingen), Rita Schilling (KV Oldenburg), Dragos Pancescu (KV ), Detlev Schulz-Hendel (KV Lüneburg)

In der Landesgeschäftsstelle wurde Christine Helmhold mit der Zuarbeit und Begleitung der Arbeit des AK beauftragt.

Die konstituierende Sitzung fand am 14. Januar 2014 statt. Neben der Klärung der weiteren Arbeitsweise und Struktur wurden erste Dokumente gesichtet. Zudem berichtete Helmut Lippelt als Gründungsmitglied und Zeitzeuge von den programmatischen Debatten auf den ersten Bundesdelegiertenkonferenzen der Partei.

Die zweite Sitzung des Arbeitskreises folgte am 14. März 2014. In dieser wurde von den weiteren Rechercheaktivitäten berichtet und neue Dokumente bewertet. Zudem erfolgte eine erste gemeinsame Einordnung in den historischen Kontext und die Debatte in der Gesamtpartei.

Am 04. Juli 2014 fand die dritte und vorerst letzte Sitzung des Arbeitskreises statt. Es wurden weitere Dokumente zusammen getragen und ausgewertet und eine Veranstaltung vorbereitet, um der Parteibasis die Ergebnisse zu präsentieren und ein Forum für eine breitere parteiinterne Befassung zu geben. Diese Veranstaltung fand am 18. Oktober 2014 am Rande der Landesdelegiertenkonferenz in Walsrode statt.

II. Recherche der Landtagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Niedersachsen

Von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Niedersächsischen Landtag wurden alle grünen Plenarinitiativen aus den Jahren 1982 bis 1990 gesichtet (siehe http://www.nilas.niedersachsen. de). Die Auswertung von Plenarprotokollen oder Kleinen Anfragen von Abgeordneten erfolgte aus Zeitgründen an Hand einer Stichwortsuche.

167 Die Landtagsfraktion konstatiert nach ihrer Recherche: „Die grüne Landtagsfraktion hat in den Jahren 1982 – 1990 keinerlei Initiativen eingebracht, die in irgendeiner Weise eine Legalisierung von Pädophilie unterstützt haben“. Zum Thema Kinder brachte die Landtagsfraktion Anträge und Gesetzentwürfe zu Kindertagesstätten (11/4467 und 4466), Ganztagsbetreuung (11/3878), gemeinsames Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern (11/1687) ein und stellte eine Große Anfrage zum Thema „Ausländisches Kind“ (11/2732). Zum Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen forderte die Landtagsfraktion die Unterstützung von Frauenhäusern und autonomen Frauenzentren (10/3205) und stellte eine Große Anfrage zum Thema „Gewalt gegen Frauen & Mädchen“ (11/175). Im weitesten Sinne mit Homosexualität befassten sich Anträge der Landtagsfraktion mit der Unterstützung von Aids-Selbsthilfegruppen (1986).

Beispielsweise sprach sich die Landtagsfraktion gegen die Speicherung von HIV-Infizierten in polizeilichen Datenbanken aus (11/2852).

III. Recherche im Landesarchiv und in den Beständen des grünen Landesverbands Niedersachsen

Im Rahmen der Untersuchungen des Göttinger Instituts für Demokratieforschung wurden von Dr. Stephan Klecha bereits Aktenbestände in der Landesgeschäftsstelle sowie im Landesarchiv untersucht. Einzelne Belege über Diskussionen auf Landes- und Kreisebene und Forderungen nach Straffreiheit für sexuelle Kontakte mit Kindern sind im Zwischenbericht des Göttinger Institutes dokumentiert. Der AK Aufarbeitung hat mit Dr. Klecha wechselseitig Hinweise auf entsprechende Dokumente ausgetauscht.

Zur Beurteilung der Situation im Landesverband in der zweiten Hälfte der 1980iger Jahre wurden von Ingo Stürmer im Landesarchiv Hannover die Sitzungsunterlagen des Landesvorstandes von 1986 bis 1988 und weitere relevante Ordner durchgesehen sowie einzelne Dokumente kopiert. Die Bestände in der Landesgeschäftsstelle wurden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landesverbandes untersucht.

IV. Recherchen durch Kreisverbände und in den Kreisverbänden

Sowohl über die KV/OV-Rundmail als auch über einen Artikel im Mitgliedermagazin „Grüne Zeiten“ und auf der Landesdelegiertenkonferenz im November 2013 in Celle wurden die Orts- und Kreisverbände dazu aufgefordert, die eigenen Archive zu untersuchen und selbstständig Recherchearbeit zu betreiben. Da der Rücklauf sehr gering war, wurden die Kreisverbände in einer Telefonaktion des AK Aufarbeitung befragt.

Hierbei zeigte sich ein Grundproblem der Recherchearbeit in den Kreisverbänden: Kaum ein Verband hat in den vergangenen Jahrzehnten seine Dokumente und Materialbestände archiviert. Wenn überhaupt, sind Dokumente aus den Gründungsjahren häufig nur in Privatsammlungen

168 zu finden. Zudem hat es in vielen Kreisverbänden eine starke personelle Fluktuation gegeben, so dass auch ZeitzeugInnen nicht immer zu finden sind. Daher war der Rücklauf aus den Kreisverbänden auch nach der Telefonaktion gering. Aus dem Arbeitskreis erging daher die Aufforderung an den Landesverband, eine bessere Archivierung von Dokumenten und Materialien in den Kreisverbänden zu initiieren. Ein erhöhtes Eigeninteresse an der Untersuchung von Materialbeständen hatten die Verbände Hannover und Göttingen, über deren Kommunalprogramme der 1980er Jahre im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 öffentlich berichtet wurde.

V. Ergebnisse der Recherchen

Widerhall fanden pädophile Forderungen in der politischen Programmatik insbesondere durch die Forderung nach Abschaffung der Paragraphen 174 und 176 im Strafgesetzbuch (StGB):

• Der § 174 umfasst den sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen. Darunter fallen Personen unter 16 Jahren, die einem Erwachsenen zur Erziehung, Ausbildung oder zur Betreuung anvertraut sind ebenso wie leibliche und angenommene Kinder. • Der § 176 umfasst allgemein den sexuellen Missbrauch von Kindern. Wer sexuelle Handlungen an einer Person unter 14 Jahren vornimmt, macht sich strafbar.

Daher richtete sich das Augenmerk der Untersuchungen des AK insbesondere auf die Forderungen nach Abschaffung dieser Paragraphen des Strafgesetzbuches.

Diskussion von pädophilen Positionen auf Landesebene

Im Landesverband Niedersachsen hat es nach dem aktuellen Kenntnisstand zu keinem Zeitpunkt eine Beschlusslage gegeben, welche die Forderung nach Straffreiheit für sexuelle Kontakte mit Kindern zum Inhalt hatte.

Einzelne Hinweise auf eine Auseinandersetzung mit diesen Forderungen finden sich in den Unterlagen des Landesvorstands, der Kreisverbände und der LAG Frauen. Im folgenden werden die wichtigsten Vorgänge wiedergegeben.

Juni 1984: LAG Frauen und die Indianerkommune Nürnberg

Einem Bericht in der Ausgabe 10/84 in „Grüne Informationen“ vom Treffen der Landesfrauen AG am 02./03. Juni 1984 in Braunschweig ist zu entnehmen, dass es einen Austausch mit einer Vertreterin der Nürnberger Indianerkommune gegeben hat. Die sogenannten Stadtindianer hatten auf den ersten Bundesdelegiertenkonferenzen der Grünen mit Podiumsbesetzungen und ihren Forderungen nach Straffreiheit für sexuelle Kontakte mit Kindern für heftige Auseinandersetzungen gesorgt. Schwerpunkt des Treffens war die Diskussion um das

169 Sexualstrafrecht, die „Berechtigung und den Begriff von Erziehung überhaupt“ und die Situation in der Indianerkommune. Insbesondere die Frage des Sexualstrafrechts wurde kontrovers diskutiert. Als Ergebnis des Treffens ist festgehalten, dass die Vertreterin der Indianerkommune in einem Prozess wegen des Verteilens eines Flugblattes unterstützt werden sollte. Darüber hinaus heißt es in dem Bericht: „Eine Diskussion der gesamten Thematik in den grünen Ortsverbänden sollte angestrebt werden, muß aber gut vorbereitet werden.“12

Juni 1985: Landesvorstand und die BAG SchwuP

Mit einem Schreiben vom 20. Juni 1985 informierte die BAG SchwuP (Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule, Päderasten und Transsexuelle bei den GRÜNEN und Alternativen Listen) den Landesverband Niedersachsen, dass vom 13. bis 15. September das nächste Treffen in Niedersachsen stattfinden sollte. Der Landesverband wird darin gebeten, der BAG bei der Suche nach einem geeigneten Ort und Schlafgelegenheiten zu helfen. In einem zweiten Schreiben an den Grünen Basisdienst, TAZ und andere wird dann das HOME- Zentrum in Hannover als Tagungsort bekannt gegeben. Thema sollte u.a. das Bundestagswahlprogramm und sexualpolitische Fragen sein. Darin heißt es darüber hinaus: „Möglicherweise ergibt sich die Gelegenheit zu Gesprächen mit dem niedersächs. GRÜNEN- Landesvorstand oder Leuten von der Landtagsfraktion.“ Wenige Tage später veröffentlichte der Landesvorstand der GRÜNEN folgende Stellungnahme:

„Der Landesvorstand der GRÜNEN NIEDERSACHSEN verurteilt die Bestrebungen von Pädophilen und Päderasten zur Entkriminalisierung des sexuellen Umgangs von Erwachsenen mit Kindern. Die These: Einvernehmliche, gewaltfreie Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern sei für Kinder lustvoll und unschädlich, ist eine gewaltvolle Farce, angesichts der körperlichen und bleibenden seelischen Schäden mißbrauchter Mädchen und Jungen.

Der Landesvorstand fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft „Schwup“ (Schwule und Päderasten), die sich am 13.-15. September in Hannover trifft, sich von den Pädophilen und Päderasten zu trennen.

Der Landesvorstand fordert gleichzeitig den Bundesvorstand und den Bundeshauptausschuß der GRÜNEN auf, den Pädophilen und Päderasten die finanzielle Unterstützung für eine Arbeit bei den GRÜNEN zu entziehen.“

Nach Einschätzung des AK Aufarbeitung hat der Landesvorstand mit dieser Erklärung einer Unterstützung der BAG SchwuP und den Forderungen der Pädophilen eine deutliche Absage erteilt.

170 September 1985: Hearing der Landtagsfraktion zum Thema

Die grüne Landtagsfraktion organisierte am 09. September 1985 eine Diskussionsveranstaltung im Niedersächsischem Landtag mit dem Titel „Sexualität mit Kindern?“, die einen „anhörungsmäßigen“ Charakter haben sollte. Auf dieser Veranstaltung sollte der Gesetzentwurf der Grünen im Bundestag zur Liberalisierung des Sexualstrafrechts diskutiert werden, ebenso „Sexueller Mißbrauch von Mädchen“ und „Pädophilie und Päderastie aus psychologischer und historischer Sicht“. Die Abschlussdiskussion hatte den Fokus auf die Frage „Welche Position haben DIE GRÜNEN Niedersachsen zur Sexualität mit Kindern und wie setzen sie sich mit den Positionen der BAG SchwuP auseinander?“. Die Veranstaltung sollte unter anderem als Vorbereitung auf ein Treffen mit der BAG SchwuP dienen und bot Raum für eine kritische Auseinandersetzung mit den entsprechenden politischen Forderungen.

Juli 1989: Treffen von Landtagsabgeordneten mit Vertretern der AHS

Wie Stern und Focus berichteten, trafen sich am 20. Juli 1989 die grünen Abgeordneten Peter Hansen und Marion Schole mit Vertretern der Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AHS). Nach den Auskünften des Fraktionsreferenten Heinrich Sydow (Telefonat mit Jan Haude vom 16. Januar 2014) gab es in der damaligen Zeit diverse Anschreiben der AHS an die grüne Landtagsfraktion, die leider nicht archiviert wurden. Das Treffen mit Vertretern der AHS befasste sich mit dem Thema Strafvollzug. Ähnlich äußern sich Marion Schole (Telefonat mit Jan Haude vom 16.01.2014) und Peter Hansen (Telefonat mit Jan Haude vom 23.01.2014). Nach ihren Auskünften ging es bei diesem Treffen einzig und allein um den Umgang im Strafvollzug und das Thema Sicherheitsverwahrung. Die Aussage, dass die Abgeordneten als Ergebnis des Treffens bekundet hätten, sich für die Belange der Pädophilen einsetzen zu wollen, stammt aus einem AHS-Bericht.

Auf die Berichte in Stern und Focus hat Peter Hansen am 20.01.2013 mit folgender Gegendarstellung reagiert:

„Bei dem Gespräch mit den Vertretern des AHS galt mein ausschließliches Interesse einer Verbesserung der Bedingungen, unter denen seinerzeit in Niedersachsen die Sicherungsverwahrung auch von Sexualstraftätern vollzogen wurde. Ich habe weder in dem Gespräch noch außerhalb des Gespräches die Forderung nach einer Abschaffung des § 176 StGB unterstützt.“

1994: Missverständliche Formulierung im Landtagswahlprogramm

Ein interessanter Beleg für die Sensibilisierung im Landesverband findet sich in den Unterlagen für die Erstellung des Programms für die Landtagswahl 1994. Sie enthalten folgenden, zumindest missverständlichen Satz:

171 „Unser Ziel: eine Gesellschaft ohne sexuelle Unterdrückung und Tabuisierung, eine Gesellschaft, die Homosexualität als gleichwertig ansieht und die jedem Menschen zubilligt, seine sexuellen Bedürfnisse frei zu entfalten.“ (Seite 33)

Aufmerksame Mitgliedern fiel auf, dass der letzte Teil dieser Forderung zumindest missverständlich formuliert war und auch sexuelle Kontakte mit Kindern umfassen könnte. Vom Kreisverband Osnabrück-Land folgte ein Änderungsantrag, der die Streichung dieses Satzes forderte. In der endgültigen Fassung taucht er nicht mehr auf. Im beschlossenen Landtagswahlprogramm heißt es:

„Unser Ziel: eine Gesellschaft ohne sexuelle Unterdrückung und Tabuisierung, eine Gesellschaft, die Homosexualität als gleichwertig ansieht.“ (Seite 38)

1981, 1986: Kommunalwahlprogramm der AGIL bzw. GAL Göttingen

Im Kommunalwahlprogramm der Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste (AGIL) Göttingen, für das der damalige Fraktionsassistent Jürgen Trittin als „Verantwortlicher im Sinne des Presserechtes“ genannt wird, heißt es auf Seite 33:

„Die §§ 174 und 176 StGB sind so zu fassen, daß nur Anwendung oder Androhung von Gewalt oder der Mißbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses unter Strafe stehen.“

Nach den Recherchen von Sonja Schreiner wurde die Göttinger Homosexuellen AG von der AGIL gebeten, ein Kapitel zum Thema Homosexualität für das AGIL-Programm 1981 zu formulieren. Zentrale Passagen wurden dabei aus dem damaligen Bundesprogramm der GRÜNEN übernommen, einschließlich der oben genannten Forderung.

Im Wahlprogramm der Grün-Alternativen-Liste (GAL) Göttingen, die 1986 die „Nachfolge“ der AGIL antrat, finden sich ähnliche Forderungen:

„Die §§ 174, 174a, 174b StGB sind so zu fassen, daß nur Anwendung oder Androhung von Gewalt oder Mißbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses unter Strafe gestellt werden.“ (Seite 27)

Das damalige Kommunalwahlprogramm entstand in einer Reihe von „Kommunalpolitischen Foren“, bei denen Arbeitsgruppen und Mitglieder der GAL sowie Initiativen aus dem grün- alternativen Umfeld alle Programmteile öffentlich diskutierten. Der Programmteil „Homosexualität“, in dem die oben erwähnte Passage vorkommt, wurde „ohne Diskussion“ ins Programm übernommen. Dies resultierte auch daraus, dass sich AGIL wie GAL als Plattform für unterschiedliche Initiativen und Gruppen aus dem alternativen Spektrum verstanden. Im Protokoll des Treffens werden die Verfasser des Programmteils dafür gerügt, dass sie sich in den letzten Jahren und an den Foren nicht aktiv beteiligt hätten. Der Vorstand der GAL

172 („Arbeitsausschuß“) wird gebeten, die genaue Bedeutung der Paragraphen zu erläutern. Dies ist anscheinend nicht erfolgt - der obige Satz findet sich auch im fertigen GAL- Wahlprogramm.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Forderung nach einer Neufassung von §§ 174 im Prozess der Kommunalwahlerstellung 1986 nie inhaltlich diskutiert wurde, sondern als Teil des „von außen“ eingebrachten Programmteils „Homosexualität“ auf der Versammlung „durchgewunken“ wurde. Als „Nachfolgerin“ der GAL kandidierte dann seit den 1990er Jahren in Göttingen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. In den Kommunalwahlprogrammen finden sich seitdem keine pädophilen Forderungen mehr.

1981: Kommunalwahlprogramm der GABL Hannover

Im Programm der Grünen Alternativen Bürgerliste (GABL) Hannover von 1981 findet sich auf Seite 30 folgende Forderung:

„Auch die Paragraphen 174 (Abhängigkeit) und 176 (Sexualität mit Kindern) müssen so abgeändert werden, daß einverständiges Handeln zwischen Kindern und Erwachsenen straffrei bleibt.“

Eindeutig und unmissverständlich wird hier die Straffreiheit von sexuellen Kontakten mit Kindern gefordert. Dokumente aus den damaligen Jahren zeigen, dass es in Hannover eine Auseinandersetzung mit diesen Forderungen gegeben hat. So stammt der Entwurf zu „Schwule & Lesben“ von der „Schwulengruppe Rotzschwul“, die sich in die Programmdebatte der GABL eingebracht hat. In diesem heißt es:

„1969 wurde der § 175 nur zum Teil liberalisiert. Denn sexuelle Handlungen an einem Mann unter 13 Jahren sind heute noch strafbar. Das Schutzalter bei Heterosexuellen liegt dagegen bei 16 Jahren. Dieser Paragraph muß weg! Auch die Paragraphen 174 (Abhängigkeit) und 176 (Sexualität mit Kindern) müssen so abgeändert werden, daß einverständiges Handeln zwischen Kindern und Erwachsenen straffrei bleibt.“

Diese Passage wurde von der Redaktionsgruppe übernommen („Dieser Entwurf ist jetzt weitgehend Konsens zwischen Rotzschwul und Redaktionsgruppe“), der letzte Satz findet sich wortgleich in der finalen Programmfassung.

Belegbar ist jedoch darüber hinaus, dass hier nicht lediglich die Forderung einer Gruppe übernommen wurde, sondern auch innerhalb des grünen Kreisverbandes Hannover-Stadt eine inhaltliche Befassung stattgefunden hat. So schreibt ein Delegierter des KV in einem Bericht von der BDK in Saarbrücken:

173 „Nicht überall schien, wie bei unseren Mittwochs-Treffs, eine Vordiskussion der seit langem im politischen Raum stehenden Frage erfolgt zu sein. Die berechtigte Forderung nach Abschaffung des § 175 u. Änderung der §§ 174 u. 176 dahingehend, daß bei Anwendung o. Androhung von Gewalt und Mißbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses sexuelle Handlungen unter Strafe zu stellen sind, wurde wegen der mangelnden Aufklärung nicht von allen, nach unserem basisdemokratischen Verständnis aufgenommen und daher das mehrheitliche Abstimmungsergebnis für die o.g. Abschaffung u. Änderung begriffen werden. Wir sollten wirklich in unsere Überlegungen mit einbeziehen, daß hierbei Gewalt u. Mißbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses weitaus eher bei sog. „Normalen- Hetersosexuellen“- Beziehungen verbreitet sind und eine extra Strafgesetzgebung sich zur Diskriminierung von Minderheiten verwenden läßt.“

Dieser Bericht ist offensichtlich so zu verstehen, dass aus der Sicht des Delegierten die Diskussion um die Abschaffung der Strafrechtsparagraphen zumindest in Hannover abgeschlossen war und die Forderungen von Delegierten anderer Kreisverbände nach weiterem Diskussionsbedarf auf mangelnde „Aufklärung“ zurückzuführen sei. Der Vergleich mit Gewalt und Missbrauch in „normalen“ heterosexuellen Beziehungen ist ein geschmackloser Versuch, sexuelle Kontakte mit Kindern als Form sexualisierter Gewalt zu relativieren.

1981: Kommunalwahlprogramm des KV Braunschweig

Auch in Braunschweig findet sich 1981 im Kommunalwahlprogramm eine Formulierung zu einer strafrechtlichen „Sonderbehandlung“, die sich aber wohl auf Homosexuelle bezieht: „Eine strafrechtliche Sonderbehandlung lehnen wir schon deshalb ab, weil das Strafgesetzbuch schon alle Formen der Gewaltanwendung, sei es durch Vergewaltigung, Mord, Erpressung, etc. verfolgt. Eine zusätzliche Diskriminierung der Homosexuellen durch spezielle Paragraphen ist daher unnötig.“ (Seite 29)

Zumindest ist diese Forderung aber wenig differenziert. Eine intensivere Befassung mit dieser Passage ist nicht dokumentiert.

VI. Bewertung der Dokumente aus heutiger Sichtung

Hintergründe der Debatte und entsprechende politischen Forderungen

Die basisdemokratische Verfasstheit der Partei und der programmatisch vertretene Minderheitenschutz machten es den unterschiedlichsten Initiativen und Gruppen leicht, bei Teilen der Grünen „Betroffenheit“ zu erzeugen und dadurch Unterstützung zu finden. Dies betraf nicht zuletzt solche mit sexualpolitischen Anliegen, die damals in weiten Teilen der linksliberalen bis radikaldemokratischen und bürgerrechtlichen Öffentlichkeit Zustimmung fanden. Darunter waren nicht nur homosexuelle, sondern auch pädophile Gruppierungen.

174 Seit den 1960er Jahren arbeiteten Sexual- und Strafrechtsreformer daran, ein modernes Sexualstrafrecht zu schaffen und die Bundesrepublik Deutschland vom verklemmten, sexualfeindlichen „Mief“ der Adenauerzeit zu lösen. Viele dieser Bemühungen sind aus heutiger Sicht zu begrüßen, es wurden aber auch die §§ 174 und 176 StGB in Frage gestellt. Publizistisch so gewichtige Medien wie DIE ZEIT gaben dieser Diskussion Raum. Meinungen wie die, dass Gerichtsverhandlungen weit größeren Schaden verursachten als angeblich nicht- aggressive Sexualhandlungen mit Kindern, wurden Ende der 1960er Jahre hier veröffentlicht; der Feuilletonchef selbst positionierte sich mit Hinweisen auf literarische Vorbilder gegen die „Hysterie der Spießer“. Die 1968er Revolte, in deren Umfeld Berichte der Kommune II über Erwachsene im Umgang mit kindlicher Sexualneugier erschienen, und die Bejahung der kindlichen Sexualität in den Kinderläden standen seinerzeit im Zeichen der Überzeugung, durch die Befreiung der (kindlichen) Sexualität der autoritären gesellschaftliche Zurichtung zu entgehen.

Diese Auffassung wurde in den 1970er Jahren in Fachkreisen vielfach noch zugespitzt. Als ein prominentes Beispiel kann der Pädagoge Helmut Kentler genannt werden, der mit seinem Ansatz einer „nicht-repressiven“ Sexualerziehung Aufsehen erregte. Das von ihm mit verfasste Aufklärungsbuch „Zeig mal“, mit sexualisierten Fotos von Kindern des Engländers McBride, wurde in einem evangelisch geprägten Verlag verlegt und ca. 90.000 Mal abgesetzt. Es steht inzwischen auf dem Index. Darin, und auch an anderen Stellen, formulierte Kentler seine Überzeugung, dass einvernehmliche sexuelle Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern nur dann Schaden anrichten könnten, wenn sie von der Umwelt diskriminiert würden. Dem Professor für Sozialpädagogik und Sexualwissenschaft an der Universität Hannover sprang u. a. sein Bremer Kollege Rüdiger Lautmann bei, für den Sexualdelikte an Kindern „Verbrechen ohne Opfer“ waren. Kritiker dieser Auffassungen, wie z.B. Günther Amendt oder Alice Schwarzer, wurden kaum gehört.

Erst seit Mitte der 1980er Jahre richtete sich die Aufmerksamkeit wieder verstärkt auf das Erleben und das Leid der Kinder. Dabei hatte bereits 1933 der Psychoanalytiker Sandor Ferenczi in seinen Schriften zur Psychoanalyse auf folgendes aufmerksam gemacht: Da das Kind die Sprache der Zärtlichkeit, die der Erwachsenen jedoch die der Leidenschaft spreche, werde das Kind bei Sexualkontakten überwältigt und verstört und identifiziere sich dann häufig mit dem Aggressor, der es zum Schweigen verpflichtet. Inzwischen wird diese Sichtweise von großen Teilen in der Gesellschaft getragen. Es bedurfte erheblicher politischer und fachlicher Anstrengungen und Kämpfe, um Einrichtungen zu schaffen, die – zunächst – weiblichen Missbrauchsopfern Hilfe sowie fachliche Aufklärung und Beratung anboten. Diese sind in erster Linie der Selbsthilfebewegung sowie der feministischen Bewegung zu verdanken. Inzwischen werden auch Jungen als Opfer gesehen und können Hilfe erwarten.

175 Heutige Bewertung

Die Auswertung der vorhandenen Dokumente zeigt, dass die Forderung nach Straffreiheit von sexuellen Kontakten mit Kindern auch innerhalb des niedersächsischen Landesverbandes diskutiert wurde. Ebenso ist jedoch nach dem aktuellen Kenntnisstand festzustellen, dass es zu keinem Zeitpunkt auf Landesebene eine Befürwortung entsprechender Forderungen oder einen niedersächsischen Ableger der BAG SchwuP gab.

In großen Teilen der Parteibasis gab es anscheinend keine Diskussionen oder andere Formen der Auseinandersetzung mit diesem Thema. Dies legt zumindest unsere Recherche in den Kreisverbänden nahe, bei der sich nur in drei der 47 Kreisverbände entsprechende Dokumente oder Beschlüsse auffinden lassen.

Verschiedene Dokumente belegen, dass im Landesverband, vor allem auf der Vorstandsebene, eine kritische Auseinandersetzung stattgefunden hat. Ein Beleg dafür ist die Erklärung des Landesvorstandes von 1985 zur BAG SchwuP. Auch die Veranstaltung der Landtagsfraktion „Sexualität mit Kindern?“ kann als kritische Auseinandersetzung gewertet werden, da hier ein Fokus auf das Thema Missbrauch und Pädophilie aus psychologischer Sicht gelegt wurde. Jedoch bleibt anzumerken, dass es zumindest eine Bereitschaft gegeben hat, diese Positionen zu diskutieren und sich mit Vertretern der BAG SchwuP zu treffen.

Wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass es in unserem Landesverband Diskussionen zu diesen Forderungen gegeben hat und mindestens zwei Kreisverbände entsprechende Passagen in ihren Kommunalwahlprogrammen aufgeführt haben. Offensichtlich galt die Frage der Straffreiheit und „Enttabuisierung“ von sexuellen Kontakten mit Kindern für einzelne Mitglieder als berechtigte Forderungen von gesellschaftlichen Minderheiten, denen man sich pauschal verpflichtet fühlte. Gerade in den Anfangsjahren waren grüne Listen zur Kommunalwahl ein Sammelbecken unterschiedlicher Gruppen und Initiativen. Dabei wurden viele berechtigte Forderungen beispielsweise nach einer Entkriminalisierung von Homosexuellen übernommen, aber leider auch sehr schwierige und falsche programmatische Passagen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Forderungen hat es in den betroffenen Kreisverbänden nicht immer gegeben. Die sonst so streitlustige und diskussionsfreudige grüne Basis hat diesen Bereich offensichtlich ausgespart. Dies war ein schwerer Fehler in den Anfangsjahren der Grünen - auch in Niedersachsen.

Offensichtlich hat es in Teilen der Mitgliedschaft Defizite beim Wissen um Missbrauch und Machtverhältnisse in sexuellen Beziehungen gegeben. Die Sichtweise auf die Perspektive der Kinder und Jugendlichen kam in dieser Debatte nicht vor. Ihnen wurde pauschal unterstellt, eine natürliche sexuelle Begierde zu haben, die mit der Sexualität von Erwachsenen vergleichbar ist und von den herrschenden herrschenden Verhältnissen durch Tabuisierungen unterdrückt wird. Aus heutiger Sicht sind die Forderungen nach Straffreiheit für pädophile Handlungen aus

176 den Gründungsjahren der Grünen nicht nachvollziehbar und entsprechende Positionierungen vollkommen inakzeptabel. Seit Mitte der 1980iger Jahre werden sexuelle Kontakte mit Kindern dem Bereich sexueller Missbrauch und sexualisierter Gewalt zugeordnet. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN arbeiten mit Organisationen wie „Wildwasser“ zusammen, die Menschen unterstützen, die Opfer von sexuellem Missbrauch geworden sind. Wir setzen uns aktiv für Menschen ein, die von sexualisierter Gewalt betroffen waren oder sind.

VII. Fazit

Die Diskussion um pädophile Strömungen und Forderung innerhalb der Grünen zeigt, wie wichtig die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist. Diese muss weiter fortgesetzt werden, um Fehler aus der Vergangenheit nicht zu wiederholen.

Dadurch, dass Grüne pädophile Forderungen überhaupt diskutiert haben, wurde suggeriert, dass dies analog zu anderen politischen Anliegen legitime Forderungen seien. Wir distanzieren uns heute in aller Deutlichkeit von den Forderungen nach Straffreiheit für pädophile Übergriffe und bitten alle, die sich durch diese Debatten und Positionen in ihrem Schmerz und ihrem Leid verhöhnt fühlen, um Entschuldigung. Wir wollen uns als Grüne der politischen und moralischen Verantwortung stellen. Viel zu spät wurde damit begonnen, diesen Teil aufzuarbeiten.

2.6 Bericht des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen

Ziel der Aufarbeitung des Landesverbandes NRW war vor allem die Unterstützung der Arbeit der AG Aufarbeitung auf Bundesebene sowie eine Aktivierung der Kreisverbände in NRW, eigene Prozesse zur parteiinternen Aufarbeitung zu starten. Die Sichtung der Unterlagen des Landesverbandes NRW erfolgte anhand einer Stichwortsuche und nachfolgenden Intensivrecherche in den identifizierten relevanten Quellen. Da bis auf die LDK-Protokolle nahezu sämtliche Unterlagen des Landesverbandes im Grünen Gedächtnis in Berlin aufbewahrt werden, erfolgte die Erstsuche unterstützt von den dortigen Mitarbeitern.

Besonderes Augenmerk wurde auf die Vorgänge rund um die Programmdebatte zur Landtagswahlwahl 1985 zum Thema „Sexualität und Herrschaft“ gerichtet. Die entsprechenden Protokolle und Unterlagen wurden auch der Presse zur Verfügung gestellt, von deren Seite es vor allem im Sommer 2013 diesbezüglich verschiedene Anfragen gab. Weitere Schwerpunkte lagen auf der Recherche zu den Aktivitäten der LAG SchwuP und der BAG SchwuP. Hier gab es eine Überschneidungen, da sich in den relevanten Zeiträumen die Bundeshauptstadt und somit das politische Zentrum der Bundesrepublik in Bonn (NRW) befanden. Zudem wurde gezielt nach Informationen zu bekannten Tätern aus dem Landesverband und in ihren Aktivitäten bei den Grünen gesucht. Zu nennen sind diesbezüglich insbesondere Hermann Meer (Kamp-Linftfort/ Dachsberg) sowie Willi Dreisvogt (Gütersloh).

177 In Gesprächen wurde mit langjährigen Aktiven innerhalb der Partei und den Kreisverbänden an weiteren Informationen und/oder Unterlagen gearbeitet. Es erfolgte auch eine Recherche im Stadtarchiv Kamp-Lintfort. Zudem konnten auf Basis bisheriger erster Erkenntnisse weitere Unterlagen im Grünen Gedächtnis identifiziert werden, die den Zusammenhang zwischen der Kommune am Dachsberg und Mitgliedern der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verdeutlichten.

Zusätzlich zu den Bemühungen des Landesverbandes gab es auch innerhalb der NRW- Kreisverbände (u.a. Bonn, Münster, Düsseldorf) intensive Anstrengungen, die eigene Geschichte aufzuklären.

Neben dem Versuch, über den Kontakt zu langjährigen Aktiven innerhalb der Partei und die Kreisverbände weitere Informationen und/oder Unterlagen zu erhalten, erfolgte auch eine Recherche im Stadtarchiv Kamp-Lintfort. Zudem konnten auf Basis erster Erkenntnisse weitere Unterlagen im Grünen Gedächtnis identifiziert werden, die den Zusammenhang zwischen der Kommune am Dachsberg und der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verdeutlichten, jedoch keine Hinweise dazu enthielten, ob die von dort berichteten Übergriffe innerhalb der Partei bekannt waren.

Auch die Untersuchung der Vorstandsprotokolle aus der Amtszeit von Hermann Meer im Landesvorstand NRW (1980) lieferten diesbezüglich keine Ergebnisse. Durch Terminankündigungen nachgewiesen sind mehrere Treffen von Grünen Arbeitsgemeinschaften am Dachsberg.

Ein Schriftwechsel aus dem Jahr 1986 macht zudem deutlich, dass Hermann Meer auch zu dieser Zeit noch für seine Idee einer „LAG Autarker Ökogemeinschaften“ innerhalb der Grünen geworben hat.

2.7 Aufarbeitung der Rolle des Themas Pädosexualität im Landesverband Schleswig-Holstein Bündnis 90/Die Grünen

Bericht der Arbeitsgruppe Aufarbeitung von Bündnis 90/Die Grünen vom Oktober 2014

Einsetzung und Arbeit der AG Aufarbeitung

Auf Beschluss des Landesvorstandes von Bündnis 90/Die Grünen Schleswig-Holstein wurde am 23. Oktober 2010 eine Arbeitsgruppe zur Aufarbeitung pädophiler Forderungen und Debatten innerhalb des Landesverbandes eingerichtet. Anlass waren die im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 bekannt gewordenen Fälle von Forderungen pädophiler Gruppen nach straffreiem Sex mit Kindern, die Ein- gang in Grüne Parteiprogramme der 1980er Jahre gefunden hatten. Hinzu kam der Hinweis, dass es auch in Schleswig-Holstein im Landtagswahlprogramm 1987 entsprechende

178 Formulierungen gegeben habe. Dies war Anlass für den Landesverband, sich kritisch und so umfassend wie möglich mit der eigenen frühen Programmatik auseinanderzusetzen.

Der Arbeitsgruppe gehören folgende Personen an: Ruth Kastner, Birgitta Brunner-Peters, Dörte Schnitzler, Tilmann Schade und Karl-Martin Hentschel. Die AG tagte insgesamt fünfmal und hat folgende Schritte unternommen:

• Analyse des Zwischenberichts von Professor Franz Walter • Recherchen im Archiv des Landesverbandes und in Materialien von Karl-Martin Hentschel • Recherchen im Archiv Grünes Gedächtnis (AGG) durch Barbara Messow • Befragung von Zeitzeugen (u.a. Jutta Hansen, Lars Hennings, Heino Schomaker, Dirk Salewsky) per Mail bzw. mündlich.

Recherchen Gesucht wurde nach den Stichpunkten „Jugend“, „Kinder“, „Sexualität“ bzw. „Homosexualität“ und Pädophilie“, „Stadtindianer“, „LAG Schwule und Lesben“, „BAG SchwuP“, „einvernehmlicher Sex mit Kindern“ und den Paragrafen 174 bis 177 sowie §182 des Strafgesetzbuches. Durchsucht wurden folgende Unterlagen aus der Zeit von 1979 bis 1990:

Archiv Landesgeschäftsstelle Kiel • LDU Rundbrief Okt/Nov 1979 (LDU - Liste für Demokratie und Umweltschutz, Vorläuferorga- nisation der Grünen) • GLSH Rundbriefe 5/79, 6/79, 1/80, 2/80, 3/80, 5/80, 6/80 (GLSH – Grüne Liste Schleswig- Holstein, eine der beiden grünen Parteien in Schleswig-Holstein Anfang der 80-er Jahre) • Zwei Ordner „Historie“ mit verschiedenen Materialien aus den Jahren 1979 – 1981 • Unterlagen LDKs 1981 – 1988 (LDK – Landesdelegiertenkonferenz, früherer Name für Parteitag) • Unterlagen LHA 1984 – 1989 (LHA – Landeshauptausschuss, früherer Name für den kleinen Parteitag) • Schreiben der Landesgeschäftsstelle an Kreisverbände und Kommunalpolitiker 1983 – 1984 • Ordner Grüne Husum 1980 – 1987 • Die GRÜNEN – Materialien zum Landesparteitag 3. Okt 1982 (Vereinigungsparteitag) • GLSH Programm 1982

Dokumente von Karl-Martin Hentschel • GLSH Rundbrief 8/80 • GLSH Programmsichtungskommission für ein gemeinsames Programm 1982/1983 • Programm LTW 1983 • Programm GAL Pinneberg 1986 (GAL – Grüne alternative Liste, Vorläufer der Grünen Orts- gruppe Pinneber)

179 • Programm AL Neumünster 1986 (AL – Alternative Liste, Vorläufer der Grünen Kreisgruppe Neumünster) • Programm KV Kiel 1986 • Programm GRÜNE Kreis Pinneberg 1986 • Programm Landtagswahl (LTW)1987 • Aktionsprogramm LTW 1988 • Programm KV Kiel 1990 • Kommunalpolitische Perspektiven 1990 • Programm GRÜNE Kreis Pinneberg 1990

Archiv Grünes Gedächtnis Berlin – Bestand Helga Fritzsche • Mehrere Ordner: Die Gründungsparteitage der Grünen • Mehrere Ordner: Gründungsphase und Fusion • Mehrere Ordner: Die Grünen Landesvorstand

Archiv Grünes Gedächtnis Berlin – Bestand Schleswig-Holstein I – Landesvor- stand/ Landesgeschäftsstelle • Unterlagen LAG Frauen (1985 – 1987) (LAG = Landesarbeitsgemeinschaft) • Loses ungeordnetes Material (1983 – 1989) • Protokolle, Presse (1981 – 1984) • Frauen (1981 – 1988) • §218 (1984 – 1987) • (Kreis-)Rundbriefe, Schatzmeisterkonferenz usw. (1986 – 1989) • Frauen A-G (1982 – 1985) • Frauen H-Z (1983 – 1989) • Grüne Frauen (1983 – 1985) • Ökofonds Protokolle, Jahresberichte (1984 – 1990) • Kreisrundbriefe (1986) Archiv Grünes Gedächtnis Berlin – Bestand ‚Die Grünen im Bundestag 1984 – 1990‘ • Pädophilie und Sexueller Missbrauch • Reform des Sexualstrafrechts – Opferschutz • BAG Schwule, Päderasten und Transsexuelle (BAG – Bundesarbeitsgemeinschaft) • HIV/AIDS • §175 und §182

Archiv Grünes Gedächtnis Berlin – Bestand NRW I – LaVo/LGSt • Posteingang

Archiv Grünes Gedächtnis Berlin – Bestand • Broschüren

180 Archiv Grünes Gedächtnis Berlin – Bestand ‚Die Grünen 1980 – 1990 BuVo/BGSt‘ • Sitzungen des BHA 1986 – 1987 (BHA – Bundeshauptausschuss, Vorläufer des kleinen Parteitages)

Über die LAG (Landesarbeitsgemeinschaft) „Schwulenpolitik“, später (vermutlich 1987) umbenannt in LAG „Lesben und Schwule“ der Grünen Schleswig-Holstein haben wir keine Unterlagen gefunden. Wohl auch deshalb, weil sie nie offiziell anerkannt worden war, so die Aussage von Dirk Salewsky (damals Mitglied der LAG). Die LAG „Schwulenpolitik“ wurde vermutlich Anfang der 1980er Jahre gegründet und in Rundbriefen gelegentlich erwähnt. Sie taucht lediglich im Zusammenhang mit ein- zelnen Papieren auf, wie im Folgenden dargestellt. Über längere Zeit sollen Michael G. und Kornelius R. die führenden Köpfe gewesen sein. Die LAG soll anfangs aus etwa 20 Leuten bestanden haben. Getagt wurde monatlich, oftmals in den Räumen der Landesgeschäftsstelle in Kiel, mitunter auch in der Kreisgeschäftsstelle in Pinneberg.

Es wurden zudem alle 16 Kreisverbände aufgefordert, ihre Kommunalwahlprogramme und andere Materialien nach pädophilen Forderungen durchzusehen. Die Rückmeldungen waren spärlich und ergaben bislang keine Hinweise, dass entsprechende Passagen in Programme aufgenommen worden wären. Vielfach waren die Unterlagen lückenhaft, häufig waren auch keine Dokumente aus den frühen 1980er Jahren mehr vorhanden. Deshalb können wir uns bei den folgenden Aussagen nur auf die bislang aufgefundenen Materialien stützen.

Ergebnisse

Die Ergebnisse lassen sich in sechs Komplexe gliedern: 1. Politische Debatten der GRÜNEN Schleswig-Holstein in den 1980er Jahren (Übersicht) 2. Die Gründungsdebatte 1980 3. Die Fusionsdebatte und das Landtagswahlprogramm von 1983 4. Die Debatte um Jugendheime und die Förderung der Kieler Stadtindianer 1983, 1985 5. Das Landtagswahlprogramm von 1987 6. Beteiligung von schleswig-holsteinischen Grünen an der BAG SchwuP und der Neugründung der BAG Schwulenpolitik

1. Politische Debatten der Grünen Schleswig-Holstein in den 1980er Jahren

In den Jahren von 1979 bis 1988 wurden zahlreiche, häufig sehr kontroverse Debatten geführt, die teilweise auch mit heftigen politischen Vorwürfen und persönlichen Anfeindungen verbunden waren. Dabei ging es im Wesentlichen um Themen wie Ökologie und Atomausstieg, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, Friedenspolitik, Frauenpolitik sowie Kinder und Jugendliche.

181 Das Thema Kinder und Jugendliche taucht in nahezu allen Programmen auf. Dabei geht es fast immer um folgende Themen: Arbeitslose Jugendliche, Jugendzentren (mehr Autonomie), mehr und bessere Kitas, Schulen (ohne Zwang, gute Ausstattung, gemeinsame Erziehung, mehr Autonomie usw.). Einen besonderen Raum nahm das Thema Jugendheime ein – siehe unten.

Das Thema Sexualität im Allgemeinen oder Homosexualität bzw. Pädosexualität taucht erstaunlicherweise sehr selten auf. Die wenigen Fundstellen fanden sich in den folgenden Zusammenhängen: • In Bezug auf den Gründungsprogrammparteitag in Saarbrücken – siehe unten: Gründungsdebatte. • Landtagswahlprogramm von 1983: „Sexualität ein Weg der Selbstbestimmung“ – siehe unten. • Anhang im Landtagswahlprogramm von 1987 „Für sexuelle Selbstbestimmung“ – siehe unten. • Bei der Gründung der BAG Schwulenpolitik

Insbesondere das Thema Homosexualität kommt bis auf die genannten Fälle in den Dokumenten praktisch nicht vor und spielte bei den Grünen Schleswig-Holstein anscheinend nur eine marginale Rolle. Das Thema wurde nicht offensiv sondern eher sehr vorsichtig formuliert. Das ist heute unverständlich. Es war damals wohl ein Zugeständnis an den Zeitgeist, der auch noch viele Mitglieder im ländlichen Schleswig-Holstein prägte.

Vage und ungefähre Formulierungen seien oft auch das Ergebnis von Kompromissen gewesen, so Dirk Salewsky. Innerhalb des Landesverbandes soll es nicht einfach gewesen sein, Schwulenpolitik zu betreiben. Besonders die Leute vom Kommunistischen Bund hätten aggressiv reagiert. Sie hielten die Forderungen der Schwulen und Lesben für inhaltlich nicht relevant mit Blick auf ihre eigenen politischen Ziele.

Die Zeitzeugen berichten übereinstimmend, dass sie sich an Debatten über Pädosexualität gar nicht erinnern oder dass das Thema nur am Rande eine Rolle spielte. Ein Mitglied im Landesvorstand und Kandidatin bei der Landtagswahl 1988: „in der Gründungsphase der Grünen Schleswig-Holstein (standen) ganz andere Themen oben auf der Liste“. Von den meisten Grünen auf Landesebene wurde das Thema nicht ernst genommen (siehe unten Programmdebatte 1983).

Der Zeitzeuge Lars Hennings (Spitzenkandidat auf Platz 2 bei den Landtagswahlen 1983 und 1987) erinnerte sich daran, dass auf einem Parteitag in einer Arbeitsgruppe von Michael G. wohl die Pro- Position vertreten wurde. Michael G. war von Juni 1980 bis Dezember 1982 im Landesvorstand gewesen und zeitweilig auch dessen Sprecher. Ab 1988 wurde er dann Landesgeschäftsführer und ab 1996 Fraktionsgeschäftsführer der Bündnisgrünen im Kieler Landtag bis er im März 2002 fristlos gekündigt wurde, nachdem einschlägige Photos (Kinderpornos) auf seinem Rechner gefunden wurden.

182 Lars Hennings erinnert sich, dass G. von mehreren Delegierten deutlich widersprochen wurde: „dass jede Form von Sex mit Kindern nicht einvernehmlich sein könne. Uns ging es auch darum, dieses Thema nicht öffentlich werden zu lassen, was nach einer sehr ruhigen Debatte auch gelang.“ Hennings weiter: „für Freiheit der Sexualität waren wir natürlich immer (vor allem die Männer), für die Freiheit der Kinder auch. Aber nicht für Sex mit Kindern. (...) Vor allem in der frühen Zeit der Partei- Konsolidierung wurde erstmal ‚alles‘ eingesammelt, was den Flügeln hilfreich erschien. (...) Nach meiner Erinnerung war das (Pädophilie) kein ‚linkes‘ Thema, die Leute mit solchen Forderungen wur- den eher belächelt, aber politisch diesbezüglich nicht ernstgenommen.“

2. Die Gründungsdebatte 1980

Im Zwischenbericht von Professor Walter wird auf Seite 50 berichtet, dass der schleswig- holsteinische Bio-Bauer Baldur Springmann auf der Bundesversammlung 1980 in Saarbrücken mit 70 Leuten das Podium besetzte, weil ihrer Meinung nach im Programm zu wenig über Ökologie und zu viel über das Sexualstrafrecht stehe.

In den durchsuchten Dokumenten der schleswig-holsteinischen Grünen taucht diese Debatte nur an einer Stelle auf: Im Rundbrief der GLSH (Grüne Liste Schleswig-Holstein) vom 7.1.1980 im Vorfeld der Bundesversammlung. Dieser war damals praktisch der Rundbrief aller Grünen in Schleswig-Holstein - also auch an die Mitglieder der GAZ (Grüne Aktion Zukunft), AUD (Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher), A3W (Arbeitsgemeinschaft 3. Welt) und SPV „Die Grünen“ (Sonstige Politische Vereinigung), zu denen auch die LDU-Mitglieder (Liste für Demokratie und Umweltschutz) gehörten. Dort berichtet ein Landesvorstandsmitglied und Mitglied der Programmkommission der SPV, auf Seite 17:

„Die in diesen Tagen in „Die Grünen“ [das war eine Zeitung im grünen Spektrum] abgedruckten Teile ‚Demokratie‘ und ‚Minderheiten‘ (...) können wir ebenfalls in einigen Punkten nicht akzeptieren. Es geht nicht an, dass programmatische Punkte gegen die Diskriminierung von Zigeunern und sexuellen Minderheiten mehr Raum einnehmen als das Friedensprogramm. (...) Außerdem gehen einige Forderungen unseres Erachtens wirklich zu weit. So habe ich (...) die Streichung oder Umformulierung der zweiten Forderung unter ‚Minderheitenrechte‘ beantragt, da die vorliegende Formulierung Vergewaltigungen erlaubt, solange sie ohne Missbrauch der Stellung oder Gewaltanwendung (also beispielsweise ‚nur‘ mit Gewaltandrohung) erfolgt.“

Der Journalist Jürgen Oetting, der 1982 zeitweilig auch Mitglied im Landesvorstand war, schildert seine Erinnerung in einem TAZ-Artikel am 6.1.1990 über die Geschichte der schleswig- holsteinischen Grünen: „Die Ergebnisse des Programmparteitages vom 21. bis 23. März 1980 in Saarbrücken schürten in der GLSH vielfach bestehende Vorbehalte gegen die Bundespartei. (...) Als in Saarbrücken die Forderung nach Abschaffung des Abtreibungsparagrafen 218 im Strafgesetzbuch, nach Beendigung der Diskriminierung Homosexueller und die Milderung

183 der Strafrechtsbestimmungen über Sexualität mit Kindern beschlossen war, besetzte Baldur Springmann gemeinsam mit anderen Delegierten das Podest und zwang das Podium mit Spaltungs- und Austrittsdrohungen zur Relativierung der Beschlüsse. (...)“ Offensichtlich spielte das Thema Sexualität mit Kindern also nach der Erinnerung von Jürgen Oetting in der Debatte in Schleswig-Holstein eine Rolle, auch wenn es sich schriftlich nicht eindeutig erkennbar niederschlug. Dementsprechende Erinnerungen hat auch ein Mitglied aus dem KV Kiel, eines der wenigen heutigen Mitglieder der Grünen, das sich an eine kontroverse Diskussion mit dem damaligen Landesvorstandssprecher Michael G. erinnern konnte.

3. Die Fusionsdebatte und das Landtagswahl-Programm von 1983

Nach dem Saarbrückener Parteitag spalteten sich die Grünen in Schleswig-Holstein in zwei Parteien, die Grüne Liste Schleswig-Holstein (GLSH) und die Grünen. In den folgenden beiden Jahren bis zur zweiten Fusion tobte dann eine heftige Debatte, die sich vor allem um den Vorrang der Ökologie und den Einfluss der Gruppe Z (einer Abspaltung des Kommunistischen Bundes) bei den Grünen Schleswig-Holstein drehte.

Das Thema Pädosexualität tauchte an einer Stelle auf – bei der Diskussion um das Landtagswahlprogramm 1983. In dem Vorschlag der Programmsichtungskommission der GLSH schlägt diese die Übernahme des Papiers „Sexualität ein Weg der Selbstbestimmung“ von Michael G. (siehe oben) und an- deren vor. G. war damals Sprecher der GRÜNEN und Sprecher der LAG Schwulenpolitik. Die GLSH fordert zwei Änderungen: Die Forderung nach Streichung des §175 sollte umformuliert werden (nur noch Verbot von Sex mit Jugendlichen und geringeres Strafmaß). Außerdem sollte der folgende ein- deutige Abschnitt gestrichen werden: „In Beziehungen, die von beiden Partnern gewünscht werden, darf der Staat sich nicht einmischen. Dabei steht für uns die partnerschaftliche Anerkennung und Lie- be im Vordergrund und nicht das Alter der Beteiligten. Sexuelle Beziehungen zu Kindern und Jugendlichen sollen daher nicht mehr generell unter Strafe gestellt werden, sondern nur im Falle der Ausübung von Gewalt, Nötigung oder Ausbeutung.“

Das schließlich verabschiedete LTW-Programm enthält dann zwar als einziges Programm der Grünen in Schleswig-Holstein in den 1980er Jahren einen Abschnitt zum Thema Sexualität. Die Vorlage von G. wurde aber radikal gekürzt – noch weit über die Forderungen der GLSH hinaus. Die übrig gebliebene Passage wendet sich nur noch gegen die Reduzierung der Sexualität auf die Fortpflanzung und gegen die Unterdrückung von „abweichendem Verhalten“ (Homosexualität wird nicht beim Namen genannt). Gefordert werden keine Strafrechtsänderungen, sondern vielmehr Sexualberatung, Sexualorschung und Sexualerziehung, ein Antidiskriminierungsgesetz, das Verbot der medizinischen Behandlung von Homosexualität und die Auflösung einschlägiger Dateien bei Polizei und Verfassungsschutz.

184 4. Die Debatte um Jugendheime und die Förderung der Kieler Stadtindianer 1983, 1985

Auf Seite 88 des Zwischenberichtes von Professor Walter wird berichtet, dass der schleswig- holsteinische Ökofonds 1985 einer Gruppe von Stadtindianern einen Mietkostenzuschuss in Höhe von insgesamt 735,- DM gewährte. Dies wird in Zusammenhang mit pädosexuellen Vorfällen der Gruppe „Stadtindianer“ in Nürnberg gebracht. Die Quelle aus dem „Archiv für alternatives Schrifttum (AfAS)“ in Duisburg lag uns leider nicht vor. In den Unterlagen des Ökofonds Schleswig-Holstein findet sich kein Hinweis auf den Zuschuss, obwohl diese Unterlagen vollständig zu sein scheinen. Auch der damalige Geschäftsführer Heino Schomaker hat daran keine Erinnerung. Barbara Messow, die für uns die Recherche im Grünen Archiv in Berlin durchführte, vermutet, dass der Zuschuss nicht vom Ökofonds Schleswig-Holstein gezahlt wurde, da es vorkam, dass Projekte nicht nur im eigenen Bundesland gefördert wurden und es in mehreren Bundesländern solche Ökofonds gab.

Von den Zeitzeugen erinnerte sich einer, dass es in den 1980er Jahren häufig politische Debatten über die Jugendheime in Schleswig-Holstein gab, die damals noch sehr repressiv geführt wurden. Damals gab es auch mehrfach Ausbrüche von Jugendlichen aus solchen Heimen. Die Stadtindianer in Kiel seien eine Gruppe von solchen Jugendlichen gewesen. Der Ökofonds hätte ihnen evtl. Geld gegeben, damit sie eine Unterkunft bekommen. Mit einer Unterstützung von Pädosexualität habe das seines Wissens nach nichts zu tun.

Tatsächlich nimmt die Problematik der Jugendheime in den schleswig-holsteinischen Grünen Programmen der Zeit einen breiten Raum ein. Später (2009) hat sich das schleswig-holsteinische Parlament sogar für das Unrecht gegenüber den betroffenen Menschen entschuldigt.

Auf dem Landesdelegiertenkongress (LDK) 1983 in Eckernförde wurde auf Antrag des damaligen Parteisprechers Michael G. beschlossen, gemeinsam mit den Jungdemokraten und anderen einen jugendpolitischen Kongress durchzuführen. „Behandelt werden sollten dort beispielsweise die Bildungs- und Ausbildungssituation Jugendlicher, Kriegsdienstverweigerung, schulische und außerschulische Mitbestimmung (Jugendzentren), Schülerzeitungszensur, Jugendförderung, Grundsatzfragen (Scheidungsrecht für Kinder usw.).“ (aus dem Beschluss der LDK Eckernförde am 20.3.83). Begründet wurde die Initiative mit dem schlechten Wahlergebnis bei JungwählerInnen.

Aus den Unterlagen geht hervor, dass der Kongress stattfand und ziemlich schlecht besucht war (ca. 25 TeilnehmerInnen). Die Ergebnisse wurden auf der LDK in Geesthacht diskutiert. Die Stadtindianer aus Nürnberg wurden zum Kongress eingeladen. Sie sollen dort so rabiat aufgetreten sein, dass Helga Fritzsche den Antrag stellte, die Indianer zukünftig nicht mehr einzuladen. Stadtindianer aus Kiel werden nirgends erwähnt. In den Unterlagen der LDK Geesthacht findet sich dann ein ausführliches Papier über die „totalitären (geschlossenen) Heime“ und die Kriminalisierung von Kindern und Jugendlichen. Die Forderungen der Grünen dazu betreffen vor allem eine bessere Ausstattung der Kitas, Schulen und der Einrichtungen

185 für Jugendliche und gemeinsame Schulen. Auch in diesem Zusammenhang taucht das Thema Sexualität nicht auf.

In den Unterlagen der LDK in Geesthacht 1983 findet sich auch ein Bericht eines Delegierten im Bundeshauptausschuss, über eine BHA-Sitzung in Hannover, die von Jugendlichen der Indianerkommune Nürnberg (die im Walter-Bericht mit pädosexuellen Vorfällen in Verbindung gebracht wurde) unter Führung ihres 38-jährigen Häuptlings (Mitglied der GRÜNEN) gestört wurde, so dass es zu gewalttägigen Auseinandersetzungen kam. Welche Rolle dieser Bericht in Schleswig-Holstein spielte, konnten wir aus den Unterlagen nicht ersehen.

5. Das Landtagswahl-Programm 1987

Das Landtagswahlprogramm 1987 enthält am Ende des Kapitels „Gesellschaft“ einen Abschnitt „Schwule und Lesben – für sexuelle Gleichberechtigung“. Dieser Abschnitt war – wie in einer Fußnote unter dem Inhaltsverzeichnis erläutert – nicht Bestandteil des verabschiedeten Programms, sondern wurde als „Diskussionsbeitrag“ bezeichnet.

Dieser Abschnitt enthält insbesondere im fettgedruckten allgemeinen Teil eindeutige Formulierungen, die typisch für die Pädosexuellen-Bewegung sind:

„Als etwas nicht nur dem sogenannten Erwachsenen, sondern unbedingt auch dem Jugendlichen und dem Kind Eigenes stellt diese (die Sexualität) den je besonderen, doch jedenfalls nicht ohne weiteres abweisbaren Anspruch auf Verwirklichung. Dieser Tatsache ist weitestgehend Rechnung zu tragen.“

„Bei der Beurteilung von Beziehungen sexuellen Charakters besteht keinerlei Notwendigkeit, einen engeren Rahmen als den der Einvernehmlichkeit zu setzen; erklärte Einvernehmlichkeit bedürfte einer näheren Überprüfung nur in Fällen offenbarer äußerer Abhängigkeit. (...) Die Strafwürdigkeit von Sexualität an sich muss bezweifelt werden.“

Die anschließend formulierten konkreten Forderungen betreffen allerdings nicht die Pädosexualitäts-Paragraphen 174 und 176 (wie im damaligen Bundesprogramm), sondern die Abschaffung des § 175 (Homosexualität unter Männern) und des damaligen § 182 (Verführung von Mädchen unter 16). Das Papier fordert, dass eine Enquete-Kommission des Landtages das Sexualstrafrecht überprüfen und ggf. der Landtag einen Antrag im Bundesrat stellen sollte. Diese beiden Paragrafen wurden dann 1994 tatsächlich abgeschafft und durch den neuen § 182 (Missbrauch von Jugendlichen) ersetzt. Das Papier fordert also nicht die Legalisierung der Pädosexualität, enthält aber eindeutig der pädosexuellen Szene zuzuordnende Formulierungen.

186 Wie es dazu kam, dass dieser Abschnitt im Landtagswahlprogramm abgedruckt wurde, ist nicht ab-schließend geklärt. Das Programm wurde auf dem LDK am 8. bis 10. Mai 1987 verabschiedet. Am 14. Mai wurde dann vom Landesvorstand beschlossen: „Robin, Anke S., Jan, Jutta und Sigrid (Layout) sind als Redaktionsgruppe für die Fertigstellung verantwortlich. Die LAG Mensch und Tier bekommt 1⁄2 Seite für ein Minderheitenvotum.“ Am 20. Mai schrieb dann Michael G. im Namen der LAG Schwulenpolitik einen Brief an den Landesvorstand, in dem er beantragte, den Diskussionsbeitrag (der dem Brief beilag) in das Landtagswahlprogramm aufzunehmen und ihm dazu einen Ansprechpartner zu nennen. In den Akten des Archivs Grünes Gedächtnis findet sich zudem ein Schreiben mit dem gleichen Text an die Landesgeschäftsstelle, dessen Autor nicht eindeutig bestimmbar ist.

Merkwürdigerweise stand aber dieser Diskussionsbeitrag auf dem folgenden Parteitag am 13. Juni 1987 nicht auf der Tagesordnung und wurde daher auch nicht behandelt. Am 25. Juni wurde dann im Landesvorstand beschlossen: „Jan, Heino und Nine machen die Layout-Abnahme.“ Weitere Beschlüsse, die das Programm betreffen, gab es nicht.

Tatsächlich gab es dann im fertigen Programm kein Minderheitenvotum der LAG Mensch und Tier, dafür aber den Diskussionsbeitrag der LAG Schwule und Lesben. Da der Antrag auf dem Juni- Parteitag nicht auf der Tagesordnung stand und niemand das einforderte, ist davon auszugehen, dass es zwischen der Redaktionsgruppe und der LAG eine mündliche Absprache gab, die aber nicht im Protokoll einer Vorstandssitzung auftaucht.

Vermutlich wollten ein oder mehrere Mitglieder des Landesvorstands oder die SpitzenkandidatInnen wegen der Zeitknappheit eine neue Programmdebatte auf der eintägigen Juni-LDK, in der erneut die Liste gewählt werden musste(!), unbedingt vermeiden und sagten deshalb der LAG oder Michael G. die Aufnahme des Papiers als Diskussionsbeitrag zu, wenn die LAG ihren Antrag zurückziehen würde, was dann offensichtlich geschah.

Zu ergänzen ist noch, dass die Aufnahme des Diskussionsbeitrages in das gedruckte Programm satzungswidrig war. Das Verfahren für die Aufnahme von Minderheitenvoten war nämlich in der Satzung des Bundesverbandes in §5 (3) 3. geregelt:

„3. Die Programme der GRÜNEN gliedern sich in zwei Teile. Der erste Teil ist das Programm im engeren Sinne. (...) In einem zweiten Teil können verschiedene, bei den GRÜNEN vorhandene Strömungen ihre zusätzlichen oder weiterführenden Auffassungen (...) bekanntmachen. (...) Über die Aufnahme in diesen Teil entscheidet die Bundesversammlung.“

Wenn es in der Satzung des Landesverbandes Schleswig-Holstein keine abweichende Formulierung gab, dann war die Aufnahme des Diskussionspapiers ohne Beschluss ein Verstoß gegen die Satzung.

187 6. Beteiligung von schleswig-holsteinischen Grünen an der BAG SchwuP und der Neugründung der BAG Schwulenpolitik

Die BAG SchwuP (Schwule, Päderasten und Transsexuelle bei den GRÜNEN und ALTERNATIVEN Listen) war eine Bundesarbeitsgemeinschaft, die nur zeitweilig offiziell anerkannt war. In den Dokumenten aus Schleswig-Holstein taucht sie in den Akten der LAG Frauen auf, wo über die kontroversen Diskussionen zwischen der BAG Frauen und der BAG SchwuP um das Sexualstrafrecht berichtet wird.

Als Delegierte der BAG Frauen werden im Jahre 1984 zwei Frauen benannt. In den Protokollen der gemeinsamen BAG-Sitzungen taucht allerdings kein Name aus Schleswig-Holstein auf. Eine Zeugin er- innert sich heute an Debatten über Gewalt gegen Frauen, häusliche Gewalt und Sexualität, kann aber nicht mehr sagen, ob Pädosexualität in der LAG Frauen Thema war.

Im Zusammenhang mit der Gründung des überparteilichen Bundesverbands Homosexualität (BVH) im November 1986 fand sich in den Akten der Bundestagsfraktion eine Stellungnahme, die sich gegen die Ausgrenzung der Pädosexuellen wendet. Dieser sogenannte „Distanzierungstango“ wurde von Kornelius R. aus Kiel (Sprecher der LAG Schwule und Lesben Schleswig-Holstein) mit unterzeichnet.

Am 10./11. April 1987 fand im Bonner Tagungshaus der GRÜNEN auf Beschluss des Bundeshauptausschusses ein Kongress mit dem Ziel der Neugründung einer BAG mit ca. 50 Schwulen statt. Ein Bericht von Bernd Offermann, Schwulenreferent der GRÜNEN im Bundestag, in der Zeitschrift „Rosa Flieder“ über den Kongress geht auf die Rolle der Pädosexuellen so ein: „Wer die Entwicklung der Schwulen- AGs bei den GRÜNEN in den letzten Jahren aufmerksam verfolgt hat, wird nun fragen, wo dabei die Pädos abgeblieben sind. Die Pädosexuellen, so der Eindruck beim Kongress, werden mit der von ihnen zur Schlüsselfrage erhobenen Sexualstrafrechtsforderung weniger Gehör finden. Auch bei der Namensgebung sind die Pädos schlicht herausgefallen.“

Am 14. Juni 1987 wurde dann die BAG Schwulenpolitik der Grünen neu gegründet und ein Antrag auf Anerkennung an den Bundeshauptausschuss gestellt. Zuvor hatte sich die alte BAG SchwuP aufgelöst. Bei der Neugründung waren aus Schleswig-Holstein Michael G. und Dirk Salewsky anwesend, sie sind auch als mandatierte Delegierte aus Schleswig-Holstein genannt.

Ergebnis und Bewertung

1. Die Durchsicht der aufgefundenen Dokumente hat gezeigt, dass auch im Landesverband von Bündnis 90/Die Grünen Schleswig-Holstein über die Forderung nach Straffreiheit von sexuellen Kontakten mit Kindern diskutiert worden ist. 2. Allerdings spielte das Thema Pädosexualität in den Debatten und archivierten Dokumenten

188 allenfalls eine marginale Rolle. Große Teile der Partei hielten in den Gründungsjahren Themen wie Ökologie, soziale Gerechtigkeit und internationale Gefahren für weitaus wichtiger. 3. Nach jetzigem Kenntnisstand hat es nicht einen einzigen Beschluss auf Landesebene gegeben, der die Forderung nach Straffreiheit für einvernehmlichen Sex mit Schutzbefohlenen und Kindern (Streichung §§ 174, 176) unterstützt hat. 4. Allerdings enthält das gedruckte Programm für die Landtagswahl 1987 ein Diskussionspapier der Landesarbeitsgemeinschaft Lesben und Schwule, in dem Formulierungen enthalten sind, die eindeutig der pädosexuellen-Szene zuzuordnen sind. Dieses Papier war aber ausdrücklich nicht Bestandteil des verabschiedeten Programms. 5. Es ist im Landesverband Schleswig-Holstein bislang auch kein Kommunalwahlprogramm bekannt, das pädophile Forderungen aufgenommen hat. 6. Wenn im Landesverband pädophile Positionen geäußert wurden, ist ihnen stets widersprochen worden und sie wurden aus den Debatten und Dokumenten herausgenommen. 7. Die Gründe für diese Haltung waren vielschichtig. Offensichtlich lehnte die große Mehrheit der Mitglieder pädosexuelle Positionen entschieden ab. Es gab aber auch Mitglieder, die in den Pädosexuellen eine unterdrückte Minderheit gesehen haben. Auch sie wollten das Thema möglichst nicht behandeln, wohl weil sie eine schädliche öffentliche Resonanz befürchteten. Und schließlich waren viele Mitglieder zwar grundsätzlich liberal gegenüber Minderheiten, aber sie interessierten sich nicht wirklich für diese Randthemen. In der Konsequenz führten diese unterschiedlichen individuellen Einstellungen dazu, dass man sich in der realen Politik nicht offen gegen eine Minderheit stellen wollte, aber öffentlich auch nicht ihre Positionen übernehmen wollte. Also wurde das Thema möglichst ausgeklammert. Aus diesen Gründen gab es damals auch nie eine offizielle Distanzierung von solchen Positionen. 8. Ein wesentlicher Grund für diese „verschämte“ Debatte in Schleswig-Holstein mag die Tatsache gewesen sein, dass es in Schleswig-Holstein keine bedeutenden aktiven Gruppen von Pädophilen gab, wie in einigen Großstädten. 9. Auch die damaligen wissenschaftlichen Diskussionen über die Sexualität von Kindern und die Auseinandersetzung mit den Folgen sexuellen Missbrauchs spielten im ländlichen Schleswig- Holstein kaum eine Rolle. Es gab daher keinen Anlass für die GRÜNEN, dazu Stellung zu beziehen. Man entzog sich daher lieber bequem einer Positionierung. 10. Fälle von Kindesmissbrauch bei den Grünen Schleswig-Holstein oder im Umfeld der Partei sind uns bislang nicht bekannt. Bekannt ist die Entdeckung von kinderpornografischen Fotos 2002 auf dem Computer des Fraktionsgeschäftsführers im Landtag.

189 Fazit

Die Forderungen nach Straffreiheit für pädophile Handlungen, wie sie nach unserem jetzigen Kenntnisstand gelegentlich auch in unserem Landesverband formuliert wurden, sind völlig indiskutabel. Wir lehnen sie entschieden ab und distanzieren uns davon. Wir bitten all diejenigen um Entschuldigung, denen durch solche Positionen Verletzungen an Leib und Seele zugefügt wurden.

Wir Grüne stellen uns der Verantwortung, unser Aufarbeitungsprozess geht weiter. Wir wollen dafür sorgen, dass unsere Gesellschaft sensibilisiert wird für alle Formen des sexuellen Missbrauchs.

Wir setzen uns weiterhin dafür ein, dass die Strukturen zur Prävention von sexuellem Missbrauch sowie zur Beratung von Missbrauchsopfern erhalten und gestärkt werden. Die AG übergibt dem Landesvorstand den Bericht mit der Empfehlung, die Ergebnisse zu veröffentlichen.

2.8 Der Kreisverband Bonn der GRÜNEN und die Kampagne gegen die Paragraphen 174 und 176 StGB in den 1980er Jahren

Bericht vom 6. März 2014

1) Vorgeschichte

Seit Ende der 1970er Jahre wurde auch in Bonn innerhalb der sozialen Bewegungen, aus denen die GRÜNEN hervorgehen sollten, eine Diskussion über die Abschaffung der Paragrafen 174 und 176 StGB (Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen bzw. von Kindern) geführt. Diese beiden Paragrafen wurden häufig gleichgesetzt mit dem berüchtigten Paragraphen 175 StGB („Unzucht zwischen Männern“), der erst 1994 abgeschafft werden sollte (Anlage 1a: Das am 3. Oktober 1981 verteilte Flugblatt „Wir sägen am Sexualstrafrecht §§ 174, 175, 176“ gibt als VISdP-Adresse das damalige Zentrum für Kommunikation in der Endenicher Straße an, wo sich in ihrer Gründungsphase gelegentlich auch die GRÜNEN trafen). Auslöser der Diskussion über die Abschaffung des Sexualstrafrechtes war vor allem das Schicksal mehrerer unter dem Vorwurf der Pädophilie zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilter Männer. Die bekanntesten der Verurteilten waren die linken Aktivisten Alexander Ebbinghaus und Peter Schult, die in weiten Kreisen als Opfer deutscher Gesinnungsjustiz galten und für die es Solidaritätskampagnen gab. Ein Bericht in der Bonner Stadtzeitung „de Schnüss“ vom Dezember 1979 über die Haftsituation eines wegen Verstoßes gegen §176 mit einer Sechsjährigen Verurteilten löste eine heftige Debatte aus, die bis März 1980 in den Leserbriefseiten des Blattes geführt wurde (Anlage 1b).

190 2) Diskussion innerhalb des KV Bonn

In der Zeit zwischen 1981 und 1985 wurden auch im Kreisverband Bonn der GRÜNEN das Thema Sexualstrafrecht behandelt. Eine MV zum Thema fand am 23.7.1984 im Rahmen der „Montagstreffen“ statt (Anlage 2a). In der Mitgliederzeitschrift des KVs (zuerst „Grüner Mitgliederrundbrief“, später „Grüne Zeiten“ (GrüZe) erschienen mehrere Beiträge, in denen die Abschaffung der Sexualstrafrechts-Paragrafen gefordert wurde. Initiiert wurden die Beiträge offenbar ausschließlich von zwei Bonner GRÜNEN, die zugleich Mitglieder der NRW-LAG SchwuP (Schwule, Päderasten und Transsexuelle) waren: Detlev „Frodo“ K. und Hans N..

In der GrüZe 8/1984 wird das 12-seitige Papier der BAG SchwuP vom 5.2.1984 veröffentlicht, in dem die GRÜNEN-Fraktion im Bundestag aufgefordert wird, eine Gesetzesinitiative zur völligen Streichung des Sexualstrafrechtes zu starten. Die GrüZe 9/1984 enthält einen Aufruf von K., der Bonner GRÜNEN-KV solle beschließen, bei der nächsten BDK (in Hamburg) einen entsprechenden Antrag zu stellen. (Anlage 2b. Ein solcher Beschluss wurde offenbar nie gefasst – Unterlagen dazu sind nicht vorhanden – aber K. wurde als Delegierter für die BDK gewählt.) K. selbst bedauert in seinem Beitrag, dieses „grüne Thema“ würde „nur im kleinsten Kreis diskutiert“. Die GrüZe 2/1985 beginnt mit dem Abdruck des umfangreichen Artikels „Die Aggressivität gegenüber Sex mit Kindern“, verfasst von Edward Brongersma, einem bekannten niederländischen Politiker und bekennenden Päderasten. Der Artikel wird in der GrüZe 4 u. 5/1985 fortgesetzt (Anlage 2c). Die GrüZe 4/1985 trägt eine Karikatur zum den Thema NRW- GRÜNE und Päderastie auf dem Titel, berichtet aber nur in Form von Presseartikeln aus FR und FAZ über die Auseinandersetzungen in NRW (Anlage 2d) Die auf der Sonder-LDK in Bad Godesberg am 30.3.1985 beschlossene Ablehnung des SchwuP-Papiers veranlasste N. zu dem wütenden Artikel „Das GODESBERGER Programm der Gruenen: Stillstehen! Ruhe!“ (GrüZe 5/1985), in dem er neben sehr persönlichen Angriffen gegen prominente grüne Bundespolitiker zum weiteren Widerstand gegen die Linie der Partei in dieser Frage aufruft (Anlage 2e).

Eine wirkliche Diskussion dieser Thesen im Kreisverband Bonn hat es aber allem Anschein nach nicht gegeben, zumindest finden sich in dem überlieferten Schriftgut keinerlei Hinweise darauf, dass sich auch andere Mitglieder zu diesen Thesen geäußert hätten. In der GrüZe 3/1985 wird allenfalls im Rahmen eines Leserbriefes beiläufig gelobt, dass mit dem Artikel von Brongersma „auch ein höchst umstrittenes Thema wie die Päderastie mal von der anderen Seite als der üblichen beleuchtet wird“. Sowohl N. wie auch K. selbst bemängeln in ihren Artikeln das mangelnde Interesse und die fehlenden Reaktionen zum Thema „Sexualstrafrechtsänderung“. Im November 1985 verlässt K. nach seinem Umzug nach Berlin den KV Bonn, Ende der 1980er Jahre beendet N. seine Mitgliedschaft bei den Bonner GRÜNEN (seine Karteikarte findet sich ohne Angabe eines Datums im alten Ordner „Austritte“).

191 3) Verlautbarungen des KV Bonn

Eine wie auch immer geartete offizielle Äußerung des Bonner KVs der GRÜNEN zum „Sexualstrafrecht“ oder gar zur Pädophilie hat es nicht gegeben – abgesehen von dem unter Punkt 4 aufgeführten Beschluss der MV vom 26.3.1985. Mündlichen Berichten zufolge hatte N. im Vorfeld der Kommunalwahlen 1984 erfolglos versucht, die Reform des Sexualstrafrechts ins GRÜNE Wahlprogramm zu hieven. In keiner der überlieferten Publikationen der Bonner GRÜNEN – seien es Programmschriften, Wahlkampfzeitungen, Flugblätter, Presseerklärungen oder Veröffentlichungen der seit 1984 bestehenden Ratsfraktion – lässt sich eine Aussage zur Pädophilie finden. Gleiches gilt auch für die Mandats- und Funktionsträger der Bonner GRÜNEN.

Die Protokolle der MVs aus der Anfangszeit der GRÜNEN sind allerdings bedauerlicherweise nicht vollständig bzw. oft nur als äußerst knappe Zusammenfassungen überliefert. Verschiedene Hinweise, insbesondere der Bericht von Detlev K. von der BDK in Hamburg (7.-9. Dezember 1984) und die Antwort von Günter G. darauf (beider abgedruckt in der GrüZe 1/1985; Anlage 3a und 3b), deuten jedoch darauf hin, dass die Bonner GRÜNEN sich schon frühzeitig gegen Versuche wendeten, die GRÜNE Partei zum Kampf gegen das Sexualstrafrecht zu instrumentalisieren. So gab es offenbar einen KV-Beschluss, auf Delegiertenkonferenzen keine Kandidaten zu unterstützen, die der Nürnberger „Indianerkommune“ nahe standen. Die „Indianerkommune“ war in den 1980er Jahren gewissermaßen die Speerspitze der Pädophilen-Bewegung und versuchte wiederholt (mit gelegentlichen Erfolgen) durch massives und aggressives Auftreten bei GRÜNEN- Versammlungen, diese für ihre Ziele zu gewinnen.

4) Sonderfall Mitgliederversammlung vom 26.3.1985

Problematisch zu bewerten ist das Verhalten des KVs Bonn in Zusammenhang mit dem auf dem NRW-Landesparteitag am 9./10. März 1985 in Lüdenscheid gefällten Beschluss, die Thesen der LAG SchwuP („Sexualität und Herrschaft“) als „Arbeitspapier“ zum Landeswahlprogramm anzunehmen. In dem Papier wurde u.a. die Straffreiheit für einvernehmlichen und gewaltfreien Sex auch mit Kindern gefordert – eine Forderung, die sogleich in allen Medien und beim politischen Gegner einen Sturm der Entrüstung auslöste. Der NRW-Landeshaupt¬aus¬schuss reagierte umgehend auf die Empörung, die dieser Beschluss auch in Teilen der GRÜNEN ausgelöst hatte, indem er bereits wenige Tage später diesen Beschluss „aussetzte“ und eine Sonder-Landesdelegiertenkonferenz nach Bad Godesberg einberief. Auf einer Mitgliederversammlung des KVs Bonn am 26.3.1985 wurde „mit überwältigender Mehrheit“ das Vorgehen des Landeshauptausschusses missbilligt und zudem begrüßt, „...daß durch den LDK-Beschluß in Lüdenscheid eine bundesweite Diskussion über ein bisher tabuisiertes Thema ingang gekommen ist ...“. Die Abstimmung über zwei kontroverse Entschließungstexte (3.1: der „Programmteil ‚Sexualität und Herrschaft’ ...verbleibt im NRW-Wahlprogramm“ und 3.2: „... statt eines Programmteiles ‚Sexualität und Herrschaft’ (wird) eine Dokumentation zu diesem Thema vom Landesverband herausgegeben“) ergab Stimmengleichheit, und die Delegierten für die

192 Sonder-LDK wurden beauftragt, dort entsprechend abzustimmen (Anlage 4a). Der „Rhein-Sieg- Anzeiger“ (RSA) berichtete am 29.3.1985 unter dem Titel „Bonner Grüne im Abseits? Umstrittene Sexualformel nicht abgelehnt – Ein Patt zwischen Gegnern und Anhängern“ und kam zu dem Ergebnis: „Damit dürften sich die Grünen vor Ort ins Abseits öffentlicher Meinung und Moral manövriert haben.“ (Anlage 4b)

5) Bonner Presse

Außer dem letztgenannten Artikel und einem weiteren Artikel im RSA finden sich in der Presse keine Berichte, die einen Zusammenhang Bonner GRÜNE und Pädophilie herstellen ließen. Der Bonner General-Anzeiger (GA), der in den 1980er Jahren die Bonner GRÜNEN nach Möglichkeit ignorierte, berichtete zwar bei entsprechenden Anlässen ausführlich über die Pädophilie- Debatte bei den GRÜNEN, beschränkte sich dabei aber ausschließlich auf bundes- und allenfalls landespolitische Aspekte. Im Lokalteil des GAs wurde zwar über die spektakulären Aktionen der Nürnberger „Indianerkommune“ in Bonn berichtet, mit denen diese Druck auf die GRÜNEN mit dem Ziel der Abschafftung der §§ 174 und 176 ausüben wollten (die Besetzung der Landesgeschäftsstelle in der Colmantstraße am 2. und 3. November 1983 (GA 3. u. 4.11.1983) oder die Aktionen bei der Sonder-LDK in der Bad Godesberger Stadthalle am 30.3.1985 (GA 1.4.1985)), die Berichte beschränken sich jedoch auf die eher sachliche und nüchterne Darstellung der Ereignisse. GRÜNE Stimmen kommen nur selten zu Wort und dann immer nur die offiziellen Sprecher der Bundespartei. Ähnliches lässt sich auch über die Bonner Rundschau (BR) sagen, die aber noch knapper über die GRÜNEN berichtet. Die Berichterstattung von Rhein- Sieg-Anzeiger und Express konnte nur anhand weniger Artikel berücksichtigt werden, die sich in der Zeitungsausschnittssammlung des Bonner Stadtarchivs oder im Ordner „Presseerklärungen“ des GRÜNEN Depositums im Stadtarchiv befanden.

Ein einziges Mal – anlässlich der Sonder-LDK in der Bad Godesberger Stadthalle am 30.3.1985 – berichtet die gesamte Bonner Presse ausführlich über das Thema – allerdings nur mit landespolitischen Bezügen (Anlage 5). Auch in der Bonner Alternativpresse lassen sich keine Berichte zum Thema finden. Selbst der „Schnüss“, in der auch weiterhin gelegentlich Artikel zur „Pädophilie“ erscheinen und die in den 1980er Jahren sehr viel (fast in jeder Ausgabe, anfangs sympathisierend, später zunehmend kritischer) über die politische Entwicklung der Bonner GRÜNEN berichtet, ist das Thema GRÜNE und Pädophilie nur einmal nach der NRW- Landtagswahl den lapidaren Hinweis wert, die (den LeserInnen als bekannt vorausgesetzte, in der „Schnüss“ aber nie dokumentierte) Debatte hätte wohl zum schlechten Ergebnis der GRÜNEN beigetragen.

193 3. Die wissenschaftliche Aufarbeitung

Zu den ersten Aufgaben der AG Aufarbeitung gehörte es, die wissenschaftliche Arbeit des Göt- tinger Instituts für Demokratieforschung zu unterstützen und zu begleiten. Zu diesem Zweck haben die grünen Parteigliederungen und die Heinrich-Böll-Stiftung Prof. Walter und seinem Team umfassenden Zugang zu den Parteiarchiven gewährt. Nach gemeinsamer Diskussion eines Zwischenberichts in der AG wurde der Abschlussbericht des Göttinger Instituts im November 2014 von der Bundesvorsitzenden Simone Peter gemeinsam mit Prof. Walter öffentlich

vorgestellt. Nachfolgend sind der Zwischenbericht vom Dezember 2013 und eine Kurzfassung des Abschlussberichts dokumentiert.

3.1 Die Grünen und die Pädosexualität

Ergebnisse des Forschungsprojekts Umfang, Kontext und die Auswirkungen pädophiler Forderungen in den Milieus der Neuen Sozialen Bewegung / Grünen. Kurzbericht des Göttinger Instituts für Demokratieforschung, November 2013

Kurzfassung des Abschlussberichts

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Ergebnisse des Forschungsprojekts Umfang, Kontext und die Auswirkungen pädophiler Forderungen in den Milieus der Neuen Sozialen Bewegung / Grünen

Im Jahr des Bundestagswahlkampfes entbrannte eine breite politische Debatte über die Frage, wie die Grünen in ihren Anfangsjahren zum Thema Pädosexualität standen. Das Göttinger Institut für Demokratieforschung hat auf Bitten von Bündnis 90/Die Grünen ein Forschungs- projekt zur Pädophilie-Debatte in und im Umfeld der grünen Partei durchgeführt. Um diese Debatte angemessen zu verstehen, wurden sowohl ihre historischen Wurzeln als auch ihr konkreter Verlauf, ihre Hintergründe und Akteure eingehend untersucht. Dabei wurden um- fangreiche Literatur- und Archivrecherchen durchgeführt. Wesentliche Zwischenergebnisse und Überlegungen sind im Verlauf des Projekts publiziert worden.1 Eine ausgiebige Analyse der damaligen Debatte bei den Grünen, in ihrem organisatorischen Vor- und Umfeld sowie im gesellschaftlichen Diskurs insgesamt ist nunmehr in einem Sammelband publiziert worden.2 Vorliegend werden die Erkenntnisse und Ergebnisse der Untersuchung dargelegt. Auf eine Angabe von Verweisen und Nachweisen wird an dieser Stelle verzichtet und dazu ebenso auf den Sammelband sowie auf den ausführlichen Zwischenbericht verwiesen. Gleiches gilt für das wissenschaftliche Vorgehen wie auch für die Darlegung der verwendeten Begriff- lichkeiten.3

Wurzeln der Debatte

Über Pädosexualität wird seit der Antike in wechselnder Intensität und zumeist kontrovers diskutiert. Diese Debatte hat ihren Niederschlag in der Kunst, in der Literatur, im Film wie auch in Wissenschaft und Politik gefunden. In Westdeutschland gewann das Thema im Zuge des gesellschaftlichen Liberalisierungsschubs ab etwa Mitte der 1960er Jahre an breiterer öf- fentlicher Bedeutung. Sexualität, Strafrecht und Erziehung wurden im Verlauf des damaligen Wandels der gesellschaftlichen Wert- und Normbestände und der wissenschaftlichen Para- digmen zu politischen Konfliktthemen.

1 Institut für Demokratieforschung der Georg-August-Universität Göttingen, Die Pädophiliedebatte bei den Grünen im programmatischen und gesellschaftlichen Kontext, Erste und vorläufige Befunde zum Forschungs- projekt S. 17ff, http://www.demokratie-goettingen.de/content/uploads/2013/12/Paedophiliedebatte-Gruene- Zwischenbericht.pdf, Dezember 2013 (eingesehen: 3.9.2014); David Bebnowski u.a., Das Netz, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.12.2013; Franz Walter, Das Finale einer verstörenden Entwicklung, in: Rotary Magazin 11 (2013), S. 41-45; Franz Walter / Stephan Klecha, Die fatale Schweigespirale, in: Die Tageszeitung, 16.9.2013; Franz Walter, „Es widert mich an“, in: Spiegel Online, 15.8.2013, http://www.spiegel.de/politik/deutsch- land/paedophilie-studie-franz-walter-zu-vorwuerfen-von-guenter-verheugen-a-916676.html (eingesehen: 25.9.2013); Franz Walter / Stephan Klecha, Irrwege des Liberalismus, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/ paedophilie-debatte-irrwege-des-buergerrechtsliberalismus-a-918872.html, 28.8.2013 [zuletzt eingesehen am: 28.8.2013]; Franz Walter / Stephan Klecha, „Distanzierungstango in der Pädo-Frage“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.8.2013; 2 Franz Walter/Stephan Klecha/Alexander Hensel (Hg.), Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte, Göttingen 2015 3 Der hier verwendete Begriff der Pädosexualität orientiert sich an entsprechenden gegenwärtigen Forschungs- perspektiven aus der Psychiatrie, Medizin, Rechts-, Sexual- und Sozialwissenschaften.

195 2

• Anknüpfend an die neu aufgelegten Schriften des Freud-Schülers Wilhelm Reich aus den 1930er Jahren wurde gerade im Zuge der Studentenbewegung die sexuelle Befrei- ung als zentraler Hebel einer gesellschaftlichen Transformation angesehen, die zudem einen Rückfall der Bundesrepublik in eine faschistische Ordnung verhindern sollte. Reich hielt eine Beseitigung der autoritären Elemente und damit eine wirksame Über- windung des Faschismus nur dann für möglich, wenn der Sexualität keine Grenzen gesetzt würden. Bei der Frage nach den sexuellen Kontakten zwischen Kindern und Erwachsenen verhielt er sich zwar weniger explizit, doch Freuds im frühen 20. Jahrhun- dert getätigte Einschätzung, wonach Berichte von sexuellem Missbrauch in der Kindheit vielfach reine Phantasie seien, wirkte in der Rezeption der späten 1960er Jahre nach.

• Der Diskurs über sexuelle Befreiung spiegelte sich auch in den Strafrechtsreformen wider, welche dazu beitrugen, die Bundesrepublik zu liberalisieren und den Moralkodex der Ade- nauerzeit zu überwinden. Seit 1965 unterstützten prominente deutsche Strafrechtslehrer eine Abkehr von der bis dahin an „Sittlichkeit“ und „Sittenordnung“ orientierten Gesetzge- bung. 1968 gelang ihnen dann der Durchbruch, als sich der als eher konservativ geltende Deutsche Juristentag mit großer Mehrheit hinter den sogenannten „Alternativ-Entwurf“ der „Progressiven“ stellte. Mit diesem Entwurf zur anstehenden Strafrechtsnovelle stie- ßen die linksliberalen Protagonisten die Tür für eine entsprechende Reform weit auf. In das neue Sexualstrafrecht flossen indessen allzu radikal-libertäre Empfehlungen, wie sie die Riege der damals zumeist jungen Sexualwissenschaftler in einer viel beachteten An- hörung des Deutschen Bundestags im Jahr 1970 vortrugen, nicht ein. Die sozialliberale Ko- alition war in diesem Punkt zurückhaltend, nahm auf ihre ohnehin knappe Mehrheit Rück- sicht und wollte dem sich bei den Landtagswahlen in der ersten Hälfte der 1970er Jahre abzeichnenden konservativen „Rollback“ nicht noch zusätzlichen Schub geben. So änderte sich am Kinder- und Jugendschutz mit den §§ 174 (sexueller Missbrauch von Schutzbefoh- lenen) und 176 StGB (sexueller Missbrauch von Kindern) nichts Substanzielles. Sexuelle Handlungen jedweder Form mit und an Kindern blieben grundlegend unter Strafe gestellt. Wohl allerdings hatte man den § 175 StGB, der bis dahin homosexuelle Handlungen per se unter Strafe stellte, erheblich revidiert, jedoch den Geschlechtsakt zwischen einem unter und einem über 18-jährigen Mann weiterhin unter dem „Schutz“ des Strafrechts belassen, wohingegen dieses für vergleichbare heterosexuelle oder lesbische Beziehungen nicht galt.

• Im Bereich der Erziehung gewannen die seit dem Beginn des Jahrhunderts debat- tierten antiautoritären Theorien und Praxen wieder an Bedeutung, wodurch sich die Perspektiven auf Kindheit im Allgemeinen sowie auf kindliche Sexualität ver- schoben. Kinder wurden als gleichberechtigt und sexuell selbstbestimmt dargestellt und behandelt. Nicht nur ein junges akademisches Personal an den erziehungswis- senschaftlichen Instituten der Universitäten stimmte in diesen Diskurs ein, auch die neu auf dem Markt gekommenen pädagogischen Zeitschriften waren ausgespro-

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chen populär, weit über die Fachöffentlichkeit hinaus. Das monatlich erscheinende Periodikum betrifft:erziehung, in dem im Jahr 1973 erstmals prominent eine Apo- logie der Pädophilie zu lesen war, wies eine Abonnentenzahl von über 30.000 auf.

Auch in der damals erst entstehenden Kinder- und Jugendpsychologie wurden Argumen- te gegen eine Tabuisierung von pädosexuellen Kontakten geäußert. 1968 veröffentlichte der später als Pionier des Fachs gefeierte Reinhart Lempp, 1971 zum hochangesehenen und vielfach geehrten Ordinarius an die Universität Tübingen berufen, einen Aufsatz in der Neuen juristischen Wochenschrift, in dem er die Ergebnisse von Untersuchungen an 87 Kindern vorstellte und interpretierte: „Die selbstverständliche Annahme einer seeli- schen Schädigung der Kinder durch sexuelle Delikte geht in Wirklichkeit auf eine tradier- te besondere Tabuierung des Sexuellen überhaupt zurück und auf die bemerkenswerte Überbewertung der Verwerflichkeit sexueller Handlungen außerhalb ehelicher Beziehun- gen (…) Das Belastende für die Kinder ist dabei unbestreitbar die Reaktionsweise der sie umgebenden Erwachsenen, angefangen von den manchmal vorwurfsvollen Eltern bis hin zu den misstrauisch erwarteten jugendpsychiatrischen Begutachtungen und den oftmals quälenden Befragungen vor Gericht. Allein über solche sexuelle Dinge vor einem Kreis erwachsener Menschen reden zu müssen, belastet solche Kinder mehr, als die Tat selbst, ja es belastet die Kinder oft ganz allein.“

Manche Erwartungen, die mit den hier skizzierten Veränderungen verbunden waren, blieben trotz eines erheblichen gesellschaftlichen und politischen Modernisierungsschubs im Sexu- ellen (insbesondere die Legalisierung der Homosexualität) unerfüllt oder fielen einer fort- gesetzten Zögerlichkeit der Politik zum Opfer. Was vom gesellschaftlichen Aufbruchsimpuls jener Zeit übrig blieb, verlagerte sich daraufhin zum Teil in die Lebenswelten des alternativen Milieus der 1970er Jahre. Die Kritik an der fortgesetzten rechtlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung von Homosexualität, die im Strafrecht erst 1994 überwunden wurde, führ- te ab Anfang der 1970er Jahre nicht nur zur Entstehung und Entfaltung der westdeutschen Schwulenbewegung, sondern bestärkte auch die allgemeine und fortlaufende Diskussion über erforderliche Schutzaltersgrenzen für sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen, Jugendli- chen beziehungsweise Kindern. In diesem Kontext wurden auch Forderungen erhoben, pädosexuelle Kontakte zu legalisie- ren. Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, wie Sexualwissenschaftler, Kriminologen, Soziologen, Kinderpsychologen oder Pädagogen bezweifelten, relativierten oder bestritten, ob beziehungsweise inwieweit Kinder durch sexuelle Kontakte mit Erwachsenen tatsächlich Schäden erlitten. Derartige Positionen fanden einen recht breiten publizistischen Rückhalt. Die Auffassung, dass pädosexuelle Kontakte als solche überwiegend unschädlich seien, war weit verbreitet, ja geradezu dominant in der „wissenschaftlichen Fachwelt“. Zwar konnten von wissenschaftlicher Seite mangels verlässlichen Materials eigentlich keine generalisierbaren Aussagen getätigt werden; trotzdem taten Wissenschaftler dieses fortwährend. Sie waren

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einfach überzeugt, dass die Zeit der überkommenen sexuellen Tabuisierung abgelaufen war, dass man mit den moralisierenden Verboten in den vergangenen Jahrzehnten Glück zerstört, persönliche Freiheiten erstickt hatte. Daher ließen sie sich von einem grundsätzlichen Arg- wohn gegen die Restriktionsbemühungen konservativer Sexualfeinde leiten. Ganz sicher wa- ren sich die meisten zwar nicht, wie man Sexualität bei Kindern oder Jugendlichen in Abhän- gigkeitsverhältnissen zu bewerten hatte. Aber dass auch hier die Konservativen und Klerikalen die „sittlichen Gefahren“ übertrieben, schien ihnen, nach allem, was man in den letzten Jahr- zehnten erlebt hatte, wahrscheinlich. Auch zeigten die Ergebnisse der bereits vorliegenden Forschungsstudien ja in der Tat, dass die Sekundärschäden durch die Befragungen der Justiz und die entsetzten Reaktionen in der Familie bemerkenswert stark ausfielen – wie es schien: stärker als der primäre sexuelle Vorfall selbst. Es ist schwer zu leugnen, dass sich einige der inkriminierten Beschlüsse der Grünen aus den frühen 1980er Jahren mit allem Recht auf gutachterliche Äußerungen von auch heute noch als höchst reputierlich angesehenen Wissenschaftlern berufen konnten. In jedem Falle ver- wundert es auch nicht, dass etliche linksliberale und linksalternative Organisationen entspre- chende Diskurse aufnahmen und verschiedentlich über eine Aufweichung oder Aufhebung der betreffenden Strafrechtsparagraphen sinnierten oder diese einforderten.

Politisierung der Debatte in den 1970er Jahren

So gab es auch einen gewissen gesellschaftlichen Resonanzraum für die Pädophilenbewe- gung, welche Mitte der 1970er entstand. Ihre Aktivisten stellten Betroffene als unterdrückte Minderheit dar und forderten vehement die Legalisierung pädosexueller Kontakte. Dazu ar- beiteten sie einerseits an der politischen Aktivierung und Rekrutierung von Pädophilen und Sympathisanten sowie am Aufbau schlagkräftiger organisatorischer Strukturen. Andererseits suchten sie intensiv nach publizistischen Einflussmöglichkeiten und inhaltlichen Allianzen zu Politik und Wissenschaft. Besonders eng war diese Bewegung mit Teilen der Schwulen- bewegung verwoben, nutzte für einige Zeit deren Publikationsorgane und organisatorische Ressourcen, bildete aber ebenso eigene Strukturen und Assoziationen. Die Deutsche Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie (DSAP) wurde zum entscheidenden Sammlungsort für die Vertretung von pädosexuellen Interessen, wiewohl die Zahl der wirklich aktiven Mitglie- der wohl deutlich unter 100 lag. Die Gründung dieser als gemeinnützig anerkannten Organi- sation erfolgte 1978 in Krefeld, wo ihr offizieller Sitz war; Regionalgruppen existierten etwa in Berlin, Hamburg, Münster, Düsseldorf, Frankfurt und München. Mit ihrem Bemühen um Bündnispartner für eine Reform der §§ 174–176 StGB reichte der Einfluss der DSAP weit in die alternativen und linksliberalen Milieus der frühen 1980er Jahre hinein. Die Jungdemokra- ten begrüßten Delegationen der Organisation auf ihren Bundesdelegiertenkonferenzen. Die Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz in Berlin, also der spätere Landesver- band der Grünen, wie auch Teile der Humanistischen Union kooperierten bei Seminaren mit der DSAP. In der aus der Frankfurter Sponti-Szene stammenden Stadtzeitung Pflasterstrand

198 5 oder auch in der Berliner tageszeitung (taz) warb man um weitere Aktivisten und Mitglieder, schaltete Kleinanzeigen, lud zu Veranstaltungen ein und publizierte etwa in Person von Olaf Stüben Beiträge, die Akzeptanz für Pädophilie erbringen sollten. Enge Kontakte bestanden auch zu der in den 1970er Jahren gegründeten Gesellschaft zur Förderung sozialwissenschaft- licher Sexualforschung (GFSS) und zum pädagogischen sowie zum psychiatrischen Bereich. So gab etwa die Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP) die DSAP als Kontakt für weiterführende Informationen an, als sie 1980 bei einer Tagung über die Abschaffung der §§ 173–176, 180 I, 182 und 183 StGB beriet. Die Entwicklung einer Pädophilen-Bewegung war indes kein rein deutsches Phänomen. Sie hatte sich zuvor bereits besonders stark in den Nie- derlanden entfaltet, von wo aus der sozialdemokratische Politiker Edward Brongersma und der Psychologe Frits Bernard Pädophilenbewegungen in verschiedenen westeuropäischen Ländern unterstützten. Der erster parteipolitische Ansprechpartner für Diskussionen über und Forderungen nach einer Legalisierung von Pädosexualität waren im damaligen Dreiparteiensystem der Bundes- republik Deutschland natürlich mitnichten die Grünen, sondern die FDP. Prononciert enga- gierten sich die Liberalen im Bundestagswahlkampf 1980 schließlich für die Aufhebung des § 175 StGB, weswegen sie zum Bündnispartner der Schwulenbewegung wurden, in deren Umfeld sich seinerzeit nun auch die Pädophilenbewegung engagierte. Doch schon mit der Re- form des § 175 StGB stieß die FDP beim sozialdemokratischen Kanzler auf Widerstand. Eine Anhörung ihrer Bundestagsfraktion zum Thema im Jahr 1981 bot dem han- noverschen Pädagogikprofessor Helmut Kentler eine politische Bühne zur Lancierung seiner sexualpolitischen Maximen, die eben auch die §§ 174 und 176 StGB infrage stellten. Während die liberale Partei an diesem Punkt zögerte, hatten sich die Jungdemokraten mit einer Mischung aus radikalliberalen Bestrebungen und libertären Sexualvorstellungen bereits weiter vorgewagt. Seit den frühen 1970er Jahren hatten sie sich programmatisch darauf festgelegt, dass „Liberalismus und Sozialismus“ „in entscheidenden Positionen ihrer Zielsetzung übereinstimm- ten.“ Den bestehenden Parlamentarismus bewerteten sie als Medium der Verschleierung der wirklichen, durchaus undemokratischen Machtverhältnisse. Auch fürchteten sie das Umschlagen der gesellschaftlichen Verhältnisse in eine „offene Diktatur des Kapitals in der Form des Faschis- mus“, womit die Verbindungslinie zu Wilhelm Reichs Analysen offenkundig war. Die bis 1982 of- fizielle FDP-Jugendorganisation, zu deren Mitgliedern zwischenzeitlich auch etliche spätere Grü- ne zählten (z.B. , Jürgen Reents oder Roland Appel) zweifelte gerade zu Beginn der 1980er Jahre in den Resolutionen und Pamphleten ihrer Bundesdelegiertenkonferenz am Sinn des Sexualstrafrechts, auch und gerade wenn es um sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern ging. Freilich vollkommen entschieden waren die Jungdemokraten in dieser Frage nicht, als sie sich im Zuge der Bonner Wende von der FDP trennten. Die These, wonach „sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen, sofern sie von den Kindern freiwillig eingegangen bzw. angestrebt werden, […] nicht mehr bestraft werden [sollten], da in solchen Fällen ausschließ- lich die Durchsetzung der entsprechenden Strafbestimmungen und nicht die Sexualität selbst den Kindern schadet“, wurde an die Gliederungen zurücküberwiesen.

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Was also mithin anfangs noch recht spezialisiert wissenschaftlich und rechtspolitisch erörtert worden war, wurde im Laufe der 1970er Jahre zum Bestandteil einer linksliberalen Intellektu- alität. Wesentlichen Einfluss darauf hatte Helmut Kentler. Seit 1976 mit einem Lehrstuhl der Technischen Universität Hannover betraut, avancierte er zum regelrechten Star der Jugend- pädagogik und Sexualwissenschaft. Seine Bücher, in denen er die Pädophilie mit denkbar gro- ßer Sympathie vorstellte, wurden Beststeller in angesehenen und reputierlichen Publikums- verlagen. Zeitungen genossen es, Gastbeiträge von ihm zu veröffentlichen; als Redner war er gefeierter Gast. Kentler, so sein Vorwort in der in Deutschland 90.000 Mal und in den USA über 300.000 Mal gedruckten Aufklärungsbroschüre „Zeig mal! Ein Bilderbuch für Kinder und Eltern“ stufte sexuelle Kontakte zwischen Erwachsenen und Kinder keineswegs als bedenk- lich oder gar schädlich ein. Wenn „solche Beziehungen nicht von der Umwelt diskriminiert“ würden, dann seien von ihren vielmehr „positive Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung zu erwarten“. In diesem Sinne engagierte sich Kentler auch als Gerichtsgutachter. Ähnlich ar- gumentierte sein Bremer Professorenkollege Rüdiger Lautmann, der mit der Wendung von den „Straftaten ohne Opfer“ in der Rechtssoziologie Furore machte: An den „hergebrachten Stereotypen“ zur Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern – die sexuelle Handlung hinterlasse beim Kinde einen seelischen Schock mit bleibenden Schäden – „stimmt nichts“. All dieses zeigt, in welchem Umfang die Debatten über die Abschaffung der Schutzaltersgrenzen am Ausgang der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre geführt wurden.

Auswirkungen bei den Grünen

Was der libertäre Teil des nachgewachsenen bundesdeutschen Bürgertums seit Mitte der 1960er Jahre insgesamt an ideologischen Fragmenten verbreitet hatte, floss Ende der 1970er Jahre auch in die Parteigründung der Grünen ein. Manches davon war längst dem politischen Sektierertum anheimgefallen oder hatte sich als Irrweg erwiesen. Dennoch fand es bei den Grünen jenseits der in ihrer politischen Arbeit dominanten Kernthemen Frieden und Um- welt erneut einen Resonanzraum. Das galt im Prinzip auch für die Frage der Pädosexualität. 1980, als die Grünen sich offiziell gründeten, war die gesamte Debatte um sexuelle Befreiung weit fortgeschritten, ja sie hatte ihren Zenit eigentlich bereits überschritten. Dennoch fand das Thema weiterhin Niederschlag in Teilen des linksalternativen Milieus. Indes war der hier verbreitete Geist der Zeit auch in diesem, ja keineswegs hermetischen, Segment alles ande- re als eindeutig, selbst wenn einzelne Repräsentanten der Grünen wie Daniel Cohn-Bendit rückblickend wiederholt darauf abstellten. Zweifel am Projekt einer pädophilen Emanzipation wurden durchaus vorgebracht; selbst ihre wissenschaftlichen Unterstützer forderten – auch mit Blick auf die Akquise von Forschungsgeldern –, sich weiter mit dem Thema zu beschäfti- gen und hinreichend valide empirische Befunde zu ermitteln.

• In der Psychoanalyse existierten schon zu Wilhelm Reichs Zeiten anderslautende Positi- onen, wie etwa die von Sándor Ferenczi. Der ungarische Freudschüler verortete im rea-

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len sexuellen Übergriff nämlich den Ursprung für langfristig wirkende seelische Qualen. Was Ferenczi dazu und zu anderen Themen fortan ausführte, galt jedoch als abweichende Interpretation der Lehren Freuds und war für die „sexuelle Revolution“ daher als un- brauchbar abgestempelt worden, wiewohl auch seine Schriften Anfang der 1970er Jahre neu gedruckt wurden. • • Ein Jahr vor Gründung der Grünen als Bundespartei im Jahre 1980 hielt der ame- rikanische Soziologe David Finkelhor der völligen strafrechtlichen Freistel- lung von Pädosexualität entgegen, dass es Kindern an „informierter Zustim- mung“ mangele und dass ein strukturelles Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen existiere. Mithin könne es kein Einvernehmen in der Frage geben.

• In Deutschland widersprachen kurz darauf unter anderem die Publizistin Ali- ce Schwarzer und der mit seinen Schriften zur Sexualität im linkslibertären Mi- lieu hoch populäre Soziologe Günter Amendt dem Anliegen einer pädophilen Emanzipation. Dabei wiesen sie vor allem auf das Herrschaftsverhältnis zwischen Er- wachsenen und Kindern hin, welches eine gleichberechtigte Beziehung unmöglich mache.

Einwände solcher Art waren also auch im linksalternativen Milieu anzutreffen, und auch in den Reihen der Grünen sind dezidierte Skepsis und Einsprüche gegenüber pädophiler Af- firmation vorhanden gewesen. Allerdings hatten es derartige kritische Stimmen zu Beginn der 1980er Jahre keineswegs immer leicht, eine hinreichende Aufmerksamkeit zu erhalten. Dennoch: 1980, als die Grünen entstanden, drangen beide Positionen in die Programmdebat- ten der Grünen ein, teilweise waren sie sogar innerhalb ein- und derselben Programmschrift dokumentiert. Bei den Grünen floss letztlich vieles zusammen, was zuvor bereits politisch debattiert, jedoch parteipolitisch kaum repräsentiert war. Programmatische Stringenz oder kohärente Forderungskataloge waren dabei nachrangig, auch in Hinblick auf eine hinreichen- de Maximierung der Wählerschaft, um den Sprung in die Parlamente zu schaffen. Die frühen Grünen wiesen vier ideologische und organisationskulturelle Kernüberzeugun- gen auf, die für Forderungen nach einer pädosexuellenfreundlichen Strafrechtsliberalisie- rung anschlussfähig waren:

• Grüne übernahmen erstens von der 68er-Bewegung den Ansatz, der sexuellen Befreiung einen wesentlichen Anteil an der gesellschaftlichen Transformation beizumessen. Die Ende der 1960er Jahre so vehement geforderte „sexuelle Revolution“ hatte im Verlauf der 1970er Jahren die Gesellschaft weitgehend durchdrungen. Selbst die konservativen Strö- mungen, die sich den Grünen anschlossen, nahmen den sexuellen Befreiungsimpuls auf. Das Heider Programm der Grünen Liste Schleswig-Holstein (GLSH) oder das Programm der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher (AUD) zur Bundestagswahl 1976 zeu- gen davon. Im Kreis der eher konservativen Vorläuferorganisationen der Grünen fiel allein

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die Grüne Aktion Zukunft (GAZ) aus dem Rahmen, welche, mit dem Naturrecht argumen- tierend, Sexualität letztlich weiterhin als reinen Aspekt der Reproduktion betrachtete.

• Sie verstanden sich zweitens als Interessenwahrer von bis dato nicht oder nicht hin- reichend vertretenen schwachen Interessen. Die „Experten über ihr eigenes Leben“, die zur Mitarbeit aufforderte, trugen zur grünen Parteiwerdung einiges bei. Man gewährte Minderheiten Schonräume, überließ ihnen in der Organisation ei- gene Strukturen, unterstützte die von ihnen eingeforderte Programmautonomie und sprach ihnen auf Parteitagen gesonderte Redezeiten zu. Es war ein Beitrag zur jener Basisdemokratie, die der heutige Freiburger Oberbürgermeister ein- mal als „metaphysisch“ überhöht bezeichnete. Die Einladung an all die Gruppierungen, die sich im alternativ-ökologisch-pazifistisch-libertären Milieu schon vor der grünen Parteibildung formiert hatten, brachte es mit sich, dass einige eine absolute Toleranz einforderten und sich die Grünen daher ihren Anliegen vorbehaltlos unterwerfen soll- ten. Tatsächlich schwankten die Grünen frühzeitig zwischen der unbegrenzten Em- pathie und der Eigenrationalität einer Partei. Zumeist obsiegte zunächst ersteres, weswegen die Grünen zu einer affektiven Solidarität mit Minderheiten links- alternativer Provenienz neigten und diesen überproportional viel Einfluss gewährten.

• Drittens wiesen die Grünen in den 1980er Jahren eine starke antirepressive Grundhal- tung auf und stellten staatliches Handeln grundlegend infrage. Dabei fragen sie einer- seits, in linksliberaler Tradition stehend, nach Legitimationsgrundlagen für staatliches Handeln, das per se im Verdacht stand, repressiv zu wirken, weswegen auch eine Ab- schaffung von Gefängnissen, Polizei- und Justizbehörden erwogen wurde. Strafgefange- ne, insbesondere die inhaftierten RAF-Terroristen, galten dann recht pauschal als Opfer von staatlicher Unterdrückung. Gerade der Umgang mit dem Linksterrorismus sowie mit den Gegenreaktionen des Staates war prägend für die Gründergeneration der Grünen.

• Viertens folgten sie einer alternativen Wissenschaftsgläubigkeit. In dem Maße, wie sie sich dem gesellschaftlichen Mainstream widersetzten, stützten sie sich auf alternative, minoritäre und damit auch vielfach innovative Ansätze. Gerade bei normativen Fragen wurden alternative wissenschaftliche Thesen herangezogen, um vermeintlich gestrige, überkommene und angeblich nicht wertneutrale Positionen zurückzuweisen. Soziale Be- wegungen, die auf diese Art den Wahrheitsanspruch wissenschaftlicher Forschungen für sich herausschälen, absolut setzen und Skeptiker damit einzuschüchtern beginnen, sehen aber weder Sinn noch Notwendigkeit für offene Diskurse, Erwägungen von Alternativen, die Freiheitssphäre von Irrtümern, Lernprozesse und Korrekturen.

Diese vier Aspekte waren zentral für die Etablierung der Grünen und für die Herausbildung ihres Selbstverständnisses und wirken bis heute nach, schließlich haben sie erheblich zur

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Profilbildung und letztlich Etablierung der Grünen im Parteiensystem beigetragen. Sie be- günstigten in den Anfangsjahren bei den Grünen aber auch die Akzeptanz von Pädosexualität, wenngleich sie nicht zwingend zu Forderungen führten, das Strafrecht entsprechen zu libera- lisieren. Auf Basis dieser Anschlussstellen gelangten schließlich entsprechende Forderungen zumeist erst auf Initiative von zwei Trägergruppen in die Programme der Grünen. Zum einen kamen sie von Seiten der Schwulenbewegung, die ab Ende der 1970er Jahre die Forderung nach einer strafrechtlichen Freigabe von Pädosexualität als Teil ihrer Agenda zur Entdiskriminierung von Homosexuellen ansah. Ein Teil der Bewegung orientierte sich in die- ser Zeit an den Grünen. Über die Bundestagsfraktion der Grünen, war mit der Bundesarbeits- gemeinschaft Schwule, Transsexuelle und Päderasten (SchwuP) ab 1983 eine Arbeitsgruppe institutionalisiert worden, die ab 1984 mehrheitlich vehement für eine Aufhebung des gesam- ten Sexualstrafrechts eintrat. Allerdings gab es im Kreis einiger schwulenpolitischer Landes- arbeitsgruppen (etwa Baden-Württemberg, anfangs auch Bayern und Nordrhein-Westfalen) heftige Kritik am Vorgehen und an der Positionierung der SchwuP. Zudem hatte die SchwuP keine Möglichkeit, sich gegen die recht starke Phalanx der frauenpolitischen Arbeitszusam- menhänge bei den Grünen durchzusetzen. Die SchwuP löste sich danach formal von der Bundestagsfraktion,4 blieb aber innerhalb der Partei aktiv; überdies wurde sie von Seiten der Fraktion beziehungsweise der Partei immer noch als Ansprechpartner gesehen und partiell auch alimentiert.

Die zweite Trägergruppe waren jene Aktivisten, die sich in der Partei für Kinderrechte ein- setzten. Sie argumentierten, in der Tradition der Antipädagogik wie der Reformpädagogik stehend, dabei mit der Gleichberechtigung und originären (sexuellen) Bedürfnissen von Kin- dern, deren Erfüllung man sich nicht verschließen dürfe. Derartige Forderungen artikulier- te besonders lautstark die Nürnberger Indianerkommune, welche die Grünen gerade in den Anfangsjahren als Teil ihres organisatorischen Vor- und Umfelds ansahen. Einige Mitglieder der Kommune waren Parteimitglieder der Grünen geworden. Grüne zeigten sich wiederholt solidarisch mit der Kommune, würdigten ihren Ansatz, wiesen Vorwürfe gegen die Kommune zurück, wenn gegen deren Aktivisten strafrechtlich ermittelt wurde (auch im Falle des sexu- ellen Missbrauchs von Kindern). Ein ums andere Mal wurde der Kommune auch finanzielle Unterstützung zuteil, meist durch Spendensammlungen auf Parteitreffen. Allerdings war das Verhältnis nie ungetrübt. Schließlich neigten die Kommunarden zu aggressiven Auftritten, sprengten Sitzungen, störten Versammlungen oder besetzten die Bundesgeschäftsstelle der Grünen. Dennoch nahm man auf die Belange der Kommune lange Zeit Rücksicht oder suchte das Gespräch mit ihnen. Immer wieder erreichten Anträge aus dem Umfeld der Kommune Landes- oder Bundesversammlungen der Grünen, gelangten aber inhaltlich nicht zur Be- schlussfassung, führten wohl aber zu neuerlichen Diskussionen. Den Höhepunkt dieser Integ- rationsbemühungen bildete der 1983 auf ausdrückliches Verlangen der Indianerkommune hin

4 Der Vorgang war insoweit nicht ungewöhlich, weil die engen Vorgaben einer an die Fraktion angelagerten Struktur auch andere Arbeitsgemeinschaft behinderten und zu einer solchen Scheidung führten.

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abgehaltene Kinder- und Jugendkongress in Kamp-Lintfort, der sich auch mit den Positionen der Kommune zur Pädosexualität beschäftigen sollte. Allerdings trug die Indianerkommune dort mit ihrem intoleranten, martialischen und latent gewalttätigen Auftreten dazu bei, dass ihre Akzeptanz in der Partei langsam, aber sicher schwand.

Verbreitung der Forderungen

Obgleich das Thema sexuelle Befreiung für viele der Vorläuferorganisationen der Grünen durchaus eine gewisse Bedeutung erlangt hatte, stand für sie das Thema Pädosexualität noch nicht auf der Agenda. In der Frühphase der Grünen, also noch vor Gründung der Bundespar- tei, schlug sich der Impuls der sexuellen Befreiung in den Programmschriften in erster Linie in Gestalt der Forderung nieder, den § 175 StGB zu streichen. Entsprechende Forderungen stellten ab 1978 beziehungsweise 1979 die Grüne Liste Hessen, die Bunte Liste in Hamburg sowie die bunten beziehungsweise grünen Wählergemeinschaften in Bonn, Köln oder Biele- feld. Eine Freigabe von Pädosexualität forderte in dieser Frühphase allerdings nur die Bunte Liste in Köln. Über Forderungen hinsichtlich einer Veränderung der §§ 174 und 176 StGB wurde zudem seit 1978 in Berlin diskutiert. Ansonsten ist eine verstärkte Diskussion oder programmatische Positionierung zugunsten der Interessen Pädosexueller erst ab 1980 zu beobachten. In Nordrhein-Westfalen 1980 und 1985, in Göttingen 1981, in Berlin 1981 und 1985, in Bremen 1983, in Rheinland-Pfalz 1983, in Hannover 1981 und in Hamburg 1982 fin- det sich dieses mit entsprechenden Forderungen in den Wahlprogrammen. Auch in Münster, Bonn und Kamen positionierte man sich im Umfeld der Kommunalwahl 1984 mit einer ge- wissen Offenheit, wenngleich dieses nicht immer in den Kommunalwahlprogrammen seinen ausdrücklichen Niederschlag fand. Eine separate Beschlussfassung nach Vorbereitung nebst Publikandum der beabsichtigten Forderungen ist abseits des Wahlprogramms für Berlin 1980 nachweisbar. Als Teil des grünen Wertespektrums oder als Teil einer Minderheitsposition nahmen das erste Grundsatzprogramm der Partei 1980, das Wahlprogramm in Berlin 1985 oder das Wahlprogramm der Grünen in Schleswig-Holstein 1987 einige Gedanken dazu auf. Rudimente des Diskurses sind in den Wahlprogrammen von Braunschweig 1981 und von Göt- tingen 1986 zu finden, ohne dass sich die Grünen dort ausdrücklich für eine Strafrechtslibe- ralisierung aussprachen. Auch die Beratung des Bundestagswahlprogramms von 1987 führte zu einer vordergründig leicht missverständlichen Beschlussfassung, die aber ins endgültige Programm keinen Eingang gefunden hat. Sehr ausgiebig verlief dafür die Beratung des Grundsatzprogramms von 1980. Die Bundes- versammlung von SPV Die Grünen in Offenbach im November 1979 billigte den „Homose- xuellen und Emanzipationsgruppen aus der Schwulenbewegung“ zu, „einen eigenständigen Programmteil [zu] erarbeiten“. Die Programmkommission machte sich dabei die Vorschläge zu eigen, die §§ 174 und 175 StGB „dahingehend zu ändern“, „sexuelle Handlungen nur dann unter Strafe zu stellen (…), wenn bei deren Ausübung Gewaltanwendung oder Mißbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses vorliegt“. Dieser schon Anfang 1980 verbreitete Entwurf

204 11 stieß insbesondere bei der GAZ des CDU-Dissidenten Herbert Gruhl auf Kritik, aber auch der Hamburger Landesverband der eher zentristisch ausgerichteten Grünen Liste Umweltschutz (GLU) wies darauf hin, dass eine Streichung der §§ 174 und 176 StGB mitnichten ein Beitrag zur Gleichstellung Homosexueller sei. Doch die Programmkommission ließ sich von Stel- lungnahmen zahlreicher Sexualwissenschaftler überzeugen. Besonders bemerkenswert war dabei abermals eine Einschätzung Kentlers, der im Gegensatz zu seinen Kollegen keinerlei Restzweifel hatte und sogar Empfehlungen für die politische Taktik präsentierte: Weil er eine Streichung der §§ 174 und 176 StGB unter den obwaltenden politischen und gesellschaftli- chen Kräfteverhältnissen vorerst für nicht durchsetzbar erachtete, hielt er es daher für „sicher politisch vernünftig, wenn der Textentwurf nicht derart weitgehende Forderungen aufstellt“. Der Sexualitätsdiskurs, die Minderheitenaffinität nebst einer damit zusammenhängenden Programmautonomie, die Antirepressionsversprechen sowie die Wissenschaftsgläubigkeit trafen hier zusammen, wobei letzteres in der Programmkommission selbst jene Vertreter überzeugte, die den ersten drei Diskursen distanziert gegenüber standen. Der vor diesem Hin- tergrund zur Bundesversammlung in Saarbrücken im März 1980 weitergeleitete Program- mentwurf sah daher vor, die §§ 174 und 176 StGB so einzuschränken, „daß nur Anwendung oder Androhung von Gewalt oder Mißbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses bei sexuellen Handlungen unter Strafe zu stellen sind“. Trotz eines angekündigten, aber nicht eingereichten Gegenantrags und einiger kritischer Wortmeldungen war die Debatte darum nicht sonderlich kontrovers, zumal die Delegierten offensichtlich erschöpft waren von der vorherigen erregten Debatte um das Abtreibungsrecht. Erst eine neuerliche Intervention vom einstigen Gründer der GLSH, Baldur Springmann, die von Herbert Gruhl Unterstützung erhielt, sorgte am Ende dafür, dass die bereits getätigte Beschlussfassung weitgehend revidiert, jedoch auf Druck der schwulenpolitisch engagierten Grünen nicht ausdrücklich aufgehoben wurde. Stattdessen er- ging eine Diskussionsaufforderung an die Partei. Eine Auseinandersetzung nebst klärender Entscheidung auf einer Bundesversammlung blieb jedoch aus. Zugleich setzte bereits mit dem ein Vierteljahr später verabschiedeten Bundestagswahlprogramm ein Prozess der Ent- wertung des Grundsatzprogramms ein. Allerdings blieb das Bundesprogramm zunächst durchaus eine zentrale Referenz für die Ori- entierung der Programme auf örtlicher Ebene und in den Landesverbänden. Vielfach über- nahm man die eigentlich streitig gestellte Position aus dem Grundsatzprogramm oder folgte Initiativen, welche den Grünen eine solche Position mit Verweis auf das Bundesprogramm vorschlugen. So füllten einige Gliederungen den Grundstock ihrer programmatischen Aus- sagen ohnehin durch das Grundsatzprogramm auf oder verzichteten sogar ganz auf eigene Wahlprogramme und übernahmen stattdessen das Bundesprogramm vollständig. Eine re- flektierte Diskussion gab es dabei oftmals nicht. Die meist als Mitgliederversammlungen ab- gehaltenen Programmkonvente der Landes- und Kreisverbände wurden von einer letztlich überwiegend schlecht informierten Parteibasis besucht. Doch zum Teil ging der Beschlussfas- sung eine ausgiebige Beratung voraus, etwa bei den Grünen in Hamburg 1982. Zudem gibt es wenige Beispiele, in denen mit Positionen zur pädosexuellenfreundlichen Strafrechtsrevisi-

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on recht offensiv Wahlkampf betrieben wurde, wenn auch diese nur an die Gruppe der daran interessierten Schwulen und Pädophilen adressiert wurden. Im Bundestagswahlkampf 1980 fand eine entsprechende Kommunikation in Hamburg und Nordrhein-Westfalen statt, im fol- genden Bundestagswahlkampf 1983 erschien ein entsprechendes, jedoch intern umstrittenes Faltblatt zur Kinder- und Jugendpolitik, welches die Debatten in der Partei summarisch zu- sammenfasste. In diesem Wahlkampf gab es zudem eine Anzeige von Bundesgeschäftsstelle und hessischer Landesgeschäftsstelle in einem Schwulenmagazin. Auch für den Wahlkampf zur Hamburger Bürgerschaft 1982 gibt es entsprechende Belege. Auf die Minderheitenpositi- on wurde im Berliner Wahlkampf 1985 hingewiesen. Allerdings lässt sich ebenso erkennen und aufzeigen, dass solche Forderungen auch von der Partei zurückgewiesen wurden. Das galt beispielsweise für das hessische Wahlprogramm von 1982 oder die bayerischen Wahlprogramme aus den Jahren 1982 und 1986. In Bayern begüns- tigten dabei Differenzen innerhalb des Landesarbeitskreises Schwule beziehungsweise bei den Kinderrechtsaktivisten eine Entscheidung gegen eine entsprechende Positionierung. Die baden-württembergischen Grünen verhinderten mit allerlei taktischen Winkelzügen 1985 ei- nen entsprechenden Vorstoß. Selbst dort, wo es wiederholt Voten gab, wie in Berlin, blieb die Forderung selten unwidersprochen. Der Dissens wurde dort sogar in den Wahlprogrammen 1981 und 1985 dokumentiert. 1985 war dabei das Auseinanderklaffen zwischen den einzelnen Politikfeldern besonders auffällig. So wurde im schwulenpolitischen Teil die Forderung einer Legalisierung von Pädosexualität zurückgewiesen und nur als Minderheitsvotum gebilligt, während im kinderpolitischen Teil eine umfassende Befreiung der kindlichen Sexualität ge- fordert wurde. Die Organisationswirklichkeit der Grünen im Allgemeinen wie der Berliner Alternativen Liste im Speziellen ließ eine solche innerparteiliche Pluralität ausdrücklich zu, begünstigte diese sogar. Vielfach waren die programmatischen Debatten der Grünen nach Innen ausgerichtet und dienten der Integration verschiedener Flügel, Positionen, Teilgruppen etc. sowie der Befrie- dung innerer Konflikte. Medial oder vom politischen Gegner wurden bis 1985 die meisten Debatten der Grünen um Pädosexualität und gar die entsprechenden Beschlüsse nicht oder allenfalls ansatzweise aufgegriffen.

Der Eklat von Lüdenscheidt als Wendepunkt

Die Beschlussfassung des nordrhein-westfälischen Landtagswahlprogramms von 1985 offen- barte diese organisatorischen Mängel in aller Deutlichkeit. Es war die dortige Landesarbeits- gemeinschaft SchwuP, die im September 1984 den Antrag einreichte, die §§ 174–176 StGB zu streichen. Die Landesdelegiertenkonferenz überwies den Antrag daraufhin an eine kurzfristig einberufene Arbeitsgruppe „Sexualität und Herrschaft“. Diese legte ein Papier vor, welches die vorhandenen strittigen Positionen nochmals offenlegte und auch als solche kennzeichnete. Die Delegierten erhielten zudem von der SchwuP als auch von der opponierenden Landes- arbeitsgemeinschaft der Frauen ausführliches Informationsmaterial. In einer polarisierten

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dreistündigen Debatte billigte die Landesdelegiertenkonferenz sodann mit Mehrheit in ge- heimer Abstimmung den vorliegenden Text als sogenanntes Arbeitspapier, womit sich auch eine in der Sache eigentlich gegenteilig eingestellte Sprecherin der Landesarbeitsgemein- schaft Frauen einverstanden erklärte, da dieses aus ihrer Sicht die Voraussetzung sei, um die Diskussion hernach überhaupt führen zu können. Die spitzfindige Unterscheidung zwi- schen Arbeitspapier und dem ohnehin über 600 Seiten fassenden Wahlprogramm, welches die Wendung übernahm „daß einvernehmliche sexuelle Beziehungen grundsätzlich nicht kri- minalisiert werden dürfen. Umstritten ist nur das WIE“, verstanden zum Teil noch nicht ein- mal die Parteimitglieder. Der darauf folgende öffentliche Aufschrei und die Drohung etlicher Kreisverbände, den Wahlkampf einzustellen, veranlasste den Landesverband schließlich zu einer programmatischen Revision. Diese war gleichwohl – vorwiegend aus formalen Gründen und wegen des Festhaltens an identitären Demokratievorstellungen – in einigen Kreisverbän- den hoch umstritten. Eine besondere Aufmerksamkeit bekam die Debatte um das nordrhein-westfälische Programm auch deswegen, weil wenige Wochen nach der Programmrevision ein grüner Kommunalpoli- tiker mit dem begründeten Verdacht festgenommen wurde, ein zweijähriges Mädchen sexuell missbraucht zu haben. Die Grünen wirkten dadurch als Partei, in der straffällig gewordene Pädosexuelle ihre Forderungen einbringen und Funktionen übernehmen konnten. Freilich, wir wissen heute, dass es sich nicht um den einzigen Grünen gehandelt hat, dem ein solches Verbrechen zur Last gelegt wird. Die Gesamtschau über die Grünen Programme zeigt, dass die vorhandenen Beschlüsse und Entscheidungen mehr als lediglich Einzelfälle sind, allerdings sind eben auch keineswegs alle Programme von solchen Forderungen durchsetzt gewesen. Zumeist sind keine entspre- chenden Beschlüsse nachweisbar beziehungsweise zeigten sich die Grünen reichlich desin- teressiert, was Fragen der Pädosexualität anging. So sind die allermeisten im Zuge der For- schungsarbeit durchgesehenen kommunalen Wahlprogramme davon ebenso wenig tangiert wie auch die Mehrzahl der Landeswahlprogramme keine Hinweise beinhalten, dass das The- ma Pädosexualität irgendeine Rolle gespielt haben könnte. Für Hessen, Bayern und mit Ab- strichen Berlin lässt sich zudem zeigen, dass entsprechende Forderungen sogar ausdrücklich zurückgewiesen wurden.

Verdrängung der Debatte

Ab etwa 1985 setzte bei den Grünen ein umfassender Veränderungsprozess ein, der die Parteiorganisation insgesamt betraf. Was zuvor die „Anti-Parteien-Partei“ ausmachen soll- te – von der Öffentlichkeit aller Beratungen über die Rotation der Mandatsträger bis hin zu den durch die strikte Basisdemokratie vorgegebenen Imperativen bei der Mandatsausübung – verlor an Bedeutung und Verbindlichkeit, ja behinderte zunehmend die Konsolidierung der Grünen.

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Zeitgleich wandelte sich in der Publizistik und Wissenschaft die Sichtweise auf sexuel- le Befreiung, die auch ihre Wirkung auf die Grünen hatte. Inspiriert durch die kritischen Analysen der Frauen- und Antimissbrauchsbewegungen, welche ab Mitte der 1980er Jahre deutlich an Raum gewannen, wurde verstärkt auf die Perspektiven und Lagen von Opfern sexuellen Missbrauchs hingewiesen. Der Deutsche Juristentag 1984 thematisierte die Lage von Verbrechensopfern, der Deutsche Bundestag verabschiedet im Jahr darauf das erste Opferschutzgesetz. Diese Entwicklung gewann auch innerhalb der grünen Partei an Bedeu- tung, wobei die Bundestagsfraktion der Grünen eine besondere Rolle spielte, weil sie diese Auseinandersetzung mit parlamentarischen Initiativen vorantrieb. Im Zuge der sich verstärkenden Strömungsauseinandersetzungen zwischen 1985 und 1987 gaben die Stimmen der frauenpolitischen Arbeitszusammenhänge oftmals den Ausschlag über Mehrheiten auf den Bundes- und Landesversammlungen. Sie nutzten diesen strate- gischen Vorteil, um sich institutionelle Macht in der Partei (Quotierung, Vetorechte, haupt- amtliche Referentinnen in den Landesverbänden und Fraktionen, Frauenkonferenzen etc.) zu sichern und trieben ihrerseits die Debatte um die Verschärfung der Verwaltigungsparagra- phen voran. Aus ihrer Perspektive war jenseits des § 175 StGB kein Bedarf, Paragraphen des Sexualstrafrechts zu streichen. Sie suchten auch offensiv die Auseinandersetzung mit der Indianerkommune, mit dem Bereich Schwule der Alternativen Liste oder vergleichbaren Ar- beitszusammenhängen in der Partei. Etwaigen Kompromissen oder Kompensationsgeschäf- ten, die ihnen in der Frage der Pädosexualität offeriert wurden, lehnten sie ab. Sowohl in der Bundestagsfraktion 1984 als auch bei den Beratungen zum Wahlprogramm der Bremer Grünen 1987 sind pädosexuellenfreundlichen Formulierungen nicht zuletzt an ihrem Veto gescheitert. Auch in Berlin wirkten sie mäßigend auf die Alternative Liste ein. Neben dem frauenpolitischen Diskurs kamen den Grünen als Folge des Desasters bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl zudem massive Zweifel an ihrer ausschweifenden Empathie für Minderheiten. Allerdings galt diese weiterhin als grüne Kernüberzeugung eben- so wie der Antirepressionsdiskurs. Letzterer hinderte den Landesverband Nordrhein-West- falen daran, den wegen sexuellen Missbrauchs straffällig gewordenen Kommunalpolitiker aus der Partei auszuschließen. Erst nach der erstinstanzlichen Verurteilung legte man ihm seinen Austritt nahe, zeigte zugleich aber weiterhin Verständnis für seine Situation. Die zuvor begünstigenden Grundüberzeugungen der Grünen wurden gleichwohl einer nach- haltigen Neuinterpretation unterzogen. Sexualität wurde nunmehr nicht mehr nur im Kon- text von Befreiung, sondern ebenfalls im Zusammenhang mit körperlicher Gewalt, subtiler Manipulation oder gar infamer Machtausübung verhandelt. Das Strafrecht galt deswegen nicht mehr als Ausdruck repressiver Staatsauffassungen, sondern schützte die Schwachen vor den Starken. In diesem Bereich vollzog sich damit ein deutlicher Paradigmenwandel. Die Situierung und politische Integration der Schwulenbewegung ab Mitte der 1980er Jahre sowie ihre politische und organisatorische Neuausrichtung in Folge von AIDS läutete hier einen langsamen Abschied von der einstigen Solidarität mit der Pädophilen-Bewegung ein. Auch diese Entwicklung spiegelte sich innerhalb der Grünen wider, was sich deutlich an den

208 15 schärfer werdenden Konflikten um die SchwuP zeigte. Formal ging es dabei eigentlich nur um die weitere Finanzierung der Bundesarbeitsgemeinschaften insgesamt, da diese von der Bundestagsfraktion zur Partei überführt wurden und spätestens nach der Bundestagswahl 1987 eine an der finanziellen Leistungsfähigkeit der Partei ausgerichtete Neustrukturierung unumgänglich war. Allerdings war der weitere Umgang mit der SchwuP in der Zwischenzeit zur politischen Frage geworden, seit der Landesarbeitskreis Schwule aus Baden-Württem- berg im Sommer 1986 seine Mitarbeit in der SchwuP aufgekündigt hatte. Statt einer für die Anliegen von Päderasten offenen Arbeitsstruktur, die sich zudem fast ausschließlich mit dem Sexualstrafrecht befasste, sollte eine neue Bundesarbeitsgemeinschaft Schwulenpolitik ein- gerichtet werden. Diese Initiative fand umgehend Unterstützung, etwa in der Bundestags- fraktion oder bei den Landesverbänden Niedersachsen, Bayern und Nordrhein-Westfalen. Die SchwuP selbst versuchte durch Anpassung die Angriffsfläche zu vermindern und gab sich lo- yal zum Programm der Bundestagswahl und lehnte es mit einem Male sogar mehrheitlich ab, „jederzeit die Interessen und Aktionen der Pädophilen/Päderasten nach außen“ zu vertreten. Doch der zuständige Bundeshauptausschuss unterstützte die Ablösung der SchwuP durch eine neue Bundesarbeitsgemeinschaft Schwulenpolitik. Infolge einer partiellen personellen Kontinuität lief aber auch diese von Anfang an Gefahr, sich für eine Legalisierung der Pä- dosexualität auszusprechen. Dabei drängten unter anderem Günter Dworek und Volker Beck auf eine Distanzierung von den vorherigen Positionen, machten aber aus taktischen Gründen bestimmte Zugeständnisse. Die Konfliktlinie innerhalb der neuen Bundesarbeitsgemeinschaft war durch die Frage strukturiert, ob man eine grundlegende Gleichstellung von Homo- mit Heterosexuellen präferierte, wofür Beck und Dworek standen, oder ob man stattdessen Le- bensentwürfe und –praxen in schwulen Submilieus als Gegenparadigmen zu den als bürger- lich empfundenen heterosexuellen Normen kultivierte. Die Auseinandersetzung um das Se- xualstrafrecht spielte in diesem Zusammenhang eine untergeordnete Rolle, war jedoch nicht vollkommen beseitigt. Um die beiden Flügel zu integrieren, lautete das Angebot der reformerischen Seite, unter ganz bestimmten, schwer zu realisierenden Umständen bei den §§ 174 und 176 StGB eine Aufweichung oder Absenkung der Schutzaltersgrenzen in Aussicht zu stellen, jedoch dieses gegenüber einer Reform des § 175 StGB für nachrangig zu erklären. Mit Blick auf Verbündete außerhalb der schwulenpolitischen Szene erschien es letztlich erforderlich, von Forderungen hinsichtlich der Freigabe von Pädosexualität soweit als möglich Abstand zu nehmen. Dem widersprachen aber einige schwulenpolitische Gruppierungen der Grünen, wie der Bereich Schwule der Berliner AL, die Rosa Biber in Hamburg, die Arbeitsgemeinschaft Schwule bei den Grünen in Bremen, die Landesarbeitsgruppe Schwule und Lesben in Schleswig-Holstein oder SchwuP in Nordrhein-Westfalen. Ein von Beck und Dworek ausgearbeiterter Beschlussvor- schlag für den Bundeshauptausschuss wurde daher in Hinblick auf ihre Opponenten in seiner gegenüber dem Bundeshauptausschuss nicht vorgetragenen Begründung angereichert, um eine letzte Revisionsoption zumindest verbal offenzuhalten. Ähnlich war ihre Position auch an anderer Stelle, etwa in den Gremien des BVH.

209 16

Auf diesem Wege trieben sie – gegen Widerstände innerhalb der Bundesarbeitsgemeinschaft Schwulenpolitik – eine Entscheidung des Bundeshauptausschusses der Grünen im Jahr 1989 voran, der sich dann im Zuge der offiziellen Anerkennung der Arbeitsgemeinschaft von For- derungen nach einer strafrechtlichen Freistellung pädosexueller Kontakte distanzierte. Die Bindungswirkung dieser Entscheidung muss allerdings als begrenzt eingeschätzt werden. Zum einen ist das Gewicht dieses Gremiums bereits seinerzeit erheblich bestritten worden, obwohl die Einstimmigkeit auf dem Höhepunkt der Strömungsauseinandersetzungen natür- lich bemerkenswert ist. Zum anderen behielten in Hamburg oder Berlin die dortigen schwu- lenpolitischen Arbeitszusammenhänge der Grünen ihre Position zugunsten einer Revision der §§ 174 und 176 StGB bei und erhielten dazu auch Unterstützung von anderen Interessen- gruppen innerhalb der Partei, vor allem jenen, die sich der Antirepression (nebst Abschaffung aller Gefängnisse und damit sämtlicher strafrechtlicher Regelungen) verpflichtet fühlten. In Berlin dauerte die Debatte bis Mitte der 1990er Jahre an. Reste des Diskurses erreichten 1993 unbeabsichtigt auch noch die Beratungen der niedersächsischen Grünen.

Abschied von der Vergangenheit Anfang der 1990er Jahre vollzog sich eine Parteitransformation der Grünen. Radikalökolo- gen, Ökosozialisten und auch manch pragmatisch gesonnenen Grüne verließen die Partei, die sich durch die Fusion mit dem ostdeutschen Bündnis 90 dann weiterwandelte. In Zuge des- sen lösten sich die Grünen zugleich von einigen politischen Debatten der 1980er Jahre. Einst zentrale wie auch bald als abseitig empfundene Positionen gerieten in Vergessenheit oder wurden unter dem Druck der politischen Verhältnisse marginalisiert. Darüber rekonstituierte sich die Partei gleichsam und richtete ihre immer noch vorhandenen Grundüberzeugungen an den sich gewandelten politischen An- und Herausforderungen aus. Dadurch wurde dieser Teil der programmatischen Vergangenheit der Grünen von vielen der älteren Mitglieder vergessen oder verdrängt. Für die jüngeren war hingegen kaum vorstellbar, dass ihre Partei sich einmal so positioniert hatte. Obwohl nahezu sämtliche Abhandlungen über die Grünen bis in die frühen 1990er Jahre hinein zumindest die Debatte um das nordrhein- westfälische Wahlprogramm von 1985 aufgriffen und obwohl Mitte der 1990er Jahre die CSU die Grünen mit ihrer pädosexuellen Vergangenheit konfrontierte und der Parteivorstand der Grünen damals ein Argumentationspapier zur Entkräftung der Vorhaltungen herausgab, hielt das kollektive Gedächtnis der Grünen die Erinnerung an diesen Teil ihrer Geschichte nicht lebendig. Dies spiegelte sich in der Debatte 2013 im ebenso ratlosen wie irritiertem Auftritt der Funktionsträger der Partei als auch im den oft pikierten Reaktionen gerade der älteren Mitglieder wider, wenn diese sich überhaupt an die hier behandelte Episode der eigenen poli- tischen Vergangenheit erinnern konnten oder wollten. Der zuweilen lapidare Verweis auf den damaligen Zeitgeist und der Mangel an offenen, nach- denklichen und selbstkritischen Erklärungsversuchen standen im deutlichen Gegensatz zu den geschichtspolitischen Ansprüchen und Forderungen, welche vor allem die Altvorderen

210 17 der Grünen stets für sich proklamiert haben, als sie in den 1960er und 1970er Jahren das hartnäckige Schweigen der Elterngeneration über deren Vergangenheit beklagten und einer scharfen Kritik mit aufklärerischer Verve unterzogen. Grüne hatten auch deswegen ihre po- litischen Ziele mit Prinzipien der politischen Moral verbunden. Dieser hohe Anspruch bekam 2013 durch die Debatte Risse und zwar unabhängig davon, ob es in der grünen Kerngeneration nennenswert Pädophilie-Befürworter gegeben hat.

Allerdings ist ebenso bemerkenswert, wie wenig die Debatte auch abseits der Grünen selbst in Erinnerung geblieben ist, wie stark mediale Vertreter oder politische Gegner ihre Ausein- andersetzung mit der Pädosexualität bei den Grünen an Opportunitäten ausrichten. Die CDU, die bis zum Tag der Bundestagswahl geradezu im Zustand der Dauerempörung war, allen voran ihr hessischer Landesverband, gab mit Blick auf die schwarz-grüne Koalitionsoption in Hessen die scharfe Kritik an den Grünen auf. In den Medien verlor man ebenfalls weitge- hend die Lust daran, Details der programmatischen Verirrungen weiter zu identifizieren oder bedauerte schlicht den Abgang jener Personen, die aus unterschiedlichen Gründen mit der Debatte in Verbindung stehen. Ob Volker Beck mit seinem von taktischen Motiven gekenn- zeichneten, aber am Ende nicht autorisierten Text in einem Sammelband, ob Jürgen Trittin mit seiner presserechtlichen Verantwortung für ein kommunales Wahlprogramm oder Dani- el Cohn-Bendit mit seiner geradezu selbstgefälligen und auch im damaligen Kontext unver- antwortlichen biographischen Prosa, sie alle fehlten in der Zwischenzeit den Journalisten in Berlin wie jetzt ebenfalls – im Falle Cohn-Bendits – in Paris.

Die gesamte Studie ist nun als Buch erhältlich:

Franz Walter, Stephan Klecha, Alexander Hensel (Hg.) Die Grünen und die Pädosexualität Eine bundesdeutsche Geschichte

1. Auflage 2015 304 Seiten gebunden ISBN 978-3-525-30055-8 Vandenhoeck & Ruprecht erscheint November 2014

211 3.2 Die Pädophiliedebatte bei den Grünen im programmatischen und gesellschaftlichen Kontext.

Zwischenbericht des Göttinger Instituts für Demokratieforschung vom Dezember 2013

Zum Forschungsprojekt

Besonderheiten des Projektes

Im Vergleich zu anderen Studien unseres Instituts führen wir unsere Untersuchungen zum

„Umfang, Kontext und Auswirkungen pädophiler Forderungen in den Milieus der Neuen

Sozialen Bewegung sowie bei den Grünen“ zweifelsohne unter erschwerten Bedingungen

durch. Wir haben einen Auftraggeber, der selbst im Zentrum der Diskussionen steht, dem

natürlich unschwer ein Interesse an einer günstigen Darstellung des Sachverhalts nachge-

sagt werden kann. Gleichzeitig existiert ein öffentlicher politischer Diskurs, in dem sich der

politische Gegner des Projektinitiators möglichst viele diskreditierende Details wünscht.

Zudem – und das ist entscheidend – haben vor allem die Opfer von sexuellem Missbrauch

ein Recht auf eine schonungslose und eindeutige Aufklärung. Wissenschaftliche Ergebnisse

mit der notwendigen Differenzierung zu erarbeiten, ist in diesem Kontext eine besondere

Herausforderung.

Wir haben auch vor diesem Hintergrund mit dem Bundesvorstand der Partei

Bündnis 90/Die Grünen vereinbart, dass die Partei zu keinem Zeitpunkt auf unsere Vor-

gehensweise, unsere Arbeit oder unsere Forschungsfragestellungen Einfluss nimmt. Wir

entscheiden autonom und unter Berücksichtigung der gebotenen methodischen Sorgfalt

über den Fortgang der Forschung. Wir legen fest, was wir wann und wie publizieren. Wir

lassen uns dabei von dem leiten, was unsere Forschungsarbeit voranbringt, um Zugang zu

Informationen zu erlangen und um die erforderlichen gesellschaftlichen Diskurse über die

Vorgänge zu fördern. Zugleich stehen wir aber auch in der Pflicht, Informationen von öffent-

lichem Interesse zu publizieren. Kurzum, wir forschen weder für noch gegen eine Partei. Wir

betreiben auch keine Aufklärung, wo es welche Missbrauchsfälle mit direkten oder indirek-

ten Verbindungen zu den Grünen gegeben hat, wenngleich eben auch das nicht auszuschlie-

ßen ist.1 Vielmehr erforschen wir eher (oder gar bestenfalls), inwieweit politisches Handeln

zur Legitimation von sexuellem Missbrauch beigetragen hat. Als Schlussfolgerung bedeutet

dies, dass es nicht alleine um die Grünen als Partei oder um eine hermeneutische Untersu-

chung ihrer Beschlüsse gehen kann. Es ist vielmehr erforderlich, das Phänomen nicht nur

1 Siehe die Darlegung von Freia Peters, Der alltägliche Missbrauch in einer grünen Kommune, in: Welt am Sonntag, 21.07.2013. 212 4 endogen zu erfassen, sondern auch das gesellschaftliche Umfeld der Partei, ihre maßgeblichen

Trägergruppen und ihre Milieubasis zu untersuchen, um die Bedingungen nachzuvollzie- hen, unter denen politisch gehandelt worden ist. Es gilt damit zu klären, aus welchem his- torischen Wurzelgrund die pädophilen Forderungen samt ihrer argumentativen Vorläufer und Begründungen entstanden sind. Wer waren die Träger und Promotoren dieser Diskus - sion, an der retrospektiv kaum jemand beteiligt sein oder an die sich auch kaum jemand erinnern möchte? Welchen, vielleicht sogar rational nachvollziehbaren, Argumenten folgte die Debatte in der damaligen Zeit?

Die Präsentation dieses Zwischenberichts verfolgt von unserer Seite mehrere Ziele: Wir stellen zum einen den Sachstand unserer Forschung für den Diskurs zur Verfügung, indem wir verfügbare Informationen bündeln und erweitern. Die auch öffentliche Auseinanderset- zung darüber befördert zum anderen die Aufarbeitung des Themas, indem weitere Informa- tionen, Quellen und Wissensbestände über die damalige Zeit in den Diskurs gebracht und so für uns besser erschließbar werden.

Zu Vorgehen, Methodik und Archivbeständen

Die erste Feldsichtung hat dabei bereits einige Überraschungen zu Tage gefördert. Sie hat deutlich gemacht, wie umfassend man das Thema angehen muss. Es haben sich zahlreiche

Spuren und Hinweise ergeben, die sich für den Untersuchungsauftrag mehr oder weniger gut eignen. Manche Aspekte sind aber auch abseits der Frage, was sich die Grünen zurechnen lassen müssen, im Interesse der Opfer von sexuellem Missbrauch wichtig und verdienen in diesem, wie in weiteren Forschungsvorhaben Berücksichtigung.

Mit diesem Zwischenbericht versuchen wir einen tragfähigen, wenngleich – das sei deutlich hervorgehoben – vorläufigen Sachstand darzulegen, der auf ersten Veröffent lichungen unseres Instituts aufbaut2 und einen wesentlichen Teil unserer bisherigen Forschungsbefunde zusammenfasst, jedoch bei Weitem nicht alle. In

2 Franz Walter u. Stephan Klecha, Distanzierungstango in der Pädo-Frage, in: Frankfurter Allgemeine Zei- tung, 12.08.2013; Dies., Irrwege des Liberalismus, in: Spiegel Online, 28.08.2013, online einsehbar unter http:// www.spiegel.de/politik/deutschland/paedophilie-debatte-irrwege-des-buergerrechtsliberalismus-a-918872. html [eingesehen am 28.08.2013]; Dies., Die fatale Schweigespirale, in: tageszeitung, 16.09.2013; Franz Walter, „Es widert mich an“, in: Spiegel Online, 15.08.2013, online einsehbar unter http://www.spiegel.de/politik/deutsch- land/paedophilie-studie-franz-walter-zu-vorwuerfen-von-guenter-verheugen-a-916676.html [eingesehen am 25.9.2013]; Ders., Das Finale einer verstörenden Entwicklung, in: Rotary Magazin, H. 11/2013, S. 41-45.

5

213 vielen Fällen sind Aspekte der Kontextualisierung noch zu berücksichtigen, Informati-

onen zu gewichten oder hinreichend profund zu interpretieren. Möglich ist auch, dass

bislang nicht entdeckte Quellen im Laufe des Forschungsprozesses einige Interpretationen

der hier vorgelegten Ergebnisse verändern. Notwendigerweise wird zudem weder abschlie-

ßend Auskunft über den gesamten Komplex gegeben, noch lassen sich alle Themen auf-

greifen, die schon in der öffentlichen Debatte angeklungen sind. Wissenschaftliche Studien

folgen aber einer anderen Logik, als die mediale Diskussion oder die öffentliche Erwartungs-

haltung. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt haben wir etliches, aber eben nicht alles, an Sekun-

därliteratur und Archivmaterial gesichtet. Bei der Auswahl der Archive haben wir uns von

folgenden Gedanken leiten lassen:

Untersucht werden müssen die Vorgänge, die unmittelbar bei den Grünen stattgefunden

haben. Das setzt die Aufarbeitung der Bestände voraus, welche aus der Zeit überliefert

sind. Diese liegen vorzugsweise im Archiv Grünes Gedächtnis der Heinrich-Böll-Stiftung

in Berlin (AGG). Allerdings sind nicht alle Teile der Überlieferungen dort zu finden, eini-

ge Informationen befinden sich in verschiedenen Archiven, so beispielsweise die Bestände

des niedersächsischen Landesverbands im Hauptstaatsarchiv Hannover (HStA Hannover).

Einiges lagert auch in den Landes- und Kreisgeschäftsstellen der Partei, was Zug um Zug

zu erschließen ist. Die in jüngster Zeit verstärkt angelaufene parteiinterne Sammlung von

thematisch relevanten Materialien aus den Landesverbänden und regionalen Gliederungen

könnte weitere relevante Quellen zutage fördern.

Das als relevant eingestufte Material im Berliner Archiv wurde zu einem großen Teil gesich-

tet, wohingegen die andernorts lagernden Bestände bisher nicht vollständig erfasst sind. Ob

dieses überhaupt möglich ist, erscheint fraglich. Die zahlreichen Brüche, Spaltungen oder

Kontroversen in der Frühphase der Grünen haben es mit sich gebracht, dass oftmals Aus-

tritte oder Rückzüge einzelner Personen auch zur Mitnahme von Unterlagen und Materia-

lien geführt haben. Aus der Frühzeit der Partei sind somit gerade Unterlagen aus Kreisver-

bänden gar nicht, bislang nicht oder nicht hinreichend archivarisch gesichert. Freilich können

wir kaum sämtliche Unterlagen dahingehend überprüfen, wenngleich wir in einigen Fällen

eine vertiefende Untersuchung anhand örtlicher Unterlagen für wünschenswert halten und

6

214 vornehmen werden, soweit sich entsprechende Hinweise ergeben. Ungeachtet dessen lagern die Bestände der Landesverbände weitgehend im Archiv Grünes Gedächtnis der Heinrich-

Böll-Stiftung. Durch Spezialsammlungen und einzelne Deposita, die dort ebenfalls hinter- legt sind, lässt sich zudem etliches rekonstruieren. Auch eine Reihe von Zusendungen aus

Privatarchiven haben hierzu geholfen.

Neben den unmittelbaren Geschehnissen in der grünen Partei ist entscheidend, in welchem gesellschaftlichen Umfeld die Grünen agiert und wie gesellschaftliche Bewegungen auf die

Grünen eingewirkt haben. Nicht zuletzt aufgrund des Verständnisses der Grünen als Bewe- gungspartei ist es erforderlich, die mutmaßlich einwirkenden Bewegungen, Organisationen und Institutionen ebenfalls ins Visier zu nehmen. Zugleich lässt sich nur dadurch erschlie-

ßen, wie Forderungen nach einer Freigabe von Pädophilie überhaupt ernsthaft diskutiert werden konnten.

Ein zentraler Akteur ist in dem Zusammenhang die Schwulenbewegung, die gerade Ende der

1970er Jahre in Teilen für pädophile Forderungen offen war.3 Schon aus diesem Grund lagen

Besuche des Archivs des Schwulen Museums (ASM) in Berlin und des Archivs des Hamburger

Instituts für Sozialforschung (HISArch) sowie des Lesbenarchivs Spinnboden (LAS) in Berlin nahe. Die zahlreichen Einflüsse aus der Kinderläden- und Kommunebewegung sind durch die Bestände des Archivs für Alternatives Schriftgut (AfAS) in Duisburg gut erschließbar und lassen sich durch das Archiv der Friedrichshof Wohnungsgenossenschaft (AdFW) ergän- zen. Weil in der medialen Berichterstattung auf Daniel Cohn-Bendit4 und auf die Stadtindi- aner5 Bezug genommen worden war, bot sich eine Sichtung der Stadtarchive von Frankfurt

(StA Frankfurt) und Nürnberg (StA Nürnberg) an. In Erwartung auch etwas aus indirekten

Beobachtungen politischer Konkurrenten zu erfahren, haben wir zudem Rechercheanfragen

3 Sebastian Haunss, Identität in Bewegung, Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004, S. 199; Andreas Salmen u. Albert Eckert, 20 Jahre bun desdeutsche Schwulenbewegung 1969-1989, BVH Materialien 1, 1989, HISArch, SBe, 699+700, Box 1. 4 Exemplarisch: O.V., Voßkuhle sagt Festrede für Cohn-Bendit ab, in: Süddeutsche Online, 14.03.2013, online einsehbar unter http://www.sueddeutsche.de/politik/theodor-heuss-preis-vosskuhle-sagt- festrede-fuer-cohn-bendit-ab-1.1624584 [eingesehen am 04.12.2013]; Christian Füller, Der Tabu- brecher, in: tageszeitung Online, 19.04.2013, online einsehbar unter http://www.taz.de/!114644/ [eingesehen am 04.12.2013]. 5 Reiner Burger, Ein Triumph der Päderasten, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.05.2013; Mat- thias Kamann, Zeitgeist förderte bei Grünen gefährliche Tendenzen, in: Welt Online, 19.05.2013, online einsehbar unter http://www.welt.de/politik/deutschland/artic-le116191482/Zeitgeist-foerderte-bei-Gruenen-gefaehrliche- Tendenzen.html [eingesehen am 04.12. 2013].

7

215 an die Hanns-Seidel-Stiftung (ACSP), die Friedrich-Ebert-Stiftung (AdsD), die Konrad-Ade-

nauer-Stiftung (ACDP) und die Friedrich-Naumann-Stiftung (AdL) gestellt. Überdies inter-

essierte natürlich, welche Debatten die Mitbewerber der Grünen selbst geführt haben. Wäh-

rend wir die Bestände in der Hanns-Seidel-Stiftung und der Friedrich-Naumann-Stiftung

selbst gesichtet haben, haben wir von den anderen Stiftungen entsprechende Archivaus-

künfte erhalten. Schließlich haben wir auch umfangreiche Rechercheanfragen ans Bundes-

archiv (BArch) gestellt, von denen wir einen Teil bereits gesichtet haben. Weitere Materialien

erreichten uns durch Zusendungen, welche aus Privatarchiven entnommen worden sind.

In einigen weiteren Archiven liegen zudem noch Bestände, die von uns noch einzusehen

sind und für die wir Einsichtnahmen beantragt haben. Die Partei Bündnis 90/Die Grünen hat

uns eine vollständige Öffnung sämtlicher Archivunterlagen zugesichert. In dieser Hinsicht

hatten wir bislang keine Schwierigkeiten, von dieser Seite die gegebenenfalls erforderlichen

Sperrfristverkürzungen zu erhalten. Sie umfassen auch die Bestände der Fraktionen und

der von Privatpersonen hinterlegten Deposita. Allerdings gibt es Bestände, die nicht den

Grünen als Partei zuzuordnen sind, die in anderen Archiven als dem AGG lagern, die dort

Sperrfristen unterliegen und die ohne Einwilligung der Hinterleger oder ihrer Erben gegen-

wärtig nicht einsehbar sind. Hier versuchen wir Freigaben zu erwirken, sind dabei aber an

Kooperationen gebunden, die nicht von den Grünen abhängen. Mit einigen der bisher gesich-

teten Materialien, wie zahlreichen noch zu erschließenden Quellen, werden wir uns über-

dies näher beschäftigen. Das kann dazu führen, dass wir einige der hier festgehaltenen Er-

gebnisse nachdrücklich bekräftigen oder einige Befunde abschwächen müssen. Daher – ein

weiteres Mal – sei die Vorläufigkeit dieses Berichts hervorgehoben.

Phänomene und Arbeitsbegriffe

Zwei Begriffe haben wir bereits aufgeworfen, die in der öffentlichen Diskussion oftmals

synonym verwendet werden, die dennoch auseinander zu halten sind: Pädophilie und se-

xueller Missbrauch. Pädophilie stellt eine sexuelle Deviation dar. Sexueller Missbrauch

definiert einen sexuellen Übergriff gegenüber einer Person, die aufgrund freiheitsbe-

8

216 schränkender Umstände nicht wirksam in diesen einwilligen kann.6 Jeder Begriff für sich ist bereits problematisch, die umfangreichen akademischen Diskussionen hierzu sollen im vorliegenden Zwischenbericht nur angerissen werden. Pädophilie bedeutet sprachetymo- logisch eigentlich die Liebe zu Kindern, was wiederum euphemistisch klingt, da es sich ja um eine sexuelle Prädisposition handelt, bei der nicht nur die Zuneigung zu Kindern die

Triebkraft des Handelns ist, sondern ebenso der Wunsch, die eigene Sexualität mit Kindern auszuleben. Um dieser Verzerrung der Sichtweise vorzubeugen, wird in der Sexualwis- senschaft vielfach eher von Pädosexualität gesprochen,7 worunter die Sexualmedizin die

Tathandlung subsumiert, unabhängig davon, ob eine pädophile Neigung vorliegt.8 Eine de- finitorische Trennung zwischen Pädophilen und anderen, Kinder als Ersatzobjekt nutzen- den, Tätern stellt ihrerseits ein Problem dar: Sie legt die Deutung nahe, dass Menschen mit einer „wirklichen“ erotisch-sexuellen Neigung zu Kindern in ihren Verhaltensweisen auch ausreichend auf die Bedürfnisse von Kindern ausgerichtet sind. Eine solche Sicht der Din- ge ignoriert aber das der Sexualität zugrundeliegende narzisstische Handlungsmuster. Die

Vorliebe für ein Objekt ist an die Erwartung geknüpft, dass dieses die eigenen erotischen und sexuellen Bedürfnisse erfüllt,9 die indes nicht mit den Bedürfnissen des Kindes über - einstimmen. Der renommierte Sexualforscher und frühere Vorsitzende der Deutschen Ge- sellschaft für Sexualforschung, Gunter Schmidt, bezweifelt nicht, dass Kinder eine eigene

Sexualität haben: „Kinder sind sexuell neugierig, erkunden spielerisch Lustmöglichkeiten, mit sich allein oder in Doktorspielen. Sexuelle Kontakte mit Erwachsenen sind allerdings als Letzte, was sie wollen.“ Pädosexuelle Aktivitäten zu tolerieren geißelt er daher scharf als „eine nicht akzeptable Laissez-faire-Haltung“.10 Ein anderer Sexualwissenschaftler, 6 Herbert Tröndle u. Thomas Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, München 2004, vor § 176, Rn. 9. 7 Claudia Bundschuh, Pädosexualität. Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen, Opladen 2001; Martin Dannecker, Pädosexualität, in: Dirk Bange u. Wilhelm Körner (Hg.), Handwörterbuch Sexueller Missbrauch, Göttingen 2002, S. 390-394, hier S. 390; Martin Dannecker, Bemerkungen zur strafrechtlichen Behandlung der Pädosexualität, in: Herbert Jäger u. Eberhard Schorsch (Hg.), Sexualwissenschaft und Strafrecht, Stuttgart 1987, S. 71-83; Hertha Richter-Appelt, Störungen der Sexualität, in: Christian Reimer u. Ulrich Rüger (Hg.), Psychodyna- mische Psychotherapien. Lehrbuch der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapieverfahren, Stuttgart 2006, S. 341-355, hier S. 351. 8 Christoph J. Ahlers u.a., Das Spektrum der Sexualstörungen und ihre Klassifizierbarkeit im ICD-10 und DSM- IV, in: Sexuologie: Zeitschrift für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft, Jg. 12 (2005) H. 3-4, S. 120-152, hier S. 145. 9 Claudia Bundschuh, Pädosexualität. Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen, Opladen, 2001, S. 25-27. 10 Gunter Schmidt im Interview mit Hans-Hermann Kotte, „Rückzüge in den homosozialen Bunker“, in: Zeit- schrift für Sexualforschung, Jg. 23 (2010) H. 3, S. 258-261

9

217 Martin Dannecker, spricht ebenso von einer „Disparität des sexuellen Verlangens“11 zwischen

Erwachsenen und Kindern; sein Kollege Günter Amendt attestierte der pädophilen Ideologie

infolgedessen gar Sozialdarwinismus, da sie die Begehrlichkeiten des Stärkeren gegenüber

den Schwächeren privilegiere.12 P r ä zi se leuchtet d a s der S e x u alfor scher Vol km ar Sig u sch au s :

„Heute hat bei uns die sexuelle Selbstbestimmung dank ‚sexueller Revolution‘ einen hohen

Rang. Über die reflektierte Selbstbestimmung verfügt ein vorpubertäres Kind aber noch nicht.

Da ein vorpubertäres Kind noch nicht einmal weiß, was Liebe und Sexualität sind, was sie

bedeuten, was sie symbolisieren, wie sie von anderen Menschen gesehen und gelebt werden,

kann auch nicht von sexueller Selbstbestimmung die Rede sein. Allein aus diesem Grund ist

das Verhältnis eines Pädosexuellen zu einem Kind auf Sand gebaut, drastischer gesagt: auf

eine (Selbst-)Täuschung des Erwachsenen. Eine behauptete ‚Einvernehmlichkeit‘ zwischen

dem Kind und dem Pädosexuellen gründet entweder auf der sozial prekären Lage des Kin -

des oder auf den Einfühlungs- und Verführungskünsten des Erwachsenen. Ohne derartige

ebenso besondere wie verfängliche Umstände ist kein Kind bereit, mit einem Erwachsenen

solche ekligen Dinge zu tun. Zwischen der kindlichen Sexualität und der eines Erwachsenen

klafft ein unüberwindbarer Abgrund, der nur durch mehr oder weniger erkennbare Gewalt-

anwendung und Machtausübung überwunden werden kann - mit den bekannten Folgen.“13

Für unsere Studie haben wir uns entschieden, am Begriff der Pädophilie vorerst festzuhal -

ten, weil dieser in der historischen und auch aktuellen Debatte so stark verbreitet ist, dass

die Nutzung eines alternativen Begriffs für überflüssige Verwirrung und aufwändige Ein-

ordnungen gesorgt hätte.14

Auch der Begriff des sexuellen Missbrauchs wird problematisiert, weil er in sprachlicher

Hinsicht die Möglichkeit eines richtigen Gebrauchs impliziert, weswegen einige Autore lieber

auf den Begriff der sexuellen Gewalt oder der sexuellen Misshandlung abstellen.15 Insofern

11 Martin Dannecker, Bemerkungen zur strafrechtlichen Behandlung der Pädosexualität, in: Herbert Jäger u. Eberhard Schorsch (Hg.), Sexualwissenschaft und Strafrecht, Stuttgart 1987, S. 71-83, hier S. 79. 12 Günter Amendt, Nur die Sau rauslassen?, Sexualität konkret, 1980, S. 23-30. 13 Volkmar Sigusch, Sexueller Kindesmissbrauch. Zum Stand von Forschung und Therapie, in: Deutsches Ärz - teblatt H. 37/2011, S. S. 1898-1902, hier: S. A 1902 14 So auch Melanie Kisling, Pädophilie und Pädosexualität. Ursachenforschung und Interventionsmöglichkei- ten, Saarbrücken 2010, S. 8. 15 Siehe die Übersicht bei: J. M. Fegert u.a., Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, in: Bundesge- sundheitsblatt, Jg. 56 (2013) H. 2, S. 199-207.

10

218 haben wir es insgesamt mit zwei normativ stark aufgeladenen Begriffen zu tun, die unter- schiedliche Perspektiven auf das Phänomen werfen. Die Folge davon ist, dass die Diskussi - on überwiegend und bis in die Wissenschaft hinein in Kategorien der Wahrheit abläuft und die Sprecher mit ihren Äußerungen oftmals den „Lagern“ von Angreifern und Verteidigern von Positionen der strafrechtlichen Frage zugeordnet werden.16 „Wenn fünf Sexualwissen- schaftler privat zusammensitzen“, so die Beobachtung der Psychologin Sophinette Becker vom Institut für Sexualtherapie, „und einer schneidet das Thema Pädophilie an, bricht in kur- zer Zeit heftiger Streit aus. Werfen die einen den anderen Feigheit, Konformismus, bieder

Moralisierung, Ausgrenzung von Minderheiten vor, schlagen die anderen mit dem Vorwurf der Verharmlosung, Verleugnung, Pseudo-Fortschrittlichkeit zurück.“17 Hierdurch wird die

Erforschung der Debatte an einigen Stellen erschwert. Neben einer normativen Aufladung findet sich in der öffentlichen Debatte eine unzureichende Differenzierung von Begrif- fen und Phänomenen. Gerade seit den Debatten über sexuellen Missbrauch in den 1980er und 1990er Jahren wird der Begriff der Pädophilie häufig synonym mit dem des sexuellen

Missbrauchs verwendet. Dabei gibt es Personen mit pädophiler Neigung, die „nie in ihrem

Leben strafrechtlich oder klinisch in Erscheinung treten“18. Zugleich sind Kinder sexuellen

Übergriffen ausgeliefert, ohne dass der Täter selbst eine pädophile Neigung besitzt, so dass

„nicht hinter jedem Missbrauchsdelikt zum Nachteil eines Kindes ein pädophil gestörter Tä- ter steckt.“19 Pädophilie ist somit weder eine hinreichende, noch eine notwendige Bedingung für sexuellen Missbrauch.20

Natürlich hängen Pädophilie und sexueller Missbrauch aber auch miteinander zusammen.

Aus einer pädophilen Neigung kann sexueller Missbrauch erwachsen, beziehungsweise:

16 Hertha Richter-Appelt, Sexuelle Traumatisierungen und körperliche Misshandlungen in der Kindheit. Ge- schlechtsspezifische Aspekte, in: Sonja Düring u. Margret Hauch (Hrsg.), Heterosexuelle Verhältnisse, Stuttgart 1995, S. 56-76, hier S. 58 17 Sophinette Becker, Pädophilie zwischen Dämonisierung und Verharmlosung, in Werkblatt - Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik H. 1/1997, S. 5-21, hier: S. 5. 18 Friedemann Pfäfflin, Kinderliebe, Pädophilie und pädosexuelle Straftaten, in: Stephan Doering u. Heidi Möl- ler (Hrsg.), Frankenstein und Belle de Jour, 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen, Heidelberg 2008, S. 356-363, hier S. 362. 19 Andreas Mokros u.a., Pädophilie, Prävalenz, Ätiologie und Diagnostik, in: Der Nervenarzt, H. 3/2012, S. 355- 358, hier S. 356, Hervorhebung im Original; ähnlich Friedemann Pfäfflin, Kinderliebe, Pädophilie und pädosexu- elle Straftaten, in: Stephan Doering u. Heidi Möller (Hg.), Frankenstein und Belle de Jour, 30 Filmcharaktere und ihre psychischen Störungen, Heidelberg 2008, S. 356-363, hier S. 361. 20 Andreas Mokros u.a., Pädophilie, Prävalenz, Ätiologie und Diagnostik, in: Der Nervenarzt, H. 3/2012, S. 355- 358, hier S. 355.

11

219 Ein sexueller Missbrauch kann (unter anderem) auf einer pädophilen Neigung basieren.

Pädophilie „dürfte […] einen Hauptrisikofaktor für die Begehung von sexuellen Missbrauchs-

delikten an Kindern darstellen“.21 Dennoch ist unter dem Begriff Pädophilie primär eine

sexuelle Disposition zu verstehen, während sexueller Missbrauch einen Straftatbestand

bezeichnet, der überdies in seiner Geschichte Wandlungen unterlegen ist.22 Die Geschichte

der Sexualwissenschaft als Wissenschaft von der sexuellen Abweichung ist indes relativ

jung: Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschäftigen sich anfangs insbesondere

Psychiater mit Erscheinungen der Abweichung von der sexuellen Norm. In einer biologisch

fundierten psychiatrischen Wissenschaft galt die sexuelle Norm als „natürliche“, das heißt,

beständige und reproduktionsbezogene Erscheinung.23 Wenngleich die Sexualwissenschaft

sich in ihrer Geschichte gerade von der gesellschaftlichen Normbezogenheit immer wieder

zu befreien versucht hat, ist diese dem klinischen Umgang mit sexuellen Devianzen noch

immer eingeschrieben – wenn auch unter Anerkennung ihrer kulturellen Bedingtheit. Das

Zustandekommen einer pädophilen Sexualpräferenz ist in klinischer Perspektive nicht hin-

reichend geklärt. Zwar existieren verschiedene Ansätze, die auf neurobiologischer, lernthe-

oretischer und psychologischer Ebene Erklärungsmodelle liefern.24 Dennoch sind die Wis -

sensbestände hierzu äußerst begrenzt und der Informationsgehalt von eindimensionalen

Erklärungsmustern scheint unzureichend.25

Die derzeit allgemeinste klinische Definition von Pädophilie ergibt sich aus dem DSM,

dem diagnostischen Handbuch psychischer Störungen (Diagnostic and statistic manual),

sowie dem ICD-10, der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und

verwandten Gesundheitsprobleme. Hier ist Pädophilie den „paraphilen Störungen“ (DSM-IV-

TR), also Störungen der Sexualpräferenz (ICD-10), zugeordnet. Nach DSM – IV – TR (2000)

müssen folgende Kriterien erfüllt sein, damit eine paraphile Störung diagnostiziert werden 21 Ebd., S. 355 f. 22 Johannes A.J. Brüggemann, Entwicklung und Wandel des Sexualstrafrechts in der Geschichte unseres StGB, Baden-Baden 2013. 23 Claudia Bundschuh, Pädosexualität. Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen, Opladen, 2001, S. 17-18. 24 Vgl. weiterführend: Peter Fromberger u.a., Neurobiologie der pädophilen Störung – eine methodenkritische Darstellung bisheriger Forschungsergebnisse, in: Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie H. 1/2007, S.249-258; Claudia Bundschuh, Pädosexualität. Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen, Opladen, 2001, S. 95-117. 25 Claudia Bundschuh, Pädosexualität. Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen, Opladen, 2001, S.117-118.

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220 kann:

1. Muss es um sexuelle Phantasien oder dranghaftes Verhalten gehen, das auf unge-

wöhnliche, nichtmenschliche Objekte, Leiden von sich selbst oder anderen oder Kinder

oder andere, nicht einwilligungsfähige Personen ausgerichtet ist.

2. Muss gemäß dieser Phantasien gehandelt worden sein oder ein Leiden oder eine Be-

einträchtigung in wichtigen persönlichen Funktionsbereichen (Arbeit, soziales Um-

feld) vorliegen.

3. Dürfen die ersten beiden Kriterien nicht aus einer anderen psychischen Krankheit,

einer Behinderung oder akuter Intoxikation resultieren.26

Insbesondere der zweite Aspekt weist eine starke Normbezogenheit auf: Beeinträchtigungen der persönlichen Funktionsbereiche hängen immer auch mit Norm- und Normalitätsvor- stellungen der jeweiligen Gesellschaft und Epoche zusammen. Genau gegen diese Norm- bezogenheit mussten sich auch Homosexuelle in ihrer Emanzipationsgeschichte wehren.

Pädophilie fällt also unter eine Störungskategorie, die in ihrer Entwicklung Wandlungen un- terworfen war, wahrscheinlich auch immer wieder sein wird. Eine wertfreie Definition von

Paraphilien, so Claudia Bundschuh, gibt es nicht.27

Während es sich somit bei Pädophilie um eine medizinisch indizierbare Störung der Sexu- alpräferenz handelt28, stellt sexueller Missbrauch eine strafrechtlich relevante Tathandlung dar, 29 bei der die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers beeinträchtigt wird.30 Zugleich ist die Kategorie der sexuellen Störungen in Teilen normabhängig und damit prinzipiell auch ein möglicher Gegenstand politisch-kultureller Auseinandersetzungen.

In diesem Kontext wiederum findet sich der Zugang für die Pädophiliedebatte bei den Grü- nen. Es ging um die Fragestellung, ob das Verlangen eines Pädophilen nicht nur akzeptierte

Neigung sein könnte, sondern ob auch die Erfüllung seines Triebs akzeptabel wäre, sofern

26 Wolfgang Berner u. Peer Briken, Störung der Sexualpräferenz (Paraphilie), in: Bundesgesundheitsblatt, Jg. 50 (2007) H. 1, S. 33–43, hier S. 33. 27 Claudia Bundschuh, Pädosexualität. Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen, Opladen, 2001, S. 25 28 Wolfgang Berner u. Peer Briken, Störung der Sexualpräferenz (Paraphilie), in: Bundesgesundheitsblatt, Jg. 50 (2007) H. 1, S. 33–43. 29 Andreas Mokros u.a., Pädophilie, Prävalenz, Ätiologie und Diagnostik, in: Der Nervenarzt, H. 3/2012, S. 355-358, hier S. 355. 30 Hans-Ludwig Kröber, „Psychische Störung“ als Begründung für staatliche Eingriffe in Grundrechte des Indi- viduums, in: Forensische Psychiartrie, Psychologie, Kriminologie, Heft 5/2011, S. 234–243, hier S. 235.

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221 die gleichen Kriterien gelten würden, die auch für den Sexualverkehr von Hetero- oder auch

Homosexuellen angelegt würden. Insoweit Teile des Alternativmilieus das bejahten, leiteten

sie daraus den politischen Auftrag ab, jene sexuellen Missbrauchshandlungen, die auf pä-

dophilen Neigungen aufbauten, strafrechtlich zu privilegieren beziehungsweise diese nicht

mehr mit dem Strafrecht zu sanktionieren. Im Kern ging es somit in der Pädophiliedebatte

bei den Grünen um die Aufweichung der strafrechtlichen Schutzregelungen wider sexuel-

len Missbrauch. Überwölbt wurde das Postulat von einer umfassenden theoretischen und

praktischen Debatte über die Kritik und Veränderung von Normen, die auch im Bereich der

Sexualität stattfinden sollte.

Methodische Überlegungen

Dieser Bericht basiert bislang noch überwiegend auf archivalisch erhobenen Quellen. Der

dezidierte Fokus, der zunächst hierauf gelegt wurde, bietet den Vorteil, einen quellenkri-

tisch abzusichernden Faktenrahmen zu schaffen und nicht bereits am Anfang in den Sog

retrospektiver Meinungen und Erinnerungen zu geraten. Letztere können leicht trügen,

weshalb etliche Historiker skeptisch sind, ob solche Erinnerungen und nachträglichen Über-

lieferungen, gar solche, die für Forschungsvorhaben generiert wurden, überhaupt als Quelle

verwendbar sind.31 Der dezidierte Gegenwartsbezug, die Normativität der Perspektive und

drittens der Einfluss des Forschungsvorhabens auf das/den zu Erforschende/n gelten als die

zentralen Probleme einer solchen Herangehensweise.

Mündlich tradierte und weitergegebene Geschichte als Element historiographischer Be-

schäftigung aufzugreifen hat gleichwohl seine Berechtigung. In den soziologischen und

geschichtswissenschaftlichen Diskurs hatte Maurice Halbwachs die Erkenntnis einer so-

zialen Verfasstheit der Erinnerung eingebracht, die sich nicht nur im „kollektiven“, son-

dern auch im individuellen Gedächtnis niederschlägt.32 Das Individuum sei eingebettet in

ein soziokulturelles Umfeld, welches auch seine kognitive Welt präge. Für die Geschichts-

wissenschaft bedeutete dies, ihr Interesse stärker auf dieses soziale und auch private

31 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Alltagsgeschichte. Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusionen?, in: Ders. (Hg.), Aus der Geschichte lernen? Essays, München, 1988, S. 130-151. 32 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt am Main, 2008.

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222 Umfeld zu legen. Diese Abkehr von der geschichtswissenschaftlichen Fokussierung auf die

öffentliche Sphäre ermöglichte es, eine reine Vorderbühnengeschichte33 zu vermeiden, die sich nur auf Quellen der Macht und der Mächtigen stützt. Eine Selektion von gültigen Quel- len, die vor allem lineare, schriftsprachliche Texte, beispielsweise aus Dokumenten oder

Protokollen, priorisiert, läuft Gefahr, über ihren Inhalt und ihre Form eine diskursive Ord- nung der Macht zu reproduzieren. Indes ist heute dieses Problem nicht nur eine Frage der

Quellenkritik, sondern auch der Darstellung gewonnenen Wissens. In der Methodologie der

Geschichtswissenschaft wird umfassende Quellenkritik betrieben, welche etwa an die histo- rische Diskursanalyse, an linguistische oder medienwissenschaftliche Methoden anschluss- fähig ist.34 Mündliche Quellen können Erinnerungen und damit dezidiert subjektive Darstel- lungen von Vergangenem zutage fördern, welche weitere Perspektiven eröffnen. Ebenso allerdings stößt eine rein auf mündliche Quellen ausgelegte Forschung zwangsläufig dort an

Grenzen, wo Kritisches und Strittiges intersubjektiver Absicherung bedürfen. Gerade politi- sche Ereignisse bringen es mit sich, dass die Aussagen „stark von Rechtfertigungsversuchen geprägt, mit Angriffen auf gestrige oder heutige politische Gegner verbunden in einem kaum entschlüsselbaren Maß mit später Gelesenem und Gehörtem durchsetzt sind.“35 Eine histo- rische Faktenlage unterliegt im Nachhinein Interpretationen.36 Jede aus einem Zeitzeugen- gespräch gewonnene Deutung ist letztlich eine subjektive Darstellung der Vergangenheit, die natürlich permanent das eigene Verhalten reflektiert, bewertet und in den meisten Fäl- len nachträglich beschönigt beziehungsweise dieses in Bezug auf die soziale Erwünschtheit der Gesprächssituation anpasst.37 Akzeptiert werden muss daher, dass es sich um Deutun- gen und Erinnerungen handelt, die nicht deckungsgleich sind mit der von Seiten klassischer

Geschichtswissenschaft beanspruchten Quellensicherheit. Das ist für uns in Bezug auf die

33 Zum Konzept der Bühnen-Metapher zwecks der Trennung dispositiver Wirkungen von öffentlichen und pri- vaten Räumen siehe: Erving Goffman, Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag, München u.a, 1983. vor allem S. 99–128. 34 Willibald Steinmetz, Diskurs, in: Stefan Jordan (Hrsg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbe- griffe, Stuttgart 2003, S. 56–61, hier: S. 60. 35 Lutz Niethammer, Postskript, Über Forschungstrends unter Verwendung diachroner Interviews in der Bun- desrepublik, in: Ders. (Hrsg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis, Die Praxis der „Oral History“, Frank- furt am Main 1985, S. 471–477, hier S. 473. 36 Alexander von Plato, Oral History als Erfahrungswissenschaft. Zum Stand der „mündlichen Geschichte“ in Deutschland, in: Julia Obertreis (Hg.), Oral History, Stuttgart 2011, S.73–98, hier S. 84. 37 Vgl. zum Umgang mit Zeitzeugenerinnerung instruktiv Norbert Frei u. Martin Sabrow (Hrsg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012; Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion, in: BIOS, H. 1/1990. S. 75–81.

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223 Debatte bei den Grünen selbst ein Problem, weil wir dort einen vermeintlich objektiven

Zugriff auf die Geschichte tätigen sollen. Letztlich geht es um eine Konstruktion historischer

Faktizität.38 Erzählungen und mündliche Darstellungen können dennoch spezifische Aus-

kunft über Denk- und Deutungsmuster geben oder zur Kontextualisierung erforderlich sein,

müssen aber mit der gebotenen Vorsicht und Zurückhaltung einbezogen werden.

Vor dem Hintergrund der dargestellten methodischen Erörterungen ist es also durch-

aus sinnvoll, zunächst archivalisch Erkenntnisse zu gewinnen und diese in einem zweiten

Schritt durch Zeitzeugengespräche zu erweitern, um weiteres Material zu erschließen und

um vorhandenes Material leichter zu interpretieren. Die dazu erforderlichen Gespräche

werden wir in einer weiteren Phase des Projekts verstärkt durchführen. Im Rahmen der

nötigen Quellenkritik ist es hilfreich, identische oder sehr affine Berichte von verschiede-

nen Anwesenden einer Veranstaltung in unmittelbarer Nähe des Ereignisses zu besitzen,

die sodann zu verdichten sind. Der von uns schwerpunktmäßig zu betrachtende Zeitraum

wurde bislang weniger in historischer Perspektive erschlossen. Den 1980er Jahren haftet

der Makel an, „historiographisch noch kaum Kontur gewonnen [zu haben], vielmehr droht

ihnen mangels herausragender Ereignisse, jedenfalls vom Regierungswechsel 1982/83 bis

etwa 1988, das Verblassen zwischen den aufgewühlten siebziger Jahren und der Wieder-

vereinigung, gar die Reduzierung auf deren bloße Vorgeschichte.“39 Selbst die Zeithistoriker,

die sich immerhin schon mit einer gewissen Akribie den 1970er Jahren zugewandt haben,40

sind bislang eher verhalten an die 1980er Jahre herangegangen, 41 zumal sie hierbei mit den

Sozialwissenschaften ebenso in Konkurrenz treten wie mit zahlreichen „meinungsstarken

Journalisten“42. Zeitzeugen, aber auch die zahlreichen Beobachter der damaligen politischen

Szene, leben noch, sind oftmals weiterhin aktiv und tragen so das ihre dazu bei, die gegen-

38 Vgl. Hayden V.White, Auch Klio dichtet, oder, Die Fiktion des Faktischen: Studien zur Tropologie des histori - schen Diskurses, Stuttgart, 1986. 39 Andreas Rödder, Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990, München 2004, S. 118f.; 40 Etwa Konrad H. Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Andreas Rödder, Moderne-Postmoderne-Zweite Moderne. Deutungskategorien für die Geschichte der Bundes- republik in den siebziger und achtziger Jahren, in: Thomas Raithel u.a. (Hg.), Auf dem Weg in die Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009, S. 181–202. Kritisch hierzu Rüdiger Graf u. Kim Christian Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Ori- ginalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 59 (2011) H. 4, S. 479–508. 41 Zu den Ausnahmen zählt Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982-1990, München 2006. 42 Dietmar Süß/Meik Woyke, Schimanskis Jahrzehnt?, in: Archiv für Sozialgeschichte, LII (2012), S. 3–20, hier S.3.

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224 wärtige Erinnerungskultur zu beeinflussen. Das ist für die Auswahl der Quellen hochgradig relevant und muss bedacht werden. Der Kanon möglicher Quellen bleibt für uns daher prin- zipiell offen für Erweiterungen. Das gilt auch für nicht schriftlich überlieferte Dokumente wie Bilder, Filmmaterial oder Radiomitschnitte.

Die Vorgeschichte

Es gab sicher einfachere Jahre für die Grünen als das Jahr 2013. In einer gewissen Weise markiert das gegenwärtige Jahr gar eine Zäsur. Zuvor pflegten sie ihre Geschichte als einen notwendigen Aufbruch in Richtung vermehrter Liberalität, kosmopolitischer Weltoffenheit,

ökologischer Sensibilität und gelassener Toleranz gegenüber Minderheiten zu beschreiben.43

Die damit verbundenen positiven Konnotationen in gesellschafts- und umweltpolitischer

Hinsicht, etwa während der ersten rot-grünen Koalition auf Bundesebene, wurden dabei auf das Konto der eigenen Partei beziehungsweise der befreundeten oder vorangegangen sozialen Bewegungen verbucht.44 In den späten 1970er Jahren in der „Rolle des ‚Retters‘“ an- getreten, die sich als die einzigen ansehen, den „Ausweg aus der drohenden Katastrophe“ zu finden45, umgab die Grünen in Folge der hierauf teilweise langfristig fußenden politischen

Erfolge bis in die jüngste Zeit die Aura, auf der „richtigen Seite“ der Geschichte der Bundes- republik gestanden zu haben.46 Der hohe Zuspruch, als auch der Glaubwürdigkeitsvorsprung der Partei in Nachwahlbefragungen speist sich ganz besonders aus diesem Nimbus einer

Erfolgserzählung der Liberalisierung und Ökologisierung. 47 2013 aber richtete sich der Blick,

43 Schließlich sind auch noch die siebziger Jahre – und eben nicht nur die vermeintlich „muffigen fünfziger Jah- re“, „aus der Sicht des frühen 21. Jahrhunderts […] hierarchisch, autoritär und patriarchalisch gewesen, mit vielen Zügen dessen, was bei den Frühneuzeitlern deferential society genannt wird: eine Gesellschaft, in der man seinen Platz kannte“. Paul Nolte, Jenseits des Westens? Überlegungen zu einer Zeitgeschichte der De- mokratie, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 61 (2013) H. 3, S. 275–301, hier S. 285. 44 Exemplarisch wird dies etwa am Beispiel des ehemaligen Bundesaußenministers , dessen Vita des „ex profundis Erretteten und Erleuchteten, dessen ‚Biographie‘ (allein das Wort soll Authentizität ver- bürgen) sich zu einem deutschen Bildungsroman und Generationsschicksals schlechthin summiere.“ Gerd Koe- nen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, 1967–1977, Köln 2001, S. 329f. 45 Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“ Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 487f. 46 Siehe Franz Walter, Grün und stets im Schritt der Zeit, in: Alexander Hensel u.a. (Hrsg.), Demokratie am Wen- depunkt, Stuttgart 2013, S. 231 ff. 47 Thomas Petersen, Mit dem Zeitgeist im Rücken, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.11.2011; Martin Kroh u. Jürgen Schupp, Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei?, in: Wochenbericht des DIW Berlin, H. 12/2011, S. 2–9; vgl. zu dieser Frage grundlegend Lothar Probst, Bündnis 90/Die Grünen auf dem Weg zur „Volks- partei“? Eine Analyse der Entwicklung der Grünen seit der Bundestagswahl 2005, in: Oskar Niedermayer (Hg.), Die Parteien nach der Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2011, S. 79–107; Lea Heyne u. Michael Lühmann, Bündnis 90/Die Grünen. Zwischen Zeitgeist und Wertewandel, in: Daniela Kallinich u. Frauke Schulz (Hg.), Halbzeitbilanz. Parteien, Politik und Zeitgeist in der schwarz-gelben Koalition 2009-2011, Stuttgart 2011, S. 283–304.

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225 plötzlich und überraschend, schärfer auf solche Linien des grünen Entwicklungsromans, die

nicht nur erfreuliche Freiheitszuwächse, sondern auch schmerzhafte Grenzverletzungen,

Missbräuche und Traumata hervorbrachten. Durch die Pädophiliedebatte gerieten die frü-

hen Jahre der Grünen Partei, die erste Hälfte der 1980er Jahre, verschärft in den Blick und

das Zentrum einer harten öffentlichen Kritik.48 Doch wollen wir hier zunächst, zum besseren

Verständnis von Ursache, Hintergrund und Kontext, auf die Jahre vor den Grünen schauen.

Denn: Was sich bei den Grünen in ihrer Entstehungszeit abspielte, bedeutete nach unseren

bisherigen Beobachtungen und Befunden mehr das Finale als die Ouvertüre einer Entwick-

lung, die Jüngeren heute weitgehend unverständlich vorkommt.

Die große Zeit der Sexual- und Strafrechtsreformer lag nämlich nicht in den 1980er Jahren,

sondern in den 1960ern. Der Geist, der diese Strömung trug, war liberal, auch radikalde-

mokratisch, im Selbstverständnis der Akteure: bürgerrechtlich. Es war der Geist all derer,

die sich lösen wollten vom - wie sie es wahrnahmen - „Mief“ der „Adenauer-Republik“,49 von

der „sexualfeindlichen Bigotterie“ des Katholizismus.50 Die unabhängige Entscheidung und

Freiheit des autonomen Einzelnen auch in der Sexualität bildete das Credo der Reformer,

die nach dem emanzipatorischen Ausbruch aus den klerikal-konservativ geprägten Moral-

vorstellungen und Konventionen drängten. Dafür gab es in jenen Jahren einige gute Gründe,

weswegen die Ergebnisse der Reformbewegung heute bekanntlich zumeist goutiert werden,

seit einiger Zeit selbst von Zugehörigen (einst) konservativer Lebenswelten.

Nur: Tücken, Ambivalenzen, gar Opfer bleiben bei Emanzipationsbewegungen nicht

aus. Das gilt auch für das neue liberale Bürgertum, das sich ab den 1960er Jah-

ren entfaltete. Seinerzeit formierte sich unter anderem eine Gruppe von liberalen

Strafrechtsreformern an den Universitäten, die mit sogenannten Alternativentwürfen

einiges Aufsehen erregten – und à la longue vielfach segensreich gewirkt haben dürf-

48 Katja Tichomirowa, Die Grünen und ihr Umgang mit Pädophilie, in: Frankfurter Rundschau, 16.05.2013; Christian Füller, Danys Phantasien und Träume, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28.04.2013; Ali- ce Schwarzer, Daniel Cohn-Bendit: In der Vergangenheit liegt die Gegenwart, in: Emma Online, 01.05.2013, on- line einsehbar unter http://www.emma.de/artikel/daniel-cohn-bendit-der-vergangenheit-liegt-die-gegenwart- 265010, 1.5.2013 [eingesehen am 03.12.2013]. 49 Vgl. einführend Matthias Frese u.a. (Hg.), Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003; Axel Schildt u.a. (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000. 50 Siehe etwa die Einleitung von Heidrun Kämper u.a., in: Dies. (Hg.), 1968. Eine sprachwissenschaftliche Zwi- schenbilanz, Berlin 2012, S. 1–26, hier S. 4; Sybille Steinbacher, „Sex“ - das Wort war neu, in: Die Zeit, 16.10.2009.

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226 ten. Zu dieser Gruppe zählten etwa die Jura-Professoren Jürgen Baumann, Ulrich Klug,

Werner Maihofer, die in jenen Jahren den sich vom Nationalliberalismus verabschiedenden

Freien Demokraten beitraten und im Jahrzehnt danach beachtliche Karrieren als Minister und Senatoren absolvierten.51 In der Frage der Sexualdelinquenz argumentierten sie 1968 noch erkennbar vorsichtig. Gleichwohl hieß es in ihrem Entwurf: „Eine sachgerechte Aus- gestaltung des Schutzes von Kindern gegenüber sexuellen Angriffen stößt auf erhebliche

Schwierigkeiten, nachdem die neuere Forschung immer deutlicher zeigt, dass mögliche Aus- wirkungen der Tat entscheidend von der Psyche des einzelnen Kindes und von der Reaktion der Umwelt abhängen.[...] Die Verfasser des AE (Alternativentwurfs) verkennen nicht, dass in der Mehrzahl der abgeurteilten Fälle eine echte oder anhaltende Schädigung wohl nicht eintritt. Und, daß die überkommenen gegenteiligen Vorstellungen im erheblichen Maße der

Korrektur bedürfen.“52

Bürgerrechtlich motiviert agierte auch die Humanistische Union (HU), eine 1961 gegründete

Vereinigung, die bis heute im linksliberalen Milieu ein wichtiges Sprachrohr darstellt und der gegenwärtig etwa auch Renate Künast, Claudia Roth, Sabine Leutheusser-Schnarren- berger, , Helga Schuchardt, Volker Beck, Rüdiger Lautmann, Klaus Hahnzog,

Georg Schlaga, Rosemarie Will oder Hartmut von Hentig angehören.53 Unter dem Eindruck der gesellschaftspolitischen Liberalisierungsdebatten seit Ende der 1960er Jahre debattier- te man in den Reihen dieser Organisation über Sittengesetze, Abtreibungsrecht oder das

Sexualstrafrecht. Die Organisation veranstaltete im November 1973 in Köln einen Kongress mit dem Titel „Kinderfeindlichkeit in der Bundesrepublik – Situation und Chancen einer wehrlosen Minderheit“, bei dem in einem Arbeitskreis auch das Thema „Die Lustfeindlich- keit pädagogischer Institutionen“ debattiert wurde.54 Daraus erwuchsen am Ende Artikel im

51 Vgl. Frauke Schulz, „Im Zweifel für die Freiheit“, Aufstieg und Fall des Seiteneinsteigers Werner Maihofer in der FDP, Stuttgart 2011. 52 Jürgen Baumann u.a., Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches. Besonderer Teil Sexualdelikte, Strafta- ten gegen Ehe, Familie und Personenstand. Straftaten gegen den religiösen Frieden und die Totenruhe, Tübingen 1968, S. 19. 53 Siehe zu den Mitgliedern im Beirat der Humanistischen Union http://www.humanistische-union.de/wir_ue- ber_uns/verein/beirat/ [eingesehen am 07.12.2013]. 54 Einladung zur Tagung „Kinderfeindlichkeit in der Bundesrepublik – Situation und Chancen einer wehrlosen Minderheit“ in Köln am 3./4. November 1973, in: Mitteilungen der Humanistischen UnionNr. 64, H. 4/1973, S. 3.

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227 Verbandsmagazin Vorgänge55, sowie ein schließlich an den Bundesvorstand überwiesener

Antrag für den Delegiertenkongress 1975, in welchem für eine Straffreiheit plädiert wur-

de.56 Auch die erst allmählich entstehende Kinder- und Jugendpsychiatrie trug etwas zur

Debatte bei. Ebenfalls 1968 veröffentlichte der später als Pionier des Fachs gefeierte Rein-

hart Lempp, seit 1971 hochangesehener und vielfach geehrter Ordinarius an der Universität

Tübingen, einen Aufsatz in der Neuen juristischen Wochenschrift, in dem die Ergebnisse

von Untersuchungen an 87 Kindern vorgestellt und interpretiert werden: „Die selbstver-

ständliche Annahme einer seelischen Schädigung der Kinder durch sexuelle Delikte geht in

Wirklichkeit auf eine tradierte besondere Tabuisierung des Sexuellen überhaupt zurück und

auf die bemerkenswerte Überbewertung der Verwerflichkeit sexueller Handlungen außer-

halb ehelicher Beziehungen. [...] Das Belastende für die Kinder ist dabei unbestreitbar die Re-

aktionsweise der sie umgebenden Erwachsenen, angefangen von den manchmal vorwurfs-

vollen Eltern bis hin zu den misstrauisch erwarteten jugendpsychiatrischen Begutachtun-

gen und den oftmals quälenden Befragungen vor Gericht. Allein über solche sexuellen Dinge

vor einem Kreis erwachsener Menschen reden zu müssen, belastet solche Kinder mehr, als

die Tat selbst, ja es belastet die Kinder oft ganz allein.“ 57 Als im November 1970 ein Sonder -

ausschuss des Bundestages für die Strafrechtsreform drei Tage lange 31 Experten anhör-

te und diskutieren ließ, wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, ob Kinder tatsächlich

einen großen Schaden erleiden, wenn sie sexuell missbraucht wurden.58 Wieder repetier-

te Lempp – „kaum jemand sonst hatte ein so gutes Gespür für die Popularisierung seiner

Themen wie er“59 – als Sachverständiger auf dem Hearing seine Expertise und verneinte

seelisch nachwirkende Belastungen von Kindern durch das sexuelle Delikt. Doch stand

Lempp damit keineswegs allein, im Gegenteil. Im Bericht des Sonderausschusses über Ver -

55 O.V., Arbeitskreis „Erziehung zur Erziehung“ der Humanistischen Union. Thema: Zärtlichkeit, Zärtlichkeit, Zärtlichkeit. Das Recht auf Zärtlichkeit: zu Hause, in der Schule, überall, in: Vorgänge, H. 5/1973, S. 80–90, v. a. S. 82 ff.; Peter Kuby u.a., Arbeitskreis: Die Lustfeindlichkeit pädagogischer Institutionen, in: Vorgänge, H. 1/1974, S. 131–132. 56 O.V.: Ergebnis der Wahlen zur Delegiertenkonferenz der Humanistischen Union, in: Mitteilungen der Huma- nistischen Union Nr. 70, H. 1, 1975, S. 2. Zum Antrag Nr. 10: O.V.: Anträge an die Delegiertenkonferenz, in: Mittei- lungen der Humanistischen Union Nr. 70, H. 1/1975, S. 3. 57 Reinhart Lempp, Seelische Schädigung von Kindern als Opfer von gewaltlosen Sittlichkeitsdelikten, in: Neue Juristische Wochenschrift, Jg. 21 (1968), H. 49, S. 2265 ff, hier: S. 2267. 58 Hierüber Haug von Kuenheim, Plädoyers für freie Pornographie, in: Die Zeit, 27.11.1970. 59 Reinmar du Bois, Der Kinder- und Jugendpsychiater Reinhart Lempp ist tot, in: Stuttgarter Zeitung, 24.2.2012.

20

228 lauf und Ergebnisse der Expertenbefragung berichtete man über die Folgen, welche Kin- der nach einem sexuellen Kontakt zu Erwachsenen zu verkraften hatten: „Die Gefahr einer langanhaltenden Beeinträchtigung wird demgegenüber sehr zurückhaltend beurteilt. [...]

Aggressionsfreie sexuelle Handlungen werden nach Auffassung zahlreicher Wissenschaft- ler (u.a. Frau Prof. Schönfelder, Prof. Hallermann, Dr. Wille, Dr. Schorsch) von normal entwi- ckelten, gesunden Kindern in intakter Umgebung nach relativ kurzer Zeit gut verarbeitet. [...]

Vielfach wurde zum Ausdruck gebracht, daß in den meisten Fällen das sexuelle Trauma als

Symptom einer Fehlentwicklung und nicht als deren Ursache gewertet werden müsse (u.a.

Frau Prof. Schönfelder, Dr. Schorsch). Bereits die Einbeziehung des Kindes in eine sexuelle

Handlung erscheint häufig als Symptom einer bereits bestehenden kindlichen Fehlentwick- lung bzw. gestörter psychosozialer Beziehungen (Frau Prof. Schönfelder). In diesem Zusam- menhang ist es bedeutsam, daß zu den Opfern häufig minderbegabte oder schwachsinnige

Kinder zählen. Kinder aus niedrigen sozialen Schichten sind ebenfalls besonders belastet.

Oftmals ereignen sich die Taten vor dem Hintergrund eines erheblich gestörten häuslichen

Milieus mit ernsten familiären Konfliktsituationen. Geringe Geborgenheit im Elternhaus bedingt ein erhöhtes Zuwendungsbedürfnis, welches - vor allem bei älteren Kindern - auch sexuelle Kontakte zu Erwachsenen erleichtert. Der Prozentsatz der Kinder, welche dem er- wachsenen Täter bei den sexuellen Handlungen nicht nur keinen Widerstand entgegenset- zen, sondern ihm sogar aktiv entgegenkommen, ist daher außerordentlich hoch.“60

Was hier vorgetragen wurde, galt schon seit der ersten Hälfte der 1960er Jahre als „Stand der Forschung“. 1964 berichtete die Zeit über eine Tagung der Deutschen Gesellschaft für

Sexualforschung zum Thema „Das sexuelle gefährdete und geschädigte Kind“. Die Bilanz nach zweieinhalb Tagen lautete zwar: „Über die seelischen Folgen bei Kindern, die sexuell mißbraucht wurden, ist noch sehr wenig bekannt.“61 Doch was an Kenntnissen vorlag, schien eindeutig darauf hinzuweisen, so die Professorin Müller-Luckmann aus Braunschweig, die

über „Glaubwürdigkeit kindlicher und jugendlicher Zeugenaussagen bei Sexualdelikten“62

60 Deutscher Bundestag. 6. Wahlperiode. Drucksache VI/3521. Viertes Gesetz zur Reform des Strafrechts (4. StRG) (Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform), S. 34. 61 Erwin Lausch, Krankhaft oder nur verworfen, in: Die Zeit, 12.6. 1964. 62 Elisabeth Müller-Luckmann, Über die Glaubwürdigkeit kindlicher und jugendlicher Zeuginnen bei Sexual- delikten, Stuttgart 1959.

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229 habilitiert hatte, das alles, was sich der eigentlichen Tat anschließe – Vernehmung, Gerichts-

verhandlungen, die Reaktion der Umwelt –, das Kind oft stärker belastete als der sexuelle

Übergriff selbst.63 Änderungen für das Strafrecht oder die Strafprozessordnung wollte sie

daraus freilich nicht ableiten.64 Ihre Kollegin, die Psychiaterin Thea Schönfelder aus Ham -

burg, Tochter des einstigen Präsidenten der dortigen Bürgerschaft und wie dieser selbst

Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, hatte bereits 1964 jene Position vertreten, die

ihrer Stellungnahme vor dem Sonderausschuss des Bundestages von 1970 zugrunde lag.

Schönfelder, die sich 1965 über Täter-Opfer-Beziehungen bei Sexualdelikten an Mädchen

habilitiert hatte65, ging davon aus, dass fast ein Drittel der Mädchen nicht einfach hilflose

Opfer waren, sondern sich aktiv beteiligt, das Delikt provoziert hatten.66 Zwölfjährige Loli-

tas, so der Berichterstatter der Zeit, pflegten die Liebhaber ihrer Mütter zu charmieren und

sich alten Männer sexuell provokativ zu nähern. Die Ansicht, dass es sich bei Pädophilie um

einen besonders infamen Missbrauch handele, der ein hohes Strafmaß erfordere, wertete

der Zeit-Autor als einen „Hauch Mittelalter“.67

In geradezu wissenschaftsgläubiger Haltung wurden zeitgenössische jugendpsychologische

und pädagogische Positionen aufgesogen, welche die Sexualität von Kindern thematisierten

und welche als Legitimationsgrundlage dienten, um die herrschende Sexualmoral zu hin-

terfragen. Das Vorstandsmitglied der Humanistischen Union, der Strafrechtler Hans Heinz

Heldmann, echauffierte sich, dass beim Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender

Schriften missachtet werde, „was für Psychologen und Pädagogen heute gesichertes Wissen

ist: Die Tatsache der kindlichen Sexualität; insbesondere, daß die Erfahrung von sogenann-

ter Pornographie zur Kindheitsentwicklung regelmäßig gehört; daß sich Sexualität von Kin-

dern und Jugendlichen in pornographischen Darstellungen und Texten äußert, jedenfalls

63 Erwin Lausch, Krankhaft oder nur verworfen, in: Die Zeit, 12.6. 1964; vollständiges Statement: Elisabeth Mül- ler-Luckmann, Über die Wahrhaftigkeit kindlicher und jugendlicher Zeugen in der Hauptverhandlung, in: Franz Günther von Stockert (Hrsg.), Das sexuell gefährdete Kind, Stuttgart 1965, S. 88–108. 64 Elisabeth Müller-Luckmann, Über die Wahrhaftigkeit kindlicher und jugendlicher Zeugen in der Hauptver- handlung, in: Franz Günther von Stockert (Hrsg.), Das sexuell gefährdete Kind, Stuttgart 1965, S. 88–108, hier S. 103. 65 Thea Schönfelder, Die Rolle des Mädchens bei Sexualdelikten, Stuttgart 1968. 66 Thea Schönfelder, Die Initiative des Opfers, in: Franz Günther von Stockert (Hrsg.), Das sexuell gefährdete Kind, Stuttgart 1965, S. 109–115, hier: S. 110. 67 Erwin Lausch, Krankhaft oder nur verworfen, in: Die Zeit, 12.6. 1964.

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230 dann, wenn ihre Umgebung […] Sexualität tabuisiert“.68 Dass allein die vorherrschend nor - mative Sexualmoral erst das Triebverbrechen verursache, war aus Sicht der Zeit-Autorin

Elena Schäfer seinerzeit klar. Sie wandte sich entschieden dagegen, „normabweichendes

Verhalten“ zu kriminalisieren, denn: „Die soziale Schädlichkeit, die allein Kriterium für die

Strafwürdigkeit devianten Sexualverhaltens sein dürfte, ist [...bei] Pädophilie - wo die Ge- richtsverhandlung weitaus größeren Schaden verursacht als jede nicht-aggressive Annähe- rung an das Kind - noch nie nachgewiesen worden.“69

In die gleiche Richtung und ebenfalls in der linksliberalen Zeit, nur noch erheblich selbst- bewusster und offensiver, argumentierte der Feuilleton-Chef der Wochenzeitung selbst,

Rudolf Walter Leonhardt, damals eine prägende Deutungsinstanz im bundesdeutschen

Bildungsbürgertum. 1969 erschien sein Buch „Wer wirft den ersten Stein. Minoritäten in einer züchtigen Gesellschaft“70 und die Vorabartikel daraus wurden eben in der Zeit veröf - fentlicht. Mit einer beträchtlichen Portion intellektuellen Hochmuts mokiert sich Leonhardt

über die Ängste und Hysterie der „Spießer“. Als Kenner der Weltliteratur bemüht er Edgar

Allan Poe, Georg Christoph Lichtenberg, Novalis, natürlich auch „Lolita“ von Vladimir Na- bokov, um die Furcht vor Pädophilie als Paranoia nahezu der Lächerlichkeit auszusetzen.71

Und er lieferte ein pathetisches Plädoyer für den kreativitätsfördernden Verkehr großer männlicher Geister mit liebreizenden weiblichen Wesen im Kindesalter. „Es ist auch nicht so entscheidend, wie Moralprediger denken wollen und manche Juristen denken müssen, ob die geschlechtliche Vereinigung wirklich vollzogen wurde oder nicht. Wichtig ist, dass jahr - hundertelang ein zwölf- bis fünfzehnjähriges Mädchen als Gegenstand einer erotischen Lei- denschaft vorgestellt und nachempfunden werden konnte. Die bezaubernden Geschöpfe in

Mythos und Literatur, die viel bewunderten und hochverehrten Exemplare großer Liebe, sie

68 Hans Heinz Heldmann: Die große Minderheit: Kinder, in: Mitteilungen der Humanistischen Union, Nr. 67 (1974), S. 11 f. 69 Elena Schäfer, Es genügt nicht, nur zu kastrieren, in: Die Zeit, 3.10. 1969 70 Rudolf Walter Leonhardt, Wer wirft den ersten Stein. Minoritäten in einer züchtigen Gesellschaft, München 1969, S. 133 ff. 71 Siehe auch Rudolf Walter Leonhardt, Auch Novalis war ein Sexualdelinquent, in: Die Zeit, 12.9. 1969. Ähnlich, wenngleich weit zurückhaltender argumentierte 1995 in der „Zeit“ auch der Sexualforscher Wolfgang Berner, Direktor des Instituts für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg- Eppendorf: Pädophile haben ein besonderes Einfühlungsvermögen für Kinder. Lewis Carroll, Autor von „Alice im Wunderland“ war wahrscheinlich ein Pädophiler, ebenso James M.Barrie, der „Peter Pan“ geschrieben hat; Wolfgang Bremer, Die Seele des Peter Pan, in: Die Zeit, 2.6. 1995.

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231 waren manchmal jünger als zwölf und selten älter als fünfzehn.“72 Dass Kinder psychische

Verletzungen aus sexuellen Beziehungen mit Erwachsenen davon tragen könnten, mochte

der spätere stellvertretende Chefredakteur der Zeit partout nicht glauben. Dergleichen Be -

sorgnisse hielt er für „verquere, verquollene Vorstellungen“73. Als Legitimationsreferenz für

solche Reflektionen war 1969 natürlich Theodor Adorno unabdingbar, der daher auch mit

dieser Passage wiedergegeben wird: „Das stärkste Tabu von allen … ist im Augenblick jenes,

dessen Stichwort ‚minderjährig‘ lautet und das schon sich austobte, als Freud die infantile

Sexualität entdeckte. Das universale und begründete Schuldgefühl der Erwachsenenwelt

kann, als seines Gegenbilds und Refugiums, dessen nicht entraten, was sie die Unschuld der

Kinder nennen, und diese zu verteidigen, ist ihnen jedes Mittel recht. Allbekannt, daß Tabus

umso stärker werden, je mehr der ihnen Hörige selber begehrt, worauf die Strafe gesetzt

ist.“ 74

1969 und ebenfalls in der Zeit begann der Kulturredakteur und Leiter des Feuille -

tons der Bayerischen Staatszeitung, Hans Krieger, mittels mehrerer Essays eine

Art Renaissance des Linksfreudianers Wilhelm Reich im gehobenen bundesdeut-

schen Bürgertum einzuleiten. „Der Mann, der an unseren tiefsten Ängsten rührte“, so

lautete der Titel eines großen Stücks, das am 10. Oktober 1969 in der Hamburger Wochen-

zeitung erschien. In Bezug auf Reichs Analyse aus den 1930er Jahren75 versuchte Krieger den

Lesern klarzumachen, dass die gravierenden Defizite an wirklicher Demokratie, die Neigung

zu Mystizismen, ja die „Anfälligkeit für faschistische Ideologie“ sich aus einer Quelle

speisen: „aus gestauter, unbefriedigender Sexualenergie“.76 Und der zentrale Ort, in dem die-

ser Stau determiniert werde, sei, so Krieger mit Reich: „die autoritäre Familie“, in der „die Un-

terdrückung der Geschlechtlichkeit des Kleinkindes“ die Grundlagen aller persönlicher und

72 Rudolf Walter Leonhardt, Wer wirft den ersten Stein. Minoritäten in einer züchtigen Gesellschaft, München 1969, S. 133 ff. 73 Ebd. 74 Zit. bei Rudolf Leonhardt, Kurzes Kichern, Kein Erröten, in: Die Zeit, 25.4. 1969. 75 Wilhelm Reich, Die Massenpsychologie des Faschismus, Köln/Berlin 1971. 76 Die Bedeutung des antifaschistischen Legitimationsbezugs für eine „nicht-repressive“ Sexualität arbeitet sehr dicht heraus Dagmar Herzog, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahr- hunderts, München 2005.

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232 gesellschaftlicher Deformationen lege.77 Ein halbes Jahr später lobte Krieger dann in einem weiteren Beitrag für die Zeit das Experiment der Kommune II, vor allem die „Redlichkeit“ der

Kindererziehung, die dort praktiziert würde.78 Die „positive Wirkung der Kommunenerzie- hung“ erkannte er in erster Linie in der „Sexualerziehung“. Allen voran das Bemühen, „durch affektive Bejahung der kindlichen Sexuallust den geschlechtlichen Charakter der Angstein- flößung zu nehmen und es als Möglichkeit zärtlicher Beziehungen zu Mitmenschen erfahr - bar zu machen, erscheint mir besonders lehrreich und wertvoll.“79 Über diese Erziehung und den Alltag in ihrem Wohnprojekt schlechthin hatten die Kommunarden im von Hans Magnus

Enzenzberger herausgegebenen Kursbuch Mitte 1969 akribisch berichtet.80 Das war und ist bis heute ein bedrückendes Dokument der Hilf- und Sprachlosigkeit einer denkbar dilettan- tisch durchgeführten Selbstinitiative, durch welche die unzweifelhaft ausgeprägte psychi- sche Labilität der meisten ihrer Teilnehmer noch ein weiteres Stück verstärkt und ausge- baut wurde. Und mittendrin: zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, im Alter von drei und vier Jahren, die durch allerlei radikale Wechsel der erwachsenen Bezugspersonen erheblich traumatisiert wurden. Der 26-jährige Kommunarde Eberhard Schulz hatte im Tagebuch-

Protokoll für das Kursbuch seine Begegnung mit Grischa, der kleinen Tochter seines Genos- sen Dieter Kunzelmann, vom 4. April 1968 beschrieben:

„Nach dem Ausziehen kommt Grischa zu mir: ‚Will bei dir schlafen.‘ […] Grischa sagt, sie brau- che keine Decke zum Einschlafen. Außerdem soll ich nicht die Augen zumachen. Dann will sie mich streicheln, Hände und Gesicht. Ich darf sie erst streicheln, wenn sie gestreichelt hat, dann auch nur kurz. Zum Bauchstreicheln muss ich mein Hemd hochziehen. Ich liege auf dem Rücken. Grischa streichelt meinen Bauch, wobei sie meine rausstehenden Rippen als

Brüste versteht. Ich erkläre ihr, dass das Rippen sind, ich nur eine flache Brust und Brust- warzen habe. Sie streichelt meine und zeigt mir ihre Brustwarzen. Wir unterhalten uns über die Brust von Mädchen, wenn sie älter sind. Dann will sie meinen ‚Popo‘ streicheln. Ich muss mich umdrehen. Sie zieht mir die Unterhose runter und streichelt meine Popo. Als ich mich

77 Hans Krieger, Der Mann, der an unsere tiefsten Ängste rührte, in: Die Zeit, 10.10. 1969. Gut vierzig Jahr später die nun sehr viel kritischere Sicht in der gleichen Zeitung von: Stefan Müller, Im Bann des Orgon, in: Die Zeit, 3.1. 2013. 78 Hans Krieger, Das Leben im Kollektiv, in: Die Zeit, 10.4. 1970. 79 Ebd. 80 Christel Bookhagen u.a., Kindererziehung in der Kommune, in: Kursbuch Bd. 17, 1969, S. 147–178.

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233 wieder umdrehe, um den ihren wie gewünscht zu streicheln konzentriert sich ihr Interesse

sofort auf ‚Penis‘. Sie streichelt ihn und will ihn ‚zumachen‘ (Vorhaut über die Eichel zie-

hen), bis ich ganz erregt bin und mein Pimmel steif wird. Sie strahlt und streichelt ein paar

Minuten lang mit Kommentaren wie ‚streicheln‘, ‚Guck ma Penis! Groß! Ma ssumachen! Mach

ma klein!“ Dabei kniet sie neben mir, lacht und bewegt vom ganzen Körper nur die Hände.

Ich versuche ein paar Mal sie zaghaft auf ihre Vagina anzusprechen, sage, dass ich sie auch

gerne streicheln würde, wodurch sie sich aber nicht unterbrechen lässt. Dann kommt doch

eine ‚Reaktion‘: Sie packt meinen Pimmel mit der ganzen linken Hand, will sich die Strumpf-

hose runterziehen und sagt ‚Ma reinstecken‘. Ich hatte zwar so etwas erwartet (Marion hatte

vom Badewannenspiel erzählt wo Nasser (das andere Kind in der Kommune) seinen Pimmel

vor Grischas Bauch hielt und sich so zurückbeugte, dass man ‚Penis in Vagina‘ reinstecken

konnte, was aber mangels Erektion nicht gelang), war dann aber doch so gehemmt, dass ich

schnell sagte, er sei doch wohl zu groß. Darauf gibt Grischa sofort ihre Idee auf, lässt sich

aber die Vagina sehr zurückhaltend streicheln. Dann holt sie einen Spiegel, in dem sie sich

meinen Pimmel und ihre Vagina immer wieder besieht. Nach erneutem Streicheln und Zu-

machversuch kommt wieder der Wunsch ‚reinstecken‘, diesmal energischer als vorher. Ich:

‚Versuch‘s mal!‘ Sie hält meinen Pimmel an ihre Vagina und stellt dann resigniert fest: ‚Zu

groß‘.“81

Ob hier eine Grenzüberschreitung stattgefunden hat, ob kindliche und erwachsene Sexua-

lität tatsächlich auf so einfache, gleichsam erlebnisorientierte Weise symmetrisch zusam-

mengefügt werden können, dies war weder bei den Epigonen von Wilhelm Reich noch im

Kommunemilieu eine zulässige, da sexualrepressive Fragestellung.82 Die in ihren Sexualbe-

dürfnissen und -ausdrücken entgrenzten Kinder sollten schließlich Pioniere von Revoluti-

on und Befreiung werden – dieses von Wilhelm Reich inspirierte Projekt floss auch in die

Ideologien und Experimente des Wiener Aktionskünstlers Otto Mühl ein, der in den 1990er

Jahren wegen Kindesmissbrauch zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde.

81 Ebd., S. 168f. 82 Hierzu: Christin Sager, Das Ende der kindlichen Unschuld. Die Sexualerziehung der 68er Bewegung, in: Meike Sophia Baader (Hg.), „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche“. Wie 1968 die Pädagogik bewegte, Weinheim 2008, S. 56–68, hier S. 65.

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234 Mühls Aktionsanalytischer Organisation (AAO), eine Kommune83 auf dem Friedrichshof im

österreichischen Burgenland, lag die sogenannte „Aktionsanalyse“ zugrunde. Diese war der Versuch den meist jungen Studenten, die sich um ihn scharten, den letzten Rest der normativen und diskursiven Herrschaft auszutreiben, welche die Gesellschaft ihnen okt- royiert hatte und die sich in Form der „Kleinfamilie“ manifestierte.84 So schrieb Mühl: „Die

Kleinfamilie basiert auf der Zweierbeziehung und eingeschränkter Sexualität. Die Zweier- beziehung widerspricht den sexuellen Bedürfnissen des menschlichen Körpers.“85 Vor allem der Ideen Wilhelm Reichs, aber auch einer Psychoanalyse Janov’scher Prägung bediente sich

Mühl, als er die „Therapien“ entwickelte, die er innerhalb seiner Kommunen in öffentlichem

Kreise durchführte. Es wurde gemalt, gesungen, gespielt, aber vor allem in „Selbstdarstel- lungen“ geschrieen und nicht zuletzt der Beischlaf vollzogen. Sektengleich war es zusehends

Mühl, der seinen Anhängern verkündete, was richtig und was falsch war. Schwierigkeiten der

Assimilation an das Machtgefüge Mühls wurden von ihm umgedeutet in Neurosen, deren

Ursachen außerhalb der Lebensgemeinschaft lagen. Die Kommune konstruierte ein krank- haftes „Draußen“ gegenüber dem man sich „Drinnen“, in der Kommune, durch Heilung ver- sprechende Therapieformen abzugrenzen versuchte.86 All dies führte zur langsamen und sich immer weiter radikalisierenden Abschottung der Mühlkommune, ja steigerte ihren Sek- tencharakter, der auf Verachtung und Unterwerfung basierte.87

Mühl und seine Gefolgschaft sahen im Sexuellen mehr als nur eine Nebensache des Ge- sellschaftsdesigns, das sie anstrebten. Sex wurde utopisch, intellektuell und theoretisch aufgeladen. Für die AAO war der Sex der Schlüssel zu ihrem Gesellschaftsverständnis, der es erlaubte, die in anderen Teilen der damaligen Linken vertretene materialistische Gesell- schaftsauffassung umzudrehen und die Determination des Menschen durch die Produkti- onsbedingungen zu negieren, „die AAO […] glaubt vielmehr, daß die produktionsmethoden

83 Zum besonders exponierten Status der Kommune innerhalb der Kommunebewegung: Karl-Ludwig Schibel, Kommunebewegung, in: Roland Roth u. Dieter Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, Frankfurt/New York, S. 527–540, hier S. 534. 84 Andreas Schlothauer, Die Diktatur der freien Sexualität. AAO, Mühl-Kommune, Friedrichshof. (Öster- reichische Texte zur Gesellschaftskritik, Bd. 55.). Wien 1992, S. 19. 85 Ebd., S. 20. 86 Peter Stoeckl, Kommune und Ritual. Das Scheitern einer utopischen Gemeinschaft. Frankfurt a.M. 1994, S. 56, Stoeckl bezieht sich hier auf „Die Gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (Frankfurt am Main 2010, 23. Auflage). 87 Ebd., S. 104.

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235 vom bewußtsein abhängig sind“.88 Mittels der Befreiung der Sexualität ließe sich das Be -

wusstsein so befreien, dass eine sozialistische Gesellschaft denkbar sei. „der sozialismus,

wie wir ihn verstehen, kann nur von menschen verwirklicht werden, die bei sich selbst die

revolution durchgeführt haben. […] wir brauchen keine revolution mehr, sondern bewusst-

seinsarbeit durch lebenspraxis. wir brauchen keine theorien, keine sozialistischen weishei-

ten. […] der neue sozialismus muss ein geiler sein, das bedeutet, dass freie sexualität die

basis dieses sozialismus ist, und damit alles, was sonst als menschlichkeit, als liebe, huma-

nität, gerechtigkeit, freiheit propagiert wird, in der freien sexualität miteingeschlossen ist.

ohne freie sexualität bleibt gemeinsames eigentum auf dem papier und wird verordnung

und zwang.“89 In ihrem gelebten Kommuneexperiment war die AAO dabei unzweifelhaft ra-

dikal. In den dabei zugrunde liegenden Antrieben einer vorgeschalteten Revolutionierung

der Individuen für die angestrebte gesamtgesellschaftliche Umgestaltung war sie dennoch

keineswegs untypisch für den im Verlauf der 1970er Jahre entstehenden Spontaneismus.90

Dass gerade in der Sponti-Szene Anknüpfungspunkte bestanden, bezeugt folgendes Zitat:

„wir, die bremer kooperative, haben uns als avantgarde der spontibewegung verstanden, un-

ser ausgangspunkt war, die alternativen vorstellungen von sozialistischen modellen in die

gegenwart umzusetzen und damit eine lebende positive negation der herrschenden verhält-

nisse zu erreichen.“91

Die AAO fand dabei ein tragisches Ende: Zusehends wandelte sich das Mühl‘sche System

zu einer streng hierarchischen, autoritären Sekte mit Mühl und seiner „ersten Frau“ an der

Spitze.92 Beide missbrauchten Kinder und beide wurden nach dem Zusammenbruch der Kom-

mune zu Haftstrafen verurteilt. Die Praktiken wurden mit der vermeintlich unterdrückten

88 O.V., Marxismus und AAOismus, in: AA-Nachrichten Mai 1977, S. 14–16, hier S. 15. 89 Kleinschreibung im Original, O.V., Ein neuer, geiler Sozialismus, in: AA-Nachrichten, Juli 1977, S. 6–9, hier: S. 8 f. 90 Vgl. David Bebnowski, Generation und Geltung. Von den „45ern“ zur Generation Praktikum - etablierte und übersehene Generationen im Vergleich, Bielefeld 2012, S. 123 ff. 91 O.V.: Kooperative Bremen in die AAO, in: AA-Nachrichten Juni 1977, S.12–15, hier S. 12. 92 Nachzusehen ist der Zustand der späten Kommune in zwei dokumentarischen Filmen von und mit Kindern aus der damaligen Kommune. Vgl. Julien Robert, Meine keine Familie, 2012; Juliane Grossheim, Die Kinder vom Friedrichshof, 2009. Die Sammlung Friedrichshof bereitet unter der Fragestellung „wie eine anarchistisch-liber- täre Gruppe im Laufe von zwanzig Jahren in ein hierarchisches System kippen konnte“ ein eigenes intersdiszipli- näres Forschungsprojekt zu den Vorgängen vor. Vgl.: http://www.sammlungfriedrichshof.at/de/archiv-friedrichs- hof/ [eingesehen am 03.12.2013].

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236 Sexualität des Kindes gerechtfertigt, sexueller Missbrauch war ein „pädagogisches Spiel“.93

Auftakt der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Debatte

Was anfangs noch im Rahmen von recht spezialisierten wissenschaftlichen und rechtspo- litischen Diskursen erörtert worden war, wuchs im Laufe der Zeit zum Bestandteil links- liberaler Intellektualität, die sich in den 1970er Jahren weiter entfaltete. Es war das Jahr- zehnt, in dem Helmut Kentler mit seinem Ansatz einer „nicht-repressiven“ Sexualerziehung ein Star der Jugendpädagogik und Sexualwissenschaft wurde. Seine Bücher, in denen er die

Pädophilie mit denkbar großer Sympathie vorstellte, wurden Beststeller.94 Kentler veröf- fentlichte bei Rowohlt. Er kommentierte in Zeitungen, war gefeierter Redner in evangeli- schen Akademien. 1970 geißelte er in einem Beitrag für die Zeit die „streng moralischen, repressiven Auffassungen im Bereich der Sexualität“. Mit dem Verzicht auf eine vitale Se- xualität sollen die Bürger, so Kentler, für die hierarchisierte Gesellschaftsordnung konditio- niert und in Fremdbestimmung eingewöhnt werden. Allein freizügige Sexualität ermögliche politische Freiheit; die sexuelle Begrenzung hingegen nähre die Diktatur: „Es sollte uns zu denken geben, dass Adolf Eichmann – nach allem, was wir über ihn wissen, in seiner Jugend ganz den Anforderungen entsprach, die unsere Sittengesetze und unser Jugendschutz an die Leistungsfähigkeit junger Menschen zur Askese stellen. Er war ein in sexueller Hinsicht

‚sauberer deutscher Junge‘.“95

Einem Leser der Zeit leuchtete das alles nicht recht ein. In einem Leserbrief kommentierte er die Auslassungen von Kentler kritisch, „dass aus einem repressiv erzogenen nicht unbedingt ein Eichmanntyp werden muss. Offenbar kann auch bei gänzlich veralteter Erziehungsme- thode ein Friedrich Schiller oder ein Albert Schweizer entstehen. […] Leider stimmt auch die

Umkehrung nicht: keineswegs alle munteren Playboys sind als politisch mündige Menschen in Erscheinung getreten, und auch mancher mittelalter Potentat, der sexuelle Befriedigung

93 Andreas Schlothauer, Die Diktatur der freien Sexualität. AAO, Mühl-Kommune, Friedrichshof. (Öster- reichische Texte zur Gesellschaftskritik, Bd. 55.). Wien 1992, S. 112. 94 Vgl. hierzu den Nachruf von Rüdiger Lautmann auf Helmut Kentler in den Mitteilungen der Humanistischen Union: Rüdiger Lautmann, Nachruf auf Helmut Kentler, in: Mitteilungen der Humanistischen Union, H. 3/2008, S. 26–27. 95 Helmut Kentler, Von Lust ist nicht die Rede, in: Die Zeit, 7.2. 1969.

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237 nicht verachtete, war trotzdem noch erstaunlich aggressiv.“96 35 Jahre danach urteilte auch

ein Star unter den Theoretiker der radikalen Linken, Slavoj Žižek, mittlerweile ganz ähnlich:

„In Bezug auf die Geschlechterverhältnisse ist die hegemoniale Einstellung nicht etwa die

patriarchalische Unterdrückung, sondern die freie Promiskuität“.97

Die von Kentler mit verfasste Aufklärungsbroschüre „Zeig mal! Ein Bilderbuch für Kinder

und Eltern“98, 1974 im von Hermann Ehlers (CDU) gegründeten und lange von Johannes Rau

(SPD) geleiteten, infolgedessen sehr evangelisch geprägten Jugenddienst-Verlag (Rechts-

nachfolger: Peter Hammer), erschienen, setzte sich in Deutschland 90.000 Mal, in den USA

über 300.000 Mal ab. Im99 Vorwort betonte Kentler, dass sexuelle Kontakte zwischen Er-

wachsenen und Kinder keineswegs bedenklich oder gar schädlich seien. Würden „solche Be-

ziehungen nicht von der Umwelt diskriminiert“, dann seien vielmehr „positive Folgen für die

Persönlichkeitsentwicklung zu erwarten“.100 Ähnlich argumentierte sein Bremer Professo -

renkollege Rüdiger Lautmann, für den Sexualdelikte eher „Straftaten ohne Opfer“ waren. An

den „hergebrachten Stereotypen“ zur Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern - die

sexuelle Handlung hinterlasse beim Kinde einen seelischen Schock mit bleibenden Schäden

- „stimmt nichts“.101

Auch die Gerichte zogen diese Wissenschaftler damals gern als Sachverständige in Miss-

brauchsfällen hinzu. Im Übrigen war Kentler, seit 1976 Lehrstuhlinhaber für Sozialpädago-

gik und Sexualwissenschaft an der Universität Hannover, fest davon überzeugt, dass „echte

Pädophile“ „hochsensibel gegen Schädigung von Kindern“ seien. In der Zeit kam er 1980

auch als Experte für das „Trampen“ zu Wort. Der „Tramp-Fan Kentler“, wie ihn der durch-

aus ein wenig skeptische Autor nannte, mochte die Sorgen von Eltern gegen das „Per-

96 Leserbrief von Helmut Gente, Herzberg, in: Die Zeit, 28.2. 1969. 97 Slavoj Žižek, Die Zukunft des Politischen, in: Gerhard Gramm u.a. (Hrsg.), Die Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Perspektiven auf Arbeit, Leben, Politik, Frankfurt a.M. 2004, S. 51–70, hier: S. 53: „Unter den Bedingungen einer ge- neralisierten Perversion des Spätkapitalismus ist die Überschreitung gleichsam selbst gesellschaftlich erfordert: Uns werden täglich kleine Apparate und soziale Verkehrsformen anempfohlen, die uns nicht nur ermöglichen, mit unseren Perversionen zu leben, sondern unmittelbar neue Perversionen erzeugen. Es genügt in disem Zusam- menhang daran zu erinnern, dass im Bereich der Geschlechterverhältnisse immer wieder neue Mittel erfunden werden, um Abwechslung und Überraschungen in unser Sexualleben zu bringen, von Lotionen, die unsere Potenz und Genussfähigkeit erweitern, bis hin zu den verschiedensten Kleidungsstücken und Instrumenten.“ 98 Will McBride u. Helga Fleischhauer-Hardt, Zeig mal!, Wuppertal 1975. 99 Siehe die Angaben bei Susanne Mayer, Der Schatten von 1968, in: Die Zeit, 11.10. 1996. 100 Helmut Kentler, Kindersexualität, in: Will McBride u. Helga Fleischhauer-Hardt, Zeig mal! Jugenddienst- Verlag, 2. Auflage, Wuppertal 1975, S. 4–11, hier S. 10. 101 Rüdiger Lautmann, Sexualdelikte - Straftagen ohne Opfer?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik Jg. 13. (1980), H. 2, S. 47.

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238 Anhalter-Mitfahren“ der Kinder nicht teilen. Es sei zwar möglich, „daß im Wagen ein

Mann sitzt, der das Mädchen oder den Jungen verführen will. Das ist aber meines Erach- tens gar kein Problem. Ich weiß von vielen Trampern und auch aus meiner Jugend: Man braucht dann bloß zu sagen, ich habe keine Lust, und dann ist die Sache in Ordnung.“102

Zusammen: Während es aus heutiger Perspektive und in Kenntnis der schweren psychi- schen (Langzeit-)Folgen und Traumata103 geradezu absurd anmutet, in diesem Feld leicht- fertig über eine Lockerung von Gesetzen zu debattieren und von „Verbrechen ohne Opfer“104 zu sprechen, hielt man das in den 1970er und 1980er Jahren zumindest für denkbar.105

Eine stattliche Zahl an Sexualwissenschaftlern, Kriminologen, Vertretern der Kinder- und

Jugendpsychiatrie und der Pädagogik argumentierte damals genauso.106 Die linkslibera- le Presse gab den Fürsprechern einer Entkriminalisierung von vermeintlich einvernehm- licher Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern damals viel Raum.107 Auch in Foren der evangelischen Kirche, der Humanistischen Union und einiger sozialpädagogischer Ver- bände wurde so argumentiert. Als Kind dieser Zeit schlug sich diese Diskussion natürlich auch in der Partei Die Grünen nieder und klebt seitdem als Makel an ihr. Wiederholt sind sie mit diesem Aspekt ihrer Geschichte konfrontiert worden. In der Mitte der 1980er Jahre war es der Beschluss der nordrhein-westfälischen Grünen im Vorfeld der Landtagswahl 1985, der eine veritable Diskussion auslöste, die am Ende aus Sicht von Beobachtern wie Funkti- onsträgern der Grünen sogar dazu beitrug, dass die Partei den Einzug in den Düsseldorfer

Landtag verpasste.108 Diese Vorgänge wiederum nahm die CSU dann Mitte der 1990er Jahre

102 Siehe Michael Petzei, „Irgendwie abenteuerlicher“, in: Die Zeit, 9.5. 1980. 103 Langzeitstudien weisen auf das erhöhte Risiko schwerster psychischer Probleme nebst etlicher Folgeerkran- kungen und einer gestiegenen Latenz zum Selbstmord hin: J. M. Fegert u.a., Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, in: Bundesgesundheitsblatt, Jg. 56 (2013) H. 2, S. 199–207, hier S. 202 f. 104 Rüdiger Lautmann, Der Zwang zur Tugend, Die gesellschaftliche Kontrolle der Sexualitäten, Frankfurt a.M. 1984, hier: S. 98; Titelthema von: Betrifft: Erziehung, H. 4/1973, Weinheim. 105 Zur Übersicht der Debatte in der Sexualwissenschaft, jedoch eher unkritisch: Florian Mildenberger, Beispiel: Peter Schult, Pädophilie im öffentlichen Diskurs, Hamburg 2006, hier insbesondere: S. 46–73. 106 Als kursorischer Überblick: Volker Breidecker, Die schweigenden Sirenen, in: Süddeutsche Zeitung, 20.9. 2013. 107 Exemplarisch: Rudolf Walter Leonhardt, Kurzes Kichern, kein Erröten, in: Die Zeit, 25.4. 1969; außerdem die Intention der Frager: Kein Mensch kann im Schlaf so was machen, Spiegel-Gespräch mit Staatsekretär Alfons Bayerl, in: Der Spiegel, 24.8. 1970. 108 Vgl. Ann-Katrin Müller, Die Allianz, in: Der Spiegel, H. 35/2013; Gerd Kröncke, Grüne: Wir sind selbst schuld, in: Süddeutsche Zeitung, 20.05. 1985; Stellungnahme des Landesvorstandes der Grünen Nordrhein-Westfalen zum Wahlausgang der Landtagswahl am 12.5. 1985, AGG, C NRW LaVo/LGSt 01, 80; Schreiben von Hartmut Re- genstein an den Vorstand, die Landesgeschäftsstelle, den LHA und die nächste LDK, 16.5. 1985, Zusendung aus Privatarchiv Hartmut Regenstein; Joachim Grupp, Abschied von den Grundsätzen? Die Grünen zwischen Koali- tion und Opposition, Berlin 1986, S. 45 f.

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239 nochmals zum Anlass, eine Materialsammlung109 herauszubringen. Die damalige Kampagne

erzielte jedoch wenig Nachhall, nicht zuletzt, weil die Christsozialen in ihrer Ausarbeitung

Pädophilie und Homosexualität mehr oder weniger gleichsetzten und es der aufbereiteten

Faktenlage auch sonst an der letztlich doch erforderlichen Differenzierung fehlte. Äuße-

rungen von Daniel Cohn-Bendit aus den 1970er Jahren, die zuletzt im Zusammenhang mit

der Verleihung des Theodor-Heuss-Preises an den notorischen Provokateur nochmals zur

Sprache kamen, waren bereits 2001 Anlass für eine längere Debatte über dessen Verhältnis

zu Pädophilie. Damals hielt Klaus Kinkel, sekundiert von Alice Schwarzer, Cohn-Bendit seine

Aussagen im Buch „Der große Basar“ vor.110

Seitdem gab es weitere Debatten um das Thema Pädophilie und sexuellen Missbrauch. Spä-

testens ab den neunziger Jahren ist in der Debatte über Pädophilie und sexuellen Missbrauch

eine Wende zu diagnostizieren: weg von den Fragen der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmä-

ßigkeit von strafrechtlichen Schutzbestimmungen hin zu Fragen der konkreten Bedingun-

gen für und Folgen von sexuellem Missbrauch.111 In der Strafrechtsdiskussion sank derweil

gegen Ende der 1990er Jahre „die Toleranzschwelle gegenüber Tätern“, mit der Folge, dass

fortan die Strafmaße angehoben und die Delikte stärker ausdifferenziert wurden.112 Nach

verschiedenen bekannt gewordenen Missbrauchsfällen, auch und gerade im reformpädago-

gischen Bereich,113 räsonierten einige Medien aus dem linksalternativen Spektrum darü-

ber, ob sie selbst durch Verharmlosung von Pädophilie in den 1970er und 1980er Jahren

dem sexuellen Missbrauch einst Vorschub geleistet haben könnten beziehungsweise ob sie

109 CSU-Landesgruppe, Dokumentation zur Innen- und Rechtspolitik der Grünen, ACSP, Nr. 11/59. 110 Schreiben Klaus Kinkel an Daniel Marc Cohn-Bendit, 30.1. 2001, AGG, A Cohn-Bendit, 17; Alice Schwarzer, Alice im Wunderland, Eine Zwischenbilanz, Köln 2002, hier: S. 136; Sabine Stamer, Cohn-Bendit, Die Biographie, Hamburg/Wien 2001, hier S. 132–137. 111 Exemplarisch: Ursula Enders, Zart war ich, bitter war’s, Handbuch gegen sexuellen Missbrauch, Köln 2001; Ursula Enders, Grenzen achten, Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen, Ein Handbuch für die Praxis, Köln 2013. 112 Johannes A. J. Brüggemann, Entwicklung und Wandel des Sexualstrafrechts in der Geschichte unseres StGB, Die Reform der Sexualdelikte einst und jetzt, Baden-Baden 2013, S. 365. 113 Claudia Burgsmüller/Brigitte Tilmann, Abschlussbericht über die bisherigen Mitteilungen über sexuelle Ausbeutung von Schülern und Schülerinnen an der Odenwaldschule im Zeitraum 1960 bis 2010, Wiesbaden/ Darmstadt 2010; Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim und Basel 2011, Jürgen Dehmers, Wie laut soll ich denn schreien. Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch, , Reinbek bei Hamburg 2011; zuletzt auch Ute Frevert, Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne, München 2013, S. 92 ff.

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240 mit pädophilen Forderungen zu leichtfertig umgegangen waren.114 Auch gab es bereits eine kurze, prägnante Darstellung der Gesamtentwicklung unter Einbezug von Cohn-Bendits publizistischer Rolle darin.115 Obwohl zahlreiche Fälle schon länger bekannt waren116, gab es

2010 eine regelrechte Flut von Berichten und Eingeständnissen von sexuellen Übergriffen auf Kinder. Einrichtungen der katholischen wie der evangelischen Kirche, reformpädagogi- sche Vorzeigeinstitutionen und Internate standen gleichzeitig im öffentlichen Fokus.117 Die dunklen Schatten, der gerade in Deutschland über ein Jahrhundert in Reformschulen und in Meister-Jünger-Beziehungen zelebrierte „Pädagogische Eros“, wurden nun nicht mehr wegretuschiert.118 Im Jahr 2010 taten sich Mitglieder von Jugendbünden zu einem Arbeits- kreis „Schatten der Jugendbewegung“ zusammen, um die kriminellen Hintergründe des gerade auch in der Jugendbewegung des 21. Jahrhunderts verwurzelten Leitmotivs vom

„Pädagogischen Eros“ auszuleuchten.119 Bemerkenswert schonungslos diagnostizierten die

Verantwortlichen des Kreises, dass sich der Strafbestand sexueller Gewalt „leider wie ein roter Faden durch die über 100jährige Geschichte der Jugendbewegung“120 gezogen habe.

Weil man sich damit „nicht abfinden“ wollte, da überdies im gleichen Jahr die jahrzehnte- lang währenden schaurigen Übergriffe eines zuvor als große Autorität gefeierten Pfadfin- derführers und Gymnasiallehrers aus Kassel ruchbar wurden, machte man sich energisch an die Selbstaufklärung über diese dunklen Zonen der eigenen Geschichte - eine beherzte

Initiative, die vielleicht auch dem Auftraggeber dieser Studie bereits zu jenem Zeitpunkt

114 Exemplarisch: Daniel Boese, Pädophilie in der zitty, in: zitty, H. 13/2010, S. 34–36; Nina Apin u.a., Die hässli - che Seite des netten Didi, in: tageszeitung Online, 19.02. 2011, online einsehbar unter http://www.taz.de/!66135/ [eingesehen am 19.08. 2013]; Nina Apin, Kuscheln mit den Indianern, in: tageszeitung Online, 22.04. 2010, online einsehbar unter http://www.taz.de/Paedo-Aktivisten-im-linken-Mileu/!51494/ [eingesehen am 19.08. 2013]. 115 Wolfgang Kraushaar, Bewegte Männer, in: Die Zeit, 27.5. 2010; siehe zudem: Meike Sophia Baader, Von der sozialistischen Erziehng bis zum buddhistischen Om. Kinderländen zwischen Gegen- und Elitenkultur, in: Mei- ke Sophia Baader (Hrsg.), Seid realistisch, verlangt das Unmögliche: Wie 1968 die Pädagogik bewegte, Weinheim 2008, S. 16–35. 116 Jörg Schindler, Der Lack ist ab, in: Frankfurter Rundschau, 17.11. 1999. 117 Gunda Bartels u. Johannes Radke, Jesuiten-Orden: Weitere Missbrauchsfälle in Hamburg, in: Tagesspiegel Online, 01.02. 2010, online einsehbar unter http://www.tagesspiegel.de/berlin/canisius-kolleg-jesuiten-orden- weitere-missbrauchsfaelle-in-hamburg/1837172.html [eingesehen am 25.09. 2013]; Matthias Bartsch u. Markus Verbeet, Die Wurzeln des Missbrauchs, in: Der Spiegel, H. 29/2010, S. 40–43; Heiner Effern, Liste des Grauens, in: Süddeutsche Online, 11.04.2010, online einsehbar unter http://www.sueddeutsche.de/bayern/kloster-ettal-liste- des-grauens-1.4161 [eingesehen am 25.09. 2013]. 118 Franz Walter, Abschied von den Gurus?, in: INDES H. 3/2013, S. 54–64. 119 Hierzu: http://www.burgludwigstein.de/AK-Schatten.590.0.html [eingesehen am 08.12. 2013]; auch: Sven Reiss, Sie nannten es Geheimbund, in: tageszeitung, 12.06. 2013. Zur Geschichte der Jugendbewegung siehe Franz Walter, Die Jugendbewegung auf dem Berg. Der Hohe-Meißner-Mythos, in: INDES, H. 2/2013, S. 35–48; Ders., Tusk, der Jugendführer. Tragisches Idol des Heroismus der Verlorenen, in: INDES, H. 4/2013, S. 117–127. 120 Ebd.

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241 nicht schlecht angestanden hätte. Jedenfalls und zusammen: Zahlreiche Opfer aus verschie-

densten Einrichtungen meldeten sich nun zu Wort, forderten Aufklärung und erbaten sich

Gehör.121 Dadurch bekam das Thema sexueller Missbrauch mit einem Male eine stärkere

Dynamik, die den heutigen starken Widerhall in der medialen Berichterstattung erklärt.122

Eine späte Folge dieses Prozesses ist, dass Bündnis 90/Die Grünen auch mit ihrer Vergan-

genheit konfrontiert wurden und dem Göttinger Institut für Demokratieforschung daraufhin

den Auftrag erteilt haben, den Einfluss von Gruppen mit pädophilen Forderungen innerhalb

der Grünen zu untersuchen.

Internationale Vorläufer und Bezüge

Was hier als Debatte daherkommt, die sich zunächst in bestimmten intellektuellen Zirkeln

und danach im linksliberalen Bildungsbürgertum durchzusetzen begann, war keineswegs

auf den deutschsprachigen Raum begrenzt. Vielmehr finden sich nahezu überall in Westeu-

ropa Spuren.

„Wenn ein kleines Mädchen von fünf Jahren beginnt, Sie auszuziehen, dann ist das fantas-

tisch, das ist ein erotisch-manisches Spiel.“ Mit diesem Satz in der französischen Talkshow

„Apostrophes“ wollte Daniel Cohn-Bendit 1982 sein Publikum, wie so oft123, provozieren, um

sich in das von ihm so geschätzte Licht des tabubrechenden Rebellen zu drängen.124 Richtig

gelang ihm das seinerzeit nicht. Keiner der übrigen Gäste in der Sendung, weder der Präfekt

Maurice Grimaud, noch der Katholik Michel de Saint-Pierre, noch der Philosoph Francois

Chatelet, noch der Schriftsteller Paul Guth reagierte erkennbar entrüstet; niemand hatte

den notorisch flegelhaft auftretenden ehemaligen Studentenführer125, der sich noch kurz vor

der Sendung – laut eigener Aussage – mit einem Haschischplätzchen126 in Stimmung ge- 121 Jürgen Dehmers, Wie laut soll ich denn schreien? Die Odenwaldschule und der sexuelle Missbrauch, Reinbek bei Hamburg 2011. 122 Insgesamt hierzu auch Sabine Andresen u. Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.) Missachtung und sexuelle Gewalt ge- gen Kinder und Jugendliche in Institutionen, Weinheim und Basel 2012. 123 Vgl. dazu beispielsweise Kapitel 4 in: Sabine Stahmer, Cohn-Bendit. Die Biografie, Hamburg 2001; Klaus- Peter Schmid, Das Rumpelstilzchen erinnert sich. Daniel Cohn-Bendit schildert seine Rolle im Pariser Mai 1968, in: Die Zeit, 25.06. 1975. 124 https://www.youtube.com/watch?v=NXLXRVHej6s [eingesehen am 31.08. 2013]. 125 Jean-Louis Barrault beschreibt Cohn-Bendit in seinen Memoiren als einen kleinen Rotschopf, von dem er sich während der Besetzung des Odéon über eine Stunde lang in einem frech ironischen Ton habe beleidigen lassen müssen, vgl. Jean-Louis Barrault, Erinnerungen für morgen, Frankfurt am Main 1973, S. 368–369. 126 In einem Interview, das im Spiegel erschienen ist, widerspricht Cohn-Bendit dieser Aussage wieder, vgl. Jan Fleischhauer/René Pfister, „Die sind alle meschugge“, in: Der Spiegel, Nr. 20, 13.5. 2013, S. 28.

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242 bracht hatte, in seine Schranken gewiesen. Auch in den Printmedien las man hernach keine kritischen Kommentare. Ähnlich indifferent reagierte die Öffentlichkeit bereits sieben Jahre zuvor127 auf die mittlerweile berühmt-berüchtigt gewordene Passage in Cohn-Bendits „Le

Grand Bazar“: „Es ist mir mehrmals passiert, dass einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln.“128 Doch ist Indifferenz im Grunde nicht die an - gemessene Charakterisierung. Unter Intellektuellen in Frankreich genossen die pädophilen

Postulate vielmehr Sympathie. Es war eine „autre temps“, wie Le Monde Jahre später etwas verschämt zurückblickte129, da auch diese reputierliche Tageszeitung in den 1970er Jahren reichlich Nachsicht gegenüber den Kreisen pädophiler Jünger gezeigt hatte, während die linksrepublikanische Libération dem Sex mit Kindern gar eine „echte soziale Mission“ attes- tierte, wie später die Historikerin Anne-Claude Ambroise-Rendu schrieb.130 Der Schriftstel- ler Tony Duvert erhielt Ende 1973 für seine Schilderung sexueller Kontakte von Erwachse- nen zu Kindern in seiner Publikation „Paysage de fantaisie“ den französischen Literaturpreis

Prix Medicis.131

Als im Januar 1977 drei Männer wegen Sexualdelikten an 13- und 14jährigen Kindern im

Gefängnis saßen und auf ihren Prozess warteten, solidarisierten sich etliche Intellektuelle mit den drei Angeklagten, deren Freilassung sie einforderten.132 Darunter befanden sich Jean

Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Louis Aragon, Catherine Millet, der französische Sozia- list und bald langjährige Kulturminister Jack Lang, sowie Sarkozys späterer Außenminister

Bernard Kouchner. Als man Jahre später Sex mit Kindern weniger gönnerhaft betrachtete, gab einer der Resolutionäre – der zwischenzeitliche Maoist und heute Papist – Philippe Sol- lers zu seiner Entschuldigung an, dass es damals viele Petitionen gegeben habe, die man

127 Darauf hat jüngst auch Rupert von Plottnitz in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hingewiesen: Cornelia von Wrangel, Der aus der Reihe tanzt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Online, 03.11. 2013, online einsehbar unter http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/rupert-von-plottnitz-der-aus-der-reihe- tanzt-12646197.html [eingesehen am 03.12. 2013]. 128 Daniel Cohn-Bendit, Der große Basar, Gespräche mit Michel Lèvy, Jean-Marc Salmon, Maren Sell, München 1975, S. 143. 129 Pierre Georges: „Autre temps…“, in: Le Monde, 23.2. 2001. 130 Anne-Claude Ambroise-Rendu, „Un siècle de pédophilie dans la presse (1880–2000): accusation, plaidoirie, condamnation“, in: Le Temps des médias, H. 1, 2003, S. 31–41. Auch online einsehbar unter http://www. histoiredesmedias.com/Un-siecle-de-pedophilie-dans-la.html [eingesehen am 26.07. 2013]. 131 Gilles Sebhan, Tony Duvert. L‘Enfant silencieux, Paris 2010, S. 75. 132 Louis Aragon u.a., „À propos d’un procès“, in: Le Monde, 26.1. 1977.

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243 gleichsam automatisch unterschrieben habe.133 Sich gegen Repressionen und als überkom-

men betrachtete Wertvorstellungen zu wenden, war eine gesellschaftliche Mentalitätsströ-

mung, die weder auf Frankreich, noch auf die 1970er Jahre beschränkt blieb. In einem spezi-

fischen Diskursklima konnten pädophile Gruppen ihre Anliegen relativ offensiv vertreten.

Allerdings: Pädophile hatten in den 1970er Jahren ihrerseits nicht unbegründete Ängste

davor, als „Triebtäter“ unbefristet in die Psychiatrie eingewiesen zu werden. Auch stereo-

taktische Gehirnoperationen mit schwersten Folgeschäden oder Medikamententherapien

zur Reduktion des Geschlechtstriebs waren durchaus verbreitete Methoden im Umgang mit

wiederholt straffällig gewordenen Pädophilen.134 Und man beschränkte sich keineswegs auf

Pädophile, sondern hielt auch Homosexualität oder Hypersexualität lange Zeit für therapie-

würdig, notfalls gegen den Willen der Betroffenen.135

In der an ein internationales Publikum gerichteten und in den Niederlanden produzierten

pro-pädophilen Zeitschrift Pan wurden unter dem Titel „The Battle Line“ in jeder Ausga-

be Gegner der Pädophilen genannt und ihre Positionen mit den eigenen verglichen. Ein-

zelpersonen, aber unter anderem auch die Zunft der Psychiater als solche, standen so in

der Kritik.136 Diese Auseinandersetzung mit der Psychiatrie war ein fester Teil innerhalb

der damaligen linken Diskussionszusammenhänge, wurde in ihr doch ein normierendes

und damit letztlich repressives Organ gesehen.137 In Deutschland erfuhr die antipsychia -

trische Bewegung 1970 im sozialistischen Patientenkollektiv ihre erste, marxistisch ge-

prägte Kollektivierung. Die Gruppe um den Heidelberger Arzt Wolfgang Huber deutete psy-

chische Krankheiten als Konsequenz der kapitalistischen Verhältnisse und wuchs schnell

auf bis zu 500 Mitglieder, zu großen Teilen Betroffene, an. In den kommenden zwei Jahren

kam es zur Radikalisierung dieser Gruppe, die 1972 in einer Hausdurchsuchung bei dem

133 Zit. nach Sorj Chalandon, „‚Libé‘ en écho d‘un vertige commun“, in: Libération Online, 23.02. 2001, online ein- sehbar unter http://www.liberation.fr/evenement/0101365058-libe-en-echo-d-un-vertigecommun [eingesehen am 25.07. 2013]. 134 O.V., Unklare Diagnose, in: Der Spiegel, H. 38/1975, S. 158–161; siehe auch das Spiegel-Gespräch: „Bei Bartsch fehlte der Zielpunkt im Gehirn“, in: Der Spiegel, H. 22/1976, S. 70–81. 135 O.V., Milch aus der Männerbrust, in: Der Spiegel, Heft 13/1991, S. 62–63. 136 Vgl., O.V.: The Battle Line, in: Pan. A Magazine About Boy Love, Jg. 4 (1982) H. 12, S. 44–47. ASM, SL Pädosex- ualität und sexueller Missbrauch von Kindern, Katalog Länder/Welt: Niederlande: Pädoszene. 137 Intellektuell in diesem Zusammenhang besonders einflussreich: Michel Foucault: Wahnsinn und Gesell- schaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a. M. 1969; Ders.: Sexualität und Wahrheit, Frankfurt a. M. 1977–1986 (3 Bd.).

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244 Kollektiv und der anschließenden Verhaftung Hubers mündete.138 In den Folgejahren wur- de die Kritik der Antipsychiatrie von verschiedenen Gruppen, unter anderem auch von der

Indianerkommune, artikuliert. Wenn auch die antipsychiatrische Bewegung in Deutschland nie eine intellektuelle Unterstützung wie ihre französischen und italienischen Pendants erreichte, so fand die Deutung der Psychiatrie als Regulativ einer kranken Gesellschaft ih- ren Weg in die allgemeine Debatte über die Befreiung von Repression und Unterdrückung.

Der pro-pädophile Aktivismus jener Zeit knüpfte an diese Strömungen an. Unterstützt wurde er neben der bereits erwähnten Zeitschrift Pan durch einige weitere international ausgerichtete Magazine. Diese sind vorzugsweise in den Niederlanden erschienen, was kei- neswegs zufällig der Fall war. Das Editorial der ersten Ausgabe der Pan sieht unter der Über- schrift „Why Holland?“ die größere Offenheit der niederländischen Gesellschaft hierfür als ausschlaggebend an: „Dutch law and Dutch social attitudes are reasonable sexually sane.

English and American law and opinion are totally, criminally mad. […] The Netherlands is hardly a paedophile paradise but, as in Scandinavia, people here seem willing at least to ex - amine the phenomenon without hysteria. It helps that they can do so without being hassled by the ‘Three Ps’[police, press, politicians].“139 Pan erschien zwischen 1979 und 1985 in 21

Ausgaben und diente vor allem als Informationsmedium, das über Pädophile in verschie- denen Ländern berichtete. Auch kamen hier die Sexualwissenschaftler Frits Bernard und

Theo Sandfort regelmäßig zu Wort. Beide befürworteten Pädophilie, sofern diese einver- nehmlich sei. Berichtet wurde in dem Magazin auch zeitnah über staatliche Maßnahmen gegen pädophile Aktivisten im Ausland.

Neben Pan wurde zwischen 1987 und 1995 überdies die stärker sexualwissenschaftlich ar - gumentierende Paidika von Pädophilen in den Niederlanden herausgegeben. „The starting point of Paidika is necessarily our consciousness of ourselves as paedophiles. […] We shall be speaking, therefore, not only to paedophiles seeking a greater understanding of their identi- ty, but also to members of the academic community open to objective investigations of the

138 Huber war Mitglied der RAF geworden und eine Gruppe aus dem Kollektiv hatte sich ebenfalls der Terror- organisation angeschlossen: Martin Jander, „Zieht den Trennungsstrich, jede Minute“, in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF, Entmythologisierung einer terroristischen Organisation, Bonn 2008, S. 140–173, hier: S. 142 und 148; Tobias Wunschik, Aufstieg und Zerfall, in: Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Die RAF, Entmythologisierung einer terroristischen Organisation, Bonn 2008, S. 174–199, hier S. 175f. 139 O.V.: Why Holland? In: Pan. A Magazine About Boy Love, Jg. 1 (1979) H. 1, S. 4–5, hier S. 4. ASM, SL Pädosex- ualität und sexueller Missbrauch von Kindern, Katalog Länder/Welt: Niederlande: Pädoszene.

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245 phenomenon.“140 Zum international zusammengesetzten, akademischen Herausgeberkreis

gehörten die in den 1980er und 1990er Jahren einschlägigen und die Pädophilie bejahen-

den niederländischen Sexualwissenschaftler, neben Bernard und Sandfort sind das Edward

Brongersma und Alex von Naerssen.141

Die Niederlande boten aber nicht nur gute Voraussetzungen, um Magazine zu publizieren.

Die Organisation „International Paedophile and Emancipation Movement“ (IPCE), eine Art

institutionalisierte Austauschplattform von Pädophilen, wurde 1987 gegründet und hielt

ungefähr alle zwei Jahre internationale Treffen ab,142 wovon die meisten in den Niederlanden

stattfanden.143

Der pädophile Aktivismus in den Niederlanden war von Anfang an stärker institutionalisiert

als in anderen Ländern, woran vor allem die Person Frits Bernard einen Anteil hatte. Er ist

als Initiator vieler Initiativen einzuschätzen und vertrat die Anliegen der Pädophilen nach

eigenen Angaben bereits ab den 1940er Jahren.144 Er schilderte in derPaidika , dass 1957 erste

Kontakte zu einer Interessensgruppe von Schwulen, dem COC (Cultuur en Ontspanningscen-

trum), geknüpft worden waren. Diese Kontakte blieben hinsichtlich des Ausbaus einer poli-

tischen Lobby für pädophile Anliegen jedoch ergebnislos. Im Magazin Vriendschap (Freund-

schaft), zu dessen Herausgebern Bernard ebenfalls gehörte, seien in den frühen 1960er

Jahren allerdings Artikel über Pädophilie erschienen.145 Nachdem Bernards Versuche schei-

terten, in der COC Fuß zu fassen, gründete er den „Enclave Kring“. Diese Vereinigung ope-

rierte als ein internationales Kontaktnetzwerk zwischen Pädophilen, blieb jedoch trotz der

internationalen Unterstützer bis in die frühen 1970er Jahre eine Untergrundorganisation.

140 O.V.: Statement of Purpose, in: Paidika. The Journal of Paedophilia, Jg. 1 (1987) H. 1, S. 2–3, hier: S. 2. ASM, Paidika Z-NL-PAI-01. (Herv. i.O.). 141 Vgl. auch der von ihnen herausgegebene Sammelband: Edward Brongersma u.a., Male intergenerational inti- macy, New York 1991. 142 „Ipce ist ein Forum für Personen, die sich für die akademische Diskussion, das Verstehen und die Emanzipa- tion von Pädophilie engagieren. Pädophilie soll in diesem Zusammenhang von einer unverfälschten, nicht-wer- tenden Perspektive aus und in Verbindung mit Menschenrechten gesehen werden. Ipce trifft sich einmal jährlich oder zweijährlich jeweils in einem anderen Land, veröffentlicht einen Rundbrief, koordiniert den (elektronischen) Austausch von Texten und unterhält ein Archiv einschlägiger schriftlicher Veröffentlichungen.“ Aus: http://www. ipce.info/de [eingesehen am 31.07. 2013]. Generell die Seite http://www.ipce.info. 143 IPCE-Newsletter, Jg. 6 (1994) Nr. 1, S. 2. ASM, SL Pädosexualität und sexueller Missbrauch von Kindern, Katalog Länder/Welt: Niederlande: Pädoszene. 144 Frits Bernard, The Dutch Paedophile Emancipation Movement, in: Paidika Jg. 1 (1987) H. 1, S. 35–45. ASM, Pai- dika Z-NL-PAI-01. Und: O.V., An Interview with Dr. Frits Bernard, in: Pan. A Magazine About Boy-Love, Jg. 1 (1979) H. 1, S. 15–18. ASM, SL Pädosexualität und sexueller Missbrauch von Kindern, Katalog Länder/Welt: Niederlande: Pädoszene. 145 Frits Bernard, The Dutch Paedophile Emancipation Movement, in: Paidika Jg. 1 (1987) H. 1, S. 35–45, S. 36.

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246 In ihr wurden erste Versuche unternommen, „to develop new moral views concerning pae- dophiles based upon scientific investigation of facts rather than upon traditional moral jud- gements which find paedophilia unacceptable.“146

Mit dieser auf wissenschaftliche Begründungen fokussierten Ausrichtung wurde der

Grundstein für die relativ erfolgreiche Orientierung des pädophilen Aktivismus während der 1970er Jahre gelegt. In dieser Zeit fand Bernard breitere gesellschaftliche Unterstützung dann in der NVSH (Niederländische Gesellschaft für sexuelle Reform), als Pädophiliearbeits- gruppen gebildet wurden, die eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit betreiben sollten.

Zu diesem Zweck wurde eine sexualwissenschaftliche Expertenkommission eingerichtet, die 1972 das Buch „Sex met Kinderen“ (Sex mit Kindern) publizierte, das international breit rezipiert wurde.147 Laut Bernard wurde hierdurch ein Aufbruch erzeugt, pädophile Arbeits - gruppen gründeten sich fortan in unterschiedlichen niederländischen Städten.148 Enclave

Kring hatte sich so vom Untergrund in die Öffentlichkeit vorgearbeitet. Wichtig hierfür war zweifellos der wissenschaftliche Anstrich, der sich auch auf Deutschland auswirkte. Die Er- gebnisse der Untersuchungen Bernards wurden nämlich unter anderem auch in Deutsch- land zur Rechtfertigung pädophiler Handlungen zitiert.149 Die zwischen 1973 und 1975 abgehaltenen fünf internationalen Versammlungen im Rahmen der NVSH in Breda stufte

Bernard dann als wahres Coming-Out ein. 1977 und 1979 wurden weitere große Kongresse abgehalten und 1980 der Endbericht einer Forschergruppe erstellt.150

Indes verlor die Pädophilenbewegung zu diesem Zeitpunkt in den Niederlanden wieder an gesellschaftlicher Akzeptanz. Die NVSH verlor anderweitig an gesellschaftlicher Relevanz, was mit herben Mitgliederverlusten einherging und dadurch die Reichweite der in ihr in- korporierten Pädophilieaktivisten minderte. Auch andernorts gerieten die Pädophilieakti- visten im Verlauf der 1980er Jahre mehr und mehr ins Hintertreffen. Dort, wo sich Pädo- philengruppen erfolgreich den Schwulenverbänden angeschlossen hatten, zerbrach diese einstige Allianz wieder oder löste sich langsam auf. Deutlich wurde das spätestens, als 1993 146 Ebd. 147 Ebd., S. 39. 148 Ebd. 149 Vgl. zusammenfassend: O.V., Mächtiges Tabu, in: Der Spiegel 30/1980, S. 148–151. 150 Frits Bernard, The Dutch Paedophile Emancipation Movement, in: Paidika Jg. 1 (1987) H. 1, S. 35–45, hier S. 39.

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247 die ILGA (International Lesbian and Gay Association) ihre pädophilen Mitgliedsgruppen aus-

geschlossen hatte.151 Attacken konservativer Gruppierungen, die die Standpunkte der ILGA

mit denen der „North American Man/Boy Love Association (NAMBLA) gleichsetzten, veran-

lassten die ILGA zu diesem Schritt. Die ILGA fürchtete anderenfalls, den von den Vereinten

Nationen gerade erst errungenen Status einer NGO wieder zu gefährden.152 Der deutsche

„Bundesverband Homosexualität“ und der „Verein für sexuelle Gleichberechtigung“ pro-

testierten im Vorfeld der Entscheidung in schriftlicher Form gegen die Haltung der ILGA

und forderten, dass Gruppen wie NAMBLA oder die niederländische „Vereiniging Martijn“

Teil der ILGA bleiben sollten.153 Demgegenüber billigte der von Volker Beck und anderen

geführte Schwulenverband Deutschlands diese Entscheidung ausdrücklich.154 Es ist die -

ser lange Zeit latente und zu diesem Zeitpunkt manifeste Streit innerhalb der deutschen

Schwulenbewegung,155 auf den sich Elmar Kraushaar auch in der oben zitierten Textpassage

bezog.156

In den Niederlanden waren zusätzlich zwei weitere Organisationen als relevante Akteure

einzustufen. Zum einen ist dies die 1982 gegründete Vereniging Martijn (damals Stichting

Martijn) und die Partij voor Naafstenliefde, Vrijheid en Diversiteit. Erstgenannte wird zu-

sammen mit der IPCE 1994 aus der ILGA ausgeschlossen und im Juni 2012 von einem nie-

derländischen Gericht unter Betonung des Bedürfnisses nach Kindesschutz zunächst als

illegal eingestuft.157 Das Urteil wurde in nächster Instanz aber aufgehoben. Zwischen 1986

und 2006 publizierte die Vereniging Martijn mit dem O.K. Magazine eine nur postalisch

151 Wolfram Setz, ILGA in die Zukunft – Pädos ins Ghetto, in: BVH aktuell, H. 4/1994, S. 6–7. Vgl. auch: Marthijn Uittenbogaard, Interview mit Dr. Frits Bernard. Emanzipator der ersten Stunde, in: KOINOS, H. 48/ 2005. Auch on- line einsehbar unter: http://www.ipce.info/library_3/files/bernard_interview_d.htm [eingesehen am 12.09. 2013]. Uittenbogaard ist der spätere Vorsitzende unterschiedlicher Pädophilenorganisationen in den Niederlanden. 152 International Lesbian and Gay Association, Statement on Protection of Children, 07.11.1993, in: IPCE-News- letter, Jg. 6 (1994) Nr. 1, S. 28–29. ASM, SL Pädosexualität und sexueller Missbrauch von Kindern, Katalog Länder/ Welt: Niederlande: Pädoszene. 153 Die Stellungnahmen des Bundesverband Homosexualität vom 25.10. 1993 und der Verenigung für sexuelle Gleichberechtigung e,V. vom 2.11.1993, in: IPCE-Newsletter, Nr. 1, Jg. 6 Winter 1994, S. 30–31. ASM, SL Pädosexu - alität und sexueller Missbrauch von Kindern, Katalog Länder/Welt: Niederlande: Pädoszene. 154 Burghard Richter, Der SVD antwortet dem VSG, ohne Datum (1993), ASM, Katalog Deutsche Städte, München: VSG. 155 Andreas Salmen/Albert Eckert, 20 Jahre bundesdeutsche Schwulenbewegung 1969–1989, BVH Materialien 1, 1989, HISArch, SBe, 699+700, Box 1. 156 Elmar Kraushaar: Der homosexuelle Mann, in: die tageszeitung 30.03. 1995. 157 O.V., Gericht verbietet niederländischen Pädophilen-Verein, in: Welt Online, 27.06. 2012, online einsehbar unter: http://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article107280400/Gericht-verbietet-niederlaendischen- Paedophilen-Verein.html [eingesehen am 11.09. 2013].

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248 vertriebene Gazette mit Abbildungen spärlich bekleideter oder nackter Kinder.158 Vorsitzen- der beider Vereinigungen ist der 1944 geborene Ad van den Berg, der 2011 zu einer Haftstra- fe wegen Kindesmissbrauchs und dem Besitz von Kinderpornographie verurteilt wurde.159

Mit der Partij voor Naafstenliefde, Vrijheid en Diversiteit existierte von 2006 bis 2010 sogar eine Partei, in der Mitglieder aus dem Umfeld der Verenigung Martijn wie Ad van den Berg,

Marthijn Uittenbogaard oder Norbert De Jonge versuchten, die Altersgrenzen für sexuel- le Beziehungen auf 12 Jahre abzusenken und generell die Schutzregelungen aufzuweichen.

Nur „gefährlicher Sexualkontakt“ sollte strafbar bleiben. Das Programm der Partei ging noch weiter: Kinderpornographie sollte für den privaten Gebrauch legalisiert werden, in diesem

Zuge sollte auch das Alter gesenkt werden, ab dem man in Pornos mitspielen darf. Nicht gewalttätige Pornographie sollte tagsüber im Fernsehen ausgestrahlt werden dürfen. Pros- titution sollte ab 16 Jahren genauso legal sein wie Sex mit Tieren.160

Neben der organisatorischen Infrastruktur haben die Niederlande mit Frits Bernard und

Edward Brongersma auch die unbestrittenen Stars der Pädophilenbewegung hervorge- bracht. Während sich Bernard überwiegend publizistisch zu Wort meldete, war der nicht minder publizistisch umtriebige Brongersma als international renommierter Aktivist be- sonders wichtig für die internationale Vernetzung von Pädophilen. Einst Mitglied in einer katholischen Partei, schloss er sich nach dem Krieg den niederländischen Sozialdemokraten an, für die er später auch im Parlament saß und sich dort maßgeblich für die Angleichung der Schutzaltersgrenzen von Homo- und Heterosexuellen engagierte, die dabei auf 12 Jahre abgesenkt wurden.161

Brongersma trat auf verschiedenen internationalen Pädophilenversammlungen als Redner auf162 und engagierte sich bei der Gründung von Organisationen wie der Deutschen Studi- en- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie (DSAP). Überhaupt schien die Pädophilenbewegung

158 Bernard: The Dutch Paedophile Emancipation Movement, in: Paidika Jg. 1 (1987) H. 1, S. 35–45, hier S. 42. 159 O.V., Gericht verbietet niederländischen Pädophilen-Verein, in: Welt Online, 27.06. 2012, online einsehbar unter http://www.welt.de/vermischtes/weltgeschehen/article107280400/Gericht-verbietet-niederlaendischen- Paedophilen-Verein.html [eingesehen am 11.09. 2013]. 160 Vgl. das Parteiprogramm der PNVD, online einsehbar unter: http://www.pnvd.nl/prog_mei_2008.html [ein- gesehen am 11.09. 2013]. 161 Elisabeth Bernstein u. Laurie Schaffner (Hg.), Regulating Sex: The Politics of Intimacy and Identity. New York/ London, 2005, S. 211. 162 SAP-Einladung zur Generalversammlung „SAP-86“ (Samstag 31.05. 1986, im Badischen Bahnhof in Basel). ASM, SAP-Schweizerische Arbeitsgemeinschaft Pädophilie, Akte: Schweiz 6.

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249 international gut vernetzt gewesen zu sein. So verschickte die „Schweizerische Arbeitsge-

meinschaft Pädophilie“ (SAP) nicht nur ihre Pamphlete umfänglich ins Ausland163, sondern

unterhielt auch eine Zweigstelle in Berlin und hatte dort einige deutsche Mitglieder, die sich

regelmäßig im „Berliner Communicationszentrum ‚Forum der Freien Meinung‘“ trafen.164

Auch generell unterhielt sie gute Beziehungen nach Deutschland, etwa zur „uns beson-

ders nahestehenden, aktiven DSAP“165. Die SAP entstand in den frühen 1970er Jahren, ab

1973 erscheinen die „SAPI“ acht Mal pro Jahr als „Bindeglied zwischen den Mitgliedern.“166

Zwischenzeitlich wurde eine weitere Zeitschrift (PAIS) unterhalten, aber nach Erscheinen

des siebten Heftes auch wieder eingestellt.167 Laut Eigendarstellung waren die Mitglieder

in der SAP bunt gemischt, weibliche Mitglieder fehlten allerdings ganz; Pädophile, die sich

von Mädchen angezogen fühlten, waren ebenfalls in der Minderheit.168 Während die SAP

am Anfang sehr darauf achtete, „‚eine Art von Geheimbund‘ zu bilden, so glauben wir nun

[1977], dass es besser ist in gewissen Beziehungen diese Einstellung zu verlassen“. Dies sei

aufgrund dessen angezeigt, da sich die Gesellschaft insgesamt öffne, vor allem „die progres-

siven homosexuellen Organisationen“ gerieten in den Fokus.169 Der Versuch eines Coming-

Out geschah also in auffälliger zeitlicher Nähe zu den geschilderten Öffnungsversuchen in

den Niederlanden – und der britischen Pädophilenbewegung, die ebenfalls 1977 versuchte,

an die Öffentlichkeit zu treten. Hierfür wurde die Presse eingeladen, was sich jedoch fa-

tal für die britische Trägergruppe „Paedophile Information Exchange“ (PIE) auswirkte.170

PIE wurde 1974 gegründet und Mitte der 1980er Jahre endgültig verboten. Ihr internatio-

163 S.A.P., Jubiläums-SAPI. 10 Jahre Schweizerische Arbeitsgemeinschaft P[ädophilie], Zürich 1984, S. 10. ASM, SAP-Schweizerische Arbeitsgemeinschaft Pädophilie, Akte: Schweiz 6. 164 SAP-Rundbrief, Nr. 2/1976, vom 14.4. 1976. ASM, SAP-Schweizerische Arbeitsgemeinschaft Pädophilie, Akte: Schweiz 6. 165 SAP-Rundbrief, Nr. 4/1976, vom 9.9. 1976. ASM, SAP-Schweizerische Arbeitsgemeinschaft Pädophilie, Akte: Schweiz 6. 166 S.A.P., Jubiläums-SAPI. 10 Jahre Schweizerische Arbeitsgemeinschaft P[ädophilie], Zürich, S. 10. ASM, SAP- Schweizerische Arbeitsgemeinschaft Pädophilie, Akte: Schweiz 6. 167 Ebd. S. 12. 168 Ebd., S. 8. 169 SAP-Rundbrief, Nr. 3/1976, vom 18.5. 1977. ASM, SAP-Schweizerische Arbeitsgemeinschaft Pädophilie, Akte: Schweiz 6. Tatsächlich wurde dieser Versuch Anfang der 1990er Jahre nochmals wiederholt und in schwulen Szenemagazinen kontrovers, jedoch wohlwollend diskutiert. Vgl.: Remo Peter: Pädos organisieren sich – mit den Schwulen, in: Anderschume/Kontiki H. 2 1992, S. 10-11 und die bezugnehmenden Leserbriefe in H. 3 1992, S. 13 ff.. Auch: Pro & Kontra: Pädos in der Schwulenbewegung, in: Cruiser H. 11 1992, S. 5. ASM, SAP-Schweizerische Arbeitsgemeinschaft Pädophilie, Akte: Schweiz 18. 170 O.V., The Pie Affair, in: Pan. A Magazine About Boy Love, 8 April 1981, S. 17–24, hier S. 17. ASM, SL Pädosexu - alität und sexueller Missbrauch von Kindern, Katalog Länder/Welt: Niederlande: Pädoszene. Auch: Olaf Stüben, Prozeß gegen Pädophile, in: tageszeitung, 12.01. 1979.

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250 nal bekanntester Vertreter war der ehemalige Lehrer Thomas O’Carroll, der 1980 das Buch

„Paedophilia. The Radical Case“ veröffentlicht hatte und mehrfach wegen Vergehen und

Straftaten mit pädophilem Hintergrund, darunter 2006 eine Haftstrafe wegen des Besit- zes von Kinderpornographie, verurteilt wurde.171 PIE publizierte wie andere Gruppen In - formationsblätter und auch ein Magazin (MAGPIE, dt. Elster). Wie in den anderen Ländern auch bestanden vor allem Kontakte zur Schwulenbewegung. So äußerte sich O’Carroll

1978 und 1979 im Magazin Gay Left, das sich damals in kritischer Offenheit mit Pädophilie auseinandersetzte.172 Laut O’Carrolls eigener Darstellung gründete sich PIE aus der schot- tischen Minderheitengruppe (später: Scottish Homosexual Rights Group) heraus. Die „Pae- dophile Action for Liberation“ (PAL), die später mit PIE verschmolz, entwickelte sich in enger

Nähe zur Gay Liberation Front in London. Diese radikaleren Schwulenaktivisten stellten in- spiriert von Engels die Familie als Basis der Gesellschaft infrage und wollten das juristisch festgelegte Alter sexueller Selbstbestimmung senken.173

Presseberichte aus dem Jahr 2009 und im Zusammenhang mit der spektakulären Enthüllung des BBC-Fernsehmoderators Jimmy Saville als Pädophiler im Herbst 2012 legen nahe, dass auch PIE über zumindest zeitweise institutionelle politische Anbindungen verfügte, die auf grundsätzliche Liberalisierungsforderungen zurückgingen. Die Labour-nahe Lobbygruppe

„National Council for Civil Liberties“ (später Liberty, kurz: NCCL), so legen es die Berichte nahe, war zumindest offen für die Anliegen der Pädophilen.174 1983 wurde PIE, vermutlich im

Zuge polizeilicher Ermittlungen gegen die Gruppe, aus der NCCL ausgeschlossen. Genauere

Untersuchungen zur NCCL und PIE stehen noch aus.

Neben den geschilderten Gruppen gab es in anderen Ländern pädophile Aktivistengruppen wie die dänische „Paedophile Group“, die belgische CRIES in der Wallonie und STIEKUM in

Flandern, NAMBLA in den USA oder ARCADIE und die zumindest für pädophile Übergriffe

171 O.V., Two jailed for child porn library, in: BBC News Online, 20.12. 2006, online einsehbar unter http://news. bbc.co.uk/2/hi/uk_news/england/coventry_warwickshire/6196811.stm [eingesehen am 11.09. 2013]. 172 Gay Left. A Gay Socialist Journal. Die Ausgaben 7, Winter 1978/79, S. 2–6 u. 8, sowie Summer 1979, S. 13–19. 173 Tom O’Carroll, Paedophilia. The Radical Case, London 1980, Chapter 11. Online einsehbar unter http://www. ipce.info/host/radicase/chap11.htm [eingesehen am 12.08. 2013]. 174 Martin Beckford, Jimmy Savile: Labour faces embarrassment over former child sex claims, in: The Telegraph Online, 17.10.2012, online einsehbar unter http://www.telegraph.co.uk/news/uknews/crime/jimmy-savile/9614516/ Jimmy-Savile-Labour-faces-embarrassment-over-former-child-sex-claims.html [eingesehen am 12.08. 2013]. Auch: Ders., Harriet Harman under attack over bid to water down child pornography law, in: The Telegraph Online, 09.03. 2009, online einsehbar unter http://www.telegraph.co.uk/news/politics/labour/4949555/Harriet-Harman- under-attack-over-bid-to-water-down-child-pornography-law.html [eingesehen am 12.08. 2013].

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251 bekannte Ecole en Bateau175 in Frankreich. Sofern möglich, sind ihre Verbindungen zur deut-

schen Szene noch auszuwerten.

Impulse aus dem Bewegungsmilieu nach 1968

Im internationalen Vergleich ist auffällig, dass überall die 1970er Jahre die zentralen Akti-

onsjahre jener Pädophilenorganisationen waren und dass es stets eine Verbindungslinie zur

Schwulenbewegung gab. Durchaus differenziert verhält es sich mit der darüber hinausge-

henden gesellschaftlichen Akzeptanz. Erkennbar ist jedoch, dass die politische Linke mehr

oder weniger offen auf die Initiativen der Pädophilenorganisationen reagierte. Diese Logik

bemüht auch Cohn-Bendit, wenn jemand, so seine saloppe Wendung, „mit der alten Geschich-

te um die Ecke“176 kommt und ihn auf die Formulierungen des großen Basars anspricht: „Ich

will mich nicht hinter dem gesellschaftlichen Trend verstecken, gerade bei mir wäre das al -

bern. Aber wir müssen doch sehen, dass die 68er als Subkultur begannen. In dieser Subkul-

tur gab es selbstverständlich auch schmuddelige Ecken. […] Es gab die Gewaltecke, und es gab

die Ecke der antiautoritären Erziehung. Erst mit dem Bewusstsein von Kindesmissbrauch

werden solche Aussagen, wie sie mir zu Last gelegt werden, einfach unerträglich.“177 Der se-

xuelle Befreiungsimpetus segelte damals, in den Folgejahren von 1968, im Windschatten der

Enttäuschung über die ausgebliebene politische Revolution. Freie Sexualität galt manchen

als der Schlüssel zur Umgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse, ja blieb als greifbare Re-

formoption immerhin erhalten. Die Großtransformation der staatlichen und ökonomischen

Ordnung war hingegen nicht gelungen, also setzten einige Propheten der Fundamentalver-

änderung auf die Selbstreform, auf Pädagogik, auf die Emanzipation der Individuen von den

Zwängen einer überkommenen, klerikal und bigott durchsäuerten Klassengesellschaft. An-

satzpunkte gab es dafür einige. Wie so oft in historischen Momenten tiefer politischer Ent -

täuschungen richteten sich fortan die Hoffnungen auf das neue Geschlecht, in der Regel auf

175 Vgl.: Winfried Leist, Schüler ohne Schulbank – Ecole en Bateau, in: betrifft Beziehung, Nr. 1/1981, S. 16–21. Auch zum Leiter der Ecole en Bateau, Léonid Kameneff: Odine Millot, Léonid Kameneff: Coupable Capitaine, in: Liberation Online, 22.03.2013, online einsehbar unter http://www.liberation.fr/societe/2013/03/22/leonid-ka- meneff-coupable-capitaine_890680 [eingesehen am 11.09. 2013]. 176 Daniel Cohn-Bendit. Die Entbehrlichkeit der Heimat, in: Berhard Pörksen u. Wolfgang Krischke (Hrsg.), Die gehetzte Politik. Die neue Macht der Medien und Märkte, Köln 2013, S. 67f: „Ich denke, man kann so etwas nur aussitzen.“ 177 Daniel Cohn-Bendit, zitiert nach Jan Fleischhauer u. René Pfister, „Die sind alle meschugge“, in: Der Spiegel, Nr. 20, 13.5. 2013, S. 29.

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252 die noch nicht korrumpierte Gesinnung der Jugend, jetzt gar: der Kinder. Sie wurden zur Pro- jektionsfläche einer anzustrebenden Zukunft im Natürlichen, Vordiskursiven, von all jenem

Befreiten, das die erste Generation noch verstörte und verseuchte. Das führte zu mehreren politischen Handlungsfeldern: Man mahnte Reformen im Schul- und Bildungswesen an. Man engagierte sich für die selbstverwaltete Jugendarbeit. Man plädierte für mehr Mitsprache von

Kindern und Jugendlichen. Und einige Apologeten der Befreiung und Emanzipation des Kin- des gingen noch weiter. Die pädophile Zuwendung avancierte für sie zum Substitut des po - litischen Kampfes, zum Ferment einer Revolutionierung des Alltags, des Zusammenlebens, der befreienden Liebe.178 „Dem Kind galt ein besonderes Interesse, weil es – noch ganz reines, noch ganz unverdorbenes Naturwesen im Sinne von Jean-Jacques Rousseau – sich am ehesten und leichtesten zu einem neuen Menschen entwickeln würde, frei von Eifersucht und Kon- kurrenzdenken, unangepasst, rebellisch, Vorbote einer zukünftigen Gesellschaft. So nahm man es zumindest an.“179 Der Mythos vom reinen und noch unsündigen Kind hatte eine lange

Kulturtradition, durch die großen Weltreligionen vermittelt und tradiert. Das Gemeinsame in deren Botschaft war „das Kind entweder als Retter aus einer verfahrenen oder ausweg- losen Situation oder als ein hoffnungsvoller Neubeginn voller ungeahnter Möglichkeiten.“180

Roher klang der Schlachtruf Olaf Stübens, eines führenden Polit-Pädophilen181: „Darum weg mit dem Scheißsystem, auf zur sexuellen Revolution! Fang heute damit an. Die stillen Re- volutionen sind oft die wirkungsvolleren. Warte nicht bis zur ökonomischen Umwälzung.“182

In den Jahren darauf gingen, wie in den letzten Monaten oft herausgestellt, einige aus dieser

Szenerie den politischen Weg über die neue Partei der Grünen. Wenig verwunderlich schlug sich das auch in der Programmatik dieses Sammelbeckens divergierender Organisationen,

Gruppen und Bewegungen nieder. Eine entscheidende Frage ist dabei, in welchem Umfang dies passierte. In dem politischen Konglomerat, aus dem heraus die Grünen entstanden, war

Sexualität ein Diskurs von vielen, aber eben nicht der einzige, schon gar nicht der dominante.

178 Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt, Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Frankfurt a.M. 2007; Wolfgang Kraushaar, Die Frankfurter Sponti-Szene, in: Archiv für Sozialgeschichte (2004), S. 105–121. 179 Bernhard Pörksen u. Hanne Detel, Der entfesselte Skandal, Köln 2012, S. 222. 180 Winfried Böhm, Die Reformpädagogik. Montessori, Waldorf und andere Lehren, München 2012, S. 82. 181 Zum Aufritt von Stüben siehe die Rückerinnerung des früheren taz-Redakteurs Götz Aly, Zeitgeschichtliches zur Pädophilie, in: Berliner Zeitung, 25.07. 2013. 182 Olaf Stüben, Pädophilie: Verbrechen ohne Opfer, Ich liebe Jungs, in: die tageszeitung, 16.11. 1979.

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253 Diskurse schwappen in eine Parteigründung

Als die Diskussion um die Pädophiliedebatte bei den Grünen im Frühjahr 2013 aufkam, konn-

te man viel über die Beschlüsse der nordrhein-westfälischen Grünen aus dem Jahr 1985

lesen.183 Die Hochphase grüner Offenheit hinsichtlich der Billigung von Pädophilie in verab-

schieden Programmen lag freilich davor, hatte ihren Ursprung in den Gründungstagen der

Partei. Schon das kurz nach der Konstituierung als Bundespartei verabschiedete Grund-

satzprogramm von 1980 enthielt nämlich eine entsprechende Passage.184 Somit gab es für

die Landes- und Kreisverbände von Anfang an eine Referenz, auf die sie sich beziehen konn-

ten und zwar Jahre bevor eine grüne „Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule, Transsexuelle

und Päderasten“ (BAG SchwuP) existierte, die auch explizit Positionen von Päderasten ver-

trat.185

Vor dem Hintergrund der skizzierten Diskurse dieser Jahre kamen die Grünen gewisserma-

ßen nicht umhin, sich mit Fragen der Sexualität zu befassen. Schließlich waren die Grünen

auch ein Versuch, die versprengten Gruppen zu integrieren, die im Zuge des politischen

Aufbruchs nach 1968 entstanden waren. Doch diese standen sich vielfach in herzlicher Ab-

neigung gegenüber. Eine Konfliktlinie dabei war auch die Auseinandersetzung um die Sexua-

lität.186 Das mochte aus Sicht mancher, eher konservativer Apologeten von Naturbewahrung

oder Kämpfern für Abrüstung reichlich merkwürdig erscheinen beziehungsweise bewog die-

se auch dazu, Distanz zu den Grünen zu halten. Die damit verbundenen Werte und Einstel-

lungsmuster sollten in den Monaten der Parteigründung beim Thema Liberalisierung des

Schwangerschaftsabbruchs deutlich werden, als es heftigste Diskussionen darüber gab.187

Für die bis dato nicht parteipolitisch verorteten politischen Linken hingegen machten

sich einige Konflikte an genau diesem Thema fest. Zwar nahmen die Grünen keine umfas-

sende Einordnung von Sexualität in den Kontexten von kapitalistischer Ausbeutung und 183 Reiner Burger, Ein Triumph der Päderasten, FAS, 19.05. 2013; freilich davor schon bei: Wolfgang Kraushaar, Bewegte Männer, Die Zeit, 27.05. 2010. 184 Die Grünen, Das Bundesprogramm, o.O. 1980. 185 Der Begriff der Päderastie unterliegt zeitlich und kontextuell einem starken Wandel. Allgemein ist damit das sexuelle Begehren männlicher Erwachsener zu männlichen Minderjährigen gemeint, wobei je nach Definition stark schwankend ist, auf welche Altersgruppe die Erwachsenen dabei genau fixiert sind. Für eine grobe Über- sicht: J.-B. Rossilhol, Sexuelle Gewalt gegen Jugend, Dunkelfelder, Marburg 2002, S. 101–107. 186 Florian Mildenberger, Beispiel: Peter Schult, Pädophilie im öffentlichen Diskurs, Hamburg 2006, S. 64 ff. 187 Verena Krieger, Was bleibt von den Grünen, Hamburg 1991, S. 91; etwas zurückhaltender, aber in der Sache ähnlich: Hubert Kleinert, Vom Protest zur Regierungspartei, Die Geschichte der Grünen, Frankfurt a. M. 1992, S. 51f.

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254 antikapitalistischer Befreiungsbewegung vor, wie es in der Dekade vor ihrer Gründung üb- lich war. Vielmehr konzentrierten sie sich auf die damit verbundenen praktischen Fragen. Im ersten Grundsatzprogramm gab es keine ideologische Diskussion um Sexualität, sondern neben der Debatte um den Schwangerschaftsabbruch nahm man sich der Frage im Zusam- menhang mit Minderheitenschutz an, was seinerseits ein durchaus typisches grünes Sujet war und bis heute geblieben ist. In diesem Papier findet sich hierzu ein Abschnitt „Gegen die

Diskriminierung von sexuellen Außenseitern“, der sich in erster Linie mit der Gleichstellung von Homo- und Heterosexuellen beschäftigte. Ungeachtet der Tatsache, dass man natürlich auch daran verschiedene Konflikte des damaligen Sexualitätsdiskurses festmachen könnte, haben die Grünen mit diesem Programmabschnitt in erster Linie den Impuls aufgenommen, den zahlreiche Aktivisten aus der Schwulenbewegung in die junge Partei eingebracht hatten.

Eine im Dezember 1979 verabschiedete „Gemeinsame Plattform der Schwulen und Lesben in der alternativen Wahlbewegung“188 bildete eine Grundlage für den Programmentwurf,

über den sich die Delegierten der Saarbrücker Bundesversammlung der Grünen dann im

Frühjahr 1980 berieten.189

Eine Lektüre des gesamten dort beschlossenen Programms190 zeigt die hohe Aufmerksamkeit, welche die Grünen Minderheiten zumindest in ihrer Programmatik zukommen lassen woll- ten. Dezidiert wurde die Stigmatisierung von „sexuell diskriminierten Bevölkerungsteilen“191 durch die sozialen Verhältnisse angeprangert oder die explizite Benachteiligung von Ho- mosexuellen thematisiert.192 Allgemein hieß es: „In unserer Gesellschaft gibt es nicht nur die Unterdrückung und Tabuisierung von Homosexualität, sondern von Sexualität über- haupt.“ Damit wurde einerseits auf jene als verklemmt wahrgenommene Sexualmoral ange- spielt, andererseits eine Brücke konstruiert, um die disparaten Interessen und Argumente im Sexualitätsdiskurs einzubinden und gleichsam verschiedene Gruppen anzusprechen.

Zur rechtlichen Gleichstellung Homosexueller wurde eine Erweiterung des Artikels 3 des

188 Schreiben von Hans-Arthur Marsiske an die Bundesgeschäftsstelle der Grünen, 03.01. 1980, AGG, B.I.1 Die Grünen 1980–1993 BuVo/BGSt, 6 (1); Sebastian Haunss, Identität in Bewegung, Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004, S. 196. 189 Unterlagen zu finden: AGG, B.I.1 Die Grünen 1980–1993 BuVo/BGSt, 400. 190 Die Grünen, Das Bundesprogramm, o.O. 1980 191 Ebd., S. 5. 192 Ebd., S. 38, interessanterweise im Zusammenhang mit der Benachteiligung von Sinti und Roma.

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255 Grundgesetzes gefordert, um dort die sexuelle Orientierung aufzunehmen, womit einer

Benachteiligung verfassungsrechtlich entgegengewirkt werden sollte. Überdies erhob das

Grundsatzprogramm am Ende des gleichen Abschnitts die – im Verlauf der weiteren Bera-

tung noch eingerahmte – Forderung, es Pädophilen rechtlich zu ermöglichen, ihre Neigung

auszuleben. In Bezug auf das Strafgesetzbuch (StGB) wurde nämlich verlangt, die §§ 174 und

176 „so zu fassen, daß nur Anwendung oder Androhung von Gewalt oder Mißbrauch eines

Abhängigkeitsverhältnisses bei sexuellen Handlungen unter Strafe zu stellen sind.“

Eine Umsetzung des Programms hätte die bestehenden Rechtsregelungen abgeschwächt,

die Kinder und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch schützen sollen, indem zusätzliche

Tatbestandsmerkmale, wie die Anwendung beziehungsweise Androhung von Gewalt oder

Missbrauch einer Abhängigkeit, hinzugetreten wären. Hierdurch wäre das damals wie heute

in den §§ 174 und 176 manifestierte absolute generelle Verbot von sexuellen Handlungen

mit Kindern, das auch bedingt für Jugendliche gilt, aufgehoben und der Schutz vor sexuellem

Missbrauch damit aushöhlt worden.

So liegt ein strafwürdiges Verhalten gemäß § 174 StGB unter anderem bereits dann vor,

wenn sexuelle Handlungen an einer Person vorgenommen werden, die jünger als 16 Jahre

ist und die dem handelnden Erwachsenen zur Erziehung, Ausbildung oder Betreuung anver-

traut wurde. Das Gleiche gilt, wenn die Person jünger als 18 Jahre ist und sie leibliches oder

angenommenes Kind des handelnden Erwachsenen ist. Bei der Bewertung der Strafbarkeit

kommt es wegen der strukturellen Abhängigkeit und Unterlegenheit des Kindes beziehungs-

weise des Jugendlichen nicht auf die Einwilligung des Schutzbefohlenen selbst an. 193 Die im

Strafgesetzbuch niedergelegten Altersgrenzen stellen vor diesem Hintergrund daher eine

„absolute Grenze für den sexualbezogenen Umgang strafmündiger Personen mit Kindern“

dar.194 Allein im Falle von Erziehungs-, Ausbildungs-, Dienst-, Betreuungs- oder Arbeitsver-

hältnissen von Jugendlichen über 16 Jahren ist der Missbrauch der Abhängigkeit explizites

Tatmerkmal, wobei der Täter seine „Macht und Überlegenheit in einer für den Schutzbefoh -

lenen erkennbaren Weise als Mittel einsetzt“195.

193 Karl Lackner u. Kristian Kühl, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, § 174, Rn. 1. 194 Herbert Tröndle u. Thomas Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, München 2004, § 176, Rn. 2. 195 Ebd., § 174, Rn. 15.

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256 Der reine, unabgeschwächte Beschlusstext der Grünen hingegen negierte eine besondere

Schutzbedürftigkeit von Kindern und schutzbefohlenen Jugendlichen und erachteten einver- nehmlichen Geschlechtsverkehr etwa zwischen Betreuern, Lehrern oder Erziehern mit ihren schutzbefohlenen Minderjährigen als möglich, weswegen sie diesen folglich straffrei stellen wollten. Gleiches wurde in Bezug auf den sexuellen Missbrauch von Kindern gefordert (§ 176

StGB), der nur noch bei der Anwendung von Gewalt bestraft werden sollte. Dadurch wären all jene Formen sexueller Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern strafrechtlich freige- stellt worden, in denen das Opfer nicht durch Gewalt, sondern in anderer Art und Weise gefügig gemacht worden ist. Damit wurde ignoriert, dass Erwachsene Kinder in vielerlei Weise über- legen sind. Ihre psychische, geistige, aber auch materielle Überlegenheit kann dazu ausgenutzt werden, um von Kindern sexuelle Handlungen zu verlangen196 oder diese im Nachhinein zu vertuschen.197 A uf die s e s s t r u k t u r e l l e M a c ht un g l e ic h ge w ic ht z w i s c h e n Er w a c h s e n e n un d Kin- dern haben Martin Dannecker und Reimut Reiche bereits frühzeitig aufmerksam gemacht.198

Alice Schwarzer und Günter Amendt erneuerten diese Kritik Anfang der 1980er Jahre in einem stark rezipierten Interview.199 Auch Dannecker wies in einer Zusammenfassung der

Debatten auf diesen Umstand 1987 nochmals hin und hob hervor, dass die Sexualität von

Kindern und Erwachsenen kaum in Deckung gebracht werden könne, gleichwohl hielt er das

Strafrecht für ungeeignet, um pädosexuellen Kontakten oder Beziehungen zu begegnen.200

Während es also auch im linksalternativen Milieu durchaus warnende Stimmen gab, wel- che die Möglichkeit einvernehmlicher Sexualkontakte zwischen Kindern und Erwachsenen verneinten, war der Beschlusstext im Vorfeld der Saarbrücker Bundesversammlung noch nicht einmal erkennbar strittig gewesen. Jedenfalls lagen vor der Konferenz weder Ände- rungsanträge vor, noch gab es Minderheitenvoten aus der Programmkommission selbst.201 196 J. M. Fegert u.a., Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, in: Bundesgesundheitsblatt, Jg. 56 (2013), S. 199–207, hier S. 199. 197 Hertha Richter-Appelt, Störungen der Sexualität, in: Christian Reimer u. Ulrich Rüger (Hrsg.), Psychodyna - mische Psychotherapien, Lehrbuch der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapieverfahren, Stuttgart 2006, S. 341–355, hier: S, 351. 198 Martin Dannecker u. Reimut Reiche, Der gewöhnliche Homosexuelle, Eine soziologische Untersuchung über männliche Homosexuelle in der Bundesrepublik, Stuttgart 1975, hier S. 284–296. 199 Vgl. Alice Schwarzer, Alice Schwarzer im Gespräch mit Günter Amendt Wie frei macht Pädophilie?, in: Emma, 04/1980, http://www.emma.de/hefte/ausgaben-1980/april-1980/wie-frei- macht-paedophilie-1980/ [eingesehen am 29.8. 2013. 200 Martin Dannecker, Bemerkungen zur strafrechtlichen Behandlung der Pädosexualität, in: Herbert Jäger u. Eberhard Schorsch (Hrsg.), Sexualwissenschaft und Strafrecht, Stuttgart, S. 71–83. 201 Antragsbuch zur Konferenz, AGG, B.I.1 Die Grünen 1980–1993 BuVo/BGSt, 400.

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257 Wohl allerdings gab es dann auf der Bundesversammlung selbst etliche Initiativen, hiervon

Abstand zu nehmen.202 Obschon der Beschluss des gesamten Programmabschnitts zunächst

„ohne umfangreiche Kontroversen“203 durchgegangen sei, stand die Forderung dort noch -

mals zur Disposition, als 70 Vertreter eher konservativer Positionen um den schleswig-

holsteinischen Bio-Bauern Baldur Springmann das Podium besetzten, um sich dagegen zu

verwehren, dass die Grünen kaum zu Fragen der Ökologie Stellung nahmen, sich dafür aber

ausgiebig um die Reform des Sexualstrafrechts kümmerten.204 Springmann ging es dabei

weniger um das Thema Sexualstrafrecht, sondern eher um eine grundsätzliche Schieflage

in der Programmatik der jungen Partei: Die Linken in der Partei hatten nach seiner Auf-

fassung den Parteitag genutzt, um ihre Positionen durchzudrücken und die konservativen

Ökologen an die Seite zu drängen. Eine solche Sicht scheint ihre Berechtigung zu besitzen.

Schließlich war die ursprüngliche Tagesordnung des Parteitags stärker auf das Thema Öko-

logie bezogen gewesen, diese wurde jedoch so verändert, dass lieber gesellschaftspolitische

Themen mit Maximaldistanz zum ökokonservativen Flügel in den Mittelpunkt der Debatte

gerückt wurden.205 Insoweit steckte hinter den Beratungen zum Sexualstrafrecht auch ein

hohes taktisches Moment.

Springmann forderte jedenfalls die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs als auch der

Pädophilie wieder aus dem Programm zu streichen. Er und seine Kollegen aus den eher

konservativen Strömungen der Partei gaben an, dass sie „die Entwicklung, wie sie sich in

unserer Partei auf den Parteitagen von Offenbach über Karlsruhe bis Saarbrücken zeigte, so

nicht weiter tragen“ könnten. Sie forderten daher die Rückverweisung der Programmpunkte

zum § 218 und zu §§ 174-176 „an die Basis“. Als Grund führten sie die zu späte Versen-

dung der Programmunterlagen an, weswegen die „Delegierten nicht die Meinung der Ba-

sis repräsentieren“.206 Immerhin, mit seinem Verweis auf das prozedurale Verfahren traf er

202 Anträge und Wortmeldungen zum Parteitag, AGG, B.I.1 Die Grünen 1980–1993 BuVo/BGSt, 10 (1). 203 Rudolf van Hüllen, Ideologie und Machtkampf bei den Grünen, Bonn 1990, S. 267–269. 204 Ebd., S. 272f.; Protokoll zum Bundesparteitag in Saarbrücken, 21.–23.3. 1980, AGG, B.I.1 Die Grünen 1980– 1993 BuVo/BGSt, 11. 205 Rudolf von Hüllen, Ideologie und Machtkampf bei den Grünen, Bonn 1990, S. 263 f.; Silke Mende führt den Konflikt indes weniger stark auf linkes Machtkalkül zurück, denn auf die Frage, ob „die Einforderung eines unbe - dingten Primats der Ökologie zu Lasten sozialer Wohlfahrt und bürgerlicher Freiheiten“ gehen solle. Silke Mende, Nicht rechts, nicht links, sondern vorn, Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 452. 206 Resolution, Anlage 8 zum Protokoll zum Bundesparteitag in Saarbrücken, 21.–23.3.1980, AGG, B.I.1 Die Grü- nen 1980–1993 BuVo/BGSt, 10 (1).

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258 einen wunden Punkt. Die sich dezidiert als basisdemokratisch bezeichnende Partei konnte schlecht über solch einen Einwand hinwegsehen, denn natürlich hatten die über 1.000 De- legierten kaum die Möglichkeit, sich über alle Fragen mit ihrer Parteibasis auszutauschen, zumal es genügend Konfliktthemen gab und insbesondere die Frage nach dem Schwan- gerschaftsabbruch die Partei bereits massiv beschäftigt hatte. Hinter den Kulissen liefen daraufhin Verhandlungen, die einen Kompromiss ermöglicht hätten, wonach die strafrecht- liche Freigabe von Abtreibungen im Programm Bestand hätte, eine Aufhebung der Pädophilie betreffenden §§ 174 und 176 StGB aber wieder gestrichen werden sollte. Nachdem der heuti- ge Hamburger Theatermacher Corny Littmann aber von diesen Plänen Kenntnis erlangt hat- te, machten er und andere Vertreter aus der Schwulenbewegung „sehr schnell und energisch deutlich [...], daß für uns eine nachträgliche Streichung der Forderung nach Revision der

§§ 174 und 176 auf keinen Fall in Frage kommt.“207 So jedenfalls die Darstellung Littmanns in der Postille des Kommunistischen Bunds Arbeiterkampf.

Schließlich fasste Littmann zusammen mit dem späteren SPD-Bundesinnenminister Otto

Schily, dem Vorsitzenden des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz Roland

Vogt, dem des sexuellen Missbrauchs bezichtigten Kommunarden Hermann Meer208 und anderen eine Resolution ab,209 welche die Beschlussfassung im Grundsatzprogramm dann wie folgt einrahmte: „Zu diesem Beschluss konnte leider auf dem Parteitag nicht gemeinsam diskutiert werden. Auch an der Parteibasis ist diese Frage bisher teilweise nicht oder nur wenig diskutiert worden. Dies ist weder im Sinne der Betroffenen, noch der Antragsteller, noch der Partei insgesamt. Deshalb meinen wir, daß Abs. 521 folgendermaßen zu verstehen ist: er ist ein Auftrag an die Partei in allen Gliederungen, sich mit den Auswirkungen dieser

Straftatbestände intensiv auseinanderzusetzen. Durch diesen Auftrag ist das Ergebnis die- ser Diskussion natürlich nicht festgelegt. Es wird eine Kommission gebildet, die Hilfestel- lung bei der Diskussion gibt. Gerade im Hinblick auf die berechtigten Sorgen und Ängste, die

207 Stellungnahme von Corny Littmann zu „Grüne in Saarbrücken“ im „Arbeiterkampf“ Nr. 174, Arbeiterkampf, 05.05. 1980. 208 Freia Peters, Der alltägliche Missbrauch in einer grünen Kommune, in: Welt am Sonntag, 21.07. 2013. Einzel- heiten zu Meer und der von ihm geleiteten Kommune in Kamp-Lindfort sind im weiteren Forschungsprozess noch zu bewerten. 209 Resolution zur Bundesversammlung in Saarbrücken 1980, AGG, B.I.1 Die Grünen 1980–1993 BuVo/BGSt, 10 (1); in der Sache deckungsgleich ein Antrag von Norbert Mann und Hartmut Kneusser: Resolution zur Bundesver- sammlung in Saarbrücken 1980, AGG, B.I.1 Die Grünen 1980-1993 BuVo/BGSt, 10 (1).

51

259 sich mit diesem Themenbereich verbinden, halten wir es für notwendig, daß auf einem der

nächsten Parteitage unter Beteiligung von Betroffenen und Fachleuten dieses Thema aus-

führlich behandelt wird.“

Von den inhaltlichen Positionen nahm man somit nicht dezidiert Abstand, stellte diese aber

mit Verweis auf die noch ausstehende Diskussion an der Parteibasis zur Disposition. Die

Autoren jenes beschlossenen Resolutionstextes erklärten sich überdies auch prompt bereit,

die entsprechende Kommission zu bilden.210 Der Parteitag entschloss sich freilich dazu, mit

der Annahme der Resolution noch nicht über die personelle Zusammensetzung zu entschei-

den.211

Durch diese Form der Beschlussfassung wurde aber eine Offenheit bei diesem Thema signa-

lisiert, ohne den Beschluss zugleich außer Kraft zu setzen. Auffällig und im Rückblick auch

irritierend ist indes, wie wenig man sich beim politischen Mitbewerber diesen Vorgängen

widmete. Dabei war es mitnichten so, dass die etablierten Parteien das Entstehen der Grü-

nen gänzlich ignorierten. Zu stark waren deren Resultate im Wahljahr 1978 gewesen und

zu gut war deren Abschneiden bei der Europawahl 1979. Der Einzug in die Bremer Bürger-

schaft bildete 1979 eine regelrechte Zäsur für das Parteiensystem, das letztmals 1968 mit

dem Einzug einer neu gegründeten Partei in ein Parlament umzugehen hatte und sich in der

Normalität des Dreiparteiensystems geradezu eingerichtet hatte. Trotzdem fällt auf, dass

beispielsweise die Dokumentation der CDU zu den ersten Parteitagen der Grünen sich mit

allerlei anderen Merkwürdigkeiten aufhielt, jedoch das Thema Pädophilie ausklammerte.212

Und auch die insgesamt üppige mediale Berichterstattung hatte sich relativ wenig damit

befasst, wie die Grünen zu Pädophilie standen. Die konservativ-liberalen Blätter fanden

bereits genügend andere Kuriositäten, über die sie berichten konnten.213 Den Pädophiliedis-

kurs in der Partei nahm man hingegen unterdessen offensichtlich nicht so recht wahr. Es gab

210 Resolution zur Bundesversammlung in Saarbrücken 1980, AGG, B.I.1 Die Grünen 1980–1993 BuVo/BGSt, 10 (1). 211 Protokoll zum Bundesparteitag in Saarbrücken, 21.-23.3. 1980, AGG, B.I.1 Die Grünen 1980–1993 BuVo/BGSt, 11 212 CDU-Dokumentation 22, 18.06. 1980: Die Grünen – Anspruch und Wirklichkeit. Analyse des Bundesprogram- mes der GRÜNEN, ACSP, Ordner II: Parteien Die Grünen 1978–80. 213 Siehe exemplarisch: Peter Meier-Bergfeld, Der rote Sündenfall der Grünen, Rheinischer Merkur, Nr. 13, 28.03. 1980, S. 3; Friedrich Karl Fromme, Vom Versuch einer Partei gegen die Parteien zu sein, in: Frankfurter Allgemei- ne Zeitung, 24.03. 1980. Eine gewisse Ausnahme in diesem Zusammenhang: Friedrich Karl Fromme, Gewalt gegen die Stadtindianer bleibt den keuschen Augen der Grünen verborgen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.06. 1980.

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260 insofern damals keine zugespitzte öffentliche oder politische Auseinandersetzung in und mit den Grünen, die dazu geführt hätte, dass sich die Grünen dieser Frage hätten stellen müssen. Und auch in den Abhandlungen über die Gründungstage der Grünen taucht das

Thema bislang nicht explizit auf. Dort wird auf die Debatten zur Außenpolitik, zur Abtrei- bung und zur Wirtschaftspolitik verwiesen,214 deren Konfliktpotential „erste Austritte und

Friktionen“215 zur Folge gehabt hätte. Daran änderte sich in den Folgejahren gleichermaßen wenig. Man widmete sich parteiintern diesem Thema kaum, weswegen es dann auch nicht allzu viel zu berichten gab. Die fehlende nennenswerte Debatte hinderte einige Gliederun- gen der Partei aber nicht daran, Positionen zu beschließen. Einige Landesverbände über- nahmen dabei die Forderung aus dem Bundesprogramm für ihre Landeswahlprogramme, freilich ohne die einrahmende Diskussionsaufforderung. So finden sich diese Passagen bei den Grünen in Hamburg 1982216, in Rheinland-Pfalz 1983217 und in Bremen 1983. 218 Auch kommunal orientierte man sich am Bundesprogramm. Zumindest dort, wo grüne Wähler- gemeinschaften sich für gesellschaftspolitische Themen öffneten, wie in Münster219, Hanno- ver220 oder Göttingen221, übernahm man die Forderung oder sogar gleich den Text aus dem

Bundesprogramm. Teilweise, so wird es am Göttinger Programm deutlich, integrierte man auch einfach bewusst Forderungen, die von politisch nahestehenden Initiativen oder Grup - pierungen aufgeschrieben worden waren. So übernahmen die Göttinger Grünen einfach den

Text der Homosexuellen Aktion Göttingen, kennzeichneten den Abschnitt „Schwule und Les- ben“ auch hinsichtlich dessen Herkunft und machten sich letztlich mit deren Forderungen gemein. Die Mitgliederversammlung der Wählergemeinschaft übersah solche Wendungen geflissentlich oder achtete darauf anscheinend kaum. Auch die Schlussredaktion des Pro-

214 Rudolf van Hüllen, Ideologie und Machtkampf bei den Grünen, Bonn 1990, S. 265–272. 215 Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“, Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 452–458; die geforderte Aufhebung der §§ 174 und 176 StGB findet bei Mende ausdrücklich keine Erwähnung. 216 GAL, Programm für Hamburg, o.J. (1982), AGG, C-Hamburg I.1 LaVo/LGSt, 128; Siegfried Uhl, Die Pädagogik der Grünen, Vom Menschenbild zur Familien- und Schulpolitik, München 1990, S. 60. 217 Dokumentation schwuler Programmteile der Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule und Päderasten bei der Partei Die Grünen, 1985, AGG, C Hessen I LaVo/LGSt, 251. 218 Dokumentation schwuler Programmteile der Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule und Päderasten bei der Partei Die Grünen, 1985, AGG, C Hessen I LaVo/LGSt, 251. 219 Antrag Bernd Flury zur Landesdelegiertenkonferenz, 3.3. 1985, AGG, C NRW I LaVo/LGSt, 105 (3). 220 Programm der Grünen Alternativen Bürgerliste (GABL), 1981, Privatarchiv Bündnis90/Die Grünen, Landes - verband Niedersachsen, Ordner Dokumentation Grüne Politik Wahlprogramme Niedersachsen. 221 Wahlprogramm der Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste Göttingen, 1981, Privatarchiv Bündnis90/Die Grünen, Landesverband Niedersachsen, Ordner Dokumentation Grüne Politik Wahlprogramme Niedersachsen.

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261 gramms, an der in Göttingen unter anderem der spätere grüne Spitzenpolitiker Jürgen Trittin

beteiligt war, nahm daran keinen Anstoß. Schließlich war die Formulierung ja deckungs-

gleich zum Grundsatzprogramm und sie kam von einer Initiative, mit der man sympathi-

sierte. Überdies klang das, was die Homosexuelle Aktion Göttingen da aufgeschrieben hatte,

überwiegend vernünftig und war es auch, sofern es um die Gleichstellung von Homo- mit

Heterosexuellen ging. Die verklausulierten Abschnitte zu den Strafrechtsparagraphen

verstanden einige der damaligen Parteimitglieder möglicherweise nicht oder nahmen diese

schlicht nicht ernst. Vielfach wurde das Programm auch gar nicht gelesen.222 Eine kritische

Debatte blieb anscheinend aus. Überdies, so ist anzunehmen, dürfte einigen der grünen Akti-

visten bewusst gewesen sein, dass die kommunalen Vertretungskörperschaften keine Kom-

petenzen besaßen, das Strafrecht zu ändern. Einzelheiten zu den weiteren Beweggründen

lassen sich im weiteren Forschungsprozess sicherlich noch ergründen. Nach dem bisherigen

Stand der Recherchen ist festzuhalten: Die Übernahme von pädophilen Forderungen war

oftmals eine unreflektierte Reproduktion des Grundsatzprogramms. Man wollte nicht hin-

ter den erreichten Stand der Debatte zurückfallen, sondern vielmehr ein programmatisches

Angebot für Minderheiten bieten, was nun wiederum grundsätzlich ein wertvoller Beitrag

zum demokratischen Pluralismus war. Wenn nun seitens der örtlichen oder regionalen

Schwulenbewegung oder der Aktivisten in den eigenen Reihen vorgeschlagen wurde, sich

doch zu einem bestimmten Thema zu äußern, lag es nahe, sich aus dem Bundesprogramm

zu bedienen oder die Forderungen aus anderen grünen Programmen abzuschreiben.223 Die-

ses Phänomen ist typisch für neu gegründete Parteien und konnte zuletzt prägnant bei der

Piratenpartei beobachtet werden, wo munter in einem Landeswahlprogramm aus einem an-

deren abgeschrieben und zuweilen nicht weiter geprüft wird, ob der entsprechende Sach-

verhalt im eigenen Bundesland überhaupt vorhanden ist oder nicht.224 So entstehen in neuen

Parteien Landes- und Kommunalwahlprogramme quasi im Baukastensystem. Bemerkens-

222 Cordula Eubel, Pädophilie-Passagen wurden kaum gelesen, in: Tagesspiegel, 17.09. 2013, online einsehbar unter http://www.tagesspiegel.de/politik/debatte-um-gruenen-programm-von-1981-paedophilie-passagen- wurden-kaum-gelesen/8805936.html [eingesehen am 04.12. 2013]. 223 Zur Art und Weise, wie solche Passagen in die Kommunalwahlprogramme gelangt sind: Anja Schmiedeke u. Dirk Altwig, Schatten über Hannovers Grünen, in: Neue Presse, 11.10. 2013; Dirk Altwig u. Anja Schmiedeke, Das Erbe der grünen Gründerjahre, in: Neue Presse, 12.10. 2013; Astrid Geisler, Programmlücken gefüllt, in: die tages- zeitung, 18.09. 2013; Astrid Geisler u. Ulrich Schulte, Ein anrüchiges Kapitel, die tageszeitung, 16.9. 2013. 224 Stephan Klecha u. Alexander Hensel, Zwischen digitalem Aufbruch und analogem Absturz: Die Piratenpartei, Opladen 2013, S. 94.

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262 wert an diesem Prozess ist die mangelnde Reflexion und Kritikfähigkeit der regionalen und lokalen Gliederungen, aber auch die geringe Aufmerksamkeit, die sowohl der politische Geg- ner, als auch die Vertreter der Medien diesem Thema gewidmet haben. Die öffentlichen Re- aktionen dazu blieben in den ersten Jahren der grünen Partei aus. Daraus allerdings abzu- leiten, dass man nicht wusste, was man da alles beschlossen hatte, oder sich stets damit zu entschuldigen, dass den Grünen ein Beschluss einfach nur „durchgerutscht“ war225, würde aber zu kurz greifen. So findet sich ein Fall, der darauf hindeutet, dass die Grünen solche

Programmpassagen im Wahlkampf sogar bewusst eingesetzt haben. Als die Unabhängige

Homosexuelle Alternative (UHA) in Hamburg die Parteien im Bürgerschaftswahlkampf 1982 abfragte, wie sie sich zum § 175 StGB verhielten, antworteten die Grünen ungefragt auch noch zu den §§ 174 und 176 und legten ihre Position dar, einvernehmliche sexuelle Bezie- hungen nicht unter Strafe zu stellen.226 Offenkundig waren die Beschlüsse im Zweifel eben auch aus Sicht einiger Parteistrategen geeignet, sie für die Werbung bei interessierten Grup- pen auch tatsächlich einzusetzen. Das wiederum deutet darauf hin, dass zumindest einige wussten, was genau beschlossen worden war.

Das alles vollzog sich im Windschatten der Schwulenbewegung, auf welche die Grünen eigentlich zielten und für die sie insgesamt recht umfassende Programmangebote entwi- ckelten. In der Schwulenbewegung der 1970er Jahre selbst waren pädophile Positionen nicht unumstritten,227 doch das Selbstverständnis als gesellschaftliche Außenseiter er - zeugte eine grundlegende Toleranz und Offenheit gegenüber Pädophilen und anderen se- xuellen Minderheiten.228 Argumentativ gestützt wurden solche Positionierungen durch

Verweise auf die politische Verfolgung Homosexueller in der NS-Zeit, sowie aktuelle

Diskriminierungserfahrungen als sexuelle Minderheit. An derartige Bestandteile der kol- lektiven Identität der Schwulenbewegung der 1970er und 1980er Jahre knüpften auch die Solidaritätsappelle pädophiler Gruppen an und sie übertrugen sich auf die Grünen.

225 So Hubert Kleinert in Bezug auf den NRW-Beschluss von 1985: Hubert Kleinert, Vom Protest- zur Regie- rungspartei, Die Geschichte der Grünen, Frankfurt am Main 1992, S. 153. 226 Homosexuelle Selbsthilfe Rosa Strippe Bochum e.V., § 175, Ein deutscher Paragraph und seine Geschichte, o.J. (ca. 1982), HISArch, SBe, 699+700, Box 1. 227 Jens Dobler u. Harald Rimmele, Schwulenbewegung, in: Roland Roth u. Dieter Rucht (Hrsg.), Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945, Frankfurt, S. 541–556, hier S. 550. 228 Vgl. Sebastian Haunss, Identität in Bewegung, Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004, S. 215 ff.

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263 Pädophilenfreundlich fielen auch einige weitere Stellungnahmen der Grünen Partei aus, etwa

als sich deren Bundesparteitag 1980 in einer Resolution dafür aussprach, Strafvorschriften

zu Fall zu bringen, die „‚Zärtlichkeiten‘ zwischen Jüngeren und Älteren kriminalisierten“.229

Man solidarisierte sich 1981 mit der Stadtindianerkommune, als gegen ein Mitglied ein

Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger lief. Man hielt in den Reihen der

Grünen den erhobenen Vorwurf erkennbar für nicht gewichtig, weswegen man ihn in der

Pressemitteilung in Anführungszeichen setzte und die Aussagen des 13-jährigen Hauptbe-

lastungszeugen kurzerhand in Frage stellte.230 Ungeachtet der Tatsache, dass der Beschul -

digte am Ende freigesprochen wurde, war die Argumentation sicherlich bedenklich.

Gleichwohl: Eine umfassende Diskussion, wie sie 1980 angekündigt worden war, blieb in

der Partei aus und so verzichtete man auch auf eine Revision oder Überprüfung des Textes.

Das hing auch damit zusammen, dass eine grundlegende Programmrevision immer wieder

an den fortgesetzten Strömungsauseinandersetzungen scheiterte.231 Die strittige Passage

blieb dadurch bis zur Fusion mit Bündnis 90 im Jahre 1993 formal in Kraft. Damals gab sich

die neue Partei zwar kein neues Grundsatzprogramm. Die alten Programme wurden aber

faktisch durch die verabredeten politischen Grundsätze und den Assoziationsvertrag von

Bündnis 90 und Die Grünen außer Kraft gesetzt. So vereinbarten beide Seiten: „Bisherige

Programme beider Organisationen gehören zu ihrem gewachsenen Selbstverständnis, sind

aber für die Mitglieder der Partnerorganisation nicht verbindlich.“232 Anders ausgedrückt:

Das Programm von 1980 konnte für die bundesrepublikanischen Grünen programmatischer

Bezugsort bleiben, wurde aber durch die Dokumente des grundsatzäquivalenten Assoziati-

onsvertrags zwischen Bündnis 90 und den Grünen von 1993 faktisch abgelöst, legten nun

doch diese die „grundsätzlichen Ziele, Werte und politischen Leitsätze in einem Grundkon-

sens nieder.“233 Programme und Wahlplattformen sollten sich künftig in diesem Rahmen

bewegen. Dennoch, bis zur Verabschiedung eines neuen Grundsatzprogramms dauerte

229 Friedrich Karl Fromme, Gewalt gegen die Stadtindianer bleibt den keuschen Augen der Grünen verborgen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.06. 1980. 230 Pressemitteilung der Bundesgeschäftsstelle der Grünen, 11.12. 1981, AGG, C NRW I 1 LaVo/LGSt, 424 (3). 231 Hubert Kleinert, Vom Protest- zur Regierungspartei, Die Geschichte der Grünen, Frankfurt a. M. 1992, S. 375. 232 Assoziationsvertrag zwischen Bündnis 90 und Die Grünen, 22.01.1993, online einsehbar unter http://www. boell.de/downloads/publikationen/1993_001_Assoziationsvertrag.pdf [eingesehen am 18.9. 2013], S. 29. 233 Ebd., S. 18.

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264 es noch bis zum Jahr 2002. Erst jetzt vollzogen die Grünen die vorangegangene program- matische Wende auch in einem so bezeichneten Grundsatzprogramm nach, um das „Sam- melsurium von Richtigem und Überholtem“, wie Daniel Cohn-Bendit das alte Programm

1999 in einem Interview bezeichnetet hatte234, neu zu fassen. Zum Zeitpunkt der Fusion hat- te sich die Partei indes mit einem Beschluss des Bundeshauptausschusses 1989 bereits so positioniert, indem die 1980 einst niedergeschriebene Position zurückgewiesen worden war.

In Verbindung mit der einst ergangenen Diskussionsaufforderung im Grundsatzprogramm von 1980 und der vorangegangenen Auseinandersetzung in und zu Nordrhein-Westfalen

1985 hatten die Grünen im April 1989 ihren Beschluss zu den Paragraphen 174 und 176 faktisch außer Kraft gesetzt.235 Auch wenn dadurch noch kein Parteitagsbeschluss erwirkt worden war, wie es im Grundsatzprogramm eigentlich vorgesehen war und wie es auch die

Satzung verlangt hätte, war in Anbetracht dieser Lage ein Rekurs auf die einst erhobene

Forderung nicht mehr von den Beschlüssen der Partei gedeckt.

Grüne Staatsskepsis und grüner Minderheitenschutz

Zentral für die Akzeptanz propädophiler Positionen zum Strafrecht war die Grundierung der jungen Partei, die staatskritisch und antirepressiv war. Die grüne Staatsskepsis resul- tierte unmittelbar aus einer in den siebziger Jahren verbreiteten Wahrnehmung eines Ant- agonismus zwischen den unterschiedlichen Trägergruppen der späteren Grünen einerseits und „dem“ Staat, „den“ Parteien und „der“ Macht andererseits.236 Staat, Regierung und Par - teien - sie galten den umweltpolitisch engagierten Bürgerinitiativen in den siebziger Jah- ren ebenso als „reine Machterhaltungsmaschinen im Dienste dunkler Interessen“237, wie der

„Neuen Linken“ eine tief sitzende Skepsis gegenüber dem Staat konstitutiv war. Wähnte sich der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) als „Befreiungsbewegung“, rück- te man die Bundesrepublik in die Nähe einer Diktatur.238 Dem Kommunistischen Bund (KB)

234 O.V., Es mangelt nicht an Grundsätzen, sondern an Strategien, Interview mit Daniel Cohn-Bendit, in: Frank- furter Rundschau, 20.11. 1999. 235 Beschluß, AGG, B.II.1, Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 3341. 236 Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“, Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 322–364. 237 Jens Ivo Engels, Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung; 1950–1980, München 2006, S. 393. 238 Ebd., S. 395.

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265 schien die Faschisierung von Staat und Gesellschaft als gegeben.239 August Haußleiter sah

in den bestehenden Parteien „‚Weimarer Gespenster-Parteien‘ oder ‚Vollstreckungsapparate

der Industriegesellschaft‘“240. Vermeintliche und tatsächliche staatliche „Repressionen“241

konnten zugleich – über das Spektrum der Neuen Linken hinaus - jene aufgebaute Distanz

zu staatlichen Institutionen verstärken.242 An den Schauplätzen wie und ,

im Angesicht von Extremistenbeschluss und Terrorismusbekämpfung und in der Differenz

zu „Atom-Staat“ und „Staatsmaschine“, „Atomkonsens“ und „Allparteienkartell“, bildete sich

eine Negativkoalition243, deren Ursprung in der vielfältigen und vielgestaltigen „Gemein-

samkeit in der Ablehnung“244 bestand.

Die „Anti-Parteien-Partei“ (Petra Kelly) stand – zumal nach dem Rückzug von Herbert Gruhl,

dessen Grüne Aktion Zukunft (GAZ) prinzipiell den bundesrepublikanischen Parlamenta-

rismus akzeptierte – staatlichen Institutionen zunächst weithin skeptisch gegenüber.245 Die

zunehmende Einflussnahme linker Gruppen verstärkte diesen Prozess nochmals, wenn-

gleich sich die Distanz zum Staat in einem ersten Lernprozess zumindest entradikalisier-

te. Hierauf weist Gerd Koenen hin, aber dieser „Akt der Selbstzivilisierung“ ging noch „für

lange Jahre mit Lebenslügen und Verbalradikalismen“ einher.246 Gleiches gilt für die Distanz

der Bewegungsakteure und -einflüsse zu staatlichen Institutionen und zur Macht, die, trotz

eines starken staatlichen Einflusses etwa auf die Umweltbewegung,247 nur allmählich ab -

ebbte, vielmehr über die friedenspolitische Agendaerweiterung im Angesicht des NATO-

239 Michael Steffen, Geschichten vom Trüffelschwein - Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991, Berlin 2002. 240 Zit. nach Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“, Eine Geschichte der Gründungsgrünen, Mün- chen 2011, S. 131. 241 Michael März, Linker Protest nach dem Deutschen Herbst: Eine Geschichte des linken Spektrums im Schatten des ‚starken Staates‘, 1977–1979, Bielefeld 2012, S. 54 ff; Engels, Naturpolitik, S. 395. 242 Für Michael Steffen war „Repression“ „die Formel, mit der die Kritik an der Entwicklung der Bundesrepublik hin zum ‚autoritären Staat‘ spektrenübergreifend zusammengefaßt werden konnte.“ Michael Steffen, Geschichten vom Trüffelschwein, S. 211. 243 Vgl. Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“, Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München, S. 489, so u.a. beschrieben für die Antiatomkraftbewegung bei Roland Roth, Neue soziale Bewegungen in der politischen Kultur der Bundesrepublik – eine vorläufige Skizze, in: Karl-Werner Brand (Hrsg.), Neue soziale Be- wegungen in Westeuropa und den USA, Frankfurt a.M. 1985, S. 20–82. 244 Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“, Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 491. 245 Auch Franz Walter, Charismatiker und Effizienzen. Porträts aus 60 Jahren Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 2009, S. 237 ff. 246 Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt, Unsere kleine deutsche Kulturrevolution, 1967–1977, Köln 2001, S. 486. 247 Vgl. hierzu Engels, Naturpolitik, Frank Uekötter, Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2011.

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266 Doppelbeschluss zunächst an konfrontativer Härte wieder zunahm. Dennoch zeigte sich um

1980 eine langsame Hinwendung zur Parlamentarisierung, allerdings in Differenz zu den

Funktionslogiken der etablierten Parteien.

Vor allem drei Differenzierungen ermöglichten es somit noch kleinsten Einflussgruppen, bei den Gründungsgrünen Gehör zu finden: Die basisdemokratische Verfasstheit der Partei, der programmatisch festgeschriebene Minderheitenschutz 248 und (damit auch einhergehend) eine Politik der Betroffenheit.249 All dies ermöglichte, über die breite anfängliche Negativko- alition hinaus, die Existenz buntester Gruppen, Positionen, Meinungen und Strömungen bei den jungen Grünen.250 Trotz des Exodus des ökokonservativen Spektrums blieb die Partei bunt, wurde eher in der Folge noch bunter und Anlaufort noch kleinster Interessengrup- pen: Don Bosco-Brüder, Ökobauern aus der Bundschuh-Bewegung, Elbfischer, Bioladenbe- treiber, selbstorganisierte Kollektive, Vertreter und Vertreterinnen von Graswurzelmedien, traditionelle und alternative Handwerker, Vertreter verschiedenster aufblühender sozio- kultureller Projekte251 – und eben auch, in der Erinnerung des Gründungsgrünen und spä- teren Staatsministers Ludger Volmer, Gruppen die „heikel“ waren und zu denen Abstand geboten war, wie die Nürnberger Stadtindianer. Denn „die angebliche Kinderkommune roch stark nach Pädophilie.“252 Aber dennoch: „Das grüne Helfersyndrom wurde aktiviert.“253

Im Kern geht dieses vielfach ausgerufene Helfersyndrom, neben dem festgeschriebenen

Minderheitenschutz, zurück auf die „Wendung zum Subjektiven“254, einhergehend mit einem –

248 So heißt es neben vielen Fundstellen im Gründungsprogramm 1980: „Konsequentes Eintreten für die Be- lange der Minderheiten in unserer Gesellschaft ist ein Hauptanliegen der GRÜNEN. Vorurteile und Diskriminie - rungen, wie sie heute noch in vielen Gesetzen und Ausführungsbestimmungen von Behörden und Verwaltungen existieren, basieren einerseits auf Unkenntnis und andererseits auf bewußter Unterdrückung sog. Randgrup- pen.“, Die Grünen: Das Bundesprogramm, o.O. 1980. 249 Vgl. Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“, Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 461–467; Annekatrin Gebauer, Apokalyptik und Eschatologie: Zum Politikverständnis der Grünen in ihrer Gründungsphase, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 43 (2003), S. 405–420. 250 Vgl. Franz Walter, Gelb oder Grün. Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland, Bielefeld 2010, S. 71 ff. 251 So die unvollständige Aufzählung bei Ludger Volmer, Die Grünen. Von der Protestbewegung zur etablierten Partei, München 2009, S. 64. 252 Ebd. 253 Ebd. 254 Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium 1982–1990, S. 117 u. S. 426–429.

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267 in der reflexiven Modernisierung255 nochmals popularisierten – Gefühl der Betroffenheit.256

So kritisiert Joseph Huber 1983 eine bei Teilen der Grünen grassierende Mythologie der

Betroffenheit: „Vor dem Hintergrund eines übersteigerten Subjektivismus und Spontaneis-

mus werden jedoch gewissermaßen alle und überall in den Rang von ‚Betroffenen‘ erhoben.

So werden die ‚Interessen der unmittelbar Betroffenen‘ zur mythologischen Bezugsbasis,

und jeder einzelne kann seine persönlichen Sonderinteressen zum Nabel der Weltpolitik er-

heben. Der Minderheitenschutz verkommt dann dazu, daß die beteiligten Minderheiten ein-

ander auf der Nase herumtanzen.“257 Betroffenheit reichte im grünen Diskurs also weit über

Umwelt- und Zukunftsängste hinaus und wurde vielmehr „zur Chiffre einer guten Gesin-

nung. Die Bekundung des ‚Betroffenseins‘ exponierte ein Gefühl, welches moralische Güte

beansprucht.“258 „Existentielle Betroffenheit“ wurde somit zum Gegenmodell des seelenlo -

sen Politikbetriebs der Bonner Republik erhoben259 und schuf mit dem „Betroffenen“ eine

„relevante politische Bezugsgröße“260, die sämtlichen Randgruppen, so sie sich engagier-

ten, ihren berechtigten Platz zuwies. Verstärkt wurde die Möglichkeit des Gehörtwerdens

sodann durch die Möglichkeiten der Anfang der 1980er wenig ausbuchstabierten Basisde-

mokratie, die Joschka Fischer eine „veritable Hölle“ nennt. In ihr existierten informelle Struk-

turen neben chaotischen; und einige wenige konnten harte Interessen durchsetzen oder eine

zufällige Ansammlung an Personen verantwortungsbefreit abstimmen.261 Zugleich aber

gäbe es ein politisches Grundprinzip, in dem jede Minderheit das Recht des Gehörtwerdens

beanspruchen konnte. Im Rückblick von bald dreißig Jahren schildert auch ein renommier-

ter Politikwissenschaftler, wie schwer es den damals alternativ gesinnten Zeitgenossen aus

255 Ulrich Beck, Risikogesellschaft, auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 2006. 256 Van Hüllen rechnet hierzu etwa auch die Stadtindianer, die auf den Parteitagen zwar als Störer auftraten, zugleich aber „nach gängigem grünen Selbstverständnis ‚Betroffene‘ waren.“ Vgl. Rudolf van Hüllen, Ideologie und Machtkampf bei den Grünen, Bonn 1990, S. 269. 257 Joseph Huber, Basisdemokratie und Parlamentarismus, in: Wolfgang Kraußhaar (Hrsg.), Was sollen die Grü - nen im Parlament, Frankfurt a.M. 1983, S. 68–84, hier S. 80. 258 Annekatrin Gebauer, Apokalyptik und Eschatologie, Zum Politikverständnis der Grünen in ihrer Gründungs- phase, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 43 (2003), S. 405–420. hier S. 417. 259 Silke Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“, Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 467. 260 Ebd., S. 463. 261 So die scharfe Kritik bei Joseph Huber, Basisdemokratie und Parlamentarismus, in: Wolfgang Kraußhaar (Hrsg.), Was sollen die Grünen im Parlament, Frankfurt a.M. 1983, S. 77 f.; Interessant ist in diesem Zusammen- hang der Hinweis bei van Hüllen, dass die linken und bunten Gruppen die Tagesordnung in Saarbrücken gegen den Willen des Bundesvorstands dahingehend geändert hatten, dass das Themenfeld Minderheitenschutz – in dem es eben auch um sexuelle Minderheiten ging - vor das Ökologiethema gerückt ist. Rudolf van Hüllen, Ideologie und Machtkampf bei den Grünen, Bonn 1990, S. 262ff.

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268 solchen Gründen gefallen ist, sich der Aggressivität und auch der destruktiven Wirkung der

Stadtindianer zu erwehren. Er hatte zusammen mit seiner Frau Mitte der 1980er Jahre an einem von Rudolf Bahro inspirierten Treffen in der Nähe von Heilbronn auf Burg Stettenfels teilgenommen, um über kommunitäre Lebensformen zu diskutieren: „Das gesamte Treffen wurde dann überschattet, ja thematisch umfunktioniert durch die ‚Stadtindianer‘. Es waren nur ca. 8 Jungen (Und Mädchen?, daran erinnere ich mich nicht) unter Führung von zwei

(?) Erwachsenen, darunter dem Haupt dieser Stadtindianer [...]. Diese Gruppe verhinderte durch ständige Störungen die Diskussion über kommunitäre Wohnformen und zwang den ca. 60 (?) Anwesenden ihr Thema der ‚freien Liebe‘ auf. Ich erinnere sehr die Hilflosigkeit aller Anwesenden (auch meine), sich gegen diese Geiselnahme zur Wehr zu setzen. Irgend- wie stand damals die Vorstellung eines ‚Vorrangs für Störung‘ und also auch für Minder- heiten im Raum. Auch waren die Erprobungsfelder der sexuellen Revolution noch nicht zu

Ende ausgetestet und verinnerlicht. Diese Unsicherheit haben die ‚Stadtindianer‘ mit ihrer

‚radikalen Sicherheit‘ ausgenutzt. Ich erinnere mich, dass Bahro im Plenum andeutete, der

Ober-Indianer brauche eine Therapie. Daraufhin sprang dieser über viele Stühle hinweg auf ihn zu und spuckte ihn an. Diese Szene hat sich mir eingeprägt.- auch weil sie im Grunde die hilflose Toleranz demaskierte, mit der die Anwesenden mit der Situation umzugehen versuchten.“262

Organisations- und Aktionsformen der Pädophiliekader in Deutschland

Wie bereits skizziert, hat die Schwulenbewegung die grüne Programmatik mit beeinflusst.

In Deutschland war diese in den 1970er Jahren ebenso heterogen wie offen für allerlei Grup- pierungen und Formationen, darunter auch einige Organisationen, die unverhohlen für die

Freigabe von Pädophilie warben. Eine dieser Organisationen war auch die Deutsche Stu- dien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie (DSAP). Nachdem diverse Vorgängerorganisati- onen, teils mit ähnlichem Führungspersonal, noch ein relatives Schattendasein führten,263 gelang es mit der Gründung der DSAP im September 1978264 erstmals, eine zentrale Kader-

262 Schreiben an Franz Walter vom 18.09. 2013. 263 Dieter F. Ullmann, Der Anfang lag im Deutschen Herbst, in: BVH Magazinchen, Nr. 4/1989, S. 66–78. 264 Siehe: „Bundestreffen Arbeitskreis Pädophilie“ vom 28/29.10. 1978, ASM, Ordner DSAP Nr. 2, Vereinsangele- genheiten.

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269 organisation der Pädophilenbewegung zu etablieren. Von konspirativen Gesprächskreisen

in einer Krefelder Privatwohnung entwickelte man sich zu einem eingetragenen Verein, dem

Gemeinnützigkeit zugestanden wurde.265 Der Weg zu einer anerkannten Interessenvertre-

tung schien geebnet.

Die DSAP war in ihrer Hochzeit ein gut organisierter, kleiner Verband. Sie bestand aus Re-

gionalgruppen in mehreren deutschen Städten (Berlin, Krefeld, München, Frankfurt, Kehl,

Hamburg, Heidelberg). Offen warb man um weitere Aktivisten und Mitglieder, so etwa in

der aus der Frankfurter Sponti-Szene stammenden Stadtzeitung Pflasterstrand266 oder

auch in der tageszeitung (taz).267 In beiden Zeitschriften schaltete die Organisation auch

eine Zeit lang Kleinanzeigen. Auf dem zweiten bundesweiten Treffen der DSAP 1979 wur-

den die zentralen Arbeitsbereiche definiert, die auch für die folgenden Jahre gelten sollten:

Organisation Pädophiler im gesamten Bundesgebiet, Kooperation, Vernetzung, Selbsthilfe,

Öffentlichkeitsarbeit. Hinter der Gründung der DSAP stand somit ein dezidiert politischer

Anspruch: Die Organisation des pädophilen Anteils der bundesweiten Bevölkerung, der

größtenteils im Verborgenen lebt.268 Die war jedoch nur zu erreichen, wenn Pädophile ihre

sexuelle Orientierung auch in der Öffentlichkeit vertreten. Dies war der erste Anspruch der

DSAP und zugleich eine große Hürde, wie sich in den Folgejahren zeigen sollte - setzte doch

das öffentliche Bekenntnis die Aktivisten der Gefahr von Strafverfolgung aus. Nach derzei-

tigem Forschungsstand hatte die DSAP zwischen 1978 und 1983 insgesamt mindestens 55

aktive Mitglieder. Daneben scheint es weitere passive oder teilaktive Mitglieder gegeben zu

haben, denn aus Angst vor gesellschaftlicher Ausgrenzung und Statusverlust waren viele

Aktivisten nicht bereit, ihren Namen in direkte Verbindung mit der DSAP zu bringen. Die

Mitgliedschaft umfasste scheinbar ein breites gesellschaftliches und politisches Spektrum:

„Die DSAP ist politisch neutral; in ihr arbeiten Menschen unterschiedlichster politischer

Auffassungen zusammen (in Berlin von Mitgliedern der CDU über SPD, Altern. Liste bis hin

265 Siehe: Brief des Amtsgericht Krefeld. Eintragung in das Vereinsregister. 13.12. 1979. ASM, Ordner Nr. 0. Organisatorisches. 266 Wolfgang Tomasek, Aufruf zur Erstellung einer „Adressenliste zur Emanzipation der Knabenliebe“, in: Pflasterstrand, Nr. 56/1979, S. 4. 267 Siehe u.a.: N.n., Pädophilie – wie noch nie, in: taz, 11.10. 1979. 268 Martin Dannecker u. Reimut Reiche, Der gewöhnliche Homosexuelle, , Eine soziologische Untersuchung über männliche Homosexuelle in der Bundesrepublik, Stuttgart 1975, hier S. 291.

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270 zu Mitgliedern von K-Gruppen), um ein gemeinsames politisches Ziel – die Abschaffung des

Sexualstrafrechts – zu erreichen“, fasst das Schreiben eines Berliner Mitglieds an ein Mit- glied der Regionalgruppe Krefeld die Situation zusammen.269

Eine der ersten Aktivitäten in der Vernetzungsarbeit bestand im Eintritt von mehreren Mit- gliedern der DSAP in die GFSS (Gesellschaft zur Förderung sozialwissenschaftlicher Se- xualforschung), die ihrerseits zu Beginn der 1970er Jahre entstand.270 Aus der GFSS fanden auch einige Mitglieder den Weg in die DSAP, unter anderem die beiden niederländischen

Aktivisten Frits Bernard und Edward Brongersma. Bernard gründete zur gleichen Zeit auch den Arbeitskreis Kindersexualität und Pädophilie in der GFSS. Dieser hatte laut DSAP drei

Kernbereiche: Wissenschaftliche Erforschung des Arbeitsbereiches, mit dem Ziel, die Argu- mentationsgrundlagen hinsichtlich einer grundlegenden Reform des Strafgesetzes zu ver- bessern; Entwicklung einer guten Öffentlichkeitsarbeit; Einflussnahme auf die Reformie- rung des Strafgesetzes, insbes. §§ 174–176.271 Die Mitglieder des AK Kindersexualität und

Pädophilie planten für das Jahr 1980 auf Vorschlag der DSAP mehrere Seminare mit Berufs- gruppen, die aufgrund ihres Arbeitsbereiches mit Pädophilie zu tun haben, wie zum Beispiel

Jugendämter, Kriminalbehörden, Jugendschutzeinrichtungen und Bewährungshelfer. Auch für diese Veranstaltungen warb man im Pflasterstrand.272 Der Arbeitskreis war durch seine

Ausrichtung und seine gezielten Aktivitäten wohl eine Art Thinktank. Mitglieder der GFSS stellten auch in den Folgejahren die Mehrzahl der Kuratoriumsmitglieder der DSAP, wenn- gleich einige nach kurzer Zeit austraten, da sie nicht mit den Zielen der DSAP in Verbindung gebracht werden wollen. Letzteres betraf die Publizistin Katharina Rutschky und den Päda- gogen Helmut Kentler.273

Im Außenauftreten gegenüber der breiteren Öffentlichkeit waren für die DSAP insbesonde- re Kontakte zu Medien und prominente Fürsprecher von Bedeutung. Zu letzteren zählten

269 Schreiben vom 09.10. 1981, ASM, Ordner DSAP Nr. 1, Vereinsangelegenheiten I. 270 Siehe zur GFSS: Ralf Dose, Der wissenschaftlich-homosexuelle Tarnverein im Wandel der Zeit, in: Ursula Ferdinand u.a. (Hg.), Verqueere Wissenschaft, Münster 2005, S. 337–351, hier S. 344. 271 Vgl. „DSAP e.V.: Tagungsunterlagen zur Mitgliederversammlung, Duisburg, den 22.-23.08. 1980“ S. 2, „The- menbeitrag zum Tagesordnungspunkt der Mitgliederversammlung 1980“, ASM, Ordner DSAP Nr. 2, Vereinsange- legenheiten. 272 Kleinanzeige der DSAP Seminar am 14./ 15.6. zum Thema „Die Gleichberechtigung des Kindes“, in: Pflasterstrand Nr. 80/1980, S. 37 u. S. 40. 273 Helmut Kentler, Brief an den Vorstand der DSAP vom 12.06. 1980, ASM, Ordner DSAP Nr. 2, Schriftverkehr intern.

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271 Edward Brongersma und Frits Bernard. Und in Person von Olaf Stüben war eine Verbin-

dung zur tageszeitung vorhanden, die mehrfach von der DSAP genutzt wurde. 274 Nach der-

zeitigem Wissensstand war außerdem Dagmar Döring für die Außendarstellung von größe-

rer Bedeutung. Ihr damaliges pädophiles Engagement war dabei in einem weitverbreiteten

Sammelband auf zwei Seiten dokumentiert worden.275 Darin bezichtigt sie sich gar selbst

pädosexueller Handlungen, was sie heute jedoch als fiktive Schilderung bezeichnet.276 Un-

geachtet des Wahrheitsgehalts hatte das Bekenntnis einer jungen Frau zu pädophilen Nei-

gungen eine zweifach wichtige Funktion: Zum einen entsprach sie nicht dem Klischee des

männlichen „Sittenstrolchs“, zum anderen war sie gegenüber der Frauen- und Lesbenbewe-

gung von Bedeutung, widersprach sie doch der vorherrschenden Meinung, dass Pädophilie

ein rein männliches Phänomen sei, zu der die Forschung bis heute neigt.277

Die DSAP startete verschiedene Versuche, um in wissenschaftlichen, sozialen und politi-

schen Organisationen Einfluss zu nehmen. So beispielsweise in der Deutschen Gesellschaft

für soziale Psychiatrie (DGSP), in der eine Arbeitsgruppe die Forderungen nach Abschaf-

fung der §§ 173-176,180 I, 182 und 183 StGB übernahm und am 18. Mai 1980 auf der Tagung

vortrug. Als Kontakt für weiterführende Informationen wurde die DSAP angegeben.278 Die

DGSP selbst übernahm – wie andere Organisationen auch – diese Forderungskataloge in

der Regel nicht. Dennoch ist die Existenz der Arbeitsgruppen ein aussagekräftiger Hinweis

darauf, in welchem Umfang die Debatten über die Abschaffung der Schutzaltersgrenzen ge-

führt wurden.

Soweit prinzipielle, herrschaftskritische und im Bereich der Sexualität emanzipative

Grundeinstellungen dazu führten, das Psychiatriewesen skeptisch bis ablehnend zu

274 Vgl. Beispielsweise: Diverse Autoren, u.a. Olaf Stüben, ja+nein sagen können, in: taz, 08.08. 1980; Olaf Stüben, Gleitwort, in: tageszeitung, 27.06. 1980. Beide Artikel waren vorher durch die Verteiler der DSAP geschickt wor- den. Deutsche Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie, Regionalgruppe Nord, Antwort auf die Gegendar- stellung G. Blömers ‚, in: taz, 29.02. 1980; Die DSAP taucht des Weiteren an verschiedenen Stellen in der taz auf, u.a. werden Kontaktadressen für Materialbestellungen und Treffen angegeben. Bspw. N.N., Pädophilie – wie noch nie, in: taz, 10.11. 1979; n.N.: Gesetzbuch zwischen den Beinen, in: taz, 26.10. 1979. 275 Dagmar Döring, So viel Liebe und Zärtlichkeit, in: Joachim S. Hohmann (Hrsg.), Pädophilie heute, Berichte, Meinungen und Interviews zur sexuellen Befreiung des Kindes, Frankfurt 1980, S. 152–154. 276 Thomas Holl, Kein Mann, keine Frau, nur ein Kind, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.08. 2013. 277 Andreas Mokros u.a., Pädophilie, Prävalenz, Ätiologie und Diagnostik, in: Nervenarzt, Heft 83/2012, S. 355– 358, hier S. 355; Hertha Richter-Appelt, Störungen der Sexualität, in: Christian Reimer u. Ulrich Rüger (Hrsg.), Psychodynamische Psychotherapien, Lehrbuch der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapieverfahren, Stuttgart 2006, S. 341–355, hier: S. 351. 278 Betrifft: Beziehung. RUNDBRIEF der Deutschen Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie e.V., Ausgabe 7/1980, S. 5, ASM, Ordner DSAP Nr. 7.

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272 beurteilen, bot sich auf diesem Feld ein Nährboden für die Forderungen der DSAP. Und ins- besondere im Bereich der forensischen Arbeit mit pädophilen Straftätern hatten die Vorge- hensweisen häufig einen brachialen Zwangscharakter. Die heutige sexualwissenschaftliche, psychiatrische und psychologische Diskussion um Pädophilie differenziert zwischen Nei- gung und Tat und stellt daher die Frage ins Zentrum, wie die Tat verhindert werden kann.279

Damals hingegen war man in einem Teil von Medizin und Psychiatrie der Auffassung, dass man durch Gehirnoperationen, Kastration oder medikamentöse Behandlung schon die Nei- gung wirksam bekämpfen könne.280

Vor diesem Hintergrund war eine Selbsthilfe, die den Umgang mit der eigenen Sexualität,

Identitätsfragen und soziale Probleme aufgriff, keineswegs abwegig. Dieser weitere Be- reich der Arbeit der DSAP entwickelte sich in ihrem Werdegang zu einem zentralen Kon- fliktpunkt. Insbesondere die einflussreiche Krefelder Regionalgruppe war an solcherlei

Fragestellungen schlicht nicht interessiert. Um „sinkende Schiffe“, so ein ehemaliges Grün - dungsmitglied, kümmere man sich nicht281 und statt sich mit Gefangenen- und Selbsthilfe zu beschäftigen, gelte es, eine „gesellschaftsintegrative Linie“ zu verfolgen um „positives Gehör und anerkennende Beachtung“ in einer breiten Öffentlichkeit zu finden.282

Es war jene gesellschaftsintegrative Linie, welche diese Akteure über Kontakte zu „angese- henen Wissenschaftlern und Personen des öffentlich Lebens“283 herzustellen versuchten, an der sich aktionistisch orientierte Mitglieder, die insbesondere die Berliner Regionalgruppe prägten, stießen. In seinen „Gedanken zum DSAP-Treffen 1979 in Moers“ schrieb Olaf Stü- ben: „Die DSAP ist nicht das reine, unschuldige Kind, sprich: ein pseudo-wissenschaftlicher

Studierzirkel der netten Onkels von nebenan sondern ein Zweckverband von Sittenstrol- chen mit ein paar Akademikern als Aushängeschild.“284 Die Ethnosoziologin Gisela Bleibtreu-

279 Lorenz Böllinger, Das Böse in der Sexualität, in: Sozialpsychatrische Informationen, Heft 2/2012, S. 16–21. 280 O.V., Aus der Fassung, Der Spiegel, Heft 18/1980, S. 54-55, O.V.: Unklare Diagnose, in: Der Spiegel, Heft 38/1975, S. 158–161; „Bei Bartsch fehlte der Zielpunkt im Gehirn“, Der Spiegel, Heft 22/1976, S. 70–81; Kinderkommission des Kommunistischen Bundes, Euthanasieprogramm gegen sexuelle Minderheiten, in: Arbeiterkampf 87, August 1976. 281 Dieter Ullmann. Der Anfang lag im deutschen Herbst…. BVH Magazinchen, Jg. 3 (1989), Nr.4, S. 74. 282 Brief an Mitglieder und Interessenten. 20.11.1981, ASM, Ordner DSAP Nr. 9. Unterlagen, die die Auflösung der Vereins dokumentieren I. 283 Brief an Mitglieder und Interessenten. 20.11. 1981, ASM, Ordner DSAP Nr. 9. Unterlagen, die die Auflösung der Vereins dokumentieren I. 284 Olaf Stüben, Kinderschänder, in: Emanzipation 1/1980, S.18.

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273 Ehrenberg, DSAP-Kuratoriumsmitglied und GFSS-Vorstand, reagierte hierauf entsprechend

pikiert: „Wie soll eine Änderung des Sexualstrafrechts möglich sein, wenn die, die es be-

trifft, wissenschaftliche Arbeiten abqualifizieren und diejenigen Leute, die solche Werke, die

helfen könnten, verfassen als bloße ‚Aushängeschilder‘ bezeichnen?“285 Die hier angerisse-

nen Positionen stehen paradigmatisch für einen Grundkonflikt innerhalb des Vereins. Zwi-

schen den Regionalgruppen herrschten höchst unterschiedliche Auffassungen darüber, wie

Pädophilen-Arbeit zu begreifen war. Während die Krefelder Regionalgruppe sehr gezielt auf

Organisationen im bürgerlichen Lager zuging, möglichst seriös auftrat und honorige Für-

sprecher gewinnen wollte, verstanden sich die Berliner weit stärker als eine Selbsthilfegrup-

pe, die einen weiteren Schwerpunkt auf die Gefangenenbetreuung legte und den Kontakt

zur AL suchte. In der Heidelberger Regionalgruppe befasste man sich eher mit alternativen

Lebensformen und war an theoretischen Diskussionen zur Kindersexualität und der Kinder-

rechtebewegung interessiert. Antipädagogische Ansätze wurden auf das Feld des Sexuellen

übertragen und verschiedentlich wurden Vorstöße unternommen, die Machtfrage zwischen

Kindern und Erwachsenen theoretisch zu reflektieren. Zwischenzeitlich führte diese Pers-

pektive sogar dazu, dass der Nukleus der Bewegung, die Abschaffung der Schutzparagra-

phen, in Frage gestellt wurde und die Abschaffung der „bestehenden Unterdrückungs- und

Herrschaftsverhältnisse“ vor die Streichung der Paragraphen gestellt wurde.286 Hier hatte

man Sympathien für die ansonsten kritisch betrachtete Indianerkommune Nürnberg, wel-

che ihrerseits die Forderungen nach Abschaffung der Schutzparagraphen über die Autono -

mie und Willensfreiheit von Kindern zu begründen versuchte, während der überwiegende

Teil der anderen Regionalgruppen regelmäßig die öffentliche Distanzierung gegenüber den

provokativ auftretenden Kommunarden suchte. Durch die unterschiedlichen Grundansätze

und Verortungen der jeweiligen Gruppen ergaben sich verschiedene Anknüpfungspunkte

und Strategieoptionen. Ein tatsächlicher Konsens wurde nie erzielt, was neben persönli-

chen Animositäten der Hauptgrund für die relativ kurze Lebensdauer des Vereins zu sein

scheint. Zwei Strategien lassen sich indes übergreifend feststellen: Man versuchte, sich an

285 Brief von Gisela Bleibtreu-Ehrenberg an ein Vorstandsmitglied der DSAP vom 25.02. 1980, ASM, Ordner DSAP, Nr 5, Öffentlichkeitsarbeit. 286 Brief an den Vorstand der DSAP e.V. vom 07.11. 1980, ASM, Ordner DSAP Nr. 4, Schriftverkehr extern.

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274 die Schwulen- und Lesbenbewegung anzukoppeln und zielte auf eine Revidierung des Bil- des des kranken Sexualstraftäters in der Öffentlichkeit. Für beides ist die Selbstdarstellung als verfolgte Minderheit ein zentraler Schlüssel, denn auf dieser Basis sah man sich auf ei- ner Stufe mit anderen sexuellen Minderheiten und forderte von ihnen eine absolute Soli- darität ein. Wurde diese, wie im Vorfeld der Veranstaltung „Parteien auf dem Prüfstand –

Schwule und Lesben befragen Politiker“ 1980, in Frage gestellt, so wurde in aggressivem Ton geantwortet, durchaus auch Drohungen ausgesprochen.287 1983 löste sich die DSAP auf. 288

Es hatte, wie oben beschrieben, Auseinandersetzungen über die Ausrichtung und Positio- nierung bezüglich einzelner Themen gegeben, jedoch führten vor allem massive persönliche

Zerwürfnisse, die in gegenseitigen Bedrohungen und Erpressungen gipfelten, zur Auflö- sung. Der heterogene Interessenszusammenschluss war durch Intrigen und Unvereinbar- keiten handlungsunfähig und hatte seine Substanz verloren. Auch inhaltlich gelang es nicht, die Spaltungslinien zu überwinden und so herrschte zwischenzeitlich selbst in der Frage nach der Abschaffung der § 174 und 176 keine Einstimmigkeit.289

Die DSAP kann nicht nur auf Grund der Mitarbeit der beiden prominenten Niederländer als Speerspitze der Pädophiliebewegung in Deutschland angesehen werden. Das gilt ins- besondere wegen deren Bemühungen, Nähe zu gesellschaftlich relevanten Organisationen, aber eben auch zu Parteien, herzustellen und sich hier personell zu engagieren. So haben sich einige der Aktivisten auch bei den Grünen eingefunden. Ein Teil der einstigen DSAP-

Aktivisten schloss sich ab 1983 der Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität (AHS) an.290

Dieser bis heute bestehende Verein, dessen Ziel es nach eigener Aussage ist, „einen Beitrag zur Humanisierung der menschlichen Sexualität zu leisten“291, konnte in seinem Kuratorium mit Bernard und Sandfort zwei Exponenten aus dem Kreis der DSAP ebenso aufnehmen wie den im Streit von der DSAP geschiedenen Kentler. Die AHS fungierte ihrerseits als 287 Beispielsweise: Parteien zur Homosexualität. Wir fordern: Pädophilenvertreter aufs Podium, in: betrifft: Beziehung, 4/1980, S. 29. 288 Beschluss des Amtsgerichts Krefeld in der Vereinsregistersache Deutsche Studien- und Arbeitsgemeinschaft Pädophilie e.V.S. 2–6, ASM, Order DSAP Nr. 9, Unterlagen, die die Auflösung des Vereins dokumentieren. 289 Vgl. „Hauptprotokoll der MV in Berlin vom 14.11. 1980 Beginn 11:30 Uhr“, S. 1–3, ASM, Ordner DSAP Nr.2, Vereinsangelegenheiten. 290 Florian Mildenberger, Beispiel: Peter Schult, Pädophilie im öffentlichen Diskurs, Hamburg 2006, S. 147; In- teressentenliste und Mitarbeiter der Vorbereitungsgruppe; Abrechnung Spendenkonto der AHS-Vorbereitungs - gruppe, ASM, Katalog überregionale deutsche Gruppierungen und Aktionen, Ordner AHS. 291 Presseerklärung. Arbeitsgemeinschaft Humane Sexualität gegründet, 03.12.1982, ASM, Katalog überregio- nale deutsche Gruppierungen und Aktionen, Ordner AHS.

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275 Kooperationspartner in sexualpolitischen Fragen. Eine Reihe ihrer Mitglieder und Funkti-

onsträger agierte noch längere Zeit in anderen Organisationen, etwa in der Humanistischen

Union. Gemeinsame Veranstaltungen führten zu Kritik an der Zusammenarbeit,292 die von

der Bürgerrechtsorganisation später kritisch als „blinde Solidarisierung und einseitige Ko -

operationen“ eingeschätzt wurde.293 Auch die Grünen pflegten zumindest punktuell unmit-

telbare Kontakte zur AHS.294

Verbindung zur Schwulenbewegung und darüber hinaus

Konstitutiv für die die Arbeit von Organisationen wie der DSAP oder der AHS war – wie im

Ausland auch – die Kooperation mit der Schwulenbewegung. Diese wiederum sandte ihrer-

seits immer wieder Signale in Richtung der pädophilieaffinen Gruppierungen. Die Schwu-

lenbewegung war bemüht, Verbündete in der Politik zu erlangen, was keineswegs einfach

war. Für die Christdemokraten und Christsozialen war eine weitere Gleichstellung Homo-

sexueller schwer, ja undenkbar. Auch bei den Sozialdemokraten des Jahres 1980 konnte man

mit solchen Forderungen schwerlich durchkommen. Die Grünen zeigten sich zwar offen für

die Anliegen der Schwulen und Lesben, doch einen Erfolg der Partei konnte man 1980 kaum

abschätzen, ja er erschien unwahrscheinlich. Trotz des Einzugs in zwei Landesparlamente

sprach vieles gegen eine nachhaltige Erschütterung des in den 1960er Jahren gefestigten

Dreiparteiensystems. Und so lagen viele Hoffnungen natürlich auf der FDP. Die Liberalen

standen strafrechtlichen Revisionen beim § 175, der Homosexuelle noch diskriminierte, of-

fen gegenüber. Von der Partei des Kanzlerkandidaten der Union, Franz Josef Strauß, wurde

sie mit der Überschrift etikettiert: „Für Kommunisten, Homosexuelle und Gewaltverbrecher

- das wahre Gesicht der FDP“295.

Gerade vor dem Hintergrund der damaligen sozialliberalen Koalition war die FDP somit

ein naheliegender Ansprechpartner für die heterogene Schwulenbewegung, integrierte sie

doch bürgerliche Kräfte ebenso wie dasjenige linksliberale Spektrum, das sich in Teilen

292 Vgl. Sven Lüders, Bürgerrechte und Verantwortung, in: Mitteilungen der Humanistischen Union, Nr. 208, (2010), H. I + II, S. 29. 293 Ebd., S. 31. 294 Jens Königu. Wigbert Löer, Und du, Jürgen?, in: Der Stern, 19.09. 2013. 295 Zit. in: Christian Schäfer, Widernatürliche Unzucht“. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945, Berlin 2006, S. 242.

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276 später auch bei den Grünen einfand. Das gilt nicht nur für die Wählerschaft, sondern glei- chermaßen für die Aktivisten. Ein exponiertes Mitglied der damaligen FDP-Jugendorganisa- tion, Eberhard Zastrau296, zählte daher zu den rührigsten Organisatoren jenes Treffens in der

Bonner Beethovenhalle 1980, bei welchem unter dem Titel „Homosexuelle zur Bundestags- wahl – Parteien auf dem Prüfstand – Schwule und Lesben befragen die Parteien“ ein Forum für die vielschichtige Schwulenszene geplant war. Über Monate hatten die unterschiedlichen schwulen und pädophilen Gruppen erbittert über Sinn, Inhalt und Form gerungen. Mit Skep- sis und harter Kritik begegneten insbesondere die antikapitalistischen Gruppierungen der

Absicht, zur Bonner Veranstaltung Vertreter der „etablierten“ Parteien zu laden und ihnen

- so der Vorwurf - die Bühne für die Vereinnahmung oppositioneller Kräfte zu überlassen.

Doch setzten sich die „realpolitischen“ Fraktionen der Schwulen- und Pädophilenbewegung zunächst durch. Im Kreis des bunten Veranstalterbündnisses, zu dem, neben der Alternati - ven Liste Berlin, die Arbeitskreise Homosexualität von Jungdemokraten und FDP, eben auch die DSAP gehörte297, kam es zum Konflikt um die Beteiligung von Pädophilen an der Diskus- sionsrunde. Dieser entzündete sich daran, dass die DSAP heterosexuelle Pädosexuelle auf dem Podium platzieren wollte, wohingegen die Veranstalter ansonsten dieses mit Blick auf den Charakter einer Veranstaltung für Schwule und Lesben ablehnten.298

Die mit großem Aufwand geplante Veranstaltung verlief kurz und denkbar turbulent. Gut

1.000 Zugehörige des Milieus machten sich in der Tat nach Bonn auf. Die vorangehende De - monstration ging noch fröhlich und einträchtig vonstatten, die Veranstaltung selbst muss- te aber dann nach kurzer Zeit bereits abgebrochen werden. Radikale Linke aus der berüch- tigten Nürnberger Indianerkommune, der Berliner Oranienkommune und der Bielefelder

Initiativgruppe Homosexualität schmetterten lautstark Parolen für eine gemeinsame Se- xualität zwischen Erwachsenen und Kindern, setzten Trillerpfeifen ein und warfen Stink- bomben, ehe sie das Saalmikrophon usurpierten. In der Historiographie der Schwulen- und

Pädophilenbewegung gilt das Bonner Beethoven-Spektakel seither als „Desaster“, als

296 Zu Zastrau siehe auch Günter Dworek, Nachruf auf den Siegessäule-Mitbegründer Eberhard Zastrau, online einsehbar unter http://www.siegessaeule.de/artikel-archiv/berlin/nachruf-auf-den-siegessaeule-mitbegruender- eberhard-zastrau.html[eingesehen am 7.12. 2013]. 297 Broschüre zur Veranstaltung, HISArch, SBe 699+700, Box 1. 298 Brief von Rainer Schädlich und Dieter F. Ullmann an den Beethoven-Verteiler, ASM, DSAP, Ordner 3, Schrift- verkehr intern; Vgl. Rainer Schädlich u. Dieter Bachnick (Red.), „…Alle Schwestern werden Brüder…“ Berlin 1986, S. 163–164.

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277 „traumatische Erfahrung“, schlechthin: als eine Zäsur. Jedenfalls urteilte so der Realo-Flü-

gel, die sogenannten „Kontis“ (kontinuierlich Arbeitenden), die über die Institutionen des

Parlamentarismus Einfluss zugunsten ihrer Forderungen zu nehmen versuchten. Gut drei

Dutzend Personen zogen sich an diesem 12. Juli 1980 mit den anwesenden Parteivertretern

von CDU, SPD, Grünen und FDP auf der Flucht vor den beängstigend aggressiven Stadtin-

dianern in einen Nebenraum zurück, um die Diskussionsrunde im kleinen Rahmen wieder

aufzunehmen. Erwartungsgemäß enttäuschten die Christ- und Sozialdemokraten das Rest-

Publikum, da sie wahlprogrammatisch keine Korrekturen des Sexualstrafrechts in Aussicht

zu stellen vermochten. Auch Corny Littmann von den Grünen musste zugeben, dass in sei -

ner Partei eine Revision der §§ 174 und 176 des StGB zwar nicht ausgeschlossen sei, man

aber eben noch darüber diskutieren müsse, weswegen man ohne verbindliche Forderungen

und Versprechungen hierzu in den Wahlkampf ziehe. Die Grünen waren also, wie es Teilneh-

mer berichteten, hinter „dem Stand“ der „epochemachenden F.D.P.-Erklärung“299 geblieben.

Der freidemokratische Repräsentant auf dem Bonner Meeting, der damalige Generalsekre-

tär Günter Verheugen, nährte nämlich die Hoffnung, dass die FDP nicht nur für die ersatz-

lose Streichung des damaligen § 175 StGB eintreten werde, wie berichtet wurde, sondern er

vertrat auch seine Privatmeinung, der zufolge er eine Revision der §§ 174 und 176 für denk-

bar hielt. An Stelle eines besonderen Schutzes von Kindern und Jugendlichen könnte mögli-

cherweise die „sexuelle Nötigung“ als strafrechtliche Grundlage hinreichend sein; so nahmen

es jedenfalls Anwesende damals auf.300 Verheugen wies überdies darauf hin, dass die Jungde-

mokraten, zu diesem Zeitpunkt weiterhin die offizielle Jugendorganisation der Freien Demo-

kraten, eben derart auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz im März 1980 entschieden hätten:

„Keine Bestrafung der freiwilligen und einvernehmlichen Sexualität. Die Paragraphen 173

(Inzest), 174 (Sexualität mit Schutzbefohlenen), 175 (besonderes ‚Schutzalter‘ für männliche

Homosexuelle), 176 (Sexualität mit Kindern) sind zu streichen.“301 Nach den Erklärungen Ver-

heugens trafen die Redakteure der drei in jenen Jahren wohl wichtigsten Schwulenmagazine

299 Vgl. Gay Journal 8/1980. 300 Vgl. him September-Oktober 1980, S. 39; Don 9/1980, S. 10 f; Gay Journal 8/1980; Franz Walter, Es widert mich an, Spiegel Online, 15.8.2013, einsehbar unter http://www.spiegel.de/politik/deutschland/paedophilie-stu- die-franz-walter-zu-vorwuerfen-von-guenter-verheugen-a-916676.html [eingesehen am 17.9. 2013]. 301 Dokumentiert in: Gay Journal 8/1980.

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278 „Talis, Selitsch und Reichelt zusammen und erklärten dem F.D.P-Vertreter, sie würden ihren

Lesern als diesmal einzig wählbare Partei die F.D.P. empfehlen. Mit diesem Sieg in der Tasche zog Verheugen ab“302.

Dass Verheugen ein Anhänger von Pädophilie gewesen wäre, dass er die Paragraphen rund- um und ersatzlos gestrichen haben wollte, soll damit natürlich nicht gesagt werden. Wohl aber könnte es bei ihm Überlegungen gegeben haben, dass das Strafrecht für die intendier- ten Zwecke nicht taugte, ohne sich zugleich festzulegen. Ähnlich agierte die FDP in den fol- genden Monaten und Jahren. Die Bundestagsfraktion hofierte 1981 bei einer Anhörung zur

Streichung des § 175 StGB Wissenschaftler wie Rüdiger Lautmann oder Helmut Kentler, die dort auch unwidersprochen ihre Thesen zur Aufweichung der beiden Pädophilie betreffen - den Paragraphen darlegen durften.303 Zu einer Party anlässlich des FDP-Bundesparteitags im Herbst 1982 in Berlin wurden zu „Bier und Bouletten“ ganz offen „Lesben und Liberale,

Schwestern und Schwätzer, Prominente und Päderasten“ eingeladen.304 Noch deutlicher ga- ben sich indes die Jungdemokraten, auch dort mit einer Mischung aus radikalliberalen Bestre- bungen und freizügigen Sexualvorstellungen. Schon der in den 1970er Jahren wohl politisch exponierteste Päderast der Bundesrepublik, Peter Schult, entstammte den Jungdemokra- ten. Ihnen und der FDP gehörte er allerdings in ihrer nationalliberalen Zeit an und längst nicht mehr während ihrer zwischenzeitlichen sozialliberalen Transformation. In der zweiten

Hälfte der 1960er Jahre beteiligte er sich an den Aktionen der studentischen APO, arbeitete später dann für die maoistische Rote Hilfe und tummelte sich schließlich im Umfeld der RAF.

Im linksalternativen Milieu wurde er ebenfalls wertgeschätzt, auch und gerade für seine pä- derastischen Vorlieben.305 Doch die Päderastie und das jung-/freidemokratische Engagement fiel zumindest zeitlich und lokal bei ihm bereits in der Blüte der Adenauer-Zeit zusammen.

In seiner Autobiografie schildert Schult plastisch sein Leben zwischen pädophiler Subkultur und politischem Aufstieg innerhalb der baden-württembergischen Jungdemokraten.

302 Don 9/1980, S. 11. 303 Florian Gathmann u.a., Das Tabu durchbrochen!, in: Der Spiegel 36 (2013), 02.09. 2013, S. 36–37. 304 Ebd. 305 So veranstaltete die Frankfurter Spontiszene 1977 mit ihm eine gut besuchte Veranstaltung zum Thema „Die Linke und die Männersexualität am Beispiel Peter Schult“, siehe: Wolfgang Kraushaar, Bewegte Männer, Die Zeit, 27.05. 2010; Florian Mildenberger, Beispiel: Peter Schult, Pädophilie im öffentlichen Diskurs, Hamburg 2006, S. 130; allerdings gab es auch kritischere Haltungen: Gisela Wülffing, Freiheit für Sexualität mit Kindern?, in: Pflas- terstrand, Nr. 210, S. 27–33; Giesela (ohne Nachnamen), Als gespenstiger Erwachsener muß ich Dich bekämpfen, indem ich durch Reden deine menschlichen Züge erkennen kann, in: taz, 10.05. 1979

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279 Beide Lebensbereiche führte er aber mitunter auch zusammen: „Ende 1953 wurde ich in

Luxemburg auf einem internationalen Kongress junger Liberaler zum Vizepräsidenten der

liberalen Jugend gewählt und musste nun auch häufiger ins Ausland reisen. Ich [...] stieß [...] in

Kopenhagen durch Zufall auf ein Lokal, in dem Homosexuelle verkehrten, auf viele Jugend-

liche, und fand ein Hotel, in dem man ohne weiteres ein Zimmer bekam. [...] Als Vizepräsident

der Jungen Liberalen gehörte ich auch nun dem Bundesverstand der Jungdemokraten an [...]

und mit einem der Landesvorsitzenden besuchte ich spaßeshalber das Eldorado, ein bekann-

tes Lokal für Schwule und Transvestiten.“306 Im weiteren beschreibt Schult detailliert, wie er

und der badische Landesvorsitzende sich dort haben befriedigen lassen und wie Schult sich

anderntags mit einem „Steppke von 13 oder 14 Jahren“ in den Tiergarten zurückzog, wo es

zum Oralverkehr zwischen beiden kam.

Die Jungdemokraten waren zwar im Vergleich zu den Jungsozialisten oder der Jungen Uni-

on der von der Mutterpartei organisatorisch unabhängigste Jugendverband, aber als poli-

tischer Ausbildungsbetrieb und als Karrierevehikel war er auch im Liberalismus schwer zu

umgehen. Schon seit den frühen 1960er Jahren taten sich Spannungen zwischen liberaler

Jugend und freidemokratischer Partei auf und blieben seither chronisch.307 Man stand in

Opposition zur Parteiführung um Erich Mende,308 kommunizierte phasenweise nicht mit

dem FDP- Bundesvorstand.309 Der Ruf der „Aufmüpfigkeit“ veranlasste einige Betrachter, sie

damals als „die zur Zeit aktivste und lebendigste Jugendorganisation der Bundesrepublik“310

anzusehen.

Das Jahr eines weiteren Radikalisierungsschubs war auch hier 1968, da „die Garde der

Rollkragenträger“311 zwischen 1967 und 1969 zunehmend Einfluss auf den Landes- und

Bundesparteitagen der FDP gewonnen hatte und zu einem „Machtfaktor innerhalb der Partei“312

wurde. Zugleich setzte sich eine für Liberale recht bizarre Radikalisierung weiter fort.313

306 Peter Schult, Besuche in Sackgassen, München 1982, S. 62 ff. 307 Günter Gaus, Jungdemokraten träumen von Volkspartei, in: Süddeutsche Zeitung, 16.12. 1961. 308 Vgl. Rudolf Bischof, Schlagt der FDP den Deutschlandplan um die Ohren, in: Frankfurter Rundschau, 20.06. 1963; Rolf Zundel, Die zornigen jungen Männer der FDP, in: Die Zeit, 21.06. 1963. 309 Ulrich Planitz, Sie sind kein Vortrupp, in: Christ und Welt, 12.03. 1965. 310 Günter Zander, Sturmlauf gegen das „muffige Bürgerblockdenken“, in: Frankfurter Rundschau, 23.02. 1965. 311 Oskar Fehrenbach, Die Freien Demokraten küren einen neuen Star, in: Stuttgarter Zeitung, 31.01. 1968. 312 Manfred Bissinger, Abschied vom Exil, in: Der Stern 5/1968. 313 Rolf Zundel, Lustgewinn aus Widerspruch, in: Die Zeit, 28.05.1971; Hose runter, in: Der Spiegel, 31.05. 1971.

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280 Sie sprachen sich teilweise als „Genossen“ an, buhten den Parteichef Walter Scheel auf ihrer

Bundesdelegiertenkonferenz nieder314 und legten sich seit den frühen 1970er Jahren pro - grammatisch darauf fest, dass „Liberalismus und Sozialismus“ „in entscheidenden Positio- nen ihrer Zielsetzung übereinstimmten.“ Den bestehenden Parlamentarismus bewerteten sie als Medium der Verschleierung der wirklichen, durchaus undemokratischen Machtver- hältnisse, die sich durch die „Manipulation der Bevölkerungsmehrheit“ auszeichneten und zu einer Untertanengesellschaft geführte hätten. Der Umschlag in eine „offene Diktatur des

Kapitals in der Form des Faschismus“ sei jederzeit zu befürchten.315

Die Jungdemokraten zogen in den 1970er Jahren auch eine Reihe von Persönlichkeiten an, die später andernorts Bekanntheit machten: Der heutige Vorsitzende der Linken in Nie- dersachsen, Manfred Sohn, war ebenso Jungdemokrat (und FDP-Mitglied) wie der spätere

RAF-Terrorist Christian Klar. Auch bei den Grünen machten einige frühere Jungdemokraten

Karriere: Christian Schwarzenholz, Claudia Roth, Jürgen Reents und (gar als stellvertre- tender Bundesvorsitzender und Bundeschatzmeister) Roland Appel taten ihre ersten po- litischen Schritte beim offiziellen Parteinachwuchs der FDP. Trotz all der Kapriolen und permanenter Spannungen mit der Mutterpartei blieben die „Judos“ das nämlich bis 1982.

Durch Satzung der FDP waren in allen Gliederungen, vom Ortsverband bis zum Bundes- verband, Jungdemokraten-Vertreter in den Vorständen und Bundesfachausschüssen betei- ligt.316 Sie erhielten aufgrund dieses Status öffentliche Mittel. 317 Auch der Bundesvorstand der FDP unterstützte sie mit 50.000 DM, die parteinahe Friedrich-Naumann-Stiftung steuerte schließlich noch jährlich 200.000 DM bei. Prominente Freidemokraten, die als dezidierte Gegner der Jungdemokraten auftraten, wie 1980 der saarländische FDP-Chef und

Wirtschaftsminister Werner Klumpp, hatten einen schweren Stand in der Partei. Vor dem

Bundesparteitag der FDP im Dezember 1980 in München hatte Klumpp die Jungdemokraten in mehreren Interviews scharf angegriffen, weil sie den sexuellen Missbrauch von Kindern

314 Der radikal-linke Flügel der Jungdemokraten, dessen Zentrum der Landesverband Bremen um Jürgen Reents war, sah allerdings auch keine großen Differenzen zwischen Lüder und Scheel. Sie zogen auf dem Kölner Treffen eine Wandzeitung hoch, auf der stand: „Scheel und Lüder - Kapitalistenbrüder“. Von „Genossen“ sprach auch nur der jungdemokratische AStA-Vorsitzende aus Frankfurt, Thomas Hartmann, später erster Chefredakteur der taz, vgl. Friedrich Kassebeer, Scheel und Lüder-Kapitalistenbrüder?, in: Süddeutsche Zeitung, 17.05.1969. 315 Siehe Manifest für eine liberale Politik (Leverkusener Manifest) Deutsche Jungdemokraten, Bonn 1980, S. 22. 316 Vgl. Peter Meier-Bergfeld, Der „Flohzirkus“ der FDP, in: Rheinischer Merkur/Christ und Welt, 11.04. 1980. 317 Interview Verheugen in WDR 2, Mittagsmagazin, 13.07.1982; einen geringeren Betrag nennt Hans Peter Schütz, „Canaler“ wollen Judos trocken legen, in: Stuttgarter Nachrichten, 14.07. 1982.

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281 straffrei stellen wollten.318 Auf dem Parteitag wurde Klumpp für seine Attacken gegen den

Jugendverband abgestraft.319 Das Gros der Delegierten schloss sich offenkundig der Ansicht

an, wie sie der Generalsekretär der FDP, Günter Verheugen, Anfang 1981 ausführte: „Wie

soll ich denn zum Beispiel mit einer angepassten, lammfrommen Parteijugend mit der jun-

gen Generation ins Gespräch kommen, die im Augenblick in vielen deutschen Städten de-

monstriert, Häuser besetzt oder überhaupt schon ausgestiegen ist aus die Gesellschaft?“ 320

In der Jungdemokraten-Frage erlitt selbst die Ikone Hans-Dietrich Genscher im September

1982 seine erste Abstimmungsniederlage im Bundesvorstand der FDP.321 Genscher wollte

die neuen, vom rechten Flügel der Partei protegierten Jungliberalen (Julis) hälftig an den

Zuwendungen der Partei für die Jugendarbeit teilhaben lassen und so offiziell anerkennen.

Doch die Majorität lehnte das – kurz vor der Bonner Wende – ab und insistierte darauf, dass

die Jungdemokraten die Jugendorganisation der Liberalen seien.322

Die Jungdemokraten waren im Übrigen große Bewunderer von Helmut Kentler. Anfang der

1980er Jahre kam dieser ausführlich in ihrer weit verbreiteten Broschüre, die den Titel „So-

lidarität und Erotik“ trug, zu Wort. Kentler gab dort zum Besten, was bis dahin als eher

vertraulich galt, nämlich, dass er, unterstützt von der sozialdemokratischen Senatorin, in

Berlin „jahrelang mit ausgesprochenen Unterschichtjugendlichen gearbeitet“ habe. „Wir ha-

ben sie teilweise unterbringen können, bei teilweise sehr einfach gelagerten Männern, zum

Beispiel Hausmeistern, die pädophil eingestellt waren. Sie haben dort ein zu Hause gefun-

den, sie haben Liebe gefunden.“323 Einige Jahre später beschrieb er in einem Gutachten für

das Land Berlin ein weiteres Mal, wie er im Gefängnis Tegel drei wegen sexueller Kontak-

te zu minderjährigen Jungs straffällig gewordene Hausmeister aufgestöbert hatte, die er

gleichsam zu Herbergsvätern für „jugendliche Herumtreiber“ machte.324 Der Auftrag für das

318 Vgl. etwa: Klumpp, Die Judos von der FDP abkoppeln, in: Die Welt, 24.11. 1980. 319 Ulrich Lüke, Diese Marxisten untergraben alles, in: Die Welt, 8.12. 1980. 320 Interview WDR 2, Morgen Magazin, 7.3. 1981. 321 Vgl. Reinhart Voss, Erste Niederlage für Genscher, in: Frankfurter Rundschau, 07.09. 1982. 322 Siehe Frankfurter Rundschau, 07.09. 1982. 323 Interview Gerald Jörns mit Helmut Kentler, in: Solidarität + Erotik, Hrsg. von Deutsche Jungdemokraten un- ter Verantwortung von Dagmar Abramowski und Rüdiger Pieper, Bonn o.J., S. 12–16, hier: S. 16. Der langjährige stellvertretende Bundesvorsitzende der Jungdemokraten Rüdiger Pieper gehörte übrigens zu den sehr wenigen prominenten Judos aus ihrer Spätzeit, die nach 1983 den Jungen Liberalen des Guido Westerwelle beitraten, siehe Axel Hacke, Sehr jung, sehr flott und etwas oberflächlich, in: Süddeutsche Zeitung, 08.06. 1985. 324 Helmut Kentler, Leihväter, Kinder brauchen Väter, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 54.

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282 Gutachten durch die Senatsbehörde datiert aus dem März 1988. Berlin wurde inzwischen schwarz-gelb regiert. Die zuständige Jugendsenatorin gehörte der FDP an, stieg alsbald auch zur Generalsekretärin der Bundespartei auf.

Auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz in Duisburg vom 5. bis 7. März 1982 – der letzten in ihrer Geschichte als an der FDP orientierter Verband – beschlossen die Delegierten noch

„Thesen zum Sexualstrafrecht“: „Da sich die Jungdemokraten für die Emanzipation unter- drückter gesellschaftlicher Gruppen einsetzen – im Sexualbereich sind dies vor allem Frau- en, Homosexuelle und Kinder – fordern sie die Abschaffung des Sexualstrafrechts. Dies ist eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für eine Humanisierung des menschlichen Sexualverhaltens.“ Hingegen wurde eine weitergehende These zur Sexuali- tät zwischen Erwachsenen und Kindern nach strittiger Debatte zur weiteren Diskussion in den Verband zurückgegeben. In dieser „These 3“ hieß es: „Sexuelle Kontakte zwischen Kin- dern und Erwachsenen, sofern sie von den Kindern freiwillig eingegangen bzw. angestrebt werden, sollten jedoch nicht mehr bestraft werden, da in solchen Fällen ausschließlich die

Durchsetzung der entsprechenden Strafbestimmungen und nicht die Sexualität selbst den

Kindern schadet.“ Zur Begründung dafür wurde angegeben: „Wegen des Fehlens einer nach- weisbaren Schädigung der betroffenen Kinder glauben Jungdemokraten, die Straffreiheit solcher Kontakte fordern und verantworten zu können. Die Jungdemokraten sehen durch- aus die Probleme, die sich aus solchen Kontakten für die kindliche Sozialentwicklung erge- ben können, halten aber die völlige Unterdrückung der kindlichen Sexualität, wie es heute geschieht, für bedeutend schädlicher für die kindliche Selbstentfaltung.“325

Nun fällt vieles in die Schlussphase der sozialliberalen Koalition und längst hat sich der re - bellische jungdemokratische Nachwuchs in der Zwischenzeit von der FDP getrennt. Aus dem

Kreis der einstigen Jungdemokraten, die an der Konferenz teilgenommen haben und von denen etliche heute zum mittleren Establishment der Bundesrepublik gehören, vernahm man von ihnen in den letzten Jahren kaum etwas darüber. Erst nach Veröffentlichungen

325 Das Ergebnisprotokoll der Bundesdelegiertenkonferenz der Deutschen Jungdemokraten 1982 in Duisburg, AdL, Bestand DJD-Bundesvorstand, Signatur: 22425.

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283 unseres Instituts taten einzelne wieder, allerdings denkbar vage, ihre Erinnerungen kund.326

Eine andere Spur zur heutigen FDP mag interessant sein, ist aber gewiss nicht zwingend als

kausal anzusehen. Jedenfalls hatte sich mit Dagmar Döring eine der aktivsten Organisato-

rinnen aus den Reihen der DSAP 2013 in Wiesbaden um ein Bundestagsmandat für die FDP

bemüht. Nachdem sie mit ihrer damaligen Rolle konfrontiert worden war, gab sie ihre Kandi-

datur auf.327 Während Döring selbst darin erinnert, dass diese Haltung als damals 20jährige

Studentin an der FU Berlin eine nur kurze, bald final abgeschlossene Episode in der politi-

schen Biographie gewesen war328, steht dem natürlich ihr doch wichtiges und keineswegs

belangloses Wirken in der DSAP entgegen.

Deutscher Kinderschutzbund und Pro Familia in der Pädophiliedebatte

Doch nicht nur eine als solche erkennbare Pädophilievereinigung wie die DSAP engagierte

sich in jenen Jahren für die Freigabe von sexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenen

und Kindern. Bemerkenswert ist, dass sich mit dem Deutschen Kinderschutzbund (DKSB) als

auch mit Pro Familia zwei Organisationen offensichtlich der pädophiliefreundlichen Debat-

te nicht völlig erwehren konnten. Es zeigen sich dabei nicht nur Schnittmengen mit den viel

diskutierten Positionen der Grünen, sondern vor allem mit Akteuren und Argumenten, die

dazu beitrugen, dass die pädophilen Positionen gehört wurden und ein Forum erhielten.

Auf personelle Zusammenhänge zwischen dem einstigen Präsidenten des Kinderschutz-

bundes, Walter Bärsch, zur AHS ist bereits in der Literatur hingewiesen worden.329 Zugleich

bot das Magazin des DKSB Kinderschutz aktuell in der Mitte der 1980er Jahre eine Plattform

326 Nina Apin, Liberale Liebesfantasien, in: taz, 02.10.2013, online einsehbar unter http://www.taz.de/!124609/, 2.10. 2013 [eingesehen am 25.11. 2013]; Klaus Baumeister, Es war grober Unfug, in: Strässer, 18.09. 2013, online einsehbar unter http://www.wn.de/Muenster/2013/09/Paedophilie-Debatte-Straesser-Es-war-ein-grober-Un- fug, 18.9.2013 [eingesehen am 25.11. 2013]. 327 Jacqueline Vogt, Döring zieht wegen Pädophilie-Textes zurück, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.08. 2013; Thomas Holl, Kein Mann, keine Frau, nur ein Kind, in: faz, 11.08. 2013, online einsehbar unter http:// www.faz.net/aktuell/politik/inland/paedophilievorwuerfe-kein-mann-keine-frau-nur-ein-kind-12515094.html [eingesehen am 28.11. 2013]. 328 Patrick Körber, Wiesbaden: Dagmar Döring schweigt nach Rückzug von Kandidatur zu Pädophilie-Vorwürfen, in: Wiesbadener Kurier, 13.08.2013, online einsehbar unter http://www.wiesbadener-kurier.de/region/wiesbaden/ meldungen/13346779.htm [eingesehen am 2.9. 2013]. 329 Vgl. Ursula Enders, Gibt es einen Missbrauch mit dem Missbrauch?, in: dies. (Hrsg.), Zart war ich, bitter war‘s. Handbuch gegen sexuellen Missbrauch, Köln 2003,S. 454-459, hier S. 457; Katja Tichomirowa, Pädophilie im Kin- derschutzbund, fr-online, 11.9. 2013, online einsehbar http://www.fr-online.de/politik/deutscher-kinderschutz- bund-paedophilie-im-kinderschutzbund,1472596,24277330.html [eingesehen: 10.12.2013], o.V., Aufarbeitung: Pä- dophilie wollten gezielt Kinderschutzbund unterwandern, in: Spiegel Online, 08.09.2013, online einsehbar: http:// www.spiegel.de/politik/deutschland/paedophile-wollten-gezielt-kinderschutzbund-unterwandern-a-921022. html [eingesehen am 10.12. 2013]; Wigbert Löer, Die Akte Kinderschutzbund, in: Stern, 09.10. 2013

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284 für pädophile Positionen, als das Heft „Spannungsfeld Sexualität“ (3/85) im Editorial expli- zit die Frage aufwarf: „Wer darf wann und wo mit wem und warum und wer bestimmt das eigentlich?“ Und: „Können das Kinder nicht selbst bestimmen? […] In dem Zusammenhang: wovor müssen Kinder eigentlich geschützt werden?“ In diesen Fragen zeigt sich nach eige- ner Aussage „unsere eigene Unsicherheit“. Will man wirklich riskieren, sich bei dem Thema

„zwischen alle Sessel zu setzen“?

Die von der Redaktion ausgewählten Beiträge hielten in beachtlichen Teilen größtenteils ge- waltlose sexuelle Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen für möglich. Ein Autor wies etwa darauf hin, man müsse zwischen „tatsächlichen sexuellen Zwangshandlungen“ und „individuellen Formen sexuellen Verhaltens“ - die durch kulturelle Unterschiede zwar als abweichend wahrgenommen, doch in keinem Fall diskriminiert werden dürften – unter- scheiden.330 Erwachsene sollten bereit sein, die kindliche Sexualität zu unterstützen, soll- ten bei Bedarf für die Kinder verfügbar sein als„Versuchsobjekt (Wie reagierst du auf meine körperlichen Wünsche? Was kann ich alles mit dir machen?)“331. In dem Themenheft wurde zudem das Buch „Stichwörter zur Sexualerziehung“332 vorgestellt und besonders auf die Po- sition der sogenannten „Kinderfreunde“ eingegangen: „Ohne erhobenen Zeigefinger wird […] sachlich und differenziert auf das Vorhandensein von kindlicher Sexualität und sexuellen

Bedürfnissen von Erwachsenen gegenüber Kindern und umgekehrt hingewiesen. ‚Das Tabu der Pädophilie wirkt sich außerordentlich schädigend auf die liebevolle Beziehung […] aus, denn es bewirkt ein exklusives Berührungsverbot zwischen den Generationen‘.“

Ab der nächsten Ausgabe hagelte es Leserbriefe333: Das eine Lager warf der Redaktion von

Kinderschutz aktuell eine pädophilenfreundliche Ausrichtung der von ihr gewählten Beiträ- ge vor, während sich auf der anderen Seite reihenweise Pädophile bzw. deren Unterstützer

äußerten, aber auch Angehörige von DSKB-Ortsvereinen, die die Ausrichtung des Heftes positiv bewerteten. Die Redaktion gab dem Thema viel Raum, vor allem Lehrer meldeten

330 Die folgenden Zitate entstammen dem Beitrag von Henning Haft, Zur sexuellen Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in Kinderschutz aktuell „Spannungsfeld Sexualität“ (1985) Heft 3. 331 Winfried Kleemann, Einmischungsverzicht, ebenfalls in Kinderschutz aktuell „Spannungsfeld Sexualität“(1985) Heft 3. 332 Friedrich Koch (Hrsg.), Stichwörter zur Sexualerziehung, Weinheim 1985. 333 Die im Folgenden zitierten Leserbriefe entstammen den Ausgaben Kinderschutz aktuell 4/85, 1/86, 2/86 und 4/86. In diesem Heft wird die Debatte dann mit folgender Bemerkung der Redaktion vorläufig geschlossen: „Mit diesem Brief beenden wir die Pädophilie-Diskussion vorerst und werden sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufnehmen. D. Red.“.

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285 sich zu Wort: Jürgen P. hätte sich mehr „konkrete Darstellung sexueller Gefühle, Bedürfnis-

se und Handlungen von Kindern“ gewünscht, denn das Heft sei zu theorielastig. Man müsse

illustrieren, bevor man „grundsätzliche Standpunkte darlegt – fast in Bekenntnisform“. Karl

P. meinte: „Ich vermisse die klare Herausstellung des Unterschieds zwischen Fällen, in denen

Kinder ‚mißbraucht‘ werden, weil Erwachsene lediglich ihren Trieb befriedigen wollen, und

jenen, bei denen Kinder mit Erwachsenen eine echte Liebesbeziehung eingehen, die beide

Partner bereichert und beglückt und niemanden gefährdet oder schädigt.“ Vor allem wurde

der Redaktion vorgeworfen, das Heft mittels geschlechtsloser Schaufensterpuppen illust-

riert zu haben: „Hatte die Redaktion Angst davor, die Beiträge des Heftes durch Originalfotos

nackter Kinder aus Fleisch und Blut (und zwar mit Darstellung ihrer Geschlechtsorgane und

eventuell sogar ihrer kindlichen sexuellen Regungen?) zu illustrieren?“ Ein anderer frag-

te, ob die Redaktion diese Darstellungsform gewählt habe, weil sie den Vorwurf befürchte,

„pornographisches Schrifttum zu verbreiten“? Die Redaktion hielt dies offenbar für berech-

tigt und reagierte in einer Anmerkung: Unser Leser Rolf G. kommt mit seiner Vermutung

unseren Befürchtungen sehr nahe. Die Red. In den Leserbriefspalten setzten sich weitere

Schreiber dafür ein, massive Vorurteile gegenüber pädophilen Beziehungen endlich abzu-

bauen und gewaltfreie Beziehungen zu Kindern zu legalisieren: „Gewaltlosigkeit hängt im-

mer ausschließlich vom Maß an Verantwortungsbewusstsein, an Fähigkeit zur Selbstkont-

rolle und an Einfühlungsvermögen des a priori Mächtigeren ab.“ In der juristischen Realität

würde nicht berücksichtigt, ob das Kind eine „in der Schamgegend erfolgte Berührung im

Zusammenspiel mit ‚sexueller Erregung‘“ als unangenehm empfunden habe oder nicht“. Es

müsse vor dem Gesetz darum gehen, „den Unterschied zwischen gewaltsamer Sexualität

und gewaltfreier pädophiler Sexualität zum Tragen zu bringen“. Wie solle man sich „von

der Harmlosigkeit pädophiler Liebesbeziehungen überzeugen und vorhandenes Mißtrau-

en loswerden, wenn die rechtlichen Grundlagen den erwachsenen Partner zwingen, seine

Beziehung geheimzuhalten und auch den kindlichen Partner um Stillschweigen zu bitten,

sich also pädophile Beziehungen fast ausschließlich außerhalb jeglicher Sichtweise der sie

umgebenden Menschen abspielen müssen?“ Mechthild R. äußerte die Vermutung, die Ver-

antwortlichen gäben der Debatte durch ihre Beiträge eine gezielt pädophilenfreundliche

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286 Stoßrichtung: „Interessant war mir, dass die Thesen der Pädophilen zur Unschädlichkeit der sexuellen Beziehungen zwischen Erwachsenem und Kind […] mit der Buchbesprechung ‚Kei- ne Wende‘ [zu „Stichwörter der Sexualerziehung“, s. oben] wieder eingeschmuggelt werden.“

Eine andere Äußerung wog noch schwerer, sie griff den DSKB nämlich direkt an und nannte die interne Kontroverse beim Namen: Die Auswahl der Beiträge sei willkürlich und erzeuge

„Ratlosigkeit“ und erlaube die Frage, „wie Sie zum Thema Pädophilie z.B. das für pädophile

Beziehungen plädierende Buch von Frits Bernard und ein Buch wie ‚Väter als Täter‘ in ei- ner Liste nennen können. Vermutlich haben Sie keines der beiden Bücher gründlich gelesen.

Dabei müssten Sie gerade dies Thema Pädophilie sorgsam behandeln, da es innerhalb des

Kinderschutzbundes immer wieder für Zündstoff und Kontroversen gesorgt hat. Das lässt sich aber nicht mit Gefälligkeitsartikeln und Zufallsbeiträgen bewerkstelligen.“ Diesen Brie- fen standen kritische Stimmen gegenüber, die sich „an alle pädophilen KA-Leser“ richteten und dadurch implizierten, dass es davon anscheinend einige gab. Diese kritischen Briefe sind zwar zahlreich, werden aber bei weitem nicht so ausführlich wiedergegeben.

Diese Debatten im Kinderschutzbund zeugen bereits davon, dass es Mitte der 1980er Jahre entweder einen großen gesellschaftlichen Diskussionsbedarf zum Thema gegeben hat oder dass der DKSB von sich aus versucht hat, eine solche Debatte in Gang zu bringen. Beides führt dazu, die Debatten innerhalb der Grünen keineswegs als Ausnahme zu betrachten und sich auch die Frage zu stellen, welche Rolle der DKSB insgesamt seinerzeit gespielt hat.

Dieser Frage wird sich nun umfassender ein eigenes, vom DKSB initiiertes, Forschungspro- jekt widmen.

Am 9. Oktober 2013 hat Der Tagesspiegel Rechercheergebnisse veröffentlicht, die, ähnlich wie beim DKSB, eine Nähe von Pro Familia zu pädophilenfreundlichen Positionen in den

1980er und 1990er Jahren dokumentieren.334 Auch hier gliedern sich die Vorwürfe ähnlich wie beim DKSB auf: Zunächst sollen in der Verbandszeitschrift pro familia magazin pä- dophilenfreundliche Texte erschienen sein. Ein Redakteur der Zeitschrift hatte sich ja be- reits 1985 in entsprechender Weise in Kinderschutz Aktuell mittels eines Leserbriefes zum

334 Sarah Kramer, Fragwürdiges Netzwerk, in: Der Tagesspiegel, 09.10. 2013, online einsehbar unter http://www. tagesspiegel.de/politik/paedophilie-vorwuerfe-an-pro-familia-fragwuerdiges-netzwerk/8903836.html [einge- sehen am 25.10. 2013]. Mehrere Zeitungen übernahmen die Meldung, z.B. die taz am 8.10. 2013: Vorwürfe gegen pro familia, online einsehbar unter http://www.taz.de/!125146/ [eingesehen am 28.10. 2013].

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287 Thema Pädophilie positioniert. Prominente Fürsprecher der Pädophilen durften

über mehrere Jahre in dem pro familia magazin ihre Texte veröffentlichen. Im pro fa-

milia magazin wurden laut Tagesspiegel entsprechende Beiträge mehrfach und bis

in die jüngste Gegenwart hinein publiziert, wie auch die tageszeitung berichtete.335

1995 etwa habe der Soziologe Rüdiger Lautmann ausführlich dargelegt, wie aus seiner Sicht

eine Trennlinie zwischen Pädophilie und Kindesmissbrauch gezogen werden müsse: Der Be-

griff des Kindesmissbrauchs beinhalte schließlich, „dass der kleine Mensch geschädigt wird“.

Diese Schädigung sei „bei den Kontakten der echten Pädophilen sehr fraglich“.336 Auch der

Psychologe Wolff Vogel habe dafür plädiert, die Vorurteile in der Debatte über Pädophilie

abzubauen. Cordula Ebel und Sarah Kramer analysierten für den Tagesspiegel die Gemen-

gelage bei pro familia etwas genauer.337 Die Redaktion des pro familia magazins habe damals

keine Distanz zu den publizierten Artikeln erkennen lassen. Die entsprechenden Beiträge

sind sogar von ihr kommentiert worden, so dass durchaus von einer bewussten Auseinan-

dersetzung und nicht von durchgerutschten Statements Einzelner gesprochen werden kann.

Auch geht die Redaktion selbst zu dem Zeitpunkt von einer „Trennlinie“ zwischen Pädophilie

und Missbrauch aus, die sie heute explizit nicht mehr zieht. Vor allem das viel diskutierte

Konzept „Hilfe statt Strafe“ wurde bei pro familia diskutiert: das Argumentationsmuster,

das auch andere Wissenschaftler der Zeit verwendeten, wurde hier von Reinhart Wolff vor-

gebracht: Polizeiliche Verhöre könnten für ein Kind verstörend sein und Schuldgefühle aus-

lösen, vor allem, wenn der Erwachsene aus dem familiären Umfeld stamme, oder, so Wolff,

das Kind „Freude am sexuellen Kontakt“ hatte. Wolff nutzt das Verbandsmagazin außer-

dem als Plattform für eine positive Buchrezension des holländischen Soziologen Sandfort,

einer weiteren Vorreiterfigur in der Auseinandersetzung. Der Tagesspiegel recherchierte,

dass eben jenes Buch Sandforts, „Pädophile Erlebnisse“, in dem Verlag verlegt wurde, der 13

Jahre lang auch die Zeitschrift von pro familia verlegt hatte: dem Gerd J. Holtzmeyer Verlag.

335 Nin a Apin , Bedür f nisse und Mor alpanik , in : t a z , 0 9 .10 . 201 3 , online ein sehbar unter ht t p: //w w w.t a z .de/!1 2 5 2 3 2 / [eingesehen am 29.10. 2013]. Ein Kommentar von Nina Apin, Aus der Sicht des Kindes findet sich unter http://www. taz.de/Kommentar-pro-familia-und-Paedophilie/!125141/ [eingesehen am 29.10. 2013]. 336 Vorwürfe gegen Beratungsorganisation: Pädophilie-Debatte erreicht Pro Familia, in: Spiegel online, 09.10. 2013, online einsehbar unter http://www.spiegel.de/panorama/pro-familia-paedophilie-vorwuerfe-erreichen- beratungsorganisation-a-926839.html [eingesehen am 28.10. 2013]. 337 Cordula Ebel u. Sarah Kramer, Die Probleme von pro familia mit der Distanz, in: Der Tagesspiegel, 08.10. 2013, online einsehbar unter http://www.tagesspiegel.de/politik/debatte-um-paedophilie-die-probleme-von-pro-fami- lia-mit-der-distanz/8900526.html [eingesehen am 28.10. 2013].

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288 Holtzmeyer gehörte selbst sogar bis 1995 der Redaktion der Vereinszeitung an. Allerdings kam auch Alice Schwarzer in dem Magazin von pro familia zu Wort und legte dort dezidiert ihre entschieden ablehnende Haltung pädophilenfreundlichen Positionen gegenüber dar.

Des Weiteren sollen prominente Mitglieder von pro familia ebenfalls in der AHS aktiv ge- wesen sein, gar in deren Kuratorium mitgewirkt haben. Wie so oft wird auf den „Zeitgeist“ verwiesen338 oder auf den „damaligen Stand der Diskussionen in der Sexualwissenschaft“ abgestellt339, was Opfer von sexuellem Missbrauch als verletzend empfinden. Pro Familia verweist darüber hinaus darauf, dass man an einer ausführlichen Stellungnahme und Be- wertung arbeite, „ob und inwieweit damals Pädosexuelle die Publikationen oder Verbands- strukturen von pro familia dazu benutzt haben, um ihre Ansichten zu verbreiten und dafür zu werben.“340

Fortgang der grünen Pädophiliedebatte

So fanden Pädophile zeitweise eine durchaus beachtliche Unterstützung für ihre Anliegen, was keineswegs nur von einer Seite ausging, keineswegs begrenzt war auf wenige Aktivis- ten und sich erst recht nicht auf die Grünen alleine beschränkte. Freilich erzielten solche

Positionen bei den Grünen schließlich den stärksten, nämlich programmatischen Nieder- schlag. Die beschriebene besondere Affinität des alternativen Milieus zu diesen Positio- nen wie der alternativen Partei zu Minderheiten begünstigte das; wenngleich man auf der

Bundesebene – abgesehen von jener bereits erwähnten und relativierten Formulierung im ersten Grundsatzprogramm – nach entsprechenden Beschlüssen länger suchen muss. In den Bundestagswahlprogrammen fanden konkrete pädophile Positionen keinen ausdrück- lichen Eingang. Im Bundestagswahlprogramm von 1980 ist eine abgewandelte Passage aus dem Grundsatzprogramm zu lesen, wonach die Grünen Homo- und Heterosexualität „als gleichberechtigte Ausdrucksformen menschlicher Sexualität“ auffassen. 341 Zugleich wird aber auch „jede gesellschaftliche Benachteiligung oder strafrechtliche Sonderbehandlung

338 Erklärung der Bundesvorsitzenden zu den aktuellen Vorwürfen gegen pro familia, 11.10. 2013, online einseh- bar unter http://www.profamilia.de/pro-familia/presse.html [eingesehen am 28.10. 2013]. 339 Erklärung der Bundesvorsitzenden zu den aktuellen Vorwürfen gegen pro familia, 11.10. 2013, s. oben. 340 Zitiert aus der Erklärung der Bundesvorsitzenden zu den aktuellen Vorwürfen gegen pro familia, 11.10. 2013, s. oben. 341 Die Grünen, Wahlplattform zur Bundestagswahl 1980, Bonn, S. 12.

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289 aufgrund des Sexualverhaltens“ abgelehnt.342 Zwar lässt sich aus dem Kontext der Formu-

lierung schließen, dass damit explizit nur jene Benachteiligungen gemeint sind, die sich aus

der Differenzierung von Homo- und Heterosexualität ergeben. Die strikte Ablehnung von

Sonderstrafrechtsregelungen im Wahlprogramm muss dabei aber auch in Verbindung mit

der vorherigen Beschlussfassung des Grundsatzprogramms sowie den begleitenden Reso-

lutionen gesehen werden: Ein Sonderstrafrecht für pädophiles Verhalten wird darin eben-

so abgelehnt wie dazugehörige Therapieansätze. Das Wahlprogramm zur Bundestagswahl

1980 erhebt zwar nicht die Forderung, Pädophilie zu entkriminalisieren, doch kann man es

von interessierter Seite zumindest so lesen, dass es für solche Forderungen anschlussfähig

sein könnte.

Aufgrund dessen, dass die Debatte um die Reform des Sexualstrafrechts bei den Grünen auf

Bundesebene verebbte, aus der Schwulenbewegung weniger Impulse und Initiativen kamen

und auch die DSAP an Bedeutung verlor, war es wenig verwunderlich, dass im folgenden

grünen Bundestagswahlprogramm von 1983 das Thema sexuelle Orientierung keine Rolle

mehr spielte. Die Diskussion dazu war innerhalb der Partei erlahmt und inmitten der apoka-

lyptischen Grundstimmung, die sich besonders deutlich auf das Wahlprogramm übertrug,

das die thermonukleare Vernichtung der Menschheit wie die ökologischen Herausforderun-

gen in düstersten Farben ausmalte, fanden schwulenpolitische Forderungen offensichtlich

keinen Platz. Forderungen in Bezug auf eine pädophiliefreundliche Strafrechtsreform schon

gar nicht. Immerhin betonten die Grünen noch ihre Verbundenheit mit Initiativen, die sich

„gegen sexuelle Unterdrückung“ einsetzten, und jenen, die sich „gegen die Diskriminierung

abweichender Minderheiten“ engagierten.343 Hier behielt man jene Diktion bei, die schon im

Grundsatzprogramm angelegt war. Unvermindert präsentierte man sich als Projektions-

fläche für verschiedene, auch divergente Interessen. Die Grünen luden breit zum Mitmachen

ein, wollten keine Gruppe und kein Interesse ausschließen. Dieser konsequente Meinungs-

pluralismus brachte es aber mit sich, sich im Zweifelsfall auch für Gruppierungen mit pädo-

philen Interessen zu öffnen.

Während auf Bundesebene die Debatte also zunächst ins Vage und Ungefähre überging, wa-

342 Ebd. 343 Die Grünen, Diesmal die Grünen – Warum?, Ein Wahlaufruf zur Bundestagswahl 1983, Bonn, S. 13.

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290 ren durch Beschlüsse in mindestens vier Landesverbänden Forderungen nach einer Ver-

änderung des Strafrechts mit der Maßgabe, Pädophilie grundsätzlich zuzulassen, verbind - lich erhoben worden, ebenso in den erwähnten kommunalen Wahlprogrammen. Allerdings stellten diese Beschlüsse eine Minderheit in den Programmen jener Jahre dar. Die Schwer- punkte der Programme lagen ohnehin meist in anderen Politikfeldern. Die Grünen waren für Umweltschutz, wollten Beiträge zum Umbau der Energiewirtschaft liefern, engagierten sich gegen Straßenbau- oder Stadtsanierungsprojekte, profilierten sich mit dem Ausbau der

Krippen- und Kindertagesstätten oder traten für einen Ausbau des Gesamtschulwesens ein.

Wenn die Grünen sich umfassend zu gesellschaftspolitischen Themen äußerten, taten sie dieses am ehesten in den urbanen Zentren. Dann lag es oftmals nahe, sich auch mit Homo- sexualität zu befassen. Doch auch wenn man sich damit befasste, war es keineswegs ausge- macht, dass man deswegen auch Forderungen übernahm, deren Umsetzung dazu geführt hätte, Pädophilie nicht mehr strafrechtlich als sexuellen Missbrauch zu ahnden. In München etwa lehnte die Partei 1984 einen Vorstoß ab, sich im Wahlprogramm für eine Liberalisie- rung der §§ 174 und 176 StGB einzusetzen.344 Anderswo, wie in Braunschweig 1981, bezog man sich bei der Reform des Sexualstrafrechts ausdrücklich auf die Gleichstellung Homo- sexueller, zielte also unausgesprochen lediglich auf eine Abschaffung des § 175 StGB.345

Ähnliches ließe sich für Frankfurt sagen.346 Wieder anderswo drängten einzelne Perso- nen oder Missbrauchsopfer mit Erfolg darauf, sich nicht für die Streichung der in Rede stehenden Strafrechtsparagraphen 174 und 176 einzusetzen.347 In aller Regel gab es aber keine größere innerparteiliche Debatte und die Programmatik beschränkte sich dann darauf, die Forderungen recht geräuscharm zu übernehmen und sie darüber hinaus auch nicht in den Mittelpunkt der Wahlkampagnen zu stellen. Etwas anders verhielt sich das in West-

Berlin. Die dortige Alternative Liste, damals noch nicht formell Landesverband der Grünen

Bundespartei, übernahm wie anderswo auch eine entsprechende Wendung bereits in ihr

344 Protokoll BAG SchwuP, 18–20.5. 1984, AGG, B.II.1 Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5369. 345 Privatarchiv Bündnis 90/Die Grünen, Landesverband Niedersachsen, Ordner Dokumentation Grüne Politik, Wahlprogramme Nds. 346 Protokoll der Bundes-AG SchwuP, 16.–18.11. 1984, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980–1993) BuVo/BGSt, 441. 347 Markus Wehner, Widerstand war machbar, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.09. 2013; Jana Simon, An die Kinder hat keiner gedacht, in: Die Zeit, 17.10. 2013.

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291 Landeswahlprogramm 1981.348 Doch in der geteilten Stadt war man in jener Zeit auch be-

sonders umtriebig, Bündnispartner in dieser Frage zu finden. Dort startete man eine „Initi-

ative zur Abschaffung der §§ 174, 175, 176 mit Hilfe der AL-Fraktion im Abgeordnetenhaus“

und lud dazu verschiedene Gruppen ein, darunter die AHA, die Schwusos der SPD, zwei

gewerkschaftliche Arbeitskreise, die DSAP natürlich, sowie die AL-Gruppen für Frauen und

für Kinder.349

Für die Sattelzeit der Partei, also bis zum Einzug in den Bundestag, in die diversen Landtage

und Kommunalvertretungen, existieren somit zwar einige programmatische Fundstellen.

Die pro-pädophilen Forderungen wirken aber meist nicht sonderlich reflektiert. Vielfach

handelt es sich eben um eine Positionsübernahme von assoziierten Organisationen oder

Vereinigungen beziehungsweise um eine bloße Reproduktion aus dem Grundsatzprogramm.

Das alles mochte weder gut überlegt, noch sonderlich klug gewesen sein, doch es war inner-

parteilich wie in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Grünen, als auch in der inner-

parteilichen politischen Kommunikation eben minder relevant. Das änderte sich mit dem

Einzug in den Deutschen Bundestag 1983. Damals wurden im organisatorischen Umfeld der

Fraktion Bundesarbeitsgemeinschaften konstituiert, welche die Anbindung an Bewegun-

gen und Parteibasis sicherstellen sollten.350 Sogar noch vor der Bundestagswahl gründete

sich eine Bundesarbeitsgemeinschaft Schwule351, die sich kurz darauf den Titel „Schwule,

Transsexuelle und Päderasten“, kurz SchwuP, gab. In dieser übernehmen in den folgenden

Jahren einschlägig vorbestrafte Sexualstraftäter wie Dieter F. Ullmann zentrale Funktionen.

Wiederholt machte sich Ullmann zum Sprecher pädophiler Angelegenheiten und zwar auch

außerhalb der Grünen.352 Die SchwuP existierte auf Bundesebene, besaß in den Ländern

einige regionale Gruppierungen oder war Bezugspunkt von anders bezeichneten Arbeits-

gemeinschaften in den Ländern, die sich in erster Linie für die Anliegen der Homosexuellen

348 Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz, Wahlprogramm zu den Neuwahlen am 10. Mai 1981, Berlin, AGG, Bibliothek, Grün 044 BE-1a, 2005/D0002, S. 54. 349 Einladung, 1.2. 1982, ASM, Katalog Politische Gruppierungen/Parteien, Grüne, 2. 350 Wolfgang Ismayr, Die Grünen im Bundestag: Parlamentarisierung und Basisanbindung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 3/1985, S. 299–321, hier S. 310 351 Kurt Hartmann u. Herbert Rusche, Bericht von konstituierenden Treffen der schwulen Bundes-AG bei den Grünen und AL’s, ASM, Katalog Politische Gruppierungen/Parteien, Grüne, 1. 352 Schreiben Dieter F. Ullmann an Herbert Rusche, 13.4. 1985, AGG, B.II.1 Die Grünen Bundestagsfraktion (1983– 1990), 5628; Protokoll des 2. Koordinierungstreffens, 21.–23.3. 1986 in Köln (Vor der Gründung), HISArch, Bestand Andreas Salmen, Ordner BVH 1985-.

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292 einsetzten. Doch nicht nur die SchwuP trug dazu bei, die Debatte um das Sexualstrafrecht in der Partei wieder zu intensivieren. Auch die Arbeitsgemeinschaften für Kinder- und Jugend- politik waren darin involviert. Auch diese hatten ihren Ursprung mit dem Programm aus

Saarbrücken von 1980. Die Stadtindianerkommune aus Nürnberg warb bei jenem Partei- tag vehement für ihre Forderungen, zu denen neben der Abschaffung der Schulpflicht eben auch eine Streichung der genannten Strafrechtsparagraphen gehörte.353 Als Reaktion darauf verzichteten die Grünen auf einen Beschluss des entsprechenden Kinder- und Jugendpro- gramms im Grundsatzprogramm.354 Wie schon zum Sexualstrafrecht entstand dadurch eine

Leerstelle im Programm, die einerseits eine Projektionsfläche für alle möglichen Positionen eröffnete, andererseits nach einer organisierten Debatte verlangte, die aber ausblieb. Und so stießen die Arbeitsgemeinschaften Kinder und Jugendliche in ein thematisches Vakuum.

Die Verbindung zu den Stadtindianern

Die thematische Leerstelle in der Kinder- und Jugendpolitik bot den Aktivisten der Nürnber- ger Stadtindianer ein willkommenes Terrain, um die Grünen als ihren Bündnispartner anzu- sehen. Anfang der siebziger Jahre schlossen sich mehrere Jugendliche und Erwachsene „mit den gleichen Vorstellungen von Liebe, Leben und Überleben“355 in einer Heidelberger Kom- mune zusammen. Aus ihr entwickelte sich unter häufigem Mitgliederwechsel und Umzügen die sogenannte Indianerkommune, die ab Mitte der 1970er Jahre (wahrscheinlich ab 1976) in

Nürnberg beheimatet war. Ihren Namen legten die Kommunenmitglieder sich eigenen An- gaben zufolge als Zeichen der Solidarität mit den Indianern zu, die in ihren Augen Leidens- genossen waren. Denn „bekannt ist, daß die Indianer heute beinahe ausgestorben sind, weil die Weißen mit ihren Konsumverlockungen sie unterwandert haben. Sie setzten Zigaretten,

Alkohol, Drogen, Gold, Missionare und schließlich Pädagogen ein, um uns auszurotten.“356

So wähnte sich die Indianerkommune im Kampf gegen die „Konsumterrorgesellschaft“, die ihrer Meinung nach letztlich zum Krieg führen muss und ihren Ursprung in unterdrück-

353 Jörg Westerhoff, Gewaltfrei, in: Hans-Werner Lüdke u. Olaf Dinné (Hrsg.), Die Grünen, Personen, Projekte, Programme, Stuttgart-Degerloch 1980, S. 100–103, hier S. 102. 354 Hans-Werner Lüdke, Zur Entwicklungsgeschichte grüner Programme, in: Hans-Werner Lüdke u. Olaf Dinné, (Hrsg.), Die Grünen, Personen, Projekte, Programme, S. 204–210, hier S. 20. 355 Klaus Schuster, Schrei in die Stille, in: Plärrer 1981, S. 32 356 Rundbrief der Indianerkommune Frühjahr 1980, zit. n. Klaus Schuster, Schrei in die Stille, in: Plärrer, 6/1981

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293 ter Kinderzärtlichkeit und Kinder-Sexualität hat: „Das Recht der Kinder und Jugendlichen,

mit allen Mitteln ihrer Wahl freiwillige, gewaltfreie, zärtliche Beziehungen haben zu dürfen.

Abschaffung, das heißt ersatzlose Streichung der Paragraphen 173–176 sowie des Paragra -

phen 180. Wirksamere, eindeutigere Paragraphen gegen Vergewaltigung. Absolutes Verbot

von körperlicher, seelischer und pharmakologischer Gewalt gegen Kinder. Ein Recht für Kin-

der auf‚ Scheidung’ von ihren Eltern, Erziehern und so weiter. Sofortige Abschaffung aller

geschlossenen Heime und Anstalten für Kinder und Jugendliche. Ein einklagbares Recht

der Kinder auf Wahrung ihrer Unversehrtheit und des Brief- und Telefongeheimnisses,

Abschaffung der Schulpflicht.“357 Die Stadtindianer sahen sich ebenso als Anlaufstelle für

Ausreißer-Kinder. Der Pädagogisch-Therapeutischen Intensivanstalt (PTI) des evangelischen

Rummelsberger Jugendhilfezentrums machte die Indianerkommune heftige Vorwürfe, weil

immer wieder Kinder aus der PTI in die Indianerkommune geflohen seien und von Miss-

handlungen im Jugendhilfezentrum berichtet hätten. Unter anderem habe es in den Rum-

melsberger Anstalten eine Isolationszelle gegeben. Die Indianerkommune wurde so schnell

zu einer Institution an der Heimbefreiungsfront. In verschiedenen Städten gründeten sich

weitere ähnliche Kommunen, die ein Netzwerk aufbauten: Heidelberg, Pforzheim, Lüneburg

und Berlin sind nur einige der prominenteren Beispiele.

Ihr „pädophiler Anstrich“ sei jedoch problematisch, meinte einst das Nürnberger Stadt-

magazin Plärrer, und schrieb weiter: „Ihre destruktiven Auftritte sind stadtbekannt.“358 Die

Kommune erfuhr in der Folge zunehmende Aufmerksamkeit, was jedoch intern zu einem

Bruch führte: 1980 zog ein Großteil der weiblichen Mitglieder aus und gründete in Berlin

die „Oranien-Straßenkommune“, die sich später in „Die Kanalratten“ umbenannte.

Zwei Zäsuren begleiteten die Stadtindianer in Nürnberg: Im April 1981 wurde der Anführer

der Kommune erstmalig wegen sexuellem Missbrauch vor Gericht gestellt. 14 Monate blieb

er in Untersuchungshaft, trat zeitweilig in den Hungerstreik. Nachdem sich die Vorwürfe

gegen ihn nicht erhärteten und er freigelassen wurde, radikalisierte sich seine Weltsicht

offenbar. Das Verfahren gegen ihn betrachtete er als Politikum und sprach von einer „Ver-

357 Ebd., S. 32. 358 Gerhard Polt, Gewalt gegen Kinder, in: Plärrer, Jg. 8 (1985), H. 7, S. 18.

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294 dachtsstrafe und Gesinnungshaft“.359 Diese Wahrnehmung übertrug sich auf die Kommune.

1986 flüchteten die Stadtindianer, scheinbar zusammen mit Mitgliedern der Oranien-Stra-

ßenkommune, nach Portugal, um sich vor dem Fallout nach Tschernobyl zu schützen. In den folgenden Jahren kehrten viele von ihnen sukzessive zurück, der Aktivismus reduzierte sich dadurch jedoch merklich, wurde aber nicht gänzlich aufgegeben.

Als 1979 die Nürnberger Grünen entstanden sind, waren einige Stadtindianer von Beginn an

Mitglieder der neuen Partei und nahmen anfänglich auch regelmäßig an Diskussionen und

Treffen teil; sie waren jedoch in erster Linie daran interessiert, ihre Themen über die Grü- nen Nürnberg als Anträge in die Landes- und Bundesdelegiertentreffen einzubringen. Dort brachten die Indianer auch abseits des formellen Weges ihre Forderungen lautstark ein.360

In dieser ersten Phase gestaltete sich der Umgang mit den Kommunarden noch relativ kon- fliktfrei, man kooperierte und reichte Anträge zu den Bundes- oder Landesdelegiertenkon- ferenzen weiter. Die Kommunikation mit den Stadtindianern war indes sehr problematisch, da diese die direkte emotionale Äußerung zum Prinzip erhoben hatten – was zu Brüllatta- cken, ständigen Unterbrechungen und einer stets gereizten Stimmung führte.

Als die Nürnberger Grünen aber Anträge der Indianerkommune nicht mehr übernahmen und die Kommunarden nicht als Delegierte aufgestellt wurden, änderte sich das Verhält- nis zueinander. Die Mitglieder der Indianerkommune gingen dazu über, Veranstaltungen „zu sprengen“. Diesen destruktiven Stil pflegte die Kommune auch bei Konferenzen und Veran- staltungen der Grünen auf Bundesebene und in den Landesverbänden. Sie blockierten schon mal den Delegierten den Zugang zur Halle.361 Sie besetzten die Podien der Konferenzen und demonstrierten dort „gleichgeschlechtlichen Zärtlichkeitsaustausch“.362 Nachdem die Bun- despartei es im Herbst 1983 abgelehnt hatte, eine Broschüre der Stadtindianer zu versenden, besetzten diese die Bonner Parteizentrale.363 Der Anspruch der Grünen, gewaltfrei zu sein,

359 Harald Huter im Interview mit Ulrich Reschke, Erziehung ist immer ein Gewaltverhältnis, in: Plärrer, 1982 , S. 34 f. 360 AGG, B.I.1 Die Grünen 1980-1993 BuVo/BGSt, 6 (1). 361 Werner Freesen, Gruhls Nein traf sogar die Kinder Grünen, in: Die Welt, 24.03. 1980. 362 Ekkehard Kohrs, Kein „politischer Frühling“ bei den Grünen, in: Bonner Generalanzeiger, 24.03. 1980. 363 Schreiben der BAG SchwuP an Eberhard Walde, 13.11. 1983, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980-1993) BuVo/BGSt, 441; o.V., Spontis stürmen Büro der Grünen, in: Bonner Stadtanzeiger, 03.11. 1983; Schreiben Ursula Schwarzen- berger an „alle, die gestern die Besprechung mit der Indianer-Kommune in der Fraktion geführt haben“, 9.11. 1983, AGG, Werner Vogel, 39.

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295 stand bei all diesen Aktivitäten einer rigiden Durchsetzung des Hausrechts oft entgegen

und erleichterte es den Stadtindianern, sich Gehör zu verschaffen.364 Es würde allerdings

zu kurz greifen, dieses nur als Scheu und Nachgiebigkeit gegenüber dem rabiaten Auftreten

der Stadtindianer anzusehen. Vielmehr ging die Partei auch außerhalb Nürnbergs immer

wieder auf die Indianer zu. Verschiedene Delegierte verlangten auf den Bundesparteitagen

ausdrücklich, dass die Indianer sich lang und ausführlich äußern sollen.365 Der Landesar-

beitskreis (LAK) Homosexuelle und Transsexuelle der Grünen Bayern wandte sich gegen die

Ausschlussanträge von Stadtindianern aus der Partei.366 Der LAK Frauen der bayerischen

Grünen debattierte mit den Stadtindianern Mitte 1984 über deren Positionen, wozu der Ar-

beitskreis der Kommune in Nürnberg einen Besuch abstattete.367 Als ein Strafverfahren we-

gen sexuellem Missbrauch gegen einen Indianer lief, machte man sich in der BAG SchwuP für

eine Prozesskostenunterstützung durch die grüne Bundespartei stark.368 Und immer wieder

gab es auch Beschlüsse, den Stadtindianern Geld zukommen zu lassen. Schleswig-Holsteins

Ökofonds gewährte ihnen einen Mietkostenzuschuss in Höhe von insgesamt 735,- DM.369

Bayerns Landesverband beabsichtigte in einem Prozess gegen eine Kommunardin, der die

Verbreitung jugendgefährdender Schriften vorgeworfen wurde, Prozesskostenhilfe in Höhe

von 1.000 DM zu gewähren, wogegen sich aber der zuständige Schatzmeister verwehrte.370

Allerdings gab es auch Grenzen, die den Stadtindianern aufgezeigt wurden. Rudolf Bahro

verweigerte als Sprecher der BAG Kommunebewegung den Stadtindianern die dortige Mit-

arbeit.371 Die Kandidaturen des Indianerchefs für den Bundesvorstand der Grünen hatten

keine Chance.372 Und auch SchwuP-Chef Ullmann war im Nachgang eines Bundesparteitags

trotz einer inhaltlichen Interessenkongruenz erleichtert, dass die Stadtindianer wenig Re-

364 Jörg Westerhoff, Gewaltfei, in: Lüdke u. Dinné, S. 100–103, hier S. 102. 365 Anträge und Wortmeldungen zum Parteitag, AGG, B.I.1 Die Grünen 1980–1993 BuVo/BGSt, 10 (1). 366 Antrag des Landesarbeitskreises Homosexuelle und Transsexuelle bei den Grünen in Bayern an den Landes- vorstand, das Landesschiedsgericht und Kreisverband Nürnberg, AGG, C Bayern I, 120. 367 Schreiben von Margarete, 10.10.1984, AGG, B.II.1, Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5622 368 Protokoll der BAG SchwuP, 16.–18.11. 1984, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980–1993) BuVo/BGSt, 441 369 AfAS, 90.VIII.GRU.1.1985:15. 370 Barbara, Stadtindianer spalten Landesverband, in: taz, 16.03.1984; Protokoll der BAG SchwuP, 30.3./1.4. 1984, AGG, B.II.1, Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5360. 371 Schreiben Rudolf Bahro an Ulrich Reschke, 30.1. 1984, C Bayern I LaVo/LGSt, 269 372 Ekkehard Kohrs, Scharfer Senf, schallende Ohrfeigen und eine handfeste Prügelei, in: Bonner Generalanzei - ger, 01.04. 1985.

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296 sonanz in der Partei gefunden hatten.373 Freilich erreichten die Interventionen der Stadt- indianer374 1983 den Erfolg, dass sich die Bundespartei der Grünen immerhin veranlasst sah, einen Kongress zum Thema Kinder und Jugendliche zu veranstalten. Im Vorfeld wurden dabei auch Programmversatzstücke aus der Indianerkommune verschickt.375 Die Konferenz selber wurde jedoch zum Flop, nicht zuletzt weil die Stadtindianer dort wieder massiv und in der ihnen eigenen aggressiven Form auftraten. Zahlreiche Klagen erreichten nach der

Veranstaltung die Bundesgeschäftsstelle: Die Diskussionsatmosphäre und das Vorgehen der Stadtindianer hatten etliche Teilnehmer veranlasst vorzeitig abzureisen, mit der Folge, dass die Stadtindianer am Ende das Plenum dominiert hätten.376 Die Ergebnisse des Treffens waren insofern kaum repräsentativ für die Partei. Dennoch sahen Stadtindianer und SchwuP darin eine weitere Legitimationsgrundlage, auf welche sie sich fortan bezogen. Zudem er- schien im Bundestagswahlkampf 1983 ein Faltblatt „Zur Kinder- und Jugendfrage“377, das sich ausdrücklich positiv auf die Stadtindianer bezog. Darin wurde von „verbreiteter Sexual- feindlichkeit“ gesprochen, die es Kindern verweigere, „Sexualität zu praktizieren.“ Man kon- statierte, auch ganz auf der Linie der Beschlüsse aus den Vorjahren, dass „Gesetze in diesem

Bereich [...] nicht dem Schutz der Kinder (dienen), sondern der Unterdrückung und Diskrimi- nierung der Sexualität.“ Der Bundesvorstand der Grünen hatte auch einen Kontaktmann zu den Stadtindianern bestimmt,378 der seinerseits vereinzelt auch Treffen der SchwuP besuch- te379 und auf dem erwähnten Kinder- und Jugendkongress 1983 ein Thesenpapier vorlegte, in dem einer Freigabe des Sexualstrafrechts ebenfalls das Wort geredet wurde.380

Die Stadtindianer gingen davon aus, dass ein Kind sich auch in Fragen der Sexualität stets frei entscheiden würde, solange Erwachsene die richtige Umgangsweise mit den Kindern

373 Dieter F. Ullmann, Bundesversammlung Nürnberg, ASM, Katalog Politische Gruppierungen/Parteien, Grüne, 1. 374 Schreiben von Bernd Faller an Die Grünen Bundesvorstand, 2.3. 1983, AGG, C NRW I.1 LaVo/LGSt, 424 (3); Protokoll BAG SchwuP, 11.-13.11. 1983, AGG, B.II.1 Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5360. 375 Anschreiben Ursula Schwarzenberger als Anlage des Kreisrundbriefs Nr. 17/82 mit Programmentwurf, 8.1.1983, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980–1993) BuVo/BGSt, 23. 376 Diverse Schreiben finden sich hier: AGG, G.01 FU Berlin Spezialarchiv Die Grünen, 94 (1/2). 377 Die Grünen, Faltblatt, Zur Kinder und Jugendfrage, AGG, C NRW I.1 LaVo/LGSt, 424 (3). 378 Entwurf eines Schreibens der Bundesgeschäftsstelle der Grünen an die Landesverbände, Kreisverbände und Mitglieder der Programmkommission, o. Datum (1980), HStA Hannover, VVP 56 Acc 5/88 Nr. 54. 379 Protokoll der BAG SchwuP, 7.-9.9.1984, AGG, B.II.1 Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5360. 380 Protokoll aus Arbeitsgruppe „Sexualität“, Anhang zum Schreiben von Ursula Schwarzenberger, AGG, B.II.1 Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 3833.

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297 hätten. Dagegen vorgebrachte entwicklungspsychologisch begründete Einwände wurden

von den Stadtindianern dagegen deutlich zurückgewiesen. Die kindliche Sexualität nahm

im Gesellschaftsbild der Indianer überhaupt eine zentrale Funktion ein: Der Verlust der

frühkindlichen Liebesfähigkeit und die Unterdrückung kindlicher Sexualität wurden als

zentrale Mechanismen zur gesellschaftlichen Konditionierung angesehen, welche die ge-

walttätigen Verhältnisse überhaupt erst ermöglichen würden. Konsum als zentraler Aspekt

der kapitalistischen Gesellschaft sei nur durch emotionale Leere zu erklären, die durch die

Unterdrückung dieser Sexualität hervorgerufen werde. So seien im kurzen Umkehrschluss

alle Institutionen, die sich gegen diese hier negativ definierte Freiheit richten, Bestandteil

der systemerhaltenden Strukturen. In dieser Sichtweise sticht ein Schwarz-Weiß-Denken

hervor: Auf der einen Seite die graue und grausame Gesellschaft und die verkümmerte Se-

xualität381; auf der anderen Seite die selbstbestimmte, natürliche und gute Kindlichkeit, die

sich dem kulturellen Korsett entledigt hat und die Voraussetzung für eine zukunftsfähige

Gesellschaft darstellt. Das Verhältnis zwischen Grünen und Stadtindianern verschlechterte

sich in der ersten Hälfte der 1980er Jahre stetig. Zum endgültigen Bruch mit den Nürnber-

ger Grünen kam es 1985. Nachdem die Grünen in der ersten Koalition mit den Sozialdemo-

kraten 1985 Zuschüsse für alternative Projekte durchgesetzt hatten („Alternativtopf“), kam

es zum totalen Zerwürfnis mit den Stadtindianern, als diese einen Antrag auf finanzielle

Unterstützung stellten, der jedoch durch Interventionen einzelner Lokalpolitiker verhindert

wurde. Die Nürnberger Stadtindianer sahen in den Grünen fortan vor allem „Machtgeilheit“

und „Doppelmoral“ sowie den Verrat der Kinderrechte.

Wendepunkt: Nordrhein-Westfalen 1985

Als die Grünen die Debatte um das Sexualstrafrecht wieder verstärkt aufnahmen, war der

Wendepunkt in der innerparteilichen Debatte schnell erreicht. Die Beschlüsse des nord-

rhein-westfälischen Landesverbands im Vorfeld der Landtagswahl 1985 zeigten, welch Wir-

kung eine generelle und willkürliche Offenheit gegenüber verschiedenster Minderheiten-

381 Rainer Schädlich u. Dieter Bachnick (Red.), „…Alle Schwestern werden Brüder…“, Berlin 1986, S. 237.

90

298 positionen entfalten kann: Der sogenannte „Kindersex-Skandal“382 wurde von den Medien heftig kritisiert und diskreditierte die Grüne Partei zumindest kurzfristig in den Augen der

Mehrheitsgesellschaft. In keiner Ausarbeitung zu den Grünen, die in den folgenden Jahren erschienen ist, fehlte das Thema.383 Diese Debatten, die Veränderungen in der schwulen - politischen Agenda, in der AIDS eine wachsende Rolle spielte, und eine quälende Ausein- andersetzung in der Bundestagsfraktion über eine Gesetzesinitiative zur Abschaffung der

§§ 175 und 182 StGB wirkten hier nach.384 Letzteres schuf aus Sicht einiger Aktivisten aus der SchwuP das Gelegenheitsfenster, gleich das gesamte Sexualstrafrecht in Frage zu stellen.

Dadurch wurde die zu diesem Zeitpunkt faktisch darniederliegende Pädophiliedebatte in- nerhalb der Partei wieder aufgenommen, was aber zur Folge hatte, dass die Offenheit für entsprechende Strafrechtsreformen Mitte der 1980er Jahre zurückging. Denn im Zuge der

Debatte kamen auch die gegenteiligen Stimmen zu Wort und diese waren keinesfalls von geringem Gewicht. Der 1985 in den Bundestag nachgerückte frühere Landesgeschäftsfüh- rer der hessischen Grünen, Herbert Rusche, der sich als erster Bundestagsabgeordneter in der Geschichte des bundesdeutschen Parlaments überhaupt offen zu seiner Homosexualität bekannte, machte deutlich, dass die pädophilen Forderungen der AG SchwuP keine Basis in der Mitgliedschaft der Grünen hätten. Auch mahnte er: „Vielleicht wäre es gut für manchen

Schwulen oder Päderasten, sich das anzuhören, welche Schwierigkeiten die Frauen damit haben. So ganz lassen sich die Vorwürfe auch nicht von der Hand weisen“.385 In der Tat hatten sich bis zu diesem Zeitpunkt bei den Grünen, auch unter deren homosexuellen Aktivisten, die Positionen durchgesetzt, die bereits 1980 von der Feministin Alice Schwarzer und dem

382 Sebastian Haunss, Identität in Bewegung, Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004, S. 221; Hubert Kleinert, Vom Protest zur Regierungspartei, Die Geschichte der Grünen, Frankfurt a. M. 1992; Joachim Raschke, Die Grünen, Was sie wurden, was sie sind, Köln 1993, S. 360; Siegfried Uhl, Die Pädagogik der Grünen, Vom Menschenbild zur Familien- und Schulpolitik, München 1990, S. 60. 383 Ebd. 384 Der in den 1990er Jahren abgeschaffte § 175 StGB hatte eine Differenzierung zwischen homo- und hetero- sexuellen Handlungen mit Jugendlichen über 14 Jahren vorgenommen und galt weithin als Symbol für die Be- nachteiligung Homosexueller, zumal er bis in die 1960er Jahre Homosexualität als solche unter Strafe stellte. Beim § 182 StGB ging es seinerzeit um die „Verführung Minderjähriger“, die straffrei blieb, wenn die beiden Betei- ligten hinterher heirateten, weswegen er in seiner Ausgestaltung vielen als prüdes Relikt einer vorvergangenen Sexualmoral galt. Im Jahre 1994 ist das gesamte Sexualstrafrecht zu einer differenzierten Regelung zum sexuel- len Missbrauch Jugendlicher verändert worden. 385 Zitiert nach Haunss, Identität in Bewegung, Prozesse kollektiver Identität bei den Autonomen und in der Schwulenbewegung, Wiesbaden 2004, S. 222.

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299 Sexualwissenschaftler Günter Amendt von der DKP in einem Interview für Emma geäu-

ßert wurden.386 Beide kritisierten die pädophile Ignoranz der Machtunterschiede zwischen

Erwachsenen und Kindern, bestritten überdies, dass es bei der Pädophilie primär um Kin-

derbedürfnisse gehe, wiesen stattdessen auf die sexuelle Fixierungen von Erwachsenen auf

Minderjährige hin.

Die Pädophiliezirkel verloren jedenfalls im Laufe der 1980er Jahre kontinuierlich an Un-

terstützung im alternativen Milieu, ebenfalls in der linkspolitischen Schwulenbewegung,

die ihre ursprüngliche Solidarität durch die anfangs als gemeinsam empfundene Opferrolle

in den „Kriminalisierungsunternehmen der staatlichen Repression“ aufzugeben begann.387

Die Konstellation war also ungünstiger geworden, sich im Windschatten der Schwulen-

bewegung für die Interessen Pädophiler zu engagieren, wenngleich der 1986 gegründete

Bundesverband Homosexualität eine entsprechende Forderung noch in sein Grundsatzpro-

gramm aufgenommen hatte.388

Auch die bei den Grünen durchaus zahlreich aktiven Schwulen legten zunehmend Wert da-

rauf, mit Pädophilie nicht in Verbindung gebracht zu werden. Schon 1984 vermeldete der

baden-württembergische Landesarbeitskreis Schwule „starken Widerwillen“389 gegen eine

strafrechtliche Freigabe von Pädophilie beziehungsweise die damit verbundene völlige

Streichung des Sexualstrafrechts. Diese war jedoch innerhalb der BAG SchwuP noch mehr-

heitsfähig. Eine knappe Mehrheit hielt es dort für auskömmlich, diesen Abschnitt durch ei-

nen neuen § 240a zu ersetzen, der lediglich sexuelle Nötigung unter Strafe stellen sollte,

wohingegen die Minderheit dies für keinen hinreichenden Schutz hielt.390 Der entscheidende

Unterschied zum bestehenden Sexualstrafrecht hätte darin bestanden, dass damit ein ande-

res Rechtsgut geschützt worden wäre. Während die Paragraphen des Sexualstrafrechts die

sexuelle Selbstbestimmung schützen, wird im 18. Abschnitt des Strafgesetzbuchs, zu dem

die Nötigungsparagraphen zählen, die persönliche Freiheit geschützt. Nötigung selbst setzt

386 Vgl. Alice Schwarzer, Alice Schwarzer im Gespräch mit Günter Amendt, Wie frei macht Pädophilie?, in: Emma, 04/1980, http://www.emma.de/hefte/ausgaben-1980/april-1980/wie-frei-macht-paedophilie-1980/ [eingesehen am 29.8. 2013]. 387 Florian Mildenberger, Beispiel: Peter Schult, Pädophilie im öffentlichen Diskurs, Hamburg 2006, hier: S. 160 ff. 388 Politisches Grundsatzprogramm des BVH, 1986, HISArch, Bestand Andreas Salmen, Ordner BVH 1985-. 389 Protokoll BAG SchwuP, 18-20.5. 1984, AGG, B.II.1 Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5369. 390 Protokoll BAG SchwuP, 3.-5.2. 1984, AGG, B.II.1 Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5360.

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300 die Anwendung von Gewalt oder die Drohung mit einem empfindlichen Übel als zwingen- des Tatbestandsmerkmal voraus. Würde man an der Stelle des Sexualstrafrechts allein auf einen Nötigungstatbestand abstellen, hätte es keine Möglichkeit der strafrechtlichen Quali- fikation gegeben. Zudem wäre am Ende nicht der Geschlechtsverkehr selbst, sondern die den

Geschlechtsverkehr herbeiführende Tat strafbar geworden. Diese Handlung wäre dann zu qualifizieren. Ein Teil der Mehrheitsfraktion, hier in Gestalt eines ehemaligen DSAP-Akti- visten, vertrat dabei sogar die Auffassung, dass ein Einvernehmen vorläge, selbst wenn das

Kind verbal wie non-verbal eine ablehnende Haltung signalisierte: „Gerechtfertigt werden soll dies damit, daß diese (jungen) Menschen gar nicht beurteilen bzw. wissen könnten, dass ihnen das zunächst abgelehnte Verhalten gut tun bzw. angenehm sein könnte.“391 Selten war in der Diskussion bei den Grünen die Position derer so klar erkennbar, denen es vordergrün- dig um die Interessen der Kinder ging, die aber in Wirklichkeit ihre eigenen sexuellen Wün- sche und Neigungen auf die Kinder übertrugen.

Ehe sich die SchwuP auf ihre Position verständigt hatte, das Sexualstrafrecht zu streichen und einen § 240a StGB einzufügen, gab es im Vorfeld mehrere Vorschläge aus den Landes- arbeitsgruppen. In Hamburg plädierte die Fachgruppe Rosa Biber der GAL dafür, sexuellen

Missbrauch nur bei nachgewiesener Schädigung des Opfers unter Strafe zu stellen.392 Zur

Begründung führte man aus: „Sexuelle Handlungen, die im Einvernehmen [...] stattfinden, sind nichts Verwerfliches. Nicht die Sexualität ist zu bestrafen, sondern jede nicht einver- nehmliche gewalttätige Handlung gegen andere Menschen, also auch die in Verbindung mit Sexualität begangenen Handlungen.“393 In der BAG SchwuP hoffte man auf einen Kom- promiss mit den Frauen in der Partei, den man für möglich hielt, wenn im Gegenzug ein

Antidiskriminierungsgesetz käme.394 Doch gerade von dort kam erheblicher Widerstand. In

Hamburg verwehrte sich die Frauengruppe Wandsbek dagegen.395 Ähnliche Diskussionen zwischen SchwuP-Aktivisten und Frauengruppen hat es in Berlin und Hessen gegeben,

391 Protokoll BAG SchwuP, 3.-5.2. 1984, AGG, B.II.1 Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5360. 392 Für eine freie und vielfältige Sexualität, Diskussionsvorschlag der Fachgruppe Rosa Biber der Grün-Alter- nativen Liste Hamburg, 4.2.1984, AGG, B.II.1 Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5622, 2/2. 393 Ebd. 394 Protokoll der BAG SchwuP, 30.3.–1.4. 1984, AGG, B.II.1, Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5360. 395 Gegen eine freie und vielfälitige Sexualität, AGG, B.II.1, Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5622.

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301 jedoch anscheinend mit verminderter Intensität.396 Doch auch innerhalb der BAG SchwuP

selbst war man skeptisch, was die Strafrechtsnovelle anging. Auf der Minderheitsseite wa-

ren die beiden Vertreter aus Baden-Württemberg die Wortführer.397 Einvernehmen bestand

freilich auf beiden Seiten unvermindert darüber, dass eine Strafrechtsreform unter Ein-

schluss der Pädophilie betreffenden Paragraphen vorrangig bleibe.398 Was hier in eine Frage

der Taktik einmündete, welche Regelung man zuerst angreifen wolle, kennzeichnete auf der

Minderheitsseite einen Prozess des Meinungswechsels, der sich in den kommenden Jahren

noch verstärken würde. Nach anfänglicher Solidarität mit den Pädophilen ging man auf Di-

stanz, hielt allenfalls kleinere Reformen für denkbar, betrachtete diese aber als nachrangi-

ges Thema, ehe man schließlich zur energischen Ablehnung von Pädophilie überging. Dieser

Entwicklung entzog sich die Mehrheit der BAG SchwuP. Dort vertrat man weiterhin pädo-

phile Interessen, die sie direkt in der Bundestagsfraktion vorbringen konnte. Doch im par-

lamentarischen Raum fanden die SchwuP-Aktivisten nur wenig Resonanz. Herbert Rusche

verwies frühzeitig darauf, dass die Position zu §§ 174 und 176 StGB umstritten sei, dass

die Diskussion nicht geführt worden sei in der Partei und dass die Forderung nach Strei-

chung des gesamten Sexualstrafrechts „der 10. Schritt vor dem ersten zu sein“ scheint.399

Rusche hielt es nur „reell“ für möglich, die §§ 175 und 182 StGB aufzuheben. Darüber hinaus

sprach er sich aber auch für eine offene Diskussion für weiter gehende Positionen aus.400

In der Bundestagsfraktion richtete man daraufhin erst einmal eine Projektgruppe ein.401

Die SchwuP bekräftigte mit einer Gegenstimme und vier Enthaltungen ihre Position.402

Als man in der SchwuP feststellte, dass es auch über die Projektgruppe keine Möglichkeit

gab, ihre Position in der Bundestagsfraktion durchzusetzen, gab es erneut Streit. Ein Teil der

SchwuP plädierte dafür, die kleine Lösung, also die von Rusche als reell bezeichnete Varian-

396 Protokoll der BAG SchwuP, 30.3.–1.4. 1984, AGG, B.II.1, Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5360. 397 Protokoll BAG SchwuP, 3.–5.2. 1984, AGG, B.II.1 Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5360. 398 Protokoll BAG SchwuP, 3.–5.2. 1984, AGG, B.II.1 Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5360. 399 Anlage Herbert Rusche, Meinungsbild zum Sexualstrafrecht, AGG, B.II.1 Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5622 (2); Ähnlich argumentiert er hier: Herbert Rusche, Die Männer sind oft Technokraten, in: Brigit- te Jäger u. Claudia Pinl (Hrsg.), Zwischen Rotation und Routine, Die Grünen im Bundestag, Köln 1985, S. 180–190, hier S. 185. 400 Ebd. 401 Schreiben Hans Hengelein an AK VI, Betr. Projektgruppe Sexualstrafrecht, 10.6.1984, AGG, B.II.1 Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5622, 2/2. 402 Protokoll BAG SchwuP, 7.–9.9.1984, AGG, B.II.1, Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5360.

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302 te, zu akzeptieren. Die Mehrheit jedoch hielt dagegen: „Dem werden die alten Argumente ent- gegengehalten, daß dies eine Verschlechterung für Mädchen bedeutet, da deren Schutzalter bisher bei 14 liegt, daß dadurch kaum Prozesse weniger werden, daß die Pädos davon nichts haben, daß die Power bei noch mehr Leuten weg ist (Symbolgehalt des 175) usw.“403

Doch in der Bundestagsfraktion gab es unvermindert keine pädophiliefreundliche Mehr- heit. Also entschied sich die BAG SchwuP zu einem demonstrativen Akt und beschloss Ende

1984, sich organisatorisch von der Bundestagsfraktion zu lösen.404 Man bekräftigte die- se Entscheidung noch zwei Mal und liebäugelte damit, sich organisatorisch stärker an die

Partei anzubinden.405 Wie die Bundesarbeitsgemeinschaften organisiert werden sollten, war ohnehin im Wandel, und eine Verlagerung von der Fraktion zur Partei sollte nach der Bun- destagswahl 1987 vollzogen werden.406

In der Partei entwickelte sich im Landesverband Nordrhein-Westfalen unterdessen eine

Debatte, welche die Position der Grünen zum Sexualstrafrecht nachhaltig prägen sollte.

Die dortige Landesarbeitsgemeinschaft SchwuP legte im September 1984 einen Entwurf für das Landeswahlprogramm vor, der die Forderung beinhaltete, die §§ 174-176 StGB zu streichen.407 Die Passagen waren dabei eingewoben in längere Ausführungen zur Ausein- andersetzung um § 175 StGB und zur Diskriminierung Homosexueller insgesamt: „[D]ie

Schutzaltersgrenze [...] ist vom Gesetzgeber aufgrund längst überholter ‚wissenschaftlicher‘

Vorstellungen festgelegt worden. Zärtliche Beziehungen suchen und erwidern Kinder und

Jugendliche nicht erst wenn sie 14 Jahre alt sind, sondern vielfach schon früher. [Zeichenset- zungsfehler im Original] Deshalb darf auch der § 176 StGB nicht aufrecht erhalten bleiben.

Für die Gerichte spielt nur der Tatbestand der sexuellen Handlung eine Rolle. Nach der Qua- lität der Beziehung wird nicht gefragt.“

Im November 1984 wurde den Delegierten des Landesparteitags dieser Entwurf zuge-

403 Protokoll der BAG SchwuP, 7.9.–9.9.1984, AGG, B.II.1, Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5360. 404 Protokoll des Treffens der Bundes-AG SchwuP, 16.–18.11.1984, AGG, AGG B.I.1 Die Grünen (1980–1993) BuVo/ BGSt, 441. 405 Schreiben Dieter F. Ullmann an Bundesvorstand, 14.3. 1986, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980–1993) BuVo/BGSt, 441; Protokoll BAG SchwuP, 27./28.4. 1985, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980-1993) BuVo/BGSt, 441. 406 Protokoll Bundeshauptausschuss, AGG, B.I.1 Die Grünen (198–1993) BuVo/BGSt, 232. 407 Entwurf der LAG SchwuP für das Landeswahlprogramm NRW, AGG, C NRW I LaVo/LGSt, 1267 (1/2)

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303 leitet.408 Zur Beratung sollte es aber erst im Januar kommen.409 Die Grünen debattierten

zuvor die parteiintern hoch umstrittenen grundlegenden Fragen nach Rotation oder Ko-

alitionsbereitschaft. Doch auch die Beratung zum Papier der Landesarbeitsgemeinschaft

SchwuP war nicht minder konfliktträchtig. Man entschied auf dem Essener Parteitag Ende

Januar, eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe „Sexualität und Herrschaft“ zu bilden.410 Auf dem Lan -

desparteitag in Lüdenscheid Anfang März 1985 sollte deren Papier vorliegen. Im Vorfeld

versendete die LAG SchwuP noch eine umfassende Materialsammlung an alle Delegierten,

um für die eigene Position zu werben.411 Der dann vorgelegte Programmteil „Sexualität und

Herrschaft“ enthielt in seinem Entwurf einige in der Arbeitsgruppe umstrittene Passagen,

die auch als solche gekennzeichnet wurden.412 Die Kreisverbände Höxter, Monschau-Simme-

rath, Eschweiler, Aachen-Land und die Kreistagsfraktion Aachen-Land forderten im Vorfeld

von der Landesdelegiertenkonferenz NRW, die Passagen zu Pädophilie nicht zu beschlie-

ßen.413 Nach drei Stunden Debatte wurde der Entwurf am Sonntagmorgen dann aber als Ar-

beitspapier mit 76 zu 53 bei sieben Enthaltungen in geheimer Abstimmung angenommen.414

Im Landesverband Nordrhein-Westfalen wurde zwischen Beschlüssen zu Programmen

und Arbeitspapieren unterschieden. Programme hatten die Qualität von festgelegten Po-

sitionen des Landesverbands. Arbeitspapiere enthielten auch Passagen, die nicht oder noch

nicht Teil des Programms waren, weil sie im Landesverband umstritten sind. Das Papier

„Sexualität und Herrschaft“ sollte eigentlich als Programm verabschiedet werden.415 Am

Ende sind Teile des Papiers Beschlusstext und Bestandteil des Wahlprogramms geworden.

Unumstritten war dabei aber auch die Passage „daß einvernehmliche sexuelle Beziehun-

408 Schreiben von Ulrich Schumann, LTW-Rundbrief Nr. 5, AGG, C NRW I LaVo/LGSt, 1267 (1/2). 409 Stellungnahme des Landesvorstandes der Grünen Nordrhein-Westfalen zum Wahlausgang der Landtags- wahl am 12.5. 1985, AGG, C NRW LaVo/LGSt 01, 80. 410 Stellungnahme des OV Eschweiler, 6.2. 1985, AGG, C NRW LaVo/LGSt, 368 (2); Antrag Bernd Flury, 8.2. 1985, AGG, C NRW LaVo/LGSt, 368 (2); Stellungnahme der BAG SchwuP zu den Vorgängen um das Programm Sexualität und Herrschaft der Grünen NRW, AGG, C NRW I LaVo/LGSt, 395. 411 AGG, C NRW LaVo/LGSt 01, 395 (3). 412 Ulrich Schumann, Anschreiben an die Delegierten, 1.3. 1985, AGG, C NRW I LaVo/LGSt, 368 (2). 413 Stellungnahme des OV Monschau-Simmerath, AGG, C NRW LaVo/LGSt, 368 (2). 414 Wolfgang Kraushaar, Bewegte Männer; Reiner Burger, Ein Triumph der Päderasten, FAS, 19.5. 2013; Erklärung LAG SchwuP, 30.3. 1985, AGG, C NRW I LaVo/LGSt, 105 (3). 415 Erklärung LAG SchwuP, 30.3. 1985, AGG, C NRW I LaVo/LGSt, 105 (3); Ferner: Pressemitteilung des Kreisver- bands Die Grünen , 19.3. 1985, AGG, C NRW I LaVo/LGSt, 105 (3).

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304 gen grundsätzlich nicht kriminalisiert werden dürfen. Umstritten ist nur das WIE.“ 416 Strit- tig gestellt, aber dennoch im Status eines Arbeitspapier akzeptiert, waren dabei Passagen, wonach „gewaltfreie Sexualität [...] frei sein“ müsse, „unabhängig von Alter, Geschlecht oder anderen Merkmalen“ und die eine Streichung des Abschnitts zum Sexualstrafrecht forder- ten. Ebenfalls strittig sind jene Passagen gestellt, welche „einvernehmliche Sexualität“ als

„eine Form der Kommunikation zwischen Menschen jeglichen Alters, Geschlechts, Religion oder Rasse“ bewerten.417 Offen gehalten wurde die Frage, wie das Strafrecht reformiert wer- den sollte. Dabei wurde konkurrierend die Streichung von § 175 StGB oder die Streichung von §§ 174-176 StGB gegeneinander gestellt, beide Lösungsansätze aber im Sinne des Ar- beitspapiers akzeptiert.418Demnach waren also Teile des Papieres nicht programmatische

Aussagen der Partei, wohl allerdings akzeptierte Positionen innerhalb der Partei. Im unmit- telbaren Anschluss an die Abstimmung unterzeichneten zahlreiche Delegierte eine Erklä- rung, wonach sie „aus Sorge um unsere Kinder“ an der Altersgrenze von 14 Jahren festhielten und in Anbetracht des Beschlusses einen Arbeitskreis „Schutz für Kinder und Jugendliche“ einrichten wollten.419 Nun hatten die Grünen in ermüdenden Debatten ihr über 650 Sei- ten starkes Wahlprogramm auf mehreren Landesparteitagen beraten. Die Medienvertreter hätten die Sprengkraft des Beschlusses möglicherweise sogar übersehen, hätten sich in der spitzfindigen Differenzierung zwischen Beschluss und Arbeitspapier wohl verloren und rasch den Überblick verloren. Doch ein anwesender Vertreter des SPD-Landesverbands witterte die Chance zur Skandalisierung.420 Die Sozialdemokraten, die wegen der Grünen um ihre 1980 erstmals errungene absolute Mehrheit fürchteten, hatten daran ein veritables

Interesse. Und die Medienvertreter zwischen Rhein und Ruhr griffen den Beschluss begierig auf. Das verheerende Medienecho421 und massive Proteste aus zahlreichen Kreisverbänden422

416 Betrifft Sexualität und Herrschaft, AGG, C NRW I LaVo/LGSt, 105 (3). 417 Ebd. 418 Ebd. 419 Pressemitteilung des Ortsverbands Neukirchen-Vluyn, 11.3. 1985, AGG, C NRW I LaVo/LGSt, 105 (3); Persön- liche Erklärung zum verabschiedeten Programmteil „Sexualität und Herrschaft“, C NRW LaVo/LGSt, 105 (3). 420 O.V., Willkommener Wahlkampfschlager für die SPD, in: taz, 11.03. 1985. 421 Martin Dannecker sprach bemerkenswerterweise davon, dass „Kübel von Sud“ über die Grünen ausgegossen worden seien, obwohl seiner Meinung nach die Thesen „diskussionswürdig, wenn nicht gar vernünftig seien“. Mar- tin Dannecker, Bemerkungen zur strafrechtlichen Behandlung der Pädosexualität, in: Herbert Jäger u. Eberhard Schorsch (Hrsg.), Sexualwissenschaft und Strafrecht, Stuttgart, S. 71–83, hier S. 82. 422 Siehe die diversen Schreiben in: AGG, C.I.1 NRW LaVo/LGSt 01, 105 (3).

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305 veranlassten den Landesvorstand, den Landeshauptausschuss einzuberufen.423 Dort ent-

schied man sich, die Beschlüsse von Lüdenscheid zunächst auszusetzen und eine neuerliche

Landesdelegiertenkonferenz einzuberufen, um den Beschluss auch in formaler Hinsicht zu

korrigieren.424 Das Einladungsschreiben an die Delegierten sparte nicht mit Appellen hin-

sichtlich der Wichtigkeit der Konferenz und der Erfordernis, den Beschluss zu ändern.425

Am 30.3.1985 folgten die Delegierten dann bei einer Gegenstimme und nach heftigster Aus-

einandersetzung mit den angereisten Stadtindianern der Linie des Landeshauptausschus-

ses.426 Es war „die Stunde der Spinner und Psychopathen“, wie der Zeit-Autor Gerd Spörl

schrieb. „Ein älteres Mitglied schreit ins Mikrophon: ‚Nehmt Kontakt auf zu Eurem Unterbe-

wußtsein. In jedem von uns steckt ein Mörder, ein Pädophiler, eine Prostituierte.‘ Hysterisch

schreiende Frauen belagern das Podium. Kinder und Jugendliche vermummt mit roten und

schwarzen Kapuzen, steigen auf den Präsidiumstisch. Die Nürnberger ‚Stadtindianer‘, eine

Kommune, in der offensichtlich psychisch gestörte und verwahrloste Kinder mit Erwachse-

nen zusammenleben, legen den Parteitag lahm. Niemand weiß, wie man sie loswerden soll.

Die Polizei oder – sinnvoller - die Psychologen zu holen, fällt keinem ein.“427

Die Auseinandersetzung in Nordrhein-Westfalen hatte mutmaßlich mit zum Scheitern

an der 5%-Hürde bei der Landtagswahl 1985 beigetragen. Einige Aktivisten der Landes-

arbeitsgemeinschaft SchwuP zogen sich daraufhin aus der Partei zurück428 und auch für

die BAG SchwuP wurde es zunehmend schwierig. In der Bundestagsfraktion wurde eine

Arbeitsgruppe Kinderschutz eingerichtet, um bewusst einen Kontrapunkt in der Debatte zu

setzen429, und gegenüber der Bundesarbeitsgemeinschaft SchwuP wird in einem Gespräch

423 Presseerklärung der Grünen NRW, 11.3. 1985, AGG, C.I.1 NRW LaVo/LGSt 01, 105 (3). 424 Protokoll des Landeshauptausschusses in Dortmund, AGG, C.I.1 NRW LaVo/LGSt 01, 105 (2). 425 Michael Happe u. Ingrid Maas für Die Grünen Landesvorstand NRW, Rundschreiben für die Delegierten zur Landesdelegiertenkonferenz, AGG, C NRW I, LaVo/LGSt, 1267 (1/2). 426 O.V., Altersschutzgrenze für Kinder und Jugendliche, in: taz, 01.04. 1985; Ekkehard Kohrs, Scharfer Senf, schallende Ohrfeigen und eine handfeste Prügelei; Lothar Bewerunge, Ein nicht gewaltfreier Parteitag, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.04. 1985. 427 Gerd Spörl, Die lange Schonzeit läuft ab, in: Die Zeit, 05.04. 1985. 428 Holger Majchrzak, SchwuP und weg, in: Guckloch Nr. 5/1985, S. 22–23; Schreiben von Frode Kaiser an Leser- briefverantwortlichen bei der Taz und an die Grünen NRW, 01.04. 1985, ASM, Katalog Politische Gruppierungen/ Parteien, Grüne, 1. 429 Gesprächsvermerk „Kinderschutzgruppe“, Unter-AG des AK III, AK-übergreifend, AGG, B.II.1 Die Grünen Bun- destagsfraktion (1983–1990), 3835.

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306 nochmals die Ablehnung ihrer Position deutlich gemacht.430 Bereits formulierte Positionen mit ähnlicher Intention wie im SchwuP-Papier in Nordrhein-Westfalen wurden daraufhin in den Landesverbänden Baden-Württemberg und Bayern zurückgedrängt und gelangten nicht in die Wahlprogramme.431 Einzelne Landes- und Kreisverbände forderten, sich von den

Pädophilieaktivisten zu trennen.432 In der Parteizeitschrift Grüner Basisdienst und in der

Bundestagsfraktion wurde das Thema sexueller Missbrauch aufgegriffen.433 Ins Programm der Grün-Alternativen Liste in Göttingen gelangte zur Kommunalwahl 1986 zwar noch eine hochgradig missverständliche Forderung, diese wollte indes nicht das absolute Schutz- niveau des § 176 StGB aufweichen.434

Mit pädophiliefreundlichen Positionen wollte man sich nicht mehr gemein machen. Einzelne

Landes- und Kreisverbände forderten gar, sich von den Pädophilieaktivisten zu trennen.435

Die SchwuP in Nordrhein-Westfalen hielt das für eine homophobe Attacke436 und versuchte so an den alten Minderheitendiskurs anzuschließen, was ihr aber nicht mehr so recht gelang.

Der Diskurs in der Partei hatte sich verändert. Attacken der SchwuP auf Bundesebene, in

Nordrhein-Westfalen und Hessen, sowie des Schwulenbereichs der Berliner AL gegen den im Grünen Basisdienst laufenden Diskurs zum sexuellen Missbrauch437 blieben folgenlos und zwar in einem doppelten Sinne. Man sah sich nicht bemüßigt, in irgendeiner Weise auf die SchwuP zu reagieren.

430 Josef Boyer/Helge Heidemeyer, Quelle zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Band 14/II, Die Grünen im Bundestag, Sitzungsprotokolle und Anlagen, Düsseldorf 2008, S. 814. 431 Protokoll des LAK Homosexuelle und Transsexuelle, 22./23.06.1985, AGG, C Bayern I LaVo/LGSt, 120; An- tragsbuch zur Landesversammlung, 10.-12.5.1985, Zusendung Bündnis 90/Die Grünen Bundesgeschäftsstelle; Protokoll des LAK Homosexuelle und Transsexuelle LV Bayern, 18.05. 1985, AGG, C Bayern I, 120. 432 Schreiben Lutz Schmelzer an Landesgeschäftsstelle der Grünen NRW, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980-1993) BuVo/BGSt, 441; Erklärung des Landesvorstands der Grünen Niedersachsen. 02.07. 1985, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980-1993) BuVo/BGSt, 441; Antrag des Kreisverbands, unterzeichnet von Peter Tolkien, 30.08. 1985, AGG, C NRW I LaVo/LGSt 01, 105 (2). 433 Gudrun Kern, Ein mehr als zweifelhafter Genuß, in: Grüner Basisdienst 4/1985, S. 45; Schreiben von Sabine Bard an alle Mitglieder der Fraktion vom 23.05. 1985 sowie handschriftliche Bitte an Dagmar Kempf o. Datum., AGG, B II.1 Die Grünen Bundestagsfraktion (1983–1990), 5628. 434 Programm der Grün-Alternativen Liste, GAL Göttingen, Privatarchiv Landesverband Niedersachsen Bündnis 90/Die Grünen, Ordner Dokumentation Grüne Politik Wahlprogramme Nds. 435 Schreiben Lutz Schmelzer an Landesgeschäftsstelle der Grünen NRW, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980-1993) BuVo/BGSt, 441; Erklärung des Landesvorstands der Grünen Niedersachsen. 02.07. 1985, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980-1993) BuVo/BGSt, 441; Antrag des Kreisverbands, unterzeichnet von Peter Tolkien, 30.08. 1985, AGG, C NRW I LaVo/LGSt 01, 105 (2). 436 Erklärung LAG SchwuP, Zum Antrag Minden betreffs Päderastie, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980–1993) BuVo/ BGSt, 441. 437 Stellungnahme der BAG SchwuP, der LAG SchwuP NRW, des AL-Schwulenbereich, der LAG Schwule Hessen, Kindliche Erfahrung mit Pädophilen?, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980–1993) BuVo/BGSt, 441, gleichlautend zu finden unter: AGG, B.I.1 Die Grünen (1980–1993) BuVo/BGSt, 186.

99

307 Nachdem die Bundesdelegiertenversammlung im Mai 1986 dann Forderungen der BAG

SchwuP für das Wahlprogramm zur Päderastie abgelehnt hatte, stellte man in deren Reihen

ein wenig frustriert fest: „Die BAG Schwup ist programmatisch geschwächt, weil u.a. die

Frauen als Parteimacht stärker und wirkungsvoller agieren können. Deren Positionen zum

Thema ‚Sexualstrafrecht‘ scheinen unversöhnlich gegensätzlich zu unseren Vorstellungen,

Ein Austausch oder eine Diskussion zum Thema findet nicht statt.“438 Die SchwuP war inner-

parteilich isoliert, gleichzeitig war mit dem Thema AIDS ein neues, drängendes schwulenpo-

litisches Thema entstanden. Als nach der Bundestagswahl 1987 die Bundesarbeitsgemein-

schaften neu organisiert werden sollten, wetteiferten die bisherige BAG SchwuP und der

Landesarbeitskreis Schwule der Grünen Baden-Württemberg darum, eine entsprechende

Struktur für Schwulenpolitik durchzusetzen. Während die BAG SchwuP ihre bisherige Ar-

beit als Arbeitsgemeinschaft der Partei fortsetzen wollte,439 unterbreiteten die Baden-Würt-

temberger dem Bundeshauptausschuss Vorschläge, die Schwulenpolitik bei den Grünen an-

ders zu organisieren und sich dezidiert von der BAG SchwuP zu trennen. Den Protagonisten

der SchwuP, allen voran Dieter F. Ullmann, dämmerte, dass das starke Engagement Baden-

Württembergs es endgültig unmöglich machen würde, die pädophilen Positionen überhaupt

irgendwann wieder einzubringen, schließlich galt der Arbeitskreis der Südwest-Grünen als

„jedes Pädoismus unverdächtig“.440 Am Ende hatte die von Volker Beck in seiner Eigenschaft

als Sprecher des baden-württembergischen Arbeitskreises eingebrachte Initiative Erfolg.441

Exkurs: Volker Beck: Promotor der Wende?

Der spätere Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion von Bündnis

90/Die Grünen, Volker Beck, hat sich in der jüngeren Gegenwart dennoch für sein einstiges

Agieren in der Pädophiliedebatte rechtfertigen müssen. Am weitesten reichen die Anschul-

438 Protokoll BAG Schwup vom 28.–30.06.1986, AGG B.I.1 Die Grünen (1980–1993) BuVo/BGSt, 441. 439 Schreiben an BHA von BAG Schwup, namentlich Dieter F. Ullmann, 5.11. 1986, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980– 1993) BuVo/BGSt, 441-. 440 Dieter F. Ullmann, Der Anfang lag im Deutschen Herbst, in: BVH Magazinchen, Nr. 4/1989, S.66–78, S. 76. 441 Antrag LAK Schwule an BHA, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980–1993) BuVo/BGSt, 441; BAG Schwulenpolitik, Gün- ter Dworek, Anerkennung der BAG Schwulenpolitik, Antrag an Bundeshauptausschuss, 20.06. 1987, AGG, B.I.10 Bündnis 90/Die Grünen BuVo/BGSt, 600.

100

308 digungen, Beck sei Sprecher der BAG SchwuP gewesen. 442 Beck ist Mitglied der Grünen seit

1985. Die Liste der Koordinatoren seit Ende 1984 ist gut dokumentiert.443 Sein Name fin - det sich darauf ebenso wenig wie in den Adresslisten der Arbeitsgemeinschaft. Auch eine von der SchwuP erstellte Referentenliste für die anstehende Bundestagswahl 1987, die an alle Landesgeschäftsstellen versendet werden sollte, kommt ohne Becks Namen aus.444 Eine

Funktion in der SchwuP hat Beck somit anscheinend nicht ausgeübt.

Auch eine relevante Mitarbeit in der Arbeitsgemeinschaft lässt sich nicht rekonstruieren.

Nun sind die Protokolle nicht immer mit einer Anwesenheitsliste versehen worden. Aller- dings findet sich sein Name auch nicht anderweitig in den Protokollen. Hinzu kam, dass in der Regel andere den Landesverband Baden-Württemberg, dem Beck zu diesem Zeitpunkt angehörte, in der SchwuP vertreten haben. Lediglich für die Sitzung am 5.9.1986 ist ver- brieft, dass Beck daran teilgenommen hat. Er berichtete dort über die laufenden Debatten im Landesarbeitskreis Schwule der Grünen in Baden-Württemberg. Entscheidend ist aber, dass diese Sitzung stattfand, nachdem man im Südwesten am 31.7.1986 beschlossen hatte, sich von der SchwuP zu lösen und dorthin keinen Vertreter mehr zu entsenden.445 Deswegen nahm Beck ausdrücklich nur als Gast teil und wird im Protokoll sogar an einer Stelle als „be- obachtender Gast“ tituliert. 446 Beck war zudem auch nur an einem der beiden Sitzungstage anwesend, vor allem anscheinend, um den Sachstandsbericht über die Position seines Lan- desverbands hinsichtlich der Reorganisation der Schwulenpolitik bei den Grünen abzuge- ben. Die Position der Baden-Württemberger war ausdrücklich mit der Strafrechtsdebatte in der SchwuP begründet worden, weil diese auch die Wahlaussage zur Bundestagswahl 1987,

„Streichung des § 175 StGB“, konterkariert habe.447

Strittig ist seine Rolle als Mitglied beziehungsweise Vorstandsmitglied des Bundesverbands

442 Susanne Klaiber, Bricht der Pädophilie-Skandal den Grünen das Genick?, in: Focus, 24.07. 2013, online ein- sehbar unter http://www.focus.de/politik/deutschland/tid-32514/kritik-kurz-vor-der-bundestagswahl-bricht- der-paedophilie-skandal-den-gruenen-das-genick_aid_1052339.html, 24.7.2013 [eingesehen am 21.08. 2013]. 443 BAG SchwuP, Rundbrief Nr. 12, 19.09. 1986, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980–1993) BuVo/BGSt, 441. 444 Schreiben von Dieter F. Ullmann an Die Grünen Landesgeschäftsstellen und Wahlkampfkommissionen, 09.09. 1986, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980–1993) BuVo/BGSt, 441. 445 Erwiderungschreiben Ralf Harth an Stefan Schilde, 30.07. 1986, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980–1993) BuVo/ BGSt, 441. 446 Protokoll BAG SchwuP, 05./06.09. 1986, AGG, B.I.1, 441. 447 Antrag LAK Schwule an BHA, AGG, B.I.1 Die Grünen (1980–1993) BuVo/BGSt, 441.

101

309 Homosexualität in den Jahren 1989 und 1990.448 Der Verband hatte sich in seinem 1986 ver-

abschiedeten Grundsatzprogramm unter anderem für eine Abschaffung des § 176 StGB aus-

gesprochen, weil dieser „selbst solche sexuellen Beziehungen zu unter 14-jährigen“ krimi-

nalisiere, „die von den Beteiligten gewollt und deshalb nicht strafwürdig sind.“449 Die Frage,

ob und vor allem wie man sich für die Belange Pädophiler einsetzen sollte, war gleichwohl

im BVH von Anfang an umstritten.450 Wiederholt gab es im BVH Kontroversen, wie man mit

Arbeitsgruppen zum Thema Pädophilie umgehen sollte. Im Beirat des BVH kam es im Juli

1989 zu einem lebhaften Streit, weil sich in Dortmund die örtliche Mitgliedsgruppe des BVH

geweigert hatte, eine solche Gruppe in ihren Räumen tagen zu lassen. Mehrheitlich kritisier-

te das der Beirat, allerdings legten zwei enge Vertraute Becks, Günter Dworek und Manfred

Bruns, dagegen ein Minderheitenvotum vor.451 Die mangelnde Bereitschaft einer Bremer

Schwulenzeitung, einer Pädophiliegruppe Platz einzuräumen, wertete der Vorstand 1989

als „Pädo-Feindlichkeit“.452 Beck gehörte zu diesem Zeitpunkt zwar dem Vorstand an, war

allerdings in der Sitzung nicht anwesend, die diesen Beschluss fasste.

Immer wieder werden Zweifel geäußert, ob Beck sich von solchen und ähnlichen Positionen

in jener Zeit distanziert hätte.453 Fest steht, dass es innerhalb des Vorstands eine grundle-

gende inhaltlich-strategische Konfliktlinie gab454, bei der Beck zur Minderheit gehörte und

sich deswegen auch im Frühjahr 1990 eines Abwahlantrags zu erwehren hatte.455 Er hatte

überdies den Versuch unternommen, eine Resolution des Verbands zur deutschen Einheit456

so zu deuten, dass mit dieser der „ideologische Ballast der Uraltforderung nach Abschaffung

des Sexualstrafrechtes“ ad acta gelegt sei.457 Seine Zufriedenheit darüber, die ja ihrerseits

448 Ann-Katrin Müller u. Christian Teevs, Das grüne Gedächtnis, in: Der Spiegel , 23.09. 2013, S. 34–35, hier S. 35. 449 Politisches Grundsatzprogramm des BVH, 1986, HISArch, Bestand Andreas Salmen, Ordner BVH 1985-. 450 Für die Gründungszeit: Protokoll des 2. Koordinierungstreffens, 21.-23.3.1986 in Köln (Vor der Gründung), HISArch, Bestand Andreas Salmen, Ordner BVH 1985-; exemplarisch die Kontroverse zwischen Back und Dworek 1988/89: Gernot Back, Thesen zum sogenannten Sexualstrafrecht, in: BVH Magazin, Nr. 8/1988, S. 6–10; Günter Dworek, Kritik der sog. Thesen zum Sexualstrafrecht, in: BVH Magazin, Nr. 1/1989, S. 23–25. 451 Protokoll BVH-Beirat 08.-09.0.7. 1989, HISArch, Bestand Andreas Salmen, Ordner BVH 1985- 452 Protokoll BVH-Vorstand, 04.03. 1990, HISArch, Bestand Andreas Salmen, Ordner BVH 1985-. 453 Leserbrief von Sabine Mehlem und Jürgen Wolff, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.09. 2013. 454 Stefan Etgeton, Epitaph auf die Schwulenbewegung, in: taz, 08.08. 1989. 455 Protokoll Mitgliederversammlung BVH, 21./22.04. 1990, HISArch, Bestand Andreas Salmen, Ordner BVH 1985-. 456 Schwule und die Vereinigung von DDR und BRD, in: BVH-Magazin Nr. 3/1990, S. 6. 457 Volker Beck, Die Richtung stimmt!, in: BVH-Magazin Nr. 3/1990, S. 2–3.

102

310 seine distanzierte Haltung zum Thema bekräftigte, blieb nicht ohne Widerspruch.458

Auf offene und eindeutig erkennbare Distanz ging Beck zudem 1993, als er einer der Bun- dessprecher des damaligen Schwulenverbands SVD (des heutigen LSVD) geworden war.459

Der SVD war eigentlich eine Gründung in der DDR. Der aus dem BVH stammende Flügel um

Dworek, Bruns und Beck schloss sich dem Verband an und betrieb aktiv dessen Ausweitung auf Westdeutschland und stellte somit bis zu dessen Auflösung ein Gegengewicht zum BVH dar. Ein entscheidender Unterschied zum BVH war dabei die Abgrenzung zu Pädophilen.460

Im BVH hatte es nach Becks Ausscheiden aus dem Vorstand hingegen verstärkt Aktivitä- ten gegeben, sich für die Belange Pädophiler einzusetzen. Dazu wurde eine Broschüre zum

Thema geplant461, eine Arbeitsgemeinschaft Pädophilie eingerichtet und eine regelmäßige

Pädophilenseite ins Mitgliedermagazin aufgenommen.462

Beck kann in Bezug auf die Entwicklung vom BVH zum SVD schwerlich eine wachsen- de Distanzierung in Abrede gestellt werden. Es bleibt somit substanziell nur ein Vorwurf

übrig: Beck wird als Autor des 1988 erschienenen Beitrags „Das Strafrecht ändern? Plädo- yer für eine realistische Neuorientierung der Sexualpolitik“463 geführt, der für eine Entkri - minalisierung des Sexualstrafrechts plädiert. Dabei werden aber ausdrücklich nicht jene

Argumente akzeptiert, die von einem „angeblich essentialistisch beim Kind vorhandene(n)

Bedürfnis nach Sexualität“ ausgehen. Eine mögliche Reform des Schutzalters oder eine

Strafabsehensklausel wird an drei Bedingungen geknüpft. Die erste ist ein sexualpolitisches

Klima, welches eine solche Debatte zuließe. Die zweite – als eindeutige Conditio sine qua non formuliert – ist die vorherige Abschaffung des seinerzeit Homosexuelle diskriminierenden §

175 StGB.464 Damit einher geht drittens, dass weder das Sexualstrafrecht ganz beseitigt wer- den noch dass es eine völlige Aufgabe des Schutzalters geben soll. Die Pflicht, eine neue Re-

458 Ralf Dorschel, Den Weg in den Arsch der Rechten erkämpfen, in: BVH-Magazin Nr. 3/1990, S. 3; Wolfram Setz, Was stimmt noch für V.B.?, in: BVH-Magazin Nr. 3/1990, S. 4. 459 Burghard Richter, Der SVD antwortet dem VSG, ohne Datum (1993), ASM, Katalog Deutsche Städte, München: VSG. 460 Ralf Dorschel, Die netten Homos von nebenan, in: BVH-Magazin, Nr. 2/1991, S. 27–28. Wolfram Setz, SVD gegen BVH, in: BVH-Magazin, Nr. 2/1991, S. 29–30. 461 Schreiben von Fritz (Kröhnke?) an Vorstand und Beirat des BVH, 22.10. 1990, HISArch, Bestand Andreas Salmen, Ordner BVH 1985-. 462 Paul und Wolfgang, Arbeitsgemeinschaft Pädophilie, in: BVH-Magazin, Nr. 4/1991, S. 19–20. 463 Angelo Leopardi (Hrsg.), Der Pädosexuelle Komplex. Handbuch für Betroffene und ihre Gegner, Berlin 1988, S. 255–268. 464 Ebd., S. 264

103

311 gelung fundiert zu begründen, wird zugleich an jene zurückgespielt, die auf eine Änderung

drängen. Als wenig pädophilenfreundlich nahm das Dieter F. Ullmann in einer Rezension des

Sammelbands auf.465

Beck bestreitet nicht, einen solchen Beitrag abgefasst zu haben und hat sich auch wiederholt,

frühzeitig und deutlich von den strittigen Thesen in dem Beitrag distanziert.466 Allerdings

verweist er im gleichen Atemzug regelmäßig darauf, dass der Beitrag ohne sein Wissen re-

digiert und dann veröffentlicht worden sei. Deswegen sei es auch zum Rechtsstreit mit dem

Verlag gekommen und er habe seinerzeit eine weitere Auflage zu verhindern versucht, dar-

über existierten jedoch keinerlei Unterlagen. Auch ein anderer Autor hat dem mittlerweile

verstorbenen Herausgeber des Werkes ähnliche Vorwürfe gemacht467 und dadurch Becks

Argumentation gestützt.

Im Archiv Grünes Gedächtnis der Heinrich-Böll-Stiftung findet sich die Kopie eines nicht

ganz vollständigen Manuskripts dieses Beitrags.468 Abgesehen von geringfügigen redakti -

onellen Änderungen ist das Manuskript identisch mit dem abgedruckten Text. Verändert

worden ist der einleitende Absatz, wobei es keine inhaltliche oder sinnverändernde Um-

formulierung gegeben hat, eine Zwischenüberschrift wurde vereinfacht, ein unbedeuten-

der Nachsatz („und die Revolution, na ja…“) gestrichen, ein Semikolon durch einen Gedan-

kenstrich ersetzt und ein Rechtschreibfehler, sowie ein typographischer Fehler korrigiert.

Ansonsten sind in dem Manuskript vorgenommene handschriftliche Korrekturen, die

Einfügung eines einzelnen Wortes („gerade“) oder auffällige Rechtschreibfehler auch in der

Buchfassung zu finden. Anders ausgedrückt: Bei dem Manuskript handelt es sich anschei-

nend um die eingereichte Fassung.

Volker Beck hat in der Zwischenzeit eingeräumt, dass es sich um das Originalmanuskript

handle, jedoch die Veränderung der Überschrift und der Zwischenüberschrift zum Anlass

genommen, seine Position nochmals zu stützen, dass gegen seinen Willen das Manuskript

465 Dieter F. Ullmann, Der pädosexuelle Komplex, in: Rosa Flieder, Nr. 62, Dezember 1988/Januar 1989, S. 40. 466 Volker Beck, Sexuellen Missbrauch bekämpfen. volkerbeck.de, 06.06. 2006, online einsehbar unter http://www.volkerbeck.de/artikel/060606-sexuellen-missbrauch-bekaempfen/ [eingesehen am 21.08. 2013]. 467 Matthias Kamann, Beistand für Volker Beck im Pädophilie-Streit, in: Die Welt, 26.05.2013, online einsehbar unter http://www.welt.de/politik/deutschland/article116529890/Beistand-fuer-Volker-Beck-im-Paedophilie- Streit.html [eingesehen am 09.08. 2013]. 468 AGG, G.01 FU Berlin, Spezialarchiv „Die Grünen“, 97.

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312 verändert worden und dadurch seine kritische Position konterkariert worden sei.469 Frei- lich fallen die Veränderungen der Überschriften inhaltlich nicht ins Gewicht. Die eigentlich schwierigen und problematischen Aussagen sind ohnehin im Fließtext zu finden. Weit über- wiegend und vor allem hinsichtlich seiner zentralen inhaltlichen Aussagen ist das Manu- skript also identisch mit der Druckfassung. Alles in allem spricht sehr viel dafür, dass sich

Beck den im Sammelband abgedruckten Beitrag und die zentralen Aussagen zurechnen las- sen muss.

Allerdings legt Beck auch Wert darauf, dass er den Text nicht autorisiert habe. Wenn – ganz gleich aus welchem Grund – eine solche Autorisierung des Textes nicht vorlag, so kann man ungeachtet der Existenz des Manuskripts und seiner Deckungsfähigkeit zum gedruckten

Text Beck noch zugutehalten, dass er die aufgeschriebenen Wendungen ursprünglich dann doch nicht publiziert wissen wollte. Man mag die von Beck getätigten Gedankenspiele miss- billigen, aber dann wäre nicht beabsichtigt gewesen, sie zu veröffentlichen.

Während also die Vorwürfe an Beck bezüglich seiner Verbindung zur SchwuP haltlos oder unberechtigt erscheinen, seine Arbeit im BVH in Verbindung mit seinem Engagement im

SVD eine Distanzierung von pädophilen Forderungen erkennen lässt, ist sein Artikel aus dem Jahr 1988 nicht unproblematisch. Er übernimmt darin zwar ausdrücklich nicht die Ma- ximalposition aus der Pädophilenbewegung, kommt dieser jedoch ein Stück entgegen, wobei er das an eine Reihe von Voraussetzungen knüpft. Die entscheidende Frage ist nunmehr daher nicht die Urheberschaft des Textes selber, sondern, ob der Autor tatsächlich die Veröf- fentlichung nicht autorisiert hat, was gegenwärtig nicht zu klären ist.

Trennung von SchwuP

Als sich die grüne Bundespartei mit der Gründung einer „Bundesarbeitsgemeinschaft

Schwulenpolitik“ endgültig von der bisherigen AG SchwuP löste, erkannte der Spitzenkader der Pädophiliebewegung, Dieter F. Ullmann, wütend die Niederlage seiner Gruppe an und warf der Alternativ- und Ökobewegung „15 Jahre Distanzierungstango“ in der „Pädofrage“

469 Thorsten Knuf, Nach Jürgen Trittin nun Volker Beck, in: Frankfurter Rundschau, 19.09. 2013, online einsehbar unter http://www.fr-online.de/bundestagswahl---hintergrund/gruene-und-paedophilie-debatte-nach-juergen- trittin-nun-volker-beck,23998104,24376272.html [eingesehen 20.09. 2013].

105

313 vor. 470 Auch wenn das für die zurückliegenden Jahre ein wenig übertrieben war, markierte

es das politische Scheitern dieser Richtung auch und gerade innerhalb der Grünen Partei zu

diesem Zeitpunkt treffend.

Seit der öffentlichen Auseinandersetzung um den Beschluss in Nordrhein-Westfalen war

die Partei sensibilisiert. Eine Wendung zur Abschaffung oder Aufweichung der §§ 174 und

176 StGB ließ sich kaum noch in ein Wahlprogramm einbringen. Allerdings darf diese Ent-

wicklung nicht darüber hinwegtäuschen, dass pädophile Positionen bei den Grünen weiter-

hin vertreten wurden, wenngleich sie zum Leidwesen der Aktivisten eben nicht mehr mehr-

heitsfähig waren471 oder auf Kritik und korrigierenden Widerspruch stießen.

Im August 1987 stellte der Bundesvorstand eine Broschüre zur Jugendpolitik vor. In dieser

wurde zwar auf die Opfer sexueller Gewalt eingegangen, zugleich aber auch gefordert, dass

„sexuell abweichende Lebensformen“ weder ausgegrenzt noch kriminalisiert werden dürf-

ten, woraus schließlich die Forderung abgeleitet wurde, dass Kinder und Jugendliche „ihre

Sexualität frei von Angst entwickeln können“ sollten und dass in „der öffentlichen Erzie-

hung [...] abweichende Formen der Sexualität nicht länger diskriminiert werden“ dürften. 472

Die gewählte Formulierung war nach den vorherigen Debatten in der Partei mindestens

missverständlich und auch die Präsentation der Broschüre in Anbetracht dessen ebenfalls

missglückt, wie einer der Autoren der Broschüre freimütig einräumte.473 Auf jeden Fall gab

es Kritik an dem Text: Der Jugendbereich der AL Berlin, die Grünen Hessen und andere be-

schwerten sich darüber.474

Die Bereitschaft zum Widerspruch und die Reflexionsfähigkeit der Partei hatten

zugenommen, was auch am Landesarbeitskreis Kinder und Jugendliche Baden-Württemberg

deutlich wird. Dieser war 1985 nach dem Landesparteitag noch irritiert darüber, wie wenig

Verständnis man seiner Position entgegen gebracht hatte. Als er jedoch begann, sich mit

470 Dieter Ullmann, 15 Jahre Distanzierungstango. Die Pädofrage, in: Rosa Flieder 6/1988. 471 Kurt Hartmann u. Manfred Herzer, Thesen zur grünen Schwulenpolitik 1987ff, ASM, Katalog Politische Gruppierungen/Parteien, Grüne, 3. 472 Die Grünen, Alles verändert sich, wenn du es veränderst, Broschüre zur Jugendpolitik, AGG, A Joachim Raschke, 38; Siegfried Uhl, Die Pädagogik der Grünen, Vom Menschenbild zur Familien- und Schulpolitik, Mün- chen 1990, S. 60. 473 Markus Schnapka, Stellungnahme zum grünen Streit um die Jugendbroschüre, Gegen autoritäre Total- zensur, 07.09.1987, AGG, C NRW I.1 LaVo/LGSt, 10. 474 Eva Quistorp, Jugendpolitik der Grünen nur für und mit wenigen Jugendlichen?, 09.09.1987, AGG, C NRW I.1 LaVo/LGSt, 10.

106

314 der Arbeit des Opferhilfevereins Wildwasser auseinanderzusetzen, gelangte man zu der Er- kenntnis, dass man möglicherweise „bisher von falschen Voraussetzungen ausgegangen“475 war und mithin die bisherigen Positionen überdenken müsse. Die Grundsatzdebatte darüber schob man noch ein wenig vor sich her.476 In Hinblick auf das Programm zur Landtagswahl in Baden-Württemberg 1988 gelangte man aber zu der Erkenntnis, dass eine Beibehaltung der Schutzaltersgrenze in § 176 StGB „zum gegenwärtigen Zeitpunkt“ zu befürworten sei,477 womit man bereits auf der Linie des späteren Bundeshauptausschussbeschlusses lag.

Die Entscheidung des Bundeshauptausschusses der Grünen 1989, sich mit der endgültigen formellen Anerkennung der BAG Schwulenpolitik deutlich von pädophilen Positionen zu distanzieren,478 missbilligte die Hamburger Rosa Biber Fraktion479, die wie zuvor in der BAG

SchwuP, sodann in der neuen BAG Schwulenpolitik mitarbeitete und dort weiterhin ihre

– nunmehr aber nicht mehrheitsfähigen – Positionen vertrat. Im Berliner Landesverband räsonierte man noch bis 1994 darüber, ob es einvernehmliche Sexualbeziehungen zwischen

Kindern und Jugendlichen geben könnte.480 Doch solche Stimmen waren selten geworden und die Entscheidung im Bundeshauptausschuss, dem höchsten beschlussfassenden Gre- mium zwischen den Parteitagen, erging einstimmig und war auf dem Höhepunkt der Strö- mungsauseinandersetzungen daher eindeutig.481

Der Bruch mit der BAG SchwuP war mit der Gründung der BAG Schwulenpolitik hinge- gen nicht total. Einige Akteure aus der vorherigen SchwuP mischten weiter mit. Allerdings blieb der Spitzenrepräsentant der Pädophilieaktivisten bei den Grünen, Dieter F. Ullmann, der BAG Schwulenpolitik fern. Dafür wurden die Aktivisten der vorherigen BAG SchwuP wie der LAG SchwuP in Nordrhein-Westfalen ausdrücklich mit ihren Anliegen zum Sexual-

475 Schreiben Gerhard Krusat an LAK, 26.04.1987, AGG, C BaWü I.1 LaVo/LGSt, 156 (2). 476 Brief von Hildegard Jacobi an LAK, 12.02.1988, AGG, C BaWü I.1 LaVo/LGSt, 156 (2). 477 Protokoll der Sitzung des LAK Schwule, 17.05.1987, AGG, C BaWü I.1 LaVo/LGSt, 157 (2). 478 Protokoll der BHA-Sitzung, 22./23.04.1989, AGG, B.I.1 Die Grünen 1980–1993, 255; Schreiben an Bundes- hauptausschuss, AGG, B.I.10 Bündnis 90/Die Grünen BuVo/BGSt, 600. 479 Protokoll BAG Schwulenpolitik, 28./29.10.1989, AGG, B.I.10 BuVo/BGSt, 600; Stellungnahme der Rosa-Biber- Fraktion der GAL-Hamburg zum Beschluß des BHA zur Anerkennung der BAG Schwulenpolitik vom 22./23.04. 1989, AGG, B.I.10 Bündnis 90/Die Grünen BuVo/BGSt, 600. 480 Frauengruppe der Grünen/AL Kreuzberg, Pädos bei den Grünen, Stachelige Argumente, Oktober 1994, S. 45-48, hier S. 46; Einladung an alle Mitglieder und Freunde von Bündnis 90/Die Grünen, Schreiben von Joachim Eul, ohne Datum, Zusendung Privatarchiv Thomas Birk; Albert Eckert, Warum ich Kindesmissbrauch verabscheue und trotzdem nicht gleich alle Pädos hasse, in: Stachelige Argumente, Dezember 1994, S. 38–40; Joachim Eul u.a., Stellungnahme zum Artikel „Pädos bei den Grünen“, in: Stachelige Argumente, Dezember 1994, S. 40. 481 Protokoll der BHA-Sitzung, 22./23.04.1989, AGG, B.I.1 Die Grünen 1980–1993, 255.

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315 strafrecht eingebunden.482 In Nordrhein-Westfalen blieb die SchwuP noch eine ganze Wei-

le aktiv, musste aber eine ablehnende Haltung des Landesvorstands und eine nicht minder

begeisterte Haltung der anderen Landesarbeitsgemeinschaften registrieren, als sie auf der

Basis des Lüdenscheidpapiers für 1988 einen Kongress plante.483 Seit ihrem Bundestags-

wahlprogramm 1987 waren die Grünen vorsichtig und in ihrem Wahlprogramm 1990 dann

sehr deutlich auf Distanz zu Pädophilie gegangen sind. Die Grünen strebten 1987 zwar noch

eine Reform des Sexualstrafrechts an, „die die sexuelle Selbstbestimmung fördert statt sie

zu verhindern.“484 Indem sie dabei explizit auf ihre erfolgte parlamentarische Initiative ver -

wiesen, wird deutlich, dass es sich um eine Initiative zur Gleichstellung von Homo- und He-

terosexuellen gehandelt hat. Das Bundestagswahlprogramm 1987 hat den inhaltlichen Fo-

kus erstmals erkennbar verengt. Statt einer bloßen Bezugnahme auf Randgruppen, die sich

irgendwie bei den Grünen verorten konnten, findet eine klare Auswahl bestimmter Gruppen

statt, für die bestimmte politische Forderungen erhoben werden. Die veränderten Umstän-

de in Fraktion und Partei schließen eine pädophiliefreundliche Interpretation des Textes

weitgehend aus.

Das Bundestagswahlprogramm 1990485 ist diesbezüglich noch klarer akzentuiert. Wie schon

im vorherigen Programm galt die sexuelle Orientierung als ein Symbol gesellschaftlicher

Diskriminierung: „Weder die Verteilung der Arbeit noch die Bündelung von Verantwortlich-

keiten oder Reichtum dürfen auf der Grundlage von Geschlecht, privatem Status oder sexu-

eller Orientierung zustande kommen.“486 Die Gleichstellung Homosexueller wurde als eine

Ausdrucksform der gewünschten multikulturellen Gesellschaft angesehen.487 Ausdrück-

lich bezog man sich auf das in den Bundestag eingebrachte Programm „Emanzipation und

Gleichberechtigung“488. Die weiteren Forderungen umfassten im Wesentlichen eine Strei-

chung des § 175 StGB sowie die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung Homosexu -

482 Ablaufplan Kongress „Sumpfblüten im Sonnenblumenfeld“, ASM, Katalog Politische Gruppierungen/Partei - en, Grüne, 1; o.V. (wahrscheinlich Dieter F. Ullmann), und wieder mal: der BHA, ASM, Katalog Politische Gruppie - rungen/Parteien, Grüne, 1. 483 Protokoll der Sitzung der LAG-Sprecher am 30.05.1987, AGG, C NRW I LaVo/LGSt, 218 (2). 484 Die Grünen, Farbe bekennen, Bundestagswahlprogramm 1987, Bonn, S. 10. 485 Die Grünen, Programm zur 1. gesamtdeutschen Wahl 1990, Bonn. 486 Ebd., S. 30. 487 Ebd., S. 39. 488 Bundestags-Drucksache 11/5003.

108

316 eller mit Heterosexuellen. Anders als die vorherigen Programme wurden also nicht mehr allumfassend verschiedene Gruppen einbezogen, sondern eine wesentlich schärfer akzen- tuierte Position bezogen, die auch eine Grenze der Toleranz definiert. Bei der Reform des

Sexualstrafrechts wurde daher ansonsten auf die §§ 177 bis 179 StGB Bezug genommen, um

Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe zu stellen oder Frauen und Kinder gegen (sexuell) gewalttätige Männer besser zu schützen.489 Im Kern ging es also – abgesehen von der Strei- chung des § 175 StGB – nicht um eine Liberalisierung, sondern um eine Verschärfung des bestehenden Sexualstrafrechts. Zugleich wurde ein öffentlicher Diskurs über „Pornographie und Sexualität“490 eingefordert. In diesem Zusammenhang wurde auch die Existenz „von sexuellen Phantasien, Bedürfnissen und Praktiken, die Unterdrückung, Erniedrigung und

Gewalt beinhalten“ kritisch als Ausdruck „sexuell geformter Männergewalt“ thematisiert.491

Das Verbot von pornographischem Material, welches Gewalttätigkeiten oder den sexuellen

Missbrauch von Kindern beinhaltet (§ 183 III StGB), beabsichtigte die Partei sogar besser durchzusetzen.492 Erkennbar hat sich im Wahlprogramm 1990 die Sichtweise der feminis- tischen Strömungen bei den Grünen niedergeschlagen, weder im Beschlusstext noch in der

Form, der Diktion, wie der Wahl der Schwerpunkte gibt es einen erkennbaren Bezugspunkt mehr, der eine Unterstützung von Pädophilie zum Ausdruck bringt. Diese Linie hat sich – wenn auch nicht ganz so scharf feministisch geprägt – fortan in den Wahlprogrammen von

Bündnis 90/Die Grünen wiedergefunden. Die Grünen haben sich auf die Benachteiligungen von Schwulen und Lesben gegenüber Heterosexuellen im Zivilrecht bezogen, die Streichung des § 175 StGB gefordert493 und darauf aufmerksam gemacht, dass Schwule und Lesben viel- fach Opfer von Gewalt sind.

Aufgegriffen wurde 1990 und 1994 die Tatsache, dass Kinder Opfer von (sexueller) Gewalt und Missbrauch sind, weswegen eine Verbesserung des Schutzes von Kindern angemahnt wurde.494 1998 bekannten sich die Grünen gar dazu, ein Umfeld schaffen zu wollen, in dem 489 Ebd., S. 34. 490 Ebd., S. 35. 491 Ebd. 492 Ebd., S. 35. 493 Die Forderung erfüllte sich bereits vor der Bundestagswahl, aber erst nach Verabschiedung des Programms. 494 Bündnis 90/Die Grünen, Nur mit uns, Programm zur Bundestagswahl 1994, online einsehbar unter http:// www.boell.de/downloads/stiftung/1994_Wahlprogramm.pdf, S. 53.

109

317 Kinder „keine Angst vor sexualisierter Gewalt und Missbrauch durch Vertrauenspersonen

haben müssen“495. Durch die Forderung, bei „rückfallgefährdeten schweren Gewalt- und

SexualverbrecherInnen“ auch künftig auf die Sicherungsverwahrung zurückzugreifen,496

stellte sich die Partei sogar diametral gegen eine Forderung aus dem Wahlprogramm von

1980, das solche Sonderformen des Strafrechts ja noch explizit abgelehnt hatte. Vielmehr

erkannten die Grünen das zwischenzeitlich erheblich veränderte Sexualstrafrecht in Bezug

auf die dort getroffenen Altersgrenzen vollständig an.

Am Ende der 1990er Jahre findet eine neuerliche Akzentverschiebung statt. Im Verlauf der

1980er Jahre haben die Grünen ihren Einsatz gegen sexuelle Diskriminierung mehr und mehr

auf die Gleichstellung von Lesben und Schwulen konzentriert. Seit 2002 haben Bundes-

tagswahlprogramme und noch deutlicher das Grundsatzprogramm aus demselben Jahr497

doch eine zentrale Grenzziehung vorgenommen: Mit der Wendung, wonach „sexualisierte

Gewalt [...] eine der offensivsten Verletzungen der Menschenwürde“498darstelle, haben sich

Bündnis 90/Die Grünen deutlich gegen sexuellen Missbrauch in Position gesetzt.

495 Bündnis 90/Die Grünen, Grün ist der Wechsel, Programm zur Bundestagswahl 1998, Bonn, S. 76. 496 Ebd., S. 129. 497 Bündnis 90/Die Grünen, Die Zukunft in Grün, Grundsatzprogramm, Berlin 2002. 498 Ebd., S. 136.

110

318 Ein vorläufiges Fazit

Abschließend möchten wir eine Art Zwischenbilanz zur Pädophiliedebatte in der Grünen

Partei und ihrem Umfeld ziehen. Wie bereits mehrfach hervorgehoben, handelt es sich da- bei zum gegenwärtigen Zeitpunkt unseres Forschungsprozesses um vorläufige Reflexionen und Deutungen. Sie stehen unter dem Vorbehalt weiterer, möglicherweise auch abweichen- der Erkenntnisse, die sich natürlich nicht zuletzt durch die Erschließung zusätzlicher Quel- len ergeben mögen.

Soweit wir es überblicken, gab es sehr unterschiedliche Akteure, welche pädophile For- derungen erhoben oder dafür Legitimationshilfen beigesteuert haben. Sie fanden sich in mehreren wissenschaftlichen Disziplinen, wie Pädagogik, Rechtswissenschaft, Sexualwis- senschaft, Psychologie und auch in der Medizin. Politisch vermittelte sich viel davon in das grün-alternative Milieu. Doch handelte es sich um keine originär grüne Affinität, vielmehr waren die pädophilen Avancen in der Grünen Partei Resultat eines breiten und lang geführ- ten Diskurses, der über das mit 1968 chiffrierte linke Lager hinaus reichte und liberale Grup- pierungen des Bildungsbürgertums umfasste. Hier wurde mit Verve von der Befreiung des

Sexuellen gesprochen; hier kündigten sich auch die bevorstehenden Auseinandersetzungen

über Geschlechterverhältnisse und Sozialutopien an. Der emanzipative Aufbruch, der den

Individuen die Möglichkeit verschaffte, sich aus der Fremdbestimmung durch vorgegebe- ne Weltanschauungen, verbindlich gesetzte Glaubensüberzeugungen, kollektive Einglie- derungserwartungen zu lösen und eigene Lebensmodelle zu entwerfen, überschritt dabei einige aus heutiger Sicht weitgehend unumstrittene normative Grenzen. Die Diskussionen,

Projekte und Experimente des Alternativen Milieus, der Post-Achtundsechziger-Zeit muss- ten sich geradezu zwangsläufig auch bei den Grünen als neue Partei dieser Kohorte und

Zeitströmung widerspiegeln. Insbesondere die Debatten in der Pädagogik und Sexualwis- senschaft boten reichlich ideologischen Stoff, dessen sich die Grünen - aber keineswegs nur sie - gern bedienten. Das linksliberale Milieu, das sich in den 1960er Jahren einflussreich konstituierte, beförderte über seine damaligen Leitmedien Erörterungen, die auf Beseiti- gung, zumindest Relativierung einer durch die staatliche Gesetzgebung und altbürgerliche

Kulturhegemonie bis dahin äußerst restriktiv definierten Sexualmoral hinausliefen und

111

319 welche die freie Entfaltung des einzelnen Bürgers zum Handlungsimperativ erhoben. Davon

floss zunächst einiges in die zwischenzeitlich sozialliberal mutierte FDP, vor allem in ihren

damaligen Jugendverband, die expressiv rebellisch auftretenden Jungdemokraten, hinein.

Doch auch Beratungsinstanzen wie pro familia und der Kinderschutzbund waren für pädo-

phile Interessen wichtige Brückenköpfe. Inwieweit pädophile Maximen in diesen Organisati-

onen durch einen Entrismus von Kadergruppen der Pädophilieszene an Schwung gewannen,

ist eigene Forschungsanstrengungen wert.

Politisch und programmatisch vorangetrieben wurden pädophile Forderungen nämlich

stark von einer politisch und publizistisch zunehmend aktiven Bewegung, die international

vernetzt agierte und sich ab Mitte der 1970er Jahre auch in Deutschland organisatorisch

formierte. In ihrer besonders vitalen Phase ab Ende der 1970er Jahre fanden die Aktivisten

dort mehrere Anknüpfungspunkte im medialen Diskurs, in der Wissenschaft, in politischen

Organisationen und bei anderen zivilgesellschaftlichen Kräften, nicht zuletzt eben bei den

Grünen.

Doch darauf beschränkte es sich keineswegs. Das Bündnis mit der damaligen Schwulenbe-

wegung war ebenso Bezugspunkt der Pädophilieaktivisten, die darüber hinaus mit Organi-

sationen wie dem Kinderschutzbund, der Humanistischen Union und anderen die Koopera-

tion suchten. Gerade die Schwulenbewegung zeigte sich aber aus verschiedenen Gründen

in gewichtigen Teilen politisch und strukturell offen für pädophile Inhalte und Aktivisten;

sie stellte immer wieder einen wesentlichen Verstärker sowie ein politisches Vehikel für

pädophile Forderungen dar. Im Windschatten ihrer Forderungen konnten pädophile Positio-

nen in das erste Grundsatzprogramm der Grünen gelangen. Das pädophile Votum wurde da-

raufhin zwar rasch wieder relativiert, bildete aber dennoch weiterhin einen Bestandteil des

programmatischen Rahmens, auf den sich örtliche Gliederungen bezogen – oftmals ohne die

1980 geforderte Debatte zu führen und ohne dass in den folgenden Jahren auf Bundesebene

die eigentlich offene Positionierung entschieden wurde. Auf welche Weise genau Forderun-

gen in die Programme gelangt waren, wie die ausbleibenden Reaktionen und Diskussionen

zu erklären sind und ob es nicht doch solche Beiträge und Interventionen gegeben hat, wird

im weiteren Vorgehen noch genauer zu rekonstruieren und zu analysieren sein.

112

320 Trotz mancher Lücken lässt sich zum Diskurs über Pädophilie bereits jetzt festhalten, dass die Grünen weder der erste noch der einzige Ansprechpartner für pädophile Aktivisten ge- wesen sind. Wohl aber bot die junge Partei aufgrund ihrer organisationsstrukturellen und kulturellen Eigenschaften einen besonderen Resonanzboden für Anliegen von Minderhei- ten und Randgruppen verschiedener Couleur.499 Auf dieser Basis war es auch propädophilen

Kräften über mehrere Jahre hinweg möglich, ihre Ansichten und Forderungen in den Wil- lensbildungsprozess der Grünen einzuspeisen.

Dort fanden sich einige Nischen, in denen Debatten über Pädophilie gedeihen konnten. Die

BAG SchwuP war eine davon. Auch die Arbeitskreise zu Kinder- und Jugendpolitik waren von Interesse. Über die Kommunebewegung oder die Stadtindianer streute sich ebenfalls die ein oder andere Auffassung solcher Konventikel in die Partei hinein. Neben Anti-Atomkraft,

Naturschutz und Friedenspolitik fanden derartige Forderungen gleichsam eine Fensteröff- nung zur Programmatik der Partei, da es zum Basiskanon der Gründungsgrünen gehörte, möglichst viele Minderheiten programmatisch zu integrieren, jedenfalls partout nicht „aus- zugrenzen“. Allerdings schlug sich das nicht immer in den programmatischen Dokumenten jener Jahre nieder. Für den weiteren Forschungsverlauf wäre es interessant zu erschließen, unter welchen Bedingungen die Grünen sich dezidiert gegen pädophilenfreundliche For- derungen aussprachen. Denn nach dem bisherigen Stand der Recherche waren nicht alle

Landtagswahlprogramme der Grünen, sowie auch nur ein kleinerer Teil der Kommunalwahl- programme, offen für pädophile Forderungen. Ebenso fanden sich widerstreitende Positi- onen innerhalb der Partei. Doch, nochmals, zum Selbstverständnis der Grünen gehörte es, dass Minderheitenpositionen ein Forum gewährt und ihre Anliegen zumindest in Teilen un- terstützt wurden.

Derartige strukturalistische Erklärungsmuster sollen jedoch nicht verdrängen, dass es, wie dargestellt, gleichwohl eine in Teilen sogar heftige Kontroverse um die Forderungen zur Le- galisierung von Pädophilie gegeben hat. Die Beteiligten mussten sehr genau gewusst haben, was sie tatsächlich debattiert und beschlossen hatten und welche Grenzlinien dabei vage gelassen oder bewusst überschritten worden sind. Doch man kümmerte sich in der Folge

499 Dazu besonders interessant die Einschätzung der früheren Parteisprecherin Verena Krieger, Was bleibt von den Grünen, Hamburg 1991, S. 33.

113

321 darum wenig. Auch hier ist noch offen, warum kritische Gegenreden beispielsweise von im

grün-alternativen Milieu durchaus prominenten Personen wie Günther Amendt oder Alice

Schwarzer anfangs so wenig beachtet wurden. Tatsächlich waren die Grünen in Ermange-

lung eines breiten öffentlichen Gegendiskurses nicht gefordert, ihre Position zu reflektieren.

Die Frage steht weiterhin im Raum, warum man seitens der medialen Öffentlichkeit mit

Ausnahme von 1985 der Diskussion um Pädophilie bei den Grünen verblüffend wenig Auf-

merksamkeit schenkte. Erst in den Jahren 1984/85 brach die zuvor nicht geführte Debatte

eruptiv aus. Die pädophilen Zirkel forderten, was sie sich vom alternativen Versprechen der

Grünen erhofft und erwartet hatten. Weite Teile der Partei waren nunmehr skeptisch ge-

worden, insbesondere die bei den Grünen inkorporierten Teile der Frauenbewegung. Indes,

erst die Vorgänge in Nordrhein-Westfalen 1985 nebst der Niederlage bei der Landtagswahl

katalysierten die Auseinandersetzungen und führten dazu, dass die pädophilen Postulate

und ihre Aktivisten zwar noch nicht ganz verschwanden, jedoch eindeutig in eine minoritäre

Position gerieten.

Die Grünen waren wegen ihrer thematischen Offenheit, ihrer relativ transparenten und

durchlässigen Strukturen, aufgrund ihrer Differenz zur Mehrheitsgesellschaft, ihrer mani-

festen Distanz zu Staat und Politik, einhergehend mit einer auch zum Schutz von Minderhei-

ten und Randgruppen ausgerichteten Politik der Betroffenheit, anfangs ein probater Ort zur

Artikulation, bisweilen auch zur Durchsetzung von konfliktträchtigen Mindermeinungen.

Damit – und das ist gewiss die zweite Seite der Medaille in der Debatte, um die es in diesem

Zwischenbericht geht – trugen sie erheblich zur weiteren Demokratisierung und Plurali-

sierung der deutschen Gesellschaft bei. Zudem durchliefen die Grünen in den 1980er und

1990er Jahren eine bemerkenswerte Transformation. Im Strom dieser Entwicklung hat sich

auch die Pädophiliedebatte vollzogen, wobei sie keineswegs jemals den Kern der Parteient-

wicklung oder Parteiidentität bildete. All die parteihistorischen Wendungen und Verände-

rungen, die auf den Parteitagen in Neumünster 1991 und Bielefeld 1999 kulminierten, hatten

mit Pädophilie nichts mehr zu tun. Das Thema war aus Sicht der Partei damals offensichtlich

erledigt. Dessen ungeachtet tauchte aber zumindest bis Mitte der 1990er Jahre die Debatte

hier und da noch einmal in der Partei auf. Auch in der BAG-Schwulenpolitik arbeiteten ja

114

322 Vertreter mit, die sich zuvor für eine Freigabe der Pädophilie ausgesprochen hatten. Weite- re Aktivisten aus der SchwuP blieben der Partei an anderer Stelle erhalten.500Ob, wie weit und weshalb Personen dieser Observanz ihre Auffassung korrigiert oder revidiert haben, ist noch nicht abschließend geklärt. Überdies steht im Forschungsprojekt noch aus, das sich wandelnde gesellschaftliche Klima und die Fortentwicklung der sexualwissenschaftlichen

Forschungs- und Erklärungsansätze in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre detaillierter nachzuzeichnen, dabei auch verstärkt mit Zeitzeugen das Gespräch zu suchen.

Außerhalb der Grünen war das Thema keinesfalls mit Beginn der 1990er Jahre beendet. Die

Debatte bei pro familia wie auch in der Humanistischen Union hält – nach bisherigen Er- kenntnisstand – sogar länger an als bei den Grünen. Bei der Humanistischen Union sinnierte man noch zur Jahrtausendwende darüber, dass die „Freigabe der Pornographie und aller freiwilligen sexuellen Handlungen“ Grundvoraussetzung für die Verringerung von sexuell motivierter Gewalt sei501, was dort aber nicht unwidersprochen blieb.

Wenn nun heute die Vertreter und Zeitgenossen solcher Organisationen zur apologetischen

Verniedlichung ihrer Beiträge neigen oder schlicht abstreiten, Debatten solcher Art über- haupt geführt zu haben, so steht die geschrumpfte oder bewusst reduzierte Gedächtnisfä- higkeit im starken Kontrast zur Lage der Opfer von sexuellem Missbrauch, die oft ein Leben lang seelisch schwer daran zu tragen haben. Damit trifft das Trauma der einen auf die Am- nesie der anderen. Die Wunden wollen nicht heilen, werden durch wurschtige Entlastungs- phrasen – dass alles sei doch „Schnee von gestern“502 – wieder und wieder denkbar schmerz- haft aufgerissen. Deswegen ist es (nicht allein) seitens der Grünen ganz unvermeidbar, sich zu erinnern, auch wenn es qualvoll und „elektoral abträglich“ sein mag. Es reicht keinesfalls, auf einen besonderen Zeitgeist, auf lediglich wenige Verirrte und randständige Sektierer in den eigenen Reihen zu verweisen, die man längst hinter sich gelassen habe.

Gewiss, Differenzierungen und Abwägungen lassen sich derzeit kaum angemessen

500 O.V., Pädophilieaufarbeitung: Grüner Ratsherr legt alle Ämter nieder, online einsehbar unter http://www.rp- online.de/nrw/staedte/duesseldorf/paedophilie-aufarbeitung-gruener-ratsherr-legt-alle-aemter-nieder-aid-1 .3714798, 30.09. 2013 [eingesehen: 29.11. 2013]. 501 Vgl. Franz-Josef Hanke u. Steve Schreiber, Pornographie vermindert sexuelle Gewalt, in: Mitteilungen der Humanistischen Union, Nr. 168 (1999), H. III, S. 106. 502 Sebastian Heiser, Trittin-Artikel zur Pädophilie, Das ist doch Schnee von gestern. Warum wird das heute gedruckt?, online einsehbar unter http://blogs.taz.de/hausblog/2013/11/27/trittin-artikel-zur-paedophilie-das- ist-doch-schnee-von-gestern-warum-wird-das-heute-gedruckt/ [eingesehen am 08.12. 2013].

115

323 besonnen in den medial öffentlichen Diskurs hineingeben. Dabei: Nicht alle, die einst das

Strafrecht in den §§ 174 und 176 ändern wollten, waren Propheten einer exzessiven Li-

bertinage. Nicht jeder, der 1980 in den ansonsten geltenden strafrechtlichen Bestimmun-

gen hinreichend Schutz für Kinder gegen gewalttätige Zugriffe sah, folgte einem pädophilen

Interesse. Nicht alle waren politische Wirrköpfte, die Schlussfolgerungen solcher Art aus

Untersuchungen von Wissenschaftlern zogen, welche gar von der Deutschen Forschungs-

gemeinschaft gefördert wurden.503 Denn diese Studien wiesen auch neue Erkenntnisse und

tragfähige Empfehlungen aus – allerdings ebenfalls haarsträubende Einseitigkeiten und

Fehlurteile. Viele Autoren schauten mit bemerkenswerter Empathie überwiegend auf die

Täter, ihre Lebensgeschichte und inneren Nöte, ließen demgegenüber in verblüffendem

Maße vergleichbare Aufmerksamkeit, gar Sensibilität für die Opfer vermissen. Andere leg-

ten weniger Augenmerk auf den primären Missbrauch als auf die sekundären Traumata der

Opfer, die sich als Folge des Strafverfahrens ergaben.

Die Abgrenzung von Pädophilie und sexuellem Missbrauch dient in der öffentlichen Debatte,

das haben die vergangenen Monate auch gezeigt, dazu, sich der eigenen moralischen Inte-

grität zu versichern. Schließlich droht Personen und Institutionen, die damit irgendwie in

Verbindung gebracht werden, ein jäher und erheblicher Verlust an Reputation wie Integrität.

Entsprechend fällt es vielen Akteuren natürlich schwer, ihre frühere Haltung hierzu öffent-

lich zu erläutern, da dergleichen umgehend und in aller Schärfe als nachträgliche Bagatelli-

sierung von sexueller Gewalt gegen Kinder gewertet werden würde. Das erschwert nicht nur

den Grünen eine offen geführte Auseinandersetzung über die damalige Zeit.

Die sexuelle Liberalisierung seit den 1960er Jahren steht in der Wahrnehmung der über-

großen Mehrheit der Bundessdeutschen heute unzweifelhaft auf der Haben-Seite der bun-

desrepublikanischen Geschichte. Das Renommee der 68er-Generation und die bemerkens-

werten Erfolge der Grünen bei Wahlen seit 1979 konnten aus diesem Wohlwollen gegenüber

der Deregulierung zuvor eng gefasster Normen und autoritärer Kontrollbefugnisse schöp-

fen. Denn man schrieb ihnen, den Protest- und Alternativkohorten der Bundesrepublik, den

gesellschaftlichen Freiheitsschub positiv zu. Doch hat die Transzendierung konventioneller

503 So die Studie von Rüdiger Lautmann, Die Lust am Kind. Porträt des Pädaophilen, Hamburg 1994, hier der Hinweis auf S. 134.

116

324 Moralbestände - man mag auch mit guten Gründen von einer neolinksliberalen Deregu- lierung der Sexualmärkte sprechen - und die Entgrenzung individueller Handlungsmög- lichkeiten ebenfalls Lasten bereitet, Verlierer zurückgelassen, ja: Schäden und Geschädigte produziert. Im Grunde weist die Diskussion um die Pädophilie auf die immer wiederkehren- den Aporien von Modernisierungs- und Emanzipationswellen hin. Sie erweitern Räume, sie vervielfältigen die Optionen, sie eröffnen neue Chancen. Das ist die eine Seite, die mit Recht vielfach goutiert wird. Zur anderen Seite jedoch gehören unvermeidlich Destruktionen,

Verluste, dann die mangelnde Resistenz gegenüber rein marktförmigen oder suggestiven

Surrogaten für gerade aufgekündigte Solidarbeziehungen und verabschiedete Sinnmuster.

Man wird das eine nicht ohne das andere bekommen. Nach Zeiten radikaler Deregulierung pflegen längere Momente zu folgen, in denen über neue Grenzziehungen nachgedacht wird.

2013 war so ein Moment. Er dürfte noch nicht zu Ende sein. Aber auch dann geht die Ge- schichte, schreitet der dialektische Prozess von traditionskritischer Entbindung und einhe- gender Rückbindung weiter. Diese Entwicklung vollzieht sich nicht hinter dem Rücken poli- tischer und gesellschaftlicher Akteure. Sie tragen vielmehr Verantwortung für Richtung und

Ziel solcher Prozesse, nicht nur für das Licht, sondern auch für die Schatten, die - dadurch!

- geworfen werden. An diesem Punkt stehen die Grünen gegenwärtig in der Debatte um die Pädophilie.

117

325 3.3. Projekt Aufarbeitung: Die Grünen und ihr Umgang mit sexualisierter Gewalt

Bericht vom Symposium des Gunda-Werner-Instituts am 26. März 2015

Die Veranstaltung des Gunda-Werner-Instituts „Projekt Aufarbeitung – Die Grünen und ihr Umgang mit sexualisierter Gewalt“ sollte einen Zwischenstand der grünen Aufarbeitung liefern.

Dazu gab es Kurzvorträge und Diskussionbeiträge unter anderem von

• Dr. Simone Peter (Bundesvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen) • Alexander Hensel (Göttinger Institut für Demokratieforschung) • Johannes-Wilhelm Rörig (Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauches) • Dr. Milena Noll (Goethe Universität Frankfurt/M.) • Volker Beck (MdB, Bündnis 90/Die Grünen) • Dagmar Freudenberg (Deutscher Juristinnenbund) • Katja Dörner (Bündnis 90/Die Grünen NRW) • Iris Hölling (Wildwasser e.V.) • Angelika Oetken (Sprecherin des Betroffenenbeirates des EHS, Ergänzendes Hilfesystem für Betroffene sexuellen Missbrauchs)

Zur Frage nach dem “Warum” wurde die wissenschaftlich Debatte der Zeit verwiesen. Teile der Wissenschaft, präsent und populär in den Medien, veröffentlichten: die Traumata Betroffener erfolgen durch gesellschaftliche Stigmatisierung und juristische Ahndung, nicht durch gewaltfreie sexuelle Handlungen. Und die Grünen in ihrem Streben nach sexueller Befreihung, ihrer besonderen Empathie für Minderheiten, einer antirepressiven Grundeinstellung und einer teils naiven Wissenschaftsgläubigkeit waren für pädosexuelle Forderungen offen. Ein Erklärungsversuch, keine Rechtfertigung.

Anschluss finden konnten die Forderungen vielfach bei schwulen Bewegungen in der Partei. Den § 175 streichen, war das primäre Ziel. Doch wer 175 sagte, musste damals scheinbar auch 174 und 176 sagen, sich also auch für die Entkriminalisierung des Missbrauchs von Kindern und Schutzbefohlenen einsetzen. Die Solidarität mit den Pädos entstand durch eine gemeinsame Identifikation als Opfer des staatlichen Repressionsaparates. Der die eigene Sexualität kriminalisierte. Und die Jugendzeit um ein Ausleben von Sexualität gebracht hatte.

Aber was ist mit kritischen Stimmen? Wie von Frauen* und Feminist_innen? Warum wurden sie erst so spät gehört? Darüber besteht Uneinigkeit: Als prüde, asexuell und frigide verschrien wurden sie mundtot gemacht, um bestimmte Kritik von vorne herein abzublocken. Das ist eine Auffassung. Sie waren selbst noch dabei, Konzepte und Begriffe zu entwickeln. Es fehlten Daten

326 und der Erkenntnisstand war rudimentär, ist eine andere. Es wird im Gedächtnis gekramt: War da nicht der Artikel von Alice Schwarzer 1978/79 in der Emma? Und Anfang der 80er: internationale Studien zur “Vulnerabilität des Kindes”. Die zeigten: jedes vierte Mädchen. Und jeder siebte Junge ist betroffen. Erste Publikationen von Wildwasser: Frauen, die klare Worte finden gegen sexuellen Missbrauch. Barbara Kavemann mit der ersten Begleitstudie eines Frauenhauses. Und in den grünen Programmen: da finden sich auch Forderungen zum Schutz des Kindes. Widersprüchliche Positionen z.T. im selben Parteiprogramm. Kritik hat es folglich zur Zeit der Forderungen auch immer schon gegeben.

Ungeklärt bleibt: Die Frauen und Feministinnen gegen die männlichen Täter? War es tatsächlich so einfach binär? Vereinzelt scheint es auch Frauengruppen, wie die „Kanalratten“ gegeben zu haben, die meinten: wir sind auch pädophil. Eine systematische Recherche hierzu gibt es bisher aber noch nicht.

Und natürlich steht die Frage im Raum: Warum begann die Aufarbeitung der Partei erst so spät? Warum nicht nach Erkenntnis des eigenen Irrtums? Oder warum wird im Jahr 2011 die Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch in anderen Institutionen nicht zum Anlass genommen, um mit der eigenen Geschichte aufzuräumen? Ja, früher wäre nötig gewesen, wird eingeräumt. Und ein Publikumsbeitrag ergänzt die Vermutung: Vielleicht spielt auch die Angst eine Rolle, die sexuelle Befreiung und deren Errungenschaften mit in Frage stellen zu müssen. Einen Schritt zurück machen zu müssen, hinsichtlich aktueller Forderungen nach Akzeptanz sexueller Vielfalt. Die Gefahr, dass hier keine Differenzierung vorgenommen wird.

Was tun gegen sexuellen Missbrauch und sexualisierte Gewalt?

Tausende Kinder und Jugendliche sind in diesem Moment von sexuellem Missbrauch in Deutschland betroffen. Jede*r Achte im Durchschnitt. Was kann und muss getan werden? Auf juristischer Ebene ist wichtig, dass Jugendliche von 14 bis 18 allein einen Strafantrag stellen können und einen eigenständigen Beratungsanspruch haben. Und dies nicht – wie derzeit der Fall – von Sorgeberechtigten abhängt. Der Wille des oder der Jugendlichen allein muss ausschlaggebend sein. Eine Verlängerung von Straffristen wird ambivalent diskutiert: Prinzipiell ist eine späte Anerkennung wichtig; auch da Betroffene sich häufig erst viele Jahre später äußern (können). Doch wecken sie nicht unrealistische Hoffnungen, da eine späte Verurteilung durch erschwerte Beweisfindung unwahrscheinlich ist? Was ist mit der Gefahr von Retraumatisierung durch einen späten Prozess? Darüber müssen Betroffene ausreichend informiert werden.

Ein zentrales Problem ist die Unterfinanzierung von Hilfestrukturen: eine gleichbleibende Ausstattung bei steigendem Beratungsbedarf darf es nicht geben. Auch fehlen in ganzen Bundesländern Beratungsstellen für spezifische Zielgruppen, wie Transmenschen, Intersexuelle oder Frauen* mit Behinderungen.

327 Dies hat auch Auswirkungen auf Präventionsarbeit: Es gibt Schutzkonzepte bereits, wie Risikoanalysen und Empfehlungen für Einrichtungen, in denen Kinder Erwachsenen anvertraut werden. Doch sie sind wenig verbreitet, da die Beratungsstellen als Kompetenzzentren finanziell zu gering ausgestattet sind, um dies zu leisten. Hier besteht dringender Handlungsbedarf! Dazu muss das Problem als wichtige gesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen werden. Und als dauerhafte Pflichtaufgabe, die eben nicht von der Haushaltslage abhängt. Und die nicht auf Ministerien für Kinder und Jugend finanziell abgeschoben wird. Es braucht bundeseinheitliche Standards und gesetzliche Verbindlichkeit.

Und es geht auch um ein gesellschaftliches Klima: Des Hinhörens. Des keine-Schuld-Zuweisens. Vielmehr muss klar sein: Das verletzt deine Rechte. Und die sind wichtig. Es braucht eine Gesellschaft, die zuhören will. Und eine Politik, die handelt.

328 Berlin, Dezember 2016

V.i.S.d.P.: Jens Kendzia, c/o BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Platz vor dem Neuen Tor 1, 10115 Berlin