Plenarprotokoll 13/12

eutscher Bundesta g D

Stenographischer Bericht

12. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Inhalt:

Gedenkworte für die Opfer der Erdbeben- Zusatztagesordnungspunkt 4: katastrophe in Japan 637 A Beratung des Antrags der Fraktion der Nachruf auf das ehemalige Mitglied des SPD: Beendigung des Krieges in Tsche- Deutschen Bundestages Bundesminister a. D. tschenien (Drucksache 13/239) Professor Dr. Karl Schiller 637 B Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister AA . 638C, Glückwünsche zu den Geburtstagen der 667D, 669 B Abgeordneten Dr.-Ing. Karl-Hans Laer-- Norbert Gansel SPD 640D mann und Dr. Dietrich Mahlo . . . . . 637 D CDU/CSU 643 A Eintritt des Abgeordneten Eike Maria Anna Hovermann in den Deutschen 637 D Gerd Poppe BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 645D Erweiterung der Tagesordnung 637 D Ulrich Irmer F.D.P. 647 B Abwicklung der Tagesordnung 637 D Heinrich Graf von Einsiedel PDS . . 649D, 654D Absetzung des Punktes 5 von der Tagesord Dr. , Bundeskanzler 651A, 655B, 668C nung 638 A Rudolf Scharping SPD 655 C Tagesordnungspunkt 3: Vereinbarte Debatte zur Lage in Tsche- Joseph Fischer (Frankfurt) BÜNDNIS 90/DIE tschenien GRÜNEN 658C, 667 C in Verbindung mit CDU/CSU ...... . . 659 D Zusatztagesordnungpunkt 1: Markus Meckel SPD 661 C Abgabe einer Erklärung der Bundesre- Andrea Lederer PDS . 662 D gierung Lage in Tschetschenien Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . . 663 D in Verbindung mit (Wiesloch) SPD . . . 666A Zusatztagesordnungspunkt 2: Christian Schmidt (Fürth) CDU/CSU . 666B Beratung des Antrags der PDS: Krieg in Tschetschenien (Drucksache 13/172) Karsten D. Voigt (Frankfurt) SPD . . . 668A in Verbindung mit Günter Verheugen SPD 668 D Zusatztagesordnungspunkt 3: Tagesordnungspunkt 4: Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P.: Lage in Tsche- Wahlvorschlag für die Wahl der Schrift- tschenien (Drucksache 13/228) führer gemäß § 3 der Geschäftsordnung (Drucksachen 13/234, 13/235, 13/236, in Verbindung mit 13/237, 13/238) ...... 669C II Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Tagesordnungspunkt 12: Dagmar Schmidt (Meschede) SPD . . . . 682A Überweisungen im vereinfachten Verfah- Dr. Christian Ruck CDU/CSU 683 C ren Dr. Ingomar Hauchler SPD 684 A a) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs ei- Dr. R. Werner Schuster SPD 685 D nes ... Strafrechtsänderungsgesetzes Alois Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU 687 C — Schutz von Privatgeheimnissen (. . . StrÄndG) (Drucksache 13/58) Dr. Winfried Wolf PDS (Erklärung nach § 30 GO) . 689 B b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- Tagesordnungspunkt 7: setzes zu dem Übereinkommen vom a) Erste Beratung des von der Fraktion der 18. Mai 1992 über den Beitritt des König- SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten reichs Spanien und der Portugiesischen Gesetzes zur Änderung des Altschulden- Republik zu dem am 19. Juni 1980 in hilfe-Gesetzes (Erstes Altschuldenhilfe- Rom zur Unterzeichnung aufgelegten Änderungsgesetz) (Drucksache 13/68) Übereinkommen über das auf vertrag- liche Schuldverhältnisse anzuwendende b) Erste Beratung des von dem Abgeordne- Recht (Drucksache 13/40) ten Klaus-Jürgen Warnick und weiteren Abgeordneten der PDS eingebrachten c) Beratung der Unterrichtung durch die Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än- Bundesregierung: Raumordnungsbericht derung des Altschuldenhilfe-Gesetzes 1993 (Drucksache 12/6921) (Erstes Altschuldenhilfe-Änderungsge- d) Beratung der Unterrichtung durch die setz) (Drucksache 13/100) Bundesregierung: Großsiedlungsbericht 1994 (Drucksache 12/8406) 669 D in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von der Abgeordneten a) Beratung des Antrags des Abgeordneten Franziska Eichstädt-Bohlig und der Frak- Dr. Winfried Pinger, weiterer Abgeordne- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes des Abgeordneten Roland Kohn, weiterer zur Änderung des Altschuldenhilfe- Abgeordneter und der Fraktion der Gesetzes (Drucksache 13/230) F.D.P.: Durchsetzung der deutschen Ent- wicklungspolitik in der internationalen Iris Gleicke SPD 690 A Entwicklungszusammenarbeit (Drucksa- Rolf Rau CDU/CSU 692 A che 13/233) Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ b) Beratung des Antrags des Abgeordneten DIE GRÜNEN 694 B Dr. Ingomar Hauchler, weiterer Abgeord- Dr. Klaus Röhl F.D.P. 696B neter und der Fraktion der SPD: Neu- orientierung der Deutschen Entwick- Klaus-Jürgen Warnick PDS 698 C lungspolitik (Drucksache 13/241) Dr. Klaus Röhl F.D.P...... 699B, D in Verbindung mit Siegfried Scheffler SPD 699 C Franziska Eichstädt-Bohlig BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 5: DIE GRÜNEN 699 D Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister BMBau 701 A, Dr. Ursula Eid-Simon, weiterer Abgeord- 709 B neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Reform der bundesdeut- Dr. Christine Lucyga SPD 703 C schen Entwicklungspolitik (Drucksache Josef Hollerith CDU/CSU 705 D 13/246) Achim Großmann SPD 707B, 709 B Dr. Winfried Pinger CDU/CSU 670 C Hildebrecht Braun (Augsburg) F.D.P 707 D Dr. Ingomar Hauchler SPD 672A Tagesordnungspunkt 2 (Fortsetzung): Dr. Ursula Eid-Simon BÜNDNIS 90/DIE Fragestunde GRÜNEN 674 B — Drucksache 13/213 vom 13. Januar Dr. Winfried Pinger CDU/CSU . . 675A, 686B 1995 —

Roland Kohn F.D.P. . . . 676 C Neuorganisation der Luft- und Bodenrettung Dr. Winfried Wolf PDS ...... 678 D unter Ausschluß des Bundesgrenzschutzes; künftige Organisation der zivilen Rettungs- Carl-Dieter Spranger, Bundesminister BMZ 680A dienste Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 III

MdlAnfr 39, 40 ZusFr Dr. F.D.P. . . 716A, 718C (Volkach) SPD Frank Hofmann ZusFr Volker Neumann (Bramsche) SPD . 716C Antw PStSekr Eduard Lintner BMI . . . 709D ZusFr Dr. Rolf Olderog CDU/CSU . . . 716C ZusFr Frank Hofmann (Volkach) SPD . . 710A ZusFr Margot von Renesse SPD 718C Aussage des ehemaligen Fallschirmjäger Kenntnis des Bundeskanzleramtes von der Majors Raethjen über dessen im Auftrag des „Ausbildungstätigkeit" des ehemaligen BND durchgeführte Tätigkeit als Ausbilder Bundeswehroffiziers und BND-Mitarbeiters im „Nahkampf und lautlosen Töten" in Hans-Dieter R. in Libyen; Anwerbung weite- Libyen rer Personen für den Dienst in militärischen MdlAnfr 5 Einrichtungen in Libyen durch die Münchner Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Firma Telemit Electronic GmbH NEN MdlAnfr 9, 10 Antw StMin BK . . . 710C Norbert Gansel SPD ZusFr Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/ Antw StMin Bernd Schmidbauer BK . 719A, B DIE GRÜNEN 711A ZusFr Norbert Gansel SPD 719A, C ZusFr Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. . . . 711 D Aktuelle Stunde ZusFr Dr. Rolf Olderog CDU/CSU . . . 712A betr. Zusammenarbeit der Bundesregie- ZusFr BÜNDNIS 90/ rung mit Libyen DIE GRÜNEN ...... 712B Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 720A ZusFr Volker Neumann (Bramsche) SPD 712C Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜ ZusFr Dietmar Schlee CDU/CSU . . 712C NEN 721A ZusFr Norbert Gansel SPD ...... 713 A Dr. Rolf Olderog CDU/CSU . . 722A ZusFr Dr. Max Stadler F.D.P. . . . . 713C Dr. Willfried Penner SPD ...... 722 C Zusammenhang zwischen den Dienstlei- Dr. Winfried Wolf PDS ...... 723A stungen und den Parteispenden der Münch-- Norbert Gansel SPD ...... 723D ner Firma Telemit Electronic GmbH an die F.D.P. Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. . . . . . . 724C

MdlAnfr 6 Tagesordnungspunkt 8: BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Beratung des Antrags der Fraktion der NEN SPD: Für einen gerechten, verfassungs- Antw StMin Bernd Schmidbauer BK . . 713C gemäßen und unbürokratischen Fami- ZusFr Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/ lienlastenausgleich (Drucksache 13/16) DIE GRÜNEN 713D Nicolette Kressl SPD 725 C ZusFr Norbert Gansel SPD 714A Hubert Hüppe CDU/CSU ...... 727 A ZusFr Dr. Burkhard Hirsch F.D.P. . . . 714 A Claudia Nolte, Bundesministerin BMFSFJ 728C ZusFr Volker Neumann (Bramsche) SPD 714C Ulla Schmidt (Aachen) SPD 729A ZusFr Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/ Christel Hanewinckel SPD . . . . 729C, 741 C DIE GRÜNEN 714D Joachim Poß SPD ...... 730B, 744A Kenntnis des damaligen Präsidenten des Christine Scheel BÜNDNIS 90/DIE GRÜ BND, Dr. Klaus Kinkel, und des Bundeskanz- NEN 731B leramtes über die Anwerbung von Bundes- Heidemarie Lüth PDS 732 D wehrangehörigen für den Dienst als Ausbil- der bei der libyschen Armee Gisela Frick F.D.P. 733D, 736D MdlAnfr 7, 8 Margot von Renesse SPD 736 B Angelika Beer BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Karl H. Fell CDU/CSU ...... 736 D Antw StMin Bernd Schmidbauer BK . . . 715A, Christel Hanewinckel SPD ...... 738A 716D Dr. Karl H. Fell CDU/CSU 738B ZusFr Angelika Beer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 715A, 717A Maria Eichhorn CDU/CSU 740C ZusFr Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/ Dr. , Parl. Staatssekretär DIE GRÜNEN 715C, 717D BMF 742A ZusFr Norbert Gansel SPD . . . . 715D, 718A Carl-Ludwig Thiele F.D.P. . . . . . 745 B IV Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Zusatztagesordnungspunkt 7: Anlage 1 Beratung des Antrags des Abgeordneten Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 763* A Cem Özdemir, Kerstin Müller (Köln), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bleiberecht für vietnamesische Vertragsarbeitneh- Anlage 2 merinnen und Vertragsarbeitnehmer der Verknüpfung der Verhandlungen für Frie- ehemaligen DDR in Deutschland (Druck- den in Bosnien-Herzegowina mit Garantien sache 13/231) für die Durchsetzung humanitärer Hilfe

Cem Özdemir BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 746B MdlAnfr 11, 12 — Drs 13/213 — SPD Wolfgang Zeitlmann CDU/CSU 747 A SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . . 763' B Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast SPD . . 748A

Jörg van Essen F.D.P. ...... 749 B Anlage 3 Maritta Böttcher PDS 750B Unterstützung privater Initiativen für Bihac; Durchsetzung des freien Zugangs zur Ver- Tagesordnungspunkt 9: sorgung der Zivilbevölkerung sowie der Erste Beratung des von der Bundesregie- Krankenhäuser rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- MdlAnfr 13, 14 — Drs I 3/213 — setzes zu dem Protokoll vom 26. April Dr. Christian Schwarz-Schilling CDU/CSU 1994 zu den Konsequenzen des Inkraft- tretens des Dubliner Übereinkommens SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . 763* C für einige Bestimmungen des Durchfüh- rungsübereinkommens zum Schengener Übereinkommen (Bonner Protokoll) (Drucksache 13/24) Anlage 4 Fortsetzung der Arbeit des deutschen Kon- Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär BMI 751 A vois in den Notgebieten Bosnien-Herzegowi- Jochen Welt SPD 751 B nas 1995; Gründe für die Zustimmung zur Verlängerung der Lockerung des Embargos Michael Stübgen CDU/CSU 753 A gegenüber Restjugoslawien im UN-Sicher- heitsrat Günter Graf (Friesoythe) SPD 753 C MdlAnfr 15, 16 — Drs 13/213 — Amke Dietert-Scheuer BÜNDNIS 90/ (Bremen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 754 C DIE GRÜNEN

Dr. Edzard Schmidt-Jortzig F.D.P. . . . 755 B SchrAntw StMin Helmut Schäfer AA . . . 764* A

Maritta Böttcher PDS ...... 756A Anlage 5 Zusatztagesordnungspunkt 8: Feststellungsberechtigte Stelle für die Pfle- Beratung des Antrags der Fraktion gebedürftigkeit von Beihilfeberechtigten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Veröffentli- (Med. Dienst der Krankenversicherung oder chung der Rede des Alterspräsidenten Amts- bzw. Vertrauensarzt) (Drucksache 13/97) MdlAnfr 34 — Drs 13/213 — Simone Probst BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 756 D SPD

Andreas Schmidt (Mülheim) CDU/CSU . . 756D SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI . . 764* C Dr. Winfried Wolf PDS 757 B

Freimut Duve SPD 758A Anlage 6 Jörg van Essen F D P 759B Regelung der Tages- und Kurzzeitpflege im Beihilferecht; Beihilfevorschriften für jetzt Gerhard Zwerenz PDS 759 C schon pflegebedürftige Beamte

Friedrich Bohl, Bundesminister BK . . . 760A MdlAnfr 35, 36 — Drs 13/213 — Ulrike Mascher SPD

Nächste Sitzung 761 C SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI . . 764* D Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 V

Anlage 7 Anlage 12 Beihilfefähigkeit der sog. „Hotelkosten" Bewertung der im Rahmen der Pflegeversi- (Kosten für Unterkunft und Verpflegung bei cherung gezahlten Leistungen als Einkom- stationärer Unterbringung) auch nach An- men im Sinne des Einkommensteuergeset- passung der Beihilfevorschriften an das Pfle- zes; Anrechnung der Übernahme von Ren- geversicherungsgesetz ten- und Unfallversicherungsbeiträgen bei häuslichen Pflegekräften durch die Pflege- MdlAnfr 37 — Drs 13/213 — versicherung als geldwerter Vorteil Wilhelm Schmidt (Salzgitter) SPD MdlAnfr 44, 45 — Drs 13/213 — SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI . . 765* A Otto Reschke SPD SchrAntw PStSekr Dr. Kurt Faltlhauser BMF 766* B

Anlage 8 Einräumung eines bis zu 17%igen Rabatts Anlage 13 für Beamte auf Pflegeversicherungsprämien Zusammenlegung der Hauptzollämter Frei- durch private Versicherungsunternehmen burg und Kehl; Abzug von Bundesbehörden aus Freiburg i. Br. seit 1980 MdlAnfr 38 — Drs 13/213 — Karl-Hermann Haack (Extertal) SPD MdlAnfr 46, 47 — Drs 13/213 — Gernot Erler SPD SchrAntw PStSekr Eduard Lintner BMI . . 765* B SchrAntw PStSekr Dr. Kurt Faltlhauser BMF 766 D

Anlage 9 Anlage 14 Rückübertragung des bis zum Sommer 1994 von den belgischen Streitkräften genutzten Einholung der Zustimmung des Deutschen Geländes der Jägerkaserne auf die Stadt Bundestages zur dritten Stufe der Europäi- Arnsberg schen Wirtschafts- und Währungsunion MdlAnfr 48 — Drs 13/213 — MdlAnfr 41 — Drs 13/213 — Jürgen Augustinowitz CDU/CSU Friedrich Merz CDU/CSU SchrAntw PStSekr Dr. Kurt Faltlhauser SchrAntw PStSekr Dr. Kurt Faltlhauser BMF 767* B BMF . . . 765* C

Anlage 15 Stellungnahme der Bundesregierung gegen- Anlage 10 über der EG-Kommission zur geplanten Möglichkeit der ECO-Conversion bei der Übernahme der Ulmer Firma Karl Kässboh- Umschuldung der polnischen Schulden rer GmbH durch die Daimler-Benz AG; Beschleunigung des Fusionskontrollverfah- MdlAnfr 42 — Drs 13/213 — rens und Erhaltung der Arbeitsplätze Dr. Helmut Lippelt BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN MdlAnfr 49, 50 — Drs 13/213 — Dr. Jürgen Meyer (Ulm) SPD SchrAntw PStSekr Dr. Kurt Faltlhauser SchrAntw PStSekr Dr. Heinrich L. Kolb BMF . . 765* D BMWi ...... 767* C

Anlage 11 Anlage 16 Versorgungsansprüche der ehemaligen Prä- Zusammenarbeit der Welthandelsorganisa- sidentin der Treuhandanstalt Birgit Breuel tion (WTO) mit nichtstaatlichen Organisa- tionen (NGOs) MdlAnfr 43 — Drs 13/213 — MdlAnfr 51 — Drs 13/213 — Manfred Kolbe CDU/CSU Dr. Elke Leonhard SPD SchrAntw PStSekr Dr. Kurt Faltlhauser SchrAntw PStSekr Dr. Heinrich L. Kolb BMF ...... 7 66* A BMWi 768* A VI Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Anlage 17 Anlage 21 Zusammenhang zwischen Rüstungsgeschäf- Ergebnis der dritten internationalen Alpen- ten, Firmenspenden an die F.D.P. und dem konferenz am 20. Dezember 1994 in Cham- Mord am damaligen F.D.P.-Schatzmeister, bery; Zeitpunkt der Zeichnung der einzelnen Heinz-Herbert Karry Durchführungsprotokolle zur Alpenkonven- tion MdlAnfr 52 — Drs 13/213 — Winfried Nachtwei BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- MdlAnfr 61 — Drs 13/213 — NEN Horst Kubatschka SPD SchrAntw PStSekr Dr. Heinrich L. Kolb SchrAntw PStSekr Walter Hirche BMU . . 769* D BMWi 768* C

Anlage 18 Anlage 22 Verlust von Arbeitsplätzen in der Region Veröffentlichung und Bewertung des Gut- Grafenwöhr; Abbau von Arbeitsplätzen beim achtens des Beirats für Naturschutz und deutschen Verbindungskommando und Landschaftspflege beim BMU „zur Akzep- durch den Abzug der US-Streitkräfte tanz und Durchsetzbarkeit des Naturschut- zes"; anderweitige Verwendung des in den MdlAnfr 57 — Drs 13/213 — einstweiligen Ruhestand versetzten Staats- SPD sekretärs im BMU, Clemens Stroetmann SchrAntw PStSekr'in Michaela Geiger BMVg 768* D MdlAnfr 62, 63 — Drs 13/213 — Ulrike Mehl SPD

Anlage 19 SchrAntw PStSekr Walter Hirche BMU . . 770* B Konversion des Fliegerhorstes Bremgarten zu einem Gewerbepark und Verzicht auf eine zusätzliche militärische Nutzung des Anlage 23 Geländes; Verwendung des Standort- Kosten der vorzeitigen Versetzung von übungsplatzes Müllheim als Übungsgelände Staatssekretär Clemens Stroetmann (BMU) für die deutsch-französische Brigade in den Ruhestand MdlAnfr 58, 59 — Drs 13/213 — Marion Caspers-Merk SPD MdlAnfr 64 — Drs 13/213 — Dietmar Schütz (Oldenburg) SPD SchrAntw PStSekr'in Michaela Geiger BMVg ...... 769* A SchrAntw PStSekr Walter Hirche BMU . . 770* D

Anlage 20 Anlage 24 Planungen der Vereinigten Staaten von Kernmantel-Risse in den Siedewasserreakto- Amerika für die Zukunft der US-Air-Base ren in Mühleberg/Schweiz und in verschie- Spangdahlem denen Reaktoren in den USA MdlAnfr 60 — Drs 13/213 — Dr. Elke Leonhard SPD MdlAnfr 65 — Drs 13/213 — Simone Probst BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN SchrAntw PStSekr'in Michaela Geiger BMVg 769* C SchrAntw PStSekr Walter Hirche BMU . . 771* A Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

12. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Beginn: 9.00 Uhr

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Liebe Kolleginnen der bekanntesten Politiker jener Zeit. Im Juli 1972 trat und Kollegen! Die Sitzung ist eröffnet. er von beiden Ämtern zurück. Ich möchte zunächst der Opfer in Japan geden- Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag ken. im selben Jahr blieb Karl Schiller als wirtschaftspoli- tischer Experte und Berater in vielen Funktionen und (Die Anwesenden erheben sich) Gremien geschätzt und gefragt. Bis in die jüngste Am Dienstag dieser Woche verloren bei einem der Vergangenheit nahm er engagiert zu wirtschaftlichen schwersten und grauenvollsten Erdbeben in Zentral- Problemen Stellung, insbesondere zu den ökonomi- japan, in der Region Osaka und Kobe, mehr als 3 500 schen Problemen der deutschen Einheit und zum Menschen ihr Leben. Mehr als 14 000 wurden verletzt. europäischen Währungssystem. Viele werden noch vermißt. Eine Stadt wurde zerstört, Der Deutsche Bundestag bewahrt Karl Schiller, mehr als 200 000 Menschen wurden obdachlos. einer großen politischen Persönlichkeit, ein ehrendes Gedenken. Wir trauern mit den Angehörigen und Die Wucht der Naturgewalten wird uns über die sprechen ihnen unsere Anteilnahme aus. Bilder der verwüsteten, weitgehend zerstörten Stadt vermittelt. Angesichts der Ohnmacht gegenüber den Meine Damen und Herren, Sie haben sich zu Ehren Naturgewalten bleibt unser tiefes Mitgefühl mit den des Verstorbenen von Ihren Plätzen erhoben. Ich Betroffenen und die Bereitschaft, zu helfen, in dieser danke Ihnen. Region zu helfen, die zu den gefährdetsten Erdbeben- Ich möchte nun dem Kollegen Dr. Hans Laermann, gebieten unseres Planeten gehört. der am 26. Dezember seinen 65. Geburtstag feierte, und dem Kollegen Dr. Dietrich Mahlo, der am 8. Ja- Der Deutsche Bundestag spricht dem Parlament nuar seinen 60. Geburtstag feierte, nachträglich sehr Japans und dem japanischen Volk seine aufrichtige Teilnahme aus. herzlich gratulieren und die Wünsche des Hauses aussprechen. Ich möchte Sie bitten, stehen zu bleiben, damit wir (Beifall) des verstorbenen Karl Schiller gedenken. Der Kollege Hans Gottfried Bernrath hat am 31. De- Am 26. Dezember 1994 verstarb nach schwerer zember 1994 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Krankheit der Bundesminister a. D. Professor Dr. Karl Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger hat der Schiller im 83. Lebensjahr. Er wurde am 24. April 1911 Abgeordnete Eike Maria Anna Hovermann am 13. Ja- in Breslau geboren. Nach dem Besuch des Gymnasi- nuar 1995 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag ums in Kiel studierte er Nationalökonomie und Sozio- erworben. Ich begrüße den neuen Kollegen herzlich logie in Kiel, Frankfurt, und Heidelberg. Er und wünsche gute Zusammenarbeit. arbeitete am Institut für Weltwirtschaft in Kiel; nach (Beifall) seiner Habilitation als ordentlicher Professor in Ham- Die für die heutige Sitzung vorgesehene Tagesord- burg leitete er das Institut für Außenhandel und nung ist Ihnen zugegangen. Überseewirtschaft und war von 1956 bis 1958 Rektor der Universität Hamburg. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Professor Schiller, der seit 1946 der SPD angehörte, Zusatzpunkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatz- blieb nicht bei Forschung und Lehre. Er engagierte punktliste aufgeführt: sich nach dem Krieg in der Wirtschaftspolitik. Er 1. Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung: Lage in wirkte von 1948 bis 1953 als Wirtschafts- und Ver- Tschetschenien kehrssenator in Hamburg, von 1961 bis 1965 als 2. Beratung des Antrags der PDS: Krieg in Tschetschenien Wirtschaftssenator in Berlin. Seit 1965 gehörte er dem — Drucksache 13/172 — Deutschen Bundestag an, und 1966, nach Bildung der Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und Großen Koalition, übernahm er im Kabinett Kiesinger F.D.P.: Lage in Tschetschenien — Drucksache 13/228 — das Bundeswirtschaftsministerium, dazu im Mai 1971 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Beendigung des das Finanzressort. Er wurde als „Superminister" einer Krieges in Tschetschenien — Drucksache 13/239 — 638 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ursula Eid- Regierungserklärung zwei Stunden vorgesehen. Ich Simon, Wolfgang Schmitt (Langenfeld), Ludger Volmer, wei- sehe keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so. terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Reform der bundesdeutschen Entwicklungspoli- Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung tik — Drucksache 13/246 — hat der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Klaus Erste Beratung des von der Abgeordneten Franziska Eich- Kinkel. städt-Bohlig und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Altschuldenhilfe-Gesetzes — Drucksache 13/230 — Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: Beratung des Antrags der Abgeordneten Cem Özdemir, Kerstin Müller (Köln), Christa Nickels, weiterer Abgeordne- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jeder ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bleiberecht Tag, an dem das Schießen und Zerstören in Tsche- für vietnamesische Vertragsarbeitnehmerinnen und Ver- tschenien anhält, zeigt: Die russische Regierung tragsarbeitnehmer der ehemaligen DDR in Deutschland befindet sich auf einem Irrweg. In Tschetschenien — Drucksache 13/231 — werden Menschenrechte, Völkerrecht und OSZE- 8. Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Verpflichtungen verletzt. Bomben und Granaten NEN: Veröffentlichung der Rede des Alterspräsidenten gegen die eigenen Bürger — so kann und so darf m an — Drucksache 13/97 — die territoriale Integrität eines Landes nicht wieder- 9. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und herstellen. F.D.P.: Klimaschutz — Erste Vertragsstaatenkonferenz zur Klimarahmenkonvention vom 28. März bis 7. April 1995 (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der sowie Umsetzung des nationalen CO2-Minderungspro- SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS gramms — Drucksache 13/232 — SES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Bei Zusatzpunkt 6 soll von der Frist für den Beginn Nach schwierigsten Jahren mit großem Leid für der Beratung abgewichen werden. Außerdem ist beide Völker haben wir Deutschen zu Rußland ein vereinbart worden, den Tagesordnungspunkt 5, Abschiebestopp für Kurdinnen und Kurden, abzuset- partnerschaftliches Verhältnis gewonnen. Das war, ist und bleibt für beide Seiten sehr wichtig. zen. Tagesordnungspunkt 12, Überweisungen im ver- einfachten Verfahren, wird bereits im Anschluß an die Deutschland will Partner und Freund Rußlands sein Wahl der Schriftführer aufgerufen. und bleiben. Die Bundesregierung setzt auf die Fort- setzung des Reformkurses durch die jetzige Regie- Erhebt sich gegen diese interfraktionell vereinbarte rung. Aber sie erwartet von der russischen Regierung Tagesordnung und gegen diese zusätzlichen Verein- in diesem Konflikt ein Verhalten, das dieses Vertrauen barungen Widerspruch? — Ich höre keinen und stelle rechtfertigt. Das Blutvergießen muß jetzt eine Ende fest, daß die Tagesordnung so beschlossen- ist. haben. (Beifall im ganzen Hause) Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 und die Zusatz- punkte 1 bis 4 auf: Wer den Tschetschenien-Konflikt gerecht beurtei- len will, muß beide Seiten sehen. Für beide Seiten ist ZP1 Abgabe einer Erklärung der Bundesregie- im übrigen der Konflikt eine Tragödie — im wahrsten rung Sinne des Wortes. Lage in Tschetschenien Auch die tschetschenische Führung trifft ein erheb- 3. Vereinbarte Debatte zur Lage in Tschetsche- liches Maß an Verantwortung für den Verlauf, den die nien Dinge genommen haben. Auch von tschetschenischer ZP2 Beratung des Antrags der PDS Seite, von Dudajews Seite, ist Kompromißbereitschaft verlangt. Krieg in Tschetschenien Der Konflikt hat weit in die Geschichte zurückgrei- — Drucksache 13/172 — fende Wurzeln. Dudajew ist weder Freiheitskämpfer Überweisungsvorschlag: noch Demokrat noch Verteidiger der Menschen- Auswärtiger Ausschuß rechte. Er kämpft vor allem in eigener Sache. Er hat ZP3 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/ ein vom Obersten Sowjet Tschetscheniens im März CSU und F.D.P. 1993 beschlossenes Referendum über die Staatsfüh- Lage in Tschetschenien rung und die Souveränität der Republik verhindert. Er hat die Regierung entlassen, Parlament und Verfas- — Drucksache 13/228 — sungsgericht aufgelöst und den Stadtrat von Grosny Überweisungsvorschlag: gewaltsam vertrieben. Auswärtiger Ausschuß Die russische Regierung hat der tschetschenischen ZP4 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Seite mehrfach Autonomieangebote unterbreitet. Beendigung des Krieges in Tschetschenien Rußland hat — auf Einzelheiten einzugehen ist leider aus Zeitgründen nicht möglich — mit der Militärinter- — Drucksache 13/239 — vention begonnen, als gefangengenommene russi- Überweisungsvorschlag: sche Soldaten im tschetschenischen Fernsehen zur Auswärtiger Ausschuß Schau gestellt und mit Erschießung bedroht wur- Zur vereinbarten Debatte liegt ein Entschließungs- den. antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Sezessionsbestrebungen Tschetscheniens sind vor. von keinem Staat der Welt anerkannt worden, und das Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Recht Rußlands auf Wahrung seiner territorialen die gemeinsame Aussprache im Anschluß an die Integrität ist international unstreitig. Aber — das ist Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 639

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel der entscheidende Punkt — dies rechtfertigt in gar übrigen die erste demokratische Verfassung in der keiner Weise das Vorgehen der russischen Truppen russischen Geschichte und bietet breiten Raum für in Grosny, das Bombardement von Zivilisten und das Autonomiezusagen, die die russische Regierung im Töten von so vielen unschuldigen Menschen. übrigen anderen kaukasischen Republiken gegen- über bereits gegeben hat. (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und der PDS) Wir ermutigen als Deutsche nicht zur Sezession, und wir erteilen einem anderen Staat auch keine Rat- Unsere Trauer und auch unser Mitgefühl gelten den schläge, auf Teile seines Staatsgebietes zu verzich- Menschen, die dort sterben oder leiden müssen — ten. Zivilisten wie Soldaten, Tschetschenen wie Russen. Unsere Bewunderung gilt dem Mut von Männern wie Viertens. Rußland sollte bei der Lösungssuche alle Sergej Kowaljow, dem Menschenrechtsbeauftragten Möglichkeiten ausschöpfen, die die Organisation für des russischen Präsidenten, der in Grosny sein Leben Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bietet. Der riskierte. Name OSZE sagt im Grunde, worum es geht: nämlich um Zusammenarbeit im neuen Europa und nicht um Unsere große politische Sorge gilt dem Fortgang des Konfrontation. Ziel muß eine Lösung mit und nicht Reformkurses in Rußland. Seine Glaubwürdigkeit gegen Rußland sein. steht im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Prüf- stand. Dieser Kurs ist entscheidend für die Stabilität (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU dieses großen und wichtigen Landes und damit auch sowie bei Abgeordneten der PDS) für die Bemühungen um einen gemeinsamen Neuan- Aber die russische Regierung muß sich natürlich fang in Europa mit Rußland als demokratischem sagen lassen, daß Zusammenarbeit eine Zweibahn- Partner. straße ist. Auch Rußland muß sich an die vereinbarten Andrej Kosyrew hat gestern gesagt, der Reformkurs Spielregeln halten. Wir haben im Ständigen Rat der und die marktwirtschaftliche Entwicklung gingen OSZE zusammen mit unseren EU- und NATO-Part- weiter. Ja, wir möchten es gern glauben. Aber den nern deutlich gemacht: Die Gewährleistung der Ein-

Worten, rufe ich ihm zu, müssen jetzt Taten folgen. Ich haltung der OSZE - Verpflichtungen ist Sache aller habe ihm im übrigen — er hat es bekanntgegeben — Teilnehmerstaaten. Niemand kann sich hier auf den vorgestern vorgeschlagen, daß wir ein Treffen abhal- Vorbehalt der Nichteinmischung berufen. Daß es sich ten, um über die Situation ausführlich sprechen zu hierbei — wie übrigens von allen unseren Partnern können. Ich habe noch keine endgültige Antwort; anerkannt — um einen Konflikt innerhalb der Russi- aber ich hoffe, daß ein solches Treffen zustande schen Föderation handelt, heißt nicht, daß wir eine für kommt, weil es uns nochmals die Chance gäbe, unsere ganz Europa bedrohliche Entwicklung einfach treiben Auffassung der russischen Regierung gegenüber dar- lassen und der Verletzung von Menschenrechten zulegen. zusehen können. Tschetschenien ist ein kaukasischer Randstaat der Der Vorwurf, die Bundesregierung verstecke sich Russischen Föderation mit ca. 1 Million Einwohnern. hinter dem Nichteinmischungsprinzip, ist falsch. Wir Die Hauptstadt Grosny hat etwa 400 000 Einwohner. haben wie alle unsere Partner immer gesagt — ich Auf dem Spiel steht heute nicht nur das Schicksal wiederhole es —: Hier geht es um eine Angelegenheit Tschetscheniens, sondern die innere Entwicklung der innerhalb der Russischen Föderation. Wir haben immerhin zweitgrößten Nuklearmacht der Welt. Dar- jedoch von Anfang an die Gewaltanwendung verur- über hinaus geht es um Fortschritte, die wir seit dem teilt, und uns für eine Befassung der OSZE eingesetzt, Fall von Mauer und Stacheldraht in ganz Europa für und zwar auf allen denkbaren Kanälen. Der Bundes- die Menschen erreicht haben. Diese Fortschritte zu kanzler hat es in zwei Gesprächen mit Präsident Jelzin sichern und weiter auszubauen, muß außenpolitisch getan, ich habe es in mehreren Gesprächen mit der unsere unverminderte Anstrengung gelten. russischen Regierung, auch in einem langen Gespräch mit dem russischen Außenminister Kosyrew getan. In Meine Damen und Herren, die Bundesregierung dem ersten Gespräch, das ich am 30. Dezember mit hat sofort nach Beginn der Auseinandersetzungen ihm geführt habe, hat er sich erstmals zur Einschal- und vor anderen ein Ende des Blutvergießens in tung der OSZE bekannt. Tschetschenien gefordert und eine schnelle politische Lösung verlangt. Dies gilt nach wie vor. Ich habe gestern in einem ausführlichen Gespräch dem russischen Botschafter, der nach Moskau zurück- Es bedeutet erstens eine sofortige Beendigung der gefahren ist, nochmals unsere Haltung erläutert und militärischen Gewalt, und zwar ohne Vorbedingun- verdeutlicht. Wir befinden uns mit unserer Haltung in gen. Das ist der vordringlich erste Schritt. Übereinstimmung mit der unserer Partner und Zweitens. Die russischen Verfassungsorgane, Exe- Freunde. Das ist wichtig, weil manchmal der Eindruck kutive wie Parlament, müssen mit den tschetscheni- erweckt wird, wir hätten hier irgendwelche Solonum- schen Politikern eine Lösung aushandeln. mern abgezogen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir Das geht eben nicht mit Ultimaten, sondern nur mit waren in den Stellungnahmen und im Handeln dieje- wirklicher Kompromißbereitschaft auf beiden Sei- nigen, die als erste reagiert haben. ten. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) — Es war so. Prüfen Sie es nach! Drittens. Es muß eine Lösung im Rahmen der Die russische Regierung hat im Ständigen Rat der russischen Verfassung gefunden werden. Sie ist im OSZE selbst erklärt, sie stehe zu ihren Verpflichtun- 640 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel gen im OSZE-Rahmen und stimme einer Einschaltung hat, dann hier. Bei aller Bestürzung über Tschetsche- dieser Organisation in diesem Konflikt zu. Moskau nien vertrauen wir darauf, daß gerade dieser Präsi- folgt damit unserer Aufforderung. Wir begrüßen die dent, der viel für den demokratischen Neuanfang in angekündigte Dialogbereitschaft. Allerdings: Was Rußland getan hat, die Kraft und den Mut findet, aus Jelzin als Präsident anordnet, muß dann von den dieser Sackgasse herauszufinden, und zwar als Demo- Militärs befolgt werden. Dialoge sind der Weg, nicht krat. Noch ist es nicht zu spät. die völlige Zerstörung von Grosny. Denn eines muß (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) der russischen Regierung schon jetzt klar sein: Damit ist das zugrunde liegende Problem keineswegs Die Bundesregierung stellt sich gegenwärtig die gelöst. Frage einer Unterbrechung der westlichen Wirt- schafts- und Finanzhilfe nicht. Dies würde nach unse- Die Einhaltung der Menschenrechte und die Wie- rer Meinung — auch da sind wir nicht allein — den derherstellung demokratischer Verhältnisse in Falschen helfen. Hier gilt in ganz besonderer Weise: Tschetschenien sind unerläßliche Voraussetzungen „Respice finem! " Bedenke das Ende! Aber die russi- für eine friedliche Entwicklung. Hier kann, so wie die sche Regierung muß wissen: Ohne Vertrauen in die Dinge liegen, der wichtigste Beitrag im Augenblick Fortsetzung des Reformkurses werden ausländische nur bei der OSZE liegen. Investitionen mit ziemlicher Sicherheit ausbleiben. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist ten der CDU/CSU) sich mit ihren Partnern einig: Es geht jetzt darum, Eine OSZE-Mission wird am Wochenende in Mos- einen Weg zu finden, der Gewalt in Tschetschenien kau eintreffen. Am 24. und 25. Januar — so ist es möglichst schnell ein Ende zu setzen. Wir müssen das vereinbart und verabredet — wird sie sich in Tsche- — ich sage es noch einmal — mit der russischen tschenien aufhalten. Sie wird anschließend unverzüg- Regierung und nicht gegen sie versuchen. Denn es lich berichten und weitere konkrete Vorschläge geht über Tschetschenien hinaus um die Zukunft unterbreiten. Der ungarische OSZE-Vorsitzende kann Europas, eines Europas, das dringend und zwingend für sein Engagement die volle Unterstützung der ein demokratisches Rußland braucht. Bundesregierung erwarten. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ten der CDU/CSU) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Ich eröffne die Präsident Jelzin hat den Staats- und Regierungs- Aussprache. chefs der G 7 und damit auch dem Herrn Bundeskanz-- Als erster spricht der Abgeordnete Norbe rt Gan- ler in einer Mitteilung versichert, Rußland sei mehr sel. denn je an Zusammenarbeit interessiert; dies gelte insbesondere für die Einschaltung der OSZE in der Behandlung des Tschetschenien-Konflikts. Norbert Gansel (SPD): Frau Präsidentin! Meine Meine Damen und Herren, in dieser Situation kann Damen und Herren! Angesichts des menschlichen es für die Bundesregierung nur eines geben: Stärkung Leids, das uns die Fernsehbilder aus Kobe wie aus des Willens zu demokratischen, friedlichen Lösungen, Grosny mehr noch als Nachrichtentexte vermitteln, Stärkung des Willens zur Fortsetzung der Reformen. möchte ich mit der Bekundung von Mitgefühl und Die Reformchance in Rußland darf über Tschetsche- Trauer beginnen, in denen sich unser Parlament nien nicht verlorengehen. gewiß einig ist: mit dem japanischen Volk, mit dem russischen Volk, mit den Menschen in Tschetsche- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU nien. Die Bilder aus Grosny und aus Kobe gleichen sowie bei Abgeordneten der SPD) einander in entsetzlicher Weise. Allerdings gibt es Es wird nach Tschetschenien — Sie alle wissen das einen entscheidenden Unterschied: In Japan gab es genausogut wie ich — wahrhaft schwer genug wer- eine Naturkatastrophe, in Rußland eine politische den. Wir können die russische Regierung von außen Katastrophe. Naturkatastrophen geschehen. nicht zu einem bestimmten Handeln zwingen. Wir (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ können nur versuchen, sie zu überzeugen. Aber DIE GRÜNEN) gerade deshalb wiederhole ich von dieser Stelle den Appell an die russische Regierung: Hört auf mit dem Politische Katastrophen entstehen durch menschli- Schießen! Ich kann mit Ihnen zusammen nur hoffen, ches Tun und Unterlassen. daß dieser Aufruf gehört wird. Herr Kinkel, ich bin Ihnen für Ihre Erklärung im dankbar. Sie ist gut und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU Namen der Bundesregierung wichtig. Was hätte es bedeuten können, wenn sie als sowie bei Abgeordneten der SPD) offizieller Appell der Bundesregierung vor 14 Tagen Wegen dieser Hoffnung wollen wir Präsident Jelzin oder vor drei Wochen abgegeben worden wäre! und seiner Regierung die Unterstützung für seinen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Reformkurs nicht aufkündigen. DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE PDS) GRÜNEN]: Wo ist an diesem Kurs noch Daß die Atommacht Rußland nicht staatlich zerfällt Reform?) und die Kontrollen über ihr nukleares Zerstörungs- Wenn das Wort vom notwendigen langen Atem einer potential, ihre Kontrollen über Atomraketen, Atom- soliden und konsequenten Außenpolitik einen Sinn bomben und auch Atomkraftwerke nicht verliert, ist Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 641

Norbert Gansel von elementarem politischen Interesse für die ganze ist ein enger Partner Rußlands, und das darf nicht Welt und für uns. verlorengehen — nach all dem Schlimmen und Daß Rußland friedensbereit und abrüstungsfähig Schweren, das in der Geschichte unserer beiden ist, zuverlässig und vertrauenswürdig, demokratisch Völker hinter uns liegt. geordnet, wirtschaftlich leistungsfähig und sozial sta- Rußland muß Partner bleiben, ein befreundeter, bil, darf keine Utopie bleiben, sondern muß schritt- wenn der Frieden wiederhergestellt und die Demo- weise in dem großen, schwierigen und gefahrvollen kratie gefestigt ist. Der Bundeskanzler rühmt sich russischen Reformprozeß verwirklicht werden. Das schon jetzt und noch immer einer persönlichen liegt in unserem Interesse wie im Interesse der Völker Freundschaft mit dem russischen Präsidenten Jelzin. der Russischen Föderation. Sicher haben wir dafür in Wir wollen unseren Einfluß nicht überschätzen, der Vergangenheit nicht genug getan. aber auch nicht unterschätzen. Ob Jelzin von seinem Aber durch den Krieg in Tschetschenien ist das alles verhängnisvollen Weg abzuhalten gewesen wäre, zusätzlich in Gefahr geraten. Der Krieg in Tschetsche- wird eine offene Frage bleiben. Aber wir wollen heute nien bedeutet nicht nur Tod und Leid. Er gefährdet von der Bundesregierung Antwort haben, warum den Zusammenhalt Rußlands, denn eine Föderation nicht wenigstens der Versuch unternommen worden kann nicht durch brachiale militärische Gewalt ist. Warum hat die Bundesregierung weggesehen und zusammengehalten werden. Auch das ist doch eine weggehört? Warum hat sie zeitweise sogar den Ein- Lehre aus Jugoslawien. druck erweckt, die russischen Sprachregelungen zu (Beifall bei der SPD) übernehmen wie die, es handele sich um eine „innere Angelegenheit Rußlands" und „die Tschetschenen" Der Krieg schwächt demokratische Strukturen und hätten „Jelzin auf der Nase herumgetanzt"? stärkt militärische. Er zerstört Wirtschaftskraft und kostet Geld, die den Wirtschaftsreformen verlorenge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hen. Er belastet die wirtschaftliche Zusammenarbeit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der mit dem Westen, die Rußland braucht. Er beschädigt PDS) die OSZE, gegen deren Verträge und Beschlüsse die Warum diese schmerzhaft unsensible Sprache, Herr russische Regierung verstoßen hat. Er droht das inter- Kinkel? nationale Vertrauen in die russische Vertragstreue zu zerstören. Er legt die Mitgliedschaft Rußlands im Warum hat die Bundesregierung nicht öffentlich die Europarat auf Eis und heizt die Diskussion über die Verletzungen der KSZE-Charta von Paris, des VSBM- Osterweiterung der NATO an. Der Krieg macht Ruß- Vertrags und der Budapester Beschlüsse vom Dezem- lands Nachbarn angst. Rußland treibt in eine Selbst- ber gerügt? isolation, die sich Rußland und die Welt nicht leisten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten können. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Schließlich: Der Krieg in Tschetschenien ist auch PDS) eine Belastung für das Verhältnis zur islamischen Warum ist nicht formell der Antrag durch die Welt. Wo fundamental zwischen Gläubigen und Bundesregierung gestellt worden, die Mechanismen Ungläubigen unterschieden wird, wird Rußland zum der OSZE in Gang zu setzen und eine Beobachterde- Westen gerechnet und der Tschetschenienkrieg in ein legation nach Tschetschenien zu entsenden? Warum Welt- und Feindbild integriert, in dem wieder einmal erst jetzt und warum so spät, zu spät? wie in Bosnien die Muslime die Opfer sind. (Beifall bei der SPD) (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Sehr Warum hat sich die Bundesregierung so zögerlich gut!) und so langsam bewegt und erst nach wiederholten Der Fundamentalismus braucht Märtyrer. Er findet sie und fast flehentlichen Aufforderungen aus allen Bun- reichlich in Grosny. destagsparteien? Warum hat Außenminister Kinkel Die Hauptverantwortung für diese Entwicklung erst auf dem Dreikönigstreffen der F.D.P. — und tragen die russische Regierung und ihr Präsident ausgerechnet dort — deutlichere Worte gefunden? Jelzin. Wer, wenn nicht er, der gestern auf einem Eine kriegerische Entwicklung in Tschetschenien Empfang im Kreml erklärt hat, er habe die russischen zeichnete sich doch schon Anfang Dezember während Streitkräfte unter Kontrolle, ohne ihn passiere nichts des Budapester KSZE-Gipfels ab. Schon damals gab Entscheidendes in Tschetschenien könnte der erste es Presseberichte über massive russische Truppenver- Adressat unserer Forderung sein, die Kriegshandlun- legungen in den Kaukasus. Gerade weil die KSZE gen unverzüglich zu beenden und eine Verhand- — oder OSZE, wie diese Organisation jetzt heißt — lungslösung zu suchen? den größten Einfluß bei vorbeugenden Konfliktlösun- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE gen und bei präventiver Diplomatie hat, hätte Tschet- GRÜNEN, der PDS sowie bei Abgeordneten schenien bei dem Gipfeltreffen eine Rolle spielen der CDU/CSU und der F.D.P.) müssen, zumindest bei den informellen Treffen. Von einer Mitverantwortung kann sich aber auch Es halten sich hartnäckig Gerüchte, daß dies auch die deutsche Bundesregierung nicht freisprechen. Die der Fall gewesen sei, ja daß es sogar eine Vorabinfor- Bundesrepublik gehörte in den 70er Jahren zu den mation durch den russischen Präsidenten gegeben Vätern der KSZE und ist heute einflußreicher Mit- habe. Gerade weil das eine Erklärung für das fast gliedstaat. Bis zum Jahresende hatte sie die Präsident- schon demonstrative Wegsehen mancher europäi- schaft in der Europäischen Union. Die Bundesrepublik scher Regierung wäre — auch der amerikanischen 642 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Norbert Gansel Regierung —, als das Fernsehen schon die entsetzli- immer ein beunruhigendes Zeichen; im Krieg gegen chen Bilder von den Flächenbombardements auf Tschetschenien sind sie ermutigend. Grosny brachte, muß diese Sache aus der Welt gebracht werden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten PDS) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Warum hat die deutsche Politik der russischen PDS) Opposition gegen die Kriegspartei so wenig prakti- Nun hat es inzwischen ein Dementi des Regierungs- sche, moralische Unterstützung gewährt? Bis auf die sprechers Vogel gegeben. Da aber die Informations- Reisen meiner Kollegen Meckel und Weisskirchen politik der Bundesregierung zum Tschetschenien nach Moskau vor wenigen Tagen ist da wenig gelei- Konflikt sich zwischen beklagenswert und jämmerlich stet worden! bewegte, ist hier im Bundestag eine eindeutige Stel- Am 4. Januar 1995 erklärte der Regierungssprecher: lungnahme des Bundeskanzlers unverzichtbar. „Der Kanzler telefoniert — wie Sie alle wissen, gern und häufig —, aber er telefoniert zur Zeit nicht mit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Herrn Jelzin." Erst die öffentliche Kritik in der Bun- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der desrepublik hat Sie, Herr Bundeskanzler, dann doch PDS) zum Telefonhörer greifen lassen. Wann, von wem und wie sind Sie, Herr Bundeskanz- (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Stimmt ler, von der kriegerischen Entwicklung in Tschetsche- doch gar nicht!) nien informiert worden? Oder hat Sie das alles über- rascht? Wann hat Sie das Auswärtige Amt über die Darüber berichtete die „Sächsische Zeitung" mit der Verstöße Rußlands gegen das OSZE-Vertragswerk Überschrift: „Kohl bricht sein Schweigen und sagt informiert, das doch deshalb diesmal so wichtig ist, nicht viel". weil, wenn die russische Regierung die Verträge respektiert hätte, es zwar eine Polizeiaktion, aber (Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ keinen Krieg in Tschetschenien hätte geben können? DIE GRÜNEN) Warum haben Sie, Herr Bundeskanzler, Bo ris Jelzin Vor wenigen Tagen haben Sie, Herr Kohl, zum nicht rechtzeitig angerufen und ihn beschworen, die zweitenmal mit Boris Jelzin telefoniert. Dazu berichtet militärischen Kampfhandlungen einzustellen? der „Monitor-Dienst" der Deutschen Welle vom - 16. Januar — ich zitiere —: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Der Pressesprecher Jelzins, Kostikov, kritisierte den russischen Sender NTW, der Ungenauigkeit Rat, Kritik und Druck wären notwendig gewesen, über das Telefongespräch Jelzin/Kohl zugelassen vertraulich und auch öffentlich. Sie hätten die Gefah- habe. Dem Sender zufolge habe Kohl die russi- ren für die Zusammenarbeit und die politischen und schen Aktionen in Tschetschenien kritisiert, in wirtschaftlichen Kosten einer russischen Gewaltpoli- Wahrheit habe Kohl jedoch Verständnis für das tik beschreiben müssen, die auch bei Freundschaft russische Vorgehen gezeigt. zwischen Regierungschefs eintreten können, wenn sie nicht verhindert werden. Haben Sie die Dramatik (Dr. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und das Verhängnisvolle der Situation nicht begrif- NEN]: Peinlich, peinlich!) fen? Warum haben Sie einerseits Ihre Einflußmöglich- keiten gering eingeschätzt und andererseits erklärt, Das, Herr Bundeskanzler, können Sie nicht auf sich Sie würden Jelzin nicht fallenlassen? Als ob die sitzen lassen. deutsche Politik ihn stürzen oder halten könnte! (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gewiß kann niemand sagen, wie es ohne Jelzin in des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Rußland weitergeht, aber niemand kann auch sicher sein, wie es mit Jelzin weitergeht. Sie werden sich aber fragen müssen, ob Sie einer solchen Instrumentalisierung durch die russische (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Regierung nicht Vorschub geleistet haben, weil klare des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der und mutige Worte gefehlt haben und mögliche Initia- PDS) tiven unterblieben sind. Die gröbste Form der Einmischung in die innerrus- Sie reden in der letzten Zeit soviel von der wach- sischen Verhältnisse ist die unbeirrbare regierungs- senden Verantwortung Deutschlands, wenn es um amtliche Behauptung, zu Jelzin gebe es keine Alter- — möglicherweise unvermeidbare — militärische native. Es gibt eine Alternative zu seiner Politik. Beteiligungen der Bundeswehr an der Friedenssiche- Rußland hat ein wachsendes demokratisches Poten- rung geht. Darum geht es in Tschetschenien nicht. Im tial in den noch jungen demokratischen Parteien und Tschetschenienkonflikt ging es um vorbeugende Kon- in der Duma, unter den mutigen Journalistinnen und fliktverhütung, um präventive Diplomatie, um friedli- Journalisten, die mit der freien Presse gegen die che Konfliktlösung. Genau dafür ist die KSZE geschaf- Gewaltpolitik informieren, in den Gruppen der Men- fen und zur OSZE ausgebaut worden. Es ging auch um schenrechtler, an ihrer Spitze der bewunderungswür- die Bewährung des deutsch-russischen Verhältnisses. dige Sergej Kowaljow, selbst im Offizierskorps der Und es ging, Herr Bundeskanzler, um Ehrlichkeit und Armee. Befehlsverweigerungen von Generälen sind Mut in einer persönlichen Beziehung, die Deutsch- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 643

Norbert Gansel land in der Vergangenheit sehr genutzt hat, die aber in Pflicht — das ist richtig — muß sich an den Maßstäben der jetzigen Situation Rußland schadet. messen lassen, für die der russische Präsident selbst, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zuletzt beim OSZE-Gipfel in Budapest, eingetreten ist: für die Wahrung der Menschenrechte und die Ver- Sie, Herr Bundeskanzler, sind dem Deutschen Bun- hältnismäßigkeit der Mittel. destag eine Erklärung schuldig. Und sagen Sie nicht, was Sie nicht tun können. Erklären Sie, was die Was wir aus Tschetschenien über die Nachrichten Bundesregierung tun wird! erfahren und am Bildschirm erleben, widersp richt nicht nur den Vereinbarungen des OSZE-Dokuments (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ über die vertrauensbildenden und sicherheitspoliti- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der schen Maßnahmen von 1992. Es ist auch nicht mit dem PDS) in Einklang zu bringen, was Rußland mit dem OSZE- Verhaltenskodex unterschrieben hat, wo es in Nr. 36 Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht für alle Unterzeichnerstaaten bindend heißt: In Fällen, der Kollege Rudolf Seiters. in denen zur Erfüllung von Aufgaben der inneren Sicherheit ein Rückgriff auf Gewalt nicht vermieden werden kann, wird jeder Teilnehmerstaat gewährlei- Rudolf Seiters (CDU/CSU): Frau Präsidentin! sten, daß der Einsatz von Gewalt den Erfordernissen Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte ist der Durchsetzung angemessen sein muß. Die S treit- angesichts der bedrückenden, erschreckenden und kräfte werden es sorgsam vermeiden, Zivilpersonen beunruhigenden Bilder aus Tschetschenien und vor zu beeinträchtigen oder deren H ab und Gut zu dem Hintergrund einer nicht ungefährlichen Entwick- beschädigen. — Doch die Bilder aus Grosny — das lung im Osten unseres Kontinents notwendig. Es geht Bombardement, das Leid der Zivilbevölkerung, die um die Wahrung der Menschenrechte und um zerstörte Stadt — zeigen, daß hier mit aller Härte unter menschliche Schicksale. Es geht um Stabilität und Inkaufnahme von Völkerrechtsverletzungen vorge- territoriale Integrität Rußlands. Es geht um die Wei- gangen wird. Das ist nicht nur völkerrechtlich unzu- terentwicklung von Reformen und Demokratie. Dazu lässig, das ist auch politisch nicht akzeptabel. muß der Deutsche Bundestag Stellung beziehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Aber das muß ja nicht mit Unterstellungen gesche- hen, Herr Kollege Gansel. Letztlich kann in Grosny die russische Armee gewinnen. Aber es stellt sich schon die Frage, ob der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Konflikt mit Bomben und Granaten überhaupt beige- Sie haben in einem ruhigen Ton gesprochen. Das ist legt werden kann oder ob damit nicht nur in ein neues der Debatte ja wohl auch angemessen. Aber Sie haben Stadium der Auseinandersetzung, des Guerillakamp- dennoch mit Polemik und Unterstellungen gearbei- fes der Tschetschenen — in ihrem Land selbst, aber tet. auch anderswo —, übergegangen wird. Es wird, was (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ mindestens ebenso problematisch ist, die historisch DIE GRÜNEN]: Das war milder als das, was sowieso schon schwierigen Beziehungen der russi- Lambsdorff und Klose in den letzten Wochen schen Führung zur gesamten nordkaukasischen erklärt haben!) Region schwer belasten. An einer solchen Entwick- lung kann und darf niemand ein Interesse haben. Ich sage Ihnen: Das ist nicht in Ordnung. Mit Polemik und Unterstellungen helfen Sie keinem der betroffe- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) nen Menschen. Deshalb, meine Damen und Herren, brauchen wir (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) eine Feuerpause. Wir appellieren nachdrücklich an Ich will darauf noch eingehen. Aber zunächst Präsident Jelzin und die russische Regierung sowie an möchte ich etwas zu unserer Position sagen. die Tschetschenen, alle Anstrengungen für eine poli- tische Lösung zu unternehmen und dafür auch die Rußland ist in den letzten Jahren einen schweren Vermittlung durch die OSZE zu nutzen. Weg gegangen. Die russische Demokratie ist nach den gewaltigen Umbrüchen der vergangenen Jahre, nach (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) einer jahrzehntelangen Diktatur noch keineswegs Dieser Konflikt kann nur durch eine politische gefestigt. Wir haben ein elementares Interesse daran, Lösung, nicht aber militärisch beigelegt werden. Nur den Prozeß zur Demokratie und zur politischen Stabi- mit einer politischen Lösung ist die Einheit Rußlands lität zu fördern. Ich plädiere dafür, dies bei den zu sichern. Das heißt: vollständige Beendigung des gegenwärtig schwierigen Verhältnissen in Rußland, Blutvergießens, Beachtung der Grundsätze und Ver- bei der Unterstützung der Reformkräfte und den einbarungen der OSZE und Verhandlungen über eine Verhandlungen mit dem ersten demokratisch gewähl- politische Lösung, die den Platz Tschetscheniens in ten Präsidenten der Russischen Föderation, Boris der Russischen Föderation regelt und ihm dabei Jelzin, niemals zu vergessen. autonome Rechte einräumt, die möglicherweise mit Vor diesem Hintergrund sage ich: Niemand bestrei- den im Staatsvertrag zwischen Rußland und der tet, daß der russische Präsident von der Verfassung Autonomen Republik Tartarstan getroffenen Verein- her das Recht und die Pflicht hat, sein Land zusam- barungen vergleichbar sind. Wir haben die große menzuhalten und seine territoriale Integ rität zu wah- Sorge, daß der Demokratisierungsprozeß in Rußland, ren und zu schützen. Niemand kann ein Interesse an der bislang schon einen Rückschlag erlitten hat, sonst Destabilisierung oder an einem Auseinanderfallen weiter gefährdet wird. Das Vorgehen der russischen Rußlands haben. Aber die Wahrnehmung dieser Militärs in Tschetschenien, aber auch die politische 644 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Rudolf Selters Entwicklung in Rußland schadet jedenfalls den Bezie- An sich ist das Thema viel zu ernst, um noch weiter hungen Rußlands zum Westen und zu seinen unmit- darauf einzugehen. Aber ich will es dem Hause nicht telbaren Nachbarn. Das Vertrauen in den russischen vorenthalten, Herr Kollege Voigt; denn Sie haben Reformwillen wird auf eine harte Belastungsprobe mich auch ein bißchen provoziert. Sie haben in diesen gestellt. Tagen ein Interview gegeben und die politische Alternative der Opposition dargestellt. Zunächst Um es noch einmal zu sagen: Wir haben ein elemen- haben Sie gesagt: Mir wäre lieber, wir säßen in der tares Interesse daran, daß Rußland nicht destabilisiert Regierung. und daß der Demokratisierungsprozeß fortgesetzt wird. Vor diesem Hintergrund sind aber Drohgebär- (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Das ist ja den und wirtschaftliche Strafmaßnahmen nicht die selbstverständlich! — Beifall des Abg. Gert richtigen Mittel, weil sie die Falschen treffen Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wir hätten diesen schweren außenpolitischen Fehler, den Bundeskanzler Kohl und Außenminister Kinkel und vor allem die Gegner des Demokratisierungspro- gemacht haben, nicht gemacht; wir hätten ihn vermei- zesses stärken würden. Das sagt im übrigen auch den können. Gaidar. Das sagt im übrigen auch der Menschen- rechtsbeauftragte Kowaljow. Das sagt auch der tsche- (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- chische Präsident Havel. loch] [SPD]) — Warten Sie ab, bevor Sie klatschen. Wenn Sie vor diesem Hintergrund — Herr Gansel, ich attestiere Ihnen gerne, daß Sie sich heute, vergli- Darauf die Frage des Moderators: Ich ernenne Sie chen mit sonstigen Vorwürfen aus den Reihen der SPD hiermit zum Außenminister der Bundesrepublik in den letzten Tagen, sogar ein bißchen zurückgehal- Deutschland. ten haben; dazu muß ich jetzt ein Wort sagen — die (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Um Bundesregierung und auch den Bundeskanzler Himmels Willen!) angreifen, der seit langem nachdrücklich auf dem direkten Weg und in vollem Einvernehmen mit den Was würden Sie jetzt sofort tun? — Als ich dies gelesen Verbündeten, mit Amerikanern und Franzosen — das habe, dachte ich: Jetzt kommt es. — Die Antwort lautet wissen Sie ganz genau —, Einfluß genommen hat, so — so ; das ist die Position der Opposi- sind Ihre Vorwürfe unberechtigt. Ich weise sie im tion —: Namen meiner Fraktion nachdrücklich zurück. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Na! Massiver Widerspruch! (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — — Heiterkeit bei der SPD) Günter Verheugen [SPD]: Wo hat er denn Einfluß gehabt?) Ich würde sofort sagen, daß Jelzin diese internationa- len Verträge verletzt hat Wenn Herr Kowaljow ausdrücklich den direkten Draht zwischen dem Bundeskanzler und Boris Jelzin (Lachen bei der CDU/CSU) als den richtigen Weg der Einflußnahme bezeichnet und daß Rußland, wenn es diese Vertragsverletzung und hinzufügt, Sanktionen und Kontaktverweigerung nicht korrigiert, nicht nur seine menschenrechtspoliti- ergäben erst Sinn, wenn der Zug unwiderruflich in die sche Glaubwürdigkeit, sondern auch die internatio- falsche Richtung abgefahren sei, dann ist Ihre Berner- nale friedenspolitische und abrüstungspolitische kung vom gestrigen Tage, Herr Kollege Voigt, daß der Glaubwürdigkeit gefährdet. — Duzfreund von Helmut Kohl zu einer Belastung für die Demokratie geworden und Helmut Kohl den Demo- (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Da hat kraten in den Rücken gefallen sei, er recht! — Weitere Zurufe von der SPD) Ist das die Alternative der Opposition? (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Absurd!) (Lachen und Beifall bei der CDU/CSU und eine politische Unverschämtheit, die voll auf Sie der F.D.P. — Günter Verheugen [SPD]: Sie zurückfällt. haben nicht einmal fertiggebracht, das zu (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — sagen! Diese Leisetreterei! — Weitere Zurufe Karsten D. Voigt [Frankfurt] [SPD]: Sachlich von der SPD) ist sie richtig!) — Nein, ich hatte dies hier eigentlich nicht zitieren Wenn Sie den Bundeskanzler kritisieren, können wollen, aber es ließ sich dann doch nicht vermeiden. Sie in Ihrer Kritik gleichzeitig noch den französischen Denn Sie können nicht ins Parlament gehen und eine Staatspräsidenten, den polnischen Staatspräsidenten ruhige Rede halten, nachdem Sie vorher tagelang und den tschechischen Staatspräsidenten ins Visier gegen die Regierung, gegen den Außenminister und nehmen, die sich in ihrer Haltung überhaupt nicht von den Bundeskanzler, polemisiert haben. Das geht der Position des deutschen Bundeskanzlers unter- nicht! Hier findet die politische Auseinandersetzung scheiden. Sie von der Opposition haben bislang kei- statt! nen einzigen konkreten und wirklich vernünftigen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Vorschlag gemacht, wie vom Westen und von seiten der Bundesrepublik Deutschland hätte anders rea- Kommen Sie bitte einmal hierher und erklären Sie, giert werden sollen. wie die Position der sozialdemokratischen Fraktion ist: Lehnen Sie Wirtschaftssanktionen ab wie Scharping, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) oder befürworten Sie sie wie Schröder? Bei den Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 645

Rudolf Seiters Menschenrechtseinlassungen des niedersächsischen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien Ministerpräsidenten fällt mir mit Blick auf die Vergan- nicht vorbeisehen können. Aber wir können nur genheit allerdings nur eines ein: Er ist angesichts hoffen, daß baldmöglichst eine Situation eintritt, daß seiner Haltung zu Honecker und zu Salzgitter kein das Verfahren wieder aufgenommen werden kann. Säulenheiliger der Menschenrechte, meine Damen Wir wollen auch weiterhin eine besondere Partner- und Herren. schaft zwischen Rußland und der Europäischen Union (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — sowie der NATO. Rußland soll im neuen demokrati- Widerspruch bei der SPD — Joseph Fischer schen Europa seinen ihm angemessenen Platz finden. [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr Aber dafür muß Rußland auch selbst seinen Beitrag müßt Euch aber sehr unter Druck fühlen, daß leisten. Ihr hier einen solchen Müll absondert! Depo Rußland als Partner darf nicht frei sein, nach nierhetorik!) eigenem Gutdünken zu walten und seine Bedin- Wer sich so verhalten hat, sollte mit seiner Kritik an gungen für die Mitwirkung zu stellen, ohne auf anderen etwas zurückhaltender auftreten. gemeinsame Regeln und Interessen Rücksicht zu (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ nehmen. DIE GRÜNEN]: Meine Güte!) Das hat kürzlich Lothar Rühl geschrieben. Er fährt fort: Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Darf ich bitten, daß Die politische Kernfrage richtet sich an Rußland Sie wieder zuhören. selbst: Ist es fähig, am europäischen Völkerrecht und an einer europäischen Sicherheitsgemein- (CDU/CSU): Meine Damen und Rudolf Seiters schaft teilzunehmen? Herren, wir wollen, daß Rußland auf den Weg der Einhaltung der Menschenrechte, der Demokratisie- Meine Damen und Herren, wir unterstützen alle rung und der wirtschaftlichen Reformen zurückkehrt. internationalen Bemühungen um eine politische Wir wollen, daß auch Rußland den Weg zu einem Lösung des Konflikts. Wir unterstützen den Bundes- Rechtsstaat, zu einer parlamentarischen Demokratie kanzler und die Bundesregierung in ihren vielfältigen und zu einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung geht. Bemühungen um die Wiederherstellung des Friedens. Wir wissen, daß dies ein schwieriger Weg, ein weiter Wir appellieren an die russische Regierung und die Weg und ein Weg weg von der totalitären Weltmacht Tschetschenen, das Blutvergießen zu beenden und Sowjetunion hin zu einem demokratischen Rußland eine politische Lösung zu suchen, die den berechtig- ist, das die Hilfe von außen braucht. Das ist ein ten Interessen Rußlands wie der Bevölkerung Tsche- schwieriger Weg, aber die Chance dafür besteht- nach tscheniens Rechnung trägt. wie vor. Deswegen müssen wir um der Menschen- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) rechte willen, aber auch, um die Chance für eine besondere Partnerschaft mit Rußland zu wahren, alle Möglichkeiten nutzen, die uns, den Regierungen und Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht den Parlamentariern, zur Verfügung stehen, um die Kollege Gerd Poppe. demokratischen Kräfte in Rußland wieder zu stär- ken. Europäische Union und die USA müssen dafür Gerd Poppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau ihren ganzen politischen Einfluß aufbieten, damit der Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Her- Demokratisierungsprozeß fortgesetzt wird. Das wol- ren! Wie glaubwürdig, meinen Sie, Herr Bundeskanz- len wir natürlich mit allen Reformkräften tun, aber in ler, Sie, Herr Außenminister, ist eigentlich Ihre erster Linie doch auch mit dem frei gewählten Präsi- Außenpolitik in den Augen der russischen Demokra- denten Rußlands, auf den wir in allererster Linie ten, wenn durch den barbarischen Krieg gegen ein Einfluß nehmen wollen. Gerade das erwarten doch kaukasisches Volk nach Ihren Worten, Herr Kinkel, auch die Reformer von uns. Eines füge ich hinzu: Wer das positive Grundverhältnis zu Rußland nicht tan- auf den Abgang und den Sturz von Jelzin spekuliert, giert sei? Als Sie das sagten, hat niemand in Tsche- der muß sich auch fragen lassen: Was kommt tschenien vernommen, wie Sie als erster gegen den danach? Feldzug der russischen Armee gegen die tschetsche- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und nische Zivilbevölkerung protestiert haben. der F.D.P.) (Bundesminister Dr. Klaus Kinkel: Doch, das Zu den Möglichkeiten der Einflußnahme zählt auch habe ich!) die Parlamentarische Versammlung des Europarates, Ich nenne das ein moralisches und auch ein politisches in der russische Abgeordnete einen Gaststatus besit- Versagen deutscher Außenpolitik. zen. Wir wollen, daß Rußland Vollmitglied im Europa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN rat wird. Das politische Gewicht des Europarates und bei der SPD) hängt aber auch davon ab, daß er seine Glaubwürdig- keit wahrt, die er sich insbesondere auf dem Gebiet Das wird auch nicht dadurch korrigiert, daß Sie seit der Menschenrechte und Minderheitenrechte erwor- drei Tagen an Jelzin deutlichere Aufforderungen ben hat. Deshalb hat der Politische Ausschuß der richten. Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Eine der Lehren aus 1989/1990 ist, daß die Formel der vergangenen Woche beschlossen, das Aufnahme- von der Nichteinmischung in die inneren Angelegen- verfahren für die Vollmitgliedschaft Rußlands zu- heiten von Staaten permanent mißbraucht wird und nächst ruhen zu lassen, weil die Europäer an den deswegen fragwürdig geworden ist. Schwerwiegende 646 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Gerd Poppe Menschenrechtsverletzungen erfordern regelrecht Bombardierung von Grosny, kann nur als Skandal unsere Einmischung. angesehen werden. Herr Bundeskanzler, ich weiß nicht, was Sie Jelzin (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am Telefon gesagt haben. Ich weiß aber, daß öffentlich sowie bei Abgeordneten der SPD und der und deutlich vernehmbar die Wahrheit gesagt werden PDS) muß und die Konsequenzen in aller Härte dargestellt werden müssen, wenn autoritäre Regierungen den Ziehen Sie die Konsequenzen aus den Ereignissen Frieden gefährden oder Menschenrechte schwer ver- und laden Sie Gratschow wieder aus! letzen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS) PDS)

Das öffentliche Schweigen zu Rückfällen in totalitäres Wenn sich fast 80 % der russischen Bevölkerung Verhalten wird von den Opfern als Einverständnis mit gegen den Krieg in Tschetschenien aussprechen, den Tätern empfunden. dokumentiert das auch den innenpolitischen Fehl- schlag. Die Haßkampagne gegen die Tschetschenen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die anderen Kaukasier hat nicht zum gewünsch- sowie bei Abgeordneten der SPD und der ten Erfolg geführt. Wie seine sowjetischen Vorgänger PDS) hat auch Jelzin die Beziehung zur Stimmung des Nach den Grundsätzen der KSZE/OSZE gehen Volkes verloren. Staaten auch Verpflichtungen gegenüber der eigenen Bevölkerung ein. Jelzin hat die Budapester OSZE- Unsere Fraktion hat in den letzten Tagen Gespräche Vereinbarung unverzüglich zur Makulatur werden mit zwei Mitgliedern der russischen Menschenrechts- lassen, und Sie nehmen das wochenlang kommentar- organisation „Memorial" geführt. Sie berichteten los hin, wie Sie sich auch damit abfinden, daß der von den russischen Soldaten, die den Krieg gegen Einfluß eines KGB-Leibwächters offenbar größer ist Tschetschenien überwiegend ablehnen. Sie baten um als der aller westlichen Demokraten zusammenge- Hilfe für die Befehlsverweigerer. Sie sprachen dar- nommen. über, daß sich Russen und Tschetschenen in Grosny gegenseitig helfen, daß aber ihre Beziehungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN- — ähnlich wie in Bosnien — immer zerbrechlicher sowie bei Abgeordneten der SPD und der werden, je länger der Krieg dauert. Sie berichteten PDS) davon, wie der Krieg die Ansätze der Demokratie zerstört. Über die Motive des russischen Präsidenten, sich in ein solches militärisches Abenteuer zu stürzen, kann Meine Damen und Herren, der alte Apparat, ver- nur spekuliert werden. Es liegt nahe, sich daran zu bündet mit dem nach wie vor dominanten militärisch erinnern, was schon oft in vielen Teilen der Welt in industriellen Komplex, beherrscht das Land. Eine vergleichbaren Situationen erprobt wurde: die Mobi- Gewaltenteilung existiert nach wie vor nicht. Ihre lisierung von nationalistischen Ressentiments als Institutionalisierung wird vom Präsidialapparat im- nationalem Kitt. Wer die wesentlichen politischen und mer wieder unterlaufen. wirtschaftlichen Probleme nicht lösen kann, riskiert zur Wahrung seiner Interessen und zur Aufbesserung Dieser Zustand darf von den Demokratien des seines innenpolitischen Prestiges schon einmal einen Westens nicht beschönigt werden. Ich plädiere nicht in seinen Folgen irrtümlich für überschaubar gehalte- für einen Wirtschaftsboykott. Das heißt aber nicht, daß nen Krieg. Der wird dann begleitet von chauvinisti- Sanktionen grundsätzlich auszuschließen wären, schen Kampagnen gegen das als feindlich ausge- wenn die Kämpfe nicht unverzüglich beendet wür- machte Volk — in diesem Fall die Tschetschenen, die den. Ich spreche mich deswegen gegen die russische pauschal als Kriminelle bezeichnet werden. Erst Mitgliedschaft im Europarat ebenso aus, wie ich mich gestern zeichnete Schirinoswski, einer der wenigen für die Exportbeschränkung strategisch wichtiger verbliebenen potentiellen Verbündeten von Jelzin, Güter und Technologien ausspreche. Am wichtigsten ein Horrorbild: Hunderttausend kaukasische Terrori- aber ist und bleibt die Unterstützung der Demokra- sten würden nur darauf warten, als Rache für Tschet- tiebewegung, und hier fehlt es bisher an der nötigen schenien in Moskau Angst und Schrecken zu verbrei- Konsequenz. ten. Nun hat sich allerdings einmal mehr erwiesen, daß Während des konservativen Putsches 1992 wurde sich solches Vorgehen nicht auszahlt. Zum einen zeigt Jelzin zu Recht unterstützt. Inzwischen ist deutlich das militärische Desaster den desolaten Zustand der geworden, daß ihm die persönliche Macht das Wich- russischen Armee und ihre inneren Konflikte, bei- tigste ist. Sein damaliges Engagement für demokrati- spielsweise zwischen Realisten wie General Lebed sche Reformen erscheint heute als zeitweiliges takti- und Abenteurern wie Gratschow. sches Mittel gegen den alten Apparat. Kaum fühlt sich die neue Elite etabliert, werden die alten Mittel zum An Sie, Herr Rühe, möchte ich eine Aufforderung Machterhalt angewandt. Der Sicherheitsrat Jelzins richten: Die Aufrechterhaltung einer Einladung an gebärdet sich wie das frühere Politbüro. Wenn z. B. Gratschow, einen Hauptverantwortlichen für die Jelzins Sprecher in einem Zeitungsartikel von „libe- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 647

Gerd Poppe ralem Informationsterror" spricht, fühle ich mich an auch die zweitgrößte Oppositionspartei in der Sub- finstere Zeiten erinnert. stanz keine wesentlich anderen Vorschläge zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN machen haben, wie wir uns als Deutsche in dieser sowie bei Abgeordneten der SPD und der Situation verhalten könnten und müßten, als sie von PDS) der Bundesregierung, und zwar vom Anfang der Auseinandersetzung an, vorgetragen worden sind. Wir haben schon bei Gorbatschow erlebt, wie ein russischer Politiker als Reformer begann und zum (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND Verteidiger überholter Strukturen wurde. NIS 90/DIE GRÜNEN — Werner Schulz [Ber lin] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zurecht Ich zitiere Jan Ratschinskij, einen unserer Ge- bieger Irmer!) sprächspartner aus der Gruppe „Memorial": Unsere Überlegung darf jetzt nicht sein, wie sich — Augenblick, ich will es ja erklären; hören Sie doch Jelzin weiter an der Macht halten lasse. Es ist zu. vielmehr zu überlegen, wie ein Rückfall Rußlands (Karsten D. Voigt [Fr ankfurt] [SPD]: Alzhei in die Vergangenheit verhindert werden kann. mer!) Und das sind zwei verschiedene Dinge. Ich fürchte, daß in dem, was als Substanz der Kritik (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hier übrigbleibt, nämlich es sei alles zu spät und nicht sowie bei Abgeordneten der SPD) hart und nicht deutlich und nicht massiv genug gesagt Ich gebe Ihnen recht, Herr Kinkel, daß wir uns nicht worden, eine ganz erhebliche Überschätzung der gegen Rußland wenden dürfen. Es gibt ja auch ein Möglichkeiten deutscher Außenpolitik in einer sol- anderes Rußland. Im letzten Sommer hatte ich die chen Situation zum Ausdruck kommt. Gelegenheit, in Moskau ein langes Gespräch mit (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Sergej Kowaljow zu führen. Ihn beschäftigte die Frage DIE GRÜNEN]: Das gilt ja für die ganze nach dem Verhältnis von Moral und Politik. Er Welt!) vermutete schon damals, daß er sich bald zu entschei- den haben werde zwischen der weiteren Teilhabe an Ich möchte nebenbei daran erinnern, daß es da, wo der Macht und dem konsequenten Eintreten für die wir wirklich handeln können und uns dann auch dazu Menschenrechte, mit dem Risiko, sein Amt aufgeben durchringen, etwas zu tun, und Vorschläge machen, in zu müssen. Ich meine, daß er, wie schon zu Zeiten der der Regel die Opposition ist, die sagt: Aber bitte das Diktatur, ebenso die richtige Wahl getroffen hat wie nicht, zumindest nicht mit uns. Und jetzt wird hier plötzlich so getan, als wäre die ganze Geschichte in diejenigen russischen Journalisten, die ungeachtet- aller Drohungen die Wahrheit berichten, wie die Tschetschenien nicht passiert, wenn der Bundeskanz- Soldaten und Generäle, die sich weigern, auf ihre ler und der Bundesaußenminister 14 Tage früher Landsleute zu schießen, und ganz besonders wie die Herrn Jelzin beschimpft hätten. Meine Damen und Mütter, die ihre Söhne aus dem Krieg abgeholt und Herren, das ist doch eine groteske Vorstellung. nach Hause zurückgebracht haben. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sie haben gesagt, Herr Gansel: Wäre diese Regie- sowie bei Abgeordneten der SPD und der rungserklärung 14 Tage früher gekommen, dann PDS) wäre sehr viel Leid vermieden worden. Meine Damen und Herren, wenn wir Rußlands Weg zur Demokratie wirklich unterstützen wollen, dann (Norbert Gansel [SPD]: Ja!) müssen wir endlich darauf hören, was diese Men- Das ist doch eine absurde Überschätzung der Mög- schen uns zu sagen haben. lichkeiten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich will Ihnen einmal sagen, was hier zu berücksich- sowie bei Abgeordneten der SPD und der tigen ist. Die Situation ist ja nicht ganz einfach. Wir PDS) müssen einmal betrachten, in welchem Rahmen und unter welchen Gesamtumständen dieser Krieg in Tschetschenien stattfindet. Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Ulrich Irmer. Wir haben uns nach 1989 alle der Illusion hingege- ben, der Weltfriede sei ausgebrochen und der Krieg als Mittel der politischen Auseinandersetzung könne Ulrich Irmer (F.D.P.): Frau Präsidentin! Meine vergessen werden. Damen und Herren! Herr Gansel hat ausdrücklich erklärt, daß er mit der Regierungserklärung, die der ( [Köln] [SPD]: Wer? — Weiterer Bundesaußenminister für die Bundesregierung abge- Zuruf von der SPD: Nicht alle!) geben hat, einverstanden ist. — Sie am allerersten, denn Sie haben den Verteidi- (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Vier Wochen zu gungshaushalt damals für drei andere Zwecke verteilt spät!) und sind noch heute der Meinung, daß wir Verteidi- gung — jedenfalls im Prinzip — in der Form, in der wir — Augenblick, ich komme darauf, Frau Kollegin es für richtig halten, nicht mehr benötigen. Fuchs. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Ich finde es gut und positiv und stelle mit Genugtu- ung fest, daß die große Oppositionspartei, aber, wie Leider war das eine Illusion. Wir müssen uns klar- ich den Worten von Herrn Poppe entnommen habe, machen, was inzwischen geschehen ist. Es geht bei 648 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Ulrich Irmer den Auseinandersetzungen, die wir leider erleben, Mittel aufgezeigt haben, die von uns eingesetzt wer- nicht mehr darum, daß sich Völkerrechtssubjekte den können. miteinander in Krieg befinden, wofür es verbindliche Hier ist in erster Linie die Organisation für Sicher- Völkerrechtsregeln in Hülle und Fülle gibt, sondern heit und Zusammenarbeit in Europa zu nennen. es geht darum, daß sich die derzeitigen Auseinander- Allerdings müssen deren Möglichkeiten weiter ge- setzungen — ob in Ex-Jugoslawien, ob in Tsche- stärkt werden. Wir müssen dafür sorgen, daß ein tschnien oder in anderen Teilen Rußlands, ob etwa in Krisenreaktionsmechanismus eingeführt wird, der bei Südostanatolien — innerhalb von Staaten abspielen. derartigen Auseinandersetzungen automatisch in Das macht die Sache sehr schwierig, weil unser Kraft tritt. Es wäre sicher nützlich gewesen, wenn sich Völkerrecht dafür bisher ausreichende Regeln nicht die russische Regierung und die tschetschenische bereitgestellt hat. Deshalb müssen wir es weiterent- Führung frühzeitig, ehe es zu einem bewaffneten wickeln. Konflikt gekommen wäre, mit der Bitte um Vermitt-

Ich räume ein, daß es in der Völkerrechtsdiskussion lung an die OSZE — damals KSZE — gewandt hätten. eine positive Entwicklung gegeben hat. Ich erinnere Vielleicht hätte das dazu führen können, daß der daran, daß der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Konflikt im Vorfeld durch Krisenmanagement und nach dem Golfkrieg, als sich Saddam Hussein gegen Krisenpräventionsmechanismen hätte abgewendet die Kurden in seinem eigenen Land mit massivsten und geschlichtet werden können. Menschenrechtsverletzungen gewandt hat, erklärt Meine Damen und Herren, es hat doch keinen Sinn, hat: Dies ist nicht mehr eine innere Angelegenheit des daß wir diese Debatte über das so grauenvolle Thema Irak, sondern dann, wenn Menschenrechtsverletzun- Tschetschenien nur dazu benutzen, daß die einen der gen ein gewisses Ausmaß annehmen und eine be- Bundesregierung vorwerfen, sie hätte in den letzten stimmte Dimension überschreiten, ist die Staatenge- 14 Tagen eine etwas deutlichere Sprache sprechen meinschaft davon betroffen. müssen, und wir jetzt sagen, alles, was geschehen ist, (Markus Meckel [SPD]: Hat die Bundesregie- ist in Ordnung. Das bringt uns doch nicht weiter. rung das denn im Sicherheitsrat einge- Wir müssen überlegen, was wir aus diesem schreck- bracht?) lichen Vorfall möglicherweise an zukunftsweisenden — Lieber Markus Meckel, ich will das gerade erklä- Konsequenzen ziehen können. Es muß uns doch ren. darum gehen, die Lehren aus dieser Situation zu ziehen, um vielleicht in der Zukunft ähnlich schreck- Natürlich handelt es sich beim Tschetschenien liche Dinge verhüten zu können oder zur Verhütung Konflikt einerseits um eine innere Angelegenheit - zumindest einen Beitrag zu leisten. Das sollte Aufgabe Rußlands, und zwar in dem Sinne, daß auf der anderen dieser Debatte sein. Seite nicht ein Völkerrechtssubjekt steht, so daß also eine Anwendung des Art. 51 der UN-Charta nicht (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne gegeben wäre. Das heißt andererseits selbstverständ- ten der CDU/CSU) lich nicht, daß die massiven Menschenrechtsverlet- Deshalb will ich ein paar allgemeine Punkte anspre- zungen, der Krieg und das Blutvergießen, die von der chen, deren Diskussion sich im Zusammenhang mit Bundesregierung angeprangert worden sind, uns dem Tschetschenien-Konflikt geradezu anbietet. nicht betreffen. Nur, wir müssen uns doch die Frage stellen: Was können wir denn tun? (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Bei manchen Kommentaren in der Öffentlichkeit DIE GRÜNEN]: Eine irrsinnige Rede ist hatte ich den Eindruck: Die Empörung schlägt riesig das!) hohe Wellen, was ich voll verstehe. Ich teile diese Wir müssen ein Fragezeichen hinter die Meinung Empörung. Aber wenn gesagt wird: „Da muß man setzen, die sagt: Das Selbstbestimmungsrecht der doch etwas unternehmen" , dann frage ich mich: Was Völker muß in jedem Fall dazu führen können, daß empfehlen die Damen und Herren, die so reden? sich ein Volk, wie klein oder groß, wie allein in seinem Sollen wir die NATO dorthin schicken, oder was sollen Territorium lebend, wie mit anderen ethnischen wir machen? Ich bitte, bei allen Vorschlägen, die Gruppen durchmischt, von einer gegebenen Land- gemacht werden, realistisch zu sein und auch daran zu karte isolieren und sagen kann, wir haben das Recht denken, daß allein durch verbale Kraftakte kein zur Sezession. Menschenleben gerettet wird. Wenn das das uneingeschränkte und alleingültige (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Prinzip sein sollte, dann geraten wir an einigen Stellen DIE GRÜNEN]: Fragen Sie doch mal Graf der Welt künftig in ein Chaos, dessen Ausmaße wir Lambsdorff! Fragen Sie ihn doch mal!) uns heute noch gar nicht vorstellen können. Denken wir an Rußland selbst, wo es allein im Kaukasus mehr Was die Bundesregierung, der Bundesaußenmini- als 100 unterschiedliche Völkerschaften gibt. Denken ster und der Bundeskanzler, in dieser Situation getan wir an Afrika, wo die weise Entscheidung der Orga- hat, findet unsere volle Unterstützung, und zwar nisation für Afrikanische Einheit das Prinzip aufge- deshalb, weil sie nicht hektisch und nicht kopflos stellt hat: Grenzen sind unantastbar, wie willkürlich gehandelt haben und weder nach rechts noch nach sie auch zustande gekommen sein mögen. links oder wo auch immer hin voreilig Verurteilungen ausgesprochen haben, sondern weil sie den Stand- Es wird zum Chaos führen, weil es außer dem punkt klargemacht haben, Menschenrechtsverlet- Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker mit zungen, Bombardements und Blutvergießen können eventuell daraus folgendem Sezessionsrecht andere nicht akzeptiert werden, und weil sie gleichzeitig die Völkerrechtsprinzipien gibt, deren Geltung im Inter- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 649

Ulrich Irmer esse der Menschenrechte und des Überlebens durch ihre Tschetschenienpolitik unmöglich gemacht, genauso wichtig ist. Dazu gehört beispielsweise das diesem Gesuch jetzt zu entsprechen. Recht der Minderheiten auf Achtung ihrer Autonomie, Es gab — das soll man nicht vergessen — auch so daß sich für Tschetschenien anbietet, über Autono- andere Zweifelspunkte. Es gab einen Katalog von mieformen zu verhandeln, die unterhalb der Schwelle 40 Punkten, der erst einmal abgearbeitet werden der staatlichen Sezession liegen. Der Grundfehler, mußte. Wir sollten aber jetzt nicht zu einer Ablehnung den Dudajew und seine Leute gemacht haben, liegt des Beitrittsgesuchs von Rußland kommen, um die darin, daß sie außer der Sezession, der Bildung eines Türen nicht zuzuschlagen, um den Weg nicht zu eigenen Staates, nichts anderes im Sinne gehabt verbauen, sondern wir sollten den Russen deutlich haben. sagen: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben; es liegt jetzt an euch. Macht euch fit für Europa, macht euch Was können wir tun? Wir müssen aus der Situation bereit dafür, eine ständige Zusammenarbeit auch in Tschetschenien auch die Lehre ziehen, daß es für innerhalb des Europarates und in bezug auf seine Nachbarn im Osten jetzt natürlich noch schwe- unsere Menschenrechtspolitik mit uns gemeinsam zu füh- rer ist, ihre Sicherheit als gewährleistet anzusehen. Es ren. wird ganz zwangsläufig aus Polen, aus Ungarn, aus der Tschechischen und aus der Slowakischen Repu- Machen wir uns nichts vor: Ohne Rußland wird blik und aus anderen Ländern die Bitte an uns Europa nicht überleben können; denn Rußland ist zu dringlicher werden, ihnen dadurch zusätzliche groß, zu stark, und Rußland ist Teil Europas. Das Sicherheit zu verschaffen, daß wir sie in unsere wissen wir, und die Russen wissen es im Prinzip auch. westlichen Organisationen aufnehmen, und zwar Sie sollten es sich nur klarmachen. Sie sollten aber bald. auch wissen, daß die Zugehörigkeit zu Europa Ver- pflichtungen mit sich bringt, die man nicht mit einer Ich glaube und hoffe nicht, daß sich Rußland bei Armee und mit Bomben beiseite fegen kann. allen Erfahrungen, die wir mit Tschetschenien Hoffen wir, daß Rußland diese Botschaft versteht. gemacht haben, gegen seine Nachbarn, die völker- Ich ermuntere die Bundesregierung, die richtige Poli- rechtlich unabhängig geworden sind, wenden wird. tik, die sie in dieser sehr, sehr schwierigen Frage Aber ich verstehe die Sorgen, die in diesen Ländern bisher eingeschlagen hat, unbeirrt fortzuführen. durch die Vorgänge in Tschetschenien ausgelöst wer- den. Deshalb ist unsere Politik der Annäherung, der Ich danke Ihnen. Öffnung zu diesen Ländern heute dringlicher und (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) eiliger denn je. - (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Als nächster spricht ten der CDU/CSU) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: der Abgeordnete Graf Einsiedel. Was können wir in Richtung Rußland tun? Wir können die demokratischen Kräfte stützen und einen ständigen Dialog führen, wobei es Aufgabe der Bun- Heinrich Graf von Einsiedel (PDS): Sehr geehrte desregierung ist — das hat sie auch getan —, durch die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ihr zur Verfügung stehenden Kontakte mit der Regie- Durch die Felsen, durch die Lande rung, mit den Machthabern mäßigend auf Rußland strömt des Tereks Flut. einzuwirken. Der Tschetschene schleicht am Strande, Unsere Aufgabe als Parlamentarier ist es, den wetzt sein Messer gut. Dialog mit den demokratischen Kräften in Rußland zu Doch Dein Vater ist ein Reiter, intensivieren. Wir müssen Rußland mit unseren sehr greift ihn auf im Nu. bescheidenen Kräften dabei helfen, den sehr schwe- Schlaf mein Bub, ren und dornigen Weg zur Stabilität und zur Demo- schlaf ruhig weiter, kratie zu finden. Bajuschki baju. Du wirst groß, die Zeit hat Flügel, Ich bedaure es außerordentlich, daß es uns in zwei wirst ein Held wie er. Wochen in Straßburg bei der Sitzung der Parlamenta- Hurtig steigst du in die Bügel, rischen Versammlung des Europarats nicht möglich greifst nach dem Gewehr. sein wird, bereits jetzt dem Beitrittsgesuch Rußlands Vor über 60 Jahren habe ich als zehnjähriger zu entsprechen. Dies ist nicht unsere Schuld. Das hat Pfadfinder dieses Wiegenlied von Lermontow am Rußland durch sein Verhalten selbst verursacht. Lagerfeuer gesungen, und ich muß zugeben, ich war Ich kenne die Theorie — im Falle der Slowakei ergriffen von der Kosakenromantik dieser Verse. Aber haben wir sie angewandt —, daß man Länder, bei wir leben nicht mehr im 19. Jahrhundert, und der denen man Zweifel hat, ob sie denn wirklich dauerhaft Präsident der Russischen Föderation ist kein jugend- auf dem rechten Weg sind, erst einmal in unsere licher Kosak mehr, der von den Schwielen vom Säbel Organisation einbindet, um dann von innen heraus an den Händen träumen darf. um so stärker auf sie einwirken zu können. Das mag Das ist die lange, schwere Vergangenheit. Die bei einem kleinen Land wie der Slowakei funktionie- Tschetschenen haben die Unterwerfung durch die ren; ich hoffe, es wird funktionieren. Bei einem zaristischen Kosaken erlebt, die Deportation durch die immens großen Land wie Rußland scheidet diese Sowjetmacht, die ein Viertel von ihnen nicht überlebt Möglichkeit aus. Die Russen selber haben es uns hat. 650 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Heinrich Graf von Einsiedel Kein Bub, keine Familie in Rußland, niemand in tschenien als willkommenen Vorwand zu benutzen, Europa kann ruhig schlafen, wenn in einem brutalen um die Ausdehnung der NATO nach Osten zu forcie- Angriffskrieg eines riesigen Staates gegen einen win- ren. zigen Nachbarn in wenigen Wochen Zehntausende (Beifall bei der PDS) von Soldaten und Zivilisten umkommen, wenn eine Großstadt mit Bomben und Granaten zusammenge- Das wäre ihrer und unserer Überzeugung nach eben schossen wird wie einst Woronesh und Stalingrad und die entscheidende Fehlreaktion des Westens, ein Hunderte andere russische Städte durch die deutsche folgenschwerer Mangel an Behutsamkeit. Wehrmacht. Kein vernünftiger Mensch kann einen weiteren Schon in der Diskussion über die Regierungserklä- Zerfall der Russischen Föderation wünschen. Aber rung hat hier niemand außer Gregor Gysi von Tsche- kein vernünftiger Mensch kann auch glauben, daß ein tschenien gesprochen. Am 22. Dezember 1994 hat der Mann diese territoriale Integrität der Russischen Vorsitzende der PDS an den Bundesaußenminister Föderation mit Blut und Eisen bewahren kann — auch geschrieben und energische politische und diplomati- nicht, wenn er Jelzin heißt, der sich offenbar als ein sche Schritte eingefordert, um dem Morden ein Ende neuer Ataman vorkommt, aber gegen dessen Willkür zu machen. Er ist nicht einmal einer Antwort gewür- der Protest und Widerstand im eigenen Lande wächst, digt worden. der heute bereits von seinen ehemaligen Anhängern Jeder vernünftige Mensch hierzulande muß sich bis zu den linken demokratischen Kräften reicht. aber fragen, was das Papier eigentlich wert ist, auf Die Regierungskoalition versichert uns, man müsse dem die internationalen Protokolle und Abkommen behutsam sein, weil es keine Alternative zu Jelzin unterzeichnet wurden, die einen solchen Angriff gebe. Aber das Problem besteht nicht da rin, wer gegen einen faktisch und de jure unabhängigen Staat gerade an der Spitze steht, sondern darin, wie attrak- verboten haben, wenn nicht einmal ihre Einhaltung tiv die Russische Föderation durch die Achtung der gefordert wird. Menschenrechte wird, durch Achtung von Verfassung Wir wissen sehr wohl, daß wir nicht mehr zur Zeit und Recht, durch demokratische Kontrolle der Macht, des Berliner Kongresses leben, wo der Kanzler durch Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschlands als Friedensmakler auftreten konnte. Völker. Dazu fehlt der Bundesrepublik Gott sei Dank die Statur und ihrem Bundeskanzler und seinem Außen- Dieses Recht, bis hin zur Sezession, war sogar schon minister — — Na ja, lassen wir das. in der Verfassung der UdSSR festgeschrieben, wurde aber nie gewährt. Es war Jelzin selbst, der 1991 von (Heiterkeit und Beifall bei der PDS)- diesem Verfassungsrecht Gebrauch machte, als er die Aber ist das eine Entschuldigung dafür, daß die Sowjetunion mit einem Federstrich auflöste und die Bundesregierung nicht gemeinsam mit allen Partnern, Sowjetrepubliken aufforderte, sich so viel nationale die diese internationalen Verträge unterzeichnet Selbständigkeit zu nehmen, wie sie wollten. Ist jetzt haben, jedweden politischen und moralischen Druck die Zeit gekommen, dieses Recht mit brutaler militä- auf die gegenwärtigen Machthaber in der Russischen rischer Gewalt wieder auszulöschen? Föderation ausübt, um sie vor der Verletzung und Die Bundesregierung wäre sicher nicht schlecht Mißachtung dieser Verträge und Abkommen zu war- beraten, wenn sie sich, statt allein auf Jelzin zu setzen, nen und den Verzicht auf eine gewaltsame, militäri- auf jene demokratischen Kräfte in Rußland orientieren sche Lösung ihrer Konflikte mit dem kleinen Nach- würde, die fordern, dem Blutvergießen in Tschetsche- barn zu fordern? nien sofort ein Ende zu setzen, aufrichtige Verhand- Behutsam müsse man mit Jelzin und seinen Hinter- lungen ohne Vorbedingungen mit der tschetscheni- männern umgehen — wird uns gesagt —, um nicht schen Führung zu beginnen und einen für beide Wasser auf die Mühlen von Nationalisten jeder Cou- Seiten annehmbaren Status Tschetscheniens auszu- leur zu leiten. Aber was unterscheidet eigentlich diese handeln. Machthaber noch von Schirinowski? Daß noch keine Atombombe auf Grosny geworfen worden ist, wie Noch heute wird der einstigen sozialliberalen Koali- dieser fordert? Das ist eine Behutsamkeit, die die tion — ja, wo sind die Liberalen geblieben? — vorge- russischen Demokraten, die Widerstand gegen die worfen, sie habe sich bei ihrer Entspannungspolitik Chauvinisten im eigenen Lande leisten, fatal an die gen Osten nicht genügend um den demokratischen Appeasement-Politik unseligen Angedenkens erin- Widerstand im Ostblock gekümmert. Wenn dies nert. damals ein Fehler gewesen sein sollte, dann sind Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoali- Sie sagen uns und anderen, daß der Westen zu tion, auf dem besten Weg, ihn mit Ihrer Rußlandpolitik zögerlich, zu behutsam und vor allem viel zu spät auf zu wiederholen — in einer ganz anderen Situation, wo die sich abzeichnende russische Aggression gegen es nicht bloß um demokratische Rechte, sondern um Tschetschenien reagiert hat. Diese demokratischen tägliches Morden und um Zehntausende von Toten Kräfte schreien nach moralischer und politischer geht. Unterstützung aus dem Westen. (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Durch Danke. die Kommunisten!?) (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ Gleichzeitig beschwören sie uns, Widerstand gegen DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der alle Bestrebungen zu leisten, den Überfall auf Tsche SPD) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 651

Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster spricht auch als Mitglied der Organisation für Sicherheit und der Bundeskanzler. Zusammenarbeit in Europa anerkannt hat, uneinge- schränkt zu achten sind. Ich habe es in meinen Gesprächen so formuliert: daß es hierzulande nie- Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Frau Präsidentin! mand verstehen kann, wenn Flächenbombardements Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es fällt mir und Angriffe gegen die Zivilbevölkerung als angeb- schwer — aber ich will es nicht unterdrücken —, ein lich geeignetes Mittel angesehen werden, um zu einer Wort zu meinem Vorredner zu sagen. Es fällt mir friedlichen Lösung zu kommen, und daß wir ein deswegen so schwer, weil hier einer für eine Partei solches Vorgehen entschieden ablehnen. gesprochen hat, die in der Verantwortung für die Versklavung, für Bautzen und Waldheim und viele (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Deutsch- Meine Damen und Herren, deswegen sollten wir es land steht. hier unterlassen, einander in dieser Frage — über (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. unsere Bereitschaft, für Menschenrechte einzutre- sowie bei Abgeordneten der SPD) ten — Nachhilfe zu erteilen. Ich brauche von nieman- Es ist ein hohes Maß an Unverfrorenheit, in dieser dem in diesem Saal Nachhilfe auf diesem Gebiet. Als Weise in diesem Parlament zu sprechen, ich vor 12 Jahren Bundeskanzler wurde, habe ich in einer unmißverständlichen Weise die Achtung der (Gerhard Zwerenz [PDS]: Das ist nicht wahr, Menschenrechte für unsere Landsleute in der damali- was Sie da sagen! — Weitere Zurufe von der gen DDR eingefordert. PDS) als Redner einer Gruppe, die in den vergangenen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Jahrzehnten nichts, aber auch gar nichts für die Manch einer aus den neuen Ländern, der hier sitzt, Menschenrechte in der damaligen DDR getan hat. sollte sich an die Redeschlachten im Deutschen Bun- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) destag erinnern, als es darum ging, wenigstens das Meine Damen und Herren, das Thema, das uns Einfachste zu tun: nämlich das zu dokumentieren, was heute hier beschäftigt, hat aber einen zu ernsten die Schergen des SED-Regimes unseren Landsleuten Hintergrund, als daß wir es auf diese Art und Weise angetan haben. miteinander behandeln sollten. Es mag ja den einen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — oder anderen von Ihnen reizen, aus der Situation im Widerspruch bei der SPD und der PDS) heutigen Rußland und der katastrophalen Entwick- lung in Tschetschenien innenpolitisches- Kapital Weil das so war und weil die Debatte hinsichtlich schlagen zu wollen. Nur, das nützt den Menschen dort Salzgitter nicht einmal 10 Jahre zurückliegt, überhaupt nichts, und hierzulande wird es ihnen auch (Zurufe von der SPD: Kommen Sie zur nichts nützen. Sache!) Die Ereignisse der vergangenen Wochen in Tschet- sollten Sie es unterlassen, bei unterschiedlichen Mei- schenien sind eine Tragödie, die für ganz Rußland, nungen in politischen Details hier dem einen Teil des vor allem für die Menschen vor Ort, schreckliche Hauses mangelnden Respekt vor Menschenrechten Folgen hat. Wir sehen die Bilder von erschlagenen, vorzuhalten. Sie sind dazu nicht berechtigt. erschossenen Männern, Frauen und Kindern. Gerade bei uns in Deutschland — aber nicht nur in Deutsch- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) land — gehen in diesem Zusammenhang die Gedan- Wir haben der russischen Führung unseren Stand- ken in die Zeit vor 50 Jahren zurück. Wenn wir uns in punkt — so wie ich ihn hier vortrage —, deutlich diesen Wochen vorbereiten, gemeinsam mit den Geg- gemacht, und zwar zu jedem Zeitpunkt. Einer der nern von gestern im Blick auf die Zukunft ein Konzept Kollegen hatte hier die Frage gestellt, ob dies auch der Politik des Friedens und der Freiheit zu gestalten, schon in Budapest geschehen sei. Die Frage kann ich wirken diese Bilder aus Tschetschenien besonders beantworten: Natürlich war zu der Zeit der Tagung in schrecklich. Wir empfinden das genauso angesichts Budapest die spätere Entwicklung nicht absehbar. der Bilder, die uns seit Jahren und Monaten aus dem früheren Jugoslawien übermittelt werden. (Norbert Gansel [SPD]: Aber die Truppenbe Weil dies so ist und weil wir wissen, was es heißt, daß wegungen!) innerhalb weniger Wochen in Tschetschenien nahezu — Entschuldigung, zwischen Truppenbewegungen eine halbe Million Menschen zu Flüchtlingen wurden, und dem, was dann geschah, ist doch noch ein wissen wir auch, wie wichtig es ist, daß die Völkerge- Unterschied. meinschaft — und im Rahmen unserer Möglichkeiten auch wir, die Deutschen — einen Beitrag dazu leistet, Ich habe Boris Jelzin bereits in Budapest darauf um diese Schrecken zu beenden. hingewiesen, daß die Frage der wiedergewonnenen Reputation Rußlands und auch sein eigener Ruf in der Die Bundesregierung — hier vor allem der Bundes- Weltöffentlichkeit — nicht zuletzt bei vielen Freunden außenminister und ich — hat in diesen Wochen jede Rußlands, gerade auch bei uns in Deutschland durch Chance genutzt, in Gesprächen mit der russischen diese Entwicklungen unmittelbar berührt wird. Führung deutlich zu machen, daß Rußland das Recht hat, seine territoriale Integrität auch gegen separati- Meine Damen und Herren, ich finde, wenn wir stische Bestrebungen zu verteidigen; aber wir haben heute über Tschetschenien reden, ist es vor allem genauso klar und deutlich gesagt, daß die Menschen- angebracht, daß wir uns einen Augenblick über die rechte und die humanitären Prinzipien, die Rußland Fragen unterhalten: Was ist eigentlich unsere Politik 652 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl gegenüber Rußland? Von welchen Motiven und von Nun höre ich Urteile über Boris Jelzin, über die ich welcher Erfahrung läßt sich diese Politik leiten? wirklich nur staunen kann. Es geht hier doch nicht um die Verherrlichung eines Mannes, hier es geht um die Wir begehen in wenigen Wochen das Ende des Beurteilung der Tatsachen, die wir vorfinden. Dieser Zweiten Weltkriegs. Wir wissen — das werden wir in Mann ist der erste frei gewählte Präsident Rußlands. der Woche vom 8. Mai erleben —, wie tief gerade in Er hat das Erbe von 74 Jahren kommunistischer einem Land wie Rußland, dem entscheidenden Teil Herrschaft, totalitärer Herrschaft, übernommen, auch der früheren Sowjetunion, die Erfahrungen mit den das Erbe des Archipel GULag, die Zerstörung der schrecklichen Wirkungen der Nazizeit — mit dem sozialen Strukturen dieses Landes mit all dem, was Angriff auf die Sowjetunion und vielem anderen — dazugehört. Diejenigen, die aus dem Westen kommen noch heute nachwirken. Wenn wir an die russischen — nicht nur aus Deutschland — und dann rechthabe- Veteranen aus jener Zeit denken, dann dürfen wir risch genau wissen, wie Rußland reformiert werden deren Erfahrungen nicht wegwischen, sondern müs- soll, sollten einmal vergleichen, wie schwierig ein sen versuchen, daraus konsequent Gemeinsamkeiten solcher Prozeß der Umwandlung in all den anderen für die Zukunft zu gewinnen. Ländern ist, die den Kommunismus aufarbeiten müs- Ein Blick auf die Landkarte zeigt doch jedem, daß sen — ob im Bereich der früheren DDR oder ob in den Rußland auch nach dem Ende der früheren Sowjet- anderen Ländern des früheren Warschauer Pakts. union das mit Abst and wichtigste und mächtigste Wenn dort jetzt wieder uralte nationalistische Ten- Land unter unseren Partnern im Osten Europas ist — denzen aufleben, wenn wir zu Recht darüber klagen, ob uns das gefällt oder nicht. daß sich dort Korruption entwickelt, die das staatliche Das Beste, was ich eben gehört habe, war der Wirken immer schwieriger macht, wenn man weiß, Hinweis auf den Berliner Kongreß als Erfahrung, wie schwer sich die alten Strukturen überwinden wobei wir das Bild von Kanzlern, verehrter Herr lassen, dann, so finde ich, dürfen wir den Russen und Abgeordneter, der Geschichte überlassen sollten. Ihr ihrer Regierung nicht mit Besserwisserei kommen. Beitrag dazu ist wenig bedeutsam. Wir müssen ihnen auf den Weg der Reformen hel- fen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Vergessen wir auch nicht die besondere geogra- DIE GRÜNEN]: Beleidigen Sie das Haus phische Situation, in der sich dieses Land befindet. Bismarck nicht, Herr von Kohl!) Sollte sich in der Kaukasus-Region ein islamischer Fundamentalismus durchsetzen, so hätte dies Auswir- — Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn er den Berliner kungen auf die Türkei und von der Türkei wiederum Kongreß erwähnt, finde ich das besonders interessant. auf den Maghreb. Wenn hier im Blick auf Tsche- Deswegen war die Antwort auch mehr als am Platz. tschenien dauernd von „Terror" geredet wird, dann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und erinnern Sie sich doch auch daran, was in diesen der F.D.P. — Zuruf von der PDS) Wochen und Monaten in Algerien geschieht, und zwar ohne vergleichbare Empörung der Weltöffent- — Ich habe gesagt: Er. lichkeit. Erinnern wir uns an die Frage der Stabilität in den Nachbarländern Algeriens, ob in Marokko oder in (Zuruf von der PDS: Wer ist denn „er"?) Ägypten, diesem wichtigen Land im Nahen Osten. — Wenn Sie nicht wissen, wovon ich rede, dann sollten Wenn das alles richtig ist, meine Damen und Her- Sie Ihre Zeit vielleicht einmal damit verbringen, ren, heißt das doch: Wer über Tschetschenien redet, Geschichtsstudien zu betreiben. Dann würden Sie das muß auch über die Zukunft Rußlands nachdenken. verstehen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deswegen bekenne ich mich nachdrücklich zu jener Politik, die die Bundesregierung, namentlich der Bun- Meine Damen und Herren, für Deutschland und desaußenminister, und übrigens alle unsere Freunde Europa ist es entscheidend, daß nach dem Zusammen- und Partner in der westlichen Welt betreiben. Sie von bruch der Sowjetunion alle diese Staaten — die wir der sozialdemokratischen Fraktion werden doch nicht etwas verkürzt und mir zu technokratisch die GUS- behaupten wollen, daß ein Mann wie François Mitter- Staaten nennen — ihren Weg in eine gute Zukunft rand nicht das gleiche Engagement für Menschen- finden. Aber entscheidend wird sein, daß Rußland rechte hat wie Sie und ich, wie alle hier im Saal. Wenn diesen Weg findet. Denn ohne eine friedliche und er, die britische Regierung, die amerikanische Regie- demokratische Entwicklung in Rußland wird es keine rung und die Länder der Europäischen Union in dieser solche etwa in der Ukraine geben. Ohne eine solche Fràge die gleiche Position einnehmen, dann geschieht Entwicklung, meine Damen und Herren, werden das nicht aus Ängstlichkeit oder Mangel an Mut, unsere anderen Nachbarn — ich verweise nur auf sondern weil wir unseren Einfluß mit Vernunft und Tschechien, auf die Slowakei, auf Ungarn und auf unter Maßgabe unserer Möglichkeiten für friedliche Polen — keine friedliche Zukunft haben und wir auch Lösungen in Tschetschenien geltend machen. nicht. Deswegen war es immer unser Bestreben — bis- lang war ich der Meinung, dies sei unsere gemein- Lassen Sie mich jetzt ein Wort zu Boris Jelzin sagen. same Auffassung —, daß Demokratie, Rechtsstaat, Ich bin stolz darauf, daß es möglich war, zu ihm eine freiheitliche Wirtschaftsordnung und Weltoffenheit freundschaftliche Beziehung aufzubauen. Ich habe Ziele sind, die in Rußland verwirklicht werden müs- nicht den geringsten Grund, dies heute zu leugnen. sen. Was wäre ich für ein trauriger Zeitgenosse, wenn einer Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 653

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl meiner Freunde in Schwierigkeiten geriete und ich erfolgte, da war er ein hochgefeierter M ann, meine jetzt nicht zu ihm stünde! Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei (Zuruf des Abg. Gerd Weisskirchen [Wies der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜ loch] [SPD]) NEN — Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND Und jetzt in dieser konkreten Situation — auch dann, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah ja!) wenn er Fehler gemacht hat; darüber brauchen wir — Meine Damen und Herren, Freundschaft verpflich- doch gar nicht zu streiten; das habe ich ihm selber tet den Freund zu sagen, was wirklich ist, nicht aber gesagt und kann es hier genauso wiederholen —, bin das, was der andere gerne hört. Genau das habe ich in ich nicht bereit, ihn in einer Weise abzuschreiben, wie diesen Wochen immer wieder getan und werde es Sie es hier tun. auch weiterhin tun. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — (Zuruf von der SPD: Wann denn?) Zuruf von der SPD: Darum geht es doch gar nicht!) — Entschuldigung, ich bin Ihnen doch wirklich nicht — Meine Damen und Herren, das ist ein Mann, der Rechenschaft schuldig, Mut bewiesen hat und der den Deutschen gegenüber (Zuruf von der SPD: Doch!) ein Maß an Vertrauenswürdigkeit bewiesen hat, die jetzt nicht vergessen werden darf. Er hat die Abma- wann ich mit Boris Jelzin rede. chung über den Abzug der russischen Truppen auf (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND den Tag und Punkt für Punkt eingehalten, obwohl es NIS 90/DIE GRÜNEN) in Moskau Kräfte gab, die das unmöglich machen — Was haben Sie eigentlich für eine Vorstellung von wollten. Außenpolitik? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Wem denn sonst?) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Bundeskanz- Wenn mein Vorgänger hier stünde, ler, gestatten Sie eine Zwischenfrage? würden Sie von ihm eine Antwort bekommen, die Ihnen gebührt. Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Nein. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Deswegen gilt unsere Politik allem, was wir tun DIE GRÜNEN]: Wem denn sonst?) - können, um dieses wichtige Land weiter auf dem Weg Ich habe die Verantwortung als deutscher Bundes- der Reformen zu unterstützen und dort, wo sich kanzler, und ich rede zu dem Zeitpunkt, den ich für gegenläufige Tendenzen breitmachen — die sehe ich richtig halte, auch —, das Notwendige zu unternehmen, um den (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Verantwortlichen — ich schließe hier den Präsidenten DIE GRÜNEN]: Sie sind doch hier im Bun ausdrücklich ein — deutlich zu machen, daß Rußland destag, Herr Kanzler!) ohne die von mir, Klaus Kinkel und vielen anderen beschriebenen Reformen keine Zukunft in Frieden nicht aber, wann Sie es wollen. haben wird. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Wenn jetzt gesagt wird — auch das gehört zur Widerspruch bei der SPD und dem BÜND Polemik dieser Tage —, wir — oder ich — setzten nur NIS 90/DIE GRÜNEN) auf diesen einen Mann, so muß ich zunächst einmal Wir haben miteinander gesprochen, feststellen: Meine Damen und Herren, er ist der gewählte Präsident Rußlands. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: So ist DIE GRÜNEN]: Wo hätten Sie denn gerne die es!) Krönungsfeierlichkeiten, Herr Bundeskanz ler?) Es ist doch, nach dem Demokratieverständnis, das wir haben, ziemlich abwegig, über diesen Präsidenten und wir werden das in den nächsten Tagen genauso und um diesen Präsidenten herum Politik machen zu tun. Nur, meine Damen und Herren — das füge ich wollen. Dazu habe ich auch gar keinen Grund. auch hinzu —: Das zweite ist, daß natürlich auch die Amtszeit von (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ Boris Jelzin irgendwann zu Ende sein wird und daß DIE GRÜNEN]: Wo will er denn gekrönt alles, was wir tun können, getan werden muß, um werden? — Zurufe von der SPD) demokratische Strukturen, Parteien, was immer Sie in Was ist das eigentlich für ein eigenartiges Bild? Als diesem Zusammenhang nennen wollen, zu unterstüt- sich Boris Jelzin 1990 zen. Das tun wir, und das tue ich selbst in vielfältiger Form. (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Aber ich weiß eines auch: Ich weiß nicht, ob Boris GRÜNEN]: Jetzt packt Sie aber der Größen Jelzin auf diesem Weg Erfolg haben wird; ich weiß wahn!) aber sicher, daß ein Mißerfolg mit katastrophalen dem Putschversuch mit äußerstem Mut entgegen Folgen unabwendbar wäre, wenn wir ihm die Unter- stellte und sagte, er setze sich für die Reformen ein, stützung im Rahmen unserer Möglichkeiten versag- und als dann zwei Jahre später der zweite Putsch ten. Hilfe unter den Bedingungen, die ich soeben hier 654 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl genannt habe, ist und bleibt unsere Politik in diesem kam die deutsche Einheit auch erst 1989/90 und nicht Zusammenhang. 1979. (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Politik der Bundesregierung gegenüber Ruß- Meine Damen und Herren, Sie mögen in diesem land wird von unseren grundlegenden Interessen und Zusammenhang viel Geschichtsklitterung betreiben; von festen Prinzipien geleitet. Meine Damen und in Sachen Menschenrechte, in Sachen deutsche Ein- Herren, ich bleibe dabei: Es ist unser fundamentales heit können Sie das, was mit uns möglich war, nicht Interesse, daß die Entwicklung Rußlands hin zu wegdiskutieren, und dabei bleibt es. Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) aufgehalten wird; deshalb wollen wir — trotz der erheblichen Rückschläge, vor allem im Bereich der Jetzt geht es uns darum — das sage ich noch einmal, Ökonomie — weiter hilfreich sein. Aber bei all dieser und auch sehr persönlich —, daß wir jede Chance Unterstützung bleibt unser entschiedener Wunsch nutzen, die wir haben, um das schreckliche Gesche- — und dieser wird mit aller notwendigen Deutlichkeit hen in Tschetschenien zu beenden. Wir müssen die zum Ausdruck gebracht —, daß die russische Führung Gelegenheiten klug nutzen. Zur Klugheit gehört auch, erkennt, daß eine gewaltsame Lösung im Tschetsche- daß das deutsche Parlament im Namen der deutschen nien-Konflikt auf die Dauer dort keinen Frieden Bürger klare Worte spricht, die man in Moskau auch herbeiführen wird und daß das Ansehen und die versteht und verstehen muß. Reputation Rußlands dadurch schwersten Schaden Zur Klugheit gehört auch, daß die Bundesregierung nehmen. im Rahmen ihrer Möglichkeiten — das gilt nicht zuletzt für mich — in allen nur denkbaren Gesprächs- Wir wollen auch keine Isolierung dieses Landes. möglichkeiten das Notwendige tut, um unseren Jeder Versuch einer Isolierung wäre töricht und gemeinsamen Willen zum Ausdruck und zur Geltung gefährlich. Er würde den reaktionären und extremi- zu bringen. stischen Kräften in die Hände spielen. Ich meine nicht nur einen ganz bestimmten Exponenten, der bei Dazu gehört auch — das sage ich als letztes —, daß dieser Gelegenheit regelmäßig zitiert wird. Wer sich wir im Rahmen dessen, was Deutschland leisten kann, einmal aufmerksam — ich wünsche mir, das würden alles tun werden — auch das habe ich Präsident Jelzin mehr Beobachter tun — mit den Diskussionen im gesagt —, um dort, wo jetzt humanitäre Hilfe drin- russischen Parlament beschäftigt und einmal nach- gend notwendig ist, unseren Beitrag zu leisten. Unser liest, was dort an radikalen Gedankengängen vertre- Ziel muß sein, daß die Flüchtlinge so schnell wie ten wird, der kann nur zu dem Schluß kommen: Es gibt möglich in ihre Heimat zurückkehren können, daß der in der russischen Gesellschaft Kräfte, bei denen wir Wiederaufbau stattfindet und daß Frieden einkehrt. nur gemeinsam den Wunsch haben können, daß sie Die Politik der Bundesregierung war immer eine niemals an die Macht kommen! Politik für Frieden und Freiheit. Das gilt nicht nur in unserer Region, es gilt überall in der Welt. Das gilt Deswegen muß es jetzt unsere entschlossene Politik auch für Rußland und Tschetschenien, und dabei sein, auf der einen Seite eine Entwicklung hin zur bleibt es. Gewalt zu bremsen und zu stoppen, auf der anderen Seite die Demokratie in Rußland zu unterstützen. Daß (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) trotz aller Probleme, die dieses Land hat, gerade in der Frage Tschetschenien dort eine sehr offene Diskus- sion im Parlament, auf der Straße und in den Presse- organen geführt wird, zeigt doch, daß Rußland auf Das Wort zu einer dem Weg zur Demokratie ein großes Stück vorange- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Kurzintervention hat Graf Einsiedel. kommen ist.

Meine Damen und Herren, Sie sollen wissen, daß wir gemeinsam mit unseren Partnern im Westen alles tun werden, um unseren Beitrag für Frieden und Heinrich Graf von Einsiedel (PDS): Herr Bundes- Freiheit zu leisten. Aber denen, die hier aus bestimm- kanzler, Sie haben diese Gelegenheit wieder einmal ten Gründen verlangen, wir müßten noch sehr viel dazu genutzt, um uns für das Unrecht, das in der DDR lautstärker auftreten, kann ich nur sagen, daß die geschehen ist, und für die Zustände in der DDR Lebenserfahrung in der Politik zeigt: Dies führt nicht verantwortlich zu machen. weiter und hilft niemandem! Das wissen Sie so gut wie (Zuruf von der F.D.P.: Ja!) ich; wenn Sie es mir nicht glauben, dann fragen Sie Helmut Schmidt, und wenn noch da Ich habe nicht, wie Sie, die Gnade der späten Geburt wäre, könnten Sie ihn fragen, er würde Ihnen das erfahren; ich bin etwas früher geboren. Ich weiß nicht, gleiche sagen. was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie statt der Gnade der späten Geburt die Ungnade hätten erfah- (Zuruf von der SPD) ren müssen, in Weißwasser, in Bautzen, in Zittau oder in Neuruppin geboren zu sein. Auch Sie hätten sich — Das glaube ich auch. In der Frage der Ostpolitik war mit diesem System wahrscheinlich irgendwie arran- er besonders erfolgreich; das ist wohl wahr. Deswegen giert, wenn Sie dort hätten leben müssen. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 655

Heinrich Graf von Einsiedel Da Sie von Ihrem „Freund Jelzin" reden, frage ich meinen Freunden gegenüber immer wieder zum Aus- Sie: Für was alles war der eigentlich verantwort- druck gebracht — auch ich habe mir das immer vor lich? Augen gehalten —: Seid vorsichtig! Bedenkt, wie ihr (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten euch unter den damaligen Verhältnissen verhalten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ hättet! NEN) Aber Sie haben doch jetzt die Möglichkeit, sich Wer sind denn all die Menschen, mit denen wir in loszusagen, und trotzdem haben Sie ein solches Par- Rußland verhandeln müssen? Gorbatschow, Sche- teiprogramm. wardnadse, der KGB-Chef — das sind doch alles hohe (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Mitglieder der Nomenklatura. Denen billigen Sie zu, Sie sind und bleiben die Nachfolgeorganisation der daß sie in ihrer Biographie einen Bruch vollzogen SED, und dafür stehen Sie in der Verantwortung. haben, daß sie aus ihren Biographien etwas gelernt haben, und uns wollen Sie das grundsätzlich abspre- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) chen? (Beifall bei Abgeordneten der PDS und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Als nächster nimmt der Fraktionsvorsitzende der SPD, Rudolf Scharping, Ich habe schon vor 46 Jahren — da haben Sie das Wort. wahrscheinlich noch kurze Hosen getragen — ganz fundamentale Kritik am DDR-System und an der SED geübt. Rudolf Scharping (SPD): Frau Präsidentin! Meine (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Um so schlimmer, daß sehr verehrten Damen und Herren! Wir beobachten Sie jetzt in der Partei sind!) seit einigen Wochen einen mit äußerster Grausamkeit Da brauche ich mich von Ihnen nicht belehren zu und Brutalität geführten Krieg. Wir beoabachten seit lassen. Daß ich, der ich diese Kritik über Jahrzehnte einigen Wochen halbherzige und erst allmählich kla- geübt habe, von der PDS auf den Listenplatz 1 in rer werdende Reaktionen der Bundesregierung. Wir Sachsen gewählt worden bin, ist allein ein Beweis beobachten seit einigen Wochen, wie sich eine halb- dafür, daß die PDS eine andere Partei ist als die herzige Politik in Kaltherzigkeit gegenüber den SED. betroffenen Menschen verwandeln kann. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN — - Ich sage das am Anfang, weil ich, den ganzen Widerspruch bei der CDU/CSU und der rhetorischen Bemühungen des Herrn Bundeskanzlers F.D.P.) zum Trotz, den Gegenstand für zu wichtig und für zu ernst halte, als daß er die Ausflucht in parteipoliti- Präsidentin Dr. Rita Süssmuth: Herr Bundeskanz- schen Kleinkram rechtfertigen würde, ler. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS) Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Herr Abgeordne- und auch, um deutlich zu machen, Herr Bundeskanz- ter, ich habe die PDS als Nachfolgeorganisation der ler, daß Sie Ihre Bemerkungen noch einmal überden- SED angesprochen, weil Ihr eigenes Parteiprogramm ken sollten, die Sie im Rahmen dieser Debatte mit das deutlich ausweist. Sie haben sich ja nicht klar und erkennbarer Aufregung und mit gewisser Nervosität deutlich von vergangenen Zeiten losgesagt. Der gemacht haben: Wo denn sonst, wenn nicht hier im Streit, den Sie in Ihrer Partei vor dem Parteitag zum Deutschen Bundestag, sind Sie Rechenschaft über Teil haben, bezeugt doch, daß die — ich sage das so, Ihre Politik schuldig? wie es in den Zeitungen steht — stalinistische Fraktion (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE noch immer da ist. GRÜNEN und der PDS) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge Wir alle wissen, daß keine deutsche Politik die ordneten der F.D.P.) Entwicklung in Rußland bestimmen kann. Wir wissen Ich werfe dem einzelnen doch nicht seinen Lebens- auch, daß die Frage offen bleiben muß, wie stark unser lauf vor; ich habe das auch bei Ihnen nicht getan. Ich Verhalten die Entwicklung in Rußland beeinflussen werfe aber Ihrer Partei als ganzer vor, daß Sie als die könnte. Aber wir wissen auch, daß die unter dem Nachfolgepartei der SED der damaligen Zeit eben Stichwort der Bewahrung der territorialen Integ rität nicht abgeschworen haben. Sonst gäbe es diesen Rußlands oder der russischen Föderation vorgenom- Streit in der Partei doch gar nicht. Sie sind auch im mene, durchgezogene, zu verantwortende, men- Wahlkampf — wir waren ja dabei — bei jeder nur schenverachtende und brutale Politik nicht nur eine denkbaren Gelegenheit dafür eingetreten, die alten innerrussische Angelegenheit ist. Gefühle zu mobilisieren. Das wissen Sie so gut wie ich. (Beifall in der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das hat nichts mit dem Lebensalter zu tun, das kann auch jemand feststellen, der zur Stalin-Zeit noch ein Sie kann nicht alleine eine innerrussische Angele- junger Mensch war. Im übrigen habe ich — das sage genheit sein, weil es hier auch und vor allen Dingen ich Ihnen jetzt sehr persönlich — bei der Beurteilung um die Bewahrung von Menschenrechten geht. von Vorgängen in der DDR, die einzelne betrafen, (Beifall bei der SPD) 656 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Rudolf Scharping Wenn die zivilisierte Staatengemeinschaft und Sie hat lange geschwiegen und den Eindruck erweckt, Deutschland in diesem Fall schweigen, halbherzig daß sie sich mit russischen Sprachregelungen identi- reagieren oder zu spät aufwachen, dann ist das ein fiziert und damit russisches Verhalten akzeptieren Problem für internationale Politik und nicht nur für uns könnte. Dieser Eindruck wird allmählich korrigiert. alleine oder eine Frage der Bewahrung der russischen Aber wenn Sie, Herr Bundesaußenminister, mit territorialen Integrität. Es geht auch um die Bewah- Ihrem russischen Kollegen telefonieren und sich, rung international vereinbarter Grundsätze, auf die jedenfalls nach Pressemeldungen, darüber einig sind, sich Staaten unabhängig von ihrer Größe verlassen daß es sich um eine innerrussische Angelegenheit können müssen. handele und die Prinzipien der KSZE uneinge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schränkt beachtet werden müßten, dann ist das der PDS) ebenso richtig wie unvollständig. Normalerweise hätte man schon Ende Dezember sehr deutlich sehen Wenn die Bundesregierung dann nicht ihre Möglich- können, daß die Prinzipien der KSZE eben nicht keiten ergreift, dann schädigt sie das Vertrauen, daß beachtet werden. Wenn dann ein Außenminister nur die großen Staaten innerhalb der OSZE den politi- das Einverständnis darüber herstellt, daß sie beachtet schen Willen haben, auch gegen Schwierigkeiten werden müßten, ohne zu sagen, daß sie zur Zeit nicht international vereinbarte Regeln und Grundsätze beachtet werden, dann ist diese Unvollständigkeit durchzusetzen, sie wenigstens anzumahnen. eine grobe politische Fahrlässigkeit, die einem (Beifall bei der SPD) Außenminister nicht unterlaufen sollte. Das sage ich deshalb sehr deutlich, Herr Bundes- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten kanzler, weil ich nicht weiß, was Sie in ihren Telefo- der PDS und des Abg. Joseph Fischer [Frank naten ab dem 5. Januar dem russischen Präsidenten furt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) gesagt haben. Eines allerdings weiß ich sehr genau, Zu dem Zeitpunkt, zu dem Sie das gesagt haben, Herr daß nämlich noch am 30. Dezember ihr Regierungs- Kollege Kinkel, hätten Sie dies auch die deutsche sprecher gesagt hat, es bestehe kein Bedürfnis, mit Öffentlichkeit wissen lassen sollen. dem russischen Präsidenten zu telefonieren. Ich habe Ich sage das vor dem Hintergrund der Gefahr der die dpa-Meldung hier: Es gebe keine Absicht, mit dem Beschwichtigung deshalb, weil in Tschetschenien russischen Präsidenten Kontakt aufzunehmen. Das zum erstenmal seit dem Zweiten Weltkrieg mit Flä- sage ich deshalb, weil es mich eigenartig berührt, daß chenbombardements eine Großstadt vernichtet wird im Rahmen der Anmahnung und der Einhaltung von und weil sich niemand über die Wirkungen und international vereinbarten Regeln die deutsche Rats- Auswirkungen dieses Vorganges Illusionen machen präsidentschaft in der Europäischen Union —- bis zum sollte. Wer meint, das habe wenig mit europäischen Ende des Jahres bestand sie — keine Initiative ergrif- oder deutschen Interessen zu tun, der liegt falsch und fen hat, um die Regeln anzumahnen, die in der KSZE, begeht einen kalten Zynismus. in der Konvention über das Internationale Rote Kreuz, im Budapester Dokument und an anderer Stelle fest- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) gehalten sind. Das war eine grobe Fahrlässigkeit. (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer? Daraus werden Sie auch durch alle möglichen Berner- kungen neben der Sache nicht fliehen können. Ihr späteres Verhalten korrigiert den eingetretenen Scha- Rudolf Scharping (SPD): Wenn Sie mir gestatten, den an Vertrauen und Glaubwürdigkeit nur in Frau Präsidentin, einen Augenblick im Zusammen- begrenztem Umfang. hang zu reden, wäre ich sehr froh. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Dr. Kurt Faltlhauser [CDU/CSU]: Wenn da Es geht auch nicht um eine allein innerrussische ein Zusammenhang wäre!) Angelegenheit, weil es um die Glaubwürdigkeit des Meine Einschätzung beruht nicht nur auf einer Verhaltens anderer, mit Rußland in der OSZE auf der moralischen Haltung, sondern auch auf der Tatsache, Plattform der KSZE verbundener Staaten geht. Die daß Rußland in eklatanter Weise Völkerrecht und Vorgänge in Tschetschenien bergen nämlich die europäische Vereinbarungen verletzt. Ich frage Sie, Gefahr, daß sich die politischen Verhältnisse und die Herr Bundeskanzler, ob nicht gerade die Reklamation europäischen Beziehungen nachhaltig verändern, freundschaftlicher Beziehungen auch zu Persönlich- daß sie ein Klima des Mißtrauens und der Bedrohung keiten anderer Staaten eine Grundlage dafür sein schaffen. müßte, die Verstöße gegen die genannten internatio- nalen Vereinbarungen offen und deutlich anzuspre- (Vorsitz : Vizepräsidentin Dr. Antje Voll chen. mer) Es ist von nicht zu unterschätzender Tragweite, Die deutsche, die europäische Außenpolitik sieht wenn ein so bedeutender Staat wie Rußland völker- sich also einer Lage gegenüber, die ihre unmittelba- rechtliche und europäische Abmachungen übergeht. ren Interessen berührt und in der es verantwortungs- Es ist auch von nicht zu unterschätzender Bedeutung, los wäre, wort- und tatenlos zuzusehen. Wir stellen wenn ein anderer sehr wesentlicher Vertragsstaat der fest: Die Bundesregierung hat nicht angemessen, auf OSZE darauf keine deutlichen Hinweise gibt. Es kann jeden Fall zu spät reagiert. auch nicht zum Nachteil der deutsch-russischen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beziehungen ausgelegt werden, wenn man dies sehr des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) klar und deutlich ausspricht. Im Gegenteil, es ist eine Deutscher Bundestag 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 657

Rudolf Scharping Verpflichtung, ein Gebot der politischen Klugheit, der eine Politik, wie sie gegenwärtig im Namen Jelzins langfristigen Verantwortung und eine durch Freund- und möglicherweise durch ihn selbst betrieben schaft erleichterte — mehr nicht — Möglichkeit, wird. darauf offen und deutlich einzugehen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei Abgeordneten der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wer hat Sie eigentlich gehindert, das in den Tagen bis Ich bin auch sehr skeptisch, Herr Bundeskanzler, in die jüngste Vergangenheit hinein wirklich deutlich wenn Sie sagen, eine denkbare Abspaltung Tsche- zu tun? Der Hinweis auf Verträge und verbindliche tscheniens werde andere Gebiete ermutigen, sich von Abmachungen, die eine wesentliche Grundlage der Rußland loszusagen, was die Gefahr der Auflösung Stabilität in Europa darstellen, kann doch nicht als Rußlands und entsprechende Folgen für die europäi- Zumutung empfunden werden, und den Eindruck sche und die globale Sicherheit mit sich bringe. Das eines quasi vorauseilenden Gehorsams als Grundlage mag allgemein richtig sein, aber im Fall Tschetsche- freundschaftlicher Beziehungen sollte jeder vermei- niens ist darauf hinzuweisen, daß Tschetschenien den, der an freundschaftlichen Beziehungen interes- schon 1991 seine Unabhängigkeit erklärt hatte und siert ist. daß in den drei Jahren seiner „staatlichen Eigenstän- digkeit" diese Ansteckungseffekte nicht eingetreten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sind. Es ist aber wohl sehr realistisch, zu befürchten, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) daß durch die Art des jetzigen russischen Vorgehens Es ist wahr: Es ist ein vorrangig deutsches Interesse, bei den Nachbarn und im Nordkaukasus genau das die demokratische Entwicklung in Rußland mit allen eintritt, was man angeblich zu verhindern versucht. Mitteln zu unterstützen, Stabilität zu fördern und zu (Beifall bei der SPD) verhindern, daß es zu einer neuen Konfrontation mit Rußland kommt. Ich bezweifle allerdings, daß Ihre Andere Völker, wie beispielsweise die Inguschen, Analysen und Begründungen und die darauf aufbau- leben ebenfalls seit 1991 auf der Grundlage einer ende Politik richtig sind. Man kann leider nicht autonomen Republik innerhalb der Russischen Föde- übersehen, daß der amtierende russische Präsident ration. Wenn überhaupt von einem Dominoeffekt oder dem Einfluß autoritärer und nationalistischer Kräfte der Gefahr davon die Rede sein soll, dann wird diese unterliegt und daß er sich in den Inhalten seiner Politik Gefahr durch die Art des Vorgehens und die militäri- und im Stil seines Regierungshandelns jedenfalls zur sche Intervention Rußlands selbst geschaffen; denn Zeit von seinen demokratischen Überzeugungen weit erst jetzt entstehen nationalistische Bewegungen im abgewendet hat. Nordkaukasus, die ihre jeweiligen Republikführun- gen auffordern, den Föderationsvertrag aufzukündi- (Beifall bei der SPD) gen. Moskau, wenn es an der Politik militärischer Es wäre ein Fehler, zu meinen, der Westen könne Intervention festhält, schafft die Ursachen, die es mit Hinweis auf die Gefährdung des Demokraten angeblich mit der militärischen Intervention beseiti- Jelzin in Wirklichkeit eine reaktionäre Entwicklung in gen will. Rußland unterstützen oder indirekt ermutigen. Des- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des halb stellen die Vorgänge in Tschetschenien ein BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) äußerstes Warnsignal dar, das wir und der Westen nicht tatenlos und nicht in vermeintlich guter demo- Außerdem wird die Art unserer Reaktion, der Reak- kratischer Absicht schweigend hinnehmen können. tion der westlichen Staatengemeinschaft, Folgen Es gilt, zu protestieren und zu warnen. Auch wenn haben in Europa selbst. Unter dem Eindruck des man weiß, daß man die Entwicklung nicht bestimmt, russischen Krieges in Tschetschenien gibt es dynami- hat man eine Verpflichtung der Politik und der eige- sche Prozesse in Europa, die für die Sicherheit und nen Glaubwürdigkeit gegenüber, seine Stimme zu Stabilität des gesamten Kontinents problematisch erheben und für Menschenrechte und Rechtsstaat- werden können. Wer völkerrechtliche und internatio- lichkeit einzutreten. Man kann eine Demokratie nicht nale vertragliche Abmachungen so übergeht, der unterstützen, wenn man die Demokraten nicht unter- weckt bei seinen kleinen Nachbarn schlechte Erinne- stützt. rungen an die vergangene Hegemonialmacht Sowjet- union. Es ist nicht zu übersehen, daß das Vorgehen (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Rußlands, aber auch das ungebührliche Schweigen GRÜNEN und der PDS) der meisten westlichen Staaten, insbesondere der Es ist wahr: Wir haben ein vorrangiges Interesse an Bundesregierung, das Vertrauen in die Funktions- russischer Stabilität, und wahrscheinlich wären wir tüchtigkeit der europäischen Organisation für auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik Sicherheit und Zusammenarbeit gefährdet. ganz unabhängig von der Zusammensetzung einer (Beifall bei Abgeordneten der SPD) russischen Regierung oder der Person eines Präsiden- ten immer verurteilt, diese Stabilität zu suchen und Wer Truppenbewegungen nicht anmeldet, wer die das Risiko von Konfrontation zu mindern. Das bedeu- Anmeldung von Truppenbewegungen nicht an- tet aber nicht, daß man auf anderen Feldern der mahnt, wer Beobachter nicht oder viel zu spät zuläßt, auswärtigen Politik alles einfach so tun könnte, wie nämlich erst dann, wenn die Fakten geschaffen sind, Sie es tun. Die Destabilisierung Rußlands erfolgt nicht oder wer die Zulassung von Beobachtern nicht durch das Anmahnen von Demokratie und durch das anmahnt, der gefährdet gerade in den kleineren Anmahnen der Einhaltung internationaler Verträge. Staaten das Vertrauen darin, daß die größeren den Die Destabilisierung erfolgt einzig und allein durch festen Willen haben, ihre Souveränität unabhängig 658 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Rudolf Scharping von ihrer Größe zu respektieren und die stabilisie- Tagen allmählich eine Position zu korrigieren begon- rende und Sicherheit fördernde Funktion der OSZE nen hat, die in der Zeit von vor Weihnachten bis weit in ernst zu nehmen. Wenn Vertragsbrüche eines mäch- die Mitte des Januar hinein die Position einer unver- tigen Mitglieds weder sanktioniert noch unterbunden, antwortlichen Beschwichtigungspolitik war, ja noch nicht einmal offen und rechtzeitig angespro- (Beifall bei der SPD) chen werden, hat das politische Wirkungen, an denen niemand interessiert sein darf. eine Position, die nicht die Stützung der demokrati- schen Entwicklung in Rußland und auch nicht die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Stärkung der europäischen Stabilität bewirkt hat. Es des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) war eine Politik des Schweigens und des Verschwei- Hinzu kommt, daß das ja ohnehin schon sehr gens, des kumpelhaften Verständnisses, eine Politik, umstrittene GUS-Peace-keeping durch das russische die für die europäische Sicherheit und Stabilität hoch- Verhalten und Vorgehen in Tschetschenien fast problematisch ist und von der Sie in Zukunft konse- unmöglich gemacht wird. Welcher Staat, der von quent, und zwar von Anfang an, Abstand nehmen Rußland aus als nahes Ausland betrachtet wird, soll sollten. denn noch Vertrauen darin entwickeln, daß es nicht (Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall um die Herstellung alter Hegemonie, sondern um die bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Sicherung von Frieden auf der Grundlage gemeinsam GRÜNEN und der PDS) geachteter Souveränität geht? Wir sollten nicht verkennen — das ist mein nächster Hinweis —, daß die Vorgänge in Tschetschenien Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt Einfluß auf den Fundamentalismus in islamischen der Abgeordnete . Staaten haben, freilich genau in der umgekehrten Reihenfolge der Ursachen, als Sie, Herr Bundeskanz- Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE ler, es hier beschreiben. Zunächst einmal will ich GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- Ihnen sagen: Wer im deutschen Parlament den Ein- ren! Wir diskutieren heute über einen barbarischen, druck erweckt, daß die Vorgänge in Tschetschenien, über einen sinnlosen Krieg, über grausames Morden der islamische Fundamentalismus, gewissermaßen einer nuklearen Supermacht, einer der größten, über den Umweg und die Gefährdung der Türkei, und schlagkräftigsten Armeen der Welt gegen ein kleines der in Westeuropa stattfindende Terrorismus eine Volk im Norden des Kaukasus. Es ist sehr schlimm, logische Kette bildeten, der schafft dadurch die Recht- was dort passiert, Herr Bundeskanzler und Herr Bun- fertigung dafür, daß dort vorgegangen wird, desaußenminister, und wir sind uns ja in diesem (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Punkte völlig einig. Es geht hier um schlimmste des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Menschenrechtsverletzungen; es geht hier um die PDS) Verletzung des internationalen Rechts, des Völker- und zwar eine Rechtfertigung, die in der Sache völlig rechts; es geht hier um unzählige Schicksale einzelner unhaltbar ist. Menschen; aber es geht auch um die zentrale Frage der europäischen Entwicklung, nämlich um die (Zuruf von der CDU/CSU: Absoluter Zukunft Rußlands. Quatsch!) Wenn man das so sieht, dann braucht man all diese Denn bisher hat es im Nordkaukasus ernsthafte Pro- Scheindebatten nicht zu führen, die Sie, Herr Bundes- bleme der Abspaltung aus religiös-fundamentalisti- kanzler, angesprochen haben. schen Gründen nicht gegeben, aber jetzt entstehen Der Bundesaußenminister hat völlig recht, wenn er sie, und zwar in einem erheblichen Umfang. Denn das sagt: Deutschland will Partner und Freund Rußlands wird zusätzlich genährt, weil ja die Brutalität und bleiben. Die Kritik setzt nur dort ein, Herr Bundes- Grausamkeit des Einsatzes von denen, die nationali- kanzler, wo wir die Frage stellen, ob der Satz, der dann stisch denken, in die Behauptung umgemünzt wird, folgt, nämlich: „Die Bundesregierung setzt auf die hier werde dem muslimischen Teil der Bevölkerung in Fortsetzung des Reformkurses durch die jetzige russi- der Russischen Förderation und in den nordkaukasi- sche Regierung", in der Tat vereinbar ist mit der schen Republiken ein bewußter und gewollter Scha- Verletzung von Menschenrechten und dem Zerstören den zugefügt. einer friedlichen Perspektive. Meine Damen und Herren, wir sollten ebenfalls (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nicht übersehen, daß wir innerhalb Europas, nicht nur sowie bei Abgeordneten der SPD und der was die Visegrad-Staaten angeht, sondern auch was PDS) das Baltikum und andere Staaten, die ich jetzt den Das und nur das ist der zentrale Streitpunkt, über den Namen nach nicht aufzählen will, angeht, das wach- wir hier sprechen müssen. Da müssen Sie sich schon sende ernst nehmen müs- Bedürfnis nach Stabilität die Frage gefallen lassen, wieweit die Haltung des sen, was Folgen haben muß für unsere Haltung bei der Westens — nicht nur die der Bundesregierung —, der Integration solcher Staaten in westliche Sicherheits- vorschnell erklärt hat, es handle sich hier um eine strukturen und in westliche ökonomische Struktu- innere Angelegenheit Rußlands — so lauteten wieder- ren. holte öffentliche Aussagen des Bundesaußenministers (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und des Bundeskanzlers sowie anderer westlicher Meine Damen und Herren, ich will also festhalten, Staatsführungen —, nicht entscheidend dazu beige- daß die Bundesregierung heute und in den letzten tragen hat, daß in Moskau der Eindruck entstand: Wir Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 659

Joseph Fischer (Frankfurt) haben freie Hand und können zuschlagen. Das ist der nationalen Rechts, der Demokratie und einer moder- entscheidende Kritikpunkt, Herr Bundeskanzler. nen zivilen Bürgergesellschaft durchsetzen, wenn dort also ein weiteres Mal das Prinzip Macht und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Gewalt brutal über Recht und Vertrag siegt, dann sowie bei Abgeordneten der SPD und der fürchte ich um eine friedliche Entwicklung. PDS) Es reicht nicht, daß man einfach sagt: Wir haben Ihre dünnhäutige Reaktion hat dies gezeigt. Es ist telefoniert. Es reicht nicht, daß man vorher sogar noch nicht nur die Kritik der Opposition, sondern es ist die erklärt: Ich sehe keine Veranlassung, mit meinem Kritik, die auch und gerade aus allen Fraktionen in Freund Boris zu telefonieren. Bei Menschenrechtsver- diesem Hause an der Bundesregierung geübt wird. letzungen gibt es kein Einmischungsverbot. Das müs- Dies ist deswegen so bedeutsam, weil es jetzt, sen wir doch aus der stalinistischen Diktatur und der 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, Haltung des Westens gelernt haben. nach der Befreiung vom Nationalsozialismus, nach- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dem es endlich gelungen war, Hitler und seine Mord- bei der SPD und der PDS) gesellen zu besiegen, keinen Zweifel geben darf: Es Bei Menschenrechtsverletzungen gibt es vielmehr nur geht nicht um eine antirussische Haltung. Deutsch- eines: die Pflicht zur Wahrheit, zur Klarheit und zur land und Rußland haben — da sind wir einer Mei- öffentlich bekundeten klaren Position. Da hat diese nung — Interesse an einem partnerschaftlichen, ja an Bundesregierung schmählich versagt, Herr Bundes- einem freundschaftlichen und f riedlichen Verhältnis. kanzler. Nur, Herr Bundeskanzler, was ist denn, wenn sich Demokraten wie Autokraten gebärden? Es ist doch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) unbestritten, daß es sich bei Boris Jelzin in der Deswegen fordern wir, daß die Bundesregierung Vergangenheit um einen mutigen Kämpfer für die endlich eine westliche Initiative erreicht, durch die Demokratie gehandelt hat. Rußland klargemacht wird, daß von dem Prinzip Macht und Gewalt gegenüber den kleinen Völkern in Warum stellt denn Josef Joffe — weiß Gott kein Rußland und auch im „näheren Ausland", wie es ja grüner Kommentator — in der „Süddeutschen Zei- mittlerweile heißt, definitiv Abstand genommen tung" die zentrale Frage unter der Überschrift „Irreale wird. Realpolitik"? Er könnte damit Ihre Regierung gemeint haben. Ich zitiere: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS SES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Mar Wer glaubt, daß Bo ris Jelzin der Garant- für ein kus Meckel [SPD]) demokratisches Rußland sei, übersieht, daß es Der Deutsche Bundestag sollte meines Erachtens hier en Boris nicht mehr gibt. Wenn sich die dies eine klare Position beziehen. Ich fordere alle Mitglie- neuen „Demokraten" so verhalten wie die alten der des Hauses über die Grenzen der Fraktionen Autokraten, was ist dann der Unterschied zwi- hinweg auf, jetzt nicht in das übliche Verfahren der schen einem Jelzin und einem Schirinowskij .. . Ausschußüberweisung einzutreten. Wir müssen jetzt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vielmehr Stellung beziehen. Wir müssen klarmachen, daß dieser Krieg gegen das tschetschenische Volk Genau das war es, was Freundinnen und Freunde auch ein Krieg gegen das russische Volk und die aus der Bürgerrechtsbewegung, aus der Memorial- demokratische und friedliche Entwicklung Rußlands gruppe, vor unserer Fraktion vorgetragen haben. Ein ist und daß unsere Haltung nicht antirussisch ist, russischer Freund hat dort klar gesagt: Wer Jelzin sondern daß wir auf der Seite von Frieden und unterstützt, unterstützt Schirinowskij. — Ich weiß Demokratie, auf der Seite der russischen Demokratie nicht, ob das richtig ist. Nur, wenn man sich die und der russischen Demokraten stehen. Entwicklung anschaut, Herr Bundesaußenminister, dann könnte es sein, daß das Schweigen des Westens (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in der Tat eine Entwicklung möglich gemacht hat, in bei der SPD und der PDS) der Jelzin längst nicht mehr Herr des Verfahrens ist oder aber sich so verändert hat, daß er ein Verfahren anwendet, das mit Demokratie nichts mehr zu tun hat, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt und schlicht und einfach Gewalt bis hin zum Mord an der Abgeordnete Karl Lamers. einem Volk zum Prinzip seiner neuen Politik gemacht (Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Jetzt hat. Wenn das richtig ist, dann müssen Sie sich kommen wir wieder zur Sache!) vorwerfen lassen, daß Sie — über die menschliche Tragödie, über die Menschenrechtsverletzungen hin- aus — einen schweren Fehler gemacht haben. Karl Lamers (CDU/CSU): Frau Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es hat sich ein weiteres (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Mal gezeigt, daß die unterschiedliche Fraktionsgröße bei der SPD und der PDS) der Oppositionsparteien nicht unbedingt etwas über Denn, meine Damen und Herren, die Zukunft die Unterschiedlichkeit der Qualitäten, die damit Rußlands ist nach meiner Meinung eine der beiden verbunden sind, aussagt. entscheidenden Fragen für die Zukunft Europas. Vieles, was Sie gesagt haben, Kollege Fischer, Wenn sich dort das Prinzip Gewalt und Autokratie, findet unsere Unterstützung. Es kann gar kein Zweifel das alte Prinzip der zaristischen und auch der stalini- sein: Wir müssen an der Seite der Demokraten in stischen Diktatur, und nicht die Grundsätze des inter- Rußland stehen. Es kann doch auch gar kein Zweifel 660 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Karl Lamers sein, daß wir das in der Vergangenheit getan haben. geholfen, um dieses ungeheuer schwierige Land auf Ich habe mir noch einmal die Liste der Aktivitäten einen guten Weg zu bringen? angesehen, die meine Fraktion und meine Partei seit Es ist nicht zu übersehen: Der Erfolg ist sehr vielen Jahren mit russischen Demokraten unternom- begrenzt. Bedenkliche Tendenzen gibt es in Rußland men haben. Es gab eine Vielzahl von Unterstützungs- seit langer Zeit. Es gibt nicht nur einen wirtschaftli- maßnahmen. Es ist kein Zufall, daß die CSU bei ihrer chen Krebsgang, es gibt auch im politischen Bereich Klausurtagung Herrn Gaidar eingeladen hat. Er war bedenkliche Entwicklungen. übrigens kurze Zeit vorher schon einmal hier und hat mit hochrangigen Gesprächspartnern der Regierung Es kann nicht übersehen werden, daß der Präsident gesprochen. Es kann doch gar keinen Zweifel daran selber zunehmend mit Dekreten regiert. Aber ist das geben, daß wir alle eine gemeinsame Position vertre- angesichts der Lage, in der er sich befindet, erstaun- ten. lich? Welche anderen Möglichkeiten hat er denn? Wenn hier immer gesagt wird, wir müßten auf die Es kann jedoch auch nicht zweifelhaft sein, daß der demokratischen Kräfte bauen, dann darf ich darauf Regierungschef dieses Landes, der Bundeskanzler, hinweisen, daß die Staatsduma den Kurs des Präsi- mit dem Präsidenten der Russischen Föderation denten unmißverständlich gebilligt hat. Das ist die gesprochen hat. Haben Sie denn den geringsten Wirklichkeit. Es gibt wirkliche Demokraten in Ruß- Zweifel daran, daß der Bundeskanzler genau das land. Wir versuchen, sie zu unterstützen. Daß sie noch getan hat, was er hier heute gesagt hat, daß er Jelzin sehr schwach sind, ist unübersehbar. gegenüber seine Kritik an dessen Vorgehen und am Vorgehen Rußlands unmißverständlich zum Aus- Herr Kollege Scharping, darf ich Sie einmal fragen, druck gebracht hat? Daran kann es doch nicht den welche russische Partei Sie in die Sozialistische Inter- allergeringsten Zweifel geben. nationale aufgenommen haben? (Jörg Tauss [SPD]: Doch, ganz erhebli (Rudolf Scharping [SPD]: Keine!) chen!) Noch keine, so ist es. Das haben Sie sicher aus Wenn man näher hinsieht, dann reduziert sich die wohlüberlegten Gründen getan. Wir haben nach gesamte Kritik, die Sie, Herr Scharping, vorgetragen einigem Zögern die Partei Gaidars aufgenommen. haben, auf den Punkt, der Bundeskanzler habe zu spät Das war eine schwere Entscheidung. Wenn Sie eine telefoniert. Das ist das, was übrigbleibt. andere getroffen haben, kann ich das sehr gut verste- hen. (Rudolf Scharping [SPD]: Das ist nicht zutref Das zeigt aber, daß Ihr Gerede, wir dürften nicht nur fend, verehrter Herr Kollege!) - auf Jelzin setzen, tatsächlich nur Gerede ist. Sie haben in vielen salbungsvollen Worten ver- sucht, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge ordneten der F.D.P.) (Rudolf Scharping [SPD]: Nein, nein!) Die Demokraten sind nicht so stark, daß sie schon das zu einer Affäre aufzublasen, die in überhaupt eine wirkliche Alternative zu dem wären, was besteht. keinem Verhältnis zu der Dimension steht, die das Wie könnten sie es auch sein! Der ganze alte Apparat tragische Geschehen hat. ist ja geblieben. Daß der Prozeß in Rußland ganz Ich finde, daß die Dimension des Themas, die Tragik ungewöhnlich schwierig und langwierig ist, ist nicht und die Bedeutungsschwere des Geschehens für die erstaunlich. Was wir uns alle gemeinsam vorwerfen weitere Entwicklung Rußlands und seines Verhältnis- müssen, ist, daß unsere Erwartungen vielleicht zu ses zu all seinen Nachbarn nicht zu dem Versuch hoch geschraubt waren. Es wird sehr lange dauern. taugen, von dem ziselierten Kleinkram abzulenken, Ich habe es schon mehrere Male von diesem Pult aus der in dem dissonanten Chor Ihrer Partei zum Aus- gesagt: Wir alle brauchen einen langen Atem. druck kam, wie man es dieser Tage zu bezeichnen Ich will eines zugeben. Der Begriff der inneren beliebte. Angelegenheiten taugt nicht zur Beschreibung unse- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU res westlichen Verhaltens gegenüber den Vorgängen sowie des Abg. Ulrich Irmer [F.D.P.]) in Rußland. Er ist ohnehin immer weniger geeignet, das Verhalten von Staaten untereinander zu beschrei- Das Thema ist zu ernst, als daß wir es in dieser Weise ben, weil alles, was sich in einem Land ereignet, behandeln können. jeweils auch andere betrifft, und wenn es sich um Kein Wort ist übrigens davon gesagt worden, daß Rußland handelt, ist dies natürlich in einem ganz die Bundesregierung an der Spitze aller westlichen besonderen Maße der Fall. Regierungen in den vergangenen Jahren alles nur Auch unsere Hilfe, die wir gegeben haben, die wir Denkbare getan hat, weiter geben wollen, weil wir sie auch weiter geben (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Sehr müssen, ist selbstverständlich eine „Einmischung in gut!) die inneren Angelegenheiten". Deswegen haben wir das Recht, ja, wir haben auch die Pflicht, klar und auch mit erheblichen finanziellen Leistungen, aber unmißverständlich zu sagen, wie unsere Haltung nicht nur mit solchen, um eine demokratische Ent- gegenüber dem ist, was in Rußland, was in Tsche- wicklung in Rußland zu befördern. Wer hat denn tschenien geschieht. immer und immer wieder mit Boris Jelzin und den anderen Verantwortlichen in Rußland nicht nur gere- Wir wollen Rußland nicht ausgrenzen, das ist gesagt det, sondern auch gehandelt und ihnen tatsächlich worden. Aber Rußland muß sich auch darüber im Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 661

Karl Lamers klaren sein, daß es sich selber ausgrenzt, wenn es sich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt so verhält, wie es das augenblicklich tut. Es ist auch der Kollege Markus Meckel. richtig und notwendig, daß das Parlament — und zwar in der Tat alle Fraktionen — dies deutlicher sagt, als die Regierung es tun kann. Weshalb nicht? Und muß Markus Meckel (SPD): Sehr geehrte Frau Präsiden- es nicht auch hier ein Rollenverständnis, eine Rollen- tin! Meine Damen und Herren! Das demokratische verteilung zwischen Regierung und Opposition Rußland war tief enttäuscht von uns in Westeuropa: geben? Sagt es weiter, wie sehr wir uns vom Westen allein- gelassen fühlen, insbesondere von Clinton und Hel- Aber dabei dürfen wir nie das Kind mit dem Bade mut Kohl, die uns nicht unterstützt haben, als es darum ausschütten. Ich habe immer gesagt: Wir müssen zur ging, die Wahrheit über das Unrecht zu sagen und selben Zeit gewissermaßen eine doppelte Haltung Mord Mord zu nennen. - So klang es uns entgegen, haben. Wir müssen Rußland klar, uneingeschränkt, als Björn von Sydow, ein schwedischer Sozialdemo- aufrichtig und ehrlich sagen: Wir wollen eure Partner krat, Gert Weisskirchen und ich am vergangenen sein. Man sollte im Falle Rußlands auch sagen: Wir Wochenende in Moskau mit engagierten demokrati- wollen eure Freunde sein. Und wir sind es, wir, die schen Duma-Abgeordneten sowie mit Vertretern von Deutschen, ganz gewiß, gerade nach dem schreckli- Memorial und anderen Menschenrechtsgruppen chen Geschehen, das vor 50 Jahren abgelaufen ist, sprachen. und auf dem Hintergrund dessen, was sich vor fünf Jahren ereignet hat. Der Bundeskanzler hat daran Eines müssen wir aus unserer Geschichte doch erinnert, daß das Verhalten der russischen Führung gelernt haben: Der erste Akt des Eintretens für Recht — Gorbatschows wie Jelzins — uns auch zu Dank und Gerechtigkeit ist das klare und unmißverständli- verpflichtet. che Benennen des Unrechts und der Gewalt, einer Gewalt, die unschuldigen Menschen vieltausendfa- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) chen Tod brachte, begleitet von Propagandalügen bis Ja, wir wollen Freunde und Partner Rußlands sein. hin zu rassistischer Diffamierung des tschetscheni- Aber wir müssen Rußland gleichzeitig sagen: Nöti- schen Volkes. Allzu wenige von uns haben sich früh genfalls sind wir auch euer Widerpart. Wir zeigen und klar geäußert, die Bundesregierung wie auch euch und müssen euch gelegentlich auch zeigen, wo unsere westlichen Partner viel zu spät und zu seicht. eure Grenzen sind. Denn es ist in der Tat eines der Ich bin froh, daß sich das jetzt geändert hat. Kernprobleme der gesamten russischen Geschichte, Von der Bundesregierung wurde in den letzten daß Rußland immer grenzenlos gewesen ist, im über- Wochen mehrfach betont, man dürfe Rußland nicht tragenen wie im wörtlichen Sinne. Ich wiederhole- isolieren. Dem ist zuzustimmen, doch das ist nicht die mich hier — aber bewußt —, wenn ich sage: Wer nicht Frage. Rußland hat internationale und völkerrechtli- weiß, wo er endet, weiß auch nicht, wo er beginnt. Es che Verpflichtungen übernommen, bei denen es zu ist in der Tat ein Problem der russischen Identität. behaften ist. Wer das nicht klar genug tut, tritt damit Was können wir jetzt tun? Was sollten wir gemein- gerade nicht für eine demokratische Entwicklung in sam jetzt von der Regierung verlangen? Wir verlangen Rußland ein, sondern stärkt eine von den Demokraten eindeutig und fordern die Bundesregierung auf, jetzt in Rußland mit großem Mut und Engagement alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um zu einer bekämpfte Entwicklung zu einem autoritären Regime wirklich friedlichen, zu einer politischen Lösung des — eine Entwicklung, für die heute leider Jelzin Konflikts beizutragen. Wenn Rußland jetzt das tut, steht. was Sie, Herr Außenminister, gesagt haben, nämlich Trotzdem — das ist doch klar — wird man weiter mit den Tschetschenen eine wirkliche Autonomie, ein ihm reden müssen. Aber auf ihn zu setzen, wie Sie es Höchstmaß an Bewegungsfreiheit zu gewähren, leider immer wieder verkünden, wäre wohl genau das Falsche. Viel wichtiger dagegen ist der intensive (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: In der Kontakt zu den demokratischen Fraktionen der Republik!) Duma, zu allen, die sich wirklich für eine offene und — in der Russischen Föderation —, dann gibt es die plurale Gesellschaft, für die Freiheit der Presse und Chance zu einer Rückkehr und zu einer Besserung. die strikte Einhaltung der Menschenrechte einset- Darauf wird es jetzt ankommen. Wir sollten unseren zen. russischen Freunden allerdings auch klar sagen: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Wenn ihr das nicht macht, dann wird es schlimmer BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) werden. Diese Kräfte sind noch schwach. Um so nötiger (Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig!) brauchen sie die Solidarisierung, das Gespräch und Dann wird sich der Konflikt ausweiten. Dann könnte die Unterstützung. Deshalb reicht es auch nicht aus, das drohende Wort von einem zweiten Afghanistan wenn man mit der Führung in Moskau unter vier vielleicht Wirklichkeit werden. Deswegen müssen Augen oder am Telefon redet. Eine offene und ernst alle Kräfte, muß der gesamte Westen auf eine friedli- genommene Bürgergesellschaft braucht zur Verge- che, auf eine politische Lösung in Tschetschenien wisserung und Orientierung die öffentliche Stellung- hinarbeiten. Wenn wir das erreichen, wenn wir dazu nahme. einen Beitrag leisten können, dann bedeutet dieses (Beifall bei Abgeordneten der SPD) schreckliche Drama vielleicht keine Wende zum Es geht hier nicht um private Männerfreundschaften, Schlechteren, sondern eine Wende zum Besseren. sondern um die Außenpolitik Deutschlands, Herr (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kohl. 662 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Markus Meckel Eine verantwortungsvolle Politik hätte Rußland bei- Ein demokratischer Staat lebt von der Anerkennung zeiten darauf hinweisen müssen, daß die russische seiner Bürger. Militärisch läßt sich die Einheit eines Reformpolitik unabhängig vom erklärten Willen der demokratischen Staates nicht erhalten, schon gar Führung durch diesen Krieg schweren Schaden neh- nicht mit Krieg und Terror. Die Wahrscheinlichkeit men wird. Das gilt nicht nur für die finanziellen Kosten der territorialen Integrität eines Rußland mit seinen — der Krieg hat jetzt schon 1 % des Bruttosozialpro- kolonialen Bestandteilen ist durch den tschetscheni- duktes gekostet —, das gilt auch für die wirtschaftliche schen Krieg gerade geringer geworden. Zusammenarbeit im staatlichen und im privaten Wir haben kein Interesse am Zerfall Rußlands; aber Bereich. wir haben ein existenzielles Interesse an Rechtsstaat- Wir wollen, daß die Reformen weiter vorankommen, lichkeit und Demokratie in Rußland. doch wird dies von der russischen Politik selber (Beifall bei der SPD) behindert. Man kann fast von einer Selbstsanktionie- rung sprechen. So mancher westliche Geschäftsmann Sie sind der höchste Wert und die wichtigste Aufgabe wird sich bei einer solchen Politik fragen, ob Investi- für die Sicherheit in Europa und in Rußland selbst. tionen in Rußland weiter lohnend sind. Die Ausgaben Damit stehen wir nicht nur in einer Werte-, sondern für den Krieg drohen schon jetzt den Haushalt zu auch in einer Interessengemeinschaft mit Rußlands sprengen, von dessen Rahmen weitere Kredite durch demokratischen Kräften. Das sollten wir sie mehr den IWF abhängen. spüren lassen als bisher. Die westliche Fixierung auf eine zaristisch anmutende Führungsspitze mit einem Gleichzeitig wird man sich fragen müssen, ob die politbüroähnlichen Sicherheitsrat muß vorbei sein. großzügige Kreditierung eines Haushalts, der zu nicht Rußlands Demokraten erwarten unsere Solidarität geringen Teilen in den Krieg fließt, verantwortet und sollen sie um Europas willen endlich erhalten. werden kann. Rußland muß sich klarmachen, daß es gegenüber Europa wirtschaftlich mehr verlieren als in Ich danke Ihnen. Tschetschenien militärisch gewinnen kann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Der von wem auch immer eingeflüsterte, doch von Jelzin zu verantwortende Krieg in Tschetschenien schadet innen- wie außenpolitisch Rußlands eigenen Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt und selbsterklärten Interessen. Die demokratischen die Kollegin Andrea Lederer. und wirtschaftlichen Reformen werden behindert, Investitionen werden in einem auf Gewalt setzenden Staat zurückgehen. Die islamische Welt wird zuneh- Andrea Lederer (PDS): Frau Präsidentin! Liebe Kol- mend Rußland als Gegner wahrnehmen, was nicht leginnen und Kollegen! Es ist in meinen Augen, Herr gerade zur Stabilität beiträgt. Rußlands Führung iso- Bundeskanzler, eine Unverfrorenheit, einen brutalen liert sich von einer von westlichen Werten getragenen Krieg, auf den Ihre Regierung in keiner Weise ange- Politik. messen reagiert hat, zum Anlaß für billige parteipoli- Im letzten Jahr hat sich Rußland deutlich gegen die tische Polemik zu nehmen. Es ist ebenso unverfroren, NATO-Mitgliedschaft der mittelosteuropäischen Län- die Verhältnisse in der DDR — bei allem Unrecht, das der gewandt und statt dessen erklärt, die OSZE zu dort geschehen ist, zu dem wir uns geäußert und für einer gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur ma- das wir uns entschuldigt haben — in Vergleich zu chen zu wollen. Unabhängig von der Haltung zu diesem barbarischen Krieg in Tschetschenien zu diesem Konzept ist aber doch klar, daß auf dem bringen. Das zeigt, daß Sie, Herr Bundeskanzler, Hintergrund der jetzigen Interessen diese Staaten um jegliches Gespür für die Relationen verloren haben. so mehr unter den Schutzschild der NATO drängen. (Beifall bei der PDS) Rußland hat ja die OSZE dadurch geschwächt, daß, Der Krieg muß heute und sofort beendet werden. kaum war die Tinte von Budapest trocken, gleich Nicht eine einzige Granate, nicht eine Kugel darf mehrere KSZE-Vereinbarungen gebrochen wurden. mehr abgeschossen werden. Dagegen gibt es keine Jelzin und seine neuen Freunde glauben, die terri- Argumente; es gibt für den Krieg keine Rechtferti- toriale Integrität Rußlands mit militärischer Gewalt gung. Krieg ist kein Mittel zur Lösung politischer sichern zu müssen. Doch dieser Krieg konterkariert Konflikte. Das gilt sowohl innerhalb eines staatlichen dieses Ziel. Territoriums als auch zwischen Staaten. Krieg bedeu- (Zustimmung bei der SPD) tet Tod, unendliches Leiden. Krieg trifft vor allem die Zivilbevölkerung, alte Menschen, Frauen, Kinder. Es Wenn Jelzin heute einerseits erklärt, zu Verhandlun- muß heute und sofort Schluß sein mit dem Töten, gen bereit zu sein, gleichzeitig aber glaubt, sich seine Verletzen und Vertreiben in Tschetschenien. Verhandlungspartner aussuchen zu können, und Gespräche mit Dudajew, den man ja nicht schätzen (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten muß, weiterhin ablehnt, ist das noch kein Hoffnungs- der SPD) zeichen. Verhandlungen sind nur möglich, wenn Wenn gestern Staatsminister Schäfer im Auswärti- beide Seiten ihre Verhandlungspartner selbst benen- gen Ausschuß die Legende zu entwerfen versuchte, nen. Eine Lösung wird es nur geben, wenn diese die Bundesregierung habe wohl schon immer auf alle Verhandlungen in freie Wahlen in Tschetschenien demokratischen Kräfte in Rußland gesetzt, nicht nur münden und die Bevölkerung die Möglichkeit hat, auf Präsident Jelzin, dann hat ihn der Bundeskanzler ihre Staatlichkeit selbst zu bestimmen. heute eigentlich eines Besseren belehrt. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 663

Andrea Lederer Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, diese Formulierung nes Erachtens wirklich nur Hochachtung ausgespro- auszusprechen wagen, ein Freund sei in Schwierig- chen werden sollte. keiten gekommen, dann muß man Sie hier wohl noch (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten einmal darauf hinweisen, daß dieser Ihr Freund des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) andere Menschen nicht nur in Schwierigkeiten gebracht hat, sondern daß er sie derzeit Tod, Verlet- Wir fordern Sie auch auf, für den Fall, daß Deserteure zung und Vertreibung aussetzt. Repressalien ausgesetzt sind, diesen Zuflucht in die- sem Land zu gewähren und ihnen zu ermöglichen, (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten hierherzukommen. der SPD und des BÜNDISSES 90/DIE GRÜ (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten NEN) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das zeigt, daß Sie ein machtpolitisch begründetes, Denn auch diese verdienen meines Erachtens unseren taktisches Verhältnis zur Demokratie als Weg und Respekt, weil sie mutig und mit den entschiedensten Ziel, ein taktisches Verhältnis zur Achtung der Men- Mitteln zeigen, daß sie versuchen wollen, diesen schenrechte und ein taktisches Verhältnis zum Selbst- Krieg zu beenden — durch den Einsatz ihres eigenen bestimmungsrecht der Völker haben. Lebens. (Beifall bei Abgeordneten der PDS) Wir haben ein kleines Problem mit dem GRÜNEN- Wenn ich hier vom Selbstbestimmungsrecht der Völ- Antrag — das will ich zum Schluß erwähnen —: Die ker rede, Kollege Irmer, dann ist damit eben nicht Einstellung des Exports von Waren von strategischer unbedingt der weitere Zerfall, die Sezession gemeint, Bedeutung kann unter Umständen zu wirtschaftlichen sondern dann ist damit der Versuch gemeint, eine Sanktionen führen. Wir halten so etwas für kontrapro- politische Lösung für ein friedliches Zusammenleben duktiv, weil es nicht darum gehen kann, erneut die in unterschiedlichen Formen und unterschiedlicher russische Zivilbevölkerung zu treffen. Verfaßtheit zu finden. (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da sind wir uns doch Kollege Einsiedel sagte, daß kein vernünftiger einig!) Mensch den weiteren Zerfall der russischen Födera- tion sorglos wollen kann. Aber es ist eben nicht nur Dudajew, der Fehler dabei gemacht hat, unterhalb der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Sie müssen jetzt Schwelle der Sezession eine friedliche Lösung poli- zum Schluß kommen. tisch herbeizuführen, sondern es ist vor allem die Regierung Jelzin, die in dieser Frage Fehler -gemacht hat. Der unverzeihlichste Fehler dabei ist, diesen Andrea Lederer (PDS): Es kann nur darum gehen, Konflikt mit militärischen Mitteln lösen — wie es so den Export militärischer Güter zu stoppen. In diesem verharmlosend heißt —, ersticken und durch Tod und Sinne werden auch wir — wenn es so gemeint sein Vertreibung beenden zu wollen. sollte — diesem Antrag zustimmen. Wir fordern Sie deshalb nicht nur auf, alles zu Ich danke. unternehmen, um internationale Mechanismen in (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Gang zu setzen, was schon längst hätte passieren des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) müssen; wir fordern Sie nicht nur auf, die Unterstüt- zung ziviler Organisationen für die notleidende Bevöl- Das Wort hat jetzt kerung in Tschetschenien weit zu erhöhen, sondern Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: der Kollege Christian Schmidt. wir fordern Sie auch auf, militärische Kooperationen, sei es im Bereich des Rüstungsexports, sei es im Bereich gemeinsamer Manöver oder ähnlicher Pla- Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Frau Präsi- nungen, auszusetzen, weil es wohl nicht angehen dentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die kann, so etwas weiter mit einem Staat zu praktizieren, letzte Rednerin hat wieder versucht, an einer Legende mit dem wir in freundschaftlichem, in partnerschaftli- zu stricken, die leider den ganzen Vormittag von chem Verhältnis leben wollen, der sich derzeit aber im Vertretern der Opposition in den Raum gestellt wird, Krieg mit der eigenen Bevölkerung befindet. so als ob niemand in Deutschland, niemand aus den Wir fordern Sie auch auf, konkret und offiziell Koalitionsparteien, niemand aus der CSU und nie- Verbindungen zu denjenigen aufzunehmen, die mand aus der CDU mit anderen als mit Bo ris Jelzin gegen diesen Krieg eintreten — und das sind sehr reden würde. viele verschiedene Kräfte innerhalb Rußlands —, Nachdem Herr Verheugen die zweifelnde Frage an nicht nur darüber zu reden und das nicht nur unter den Kollegen Lamers gestellt hat, darf ich Sie darüber dem Mantel der Verschwiegenheit zu tun, sondern informieren, daß die CDU/CSU mit ihrer internationa- offiziell zu zeigen, daß Sie die Kräfte unterstützen, die len Organisation, der Internationalen Demokrati- gegen diesen Krieg eintreten und die sich gegen den schen Union, vor einer Woche in London die Partei Versuch, Konflikte militärisch lösen zu wollen, enga- „Rußlands Wahl" von Jegor Gaidar in ihre Reihen gieren. aufgenommen hat. Wir pflegen sehr enge Kontakte im Rahmen der Europäischen Demokratischen Union. (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Wir haben da wirklich überhaupt keinen Nachholbe- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) darf, ganz im Gegenteil. Wir würden gerne hören, wie Dazu gehörigen übrigens auch Teile der russischen Sie mit Ihren kommunistischen Partnern und Freun- Armee, die den Befehl verweigert haben, wofür mei den umgehen, die in der Duma mit Herrn Schirino- 664 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Christian Schmidt (Fürth) wskij gestimmt haben, und wie Sie Ihren Einfluß auf 1994 beginnen lassen. Ich darf darauf hinweisen, daß die zweifelhaften Freunde ausüben, die Sie dort Boris Jelzin für uns bisher ein Garant der Stabilität haben. gewesen ist. Gerade wir Deutschen, die das Datum 31. August 1994 in späteren Jahren vielleicht einmal (Beifall bei der CDU/CSU — Günter Verheu mit sehr viel mehr Nachdruck schreiben werden, als es gen [SPD]: Wen meinen Sie? Von wem reden Sie? Wen haben Sie jetzt angesprochen?) heute in der Debatte den Eindruck hatte, sollten uns daran erinnern, daß die Verpflichtungen, die Boris — Herr Verheugen, Sie haben mir vorhin nicht zuge- Jelzin in verbindlicher Art und Weise eingegangen ist, hört. Frau Präsidentin, ist eine Zwischenfrage zuge- eingehalten worden sind. lassen worden? (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Günter Verheugen [SPD]: Ein Zwischenruf war das! Wen haben Sie denn jetzt angespro Das gibt uns die Hoffnung, daß nach der Verletzung chen?) internationaler Vereinbarungen zukünftig Verpflich- tungen von ihm wieder eingehalten werden. Das hat Ich wollte von Herrn Verheugen eigentlich keine nichts mit einem taktischen Verhältnis zu Menschen- haben. rechten zu tun. (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Ein Zwischenruf ist immer gestattet!) Ich darf einen Zwischenruf aufnehmen, der bei der Rede des Kollegen Lamers fiel, als er darauf hinge- — Er hat eine Frage gestellt. wiesen hat, daß Deutschland seit Jahren, seit 1989/90, (Günter Verheugen [SPD]: Wen haben Sie intensiv und zuvörderst, an allererster Stelle, im nun angesprochen?) Finanziellen, im Wirtschaftlichen und im Politischen — Ich habe die Frau Lederer angesprochen. die demokratische Entwicklung in Rußland zu stabili- sieren versucht, und zwar doch aus unserem eigenen (Günter Verheugen [SPD]: Dann sagen Sie es Interesse heraus. An dieser Stelle wirft aus den Reihen doch! — Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: der SPD ein Zwischenrufer — der zugegebenermaßen Er hat es ja gesagt!) auch in deren Reihen nicht als besonders qualifiziert — Hören Sie doch zu, Herr Verheugen. bekannt ist — „um so schlimmer" ein. Was soll das denn sein: um so schlimmer? Das zeugt allenfalls (Günter Verheugen [SPD]: Sie haben uns davon, daß Sie in Ihrer Partei bei der grundsätzlichen angesprochen und von Kommunisten gere Linie gegenüber Rußland überhaupt nicht vorange- det!) kommen sind, daß Sie den Begriff Interesse, deutsches — Vorhin habe ich Sie angesprochen. Sie haben- eine Interesse, europäisches Interesse, das die Außenpoli- Frage gestellt; ich habe sie beantwortet. tik im wesentlichen prägt und auch prägen soll, in Ihr (Arne Fuhrmann [SPD]: Sie vermischen wie Kalkül überhaupt noch nicht einbezogen haben. üblich alles!) (Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Ist das ärmlich Wenn Sie sich angesprochen fühlen, wenn ich von und dumm!) Kommunisten rede, ist das Ihr Problem, Herr Verheu- Ich hoffe, daß das in einer gemeinsamen Bewertung gen, nicht das meinige. der Situation in Tschetschenien in Zukunft berück- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sichtigt wird. Ich hoffe, daß wir alle zusammen eine Boris Jelzin ist der demokratisch gewählte Staats- Möglichkeit haben, gemeinsam von diesem Haus aus präsident Rußlands. Mit ihm muß, soll und kann die Botschaft nach Moskau zu bringen, daß wir im geredet werden. Es ist etwas eigentümlich, wenn die deutschen, im russischen und im europäischen Inter- Opposition während der ganzen Debatte langsam, esse zwar bereit sind, nach wie vor die Hand zu aber sicher von den eigentlichen Problemen abzuglei- reichen, daß wir aber mit genau der gleichen Ent- ten versucht. Die klugen, besonnenen und verantwor- schiedenheit, wie es die Bundesregierung, wie es die tungsbewußten Gespräche, die natürlich geführt wor- Union, wie es die Koalition und wie es sicher auch die den sind — nicht bei jedem Telefongespräch, das der Kollegen von der Opposition, die letzte Woche aus Bundeskanzler mit Boris Jelzin führt, sind die Deut- Moskau zurückgekommen sind, getan haben, deut- sche Welle oder andere Rundfunkanstalten automa- lich machen, daß Fehler und daß gravierende Men- tisch angeschlossen —, werden hoffentlich ihre Wir- schenrechtsverletzungen korrigiert werden müssen, kung entfalten. Es ist ein ganz wichtiger Punkt, wie daß wir alle einen sofortigen Waffenstillstand ohne der Menschenrechtsbeauftragte Kowaljow gestern Vorbedingungen fordern und die russische Armee, gesagt hat, daß auf diesem Weg die Position des aber auch die tschetschenischen Kämpfer auffordern, Westens dargestellt wird, in der Hoffnung, daß der die Waffen niederzulegen. schwere Fehler, den die russische Regierung durch Ich habe im Verlauf der Debatte den Eindruck ihre Entscheidung, in Tschetschenien militärisch ein- gehabt, daß man sich etwas zu wenig mit der Person zugreifen, begangen hat — darüber sind wir uns wohl Dudajew beschäftigt hat. Wir sollten nicht der Versu- alle einig —, nicht dazu führt, daß die demokratische chung unterliegen, Herrn Dudajew heiligsprechen zu Entwicklung Rußlands insgesamt in Frage gestellt wollen. wird. (Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl: Sehr Wenn wir über Außenpolitik reden — bei der gut!) Außenpolitik müssen wir manchmal auch über „fein ziselierte, kleinkrämerische Dinge" reden —, dann Die Art und Weise seiner Machtübernahme in Tsche dürfen wir unsere Erinnerung nicht erst im Dezember tschenien ist, an unseren demokratischen Prinzipien Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 665

Christian Schmidt (Fürth) gemessen, sehr zweifelhaft gewesen. Ein autoritärer gab es Reisen, bei denen man nicht mit Dissidenten Regionalpräsident, der die tschetschenische Opposi- gesprochen hat. tion hart unterdrückt, eignet sich mit Sicherheit nicht (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) für ein mit kräftigen Farben gemaltes Bild eines leuchtenden Freiheitshelden. Insofern glaube ich, daß allenfalls zu hoffen ist, daß die SPD dazugelernt hat. Sie sollte aber keine Belehrun- In den zurückliegenden Jahren hat es eine ganze gen austeilen. Reihe von nicht gerade demokratischen Gepflogen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) heiten entsprechenden Verhaltensweisen auch auf tschetschenischer Seite gegeben, die die schwierige Der verstorbene SPD-Vorsitzende und frühere Bun- Situation verschärft und nicht gemildert haben. Wir deskanzler Willy Brandt hat ein Buch geschrieben mit wissen, daß die russische Regierung im Gegensatz dem Titel „Über den Tag hinaus". Die Politik der hierzu im Februar 1994 mit der autonomen Republik Bundesregierung, die Politik des gesamten Westens Tatarstan eine vertragliche Abmachung über die gegenüber Tschetschenien muß eine Politik über den gegenseitige Abgrenzung der Kompetenzen zwi- Tag hinaus sein. Die Politik gegenüber Tschetsche- schen Zentralstaat und autonomer Republik geschlos- nien muß einerseits mit unerbittlicher Deutlichkeit, sen hat. Fragen Sie mich nun nicht nach den Feinhei- mit Schärfe die Menschenrechtsverletzungen ankla- ten des russischen Verfassungsrechts, wie das ver- gen und die Einhaltung internationaler Verträge ein- traglich alles einzubinden ist, aber das politische fordern. Sie muß andererseits aber auch unser Inter- Faktum steht, daß es ja auch innerhalb der russischen esse im Auge haben, daß wir Rußland als einen Föderation Modelle gibt, über die man reden kann. Partner im europäischen Haus halten wollen, daß wir nicht eine alte Grenze in Europa, die Ausfluß des alten Unser Freund Jegor Gaidar — unser Parteipartner Blockdenkens ist, nur ein paar hundert Kilometer Jegor Gaidar, den die CSU in Wildbad Kreuth in einer weiter nach Osten verschieben wollen, wie Timothy ausführlichen Debatte zu Beginn dieses Jahres Garton Ash schreibt. Wir wollen nicht ein Jalta 2 befragt hat und der uns Auskunft gegeben hat — hat haben, sondern wir wollen auf einer neuen Basis mit gerade auch auf diesen Fall und dieses Beispiel einer demokratisch verfaßten großen Macht im Osten hingewiesen und gesagt, daß durchaus auch inner- Europas zusammenarbeiten. halb der russischen Föderation diese Möglichkeit Auf diesem Wege sollten wir uns auch nicht beirren bereits praktiziert worden ist und nur der Weg hierzu lassen. Es wird im Interesse Deutschlands und Euro- zurückgefunden werden muß, nämlich einen vernünf- pas sein, daß wir dies tun. tigen Ausgleich zwischen zentralen Interessen und föderalen Interessen zu suchen und zu finden. Daß die Es ist wichtig, daß Rußland auch Vertrauen zu CSU gerne bereit ist, im Hinblick auf föderale Struk- seinen Nachbarn hin bildet. Das heißt, daß über den turorientierungen Unterstützung und Beratung zu Begriff nahes Ausland und seine Verwendung inner- gewähren, versteht sich von selbst. halb der Militärdoktrin geredet werden muß. Das heißt, daß es an der Zeit ist, daß die Europäische Union (Beifall bei der CDU/CSU) und Rußland klarstellen und unterstreichen, daß die Staaten Mitteleuropas das Recht der freien Selbstbe- Ich will aber noch einmal auf die Kritik seitens der stimmung haben und Bündnissen, die sich wie die SPD an der Bundesregierung eingehen. Bei einigen NATO gegen niemanden richten, die rein defensiven Kollegen, die sich mit markigen Worten — auch Charakter haben, beitreten dürfen. gestern im Auswärtigen Ausschuß — geäußert haben, liegt die Frage auf der Hand, wie denn das vor 10 oder Ein Weiteres muß gesagt werden: Rußland soll und 20 Jahren gewesen ist, mit wem Sie da gesprochen braucht sich nicht in die Ecke gedrängt zu fühlen. haben, als es um die Frage der Menschenrechte ging, Rußland wird aber um so mehr geachtet werden, als es und zwar ob in allererster Linie Herr Sacharow oder internationale Verpflichtungen einhält. Deswegen ist andere Ihre Gesprächspartner gewesen sind. Leider dringend zu empfehlen, daß die KSZE-Beschlüsse haben wir zu dieser Zeit eher ein Daherkommen auf und auch die KSE-Vereinbarungen, die erst noch in Wollsocken, ein Leisetreten, gemerkt und gesehen, Kraft treten, beachtet werden. Ich halte in diesem als es darum ging, klar deutlich zu machen, daß Zusammenhang die Diskussion über eine Revision der Menschenrechte in der Sowjetunion verletzt wer- KSE-Vereinbarungen mit einer zugestandenen er- den. höhten Militärpräsenz an der südlichen Pe ripherie Rußlands gegenwärtig für überhaupt keinen ange- „Kalter Krieger" wäre dem entgegengerufen wor- messenen Verhandlungsgegenstand. den, der sich um die Menschenrechte gekümmert hat, (Beifall der Abg. Uta Zapf [SPD]) und das sind wir gewesen. Das war die Union! Das lassen wir uns auch nicht bestreiten. Deswegen gilt: Rußland steht der Weg zu einer Partnerschaft mit Wenn nach moralischen Rechtfertigungen und mora- Europa nach wie vor offen. Es liegt aber nicht in erster lischen Begründungen gefragt wird, dann braucht Linie an uns, sondern an den Russen selbst, ob sich die Union überhaupt nicht zu verstecken Rußland diesen Weg beschreiten will. Rußland hat die Bringschuld, den Weg, den es eingeschlagen hat, (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig!) auch einzuhalten. Das wird nicht in erster Linie von und von niemandem Belehrungen anzunehmen. uns zu bestimmen sein, nicht mit Geld und guten Worten. (Beifall bei der CDU/CSU) Da gab es führende Vertreter der SPD, die den Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Kollege, Bogen um Solidarnosc in Polen gemacht haben. Da Ihre Redezeit ist abgelaufen. 666 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Es wird aber Dazu gehört auch, lieber Herr Kollege, lieber Herr unsererseits die Bereitschaft bestehen, wenn in Ruß- Außenminister Kinkel, daß Sie in der Analyse dessen, land weiterhin der demokratische Weg beschritten was dort in Rußland vor sich geht, etwas sorgfältiger wird, mit Unterstützung aller demokratischen Kräfte argumentieren müssen. Auch Herr Seiters hat das und derer, die Verantwortung tragen, Rußland einen angesprochen: Es geht nicht alleine darum, daß Ruß- Weg ins europäische Haus zu bahnen. land in diesem Prozeß zerfallen könnte und zerfällt. Herzlichen Dank. Vielmehr geht es darum, daß die Zukunftschancen der Demokratie in Rußland zerfallen. Das ist das entschei- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) dende Problem. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Es spricht jetzt als (Beifall des Abg. Wolf-Michael Catenhusen letzter zu diesem Tagesordnungspunkt der Kollege [SPD]) Gert Weisskirchen. Es kommt darauf an, daß wir dafür sorgen, daß die Demokratie in Rußland eine Chance hat — soweit wir Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Frau Präsiden- das überhaupt vermögen. In erster Linie heißt das, tin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr dafür zu sorgen, daß die Kräfte, die in Rußland für die Schmidt, Sie haben eben auf einen bestimmten Punkt Demokratie stehen, von uns vorbehaltlos unterstützt aufmerksam gemacht. Ich möchte Sie daran erinnern werden. — auch Sie, Herr Bundeskanzler Kohl, weil Sie das vorhin in Ihrem Debattenbeitrag so betont haben —: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Es weir einer Ihrer Vorgänger, nämlich Willy Brandt, der, als sich die Menschenrechtssituation in der dama- PDS) ligen Sowjetunion zuspitzte, das Angebot unterbreitet Die Kolleginnen und Kollegen aus der Staatsduma, hat, daß Alexander Solschenizyn nach Deutschland von den Menschenrechtsgruppen, von Memorial bis kommen konnte. Und er kam. Das war Willy hin zur Helsinki-Gruppe, haben uns in der letzten Brandt. Woche gesagt: „Wir erwarten von euch, von den Willy Brandt hat in einem anderen als dem von Parlamenten in Westeuropa, von den Schweden, von Ihnen erwähnten Buch deutlich gemacht, daß links den Holländern" — ich begrüße in diesem Zusam- und frei keine Gegensätze sind, sondern daß die menhang unseren Kollegen Marten van Traa aus dem Freiheit auf der linken Seite dieses Hauses immer holländischen Parlament, den ich gerade sehe —, ihren klaren Platz gehabt hat. Wir als Sozialdemokra- „daß ihr eure Stimme erhebt. Es geht um unser ten brauchen von Ihnen keinerlei Hinweise darauf, Schicksal in Rußland. Es geht um unsere Demokratie. was wir von Menschenrechten zu halten und wie wir Es geht um unsere Zukunft. Ihr müßt jetzt eure Stimme sie zu verteidigen haben, lieber Herr Kollege laut erheben!" Ich finde, es verdient Kritik an der Schmidt. Bundesregierung, daß die Kolleginnen und Kollegen uns mahnen müssen, hier in Bonn und anderswo auf (Beifall bei der SPD) dieses Problem aufmerksam zu machen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Gestatten Sie Vielleicht muß man auch daran erinnern, lieber eine Zwischenfrage des Kollegen Schmidt? Kollege Schmidt, daß z. B. die Journalisten der Iswe- stija — ob das Otto Lazis, ob das Marina Silvanskaja- Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Bitte schön. Pavlova ist oder ob es die vielen anderen Kolleginnen und Kollegen sind, die wir kennen —, die mit großem Mut und unerschrocken sagen, was sie denken, jetzt Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herr Kol- lege, sind Sie mit mir der Ansicht, daß der von Ihnen die Sorge haben, der Druck aus der Adminis tration zitierte Alexander Solschenizyn als ein wesentlicher von Jelzin werde so stark, daß sie nicht mehr schreiben Vertreter der russischen Intellektuellen von uns allen können, was sie schreiben wollen. Sind das nicht gebeten werden sollte, in der jetzigen Zeit eine klare Alarmzeichen? Ist es nicht ein Alarmzeichen, daß , Aussage für eine westliche, für eine freiheitlich- Jelzin selbst eine Trendverschiebung nach rechts demokratische Orientierung Rußlands zu machen? vollzogen hat? Deutet das nicht darauf hin, daß er sich Sind Sie mit mir der Meinung, daß wir — Sie bei Ihrer selbst nicht mehr aus der Fessel, in die er sich begeben Reise letzte Woche, ich bei meiner Moskau-Reise am hat, aus dem Autoritarismus, befreien kann? Ange- Sonntag — Wert darauf legen müssen, daß alle, die in sichts dieser Trendverschiebungen können wir doch der damaligen Zeit gegen das System gestanden nicht einfach nur sagen: „Wir unterstützen Jelzin, haben, heute für die Demokratie stehen? koste es, was es wolle." — Nein, wir müssen jetzt die demokratischen Bewegungen und Gruppen in Ruß- land unterstützen, und zwar so, daß die Zukunft Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Lieber Kollege Schmidt, ich teile Ihre Meinung, die Sie hier äußern. Rußlands gut wird. Vielleicht ist Ihnen aber entgangen, daß Alexander Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Dramatik der Solschenizyn gerade mit Blick auf diese Krise in Ereignisse, die in Tschetschenien vor sich gehen, Tschetschenien gesagt hat — gerichtet an die Regie- kann, so glaube ich, nur der ermessen, der es selbst rung in Moskau —: Laßt sie doch gehen! Was sollen gesehen hat. Deshalb finde ich es gut, daß ein Vor- wir einen Krieg führen, der dazu führt, daß die gänger von Ihnen, Herr Bundeskanzler Kohl, nämlich russische Demokratie in diesem Krieg zerstört wird!? Helmut Schmidt, Sergej Kowaljow für den Friedens- Das ist Alexander Solschenizyn heute. Ich finde, in nobelpreis vorgeschlagen hat. Ich finde, es ist ein diesem Punkt sollten wir ihn gemeinsam unterstüt- gutes, ein ermutigendes Zeichen, daß diejenigen, die zen. sich in Tschetschenien praktisch und konkret um Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 667

Gert Weisskirchen (Wiesloch) Menschenrechte bemühen, unterstützt werden. Ich Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Die Fraktion finde, wir sollten diesen Vorschlag von Helmut BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat gebeten, für die Schmidt gemeinsam unterstützen. ausstehenden zwei Minuten noch einmal den Kolle- gen Fischer reden zu lassen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Joseph Fischer (Frankfurt) (BÜNDNIS 90/DIE Eines, Herr Kollege Schmidt, möchte ich doch noch GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Her- ganz deutlich herausarbeiten. Ich folge Ihnen an ren! Es erreichte mich eben, Herr Bundesaußenmini- diesem Punkt sehr klar. Dudajew hat noch im vorver- ster, mit meiner täglichen Post ein Brief eines Frank- gangenen Jahr gegenüber der Adminis tration in Mos- furter Bürgers. kau angeboten, es könne eine Lösung der Verfas- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Ist das der sungskonflikte zwischen Moskau und Grosny auf der einzige Brief, der eingegangen ist?) Grundlage des sich anbahnenden Modells Tatarstans geben. Sie wissen, im Februar 1994 ist dieses Modell — Hören Sie zu! Er hat mir eine Kopie einer Antwort realisiert worden. Das heißt, daß es Möglichkeiten der vom 12. Januar 1995 in Ihrem Auftrag, aus dem regionalen Autonomie, ja weit hinein bis in die eigene Auswärtigen Amt, zugeschickt. Das muß ich kurz Selbstverwaltung gibt, die noch nicht in der russi- vorlesen. Dort steht: schen Verfassung so vorgesehen waren. Warum sollte Sehr geehrter Herr! denn dieses Modell Tatarstan nicht auch in Tsche- Der Bundesminister des Auswärtigen, Herr tschenien angewendet werden? Warum nur hat Jelzin Dr. Klaus Kinkel, hat mich beauftragt, Ihnen für diesen Vorschlag von Dudajew abgelehnt? Das müßte Ihr Schreiben zur Lage in Tschetschenien zu doch gefragt werden. Warum nur hat er diese Chance danken und es zu beantworten. nicht genutzt, daß z. B. Jelzin und Dudajew gemein- sam dagegen gekämpft haben, daß in Moskau die Auf Seite 2 heißt es — jetzt bitte ich Sie, zuzuhö- Putschisten die Oberhand gewinnen? Dudajew und ren —: Jelzin sind, was das anbetrifft, Freunde gewesen. Sie Allerdings teilt die Bundesregierung haben gemeinsam gegen den Autoritarismus ge- — die Bundesregierung! — kämpft. die in der Öffentlichkeit häufig geäußerte Ein- Ich würde mir wünschen, daß wir durch den OSZE- schätzung nicht, daß in Tschetschenien von seiten Mechanismus genau das in Gang setzen, worauf es der russischen Regierung gezielt gegen ein wehr- meiner Meinung nach jetzt ankäme. Wenn die beiden loses, unschuldiges Volk Krieg geführt werde. Kriegsparteien, Konfliktparteien sich gegeneinander Tatsächlich kämpfen die russischen Truppen in ausschließende Vorschläge haben — also Rußland Tschetschenien, wie deren hohe Verluste zeigen, sagt: Tschetschenien muß unbedingt integraler gegen schwerbewaffnete, illegale Einheiten von Bestandteil bleiben, und Tschetschenien sagt: Wir erheblicher Kampfstärke, die sich in Grosny und wollen unbedingt unabhängig werden —, dann sind anderen von Zivilisten bewohnten Orten ver- das Ausgangspositionen, die nicht zueinander kom- schanzt haben. Durch die Wahl ihrer Zuflucht, men können. Gerade in diesem Verhältnis und in etwa in Wohnhäuser, nehmen sie billigend in diesem Zusammenhang muß die OSZE geradezu Kauf, daß auch unschuldige Zivilisten Opfer der versuchen, einen Mechanismus in Gang zu setzen, die Kampfhandlungen werden. Die Bundesregie- beiden Parteien, wenn sie nicht in der Lage sind, rung ist überzeugt, Kompromisse einzugehen, an einen gemeinsamen Tisch zu bringen. Also: Die Aufgabe der OSZE als (Werner Schulz [Berlin] [BÜNDNIS 90/DIE Mediator, als Vermittler, als einer, der gute Dienste GRÜNEN]: Das ist das Außenministerium!) leisten und anbieten kann, ist jetzt gefordert. daß die russische Regierung bei ihrem Beschuß Der Vorwurf, der von uns an Sie gerichtet wird, ist von Grosny versucht, ausschließlich militärisch nur der, aber der sehr klar: Wo sind Sie geblieben, als genutzte Ziele zu treffen, ihr dies jedoch zum Teil es darum ging, diesen Mechanismus der OSZE wirk- nicht gelingt. lich in Gang zu setzen? Das hätte schon sehr viel früher Ich bitte Sie, Stellung dazu zu nehmen, ob dies die geschehen müssen als jetzt. Jetzt ist es vielleicht schon Haltung der Bundesregierung ist. — ich hoffe nicht — zu spät. Ich wünsche es natürlich (Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nicht. Nur ich wünsche mir, daß jetzt alles darange- der SPD und der PDS) setzt wird, Herr Außenminister. Vielleicht besteht die Chance, daß man unsere Anträge so miteinander verknüpft, daß es einen gemeinsamen Antrag des Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat der Bundestages gibt, um zu diesem Ziel zu kommen, Außenminister. einen Kompromiß zu erarbeiten, der eine Grundlage bietet dafür, daß die Zukunft Europas nicht so weiter- geht, wie es sich in Tschetschenien zeigt. Es ist unsere Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: gemeinsame Zukunft in Europa, die auf dem Spiel Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin steht. selbstverständlich gerne bereit, dazu Stellung zu (Beifall bei der SPD, der PDS sowie bei nehmen. Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Erstens. Ich kann nicht anzweifeln, daß es sich um GRÜNEN) einen Brief handelt, der von irgend jemandem aus 668 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Bundesminister Dr. Klaus Kinkel dem Auswärtigen Amt geschrieben worden ist. Das Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich erteile dem Auswärtige Amt hat viele Mitarbeiter. Herrn Bundeskanzler das Wort. (Zurufe von der SPD) — Moment! Ich habe natürlich für B riefe aus dem Auswärtigen Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Frau Präsidentin! Amt, die ich nicht gesehen habe — diesen habe ich mit Meine Damen und Herren! Ich habe mit meinen absoluter Sicherheit nicht gesehen —, die politische politischen Freunden sofort übereingestimmt, daß Verantwortung zu tragen. Nur, damit das klar ist. man den Versuch machen sollte, vielleicht in der Zweitens. Das, was in diesem Brief steht, billige ich morgigen ersten Sitzungsstunde, eine gemeinsame nicht. Entschließung zustande zu bringen. Ungeachtet der verschiedenen Positionen, auch der verfassungsmäßi- Drittens. Einen solchen B rief hätte ich persönlich gen Stellung von Parlament und Regierung, kann dies nicht geschrieben. die Politik der Bundesregierung, die in den Grundsät- Viertens. Sie könnten wahrscheinlich in allen Berei- zen überhaupt nicht von dem abweicht, was hier chen solche Briefe zitieren. Ich sage noch einmal: Ich diskutiert wurde, unterstützen. trage die politische Verantwortung dafür; ich werde der Sache nachgehen. Ich kann aber nicht jeden aus Herr Abgeordneter Fischer, Sie haben einen Brief dem Auswärtigen Amt herausgehenden Brief kontrol- von einem Referenten aus dem Auswärtigen Amt. Und lieren; das werden Sie mir wohl zubilligen. Insofern der Kollege der SPD geht hier ans Pult und erklärt: Das — seien Sie mir nicht böse — finde ich es ein wenig ist der wahre Geist. Ich war viele Jahre Regierungs- billig, daß Sie das hier so vorgebracht haben. chef in einem Bundesland, war viele Jahre Regie- rungschef in Bonn und auch viele Jahre Oppositions- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — führer. Eines muß ich Ihnen sagen: Mir wäre es nie in [SPD]: Warum grinst denn der den Sinn gekommen, in einer solchen Debatte einen Kanzler bei einer so ernsten Sache!) Brief von irgendeinem Mitarbeiter aus einem Ministe- rium in dieser Form zu verwenden. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich erteile dem Abgeordneten Voigt zu einer Kurzintervention das (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Wort. Zurufe von der SPD) Meine Damen und Herren, ich hätte in meiner Amts- Karsten D. Voigt (Frankfurt) (SPD): Herr Bundes- zeit als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU, als der außenminister, ich nehme Ihnen sofort ab, daß Sie die Kollege Schmidt Bundeskanzler war, in vergleichba- Äußerung, wie sie in diesem Brief niedergelegt ist, ren Situationen häufig Gelegenheit gehabt, solche heute mißbilligen. So wie ich die Verhältnisse im Briefe, wie sie in einem großen Apparat leider immer Auswärtigen Amt aber über die Jahre habe beobach- wieder geschrieben werden, hier zu verwenden. Wol- ten können und auch jetzt beobachte, werden solche len wir jetzt ernsthaft über das Schicksal der Men- Briefe nicht von irgendwelchen Mitarbeitern abge- schen in Tschetschenien reden, über unsere Bezie- faßt, sondern in Abstimmung mit der offiziellen Politik hungen zu Rußland, über die gemeinsame Abwehr des Hauses. Derjenige, der diesen Brief formuliert hat, von Gefährdungen, oder wollen wir hier in billiger hatte zu dem Zeitpunkt den Eindruck, daß die politi- Weise einen tagespolitischen Vorteil erringen? sche Führung des Hauses und die Bundesregierung (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) insgesamt diese Linie verfolgt. Dies ist nicht die Meinung der Bundesregierung. Insofern werden mit diesem Brief alle unsere Wir sind zu vernünftigen Gesprächen in diesem Haus Bedenken und unsere Kritik bestätigt, die wir in dieser bereit, wie es unsere Pflicht ist; wir sind bereit, die Debatte aufgebracht haben, daß Sie die Lage in notwendigen Gespräche mit der russischen Regie- Tschetschenien und die Politik der russischen Regie- rung und den Verantwortlichen, auch den Demokra- rung bis in die letzten Wochen hinein falsch einge- ten, in Rußland zu führen. Aber so billig sollten Sie schätzt und verharmlost haben. Daß Sie das in letzter diese Debatte heute nicht abschließen. Minute, in der heutigen Debatte korrigieren und diesen Brief jetzt verurteilen, ist richtig. Es ist aber (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) völlig falsch, in diesem Augenblick die Schuld auf einen Referenten zu schieben, der sich damals in Übereinstimmung mit der offiziellen Haltung der Bundesregierung befand bzw. meinte sich befinden Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich erteile zu zu können. einer weiteren Kurzintervention dem Abgeordneten Verheugen das Wort. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Sie machen es nur noch Deshalb ist dieser Brief, von dem Sie sich heute schlimmer!) glücklicherweise distanziert haben, eine Bestätigung für unsere Kritik an der Haltung der Bundesregierung in den ganzen letzten Wochen. Günter Verheugen (SPD): Herr Bundeskanzler, was (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE Sie gerade gesagt haben, will ich in einem Punkt GRÜNEN und der PDS — Ulrich Irmer aufgreifen. Der letzte Vorfall, das Zitat, das Kollege [F.D.P.]: Jetzt haben Sie nach drei Stunden Fischer gebracht hat, sollte nicht dazu führen, daß wir endlich ein Thema gefunden!) den Versuch aufgeben, eine gemeinsame Stellung- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 669

Günter Verheugen nahme des ganzen Hauses zustande zu bringen, was auf diese Weise abzuschließen. Ich werde mit dem den Konflikt in Tschetschenien angeht. Mann reden. Ich werde natürlich mit ihm besprechen, (Beifall bei der SPD) daß solche Briefe nicht mehr herausgehen. Ich sage nochmals: Ich trage die Verantwortung. Aber ich bitte, Aber, Herr Bundeskanzler, was die Sache angeht, in Zukunft ein bißchen anders miteinander umzuge- muß ich Ihnen eines entgegenhalten. Es spricht einer, hen. der selbst im Auswärtigen Amt gearbeitet hat und weiß, wie solche Briefe zustande kommen. Der Brief (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne- trägt das Aktenzeichen des zuständigen Referats. Es ten der CDU/CSU — Dr. ist nicht irgendein Mitarbeiter. Solche Briefe, die im [CDU/CSU]: Wir machen Schluß! Ist ja Namen des Ministers geschrieben werden, werden unwürdig!) auf der Grundlage von Sprachregelungen geschrie- ben, die in der Leitung des Amtes ausgearbeitet werden. Ich glaube nicht, daß sich das gegenüber der Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich hatte einige Zeit, als ich selbst dort gearbeitet habe, geändert hat. Schwierigkeiten, den Stand zu ordnen. Jetzt ist er Es kann nicht sein, daß es Mitarbeiter gibt, die im geordnet. Wir schließen diese Debatte ab. Die Frak- Namen des Ministers politische Erklärungen solcher tionen haben sich darauf verständigt, die Abstimmung Tragweite abgeben, ohne daß eine entsprechende über die Anträge zu Tschetschenien auf morgen zu politische Sprachregelung im Amt vorhanden war. verschieben, um eine Zusammenführung der Inhalte zu versuchen. — Ich sehe, Sie sind damit einverstan- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ den. Dann vertagen wir die Abstimmung. DIE GRÜNEN — Detlev von Larcher [SPD]: Oder es ist so chaotisch!) Ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf: Wenn eine solche Sprachregelung nicht vorhanden war, Herr Bundesaußenminister, dann haben Sie Wahlvorschlag für die Wahl der Schriftführer allerdings Ihre Pflicht schwer versäumt, dafür zu gemäß § 3 der Geschäftsordung sorgen, daß es eine gibt. — Drucksachen 13/234, 13/235, 13/236, 13/237, 13/238 — (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Dazu liegen Wahlvorschläge der Fraktionen der PDS) CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P. sowie der PDS auf den Drucksachen 13/234 bis 13/238 vor. Kann ich davon ausgehen, daß wir über Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Ich erteile zu die fünf Wahlvorschläge gemeinsam abstimmen? — einer Antwort noch einmal dem Herrn Außenminister Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann können Kinkel das Wort und bitte die Geschäftsführer, hierher wir so verfahren. zu kommen. Wer stimmt für die Wahlvorschläge? — Gegen- probe! — Enthaltungen? — Die Wahlvorschläge sind Dr. Klaus Kinkel, Bundesminister des Auswärtigen: einstimmig, mit den Stimmen des ganzen Hauses, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich hatte angenommen. Ich gratuliere den gewählten Kollegin- erst jetzt, Herr Fischer, Gelegenheit, den Brief im nen und Kollegen im Namen des ganzen Hauses und einzelnen anzusehen. Der Brief stammt vom 10. Ja- wünsche eine gute Zusammenarbeit. nuar 1995 und ist von Herrn Legationsrat aus dem Siepen unterschrieben. Es ist, was die Einstufung Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 12a bis 12 d anbelangt, also kein Referatsleiter, sondern erheblich auf: darunter angesiedelt. Überweisungen im vereinfachten Verfahren (Günter Verheugen [SPD]: Das hat auch a) Erste Beratung des von der Bundesregie- keiner gesagt! — Joseph Fischer [Frankfurt] rung eingebrachten Entwurfs eines [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es ... Strafrechtsänderungsgesetzes — Schutz richtiggestellt, ist okay!) von Privatgeheimnissen (. . . StrÄndG) Ich sage nochmals: Ich habe die politische Verantwor- — Drucksache 13/58 — tung für solche Briefe zu tragen. Aber ich möchte doch noch einmal sagen, daß ich es wirklich — nehmen Sie Überweisungsvorschlag: es mir nicht übel — billig finde, in einem solchen Rechtsausschuß (federführend) Innenausschuß Zusammenhang jetzt einen Brief vom 10. Januar hervorzukramen. b) Erste Beratung des von der Bundesregie- Ich darf an etwas erinnern. Sie haben vorhin selber rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- darauf hingewiesen, daß ich beim Dreikönigstreffen zes zu dem Übereinkommen vom 18. Mai am 6. Januar eine außerordentlich massive Stellung- 1992 über den Beitritt des Königreichs nahme und davor mehrere massive Erklärungen Spanien und der Portugiesischen Republik abgegeben habe, die in keiner Weise mit dem über- zu dem am 19. Juni 1980 in Rom zur einstimmen, was jetzt in diesem B rief steht. Unterzeichnung aufgelegten Übereinkom- men über das auf vertragliche Schuldver- (Beifall bei der F.D.P.) hältnisse anzuwendende Recht

Ich habe also meine Meinung deutlich gemacht. - Drucksache 13/40 — Ich finde es — ich bleibe dabei, der Bundeskanzler Überweisungsvorschlag: hat es eben auch erwähnt — billig, eine solche Debatte Rechtsausschuß 670 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer c) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- desregierung Raumordnungsbericht 1993 NEN — Drucksache 12/6921 — Reform der bundesdeutschen Entwicklungs- Überweisungsvorschlag: politik Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau — Drucksache 13/246 — (federführend) Ausschuß für Wirtschaft Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung und Entwicklung (federführend) Ausschuß für Gesundheit Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Verkehr Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vor- Technologie und Technikfolgenabschätzung gesehen. — Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das Ausschuß für Fremdenverkehr und Tourismus so beschlossen. d) Beratung der Unterrichtung durch die Bun- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat als erster desregierung Großsiedlungsbericht 1994 der Abgeordnete Winfried Pinger. — Darf ich um — Drucksache 12/8406 — etwas Ruhe bitten! Die Unruhe ist nach der erregten Überweisungsvorschlag: Debatte verständlich, aber wir müssen jetzt zu dem Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau neuen Punkt kommen. Seine Erörterung erfordert (federführend) Ruhe. — Herr Kollege, Sie haben das Wort. Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse Dr. Winfried Pinger (CDU/CSU): Frau Präsidentin! zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? — Meine Damen und Herren! Diese entwicklungspoliti- Dann sind die Überweisungen so beschlossen. sche Debatte findet zur besten Tageszeit statt. Insofern handelt es sich um eine andere Situation als früher, als solche Debatten nach 22.30 Uhr geführt wurden. Ich Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 a und 6 b sowie erwähne das deshalb, weil ich meine, daß dadurch Zusatzpunkt 5 auf: deutlich wird, daß der Stellenwert der Entwicklungspo- 6. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten litik auch hier im Parlament ein höherer ist. Ich finde, wir sollten in Zukunft den Stellenwert der Entwick- Dr. Winfried Pinger, weiterer Abgeordneter- und der Fraktion der CDU/CSU sowie der lungspolitik von uns aus nicht herunterreden. Abgeordneten Roland Kohn, weiterer Ab- In dieser neuen Legislaturperiode des Deutschen geordneter und der Fraktion der F.D.P. Bundestages kommt es darauf an, den Zielen und Durchsetzung der deutschen Entwick- Grundsätzen, den Schwerpunkten und Kriterien der lungspolitik in der internationalen Ent- erfolgreichen deutschen Entwicklungspolitik auch in wicklungszusammenarbeit der internationalen Zusammenarbeit zum Durchbruch — Drucksache 13/233 — zu verhelfen. Das ist das Anliegen des von den Koali- tionsparteien für die heutige entwicklungspolitische Überweisungsvorschlag: Ausschuß fur wirtschaftliche Zusammenarbeit Debatte vorgelegten Antrages. Es wird immer deutli- und Entwicklung (federführend) cher, daß die notwendige Umstrukturierung in vielen Auswärtiger Ausschuß Entwicklungsländern und insbesondere die notwen- Ausschuß für Umwelt, Naturschutz dige Verbesserung der Rahmenbedingungen nur mög- und Reaktorsicherheit lich sind, wenn alle Geberländer an einem Strang Ausschuß für die Angelegenheiten der Europäischen Union ziehen. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Die neuen Schwerpunkte und Kriterien der Bundes- Dr. Ingomar Hauchler, Brigitte Adler, Ingrid regierung haben nicht nur innerhalb der Bundesrepu- Becker-Inglau, weiterer Abgeordneter und blik, sondern auch in der internationalen Öffentlich- der Fraktion der SPD keit mit Recht große Resonanz und Zustimmung Neuorientierung der Deutschen Entwick- gefunden. Deshalb haben wir eine große Chance, sie lungspolitik in die internationale Zusammenarbeit noch intensiver einbringen zu können. Hingegen verlangen Sie, — Drucksache 13/241 — meine Damen und Herren von der SPD, aber auch die Überweisungsvorschlag: GRÜNEN, eine Neuorientierung — eine Neuordnung, Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit sagen die GRÜNEN — der deutschen Entwicklungs- und Entwicklung (federführend) Auswärtiger Ausschuß politik. Da fragt man sich: Hat die Opposition die seit Finanzausschuß langem, und zwar seit 1982, eingeleitete und durch- Ausschuß für Wirtschaft geführte grundlegende Veränderung der deutschen Ausschuß für Umwelt, Naturschutz Entwicklungspolitik verschlafen? Ist sie Ihnen entgan- und Reaktorsicherheit Ausschuß für die Angelegenheiten gen? Oder will die Opposition etwa eine Rückkehr, der Europäischen Union eine Rolle rückwärts zu verfehlten und gescheiterten ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Entwicklungsstrategien der 60er und 70er Jahre? Das Dr. Ursula Eid-Simon, Wolfgang Schmitt (Lan- kann es doch wohl nicht sein. genfeld), Ludger Volmer, weiterer Abgeordne (Rudolf Bindig [SPD]: In der Tat nicht!) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn. Donnerstag. den 19. Januar 1995 671

Dr. Winfried Pinger — Bei näherem Hinsehen, Herr Kollege Bindig, stellt Zum Zerrbild der SPD gehört es, daß Sie in Ihrem man dann fest, daß viele Forderungen der Opposition Antrag eine isolierte Projekt- und Almosenpolitik gar nicht neu sind. Vielmehr zeigen weite Teile des geißeln. Dabei kommt es in unserer Entwicklungspo- Antrags der SPD und im übrigen auch der GRÜNEN litik längst nicht nur auf einzelne Entwicklungspro- eher eine Bestätigung der neuen Entwicklungspoli- jekte an. Bundesminister Spranger hat bekanntlich tik. mit seinem Kriterienkatalog die Bedeutung entwick- lungsfördernder Rahmenbedingungen in das Zen- Im Antrag der SPD wird z. B. darauf hingewiesen, es trum der Entwicklungszusammenarbeit gestellt. komme in erster Linie darauf an, die inneren Poten- tiale und die Selbsthilfe der Entwicklungsländer zu Allerdings vermissen wir in Ihrem Antrag bei den stärken. Richtig. Genau dies ist aber doch die Politik Rahmenbedingungen einen, wie wir meinen, ganz der Bundesregierung, die auf die notwendigen Eigen- besonders wichtigen Punkt, nämlich die Forderung anstrengungen der Regierungen in den Entwick- nach marktfreundlichen Wirtschaftsordnungen. Der lungsländern und auf die Hilfe zur Selbsthilfe der weltweite Bankrott der sozialistischen Planwirtschaf- Menschen abstellt. Daß Sie von der SPD allerdings auf ten hat doch inzwischen jedem Entwicklungsland dieses wichtige Ziel wirklich so viel Wert legen, muß klargemacht, daß es gerade auf eine marktorientierte bezweifelt werden; findet sich doch diese vorrangige Wirtschaftspolitik ankommt. Wenn dies bei Ihnen Forderung in Ihrem Antrag erst nachrangig, so an fehlt, dann muß ich feststellen: Alte sozialistische vierter Stelle. Entwicklungsvorstellungen lassen grüßen, wobei ich gerne hinzufügen möchte, daß Sie bei anderen Stel- Im Antrag der GRÜNEN steht die Forderung nach lungnahmen diese wichtige Forderung aufgenommen Armutsüberwindung; haben. Ich hoffe, daß das hier kein Anzeichen für eine (Zustimmung der Abg. Dr. Ursula Eid-Simon veränderte Politik ist. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Keineswegs!) bei uns heißt das „Armutsbekämpfung". Ich denke, das ist nur ein Streit um Worte. Das ist einer der drei Zum Zerrbild, das Sie von der Entwicklungspolitik Schwerpunkte der Politik der Bundesregierung und zeichnen, gehört insbesondere der Vorwurf einer auch unserer Politik. Almosenpolitik. Sie wissen natürlich, daß es ganz anders ist. Mit uns zusammen haben Sie ja hier im Gefordert wird von den GRÜNEN Umwelt- und Deutschen Bundestag den Antrag „Armutsbekämp- Ressourcenschutz. Das ist ein weiterer erklärter fung durch Hilfe zur Selbsthilfe" beschlossen. Dabei Schwerpunkt unserer Entwicklungspolitik; wir stim- haben wir alle klargestellt, daß es gerade nicht auf men überein. Gefordert wird die Verwirklichung- der eine Almosenpolitik ankommt, sondern auf die Stär- Menschenrechte, ein wichtiges Kriterium für die neue kung der produktiven Kräfte der Armen. Entwicklungspolitik der Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen. Bei der Umsetzung unseres Bundestagsbeschlusses zeigt die praktische Entwicklungspolitik des Ministe- (Dr. Ursula Eid-Simon [BÜNDNIS 90/DIE riums beachtliche Fortschritte. Die Zahlen zeigen GRÜNEN]: Was sagen Sie zu China, zu den eine kontinuierliche Steigerung. Im Jahre 1991 wur- Chinesen?) den für selbsthilfeorientierte Maßnahmen 7 % — üb- Zur Begründung einer Neuorientierung kommt die rigens waren es ursprünglich 0 % — eingesetzt. 1993 SPD vor allem dadurch, daß sie ein Zerrbild der waren es 9 % und 1994 13 %. Für den Haushalt 1995 deutschen Entwicklungspolitik zeichnet, das mit der sind beachtliche 18 % für diese Maßnahmen und Wirklichkeit überhaupt nichts zu tun hat: Die Ent- Projekte eingesetzt. Wer weiß, welche enormen wicklungspolitik sei zum Stiefkind der Außenpolitik Anstrengungen gerade auf diesem Gebiet zur Errei- verkümmert. Dabei sieht die Wirklichkeit heute doch chung dieser Steigerungsraten erforderlich sind, kann so aus, daß bei den Botschafterkonferenzen des Aus- nur feststellen: Hier sind erhebliche Anstrengungen in wärtigen Amtes in Af rika, in Lateinamerika und in der Umsetzung unseres Beschlusses gemacht wor- Asien die Regionalkonzepte des BMZ zum Gegen- den. stand und Maßstab der Erörterung gemacht werden. Die Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe ist ein Das war früher nicht der Fall. Beispiel für die Wirksamkeit unserer Entwicklungs- (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Sie sind ja auch politik auch bei knappen Ressourcen. Wenn es um eine Hilfsabteilung!) mehr Wirksamkeit geht, geht es gerade bei Selbsthil- feprojekten auch um mehr Delegation der Verant- Verkümmert wäre allerdings die Entwicklungspoli- wortung. Ich denke, da bedarf es noch eines grundle- tik unter einer SPD-Regierung; wäre doch das genden Umdenkungsprozesses. Die detaillierte Pla- gesamte Ministerium für wirtschaftliche Zusammen- nung darf nicht im BMZ erfolgen, aber auch nicht in arbeit und Entwicklung Ihrem Rotstift zuallererst zum der Leitung der GTZ und noch nicht einmal im Opfer gefallen. Im Auswärtigen Amt wäre dann die Regionalbüro der GTZ, sondern nur ganz unten mit Entwicklungspolitik so unter „Ferner liefen" behan- den Menschen, auf die es ankommt. delt worden. Das ist Gott sei Dank von den Wählern verhindert worden. (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Richtig! Dafür müssen wir (Rudolf Bindig [SPD]: Wir wollten das Aus andere Strukturen finden!) wärtige Amt dem BMZ eingliedern! — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nicht wahr, Herr — Ja, da muß auch in den Strukturen noch einiges Bindig! Das glaube ich nicht!) geändert werden. Es bleibt also noch viel zu tun. 672 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Dr. Winfried Pinger Dennoch können wir das Fazit ziehen: Wir sind auf lungsländer. Davon sind noch über 50 % von der dem richtigen Weg. Wir haben durch erhebliche Regierung Schmidt erlassen worden. Anstrengungen unsere Entwicklungspolitik verbes- Sie haben es gerade einmal geschafft, in zwölf sert. Hinsichtlich Wirksamkeit und Qualität der Ent- Jahren — das ist schon zu lange — etwa 4 bis wicklungszusammenarbeit sind wir in der internatio- 5 Milliarden DM in einer Situation zu entschulden, wo nalen Spitzengruppe. Deshalb wäre eine Kursände- ganz Afrika und Riesenländer in Lateinamerika und in rung der völlig falsche Weg. Es geht nicht darum, Asien in die Knie gehen und die Verschuldung zur jährlich eine Kurskorrektur herbeizuführen; es geht Entwicklungsblockade geworden ist. Das ist Irrefüh- um einen langen, langen Atem. Es geht darum, die rung. erfolgreiche deutsche Entwicklungspolitik internatio- nal durchzusetzen und dadurch auch die multilaterale Es ist auch Irreführung, wenn Sie von Entwick- Entwicklungszusammenarbeit noch wirksamer zu lungs - und Umweltpartnerschaft sprechen, die Sie gestalten. anstreben. Es ist doch so, und Sie wissen das auch, daß Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die Dominanz und das Diktat der Industrieländer, auch der Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) republik, gegenüber den Entwicklungsländern grö- ßer geworden ist und nicht kleiner. Ich sehe darin Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt nichts von Partnerschaft. Wir haben eine Situation der der Abgeordnete Ingomar Hauchler. absoluten Dominanz der Industrieländer. Reden Sie also nicht von Dingen, die Sie nicht vollziehen! Es wird gesagt, man habe gelernt. Nein, der Antrag (SPD): Frau Präsidentin! Dr. Ingomar Hauchler beweist, daß Sie gar nichts gelernt haben. Ich beweise Meine Damen und Herren! Die CDU und die F.D.P. Ihnen das an Hand von vier Punkten. haben einen Antrag vorgelegt und diese Debatte gefordert. Wir sind sehr froh darüber. Wir haben Erstens. Dieser Antrag atmet Gedanken der einsei- diesen Antrag natürlich sehr sorgfältig studiert. Ich tigen Hilfe der Industrieländer gegenüber den Ent- muß sagen, Herr Kollege Pinger und Herr Minister: wicklungsländern. Wir helfen den anderen. Es ist Wir sind über das Niveau grenzenlos enttäuscht. Sie nicht die Rede von wirklicher Kooperation, von haben wirklich eine Chance verpaßt, das auszufüllen, gemeinsamer Bewältigung globaler Probleme. Der was Sie angekündigt haben, Antrag atmet den Geist des Paternalismus, und dafür (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sind Sie ja bekannt. nämlich eine Neuorientierung der Entwicklungspoli-- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tik. Dazu findet in diesem Antrag nichts statt. Im des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der wesentlichen sind es wirklich alte Kamellen. Meine PDS) Kollegen und ich werden Ihnen nachweisen, daß Zweitens. Der ganze Antrag ist nur auf Projektpo- vieles, was Sie ankündigen, in Wirklichkeit nicht litik fixiert. gemacht wird. Dieser Antrag ist von Selbstgefälligkeit, von Irrefüh- (Dr. Winfried Pinger [CDU/CSU]: Nachle rung und von mangelnder Lernfähigkeit gekenn- sen!) zeichnet. Haben Sie denn nicht begriffen, daß Entwicklung in Er trieft vor Selbstgerechtigkeit. Diesen Eindruck dieser Welt nicht nur mit verinselten Projekten in der muß man schon gewinnen, wenn man sich die Über- Welt zu tun hat, sondern daß sie es mit Strukturverän- schrift anschaut. Die Überschrift ist eine einzige derungen zu tun hat, und zwar im Handelsbereich, im Provokation gegenüber der kritischen Intelligenz in Finanzbereich und in der gesamten internationalen diesem Lande — von den Kirchen über die Gewerk- Kooperation? Sie haben offenbar nichts begriffen. schaften und die Wirtschaft bis zu Nichtregierungsor- Drittens. Der Antrag atmet immer noch den Geist ganisationen —, die diesen Kurs der Entwicklungs- eines ideologischen Dogmatismus. Dabei wissen wir politik kritisch und sogar sehr kritisch bewertet. doch längst — zumindest haben wir Sozialdemokraten (Dr. Winfried Pinger [CDU/CSU]: Nein, das es inzwischen begriffen —, daß man natürlich nicht stimmt überhaupt nicht!) mehr auf realsozialistische oder wirtschaftsliberalisti- Sie sprechen von der Durchsetzung der — ein hartes sche Konzepte der alten Strickart zurückgreifen kann, Wort — erfolgreichen deutschen Entwicklungspolitik wenn man die Zukunftsprobleme lösen will. Sie aber in den internationalen Beziehungen. Selbstgefälliger hängen immer noch an dem Grundgedanken: Alles und arroganter geht es also nun wirklich nicht kann nur privat gemacht werden. mehr. Viertens. Es ist so, daß Sie Ihre Entwicklungspolitik (Rudolf Bindig [SPD]: Das Wort „erfolgreich" nicht in eine globale Sicherheits - und Friedenspolitik fehlt klugerweise!) einbinden. Das ist doch der eigentliche Akzent, den wir in Zukunft betonen müssen, nämlich daß Entwick- Das zweite an einer grundsätzlichen Kritik Ihres lungspolitik Bestandteil einer kohärenten internatio- Antrags ist: Dieser Antrag ist wieder einmal voll von nalen Wirtschafts- und Außenpolitik sein muß. Sinn Irreführungen. Hier wird von dem substantiellen Bei- macht sie auf Dauer nur in diesem Kontext, aber nicht trag der deutschen Entwicklungspolitik zur Entschul- als abgeschottete Ressortpolitik, wie Sie es sehen. dung gesprochen. 9 Milliarden sind seit 1979, also in 15 Jahren, entschuldet worden. Das sind nicht einmal Meine Damen und Herren, in diesem Antrag gibt es 10 % des gesamten Schuldenstandes der Entwick- natürlich auch Dinge, die wir unterstreichen. Das will Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 673

Dr. Ingomar Hauchler ich durchaus zugeben. Ich finde es sehr gut, daß Sie den Norden betrifft. Wir können nicht mehr so tun, als betonen, daß es in den Entwicklungsländern sehr ob Entwicklungspolitik nur damit zu tun hätte, daß wir stark auf kommunale Strukturen, auf den Aufbau von den Süden und den Osten beraten, wie sie es besser unten ankommt. Ich glaube, da können wir Deutsche machen müssen. Wir wissen ganz genau, daß es einen Beitrag leisten, um zu vermitteln, wie man so globale Probleme gibt, die wir nur lösen können, wenn etwas machen könnte, nicht muß. sich auch die Entwicklung im Norden verändert. Auch den Gedanken der Subsidiarität teilen wir. Ein weiterer Punkt. Die deutsche Entwicklungspo- Das darf aber nicht heißen, daß man sich mit diesem litik muß die knappen Mittel viel mehr auf Schwer- Argument aus der Verantwortung stiehlt und sagt: punkte konzentrieren. Noch immer wird im außenpo- Alles muß privat und von unten gemacht werden; der litischen Interesse oder oft auch im eigenen wirt- Staat hat sich überall von den Transformationsgesell- schaftspolitischen Interesse — wogegen nichts zu schaften zurückzuziehen. sagen ist — die Entwicklungspolitik mißbraucht. Wir gehen mit der Gießkanne über die Länder hinweg, Sie gebrauchen dieses Wort sehr stark; vielleicht ohne wirkliche Schwerpunkte zu setzen. meinen Sie es auch so. Aber Sie erkennen nicht, daß es in vielen Ländern des Südens und auch des Ostens (Dr. Winfried Pinger [CDU/CSU]: Wegen der eine lange Zeit des Übergangs braucht, wo wir Misch- Ziffer 2 sagen Sie nichts?) formen von Staat und Unternehmen, von privaten und — Ich nenne Ihnen einige Schwerpunkte, die, glaube öffentlichen Initiativen brauchen. Unterwerfen Sie ich, ganz wichtig sind. doch die ganze Entwicklung nicht einem einseitigen westlichen ideologischen Konzept! Über die inneren Potentiale haben Sie gesprochen, Herr Pinger. Diese Meinung teile ich. Wir müssen Wir sind auch für private unternehmerische Initia- mehr dafür tun, daß die Menschen in den Ländern tiven. Da muß viel getan werden. Aber in diesen selbst mehr tun können. Gesellschaften können wir nicht von den gleichen Voraussetzungen wie bei uns ausgehen. Hier hat sich Das zweite ist aber: Wir müssen einen stärkeren seit Jahrhunderten ein Unternehmertum von unten, Akzent auf Möglichkeiten der vorbeugenden Sicher- eine Kultur des Unternehmertums im privaten Bereich heitspolitik legen. Damit hängt zusammen, ob wir es entwickelt. Man kann in vielen Entwicklungsländern schaffen, bei Krisensituationen in kürzerer Zeit flexib- und in den ehemaligen sozialistischen Ländern nicht ler und besser Soforthilfe mit humanitärer Hilfe und erwarten, daß das von heute auf morgen so umsetzbar Entwicklungspolitik zu verbinden. Daran mangelt wird. Deshalb muß man differenzierter an die Dinge es. herangehen. Ich höre, daß in Palästina Projekte, die wir uns Armutsbekämpfung — wunderbar! Umwelt — aber vorgenommen haben, einfach nicht in Gang kommen. Sie tun es ja nicht! Effektiv sind doch die Etats für Es gelingt uns nicht einmal, ein paar Müllfahrzeuge Afrika in den letzten Jahren zurückgefahren worden. für den Gazastreifen anzuschaffen. Da wird geplant, Und Sie rühmen sich der Armutsbekämpfung als eines geplant und geplant, bis Arafat praktisch im inneren Schwerpunktes. Sie rühmen sich des Umweltschutzes. Kampf erschossen ist — Gott möge es verhüten — und Sie sagen „Schutz der Schöpfung". Ein schöner der Friedensprozeß entwicklungspolitisch praktisch Begriff. Dann tun Sie einmal mehr auf diesem Gebiet, nicht gestützt ist. Hier müssen wir schneller reagieren und reden Sie nicht nur davon! können. Das erfordert institutionelle und haushalts- rechtliche Veränderungen. (Beifall bei der SPD) Ich halte es für ganz wichtig, doch noch einmal zu Dieser Antrag riecht nach dem Motto: „Am deut- überlegen, ob es nicht möglich ist, daß wir in unserer schen Wesen soll die Welt genesen" . Dies ist interna- mittelfristigen Finanzplanung wieder konsequentere tional eine Provokation, aber auch für alle die, die Schritte hin zu einer Marke tun, die der Bundeskanz- ganz genau wissen, daß wir selber in der deutschen ler ja immer vor sich hergetragen hat: 0,7 % Anteil am Entwicklungspolitik einiges zu verbessern haben. Bruttosozialprodukt. Die SPD stellt diesem Antrag der Koalition mit ihrem Sie, meine Damen und Herren von der Regierungs-

Antrag ein 20 - Punkte - Programm zur selbstkritischen koalition, haben diesen Anteil des Etats ständig Überprüfung und Neuorientierung der Entwicklungs- zurückgefahren. Systematisch sind Sie von 0,48 % am politik gegenüber. Dabei glauben wir nicht, daß wir Ende der Regierungszeit Schmidt bis auf jetzt 0,32 % die Weisheit mit Löffeln gefressen haben, sondern wir heruntergegangen. Die mittelfristige Finanzplanung wollen im Parlament am Anfang der Legislaturpe- sagt, daß wir bald unter 0,3 % landen werden. riode in einen intensiven Gedankenaustausch mit Ich finde, nach der Sonderbelastung, die die deut- Ihnen, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und mit allen sche Einheit gebracht hat, sollten wir jetzt überlegen, Fraktionen eintreten. Das ist der Sinn unseres ob wir nicht — vor allem bei den Zusagen — unseren Antrags. Wir werden uns bemühen, die einzelnen Beitrag systematisch erhöhen müßten. Wir reden von Punkte im Ausschuß zu diskutieren und abzuarbei- Bevölkerungsexplosion, von globalen Problemen, von ten. internationalen Gefahren, und wir tun immer weniger Ich will ein paar Schwerpunkte herausgreifen, die in für die Vorbeugung, zur Eindämmung des Bevölke- diesem Antrag für uns von besonderer Bedeutung rungswachstums. Das ist eine Politik, die letzten sind. Endes niemals aufgehen kann. Das ist kurzsichtig. Der eine ist: Die Bundesrepublik muß begreifen, Meine Damen und Herren, zum Schluß will ich noch daß Entwicklungspolitik eine Aufgabe ist, die auch sagen: Unser Antrag enthält auch einen Schwerpunkt, 674 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Dr. Ingomar Hauchler den Sie in Ihrem Antrag überhaupt nicht erwähnt Ganze vier Sätze stehen zur Entwicklungspolitik in haben: Wir müssen uns in der Bundesrepublik für der Koalitionsvereinbarung vom 11. November. Der Strukturreformen auch in der Weltwirtschaft einset- Kanzler quälte sich in seiner Regierungserklärung zen. Das betrifft den internationalen Handel, das einen einzigen Satz zum Süden ab. Dies ist jämmer- betrifft die internationalen Finanzbeziehungen, das lich. betrifft auch die Strukturanpassungspolitik. Kein Wort über die Notwendigkeit einer ökologi- Ein für Sie gewiß unverdächtiges Institut, nämlich schen und solidarischen Weltwirtschaft, kein Wort das Arnold-Bergstraesser-Institut in Freiburg, geführt über die Notwendigkeit der Stärkung des Südens im von Professor Oberndörfer, CDU, hat eine Studie internationalen System, kein Wort über notwendige herausgebracht, in der mit Hilfe von empirischen Schritte zu einer umfassenden Verwirklichung der Nachforschungen nachgewiesen wird, daß die Struk- Menschenrechte und zur Beseitigung männlicher turanpassungspolitik des IWF und der Weltbank, die Herrschaftsstrukturen, kein Wort über die Notwen- Sie immer hochgehalten haben, durchaus nicht von digkeit zunehmender Hilfe zur Befriedigung von Erfolg gekrönt ist. Vielmehr gehen gerade in diesen Grundbedürfnissen, kein Wort zu den schlechten Ländern, wo sie seit Mitte der 80er Jahre angewandt Terms of trade, kein Wort zu der notwendigen Ent- wird, die Investitionen und das Wachstum zurück. schuldung vieler armer Länder im Süden, kein Wort zu Man hat immer auf Mexiko, auf das südamerikani- den sich abzeichnenden und jetzt schon virulenten sche Exempel hingewiesen. Schauen Sie doch, was in ökologischen Katastrophen im Süden und der Mitver- Mexiko jetzt los ist, wohin diese Politik geführt hat! Sie antwortung des Nordens durch ein völlig falsches wird auch in anderen Ländern in diese Richtung Entwicklungskonzept hier bei uns. führen, wenn wir das nicht sozial und ökologisch Herr Bundeskanzler, Ihre Regierungserklärung korrigieren. war eine südpolitische und entwicklungspolitische Bankrotterklärung. Herr Kollege, Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Ihre Redezeit ist vorbei. bei der SPD und der PDS) Auch der heute von der CDU/CSU und der F.D.P. Dr. Ingomar Hauchler (SPD): Vielen Dank, Frau Präsidentin; ich wollte gerade abschließen. — Das eingebrachte Antrag kann kein Wegweiser für die waren einige Schwerpunkte. Ich denke, daß wir Südpolitik der nächsten vier Jahre sein, Herr Pinger. andere Akzente setzen und über diese anderen Schon der Titel ist eine Provokation — darauf ging Akzente gemeinsam ins Gespräch kommen müssen. auch der Kollege Hauchler ein — und zeigt an, daß die Koalitionsparteien entwicklungspolitisch alles beim Ob die Entwicklungspolitik von uns wirklich ernst alten belassen wollen. genommen wird, aber auch in die Gesellschaft aus- strahlt und von gesellschaftlichen Kräften aufgenom- Sie hatten in der Tat im ersten Entwurf von der men wird, vor allem auch von den Medien, der „erfolgreichen" deutschen Entwicklungspolitik ge- Wissenschaft und den Schulen, das ist sicher ein sprochen. Dann haben Sie kalte Füße gekriegt und gewisser Test für die Fähigkeit unseres demokrati- haben das „erfolgreich" herausgestrichen. schen Systems, auch Zukunftsaufgaben anzupak- Trotzdem unterstellt Ihr Antrag erstens, daß die ken. bisherige deutsche Entwicklungspolitik erfolgreich Vielen Dank. war, (Beifall bei der SPD und der PDS) (Roland Kohn [F.D.P.]: Richtig!) zweitens, daß die Entwicklungspolitik anderer Länder Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Das Wort hat jetzt weniger erfolgreich war, die Kollegin Uschi Eid-Simon. (Roland Kohn [F.D.P.]: Richtig!) und drittens, daß jene sich gefälligst die Bundesregie- Dr. Uschi Eid - Simon (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rung zum Vorbild zu nehmen haben. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als überzeugte Südpolitikerin freue ich mich natür- (Roland Kohn [F.D.P.]: Wir setzen auf die lich, daß wir zu Beginn dieser Legislaturperiode die Kraft der Argumente!) Gelegenheit zu einer ausführlichen entwicklungspoli- Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist nicht nur tischen Debatte haben. arrogant, sondern Sie bleiben den Beweis des Erfolges Meine Fraktion, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ver- schuldig. steht diese Debatte heute als Signal, als Zeichen an die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Menschen im Süden und an die deutsche Öffentlich- und bei der SPD) keit, daß wir Südpolitik als zentrale politische Gegen- wartsaufgabe und mehr noch als zentrale politische Ich möchte dies anhand eines von Ihnen, Herr Pinger, Zukunftsaufgabe begreifen, der wir uns in den näch- herausgestellten und im Antrag „erfolgreich" ge- sten Jahren zum Ausgang dieses Jahrhunderts zu nannten entwicklungspolitischen Schwerpunktes stellen haben. aufzeigen, nämlich an der Bekämpfung der Armut. Lassen Sie mich aber gleich vorweg sagen: Wir Nach meiner Wahrnehmung ist die Armutsorientie- GRÜNEN haben die bisherige Entwicklungspolitik rung deutscher Entwicklungshilfe bei Ihnen mehr der Bundesregierungen unter Kanzler Kohl gewogen Anspruch als Realität. So umfaßte Armutsbekämp- — und für zu leicht befunden: fung 1994 lediglich 13 % der deutschen Hilfe. UNDP Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 675

Dr. Ursula Eid-Simon z. B. setzt den Anteil der deutschen bilateralen Hilfe gerländer entsandt werden und man nicht bereit ist, für soziale Prioritäten zum zweitenmal auf den letzten lokale Experten einzustellen. Platz im Vergleich der westlichen Geberländer. Dies (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN — ist wahrlich ein Armutszeugnis. Der Anteil der Ent- Widerspruch von der CDU/CSU) wicklungshilfe für die ärmsten Länder geht drastisch zurück. Afrika südlich der Sahara — — Wir fordern von der Bundesregierung: Entwick- (Abg. Dr. Winfried Pinger [CDU/CSU] me lungspolitischen Zielsetzungen muß Vorrang vor det sich zu einer Zwischenfrage) Eigeninteressen eingeräumt werden. — Herr Pinger, wir werden all dies in den kommenden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sitzungen des Ausschusses diskutieren. Lassen Sie Ich meine — und auch meine Fraktion ist davon mich hier fortfahren. Ich habe leider nur elf Minuten überzeugt —, daß die deutsche Entwicklungspolitik Redezeit; Sie hatten ja, glaube ich, 33 Minuten. reformiert und umorientiert werden muß. Deswegen bitte ich Sie — — (Vorsitz: Vizepräsident Hans Klein) Ich würde die Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Dazu haben wir Vorschläge in unserem Antrag ein- Uhr ja anhalten. gereicht. Diese sehen unter anderem vor: (Zurufe von der SPD: Die Uhr wird doch angehalten!) Erstens. Die Zusammenarbeit zwischen Nord, Süd und Ost wird als politische Querschnittsaufgabe wahr- genommen und ist als globale Strukturpolitik mit (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dr. Ursula Eid-Simon dem Ziel einer nachhaltigen und dauerhaften Ent- Also gut. wicklung im Süden, aber vorrangig auch bei uns zu verfolgen. Vizepräsidentin Dr. Antje Vollmer: Herr Pinger, bitte. Zweitens. Bis zum Jahr 2000 ist das Ziel schrittweise zu verwirklichen, 0,7 % des Bruttosozialproduktes für entwicklungspolitische Maßnahmen zur Verfügung Dr. Winfried Pinger (CDU/CSU): Vielen Dank, Frau Kollegin Eid-Simon, daß Sie die Frage zulassen. zu stellen. Die Qualität der Entwicklungszusammen- arbeit ist durch eine verstärkte Sektor- und Pro- Erstens. Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß grammförderung zu verbessern. Förderinstrumente Armutsbekämpfung mehr ist als Armutsbekämpfung sind so zu gestalten, daß sie differenzierte entwick- durch Hilfe zur Selbsthilfe, wenngleich der selbsthil- - lungspolitische Strategien spezifisch für unterschied- feorientierte Ansatz natürlich besonders wichtig ist? liche Länder und Regionen zulassen. Zweitens. Würden Sie bestätigen, daß die Kriterien von UNDP von Hilfe zur Selbsthilfe ganz andere sind Drittens. Allen Südpolitikern und Südpolitikerinnen als unsere Kriterien? ist seit Jahren klar, daß der Ausstieg aus der Schul- denfalle eine wesentliche Voraussetzung für eine Ich glaube, daß es wichtig ist, diese beiden Dinge nachhaltige Entwicklung ist. Wir fordern die Bundes- klarzustellen. regierung auf, sowohl auf bilateraler als auch auf multilateraler Ebene neue Initiativen zur Lösung die- Dr. Ursula Eid-Simon (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ses Problems zu ergreifen. Im Mittelpunkt derartiger Ich nehme dies zur Kenntnis und bitte, daß die Anstrengungen muß die Situation der hochverschul- Bundesregierung ihre Kriterien offenlegt, so daß auch deten armen Länder stehen. die Zahlen der Bundesregierung nachvollziehbar sind. Viertens. Die Rahmenbedingungen für die Arbeit Lassen Sie mich nun aber in der Beweisführung der Nichtregierungsorganisationen und entwick- fortfahren, daß dies kein erfolgreicher Schwerpunkt lungspolitischen Aktionsgruppen müssen verbessert war. Wir können den Unterlagen zu den Haushaltsbe- werden. Das betrifft sowohl die notwendige Erhöhung ratungen entnehmen, daß der Anteil der Entwick- der Mittel für die entwicklungsbezogene Bildungs- lungshilfe für die ärmsten Länder drastisch zurück- und Öffentlichkeitsarbeit als auch die Vereinfachung geht. Afrika südlich der Sahara bekommt immer und Vereinheitlichung der Vergabe von Projektzu- weniger, schüssen. (Roland Kohn [F.D.P.]: 40 %!) Lassen Sie mich zum Schluß ein paar Worte zu während Länder wie China, Indien, Ägypten, Türkei, Ihnen, Herr Minister Spranger, sagen. Sie bereiten Indonesien als Empfängerländer an der Spitze ste- sich auf eine Reise nach Afrika vor, die Sie nächste hen. Woche antreten werden. Ich freue mich, daß Ihre erste (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Nach wie Reisestation Eritrea ist. vor!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Unserer Einschätzung nach ist die deutsche Ent- Ich möchte auch hier einmal meine Anerkennung wicklungshilfe gekennzeichnet durch massive Eigen- ausdrücken, daß das Ministerium für wirtschaftliche interessen etwa bei versteckten Lieferbindungen und Zusammenarbeit weltweit das erste Ministerium war, jetzt beim sogenannten zweiten Fenster für die Misch- das mit dem neuen Staat Eritrea — dem jüngsten finanzierung, aber auch — das nimmt man in der Mitglied der UNO — entwicklungspolitische Zusam- Öffentlichkeit in der Regel gar nicht wahr — bei der menarbeit begonnen hat. Technischen Zusammenarbeit, wo nämlich immer deutsche Expertinnen und Experten in die Empfän- (Zuruf von der F.D.P.: Hört! Hört!) 676 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Dr. Ursula Eid-Simon — Was wahr ist, muß wahr bleiben. Das muß man auch Roland Kohn (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr einmal anerkennen. verehrten Damen! Meine Herren! Wir Liberalen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, begrüßen es, daß gleich zu Beginn der Arbeit des bei der CDU/CSU, der SPD und der F.D.P.) 13. Deutschen Bundestages eine Debatte über zen- trale Probleme wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Sie reisen in drei Länder, die sich alle drei in einem Entwicklung stattfinden kann. Wir Liberalen haben Demokratisierungsprozeß — in unterschiedlicher darauf gedrängt, um damit den Stellenwert zu doku- Phase — befinden. In Äthiopien ist zu beobachten, daß mentieren, den die Entwicklungspolitik für uns hat einer der blutigsten Militärdiktatoren, Mengistu und haben muß. — darüber bestand in diesem Hause nicht immer Konsens, als er noch an der Macht war —, vor Gericht Wer die politische Diskussion in Deutschland in den steht. Es ist ein nicht zu unterschätzendes Zeichen letzten Jahren genauer beobachtet hat, dem konnte gegenüber dem afrikanischen Kontinent, daß solche eine bedenkliche Tendenz nicht entgangen sein, blutrünstigen Mörder nicht mehr unter allen Bedin- nämlich die Tendenz zur fast ausschließlichen gungen ungeschoren davonkommen. Ich bitte Sie, Beschäftigung mit innerdeutschen Problemen. Wenn Herr Minister, dieses zu würdigen und dem Land einmal Probleme jenseits unserer Grenzen behandelt Äthiopien in der schwierigen Phase der Demokratisie- wurden, dann war es meistens die Fortsetzung inner- rung unter die Arme zu greifen. staatlicher Auseinandersetzungen mit anderen The- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN men. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Wir müssen den Menschen deutlich machen: Wenn SPD und der F.D.P.) in Ländern unserer geographischen Nachbarschaft Die erste Station Ihrer Reise ist Eritrea. Dieses Land die sozialen und ökonomischen Systeme zusammen- ist dadurch gekennzeichnet, daß es erhebliche zubrechen drohen, dann hat dies Konsequenzen, z. B. Schritte zur Entmilitarisierung unternimmt. Ein Heer für die innere Sicherheit in Deutschland. Wenn Öko- von 100 000 Männern und Frauen wird auf 30 000 systeme irgendwo auf unserem Planeten im nackten reduziert; d. h.: 70 000 Soldatinnen und Soldaten Überlebenskampf zerstört werden, dann hat dies müssen in das Zivilleben reintegriert werden. Konsequenzen für unsere natürlichen Lebensgrund- Dieses Land ist dadurch gekennzeichnet, daß es lagen. Wenn durch Kriege und Bürgerkriege Hun- keine Korruption gibt; die Innenpolitik Eritreas ist derttausende auf die Flucht getrieben werden, dann entwicklungsorientiert; die Außenpolitik ist friedens- wirken sich diese Wanderungsbewegungen als Wan- und stabilitätsorientiert. Das heißt, viele Kriterien, die derungsdruck bei uns aus. Wenn in den Elendsvier- auch Ihrem Hause wichtig sind, werden von- diesem teln der Welt längst für besiegt gehaltene Krankheiten Land erfüllt. Eritrea ist deswegen ein würdiger Ent- wieder Opfer fordern, dann kann dies zu einer Bedro- wicklungspartner. hung bei uns führen. Notwendig ist Demokratisierungshilfe und Hilfe Kurz und gut: Wer heute in den fortgeschrittenen zur Stärkung der Zivilgesellschaft. Eritrea könnte ein Industriestaaten politisch verantwortlich handeln will, Beispiel erfolgreicher deutscher Entwicklungshilfe der muß schon aus eigenem Interesse mithelfen, die sein, wenn diesem Land jetzt massiv unter die Arme Lebensbedingungen der Menschen in den Entwick- gegriffen wird. Sie, Herr Minister, könnten damit lungsländern zu verbessern, wenn er es denn schon beweisen, daß es Ihnen mit Ihrer Demokratieforde- nicht aus Einsicht in die politische Notwendigkeit und rung an afrikanische Staaten ernst ist. aus moralischer Verpflichtung tut. Wir Freien Demo- Ich bitte Sie, Herr Staatsminister Schäfer — da der kraten bekennen uns in diesem Sinne zu einer aktiven Topf „Demokratisierungshilfe" nämlich in Ihrem und langfristig angelegten Politik wirtschaftlicher Hause ist —: Machen Sie diesen Topf auf und geben Zusammenarbeit und Entwicklung als wesentlichem Sie diesem Land, das jetzt seine Verfassung entwik- Baustein unserer auswärtigen Beziehungen. Dabei kelt, geben Sie der Verfassungskommission einen lassen wir uns von drei Grundsätzen leiten. dicken Batzen Geld, damit dieses Land eine Chance Erstens. Wir leben in der einen Welt. Deshalb muß hat, im Demokratisierungsprozeß den Punkt zu errei- die traditionelle Nord-Süd-Politik schrittweise zu chen, zu dem es will! einer Weltinnenpolitik fortentwickelt werden, die vom Gedanken einer globalen Entwicklungs- und Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, keinen Umweltpartnerschaft getragen wird. langen Ratschlagskatalog mehr, nur noch einen letz- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Dr. ten Satz. R. Werner Schuster [SPD] und des Abg. Dr. Winfried Wolf [PDS]) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dr. Ursula Eid-Simon Zweitens. Wir verstehen Entwicklung als einen Herr Präsident, lassen Sie mich dem Minister bitte integralen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politi- noch einen Satz mit ins Reisegepäck geben: Die Welt schen und kulturellen Prozeß. Deshalb muß die Ver- braucht Gerechtigkeit, nicht Wohltätigkeit. besserung der inneren Rahmenbedingungen für Ent- Herzlichen Dank. wicklung in den Partnerländern zum zentralen (Beifall im ganzen Hause) Ansatz der Entwicklungszusammenarbeit gemacht werden. Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile dem Kollegen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Roland Kohn das Wort. ten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 677

Roland Kohn Es geht deshalb noch stärker als bisher um Struktur- Daraus folgt für uns u. a., daß wir in Zukunft die veränderung und Systemberatung zur Schaffung ord- Verschwendung von Ressourcen für Rüstungswahn nungspolitischer Voraussetzungen für dauerhafte und nicht mehr folgenlos hinnehmen. Staaten — ich sage nachhaltige Entwicklung. Hilfe für die Ärmsten bleibt das ganz präzise —, die ein eigenes ABC-Waffenpro- fraglos wichtig und notwendig. Aber eine sich selbst gramm haben oder sich auf andere Weise solche tragende Entwicklung setzt besondere Unterstützung Waffen verschaffen, dürfen keine Mark deutsche für die Leistungsbereiten und die Förderung der Entwicklungsgelder mehr bekommen. Leistungsfähigen voraus, die eines Tages den Karren (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU ziehen müssen. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Wir Liberalen wollen uns auch noch intensiver als ten der CDU/CSU) bisher für die Wahrung der Menschenrechte und der Drittens. Wir treten für die Öffnung der Märkte Menschenwürde in den Partnerländern einsetzen. — notabene auch unserer Märkte — ein; denn jede Man mag es als eurozentrisches Weltbild kritisieren, Hilfe jenseits humanitärer Maßnahmen ist im Grunde aber ich bleibe dabei: Die kulturelle Relativierung der sinnlos und reine Geldverschwendung, wenn wir den Menschenrechte machen Liberale nicht mit. Men- Entwicklungsländern nicht die Chance geben, ihre schenrechte gelten für jedermann. Sie sind unteil- Produkte bei uns zu verkaufen. bar. (Zustimmung bei Abgeordneten der F.D.P.) (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Viele Aspekte der Entwicklungszusammenarbeit Nach unserem Verständnis sind Selbsthilfe und lassen sich am Beispiel eines projektierten Wasser- Eigeninitiative der Schlüssel zur Überwindung von kraftwerks in Nepal aufzeigen. Da gibt es ökonomi- Unterentwicklung und Armut. Der Schaffung stabiler sche, ökologische, soziale, politische und andere Pro- institutioneller Rahmenbedingungen sowie leistungs- bleme, Fragen nach der Dimensionierung von Vorha- fähiger mittelständischer Strukturen kommt dabei ben, ihrer Handhabbarkeit und vieles mehr. Wir besondere Bedeutung zu. Die Förderung von Bildung haben gestern im Ausschuß lange Zeit über Arun III und Ausbildung muß deshalb zum Schwerpunkt der debattiert. Meine Fraktion ist der Auffassung, daß Entwicklungspolitik werden. Wir haben verstanden: dieses Projekt nicht entscheidungsreif ist. Wir fordern Finanzieller Ressourcentransfer allein ist keine deshalb dazu auf, Alternativen zu diesem Großprojekt Grundlage für eine tragfähige Entwicklung. Beratung ernsthaft zu prüfen, bevor weitreichende, auch finan- und Ausbildung werden künftig im Vordergrund ziell erhebliche Entscheidungen getroffen werden. - stehen. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne In diesem Zusammenhang will ich betonen, daß es ten der CDU/CSU, der SPD und der PDS) sich keine Gesellschaft leisten kann, auf die Fähigkei- Man kann, meine Damen und Herren, nicht ver- ten und die Begabung der weiblichen Bevölkerungs- nünftig über Entwicklungspolitik sprechen, ohne über hälfte zu verzichten. Das gilt übrigens auch bei uns. die gewaltigen Probleme der Bevölkerungsentwick- Deshalb müssen Frauen sehr viel stärker als bisher in lung zu reden. Für uns hat die Eindämmung des die Planung und Durchführung von Entwicklungspro- Bevölkerungswachstums Priorität. Es liegt mir wahr- jekten einbezogen werden. lich fern, die religiösen Gefühle unserer katholischen (Beifall bei der F.D.P., der CDU/CSU und der Mitbürger zu verletzen. Aber ich muß es hier klar SPD — Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ aussprechen: Die Haltung der katholischen Amtskir- NEN: Wie sieht das bei der F.D.P. aus?) che zur Frage der Geburtenkontrolle halte ich nicht für Besonders wichtig ist mir schließlich auch der Hin- verantwortbar. weis, daß unsere Entwicklungspolitik neben der (Beifall bei der F.D.P., der SPD, dem BÜND Zusammenarbeit mit der staatlichen Ebene der Part- NIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS sowie der nerländer verstärkt auf die Einbeziehung von Nicht- Abg. Erika Reinhardt [CDU/CSU]) regierungsorganisationen, privaten Unternehmen Sie verzögert in vielen Teilen der Welt die Herausbil- und einheimischen Fachkräften in diesen Ländern dung des Bewußtseins für die Gefahren eines unkon- setzen muß. Es wird Sie nicht weiter verwundern, daß trollierten Bevölkerungswachstums. Liberale, die nicht vom Virus der Allmachtsphanta- sien des Staates befallen sind, auch in der Entwick- Ein anderes politisch brisantes Thema ist die Frage lungspolitik gerade auf die gesellschaftlichen Eigen- nach der Eigenverantwortung der Entwicklungslän- kräfte in den Partnerländern und auf deren Stärkung der für das, was bei ihnen geschieht. Ich halte es nicht setzen. länger für hinnehmbar, daß sich manche noch immer hinter historischen Argumenten zu verstecken (Abg. Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE suchen. Es ist an der Zeit, gerade auch die Eliten in GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen diesen Ländern an ihre Verantwortung für die Ent- frage) wicklung in ihren Ländern zu mahnen. Prestigepro- jekte, Mißmanagement, Korruption, Menschenrechts- Vizepräsident Hans Klein: Verzeihung, Herr Kol- verletzungen, Bürgerkriege und nackte Machtpolitik lege Kohn, gestatten Sie eine Zwischenfrage? — da kann man sich nicht einfach mit dem Hinweis auf tatsächliche oder vermeintliche Folgen des Kolonialis- (F.D.P.): Herr Präsident, da dies meine mus aus der Verantwortung stehlen. Roland Kohn erste Chance ist, als Sprecher der Fraktion für Ent- (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) wicklungspolitik in diesem Hause vorzutragen, 678 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Roland Kohn möchte ich das heute im Zusammenhang tun. In Meine Damen und Herren, es gibt zum Glück auch Zukunft werde ich das — wie ich es bisher immer Positives zu kommentieren. Am 16. Dezember hat der praktiziert habe — so halten, daß Fragen von Kollegen sogenannte Pariser Club für die ärmsten Staaten der immer zugelassen sind, heute nicht. Ich bitte um Welt neue Schuldenerleichterungen vereinbart. Das Verständnis. ist — vermutlich durch die Weihnachtszeit — in der Öffentlichkeit leider ein wenig untergegangen. Die Ein ganz wichtiges Thema ist für uns der freie 18 westlichen Gläubigerstaaten des Pariser Clubs Welthandel, also eine Politik der offenen Märkte. Die haben beschlossen, künftig den betroffenen Staaten wirtschaftliche Verflechtung in den Regionen dieser bis zu 67 % ihrer Schulden zu erlassen, einigen Erde, die Chance des Zugangs zu den nachfragestar- Ländern sogar vollständig. Auf diesen gewaltigen ken Märkten und somit das Hineinwachsen in die Fortschritt hat die Bundesregierung maßgeblich hin- Arbeitsteilung des Weltmarktes sind Voraussetzun- gewirkt. Ich gratuliere der Regierung zu diesem Erfolg gen für eine auf Dauer angelegte positive Entwick- und danke ihr dafür. lung. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) Bloße Bekenntnisse und verbale Bekundungen rei- Wir Liberalen wollen uns in dieser neuen Legisla- chen jedoch nicht aus. Die langwierigen GA TT turperiode um eine moderne und kraftvolle Politik der Verhandlungen der letzten Jahre haben die schlim- Entwicklungszusammenarbeit bemühen. Wir bauen men protektionistischen Verhaltensweisen vieler weiter auf den Vorarbeiten der letzten Jahre, wobei Staaten offengelegt. Mit Nachdruck sage ich: Die ich insbesondere Ing rid Walz dankbar nennen will. Europäische Union darf nicht zu einer Festung des Wir bieten allen Fraktionen dieses Hauses eine faire Protektionismus in der Welt werden. Zusammenarbeit an und freuen uns auf ein konstruk- tives Zusammenwirken mit Ihnen, Herr Bundesmini- (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ster Spranger. ist sie doch schon!) Seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre hat unsere Die sogenannte Bananenmarktordnung ist lediglich hochangesehene frühere Kollegin Liselotte Funcke ein besonders abstruses Beispiel für eine gefährliche den Begriff der Weltinnenpolitik in den politischen Tendenz, die auf merkantilistische und protektionisti- Diskurs eingeführt. Am 8. Mai 1970, also vor nahezu sche Traditionen einiger EU-Mitgliedstaaten zurück- einem Vierteljahrhundert, hat sie, die ehemalige geht. Hier ist höchste Wachsamkeit geboten — gerade Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, vor die- auch im Interesse der Entwicklungsländer. sem Hause gesagt — ich zitiere zum Schluß —: - Die Welt hatte gehofft, daß mit dem Niederringen Hinweisen möchte ich noch auf die Notwendigkeit, am 8. Mai 1945 der Friede möglich sei. Diese dem Prinzip der Subsidiarität auch in der Entwick- Hoffnung hat getrogen. Und so mögen diejenigen lungspolitik der Europäischen Union zur Geltung zu im politischen Feld sich als bestätigt fühlen, die da verhelfen. Die Bundesregierung kann sich auch hier- meinen, eine Weltinnenpolitik ohne Waffenge- bei auf die Unterstützung der F.D.P.-Fraktion verlas- walt sei eine Utopie. Meine Herren und Damen, sen. es gibt viele Utopien in dieser Welt, für die sich die Bemühungen nicht lohnen. Ich meine aber, für Es gibt, meine sehr verehrten Damen und Herren, in die Erhaltung und Sicherung des Friedens .. . Deutschland außerhalb der Institutionen der staatli- lohnt sich der rückhaltlose Einsatz. chen Entwicklungspolitik zahllose private und kirch- liche Initiativen und Organisationen, die humanitäre Soweit Liselotte Funcke. Hilfe leisten, aber auch einzelne Entwicklungspro- Entwicklungspolitik als Friedenspolitik in der einen jekte fördern. Frau Dr. Schwaetzer und ich freuen uns Welt, in der wir leben — diese konkrete Utopie soll darauf, in den nächsten Jahren mit ihnen zusammen- unser Handeln als Liberale in dieser Legislaturperiode zuarbeiten und auch aus ihren Erfahrungen und leiten. Kenntnissen zu lernen. Vielen Dank. Schließlich noch ein Wort zu den Finanzen, einem ja (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) nicht ganz unwichtigen Thema, wie wir alle wissen. Der Haushalt des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung läßt nicht alle Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem Blütenträume reifen. Der Anteil am Gesamthaushalt Kollegen Dr. Winfried Wolf. bleibt in der mittelfristigen Finanzplanung zwar kon- stant, jedoch entfernen wir uns immer mehr von jenem 0,7-Prozent-Ziel, das einen Zusammenhang herstellt Dr. Winfried Wolf (PDS): Sehr geehrter Herr Präsi- zwischen der Kraft einer Volkswirtschaft und den dent! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Als Bundes- Ausgaben für die Entwicklungspolitik. Natürlich darf kanzler Helmut Kohl in Rio wieder einmal verkün- man dieses Ziel nicht verabsolutieren, natürlich muß dete, daß das Ziel von 0,7 Prozent des Bruttosozialpro- man die finanziellen Belastungen aus dem Jahrhun- dukts an öffentlicher Hilfe ,so rasch wie möglich' dert-Freudenereignis der deutschen Einheit in Rech- erreicht werde, gab es keinen Parlamentarier in Bonn, nung stellen, und natürlich muß auch Haushaltsdis- der an Hand der Haushaltszahlen ... vorgerechnet ziplin geübt werden. Bei der Frage, ob wir auf Dauer hätte, daß dies weder möglich noch beabsichtigt sei." mit den geplanten Ansätzen auskommen, möchte ich — Ich höre keinen Beifall bei der SPD; dabei habe ich jedoch ein ganz dickes Fragezeichen anbringen. mit diesen Worten Erhard Eppler zitiert. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 679

Dr. Winfried Wolf Sie erinnern sich: Eppler war insofern der bisher gegenüber Indonesien einen Wirtschaftsboykott be- erfolgreichste Minister für wirtschaftliche Zusammen- schlossen hat, u. a. wegen massiver Menschenrechts- arbeit, als nur unter ihm der Anteil der sogenannten verletzungen durch das Suharto-Regime und dessen Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt in rele- Krieg in Ost-Timor. vantem Maße gesteigert werden konnte. Heute liegt Viertens, zur Schuldenkrise: Wir lesen, die Bundes- dieser Anteil mit 0,32 % niedriger als 1968, als Eppler regierung habe einen „substantiellen Beitrag zur antrat. Gestern wurde uns im Ausschuß durch den Milderung der Finanzprobleme" in der Dritten Welt Regierungsvertreter erklärt — gewissermaßen als geleistet. Ist es nicht so, daß die Schuldenlast der Schmankerl —, dieser Anteil drohe demnächst unter Dritten Welt immer drückender wird? Als 1987 die 0,3 % zu fallen. Drittweltschulden erstmals die Debatten bestimmten, Aus dem Antrag der Koalitionsparteien zur Ent- hatten diese eine Höhe von 1,4 Billionen Dollar wicklungspolitik springt einem aalglattes Eigenlob erreicht. In diesem Jahr wird die Schallmauer von entgegen. Doch dieses Lob stinkt. Das sei hier in der 2 Billionen Dollar durchbrochen werden; das ent- Kürze der Zeit auf vier Ebenen konkretisiert. spricht einer Steigerung von 40 %. Erstens. Der Abstand zwischen Reich und Arm in Gab es nicht gerade vor Weihnachten Börsenkrachs dieser Welt wächst von Jahr zu Jahr. Die Anwendung und Abwertungen in Mexiko und ganz Lateiname- der Gesetze der Marktwirtschaft wirkt in diese Rich- rika? Haben sich nicht allein dadurch die Schulden der tung. Je mehr Freihandel, zu dem die Dritte Welt betroffenen Länder — in ihren Währungen und ihren gezwungen wird, desto mehr Armut. Das ist nur Warenwerten gerechnet — zum Teil um bis zu 30 bis konsequent. Die Anwendung gleichen Rechts bei 40 % erhöht? Explodieren nicht die debt-to-equity- ungleichen Grundbedingungen macht die Starken swaps, d. h. die Umwandlung von Altschuldentitel in stärker und die Schwachen schwächer. Das ist das Neueigentum westlicher Konzerne in der Dritten Welt ABC des Kapitalismus, und das wissen Menschen, die durch den Aufkauf von Fluglinien, Telefongesell- sich auf den Marxismus — oder auf das Urchristentum schaften, Ölgesellschaften wie Pemex, Mexiko, oder oder auf die Theologie der Befreiung — positiv bezie- Petrobas, Brasilien? hen. Bereits bei Durchschnittswerten der Einkommen Erleben wir nicht schlicht eine Form der Rekoloni- wird hierzulande heute 60mal mehr als in der Dritten alisierung? Die alten Kolonialmächte werden erneut Welt verdient. Dieser Abstand hat sich in den vergan- zu Eigentümern an den gesellschaftlichen Werten, genen vier Jahrzehnten verdreifacht. welche die Menschen in der Dritten Welt geschaffen Zweitens. Bereits die eigentliche Bonner Entwick- haben. Fordern nicht viele kirchliche und Dritte- lungspolitik muß, wie mit dem Eppler-Zitat -eingangs Welt-Gruppen zusammen mit uns weiterhin die Strei- dokumentiert, vernichtend bilanziert werden. Dar- chung der Schulden der Dritten Welt, weil andernfalls über hinaus geht die zentrale Forderung der Bevöl- die betroffenen Länder durch diese Schulden erdros- kerungskonferenz in Kairo in diese Debatte nicht selt werden? einmal ein — leider auch nicht in die Anträge der Werte Kolleginnen und Kollegen, was ich bisher Grünen und der SPD. In Kairo wurde gefordert, daß sagte, läßt sich auch in orthodoxere Worte kleiden 20 % der Entwicklungshilfe der OECD-Staaten für — ich zitiere —: Gesundheit und Bildung ausgegeben werden müssen. Im Bonner Etat, Einzelplan 23, sind schlappe 5 % für Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den . . . diese für die Menschen entscheidenden Bereiche Lebensinteressen des Volkes nicht gerecht vorgesehen. Doch es mangelt, bisher jedenfalls, nicht geworden. (Es muß) eine Neuordnung von Grund an den 234 Millionen Mark für einen Staudamm auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser Neuordnung Aroun III in Nepal — ein neues Denkmal patriarchalen kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und und ökologisch zerstörerischen Technikverständnis- Machtstreben sein. (Notwendig ist) eine gemein- ses. wirtschaftliche Ordnung. Drittens. Wer über die Bonner Entwicklungspolitik Es handelt sich nicht um ein Zitat von der SED, redet und sich auf den Etat von Herrn Spranger sondern ist, wie Sie vielleicht richtigerweise festge- beschränkt, redet nicht einmal von der halben Miete. stellt haben, eine Aussage des Ahlener Programms Der Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ist der CDU aus dem Jahre 1947. — gerade hinsichtlich der Politik gegenüber der (Heiterkeit und Beifall bei der PDS sowie des Dritten Welt — von zweit-, wenn nicht gar von Abg. Dr. R. Werner Schuster [SPD]) drittrangiger Bedeutung. Was nutzt die hochzuschät- zende Arbeit von Menschen im Entwicklungsdienst, Diejenigen, die diesen Text damals ernst nahmen, wenn die großen Gelder aus anderen Etats in die sagten: Es war der Kapitalismus, der in das Nazi entgegengesetzte Richtung wirken! Terrorregime führte. Eine „Neuordnung von Grund auf" sei erforderlich, um Vergleichbares zu vermei- Stichworte: 1993 Lieferung von 39 NVA-Kriegs- den. schiffen für die Diktatur in Indonesien, finanziert mit Hermes-Krediten, also Steuergeldern. Vor wenigen Heute haben wir weltweit eine vergleichbare Situa- Wochen war der Menschenrechtler Indro Tjahjono tion: Das bürokratische System im Osten mit dem aus Djakarta, u. a. bei mir, zu Besuch. Seine Mittei- Etikett „real existierend" hat versagt und ist implo- lung war, jetzt stehe eine Lieferung von deutschen diert. Das übriggebliebene kapitalistische System ver- Gepard-Panzern für die Suharto-Diktatur an. All dies sagt jedoch Tag für Tag, immer gemessen an den erfolgt vor dem Hintergrund, daß die UNO, die ja Aufgaben, vor denen die Menschheit hierzulande, in immer dann zitiert wird, wenn es in den Kram paßt, der Zweiten Welt und in der Dritten Welt steht. 680 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Dr. Winfried Wolf Ausdruck dieses Versagens ist bereits das Grundprin- Statt sich hier hinzustellen und mangelnde Finanzen zip der Spaltung in Welten, ein Versagen, weil es zu beklagen: Wir könnten sehr viel mehr für die nicht zu einer Eine-Welt-Politik kommt, ganz im Entwicklungsländer tun, wenn wir nicht mit vielen Gegensatz zu dem, was mein Vorredner gesagt hat. Milliarden den Schrott abräumen müßten, den Sie Viele von Ihnen wissen dies alles. Ein beachtlicher nach 40 Jahren Diktatur — und der Kommunismus im Teil reagiert darauf mit purem Zynismus oder dum- übrigen in vielen Ländern — hinterlassen haben. men Zwischenrufen. Aber einige aus diesem Haus (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. und vor allem außerhalb werden sich weiter engagie- sowie bei Abgeordneten der SPD) ren für eine Gesellschaft, in der statt Ellbogen, statt Profit und statt eines brutto wie netto unsozialen Meine Damen und Herren, in den Anträgen, die der Wachstums der Mensch und die Solidarität im Mittel- heutigen Debatte zugrunde liegen, wird der Bezug punkt stehen. der deutschen Entwicklungspolitik zur internationa- len Entwicklungszusammenarbeit angesprochen. Ich Danke schön. möchte in diesem Zusammenhang zunächst meiner (Beifall bei der PDS) großen Genugtuung Ausdruck geben, daß es der Bundesregierung gelungen ist, UNV, die Entwick- lungshelferorganisation der Vereinten Nationen, Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem nach Bonn zu holen. Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. und Entwicklung, Carl-Dieter Spranger. sowie bei Abgeordneten der SPD) Boutros-Ghali, der Generalsekretär der Vereinten Carl-Dieter Spranger, Bundesminister für wirt- Nationen, hat mir vorgestern bestätigt, daß dies auch schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung: Herr als ein Zeichen der Anerkennung der deutschen Präsident! Meine Damen und Herren! Der Beginn der Entwicklungspolitik zu verstehen ist. Ich meine, dar- neuen Legislaturperiode bedeutet für die deutsche über können wir uns alle zu Recht freuen. Entwicklungspolitik keinen Wendepunkt. Wir haben Mit unserer auf den neuesten wissenschaftlichen die wesentlichen Neuorientierungen schon im Jahre Erkenntnissen fußenden und gleichzeitig realisti- 1991 vorgenommen; der Herr Kollege Pinger hat das schen und sachbezogenen entwicklungspolitischen überzeugend dargelegt. Diese Neuorientierung gilt es Konzeption haben wir als eines der ersten Industrie- nun zu konsolidieren, umzusetzen, fortzuentwickeln, länder 1991 die neuen Herausforderungen der inter- wo dies notwendig ist; denn es hat seit 1989- doch nationalen Entwicklungspolitik aufgegriffen, unsere beträchtliche weltpolitische Umbrüche gegeben. De- bilaterale Entwicklungszusammenarbeit effizienter nen haben wir 1990/91 Rechnung getragen. gestaltet und auch die multilaterale Praxis geprägt. Ich freue mich im übrigen natürlich, daß mit den Die Welt hat sich in den letzten Jahren dramatisch heutigen Anträgen von SPD und auch den GRÜNEN, verändert. Staaten zerfallen, neue Grenzen entstehen. wenn auch mit erheblicher Verzögerung, der Andererseits geht uns der Begriff „Eine Welt" schon Anschluß an die Entwicklungspolitik der Bundesre- wie selbstverständlich über die Lippen. Dahinter steht gierung gesucht aber ein Anspruch, dem wir noch nicht gerecht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — geworden sind. Dazu müssen wir der Entwicklungs- Lachen und Widerspruch bei der SPD) politik eine neue nationale und internationale Priorität beimessen; denn sie ist es, die sich der zentralen und in einer Reihe von Punkten, zumindest teilweise, Fragen unserer Zukunft annimmt. gefunden wird. Liebe Frau Kollegin Eid, ich danke Ihnen für Ihre (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. Bemerkungen zu meiner bevorstehenden Reise. Viel- sowie des Abg. Dr. Ingomar Hauchler leicht haben wir Gelegenheit, in der kommenden [SPD]) Woche noch Anliegen zu erörtern, die Sie durch Ihr Die Krisen in Somalia, Ruanda, Bosnien und ganz Engagement besonders beschäftigen. aktuell in Tschetschenien zeigen vor allem eines: Aber ich möchte auch sagen, daß ich die Unverfro- Unsere klassischen Instrumente der Konfliktbewälti- renheit und Verbohrtheit, die der Vertreter der PDS gung reichen nicht aus. Andererseits wird es nicht bei mit seinen Ausführungen an den Tag gelegt hat, als den genannten Krisen bleiben. besonders empörend empfunden habe. Die Welt am Ausgang dieses Jahrhunderts sucht (Beifall bei der CDU/CSU) nach einer neuen Ordnung. Dies wird zu weiteren Umbrüchen führen. Wir können das damit verbun- Wir haben die Entwicklungsarbeit der früheren DDR dene Leid für die Menschen und die Zerstörung in sechs Monaten abgewickelt. Übriggeblieben sind materieller und kultureller Werte nur verhindern, 60 vernünftige Projekte. Mit den anderen Projekten wenn wir die gesellschaftlichen Ursachen der Kon- haben Sie über Jahrzehnte hinweg in vielen Entwick- flikte frühzeitig erkennen und uns ihnen gezielt wid- lungsländern Not, Elend und grobe Verletzung der men. Das bedeutet: Zusammenarbeit in Wissenschaft, Menschenrechte produziert; das war die damalige Technologie, in kulturellen und sozialen Fragen, in Entwicklungspolitik der SED. Wirtschaft und Politik. Nur ein immer dichter gefloch- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. tenes Netz internationaler Kooperation wird den Men- sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS schen mehr Sicherheit geben und uns in die Lage SES 90/DIE GRÜNEN) versetzen, die großen globalen Herausforderungen, Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 681

Bundesminister Carl-Dieter Spranger die sich uns stellen, zu meistern. Dies ist Aufgabe und Die unterschiedliche Entwicklung in den verschie- Ziel der Entwicklungspolitik. Dazu wollen wir uns denen Regionen der Welt, die unterschiedlichen Rah- bilateral und multilateral entschlossen einsetzen. menbedingungen und Erfolgsprognosen erfordern, daß wir das weitgefächerte Instrumentarium der Entwicklungspolitik — auch da sind wir uns sicher Zusammenarbeit differenziert anwenden. In großen einig — ist eine äußerst anspruchsvolle Aufgabe. Mit Flächenstaaten wie Brasilien und Indien, die Merk- punktueller Projektpolitik und im Alleingang einzel- male von Industrie- und Entwicklungsländern gleich- ner Länder ist sie nicht zu bewältigen. Deshalb müs- zeitig aufweisen, muß das Profil unserer Entwick- sen wir mit unserer entwicklungspolitischen Konzep- lungszusammenarbeit anders aussehen als im Ar- tion, die sich als richtig und angemessen erwiesen hat, mutsgürtel Afrikas. Gerade die Schwellenländer Süd- noch stärker in die internationalen Organisationen ostasiens und Lateinamerikas, die im übrigen den hineinwirken und den Nutzen der multilateralen Ent- Erfolg entwicklungspolitischer Anstrengungen nach- wicklungszusammenarbeit auch in der Öffentlichkeit weisen, besser verdeutlichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Mexiko?) Wir können hier auf zahlreiche Erfolge verweisen, bieten sich uns auch als Wirtschaftspartner an. Eine die über die im Antrag der Koalitionsfraktionen ent- engere Zusammenarbeit auf wissenschaftlich-techni- haltene Bilanz noch hinausgehen. So hat Deutschland schem Gebiet, in der industriellen Entwicklung, aber die Entschließung des Rates der EG über Menschen- auch bei der Steigerung der wirtschaftlichen Lei- rechte, Demokratie und Entwicklung vom November stungskraft liegt daher im beiderseitigen Interesse. 1991 initiiert, die unsere entwicklungspolitischen Kri- Wir werden weiterhin daran arbeiten, die deutsche terien auch für die EU verbindlich macht. Im Rahmen Entwicklungszusammenarbeit zu modernisieren und des Development Assistance Committee haben wir fortzuentwickeln, um auch zukünftig eine in Konzep- die „Orientierungen zu Partizipation und guter Regie- tion und Praxis überzeugende Politik anzubieten. rungsführung" vom Dezember 1993 wesentlich Zentrale Forderungen des Regierungsprogramms wie beeinflußt. Wir haben ebenfalls nachdrücklich und die Verschlankung des Staates und die Vereinfa- mit Erfolg darauf gedrängt, daß die Mitwirkung der chung der Verwaltungsverfahren gelten auch für die betroffenen Bevölkerung in den Entwicklungsländern Entwicklungspolitik. Fragen wie eine weitere Delega- in der Projektpraxis der Weltbank und der DAC tion von Aufgaben von der ministeriellen auf die Mitgliedsländer eine größere Rolle spielt. Durchführungsebene, eine noch engere Verknüpfung von Finanzieller und Technischer Zusammenarbeit (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Aber die -Pra xis sieht doch anders aus, Herr Minister!) und eine Zusammenführung der verschiedenen Instrumente der Nothilfe werden derzeit im BMZ Die Bundesregierung hat sowohl durch bilaterale geprüft. Initiativen als auch durch aktive Unterstützung multi- lateraler Ansätze zur Fortentwicklung der internatio- (Beifall des Abg. Dr. Ingomar Hauchler nalen Schuldenstrategie beigetragen. Wesentliche [SPD]) Elemente unserer entwicklungspolitischen Konzep- Eine Reihe von Reformvorschlägen sind von den tion spiegeln sich auch in der Agenda 21 und in der Institutionen der deutschen Entwicklungspolitik, aber Schlußdeklaration der Wiener Menschenrechtskonfe- auch von Nichtregierungsorganisationen an uns her- renz wider. angetragen worden. Ich habe in den letzten Wochen Ich habe es mir zu einem persönlichen Anliegen eine Fülle von Gesprächen geführt. Wir haben am 23. gemacht, die Effizienz der multilateralen Entwick- dieses Monats eine große Konferenz im BMZ mit fast lungszusammenarbeit zu verbessern. Die Weltbank 70 Nichtregierungsorganisationen. und die Regionalen Entwicklungsbanken haben spe- Ich sage auch jetzt schon: Ich bin dankbar für die zielle Arbeitsgruppen, teilweise auch mit deutschem vielen Beiträge und den offenen, konstruktiven Mei- Vorsitz, eingerichtet, um entsprechende Empfehlun- nungsaustausch, in den ich ausdrücklich auch die gen auszuarbeiten. Opposition einbeziehen möchte. Aber, meine Damen und Herren, die Mittel der deutschen Entwicklungspolitik — nicht nur die finan- Die Anträge der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE ziellen — sind natürlich begrenzt. Der Realismus GRÜNEN enthalten eine Reihe von diskutablen Vor- gebietet es, vor übertriebenen Erwartungen zu war- schlägen, die von unserer Auffassung zum Teil nicht nen; denn das Ausmaß der Katastrophen, die unsere allzuweit entfernt sind. Über andere Vorschläge sollte Welt bedrohen, ist weiterhin und auch zukünftig in den Ausschüssen eingehend diskutiert werden. Wir beängstigend. Entwicklungspolitik, die sich diesen werden sie alle sorgfältig prüfen. Andere, wie z. B. großen globalen Herausforderungen stellen muß, eine jährliche Steigerung der Zusagen um 10 % — ich persönlich würde dies großartig finden —, sind leider kann deshalb nur als globale Strukturpolitik verstan- den werden. Als Politik der Zukunftssicherung ist sie unrealistisch; das wissen wir alle. Dennoch erkenne zu einer übergreifenden Aufgabe geworden. Sie kann ich auch bei Ihnen das Bemühen, die Entwicklungs- ihre volle Wirksamkeit nur entfalten, wenn alle Poli- politik zu stärken und die Voraussetzungen dafür zu tikbereiche zusammenarbeiten. Dies werden wir ein- verbessern, daß unser Land seiner gewachsenen Ver- fordern. antwortung in der Welt in noch stärkerem Maße gerecht wird. Diesem Ziel wollen wir uns weiterhin (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Ob das Ihre verpflichtet fühlen und mit aller Kraft — hoffentlich Kabinettskollegen auch so sehen?) gemeinsam — dafür arbeiten. 682 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Bundesminister Carl-Dieter Spranger Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Gute Ansätze bleiben zurück in den Schubladen des (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) BMZ, das Einschränkungen seiner Zuständigkeiten hinnehmen muß; Einschränkungen in der Handels- und Rohstoffpolitik, Einschränkungen in der interna- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Dagmar tionalen Finanzpolitik. Wo bleiben die demokrati- Schmidt, Sie haben das Wort. schen Kontrollorgane gegenüber der Weltbank, den regionalen Banken usw.? Eine solch bescheidene Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): Herr Präsident! Entwicklungspolitik verkommt zum Feigenblatt, un- Meine Damen und Herren! Sie alle wissen, daß ter dem sich die Impotenz globalen Handelns ver- Abkommen, Beschlüsse und Empfehlungen allein birgt. nicht ausreichen, um die Lebensbedingungen und Chancen der Menschen in den Entwicklungsländern (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zu verbessern, sondern daß es auf die Umsetzung von DIE GRÜNEN) Vereinbarungen ankommt. Konferenzen bringen Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen ein nichts für die Lösung der globalen Entwicklungspro- Zitat aus dem Journalisten-Handbuch bieten — bleme, wenn deren Ergebnisse nicht in die Tat umge- der Dokumentation deutscher Entwicklungspolitik setzt werden. In diesem Punkt sind wir uns hoffentlich schlechthin —, das die Grundkonzeption der bundes- alle einig. Doch was die Konzepte und ihre Verwirk- deutschen Entwicklungspolitik zusammenfaßt: lichung anbetrifft — das zeigt ein Vergleich der Eine marktwirtschaftlich ausgerichtete Wirt- beiden Anträge —, sind wir sehr unterschiedlicher schaftsordnung, die sich zu sozialer und ökologi- Meinung. Wie der Koalitionsentwurf und im übrigen scher Verantwortung bekennt, muß z. B. ein auch andere Veröffentlichungen der Bundesregie- angemessenes Verhältnis der Sozialausgaben zu rung, wie z. B. das Journalisten-Handbuch, zeigen, den Rüstungsausgaben anstreben. liegen Theorie und Praxis in der deutschen Entwick- lungspolitik der letzten Jahre weit auseinander. Ich will die Wahrhaftigkeit dieses Satzes auf den (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Prüfstand stellen; denn hier werden die Lösungen für DIE GRÜNEN) alle Probleme, soziale, ökologische und die durch Rüstungsausgaben verursachten, auf die anonyme Mein Fraktionskollege Ingomar Hauchler hat die Instanz der marktwirtschaftlich ausgerichteten Wirt- entscheidenden Punkte des SPD - Antrags bereits her- schaftsordnung abgeschoben. ausgearbeitet. Darum lassen Sie mich nur noch einige wenige Gedanken ergänzen, die mir in diesem Aber wo finden wir die unbequemen, geradlinigen, Zusammenhang besonders wichtig sind. - an Menschenrechten ausgerichteten Kriterien? Ich sage: nicht bei einer Regierung, die dem chinesischen In Zukunft sollten die Nichtregierungsorganisatio- Regierungschef bei seinem Staatsbesuch den roten nen auf Grund ihrer Nähe zu den Selbsthilfe- und Teppich ausrollt, unter den zuvor bergeweise kriti- Basisgruppen in den Entwicklungsländern stärker sche Fragen gekehrt worden sind. einbezogen werden, sollten wir uns zu unserer Ver- antwortung für die wachsenden globalen Probleme Kritische Fragen müssen erlaubt sein, auch z. B. im bekennen, global denken und handeln und sollten wir Hinblick auf die Aussagen der Bundesregierung zur darauf dringen, daß der Waffenexport weiter einge- Umsetzung der UNCED-Beschlüsse. Wieder im dämmt wird. Diese wichtigen Punkte vermisse ich im Handbuch heißt es: Entwurf der Koalition gänzlich. Gerade im Bereich Umweltschutz ist es notwen- „Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat dig, daß die Entwicklungsländer sowohl unser aus den Fehlern vergangener Jahrzehnte gelernt", Wissen als auch unsere Technologien nutzen heißt es darin. Hat sie wirklich? Wir sollten sie an ihren können. Taten messen, nicht an ihren Worten. Taten, die auf Dieser Satz verkommt ohne die Erkenntnis, daß wir im die Veränderungen des entwicklungspolitischen Um- globalen Kontext „unser Wissen und unsere Techno- feldes eingehen: die erdrosselnde Verschuldung, die logien" stärker für den Umweltschutz nutzbar machen wachsende Zahl von Konfliktherden, die zunehmende müssen, zu einer arroganten, einseitigen Schuldzu- Bereitschaft zu militärischen Aggressionen, die globa- weisung: hier die mit dem Wissen und der Technolo- len, d. h. uns alle angehenden Umweltprobleme, um gie, dort diejenigen, die die Tropenwälder abhol- nur einige Beispiele zu nennen; Taten, die zur Lösung zen. der globalen Probleme beitragen. Es darf aber nicht lediglich eine Katalogisierung der Mißstände geben; Damit kein Mißverständnis entsteht: Es soll nieman- sie sind bekannt. dem „unser Wissen und unsere Technologien" vor- Armut muß man nicht seitenlang definieren, klassi- enthalten werden. Aber nutzen wir eigentlich „unser fizieren und hierarchisieren. Gehen wir die Mißstände Wissen", setzen wir in ausreichendem Maße „unsere konkret an: die viel zu hohe Kindersterblichkeit, die Technologien" hier ein? Diskriminierung der Frauen und Minderheiten An anderer Stelle im Journalisten-Handbuch — im schlechthin, die Defizite an Partizipation in bezug auf Antrag fehlt dieser Aspekt, wie schon gesagt — jegliche Bildung, medizinische Versorgung und werden die nichtstaatlichen Organisationen für ihre eigenverantwortliche Lebensgestaltung in den Ent- Arbeit gelobt. Insbesondere die Kirchen würden wicklungsländern. Wo bleiben die Konsequenzen, die zunehmend in die Erstellung der entwicklungspoliti- sich daraus ergeben müßten? Warum wird der BMZ schen Konzeption der staatlichen Organisationen ein- Etat nicht gewaltig aufgestockt angesichts dieser bezogen. Diesem „zunehmend" stehen bei genaue- wachsenden Probleme? rem Hinsehen allerdings reduzierte Zuschüsse für die Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. 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Dagmar Schmidt (Meschede) NROs gegenüber. Dem Zuckerstückchen folgt die Schönen Dank. Ohrfeige. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Wie ernst die Regierung die Einbeziehung der DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der Nichtregierungsorganisationen nimmt, zeigt ein Bei- CDU/CSU, der F.D.P. und der PDS) spiel aus dem vergangenen Jahr. Sie hat nämlich die Ankündigung, die NROs im Vorfeld des Weltsozial- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Chri- gipfels einzubinden, nicht in die Tat umgesetzt. stian Ruck, Sie haben das Wort. Meine Damen und Herren, die weise Einsicht, daß (CDU/CSU): Herr Präsident! man „auf Friedensstörungen und Bürgerkriegspar- Dr. Christian Ruck Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben teien ... entschieden, frühzeitig und koordiniert ein- heute bereits viel Lyrik gehört, gerade noch von der wirken" muß, die sich in der erwähnten Dokumenta- Opposition, und zwar schöne Lyrik, Frau Schmidt, tion findet, ist das Papier, auf dem sie steht, nicht wert, aber auch Lyrik mit größeren Mißtönen und Mißstim- wenn die Forderung nach staatlicher Unterstützung migkeiten. Diese Mißstimmigkeiten möchte ich viel- von Friedensforschungsinstituten mit kalter Hand leicht an ein paar Beispielen insbesondere aus dem vom Tisch gewischt wird. Umweltbereich erläutern, wo ich natürlich besonders Wie will man denn frühzeitig erkennen, wo es in sensibel bin und zu dem ich sagen muß, Herr Professor dieser komplexen Welt zu Friedensstörungen kom- Hauchler: Was Sie nicht nur dazu, aber auch dazu men könnte, wenn man die Institute zum Einstellen ausgeführt haben, war schon in hohem Maße undiffe- ihrer Arbeit verdammt? Wie sollen zielgerichtet Ursa- renziert bis falsch. chen, auch und gerade Fluchtursachen, bekämpft Natürlich hat durch die dramatische Verschlechte- werden, wenn man sich nicht um die Arbeit von rung der natürlichen Lebensbedingungen weltweit Friedensforschungsinstituten bemüht? und in besonderer Schärfe auch in den Entwicklungs- Große Hoffnung löste bei mir zunächst der Satz ländern die deutsche Entwicklungspolitik in der Ver- aus: gangenheit eine neue Herausforderung bekommen, Wir wollen, daß die Mittel und Kräfte, die durch nämlich den Aufbau der Umweltpartnerschaft zwi- das Ende des Ost-West-Gegensatzes frei werden, schen Nord und Süd. Aber nirgendwo sonst hat sich den Menschen in Asien, Afrika und Lateiname- die Entwicklungspolitik dieser neuen Herausforde- rika zugute kommen. rung ernsthafter angenommen als in Deutschland. Sollte das etwa heißen, daß jetzt, nach dem Ende des (Beifall bei der CDU/CSU — Zuruf des Abg. Konflikts, der Rüstungsetat erheblich gekürzt wird Dr. Ingomar Hauchler [SPD]) und diese Summen auf das BMZ umgeschichtet wer- — Warten Sie mal! den? Mitnichten. Übrigens wird durch den Abzug der Es waren, nebenbei bemerkt, die CSU-Entwick- NATO-Kräfte auch eine ganze Menge Bundesvermö- lungshilfeminister Warnke, Klein und Spranger, unter gen frei. denen der Anteil der Umweltprojekte an der Entwick- lungszusammenarbeit unbestritten Schritt für Schritt auf über ein Viertel geklettert ist. Für 1995 wird sogar Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Rede- die 30-Prozent-Marke angestrebt. Es waren die Bun- zeit ist zu Ende. Bitte, noch einen Schlußsatz. desregierungen mit diesen CSU-Ministern, die die Umweltverträglichkeitsprüfung für alle Entwick- Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): Noch einen lungsprojekte eingeführt haben. Satz. Weit im Vorfeld der Konferenz von Rio — auch das Wo sind im Ausgabenansatz die freigewordenen ist ja bekannt — hat Bundeskanzler Kohl als erster Mittel? hochrangiger Politiker den Schutz des Tropenwaldes zum Thema auf G-7-Gipfeln gemacht und erste große Ich möchte Ihnen dann zum Schluß vielleicht nur Rettungsprogramme durchgesetzt. Ohne den enga- eine Zeile, einen Gedichtvers, vortragen. gierten Einsatz — Herr Professor Hauchler, das hat sich doch mittlerweile herumgesprochen — der Ver- treter der Bundesregierung beim Gipfel in Rio wäre Vizepräsident Hans Klein: Nein. Bitte, nur noch einen Satz. derselbe jeden Tag mehrmals geplatzt. Deutschland ist mittlerweile der größte bilaterale Geber im Bereich der Tropenwalderhaltung und auf dem Gebiet des Dagmar Schmidt (Meschede) (SPD): Das ist ein Satz Wasser- und Gewässerschutzes. mit Kommas. Herr Kollege, gestatten (Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Das ist ihre Vizepräsident Hans Klein: Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hauchler? erste Rede!) Kein Schatten ist auf der Erde der Mehrzahl der Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Gleich. Menschen Ich möchte auch ausdrücklich die auf deutsch- kein Licht auf der Straße französische Initiative zustande gekommene globale Umweltfazilität würdigen, deren deutscher Beitrag für keine Scheibe im Fenster, die nächsten drei Jahre in Höhe von fast 400 Millionen nur Hoffnung ist der Mehrzahl der Menschen DM weit über unsere normalen Verpflichtungen hin- gegeben, ausgeht. ohne Hoffnung kann sie nicht leben. Bitte, Herr Kollege. 684 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Hauchler, Es widerspricht im übrigen Ihrer Argumentation, bitte. wenn Sie sagen, Sie hätten uns immer unterstützt, was übrigens auch stimmt. Soweit meine Antwort. (SPD): Herr Kollege Ruck, Dr. Ingomar Hauchler (Heiterkeit) würden Sie mir darin zustimmen, daß wir von der SPD, aber auch andere Oppositionsparteien immer den Kurs unterstützt haben, mehr Projekte der deutschen Vizepräsident Hans Klein: Wollten Sie eine Zusatz- Entwicklungsarbeit mit Umweltorientierung zu ma- frage stellen? chen, und daß wir selbstverständlich alle zusammen (Heiterkeit — Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: die Politik einer stärkeren Umweltverträglichkeit aller Nein!) Projekte unterstützt haben? Das habe ich ja gar nicht bestritten. Würden Sie mir aber auch recht geben, Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Jetzt kommt es, wenn ich sage, daß die Hauptprobleme der globalen Herr Professor Hauchler. Nicht nur in der Masse — Sie Umweltzerstörung nicht mit der Umweltverträglich- sind doch in diesem Fall Oppositionsführer; Werner keit deutscher Projekte gelöst werden können, son- Schuster hat noch nicht gesprochen —, sondern auch dern nur durch eine generelle Umorientierung der qualitativ hat sich unbestreitbar Positives getan. internationalen Wirtschafts-, Verkehrs- und Energie- Umwelt- und Ressourcenschutz sind längst keine politik, und daß es auch zur Entwicklungspolitik isolierten Projekttypen, sondern sind zur Quer- gehört, sich vor allem dafür einzusetzen, weil das schnittsaufgabe der Entwicklungspolitik geworden. nämlich der Hauptaspekt ist? Wer die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten will, (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ muß auch Unwissenheit, Armut und Elend bekämp- NEN]: Sie müssen einfach nur ja sagen! — fen. Umweltschutz muß mit den Menschen vor Ort Dr. R. Werner Schuster [SPD]: Wenn du jetzt betrieben werden, nicht ohne sie oder gar gegen sie. nein sagst, dann hast du verloren!) Vor allem: Umweltschutzprojekte brauchen Zeit, Geduld und stabile Rahmenbedingungen, um wirken zu können. Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Auf dein Wohlwol- Diese Erkenntnisse hat die deutsche Entwicklungs- len, lieber Werner Schuster, lege ich natürlich beson- politik schon lange vor der Rio-Konferenz in ihrer deren Wert; das ist klar. Spitze mit engagierten Beamten und Experten in Professor Hauchler, in meiner Rede käme jetzt vielen Projekten erfolgreich umgesetzt. Diese Pro- einiges, was zu Ihren Fragen direkt Stellung- nimmt. jekte können von jedem besichtigt werden, wie z. B. in Aber sobald Sie sich setzen, läuft meine Redezeit Tunesien, wo nach 15 Jahren geduldiger Projektarbeit wieder. die Wüste wieder zum Leben erweckt wurde und den (Heiterkeit) umwohnenden Menschen wieder Wasser und Wild liefert, oder im Selous-Gebiet in Tansania — Werner Deswegen bin ich jetzt etwas unschlüssig, was ich Schuster, dazu nehme ich dich als Kronzeugen —, wo machen soll. die Dörfer am Rande eines deutschen Entwicklungs- projekts an den Einnahmen aus einer geregelten Jagd und sanftem Tourismus mitverdienen und so mit Vizepräsident Hans Klein: Das ist der Fluch der unserer Hilfe auch Schulen, Kindergärten, Brunnen guten Tat, Herr Hauchler. und ähnliches errichten können. Dies ist also nicht nur (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Aber ich kann ein Umweltprojekt, sondern eine Querschnittsauf- hier nicht den ganzen Tag stehen!) gabe, zu der auch die Armutsbekämpfung gehört. Dies ist auch der Fall im indischen Maharaschtra, wo mit deutschen Geldern die Bevölkerung und indische Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Ich möchte unter Nichtregierungsorganisationen zerstörte Wasserein- Hinweis auf das noch Folgende Ihre Frage vorab so zugsgebiete wiederherstellen. beantworten: Sie haben recht, wenn Sie sagen, Erinnert sei auch an die erfolgreichen Beratungs- Umweltpolitik allein, wenn wir nur auf die Umwelt- projekte zum Transfer umweltfreundlicher Technolo- projekte schauen, wird die Umwelt nicht besser gien, speziell für Klein- und Mittelindustrien etwa in machen. Ich muß die Gesamtschau vor allem in der Thailand und Indien. Erinnert sei daran, daß auf Entwicklungspolitik berücksichtigen. Aber ich muß Initiative und Antrag der Entwicklungspolitiker in auch die Gesamtschau zwischen Entwicklungspolitik diesem Parlament die Zusammenarbeit der Bundesre- vor Ort und Umweltpolitik bei uns berücksichtigen. gierung mit nationalen und internationalen Umwelt- Darauf komme ich zurück. organisationen erheblich ausgeweitet wurde. So Sie haben undifferenziert und dreisterweise — das arbeiten Fachleute der GTZ und der KfW Hand in muß ich hinzufügen — auch in diesem Punkt behaup- Hand mit dem WWF Deutschland etwa in Indonesien, tet, der Elfenbeinküste und der Mongolei zusammen. Ich glaube schon — das hat nichts mit Arroganz zu (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Schon wie tun —, daß gerade diese Schritte in den letzten Jahren der!) auch für die internationale Entwicklungspolitik rich- wir täten nichts, wir täten zuwenig und wir täten das tungsweisend gewesen sind. Ich kann sie nur zum Falsche. Das ist schlichtweg falsch. Ausbau und zur Nachahmung empfehlen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 685

Dr. Christian Ruck Deswegen ist der Begriff Neuorientierung in dem weite Trendwende höchstens in Ansätzen erkennbar SPD-Antrag wirklich irreführend. Nicht nur in der ist. Umweltpolitik, aber da besonders ist es mir aufgefal- Wir sollten uns auch überlegen, was wir in den len. Die Begriffe, die in dem Antrag vorkommen und nächsten vier Jahren tun können, um die Lösung die ich meistens — manchmal auch uneinge- dieses weltweiten Problems ein wenig stärker voran- schränkt — unterstützen kann, sind, obwohl sie uns als zubringen. Ich darf, ohne das noch näher ausführen zu neu vorgeschlagen werden, ein alter Hut. Das sind können, drei Schwerpunkte nennen. Begriffe, die nicht immer lupenrein, nicht ohne Schwierigkeiten und nicht immer so, wie es jeder gern Erstens. Wir müssen tatsächlich den internationalen im Umfang hätte, längst zum Alltag der deutschen Gleichklang der Geber stärken, auch in durchaus Entwicklungspolitik geworden sind. Sie sind es bei all kämpferischer Auseinandersetzung mit anderen Ent- den vielen Schwierigkeiten, die jeder von uns kennt, wicklungsgebern wie z. B. Japan, auch in kämpferi- gerade unter Carl-Dieter Spranger geworden. scher Auseinandersetzung mit der Weltbank. Dazu haben wir einen Antrag im Bundestag verabschie- (Beifall bei der CDU/CSU) det. Das Problem ist doch nicht — man kann es klar Wir müssen zweitens den Polit-Dialog mit den ansprechen, und ich warne vor falschen Eitelkeiten —, Entwicklungsländern stärken. Dazu möchte ich eines daß wir nicht alle mehr wollten. Auch Carl-Dieter ganz klar an die Adresse der GRÜNEN sagen: Es ist Spranger wollte mehr Entwicklungsprojekte und richtig, wenn man uns vorwirft, wir machen dieses mehr Geld dafür. Das Problem ist doch, daß wir dabei oder jenes im Norden gegenüber dem Süden falsch. — Stichwort Querschnittsaufgaben — in all unseren Worte wie Protektionismus usw. sind bereits gefal- Parteien unsere Widerstände haben, bei den Agrar- len. politikern, bei den Textilpolitikern usw. Deswegen braucht man doch hier nicht so zu tun, als wüßten Sie oder die GRÜNEN plötzlich, wo es langgeht, und als Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Ruck, das ist müßten wir dankbar sein, wenn wir die Vorschläge nicht die Faust im Nacken. Es ist nur die lenkend endlich auf den Tisch kriegen. liebevolle Stimme des amtierenden Präsidenten. Ihre Redezeit ist überschritten. (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Wer regiert, muß handeln!) (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Es ist nötig, daß das Es würde mich wahnsinnig reizen, auf Afrika einzu- mal „zurechtgeruckt" wird! — Heiterkeit) gehen, aber ich habe nur noch eine Minute Redezeit. Mehr Geld für Afrika, als ob das die Lösung wäre.- Da Dr. Christian Ruck (CDU/CSU): Eineinhalb Sätze kann ich nur lachen. noch. Aber entwicklungspolitisches Versagen hat Ich würde auch gern auf die Arroganz und den zwei Seiten. Ich denke da auch an die unsägliche Paternalismus eingehen. Wenn wir all das, was uns bei Politik vieler Eliten in der Dritten Welt, die alles Regierungsverhandlungen vorgeschlagen wird, ohne andere tun, als die Armut in ihrem Lande zu bekämp- paternalistisch zu sein, schlucken würden, dann käme fen. da ein Unsinn heraus, der unglaublich wäre. Es würde Drittens. Wir müssen unsere eigenen Hausaufga- kein einziges Regenwaldprojekt durchgehen. Das ben in der Umwelt- und Klimapolitik machen. sage ich Ihnen. (Beifall der Abg. Dr. Ursula Eid-Simon (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) ordneten der F.D.P. — Dr. Ursula Eid-Simon Dann geben wir auch ein hervorragendes Beispiel für [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch kein Widerspruch! — Dr. Winfried Pinger die Entwicklungsländer ab. [CDU/CSU]: Warum denn dann Paternalis Vielen Dank. mus?) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge — Paternalismus ist von der SPD gesagt worden. Sie ordneten der F.D.P.) haben auch gesagt, wir seien arrogant und drückten den anderen Entwicklungsprojekte aufs Auge. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Werner Ich mache mit Leidenschaft folgendes: Ich schlage Schuster, jetzt haben Sie das Wort. den jeweiligen Verhandlungspartnern Umweltpro- jekte vor, die sonst nicht möglich wären, zumindest in vielen Ländern nicht. Dr. R. Werner Schuster (SPD): Herr Präsident! (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Außerdem heißt das Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Pin- Pater-/Maternalismus! — Heiterkeit bei der ger! Dem letzten Satz meines Kollegen Ruck kann ich CDU/CSU und der F.D.P.) uneingeschränkt zustimmen; aber als wir Ihren Antrag, Herr Pinger, auf den Tisch bekommen haben, — Entschuldigung, lieber Kollege Irmer. fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt. Ich muß jetzt schnell, bevor ich die Faust im Nacken (Heiterkeit bei der SPD) spüre, noch folgendes sagen: Gerade beim Rio-Prozeß kann die positive Bilanz der Umweltpolitik der Bun- Da gab es die Wallfahrten; und Sie wissen, da wird desregierung respektive der Entwicklungspolitik der gelobt, gedankt und gepriesen. Bundesregierung nicht darüber hinwegtäuschen, daß (Zuruf von der CDU/CSU: 'Luja, soag i! — der Rio-Prozeß unendlich mühsam ist und eine welt- Heiterkeit) 686 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Dr. R. Werner Schuster — Richtig! Und es fehlt eigentlich nur noch die Erfolg so umwerfend, daß Sie sich einer kritischen I Aufforderung zum Kniefall vor dem heiligen Carl Bewertung nicht aussetzen wollen. Dieter. In dem Memorandum steht auch: Die NROs werfen der Bundesregierung vor, daß sie die soziale Wirklich- Vizepräsident Hans Klein: Keine Blasphemien, Herr keit weltweit nur unvollkommen wahrnimmt. Sind die Kollege! Unterzeichner wirklich alle nur Berufsnörgler? Da steht, daß von der Bundesregierung eine Soziale Dr. R. Werner Schuster (SPD): Das lag mir fern, Herr Marktwirtschaft eingefordert wird, und es wird vor Präsident. einer Lösung ausschließlich durch Deregulation, Pri- Ich war persönlich ein bißchen betroffen. Soviel vatisierung und Liberalisierung gewarnt. Alles über- selbstgefällige Naivität habe ich den Antragstellern flüssige Forderungen? eigentlich nicht zugetraut. Über die Provokation der Oder nehmen wir die Dokumentation in der „Frank- Überschrift ist schon viel gesagt worden. furter Rundschau", die Forderungen des Memoran- Herr Pinger, meine sehr verehrten Damen und dums. Es wird eine Politikkohärenz gefordert. Meinen Herren von der Regierungskoalition, Sie kennen doch Sie, das hätten die Unterzeichner aus Daffke gefor- sicher den UNDP - Report von 1994 zur menschlichen dert? Da wird ein Entwicklungskabinett gefordert. Entwicklung. Darin steht, daß eine Milliarde Men- Etwa, weil es überflüssig ist? Da wird mehr Effizienz in schen hungern, und es werden täglich mehr. Und Sie der Durchführung angemahnt, Herr Kollege. Völlig fordern uns auf „zu begrüßen" . Darin steht, daß ein grundlos? Fünftel der Menschen, nämlich auch eine Milliarde, mit einem Sechzigstel des Geldes auskommen, das Nein, ich glaube schon, wir brauchen ein neues dem oberen Fünftel zur Verfügung steht. Die Schere Entwicklungskonzept, und es kann nicht heißen: wird immer größer, und Sie fordern uns auf „zu Weiter so! Es gibt viele gute Gründe, über diese begrüßen" . Neuorientierung in Worten und Taten neu nachzu- denken. Darin steht, daß die Verschuldung sich von 1980 bis 1990 verdoppelt hat. Gestern haben wir gehört, daß es An diesem Punkt habe ich drei Empfehlungen, eine 1,8 Billionen Dollar sind. Und Sie erwarten von uns, an Sie, eine an meine Partei und eine an uns alle. An daß wir „begrüßen"! Sie, meine Damen und Herren von der Regierung, habe ich die Empfehlung: Der liebe Gott hat uns zwei Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schuster, Augen geschenkt; lassen Sie uns beide Augen benut- gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Pin- zen und nicht immer nur einäugig gucken, was der ger? - Süden machen muß! Der Süden muß seine Hausauf- gaben machen, und wir im Norden müssen sie Dr. R. Werner Schuster (SPD): Ja, bitte. machen. Beim beidäugigen Sehen hat man in der Regel mehr Chancen, die Wahrheit zu finden. Ich Dr. Winfried Pinger (CDU/CSU): Herr Dr. Schuster, empfehle auch mehr Bescheidenheit darin, was deut- würden Sie es, nachdem Sie mir und uns, was den sche Entwicklungspolitik leisten und nicht leisten Antrag angeht, eine etwas undifferenzierte Darstel- kann. lung vorgeworfen haben, nicht selbst als verfehlt An meine Partei habe ich die Empfehlung: Wir ansehen, wenn wir in dem Antrag begrüßen würden, müssen fair und redlich zugeben, auch wir hätten in daß Armut da ist und aufrechterhalten wurde? Meinen der Regierungsverantwortung einige Sachzwänge zu Sie nicht, daß das unangemessen wäre? respektieren, wenn auch zähneknirschend. Das dritte ist: Ich empfehle uns allen, Herr Kollege Dr. R. Werner Schuster (SPD): Ich komme später noch einmal auf das zu sprechen, was uns verbindet, Pinger, einen produktiven Streit um das Notwendige, Herr Pinger. Aber der Duktus Ihres Antrages ist eine um das Angemessene der Wege und darüber, wie wir selbstgefällige Dokumentation, wie erfolgreich wir es umsetzen. Ich bin sicher, meine Damen und Herren: Entwicklungspolitik gemacht haben, obwohl Sie und In den Zielen sind wir uns überwiegend einig. ich darin übereinstimmen, daß das Ergebnis leider (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Das stimmt anders ist. auch nicht immer!) In dem zitierten UNDP-Bericht steht, daß wir als — Überwiegend! Europäer zwanzigmal soviel Energie verschwenden wie die im Süden. Darin steht, daß wir den Urwald in Lassen Sie mich zum Schluß sechs therapeutische 40 Jahren um 50 % geschlachtet haben. Wo, meine Maßnahmen diskutieren, auf die wir uns gemeinsam Damen und Herren, ist eigentlich unser Modell einer verständigen sollten. Da ist zum einen die Frage der nachhaltigen Entwicklung in Europa? Trotzdem sol- Finanzierung und dieser ODA - Quote. Ich will einmal len wir die erfolgreiche Politik begrüßen. darauf hinweisen: Wir alle haben nach dem Ende des Ost-West-Konflikts versprochen, die Friedensdivi- Herr Kollege Pinger, Sie kennen das Papier, die dende den Menschen in der Dritten Welt zugute Stellungnahme der deutschen NROs zum Weltsozial- kommen zu lassen. gipfel. Es ist von so „revolutionären" Gruppen wie der Caritas und der Diakonie unterschrieben worden, und Ich möchte ein paar Zahlen nennen: Der Haushalt sogar die Konrad-Adenauer-Stiftung hat mitgezeich- des Bundesverteidigungsministers erreichte 1991 die net. In einem Satz dieses Papiers steht: Sie kritisieren absolute Höhe von 55 Milliarden DM und ist jetzt auf die Bundesregierung, daß sie als NROs zu dem Dialog 48 Milliarden DM gefallen. Die Friedensdividende nicht eingeladen worden sind. Offensichtlich ist Ihr betrug also in diesen vier Jahren 7 Milliarden DM. In Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 687

Dr. R. Werner Schuster der gleichen Zeit, Herr Minister Spranger, hat sich Ihr Fünftens, Herr Spranger, die Koordination der Haushalt um die 8 Milliarden DM eingependelt — bilateralen FZ, TZ, PZ vor Ort: Ich darf an die nicht viel mehr, nicht viel weniger. Schwerpunkte der UNDP erinnern. Dort wäre viel zu Das wäre doch ein Wort, wenn wir in unseren gestalten, wenn wir es nur gemeinsam wollten. eigenen Fraktionen dafür werben würden, daß wenig- Der sechste Punkt ist: Ich glaube, wir müssen uns stens die Hälfte dieser Friedensdividende, nämlich auch Nachhaltigkeit stärker angewöhnen. Wir brau- 3,5 Milliarden DM, schrittweise für den Einzelplan 23 chen eine trägerübergreifende Nachhaltigkeitsüber- zur Verfügung steht. prüfung, ob das, was wir beabsichtigen, auch wirklich Meine Damen und Herren, warum fehlen uns so ankommt. Diese kritische Rückkopplung ist über- 50 Millionen DM rechtzeitig in Ruanda für Prävention, fällig. aber nachträglich sind wir bereit, das Sechsfache zu Ein letzter Satz, Herr strenger Präsident: Frau Kol- bezahlen? Warum haben wir 400 Millionen DM für legin Eid, bis 1970 war die Maxime der Entwicklungs- Somalia, aber die Aufstockung der Baransätze ist nicht zusammenarbeit Barmherzigkeit und Charity. Nicht möglich? Von den 17 Milliarden des Golfkrieges ganz zuletzt durch Herrn Eppler ist in den Jahren 1970 bis zu schweigen! 1990 die Forderung nach mehr Gerechtigkeit, nach Zweite Maßnahme — ich will die Kohärenzdiskus- Justice, gekommen. sion nicht wieder im Detail führen; sie ist von meinem Ich glaube, das reicht heute nicht mehr. Wir reden Kollegen Hauchler, von Frau Eid und auch von dem heute um das Überleben von uns selbst. Meine Damen Kollegen aus der PDS geführt worden —: Warum und Herren, diesem Anspruch sollten wir gemeinsam suchen wir nicht den Streit mit Herrn Minister Bor- gerecht werden. chert, mit Herrn Minister Rexrodt, mit Herrn Waigel (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Herrn Kinkel sowie mit den Kollegen in den des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der entsprechenden Fachausschüssen, damit sie endlich PDS) verstehen, was das heißt: globale Sicherheit und Querschnittsaufgaben? Aber dann, Herr Minister, müßten Sie in Ihrem Ressort wahrscheinlich auch Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Alois Graf personell etwas ändern: weg von der Projektitis, mehr von Waldburg-Zeil, Sie haben das Wort. hin zu diesen Schwerpunktfragen. Das geht nicht von selber. Eine dritte Maßnahme: Wir Politiker sind alle „käuf- Alois Graf von Waldburg-Zeil (CDU/CSU): Herr lich" . - Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte den konstruktiven Streit um den besten (Zurufe von der SPD und der CDU/CSU: Weg in der Entwicklungspolitik auf einen Punkt Was?) zurückführen, bei dem wir bei den vorgelegten Anträ- — Lassen Sie mich ausformulieren. — Wir tun doch gen eigentlich einer Meinung waren. Das ist das nur das, was unsere Wähler von uns wollen. Wenn wir Prinzip der Subsidiarität, also der von unten her von unserer Basis keinen Dampf kriegen, in der gestuften Verantwortung. Ich darf es mit einem Satz Entwicklungspolitik mehr zu tun, dann ändert sich aus unserem Koalitionsantrag sagen: Es seien „die nichts. Also brauchen wir eine verstärkte Lobby. Wir produktiven Fähigkeiten der Armen in den Entwick- brauchen mehr Nichtregierungsorganisationen, wir lungsländern, die in der Regel die Mehrheit der brauchen mehr entwicklungspolitische Bildung, wir dortigen Bevölkerung stellen, zu entfalten". brauchen mehr in den Schulen, damit sich die Politiker Die ganz wesentliche Voraussetzung dafür, daß das endlich bewegen. Dann haben wir es leichter, unsere gelingen kann, ist die Förderung von Bildung und Funktion wahrzunehmen. Wissenschaft in der Entwicklungspolitik. Darauf (Dr. Ingomar Hauchler [SPD]: Er meint das möchte ich kurz zu sprechen kommen. politisch!) Das BMZ hat zur Förderung von Bildung und — Ich glaube, es war bei gutem Willen nicht mißzu- Wissenschaft in der Entwicklungszusammenarbeit verstehen. — Wir, meine Damen und Herren, hätten es Sektorkonzepte für die Grundbildung, die berufliche dann leichter, im gesamten Bundestag wahrgenom- Bildung und für die Hochschulen vorgelegt. Es ist sehr men zu werden. Das würde aber bedeuten, daß Sie Ihr lohnend, diese Sektorkonzepte durchzulesen. Heute Haus, Herr Minister Spranger, zuallererst einmal als wurde von Neuorientierung gesprochen; ich spreche Lobbyministerium für diese eine Welt verstehen, lieber von Modernisierung, weil man ja immer das inklusive entsprechender personeller Konsequen- Echo berücksichtigen und fragen muß, wie es denn zen. angekommen ist, um dann entscheiden zu können, wie man es besser macht. Diese Modernisierung können Sie aber in diesen drei Konzeptpapieren sehr Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Schuster, genau beobachten. für die restliche Therapie haben Sie nur noch andert- Ich möchte ein paar Punkte zu den drei Sektoren halb Minuten Zeit. ansprechen: Erstens ist die Förderung der Grundbil- dung in Entwicklungsländern die wichtigste Gelenk- stelle der Entwicklungspolitik überhaupt. Dr. R. Werner Schuster (SPD): Ich nenne den Punkt 4, die Änderung der multilateralen Hilfe. Auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge darüber haben wir viel diskutiert. Es stellt sich die ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ Frage: Wie beeinflussen wir das? DIE GRÜNEN) 688 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Alois Graf von Waldburg-Zeil Weltbankstudien zeigen, daß schon eine vierjährige nur für indianische Völker, sondern auch für afrikani- Schulbildung die Produktivität von kleinen landwirt- sche und asiatische taugt. schaftlichen Betrieben generell erhöht. Frauen mit Zweitens: Berufliche Bildung. In diesem Sektor mehr als vier Jahren Schulbildung haben ein Drittel läuft man in eine Sackgasse, wenn er nicht in die weniger Kinder als solche, die Analphabetinnen sind. jeweiligen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und Vorhin ist das Thema Bevölkerungswachstum ange- politischen Strukturen eingebettet ist. sprochen worden; ich glaube, hier liegt der eigentli- che Schlüssel. Obwohl natürlich auch qualifiziertes Personal für Betriebe benötigt wird, hat es keinen Sinn, einen (Dr. Ursula Eid-Simon [BÜNDNIS 90/DIE Standard deutscher Berufsbildungseinrichtungen GRÜNEN]: Das ist richtig! — Zustimmung — von der Kompatibilität des Systems einmal abgese- des Abg. Roland Kohn [F.D.P.]) hen — in Länder mit geringerem Entwicklungsstand Erhebliche Auswirkungen betreffen die Ernährung, zu übertragen. Selbst wenn man mit verlorenem die Gesundheit und die Wirtschaft. Vor allem aber Zuschuß ein prächtiges Berufsschulzentrum hinstellt: wird die Grundlage für die Entwicklung der schöpfe- Die Unterhaltskosten für einige Hundert Schüler ver- rischen und produktiven Fähigkeit und Fertigkeiten schlingen für das beschenkte Land die Möglichkeiten, der Bevölkerung und eben jedes einzelnen gelegt. für Hunderttausende etwas zu tun. Dem Hohenlied der Grundbildung folgt natürlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die ernüchternde Feststellung, daß zwar die Bildungs- Das heißt wir brauchen einfache Systeme der statistiken sich ständig und wesentlich verbessert Berufsbildung für handwerkliche Mittel-, Klein- und haben, daß diese Statistiken aber nur angeben, wie Kleinstunternehmer und vor allem für Menschen, die viele Kinder die Schule besuchen, ohne zu vermelden, weiterhin in der Subsistenzwirtschaft verbleiben. wieviele von ihnen die Schule bis zur letzten Klasse Besonders wichtig erscheint die Verzahnung mit der oder wenigstens nur vier Jahre besucht haben, um Grundbildung. Auf die Auswirkungen im landwirt- lesen und schreiben dauerhaft zu erlernen. UNESCO schaftlichen Bereich möchte ich nochmals ausdrück- Untersuchungen belegen, daß in den Ländern mit lich verweisen. dem geringsten Bruttosozialprodukt pro Kopf weniger als 60 % der ursprünglich eingeschulten Schüler die Drittens: Hochschulen. Vor 20 Jahren habe ich Schule bis zum vorgesehenen Ende besucht haben. Zu einmal die Fernuniversität in Pretoria besucht, weil deutsch: Man muß trotz der verbesserten Statistik mit diese damals eine der wenigen Möglichkeiten für hohen und höchsten Analphabetenraten rechnen. nichtweiße Studierende bot, sich akademisch auszu- - bilden. Ich war baß erstaunt über die Inskriptionsge- Zu den 100 Millionen schulpflichtigen Kindern, die biete: fast ausschließlich Geisteswissenschaften. jährlich keinen Zugang zur Primarschule finden, kommt ein Bestand von mehr als 900 Millionen Sicher ist mit Recht darauf hingewiesen worden, Jugendlichen und Erwachsenen über 15 Jahre, die daß es besser sei, akademische Ausbildung in Ent- entweder keine Primarschulbildung bekommen ha- wicklungsländern vornehmen zu können, um die ben oder durch nur kurzen oder abgebrochenen Abwanderung der besten Köpfe in hochindustriali- Besuch wieder Analphabeten geworden sind. sierte Staaten zu vermeiden. So richtig das Prinzip sein mag, so gehört dazu, daß man nicht überall Universi- Sie werden verstehen, daß mich deshalb ein Punkt täten nach europäischem Standard aus dem Boden im Grundbildungsbereich besonders interessiert: die stampfen kann; am notwendigsten wären praktische, nachträgliche Alphabetisierung. Auf der Suche nach verwertbare technische Kenntnisse auf Fachhoch- finanzierbaren Modellen, die diesem Übel abhelfen schulniveau. können, ist zweifellos das ergiebigste die sogenannte Radioschule. Ein entwicklungspolitisch besonders (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der interessantes Modell, auch von der Bundesregierung SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gefördert, ist die Erwachsenenbildung nach der Vielleicht wird es Sie wundern, aber ich warne ein Methode von Pater Tattenbach, wie sie in Costa Rica, wenig davor, den internationalen Austausch im Stu- Guatemala und Honduras betrieben wird. dium zu reduzieren. Gerade in menschenrechtlichen Erste Grundlage ist die Anknüpfung an den Lebens- Fragen erschließt sich das Verständnis der realen umständen der Betroffenen, also Angebot der Sen- Möglichkeiten des Gewaltmonopols des Staates bzw. dungen in der ursprünglichen Sprache, Aufbau der des Verzichtes auf Faustrecht nur in der ausdrückli- Lehrpläne nach den örtlichen Wertvorstellungen, chen Kulturbegegnung. Denkgewohnheiten und Lebenssituationen, Ergän- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) zung des „Maestro in Casa" durch aus der Bevölke- rung stammende Multiplikatoren, Organisation der In diesem Zusammenhang möchte ich — wie schon Sendungen in örtlicher Trägerschaft unter Mitwir- oft — darauf hinweisen, daß nach Wegfall fluchtverur- kung der Beteiligten. sachender Regime sehr oft die rückkehrenden Flücht- linge die besten Entwicklungshelfer sind. Dieses System hat dazu geführt, daß die sonst miserablen Abschlußraten, die wir in Radiobildung Lassen Sie mich abschließend noch auf ein Problem haben — d. h. also die Nutzung des Selbst-Mitma- hinweisen, daß dadurch entstanden ist, daß eigentlich chens am Bildungsprozeß —, von weit unter 20 Pro- bis zum Beginn der 90er Jahre die Bildung weitge- zent auf zwischen 80 und 85 % gestiegen sind. Der hend als nationale Kompetenz und eine aus eigener stärkste Faktor zum Gelingen ist die hohe Motivation nationaler Kraft zu bewältigende Aufgabe betrachtet der Lernenden. Ich bin sicher, daß das Modell nicht worden ist. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 689

Alois Graf von Waldburg-Zeil Auf der Weltkonferenz „Bildung für alle", die 1990 andere Gesellschaft, die ich für ebenso utopisch wie in Thailand stattfand, haben die Veranstalter Welt- notwendig halte. bank, UNESCO, UNICEF und UNDP auf die kritische Ich habe diese Position seit 1967 vertreten. Ich habe Lage der Grundbildung und auf die Notwendigkeit sie durch meine Engagements gegen den Einmarsch verstärkter Hilfe auch in der Entwicklungszusammen- der sowjetischen Truppen in Prag 1968 — damals im arbeit hingewiesen. Das darf dann natürlich keines- Rahmen des SDS — dokumentiert. Ich habe sie falls heißen, daß verstärktes internationales Engage- dokumentiert durch aktive Solidarität mit der demo- ment nationale Anstrengungen zugunsten z. B. über- kratischen Opposition der DDR, u. a. mit den Sängern mäßiger Ausgaben für das Militär und die allgemeine Pannach und Kunert, mit Rudolf Bahro und durch Verwaltung entlastet. meine aktive führende Teilnahme an dem westdeut- Nun sagt sich das leicht — z. B. für Burundi —: schen Komitee Solidarität mit Solidarnosc, zusammen „Reduziert euer Militär und setzt die freien Gelder für mit Lew Kopelew und Heinrich Böll. eine verbesserte Bildung der benachteiligten Hutu Ihre Attacke, Herr Spranger, läuft deswegen ins Kinder ein." Es ist ja dieses Militär, das in nun schon Leere — abgesehen davon, daß Sie, wenn ich tatsäch- mehrfachen Mordaktionen dafür gesorgt hat, daß lich früher die DDR-Regierung verteidigt hätte, gegen Hutus, die dennoch eine höhere Bildung erhalten das hohe C in ihrem Parteiwappen verstoßen, wenn haben, in einer unglaublichen Übersteigerung des Sie mir nicht die Möglichkeit zur Einsicht und Mei- Apartheidgedankens massakriert wurden. nungsänderung zubilligen, wie Sie dies gegenüber Bildungspolitik muß umgekehrt dazu eingesetzt Ihren Kolleginnen und Kollegen von den Blockpar- werden, deutlich zu machen, daß und wie man mit- teien tun, die in den Koalitionsfraktionen vertreten einander leben kann. Es gibt hier Ansätze, die man sind. fördern kann. Unsere politischen Stiftungen tun dies. Dies müssen wir weiterentwickeln. Es gibt Stiftungen Danke schön. in den betroffenen Ländern, z. B. Michael Kayoya in (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten Burundi. Hier wäre ein entscheidender Ansatz zu der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ lernen, daß mit dem Schießgewehr eingeräumte NEN) Überlegenheit nicht beibehalten werden muß, son- dern durch verwertbare Berufsbildung substituiert werden kann. Ich schließe die Aus- Entmilitarisierungsprogramme — gleich, ob für Vizepräsident Hans Klein: sprache. reguläre Armeen, Milizen oder Befreiungstruppen- — gehören auf einen ganz wichtigen Platz in einer Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags Entwicklungshilfekonzeption, deren Fundamente der Fraktionen der CDU/CSU und F.D.P. auf Druck- auch für die Zukunft tragen können. sache 13/233 und des Antrags der Fraktion BÜND- Ich bedanke mich. NIS 90/DIE GRÜNEN auf Drucksache 13/246 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und schlagen. Der Antrag der Fraktion der SPD auf Druck- der F.D.P.) sache 13/241 soll zur federführenden Beratung an den Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie zur Mitberatung an den Auswär- Vizepräsident Hans Klein: Zu einer Erklärung nach tigen Ausschuß, den Ausschuß für Umwelt, Natur- § 30 unserer Geschäftsordnung erteile ich dem Kolle- schutz und Reaktorsicherheit, den Ausschuß für die gen Dr. Winfried Wolf das Wort. Angelegenheiten der Europäischen Union, den Aus- schuß für Wirtschaft und an den Finanzausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? — Dr. Winfried Wolf (PDS): Herr Minister Spranger hat Dies ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Überwei- mich für 20 Jahre DDR-Entwicklungspolitik verant- sungen so beschlossen. wortlich gemacht. Ich stelle dazu zwei Sachen fest. Erstens. Nach dem Grundgesetz — wenn ich es Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b sowie richtig gelesen habe — sind die Abgeordneten allein den Zusatzpunkt 6 auf: ihrem Gewissen verpflichtet. Es gibt keine Kollektiv- haftung von Fraktionen und ähnlichem. 7. a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ersten Geset- (Zuruf von der CDU/CSU: Nachfolgepar zes zur Änderung des Altschuldenhilfe- tei!) Gesetzes (Erstes Altschuldenhilfe-Ände- Ich bitte deswegen auch, daß die einzelnen Mitglieder rungsgesetz — 1. AHÄndG) unserer Gruppe als solche wahrgenommen und ernst- — Drucksache 13/68 — genommen werden. Überweisungsvorschlag: (Zuruf von der CDU/CSU: Sie können sich Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau doch von Ihrer Gruppe distanzieren!) (federführend) Zweitens. Ich habe mich in meinem Beitrag sowohl Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO von den ehemaligen bürokratischen Systemen in b) Erste Beratung des von dem Abgeordneten Osteuropa und der DDR distanziert als auch gegen Klaus-Jürgen Warnick und den weiteren den übriggebliebenen Kapitalismus ausgesprochen. Abgeordneten der PDS eingebrachten Ich plädierte von diesem Standpunkt aus für eine Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Än- 690 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Vizepräsident Hans Klein derung des Altschuldenhilfe-Gesetzes (Er- Verschärfung der Situation der Wohnungsunterneh- stes Altschuldenhilfe-Änderungsgesetz — men zu verhindern. 1. AHÄndG) Unsere Novellierungsvorstöße wurden in der Folge — Drucksache 13/100 — mit Koalitionsmehrheit niedergestimmt. Der Unter- Überweisungsvorschlag: ausschuß „Privatisierung des Wohnungsbestandes in Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau den neuen Bundesländern" hat sich intensiv mit den (federführend) Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Erfahrungen der Wohnungsunternehmen und der Mieterinnen und Mieter bei der Umsetzung des Alt- ZP6 Erste Bratung des von der Abgeordneten Fran- schuldenhilfe-Gesetzes beschäftigt. Ich möchte an ziska Eichstädt-Bohlig und der Fraktion BÜND- dieser Stelle noch einmal allen Kolleginnen und NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs Kollegen aus allen Fraktionen und Gruppen für die eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Alt- engagierte Mitarbeit in diesem Unterausschuß dan- schuldenhilfe-Gesetzes ken. — Drucksache 13/230 — Wir haben uns im Unterausschuß unsere Meinung Überweisungsvorschlag: nicht am grünen Tisch, sondern vor Ort gebildet, und Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau (federführend) der Bericht des Unterausschusses faßt unsere Erfah- Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO rungen und unsere Kritikpunkte am Altschuldenhilfe- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Gesetz zusammen. Die Befürchtungen und Kritiken die gemeinsame Aussprache eineinhalb Stunden vor- meiner Fraktion wurden von den Vertretern der gesehen, wobei die PDS zehn Minuten erhalten soll. Wohnungswirtschaft und auch von den Mieterverbän- Besteht auch damit Einverständnis? — Es erhebt sich den bestätigt. Deshalb bringen wir erneut einen kein Widerspruch. Dann ist auch dies so beschlos- Gesetzentwurf zur Novellierung des Altschulden- sen. hilfe-Gesetzes ein. Wir brauchen endlich ein Altschul- denhilfe-Gesetz, das bei Mietern und bei der Woh- Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin nungswirtschaft Sicherheit statt Unsicherheit Iris Gleicke das Wort. schafft. (Beifall bei der SPD und der PDS) Iris Gleicke (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nicht zum erstenmal Nehmen wir die progressiv gestaffelte Abführung debattieren wir hier über die Altschulden der- Woh- an den Erblastenfonds. Durch sie entsteht ein unge- nungswirtschaft in den neuen Bundesländern. Wäh- heurer Privatisierungsdruck auf die Mieter und auf die rend in anderen Wirtschaftsbereichen den Westinve- Wohnungswirtschaft. Eine umfassende Information storen nicht nur ganze Industriezweige für eine Mark und Beratung der Mieter, wie sie der Zentralverband geschenkt und dann auch noch auf Kosten des Haus und Grund und der Gesamtverband der Woh- Steuerzahlers entschuldet wurden, war die Bundesre- nungswirtschaft fordern, ist dabei meist nicht gewähr- gierung zu den ostdeutschen Wohnungsunternehmen leistet. Das führt zu Angst und Unsicherheit bei den lange nicht so großzügig, obwohl viele Gutachter, betroffenen Mietern. Diesen Zeitdruck wollen wir unter ihnen auch der CDU-Rechtsexperte Rupert durch eine lineare Erlösabführung mindern. Scholz, die Ansicht vertraten, daß es sich bei diesen Nehmen wir die im Altschuldenhilfe-Gesetz festge- Schulden nicht um Schulden im marktwirtschaftli- legte Pauschale von 15 % des zu privatisierenden chen Sinne handelte. Durch das später eingeführte Wohnungsbestandes. Sie nimmt keinerlei Rücksicht Zinsmoratorium hat sich der Schuldenberg der Woh- darauf, ob die Wohnungen des Unternehmens in nungswirtschaft fast verdoppelt. Berlin-Marzahn oder an einem See in Mecklenburg Das Altschuldenhilfe-Gesetz kam erst im Rahmen Vorpommern liegen. Gefragt wird nicht danach, ob es des Solidarpaktes zustande, der als Paket in kürzester sich vorwiegend um große Plattenbauten, wie in Zeit durch die parlamentarischen Gremien gepeitscht Halle-Neustadt, oder um einen kleinteiligen Bestand wurde. In den unter größtem Zeitdruck stattfindenden mit kleinen Blocks und Einfamilienhäusern in einer Ausschußberatungen zum Altschuldenhilfe-Gesetz ländlichen Region handelt. Es interessiert nicht, ob die hat meine Fraktion einige Änderungsanträge einge- Mieterstruktur im Unternehmen durch hohe Arbeits- bracht. losigkeit oder Rentnerhaushalte gekennzeichnet ist. Es ging um die gestaffelte Erlösabführung an den Von all diesen Faktoren hängt es jedoch ab, wieviel Erblastenfonds, um die Befreiung der Genossenschaf- Wohnungen denn wirklich privatisiert werden kön- ten von der Privatisierungspflicht und die überhaupt nen. Der Verband Haus und Grund hat hierzu gesagt, nicht vorhandene Differenzierung der Wohnungsun- daß man Mietern aus finanziellen und wirtschaftli- ternehmen nach Bestandsstruktur, nach Mieterstruk- chen Gründen häufig nicht empfehlen könne, Woh- tur oder auch nach regionalen Besonderheiten. All das nungen in Großsiedlungen zu kaufen. waren und sind wichtige Voraussetzungen für die Herr Minister, meine Damen und Herren, ich will Akzeptanz und Umsetzung der Mieterprivatisierung Ihnen sagen, worin die grundlegende Schwäche des nach diesem Gesetz. bestehenden Gesetzes liegt: Es ist mit ziemlich heißer Die Koalition hat sich damals unseren Argumenten Nadel, in weitgehender Unkenntnis der Situation der verschlossen. Mit unserer Zustimmung haben wir in Menschen in den neuen Bundesländern und unter den sauren Apfel beißen müssen, denn es galt, wich- rein fiskalischen Gesichtspunkten zusammenge- tige Regelungen in Gang zu setzen, um eine weitere strickt worden. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 691

Iris Gleicke Welche finanziellen Klimmzüge soll denn ein Rent- Genossenschaften als Privatisierung anerkannt wer- nerehepaar machen, um die Wohnung, in der es seit den. Hier können auch die Mieterinnen und Mieter 30 Jahren wohnt, zu kaufen? Wie sollen 15 % eines Eigentum bilden, die aus den genannten Gründen Wohnungsbestandes privatisiert werden, in dem 30 % überhaupt nicht in der Lage oder bereit sind, einen der Mieter arbeitslos sind? Welche Bank gibt denn vollen Kaufpreis für eine Wohnung aufzubringen. Mit Arbeitslosen, Vorruheständlern oder Rentnern Kre- einem Genossenschaftsanteil können sie sich an dite für den Wohnungserwerb — vom fehlenden einem Wohnungspool beteiligen und Wohnrechte Eigenkapital einmal ganz abgesehen? Sie wissen erwerben. ebenso gut wie ich, daß es mit dem Kauf allein nicht Dieser Auffassung schließen sich wiederum der getan ist. Zentralverband Haus und Grund und auch der Wir wenden uns nicht wie die PDS aus ideologi- Gesamtverband der Wohnungswirtschaft an. schen Gründen gegen jede Form der Privatisierung. Kurz vor der Bundestagswahl schien Bewegung in Wir möchten vielen Menschen helfen, Wohneigentum diese Frage gekommen zu sein. Die damalige Mini- zu bilden. Das geht aber nicht mit der Brechstange. sterin hatte sich zwar immer mit Zähnen und Klauen Die Entscheidung für das Eigentum will von den dagegen gewehrt, aber der öffentliche Druck der Betroffenen sorgfältig bedacht sein. Sie darf nicht aus Wohnungswirtschaft wie auch der Mieter hat diesen Angst und unter Zeitdruck getroffen werden. scheinbaren Schwenk hervorgerufen. Die von uns vorgelegte Novelle fordert deshalb die Überprüfung eines Privatisierungszwanges, der wie Verfolgt man jedoch die Diskussion im Lenkungs- ein Rasenmäher über die höchst unterschiedlichen ausschuß und die Äußerungen des neuen Baumini- Bedingungen der Wohnungsgesellschaften in den sters, dann könnte man den Eindruck gewinnen, als neuen Bundesländern hinwegfährt und die Mieterin- solle hier ein Etikettenschwindel betrieben werden. teressen zu wenig berücksichtigt. Ziel dieses fälschlicherweise als Genossenschaftsmo- dell bezeichneten Vorhabens soll es nämlich sein, das Es geht aber nicht nur um die berechtigten Interes- genossenschaftliche Wohneigentum innerhalb weni- sen der Mieter, sondern auch um die Handlungsfähig- ger Jahre in individuelles Wohneigentum umzuwan- keit der Wohnungswirtschaft. Der Gesamtverband der deln. Mitglieder und Mieter eines Objekts sollen nicht Wohnungswirtschaft führt aus, daß eine 15%ige Pri- nur das Recht erhalten, dieses Objekt in Wohneigen vatisierungspflicht für kleine Wohnungsunternehmen tum umzuwandeln, sondern auch das Recht, ihre deren langfristiges wirtschaftliches Überleben in Wohnungen an Dritte verkaufen zu können. Frage stellt. Schließlich müssen auch sie umfassende Privatisierungskonzepte erstellen, was einen- erhebli- Diese Konstruktion steht in offensichtlichem Wider- chen Personalaufwand erfordert. Und ob ein Woh- spruch zu § 1 des Genossenschaftsgesetzes. Wie soll nungsunternehmen mit weniger als 400 Wohneinhei- denn eine Genossenschaft wirtschaftlich arbeiten, ten überhaupt lebensfähig ist, erscheint ausgespro- wenn sie durch Beschluß von Mitgliedern eines Teils chen fraglich. ihres Bestandes beraubt werden kann? Deshalb fordern wir eine Bagatellgrenze, die solche (Beifall bei der SPD) Wohnungsunternehmen von der Privatisierungs- Wer die Genossenschaften zu einem Durchlaufer- pflicht befreit. hitzer für individuelles Wohneigentum machen will, Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, legt eine Lunte an den Genossenschaftsgedanken, der sollten sich der Frage stellen, ob das Linsengericht von der gemeinsamen Verantwortung für das gemein- eines finanziellen Gewinns für den Erblastentilgungs- schaftliche Eigentum ausgeht. Damit wäre auch nicht fonds durch die Abführung der Gewinnerlöse aus der jenen Rechnung getragen, die nicht das Geld für eine Privatisierung einer Handvoll Wohneinheiten die eigene Wohnung aufbringen können, wohl aber mit wirtschaftliche Gefährdung solcher kleinen Woh- einem Genossenschaftsanteil ihren Vermögensanteil nungsunternehmen rechtfertigt. Zum einen sind diese der Wohnungsversorgung zur Verfügung stellen wol- oftmals der Garant für eine qualitativ hochwertige len. Ich kann Sie nur auffordern, sich von diesem Wohnungsversorgung, zum anderen hat das auch Modell zu verabschieden. etwas mit einer verantwortlichen Politik für mittel- ständische Unternehmen zu tun, die Sie in Ihren Ähnlich verhält es sich mit dem Problem von Zwi- Programmen an anderer Stelle so wortreich einfor- schenerwerbermodellen. Sie sind mit äußerster Vor- dern. Ich bitte Sie dringend, sich in dieser Frage zu sicht zu betrachten. Wir schließen sie im Gegensatz bewegen. zum BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN jedoch nicht voll- ständig aus. Statt dessen wollen wir einige unverzicht- Daß auch Genossenschaften durch dieses Gesetz bare Rahmenbedingungen gesetzlich fixieren. Genau mit der Privatisierungspflicht belegt werden, ist eben- das sieht unser Gesetzentwurf vor, mit dem die falls ein entscheidender Kritikpunkt. Die Anhörung vertragliche Absicherung der Mieter festgeschrieben unseres Ausschusses im Mai 1994 hat deutlich wird. gemacht, daß genossenschaftliches Eigentum kein Eigentum zweiter Klasse darstellt. Deshalb ist eine Ein solches Modell kann durchaus eine Hilfe für die Veräußerung an Dritte mehr als fraglich. Der Verkauf Wohnungswirtschaft sein, denn diese wird von den muß auf die Mitglieder beschränkt bleiben. Kosten bei der Erstellung von Sanierungsplänen ent- lastet. Die Mitarbeiter können sich der eigentlichen (Beifall bei der SPD) Arbeit eines Wohnungsunternehmens widmen, und Genossenschaftseigentum ist vollwertiges Eigen da gibt es ja wahrlich genug zu tun. Die Privatisierung tum. Deshalb müssen Neu- und Ausgründungen von zugunsten der Mieter kann ohne Zeitdruck mit der 692 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Iris Gleicke nötigen Beratung und Abwägung erfolgen, und dieje- Insofern ist es ein gutes Zeichen, daß dieses Thema nigen, die nicht erwerben wollen oder können, sind in der neuen Wahlperiode schon in der ersten Plenar- vertraglich abgesichert. woche, die sich mit allgemeinen Themen befaßt, auf Meine Damen und Herren, ich bitte Sie darum, der Tagesordnung steht. Ich glaube auch, daß wir in unsere Vorschläge unvoreingenommen zu prüfen. der Lage sind, den Anforderungen gerecht zu werden, Lassen Sie uns im Ausschuß über die notwendigen auch wenn die Ansätze der Opposition teilweise Änderungen schnellstens diskutieren und zu einem andere sein werden als unsere. Aber hier geht es nicht konstruktiven Ergebnis im Sinne aller Betroffenen darum, Recht zu behalten oder Recht zu bekommen, kommen. Es ist auch langsam an der Zeit. sondern darum, daß wir für die Bürger in den neuen Bundesländern akzeptable Lösungen auf den Tisch Schönen Dank. legen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Ich bin der Auffassung, daß wir in unserer Bonner Verantwortung den Spielraum des Gesetzes zur Pri- vatisierung ausnutzen und die geforderte Erweite- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege rung endgültig auf den Weg bringen müssen, ohne im Rolf Rau. Moment eine gesetzliche Änderung vorzunehmen. Dabei geht es um folgende Punkte: Erstens. Ich möchte deutlich unterstreichen, daß die Rolf Rau (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Fraktion der CDU/CSU für die Anerkennung von Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Zwischenerwerbermodellen ist. Diese sollten natür- Durchsetzung des Altschuldenhilfe-Gesetzes in Ver- -lich auf solide Füße gestellt werden, d. h. Sicherungs bindung mit der Maßgabe zur Veräußerung und der und Kontrollmechanismen müssen vorhanden sein, Privatisierung tangieren wir den Einigungsvertrag um dem Zwischenerwerber den Weg bis hin zur und lassen dabei Art. 22 Abs. 4 unberührt. möglichen Endveräußerung an interessierte Mieter Liebe Kollegin Gleicke, wir müssen einräumen, daß zum späteren Zeitpunkt zu bereiten. Ich hielte es in Privatisierung und Veräußerung tatsächlich zwei Paar diesem Zusammenhang auch für möglich, daß die Schuhe sind. Es ist auch bekannt, daß Genossenschaf- bisherigen Gesellschaften oder Genossenschaften ten aus wirtschaftlichen Erwägungen heraus selber diesen Prozeß im Wege einer Mindermitgliedschaft, Wohnungen veräußern, um wieder aktiv investieren höchstens bis zu einer Beteiligung von 26 %, bis zum zu können. - Jahre 2003, also bis zum Abschluß der Erfüllung des Erblastentilgungsfonds, begleiten. Das hätte den Vor- (Iris Gleicke [SPD]: Weiß ich!) teil, daß unmittelbar finanzielle Mittel frei werden, Ich bitte, das mit zu beachten. Modernisierung und Sanierung losgehen können und Nachdem wir in der vergangenen Legislaturperiode der Prozeß der Modernisierung und Privatisierung gut schon umfangreiche Arbeit zur Umsetzung des Alt- und überschaubar begleitet werden kann. Hierbei schuldenhilfe-Gesetzes geleistet haben, möchte ich sollte auch an Vertragsstrafenmodalitäten bei Fehllei- noch einmal unterstreichen, daß die Privatisierung stungen gedacht sein, damit mit den Möglichkeiten nicht in Frage gestellt werden kann, weil sonst den der Zwischenerwerbung kein Schindluder getrieben Bürgern der neuen Bundesländer die Möglichkeit werden kann. genommen wäre, eigenes Kapital einzusetzen und Zweitens. Ich könnte mir vorstellen — diesen Punkt durch Wertschöpfung zu vermehren. sehe ich als sächsischer Abgeordneter als erforderlich Ich denke, wir als Abgeordnete sind verpflichtet, an; zudem haben wir in Sachsen schon Gespräche gerade hier Ausgleichsregelungen — diese sind darüber, was wir möchten, vorbereitet —, daß wir machbar — auf den Weg zu bringen, unabhängig auch bei Finanzierung im Rahmen von Fonds eine davon, daß die Bauarbeiter aus der Region, ob im Veräußerung oder Privatisierung anerkennen. In Handwerk oder in der Bauindustrie, gesicherte diese Fonds könnten Mieter über einen längeren Arbeitsplätze in der Region des Wohnungsbestandes Zeitraum ihre finanzielle Leistungsfähigkeit einbrin- bekommen. Angst und Zeitdruck sind nicht von den gen, um so eine Form der Privatisierung zu erreichen. Mietern ausgegangen, sondern sind Zeichen dafür, Dies könnte auch im Wege anderer Vor- oder Anspar- daß Gesellschaften oder Genossenschaften zu lange modelle, über die noch nachzudenken ist, geschehen. in den Startlöchern hängengeblieben sind. Auch hier Warum sollen ostdeutsche Bürger bei entsprechenden müssen wir beide Seiten abwägen; denn wir haben es Möglichkeiten nicht die gleichen Chancen erhalten selber beobachtet: Es gibt beide Seiten der wie die Bürger in den alten Ländern? Medaille. Drittens. Es ist für mich keine Frage, daß Erwerber Nun ist es aber auch nicht verwunderlich, daß ein gesellschaften im Rahmen des bürgerlichen Rechts Gesetz auch Kritik an sich zieht, wenn es auf den Weg Wohnungen in Gemeinschaft erwerben können, gebracht wird — zumal es für meine Begriffe zu eng wobei ich hier natürlich auch deutlich machen ausgelegt wird und bisher im Lenkungsausschuß die möchte, daß es im Zusammenhang mit diesen Gesell- geforderte Bewegung nicht erfolgt ist. Wichtig ist, daß schaften Schwierigkeiten geben kann, wenn Einzel- die Erkenntnisse, die wir ja bereits im Sommer hatten, ausfälle auftreten. Insofern ist es nur eine Variante, die nicht zu einer weiteren Verzögerung führen und das man nicht vordergründig suchen muß, die aber im Gesetz zum jetzigen Zeitpunkt schnellstmöglich auf Rahmen der Gesamtpalette der Privatisierung nicht den Weg gebracht werden kann. auszuschließen ist. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 693

Rolf Rau Viertens. Eine neue Qualität schlage ich bei der bessert sind und somit auch den Gesellschaften und Erreichung der Anerkennung von genossenschaftli- Genossenschaften die Chance erhalten werden muß, chen Kaufmöglichkeiten vor. Bei Neugründungen die Abführung zum Erblastentilgungsfonds für das von Genossenschaften sollten die Satzungen so aus- Jahr 1995 bei 30 % und 1996 bei 40 % zu belassen, um gestaltet sein, daß gegebenenfalls Umwandlungen in nicht in die Hürden der Jahre 1997 und 1998 von 60 bis Privateigentum zu einem späteren Zeitpunkt erstens 80 % hineinspringen zu müssen. möglich sind und zweitens die Eigenfinanzierungsan- Zielsetzung unserer Wohnungsbaupolitik ist es, teile beim Erwerb in einer Größenordnung von 8 000 eine Wohnungspalette auf den Markt zu bringen, die bis 10 000 DM liegen sollten. Das beziehe ich auf eine in Menge, Ausstattung, Größe und Preis für jede Wohnfläche von etwa 60 qm. Somit wäre eine solche Familie, besser: für jeden Bürger eine Auswahl bereit- Genossenschaft auch kreditwürdig. In diesem Rah- hält. So verstehe ich auch die heute auf den Weg zu men ist eine spätere Modernisierung und Sanierung bringenden erforderlichen und erweiterten Möglich- durch das dann vorhandene Eigenkapital gewährlei- keiten der Privatisierung. Wenn der entstehende stet. Wohnungsmarkt in den neuen Bundesländern ausrei- Es ist des weiteren aus meiner Sicht wichtig und chende Angebote hat, wird auch der Kostenexplosion erforderlich, daß man in der Satzung oder in anderen ein Dämpfer aufgesetzt. Dabei gehört es auch zur Rechtsformen deutlich macht, daß die eingegebenen Wahrheit, daß nicht jeder eine Eigentumswohnung Mittel durch Besitzermodelle eine Form der Wert- kaufen oder ein Häuschen bauen kann. Deshalb ist es schöpfung erreichen, so daß im Veräußerungsfall auch aus meiner Sicht besonders wichtig, an die nicht nur der Genossenschaftsanteil als der einge- Plattenbausanierung und -modernisierung äußerst zahlte Anteil refinanziert wird, sondern der Genossen- sorgfältig in unterschiedlichsten Stufen und Zeiträu- schaftler auch im Rahmen der Wertschöpfung im men heranzugehen. Besonders sollte man eine Form späteren Verkaufsfalle diese Leistung erhält. des geförderten Wohnungsbaus im Sinne der Sozial- Hier wäre es erstrebenswert — dies sollte in den wohnungen neben der Privatisierung ins Auge fassen. nächsten Tagen und Wochen noch diskutiert werden, Das heißt, auch der alte Plattenbau sollte in diesem bevor wir zu einer endgültigen Fassung kommen —, Zusammenhang eine neue Qualität erreichen. Die daß die Genossenschaftswohnungen in dieser neuen Wohnungspalette sollte die vorhandene Altbausub- Form handelbar und gleichzeitig auch förderbar sein stanz umfassen, von sanierten bis zu modernisierten sollten. Dies ist für meine Begriffe eine neue Qualität, Wohnungen reichen — dabei sollte es sich um die über die wir diskutieren müssen. unterschiedlichsten Eigentumsformen handeln kön- nen —, von insbesondere im Bereich der Plattenbau- Wenn ich diese vier Handlungsmöglichkeiten ein- ten kernsanierten und modernisierten Wohnungen für bringe und sie in dieser Form realisiert werden, so sind gehobene Ansprüche bis hin zu Sozialwohnungen im damit eine ganze Reihe von Punkten abgehakt, die Neubau, von der Eigentumswohnung bis hin zum auch bei den Kollegen der SPD mit zum Teil anderen Reihenhaus und Eigenheim. Dies zu erreichen sollte Voraussetzungen auf dem Vorschlagszettel stehen unser Bemühen beflügeln. und sich mit Erkenntnissen decken, die wir im Unter- ausschuß gesammelt haben und die meiner Ansicht Völlig unberücksichtigt lasse ich heute das Problem nach der Realität Rechnung tragen. der Gesellschaftsbauten und deren Refinanzierung Die Leistungen dieses Gesamtpakets könnten durch die Kommunen und die im Privatisierungs- und erbracht werden, ohne eine Gesetzesänderung vorzu- Modernisierungszusammenhang erforderliche städ- nehmen. Es wäre vielmehr eine Umsetzung im Rah- tebauliche Infrastrukturveränderung. men des Altschuldenhilfe-Gesetzes bei einer der Wenn wir in den von mir vorgetragenen Formen neuen Auslegungen möglich. Privatisierung anerkennen, dann ist nicht immer In diesem Zusammenhang sehe ich aber noch davon auszugehen, daß die Größenordnung einer weitere Punkte, die es anzusprechen gilt. Wenn wir neuen Wohnungsgesellschaft, egal welcher Form, das Altschuldenhilfe-Gesetz und die von mir genann- sofort über 500 WE sp ringt. Hier erkenne ich gerade in ten Positionen in Einklang bringen, dann kann ich mir dem Antrag der SPD einen Widerspruch zu der auch vorstellen, daß wir die Erblastentilgungsfonds- Chance zur Privatisierung auch in kleineren Woh- abführung nicht verändern müssen. Wenn wir hier ins nungsgesellschaften oder -genossenschaften, die wir Gesetz schauen und zu einem Mittelwert kommen, den Mietern einräumen müssen. Unabhängig davon würden wir möglicherweise für diejenigen, die sich bin ich der Auffassung, daß man die Frage prüfen jetzt ein Jahr und länger damit beschäftigen, die 20 muß, wo in solchen Gesellschaften die Rentabilitäts- aber nicht erreicht haben, für die Jahre 1995 oder 1996 schwelle liegt, damit wir auch hier eine konstante höhere Hürden aufbauen, als sie sie in diesen zwei wohnungswirtschaftliche Qualität gewährleisten kön- Jahren überwinden könnten. nen. Es ist nicht vom Bund zu vertreten, daß die Staffe- Lassen Sie mich zum Schluß meines Beitrags noch lung aufgekommen ist, sondern dies war seinerzeit auf zwei Gedanken eingehen. Meiner Ansicht nach der Wunsch der Länder. Ich bin der Auffassung, daß darf man bei dem heutigen Stand der Umsetzung des wir auch hier etwas mehr Ruhe in den Bereich Altschuldenhilfe-Gesetzes im Rahmen der Privatisie- hineingebracht hätten, wenn es eine lineare Abfüh- rung und der damit verbundenen Modernisierung rung gegeben hätte, die aber mit einem höheren eine Fördermöglichkeit nicht mehr außer acht lassen. Durchschnittswert belegt wäre. Heute will ich jedoch Ich möchte heute in diesem Zusammenhang anregen, davon ausgehen, daß die Möglichkeiten bei der daß, wie es ähnlich schon vor Jahren möglich war, die erweiterten Palette zur Privatisierung erheblich ver- Privatisierungshilfe durch eine direkte Förderung 694 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Rolf Rau begleitet wird und somit ,auch die Modernisierung Das ist eigentlich schon aberwitzig; ich denke, darauf einen neuen Schwung erhält. Um die finanzielle muß man immer wieder sehr deutlich hinweisen. Schraube, die eng gezogen ist, nicht weiterdrehen zu Gerade die betroffenen Mieter im Osten verstehen das müssen, sollte gleichzeitig darüber nachgedacht wer- nach wie vor nicht. den, ob nicht im Interesse der Mieterprivatisierung, verbunden mit einer Modernisierung, der Anteil der Dennoch, denke ich, ist es heute unsere Aufgabe, Sonderabschreibung bei Fremdnutzung, der für die die inzwischen entstandenen Fakten anzuerkennen neuen Bundesländer zur Zeit bei 50 % liegt, ab 1997 und uns mit dem Status quo auseinanderzusetzen. Es halbiert und mit der Förderung bei Eigennutz kompa- ist so, daß inzwischen 85 % der betroffenen Woh- tibel gemacht werden sollte. nungsunternehmen einen Antrag gemäß dem Alt- Ich glaube, damit würde mehr Gerechtigkeit gegen- schuldenhilfe-Gesetz gestellt haben, und zwar für über den Bürgern der neuen Bundesländer erreicht, 95 % der Wohnungen. Insofern ist die Geschichte da sie auf Grund der Einkommenslage mit Abschrei- gelaufen. Wir können da nicht mehr zurück. bungsmodellen noch nicht so viel anfangen können Der zweite Punkt, der am bestehenden Altschul- wie mit der direkten Förderung. Differenzierte Lösun- denhilfe-Gesetz wirklich sehr problematisch ist, ist gen, die die persönlichen Einkommensverhältnisse eine Art Nötigung zum Individualeigentum, und zwar oder die regionalen Zuordnungen beinhalten, könn- wirklich völlig einseitig. Im Gesetz heißt es: vorrangig ten dabei mit bewertet werden. zur Bildung von Einzeleigentum an die Mieter zu Weiterhin möchte ich, obwohl es von einem Bun- veräußern. — De facto ist daraus aber eine Art Zwang destagsabgeordneten nicht gern gehört wird, sagen, geworden, der die Mieter enorm unter Druck setzt. daß die Forderung der ostddeutschen Lohnpolitik, im Bauwesen in den Monaten April und September die Der dritte Punkt, auf den ich hinweisen will, auch Angleichung an den Westlohn in zwei Stufen umzu- wenn er heute Geschichte ist — aber daran sieht man, setzen, aus meiner Sicht ein falsches Zeichen ist. Es ist wie Gesetze gemacht werden und was für Probleme ein falsches Zeichen für die Baubetriebe der neuen sie auslösen —: Das Gesetz hat bereits 1993 großen Bundesländer und auch für die Preisentwicklung im Schaden verursacht, als quasi in so einer Art Winter- Wohnungsbau. Dies würde dem widersprechen, was schlußverkauf Tausende von Wohnungen an west- wir hier mühevoll andiskutieren und was noch viel deutsche — jetzt sage ich es einmal ganz deutlich — deutlicher wird, wenn wir in den nächsten Tagen und Immobilienhaie verkauft wurden. Wochen über die Mietentwicklung, über Wohngeld oder über die Anpassung zum Vergleichsmietensy- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, stem reden werden. Ich erwarte hier von den- Tarif- der SPD und der PDS) partnern äußerste Zurückhaltung und somit kluges Daß innerhalb von vier Wochen die alte Stalinallee mit Augenmaß im Interesse der wirtschaftlichen Entwick- 2 700 Wohnungen geradezu verschachert wurde, lung in den neuen Bundesländern, aber auch im halte ich für einen wohnungs- und baupolitischen Interesse der Menschen, die mit den Produkten der Skandal erster Ordnung. Das kann man nicht genü- Bauindustrie und des Bauhandwerks umgehen müs- gend betonen. Wenn Gesetze so schlecht gemacht sen. werden, soll man sich nicht wundern, wenn es zu Vielen Dank. solchen Ergebnissen kommt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS — Dr. Klaus Röhl Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat die Kollegin [F.D.P.]: Wer saß denn in diesen Vorständen? Franziska Eichstädt-Bohlig. Wer war denn da Bürgermeister?)

Franziska Eichstädt - Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE — Das ist eine spezielle Geschichte. In Berlin waren, GRÜNEN): Herr Präsident! Meine Damen und Her- wenn Sie es wissen wollen, die CDU und die SPD aktiv ren! Als erstes muß ich feststellen — ich sage das beteiligt. Das muß man ganz deutlich sagen, da gibt es besonders kritisch im Hinblick auf meine eigene öfter große Koalitionen. Fraktion —, daß diese harten Ostthemen in diesem Hause doch offenbar relativ wenig Interesse finden Jetzt komme ich auf das nächste Problem und zu und man viele leere blaue Stühle sieht. dem, was mir heute Sorge macht. Aktuell ist es so — Herr Minister Töpfer hat es schon mit einer Pres- (Zuruf von der PDS: Aber wir sind da! — seerklärung angekündigt —, daß die nächste Stufe für Gegenruf der Abg. Hannelore Rönsch [Wies das Modell Zwischenerwerber geöffnet werden soll. baden] [CDU/CSU]: Tragen Sie zur Lösung Das ist auch der Vorschlag der SPD. Ich muß sagen, er bei!) macht mir sehr, sehr große Sorge, denn er wird auf Nun zum Inhalt: Wir haben einen Novellierungsvor- etwas Ähnliches hinauslaufen, was es in Berlin 1993 schlag zum Altschuldenhilfe-Gesetz eingebracht. mit den Folgen bis heute gegeben hat. Es gibt nämlich Man muß aber schon noch einmal darauf hinweisen, keine bewohnerorientierten Zwischenerwerber. Ich daß es grundsätzlich ein wirklich sehr schlitzohriges möchte Ihnen Bericht über das erste Zwischenerwer- Gesetz war, das 1993 mit dem Solidarpakt eingeführt bermodell, das es gibt, erstatten. In Berlin wurden wurde; denn im Endeffekt mußten die betroffenen Ende 1993 in Treptow 600 Wohnungen an die hanno- Wohnungsunternehmen erst einmal die Schulden versche ALLWO ausdrücklich mit einem Zwischener- schriftlich anerkennen, für die sie dann die Entlastung werbervertrag veräußert. Von diesen 600 Wohnungen und die Zins- und Tilgungshilfe beantragen durften. sind zwischenzeitlich 216 Wohnungen in Eigentum Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 695

Franziska Eichstädt-Bohlig umgewandelt und den Mieterinnen und Mietern zum gemeinschaftlichen Erwerb eröffnet werden und daß Kauf angeboten worden. dieser gleichberechtigt neben dem Individualerwerb steht. Das heißt Aufbau und Bildung von neuen (Zuruf von der CDU/CSU: Die ALLWO ist ein Genossenschaften; das heißt aber auch Erwerb durch Ableger von der Neuen Heimat!) Selbstverwaltungsvereine, die Hausgemeinschaften — Was auch immer. — 210 Wohnungen sind inzwi- bilden, oder auch durch Gesellschaften bürgerlichen schen verkauft worden, davon ganze 4 an die Mieter, Rechts. Man sollte das Spektrum der Erwerbsmöglich- alle anderen an überwiegend westdeutsche Kapital- keiten öffnen und nicht ständig dogmatisch auf das anleger. Da die ALLWO aus Niedersachsen und Individualeigentum und auf die Eigentumswohnung Hannover kommt, sind es überwiegend niedersächsi- schielen. Das kann nicht die einzige Form von Privat- sche Kapitalanleger. Das ist das Modell Zwischener- eigentum für die Nutzer sein. Es gibt viel mehr; das werber, das im Endeffekt Vermögenstransfer von Ost sollte man aktivieren. nach West heißt. Das ist in den letzten vier Jahren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN intensiv betrieben worden. Ich bitte Sie alle — die sowie bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU auf der einen Seite und die SPD auf der PDS) anderen Seite — sehr eindringlich: Das darf nicht weiter vorkommen. Ich bitte Sie, sehr, sehr ernst Ansonsten möchte ich noch folgendes sagen: Wir darüber nachzudenken, daß das nicht so weiter- stellen uns nicht gegen die Individualprivatisierung. geht. Da, wo Mieter sie wollen, sollen sie es machen dürfen. Wir wollen in dieser Beziehung nicht päpstlicher sein (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als der Papst, aber wir wollen auf keinen Fall, daß in und der PDS sowie bei Abgeordneten der dieser Richtung Zwang ausgeübt wird. SPD) Damit das Problem der Eigentumsumwandlung vor Von daher wenden wir uns mit aller Entschiedenheit allem größerer Wohnanlagen aus der Welt geschafft gegen das Modell Zwischenerwerber. Im Endeffekt wird, plädieren wir für ein Vetorecht. Wenn 50 % der bedeutet es die Ausnutzung des Fördergebietsgeset- Mieter gegen die Umwandlung ihres Hauses in zes für den genannten Kapitaltransfer. Eigentumswohnungen sind, dann sollen die Wohnun- Jetzt möchte ich gern unsere Vorschläge zur Diskus- gen dieses Hauses nicht in Eigentumswohnungen sion stellen. Das Wichtigste ist — da sind wir uns mit umgewandelt werden. Wer Erfahrungen mit Eigen- der SPD einig —, daß der Druck in Richtung dieser tumswohnanlagen im Westen hat, der weiß, daß Verkäufe heraus muß. Man kann das Tafelsilber nicht Eigentumshäuser, insbesondere dann, wenn es grö- in drei Tagen verkaufen. Damit entwertet man prak- ßere Wohnanlagen sind, Anlaß für Streit der Men- tisch auch den Grundbesitz, den es im Osten in schen untereinander sind. Die Beziehungen zwischen städtischer und genossenschaftlicher Hand gibt. Inso- Eigentümer, Nutzer und Verwalter sind ein ganz fern schließen wir uns der Forderung der SPD an. Die zentrales Problem. Von daher meine dringende Auf- Forderung muß heißen, von jetzt ab bis zum Jahr 2003, forderung: Zwingen Sie doch nicht die Bewohner der aber auch nicht länger, 30 % der Erlöse an den ostdeutschen Wohnanlagen und Großsiedlungen in Erblastentilgungsfonds abzuführen. derartige Streitereien hinein! Das kann doch nicht Sinn unserer Politik für die neuen Länder sein. Beim zweiten Punkt sind wir halb im Konsens, aber halb auch der Meinung, daß man weitergehen muß. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir wenden uns gegen jeden Privatisierungszwang sowie bei Abgeordneten der SPD und der für die Genossenschaften, und zwar sowohl in Sachen PDS) Veräußerung an Dritte als auch in Sachen Veräuße- Ich möchte jetzt einen Punkt nennen, an den bisher rung im Innenverhältnis. Denn auch eine Veräuße- niemand sonst gedacht und für den sich niemand rung an die Mitglieder heißt Eigentumsumwandlung engagiert hat. Wir möchten, daß es nicht nur um die einer ganzen Anlage. Auch dann passiert das gleiche, Mieter geht, die in dieser oder jener Form Eigentum was ich eben in bezug auf das Treptower Zwischener- erwerben können, sondern daß es auch um die Mieter werbermodell geschildert habe. Die Genossenschaft geht, die Mieter bleiben. Von daher plädieren wir wird eine Art Wohnungseigentumsverwalter und muß dafür, daß eine neue Auflage des Altschuldenhilfe- irgendwann an Dritte verkaufen. Das halten wir mit Gesetzes nicht nur Regelungen bezüglich der 15- dem Genossenschaftsprinzip nicht für vereinbar. %-Privatisierung enthält, sondern auch eine Mieter- Wenn überhaupt, dann sollen Genossenschaften es beteiligung gesetzlich verankert, und zwar sowohl in aus freiwilliger, eigener Entscheidung heraus tun und den Aufsichtsratsgremien der überwiegend ja städti- nicht unter dem Zwang eines Gesetzes, das ihnen von schen Wohnungsbaugesellschaften als auch bei der Bonn vorgegeben wird. Mietermitbestimmung bezüglich Hausbewirtschaf- Beim nächsten Punkt nähern wir uns ebenfalls der tung, Instandsetzung und Modernisierung vor Ort. SPD an. Wir wollen mehr Möglichkeiten eröffnet Wir möchten also die Mieter generell aktivieren, nicht sehen, die Wohnungsunternehmen die Chance nur die Haushalte, die privatisierungsfähig sind. geben, sich per Antrag befreien zu lassen. Das möchte Last not least möchten wir mehr Belegrechte für die ich jetzt nicht weiter ausführen; das hat Iris Gleicke Kommunen. Wir möchten die Regelungen des § 12 schon dargestellt. Altschuldenhilfe-Gesetz deutlich ausgeweitet wissen, Eines ist uns besonders wichtig, was wir in vielen der ja das einzige Sozialbindungsinstrument ist, das Diskussionen mit Mietern in den neuen Ländern diese Regierung zur Zeit für den ostdeutschen Woh- erfahren haben. Wir möchten, daß Möglichkeiten zum nungsbestand überhaupt bereithält, und der vorsieht, 696 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

(Franziska Eichstädt-Bohlig höchstens 50 % der Wohnungen für die Zeit bis zum Jetzt kommen wir doch mal auf den Ausgangspunkt Jahr 2003, längstens bis 2013 einer Belegungsbin- zurück, und das richtet sich an die Kollegen von der dung zu unterwerfen. Jeder, der sich mit Wohnungs- Gruppe dort drüben. wirtschaft befaßt, weiß, daß 50 % zwar nach viel (Gerhard Zwerenz [PDS]: Wir haben auch klingt, de facto aber nur wenige Wohnungen zur noch einen Namen!) Wiederbelegung frei werden. Angesichts der großen Wohnungsnot, der extrem niedrigen Einkommen, der — Hören Sie gut zu! Sie können mich gleich mit sehr vielfachen Umzugswünsche und der Arbeitslosigkeit schönen, wunderbaren Reden widerlegen. — ein Spektrum von Problemen — sind wir der (Weitere Zurufe des Abg. Gerhard Zwerenz Meinung, daß die kommunalen Belegrechte deutlich [PDS]) ausgeweitet werden müssen. Ich komme zum Schluß. — Sie haben ja gar nicht in der DDR gewohnt, Sie sind doch dazugekommen; Sie sind doch „reinge- Erstens stehen wir zu dem Ziel der Privatisierung, pumpt". die aber in einer differenzierten und den Menschen angepaßten Form und unter Vermeidung jeglichen (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Zwangs sowohl in Richtung auf eine Einzelprivatisie- F.D.P.) rung als auch in Richtung auf ein Zwischenerwerber- Als die DDR der Bundesrepublik Deutschland bei- modell — sprich: Kapitalisierung, wie sie überwie- trat, waren in kaum einem anderen Bereich die gend im Westen anzutreffen ist — vorgenommen Auswirkungen der 40jährigen SED - Mißwirtschaft werden soll. Als zweites sind wir für eine Aktivierung deutlicher zu erkennen als im Bereich des Wohnens. und Beteiligung der Bewohner, und zwar in vielfälti- Die Bestände waren heruntergewirtschaftet. Große gen Formen, sei es als Eigentümer, sei es als Mie- Teile mußten als schwer beschädigt, sogar als unbe- ter. wohnbar klassifiziert werden. Der äußere Zustand der Als letztes möchte ich noch deutlich in Richtung Häuser war katastrophal. Putzflächen waren abgefal- PDS sagen: Ich bin ein bißchen enttäuscht von Ihrem len, Dächer desolat oder undicht, Fenster und Türen Gesetzentwurf. Ich finde, so einfach kann man es sich kaputt, Balkone abgerissen und demontiert oder bau- nicht machen. fällig und irreparabel. Die Inneninstallation, gleich welcher Art, ob Wasser oder Elektro, war völlig Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin! desolat. Diese morbiden Zustände gipfelten in der Unbewohnbarkeit eines großen Teils der Häuser. - Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE (Widerspruch bei der PDS) GRÜNEN): Ich bin sofort fertig. — Ja, natürlich. Ich erzähle Ihnen noch viel mehr aus Man kann nicht einfach sagen: Liebes Bonn, lös' du dem praktischen Leben. doch die Probleme; dann ist die Welt wieder in Ordnung. — Ich finde, da müssen wir uns ein bißchen (Vorsitz: Vizepräsident Hans-Ulrich Klose) mehr ausdenken. Ich möchte die PDS auffordern, in diesem Sinne mehr für Inhalte zu arbeiten, als so Die Wohneigentumsquote, die im Westen bei 40 % einfache Lösungen vorzulegen, bei denen immer der liegt und im europäischen Vergleich als zu niedrig Gesetzgeber und letztlich der Steuerzahler anderen empfunden wird, hatte die SED auf unter 19 oder 20 % die Probleme abnehmen. gedrückt. Es gab also im Prinzip kaum noch p rivates Ich danke schön. Wohneigentum. Die Mieten lagen zum Teil bei unter 1 Mark pro m2 . Die Nebenkosten wurden künstlich tief (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gehalten. Die Folgen waren die schon erwähnten und der SPD sowie bei Abgeordneten der Zustände. Trauriges Resultat war der Zerfall der PDS — Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜND Häuser, sogar ganzer Straßenzüge und Stadtviertel. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Kreativität, Genos sen, ist die Devise!) Als besonders eklatante Beispiele können Städte wie Halle, Freiberg und Stralsund gelten. Ich kenne Freiberg genau. Da wurden anläßlich der 800-Jahr- Das Wort hat der Kollege Vizepräsident Hans Klein: Feier die Vorderfronten der Dächer repariert und die Dr. Klaus Röhl. Vorderfronten der Häuser renoviert. Die Türen und Fenster wurden zugemacht, und hinten konnte keiner Dr. Klaus Röhl (F.D.P.): Herr Präsident! Meine rein. Da hätten Sie mal auf die Höfe schauen sollen. So Damen und Herren! Bevor ich zum eigentlichen wurde das der Welt vorgeführt. Wir wollen hier doch Vortrag komme, möchte ich doch alle daran erinnern, auf den Boden der Tatsachen zurückkehren! daß zwar 15 % Privatisierung als Ziel gesetzt sind, daß aber 85 % nicht privatisiert zu werden brauchen. Das (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Glas ist also mehr als dreiviertel voll. ten der CDU/CSU — Achim Großmann [SPD]: Was hat das mit den Altschulden zu (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) tun!) Das wird hier immer so „unterfuselt", als würde es Diese Zustände existierten in allen neuen Bundeslän- nicht gelten. dern. Natürlich gab es auch gute und gepflegte (Zuruf des Abg. Siegfried Scheffler [SPD] und Häuserbestände, meistens in den Dörfern, wo sie im weitere Zurufe) Privatbesitz waren; das soll hier nicht verschwiegen — Ja, ja, mein lieber Siegfried, so ist das. werden. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 697

Dr. Klaus Röhl Der Baubestand der neuen Länder zeigte das breite gehende Änderungsanträge werden deshalb von uns Spektrum vom desolaten bis zum erträglichen Wohn- aus gutem Grund nach dem Grundsatz „pacta sunt zustand. Insgesamt stand die Wohnungswirtschaft der servanda" abgelehnt. Ich komme darauf zurück. ehemaligen DDR vor einer immensen Aufgabe. Die F.D.P. hatte damals andere Vorstellungen über Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Lage kenn- die Entlastung zeichnete die Situation am Beginn des Prozesses, in den neuen Ländern einen funktionierenden Woh- (Zuruf des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] nungsmarkt und eine funktionierende Wohnungs- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) wirtschaft einzurichten, d. h. gut bewohnbare Häuser und sanierte Stadtviertel zu schaffen. — Sie waren noch nicht dabei —, die sich schließlich auf 31 Milliarden DM beläuft. Die F.D.P. hatte auch Hinzu kam, daß auf den Wohnungsbeständen der andere Vorstellungen über die Privatisierungsquote. ehemals volkseigenen Wohnungsunternehmen, der Sie hätte ruhig mehr als 15 % in zehn Jahren — wir Arbeiterwohnungsgenossenschaften sowie der weni- müssen uns das einmal vorstellen: 15 % in zehn gen noch vorhandenen privaten Vermieter Kreditver- Jahren — betragen können. Die Zahl von 85 % möchte pflichtungen in erheblichem Umfang lasteten. Mitte ich in Erinnerung rufen. Es wurde aber so ausgehan- Juli 1990 lagen die Altschulden bei annähernd 40 Mil- delt, und an ausgehandelte Verträge soll man sich liarden DM. Die privaten Vermieter hatten Altschul- bekanntlich halten. den von rund 3 Milliarden DM. Diese Altschulden waren mit dem von uns allen verabschiedeten Eini- Auch der durch die gestaffelte Erlösabführung gungsvertrag übertragen worden. Sie gehören in den gesteuerte Druck auf die Unternehmen, die Privatisie- großen Komplex der mit der Wirtschafts- und Wäh- rung von mindestens 15 % der Bestände so zügig wie rungsunion vom 1. Juli 1990 verbundenen Probleme. möglich zu erledigen, war beabsichtigt und ist für uns Das ist nun einmal so. im Prinzip nicht verhandelbar. Insbesondere die Wohnungswirtschaft, aber auch Aber wir geben zu: Es kann ja einzelne Fälle geben, private Vermieter standen nun vor der mißlichen in denen die pure Anwendung der Erlösabführungs- Situation, die Mieten nicht oder nicht wesentlich staffel zu unbefriedigenden Ergebnissen führt. Für erhöhen zu dürfen, aber höhere Nebenkosten auffan- solche Fälle, meine Damen und Herren, haben wir als gen und Wohnungen instandhalten zu müssen, sie zu Gesetzgeber den Lenkungsausschuß eingeführt. modernisieren und nicht zuletzt investieren zu sollen. Wenn also beispielsweise ein Unternehmen aus von Gleichzeitig war die Situation wegen noch nicht ihm selbst nicht zu vertretenden Gründen verhindert erfolgter Zuordnung der Gebäude, Grundstücke- und war zu privatisieren, dann soll es doch einen Antrag Schulden sowie wegen der zum Teil als ungerecht auf eine entsprechend niedrigere Erlösabführungs- empfundenen Belastung mit Altschulden, die ihren quote stellen, was ja wohl möglich ist. Darüber mag Ursprung in der Willkür des Bewertungssystems und der Lenkungsausschuß dann entscheiden. Wir als dem willkürlichen Preisgefüge des ehemaligen DDR- Gesetzgeber wären überfordert, alle Wechselfälle des Wirtschaftssystems hatte — das müssen wir einmal unternehmerischen Lebens per Gesetz regeln zu wol- festhalten; denn nacher wird uns sicher etwas anderes len. erzählt —, kompliziert und angespannt. Auch die Frage, was denn nun Privatisierung ist, Meine Damen und Herren, ich schildere Ihnen die halte ich für eine sehr wichtige Frage, die aber durch - um in Vorgeschichte des Altschuldenhilfe Gesetzes, die Bundesregierung bzw. den Lenkungsausschuß dieser Debatte zu verdeutlichen, welch enorme Entla- insbesondere in bezug auf die Vermieter regelbar ist. trotz aller Kritik dieses Gesetz für die stungswirkung Für die F.D.P. ist klar, daß Zwischenerwerber bei Wohnungswirtschaft und die privaten Vermieter in entsprechenden Bedingungen unter diesen Begriff den neuen Bundesländern hatte und noch hat. fallen können. Wo echtes Eigentum in Mieterhand (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) beginnt, ist noch gründlich auszuloten und gewissen- haft zu ermitteln. Was echtes Wohneigentum ist, das Es sollte zum einen den Mietern die Bildung von wissen wir. Mietergenossenschaften, meine Damen Wohnungseigentum, von echtem Wohnungseigen und Herren, gehören auf jeden Fall noch nicht ermöglichen — darauf komme ich zurück — , tum, dazu. nicht zuletzt auch als Lebens- und Alterssicherung, und es sollte auch einen kräftigen Anschub geben, (Achim Großmann [SPD]: Das ist doch damit die Umwandlung gewährleistet würde. Zum Quatsch!) anderen sollte es den Vermietern — den Wohnungs- baugesellschaften, den Genossenschaften und den Wohnungsgenossenschaften und Wohnungsbauge- privaten Vermietern — die Möglichkeit und die Mittel nossenschaften bieten nur ein Minieigentum, ein an die Hand geben, zu sanieren und zu modernisie- winziges Eigentumsrecht für den Mieter. Schauen Sie ren. doch einmal in die Satzungen! Wir sollten auch nicht vergessen, daß dieses Gesetz (Achim Großmann [SPD]: Sie haben leider nicht im luftleeren Raum zustande gekommen ist, keine Ahnung!) sondern im Rahmen der Verhandlungen zum Solidar- pakt, also in einem größeren Rahmen, und Bestandteil Dann erkennen Sie, wie schwach und wie kläglich die eines von allen verantwortlichen Kräften getragenen Stellung der Genossenschaftsmitglieder bezüglich Kompromisses war. Das sollten wir nicht vergessen. eigener Eigentumsrechte ist. Verkauf, Erbrecht und An die Eckpunkte des Altschuldenhilfe-Gesetzes sogar der Zuzug von Angehörigen unterliegen der 698 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Dr. Klaus Röhl Vormundschaft der Vorstände. Das muß man sich Wir halten das Altschuldenhilfe-Gesetz in der einmal überlegen. Da reden Sie von Eigentum. Sache, im Grundsatz für gut und richtig. Es muß nur flexibel genutzt werden. Ich bitte deshalb die Antrag- (Iris Gleicke [SPD]: Das ist doch gar nicht steller: Lassen Sie uns über Verbesserungsmöglich- wahr!) keiten bei der Ausführung des Altschuldenhilfe- — Ja, das ist so. Ich habe eine Satzung in meiner Gesetzes reden! Lassen Sie jedoch die Finger von den Tasche. Ich wohne selber in einem solchen Verein. Ich Grundlagen des Gesetzes und bringen Sie keine weiß, was da gespielt wird. Unsicherheit in die Wohnungswirtschaft, in die Inve- stitionen und in die weitere Entwicklung! (Zurufe von der SPD) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne — Nun kommen wir mal zu einem Friedensangebot: ten der CDU/CSU — Iris Gleicke [SPD]: Die Die F.D.P. kann sich jedoch vorstellen, daß Genossen- haben Sie schon gebracht! — Achim Groß schaften, bei denen die Genossen mit stärkeren mann [SPD]: Null Ahnung! Es ist unglaub Eigentumsrechten ausgestattet sind, unter den Eigen- lich, wie man von einer solchen Sache reden tumsbegriff fallen können. Darüber können wir reden. kann, ohne davon Ahnung zu haben!) Ich kann mir auch vorstellen, daß sich gerade in den neuen Ländern — da haben wir die Chance dazu — eine Bewegung bildet, die der Beginn der dringend Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der notwendigen Reform des Genossenschaftswesens im Kollege Klaus-Jürgen Warnick. Sinne von stärkeren Eigentumsrechten der Genossen sein könnte. Ich kann Ihnen sogar eine Mitteilung zeigen, in der Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Sehr geehrter Herr den Genossenschaftsmitgliedern abgeraten wird, zur Präsident! Meine Damen und Herren! Was ich soeben Mieterberatung zu gehen. Das muß man sich einmal vom Kollegen Röhl hören mußte, zieht einem glatt die auf der Zunge zergehen lassen. Schuhe aus. Eigentumsbildung, ganz speziell Wohneigentum (Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Man muß auch mal schafft Unabhängigkeit und Sicherheit. Stärkere die Wahrheit hören!) Eigentumsrechte der Mitglieder von Genossenschaf- Wenn ich das richtig sehe, sind Sie auch aus den ten sind Abschaffung von Bevormundung und Will- neuen Bundesländern. kür, sind echte Demokratisierung. Deswegen sträu- (Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Genau!) ben sich die Vorstände auch dagegen. - Ich frage mich: Waren Sie schon jemals bei einer (Achim Großmann [SPD]: Das einzige, was Mieterversammlung? sich sträubt, sind meine Haare!) (Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Natürlich, wer sitzt Wer will denn etwas dagegen einwenden, wenn alle denn da in den Vorständen? Ihre Leute sitzen mehr Mitspracherechte haben? da und mauern!) (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne — Meine Leute? ten der CDU/CSU) (Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Genauso ist es!) Meine Damen und Herren, zum Schluß möchte ich Als die Zwangsprivatisierung im Altschuldenhilfe- Ihr Augenmerk darauf richten, daß mit dem Altschul- Gesetz vor zwei Jahren beschlossen wurde, war mir denhilfe-Gesetz auch den Vorgaben des Einigungs- schon klar, daß dieses Gesetz keinen endgültigen vertrages in der Weise Rechnung getragen wird, daß Bestand haben würde. Ein Gesetz, das so unrealistisch durch die Privatisierung wenigstens zum Teil der an den Interessen der Betroffenen vorbeigeht, mußte ehemalige „volkseigene Wohnbestand" in das pri- einfach scheitern. Die Praxis hat das auch gezeigt. vate, das echte Eigentum des Volkes, der Bürgerinnen Frau Gleicke hat bereits darauf hingewiesen, daß sie und Bürger, überführt wird. Es ist also nicht allein eine damals dieselben Bedenken hatte. Angelegenheit der wohnungswirtschaftlichen Quali- Es ist doch einfach illusorisch, Mietern eine Privati- tät. sierung zu verordnen, die sie gar nicht wünschen. Die Es war allen am Einigungsvertrag Beteiligten ein Befragungen der betroffenen Mieter in Ostdeutsch- Anliegen, die Eigentumsquote in den neuen Ländern land haben klar gezeigt, daß selbst bei größten anzuheben und damit die Selbständigkeit und Unab- Anstrengungen der Wohnungswirtschaftsbetriebe hängigkeit ihrer Bürgerinnen und Bürger zu fördern. keine 15 % der Wohnungen unabhängig von der Wir sind der Meinung, nur eine höhere Eigentums- Struktur und der konkreten Situation vor Ort an die quote gewährleistet mittelfristig die gewünschte Mieter zu veräußern sind. Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West Darauf muß die Politik reagieren. Sie kann nicht und den sozialen Frieden. weltfremd wegschauen und Illusionen nachhängen. (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) (Dr. Klaus Röhl [F.D.P.]: Voll ins Leben!) Schauen wir doch nicht nur auf die unbequemen, Ansonsten schafft man noch mehr Politikverdrossen- vielleicht auch an einigen Stellen unzureichenden heit. Ecken und Kanten des Altschuldenhilfe-Gesetzes. Der Kollege Rau muß mir einmal erklären, worin die Schauen wir doch auf die beiden großen Ziele: Eigen- Logik der These besteht, daß kein Mieter mehr eine tumsbildung und wohnungswirtschaftliche Gesun- Wohnung erwerben kann und kein Wohnungswirt- dung. schaftsbetrieb mehr verkaufen kann, wenn die Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 699

Klaus-Jürgen Warnick Zwangsprivatisierung gestrichen wird. Das macht Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Es geht ja wohl in doch überhaupt keinen Sinn. erster Linie um die SPD/CDU-geführte Regierung in (Zurufe von der CDU/CSU: Wer wird denn Berlin. gezwungen? — Es wird doch keiner gezwun (F.D.P.): Nein, es handelt sich durch- gen!) Dr. Klaus Röhl weg um SPD-Bürgermeister. Angesichts herrschender Wohnungsnot und knapper (Unruhe bei der SPD und der PDS — Zurufe Kassen im öffentlichen Haushalt müssen vorhandene von der SPD: Na und? — Und warum fragen Kapazitäten und Mittel auf wohnungspolitische und Sie? Sie taten doch eben so, als wüßten Sie es nicht auf vermögensbildende Maßnahmen konzen- nicht!) triert werden. Die Ergebnisse belegen, daß trotz aller Schönrede- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Gestatten Sie rei die Politik der Wohnungsprivatisierung in Ostdeut- noch eine Zwischenfrage? schland, wie schon gesagt, gescheitert ist. Wenn eine Bilanz erfolgreich war, dann die der westdeutschen Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Natürlich, bitte. Banken, Immobilienfirmen und Spitzenverdiener, (SPD): Herr Kollege Warnick, als (Beifall bei der PDS) Siegfried Scheffler Mitglied des Aufsichtsrates der Köpenicker KöWoGe die beim Geschäft mit ostdeutschen Grundstücken, habe ich mit diesen Verfahren zu tun gehabt. Geben Häusern und Wohnungen so manches Schnäppchen Sie mir recht, daß in den Aufsichtsräten nach Mehr- machen konnten, das mit großzügigen Steuerge- heitsverhältnissen entschieden wurde und daß sowohl schenken garniert wurde. in Treptow als auch in Friedrichshain der Bürgermei- Warum sagt man nicht offen, daß man die Privati- ster und vielleicht noch der Baustadtrat zwei von neun sierung von 15 % der Wohnungen an die Mieter gar Mitgliedern des Aufsichtsrates waren, so daß folge- nicht will? Daß man weiß, daß es nur 5 % sind? Daß richtig die Entscheidungen gegen die Stadtbezirke man will, daß an Investoren verkauft wird? Man soll laufen mußten? das offen sagen, wenn man bei diesem Gesetz bleiben will. Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Das kann ich nicht Der Druck auf schnelle Privatisierung führt zwangs- konkret bestätigen; ich bin kein Berliner. läufig dazu, den verstärkt anzustre- Verkauf an Dritte Es wird noch eine ben. Etwas anderes bleibt gar nicht übrig. Auf diese Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Zwischenfrage gewünscht. Dann sollten wir aber, Weise wird die Grundintention des Gesetzes wie- auch des Einigungsvertrages, nämlich zur Bildung selbst- wenn Sie einverstanden sind, in der Debatte fortfah- genutzten Wohneigentums für die Menschen in Ost- ren. Bitte, Herr Röhl. deutschland beizutragen, ins Gegenteil verkehrt. Dr. Klaus Röhl (F.D.P.): Herr Warnick, ist Ihnen Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig hat schon darauf bekannt, daß in der eben genannten Köpenicker hingewiesen: In Berlin wurden ohne Genehmigung Wohnungsgenossenschaft KöWoGe den Mietern der gewählten Volksvertreter hinter dem Rücken der überhöhte Betriebskosten angerechnet und abgefor- Mieterinnen und Mieter 10148 Wohnungen an Kapi- dert wurden und daß erst der SPD-Bürgermeister talanleger verkauft. Glauben Sie ernsthaft, daß dies eingeschaltet werden mußte, um das zu regeln? im Osten Vertrauen schafft? Nach Informationen des Gesamtverbandes der Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Ja, ich weiß, daß es Wohnungswirtschaft wurden von den ostdeutschen dort Probleme gegeben hat. Mitgliedsunternehmen vom 3. Oktober 1990 bis zum (Unruhe bei der SPD und der PDS — Zuruf 31. Dezember 1993 53 821 Wohnungen verkauft. von der SPD: Was hat das mit dem Altschul Während von den 1991 privatisierten Wohnungen nur denhilfe-Gesetz zu tun?) 8,6 % an die Mieter veräußert wurden, waren es von den 1992/93 privatisierten Wohnungen gerade einmal Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Ich schlage vor, 30,9 %. daß wir in der Debatte fortfahren. Im übrigen bitte ich, darauf hinweisen zu dürfen, daß wir hier im Bundes- tag und nicht in einem Kommunalparlament sind. Herr Kollege Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Warnick, gestatten Sie eine Zwischenfrage? der SPD) Es gibt aber noch eine Zwischenfrage, Herr Kollege Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Ja, natürlich. Warnick.

Franziska Eichstädt-Bohlig (BÜNDNIS 90/DIE Dr. Klaus Röhl (F.D.P.): Herr Kollege Warnick, GRÜNEN): Eine kurze ergänzende Zwischenfrage: können Sie mir einmal sagen, wer in den Berliner Herr Warnick, ist Ihnen bekannt, daß die Anweisung Stadtbezirken Treptow, Friedrichshain und Prenz- zum Verkauf von Wohnungen der Wohnungsbauge- lauer Berg Bürgermeister ist, welche Namen das sind sellschaften durch den CDU-Finanzsenator Pieroth in und welcher Partei die Betreffenden angehören? Das Berlin gegeben wurde? würde mich sehr interessieren, denn diese Leute waren ja im Rahmen der Wohnungsprivatisierung für Klaus-Jürgen Warnick (PDS): Ja, das ist mir auch den Verkauf verantwortlich, den Sie gerügt haben. bekannt. 700 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Klaus-Jürgen Warnick Wir kommen wieder zum Altschuldenhilfe-Gesetz Aus der Sicht der PDS gibt es eine Lösungsmöglich- zurück: Im Mittelpunkt der Kritik an dem Gesetz steht, keit, die schnell und preiswert umzusetzen wäre, wie schon mehrfach angesprochen, die Pflicht für keinen zusätzlichen Verwaltungsaufwand erfordert kommunale und genossenschaftliche Wohnungsun- und das Gesetz an sich und die Zielstellung des ternehmen, mindestens 15 % ihres Wohnungsbestan- Einigungsvertrages zur Schaffung von mehr selbstge- des zu privatisieren. Diese Privatisierungspflicht nutztem Wohneigentum nicht in Frage stellt: Woh- zwingt die kommunalen und genossenschaftlichen nungsunternehmen, die eine Altschuldenhilfe in Wohnungsunternehmen unter großem Druck zur Ver- Anspruch nehmen, werden von der Verpflichtung der äußerung von Wohnungen, unabhängig von den ört- Wohnungsprivatisierung bzw. -veräußerung entbun- lichen Gegebenheiten, von der sozialen Situation der den; § 5 des Altschuldenhilfe-Gesetzes — Privatisie- Mieterinnen und Mieter bzw. der Genossenschafts- rungs- und Veräußerungspflicht, Abführung von Erlö- mitglieder. Menschen, vor allem ältere, werden sen — wird ersatzlos gestrichen. dadurch verängstigt, unter Entscheidungszwang ge- Damit wären die kommunalen und genossenschaft- stellt und der Gefahr der Überschuldung und des lichen Wohnungsunternehmen sowie die Kommunal- Verlustes der Wohnung durch unseriöse Beratungs- und Länderverwaltungen in Ostdeutschland in der und Verkaufspraktiken ausgesetzt. Sanierungs- und Lage, ihre finanziellen, materiellen und personellen Modernisierungsarbeiten werden nach dem Gesichts- Kräfte auf die zügige Sanierung und Modernisierung punkt des notwendigen Wohnungsverkaufs und nicht des vorhandenen Bestandes zu konzentrieren. Dar- nach baulichen Aspekten eingeordnet. über hinaus könnten sie ohne zeitliche Bedrängnis Dies ist kein von der PDS erfundenes Horrorszena- entsprechend eigenen Wünschen und Erfordernissen rium, sondern alltäglich erlebte Wirklichkeit im auf der Grundlage geltenden Rechtes sowie der Nach- Osten. Ich nehme an, daß die Kolleginnen und Kolle- frage nach Wohneigentum Bestände privatisieren, gen von den anderen Parteien ähnliche Erfahrungen Genossenschaften ausgründen und andere struktu- in den ostdeutschen Städten sammeln konnten. relle Veränderungen vornehmen. Dieser Weg — üb- (Zuruf von der F.D.P.: Ihre Vorstände sind rigens schon einmal 1994 von uns aufgezeigt — wäre das!) das mindeste, worauf sich der Bundestag über Frak- tionsgrenzen hinweg einigen sollte. Noch etwas zu dem, was Frau Gleicke gesagt hat, zur Privatisierung, die wir als PDS ausschließen wür- Der Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den: Das stimmt so nicht. Sie sollten einmal die NEN ist da schon recht gut, erscheint meines Erach- Grundsätze des PDS-Programms besser lesen. Da tens aber noch zu kompliziert und in sich nicht steht: breite Streuung aller Eigentumsformen. schlüssig. Genau wie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN - sind wir gegen die Zwischenerwerbermodelle, und Selbstverständlich gibt es auch gute Beispiele für zwar aus den gleichen genannten Gründen. Wohnungsprivatisierungen, und dagegen sind wir auch nicht. Diese erfolgten aber in der Regel unab- Noch ein Wort zum Vorwurf von Frau Eichstädt hängig vom Altschuldenhilfe-Gesetz zumeist in klei- Bohlig, wir würden immer nur sagen, die Regierung neren Städten und Gemeinden. Nach Angaben des solle dieses Problem lösen, und das sei unrealistisch: GdW beabsichtigen die ostdeutschen Mitgliedsunter- Dazu muß ich sagen, daß die Bundesregierung dieses nehmen, bis zum Jahr 2003 über 380 000 Wohnungen Problem erst verursacht hat, indem sie juristisch nicht zu privatisieren — rund 50 000 Wohnungen mehr als vorhandene Schulden formal und politisch zu Schul- im Zuge der Erfüllung der AHG-Auflage nötig. Dies den gemacht hat. Also ist sie auch für die Lösung belegt ebenso wie die vor dem AHG durchgeführten dieses Problems verantwortlich. Verkäufe, daß der Gesetzgeber gar keinen gesetzli- (Beifall bei der PDS) chen Zwang auf Wohnungsunternehmen und Kom- Noch etwas zu Ihnen, Herr Röhl: Sie sprachen die munen ausüben muß, etwa weil diese nicht willig Wohneigentumsquote in Ostdeutschland an. Hier ist wären. Eine sinnvolle Bildung von selbstgenutztem eine falsche Information gegeben worden. Ich bin Wohneigentum durch Mieterinnen und Mieter in auch der Meinung, Sie haben einen merkwürdigen Ostdeutschland wird durch den von uns vorgeschla- Eigentumsbegriff. Die Mieter in Genossenschafts- genen Gesetzentwurf nicht behindert. wohnungen im Lande werden es mit Interesse gehört Daß die Organisation der Wohnungsprivatisierung haben, daß Sie sie als „Eigentümer zweiter Klasse" umfangreiche personelle, materielle und finanzielle eingestuft haben. Kräfte in Wohnungsunternehmen, Kommunen, Län- Das Argument zur Begründung der 15 % Privatisie- dern und im Bund bindet, welche dann für die Lösung rungsauflage, die notwendig sei, um die großen Defi- der dringendsten Wohnungsprobleme, für Leer- zite bei der Wohneigentumsquote zu beseitigen, ist standsbeseitigungen, Abbau des Sanierungsrück- nämlich nicht stichhaltig. Es waren 1989 in der DDR staus, Verhinderung von Zweckentfremdungen oder 25,9 % in Privateigentum, in der alten Bundesrepublik Wohnumfeldgestaltungen fehlen, sei hier nicht nur 41,5 %. Dabei ist das genossenschaftliche Wohnei- am Rande erwähnt. gentum unberücksichtigt geblieben. Rechnet man Daß die Bauminister schon 1992 mit dem sogenann- nämlich die 17,6 % Genossenschaftswohnungen in ten Magdeburger Kompromiß beschlossen, zum 1. Juli Ostdeutschland sowie die 4 % Genossenschaftswoh- 1995 den ostdeutschen Wohnungsbestand ins Ver- nungen in Westdeutschland hinzu, so stellt man fest, gleichsmietensystem zu überführen und dann zwei- daß die Eigentumsquote bei Negierung der unter- einhalb Jahre nicht die Kraft hatten, dafür ein tragfä- schiedlichen Struktur zwischen Ost und West annä- higes Konzept zu erarbeiten und öffentlich zu disku- hernd gleich ist. Schon jetzt liegt in Ballungsräumen tieren, hängt sicher auch damit zusammen. Westdeutschlands der Eigentumsanteil deutlich unter Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 701

Klaus-Jürgen Warnick der Wohneigentumsquote mancher Regionen Ost- Ich war bei der Diskussion noch nicht für diesen deutschlands. Teilbereich verantwortlich. Aber nun stelle ich mir Zum Horrorszenarium von Ihrer Region, das Sie hier doch folgendes vor: Im Einigungsvertrag steht, es aufgebaut haben — wenn ich richtig informiert bin, gebe anteilige Schulden. Die werden ermittelt und wohnen Sie ja selber in Marzahn —: Es gibt dort summieren sich am Ende, weil es eine Tilgungs- und Umfragen. 80 % der Bewohner dieser Siedlungen Zinsfreiheit gegeben hat, auf insgesamt 59 Milliarden fühlen sich in ihren Wohnungen wohl. DM. Da sagt man, diese Summe könne man nun Zum Schluß noch ein Wort zur beabsichtigten Ein- wirklich nicht auf die Wohnungen umlegen; denn führung des Vergleichsmietensystems. Ich frage mich wenn wir das täten, hätte es eine zu große Auswirkung ernsthaft, ob sich die Verantwortlichen darüber im auf die Mieten, das könnten die Mieter nicht tra- klaren sind, daß der geplante Termin 1. Juli 1995 nur gen. zu halten ist, wenn in einer beispiellosen Hektik wie Deshalb gibt es in diesem hier so vordergründig bei der Einführung der Zweiten Grundmietenverord- gescholtenen Gesetz eine Regelung, die besagt, mehr nung vorgegangen wird. Es ist zu befürchten, daß die als 50 % dieser Schulden würden erst einmal in einen Meinung der Betroffenen und der Verbände dabei Erblastentilgungsfonds übernommen, damit sie nicht wieder auf der Strecke bleibt. Da werden Sie sich aber mehr mietrelevant werden. Was ist denn daran eigent- auf einen enormen Widerstand der Mieter einrichten lich zu kritisieren? müssen. Dann bleiben noch 29 Milliarden DM übrig. Diese Ich danke Ihnen. 29 Milliarden DM sollen ab 1. Juli 1995 dann auch (Beifall bei der PDS) über die Unternehmen, also über die Miete, refinan- ziert werden. Wir alle wissen, daß dies eine Bedienung Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der von etwa 1 DM/qm ausmacht. Viele Menschen in den Bundesminister Dr. Töpfer. westlichen Bundesländern wären dankbar, wenn sie nur eine solche Last an ihrem Wohnungseigentum zu tragen hätten. Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- nung, Bauwesen und Städtebau: Herr Präsident! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau der F.D.P.) Gleicke hat ihre Rede mit der Mahnung an uns alle beendet, wir sollten dieses Thema mit Sachlichkeit Im Gegensatz zu dem, was Sie, Frau Eichstädt-Bohlig, diskutieren. Dem möchte ich mich nachhaltig gesagt haben, sage ich das nicht, um eine Ost anschließen; - West-Kontroverse hervorzurufen. Auch dabei sollten wir ganz vorsichtig sein. (Zustimmung bei der CDU/CSU) denn dieses Thema verdient Sachlichkeit wie kaum (Dr.-Ing. Dietmar Kansy [CDU/CSU]: Ja, der ein anderes. Das, was wir hier sagen, wird massenhaft Schuß kann nach hinten losgehen!) multipliziert und verunsichert und verängstigt Men- Das ist die eine Regelung. Die zweite steht ebenfalls schen. Deswegen sollte man jedes Wort wägen, und in der zitierten Vorschrift: Dabei soll auch beschleu- man sollte jedes Wort — das sage ich auch meinem nigt individuelles Eigentum gebildet werden. Man Vorredner — unter dem Gesichtspunkt sehen, wel- schreibt daher in dieses Gesetz hinein, 15 % sollen chen Resonanzboden man zum Klingen bringt. Dies ist — man sagt nicht einmal „müssen", sondern „sol- nicht der Weg, wie man ein solches schwieriges len" — vorrangig durch individuelles Eigentum Thema bewältigen kann. erreicht werden. Was ist denn daran zu kritisieren? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Zuruf von der SPD: Plattenbauten beispiels Zur Sachlichkeit gehört, daß man einmal an den weise!) Anfang geht. Frau Eichstädt-Bohlig, Sie sagen, das alles sei mit heißer Nadel gestrickt. Was denn? Da gibt — Ich komme auf die Plattenbauten zurück. — Jetzt es den Art. 22 des Einigungsvertrages, den ich Ihnen frage ich nur, was daran zu kritisieren ist. Keiner geht in seinem Abs. 4 vortragen möchte. Da steht: doch hin und will das in dem Gesetz ändern, auch die Dieses Vermögen SPD nicht. — das ist das „zur Wohnungsversorgung genutzte (Zurufe von der SPD: Doch! — Bei den volkseigene Vermögen" — Genossenschaften!) geht mit Wirksamwerden des Beitritts mit gleich- — Ich komme darauf zurück. Auch Sie stimmen den zeitiger Übernahme der anteiligen Schulden in 15 % zu. Jetzt sagen Sie, beim individuellen Eigentum das Eigentum der Kommunen über. Die Kommu- gebe es Probleme. Es gebe das eine Problem, daß die nen überführen ihren Wohnungsbestand unter Mieterinnen und Mieter in den neuen Bundesländern Berücksichtigung sozialer Belange schrittweise gegenwärtig noch nicht über das Vermögen verfüg- in eine marktwirtschaftliche Wohnungswirt- ten. Wir haben, wie Sie wissen, in der Vergangenheit schaft. geholfen. Der Kollege Rau hat uns gesagt: Überlegt Den nächsten Satz sage ich langsam: mal, ob Ihr da noch ein bißchen helfen könnt. Dabei soll die Privatisierung auch zur Förderung Es gibt aber einen zweiten Aspekt. Die Möglichkeit, der Bildung individuellen Wohneigentums be- etwas zu verkaufen, hängt nach meiner Grundkennt- schleunigt durchgeführt werden. nis marktwirtschaftlicher Zusammenhänge vornehm- Das ist der Auftrag aus dem Einigungsvertrag. lich davon ab, welchen Preis man fordert. Man muß 702 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer sich das vorstellen: Da wird durch das Altschulden- weg, die eigentlich nur denen helfen, von denen wir hilfe-Gesetz pro Quadratmeter noch eine Schuld von wissen, daß sie eine sachliche Lösung eigentlich gar 150 DM belassen. Gleichzeitig werden, was ich sehr nicht wollen. begrüße, Grund und Boden weitgehend nahezu (Zustimmung bei der CDU/CSU) kostenlos an die Unternehmen weitergegeben. Also gibt es auch von dorther keine Belastungen. Deswegen möchte ich über Zwischenerwerber auch im Ausschuß detaillierter diskutieren. Da kann man Vor diesem Hintergrund — pro Quadratmeter noch erörtern: Was muß man in einen solchen Vertrag 150 DM Schulden, keine Belastungen mehr über den hineinschreiben, damit das, was hier so greulich an die Boden — sagt man mir: In Potsdam werden solche Wand gemalt wird, nicht passiert? Es gibt gute und Wohnungen für 3 000 DM pro Quadratmeter angebo- schlechte Verträge, das ist wahr. Aber darüber kann ten. Ist es dann ein Wunder, wenn sich die Privatisie- man sich doch sachlich unterhalten. rung nicht realisieren läßt? Dann kommen wir zu den Genossenschaften. Ich Dem Kollegen von der PDS kann ich nur sagen: Es sage Ihnen ganz ehrlich: Ich will in Deutschland eine stellt sich jemand mit dem Fuß auf den Schlauch und Renaissance der Genossenschaften. sagt: Dem wollen wir doch einmal zeigen, ob wir nicht erreichen können, zu belegen, daß es nicht geht. Sie (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des wollen es nicht, und deswegen legen Sie die Preise so BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) hoch. Hinterher kommen Sie hierhin und sagen: Es Wenn ich das will, muß ich mich zunächst einmal gibt keine individuelle Privatisierung. fragen, warum. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) (Achim Großmann [SPD]: Schön, daß Sie Das ist wirklich großartig angelegte Dialektik. Man meinen Begriff aufgreifen!) muß hier aber wenigstens darauf hinweisen können, — Da sehen Sie, ich lerne doch von Ihnen, Herr daß es so ist. Kollege Großmann. Also nehmen Sie bitte zu Proto- Lassen Sie uns doch einmal über Preise reden — koll, daß der Begriff „Renaissance der Genossenschaf- nicht für die 30 %, die arbeitslos sind, sondern für die ten" vom Kollegen Großmann stammt, damit das alles 15 %, die wir privatisieren sollen. seine Ordnung hat. In § 5 dieses Gesetzes steht: Wenn nach dieser Zeit, Ich muß mich doch nur fragen: Warum gibt es im Jahre 2003, nachgewiesen werden kann, daß man eigentlich die Notwendigkeit, jetzt über eine Renais- sich bemüht hat, die Privatisierung aber nicht möglich sance zu sprechen? Wenn das alles so überzeugend war, dann entsteht kein Anspruch auf Rückzahlung- gewesen wäre, hätte es solche doch in den letzten der Entlastung. Das heißt, Sie haben jederzeit die 40 Jahren im westlichen Teilbereich der Bundesrepu- Möglichkeit, zu sagen: Das geht. Ich möchte sachlich blik Deutschland gegeben. diskutieren. Ich finde es gut, wenn mir jemand sagt: (Zuruf von der SPD: Hat es doch laufend! — Wir müssen uns überlegen, ob wir nicht noch andere Zuruf von der F.D.P.: Wo denn?) Eigentumsformen hinzuziehen können. Das ist ja — Selbst der Kollege von der PDS hat gerade darauf mehr als naheliegend. hingewiesen, daß wir insgesamt einen Anteil von 4 % Da gibt es diese Zwischenerwerber. Das ist bemer- haben. Das muß doch Gründe haben. Da muß man kenswert. Es erhöht im allgemeinen nicht die Glaub- sich doch sagen können: Sind das nicht Gründe, die würdigkeit und die Überzeugungskraft von Argu- damit zusammenhängen könnten, daß die Art und die mentationen, Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, wenn Bedeutung des Eigentums für das einzelne Mitglied Sie ein Beispiel bringen. Das mag schlecht sein. der Genossenschaft nicht so attraktiv sind, daß es viele Andere geben hier gute Beispiele. machen? Deswegen können wir an dieser Stelle den Es war nicht mein Hinweis, sondern der des Kolle- Versuch machen, nicht über eine Änderung des gen Meyer aus , der mir gesagt hat: So Genossenschaftsrechts, sondern durch Hinweise im etwas wie das Zwischenerwerbermodell in Rostock Lenkungsausschuß an die Kreditanstalt für Wieder- will ich haben. Daran sind auch die Kommunen aufbau Klarheit darüber zu gewinnen: Welche Art im beteiligt. Es ist natürlich noch die Notwendigkeit Sinne dieses Gesetzes wollen wir akzeptieren, mit enthalten, daß bis zum Jahre 2003 auch den Mietern mehr Flexibilität des Eigentums, mit mehr Möglich- das Angebot gemacht werden muß zu privatisieren. Er keiten? Es gibt doch nicht nur schwarz und weiß. Ich sagte mir fast auf den Tag genau vor einer Woche in kann nicht sagen: Wenn man verkaufen kann, ist es Berlin: Wenn wir das gleiche unter „Zwischenerwer- keine Genossenschaft mehr. Meine Phantasie geht ein ber" verstehen können, bin ich einverstanden. — Da bißchen weiter. Ich bin gerne bereit, mit Ihnen dar- nicht jeder den Kollegen Meyer aus Brandenburg über zu sprechen. Dafür haben wir Ausschüsse. kennen wird, möchte ich Ihnen sagen, daß der Kollege Wenn jedoch von vornherein gesagt wird, daß alles, Meyer der SPD angehört. was Mietergenossenschaft ist, zu 100 % die Ansprü- Aus diesem Grunde war ich nicht der Meinung, daß, che dieses Altschuldenhilfe-Gesetzes auf individuali- ich so fürchterlich falsch liege. Den Hinweis, diese sierbares Eigentum erfüllt, dann müssen wir sagen: Zwischenerwerber würden durch Luxusmodernisie- Das wird bei uns nicht so gesehen. Wir wollen mehr rungen dazu beitragen, daß alles herausmodernisiert daraus machen, konstruktiv, nicht destruktiv, damit wird, haben wir mit der Kappungsgrenze für umlege Genossenschaften wieder mehr Chancen haben. fähige Modernisierungskosten von 3 DM pro Qua- Das, was Herr Kollege Rau ausgeführt hat, waren dratmeter abgebaut. Also nehmen wir doch Dinge — ich sage es etwas untechnisch — Spielarten, waren Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 703

Bundesminister Dr. Klaus Töpfer Weiterführungen eines genossenschaftlichen Den- Damit fällt vieles, was hier dargestellt worden ist, kens. Deswegen: Ich führe diese Diskussion sehr ein Stück in sich zusammen. Die Frage, ob dieses gerne, aber mit Sachlichkeit. Sachlichkeit bedeutet Gesetz wirklich so mit heißer Nadel gestrickt worden nicht, Frau Kollegin Gleicke, daß man sagt: Sachlich ist, daß es Unmöglichkeiten bewirkt, lasse ich offen. ist die Diskussion nur dann, wenn ihr das übernehmt, Wir sind der Überzeugung, das Gesetz hat in der was ich vorhin gesagt habe. Vergangenheit außerordentlich positiv gewirkt. Es hat nämlich 31 Milliarden DM nicht mietwirksam (Iris Gleicke [SPD]: Das wäre mir aber am werden lassen und wird es mit weiteren 29 Milliarden liebsten!) DM bis zum 1. Juli 1995 nicht tun. Wir sollten die im Wenn wir uns darauf einigen könnten, wäre das Einigungsvertrag enthaltene Verpflichtung — den wunderbar. Aufruf, auch beschleunigt individuelles Eigentum zu (Wolf-Michael Catenhusen [SPD]: Gleich bilden — sehr ernst nehmen. Das hat mit Ideologie viel falls!) weniger zu tun als das, was vorhin mein Vorredner über seine Sache gesagt hat. Das war angewandte — Ich wußte, daß Sie jetzt „gleichfalls" sagen. Mir Ideologie. Dies ist die Herausforderung, sachlich ein hätte etwas gefehlt, wenn Sie das vergessen hätten. Problem im wiedervereinigten Deutschland zu Unsere Meinung ist: Wenn wir diese auch nach dem lösen. Gesetz möglichen Auslegungen des Eigentumsbe- Ich danke Ihnen sehr herzlich. griffs, auch individuelles Eigentum entwickeln zu (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) können — immer unter dem Vorrang des Einigungs- vertrages —, in das Gesetz hineinnehmen, bedarf es Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat jetzt keiner Novellierung des Gesetzes. die Kollegin Dr. Christine Lucyga. Ich sage auch mit Blick auf das zweite: Wenn wir der Eigentumschance des Gesetzes so gerecht werden, Dr. Christine Lucyga (SPD): Herr Präsident! Meine wird auch der Druck der Abführung ein anderer. Denn Damen und Herren! Herr Minister, das Gesetz, das Sie dann kriegen wir vergleichsweise schnell die 15 soeben mit Vehemenz verteidigt haben, hat von zustande. Nebenbei: Das ist etwas, was mir meine seinem Inkrafttreten bis heute für anhaltende Kontro- Kollegen aus den neuen Bundesländern permanent versen gesorgt. Ich weiß auch nicht, ob Ihnen bekannt bestätigen. Das sind nicht allein meine Überlegungen; ist, daß ich aus dem Wahlkreis Rostock komme. Sie es sind kommunizierende Röhren. Je breiter ich die haben also ein Projekt gelobt, das in meinem Wahl- Möglichkeit der Privatisierung eröffne, um so schnel- - kreis tatsächlich mit Erfolg praktiziert wird. Sie haben ler geht es und um so weniger ist die Besorgnis aber vergessen, hinzuzufügen, daß Rostock eine SPD gegeben, wir kämen in die hohe Progression der geführte Kommune ist und in dieses Projekt soziale Abführungsstaffel. Dann bleiben wir bei den 30 Verantwortung der Kommune investiert hat, denn Hätten wir an vielen Stellen mit den Preisen anders anders funktioniert es eben nicht. gearbeitet, hätten viele auch mit Blick auf 20 % schon (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch privatisieren können und hätten damit mehr Chancen gut!) gehabt, zu modernisieren, neue Wohnungen zu bauen und ihre Qualität als Wohnungsunternehmen der Aber darauf komme ich noch einmal zu sprechen. Gemeinde oder als Genossenschaft auch für die Bereits bei der Verabschiedung des Gesetzes hatte Zukunft zu sichern. die sozialdemokratische Bundestagsfraktion den Fin- ger auf offensichtliche Mängel und Schwächen des Ich finde, es ist eine gute Möglichkeit, das alles in Gesetzes gelegt und angekündigt, daß damit in den kommenden Tagen und Wochen im Ausschuß zu Sachen Altschulden wohl noch nicht das letzte Wort diskutieren. gesprochen sein könnte. Die Erfahrungen mit der Eines bitte ich wirklich zu verstehen. Ich habe in Umsetzung des Gesetzes haben unsere Einwände und Übereinstimmung mit meinen Kollegen aus den Bedenken voll gerechtfertigt. neuen Bundesländern veranlaßt, daß der Lenkungs- Insbesondere richtet sich bis heute die massive ausschuß vorgestern nicht getagt hat. Denn ich sehe Kritik der mit der Umsetzung beauftragten Praktiker vergleichsweise wenig Sinn darin, viele hochrangige gegen die im Gesetz undifferenziert verankerte Priva- Mitarbeiter aus Verbänden und aus den Ministerien tisierungsauflage für Wohnungsunternehmen, und zwei Tage, bevor wir hier im Grundsatz über das zwar unabhängig davon, ob es sich um Wohnungen in Gesetz diskutieren, zusammenzurufen. Aber es darf tristen Schlafstädten oder in idyllischer Stadtrandge- nicht — das sage ich Ihnen auch — zu einem Stillstand gend handelt, ob es sich um Plattenbauten oder um der Rechtspflege kommen, indem wir erst einmal solide Mehr-, Ein- und Zweifamilienhäuser handelt, abwarten. Wir müssen vielmehr alles tun, um unsere und ohne Rücksicht darauf, welche sozialen Struktu- Interpretation entscheidungsfähig zu machen. ren sich inzwischen herausgebildet haben. Die pro- Ich werde — das sage ich ganz deutlich dazu — gressive Erlösabführungsstaffelung — ein weiterer solche Überlegungen, wie sie in Rostock gemacht wesentlicher Kritikpunkt — setzt zudem die Unter- worden sind, genauso positiv bescheiden, wenn sie nehmen unter hohen Erfolgsdruck. von anderer Stelle kommen, und auch der KfW die Das Gesetz hat einen bestimmenden Webfehler. Ich Signale geben, wie wir es an anderer Stelle gemacht werde hier einmal einen anderen Begriff einführen. haben. Ich wäre sogar dankbar, wenn wir weiterhin Statt ständig zu sagen „mit der heißen Nadel genäht", mit Projektmitteln des Bundes behilflich sein könnten, kann man auch sagen: Es wurde unter rein wirtschaft- so etwas durchzuführen. lichen Gesichtspunkten ohne Berücksichtigung der 704 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Dr. Christine Lucyga konkreten Situation von Wohnungsunternehmen und weise hat Frau Eichstädt sie teilweise wiederholt. Ich vor allem der Mieter in den neuen Bundesländern kann mich deshalb etwas kürzerfassen. zusammengeschustert, als das Problem bereits hoch- Ich möchte gleich hinzufügen: Niemand verkennt, explosiv geworden war. daß ungeachtet aller Mängel das Altschuldenhilfe- (Iris Gleicke [SPD]: So ist das!) Gesetz bei seinem Inkrafttreten zunächst den größten Druck von den belasteten Unternehmen genommen Im Februar 1994 brachte die SPD einen ersten und in begrenztem Maße die Investitionsfähigkeit Novellierungsantrag in den Deutschen Bundestag sichergestellt hat. ein, der seinerzeit an der Koalitionsmehrheit geschei- tert ist, die stur nach ihrem Prinzip „Friß, Vogel, oder (Iris Gleicke [SPD]: Sehr richtig!) stirb" verfuhr und an einem unzulänglichen Altschul- Genausowenig darf aber vergessen werden, daß das denhilfe-Gesetz festhielt. Altschuldenproblem der ostdeutschen Wohnungs- (Iris Gleicke [SPD]: Leider, leider! — Beifall wirtschaft durch jahrelanges sehr hilfloses Agieren bei Abgeordneten der SPD) der Bundesregierung erheblich verschärft wurde. Allein durch Liegenlassen sind die Schulden immer- Viele Verunsicherungen und Ängste der Menschen hin in zweistelliger Milliardenhöhe weiter gewach- in den neuen Ländern hätten vermieden werden sen. Bei aller Anerkennung des finanziellen Engage- können, hätte es zeitiger eine Novellierung gegeben. ments, zu dem sich die Bundesregierung schließlich Dann wäre es von vornherein nicht zu einem derarti- bereit erklärt hat: Für diesen, den ausschließlich gen Druck auf die Unternehmen gekommen, den hausgemachten Teil des Problems ist sie es, die die diese schon aus Überlebensgründen an die Mieter politische Verantwortung trägt. Das soll auch einmal weitergeben mußten. Betroffene Mieter wiederum ausgesprochen werden. empfinden die Situation als beängstigend und mitun- ter die Sicherheit ihrer Wohnung als bedroht. Die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten heutige Debatte ist also überfällig. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Unser am 6. Dezember eingebrachter neuer Novel- lierungsantrag entspricht einem breiten Interesse an Daß das Altschuldenhilfe-Gesetz neben den partiel- der Klärung der bisher strittig gebliebenen Fragen, len Entlastungen auch zu neuen Problemen und denen sich die Regierungskoalition auch unter Hin- Belastungen für Wohnungsunternehmen und vor weis auf den Lenkungsausschuß nicht einfach entzie- allen Dingen für Wohnungsgenossenschaften geführt hen kann; denn der Lenkungsausschuß hat bisher die hat, wird auch aus einem Bericht des Unterausschus- damals in ihn gesetzten Erwartungen zum Ausräumen ses Privatisierung deutlich, in dem es heißt, auch von Detailproblemen in dem Maße gar nicht erfüllen teilweise Privatisierungserfolge könnten — nun können, weil die schwerwiegenden Mängel des Alt- Zitat — „nicht darüber hinwegtäuschen, daß auch schuldenhilfe-Gesetzes nicht durch Retuschen aufge- eine Reihe ernstzunehmender Probleme" — ich hoben, sondern nur konsequent als Ganzes geheilt betone: ernstzunehmender Probleme — „bei der werden können. Das kann der Lenkungsausschuß Anwendung des Altschuldenhilfe-Gesetzes zu ver- eben nicht leisten. zeichnen" seien. Woher also Sie, Herr Minister, in diesem Kontext die Diese Probleme macht der Unterausschuß vorwie- optimistische Überzeugung nehmen, das Altschul- gend folgendermaßen fest. Genannt wird zunächst die denhilfe-Gesetz bedürfe keiner Novellierung, mag äußerst schwierige Privatisierung von zumeist unat- vorerst Ihr Geheimnis bleiben. Wir wissen es besser. traktiven Wohnungsbeständen in Plattenbausiedlun- Die Wohnungswirtschaft weiß es besser, und verant- gen. Der Wohnwert der Platte wird auch durch eine wortliche Wohnungspolitiker in den neuen Bundes- aufwendige Sanierung nicht besser. Die Sozialstruk- ländern wissen es auch. tur der Mieter und deren oft ungewisse persönliche Perspektive schaffen zusätzliche Erschwernisse. Die (Iris Gleicke [SPD]: Das BMBau weiß es zu privatisierenden Wohnungen in Ordnung zu brin- auch!) gen kostet Zeit und Geld. Die progressive Erlösabfüh- rungsstaffelung ist dabei kontraproduktiv, denn den Die analog hier eingebrachten Anträge vom BÜND- Unternehmen läuft ohne ihr eigenes Verschulden NIS 90/DIE GRÜNEN und von der PDS nehmen unser Novellierungsanliegen auf, ohne daß wir im Detail auch noch die Zeit weg. nun immer übereinstimmen müssen. Darüber müssen Das gleiche gilt, wenn die rechtskräftige Übertra- wir die Auseinandersetzung in den anstehenden gung von Grundstücken nach dem Vermögenszuord- Beratungen führen; denn es geht ja im Interesse der nungsgesetz noch aussteht. Auch hier gibt es für die betroffenen Bürger und im Interesse der Wohnungs- Unternehmen einen unverschuldeten Zeitverlust, der wirtschaft um realitätsbezogene und machbare ihnen nach der Erlösabführungsstaffelung erhebliche Lösungen. finanzielle Nachteile bringt. Die von uns vorgelegte Gesetzesnovelle fordert die Es bleibt letztlich nur die Möglichkeit, aus der Not Überprüfung eines Privatisierungszwanges, der we- eine Tugend zu machen, z. B. durch ein Zwischener- der die höchst unterschiedlichen Bedingungen von werbermodell, wie es in meinem Wahlkreis Rostock Unternehmen und Genossenschaften noch die Mie- aus der Not heraus entstanden ist. Dieses Modell der terinteressen ausreichend berücksichtigt. Unsere ROGEWO, das Sie sich jetzt so sehr auf die Fahnen konkreten Forderungen hat im Detail bereits meine schreiben, beweist auch: Solche Modelle können nur Kollegin Iris Gleicke beschrieben; dankenswerter- dann schadlos funktionieren, wenn der Vertrauens- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 705

Dr. Christine Lucyga Schutz für Mieter dabei im Vordergrund durchgeführt Wen wundert es eigentlich, wenn immer mehr und das Projekt in kommunaler Verantwortung steht Menschen zwar keine Lösung ihrer Probleme durch und vor allen Dingen von sozialer Verantwortung die Politik, dafür aber diese Art von Politik als ihr getragen wird. Dann mag es gehen, aber auch nur Problem sehen? dann. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nach wie vor bleibt es bei der Feststellung, daß mit des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) der progressiven Erlösabführung die Weichen schon So müssen wir auch die immer lauter werdende vom Grundsatz her falsch gestellt sind. Sollte es ein Befürchtung, es könnte ab Mitte 1995 zu einer Anliegen des Altschuldenhilfe-Gesetzes sein, wie hier Mieterhöhungswelle erheblichen Ausmaßes in Ost- beredt ausgeführt, die Wohneigentumsbildung in den deutschland kommen, sehr ernst nehmen. In der neuen Ländern zu fördern, dann geht für meinen Diskussion um die Einführung von Vergleichsmieten Geschmack bei diesem Versuch zu vieles ins Leere hat die Tatsache, daß zum gleichen Zeitpunkt auch die und in die falsche Richtung. Zinsen aus Altschulden für Wohnungsunternehmen fällig werden, trotz des Statements der Bundesregie- Ich habe vor dieser Debatte im Protokoll vom rung, es werde keine direkte Belastung der Mieter 27. Mai 1993 nachgelesen und die Privatisierungs durch Umlage des Kapitaldienstes für Altschulden euphorie der Bundesregierung im Zusammenhang geben, dafür gesorgt, daß hartnäckig das Gespenst mit den Altschulden damit begründet gefunden, daß einer Mietpreisexplosion im Osten Deutschlands — Zitat von Staatssekretär Grünewald — „die Integra- tion der ostdeutschen Wohnungswirtschaft in die umgeht. Soziale Marktwirtschaft in entscheidenden Punkten Die Wohnungswirtschaft ihrerseits hat bereits vorangekommen" sei. Diese Argumentation habe ich unmißverständlich deutlich gemacht, daß sie allein mir einmal durch den Kopf gehen lassen. Ich finde, sie die Kapitaldienstleistungen für Altschulden und neue ist nicht nur falsch, sondern irgendwie auch naiv und Kredite nicht tragen kann, und eine Investitionslücke irgendwie auch ein bißchen unehrlich oder alles in zweistelliger Milliardenhöhe prognostiziert. Diese zusammen; denn Privatisierung von oben, gewisser- Tatsache macht klärende Aussagen von Bund und maßen per Dekret und mit Zwangsjacke, hat doch mit Ländern notwendig, um den Mietern die Sorge und Marktwirtschaft nur sehr wenig zu tun, mit Sozialer den Wohnungsunternehmen die Ungewißheit zu neh- Marktwirtschaft schon überhaupt nichts. men. Ich möchte jetzt zwar noch keine Ausführungen zur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Vergleichsmiete machen, jedoch schon jetzt betonen: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Die SPD-Fraktion wird weiter dafür streiten, daß die PDS) - Mietentwicklung der Einkommensentwicklung nicht Marktwirtschaft bedeutet für mich, die ich bisher davonläuft. Rasch gehandelt werden muß übrigens nur wenig Erfahrung damit habe — denn ich habe es auch deshalb, um eine verbesserte Teilentlastung für ja nicht von der Pike auf „gelernt", im Gegenteil —, Wendebauten umzusetzen, die vom Lenkungsaus- daß Angebot und Nachfrage übereinstimmen, daß es schuß bereits Anfang Dezember vorgeschlagen Wahlmöglichkeiten bei Angeboten gibt, nicht aber, wurde. wie es jetzt geschieht, daß der Wohnraummangel die Herr Minister, im Ausschuß sprachen Sie gestern Preise treibt und daß die individuelle Privatisierungs- von dem Ihnen bevorstehenden Vergnügen, heute entscheidung für die angebotene eigene Wohnung, den Antrag der SPD zur Änderung des Altschulden- die man eigentlich gar nicht kaufen möchte, womög- hilfe-Gesetzes zu debattieren. Ich kann Ihnen ein lich ein Angstkauf unter dem Druck der Umstände ist. weiteres Vergnügen empfehlen, das Sie sich gönnen Angstkäufe kenne ich aus vergangenen Zeiten noch sollten: Machen Sie Nägel mit Köpfen, machen Sie mit sehr gut. Aber das war wohl unter anderem Vorzei- bei der Novellierung des Altschuldenhilfegesetzes! chen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) PDS) Nein, wir brauchen für die spezifischen Probleme Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der der Wohnungswirtschaft im Osten Deutschlands auch Kollege Josef Hollerith (CDU/CSU). ein problemgerechtes Herangehen. Es hat viel mit einem uns aus früheren Zeiten noch gut bekannten Gefühl von Entmündigung zu tun, wenn den Men- Josef Hollerith (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine schen im Osten zwar immer vorgehalten wird, alles sei sehr verehrten Damen und Herren! Es mutet wie ein marode, trist, verschuldet, schlecht, um sie anschlie- schlechter Treppenwitz der Weltgeschichte an, wenn ßend genau für dieses marode, triste, verschuldete sich die PDS heute zum Fürsprecher der Menschen in Zeug kräftig zur Kasse zu bitten. Auch über das den Plattenbauten der früheren DDR macht. Die geltende Genossenschaftsrecht hinweg bzw. über die Menschen in den neuen Bundesländern wissen sehr besondere rechtliche Situation von Wohnungsgenos- wohl, wer die Kader, wer die SED-Verbrecher und senschaften hinweg werden ihnen Privatisierungsauf- Kommunisten waren und sind, die für den Zustand der lagen diktiert, die den besonderen Charakter genos- Wohnungswirtschaft in der früheren DDR Verantwor- senschaftlichen Eigentums außer acht lassen. Von tung getragen haben. Achtung vor den Menschen und ihrer Lebensleistung (Gerhard Zwerenz [PDS]: Das muß man sich zeugt dieses Herangehen nun nicht gerade. doch nicht anhören!) 706 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Josef Hollerith Moralisch hat die PDS, haben Sie keine Berechtigung, Dazu zählt der Wille bei den politisch Verantwortli- sich als Hüter der Wohnungsinteressen der Bürgerin- chen und der Wohnungswirtschaft. Dazu zählen nen und Bürger der neuen Bundesländer aufzuspie- umfassende und sachliche, seriöse Beratung der Mie- len. ter und Kaufinteressenten und ein Konzept für die Aber auch sachlich ist der PDS-Antrag eines Ersten Modernisierung und Aufwertung des Wohnumfeldes. Altschuldenhilfe-Änderungsgesetzes auf Drucksache Das Beispiel der Firma GEWOBA im Lande Branden- 13/100 verfehlt. Die Privatisierung ist und bleibt der burg, welche den Quadratmeter Plattenbau für 3 000 beste Weg, um Wohnungen dauerhaft zu sanieren, zu DM angeboten hat, zeigt, daß es offensichtlich am modernisieren und das Wohnumfeld attraktiv zu ver- Willen zur Privatisierung in Teilen der neuen Bundes- bessern. länder fehlt. Eigentlich hat der Bundesminister für Wohnungs- (Beifall bei der CDU/CSU) bau die sachlichen Erklärungen in brillianter Weise Diese 3 000 DM sind entweder ein Modell des Abkas- gegeben. Aber nachdem gerade meine Vorrednerin sierens oder ein Abwehrinstrument, um die Privatisie- wieder erkennen ließ, daß sie die Sachlichkeit der rung zu verhindern. Argumentation offensichtlich immer noch nicht zu übernehmen bereit ist, muß ich noch einmal auf die (Zuruf von der F.D.P.: Beides!) Leistungen der Bundesregierung und der sie tragen- — Ich denke, daß es wohl beides ist. den Koalitionsfraktionen hinweisen. Die Wohnungswirtschaft ist in besonderer Weise (Achim Großmann [SPD]: Sehr charmant!) gefordert. Wir erwarten, daß sie die Mieter gründlich Mit dem Instrumentarium des Altschuldenhilfe- über alle Rechts- und Wirtschaftsfragen im Zusam- Gesetzes ist eine wirksame Entlastung der Mieter und menhang mit einem anstehenden Kauf informiert, daß Eigentümer von der sozialistischen Erblast erfolgt. Die sie eine sozial verträgliche Gestaltung der Verkaufs- finanziellen Aufwendungen von Bund und Ländern preise vornimmt und daß sichergestellt bleibt, daß sind erheblich: 31 Milliarden DM durch die Teilentla- kein nichterwerbsbereiter Mieter aus seiner Mietwoh- stung von Altschulden allein beim Bund und ca. nung verdrängt wird. Auch sei daran erinnert, daß die 7 Milliarden DM, je zur Hälfte von Bund und neuen Pflicht zur progressiven Abführung an den Erblasten- Ländern, durch Zinshilfe. Neben dieser Altschulden- tilgungsfonds auf eine Forderung der Länder zurück- hilfe kommen umfangreiche staatliche Förderpro- geht. Offen sind wir für kreative Lösungen, z. B. eine gramme zur Modernisierung und zur Verbesserung Eigentumsbildung durch Nutzung von Fondslösun- des Wohnumfeldes hinzu: allein 630 Millionen DM gen, um gesetzliche Vorgaben zu erfüllen. Zinshilfe von 2 bis 5 % je nach Fördermaßnahme für Frau Kollegin Eichstädt-Bohlig, ich habe sehr inter- bis zum 31. Dezember 1995 bewilligte Darlehen über essiert Ihren Ausführungen zugehört. Mir sind dabei einen Zeitraum von 10 Jahren durch die Kreditanstalt zwei Dinge aufgefallen, die ich nicht nachvollziehen für Wiederaufbau, 620 Millionen DM Städtebauför- kann. Einmal Ihre grundsätzliche Einschätzung und dermittel im Etat des Bundesbauministers allein für Ihre grundsätzliche Kritik der Versammlungen von die neuen Länder. Als besonders bedeutsam zu nen- Wohnungseigentümergemeinschaften. Ich kann nen sind dabei vor allem die städtebaulichen Modell- diese Einschätzung, daß hier im Regelfall ein Zusam- vorhaben und die städtebauliche Weiterentwicklung mentreffen von streitlustigen und streitsüchtigen Per- großer Neubaugebiete in den neuen Bundesländern. sonen stattfindet, nicht nachvollziehen, im Gegenteil. Dabei soll durch gezielte Fördermaßnahmen das Ich habe Wohnungseigentümerversammlungen im- Wohnumfeld in den in industrieller Fertigbauweise mer als Veranstaltungen erlebt, wo demokratische errichteten Großsiedlungen nachhaltig verbessert Willensbildungsprozesse ablaufen und wo im Inter- werden. Hinzu kommen zusätzliche Wohngeldlei- esse des Eigentums entschieden wird. stungen zur sozialen Abfederung der Mietpreisanpas- sungen. Ich muß auch bei dieser Gelegenheit eine grund- sätzliche Anmerkung zum Instrument des Wohnungs- Diese umfangreichen staatlichen Hilfen ermögli- teileigentums machen. Das Wohnungsteileigentum chen den Wohnungsunternehmen, zum einen mehr hat sich für Kapitalschwächere als hervorragende Kapital für die Modernisierung aufzuwenden und zum Möglichkeit bewährt, Wohn- und -Teileigentum zu anderen ein stärkeres Engagement für den Woh- erwerben, quasi als Einstieg, um sich später größere nungsneubau zu leisten. Beide Maßnahmen helfen Einheiten leisten zu können. Es hat sich gerade bei den Mietern, denn der beste Mieterschutz ist und jungen Menschen hervorragend bewährt, Wohnungs- bleibt ein großes Angebot bedarfsgerechter Wohnun- teileigentum durch Ansparmodelle zu begründen. gen. Ich muß ein Zweites, was ich in Ihrem Vortrag so Der durchschlagende Erfolg des Altschuldenhilfe- nicht akzeptieren kann, anmerken. Sie haben auch Gesetzes läßt sich auch daran ablesen, daß nahezu die Zwischenerwerbermodelle in Frage gestellt. Ich alle durch das Gesetz berechtigten Wohnungsunter- meine, wenn sie, wie es der Bundesbauminister nehmen, Wohnungsgenossenschaften, Kommunen erklärt hat, in der richtigen Vertragsgestaltung ent- und private Vermieter einen Antrag auf Altschulden- wickelt und verwendet werden, dann sind sie sehr hilfe gestellt haben. Insgesamt wurden über 33 000 geeignet, unter Umständen fehlendes Know-how zu Anträge eingereicht, darunter sind rund 30 000 pri- transferieren, um dadurch die gewollte Privatisierung vate Vermieter. zu verstärken, eine seriöse Beratung der Mieter zu Eine erfolgreiche Privatisierung setzt allerdings leisten, die schwierigen Fragen der Trennung von auch ein hohes Engagement der Beteiligten voraus. Gemeinschafts- und Sondereigentum in großen Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 707

Josef Hollerith Wohnanlagen der Plattenbauten zu lösen, die Moder- Wir haben bemängelt, daß es zu spät kommt. Aus nisierung des Wohnumfeldes zu organisieren etc., so den 36 Milliarden DM Altschulden, die zunächst daß ich Ihre Kritik an diesem Zwischenerwerbermo- bestanden, sind nun 59 Milliarden DM geworden. dell nicht teilen kann. Im Gegenteil, ich sehe darin ein Dies resultiert z. B. daraus, daß Ihre Vorgängerin, Herr hervorragendes Instrument, um das Ziel der sozialver- Töpfer, über mehrere Jahre hinweg versucht hat, die träglichen Privatisierung zu erreichen. Schulden drittelweise auf Bund, Länder und Gemein- Meine sehr verehrten Damen und Herren, meine den zu verteilen. Das heißt, es sind Modelle verfolgt Redezeit ist damit ausgeschöpft. Ich hätte gerne worden, die nicht greifen konnten. Ergebnis: Wir noch — — haben es jetzt mit viel höheren Schulden zu tun. Wenn der Bund nun bei Schulden, die früher insgesamt bei 36 Milliarden DM lagen, mit 31 Milliarden DM ein- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Sie haben noch steigt, kann man sich an den Fingern abzählen, wie anderthalb Minuten. preiswert es für den Steuerzahler hätte werden kön- nen, wenn man auf dieses Altschuldenproblem sofort Josef Hollerith (CDU/CSU): Dann kann ich noch zu reagiert hätte. der Frage Käufer- und Verkäufermodelle einige (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Anmerkungen machen. der PDS — Beifall der Abg. Franziska Eich In manchen Passagen des Berichts des Unteraus- städt-Bohlig [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schusses — er ist hier eingehend diskutiert worden — Zweitens. Wir haben schon bei der Diskussion über schien es, als würde es sich urn einen ideologischen das Altschuldenhilfe-Gesetz gesagt: Es hat Macken. Streit über das Käufer- oder Verkäufermodell han- Das ist nun einmal so. Auch viele andere Gesetze deln. Das Verkäufermodell — ich muß es kurz ausfüh- haben Macken. Wir haben in der letzten Legislatur- ren — sieht vor, daß der Verkäufer die Modernisie- periode gerade in der Folge der deutschen Einheit rung leistet, die Verbesserung des Wohnumfeldes eine Fülle von Gesetzen in teilweise sehr großer gestaltet, die gesamte Infrastruktur neu herstellt und Hektik verabschiedet. Wir haben festgestellt, daß wir verbessert und schließlich die Sanierung des späteren an sehr vielen Gesetzen haben nacharbeiten müssen. Sondereigentums vornimmt. Im Unterschied dazu Das ist doch etwas ganz Normales. Das ist noch nicht sieht das Käufermodell vor, daß diese Leistungen, also einmal eine Kritik. Nur muß man zugeben, daß es die Sanierung des Sondereigentums, die Modernisie- Fehler gibt, und dann muß man an die Arbeit gehen rung, die Verbesserung des Wohnumfeldes des und die Fehler ausmerzen. Das heißt, man muß sich Gemeinschaftseigentums, von den künftigen Woh- der Aufgabe stellen, das Gesetz zu novellieren. nungsteileigentümern zu erbringen sind. - An dieser Stelle beginnt eine weitere Verzöge- Ich meine, daß in der Praxis Flexibilität notwendig rungstaktik, die ich für verhängnisvoll halte. Zunächst bleibt. Jedes dieser Modelle kann je nach dem Einzel- ist drei Jahre zugewartet worden, und die Schulden fall das bessere sein. In kleinen Wohnanlagen mit sind explodiert. Danach ist auch seitens der Bundes- überschaubaren Größen von 6, 8, 20 Wohneinheiten regierung gepokert worden. Ich kann das belegen. Ich mag das Käufermodell geeigneter sein, da es die habe mir ein paar Zitate aufgeschrieben. Zum Beispiel Chance bietet, das Teileigentum preiswerter zu ver- hat im Frühjahr 1994 Dr. Vogel vom Kanzleramt kaufen, während das Verkäufermodell im Regelfall verkündet: sicherlich in großen Wohnanlagen mit 1 000 und mehr Für die Bundesregierung ist in der Altschulden Wohnungen Vorteile bietet, weil die Aufteilung, die frage das Ende der Fahnenstange erreicht. Modernisierung des Gemeinschaftseigentums und die Verbesserung des Wohnumfeldes aus einer quali- so zu lesen in der Zeitung „Die Wohnungswirt- fizierten Hand besser gewährleistet werden können. schaft". Insofern bitte ich, auch hier, wie bei allen anderen Im November 1994 hat der Vertreter der Bundesre- Fragen die Instrumente sehr sachlich, pragmatisch gierung, in diesem Fall der Vertreter des BMBau, bei und flexibel zu nutzen. der ARGE-Bau-Sitzung gesagt, die Haltung der Bun- Ich danke. desregierung zu einer Novellierung des Altschulden- hilfe-Gesetzes sei noch offen. Eine Novellierung (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) müsse jedoch finanzneutral sein. Es sei zu berücksich- tigen, daß jede Änderung der Erlösabführung fiskali- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat der sche Konsequenzen habe. Kollege Achim Großmann (SPD). Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Achim Großmann (SPD): Herr Präsident! Meine Großmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Damen und Herren! Ich will versuchen, auf die Diskussion einzugehen und noch einmal herauszuar- Achim Großmann (SPD): Wenn mir das nicht auf beiten, wo wir weitestgehend einer Meinung sein meine sehr knappe Redezeit angerechnet wird. könnten. Ich will aber gleichzeitig aufdecken, Herr Minister Töpfer, wo Sie zugekleistert und nicht ganz Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das wird nicht die Wahrheit gesagt haben. angerechnet. Zunächst einmal zum Positiven: Das Altschulden- hilfe-Gesetz ist im Grunde genommen ein gutes Hildebrecht Braun (Augsburg) (F.D.P.): Herr Groß- Gesetz; das ist nicht bestritten worden. mann, verstehe ich Sie richtig, daß Sie den Koalitions- (Beifall der Abg. Lisa Peters [F.D.P.]) fraktionen der letzten Legislaturperiode vorwerfen, 708 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Hildebrecht Braun (Augsburg) daß sie nicht bereits vor drei Jahren zu einer erhöhten gründen sie also, aber mit dem Ziel, sie möglichst Belastung der Mieter dadurch beigetragen haben, daß schnell wieder aufzulösen. — Ich habe überhaupt sie gesagt haben, für drei Jahre solle im Moment noch nichts dagegen, daß man über neue Genossenschafts- nicht getilgt und nicht zurückgezahlt werden müs- modelle diskutiert; das habe ich gestern auch im sen? Ausschuß gesagt. Aber es geht darum, daß sich in den (Zuruf von der SPD: Keine Ahnung!) neuen Bundesländern vorwiegend die Menschen die Wohnungen nicht kaufen können, die kein richtiges Einkommen haben, um sich eine Wohnung leisten zu Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Sie müssen ste- können. Das heißt, gerade in Ostdeutschland ist die hen bleiben, Herr Kollege. Lösung Mietergenossenschaft die prädestinierte Lö- sung. Achim Großmann (SPD): Herr Braun, von mir aus (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten können Sie sitzen, aber die Tradition des Hauses des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) verlangt, daß Sie stehen bleiben. Warum — das muß mir einmal einer sagen — kommen Sie liegen falsch, denn auch jetzt, in den letzten wir auf die Idee, in den neuen Bundesländern, wo die anderthalb Jahren, zahlt die Bundesregierung die Einkommen deutlich hinter der Entwicklung im Zinshilfen. Dagegen sind in den ersten drei Jahren die Westen hinterherhinken, ein Versuchskaninchenmo- Zinsen auf die Schulden draufgerechnet worden. Die dell nach dem Motto Norweger-Genossenschaft auf- Bundesregierung hat nicht reagiert und hat den zulegen, das wir in Westdeutschland noch nicht ein- Schuldenberg angehäuft. Die Zinshilfe, die man jetzt mal probiert haben? Das heißt: Lassen Sie uns über seit anderthalb Jahren zahlt, hätte man früher zahlen neue Genossenschaftsmodelle nachdenken, aber können, dann wären die Schulden wesentlich gerin- bitte nicht im Rahmen des Altschuldenhilfe-Gesetzes. ger gewesen. Das ist ein ganz einfaches Rechenbei- Modelle, die nur Versuchskaninchen sind, sind in spiel. Ostdeutschland angesichts der schwierigen Situation (Beifall bei der SPD und der PDS) der Menschen, die dort leben, nicht zulässig. Ich bin bei dem Hinweis unterbrochen worden, daß (Beifall bei der SPD und der PDS sowie bei die Bundesregierung Verzögerungstaktik eingeführt Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE hat, und zwar auch im Lenkungsausschuß. Lieber GRÜNEN) Herr Kollege Rau, es ist nicht so, daß man mit Ihren Wir fordern Sie auf: Kehren Sie zu dem zurück, was neuen kreativen Vorschlägen, mit denen Sie heute Ihre Vorgängerin gesagt hat; lassen Sie Mietergenos- gekommen sind, unbedingt bis zum Januar 1995 hätte senschaften zu; lassen Sie die Ausgründung von warten müssen. Der Lenkungsausschuß ist seit Herbst Genossenschaften aus dem kommunalen Wohnungs- 1993 bei der Arbeit, und bis heute sind die Leute bestand zu! anscheinend nicht auf diese Gedanken gekommen. Daß Sie sich diese Gedanken jetzt machen, zeigt doch, Zweiter Punkt: Zwischenerwerbermodelle. Wir daß da in bestimmten Bereichen etwas hakt, daß es sind für Zwischenerwerbermodelle; das steht auch in nicht funktioniert und nicht richtig vorangeht. unserem Antrag. Nur ist es intellektuell völlig unred- Deshalb haben wir den Novellierungsantrag lich, wenn Sie z. B. in Ihrer Presseerklärung vom gestellt. Dies geschah auch deshalb, weil uns der 3. Januar den ostdeutschen Bauministern vorwerfen, Vertreter des BMBau im Unterausschuß gesagt hat: Im man habe sich ja von den Zwischenerwerbermodellen Lenkungsausschuß kann beschlossen werden, was im Lenkungsausschuß zurückgezogen, obwohl sogar will, es gibt keine Rechtsverbindlichkeit, die KfW die SPD-Bundestagsfraktion diese Modelle vor- kann trotzdem tun, was sie will. Was ist denn los? Ich schlage, und wenn Sie verschweigen, was wir vorge- werde gleich an ein paar Beispielen belegen, daß wir schlagen haben. Darüber gehen Sie jovial hinweg, in novellieren müssen. Es reicht eben nicht, daß wir nur der Hoffnung, daß die Journalisten das relativ flüchtig im Lenkungsausschuß reagieren, abgesehen davon, lesen und Ihre frohe Botschaft in die ganze Welt daß der Lenkungsausschuß anscheinend nur Empfeh- hinaustragen. In unserem Antrag gibt es ein Junktim lungscharakter hat und daß anschließend doch zwischen der linearen Erlösabführung und den Zwi- gemacht werden kann, was man will. schenerwerbermodellen. Das macht Sinn. Wenn wir nämlich Zwischenerwerbermodelle zulassen — über Kommen wir zu den wirklichen Knackpunkten! Das die vertraglichen Bedingungen will ich noch kurz sind zum einen — ich nenne sie einmal so — die sprechen —, dann ermöglichen wir, daß Zwischener- Interimsgenossenschaft, die Sie vorschlagen, zum werber jetzt kaufen, bis zum Jahre 2003 die Chance zweiten das Zwischenerwerbermodell, zum dritten haben, zu privatisieren, also Eigentum zu bilden, und die kleinen Wohnungsgesellschaften und zum vierten gleichzeitig — da die Grundbucheintragung entschei- die gesamte fiskalische Frage, die auch im Lenkungs- dend ist für die Erlösabführung — 30 % Erlösabfüh- ausschuß eine Rolle gespielt hat. rung zahlen. Die kommunalen Wohnungsunterneh- Zu den Interimsgenossenschaften. Vor der Wahl men, die keinen Zwischenerwerber finden, weil ihr hat die Bundesbauministerin gesagt, sie sehe ein, die Wohnungsbestand relativ unattraktiv ist, und die Ausgründung von Genossenschaften werde man als ebenfalls die Zeit bis zum Jahre 2003 benötigen, Privatisierung anerkennen. Das war nach der Bundes- profitieren davon nicht. Sie müssen 30 %, im nächsten tagswahl vergessen. Jetzt gehen Sie in den Lenkungs- Jahr 40 %, dann 50 % usw. progressive Erlösabfüh- ausschuß und sagen: Ich habe jetzt eine neue Idee; wir rung leisten. Das heißt, hier gibt es eine Ungleichbe- machen jetzt eine ganz andere Art von Genossen- handlung. Das können wir nicht zulassen. Deshalb schaften, eine Zwischendurch- Genossenschaft, wir geht das so nicht. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 709

Achim Großmann Das Folgende ist schon sehr unredlich, Herr Mini- genauso wie der Teufel im Detail steckt —, muß sich ster. Sie loben Herrn Meyer mit Verweis auf das diesen Vorwurf gefallen lassen. Rostocker Modell. Sie haben im Lenkungsausschuß (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Wider ein Papier auf den Tisch gelegt, das die unmittelbare spruch bei Abgeordneten der CDU/CSU und und mittelbare Beteiligung des Veräußerers, also des der F.D.P.) Wohnungsbauunternehmens, am Zwischenerwerber- modell ausschloß. Das heißt, Sie haben noch vor zwei Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Meine Damen oder drei Wochen im Lenkungsausschuß ein Modell und Herren, wir sind damit am Schluß der Debatte zu untersagen wollen, das in Rostock praktiziert worden diesen Tagesordnungspunkten angelangt. ist und das Sie gerade über den grünen Klee gelobt Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetz- haben. So geht das nicht; das ist sehr unredlich. Unser entwürfe auf den Drucksachen 13/68, 13/100 und Zwischenerwerbermodell sieht vor, daß sich natürlich 13/230 an die in der Tagesordnung aufgeführten Kommunen und andere daran beteiligen können. Ich Ausschüsse vorgeschlagen. — Ich sehe keine abwei- frage Sie: Warum kann nicht eine Landesentwick- chenden Vorschläge. Dann verfahren wir so; die lungsgesellschaft zusammen mit der örtlichen Spar- Überweisung ist beschlossen. kasse und dem kommunalen Wohnungsunternehmen im Rahmen einer eigens gegründeten GmbH mit Wir kommen jetzt zu dem Punkt 2 der Tagesord- sozial vernünftig abgefederten Bedingung en zugun- nung: sten der Mieter über eine bestimmte Zeit ein Privati- sierungsmodell durchführen? Das geht; das machen Fragestunde wir mit. Aber das, was Sie vorgeschlagen haben, — Drucksache 13/213 — machen wir nicht mit. Es ist unredlich, das alles in Dafür haben wir uns einen Zeitraum von einer Stunde einen Topf zu werfen und dann mit dem Finger auf vorgenommen. andere Leute zu zeigen. Ich rufe zunächst den Geschäftsbereich des Bundes- Meine Redezeit ist um. Ich habe gar nicht alle vier ministeriums des Innern auf. Zur Beantwortung steht Punkte aufgreifen können. Vielleicht kann ich nur der Parlamentarische Staatssekretär Eduard Lintner noch kurz etwas zu den kleinen Wohnungsbaugesell- zur Verfügung. schaften sagen. Die Fragen 34 bis 38 werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Es muß aber sehr Ich rufe die Frage 39 des Abgeordneten Fr ank kurz sein. Hofmann (SPD) auf: - Beabsichtigt der Bundesminister des Innern eine Neuorgani- Achim Großmann (SPD): Ganz kurz. — Wenn eine sation der Luft- und Bodenrettung unter Ausschluß des Bundes- Wohnungsgesellschaft 400 Wohnungen hat und dann grenzschutzes? noch privatisieren muß, dann ist es betriebswirtschaft- licher Unfug, diese Wohnungsgesellschaft überhaupt Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- noch am L eben zu erhalten. minister des Innern: Herr Präsident, mit Genehmi- gung des Fragestellers würde ich gerne die Fragen 39 Vielen Dank. und 40 gemeinsam beantworten. Ist die Genehmi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD, des gung erteilt? BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der (Frank Hofmann [Volkach] [SPD]: Ja!) PDS — Bundesminister Dr. Klaus Töpfer meldet sich zu Wort) — Gut, danke. Dann rufe ich Die Bundesregie- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: auch noch die Frage 40 des Abgeordneten Frank rung hat jederzeit die Möglichkeit, das Wort zu Hofmann auf: ergreifen. Welche Absichten bestehen hinsichtlich der künftigen Orga- nisation der zivilen Rettungsdienste? Dr. Klaus Töpfer, Bundesminister für Raumord- nung, Bauwesen und Städtebau: Herr Präsident, ich Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- wollte den Kollegen Großmann nur fragen, an welcher minister des Innern: Die Antwort lautet: Der Rettungs- Stelle er in seinen Ausführungen einen Beleg dafür dienst in Deutschland obliegt, ungeachtet dessen, ob gegeben hat, daß seine Eingangsbemerkung richtig er zu Lande oder in der Luft durchgeführt wird, als war, ich hätte in meinen Ausführungen die Wahrheit Aufgabe der staatlichen Daseinsvorsorge im Bereich nicht gesagt. des Gesundheitswesens nach Art. 30 des Grundgeset- zes ausschließlich den Ländern. Angesichts dieser Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das alles ist zwar eindeutigen Zuständigkeit obläge es alleine den Län- von der Geschäftsordnung her nicht ganz korrekt; dern, die Luft- und Bodenrettung neu zu organisieren. aber ich gebe dem Abgeordneten Großmann trotzdem Dem Bund ist hierüber nichts bekannt. die Möglichkeit zu einer Antwort. Was die Beteiligung des Bundes an der Länderauf- gabe Luftrettung betrifft, ist folgendes anzumerken: Achim Großmann (SPD): Ich meine, ich habe Ihnen Von den 50 bundesweit vorhandenen Luftrettungssta- an mehreren Stellen nachgewiesen, daß Sie sehr tionen sind gegenwärtig 22 mit 31 Zivilschutzhub- unredlich argumentiert haben. Wer unredlich argu- schraubern des Bundes besetzt, die fliegerisch vom mentiert — die Wahrheit steckt bekanntlich im Detail, Bundesgrenzschutz betreut werden. Die Zivilschutz- 710 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Parl. Staatssekretär Eduard Lintner hubschrauber hat der Bundesminister des Innern den Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes- Ländern im Wege des sogenannten Doppelnutzens kanzleramtes. Zur Beantwortung steht Herr Staatsmi- nach § 1 Abs. 2 des Zivilschutzgesetzes für Zwecke des nister Schmidbauer zur Verfügung. Katastrophenschutzes und für den Einsatz in der Ich rufe die Frage 5 des Abgeordneten Dr. Helmut Luftrettung zur Verfügung gestellt. Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf: Vor dem Hintergrund der Entspannung der welt- Hält die Bundesregierung die Aussage des Ex-Fallschirmjä- politischen Sicherheitslage und der gegenwärtig ger-Majors Raethjen, der — laut „Stern" und „Tagesthemen" — schwierigen Haushaltssituation ist es unvermeidbar, von 1979 bis 1983 im Auftrag des BND mehrere Hundertschaften auch die Ressourcen des Zivilschutzes auf ein unver- von Gaddafis Wachregiment in „Nahkampf und lautlosem Töten" ausgebildet hat, für plausibel „Eine Operation dieser zichtbares Mindestmaß zurückzuführen. Zu diesem politischen Brisanz ist — aus meiner siebenjährigen Erfahrung Zweck wird der Bundesminister des Innern — wor- heraus — nur möglich mit Kenntnis und Erfahrung der obersten über er seine betroffenen Länderkollegen bereits Behördenleitung", und warum hat die Bundesregierung in unterrichtet hat — die von den Beamten des BGS diesen Jahren nichts dagegen unternommen, daß selbst heute noch vier Ausbilder dort arbeiten, obwohl spätestens seit Ende geflogenen Zivilschutzhubschrauber des Bundes im 1980 durch den Briefwechsel Raethjen — Bundeskanzleramt Laufe des Jahres 1995 aus sechs Stationen zurückzie- diesem das Unternehmen bekannt war? hen. Die rettungsdienstliche Versorgung der Bevölke- Herr Staatsminister. rung in den be troffenen Regionen wird jedoch hier- durch nicht beeinträchtigt werden, da der Rückzug des BGS erst zu einem Zeitpunkt erfolgen wird, zu Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- dem die Länder eine nahtlose Weiterführung der kanzler: Herr Kollege, auf Ihre Frage darf ich Ihnen Luftrettung durch Vergabe der Stationen an neue sagen, daß sich nach den vorliegenden Berichten des Betreiber sichergestellt haben werden. BND der Sachverhalt wie folgt darstellt. Ich gebe diesen Hinweis sehr bewußt, da wir, wie Sie wissen, auf Akten aus den 70er Jahren bis 1981 zurückgreifen Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Herr Kollege, Sie haben zu jeder Frage zwei Zusatzfragen. müssen. Ich beziehe mich auf diese Akten und auf die entsprechenden Stellungnahmen der Dienste gegen- Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Herr Staatssekre- über dem Bundeskanzleramt und kann Ihnen auf der tär, nach welchen Kriterien werden bzw. wurden die Basis dieser Akten antworten. sechs Stationen ausgewählt, die zuerst abgebaut wer- Der frühere Major der Bundeswehr Raethjen hat die den? Ausbildungstätigkeit in Libyen auf eigenen Ent- schluß und ohne Auftrag des BND ausgeübt. Der BND Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- hat im Gegenteil Herrn Raethjen schon im August minister des Innern: Es gibt im wesentlichen zwei 1978 eindeutig erklärt, daß er sich an dem Ausbil- Kriterien. Zum einen muß das übrigbleibende Netz dungsvorhaben nicht beteiligen werde. Die Kenntnis das Bundesgebiet abdecken, weil wir für den Vertei- von dem Vorhaben reichte damals bis zum zuständi- digungsfall noch ein Minimum an Vorbereitung tref- gen Abteilungsleiter. fen müssen. Zum anderen ist berücksichtigt worden, Ich sage den Satz noch einmal: Ohne Mitwirken des wie weit die Entfernung zur jeweiligen Hubschrau- BND hat Herr Raethjen, wenn überhaupt, diese Arbeit bermutterstation, wenn Sie es so sagen wollen, ist. aufgenommen. Die Leitung hat — das ist ein interes- Insgesamt ergibt sich die folgende Situation: Wir santer Punkt — von dem Ausbildungsunternehmen haben im Prinzip in jedem Land in Zukunft dann noch am 11. April 1980 erfahren, nachdem sich Herr Raeth- eine solche Rettungsstation und in den großen Flä- jen an den BND gewandt hatte, weil ihm eine Fort- chenländern zwei. Bayern hat vier, so daß zwei unter führung dieses Unternehmens nicht mehr möglich Beachtung der übrigen Kriterien abgebaut werden erschien und weil er beim BND Unterstützung für sollen. seine weiteren beruflichen Pläne suchte. Die Leitung des BND hat jede Beteiligung an den (Volkach) (SPD): In welchen Frank Hofmann Plänen des Herrn Raethjen abgelehnt. Der damalige Dimensionen kommen durch den Rückzug des BGS Präsident des BND — das füge ich gleich hinzu, damit neue Kosten auf die Krankenversicherungen zu? die Zusatzfragen zu diesem Bereich abgearbeitet werden können — hat einen Vermerk zu seiner Parl. Staatssekretär beim Bundes- Eduard Lintner, Entscheidung gemacht. Sie lautete: Finger weg. minister des Innern: Das kann ich Ihnen nicht exakt beantworten. Zunächst haben wir ja schon selber die Die Bundesregierung hat von dem Ausbildungsun- Stundensätze etwa verdoppelt; wir haben sie also seit ternehmen des Herrn Raethjen erstmals durch dessen Ende letzten Jahres den tatsächlichen Kosten ange- Brief vom 18. August 1980 erfahren. Herr Raethjen paßt. Was nun die privaten Betreiber solcher Stationen hatte damals und weiter im Brief vom 18. Oktober verlangen werden, wird davon abhängen, wer infolge 1980 mitgeteilt, daß das Interesse der Libyer an seiner eines Ausschreibungsverfahrens mit der Betreuung Ausbildungstätigkeit erlahmt sei und daß deshalb die betraut wird und welche Verträge und Vereinbarun- Liquidation seiner Firma, die er für diese Tätigkeit gen dann das Land, das ja zuständig ist und bleibt, mit gegründet hatte, eingeleitet werden mußte. diesen Betreibern abschließt. Darin dürfte auch der Grund liegen, daß die da- malige Bundesregierung keinen Anlaß zu eigenen

Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Gibt es weitere Bemühungen um eine Beendigung der Tätigkeit des Zusatzfragen? — Gibt es Zusatzfragen von anderen Herrn Raethjen in Libyen gesehen hat. Weder ihr noch Kollegen? — Das ist nicht der Fall. Ich danke Ihnen, den späteren Bundesregierungen wurde im übrigen Herr Staatssekretär. bekannt, daß trotz des von Herrn Raethjen mitgeteil- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 711

Staatsminister Bernd Schmidbauer ten Endes seiner Ausbildungstätigkeit angeblich noch Die Frage, wieso wir das nicht anders richtigstellen, weitere deutsche Ausbilder für das Wachregiment von ergibt sich aus der Prozedur. Ich halte es für selbstver- Staatspräsident Gaddafi tätig waren und bis heute ständlich, daß, solange sich eine Parlamentarische tätig sein sollen. Kontrollkommission mit diesen Dingen beschäftigt, Ich sage noch einmal zur Verdeutlichung der dama- die Bundesregierung von sich aus nicht zu einzelnen ligen Situation: Im Jahre 1980 hat die Bundesregie- Vorwürfen Stellung nimmt, sondern daß die Richtig- rung Herrn Raethjen auf seine Schreiben eine stellung durch die Presseerklärung des Vorsitzenden abschließende Mitteilung gemacht. Das heißt, die der Parlamentarischen Kontrollkommission erfolgt damaligen Kollegen Schüler und Lahnstein haben in ist. entsprechenden Vermerken und Paraphen die Herr Kollege Lippelt, ich bin auch nicht sicher, daß zuständige Abteilung angewiesen, in Briefen an die Sache damit ein Ende hat. Ich gehe davon aus, daß Herrn Raethjen in entsprechender Weise, wie mitge- alle Ankündigungen in den entsprechenden Organen teilt durch Recherchen des BND und des Bundeskanz- weiter betrieben werden. Auch diesen Dingen werden leramtes, die Situation zu erläutern und damit wir nachgehen. abschließend zu bearbeiten. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Zweite Zusatz- frage, Herr Kollege Lippelt. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Dr. Lippelt, Zusatzfrage? Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Staatsminister, Sie haben bestätigt, daß das Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kanzleramt durch den Briefwechsel Raethjen/Schüler Ja. — Herr Staatsminister, da Sie die Berichte, die jetzt von der Sache Kenntnis hatte. Hat sich denn das erschienen sind, gelesen und sich wahrscheinlich die Bundeskanzleramt angesichts der späteren Probleme Videos angesehen haben, frage ich Sie: Wie will das wie etwa mit Rabta mit der Tatsache, daß im BND Bundeskanzleramt oder wie sollen betroffene Leute gesagt wurde, wir haben damit nichts zu tun, zufrie- gegen diese aus ihrer Sicht geradezu ungeheuerli- dengegeben? chen Verleumdungen vorgehen? Sie müssen doch irgend etwas zur Richtigstellung tun. Wie wollen Sie Hat es nicht irgend etwas unternommen, um der damit umgehen, daß in den Berichten beispielsweise Sache nachzugehen? Denn tatsächlich haben Leute ausgeführt wird, daß der BND mit Herrn Raethjen und aus dieser frühen Zeit ausgebildet. Wir hatten Riesen- mit seinen Mitarbeitern Decknamen vereinbart hat, probleme. Ich erinnere nur an das Stichwort Rabta. Sie daß der BND mit Herrn Raethjen unter dem Namen hatten doch die Pflicht, mehr zu unternehmen, als nur - Randolin umgegangen ist und daß es einmal monat- dem BND Glauben zu schenken, der sagte: Finger lich Treffen mit dem Nahostreferenten gegeben hat? weg. Dort ist doch etwas passiert, und das mußte doch Wie will dieser damit umgehen? Es stehen doch unterbunden werden. ungeheuerliche Behauptungen im Raum. Da genügt Herr Staatsmi- doch kein einfaches Dementi jetzt von Ihnen hier. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: nister Schmidbauer.

Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- kanzler: Herr Kollege, auf Ihre Frage darf ich Ihnen kanzler: Herr Kollege Lippelt, selbstverständlich hat erstens sagen, daß das für diese Thematik zuständige die Bundesregierung die Frage bilateraler Beziehun- Gremium des Parlaments, die Parlamentarische Kon- gen zu diesem Land und mögliche Verstöße gegen trollkommission, all diese Punkte ausführlich erörtert gewisse Kriterien — Embargo oder Fragen der Söld- hat. Ich darf Ihnen auch sagen, daß der Vorsitzende neranwerbung — geprüft. der Parlamentarischen Kontrollkommission des Deut- Zum heutigen Zusammenhang: Ich hätte auch nicht schen Bundestages, der Kollege Dr. Willfried Penner, anders gehandelt als die Kollegen der damals SPD mitteilt, daß die Kommission umfassend, auch durch geführten Bundesregierung, die das zu den Akten Vorlage von Dokumenten, unterrichtet wurde und geschrieben haben, zumal auch der entsprechende einmütig zu dem Ergebnis kommt, daß die in der Briefschreiber davon ausging, daß das Unternehmen, Öffentlichkeit erhobenen Vorwürfe gegen Institutio- das er gegründet hat, dem Ende entgegengeht und nen des Bundes und Personen, die damit dienstlich liquidiert werden müßte. befaßt waren, jeder Grundlage entbehren. Die damalige Bundesregierung konnte nicht mehr Aus dieser Stellungnahme des Kollegen Dr. Will- davon ausgehen, daß dieser Betrieb als Ausbildungs- fried Penner als Vorsitzenden des dafür zuständigen betrieb in Libyen weiter aufrechterhalten blieb. Ausschusses können Sie entnehmen, daß auch die Fragen, die Sie anschneiden, dort erörtert wurden. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Eine Zusatzfrage Ich will hier keine Bewertung des Betroffenen des Kollegen Hirsch. vornehmen. Natürlich lesen die Bundesregierung und auch die Parlamentarische Kontrollkommission Be- Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Staatsminister, richte, die von dem ehemaligen Mitarbeiter des Bun- können Sie mir bestätigen, daß schon in früheren desnachrichtendienstes — das war er ja —, der auch Legislaturperioden, z. B. 1985, im Auswärtigen Aus- im Bereich der Bundeswehr tätig war, gefertigt wur- schuß über angebliche Ausbildungshilfen für Libyen den, und die entsprechenen Medienveröffentlichun- gesprochen wurde? gen. Sie gehen diesen Punkten sorgfältig nach und geben der Parlamentarischen Kontrollkommission zu Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- allen Einzelheiten eine entsprechende Auskunft. kanzler: Ich kann Ihnen das bestätigen. Die Abgeord- 712 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Staatsminister Bernd Schmidbauer nete Kelly hat den damals zuständigen Staatssekretär erübrigt sich eine Frage nach 1983. Das war meiner des BMI befragt. Dinge wie z. B. die Ausbildungshilfe Antwort auch zu entnehmen. Ich sehe keine logische sind dort besprochen worden. Ich kann Ihnen, wenn Begründung für Ihre Nachfrage. das gewünscht wird, die entsprechenden Stellen zitie- 1981 war der Vorgang zu Ende; die Jahre 1983 ff. ren. Ich habe die Unterlagen dabei. Ich gehe jedoch sind jetzt selbstverständlich mit überprüft worden. davon aus, daß wir das, wenn es notwendig wird, im Auch das kann ich Ihnen auf Ihre Frage sagen. Es ist zuständigen Gremium machen. Das Protokoll ist übri- also keine Lücke vorhanden. Der Vorgang Raethjen gens jedem zugänglich. als solcher ist 1981 abgeschlossen.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Eine Zusatzfrage, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Eine weitere Herr Kollege Olderog. Frage stellt Herr Kollege Neumann.

Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Herr Staatsminister, Volker Neumann (Bramsche) (SPD): Herr Staatsmi- der BND hat eine Beteiligung an diesem p rivaten nister, ist der Bundesregierung bekannt, ob der Bun- Ausbildungsprojekt abgelehnt. Können Sie sagen, desnachrichtendienst Kontakte zu der im Artikel wie die Beteiligung bis zu dieser Entscheidung, also zitierten Firma Telemit hatte oder Einfluß auf deren in der Vorbereitungsphase, beim BND ausgesehen Aktionen nahm? hat? Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- kanzler: Der Bundesregierung ist bekannt — es ist kanzler: Ich will die Protokollnotiz aus der PKK jetzt ausführlich diskutiert worden, in welcher Form —, daß nicht heranziehen; der Bundesnachrichtendienst zu der Firma Telemit (Dr. Willfried Penner [SPD]: Das würde ich Kontakte hatte. Ihnen auch nicht raten!) denn dies war ja Gegenstand der Berichterstattung in Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Eine weitere der PKK. Zusatzfrage von Herrn Kollegen Schlee. Ich kann allgemein ausführen, daß es Kontakte von Herrn Raethjen mit dem BND gegeben hat mit der Dietmar Schlee (CDU/CSU): Herr Staatsminister, Bitte, sich an diesem Unternehmen entsprechend zu der „Stern" berichtet, daß die Bundesregierung in den beteiligen. Dies ist bis auf eine mittlere Ebene gedie- Jahren 1978/79 eine Zusage zur Übernahme der hen, und es wurde beraten, welche operativen Pläne Ausbildung von Gaddafis Wachregiment gegeben durchgeführt werden sollten. Zu dem Zeitpunkt, als habe. Können Sie eine solche Zusage bestätigen? eine Genehmigung des zuständigen Abteilungsleiters anstand, hat dieser negativ entschieden. Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- Beim erneuten Vorlegen dieser operativen Maß- kanzler: Herr Kollege Schlee, ich will auf die Frage danach, was uns im Hinblick auf Ausbildungsunter- nahme hat der zuständige Präsident, der damalige nehmen des Herrn Raethjen bekannt war, noch ein- Präsident Herr Dr. Kinkel, dieses abgelehnt, und zwar mal aus anderer Sicht eingehen. Das erlaubt mir Ihre mit dem Zitat, das ich vorhin erwähnt habe. Frage, und dadurch wird manches vielleicht verdeut- Daraus herzuleiten, daß es eine gemeinsame Stra- licht. Ich darf einmal zitieren: tegie oder Operation mit Raethjen gegeben habe, ist falsch. Ich habe dies eingangs klar und deutlich gesagt Der Bundesregierung war bis zur Veröffentli- und mich dabei auf die Unterlagen des Bundesnach- chung im „Stern" vom 5. Januar 1995 aus Schrei- richtendienstes und auf diejenigen, die wir im Bun- ben des früheren Majors der Bundeswehr Raeth- deskanzleramt zu diesen Vorgängen haben, ge- jen vom 18. August und 18. Oktober 1980 sowie stützt. aus Berichten des BND vom Dezember 1980 bekannt, daß Herr Raethjen 1979 eine private Firma gegründet hatte, mit der er in Libyen im Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Eine weitere Zusatzfrage der Kollegin Beer. Auftrag der Firme Telemit ein Ausbildungsvorha- ben für das Wachregiment des libyschen Staats- präsidenten durchführen wollte. Nach den Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Staatsminister, Sie haben in der Beantwortung der Berichten des BND ging es um die Ausbildung Frage des Kollegen Lippelt gesagt, daß Sie in der PKK von Scharfschützen. Nach Angaben des Herrn Raethjen waren die Mitarbeiter seiner Firma auch Rückgriff auf Akten des Bundesnachrichtendienstes als Nahkampfausbilder und als Waffen- und bis 1981 hatten. Die Frage des Fragestellers bezieht sich auf einen Zeitraum bis 1983. Heißt das, daß Ihre Elektroniktechniker tätig. Bewertung auf der Sitzung der PKK unvollständig ist Herr Raethjen hat in seinem Schreiben außerdem und daß Sie den Zeitraum bis 1983 nicht überprüft mitgeteilt, daß er mit bis zu vier Mitarbeitern seiner haben? Firma das Ausbildungsvorhaben in Libyen be trieben habe. Weitere Einzelheiten über das Zustandekom- Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- men und die Durchführung des Ausbildungsunter- kanzler: Frau Kollegin, das können Sie nicht daraus nehmens waren der Bundesregierung nicht be- schließen. Im übrigen ist es Sache des Fragestellers, zu kannt. korrigieren, wenn er mit der Antwort nicht zufrieden Das heißt, nachdem sich Herr Raethjen beim Bun- ist. Ich hätte dann darauf hingewiesen. Der fragliche deskanzleramt als der dienstaufsichtsführenden Zeitraum war eben 1981 abgeschlossen. Deshalb Stelle über den Bundesnachrichtendienst beschwert Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 713

Staatsminister Bernd Schmidbauer hatte, kommt es zu diesem Ergebnis auf der Grund- Fragen geantwortet habe, nach den Unterlagen, die lage der Schreiben von Herrn Raethjen und der mir vorliegen, keine weiteren Erkenntnisse. Berichte des Bundesnachrichtendienstes, die damals meine Kollegen der seinerzeitigen Regierung ange- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Dr. Stad- fordert haben. ler. Alle kommen zu dem Ergebnis: Dies ist das Ende der Fahnenstange, dies ist das Ende, das wir sehen Dr. Max Stadler (F.D.P.): Herr Staatsminister, damit müssen. Es wird gleichzeitig festgestellt, daß der es aus der Zusatzfrage von Frau Beer keine Mißver- Bundesnachrichtendienst in dieses Ausbildungsver- ständnisse gibt, darf ich Sie fragen: Können Sie fahren nicht involviert sei. bestätigen, daß an Herrn Raethjen vom BND im fraglichen Zeitraum, von 1978 bis 1983, keine Ausbil- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Weitere Zusatz- dungsaufträge erteilt worden sind? frage, Herr Kollege Gansel. Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- Norbert Gansel (SPD): Wie ist die Weisung des kanzler: Dies kann ich bestätigen, ja. damaligen Präsidenten des Bundesnachrichtendien- stes — ich zitiere — „Finger weg!" umgesetzt worden, Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Es gibt keine und welche weiteren Erkenntnisse des Bundesnach- weiteren Zusatzfragen. richtendienstes über diese „private militärische Aus- Dann rufe ich die Frage 6 des Abgeordneten Win- bildungshilfe" sind angefallen? fried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) auf: Besteht nach Kenntnis der Bundesregierung ein Zusammen- Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- hang zwischen den Dienstleistungen der in Absprache mit dem kanzler: Herr Kollege Gansel, ich darf jetzt auf die BND agierenden Firma Telemit Electronic GmbH und Partei- spenden der Firma Telemit für die F.D.P. (vgl. „Stern", Aus- Akten zurückgreifen: Fachliche Vermerke und ein gabe 2/95), wenn ja, welcher? erneuter Antrag des zuständigen Referats auf Nut- zung von Raethjen — im Zusammenhang mit der Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- Ausbildung in Libyen, ergänze ich — wurden durch kanzler: Herr Kollege, auf Ihre Frage darf ich Ihnen die Leitung des Dienstes am 11. April bzw. am sagen: Der Bundesregierung ist ein solcher Zusam- 20. April negativ beschieden. Die Akten enthalten den menhang nicht bekannt. handschriftlichen Vermerk des damaligen Präsiden- Im übrigen ist zu Ihrer Frage anzumerken — auch ten Dr. Kinkel: „Finger weg!" Diese Entscheidung das will ich sagen —, daß es nicht der Realität wurde Herrn Raethjen am 28. April 1980 mitgeteilt.- — entspricht, die Tätigkeit der Firma Telemit als die Also, am 28. April wurde ihm diese Negativentschei- einer „in Absprache mit dem BND agierenden Firma" dung mitgeteilt. zu kennzeichnen. Sie dürfen daraus nicht schließen, Es wurde sichergestellt — dies haben auch Befra- daß es Quellen gegeben hat, wonach die Formulie- gungen der zuständigen Referenten im Bundesnach- rung richtig ist: „in Absprache mit dem BND agieren- richtendienst ergeben —, daß es zu diesem Zeitpunkt den Firma". Dies trifft nicht zu. Es trifft aber zu — keinerlei Mitwirkung des BND in diesen von Herrn das habe ich vorhin auf die Frage eines Kollegen Raethjen genannten Themenbereichen gegeben hat. gesagt —, daß es in dieser Firma entsprechende Ich stütze mich hier auf Anfragen an die zuständigen Quellen gegeben hat. Referenten und auch an diejenigen, die Verbindung mit Herrn Raethjen hatten. Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Zusatzfrage.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Weitere Zusatz- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): frage, Herr Stadler. Herr Staatsminister, beziehen sich Ihre Nichtkennt- (Norbert Gansel [SPD]: Der zweite Teil, Ent nisse zu diesen Gerüchten, von denen wir öfter gehört schuldigung!) haben, nur auf Aktenstudium, oder konnten Sie da auf — Nein, zwei Fragen hat nur der Fragesteller. weitere Quellen zurückgreifen?

Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- kanzler: Ich mache das gerne, Herr Präsident. — kanzler: Herr Kollege, auf Ihre Frage, ob es zwischen Würden Sie das bitte wiederholen? den Dienstleistungen der Firma und den Spenden an jemanden einen Zusammenhang gibt, kann ich Ihnen Norbert Gansel (SPD): Es fehlt — darauf wollte ich sagen, daß wir aus den Akten und all dem, was wir nur der Höflichkeit wegen hinweisen — die Antwort kennen, keine Verbindung sehen im Zusammenhang auf den zweiten Teil meiner Frage. Nach der mit diesem Komplex. Geschäftsordnung dürfen wir mit einer Frage sozusa- Ich will Ihnen auch deutlich sagen, daß ich hier zu gen zwei Bereiche berühren. Die Antwort auf den Parteispenden in der Bundesrepublik Deutschland zweiten Bereich fehlte — das war sicherlich nur ein keine Aussage machen werde. Vielmehr sage ich Versehen —, nämlich welche weiteren Erkenntnisse Ihnen auf die gezielte Frage hin, daß der Bundesre- beim Bundesnachrichtendienst über dieses Projekt gierung ein Zusammenhang, wie er konstruiert wird, angefallen sind. nicht bekannt ist. Ich glaube, das ist sehr eindeutig.

Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Weitere Zusatz- kanzler: Es gibt über das hinaus, was ich zu den frage? — Keine. Dann der Kollege Gansel. 714 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Norbert Gansel (SPD): Haben der PKK, auf die Sie in — Damit, Herr Kollege Hirsch, hat sich der Bundes- Ihren Antworten schon verwiesen haben, Unterlagen nachrichtendienst nicht beschäftigt. vorgelegen, oder sind der PKK mündlich Informatio- (Lachen bei der SPD) nen gegeben worden, die den Komplex Telemit und Parteispenden betreffen? Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Eine Zusatzfrage, (Dr. Willfried Penner [SPD]: Darüber darf Herr Kollege Neum ann. keine Auskunft gegeben werden!)

Volker Neumann (Bramsche) (SPD): Herr Staatsmi- Herr Kollege Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: nister, da es hier um Dienstleistungen der Firma Schmidbauer. Telemit geht, frage ich, ob der Bundesregierung bekannt ist, ob sie selbst — nicht der Bundesnachrich- Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- tendienst — die Dienste der Firma Telemit in den kanzler: Selbst wenn ich es jetzt wüßte, würde ich vergangenen 15 Jahren oder im Zeitraum von 1978/79 darüber nichts sagen wollen. Aber im Zusammenhang bis heute in Anspruch genommen hat. mit den Aktionen eines Herrn Raethjen und der in Bezug stehenden Firma habe ich gesagt, daß es diesen Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- Zusammenhang nicht geben kann. Er ist uns nicht kanzler: Herr Kollege, würden Sie den Anfang Ihrer bekannt. Ob es in anderen Zusammenhängen weitere Frage bitte wiederholen? Möglichkeiten gibt, dazu kann ich keine Ausführungen machen. Das muß man sehen, wenn die entsprechen- den Fragen in der PKK gestellt werden. Derzeit liegen Volker Neumann (Bramsche) (SPD): Ob die Bundes- mir solche Unterlagen nicht vor, Herr Kollege. regierung die Dienste der Firma Telemit in irgendei- ner Form in Anspruch genommen hat.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Hirsch. Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- kanzler: Ich habe darüber überhaupt keine Kenntnis: weder aus der Aktenlage, noch sind mir Dinge Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Vorausgeschickt, daß bekannt, die dafür sprächen. ich gehofft habe, daß eine solche Frage gar nicht gestellt wird, und vorausgeschickt, daß die F.D.P. bereits im Oktober vergangenen Jahres öffentlich Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Herr Kollege Lip- über drei Spenden der Firma Telemit aus den Jahren pelt. 1986, 1987 und 1988, also sehr viel später, in Höhe von insgesamt 36 000 DM an einen Kreisverband Rechen- Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schaft abgelegt hat, frage ich die Bundesregierung, ob Herr Staatsminister, wären Sie bereit, sich bei mir zu ihr aus dem hier relevanten Zeitraum, nämlich entschuldigen, wenn Sie beim Nachlesen feststellen 1978/79, etwas darüber bekannt ist, daß zum damali- würden, daß ich weder in den 80er noch in den 90er gen Zeitpunkt erhebliche geldwerte Leistungen vom, Jahren das Land Libyen berührt habe? wie es immer so heißt, Revolutionsführer Gaddafi an Bundestagsabgeordnete und Bundesvorstandsmit- glieder der GRÜNEN geleistet worden sind. Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- kanzler: Ich wäre sehr gern bereit, mich zu entschul- digen. Aber, Herr Kollege, ich habe das überhaupt Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, daß Sie sich im kanzler: Es ist der Bundesregierung nicht bekannt, Zusammenhang mit den Reisen sogar gegenüber der daß zu dem damals relevanten Zeitraum irgendwel- Presse geäußert haben, nämlich über die Bewertung che Spenden in diesem Zusammenhang geleistet dieser Reise. Herr Kollege Lippelt, insofern entschul- wurden. Ich kann Ihnen auch bestätigen, was nach dige ich mich für etwas, was ich nicht gesagt habe. Ich meinen Akten ein Problem in der Fraktion DIE GRÜ- habe Ihnen vielmehr ein Kompliment gemacht, als ich NEN war, daß es nämlich 1982 Reisen der GRÜNEN gesehen habe, daß Sie 1982 in einer Situation waren, zu Gaddafi gegeben hat. Ich habe dabei auch ein die erforderte, die Reisen Ihrer Fraktionskollegen Schmunzeln über die Berichterstattung in einigen gegenüber dpa entsprechend zu bewerten. Ich kann Zeitungen nicht unterdrücken können, als dieser Ihnen das Zitat zeigen. Besuch im Wüstenzelt beschrieben wurde. Ich kann dasselbe aus dem Jahre 1988 wiederholen. Da Herr Da es keine wei- Kollege Lippelt selber in der dpa-Meldung genannt Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: teren Zusatzfragen gibt und noch keine allgemeine wird, habe ich auch verstanden und bin auch sehr Debatte stattfindet, kommen wir jetzt zur Frage 7 der dankbar, daß Ihre Fragestellung vorhin diese Sach- Abgeordneten Angelika Beer: lichkeit hatte. Ich will Ihnen das durchaus einmal sagen. Ich habe die Situation 1982 und 1988 gesehen; Trifft es zu, wie vom ehemaligen Bundeswehroffizier und BND-Mitarbeiter Hans Dieter Raethjen gegenüber dem Maga- aber dies ist kein Problem der Bundesregierung, zin „STERN" und in den ARD-Tagesthemen ausgesagt, daß sondern dies war ein Besuch der Mitglieder der Bundeswehrangehörige bzw. ehemalige Bundeswehrangehö- Fraktion DIE GRÜNEN. rige mit Wissen und auf Wunsch des BND in der Bundesrepublik Deutschland für den Dienst als Ausbilder hei der libyschen (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Bezahlte Reisen Armee angeworben wurden und dort auch als Ausbilder meh- einschließlich der Familienangehörigen!) rere Jahre tätig waren? Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 715

Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- kanzler: Frau Kollegin Beer, wie der Bundesnachrich- kanzler: In Ihrer zweiten Frage gibt es den Bezug auf tendienst dem Bundeskanzleramt mitgeteilt hat, ist § 109h Strafgesetzbuch, wo dies angezogen wird. Das ihm nicht bekannt, daß Bundeswehrangehörige bzw. wird dort auch entsprechend beantwortet. Man kam ehemalige Bundeswehrangehörige in der Bundesre- zu dem Ergebnis, daß § 109h eben nicht relevant sei, publik Deutschland für den Dienst in der libyschen sonst hätte man sicherlich entsprechende Schritte Armee als Ausbilder angeworben wurden und dort unternommen. auch als Ausbilder mehrere Jahre tätig waren. Der Bundesnachrichtendienst hat dazu weiter mit- Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Weitere Zusatz- geteilt, daß ihm zwar Informationen zugänglich frage, Herr Dr. Lippelt. waren, wonach das Verhältnis zwischen Herrn Raeth- jen und den mit ihm zusammenarbeitenden ehemali- gen Bundeswehrangehörigen vertragsrechtlicher Art Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): war, daß ihm jedoch nicht bekannt ist, wer auf Herr Staatsminister, da offensichtlich so vieles, was libyscher Seite Vertragspartner des Herrn Raethjen wir jetzt lesen, Mystifikation ist, möchte ich fragen: und weiterer ehemaliger Bundeswehrangehöriger Gab es den Herrn Cornelius Hausleiter, Nahost war. Referat BND, überhaupt, oder ist das auch eine Mystifikation? Wie ich im übrigen schon auf die Frage von Herrn Kollegen Dr. Lippelt erklärt habe, waren die Ausbilder nicht im Auftrag des BND in Libyen tätig, auch nicht Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- auf Wunsch des Bundesnachrichtendienstes. kanzler: Nach meiner Aktenlage, Herr Kollege, gab es diesen Mann.

Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Zusatzfrage. (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der PDS) Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Ob der so hieß, Herr Kollege, weiß ich nicht. Staatsminister, Sie haben vorhin bestätigt, daß der (Heiterkeit) BND zwar nicht den Auftrag erteilt hat, daß er aber Kenntnis von den Vorfällen hatte. Ich frage, ob es zutrifft, daß Herr Raethjen in dieser Art dort tätig war. Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Herr Kollege Auch das haben Sie inzwischen bestätigt. Gansel. Deswegen möchte ich jetzt von Ihnen wissen:- Wel- che Schritte hat die Bundesregierung unternommen, Norbert Gansel (SPD): Herr Staatsminister, können um die im „Stern" vom 6. Januar veröffentlichten Sie mir erklären, wozu man eigentlich einen Nach- Vorwürfe zu überprüfen? Zu welchen Erkenntnissen richtendienst braucht, ist sie gekommen? (Heiterkeit bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und der PDS) Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- wenn sich jemand an eine Stelle der Bundesregierung kanzler: Ich habe dem Parlament bereits bei der wendet und mitteilt, er beabsichtige, in einem Land, Beantwortung der ersten Frage mitgeteilt, daß wir das für die Unterstützung terroristischer Aktivitäten nach diesem Schriftwechsel mit dem Bundeskanzler- berüchtigt ist, Spezialisten im lautlosen Töten auszu- amt davon ausgehen, daß dieser Fall damit beendet bilden, und ihm dann nur mitgeteilt wird, er möge war, zumal Herr Raethjen damals selber ausgeführt die Finger davon lassen, aber sonst nichts weiter hat, daß er am Ende sei, aus welchen Gründen auch geschieht, immer. (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ Die damalige Bundesregierung hatte keinen NEN) Grund, diesen Dingen weiter nachzugehen. Nach den Akten ist es ein damals abgeschlossener Vorgang, der weil der § 109h des Strafgesetzbuches, der das Tätig- auch als solcher zu bewerten ist. werden der Staatsanwaltschaft bedeutet hätte, nicht einschlägig sei? Wozu braucht man eigentlich noch einen Nachrichtendienst, wenn er sich um solche Fälle Vizepräsident Hans - Ulrich Klose: Eine weitere nicht kümmert? Zusatzfrage?

- Herr Schmid- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja. — Vizepräsident Hans Ulrich Klose: Angelika Beer bauer. Über die Aktenlage hatten wir uns schon gestritten. Ich möchte fragen, ob der Bundesregierung § 109 h Strafgesetzbuch bekannt ist, wonach das Anwerben Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- für einen fremden Wehrdienst mit Freiheitsstrafe kanzler: Herr Kollege Gansel, ich versage es mir, die zwischen 3 Monaten und 5 Jahren bestraft wird, ganzen Zusammenhänge der damaligen Zeit zu brin- wonach auch der Versuch einer solchen Anwerbung gen. Ich versage mir auch, die Zusammenarbeit mit für einen fremden Wehrdienst strafbar ist. Und nach bestimmten Staaten auf vielen Gebieten, die nach- geltender Rechtsprechung ist auch die Anstiftung richtendienstlich für uns relevant waren, und die oder die Beihilfe zu einer solchen Tätigkeit strafbar. In Ergiebigkeit oder Nichtergiebigkeit der Dienste auch welcher Form hat die Bundesregierung die Angaben bei der damaligen Bundesregierung hier auszubrei- des BND überprüft? ten. Sie können davon ausgehen — das zeigen auch 716 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Staatsminister Bernd Schmidbauer die Akten, die dem Kollegen Lahnstein vorgelegen Volker Neumann (Bramsche) (SPD): Herr Staatsmi- haben —, daß die Dinge so einfach nicht gehandhabt nister, nachdem Sie nun erklärt haben, welche wurden, sondern daß dort intensiv geprüft wurde: Gründe seinerzeit in dem Abwägungsprozeß mögli- Welches sind die vielleicht richtigen Ansätze, etwas in cherweise eine Rolle gespielt haben, möchte ich einem Land zu unternehmen — beziehen Sie es ruhig generell einmal fragen: Halten Sie es für die Aufgabe auf Libyen —, welches sind die Vorteile, die sich des Bundesnachrichtendienstes, in irgendeinem daraus für die Sicherheit der Bundesrepublik denkbaren Fall p rivate Firmen zu bitten, Ausbildung Deutschland oder — in der damaligen Situation — bei für fremde Militärs oder Milizen zu organisieren? der Bekämpfung bestimmter Terroristen oder ähnli- chem — was Sie sich leicht ausdenken können — Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- ergeben? kanzler: Herr Kollege Neumann, ich kann Ihnen nur aus der Position von heute sagen, daß ich das nicht für Man kommt unter Abwägung all dieser Gesichts- opportun halte und es auch für falsch hielte, solche punkte zu dem Ergebnis, daß man sich an einer Dinge zu realisieren. solchen Operation nicht beteiligt. Ich halte die Ent- scheidung, dies nicht zu tun, auch für den damaligen Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Zusatzfrage, Herr Zeitpunkt für richtig und begründe dies auch. Man hat Kollege Olderog. aber unter Umständen andere Zugänge nötig, die parallel in diesem Zeitraum spielen, über die anders Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Herr Staatsminister, entschieden wird. können Sie uns sagen, wie die Beziehungen zwischen Insofern würde ich empfehlen, daß Sie sich in Deutschland und Libyen damals ausgesehen haben diesem Zusammenhang mit den PKK-Kollegen spe- und wo es eine Zusammenarbeit zwischen beiden ziell über diese Frage unterhalten. Die Antwort kann Ländern gegeben hat? ich Ihnen nicht geben. Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- kanzler: Es gab auf vielen Gebieten einen regen Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Zusatzfrage, Herr Austausch. Es gab in gewisser Weise auch eine Kollege Hirsch. Zusammenarbeit, die aus vielen Gründen zum dama- ligen Zeitpunkt notwendig war. Ich erinnere an die Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Staatsminister, Vorgänge in diesen Jahren. Auch die zuständigen sind Sie mit mir der Meinung, daß für die Aufklärung Minister der Bundesregierung haben diese Kontakte und Verfolgung möglicher Straftaten auf dem Gebiet genutzt. Sie haben diese Kontakte letztendlich auch der Bundesrepublik, also möglicherweise auch einer im Interesse der Bundesrepublik Deutschland wahr- Straftat nach § 109h des Strafgesetzbuches, nicht der genommen. Es gab vielfältige Beziehungen — Ende Bundesnachrichtendienst zuständig ist, sondern die der 70er Jahre bis zu Beginn der 80er Jahre. Polizei und die Strafverfolgungsbehörden, und kön- Ich kann auch dies im einzelnen noch erläutern: Es nen Sie mir bestätigen, daß durchaus Strafverfahren gab zwischen den Innenministern Kontakte, die zu nach § 109h StGB gegen Personen eingeleitet worden diesem Zeitpunkt — auch von den Personen her — aus sind, die versucht haben, für Gaddafi Söldner zu bestimmten Gründen notwendig waren. Es gab zu den werben, also z. B. gegen einen Herrn Koch und einen Sicherheitsdiensten dieses Landes Kontakte, und es Herrn Leers, die für eine Desert Air Service Ltd. gab auch zwischen den Außenministern beider Län- Bengasi, Gerichtsstand Paris, tätig geworden sind, wie der Kontakte und entsprechende Gespräche. ich Veröffentlichungen in der „Süddeutschen Zei- tung" von 1979 und im „Spiegel" vom 12. November Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Keine weiteren 1979 entnehme? Zusatzfragen zu Frage 7. Ich kann also zusammenfassend fragen, ob Sie der Ich rufe die Frage 8 der Abgeordneten Angelika Auffassung sind, daß gegen strafbare Handlungen in Beer auf: diesem Zusammenhang von den dafür zuständigen Wann haben der damalige Präsident des BND, Dr. Klaus Behörden durchaus vorgegangen wurde und vorge- Kinkel, und wann das Bundeskanzleramt von der Anwerbung gangen wird, sobald sich der Verdacht einer strafba- von Bundesbürgern für den Dienst als Ausbilder bei der liby- schen Armee zum ersten Mal erfahren, und welche Konsequen- ren Handlung ergab. zen (auch hinsichtlich des § 109 h des Strafgesetzbuches) wurden von den informierten Bundesbehörden, Bundesministern und Staatssekretären gezogen? Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- kanzler: Das kann ich Ihnen bestätigen. Mir liegen Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- alle diese Mitteilungen vor. Ich habe mir aus diesem kanzler: Frau Kollegin Beer, für den damaligen Präsi- Grunde die damaligen Vorgänge kopieren lassen, die denten, Dr. Kinkel, gilt das, was ich auf die erste Frage das Presse- und Informationsamt zu diesen Punkten über die Kenntnisse des BND gesagt habe. Das hatte. Es ist dort in der Tat von vielen solchen Bundeskanzleramt hat zwar durch die Schreiben des Vorgängen die Rede, die auch dazu geführt haben, Herrn Raethjen von August und Oktober 1980 von daß es entsprechende Prozesse in einem bestimmten dem Ausbildungsunternehmen erfahren, aber weder Raum gegeben hat. Die von Ihnen erwähnte Zeit- diese Schreiben noch die daraufhin angeforderten schrift bzw. Zeitung handelt dies im November 1979 Berichte des BND enthielten Angaben darüber, wer ausführlich ab. die Mitarbeiter des Herrn Raethjen waren, wo und wie sie für das Ausbildungsunternehmen gewonnen wor- Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Zusatzfrage, Herr den waren, in welchen Vertragsverhältnissen sie Kollege Neumann. standen und unter welchen Umständen die Ausbil- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 717

Staatsminister Bernd Schmidbauer dungstätigkeit stattgefunden hat. Es waren keinerlei bzw. dies nicht tun dürfen, Unterlagen oder Ergeb- Angaben enthalten, in denen Tatbestandsmerkmale nisse aus der PKK hier mitzuteilen. Sind Sie bereit, die des § 109h des Strafgesetzbuches zu erkennen gewe- eben angesprochenen Unterlagen dem parlamentari- sen wären. schen Gremium, das dafür zuständig ist, die Arbeit der Wie ich auf die Frage von Herrn Kollegen Lippelt PKK zu überprüfen, nämlich dem Innenausschuß, zur schon erklärt habe, hat das Bundeskanzleramt im Verfügung zu stellen und den Parlamentariern dieses August 1980 von dem Ausbildungsunternehmen Bundestages die Möglichkeit zu geben, sich von den — geichzeitig mit der Nachricht von Herrn Raethjen — Angaben zu überzeugen? erfahren, daß das Interesse der Libyer an seiner (Dr. Peter Struck [SPD]: Die PKK wird nicht Ausbildungstätigkeit inzwischen erlahmt sei und die überprüft!) Liquidation seiner Firma eingeleitet werden mußte. Ich habe darauf hingewiesen, daß dies ein Grund dafür gewesen sein kann, warum von der damaligen Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- Bundesregierung keine weiteren Maßnahmen zur kanzler: Frau Kollegin, wir haben hier ein Gremium Beendigung dieser Ausbildungstätigkeit getroffen — ich will es hier gerne einmal sagen —, das bis auf wurden. wenige Ausrutscher, die alle menschlich sind, die wir alle zu vertreten haben — je nach unserer Situation an dem entsprechenden Tag —, eine hervorragende Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Zusatzfrage. Zusammenarbeit aufweist, wenn es um die Nachrich- tendienste und die Kontrolle durch das Parlament Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr geht. Ich kann Ihnen auch sagen, daß die Parlamen- Staatsminister, es geht bei den hier angesprochenen tarier alles andere als zahm sind. Vielmehr wird dort Fragen um den Vorwurf, daß ein ehemaliger Bundes- sehr direkt und sehr intensiv nachgefragt. wehrangehöriger in Libyen tätig war, und zwar — wie Sie sagen, mit Kenntnis des Bundesnachrichtendien- Die entsprechenden Akten können verlangt wer- stes — in der Ausbildung einer Eliteeinheit von den. Von meiner Seite wurden bereits in der vorletz- Muammar Gaddafi. Sie haben bestätigt, daß Herr ten Sitzung genau diese Akten angeboten. Sie konn- Dr. Klaus Kinkel als Chef des BND Kenntnis davon ten eingesehen werden. Ich werde auch immer wieder hatte. Sie haben ausgeführt, daß die einzige Tätigkeit erklären, daß wir zu diesen Punkten den Kollegen, die des damaligen BND-Präsidenten darin bestand, einen vom Deutschen Bundestag dafür gewählt wurden, Kommentar zu schreiben, nämlich „Finger weg". gern Akteneinsicht gewähren. Wie bewerten Sie diese Maßnahme des Aktenver- Ich weise noch einmal darauf hin, daß mit einer merks „Finger weg"? Würden Sie mir zustimmen, daß Pressemitteilung eines Gremiums, das vom deutschen der Chef des Bundesnachrichtendienstes es versäumt Parlament mit der entsprechenden Mehrheit gewählt hat, die notwendigen Überprüfungen und die notwen- ist, an sich bestätigt wird, daß diese Berichte jeder digen Schritte einzuleiten, um eine Unterbindung der Grundlage entbehren. Tätigkeit des ehemaligen Bundeswehrangehörigen zu erreichen? Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Dr. Lip- (V o r sitz: Vizepräsident Hans Klein) pelt.

Staatsminister beim Bundes- Bernd Schmidbauer, Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kanzler: Frau Kollegin Beer, Sie können davon ausge- Herr Staatsminister, können Sie meinem Verständnis hen, daß die Randanmerkung, die in den Berichten ein bißchen aufhelfen? Vielleicht habe ich ja alles zitiert wurde, nicht der ganze Vermerk war. Sie falsch verstanden. können auch davon ausgehen, daß der jeweilige Präsident — gleichgültig, wie er heißt — nicht nur Sie haben mir geantwortet, daß es eine private Vermerke abzeichnet, sondern auch dafür sorgt, daß Ausbildungstätigkeit gegeben hat, mit der der BND die entsprechende Weisung in den entsprechenden nichts zu tun hatte. Davon haben Sie erst erfahren, als Abteilungen umgesetzt wird. Davon müssen Sie aus- etwas später Herr Raethjen Sie anschrieb und vor- gehen. Sie können auch davon ausgehen, denn der schlug, da zu helfen. Ihrer letzten Antwort entnehme Beweis liegt ja mit den Schreiben von Herrn Raethjen ich, daß sich Herr Raethjen in diesem Brief offensicht- an das Bundeskanzleramt eindeutig vor. lich darüber beschwert, daß das Interesse des BND nachgelassen hat, so daß er sich nicht mehr richtig Er beschwert sich ja, daß der BND nicht mehr mit gefördert sieht. ihm in entsprechender Weise zusammenarbeitet. Er dreht die Argumente um und sagt, er habe das auf Habe ich da etwas mißverstanden, oder haben Sie Veranlassung des BND gemacht, was nicht der Wahr- sich mißverständlich und widersprüchlich ausge- heit entspricht, was auch nicht der Aktenlage ent- drückt? Wie war es denn nun? Was war der Inhalt? spricht. Das wurde im Rahmen der Diskussion in der Weshalb schrieb Herr Raethjen dem Bundeskanzler- Parlamentarischen Kontrollkommission glaubwürdig amt? vorgetragen. Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- Vizepräsident Hans Klein: Zweite Zusatzfrage, Frau kanzler: Herr Kollege Lippelt, ich habe eindeutig Kollegin. erklärt — ich nehme noch einmal die Antwort auf Ihre Frage auf —, daß der Bundesnachrichtendienst hier Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie nicht involviert war, daß Herr Raethjen in seinen haben mehrmals ausgeführt, daß Sie nicht bereit sind Schreiben an das Bundeskanzleramt — aus diesem 718 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Staatsminister Bernd Schmidbauer Anlaß hat das Bundeskanzleramt als dienstaufsichts- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin von führende Stelle überhaupt zum erstenmal Kenntnis Renesse. von diesen Vorgängen und um diese Vorgänge bekommen — etwas behauptet hat, auf das ihm Margot von Renesse (SPD): Herr Staatsminister, ich geantwortet wurde: Sie liegen falsch, Sie unterstellen glaube, ich habe es einigermaßen richtig im Ohr, daß etwas, was nicht da war. Hier ist etwas auf eigene Sie auf eine Frage erwidert haben, nach Liquidation Rechnung passiert. Herr Raethjen hat in den Schrei- der Firma von Herrn Raethjen seien keine Maßnah- ben gleichzeitig behauptet, das alles sei schon wieder men getroffen worden, um eine weitere Tätigkeit zu am Ende. unterbinden. Kann man daraus schließen, daß es Das mag von mir mißverständlich ausgedrückt wor- solche Maßnahmen — oder zumindest Vorüberlegun- den sein. Es ist auch ein bißchen kompliziert, wie Sie, gen dazu—vor der Liquidation gegeben hat, um diese der Sie die Frage gestellt haben, genau wissen. Es ist Tätigkeit zu beeinflussen oder sie zu unterbinden? auch für mich als den heutigen Koordinator sehr kompliziert, mich in einen Vorgang aus dem Jahr 1980 Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- oder 1981 zurückzuversetzen. kanzler: Sie haben den Antworten entnommen, daß es Ich sage noch einmal: Ich hätte aus der damaligen Kontakte zu Herrn Raethjen gegeben hat — ich sagte Situation heraus nicht anders entscheiden können als aber, daß Herr Raethjen zu einem bestimmten Zeit- die Vorgänger, die so entschieden haben. punkt Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes war —, die auch dazu führten, Überlegungen anzu- stellen, um Kontakte, wie von mir geschildert, zu Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Gansel. nutzen. In der Folge dieser Überlegungen ist man aber, bevor es um eine operative Maßnahme gegan- gen wäre, zu der Entscheidung gelangt, daß dies nicht Norbert Gansel (SPD): Da ich mich vorhin bei meiner Zusatzfrage mißverständlich ausgedrückt gemacht wird. habe, gibt mir diese Frage die Möglichkeit, mich zu korrigieren. Ich darf deshalb folgende Frage an Sie Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege stellen: Der BND ist mit dem Komplex zweimal befaßt Dr. Hirsch. gewesen, und zwar zum erstenmal zu Beginn einer möglichen Aufnahme der Ausbildungstätigkeit und Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Staatsminister, zum zweitenmal am Ende dieser Tätigkeit. urn noch einmal genau nachzufragen: Herr Raethjen Meine Frage war: Wenn ein Abteilungsleiter schon hat 1978 gekündigt, ist also aus der Bundeswehr beim erstenmal die Aufnahme der Ausbildungstätig- ausgeschieden. keit in Libyen abgelehnt hat, hat dann der Bundes- (Dr. Willfried Penner [SPD]: Er hat nicht nachrichtendienst in den Jahren danach ein Auge gekündigt!) darauf gehabt, ob diese Ausbildung stattgefunden hat — Ja, er ist aus der Bundeswehr auf eigenen Wunsch oder nicht? Welche Erkenntnisse sind darüber beim entlassen worden und hat eine eigene Firma gegrün- Bundesnachrichtendienst angefallen? Wenn Sie sa- det. Seine Tätigkeit war ferner nicht mit irgendwel- gen: gar keine, darum hat sich der Bundesnachrich- chen genehmigungspflichtigen Lieferungen verbun- tendienst nicht mehr gekümmert, dann muß ich Sie den. Also lag, wie Sie gesagt haben, keine strafbare fragen: Wozu ist er eigentlich da? Handlung vor. Gab es denn angesichts dieser Tatsa- chen überhaupt eine rechtliche Handhabe irgendei- Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- ner Bundesbehörde, die Tätigkeit des Herrn Raethjen kanzler: Herr Kollege Gansel, ich müßte jetzt die zu unterbinden? ganze Chronologie abhandeln. Auf Ihre Frage kann (Norbert Gansel [SPD]: Beobachten!) ich Ihnen noch einmal sagen — dann wird es, glaube ich, auch klar —, daß Herr Raethjen vielfältige Kon- Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- takte im Hinblick auf diesen Vorgang hatte. Angefan- kanzler: Nein, aus der damaligen Sicht nicht. gen hat das 1978. Diese Kontakte führten dann dazu, (Norbert Gansel [SPD]: Beobachten! Dafür ist daß von dem zuständigen Abteilungsleiter am 17. Au- der Bundesnachrichtendienst doch da!) gust 1978 ein operatives Aufgreifen des Vorgangs untersagt wurde. Dies wurde am 21. August entspre- — Herr Kollege Gansel, ich nehme an, der Dienst ist so chend übermittelt. Man hat dann, auch in der Zeit gut, daß er das auch getan hat. danach entsprechende Gespräche geführt. (Norbert Gansel [SPD]: Danach habe ich Sie Herr Raethjen schied — das will ich dazusagen, doch gefragt!) damit das klar wird — Ende 1978 aus dem Dienst der Bundeswehr aus. Er kam erneut auf den BND zu, und Vizepräsident Hans Klein: Ich rufe die Frage 9, die es erging erneut die Weisung, die Sache nicht weiter der Kollege Gansel gestellt hat, auf: zu verfolgen. Auch im Laufe der nächsten Monate gab Wie ist das Bundeskanzleramt von der „Ausbildungstätigkeit" es wohl Kontakte — sage ich einmal —, die dann am des ehemaligen Bundeswehroffiziers und BND-Mitarbeiters 11. April 1980, nach einer Stellungnahme des zustän- Hans Dieter R. in Libyen informiert worden, und welche Maß- nahmen sind auf seiten der Bundesregierung getroffen worden, digen Präsidenten, endgültig als erledigt betrachtet um die Umstände dieser Tätigkeit aufzuklären und sie zu werden konnten. beenden? Ich habe Ihnen deshalb nur dieses Grobraster gege- Herr Staatsminister, Sie haben das Wort zur Beant- ben, weil die PKK im Detail informiert wurde. wortung. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 719

Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- war nicht bekannt, daß Mitarbeiter der Firma Telemit kanzler: Herr Kollege Gansel, das Bundeskanzleramt weitere Personen für den Dienst in einer militärischen hat durch Schreiben des früheren Majors der Bundes- oder militärähnlichen Einrichtung in Libyen ange- wehr Raethjen vom 18. August und 18. Oktober 1980 worben haben. Weder die Briefe des Herrn Raethjen über dessen Ausbildungstätigkeit erfahren. Ich wie- vom August und Oktober 1980 noch die daraufhin derhole mich, aber Ihre Frage war so gestellt. angeforderten Berichte des BND enthalten Angaben Da Herr Raethjen die Vorgänge, die er schilderte, im über solche Anwerbungsaktionen der Firma Telemit Bereich der Verantwortung des Chefs des Bundes- oder des Herrn Raethjen. kanzleramtes für den Bundesnachrichtendienst ansie- delte, hat das Bundeskanzleramt den Bundesnach- Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage. richtendienst um Bericht gebeten. Der BND hat im Dezember 1980 dazu zwei Berichte abgegeben. Norbert Gansel (SPD): Da ich nicht nur nach dem Weitere Schritte zur Aufklärung der Umstände und Wissen des Bundeskanzleramtes bzw. des Bundes- zur Beendigung der Tätigkeit des Herrn Raethjen sind nachrichtendienstes gefragt habe, sondern der Bun- von der damaligen Bundesregierung nicht unternom- desregierung, möchte ich Sie fragen, ob Sie mir die men worden; vermutlich aus dem Grund, den ich in Frage beantworten können, ob mit diesem Komplex meinen Antworten auf die Frage des Kollegen Lippelt, die deutsche Botschaft in Tripolis befaßt war und ob der Frau Kollegin Beer und anderer schon genannt es darüber Aktenvorgänge im Auswärtigen Amt oder habe. Herr Raethjen hat selbst geschrieben, daß das in der Botschaft in Tripolis gibt. Interesse der Libyer an seiner Ausbildungstätigkeit erlahmt sei und daß deshalb die Liquidation seiner für Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- diese Tätigkeit gegründeten Firma eingeleitet wer- kanzler: Ich kann Ihnen das nicht beantworten, aber den mußte. ich will das gerne abfragen. Daß es aus heutiger Sicht Rückfragen gegeben hat, was die Ausbildungstätig- Vizepräsident Hans Klein: Zusatzfrage, Herr Kol- lege Gansel. keit angeht, ist klar. Aber ich kann nicht feststellen, ob es entsprechende Unterlagen aus der damaligen Zeit Norbert Gansel (SPD): Ist der Vortrag über diesen in den zuständigen Ministerien gibt. ganzen Komplex, zu dem verschiedene Fragen Herr Kollege Gansel, ich will es gerne abfragen, gestellt worden sind, in der PKK auf Forderung der aber ich glaube, es ist schwierig. Ich fürchte auch, Herr PKK-Mitglieder, der Abgeordneten oder auf Initiative Kollege Gansel, daß wir in einem bestimmten Bereich der Bundesregierung erfolgt? nicht weiterkommen, sondern uns weiterhin in Spe- kulationen ergehen müssen. Ich verspreche mir nicht Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- sehr viel davon, wenn ich mich um Akten aus dem kanzler: Das ist auf beidseitigen Wunsch, wenn ich Jahr 1980 aus dem Auswärtigen Amt bemühe, die es mich recht erinnere, und auch auf Wunsch einzelner dort geben könnte. Ich glaube, es ist nicht erfolgsver- PKK-Mitglieder geschehen. Es ist dementsprechend sprechend. verfahren worden. Wir haben sogar ausnahmsweise eine Art Sondergespräch geführt, um ins Details zu Norbert Gansel (SPD): Da ich zu diesem Komplex gehen. Ich sage einmal, beide Seiten haben Wert gegebenenfalls eine neue Anfrage stellen werde, weil darauf gelegt, daß dies im Rahmen der Tagesordnung ich es für relevant halte, möchte ich Sie doch bitten, behandelt wird, zumal entsprechende Vorwürfe in der Herr Schmidbauer, daß Sie dem von sich aus nachge- Presse dieses auch gerechtfertigt haben. hen und mit der üblichen Zuverlässigkeit antwor- ten. Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Gansel, bevor ich Ihnen das Wort zur zweiten Zusatzfrage gebe, stelle ich eine geschäftsleitende Frage. Wären Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- Sie einverstanden, daß vor der zweiten Zusatzfrage, kanzler: Herr Kollege Gansel, ich tue das gerne und die Sie nicht verlieren sollen, der Staatsminister die lasse ermitteln, ob aus dem fraglichen Zeitaum 1978 Antwort auf Ihre nächste Frage erteilt? Denn in drei bis 1981 im Zusammenhang mit Herrn Raethjen noch Minuten schließen wir die Fragestunde. Diese Frage entsprechende Unterlagen im Auswärtigen Amt vor- steht in einem Sachzusammenhang. Wären Sie ein- handen sind. verstanden, wenn Sie dann Ihre Fragen stellen wür- den? Norbert Gansel (SPD): Danke sehr. Norbert Gansel (SPD): Einverstanden. Vizepräsident Hans Klein: Ich bedanke mich, Herr Vizepräsident Hans Klein: Dann rufe ich auch die Staatsminister. Frage 10 des Abgeordneten Gansel auf: Ich schließe die Fragestunde. Seit wann war der Bundesregierung bekannt, daß Mitarbeiter Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat eine der Münchner Firma Telemit Electronic GmbH weitere Personen Aktuelle Stunde zu den soeben behandelten Fragen für den Dienst in einer militärischen oder militärähnlichen beantragt. Einrichtung in Libyen angeworben haben, und aus welchen Gründen sind keine Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts Ich rufe daher auf: des Verstoßes gegen den § 109h StGB eingeleitet worden? Aktuelle Stunde Bernd Schmidbauer, Staatsminister beim Bundes- Zusammenarbeit der Bundesregierung mit kanzler: Herr Kollege Gansel, der Bundesregierung Libyen 720 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Vizepräsident Hans Klein Die Fraktionen und Gruppen haben vereinbart, daß seiner politischen Verantwortung als ehemaliger es jeweils nur eine Fünf-Minuten-Runde geben soll. BND-Chef, keinerlei Stellungnahme zu diesem Vor- Die Antragsteller erhalten als erstes das Wort. gang zu erhalten ist. Frau Kollegin Beer, Sie haben zunächst zur Begrün- Die Standardformel des Nichtwissens kennen wir dung Ihres Antrags das Wort. doch; sie ist zum prägenden Element der Außenpolitik von Herrn Kinkel geworden, wenn es um Kooperation (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr und Zusammenarbeit mit menschenrechtsfeindlichen Angelika Beer Regimen geht. Dies ist für uns, BÜNDNIS 90/ DIE Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich begründe den Antrag zur Geschäftsordnung vom GRÜNEN, eine Weise, die wir nicht akzeptieren BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemäß Anlage 5, Nr. 1 b können. der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. (Zurufe von der CDU/CSU) Die Nachricht, zu der wir heute Fragen gestellt haben, ist ungeheuerlich. Der Bundesnachrichten- Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Frau Kollegin, ich dienst nämlich vermittelt dem libyschen Diktator für muß Sie zur Sache rufen. die Ausbildung seiner Elitetruppe einen ehemaligen Fallschirmjäger der Bundeswehr. Er bildete von 1978 Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie bis 1983 mehrere Hundertschaften von Gaddafis haben erklärt — deswegen fordern wir die Aktuelle Wachregiment mit Kenntnis der Bundesregierung Stunde —, der BND habe nicht den Auftrag für die und im Auftrag des BND aus, unter anderem — so der ungeheuerliche Tätigkeit in Libyen, nämlich den Bericht — im lautlosen Töten. Auftrag zum lautlosen Töten durch ein Spezialregime, (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Das ist eine gegeben. Sie haben gesagt, er habe Kenntnis gehabt. schlichte Unterstellung! Das ist unwahr! — Es kann nicht sein, daß die Bundesregierung und der Walter Hirche [F.D.P.]: Nach den Antworten Bundesnachrichtendienst bis auf einen Satz des aus der Fragestunde ist es eine eindeutige Außenministers und damaligen BND-Vorsitzenden Unterstellung!) — „Finger weg davon!" — vollkommen untätig blieb und im Grunde alles geschehen ließ. Die Beantwortung der Fragen durch den Staatsmi- nister hat unter dem Strich mehrere neue Fragen Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Auftrag oder aufgeworfen, weil er bestätigt hat, daß der Bundes- Kenntnis zum bzw. vom lautlosen Töten, beides ist nachrichtendienst von der Tätigkeit des ehemaligen gleichermaßen skandalös und muß Maßnahmen nach Bundeswehrangehörigen Kenntnis hatte und ganz § 109 h des Strafgesetzbuches zur Folge haben. offensichtlich nichts unternommen hat,- um diese Die Beantwortung der von uns heute eingebrachten Tätigkeit zu unterbinden. Fragen darf nicht der Arbeit der Parlamentarischen Wie verhält sich die Bundesregierung zu einem Kontrollkommission oder dem G-10-Ausschuß, soweit Vorwurf, der auch in der internationalen Öffentlich- er bisher überhaupt betroffen und involviert ist, über- keit Aufmerksamkeit erregt? Sie weicht den schriftlich lassen bleiben. Das Parlament und die Öffentlichkeit eingereichten Fragen aus. Die berechtigten Nachfra- haben ein Recht auf vorbehaltlose Offenlegung. Wir gen der gewählten Abgeordneten werden mit einem wollen in dieser Aktuellen Stunde den ersten Schritt Hinweis auf die PKK und den Bundesnachrichten- dorthin tun. Wir fordern die Bundesregierung auf, die dienst nicht in ausreichender Form beantwortet. Man neuen Fragen, die sich auch auf Grund der Beantwor- weiß es nicht, man darf es nicht sagen. Diese Ver- tung durch den Staatsminister ergeben haben, lük- schleierungstaktik hat schon einmal, nämlich im kenlos zu beantworten. Zusammenhang mit der libyschen Giftgasfabrik bei Was denkt sich die Bundesregierung eigentlich Rabta — Sie erinnern sich sehr wohl —, für internatio- dabei, in einen Chor der internationalen Ächtung des nale und nationale Irritationen gesorgt. libyschen Diktators einzustimmen, (Walter Hirche [F.D.P.]: Sie haben nichts in (Detlev von Larcher [SPD]: Die Bundesregie der Hand und stellen falsche Behauptungen rung denkt nicht!) auf! — [CDU/CSU]: Sie gleichzeitig aber alles Erdenkliche zu unterlassen und müssen außerhalb des Zeltes übernachten!) damit zu gewährleisten, daß dieses Regime überhaupt Es ist noch keine drei Monate her — das ist in der Tat an der Macht bleiben kann? leichtfertig —, daß Meldungen über die Verquickung (Walter Hirche [F.D.P.]: Was denken sich von F.D.P.-Politikern in undurchsichtige Spendenein- denn die GRÜNEN dabei, dahin zu fah nahmen aus libyschen Quellen für Furore sorgten. ren?) (Dr. Burkhard Hirsch [F.D.P.]: Unerhört!) — Aus Ihrer Fraktion waren sehr viel mehr Abgeord- nete in Libyen als aus der früheren GRÜNEN- Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Sie haben Fraktion. Informieren Sie sich darüber! ausschließlich Ihren Antrag zu begründen und keinen Debattenbeitrag zu leisten. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, die Rede- zeit ist zu Ende. Bitte noch einen Satz. Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich begründe den Antrag damit, daß die Fragen nicht Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Diese beantwortet sind. Es ist doch skandalös, daß zu den Doppelzüngigkeit der Bundesregierung muß beendet neuen Vorwürfen von der Bundesregierung, insbe- werden. Sie schadet der Außenpolitik und dem demo- sondere von Herrn Außenminister Kinkel auch in kratischen Ansehen unseres Landes. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 721

Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, Ihre Rede- trieben? Zumindest an diesem Punkt muß man sagen, zeit ist zu Ende. daß es große Lücken gab. Meine dritte Bemerkung — das hat heute ein paarmal im Raum gestanden, und ich glaube, wir Angelika Beer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): werden uns dem sehr widmen müssen —: Vor fünf, Unsere Forderung an die Bundesregierung lautet sechs Jahren hat es ausführliche Berichte — damals — wir hoffen, daß sich auch Herr Kinkel äußern und weniger im „Stern ", viel im „Spiegel" — über eine sich persönlich dieser Debatte stellen wird —: Erklä- sehr seltsame Geschichte gegeben, die mit Lieferun- ren Sie hier, was Sie als damaliger BND-Chef und gen von ABC-Waffen in den Irak zu tun hatten. Darauf heute als Außenminister unterlassen haben! Denn es war durchaus mein Eindruck gegründet, von dem ich ist nicht immer nur die Frage — — dem jetzigen Außenminister seinerzeit geschrieben (Das Rednermikrofon wird abgeschaltet — habe, weil ich mit ihm hierüber eine Kontroverse Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) hatte. Ich habe ihm geschrieben: Natürlich nehme ich zur Kenntnis, daß Sie sagen: ich hatte von all dem keine Ahnung. Aber ich habe, wenn ich das politisch Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, es tut mir bewerte, den dringenden Verdacht, daß in einer Zeit, leid. So geht es nicht. Wir wollen doch bitte nicht als der BND im Irak nach deutschen Terroristen solche Sitten in diesem Hause einführen. suchte und deshalb eine große Nähe der Zusammen- Das Wort hat Kollege Dr. Lippelt. arbeit mit dem dortigen Geheimdienst gesucht hat, dieser Geheimdienst zu seinen Zwecken den BND unterwandert hat. Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So kam es dann, daß Leute, die als freie Mitarbeiter Herr Präsident, ich war der Meinung, daß ich mich ihren Sold vom BND bezogen — die Namen sind etwas später auf einige Argumente beziehen könnte, damals sehr häufig durch die Presse gegangen —, die nun vielleicht von den anderen kommen. Aber mithalfen, ein Milieu zu schaffen, aus dem heraus es okay. möglich war, daß sie später dem Irak eine Giftgasfa- Ich möchte drei Bemerkungen machen. Meine erste brik verkaufen konnten. Hier hat eine Durchdringung Bemerkung: Herr Staatsminister, Sie haben vorhin zu der Dienste stattgefunden, die, glaube ich, wirklich Recht auf diese „tumben grünen Narren" angespielt, aufgehellt werden muß. die sich mit politischer Naivität ins Zelt von Herrn Sie hat — es tut mir leid; ich muß es sagen — in den Gaddafi setzen. Ich habe von Ihnen herausbringen kritischen Jahren stattgefunden, von denen hier die müssen, daß Sie sich auf mich bezogen, weil in der Tat Rede ist. Es bedeutet überhaupt nicht, daß man dem auch ich das gegenüber der Partei als naiv betrachtet Behördenleiter irgendein Wissen oder irgendeine habe. Aber während da die GRÜNEN ihre ersten aktive Tätigkeit unterstellen kann. Hier liegt vielmehr naiven Schritte machen — heute sind sie übrigens in ein strukturelles Problem vor, das letztlich auch bis alle Richtungen verstreut, das wissen wir —, wird die heute noch die deutsche Außenpolitik sehr stark richtige Realpolitik woanders gemacht. Die Arkana berührt. der Macht laufen ganz anders. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Nun mögen wir darüber streiten, Herr Schmid- Deshalb werden wir es weiter verfolgen müssen; ich bauer, wie weit die Anregungen eines Dienstes der denke, zunächst im Auswärtigen Ausschuß. Bundesregierung gegangen sind. Ich nehme zur Kenntnis, was Sie gesagt haben. Es bleibt natürlich Ich will noch zu dem kommen, was Herr Raethjen in eine ganz deutliche Lücke. Sie haben bestätigt, daß SAT 1 gesagt hat. Dort hat er gesagt, er habe auch den Herr Raethjen erstens freiwillig seinen Dienst aufge- Auftrag gehabt, dem syrischen Geheimdienst, einer geben hat, daß er so, wie er sich verhalten hat, „befreundeten Nachrichtenorganisation", so eben wahrscheinlich seinen ganzen Sold und seine Versor- einmal ein paar Pistolen zu liefern, und das im Auftrag gung aufs Spiel gesetzt hat, daß er sich später des Dienstes, dem er damals angehörte. Damals war er beschwert hat und von dem Dienst nicht richtig nicht bei der Bundeswehr, sondern beim BND. Auch gestützt gesehen hat. Da bleibt für mich einfach die einen solchen Auftrag hat er gehabt. Diese Pistolen Lücke: Kamen die Anregungen möglicherweise von seien möglicherweise später im Zusammenhang mit einem Cornelius Hausmann, wie in der Presse berich- dem Wiener Attentat aufgetaucht. tet wird, und war der dem Dienst möglicherweise etwas aus der Kontrolle geraten? Ich bitte, das genauer Vizepräsident Hans Klein: Ihre Redezeit ist um. zu prüfen. Sonst bleibt hier eine enorme logische Lücke. Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es Die zweite Bemerkung, die ich machen möchte: Wir stehen also ungeheuerliche Behauptungen und haben uns sehr um Rabta gekümmert, wir haben den Beschuldigungen im Raum. Sie müssen aufgeklärt Fraktionsvorsitzenden der größten Regierungspartei werden. seinerzeit sehr ob der Ausführlichkeit des Berichts, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den er durchgesetzt hat, gelobt. Aber hier tauchen sowie bei Abgeordneten der PDS) doch neue Fragen auf. Wir wollen doch eine Kontrolle von Wirtschaftsfunktionären, die krumme Sachen machen. Gab es denn außer der mangelnden Kon- trolle der Wirtschaftsberater überhaupt keine Kon- Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege trolle der Militärberater, die zu der Zeit noch ihr Spiel Dr. Rolf Olderog. 722 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Dr. Rolf Olderog (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine Meine Damen und Herren, ich habe Verständnis sehr verehrten Damen und Herren! Ungeheuerliches dafür, daß geheime Nachrichtendienste natürlich die — das versichere ich Ihnen als Mitglied der Parlamen- Phantasie beschäftigen und manchen Journalisten zu tarischen Kontrollkommission für die Geheimdien- etwas abenteuerlichen Spekulationsgeschichten ver- ste — gibt es nicht. Die Behauptungen zum Sachver- führen. Aber ich erinnere an die hohe Verantwortung, halt und die Bewertungen, wie sie von den GRÜNEN, die die Presse bei uns hat. Das verpflichtet sie zu insbesondere von der Kollegin Beer, vorgetragen besonderer Sorgfalt. Auch in unserem Staat brauchen worden sind, sind unzutreffend. wir unverzichtbar geheime Nachrichtendienste. Ge- Wir haben uns in der Parlamentarischen Kontroll- rade in einer so krisengeschüttelten Zeit wie der kommission mit dem Sachverhalt sehr eingehend unsrigen heute gilt das wieder im besonderen. Ich befaßt. Wir haben — das ist ganz ungewöhnlich — bitte die Presse um mehr Sorgfalt und um Fairneß dazu einstimmig einen Beschluß gefaßt und darüber gegenüber unseren Diensten. hinaus beschlossen, daß das Ergebnis unserer Bera- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tungen veröffentlicht wird. Dieser Beschluß zeigt in seiner Einstimmigkeit — der Kollege Penner wird Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Willfried dazu vielleicht noch etwas sagen —, wie eindeutig Penner, Sie haben das Wort. und klar die Sachverhaltsfeststellungen getroffen werden konnten und wie eindeutig auch die Bewer- Dr. Wilfried Penner (SPD): Herr Präsident! Meine tung dieses Sachverhaltes vorgenommen werden Damen und Herren! Die PKK hat ausführlich über konnte. Vorgänge im Zusammenhang mit der Firma Telemit Wieder einmal — so müssen wir leider feststellen — beraten. Sie ist umfassend auch durch Vorlage von ist ein angeblicher Skandalartikel über einen unserer Dokumenten unterrichtet worden. Die Parlamentari- Nachrichtendienste in Kernfragen unzureichend re- sche Kontrollkommission ist danach einmütig der cherchiert, ganz überwiegend auf unzutreffenden Überzeugung, daß in der Öffentlichkeit erhobene Hinweisen und auf leichtfertigen Vermutungen und Vorwürfe gegen Institutionen des Bundes und Perso- Spekulationen, die als Tatsachen verkauft werden, nen, die damit dienstlich befaßt waren, jeder Grund- aufgebaut. In dem leichtfertigen Verhalten des lage entbehren. Das ist der Befund der PKK. Das ist „Stern"-Journalisten drückt sich leider ein Vorurteil auch der Befund der der SPD zugehörigen Mitglieder gegenüber unseren Diensten aus, das ich als langjäh- der Parlamentarischen Kontrollkommission, nämlich riges Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkom- von Dr. Peter S truck und von mir. mission als völlig ungerechtfertigt empfinde. Im einzelnen heißt das folgendes: Mein Eindruck ist, daß sich insbesondere im Bereich Erstens. Das diesbezügliche dienstliche Verhalten der Nachrichtendienste nicht nur die Bundesregie- des seinerzeitigen Präsidenten des Bundesnachrich- rung, die Chefs und die Leitungen der Dienste, tendienstes, Dr. Klaus Kinkel, wie das seiner damali- sondern auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gen Mitarbeiter gibt zu Beanstandungen keinen dieser Dienste peinlich um rechtstaatliches Verhalten Anlaß. bemühen. Zweitens. Der BND hat auf unterschiedlichen Ver- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ antwortungsebenen ein Werben um Beteiligung an DIE GRÜNEN]: Wieso peinlich?) der Einrichtung einer staatlichen Schutzorganisation für Libyen unmißverständlich abgelehnt, was nicht — Peinlich heißt sorgfältig. ausschließt, daß es einen erfolglos werbenden Inter- Das negative Vorurteil gegenüber unseren Dien- essenten gab, der zur Zeit die Öffentlichkeit auf seine sten belastet sie. Ja, ich möchte sagen, daß die Weise informiert. gegenüber den Diensten besonders mißtrauische und Drittens. Das Bundeskanzleramt ist durchweg nur kritische Sicht der Medien, bestimmter Abgeordneter als Instanz für Eingaben eines Beschwerdeführers und großer Teile der Öffentlichkeit gelegentlich zu gegen ablehnende Entscheidungen des BND in ein- einer nicht gerechtfertigten Zurückhaltung, Zöger- schlägiger Sache befaßt worden. Auch insoweit gibt lichkeit und zu Handlungsverzicht der Dienste auch die Bearbeitung zu Bemerkungen keinen Anlaß. dort führt, Viertens. Die seinerzeitigen Bemühungen von Gen- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ scher und Baum um Zusammenarbeit mit Libyen im DIE GRÜNEN]: Mir kommen die Tränen!) Bereich der inneren Sicherheit entsprachen der dama- ligen Lage und den damit verbundenen Möglichkei- wo Recht und Gesetz eigentlich eine Handlungser- ten wie auch dem daraus folgenden nationalen Inter- mächtigung bieten und Handeln geboten wäre. esse. Überdies ist insoweit keine politische Initiative (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ bekanntgeworden, die als anstößig erschiene. DIE GRÜNEN]: Ein Taschentuch!) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestat- Andere Dienste im Ausland, so scheint mir, genießen ten Sie mir eine abschließende Bemerkung. Auch bei ein größeres Vertrauen in ihrer Öffentlichkeit, den Diensten passieren Pannen und Fehler, ja hin und wieder auch Rechtsverstöße. Es ist jedoch völlig abwe- (Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/ gig zu unterstellen, die Dienste seien gewissermaßen DIE GRÜNEN]: Vor allen Dingen in den ein Hort von Illegalität, im Zusammenhang mit den USA, der CIA!) Vorgängen um die Firma Telemit schon gar nicht. Die haben daher mehr Selbstsicherheit und können somit Arbeit der Dienste muß ein hohes Maß an Diskretion erfolgreicher arbeiten. bewahren. Das ergibt sich aus der Natur der Sache. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 723

Dr. Willfried Penner Daraus eine Neigung zu rechtsungebundenem Ver- vernichtungswaffen richten sich u. a. gegen Israel, halten abzuleiten entspricht nicht den Tatsachen. und immer sind auch Nazi-Vergangenheiten und (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Neonazi-Aktualitäten im Spiel. F.D.P.) Der Chef von Major Raethjen beim BND war Cornelius Hausleiter. Immerhin wurde gesagt: Er hat sogar gelebt. Von ihm schreibt der „Stern", daß Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege dessen „Vorliebe für Altnazis" bekannt war. Winfried Wolf. Bei der BRD-Irak-Connection spielte die Firma Rhein-Bayern Fahrzeugbau eine wichtige Rolle, ihr Dr. Winfried Wolf (PDS): Sehr geehrter Herr Präsi- Chef der NPD-Politiker Anton Eyerle. Eyerles Spezia- dent! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Sehr lität und Firmenpraxis war, Geschäftspartnern Hitler- geehrter Herr Schäuble — wenn er mich in den reden vorzuspielen. Es gab enge Verbindungen zur Räumen hier hören kann —, Sie müßten sich noch gut Bundeswehr, gerade beim Giftgasgeschäft mit dem an den 2. Januar 1989 erinnern. Damals schrieb Irak. William Safire in der „New York Times" die Sätze: Schließlich eine dritte Parallele: Derartige Regimes Die deutschen Händler des Todes leisten Hilfe wurden von deutschen Kreisen hochgerüstet und stellung für ein Auschwitz im Wüstensand. gegebenenfalls auch mal wieder fallengelassen — so geschehen im Irak. Die deutschen Steuerzahler zahl- Es ging um Rabta in Libyen. Herr Schäuble verant- ten 15 Milliarden DM für den Golfkrieg der west- wortete damals den Bericht der Bundesregierung, in lichen Alliierten. Damit wurde u. a. das zusammenge- welchem der Bau einer solchen Giftgasfabrik mit bombt, was zuvor mit anderen Steuergeldern militä- deutscher Hilfe eingestanden wurde. risch hochgerüstet worden war. Vergleichbares gilt Werter Kollege Ulrich Irmer von der F.D.P., Sie für Libyen: Hier unterstützt Bonn heute ein höchst stellten im Juni 1988 laut Bericht der „Welt" vom fragwürdiges Wirtschaftsembargo. Unterstützt wur- 10. Juni 1988 als F.D.P.-Obmann im Bonner Untersu- den auch die US-Luftwaffenangriffe auf Libyen in den chungsausschuß zum Hanauer Atomskandal fest, daß Jahren 1981 und 1986. bundesdeutsche Firmen mit Genehmigung des Esch- All das hat natürlich etwas damit zu tun, daß die borner Bundesamtes für Wirtschaft an Libyen radio- werdende alte und neue Großmacht Deutschland aktive Stoffe lieferten, die für die Herstellung einer noch viel im Dunkeln munkeln muß. Daher die Atombombe genutzt werden könnten. Krauterfirmen Imhausen, Karl Kolb, WET, Rhein Angesichts dieser Abgründe, welche sich- bei einer Bayern, Intec und Telemit, die als Händler des Todes Debatte zu Libyen in diesem Haus öffnen, greifen die vorgeschickt werden. Deren Kleinheit steht aber in Fragen der Kollegen Lippelt, Nachtwei und Gansel krassem Widerspruch zur High-Tech-Qualität ihrer und der Kollegin Beer erstaunlich kurz, jedenfalls die Massenmordmaschinerie-Exporte, zu den optimalen ursprünglichen Fragen. Beziehungen zur Bonner Regierung, zur Bundeswehr, - Da hat also ein Ex-Bundeswehrmajor und Ex-BND zum BND und zu den vielfachen Transfusionen aus Mann namens Raethjen Gaddafis Leibgarde in lautlo- staatlichen Geldtöpfen. sem Töten und anderen Bestandteilen der abendlän- Halten wir als Zwischenergebnis für heute fest, was dischen Kultur ausgebildet. Er tat dies formal im Angelika Beer im Deutschen Bundestag in der Dienste einer im BND-Umfeld gesichteten Firma Libyen-Debatte vor fünf Jahren, am 17. Februar 1989, Telemit, deren Eigner Libyen war. Bonn war zumin- zutreffend ausführte: dest seit langem informiert und schwieg sich aus oder Wir müssen ... inzwischen davon ausgehen, daß saß die Sache aus. So weit, so schlecht. Es riecht nach die Bundesrepublik so ziemlich alles zu liefern der Forderung nach einem Untersuchungsausschuß. bereit ist, was tötet, wenn nur die Kasse stimmt . . . Ich möchte vorab schon jetzt etwas Systematik in die Wir treten ... für ein völliges Verbot aller B- und Diskussion bringen und drei Feststellungen ma- C-Waffen überall auf der Welt ein . . . chen. Ich möchte hinzufügen: Die Forderung nach abso- Erstens. Unbestreitbar ist: Bonn hat das Regime lutem Verbot von Rüstungsexporten, nach radikaler Gaddafi massiv unterstützt. Der Bau einer Giftgas- Abrüstung der Bundeswehr und nach Auflösung die- fabrik in Rabta wurde von deutschen Unternehmen ser geheimen Dienste wird gerade durch eine Debatte mit direkter Verbindung zur Bonner Regierung wie die heutige unterfüttert und begründet. — über den damals staatlichen Konzern Salzgitter und (Beifall bei der PDS und dem BÜNDNIS 90/ über die staatlich massiv subventionierte Firma DIE GRÜNEN) Imhausen/Lahr in Baden — betrieben. Es gab auch eine bundesdeutsche Hilfestellung bei der Umrüstung libyscher Jagdbomber für den Langstreckeneinsatz, Vizepräsident Hans Klein: Das Wort hat der Kollege so daß diese, z. B. mit Giftgas, Israel hätten erreichen Norbert Gansel. können. Stichwort: die Firma Intec bei München. Zweitens. Diese Art deutscher Außenpolitik läßt Norbert Gansel (SPD): Herr Präsident! Meine sich nicht nur für Libyen, sondern auch für den Irak Damen und Herren! Ich möchte zunächst ein paar und — hätten wir ausreichend Zeit — ebenfalls für Bemerkungen zum Stil machen. Ich habe den Artikel Pakistan dokumentieren. Sie kennt die Komponenten: im „Stern" sorgfältig gelesen, sonst hätte ich keine deutsche Hilfe für eine „islamische" Atombombe oder Anfragen gestellt. Er scheint mir sorgfältig recher- zumindest für „islamische" C-Waffen. Diese Massen- chiert zu sein. Er deckt sich mit manchem, was man 724 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Norbert Gansel mal hier, mal da in 22 Jahren Mitgliedschaft im Deshalb will ich zur Sache nur sagen: Mich interes- Deutschen Bundestag gehört hat. Ich glaube, ein siert bei dieser Geschichte Telemit viel mehr als der Journalist, der über die Informationen verfügt, die in Bundesnachrichtendienst, der sonst auch interessant dem „Stern"-Artikel weitergegeben werden und für ist: Ich habe nach 22 Jahren noch immer eine gute die ein ehemaliger Mitarbeiter des Bundesnachrich- Nase, und ich sage Ihnen, die Sache stinkt. Die Firma tendienstes und Bundeswehroffizier bürgt, und sie Telemit hat Konkurs gemacht. Sie ist gewissermaßen nicht veröffentlicht, verstößt gegen das journalistische tot. Ich habe den Eindruck, wir haben bei dem Ethos. Kadaver bisher nur am Schwanz gezogen. Wollen wir mal sehen, was noch herauskommt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Dazu gehört allerdings, daß sich der Journalist auch PDS) beim Bundesnachrichtendienst informiert. Wenn er das tut und als Antwort erhält — ich zitiere aus dem „Stern"-Artikel —, „daß der Dienst grundsätzlich weder zu seiner operativen Arbeit noch zu Angele- Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Dr. Burk- genheiten, die seine Mitarbeiter betreffen, Auskünfte hard Hirsch, Sie haben das Wort. erteilt", dann mag das für den Dienst korrekt sein, aber mindestens genauso korrekt ist es, wenn der Journalist dann seine Erkenntnisse veröffentlicht. Das Dr. Burkhard Hirsch (F.D.P.): Herr Präsident! Meine war mein erster Punkt. sehr verehrten Damen und Herren! Schade, Herr Gansel, ich hatte gedacht, daß nach der klaren Erklä- Das zweite: Ich verstehe die künstliche Aufregung rung des Kollegen Penner die Kette der Verdächtigun- nicht. Abgeordnete haben mehr oder weniger interes- gen abreißen würde. sante Fragen gestellt. Es gab mehr oder weniger interessante Antworten, die wir auswerten werden. Herr Wolf, in was für eine Gesellschaft sind Sie geraten? Die Rede, die Sie hier gehalten haben, hätte Aus 22 Jahren Erfahrung und mit einigen Affären genausogut vor 1989 mit denselben Worten in der belastet kann ich sagen, ob das nun U-Boot-Geschäfte Volkskammer gehalten werden können, und zwar mit Südafrika waren, oder ob es die C-Waffen-Fabrik ganz genau so. in Rabta war, oder ob es die Giftgas- und Raketenpro- duktion für Saddam Hussein war, all das haben wir (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) von Journalisten erfahren. Alles ist abgestritten- wor- Es ist unstrittig, daß strafbare Handlungen im den, und fast alles hat sich hinterher schrecklicher Zusammenhang mit Lieferungen nach Libyen vorge- weise als richtig herausgestellt. kommen sind. Dieses Haus hat auf Vorlage der Bundesregierung dazu einmütig ganz entschlossene (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gesetzgeberische Maßnahmen getroffen. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Ich bin erstaunt — das muß ich auch zu Frau Beer sagen —, wie leichtfertig Sie mit dem Ansehen von Deshalb ist es unsere Aufgabe zu fragen. Das ist Teil Personen umgehen, die hier nicht Stellung nehmen unserer parlamentarischen Kontrolle. und sich wehren können. (Erwin Marschewski [CDU/CSU]: Das gilt (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne auch für Schleswig-Holstein! — Detlev von ten der CDU/CSU) Larcher [SPD]: Da sehen Sie besonders gut Das finde ich unglaublich. aus!) Der Ausgangspunkt der Beziehungen zu Libyen Drittens. Ich finde es bemerkenswert, und das sagt und die damalige Einschätzung nicht nur in der auch etwas über den Stil dieses Hauses aus, daß, wenn Bundesrepublik war der Überfall auf die israelische Abgeordnete Anfragen an die Bundesregierung stel- Olympiamannschaft in München im Jahre 1972 und len, sich die PKK das am Vormittag zum Thema macht, der Versuch, Kontakte zu arabischen Ländern aufzu- ohne es den Kollegen überhaupt zu sagen. Die Tages- bauen. Dazu gehörte auch die Erkenntnis, daß deut- ordnung der PKK wird überdies geheimgehalten. Es sche Terroristen mutmaßlich in arabischen Ländern ist bemerkenswert, daß, wenn wir am Nachmittag unterkamen und unterstützt wurden. Alle politischen Antworten von der Bundesregierung erhalten, wir auf Kräfte haben damals an die Bundesregierung appel- eine Pressemitteilung des verehrten Vorsitzenden der liert, mögliche Kontakte zu arabischen Ländern, auch PKK verwiesen werden. Herrgott noch mal, wo leben zu Libyen, aufzubauen und zu nutzen. wir denn eigentlich? Das ist doch ein Parlament. Ich habe vorhin die Reise einer Delegation der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten GRÜNEN in der hier relevanten Zeit, 1978/79, nach des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Tripolis ins Spiel gebracht. Ich habe die Tatsache der PDS) Reise, obwohl ihr Thema die Bewunderung für basis- Es wäre eine erhebliche Abkürzung des Verfahrens demokratische Elemente des Revolutionsführers war, gewesen, wenn diese Drucksache der PKK als Tisch- überhaupt nicht kritisiert, einer Reise, an der Bundes- vorleger, Tischvorlage verteilt worden wäre. Ent- tagskollegen und Bundesvorstandsmitglieder der schuldigung, Tischvorleger ist vielleicht nicht ganz Grünen teilgenommen haben. falsch. Ich habe es nur als geschmacklos empfunden und (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) empfinde es heute noch als geschmacklos, daß sie sich Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 725

Dr. Burkhard Hirsch damals mit Weib und Kind zu dieser Reise haben Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für einladen lassen. die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. — Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so (Unruhe beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) beschlossen. Es sei ja schließlich die erste Afrikareise gewesen, die Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der er gemacht habe, hat damals Roland Vogt gesagt. Das finde ich schon stark. Von Herrn Mechtersheimer will Kollegin Nicolette Kressl. ich gar nicht reden. Es wurden politische Kontakte zur Bekämpfung des Nicolette Kressl (SPD): Herr Präsident! Sehr geehrte deutschen Terrorismus in arabischen Ländern aufge- Kolleginnen und Kollegen! 1994, im internationalen baut. Die Unterstützungsleistungen in bezug auf poli- Jahr der Familie, waren sich alle einig: Familie ist kein zeiliche Ausbildungshilfe für eine ganze Reihe von privates Hobby, sondern stellt eine bedeutende Ländern sind damals sowohl im Haushaltsausschuß gesellschaftliche Leistung dar. Familienarbeit ist eine wie auch im Auswärtigen Ausschuß dieses Hauses in sinngebende und kreative Arbeit, bedeutet aber auch aller Öffentlichkeit erörtert worden. sehr viel Verantwortung und eine ganze Menge Es hat damals da, wo solche Fälle vorlagen, z. B. schwere Arbeit. illegale Werbungen, natürlich auch Strafverfahren Haus- und Familienfrauen, natürlich im entspre- der zuständigen Behörden gegeben. Ich wundere chenden Fall auch Männer, leisten pro Jahr durch- mich, daß ausgerechnet Sie, die wie wir eine Vermi- schnittlich 53 Milliarden Stunden an Haus-, Familien- schung von Nachrichtendiensten und Polizei be- und Erziehungsarbeit, was bei ca. 20 DM Stundenlohn kämpfen, fordern, daß sich der Bundesnachrichten- einen Wert von 1,1 Billionen DM darstellt. dienst an der Aufklärung strafbarer Handlungen auf Die Familien stiften Nutzen für die Allgemeinheit, dem Gebiet der Bundesrepublik beteiligen soll. Das ist bezahlen dafür aber mit höheren privaten Kosten — nicht seine Aufgabe, sondern Sache der Polizei und neben vielen direkten Kosten, wie beispielsweise der Staatsanwaltschaft, und sie haben sie wahrge- Kleidung für die Kinder, auch mit indirekten, wie z. B. nommen. der Miete für eine größere Wohnung und Benachtei- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ligungen auf dem Wohnungsmarkt. ten der CDU/CSU) Während also die Gesellschaft als Ganzes beispiels- Ich bitte das wirklich zur Kenntnis zu nehmen. weise davon profitiert, daß die Kinder später u. a. die Es hat nach unseren Feststellungen keine wirt- kollektiven Sicherungssysteme, sprich: die Sozialver- schaftliche Beteiligung des Bundesnachrichtendien-- sicherungen, stabilisieren, werden die finanziellen stes an der Firma Telemit oder irgendeiner Tochter Belastungen jedoch privat und zum großen Teil gegeben. Es hat keine Beteiligung des Bundesnach- alleine von den Eltern getragen. All die Analysen richtendienstes etwa an Lieferungen von irgendwel- waren und sind klar. Doch solche Erkenntnisse taugen chen Ausrüstungsgegenständen der Firma Telemit ja nur dann etwas, wenn auch die entsprechenden nach Libyen gegeben. Es hat keine Beteiligung des politischen Konsequenzen gezogen werden, um die Bundesnachrichtendienstes an Anwerbeversuchen erkannten Ungerechtigkeiten aufzulösen. der Firma Raethjen gegeben, sondern es ist ausdrück- Wie aber sieht es mit diesem notwendigen politi- lich auf der Ebene des Abteilungsleiters und des schen Handeln bei der Bundesregierung aus? Im Präsidenten jedwede Beteiligung des Bundesnach- Moment — so schätzen Experten — deckt der Famili- richtendienstes unterbunden und abgelehnt worden. enlastenausgleich etwa ein Viertel der Kosten, die Das ist ausdrücklich negativ entschieden worden. Familien zusätzlich tragen; und auch davon wird etwa Nun sage ich Ihnen: Ich weise für meine Fraktion die die Hälfte von den Eltern selbst über Steuern in den gestellten Fragen enthaltenen Unterstellungen erbracht. als haltlos, leichtfertig und infam zurück. Der Armutsbericht des Deutschen Caritasverban- (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. des macht klar: Kinder sind in der Bundesrepublik Joachim Gres [CDU/CSU]) Deutschland zum Armutsrisiko geworden. (Zuruf von der SPD: Leider wahr! — Christel Hanewinckel [SPD]: Und das nach 14 Jahren Vizepräsident Hans Klein: Die Aktuelle Stunde ist CDU-Regierung!) beendet. In den alten Bundesländern sind ca. 30 % der Sozialhilfebezieher Kinder und Jugendliche, im Osten sogar knapp 44 %. Im Vergleich zu 1983 brauchen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: heute doppelt so viele Haushalte von Ehepaaren mit Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Kindern Hilfe zum Lebensunterhalt. Für einen gerechten, verfassungsgemäßen und (Zuruf von der SPD: Traurig!) unbürokratischen Familienleistungsausgleich Das derzeit geltende Steuerrecht bringt sogar das — Drucksache 13/16 absurde Kunststück fertig, das traditionelle Familien- —Überweisungsvorschlag: und Frauenbild festzuklopfen und gleichzeitig die Finanzausschuß (federführend) Familie zu benachteiligen. In Wirklichkeit erschöpft Rechtsausschuß sich doch die Anerkennung der Leistungen von Fami- Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuß für Gesundheit lien in Deutschland meist in blumigen Worten, z. B. Haushaltsauschuß indem Politikerinnen und Politiker dieser Regierung 726 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Nicolette Kressl das Bild der heilen Familie hochhalten und dann anheben. Das ist nun tatsächlich die Schlaraffenland- glauben, sie hätten damit schon genug getan. lösung. Deshalb erfährt man natürlich auch nichts darüber, wie es finanziert werden soll. (Beifall bei der SPD und der PDS) Dieses Verhalten wird dann manchmal noch damit (Christel Hanewinckel [SPD]: Die können ja begründet, man dürfe die wertvolle Familienarbeit auch nicht rechnen!) nicht „entwerten", indem man ganz konkret einen Gespannt haben wir dann auf die Ergebnisse der finanziellen Ausgleich dafür einfordere. Aber es ist CDU-Expertenkommission am Montag gewartet. nun einmal so, liebe Kolleginnen und Kollegen: Ohne Aber auch da hat sich nicht viel getan, gehört haben ausreichende ökonomische Sicherheit können sich wir nichts. die Mitglieder einer Familie nicht sicher fühlen. Wie sollen dann Eltern' ihren Kindern Geborgenheit und Aber schauen wir uns noch einmal die Vorschläge Sicherheit vermitteln können? Ich bitte Sie, dies bei von Herrn Waigel etwas genauer an. Wie kommt er Ihrer oft geführten Wertediskussion auch einmal zu eigentlich dazu, für das zweite Kind ganze 30 DM bedenken. mehr anzubieten, wo doch nun jeder weiß, daß gerade beim ersten Kind besonders viele neue Kosten auf die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Eltern zukommen, vom Kinderwagen bis zur Erstaus- der PDS) stattung bei der Kleidung? Ganz abgesehen davon, Ich muß noch einmal fragen: Was aber tut die daß dieses Ein-wenig-Aufstocken hier und Ein- Bundesregierung? Wenn das Bundesverfassungsge- wenig-Aufstocken da nur ein Weiterwursteln im alten richt nicht 1990 und 1992 in seinen familienpoliti- System ist und keinen wirklichen Reformansatz ent- schen Urteilen eine deutliche Verbesserung des Kin- hält. der- und Familienlastenausgleichs gefordert hätte (Beifall bei der SPD) — womit es übrigens die Regierung ganz schön Und was stellt sich die F.D.P. vor? Der Vorsitzende düpierte —, wäre es bis zum heutigen Tag bei den des Bundestagsfinanzausschusses, Herr Thiele, will konservativen Lippenbekenntnissen geblieben. das bisherige System des Familienlastenausgleichs (Beifall bei der SPD — Christel Hanewinckel „revolutionieren", wie er sagt. Seine Revolution bleibt [SPD]: Es bleibt ja auch dabei! Die tun ja jedoch auf der Grundlage der Koalitionsvereinba- nichts!) rung, der nun gar nichts Revolutionäres anhaftet. Statt aber nun klar und deutlich zu formulieren, wie (Beifall bei der SPD) es weitergehen soll, und dann entsprechend zu han- Auch bei Thieles Vorschlag bleibt es bei den unge- deln, gibt es bei der CDU/CSU einen familienpoliti- rechten Kinderfreibeträgen, und wie das Ganze finan- schen Wirrwarr ohnegleichen, ein Chaos, das man den ziert werden soll, steht auch in den Sternen. Wirklich, Familien wirklich nicht zumuten kann. Da soll der ich frage mich nicht mehr, weshalb Eltern nicht mehr verteilungspolitisch ungerechte steuerliche Kinder- daran glauben, daß ihre Leistungen tatsächlich aner- freibetrag auch noch um 1 000 DM erhöht werden! kannt werden sollen. Dieses Durcheinander, bei dem (Christel Hanewinckel [SPD]: Das ist ein dann tatsächlich doch nicht viel geschieht, trägt wahr- großer Skandal!) haftig nicht zur Glaubwürdigkeit von Politik bei. Dann will Herr Waigel plötzlich das Kindergeld ab (Beifall bei der SPD und der PDS) dem zweiten Kind anheben, während Frau Nolte Die Familien haben nämlich etwas viel Besseres eigentlich lieber eine Erhöhung schon ab dem ersten verdient: einen Ausgleich ihrer Belastungen, der Kind hätte. Statt solcher unsystematischen Korrektu- gerecht ist, der einfach und klar ist und der solide ren beim Kindergeld, wie sie der Finanzminister finanziert ist. Genau solch eine Lösung hat die SPD- vorgeschlagen hat, will Herr Geißler das Kindergeld, Fraktion mit dem Ihnen vorliegenden Antrag einge- 300 DM monatlich, als Abzug von der Steuerschuld bracht. gestalten, er sagt aber nichts zur Finanzierung. (Zuruf von der CDU/CSU: Scheinlösung!) Herr Hintze fordert indessen, das Ehegattensplit- ting nur bei kinderlosen Ehepaaren zu kappen und Familien erhalten 250 DM Kindergeld pro Monat ab von da zu Familien mit Kindern hin umzuschichten. dem ersten Kind. Dies entspricht nach üblicher Prompt erntet er Kritik von Frau Nolte sowie von Berechnung einem jährlichen steuerlichen Freibetrag konservativen CSU-Politikern, die natürlich am Ehe- von 7 500 DM. Für kinderreiche Familien wird ein gattensplitting in voller Höhe überhaupt nicht rütteln Familienzuschlag von 100 DM ab dem vierten Kind wollen. gewährt, der sich für jedes zusätzliche Kind um weitere 100 DM erhöht. (Dr. Heiner Geißler [CDU/CSU]: Zu Recht! — Christel Hanewinckel [SPD]: Man kann Dieses Kindergeld ersetzt das bisherige Durchein- gespannt sein, was noch alles kommen ander von Kinderfreibetrag, Kindergeld, Kindergeld- wird!) zuschlag und Einkommensgrenzen. Das Kindergeld wird direkt bei der Steuerfestsetzung von der Steuer- — Nein, nicht zu Recht; das erkläre ich Ihnen gleich. — Demgegenüber würden Politiker der CDU-Sozialaus- schuld abgezogen. Wenn die Steuerschuld geringer als das Kindergeld ist, dann wird der Unterschied schüsse das steuerliche Ehegattensplitting am lieb- direkt vom Finanzamt ausgezahlt. sten abschaffen oder wie Herr Hintze umschichten, das Kindergeld auch schon für das erste Kind kräftig Dieses Kindergeld wird gesichert finanziert, indem erhöhen und den Kinderfreibetrag auf 7 000 DM dafür ca. 17 Milliarden DM aus dem Wegfall der Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 727

Nicolette Kressl Kinderfreibeträge, ca. 21 Milliarden DM aus der Verheiratete Paare mit einem Spitzenverdienst kön- Umschichtung des Kindergeldes und der Kindergeld- nen durch das Splitting bis zu knapp 23 000 DM im zuschläge und ca. 12 Milliarden DM aus der sinnvol- Jahr sparen, völlig unabhängig von der Frage, ob sie len Begrenzung hoher Vorteile durch das Ehegatten Kinder erziehen oder nicht. Natürlich kommt das splitting verwendet werden. Splitting oft Familien zugute. Aber rund ein Drittel Dabei muß natürlich berücksichtigt werden, daß die aller Ehen, die die gleichen Vorteile genießen, ist veränderte Form der Auszahlung des Kindergeldes zu ohne Kinder. Verschiebungen in der Finanzausstattung zwischen Genausowenig berücksichtigt das Ehegattensplit- Bund und Ländern beiträgt. Diese finanziellen Ver- ting die Alleinerziehenden. In der Bundesrepublik schiebungen müssen selbstverständlich ausgeglichen Deutschland leben immer mehr Alleinerziehende. Sie werden. sind wie Mehrkinderfamilien besonders häufig von Dieser Vorschlag der SPD behandelt Familien Armut betroffen. Auch sie haben keine Vorteile vom gerecht, ist eindeutig und entspricht den Vorgaben Ehegattensplitting. des Verfassungsgerichts. (Zuruf von der SPD: So ist es!) (Beifall bei der SPD) Was wäre also logischer, als diese Vorteile zu Ich möchte Ihnen nochmals genauer ausführen, begrenzen? Wir sprechen hier übrigens nicht von der warum diese Lösung eine gerechte Lösung ist. Abschaffung des Ehegattensplittings. Es wird Zeit, in der Politik endlich anzuerkennen, Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin daß es nicht mehr den sozialen Automatismus von Ehe Kressl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abge- und Kindern gibt. Es wird Zeit, daß Politikerinnen und ordneten Hüppe? Politiker diese veränderten Strukturen erkennen, sie akzeptieren und endlich in die Politik einbringen, Nicolette Kressl (SPD): Ja, wenn Sie die Uhr anhal- (Beifall bei der SPD) ten. damit endlich das eigentliche Ziel erreicht wird: der Schutz und die Unterstützung von Familien. Hubert Hüppe (CDU/CSU): Frau Kollegin, darf ich Sie fragen, ob Ihnen bewußt ist, daß, wenn jedes Kind Deshalb ist es nach unserer Überzeugung der rich- 250 DM Kindergeld bekommt, eine Sozialhilfeemp- tige Weg, in einem ersten Schritt den Steuervorteil fängerin letztlich netto keinen Pfennig mehr durch das Ehegattensplitting auf maximal 6 000 DM bekommt, Sie also damit keine Sozialhilfeempfänge-- im Jahr zu beschränken und die frei werdenden Mittel rin aus der Sozialhilfe herausholen, weil das Kinder- dorthin umzuleiten, wo wir das Geld tatsächlich haben geld voll auf die Sozialhilfe angerechnet wird? wollen: eben bei den Familien. (Zuruf von der SPD: Steuerfreibeträge aber Der SPD-Vorschlag ist auch ein unbürokratischer auch!) Vorschlag. Warum? — Duales System ist eine manch- mal zu hörende, oft einfach übernommene, harmlos Nicolette Kressl (SPD): Wir werden den Antrag in klingende Bezeichnung für das Chaos aus Freibeträ- den Ausschuß bringen. Wenn Sie bereit sind, mit uns gen, Kindergeld, Kindergeldzuschlägen und Einkom- eine gerechte Lösung zu formulieren, dann werden mensgrenzen, mit denen sich eine Familie heute wir auch für alles Lösungen finden. Darüber sollten konfrontiert sieht. wir wirklich miteinander sprechen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Es ist dringend notwendig, den Bürgern endlich Jetzt möchte ich noch einmal darüber reden, warum wieder mehr Transparenz anzubieten und sie nicht das ein gerechter Vorschlag ist. Wenn das politische weiterhin solchen bürokratischen Ungetümen gegen- Ziel eine gerechte und solidarische Bewertung der überzustellen. Familienarbeit ist, so sagt einem der gesunde Men- (Beifall des Abg. Detlev von Larcher [SPD]) schenverstand doch ganz klar, daß es weder gerecht noch solidarisch ist, wenn diejenigen, die wenig Es wird endlich Zeit, die Bürger wieder mit weniger verdienen, auch besonders wenig staatliche Unter- Behördengängen und Anträgen bei verschiedenen stützung erhalten. Aber bei den bisherigen Freibeträ- Institutionen zu belasten. Deshalb schlagen wir vor, gen muß sich jemand mit gesundem Menschenver- daß das Kindergeld direkt von der Steuerschuld abge- stand verwundert die Augen reiben, wenn er sich zogen wird bzw. direkt vom Finanzamt ausgezahlt deren Auswirkungen ansieht. Spitzenverdiener ha- wird. Auf jeden Fall sollte nur noch das Finanzamt ben doch tatsächlich 181 DM mehr in der Tasche, weil zuständig sein. sie 181 DM Steuerentlastung haben, Niedrigverdie- Leider kann ich einen entsprechenden Ansatz im ner aber nur 65 DM. ebenfalls vorgelegten Antrag vom BÜNDNIS 90/DIE Würde der Kinderfreibetrag übrigens wie geplant GRÜNEN nicht erkennen. erhöht, würden sich diese völlig ungerechtfertigten Jeder, der vom modernen, vom schlanken Staat Unterschiede noch verstärken. Da ist tatsächlich zu fragen: Wo bleibt da die Gerechtigkeit? spricht, müßte dieser Lösung sofort zustimmen kön- nen; denn zu der Übersichtlichkeit für die Menschen (Beifall bei der SPD) kommt hinzu, daß bei dieser Finanzamtslösung nur Genau die gleiche Frage ist zu stellen, wenn man noch eine Institution verantwortlich ist. Außer diesem die Vorteile durch das Ehegattensplitting betrachtet: Vereinfachungseffekt werden durch den geringeren 728 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Nicolette Kressl Verwaltungsaufwand Kosten in Höhe von 650 Millio- Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio- nen DM entfallen. ren, Frauen und Jugend: Herr Präsident! Meine Ich begrüße in diesem Zusammenhang übrigens, Damen und Herren! Wenn Familien in Deutschland daß sich der F.D.P.-Fraktionsvorsitzende Solms in der heute ihre materiellen Bedingungen mit denen von Haushaltsdebatte vor wenigen Wochen bereits klar kinderlosen Mitbürgern vergleichen, stellen sie fest, für die Finanzamtslösung ausgesprochen hat und daß daß sie erheblich ungünstiger dastehen. Das gilt um so auch der Vorsitzende des Finanzausschusses, Herr mehr, je mehr Kinder sie erziehen. Kinder bedeuten Thiele von der F.D.P., bei seinem Modell ausdrücklich zumeist finanzielle Einbußen. In dieser Einschätzung von einer Finanzamtslösung ausgeht. stimme ich Ihnen zu. Daran gibt es auch nichts herumzudeuteln. (Detlev von Larcher [SPD]: Wollen wir mal sehen, ob die sich durchsetzt!) Auch wenn es nicht Aufgabe des Staates ist und er es auch nicht leisten kann, die Unterhaltskosten für Selbstverständlich entspricht der SPD-Vorschlag Kinder voll zu tragen, so hat er doch die Verpflichtung, den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts. Familien zu unterstützen. Auf Grund der unterschied- Dieses stellt nämlich frei, ob der Gesetzgeber die lichen Einkommensverhältnisse von Familien muß Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit der diese Entlastung von Unterhaltskosten gerecht und Familien durch einen Freibetrag in Höhe des Exi- differenziert erfolgen. stenzminimums oder durch ein entsprechendes Kin- dergeld ausgleicht. Also sind hier politische Verant- Die Unterstützung und Förderung von Familien wortung und politische Entscheidung gefragt. Die beschränkt sich dabei nicht auf den Familienlasten- SPD hat gute Gründe — die ich bereits dargestellt ausgleich. Unter dieser Koalition ist in den letzten habe —, sich für die gerechtere Lösung eines einheit- Jahren vieles auf den Weg gebracht worden, angefan- lichen Kindergelds zu entscheiden. gen beim Erziehungsurlaub mit Beschäftigungsga- Natürlich sind 250 DM Kindergeld nur ein erster rantie, über das Erziehungsgeld, bis hin zur Anerken- Schritt für eine umfassende familienfreundliche Poli- nung der Erziehungszeit in der Rente. tik. Wir müssen zusätzlich Rahmenbedingungen (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) schaffen, die dafür sorgen, daß alle Kinder die Chan- cen und Möglichkeiten unserer Gesellschaft tatsäch- Wir diskutieren heute über die Vorstellungen der lich wahrnehmen können. Dazu gehören die Steuer- SPD zur Neugestaltung des Familienlastenaus- befreiung des Existenzminimums, Lebensräume für gleichs. Sie wollen das duale System des Familienla- Kinder — also bezahlbarer Wohnraum —, familien- stenausgleichs durch Streichung des Kinderfreibetra- freundliche Arbeitszeiten und Arbeitsstrukturen- so- ges im Steuerrecht abschaffen, und Sie wollen die wie eine optimale Kinderbetreuung. Ich sehe jedoch Kindergeldstaffelung zugunsten eines Einheitskin- kaum Initiativen der Bundesregierung, um die auf dergeldes bei den ersten drei Kindern beseitigen. Sie diesen Gebieten bestehenden Defizite abzubauen. halten Kinderfreibeträge für ungerecht, weil sie bei steigenden Einkommen einen wachsenden Entla- Ein erster wichtiger Schritt aber bleibt, wie gesagt, stungsbetrag bringen. die Sicherung der wirtschaftlichen Grundlagen der Familie. Für Kinder und Familien stehen bisher die (Zurufe von der SPD: Genau! Gut begrif ökonomischen Signale auf Rot. Lassen Sie dies nicht fen!) weiterhin zu, sondern gehen Sie mit der SPD einen Wir wissen alle, daß das Bundesverfassungsgericht sinnvollen und gerechten Weg! Sorgen Sie somit von uns die steuerliche Freistellung des Existenzmi- dafür, daß gesellschaftliche und ökonomische Rah- nimums für jedes Kind verlangt. Wer Kinder hat, soll menbedingungen für Kinder wieder stimmen! Es nicht genausoviel Steuern zahlen wie Kinderlose mit lohnt sich, im Interesse von Familien gute Vorschläge gleichem Einkommen. Das heißt doch: Die Entlastung aufzugreifen und auch einmal über seinen ideologi- durch Kinderfreibeträge ist keine zusätzliche Förde- schen Schatten zu springen. rung der Familie, sondern ausschließlich ein Gebot (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE verfassungskonformer Besteuerung, das für alle Fami- GRÜNEN und der PDS) lien gilt. Erste Anzeichen dafür waren in der jüngsten Debatte (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — zu erkennen. Deshalb fordere ich Sie jetzt schon auf: Christel Hanewinckel [SPD]: Warum machen Dokumentieren Sie Ihre so oft formulierte Familien- Sie es dann nicht?) freundlichkeit und stimmen Sie dem SPD-Antrag zu! Richtig ist natürlich, daß diese Freistellung auch über ein Kindergeld in entsprechender Höhe oder in einem Vielen Dank. dualen System aus Kinderfreibetrag plus Kindergeld (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten erfolgen kann, wie es heute existiert. der PDS) Für mich ist entscheidend, wieviel echte finanzielle Förderung, d. h. ohne Einberechnung der Freibe- träge, wir für Familien mit niedrigen und mittleren Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das war Ihre Einkommen erreichen können. Ich halte es für not- erste Rede in diesem Hause, Frau Kollegin Kressl. Ich wendig, bei knappen Kassen Familienförderung auf möchte Ihnen dazu herzlich gratulieren. diese Familien zu konzentrieren, dort aber auch zu (Beifall) spürbaren Verbesserungen zu kommen. Ich erteile nun das Wort an Frau Ministerin Nolte. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 729

Bundesministerin Claudia Nolte Auf differenzierte Verhältnisse sollte meines Erach- Christel Hanewinckel (SPD): Frau Ministe rin, Sie tens differenziert reagiert werden. Während der Auf- haben soeben gesagt, daß wir ein einheitliches Kin- wand für Familien mit jedem Kind wächst, führt ein dergeld geben wollten und damit — wörtlich haben Einheitskindergeld zu einer mit der Kinderzahl stei- Sie es zwar nicht so gesagt, aber sinngemäß — quasi genden Benachteiligung von Familien. Erst wer vier alle über einen Kamm scheren. Das stimmt ja so nicht. oder mehr Kinder hat, soll nach den Vorschlägen der Unsere Vorschläge gehen weiter. SPD stärker gefördert werden. Allen das gleiche zu Ich möchte Sie fragen: Wie beurteilen Sie denn die geben, egal ob dem Spitzenverdiener oder der teilzeit Vorschläge Ihres Finanzministers? Da kann man ja beschäftigten alleinerziehenden Mutter, wird auf nun wahrlich nicht davon reden, daß alle über einen Dauer keine Akzeptanz finden. Kamm geschoren werden; im Gegenteil: Die jetzige (Lachen und Widerspruch bei der SPD) Regelung der Kinderfreibeträge ist schon mehr als Wer über ein hohes Familieneinkommen verfügt, sozial ungerecht. Sein Vorschlag, diese noch zu erhö- braucht kein Kindergeld. hen, schiebt eindeutig Milliarden zu denen, die ziem- lich gut verdienen. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Ministerin, Wie differenzieren Sie denn da? Wie stehen Sie zu gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin den Überlegungen hinsichtlich einer nicht einheitli- Schmidt? chen Versorgung von Familien, die gerade in eine andere Richtung abdriften? Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio- ren, Frauen und Jugend: Ja, bitte. Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio- Ulla Schmidt (Aachen) (SPD): Frau Ministerin, Sie ren, Frauen und Jugend: Um auf die Differenzierung haben jetzt wiederholt davon gesprochen, daß Sie Ihres Modells einzugehen: Sie wissen selber, daß, eine differenzierte Förderung für Familien mit Kin- wenn man ab dem vierten Kind eine Differenzierung dern beabsichtigen. Sie sprechen davon immer sehr vornimmt, jede 20. Familie davon profitiert. Das heißt, allgemein. Einmal sagen Sie, daß Sie das Kindergeld der größte Teil ist schon unter einem Einheitskinder- auch ab dem ersten Kind spürbar erhöhen wollen. geld zu betrachten. Dann sprechen Sie auch davon, daß Sie Familien mit Ich habe zu den Äußerungen des Finanzministers geringem Einkommen besonders fördern wollen. bzw. zu seinen Vorstellungen gesagt: Es ist richtig, Wissen Sie in etwa schon die Größenordnung? Was daß wir uns gemeinsam über eine Verbesserung heißt „spürbar"? Was heißt eigentlich „geringes Ein- Gedanken machen. Das ist ein guter Weg. Ich habe kommen" ? Diese Fragen sollten Sie beantworten,- natürlich weitergehende Vorstellungen, und ich damit die Familien in diesem Lande wissen, was auf möchte diese auch zusammen mit dem Finanzminister sie zukommt. in der erwähnten Richtung vorantreiben. Wenn ich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dabei von allen Seiten Unterstützung bekomme, bin ich darüber nicht traurig. Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — ren, Frauen und Jugend: Ich habe großes Verständnis Detlev von Larcher [SPD]: Dann müssen Sie für diese Frage. Sie ist berechtigt. Ich denke aber, daß mit uns stimmen! — Weiterer Zuruf von der wir über die konkreten Zahlen in der Koalition SPD: Da bieten wir uns an! — Zuruf von der Abstimmungen treffen müssen, bevor ich sie hier vom CDU/CSU: Sehr gerne!) Rednerpult aus mitteile. Lassen Sie uns diese Zeit! — Ich habe Ihnen prinzipielle Bedenken genannt. Die (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — können Sie nicht einfach so abtun. Sie bestehen. Zuruf von der SPD: Dann tun Sie das end Die Beantwortung der Frage hinsichtlich der Finan- lich!) zierbarkeit erfolgt natürlich sofort: Das gilt korrekter- Ich finde es richtig, daß wir uns vorher ein gründli- weise für alle Vorschläge. Das heißt: Auch wir müssen ches Konzept überlegen, das auch längerfristig gilt. uns diese Frage stellen. (Zuruf von der SPD: Fünf Jahre! — Zuruf vom Sie verweisen zum wiederholten Mal in Ihrem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Fünf Jahre Antrag auf die Möglichkeit der Begrenzung der haben Sie Zeit gehabt!) Wirkung des Ehegattensplittings. Lassen Sie mich Wir sollten hier jetzt keine Schnellschüsse abgeben. dazu — es ist ja auch angeklungen — nur soviel sagen: Aus dem Grunde werde ich hierzu jetzt keine Zahlen In den meisten Fällen wirkt das Ehegattensplitting als nennen. Familienförderung. Ich halte überhaupt nichts davon, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — für eine Verbesserung von Familienleistungen inner- Widerspruch bei der SPD — Detlev von halb des gleichen Topfs umzuschichten und damit Larcher [SPD]: Wann kam das Urteil des anderen Familien etwas zu nehmen. Bundesverfassungsgerichts?) (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Andererseits werte ich Ihren Antrag aber auch als Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Ministerin, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Kollegin ein Angebot, mit uns gemeinsam an der Entlastung der Familien mitzuwirken. Das heißt, ich hoffe, daß die Hanewinckel? SPD-geführten Länder bereit sein werden, sich an der Finanzierung angemessen zu beteiligen. Claudia Nolte, Bundesministerin für Familie, Senio- ren, Frauen und Jugend: Ja. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) 730 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Bundesministerin Claudia Nolte Dann wäre auch ein großer Schritt hin zu einem nicht das SPD-Modell des einheitlichen Kindergeldes echten Familienleistungsausgleich möglich. und der Finanzamtslösung — Abzug von der Steuer- (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist Ihre Bring schuld — zur Grundlage hatten, sondern daß diese schuld!) Untersuchungen, die in den 80er Jahren angestellt wurden, auf der Basis des jetzigen sogenannten dua- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte noch len Rechts mit all der Komplizierung, mit den Einkom- die Frage der Praktikabilität der in dem Antrag mensgrenzen usw., vorgenommen wurden, so daß es gemachten Umsetzungsvorschläge ansprechen. eine zitierfähige Untersuchung zu dem SPD-Modell Meist ist es so, daß sich einfach erscheinende Lösun- auch unter dem Gesichtspunkt der Vereinfachung gen am Ende in das Gegenteil verkehren. Ich habe überhaupt nicht gibt? doch Zweifel, ob es mit der Finanzamtslösung für den Familienleistungsausgleich wirklich gelingt, den Ver- Bundesministerin für Senioren, waltungsaufwand spürbar zu verringern. Ich ziehe Claudia Nolte, Familie, Frauen und Jugend: Vielleicht gibt es keine diese Zweifel u. a. aus dem Gutachten zur Finanz- dem Gutachten adäquate Untersuchung, aber ich amtslösung, das die Arbeitsgemeinschaft für wirt- denke schon, daß man aus dem Gutachten Schlüsse schaftliche Verwaltung bereits 1990 vorgelegt hat und ziehen kann. Auch bei dem einheitlichen Kindergeld das die Bundesregierung damals dem Bundestag werden sich natürlich solche Fragen ergeben: Wie ist zugeleitet hat. es mit ausländischen Arbeitnehmern mit Kindern im Dieses Gutachten kam zu dem Schluß, daß die Ausland? Wie ist es mit denjenigen, die beim Arbeits- Finanzamtslösung in Teilbereichen sogar einen grö- amt gemeldet sind? Wie werden die Verfahren abge- ßeren Verwaltungsaufwand mit sich brächte. Ich wickelt, die die Arbeitgeber über normale Steuer nenne einige Beispiele: Die Zuständigkeit nur einer abrechnen müssen und bei denen sie vielleicht in staatlichen Stelle, also des Finanzamts, wird schwer zu Vorauszahlung treten müßten? Das sind Fragen, die erreichen sein, weil die Kindergeldverfahren bei der trotzdem bleiben. Einen Teil der Bürokratie muß der Bundesanstalt für Arbeit für bestimmte Fallgruppen Arbeitgeber natürlich abnehmen. Auch der Zahlen- bestehenbleiben müssen, so für Arbeitslose mit Lei- abgleich, alles, was sich bei Verwaltungsvereinfa- stungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz, auslän- chungen ergeben würde, bedeutet einen Aufwand, dische Arbeitnehmer mit Kindern im Ausland und für den wir nicht verschweigen dürfen und den wir bestimmte Gruppen mit zwischenstaatlichen Sonder- beachten sollten. Ich habe versucht, darauf hinzuwei- vereinbarungen. sen, daß man nicht nur von einfachen Lösungen sprechen kann, sondern daß zu bedenken ist, daß Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Ministerin,- jeweils gründlich untersucht werden muß, ob etwas gestatten Sie noch eine Zwischenfrage? machbar ist. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Claudia Nolte, Bundesministerin für Senioren, Familie, Frauen und Jugend: Kann ich den Aspekt Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gestatten Sie Verwaltung erst zu Ende vortragen? Ich denke, die noch eine Frage? Frage paßt dann inhaltlich immer noch dazu. Ein großer Teil der Bürokratie würde zudem auf die Claudia Nolte, Bundesministerin für Senioren, Arbeitgeber abgewälzt. Man müßte mit einem nicht Familie, Frauen und Jugend: Ja. unerheblichen Anstieg der Fälle von Pflichtveranla- gung und Anträgen auf Lohnsteuerjahresausgleich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege rechnen. Poß, bitte. Der Aspekt der praktischen Umsetzung darf nicht unberücksichtigt bleiben, wenn wir uns neuen Model- Joachim Poß (SPD): Da wir im Moment eine ver- len zuwenden. Auch im derzeitigen System des Fami- stärkte Diskussion über Modernisierung, Verschlan- lienlastenausgleichs sind Verwaltungsvereinfachun- kung auch von Staatstätigkeiten und Vereinfachung gen nötig und möglich. Über diesen Komplex sollten haben: Wären Sie denn bereit, eine entsprechende wir insbesondere auch mit den Ländern in Gespräche Untersuchung in Auftrag zu geben, bei der auch die eintreten, ob es nicht praktikablere Lösungen gibt, die Elemente des SPD-Modells einbezogen würden? bisherige Auszahlung von verschiedenen Familien- Bedeutet Ihre letzte Bemerkung, das müsse geprüft leistungen an einer Stelle zusammenzuführen. Ver- werden, daß auch Sie ausdrücklich bereit wären, ein einfachungen würden sich aber auch schon dadurch solches Modell untersuchen zu lassen? ergeben, daß der Kindergeldzuschlag in das Kinder- geld integriert wird und wir die verschiedenen Ein- Claudia Nolte, Bundesministerin für Senioren, kommensbegriffe im Kinder- und Steuerrecht verein- Familie, Frauen und Jugend: Ich sage ausdrücklich, heitlichen. daß ich sehr für Verwaltungsvereinfachung bin. Das, (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) was in meinem Ressort liegt — Einkommensgrenzen und Kindergeldzuschlag —, möchte ich auf jeden Fall Im Ergebnis erhielte dadurch ein Teil der Familien prüfen; das habe ich angedeutet. Ihre Anfrage richtet zudem ein höheres Kindergeld. sich eher an das Finanzministerium. Sie können davon Bitte, Herr Kollege. ausgehen: Bevor eine solche Lösung angedacht wird, wird das sehr wohl geprüft werden. Joachim Poß (SPD): Frau Ministerin, gestehen Sie (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — zu, daß die Untersuchungen, die Sie zitiert haben, alle Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 731

Bundesministerin Claudia Nolte Liebe Kolleginnen und Kollegen, in ihrem Antrag ren, sondern nur die Möglichkeit haben, den Kinder- fordert die SPD von der Bundesregierung, einen geldzuschlag in Höhe von 65 DM zu bekommen, der gerechten, verfassungsgemäßen und unbürokrati- diesen Mißstand allerdings unter dem Strich nicht schen Familienlastenausgleich zu schaffen. Dies ent- behebt. spricht vom Ziel her eigentlich auch dem, was wir in den Koalitionsvereinbarungen niedergelegt haben. Diese Instrumente, die in den letzten Jahren zum sogenannten Ausgleich für Familien mit Kindern Wir werden daran festhalten, den Kinderfreibetrag anzuheben, das Kindergeld zu erhöhen und es gezielt geschaffen wurden, haben eine wachsende soziale von Alleinerziehenden, aber auch von denjenigen zugute kommen zu lassen, die es am Ausgrenzung dringendsten benötigen. Dies sind die Familien mit Familien mit mehreren Kindern nicht verhindern niedrigem Einkommen und mehreren Kindern, zu können und dazu geführt, daß das Leben mit Kindern denen ich auch immer die Alleinerziehenden zähle. in der Bundesrepublik Deutschland für viele Men- schen leider zu einem Armutsrisiko geworden ist. Wir Dies bedeutet zielgenaue Familienförderung und kennen die gestiegenen Zahlen der Sozialhilfeemp- Vereinfachung für den Bürger und die Verwaltung. fänger, wir kennen auch die Zahlen der Armutsbe- Darüber, wie dies im einzelnen auszusehen hat, wird richte, die immer wieder von verschiedenen Verbän- jetzt diskutiert. Wir werden uns in den nächsten den vorgelegt werden und im speziellen die Situation Wochen in den Mehrheitsfraktionen, in der Koalition der Kinder, die zunehmend mit in die Sozialhilfe und in der Bundesregierung über Realisierungsmög- hineinrutschen, beklagen. lichkeiten und die konkrete Ausgestaltung unserer Ziele unterhalten und in absehbarer Zeit dann auch an Wir sind der Auffassung, daß das Existenzminimum dieser Stelle über die Gesamtkonzeption zu reden der Kinder durch das bisherige System nicht gesichert haben, die über das Jahr 1996 Bestand haben und ist. Hinzu kommt die für uns sozial vollkommen über diese Legislaturperiode hinaus Perspektiven unverständliche Tatsache, daß Besserverdienende eröffnen muß. gegenüber den Durchschnittsfamilien und Geringver- Hinsichtlich des Ziels, für die Familie Verbesserun- dienern mit Kindern weiter bevorzugt werden sollen gen zu erreichen, sind wir nahe beieinander. Ich will und damit der Stellenwert der Kinder in der Familie meinen Beitrag dazu leisten, daß wir Wege finden, die finanztechnisch unterschiedlich bemessen wird. Das alle Beteiligten — Bund, Länder und Gemeinden — heißt, manche Kinder sind dann eben leider mehr wert gemeinsam gehen können. als andere. Das kann und darf nicht sein. Danke schön. Dies kann in der Konsequenz nur bedeuten, daß der (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Kinderfreibetrag abgeschafft werden muß und durch ein Kindergeld ersetzt wird, das erstens den Anforde- rungen des Bundesverfassungsgerichtes nach Steuer- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile Frau freistellung des Existenzminimums entspricht und das Kollegin Christine Scheel das Wort. zweitens — auch das ist ein ganz zentraler Punkt — den Ungerechtigkeiten des Kinderfreibetrages ein Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ende setzt. Unter diesem Gesichtspunkt, Frau Mini- Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der zen- sterin Nolte, sind wir zu der Überzeugung gekommen, trale Punkt unserer Auseinandersetzung, die wir hier daß das Grundkindergeld pro Kind 300 DM betragen führen, ist doch leider die beschämende Tatsache, daß muß. Denn wenn man auf der einen Seite den Freibe- in diesem angeblich so kinderfreundlichen, familien- trag abschafft und dies auf der anderen Seite über das freundlichen und sozialen Land Familien mit Kindern Kindergeld kompensieren will, muß das Grundkin- jahrelang draufgezahlt haben. Es gibt Publikationen dergeld in dieser Höhe angelegt sein, da wir nur so und Äußerungen von Vertretern der beiden großen dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes nach Kirchen, es gibt Äußerungen von Vertretern der Freistellung des Existenzminimums entsprechen kön- Wohlfahrtsverbände, die belegen, daß die Familien in nen. den letzten Jahren regelrecht mit Kinderstrafsteuern belegt wurden, da eben kein echter Familienlei- Zusätzlich wollen wir, daß für einkommensschwä- stungsausgleich gewährt wurde und bis heute nicht chere Familien mit Kindern bis zu 250 DM gezahlt gewährt wird. werden können. Wenn man dies insgesamt umrech- Hinter dem Begriff „Familienleistungsausgleich" net, entspricht dies bei einem Spitzensteuersatz von verbirgt sich eine große Anzahl von familienentlasten- 53 % einem fiktiven Kinderfreibetrag — ich sage dies den Regelungen. Ich möchte mich jedoch auf die aus CDU/CSU- und F.D.P.-Sicht — von 7 200 DM. Das zentralen Punkte der Diskussion beschränken, insbe- heißt, wir entsprechen dem Bundesverfassungsge- sondere auf das Ehegattensplitting, und die Kombina- richtsurteil auch im Bereich des Spitzensteuersatzes. tion von Kindergeld und Kinderfreibetrag im soge- Dies ist notwendig und auch begründet. nannten dualen System. Von den statistischen Ämtern bis hin zu den kirch- Es gibt — das ist kein Geheimnis — durch den lichen Verbänden rechnen Experten und Expertinnen Kinderfreibetrag einen völlig unbegründeten Steuer- immer wieder vor, daß der tatsächliche Aufwand für vorteil für Besserverdienende und für Ehepaare. Da ein Kind im Monat bei 830 DM liegt. Ich weiß, daß es gibt es Berechnungen, die, so denke ich, auch von der wünschenswert ist, dies umsetzen zu können. Ich weiß CDU/CSU nicht angezweifelt werden. Einkommens- aber genauso, Herr Staatssekretär Faltlhauser, daß die schwächere Personen sowie Personen, die über Trans- Finanzierungsspielräume in diesem Bereich sehr eng fereinkommen verfügen, sind in der Regel in der sind und daß die Steuer- und Abgabenlast der Bürger Situation, daß sie nicht vom Kinderfreibetrag profitie- und der Bürgerinnen die Schmerzgrenze bereits weit 732 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Christine Scheel überschritten hat. Es stellt sich natürlich auch für uns davon aus, daß durch die Abschaffung des mehrfa- die Frage: Woher nehmen? chen Verwaltungsaufwandes, den wir mit dem dualen System haben, Einsparungen vorgenommen werden Ich will hier auch ganz ehrlich sagen, daß diese können. Wir stimmen hier auch mit SPD und F.D.P. Kosten wahrscheinlich nicht insgesamt aufkommens- überein, die ebenfalls die Berechnung und Auszah- neutral erwirtschaftet werden können. Das muß man lung des Kindergeldes bei den Finanzämtern ansie- zugestehen. Ich sehe aber auf der anderen Seite auch deln möchten. die Möglichkeit, da die Bundesregierung der Ansicht ist, daß sich die Solidargemeinschaft ihre Kinder etwas Frau Ministerin Nolte, Herr Thiele hat ja bereits eine kosten lassen muß, daß man auch einen anderen Weg Zahl in den Raum geworfen. Er hat vorgerechnet, daß der Kompensierung finden kann, der bei bestimmten 650 Millionen DM an Verwaltungskosten im Jahr steuerlichen Möglichkeiten ansetzen kann. Wenn ich eingespart werden könnten. Vielleicht könnten Sie dann höre, daß bei der CDU und CSU im familienpo- sich einmal einigen. Ansonsten müßten wir ein Gut- litischen Bereich die Zahl von 35 Milliarden DM achten auf den Weg geben; das unterstützen wir sehr kursiert, muß ich sagen, daß wir mit unserem grünen gerne. Unter dem Strich wird es, denke ich, auf alle Modell um einiges tiefer liegen. Trotzdem lassen sich Fälle eine Summe ergeben, bei der klar ist, daß es mit unserem Vorschlag Finanzierungspotentiale er- Einsparungen geben wird. Das genau ist es, was auch öffnen, wenn Sie endlich bereit wären, die sogenannte im Zusammenhang mit der Verwaltungsreform heilige Kuh Ehegattensplitting endlich vom Eis zu erreicht werden soll. nehmen. Auf alle Fälle: Schaffen Sie ein Kindergeld, das das Existenzminimum sicherstellt! Das ist Ihr Auftrag. Wir haben das Ziel vor Augen, daß wir in unserer Schaffen Sie ein Kindergeld, das das Transfersystem Gesellschaft alle gesellschaftlich und Lebensformen billiger und transparenter macht! Sehen Sie zu, daß auch steuerlich mittelfristig gleichstellen. Es ist nicht die heilige Kuh Ehegattensplitting vom Eis kommt, so, daß wir etwas gegen die Ehe haben. Wir müssen als damit steuerliche Gerechtigkeit erreicht wird! Den- Individuum, Mann oder Frau, entscheiden können, ken Sie bitte daran, daß nicht die Ehe bei allem im welche Lebensform wir wählen. Jeder soll nach seiner Vordergrund stehen darf, sondern diejenigen, auf die Fasson glücklich werden, ob verheiratet oder nicht. wir unsere Zukunft stützen, und das sind die Kin- Unser Steuersystem darf aber nicht eine Lebensform der. gegenüber einer anderen privilegieren, wenn auch noch Kinder im Spiel sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD und der PDS) Wir haben — das steht fest — 2 Millionen alleiner- ziehende Frauen und Männer in Deutschland,- die beim bestehenden Steuersystem benachteiligt sind. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe nun Wir haben 1,5 Millionen nichteheliche Lebensge- das Wort an Frau Heidemarie Lüth. meinschaften. Trotzdem halten Sie daran fest, die Ehe zu begünstigen. Ich denke, das ist der heutigen Zeit Heidemarie Lüth (PDS): Herr Präsident! Meine sehr schlicht nicht mehr angemessen. verehrten Damen und Herren! Eine gewisse Kontinui- tät kann ich den von der CDU/CSU geführten Regie- Was mich auch wundert, ist, daß selbst unser rungen auch bei diesem Thema wahrhaft nicht Bundesfinanzminister, der immer Einsparungen vor- absprechen. Frau Ministerin, Ihre Botschaft hörte ich nehmen will, die Steuermindereinnahmen, die wir wohl. Ich hoffe aber, daß ich mich ein bißchen verhört über das Ehegattensplitting haben, mit 36 Milliarden habe und Sie nicht meinten, Sie würden es prüfen, um DM im Jahr beziffert. Er weiß sehr wohl, daß es sehr letztlich alles beim alten zu lassen; denn eigentlich viele Familien gibt, die keine Kinder haben und vom veränderte sich die Position der verschiedenen CDU/ Splitting hervorragend profitieren. Sie kennen die CSU - Regierungen im Bereich der Erklärungen zur Anzeigen in den Tageszeitungen: Zahnarzt sucht Familienpolitik und auch der praktischen Politik junge 23jährige usw., weil er wegen der Steuer immer nur in Nuancen, was das Wiederholen nahezu heiraten will. So ist es nun einmal, wenn man sich die Bleichlautender Formulierungen zur Folge hatte. Zeitungen anschaut. Ich denke, das kann nicht der Sinn der Sache sein. So hat bereits Konrad Adenauer am 20. Oktober 1953, als das Ministerium für Familie ins Leben (Dr. [F.D.P.]: Die sucht gerufen wurde, gesagt: Sie, die Bundesregierung, er doch nicht wegen der Steuer!) wird alles tun, um die Familie zu fördern. Als vordring- — Natürlich macht er das wegen der Steuer. Es gibt liche Aufgaben wurden die Sicherung des gerechten Lohnes, der die materielle Existenz der Familien auf dem Stellenmarkt auch andere Anzeigen, aber es gibt bestimmt einen großen Anteil, bei dem der gewährleistet, sowie eine stärkere Berücksichtigung Absetzungsgedanke eine Rolle spielt. der Familie, insbesondere größerer Familien, in der Steuer-, Sozial- und Wirtschaftspolitik benannt. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Vollmundiger geht es wieder, obwohl da schon das Haben Sie das schon erlebt?) Urteil des Bundesverfassungsgerichtes existierte, in Wir wissen, daß sich auch enorme Einsparpoten- der Regierungserklärung von 1991 zu, in der Bundes- tiale ergeben können, wenn wir das duale System kanzler Kohl formulierte: Es bleibt unsere vornehmste abschaffen. Frau Nolte hat das angesprochen und Pflicht, die Familie zu stärken. gesagt, dies würde Mehrkosten bedeuten. Es wurde Wir wollen die Familien noch stärker als bisher durch die Zwischenfrage der SPD erkennbar, daß es in steuerlich entlasten; ihre Förderung durch Kin diesem Bereich noch kein Gutachten gibt. Ich gehe dergeld wollen wir ausbauen ... Die Kinderfrei- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 733

Heidemarie Lüth beträge werden wir schrittweise so erhöhen, daß in der Finanzpolitik, aber auch in anderen Bereichen das Existenzminimum für Familien mit Kindern unbedingter Handlungsbedarf. Zur Zeit ist es doch so: nicht mehr besteuert wird. Das Kindergeld wer- Nach den gegenwärtigen Regelungen darf sich der den wir so ausgestalten, daß es nicht allein der Staat über das Steuerrecht in Lebensformen einmi- Herstellung von Steuergerechtigkeit dient, son- schen. Durch das Ehegatten-Splitting wird sicherge- dern darüber hinaus Familien um so stärker stellt, daß die Tätigkeit eines Ehegatten im Haushalt fördert, je niedriger ihr Einkommen und je höher steuerlich einer außerhäuslichen Berufstätigkeit die Kinderzahl ist. gleichgestellt wird. Über die Vorteile des Ehegatten Splittings wurde hier schon ausreichend gesprochen. Man muß schon sagen: Geraume Zeit braucht man in diesem Hohen Haus, um zu wirklichen Änderungen Ein moderner Familienlastenausgleich, der diese zu kommen. Bezeichnung auch verdient und sowohl modernen Auffassungen von Ehe und Familie als auch aktuellen Mit der Koalitionsvereinbarung wird mit der wohl- familienpolitischen Ansprüchen genügt, muß die klingenden These „Deshalb werden wir den Fami- objektiven Belastungen auf diesem Gebiet tatsächlich lienlastenausgleich zu einem Familienleistungsaus- weitestgehend ausgleichen, und dies sicherlich gleich weiterentwickeln" ein vorläufiger Höhepunkt sowohl steuerrechtlich als auch mit einer Kindergeld- erreicht. Dann folgen die eigentlich schon sattsam regelung. bekannten Aussagen über die Anhebung der Freibe- Die Abgeordnetengruppe der PDS unterstützt die träge, die Orientierung der Leistungen an der Anzahl Forderung der Fraktion der SPD nach Abschaffung der Kinder usw. All dies wird eigentlich, wie auch im der Kinderfreibeträge und Einführung eines einkom- Jahre 1991, als notwendige Entwicklungsrichtung mensunabhängigen Kindergeldes, meint aber, daß proklamiert; einiges wird nun für 1996 in Aussicht das nur der erste Schritt zur Abschaffung des dualen gestellt. Aber der H andlungsbedarf ist wohl sicherlich Systems sein kann. Auch die von der SPD-Fraktion weit dringlicher. vorgeschlagene Finanzamtslösung zur Zahlung des Praktische Schritte wurden bisher nicht gegangen, Kindergeldes könnte einen Schritt zur Entbürokrati- obgleich konkrete Vorschläge von der SPD dazu sierung und ein Schritt zu dem darstellen, was die schon in der vergangenen Legislaturperiode vorla- Regierungskoalition „schlanker Staat" nennt, der gen. Im Gegenteil, diese Fragen, Vorstellungen und nicht nur bundeshaushaltsfreundlich, sondern auch Lösungsansätze wurden seitens der Koalition immer wirklich bürgerfreundlich ist. Das wäre verfassungs- wieder auf Rechenaufgaben reduziert. rechtlich ebenso unbedenklich wie die Vorschläge der SPD zur Einführung eines Familien-Splittings, das Was allerdings deutlich geworden ist und- zu den schon mehrfach angesprochen wurde. Erfahrungen von vielen Familien, Alleinerziehenden, Kindern und Jugendlichen selbst gehört, ist der Tatsächliche Politik für Kinder und Jugendliche Widerspruch zwischen Erklärungen und Ankündi- gestalten, das verlangt sicherlich eine völlige Neu- gungen von familien- und kinderfreundlicher Politik orientierung in der Familienpolitik, nach der das Kind und den tatsächlichen Lebensverhältnissen, vor allem als eigenständiges Rechtssubjekt mit eigenen Forde- der Normal- und Wenigverdienenden, von Familien rungen an das soziale Milieu der Gesellschaft anzuer- mit Kindern unterhalb einer bestimmten Einkom- kennen und ihm eine soziale Grundsicherung, unab- mensgrenze, von Alleinerziehenden und von all hängig von der sozialen Umgebung, in die Kinder jenen, die heute von Arbeitslosigkeit, Kürzung von hineingeboren werden, zu garantieren ist. Sozialleistungen und dergleichen betroffen sind, also Danke. von denen, die heute schon die Aussagen des Bundes- (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten kanzlers vom Umbau des Sozialstaates als Abbau der SPD) erleben können. Es ist wahrlich Zeit, von einer Dis- kussion über soziale Gerechtigkeit für Familien mit Kindern zu konkreten Schritten zu kommen. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das war die (Beifall bei der PDS) erste Rede der Frau Kollegin Lüth in diesem Hause. Ich möchte auch Ihnen herzlich gratulieren. Weiter heißt es in der Regierungserklärung: „Ohne Kinder verarmt eine Gesellschaft." In den neuen (Beifall) Bundesländern ist die Gesellschaft dann wohl dabei, Ich erteile nun Frau Professor Gisela Frick das an den Bettelstab zu kommen, sind doch hier die Wort. Geburtenraten auf das Niveau des Kriegsjahres 1944 zurückgefallen. Dabei ist der Kinderwunsch ein Wert geblieben, wird jedoch in seiner Verwirklichung von Gisela Frick (F.D.P.): Sehr geehrter Herr Präsident! vielen Frauen und Männern zurückgestellt, weil exi- Meine Damen und Herren! In der Reihenfolge sind wir stentielle Gegenwarts- und Zukunftssorgen es ihnen leider etwas außer Takt geraten. nicht leichter machen, Kinderwünsche Realität wer- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Die F.D.P. ist außer den zu lassen. Takt!) (Zuruf von der SPD: Das ist leider so!) Aber ich nehme an, daß die Gefahr einer Verwechs- Kinder werden gerade in den neuen Bundesländern lung zwischen dem Beitrag der Vorrednerin und dem — das wurde eigentlich über alle Fraktionen hinweg Beitrag der F.D.P. nicht gegeben ist. schon mehrfach betont — als Risiko für Wohlstand und (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. und der für einen Arbeitsplatz empfunden. Daraus ergibt sich PDS) 734 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Gisela Frick „Für einen gerechten, verfassungsgemäßen und mensteuer aussprechen. Dazu habe ich von Ihnen unbürokratischen Familienleistungsausgleich": So noch nichts gehört. betitelt die SPD ihren Vorschlag. Dieser ist jedoch weder gerecht noch verfassungsgemäß, und ob er (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) unbürokratisch ist, ist zumindest sehr fraglich. Oder haben Sie sich schon einmal dagegen (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne gewandt, daß die Anschaffung beispielsweise eines ten der CDU/CSU — Dr. Uwe Küster [SPD]: Fachbuchs als Werbungskosten oder Betriebsausga- Nur deshalb, weil der Teufel diesmal nicht ben beim geringverdienenden Berufsanfänger eine auf den großen Berg scheißt!) wesentlich geringere steuerliche Entlastung bringt als beim erfolgreichen Spitzenverdiener? Ich will Ihnen auch sagen, warum. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Sehr zynisch!) (Detlev von Larcher [SPD]: Da sind wir gespannt!) Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie versuchen doch immer wieder, gerade im steuerlichen Die SPD und auch das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bereich die Mitglieder der Koalition zu belehren. wollen den Kinderfreibetrag abschaffen und durch Vielleicht sehen Sie es mir als neuer Abgeordneten, ein einheitliches Kindergeld von 250 bzw. 300 DM die im vorparlamentarischen Leben als Professorin ersetzen Steuerrecht und Verfassungsrecht gelehrt hat, nach, (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das empfinden Sie als wenn ich das auch einmal bei Ihnen versuche, obwohl ungerecht?) ich nicht allzuviel Hoffnung auf Erfolg habe. — Moment, dazu komme ich —, mit der Begründung, (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P. — der Kinderfreibetrag sei ungerecht, weil die steuerli Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Zu che Entlastung mit steigendem Einkommen wachse. Recht!) (Zuruf von der SPD: Ja, das ist doch so!) Es kommt jetzt also ein kleines steuerpolitisches Exposé. — Ja, tatsächlich ist es so, wie Sie in Ihrem Antrag behaupten. Wir unterscheiden im Steuerrecht Fiskalzwecknor- men und Sozialzwecknormen. Die Fiskalzwecknor- Die monatliche Entlastung durch den Kinderfreibe- men dienen dem eigentlichen Zweck der Steuer, trag für einen Spitzenverdiener be trägt zur Zeit näm- - nämlich Einnahmen für den Staat zu erzielen; die lich — da muß ich Sie sogar korrigieren, weil mittler- Sozialzwecknormen dienen anderen, außersteuerli- weile ja der Solidaritätszuschlag dazugekommen chen Zwecken. ist — nicht 181 DM, sondern sogar noch 14 DM mehr. Für einen Geringverdiener sind es tatsächlich, wie Sie (Detlev von Larcher [SPD]: Das hätten wir behaupten, 65 DM. Auch hier kommt der Solidaritäts- nicht gedacht!) zuschlag in Höhe von 5 DM hinzu. Auch daran sehen Sie, wie gerecht der Solidaritätszuschlag ist, wie Im Bereich der Fiskalzwecknormen geht es um Bela- unterschiedlich er sich bei unterschiedlich hohen stungsgerechtigkeit, d. h. um die Frage: Was darf der Einkommen auswirkt. Staat dem Bürger im Hinblick auf seine individuelle Leistungsfähigkeit als Steuer abverlangen? Im Be- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — reich der Sozialzwecknormen geht es um Leistungs- Zuruf von der SPD: Es ist trotzdem eine gerechtigkeit, d. h. um die Frage: Was muß oder will Belastung! — Dr. Uwe Küster [SPD]: Das ist der Staat dem Bürger im Hinblick auf dessen indivi- die Philosophie der Besserverdiener! Aber duelle Bedürftigkeit als Transferleistung zukommen wirklich!) lassen? — Warten Sie doch bitte ab! Im übrigen ist es meine Bei der Berücksichtigung von Kindesunterhalt im erste Rede, und auch ich habe, glaube ich, verdient, Steuerrecht bewegen wir uns im Bereich der Fiskal- daß man mich zunächst einmal vortragen läßt. zwecknormen und damit im Bereich der Belastungs- (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU gerechtigkeit und gerade nicht im Bereich der Lei- sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS stungsgerechtigkeit. Damit bekommt auch das von SES 90/DIE GRÜNEN — Dieter Wiefelspütz Ihnen ständig wiederholte Argument, dem Staat [SPD]: Da hat sie recht!) müsse jedes Kind gleich viel wert sein, meine aus- drückliche Zustimmung. Wir wollen doch keine unter- Sie behaupten, es sei ungerecht. Ich gehe jetzt der schiedlichen Kinderfreibeträge für Spitzenverdiener Frage weiter nach: Ist es wirklich ungerecht? Diese und Geringverdiener. unterschiedliche Entlastung ist doch nur ein Reflex unseres progressiven Einkommensteuertarifs und (Zuruf von der SPD: Warum machen Sie es nichts anderes als die Folge davon, daß ein Spitzen- dann?) verdiener bei 100 DM zu versteuerndem Einkommen Jedes Kind ist dem Staat gleich viel wert, eine Grenzbelastung von 57 DM hat, während ein Geringverdiener 100 DM mit knapp über 20 DM (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) versteuern muß. Das sind jetzt schon die Zahlen für 1995. Finden Sie das ungerecht? Wenn ja, dann sollten allerdings beim Abzug von der Bemessungsgrund Sie sich gegen den progressiven Tarif in der Einkom- lage. Die steuerliche Entlastungswirkung ist in einem Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 735

Gisela Frick progressiven Einkommensteuersystem eben auch Schon zwei Seiten weiter können Sie dazu lesen progressiv, und das ist genau richtig. — ich helfe da mit einem wörtlichen Zitat nach —: (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Da die Minderung der Leistungsfähigkeit im Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Das verfassungsrechtlich gebotenen Umfang durch sagt auch das Verfassungsgericht!) einen Abzug der Aufwendungen von der steuer- Meine Damen und Herren von der Opposition, lichen Bemessungsgrundlage berücksichtigt hören Sie endlich auf, Fiskal- und Sozialzwecknormen werden muß, wirkt sich die Entlastung in einem zu vermischen! Hören Sie auf, das eigene schwer Einkommensteuersystem mit progressivem Tarif erarbeitete Einkommen, das dem Bürger nach Abzug ebenfalls progressiv aus. der Steuerbelastung verbleibt, als staatliche Subven- (Beifall bei der F.D.P.) tion zu betrachten! (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Mit der Ersetzung Detlev von Larcher [SPD]: Also, sehr viel — jetzt kommt nämlich genau Ihr Modell — lerne ich nicht von Ihnen!) — Schade! progressiv entlastender Kinderfreibeträge durch einen einheitlichen, von der Steuerschuld abzieh- (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Bei ihm ist baren Entlastungsbetrag — oder durch das ein- Hopfen und Malz verloren!) heitliche Kindergeld — wird die Besteuerung im Vergleich zu Kinderlosen nicht nur linear, son- Sonst sind Sie bald Wortführer einer wirklich umwäl- dern auch hinsichtlich der Steuerprogression ver- zenden Steuerreform, die etwa so aussehen dürfte: schärft, soweit durch den Entlastungsbetrag die Wir geben unser ganzes Geld beim Finanzamt ab und Besteuerung des Existenzminimums des Kindes erhalten dafür Essensmarken. nicht ausgeglichen wird. (Heiterkeit und Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD Das bedeutet im Klartext: Erstens. Der Kinderfrei- — Zuruf von der SPD: Das ist wirklich revo betrag als Abzugsbetrag von der steuerlichen Bemes- lutionär!) sungsgrundlage mit progressiv entlastender Wirkung ist der verfassungsrechtlich gebotene und auch Wir, die F.D.P., haben ein anderes Menschenbild, direkte Weg. und glücklicherweise ist das auch das Menschenbild unserer Verfassung, nämlich eine eigenverantwortli-- Zweitens. Ein Kindergeld statt dessen wäre theore- che, unabhängige Persönlichkeit, die ihr Einkommen tisch möglich, wenn es in seiner Höhe so bemessen zunächst für sich und ihre Familie erzielt und danach wäre, daß eine dem Kinderfreibetrag vergleichbare erst für die allgemeinen Aufgaben des Staates. Entlastung einträte. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne Daraus folgt drittens: Wenn Sie an einem einheitli- ten der CDU/CSU) chen Kindergeld festhalten, reichen die von Ihnen vorgeschlagenen 250 DM nicht aus, da damit nur für Damit komme ich zum nächsten Gesichtspunkt. Sie Steuerpflichtige bis zu einem Grenzsteuersatz von ca. behaupten, Ihre Vorschläge seien verfassungsgemäß, 40 %, wie Sie in Ihrem Antrag selber ausführen, das und scheuen sich nicht, als Beleg dafür die Entschei- steuerfreie Existenzminimum erreicht wird. dung des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Mai 1990 wörtlich zu zitieren, soweit sie in Ihr Konzept (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: paßt. Wir stimmen darin überein, daß das Existenzmi- Falsch gerechnet auch noch!) nimum eines Kindes steuerfrei bleiben muß. Zur Höhe führen Sie aus, das Existenzminimum eines Kindes Auch Sie sollten zur Kenntnis nehmen, daß wir liege bei 613 DM pro Monat, also bei 7 356 DM im mittlerweile Eltern mit einem Grenzsteuersatz von bis Jahr. Auch hier können wir uns noch verständigen, zu 57 % haben. Für diese müßte das Kindergeld zumal die Zahlen auf Angaben der Bundesregierung 350 DM betragen. beruhen, denen zu mißtrauen ich natürlich keinen Anlaß habe. (Zuruf von der SPD: Für die mit viel Geld?) Wenn Sie dann aber behaupten, mit Ihrem Vor- Ein einheitliches Kindergeld von 350 DM für alle ist schlag eines einheitlichen Kindergeldes die Vorgaben erstens jedoch derzeit nicht zu finanzieren. des Bundesverfassungsgerichts erfüllen zu können, Zweitens — das ist noch wichtiger —: Es entspricht muß ich dem entschieden widersprechen. Zwar zitie- nicht unserem Menschbild, dem Bürger erst in Form ren Sie richtig die Entscheidung des Bundesverfas- von Steuern in die Tasche zu greifen, um ihm dann die sungsgerichts, nach der es dem Gesetzgeber freistehe, eigentlich verfassungsgemäß gebotene steuerliche die kindesbedingte Minderung entweder im Steuer- Entlastung in Form einer staatlichen Transferleistung recht — ich mache es jetzt kurz; wir alle kennen das auf Antrag zurückzugewähren. Zitat — oder im Sozialrecht oder in einer Kombination von beidem zu berücksichtigen. Aber Sie haben (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — versäumt weiterzulesen. Denn selbstverständlich ist Widerspruch bei der SPD) es bei dieser grundsätzlichen Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nicht gleichgültig, wie hoch die jewei- Jürgen Borchert, der bekannte Familienexperte, hat ligen Beträge angesetzt werden. es drastischer formuliert: 736 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Gisela Frick Sie holen den Familien die Sau vom Hof und rechtigkeit, folgender — wie ein sozialer zu sein hat geben ihnen ein paar Koteletts zurück — und das und daß beides eine Schnittlinie ergeben muß. auch nur auf Antrag! Unser Modell hat durchaus den Gesichtspunkt der (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — horizontalen Steuergerechtigkeit. Sie kennen sehr Widerspruch bei der SPD) gut die Argumente, die dagegen eingewandt werden — Ich weiß ja schon, was da kommt. Nun werden Sie — wir haben sie vorhin von Frau Nolte gehört —: einwenden, das träfe doch nur einen relativ kleinen Wieso wollt ihr dem Zahnarzt mit fünf Kindern über- Teil von Spitzenverdienern und sei deshalb zu ver- haupt noch Kindergeld geben? Darin sind wir uns nachlässigen. Aber auch hier möchte ich Sie auf das einig: Horizontale Steuergerechtigkeit können wir Urteil des Bundesverfassungsgerichts, nämlich auf nicht in den Orkus versenken. Das tun wir auch Seite 659, verweisen, wo es heißt: nicht. Gleichzeitig haben wir den Unterschied zwischen Im Rahmen dieser Prüfung muß zwischen „verti- dem Zahnarzt und dem Arbeitslosen, der halbtags kaler" und „horizontaler" Steuergerechtigkeit erwerbstätigen Verkäuferin, der Alleinerziehenden unterschieden werden.... Im Verhältnis zu kin- derlosen Steuerpflichtigen gleicher Einkom- und dem Hilfsarbeiter mit drei Kindern als Schnittlinie berücksichtigt. Wir werden sicherlich Gelegenheit mensstufe, also auf horizontaler Ebene, kann die haben, darüber noch lange zu sprechen. steuerliche Mehrbelastung von Steuerpflichtigen mit unterhaltsbedürftigen Kindern durch den ein- Ich möchte Ihnen aber insbesondere empfehlen, gangs genannten Umstand nicht gerechtfertigt daß Sie Ihre Ausführungen dem Finanzminister Wai- werden. Andernfalls wäre, sofern nur das Ein- gel geben. Denn der Finanzminister macht mit dem kommen hoch genug ist, jede steuerliche dualen System, das Sie im Augenblick mittragen, Ungleichbehandlung auf horizontaler Ebene hin- hinsichtlich des Kindergeldanteils die gleiche Rech- zunehmen und das Gebot der Besteuerung nach nung wie wir und tut dies unbeschadet Ihrer sehr der Leistungsfähigkeit außer Kraft gesetzt. lehrreichen Ausführungen offensichtlich mit einem Effekt, den Sie für grob verfassungswidrig halten Wir wollen das Gebot der Besteuerung nach der müssen. Ich bitte darum, auch ihm die entsprechende Leistungsfähigkeit nicht außer Kraft setzen und wer- Belehrung zuteil werden zu lassen. den uns weiterhin dafür einsetzen, daß der beste- hende Kinderleistungsausgleich systemgerecht ver- (Beifall bei der SPD) bessert wird. Das bedeutet, die Anhebung des Kinder- freibetrags auf das steuerliche Existenzminimum hat Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Professor für uns als gerechte und verfassungsgemäße- Lösung Frick, Sie haben die Möglichkeit, darauf zu erwidern, Priorität. Der Einführung eines ungerechten und ver- wenn Sie es wollen. fassungswidrigen einheitlichen Kindergeldes erteilen (Dr. Uwe Küster [SPD]: Das muß aber nicht wir eine klare Absage. sein!) Ich danke Ihnen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU — Gisela Frick (F.D.P.): Das muß nicht sein. Aus meiner Zuruf von der SPD: Das wundert uns über Sicht ergibt es sich aber.

haupt nicht! — Dr. Hermann Otto Solms Das Waigel - Modell rechnet zwar das Kindergeld [F.D.P.]: Das hätte die Frau Matthäus hören entsprechend um, aber es behält den Kinderfreibetrag sollen!) als die eigentliche Meßlatte bei. Ich glaube, wir werden die Diskussion lieber im Finanzausschuß Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin weiterführen als hier im Plenum. Es war, glaube ich, Professor Frick, ich möchte auch Ihnen im Namen des soweit klar. Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne (Beifall) ten der CDU/CSU) Ich erteile nun zu einer Kurzintervention Frau Kollegin von Renesse das Wort. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun dem Kollegen Dr. Karl Fell das Wort.

Margot von Renesse (SPD): Frau Kollegin, auch ich Dr. Karl H. Fell (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine möchte mich sehr herzlich für dieses ungeheuer Damen und Herren! Der Antrag war überflüssig, denn lehrreiche Referat bedanken, der Vorschlag der Regierung — das wußten Sie (Dr. Hermann Otto Solms [F.D.P.]: Hoffenlich auch — kommt. Sie wissen, daß im Steuergesetz 1996 haben Sie aufgepaßt!) ein ausführlicher Vorschlag zur Neuregelung des lehrreich insbesondere wegen der scharfen Unter- Familienleistungsausgleichs notwendig ist. scheidung nicht nur in systematischer, sondern auch (Zuruf des Abg. Joachim Poß [SPD]) in inhaltlich politischer Hinsicht zwischen der fis- — Ich habe Ihnen gesagt, daß er kommt, Herr Poß. Wie kalischen und der sozialen Betrachtungsweise von er inhaltlich aussieht, das werden wir, Sie genauso wie Steuern. ich, dann erfahren, wenn er auf dem Tisch liegt. Wir Ich als Jurstin habe gelernt, daß nach der Verfas- werden uns dann damit auseinanderzusetzen haben. sung unser Staat in allen Bezügen sowohl ein gerech- Heute haben weder Sie noch irgend jemand von uns ter — das heißt, dem Gebot der Gleichbehandlung, in eine Patentlösung zur Hand, um das ganze Problem Ihrem Sprachgebrauch der horizontalen Steuerge- vom Tisch zu bringen. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 737

Dr. Karl H. Fell Nötig ist vielmehr, daß wir von unseren unter- Das ist genau die Gegenposition. Bei der Steuer schiedlichen Standorten und Überlegungen her, greift der Staat dem Bürger in die Tasche. Da gibt es wenn der Vorschlag auf dem Tisch liegt, über eine eine Grenze. Er darf nicht hineingreifen, wo existenz- Neuregelung nachdenken und diskutieren, die den notwendiges Einkommen besteuert würde. Da gibt es Vorgaben des Verfassungsgerichts gerecht wird. nichts. Bei den sozialpolitischen Transfers ist es umge- Zu Ihrem Vorschlag habe ich Ihnen bereits am kehrt. Hier will der Bürger vom Staat etwas haben, 23. Juni des letzten Jahres gesagt: Der Vorschlag ist weil er gar nicht soviel Einkommen zur Verfügung ungerecht, er ist nicht verfassungskonform, und er ist hat, daß er sein Existenzminimum erreicht. Hier sagt irreführend. Ungerecht und nicht verfassungskonform Kirchhoff genauso, wie wir das immer gesagt haben: ist der Vorschlag, weil Sie die Vergleichsebene, um Es muß darüber nachgedacht werden, welcher Betrag die es eigentlich geht, vernachlässigen. Frau Kollegin denn zur Verfügung zu stellen ist. Genau das ist der Frick hat das gerade schon dargestellt. Punkt, meine Damen und Herren. Es geht bei gleichhohem Einkommen um den Ver- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gleich zwischen dem, der keine Kinder hat, und dem, Ich habe den Eindruck, wir haben über zwei Fragen der Kinder hat. Ihr Vorschlag bedeutet, daß in beiden zu streiten. Die eine Frage heißt: Welcher Betrag muß Fällen die gleiche Steuertabelle an das Einkommen der Höhe nach als notwendiger Aufwand für das angelegt wird. Im einen Fall wird daraus eine zu hohe Großziehen von Kindern denen, die die Kinder haben Steuerschuld errechnet, und von dieser Steuerschuld und sie großziehen, zur Verfügung gestellt werden? lassen Sie dann Kindergeld nach. Das geschieht mit (Zuruf von der SPD: Na also!) der Folge, daß dadurch, daß Sie den Be treffenden vorher belasten, jeder, der auch nur eine Mark Steu- Das ist der erste Streitpunkt, den wir haben. Dazu ern zahlt, sein Kindergeld selber mit- oder vorfinan- haben wir unterschiedliche Überlegungen. ziert. Ich habe Ihnen schon damals gesagt, wie weit Zum zweiten, vielleicht sogar wichtigeren Punkt das reicht. gibt es Ihren Vorschlag. Es ist neidlos anzuerkennen: Der Verfassungsrichter Professor Kirchhof, der der Ihr Vorschlag ist populärer, leichter verständlich. Berichterstatter für die für uns maßgeblichen Urteile Deshalb geht er den Leuten erst einmal leichter ein, war, hat bei einem Vortrag beim Steuerberaterkon- weil sie gar nicht merken, daß ihnen vorher aus der greß in Dresden am 28. November des vergangenen Tasche gezogen wird, was sie nachher zurückbekom- Jahres noch einmal auf den grundlegenden Sachver- men. Der zweite Punkt also, über den wir zu reden halt hingewiesen, daß im Rahmen einer progressiven haben, ist: In welchem transparenten Verfahren kön- nen wir für jeden verständlich die Vorgabe des Einkommensbesteuerung der Abzug des existenznot-- wendigen Bedarfs von der Bemessungsgrundlage Verfassungsgerichts — notwendiger Kinderunter- erforderlich ist. halt — erfüllen und organisieren, daß wir den Wirr- warr, den wir teilweise in bezug auf unterschiedliche Diesen Grundsatz verletzen Sie, denn die gesetzlich Zuständigkeiten haben, überwinden? gewollte Progression rechtfertigt sich nur als Bela- stung des verfügbaren Einkommens, also der Einkom- (Zurufe von der SPD) mensteile, die nicht notwendigerweise für das Exi- — Herr Poß, darüber können wir nachdenken und stenzminimum für einen selber und nicht notwendi- gemeinsam reden. gerweise für das Großziehen von Kindern gefordert sind. (Christel Hanewinckel [SPD]: Das ist aben teuerlich!) Wir haben beim Existenzminimum Spielräume, weil jeder das Einkommen zur Verfügung hat. Deshalb, so Nur ist das nicht mit Ihrem einheitlichen Kinder- Kirchhof, gilt für den existenznotwendigen Bedarf der geld erreichbar; denn — ich sage es noch einmal — Sie Kinder, den nur die Eltern aus ihrem Einkommen zu veranlagen zuerst, als wären keine Kinder da. Der befriedigen haben, während die Kinderlosen insoweit Abzug von der Steuerschuld erfolgt von einer zu uneingeschränkt über ihr Einkommen verfügen kön- hohen Steuerberechnung. Das ist der Kern der Aus- nen, daß eine einkommensteuerliche Belastung des sage. Darauf fehlt Ihre Antwort. den Kindern zustehenden Bedarfs von vornherein (Zuruf von der SPD: Natürlich ist das Verfas nicht gerechtfertigt ist. Hier sei allein der Abzug von sungskonform!) der Bemessungsgrundlage gleichheitsgerecht. Das, Ich habe eine Bitte. Wir haben in dieser Woche im Frau von Renesse, ist der Kern, der dahintersteckt. Finanzausschuß schon darüber gesprochen. Ich bin Hier muß die Gleichheit erst einmal im horizontalen sehr dafür, daß wir uns auch mit der Grundidee des steuerlichen Vergleich hergestellt werden. Gutachtens der Bareis - Kommission beschäftigen, die Wir kommen zweitens, meine Damen und Herren, vorschlägt, vielleicht sogar eine Option zu machen. zu der Frage des sozialen Transfers. Ich bin mit Ihnen Wir sollten uns nach der Regierungsvorlage, wenn wir der Meinung, daß wir uns nicht nur über diejenigen das Steuergesetz 1996 haben, wirklich sine ira et unterhalten dürfen, die den Steuerfreibetrag ganz studio oder zum wesentlichen Teil nutzen können, sondern daß wir uns auch darüber unterhalten müssen, wie wir (Detlev von Larcher [SPD]: Das können Sie es schaffen, daß in der materiellen Wirkung, in der doch gar nicht!) Wirkung verfügbarer Einkünfte auch die anderen — Sie können es offensichtlich nicht! — und ohne jede Familien — die Eltern, die Alleinerziehenden usw. — ideologische Festlegung über Lösungen unterhalten über den notwendigen Einkommensbetrag verfü- und hoffentlich verständigen, die den Familien in der gen. Sache helfen. 738 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Dr. Karl H. Fell Denn das ist doch wohl klar: Die Familien haben den letzten Drücker vor uns herschieben. — Das ist das nichts davon, wenn wir hier nur Systemstreitereien eine. diskutieren. Das zweite: Es gab in der Vergangenheit genug (Zurufe von der SPD: Sehr wahr!) Beispiele dafür — ich werde Ihnen noch einige nen- Die Familien haben nur dann etwas davon, wenn es nen —, daß Familien verfassungswidrig besteuert eine wirkliche, eine effektive Verbesserung gibt. wurden. (Detlev von Larcher [SPD]: So ist es!) In der Tat, meine Damen und Herren, die Lasten, die (Vorsitz: Vizepräsident H ans Klein) die Familien in diesem Lande zu tragen haben, sind Das war das Angebot der Frau Ministe rin Nolte. Das wirklich erheblich. Durch Einsparungen in den öffent- ist das Angebot, das wir als Koalition Ihnen machen, lichen Haushalten dokumentieren wir immer wieder, mit uns unter Berücksichtigung der Vorgaben des daß es damit noch weitergehen wird. Bundesverfassungsgerichts über solche effektiven Dabei sind Entlastung und Vereinbarkeit von Fami- Lösungen nachzudenken und uns darauf zu verstän- lie und Beruf, Existenzsicherung von Kindern sowie digen. Schutz und Förderung der Familie nicht nur das Gebot (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — unserer Verfassung, sondern auch das Gebot der Zurufe von der SPD: Das hätten wir schon Stunde. längst machen können!) Kinder zu haben ist nach den verschiedenen Armutsberichten der Armutsfaktor Nummer 1. Das Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Christel Hanewinckel, jetzt haben Sie das Wort. wurde hier heute schon von vielen gesagt und ist offenbar auch allen bekannt. Kinder zu haben kostet mehrdimensional, da Familien nicht nur verfassungs- (SPD): Liebe Kolleginnen! Christel Hanewinckel widrig besteuert werden, sondern ihren Lastenaus- Liebe Kollegen! Es ist geradezu abenteuerlich, was ich gleich zum Teil auch noch selbst finanzieren, da sie hier heute erlebe und höre, und zwar abenteuerlich, den Steuertopf, aus dem z. B. das Kindergeld kommt, wenn ich mich an das erinnere, was wir die letzten vier selbst mit füllen. Jahre — so lange gehöre ich diesem Hohen Hause an — hier immer wieder diskutiert haben. Dazu kommen als ganz reale Benachteiligungen: Ich schätze Sie sehr, Herr Fell. Aber ich finde es daß Frauen auf Erwerbseinkünfte und Rentenansprü- trotzdem abenteuerlich, wenn Sie jetzt hier sagen: Wir che verzichten, wenn sie wegen Kinderbetreuung die wollen doch gemeinsam miteinander reden. Und was Erwerbstätigkeit unterbrechen; daß Frauen bei unter- - wird gemacht? Es wird jetzt über unseren Antrag brochener Erwerbstätigkeit nur mit größten Schwie- diskutiert — das ist auch in Ordnung; dazu haben wir rigkeiten wieder in den Beruf kommen; daß Frauen ihn eingebracht —: nur, wo bleibt denn bitte schön die häusliche Pflege bisher fast nur für ein Dankeschön Vorlage der Regierung? Wir werden von Monat zu oder ein Vergelt's Gott geleistet haben; daß Alleiner- Monat, von Debatte zu Debatte vertröstet. Sie haben ziehende schneller arbeitslos werden und fast null immer die Vorlagen von uns, können sich darüber Chancen haben, wieder einen Job zu bekommen; daß alles mögliche ausdenken, schimpfen und Vorlesun- Familien das Renten- und Pflegerisiko der Kinderlo- gen halten. sen absichern; daß Familien auf dem Wohnungsmarkt Unsere Geduld hält vielleicht noch eine Weile an nicht nur nicht gern gesehen sind, sondern bei der — wir werden dafür auch relativ gut bezahlt —, aber Finanzierung auch massiv benachteiligt werden; daß ich denke, die Geduld der Familien, der Kinder und Kinderbetreuungseinrichtungen wie Krippen, Kin- Jugendlichen in diesem Lande ist allmählich am dergärten, Horte, Ganztagsschulen nicht genügend Ende. landesweit zur Verfügung stehen und daß nicht ver- (Beifall bei der SPD) heiratete Eltern bei Leistungen benachteiligt werden, z. B. bei Erziehungsgeld, Sozialhilfe, Arbeitslosen hilfe. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fell? Die Aufzählung läßt sich fortsetzen und macht deutlich, daß auch für dieses Haus noch eine ganze Christel Hanewinckel (SPD): Ja, bitte. Menge Handlungsbedarf besteht. Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Herr Kollege. sehen diesen dringenden Handlungsbedarf in der Familienpolitik, und das schon seit Jahren und nicht (CDU/CSU): Frau Kollegin Hane- Dr. Karl H. Fell erst nach der Aufforderung durch das Bundesverfas- winckel, ist Ihnen bekannt, daß das Bundesverfas- sungsgericht. sungsgericht dem Gesetzgeber auf Grund der Ent- scheidungen, über die wir eben in diesem Zusammen- Ein einheitliches, gerechtes Kindergeld von hang schon diskutiert haben, aufgegeben hat, mit 250 DM pro Kind war nämlich schon 1990 Bestandteil Wirkung zum 1. Januar 1996 eine Neuregelung zu unseres Regierungsprogramms. Die Koalition hat in treffen, und daß wir alle angekündigt haben, diese den letzten zwölf Jahren nicht nur dafür gesorgt, daß Lösung mit dem Steuergesetz 1996 zu präsentieren? es Kindern und Jugendlichen und damit den Familien immer schlechter geht, sie hat sich offenbar in den Christel Hanewinckel (SPD): Das ist mir sehr wohl letzten vier Jahren auch nicht gedrängt gefühlt, den bekannt, Herr Fell. Nur, man muß es nicht so weit Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes nachzu- treiben, daß wir die Gesetzgebungsverfahren bis auf kommen und einen gerechten und verfassungsgemä- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 739

Christel Hanewinckel Ben Familienlastenausgleich in Angriff zu nehmen Kappung, um den ungerechtfertigt hohen Splitting- und auch tatsächlich umzusetzen. vorteil für Höchstverdiener ohne Kinder zu begren- zen. Statt den verteilungspolitisch ungerechten (Dr. Edith Niehuis [SPD]: Das ist leider Steuerfreibetrag beizubehalten — Herr Waigel will, wahr!) wie wir gehört haben, das noch um weitere 1 000 DM

1994 war das Internationale Jahr der Familie — wie ungerechter machen —, gilt es, ihn abzuschaffen und all denen, die hier sitzen, hinlänglich bekannt sein den Gewinn auf Alleinerziehende und diejenigen, die dürfte —, ein Jahr, das die Bundesregierung vorwie- wenig verdienen, umzuverteilen. gend ideologisch genutzt hat. Es gab viele Festveran- Meine Damen und Herren von der Koalition, ich staltungen, Seminare, Empfänge, neue Erkenntnisse, hatte heute hier eigentlich von Ihnen noch etwas mehr Veröffentlichungen, Berichte, viele schöne Worte, erwartet; aber vielleicht werden die beiden Rednerin- gute Bilder. Es gab sogar ein Familienparlament; nen nach mir den Strauß noch etwas bunter machen. wenn ich Sie daran erinnern darf. Nur, real verbessert Nach den Mitteilungen im Ticker und in der Presse hat sich für die Situation der Familien in diesem Lande aus den letzten Wochen gibt es bei Ihnen die unter- nichts. Im Gegenteil, Sie haben den Familien immer schiedlichsten Vorstellungen. Ich bin wahrlich die wieder nur in die Tasche gegriffen. Ich möchte einige letzte, die nicht an vielen Vorschlägen interessiert Beispiele aufzählen. wäre, und ich bin auch gern bereit, das Angebot von Ab 1. Januar 1995 ist von Ihnen, der Koalition, der Herrn Fell sehr intensiv wahrzunehmen und um eine Solidaritätszuschlag wieder eingeführt worden, und wirklich gute und gerechte Lösung miteinander zu er belastet die Bürger mit geringem Einkommen. Frau streiten. Professor Frick, selbst 5 DM sind eine wesentlich stärkere Belastung für diejenigen, die geringe Ein- Insofern würde ich gern etwas mehr an dem Streit in kommen haben, als für diejenigen, die höhere Ein- Ihrer Koalition teilhaben und bin mehr als ungeduldig, kommen haben. Ihren endgültigen Vorschlag zu sehen. Ich möchte Sie nur daran erinnern, daß in den letzten Wochen die (Beifall bei der SPD) unterschiedlichsten Vorschläge aus Ihren Reihen Sie haben es immer noch nicht geschafft, einen gekommen sind: Herr Waigel von der CSU, Frau Nolte akzeptablen, finanzpolitisch tragfähigen Vorschlag von der CDU, Herr Link von der CDU und Herr Thiele für die steuerliche Freistellung des Existenzmini- von der F.D.P. kamen mit Vorschlägen und Modellen, mums vorzulegen. Sie bzw. Herr Waigel wollen den die man sich durchaus anschauen kann. Wir könnten verteilungspolitisch ungerechten Kinderfreibetrag uns ja überall etwas Gutes heraussuchen; dann hätten noch um 1 000 DM erhöhen. Die Differenz zwischen wir unser Modell nämlich auch beieinander. Machen der Entlastung des Spitzenverdieners und der des Sie es also nicht so schwer, arbeiten Sie bei unserem Geringverdieners, die heute schon 116 DM pro Monat Vorschlag mit! beträgt, würde auf monatlich 144 DM anwachsen. Teilweise fand ich es ganz interessant, was da zu Sie haben das Erziehungsgeld für bestimmte Grup- lesen war. Offenbar — das halte ich in der Tat schon pen gekürzt und die Beantragung noch mehr bürokra- für einen Fortschritt — herrscht Einigkeit in dem tisiert. Sie haben den Kindergeldzuschlag den Fami- ersten Punkt, nämlich daß etwas geändert werden lien teilweise vorenthalten, weil die Bundesregierung muß. Einigkeit gibt es bei Ihnen wohl auch in dem es nämlich unterlassen hat, die Rechtsgrundlagen für zweiten Punkt, daß der bisher von Ihnen praktizierte den Kindergeldzuschlag 1993 an die geänderte und bis vor kurzem immer hochgelobte Lastenaus- Besteuerung des Existenzminimums anzupassen. Das gleich wohl doch unzureichend und verfassungswid- scheinen Sie alles schon wieder vergessen zu rig ist. Frau Ministerin Nolte hat das gestern im haben. Ausschuß für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zutreffend so gesehen und auch gesagt. Sie reden von Verschlankung des Staates und von der Vereinfachung des Steuersystems, aber der Wirr- Wenn ich mir Ihre unterschiedlichen Forderungen warr bei den Leistungen für die Familien bleibt, und Modelle ansehe, fällt mir allerdings auf, daß das, ebenso die Doppelarbeit für die Bürgerinnen und was der Finanzminister, der doch eigentlich ein Fach- Bürger und die Verwaltung. Aber Frau Ministerin mann dafür sein müßte, in petto hat, wohl das Unzu- Nolte hat uns ja Hoffnung gemacht, indem sie reichendste ist und bei Realisierung seines Vorschlags erklärte, daß sie bereit sei, dies zu prüfen und dann durch die Erhöhung der Kinderfreibeträge die Unge- auch zu finanzieren. Im voraus vielen Dank! rechtigkeiten noch vergrößert würden. Sie finanzieren durch das Ehegattensplitting wei- (Beifall bei der SPD) terhin den Tatbestand Ehe; der Tatbestand Familie bleibt unberücksichtigt. Da kann ich mich der Meinung meines Kollegen Link sehr gut anschließen, der gesagt haben soll — jetzt Die SPD hat zu all diesen Punkten Vorschläge zitiere ich ihn aus einer Tickermeldung; ich füge das unterbreitet, die gerechter und weniger bürokratisch hinzu —, weil es vielleicht kein richtiges Zitat ist, aber sind. Ich nenne nur einige: Statt des ungerechten ich finde es trotzdem zutreffend —: Die Vorschläge Solidaritätszuschlages, der vor allem geringe und von Herrn Waigel haben mit Familienpolitik nichts zu mittlere Einkommen belastet, gibt es unseren Vor- tun. schlag der Ergänzungsabgabe, die besser und gerech- (Beifall bei der SPD) ter als der Solidaritätszuschlag gewesen wäre. Statt des längst veralteten und inzwischen sehr ungerech- — Das ist wohl wahr, da kann man ihm applaudie- ten Ehegattensplittings gibt es unseren Vorschlag der ren. 740 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Christel Hanewinckel Ich hoffe in der Tat — das ist meine ernste Hoff- Vielen Dank. nung —, daß die Familienpolitikerinnen und Famili- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten enpolitiker in der CDU/CSU und in der F.D.P. bereit der PDS) sind, wirklich für ein familienpolitisch tragfähiges, gutes Modell zu streiten und da auch ihrem Finanz- minister auf die Finger zu klopfen. Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin Maria Eichhorn, Sie haben das Wort. (Detlev von Larcher [SPD]: Das möchte ich mal sehen!) Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine — Wir können ja gespannt zugucken und abwarten, sehr geehrten Damen und Herren! Frau Hanewinckel, wie sich das dort noch weiter entwickelt. alles zu seiner Zeit. Wir werden unser Konzept recht- Liebe Kolleginnen und Kollegen, unser Vorschlag zeitig vorlegen; da können Sie sicher sein. Denn für einen gerechten, verfassungsgemäßen und unbü- Familienpolitik ist eine der wichtigsten Aufgaben der rokratischen Familienleistungsausgleich liegt auf kommenden Jahre; so steht es in unserer Koalitions- dem Tisch. Von Ihrer Seite gibt es dagegen noch vereinbarung für die 13. Legislaturperiode. immer keinen zu beratenden Vorschlag — Sie vertrö- Wir alle sind uns einig — da stimme ich Ihnen zu —, sten uns immer wieder —, obwohl die Regierungspar- daß die finanzielle Situation von Familien und Allein- tei — genau wie die Opposition — die Urteile und auch erziehenden verbessert werden muß. Deshalb werden die Situation der Familien kennt — ich gehe davon wir den Familienlastenausgleich zu einem Familien- aus, daß gerade Sie, Herr Fell, die Situation der leistungsausgleich weiterentwickeln. Wir wollen die Familien sehr gut keimen — und obwohl Sie einen steuerliche Freistellung des Existenzminimums eines entsprechenden Apparat, nämlich gleich zwei Mini- Kindes und als Ausgleich für diejenigen, die von der sterien, zur Verfügung haben, die das Ganze erarbei- steuerlichen Freistellung nicht profitieren, eine ent- ten und auf den Tisch bringen könnten. sprechende Kindergelderhöhung. (Zuruf von der SPD: Traurig!) (Detlev von Larcher [SPD]: Warum erst jetzt?) Unsere Geduld ist hier wirklich am Ende. Mit der Orientierung der Kindergeldhöhe an Einkom- Im Internationalen Jahr der Familie, im Juni 1994, men und Kinderzahl können wir gezielt diejenigen gab es in diesem Hause — vielleicht erinnern sich Familien unterstützen, die unsere Hilfe wirklich benö- einige von Ihnen daran — eine einzige familienpoli- tigen. tische Debatte. Sie konnte damals geführt werden, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) weil zwei Große Anfragen und drei Anträge von der Sie argumentieren, die Kinderfreibeträge seien SPD zu debattieren waren. Ein Antrag kam aus dem ungerecht. Bundesrat. Von seiten der Koalition gab es nichts zu debattieren. Ich denke, es hätte Ihnen gut angestan- (Detlev von Larcher [SPD]: Sind sie auch!) den, im Internationalen Jahr der Familie, das sich Gleichzeitig weisen Sie jedoch bei der Begründung wahrlich nicht nur für Ideologie geeignet hat, einen Ihres Antrags selber darauf hin, daß das Bundesver- entsprechenden Vorschlag vorzulegen. fassungsgericht in seinem Urteil vom 29. Mai 1990 Heute steht wieder ein Antrag der SPD zu einem eindeutig klargestellt hat, daß es dem Gesetzgeber familienpolitisch brennenden Thema, wie alle wissen, freisteht, die „kindesbedingte Minderung der Lei- zur Debatte. Wir sind gespannt, wann wir die nächste stungsfähigkeit" — wie das Urteil es formuliert — im familienpolitische Debatte in diesem Hause haben Steuerrecht zu berücksichtigen. Der Kinderfreibetrag werden, die uns hoffentlich weiterführen wird. bewirkt genau das, was nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erforderlich ist, um Eltern Wenn Sie es ernst meinen mit dem, was im Jahre gegenüber Kinderlosen mit gleich hohem Einkommen 1994 im Lande auf und ab mit den Familien bespro- gerecht zu besteuern. Die finanzielle Belastung von chen und ihnen versprochen wurde, und wenn Sie die Familien darf nicht höher sein als die von gleich viel Instanz des Bundesverfassungsgerichts ernst nehmen verdienenden Kinderlosen. Kinderfreibeträge dienen — als Verfassungsgericht und nicht nur als die am also der Steuergerechtigkeit. Sie sind keine zusätzli- besten arbeitende Außenstelle des Bundesfamilien- che Förderung der Familie. ministeriums —, dann müssen Sie endlich auch unse- Die großen Familienverbände unterstützen das ren Antrag ernst nehmen, ihm zustimmen und mit uns System aus Kinderfreibetrag plus Kindergeld. Sie daran arbeiten, daß er umgesetzt wird und daß die wollen keine Abkehr vom bisherigen zweigliedrigen Forderungen, die wir im Hinblick auf Gerechtigkeit System, sondern wollen das Kindergeld zu einer stellen, in diesem Lande endlich Recht und Gesetz echten familienpolitischen Leistung ausbauen. Das werden. von der SPD vorgeschlagene Einheitskindergeld wird Die Familien in diesem Lande haben es sich nicht von den Fachverbänden abgelehnt. Das Gießkannen- nur verdient — denn sie haben bisher bitter draufbe- prinzip einheitlicher Kindergeldzahlungen ist mit der zahlt —; den Familien steht auch nach dem Grundge- sozialpolitischen Zielsetzung einer gezielten Förde- setz zu, daß ihnen endlich Recht widerfährt. Ich habe rung von Einkommensschwächeren und Kinderrei- die Hoffnung, daß nicht erst noch andere Urteile vom chen nicht vereinbar. Bundesverfassungsgericht gefällt werden müssen, Entsprechend unserer Koalitionsvereinbarung wer- damit es in diesem Hause gemeinsam mit Ihnen den wir den Kindergeldzuschlag in das Kindergeld weitergeht. integrieren. Das bedeutet eine wesentliche Vereinfa- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 741

Maria Eichhorn chung. Im Zusammenhang mit der Reform des Fami- Wir haben 1983 den steuerlichen Kinderfreibetrag lienleistungsausgleichs ist es im Hinblick auf eine mit 432 DM wieder eingeführt und schrittweise auf bessere Durchschaubarkeit wichtig, die verschiede- 4 104 DM erhöht. Wir haben für geringverdienende nen Einkommensbegriffe im Kindergeldrecht und im Familien den Kindergeldzuschlag eingeführt. Steuerrecht zu durchleuchten und möglichst zu ver- (Christel Hanewinckel [SPD]: Das kennen einheitlichen. wir doch alles! Sagen Sie uns doch, was Sie Die Vereinheitlichung und vor allen Dingen eine machen wollen!) Vereinfachung beim Familienleistungsausgleich ist — Frau Hanewinckel, ich weiß, daß Sie das nicht mir ein wichtiges Anliegen. Das System muß für den hören wollen. Aber auch, wenn Sie es nicht hören Bürger durchschaubar sein. wollen, bleibt das, was wir geschaffen haben, die große familienpolitische Leistung. Sie aber reden bloß Bei der von der SPD vorgeschlagenen Finanzamts- immer von familienpolitischen Leistungen. lösung könnte die Auszahlung nur jährlich erfolgen. Das heißt, die Auszahlungsverpflichtung käme dann (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) auf die Unternehmen zu, mit all den Schwierigkeiten, Wir haben das Erziehungsgeld, den Erziehungsur- die damit verbunden sind. Das brächte keine Verein- laub und die Anerkennung von Erziehungszeiten in fachung, sondern würde alles verkomplizieren. der Rentenversicherung eingeführt. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, gestatten Zudem schlägt die SPD vor, daß Bürgern, die keine Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Hanewinckel? oder nur geringe Steuern zahlen, das Kindergeld vom Finanzamt ausgezahlt werden soll. Das heißt, für Maria Eichhorn CDU/CSU): Bitte sehr, Frau Hane- immerhin ein Viertel der Kindergeldbezieher, die winckel. bisher nicht beim Finanzamt geführt werden, müßte eine eigene Kindergeldabteilung eingerichtet wer- Vizepräsident Hans Klein: Bitte, Frau Kollegin. den. Ist das eine Vereinfachung? Mit der Forderung nach Einschränkung des Ehegat- Christel Hanewinckel (SPD): Bleiben Sie tatsächlich tensplittings treffen Sie jene Frauen, die zugunsten weiterhin bei diesen Zahlen? In den verschiedenen ihrer Kinder ganz bewußt auf eine Erwerbstätigkeit Armutsberichten werden Zahlen genannt. Zum Bei- verzichten. Für jene jungen Ehepaare, bei denen spiel haben wir über eine Million Kinder und Jugend- beide Ehepartner berufstätig sind und beide eine gute liche, die von der Sozialhilfe leben müssen. Die Ausbildung haben, ergibt sich sowieso kein Splitting-- kommen ja wohl aus Familien. Alleinerziehende vorteil. Halten Sie es für gerecht, wenn Sie Frauen Frauen in den östlichen Bundesländern sind inzwi- dafür bestrafen, daß sie sich bewußt für die Familie schen zu 44 % von der Sozialhilfe abhängig. Nennen entscheiden? Wir von der CDU/CSU treten bekannt- Sie das familienpolitisch positive Leistungen der lich für die Wahlfreiheit ein. Das heißt auf der einen Koalition? Seite aber nicht, daß wir nur die berufstätige Frau fördern. Das heißt auf der anderen Seite natürlich Maria Eichhorn (CDU/CSU): Frau Hanewinckel, Sie auch, daß wir Familienarbeit anerkennen. wissen genauso gut wie ich, daß die Berechnungen bei der Sozialhilfe sehr unterschiedlich zu betrachten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge sind; denn es sind z. B. in diesen Statistiken Zahlen ordneten der F.D.P.) enthalten, die sich dadurch ergeben, daß bestimmte Familienpolitisch wäre durch die Einschränkung Personen mehrfach in die Rubrik Sozialhilfe geraten des Ehegattensplittings nichts gewonnen, da Mehrbe- sind. Diese Zahlen sind also differenziert zu betrach- lastungen die Familien überwiegend selbst zu tragen ten. hätten, während ledige Steuerpflichtige gar nicht und Aber ich habe ja gesagt: Ich stimme grundsätzlich kinderlose Ehepartner, die beide verdienen, nur in mit Ihnen überein, daß die Situation von Familien geringem Umfang herangezogen würden. verbessert werden muß. Da sind wir uns einig. Wie Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- dies zu geschehen hat, ist eine andere Sache. gerichts ist das Ehegattensplitting eine an dem Ich wehre mich nur dagegen, daß Sie immer so tun, Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz orientierte als sei in den letzten Jahren nichts geschehen. Sie sachgerechte Besteuerung. Wir leugnen zwar nicht, dürfen natürlich auch nicht außer acht lassen, daß wir daß es Probleme gibt. Aber so zu tun, als gäbe es nur seit der Wiedervereinigung eine große Last zu bezah- eine ideale Lösung, ist doch sehr kühn. len haben, daß wir diese zwar gerne tragen, dem aber natürlich auch in den anderen Politikbereichen Rech- Wie sah es denn aus, als Sie noch an der Regierung nung tragen müssen. Aber nichtsdestotrotz haben wir waren, Frau Hanewinckel? Ich gestehe, das ist schon es uns zur Aufgabe gemacht, in dieser Legislatur- sehr lange her. Damals zahlten Sie jahrelang nur periode für die Familien etwas zu tun und den 50 DM Kindergeld, und es gab keinerlei Freibe- Familienlastenausgleich zu einem Familienleistungs- träge. ausgleich weiterzuentwickeln. (Christel Hanewinckel [SPD]: Sagen Sie mal, (Beifall bei der CDU/CSU) was 50 DM damals wert waren im Vergleich Ich fahre fort mit dem, was wir geleistet haben: Wir zu heute!) haben Kinderberücksichtigungszeiten und Pflegebe Damals sahen Sie offensichtlich keinen Handlungsbe- rücksichtigungszeiten eingeführt. Dies kommt ge- darf, Frau Hanewinckel. rade jenen zugute, die Sie gerade angesprochen 742 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Maria Eichhorn haben, Frau Hanewinckel. Wir haben die Bundesstif- turperiode ist jung. Wir haben gerade erst Koalitions- tung Mutter und Kind gegründet. Wir haben die verhandlungen geführt. Dauer für den Bezug des Unterhaltsvorschusses und die steuerlichen Ausbildungsfreibeträge erhöht. (Detlev von Larcher [SPD]: Aber wir haben das schon oft gefordert! Was haben Sie in der Das sind nur die wesentlichsten Punkte. Ich könnte vorigen Wahlperiode gemacht?) noch mehr aufzählen. Wir haben seit 1982 eine konsequente Familienpo- Wir haben mit diesem Partner eine Grundlage litik betrieben. Mit der Weiterentwicklung des Fami- geschaffen. Auf dieser Grundlage werden bereits die lienlastenausgleichs zum Familienleistungsausgleich entsprechenden Gesetze verabschiedet. Hierher in werden wir die Familien weiter stärken und für eine den Bundestag kommt das Gesetz, in dem die ganzen spürbare finanzielle Entlastung von Familien sor- Familienleistungen stehen, wenn es im Kabinett war. gen. Im Kabinett wird es nach unserer bisherigen Berech- nung am 22. März sein. Dann können wir ausführlich Wir sind dabei, ein Konzept zu entwickeln, das darüber diskutieren. Ich wäre vorsichtig, bereits über diesen Ansprüchen gerecht wird. Es ist jetzt unsere ein entsprechendes Konzept bis in die Millimeter Aufgabe, zu diskutieren und zu entscheiden, wie dies hinein zu diskutieren, bevor es mit den Verbänden im einzelnen gestaltet werden muß. Es gibt verschie- und mit den Fachleuten diskutiert wurde. dene Modelle, die in die Diskussion einbezogen und geprüft werden müssen. Dazu sollten wir uns aber Ich will nur sagen, daß wir seriöserweise zunächst genügend Zeit lassen, um schließlich eine Lösung zu einmal eine Größenordnung festlegen sollten. Der finden, die für viele Jahre Bestand hat. Finanzminister hat gesagt, er sei bereit, 6 Milliarden (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) DM zusätzlich zu geben. Ich darf daran erinnern: Wir haben ein Moratorium für alle Ausgaben. Der Finanz- minister hat für den Familienbereich ausdrücklich Vizepräsident Hans Klein: Ich erteile das Wort dem dieses Moratorium aufgehoben und zusätzlich 6 Mil- Parlamentarischen Staatssekretär beim Bundesmini- liarden DM zugesichert. Ich glaube, daß das ange- ster der Finanzen, Professor Dr. Kurt Faltlhauser. sichts der Haushaltsprobleme gerade im Jahr 1996, die Ihre Experten genauso kennen wie wir, eine ungewöhnliche Größe ist. Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister der Finanzen: Herr Präsident! Meine (Joachim Poß [SPD]: Das Verfassungsgericht Damen und Herren! Zunächst möchte ich mich den zwingt ihn doch dazu! Das ist doch kein Glückwünschen zu den ersten Reden an die ersten Gnadenakt!) drei Redner und Rednerinnen, die hier gesprochen haben, anschließen. — Sie dürfen hinterher im Finanzausschuß noch ausreichend mit mir streiten, Herr Kollege Poß. Lassen Zur Rede von Frau Kressl wollte ich hier nur eine Sie mich doch jetzt fortfahren! Anmerkung machen. Frau Kressl, Sie haben gesagt — das habe ich mitgeschrieben —: „Die ökonomi- Nun können wir uns über die Instrumente streiten. schen Signale für die Familie stehen auf Rot." Ich Auch in Ihren eigenen Reihen gibt es ein Ringen glaube, da haben Sie zu sehr in den Farbtopf hinein- darum. Aber ich meine, wir sollten zunächst einmal gelangt und — vielleicht für Sie verständlich — zu sehr von Ihrem Konzept ausgehen, das Sie hier zur Debatte auf den Moment unserer Debatte geschaut und zu gestellt haben: einheitliches Kindergeld in Höhe von wenig zurück auf die Arbeit dieses Hauses in den 250 DM. Dieser Vorschlag ist nach unserer Überzeu- letzten 13 Jahren. In diesen 13 Jahren sind in diesem gung haushaltspolitisch nicht verträglich und konzep- Haus zur Familienpolitik eine Fülle von neuen Maß- tionell verfehlt. nahmen geschehen, die insbesondere Frau Nolte Zur finanziellen Seite: Für die verfassungsrechtlich hervorgehoben hat: im innovativen Bereich neue Dinge und Quantensprünge für die Familie. gebotene Steuerfreistellung des Kinderexistenzmini- mums ist der Umweg über das einheitliche Kinder- (Lachen bei der SPD) geld, wie Sie es wollen, das mit Abstand teuerste Ich will sie nicht wiederholen. Instrument. Ein einheitliches Kindergeld von 250 DM, Die Größenordnungen dieser Maßnahmen, Frau wie Sie es in Punkt 1 Ihres Antrags fordern, würde Kollegin, waren erklecklich. Damals, 1982, haben wir 13 Milliarden DM zusätzliche Haushaltsbelastung mit für die familienpolitischen Maßnahmen noch eine sich bringen. Gleichwohl würde das nur einem Kin- Größenordnung von 27,5 Milliarden DM gehabt. Ende derfreibetrag von etwa 6 000 DM entsprechen und 1994 waren es 59,8 Milliarden DM. Das ist eine deshalb den verfassungsrechtlichen Anforderungen Verdoppelung des Gesamtvolumens. nicht genügen, wie hier richtig schon angemerkt wurde. (Christel Hanewinckel [SPD]: Das müssen Sie ins Verhältnis setzen!) (Detlev von Larcher [SPD]: 600 DM mal 12 Deshalb können Sie nicht so sehr in die Farbkiste sind 7 200 DM!) greifen. Ich glaube, das ist ein sehr respektabler Bei der reinen Kindergeldlösung, meine Herren Sprung nach vorne. vom Finanzausschuß, könnte die Umrechnung auf Jetzt fragen Sie — Frau Hanewinckel, Sie haben einen Kinderfreibetrag nicht mehr auf der Basis einer besonders darauf hingewiesen —: Wann kommt ihr Steuerbelastung von 40 % erfolgen. Man bräuchte denn endlich mal mit euren neuen Vorschlägen, die einen Umrechnungssatz von 50 %, um zu gewährlei- ihr angekündigt habt? Ich sage Ihnen: Diese Legisla- sten, daß das Kinderexistenzminimum bei allen Steu- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 743

Parl. Staatssekretär Dr. Kurt Faltlhauser erpflichtigen in dem verfassungsrechtlich gebotenen Wir sollten uns davor hüten, so etwas zu machen. Maß steuerfrei bleibt. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Wenn man den verfassungsrechtlichen Anforderun- Joachim Poß [SPD]: Unglaublich!) gen mit einem einheitlichen Kindergeld genügen Sie zielen mit Ihren Kappungsvorstellungen beim wollte, müßte man das Kindergeld auf 300 DM erhö- Splitting gewissermaßen auf Ihre Idealvorstellung hen. Das würde 40,7 Milliarden DM kosten. Wenn vom Einkommensmillionär, der ein mittelloses Man- man eine Einsparung durch Wegfall des Kinderfreibe- nequin heiratet, das am Swimmingpool liegt und trages in Höhe von 16,6 Milliarden DM und des Pralinen ißt. Kindergeldzuschlages in Höhe von 1,4 Milliarden DM (Heiterkeit bei der SPD — Joachim Poß gegenrechnet, bleibt ein Negativsaldo von 22,7 Mil- [SPD]: Herr Faltlhauser, das war doch wohl liarden DM. Ich wiederhole also: Das einheitliche nicht Ihr Lebenstraum?) Kindergeld ist das teuerste Instrument. — Das ist doch die schönste Vorstellung. Man kann (Zuruf des Abg. Joachim Poß [SPD]) auch noch mehr als die Pralinen hinzudichten. Herr Kollege Poß, wenn der Millionär nur 10 % der Ein- — Herr Kollege Poß, hören Sie mir ruhig zu, damit wir künfte auf die Schöne überträgt, sinkt der Splitting- die Diskussion im Ausschuß nicht noch einmal müh- effekt dramatisch, wie Sie übrigens in einer sehr sam aufrollen müssen! interessanten Tabelle in der Zeitung „Die Welt" (Detlev von Larcher [SPD]: Sie wollen doch nachlesen konnten. Diese Tabelle weist Ihnen auch da mit uns streiten!) aus, daß die von Ihnen geforderten Splittingein- schränkungen vor allem Familien mit Kindern und Jetzt wollen Sie in Ihrem Antrag die Finanzierung Arbeitnehmerfamilien treffen würden. Das ist die durch eine „maßvolle Begrenzung des Splittingvor- Realität Ihres Vorschlages. teils" sicherstellen. Gegen diese Einschränkung des (Joachim Poß [SPD]: Das ist die Welt der Ehegattensplittings sprechen wiederum konzeptio- CDU/CSU!) nelle und haushaltsmäßige Gründe. Ich will an dieser Stelle noch einmal sagen: Wenn (Lachen der Abg. Christel Hanewinckel Sie hinsichtlich der Zahlen Gegenvorstellungen [SPD]) haben, sollten Sie sich mit uns im Finanzausschuß zusammensetzen. Wir haben die Zahlen vorliegen — Lachen Sie nicht zu früh! Ich rechne Ihnen das jetzt und können sie abklären. Vertrauen Sie zunächst vor. einmal darauf, daß die Zahlen, die ich hier nenne, sehr (Hanna Wolf [SPD]: Das ist ja wunderbar!) seriös und gesichert sind! Wichtig ist mir deshalb noch einmal die Feststel- Zunächst einmal zu den haushaltsmäßigen Grün- lung, daß die üblicherweise genannten Beträge, die den: Sie werden Ihre 12 Milliarden DM durch eine auf der Annahme beruhen, man könne mittels irgend- „maßvolle Begrenzung des Splittingvorteils" nicht welcher familienpolitischer Maßnahmen, mittels Ein- erhalten. kommenskappungen oder sonstigen Manipulationen (Dr. Karl H. Fell [CDU/CSU]: Keine drei das herkömmliche Ehegattensplitting ausgleichen, Milliarden!) weit überhöht sind. Sie sind meist völlig illusionär. Natürlich habe ich auch aus konzeptionellen Grün- Das ist eine Scheinzahl. Die Ausweichreaktionen der den Einwendungen gegen die Manipulation am Ehe- Bürger wären so groß, daß so gut wie kein Geld gattensplitting. Dieser Weg ist nämlich verfassungs- übrigbliebe. Lassen Sie mich das rechnerisch darle- rechtlich sehr gefährlich. Das Ehegattensplitting gen: Das theoretische Volumen des Splittingvorteils wurde eingeführt, beträgt 30 Milliarden DM. Er verringert sich auf knapp (Joachim Poß [SPD]: 1958!) 10 Milliarden DM, wenn man berücksichtigt, daß Ehepaare nicht schlechter als Geschiedene gestellt um eine Erhöhung der Steuerbelastung infolge der werden dürfen, die das Realsplitting anwenden kön- Eheschließung zu vermeiden. nen. Von diesen verbleibenden 10 Milliarden DM Herr Kollege Poß, wir sollten uns in diesem kompli- entfallen auf steuerlich Kinderlose nur 3,3 Milliarden zierten Feld gegenseitig wirklich ein bißchen besser DM. In diesem Betrag sind auch noch Ehepaare zuhören. Sonst kommen wir in der Debatte nämlich enthalten, die Kinder großgezogen haben, bei denen nicht voran. Ich hoffe, daß wir das wenigstens im aber die erwachsenen Kinder nicht mehr auf der Ausschuß besser machen können. Steuerkarte stehen. Ebenfalls noch nicht berücksich- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) tigt sind die zu erwartenden massiven Ausweichreak- tionen. Vizepräsident Hans Klein: Herr Staatssekretär, Deshalb sage ich Ihnen: Von diesem großen Volu- diese Aufforderung hat beim Kollegen Poß ein men in Höhe von zunächst 30 Milliarden DM bleibt am Sprechbedürfnis ausgelöst. Schluß nicht mehr viel zum Gegenfinanzieren übrig. Sie aber schreiben in Ihrem Antrag, man erhalte allein Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- durch diese Maßnahme 12 Milliarden DM. So seriös desminister der Finanzen: Das ist viel besser als sind Ihre Rechnungen! Zwischenrufe. (Detlev von Larcher [SPD]: Ihre Rechnung soeben war getürkt!) Vizepräsident Hans Klein: Bitte sehr. 744 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Joachim Poß (SPD): Herr Staatssekretär, zunächst stärker verfestigende Rechtsprechung des Bundes- werden wir die Zahlen von Ihnen bekommen. Das verfassungsgerichts gerade zu diesem Punkt verbietet haben Sie schon im Ausschuß angekündigt. nach meiner Auffassung jede Manipulation an diesem (Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär familienpolitischen Instrument. Wir können uns über beim Bundesminister der Finanzen: Das verschiedene Ins trumente raufen und streiten. Aber habe ich zugesagt!) wir sollten gemeinsam aufpassen, daß wir nichts fabrizieren, was dann wieder mit Sicherheit verfas- Das ist wichtig, weil mir Ihre Rechnung doch etwas aus sungswidrig ist. dem Handgelenk zu sein schien. Ich verbinde das mit der Frage: Wenn Sie den Zeitpunkt der Einführung Im übrigen fordern Sie doch ständig die Vereinfa- des Splittings mit heute vergleichen, können Sie dann chung im Steuerrecht. Ich kann Ihnen sagen: Dieses ignorieren, daß 1958 der sogenannte Splittingvorteil Splitting ist geradezu ein Programm für eine einfa- kaum eine Bedeutung hatte und heute nach dem chere Besteuerung. Das ist die einfachste und am vorgelegten Waigel-Tarif der Splittingvorteil bei leichtesten handhabbare Besteuerung für Familie und 23 610 DM liegt? Meinen Sie, das ist ein Tatbestand, Ehe. Daß das einheitliche Kindergeld, so wie es von über den man aus steuerpolitischen, haushaltspoliti- der SPD vorgeschlagen wird, auch aus verwaltungs- schen und auch sozialpolitischen Gründen einfach technischen Gründen kaum praktikabel ist, hat Frau hinweggehen kann? Nolte schon dargelegt. Ich frage noch einmal: Wie oft sollen wir denn noch Untersuchungen zu dem sogenannten Finanzamts- Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- modell — das sage ich auch in Richtung F.D.P. — desminister der Finanzen: Zunächst, Herr Kollege machen? Die Untersuchungen, die vorliegen, Herr Poß, weiß ich nicht, ob meine Rechnungen falsch sein Kollege Poß, passen genauso auf Ihre Vorstellungen müssen, wenn ich sie aus dem Ärmel schüttele. Aber wie auf die vergangenen. Da liegt das Problem der ich bestätige Ihnen, daß der Splittingvorteil nach Zusammenlegung beim Finanzamt. unseren Tabellen beim höchsten Steuersatz bei fast Ich will zu den hier bereits genannten Einwänden 23 000 DM liegt. Es ist auch richtig, daß die entspre- nur noch einen hinzufügen. Glauben Sie denn tat- chende absolute Zahl beim Splittingvorteil natürlich sächlich, daß Ihre Landesfinanzminister bereit sind, gewachsen ist. Nur, das ist die Systematik der progres- diese zusätzlichen Verwaltungsaufgaben zu überneh- siven Besteuerung, wie sie freundlicherweise darge- men, wenn sie nicht einmal bereit waren, die Verwal- legt wurde. Man hat auch entsprechend höhere Ein- tungsaufgaben zur Bewältigung der Arbeitnehmer- kommen und zahlt in absoluten Zahlen dramatisch sparzulage — „Peanuts" würden andere sagen — höhere Einkommensteuer. Das ist doch das Faktum. administrativ zu bewältigen? Das machen wir jetzt in Also ist es im Grunde genommen nur eine systemati- Berlin in einer eigenen Stelle, weil die Länder nicht sche Folge der entsprechend gestiegenen Einkom- bereit waren, diese adminis trative Aufgabe zu über- men mit den entsprechend gestiegenen Steuern. nehmen. (Christel Hanewinckel [SPD]: Was hat das (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) mit der Gerechtigkeit Kindern gegenüber zu Wenn das nicht geschieht, passiert es mit Sicherheit tun?) auch nicht in der sogenannten Finanzamtslösung. Das — Jetzt müßte ich eigentlich die Darlegung der Frau ist eine rein pragmatische Frage an die Länder. Die Kollegin von der F.D.P. wiederholen, aber ich glaube, Länder werden diese Fragen eindeutig beantworten. wir sollten sie Ihnen zu lesen geben, dann braucht Darauf können Sie sich verlassen. man das nicht ständig zu wiederholen. (Detlev von Larcher [SPD]: Dadurch wird es Vizepräsident Hans Klein: Herr Staatssekretär, der nicht besser!) Kollege Poß würde gern eine weitere Zwischenfrage Es heißt in der Praxis — ich darf wieder aufneh- stellen. men —: Vor allem dort, wo ein Ehegatte zur Erziehung der Kinder oder zur Betreuung von Enkelkindern oder Dr. Kurt Faltlhauser, Parl. Staatssekretär beim Bun- zur Pflege von Angehörigen zu Hause bleibt, erzielt er desminister der Finanzen: Aber natürlich. kein Einkommen. Den würden wir durch eine Mani- pulation des Ehegattensplittings in besonderer Weise Vizepräsident Hans Klein: Bitte sehr. treffen. Wir wollen ihn — das sage ich in aller Deutlichkeit — ausdrücklich nicht treffen. Mit „Wir" Joachim Poß (SPD): Herr Kollege Faltlhauser, kön- meine ich diese Koalition. Mit Sicherheit wird hier nen auch Sie mir bestätigen, daß es bisher keine nichts gemacht werden. Untersuchung auf der Grundlage des SPD-Modells Das Selbstbestimmungsrecht der Ehegatten in ihren gibt und daß daher Ihre Behauptung, die Probleme, finanziellen Beziehungen untereinander wird durch die bei den damaligen Untersuchungen eine Rolle das Ehegattensplitting geschützt. Dementsprechend gespielt hätten, würden bei dem einheitlichen Kinder- ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungs- geld genauso gelten, gegenstandslos ist? gerichts dieses Splitting keine beliebig veränderbare Lassen wir einmal Ihre sonstigen Bedenken in Steuervergünstigung, sondern eine sachgerechte Be- horizontaler und verfassungsmäßiger Hinsicht weg! steuerung der Ehepaare entsprechend ihrer wirt- Konzentrieren wir uns auf das Organisatorische! Es schaftlichen Leistungsfähigkeit. gibt keine Untersuchung auf der Grundlage unseres Ich kann nur warnen, Herr Kollege Poß, an dieses Modells, wobei ich bestätige, daß die Länder bezüg- Ehegattensplitting heranzugehen. Die sich immer lich der Kosten Befürchtungen haben. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 745

Vizepräsident Hans Klein: Herr Kollege Poß, Sie immer als Gewicht entgegengestellt wurde und sich sollen fragen, nicht reden. dies auch im Bundesrat durchgesetzt hat. Es wäre schön — wenn ich das in meine Beantwor- Joachim Poß (SPD): Herr Präsident, ich habe diese tung einbeziehen darf, wobei ich mich ein bißchen an Fragejetzt etwas umständlich gestellt. Können Sie mir die SPD wende —, wenn wir z. B. die komplexen bestätigen, Herr Faltlhauser, daß es eine derartige Fragen zum Steueränderungsgesetz 1996 gemeinsam Untersuchung nicht gibt? mit den familienpolitischen Themen in etwas längerer Frist gemeinsam mit den Kollegen der SPD vorberei- Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Obwohl Sie nicht ten könnten, damit man kurz vor bzw. während der gefragt haben, habe ich Sie verstanden. Sitzung des Vermittlungsausschusses bei diesen kom- Zunächst bestätige ich, daß die Untersuchungen plexen Dingen nicht unter unerträglichem Zeitdruck nicht auf der Basis des SPD-Antrages durchgeführt steht; dies ist wohl wahr. Ich habe aber den Eindruck, wurden. Das konnten sie auch gar nicht, weil der daß Sie immer mit unterschiedlicher Stimme spre- SPD-Antrag, wenn ich das richtig im Kopf habe, aus chen. Beim Ehegattensplitting z. B. sagen mir die dem Jahre 1994 stammt und die Untersuchungen Finanzminister der SPD-Länder etwas ganz anderes früher angestellt wurden. als Sie hier. Das heißt, noch nicht einmal die Grund- Das Problem, das Sie mit einem einheitlichen Kin- lagen stimmen. dergeld aufwerfen, ist aber mit dem identisch, das wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge schon bei früheren Untersuchungen hatten. Es geht ordneten der F.D.P.) um die administrative Zusammenführung in einem Haus. Lassen Sie mich noch eine Anmerkung zum vielge- (Joachim Poß [SPD]: Ja!) nannten Familiensplitting machen. Die Einführung — Insofern ist es das gleiche. eines Familiensplittings wäre nach meiner Überzeu- gung ebenfalls verfehlt, da dies lediglich auf eine (Joachim Poß [SPD]: Aber nicht mit gestaffel Erhöhung der Entlastung der Familien in den oberen tem Kindergeld und mit Freibetrag!) Einkommensschichten hinausliefe.

Vizepräsident Hans Klein: Bitte keinen Dialog. Sie (Joachim Poß [SPD]: Sehr wahr!) haben eine Frage gestellt und die Antwort bekom- Selbst bei einem Splittingfaktor für Kinder von nur men. 0,5 stiegen die Entlastungswirkungen in den höheren Herr Kollege Thiele möchte ebenfalls eine Frage Einkommensschichten auf 975 DM im Monat, wäh- stellen. Bitte. - rend Familien in den unteren Einkommensschichten leer ausgingen. Dies steht, wie ich meine, im Wider- Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Herr Parlamentarischer spruch zum eigentlichen Ziel des Familienlastenaus- Staatssekretär Dr. Faltlhauser, noch ist der Bundesrat gleichs, selbst wenn das Kindergeld für die Bezieher mehrheitlich SPD-geführt; wir werden in diesem Jahr höherer Einkommen abgeschafft würde. Wer also dazu beitragen, das zu ändern. davon spricht — ich verstehe ja, daß man vom Fami- (Lachen bei der SPD) liensplitting fasziniert ist —, wird, wenn er es sich genauer ansieht, zu dem Ergebnis kommen: Man Können Sie sich nicht vorstellen — es fällt manch- verkennt die extrem unterschiedlichen Entlastungsef- mal schwer; da stimme ich Ihnen zu —, daß die SPD in fekte. dieser Frage möglicherweise doch mit einer einzigen Stimme für Bund und Länder redet? Es geht um die Wir werden auf dieser Basis rechtzeitig und im Frage, wie sehr eine Partei in sich geschlossen ist. Sie richtigen Verfahren ein Konzept vorlegen, das auf sagen, der Bund und die SPD — die Partei — plädier- zwei gesunden Beinen steht. ten für die Finanzamtslösung, während die SPD- Das eine Bein ist das unveränderte Ehegatten Länder das nicht mitmachten. Können Sie sich nicht Splitting mit dem Divisor 2. Das zweite Bein: Auf der vorstellen, daß irgendwann, sei es auch unter dem Basis des sogenannten dualen Systems wollen wir den derzeitigen Parteivorsitzenden Scharping, eine ein- Kinderfreibetrag und das Kindergeld gleichzeitig und heitliche Linie in der SPD erkennbar sein wird? sachgerecht ausbauen. Unser Ideal ist dabei — das ist (Detlev von Larcher [SPD]: Eine dumme systematisch mit Sicherheit richtig —, das verfas- Frage!) sungsrechtliche Gebot der Freistellung des Existenz- minimums des Kindes durch das systemgerechte Dr. Kurt Faltlhauser (CDU/CSU): Insbesondere die Instrument des Freibetrags idealerweise alleine zu letzte Anmerkung würde bedeuten: Prinzip Hoffnung, sichern. Vor diesem Hintergrund kann dann das daß die SPD nicht nur in der Familienpolitik, sondern Kindergeld als sozialpolitische Maßnahme zielge- endlich auch einmal in anderen Fragen eine einheit- recht und sozial richtig ausgestaltet werden. Dabei liche Meinung vertritt. Das wird wohl sehr lange werden wir versuchen, zugegebenermaßen beste- dauern. Ich glaube, daß das auch in diesem Punkt nur hende Komplizierungen abzubauen, die insbeson- sehr schwer herzustellen ist. dere durch den Kindergeldzuschlag entstanden (Hanna Wolf [SPD]: Wir diskutieren halt!) sind. Das ist mit Sicherheit ein Problem für die Länderad- Wir müssen mit Recht Streit — ich hoffe, daß er ministration. Ich habe bisher die Erfahrung gemacht, gemäßigt bleibt — über die Größenordnung und über daß der Pragmatismus der Ministerpräsidenten den das Konzept führen. Aber ich hoffe, daß dieser Streit dogmatischen Vorstellungen aus dem Bundestag auch konstruktiv geführt wird, damit wir möglichst 746 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Dr. Kurt Faltlhauser frühzeitig ein vernünftiges familienpolitisches Kon- seiner Frage dagegen von rund 60 000. Im Gegensatz zept gemeinsam zustande bringen, denn wir müssen dazu halten sich nach Auffassung vieler Experten es gemeinsam machen, nicht nur in diesem Haus, insgesamt nicht mehr als 40 000 vietnamesische sondern auch im Bundesrat. Dazu brauchen wir weni- Staatsbürger im Bundesgebiet auf. Der Eindruck, daß ger Konzentration auf polemische Zuspitzungen, son- jeder von Abschiebung bedroht sein könnte, drängt dern gemeinsame konstruktive Arbeit für ein sehr sich angesichts dieser Verwirrung für viele Betroffene lohnendes Ziel, nämlich der Familie und den Kindern also förmlich auf. zu helfen. Ich glaube, die Kinder und die Familien Tatsache ist: Die meisten Vietnamesinnen und Viet- werden uns eine sachgerechte und gemeinsame Arbeit danken. namesen im Lande leben hier, wenn auch in einem ungesicherten Aufenthaltsstatus, völlig legal. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Detlev von Larcher [SPD]: Das hätte schon Der öffentliche Eindruck, der durch die Erklärung längst geschehen können!) von bundesdeutschen und vietnamesischen Regie- rungsvertretern entstanden ist, war allerdings ein Vizepräsident Hans Klein: Ich schließe die Ausspra- anderer. Wenn Vietnamesinnen und Vietnamesen, che. wie mir mehrfach berichtet wurde, in diesen Tagen vermehrt angepöbelt und gefragt werden, was sie hier Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf überhaupt noch zu suchen hätten, dann spricht dies Drucksache 13/16 an die in der Tagesordnung aufge- zumindest nicht für die Informationspolitik dieser führten Ausschüsse vorgeschlagen. Besteht damit Regierung. Einverständnis? — Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Cornelia Schmalz-Jacobsen [F.D.P.]: Oder der Zeitungen!) Ich rufe Zusatztagesordnungspunkt 7 auf: — Oder beider. Beratung des Antrags der Abgeordneten Cem Özdemir, Kerstin Müller (Köln), Christa Nik- Es ist unbestritten, daß die Situation der vietname- kels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion sischen Staatsangehörigen in Deutschland sehr diffe- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN renziert betrachtet werden muß. Der Antrag meiner Fraktion bezieht sich auf diejenigen unter ihnen, die Bleiberecht für vietnamesische Vertragsar- als Vertragsarbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer in beitnehmerinnen und Vertragsarbeitnehmer die DDR gekommen waren und dort ein Dasein als der ehemaligen DDR in Deutschland Lohnsklaven fristen mußten, um in erster Linie die — Drucksache 13/231 — Schulden der Volksrepublik Vietnam beim Bruder- Überweisungsvorschlag: staat DDR abzustottern. Diese gegenwärtig noch etwa Innenausschuß 15 000 Menschen, die seit vielen Jahren ohne eine Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für sichere Lebensperspektive auskommen müssen, ha- die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei ben einen Anspruch darauf, endlich den gesicherten die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN fünf Minu- Aufenthaltsstatus zu erhalten, der ihnen — bisher ten erhalten soll. — Dagegen erhebt sich kein Wider- leider folgenlos — im Rahmen des Asylkompromisses spruch. Dann ist das so beschlossen. versprochen worden ist. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kolle- Die meisten dieser Menschen haben mittlerweile gen Cem Özdemir das Wort. ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland gefunden; sie leben seit vielen Jahren hier. Ein Teil von ihnen hat Cem Özdemir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr nach der deutschen Vereinigung aus Angst vor Präsident! Meine Damen und Herren! Die gemein- Abschiebung oder deswegen, weil sie kurzfristig same Erklärung der Staatsminister Hoyer und ihren Arbeitsplatz verloren hatten, einen Asylantrag Schmidbauer mit Vertretern der Volksrepublik Viet- gestellt. Dieser Umstand sollte ihnen nicht zum Nach- nam hat bei den in Deutschland lebenden Vietname- teil gereichen. Die Angst vor Repressionen in Vietnam sinnen und Vietnamesen für große Unruhe und wegen sogenannter Westkontakte oder vor Umerzie- Bestürzung gesorgt. Diese Unruhe liegt zum Teil in hungslagern entbehrte bekanntermaßen nicht jeder Mißverständnissen begründet, die in der gestrigen Grundlage. Fragestunde durch die anwesenden Staatsminister ausgeräumt werden konnten. Unruhe hat aber auch Einige von denen, die sich in die Illegalität abge- die Vollmundigkeit erzeugt, mit der diese Erklärung drängt fühlten, haben leider auch kleinkriminelle der Öffentlichkeit quasi als Patentlösung präsentiert Geschäfte, hauptsächlich Zigarettenschmuggel, ge- worden ist. trieben. Wir sollten aber nicht übersehen, daß dort, wo diesen Menschen die Erlangung eines legalen Auf- Die Zahl von 40 000 Menschen, die in den nächsten enthaltsstatus leichter gemacht wurde, diese fünf Jahren abgeschoben werden — eine Zahl, die Klein- kriminalität auch gestern wieder genannt wurde —, erscheint nach auf nahezu Null zurückgegangen ist. Ich möchte als Beispiel die Stadt Rostock nennen, die Auskunft von Fachleuten gewaltig überzogen. Hinzu damit für meine Begriffe eine durchaus erfreuliche kommt, daß über die Gesamtzahl der vietnamesischen Konsequenz aus den schlimmen Ausschreitungen in Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Deutschland Lichtenhagen gezogen hat. größte Verwirrung herrscht, Verwirrung, die auch gestern wieder genährt wurde. Herr Staatsminister Es steht uns gut an, meine verehrten Damen und Schmidbauer sprach von 97 000 Vietnamesinnen und Herren, wenn wir in der Frage der ehemaligen Ver- Vietnamesen in Deutschland, der Kollege Schanz in tragsarbeitnehmerinnen und Vertragsarbeitnehmer Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 747

Cem Özdemir keine ideologischen Fronten aufbauen und diese Ansprüche darauf hätten, hierbleiben zu können, und Menschen, die oft ein besonders hartes Schicksal wenn unsere Regierung immer wieder mit Ländern erlitten haben, mit denjenigen Nichtdeutschen zur Erreichung dieser Rückführung finanzielle Ver- gleichstellen, die wie meine Eltern vor Jahren in die träge abschließen und Leistungen erbringen müßte. Bundesrepublik Deutschland gekommen sind. Ich möchte zur Frage der Vertragsarbeitnehmer (Vorsitz: Vizepräsident Dr. Burkhard sagen: Diese haben uns im Innenausschuß seit vielen Hirsch) Jahren beschäftigt. Es gab im Jahre 1990 eine Verein- So begrüßenswert es ist, wenn Rückkehrwilligen barung der damaligen Bundesregierung, daß der Existenzgründungshilfen gewährt werden, so unver- Aufenthalt der Vertragsarbeitnehmer maximal bis hältnismäßig wäre es, Menschen gegen ihren Willen zum Ende ihrer vorgesehenen Arbeitszeit in der in ein Land abzuschieben, zu dem sie heute keinerlei ehemaligen DDR verlängert werden sollte. Dies ist lebensweltlichen Bezug mehr haben. dann auch geschehen. Es gab zusätzlich im Jahr 1992 Eine Verknüpfung von Entwicklungshilfeleistun- eine humanitäre Lösung im Zusammenhang mit dem gen und der Lösung vermeintlicher Zuwanderungs- Asylkompromiß, womit man erneut versucht hat, probleme ist unzulässig. Wir hätten erwartet, daß der Einzelfälle humanitär zu lösen. Allerdings — das füge Bundesentwicklungshilfeminister diesem Mißbrauch ich hinzu — war die Voraussetzung für die humanitäre entschlossen entgegentritt. Lösung damals, daß der hierbleibende Vertragsar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beitnehmer seinen Lebensunterhalt selber legal sowie bei Abgeordneten der SPD und der bestreiten konnte. PDS) Um diese Fälle geht es aber hier nicht, sondern es Ich möchte Sie auch aus diesem Grund bitten, an geht entweder um die Vertragsarbeitnehmer, die dieser Stelle ein wichtiges Zeichen für Humanität und illegal hier sind und nach Abschluß eines Verfahrens den Rechtsfrieden in diesem Land zu setzen. zurückgeführt werden könnten, oder um solche, die (Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die Voraussetzungen der damaligen humanitären der SPD und der PDS) Lösung nicht erfüllen, z. B. straffällig geworden sind oder ihren Lebensunterhalt in diesem Land nicht Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile das bestreiten können. Ich halte es für richtig, daß dieser Wort dem Kollegen Wolfgang Zeitlmann. Staat auf das Recht, solche Menschen zurückzufüh- ren, wenn sie straffällig geworden sind und wenn sie Wolfgang Zeitlmann (CDU/CSU): Herr Präsident! dem Steuerzahler auf dem Geldbeutel liegen, nicht Meine sehr geehrten Damen und Herren!- Um was verzichtet und nicht quasi denjenigen, der nie zurück- handelt es sich bei dem Antrag von BÜNDNIS 90/DIE geht, aber abschiebungsreif ist, noch dadurch belohnt, GRÜNEN, ein Bleiberecht für vietnamesische Ver- daß er dann, wenn er hierbleibt und auf Aufforderun- tragsarbeitnehmer aus der ehemaligen DDR zu gen, das Land zu verlassen, nicht reagiert, in den begründen? Genuß der Unterlassung einer Rückführung ins Hei- matland kommt. Die Bundesregierung hat eine Erklärung über ein beabsichtigtes Abkommen mit der Volksrepublik Meine Damen und Herren, ich meine auch, daß der Vietnam abgegeben, das zum Ziel hat, die Rückfüh- Antrag völlig fehlgehen kann, daß ein Land nur dann rung von Bürgern dieses Landes zu ermöglichen — ein zurückschicken darf, wenn diese Menschen freiwillig Sachverhalt, über den man einmal ganz kühl nach- ausreisen wollen. Das kann es ja wohl nicht sein. Denn denken muß. Ich will das Abkommen nicht kritisieren. wo kämen wir dann mit unserem Ausländerrecht hin Es muß aber doch erlaubt sein, zu kritisieren, daß sich — ich habe gerade den Fall des straffällig Geworde- ein Land wie Vietnam über viele Jahre hin geweigert nen genannt —, wenn man generell auf die Freiwil- hat, seine eigenen Bürger zurückzunehmen, und dies ligkeit abstellen würde? offensichtlich erst dann macht und dem zustimmt, daß die eigenen Bürger zurückkehren, wenn es Entwick- Auf eines möchte ich noch hinweisen. Es gab ja lungshilfe gibt. Das muß man auch einmal deutlich nicht unerhebliche Probleme mit straffällig geworde- sagen. Das wird in der deutschen Öffentlichkeit nicht nen Vietnamesen gerade im städtischen Bereich, im ganz frei von Kritik bleiben. Berliner Umfeld. Deshalb kann ich diesem Antrag auf Ich meine, es kann auf Dauer in unserem Land nicht gar keinen Fall zustimmen. Schule machen, daß Bürgerkriegsflüchtlinge, andere Flüchtlinge oder auch Vertragsarbeitnehmer, die zu Herr Özdemir, ich muß der Äußerung von Ihnen uns kommen, nicht mehr zurückgeführt werden kön- widersprechen, daß auf Grund einer klaren vertragli- nen, weil das Heimatland sich weigert, sie zurückzu- chen Regelung — die wir nicht zu bewerten haben — nehmen. zwischen der DDR und Vietnam irgendein menschli- (Dr. Winfried Wolf [PDS]: Die wollen nicht cher oder sonstiger Anspruch bestünde, hierbleiben zurück!) zu können. Die Aufenthaltsdauer dieser Menschen hat man wiederholt verlängert; man hat auch huma- Das kann nicht in unserem Interesse liegen — auch nitäre Lösungen gefunden. das wird eine Rolle zu spielen haben —; denn dieses Land muß für neue Flüchtlinge aus anderen Konflikt- (Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ regionen offen bleiben. NEN]: Auch das gehört zu den Folgen der Wir verlören die Akzeptanz in unserer Bevölkerung, deutschen Einheit! — Günter Rixe [SPD]: Der wenn alle, die bei uns Zuflucht gefunden haben, begreift es nie!) 748 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Wolfgang Zeitlmann Aber nun kann es nicht darum gehen, jedem, der hier liches Rückführungsabkommen. Ich habe das Wort ist, generell ein Bleiberecht auf Dauer zu gewäh- „angeblich" bewußt gewählt; denn das, was vor einer ren. Woche ziemlich großspurig als „Abkommen" zwi- (Günter Rixe [SPD]: Das ist ja nicht zu ertra schen Bonn und Hanoi und als „ausgehandelte Ver- gen!) einbarung" durch die Medien geisterte, verdient diese Bezeichnung nicht! Es handelt sich — Sie haben Meine Damen und Herren, denken Sie daran, wenn es zugegeben — bisher nur um eine so genannte Sie jetzt an Jugoslawien und den dortigen Konflikt „gemeinsame Erklärung über Ausbau und Vertiefung denken: Solche Regelungen, wie Sie sie hier vorschla- der deutsch-vietnamesischen Beziehungen", gen, können auf Dauer nur fehlende Akzeptanz in unserem Volk zur Folge haben. (Staatsminister Dr. Werner Hoyer: Mehr hat Herzlichen D ank. auch keiner gesagt!) (Beifall bei der CDU/CSU — Günter Rixe die die Staatsminister Schmidbauer und Hoyer in den [SPD]: Kaum zu ertragen, was Sie gesagt ersten Januartagen in Vietnam abgefaßt haben. Nicht haben!) mehr und nicht weniger ist das. Vietnam erklärt sich bereit, von seiner bisherigen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort Weigerung abzurücken und jährlich zwischen 2 500 bekommt nun Frau Dr. Sonntag-Wolgast. und 6 000 Vietnamesen aufzunehmen, die vor der Abschiebung stehen. Aber reguläre Verhandlungen Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (SPD): Herr Präsi- hat es noch nicht gegeben, geschweige denn ein dent! Meine Damen und Herren! Unter den Minder- Abkommen. Das ist auch gestern bei der Befragung heiten, die in unserem Land ohnehin mit Anfeindun- der Regierung noch einmal deutlich eingeräumt wor- gen und Verachtung rechnen müssen, rangieren den. Nur leider hat es die Bundesregierung zugelas- sicherlich die Vertragsarbeitnehmer auf der obersten sen, daß zumindest der Eindruck erweckt wurde, es Sprosse der Leiter. Sie gehören auch zu den Verlierern existiere ein fertiges Abkommen und rund 40 000 der Einheit. Menschen müßten in einer Art Stufenprogramm in (Zuruf von der CDU/CSU: Wer sind denn die den folgenden Jahren gehen. anderen?) Entsprechend groß war die Verwirrung, entspre- Sie sind ja schon zu Zeiten des alten Regimes isoliert chend rasch meldeten sich — völlig zu Recht — die und diskriminiert gewesen, ghettoartig untergebracht Ausländerbeauftragten aus den neuen Bundeslän- und als Arbeitskräfte vielfach ausgenutzt. Sie werden dern zu Wort und zweifelten die angegebenen Zahlen das nicht bestreiten können. Nach der deutschen- an. So hörten wir, z. B. vom Rostocker Ausländerbe- Vereinigung gerieten sie in eine völlig ungesicherte auftragten, daß längst nicht alle der erwähnten 40 000 Lebenssituation. Es gab dann die ansteigende illegal in der Bundesrepublik seien, daß vielmehr Arbeitslosigkeit. So wurden diese einstmals Angewor- etwa die Hälfte von ihnen eine Duldung habe oder im benen zu lästigen Kostgängern. Hinzu kam, daß sich Besitz eines anderen Aufenthaltstitels sei. die Volksrepublik Vietnam weigerte, ihre Staatsange- hörigen wieder aufzunehmen. Um Aufenthaltsstatus Lassen Sie mich auf das Verhältnis zwischen der und Möglichkeiten des Hierbleibens gab es ein lang- Bundesrepublik und Vietnam eingehen. Es liegt in wieriges Gerangel. unserem Interesse, dieses Land ökonomisch und öko- logisch zu stabilisieren und darauf einzuwirken, daß Wir, die SPD, aber auch die Ausländerbeauftragten die Menschenrechte dort geachtet werden. von Bund und Ländern und andere gesellschaftliche Gruppierungen bemühten sich um ein dauerhaftes (Beifall bei der SPD) Bleiberecht. Erst der Asylkompromiß vom 6. Dezem- Übrigens, um auch das einmal klar zu sagen: Es war in ber 1992 brachte Fortschritte. Schließlich einigten sich der Vergangenheit das Parlament, das dafür sorgte die Innenminister im Mai 1993 auf eine Bleiberechts- und darauf drängte, daß sich in den Beziehungen regelung für diejenigen, die vor dem 13. Juni 1990 etwas tat, zu einem Zeitpunkt, als die Bundesregie- eingereist waren — soweit es die familiäre Lage rung noch eher aufs Bremspedal drückte. Daß jetzt erforderte und die Betroffenen Arbeit oder Ausbil- von beiden Seiten die Kontakte intensiver werden und dung nachweisen konnten. Vereinbarungen ins Auge gefaßt werden, ist im Prin- Es gibt aber natürlich auch andere, die später zip zu begrüßen. Aber, liebe Kolleginnen und Kolle- gekommen, die illegal eingereist sind oder Asyl bean- gen, das angepeilte Rückführungsprogramm hat doch tragt haben. Viele Vietnamesen verdienen sich durch einen sehr fatalen Beigeschmack: Da wird ein Gebot den Handel mit unverzollten Zigaretten Geld. Die des Völkerrechts, nämlich die Pflicht, ehemalige Bür- Berichte und Bilder sind uns vertraut, ebenso Begeg- gerinnen und Bürger eines Landes wieder aufzuneh- nungen mit diesen Menschen, die oft in zugigen men, mit Finanzspritzen für die Wirtschaft erkauft. Fußgängertunneln unter ziemlich kläglichen Bedin- Das kann eigentlich nicht ein wirklich gutes Konzept gungen ihre Ware anbieten. Ebensowenig sollten wir sein. allerdings auf der anderen Seite verschweigen, daß es auch Kriminalität in diesem Bereich gibt. (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS) Ich finde es gut, daß der Bundestag heute abend Gelegenheit hat, dieses oft verdrängte Thema wieder Ich will nicht mißverstanden werden: Verträge, die einmal zu debattieren. Den Anlaß liefert der vorlie- die Rückkehr von Flüchtlingen oder Gastarbeitern zu gende Antrag, liefern natürlich auch die Äußerungen sozial und menschlich annehmbaren Bedingungen von Vertretern der Bundesregierung über ein angeb- fördern und begleiten, sind grundsätzlich nichts Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 749

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast Schlechtes. So etwas gab es auch in einem Abkommen Während der letzten Monate und Jahre haben uns von 1993, bezogen etwa auf die Boat people. Da waren die Greueltaten in Bosnien, Ruanda, Somalia, im Irak Eingliederungshilfen und andere Angebote zur Re- und an zahlreichen anderen Stellen der Welt in Atem integration enthalten. Jedoch erwähnt die gemein- gehalten. Außenpolitik scheint nur noch ein Hin- und same Erklärung, um die es jetzt geht, für die Abzu- Hereilen zwischen Krisenfällen, bilateralen und mul- schiebenden keine solchen wirtschaftlichen Hilfen zur tilateralen Feuerwehrübungen und der Verhinderung Existenzgründung oder zur Wiedereingliederung. Da größerer Flächenbrände zu sein. muß ich sagen: Als seinerzeit beim Asylkompromiß Meine Damen und Herren, es gibt auch gute Nach- auf eine Lösung dieses Problems gedrungen wurde, richten. Es gibt Länder, die Krieg und Bürgerkrieg hatten wohl diejenigen, die das wollten — dazu hinter sich gelassen haben. Sie sind den schweren gehörte die SPD —, humane und entwicklungspoliti- Weg des Wiederaufbaus, gelegentlich mit einer pro- sche Ziele vor Augen, aber keinen bloßen Deal nach blematischen Ideologie als Grundlage, gegangen; dem Motto: Nehmt uns eine unbequeme Gruppe von dennoch haben sie in stetiger politischer Entwicklung Menschen ab, und wir sorgen dafür, daß es mit den ein kleines Wunder vollbracht. Geschäften aufwärtsgeht. Ich meine, daß die Bundes- regierung die heutige Debatte als Appell nutzen Zu diesen Ländern gehört Vietnam. Seit dem Zwi- sollte, um die anstehenden Verhandlungen wenig- schenparteitag im Januar 1994, seit der Aufhebung stens in humanitäre Bahnen zu lenken. des US-Embargos im letzten Februar, seit dem 40. Ge- denktag für Dien Bien Phu ist die internationale Ich möchte noch kurz zum Antrag von BÜND- Öffentlichkeit darauf aufmerksam geworden. Eben- NIS 90/DIE GRÜNEN Stellung nehmen. Ich habe Verständnis für das Anliegen. Ich finde darin auch falls im Laufe des letzten Jahres hat sich herumgespro- richtige Ansätze, aber keine schlüssigen Ergebnisse. chen, daß hier ein weiteres asiatisches Land darauf Sie weisen natürlich zu Recht auf die traurige wartet, in den internationalen Wirtschaftskreislauf Geschichte vieler Vietnamesen hin, aber Sie gehen einbezogen zu werden. nicht darauf ein, daß es nun einmal unterschiedliche Noch sind in der Welt die Boat people in Erinnerung, Gruppen mit unterschiedlichem Status gibt: die legal noch die Art und Weise, wie 1975 der Süden annek- im Lande Lebenden mit Aufenthaltstiteln, daneben tiert statt integriert wurde. Doch wenn man ein asia- Illegale, ehemalige Vertragsarbeitnehmer ohne Auf- tisches Volk nur genügend lange gewähren läßt, so enthaltsrecht sowie abgelehnte Asylbewerber. wird es eins tun: eine funktionierende Wirtschaft Dazu muß ich sagen: Auch wenn es sich um eine aufbauen. überschaubare Zahl von Menschen handelt, oft mit (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: wirklich anrührenden Lebensgeschichten, wird es Rassismus!) nicht möglich sein, daß sie alle nur auf freiwilliger Basis das ist ja Ihre Forderung — zurückkehren. Die Amerikaner haben das begriffen. Seit einem Jahr bereisen US-Unternehmer das Terrain, planen Inve- (Beifall bei Abgeordneten der F.D.P.) stitionen, erkunden die günstigen Arbeitsmarktbe- Das wäre eine Sonderregelung, auf die wir uns schon dingungen. Nicht zuletzt die sehr guten Fremdspra- im Interesse anderer, die nach geltendem Recht aus- chenkenntnisse der Vietnamesen werden in den Ent- reisen müssen, nicht verständigen können. Selbst scheidungsprozeß einbezogen. wenn wir zu liberaleren Altfallregelungen kommen — Sie wissen, daß die SPD das im Einklang mit den Mehr als überholte Ideologie — darin gleicht Viet- sozialdemokratisch geführten Ländern anstrebt —, nam seinem ungeliebten Nachbarn China — stehen die Erzielung hoher Wachstumsraten und die Steige- würde auch das nicht alle diese Fälle erfassen kön- nen. rung der Exporterlöse im Vordergrund. Zwar ist das Ziel des Reformprozesses noch nicht klar definiert, Mein Vorschlag zum Schluß: Lassen Sie uns im doch hält man sich bei der Suche nach dem rechten Ausschuß noch einmal in Ruhe über die Problematik Weg nicht lange auf, sondern handelt. sprechen! Machen wir vor allen Dingen der Bundes- regierung klar, was in einem echten Rückkehrabkom- Wenn beim ASEAN-Gipfel 1995 über den Beitritt men im Interesse der Humanität und einer weitsichti- Vietnams entschieden wird, wird ein Land hinzukom- gen Entwicklungspolitik vereinbart werden müßte! men, das aktiv und auf der Basis solider Wachstums- Auf alle Fälle nicht nur Menschentransfer für bare zahlen mitzuarbeiten bereit ist. Das ASEAN-Regio- Münze! nalforum vom Juli 1994 hat diesem Land erstmals Gelegenheit gegeben, mit den Nachbarn als Partner (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE mit gleichem Recht, nicht als Gegner zu reden. GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der F.D.P.) In den deutsch-vietnamesischen Beziehungen war es deshalb überfällig, einige Altlasten aus der Welt zu schaffen, die eine fruchtbare Zusammenarbeit über Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun die Jahre verschleppt haben. dem Kollegen Jörg van Essen das Wort. Ein Punkt war die nicht erfolgte Altschuldenregu- lierung und die dadurch fehlenden Hermes-Deckun- Jörg van Essen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine gen. Dieser Punkt ist aus der Welt. Ein anderer Damen und Herren! Heute morgen haben wir über ein Blockadepunkt war die Tatsache, daß Vietnam einer Land geredet, in dem Krieg, Bürgerkrieg, Menschen- ganz wesentlichen Rechtspflicht bis vor kurzem nicht rechtsverletzungen und das Sterben Unschuldiger auf nachkam, nämlich der, seine eigenen Staatsangehöri- der Tagesordnung stehen. gen wieder ins Land zu lassen. Solche Praktiken 750 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Jörg van Essen waren ein unseliges Erbstück der Zeiten, als noch auch die Begleitmusik — wenn z. B. der einschlägig kommunistische Staaten über Wohl und Wehe ihrer bekannte Minister Spranger in bezug auf die abzu- Bürger befanden, Dissidenten ausbürgerten und die schiebenden Vietnamesinnen und Vietnamesen von Grenzen mal in die eine, mal in die andere Richtung „40 000 Illegalen" spricht — zielt darauf ab, in der dichtmachten. Bevölkerung ein aggressives Klima gegen diese Diesen längst in den Mülleimer der Geschichte gesellschaftliche Randgruppe zu erzeugen. gehörenden Zustand durchbrochen und zugleich eine Die Realität sieht doch so aus: Zunächst wurden die Basis für künftige Zusammenarbeit gelegt zu haben, ehemaligen Vertragsarbeiterinnen und Vertrags- ist das Verdienst der Staatsminister Hoyer und arbeiter aufenthaltsrechtlich gegenüber Arbeits Schmidbauer. migranten in den alten Bundesländern benachteiligt. Diejenigen Vietnamesinnen und Vietnamesen, die (Beifall bei der F.D.P.) sich nicht in hoffnungslose Asylverfahren abdrängen Wir werden die nun beginnenden Verhandlungen lassen wollten, gerieten in unentrinnbare aufenthalts- ebenso erfolgreich weiterführen. Wir werden sie in rechtliche Schwierigkeiten. Arbeitslosigkeit, astrono- eine Entwicklungszusammenarbeit einmünden las- mische Wohnheimmieten und verschleppte Geneh- sen, einen Hermes-Plafond einrichten, ein Doppelbe- migungen von Arbeitserlaubnissen führten zu dem steuerungs- sowie weitere Abkommen ratifizieren Verlust von Aufenthaltstiteln. Ohne Wohnung und und die kulturelle Zusammenarbeit u. a. durch die Arbeit gab es keine neuen Aufenthaltsbewilligungen Einrichtung eines Goethe-Instituts verbessern. und ohne diese keine neue Arbeit. Wir werden für die vietnamesischen Mitbürger, die Aus diesem staatlich organisierten Teufelskreis hier leben, gerechte Lösungen finden. Zur Gerechtig- blieb für allzu viele Vietnamesinnen und Vietname- keit gehört, daß Vietnamesen, die unser Land verlas- sen, die aus den Bleiberechtsregelungen herausfielen, sen müssen, nunmehr anderen Personen gleichbe- nur der Ausweg, unterzutauchen und unter den handelt werden, die das auch tun müssen. Gerecht ist, unmenschlichen Bedingungen der Illegalität zu ver- daß die, die kriminell geworden sind, mit Konsequen- suchen, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. zen dafür rechnen müssen. Und für einen Rechtsstaat (Cornelia Schmalz-Jacobsen [F.D.P.]: Daß selbstverständlich ist, daß die, die einen legalen sich die PDS nicht schämt, so etwas zu Aufenthaltsstatus haben, weiter bei uns leben kön- sagen!) nen. (Beifall bei der F.D.P.) Die Ankündigung der Bundesregierung, im Rah- men des „Asylkompromisses" eine „humanitäre Der Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN führt - Lösung für die DDR-Vertragsarbeiterinnen und gerade nicht zu dieser Gerechtigkeit zwischen den -arbeiter" zu finden, wurde nicht eingehalten. Nun verschiedenen Gruppen von vietnamesischen Mitbür- versucht die Bundesregierung, ein von ihr verschul- gern. Wir können ihn deshalb nicht unterstützen. detes Problem auf dem Rücken hier lebender Vietna- Vielen Dank. mesinnen und Vietnamesen zu lösen. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU) (Cornelia Schmalz-Jacobsen [F.D.P.]: Was sagen Sie da?) Zunächst erpreßte sie Vietnam durch eine monate- lange Blockade der Unterzeichnung eines Kooperati- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun onsabkommens der Sozialistischen Republik und der das Wort der Kollegin Maritta Böttcher. EU. Nun versucht sich die Bundesregierung mit einer Abschlagszahlung von 200 Millionen DM an Vietnam aus der Verantwortung zu stehlen. Maritta Böttcher (PDS): Sehr geehrter Herr Präsi- Ein letztes Wort zu dem vorliegenden Antrag von dent! Meine Damen und Herren! „Gestern in BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wir unterstützen selbst- Rostock-Li chtenhagen ausgeräuchert, heute rausge- verständlich im Grundsatz das Anliegen Ihres worfen" — auf diese von Heribert Prantl in der Antrags. Aber daß Sie entgegen dem Entwurf Ihres „Süddeutschen Zeitung" entworfene Kurzformel läßt Antrags nun plötzlich die gesamte Asylproblematik sich nach unseren Erkenntnissen die zutiefst außen vor lassen, bedauere ich. Wir werden sicher erschrockene Stimmung bei den hier lebenden Viet- Gelegenheit haben, im Innenausschuß darüber zu namesinnen und Vietnamesen nach Bekanntwerden beraten. der gemeinsamen deutsch-vietnamesischen Abschie- Ich danke. beerklärung vom 6. Januar treffend zusammenfas- (Beifall bei der PDS) sen. Die Stimmungsmache, die von Mitgliedern der Bundesregierung, aber auch z. B. von dem Berliner Innensenator Dieter Heckelmann anläßlich der nun- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich schließe mehr vom Kabinett gebilligten „Gemeinsamen Erklä- damit die Aussprache. rung" entfacht wurde, läßt Schlimmes befürchten. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage Nicht nur, daß sich die Bundesregierung von den auf Drucksache 13/231 an den in der Tagesordnung Ausländerbeauftragten aus Berlin, Brandenburg und aufgeführten Ausschuß vorgeschlagen. Sind Sie damit Rostock sagen lassen muß, daß ihre Angaben über einverstanden? — Ich sehe und höre keinen Wider- „40 000 ausreisepflichtige Vietnamesen" falsch sind; spruch. Dann ist so beschlossen. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 751

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf: quenzen des Inkrafttretens des Dubliner Übereinkom- Erste Beratung des von der Bundesregierung mens. Gemeinsam mit dem Schengener Übereinkom- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem men übernimmt Dublin eine Pilotfunktion für das Protokoll vom 26. April 1994 zu den Konse- zusammenwachsende Europa durch den Abbau der quenzen des Inkrafttretens des Dubliner Über- Binnengrenzen und die Verpflichtung auf entspre- einkommens für einige Bestimmungen des chende Ausgleichsmaßnahmen. Dieses bezieht sich Durchführungsübereinkommens zum Schen- beim Dubliner Übereinkommen direkt auf ausglei- gener Übereinkommen (Bonner Protokoll) chende Verfahrensregeln der Asylantragstellung. — Drucksache 13/24 Sozialdemokraten haben die Verwirklichung eines —Überweisungsvorschlag: Staatengebietes ohne Binnengrenzen stets gefordert Innenausschuß (federführend) und sich vehement dafür eingesetzt. Deshalb begrü- Auswärtiger Ausschuß ßen wir, daß mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für Voraussetzungen für einen vollständigen Abbau der die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. — Ich Personenkontrollen an den Binnengrenzen geschaf- sehe und höre keinen Widerspruch. Dann haben wir fen werden können. das so beschlossen. Allerdings müssen wir auch heute wieder darauf Ich erteile zuerst das Wort dem Parlamentarischen hinweisen: Der Abbau der Binnengrenzkontrollen Staatssekretär Lintner. zwischen den Staaten in Europa darf keinesfalls zu Lasten der inneren Sicherheit der Bürgerinnen und Eduard Lintner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Bürger gehen. minister des Innern: Sehr geehrter Herr Präsident! (Beifall bei der SPD) Meine Damen und Herren! Am 26. April 1994 haben Wegfallende Kontrollen an den Binnengrenzen unse- die Vertragsstaaten des Schengener Durchführungs- res Landes müssen bei zunehmender internationaler übereinkommens in Bonn ein Protokoll unterzeichnet, Kriminalität durch entsprechende Maßnahmen inzwi- welches die Anwendung asylrechtlicher Normen im schen mehr als nur ausgeglichen werden. Hinblick auf eine Kollision zwischen dem Schengener Durchführungsübereinkommen und dem Dubliner Fakt ist, daß gerade in letzter Zeit auf der französi- Übereinkommen regelt. schen, aber auch auf der niederländischen Seite im Das Dubliner Übereinkommen bezieht sich auf alle Zusammenwirken mit deutschen Dienststellen ver- Mitgliedstaaten der Union und wird voraussichtlich in stärkt im grenznahen Bereich Kontrollen durchge- diesem Jahr in Kraft treten. Gegenwärtig steht die führt werden. Hintergrund sind der Zuwachs des Ratifikation des Übereinkommens durch vier Mit- Schleuserunwesens zwischen den Ländern und vor gliedstaaten noch aus. In der Bundesrepublik allem der wachsende Anstieg der grenzüberschrei- Deutschland ist das Ratifizierungsverfahren bekann- tenden Kriminalität. Fallen diese Kontrollen nun mit termaßen abgeschlossen. Die Ratifizierungsurkunde der Etablierung des Schengener Abkommens am wurde am 21. September 1994 in Dublin hinterlegt. 26. März dieses Jahres weg und gibt es dafür keine angemessenen Ausgleichsmaßnahmen auch über den Das Schengener Durchführungsübereinkommen ist formalen Schengen-Standard hinaus, kann auch diese bereits in Kraft getreten. Seine Inkraftsetzung hat sich Bundesregierung, kann auch der Deutsche Bundestag durch technische Probleme mit dem Schengener unseren Bürgern nicht erklären, wie die Sicherheit in Informationssystem verzögert. Die Anwendung des Zukunft noch gewährleistet ist. Schengener Durchführungsübereinkommens ist jetzt für den 26. März dieses Jahres vereinbart worden. (Beifall bei der SPD) (Zuruf von der SPD: Dann geht das Chaos Gerade die Bevölkerung in den Grenzregionen sieht los!) deshalb diesem Datum im März eher mit Schrecken Beide Übereinkommen enthalten Bestimmungen als mit froher Erwartung entgegen. darüber, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung eines Wir fordern daher seit Jahren eine stärkere polizei- Asylantrags zuständig ist. Die Regelungen sind im liche Kooperation zwischen den Staaten, wir fordern wesentlichen inhaltsgleich, enthalten aber Abwei- paritätisch besetzte Außengrenzstellen, und wir for- chungen im Detail. dern den Aufbau einer europäischen Grenzpolizei. Das Protokoll bestimmt, daß im Interesse der Rechtssicherheit und der Rechtsklarheit mit Inkraft- (Beifall des Abg. Michael Stübgen [CDU/ treten des Dubliner Übereinkommens ausschließlich CSU]) dessen Bestimmungen Anwendung finden. Es bedarf Das Ziel der Übereinkommen, durch die vorgege- deshalb nach Art. 3 Abs. 1 der Ratifizierung. — Soviel benen Ausgleichsmaßnahmen mehr Sicherheit zu zu diesem erläuterungsbedürftigen Vorgang. schaffen, wird durch die bislang vorgesehenen Aktio- (Beifall bei der CDU/CSU) nen und vor allen Dingen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, durch deren dilettantische Umsetzung nicht Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Vielen Dank. erreicht. Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Jochen (Beifall bei der SPD) Welt. Unter Polizeipraktikern wurde ja bereits vorab festge- stellt, daß die im Schengener Übereinkommen Jochen Welt (SPD): Sehr geehrter herr Präsident! genannten Ausgleichsmaßnahmen für die wegfallen- Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Bei dem uns den Binnengrenzkontrollen völlig unzureichend sind. vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die Konse- Hier gilt es also nachzubessern. 752 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Jochen Welt Wenn wir den neuen Problemen mit Erfolg begeg- esse der betroffenen Menschen sind offensichtlich nen wollen, brauchen wir z. B. auch die Harmonisie- überhaupt nicht gewollt. rung des Waffenrechtes und langfristig einen einheit- lichen Strafverbund in Europa. Auch brauchen wir Im Bereich der Durchsetzung asylrechtlicher Nor- dringend eine effektive Regelung der Nacheile, d. h. men ist es für uns wichtig, nicht nur Zuständigkeiten, der polizeilichen Verfolgung von Straftätern auch wie in Dublin und Schengen angesprochen, zu regeln, über die Binnengrenzen hinaus. sondern auch den Standard des Asylverfahrens sowie die Unterbringung und Behandlung der Flüchtlinge (Beifall bei der SPD) klar zu definieren. Hierzu gehört vor allem eine einheitliche Auslegung der Genfer Flüchtlingskon- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es kann und darf vention durch die Mitglieder der EU. Darüber hinaus doch nicht sein, daß die Grenzen für die Verbrecher kann die geforderte Zuwanderungscharta die ent- aufgehoben werden und für die Polizei weiterhin sprechenden Rahmenbedingungen schaffen. Aber bestehenbleiben. derartige Initiativen passen wohl nicht in die politi- (Beifall bei der SPD) sche Landschaft. Das Tempo, mit dem auch unter deutscher Präsi- Der Staatssekretär im BMI, Dr. Schelter, hat es dentschaft innere Sicherheit in Europa gestaltet wird, unlängst bei einer Berichterstattung vornehmer aus- gleicht dem einer Schnecke. Allerdings werden insbe- gedrückt: Bei der Formulierung eines Entschlusses sondere von Mitgliedern der Bundesregierung Luft- über einen gemeinsamen Flüchtlingsbegriff z. B. habe blasen über eine verbesserte Sicherheit in Europa die Bundesregierung wegen eines fehlenden Eini- produziert. Aber jede grenzübergreifende Straftat, gungswillens in Europa „erst gar keine Energie mehr deren Zahl nun leider zunimmt, bringt diese Luftbla- investiert". Aber ohne Wollen und ohne Energie wird sen zum Platzen. In einer Presseerklärung von Innen- es kein Vorwärts in Europa geben. Ohne Nachdruck minister Kanther vom 30. Dezember 1994 zum Jahres- und ohne politische Energie wird es erst recht keine wechsel heißt es u. a., daß während der Präsident- Klärung in der Asyl- und in der Zuwanderungsfrage schaft der Bundesrepublik in der EU wichtige Fort- geben. schritte bei der Gewährleistung der inneren Sicher- (Beifall bei der SPD) heit in Europa und 'bei der Lösung der Zuwanderer Auf Grund der geographischen Situation Deutsch- fragen gemacht worden seien. Ich frage mich: Wo lands mit seinen langen Grenzen Richtung Mittel- und denn nur? Osteuropa muß doch gerade von Deutschland Druck ausgeübt werden, um sich mit den anderen Staaten (Hans-Peter Kemper [SPD]: Keiner hat- es darüber zu einigen, wie innerhalb der EU die Lasten gemerkt!) und die Verantwortung für die einreisenden Flücht- Die Wirklichkeit ist doch eine ganz andere. Keines linge und andere Zuwanderer gleichmäßiger verteilt der groß angekündigten Vorhaben ist in die Tat werden können. Hier fehlt es bis heute an praktika- umgesetzt worden. Selbst die Verabschiedung der blen Ansätzen. Es ist schwer einzusehen, daß Europol-Konvention, die spätestens zum Oktober Deutschland den überwiegenden Teil insbesondere 1994 hätte erfolgt sein müssen, ist kläglich gescheitert. der Bürgerkriegsflüchtlinge aufnehmen muß. Ge- Wenn wir die innere Sicherheit in Europa ernst nausowenig wird es für Frankreich hinnehmbar sein, nehmen, dann brauchen wir mit Europol mehr als ein daß algerische Fundamentalisten als Asylbewerber Informations- und Dokumentationszentrum. Wir von Deutschland aus terroristische Aktionen und den brauchen Europol als gemeinsame, europäisch ope- Waffenhandel steuern. rierende, d. h. ermittelnde und den Bürger schützende Sollen die in Rede stehenden Übereinkommen Polizeieinheit. wirklich greifen und zum Erfolg führen, so reichen die (Beifall bei der SPD) gegenwärtigen Regelwerke nicht aus. Gefordert ist Wenig Bewegung gibt es auch bei den für die eine materiell-rechtliche Harmonisierung auf euro- Übereinkommen von Schengen und Dublin bedeutsa- päischer Ebene. men Fragen des Asylrechts und der Zuwanderung. Bei aller Freude über offene Grenzen begleiten Auch hier bestimmen Stagnation und Hilflosigkeit die derzeit leider Unsicherheit und Angst vor zunehmen- europäische Politik. Wo bleibt die gemeinsame euro- der Kriminalität in weiten Teilen der Bevölkerung den päische Zuwanderungspolitik als Voraussetzung da- Gedanken an ein vereintes Europa ohne Grenzen — für, daß Verfahrensvorschriften wie jetzt im Dubliner und dieses nur, weil die Vertragsstaaten, darunter Übereinkommen erst einen Sinn machen? Wo bleibt auch die Bundesrepublik Deutschland, ihre notwendi- die angekündigte Entschließung zu den Mindeststan- gen Schularbeiten entweder gar nicht, zu zögerlich dards der Asylverfahren in Europa? oder nicht konsequent genug gemacht haben. Wer so Über die fehlenden Voraussetzungen braucht man leichtfertig mit der Verwirklichung von im Grundsatz sich angesichts der innenpolitischen Aktivitäten die- guten und notwendigen Verträgen umgeht, der scha- ser Bundesregierung in der Ausländer- und Asylpoli- det nicht nur der inneren Sicherheit in Deutschland tik überhaupt nicht zu wundern. Die Politik der und Europa, sondern er zerstört vor allem die Akzep- Bundesregierung gerade in den Bereichen der dop- tanz eines vereinten Europas in der Bevölkerung. pelten Staatsangehörigkeit, der Abschiebung von (Beifall bei der SPD) Kurden und der polititschen Beteiligung unserer aus- ländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger zeigt das Liebe Kolleginnen und Kollegen, trotz der aufge- eigentliche Dilemma auf. Verbesserungen im Inter- zeigten Regelungslücken und Probleme wird die Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 753

Jochen Welt SPD-Bundestagsfraktion dem Gesetzesantrag zustim- sowohl bei den Kommunen als auch bei den Bürgern men. Wir fordern die Bundesregierung allerdings mit der Bundesrepublik eingetreten. allem Nachdruck auf, weiter die notwendigen euro- Als nächsten notwendigen Schritt gilt es, die Funk- päischen Verhandlungen zu führen, dies mit dem Ziel, tionsfähigkeit des Schengener Informationssystems zur Harmonisierung des Asyl- und Zuwanderungs- — kurz SIS genannt — schnellstens herzustellen, um rechts in Europa, zu wirksameren Ausgleichsmaßnah- das Schengener Abkommen endgültig in Kraft zu men und zur weiteren Anpassung wesentlicher setzen. Mit Hilfe moderner Technik wird es dann Rechtsgebiete zu kommen. möglich sein, die Anträge präziser abzuwickeln und Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. vor allem Asylmißbrauch zu begegnen. Refugees in (Beifall bei der SPD) orbit, also Flüchtlinge, für die sich niemand zuständig fühlt, wird es zukünftig nicht mehr geben. (Günter Graf [Friesoythe] [SPD]: Was hat das Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Das Wort mit Asyl zu tun?) bekommt nun der Kollege Michael Stübgen. Die weitestgehende Öffnung innereuropäischer Grenzen kann nur mit einer strengen Kontrolle der Michael Stübgen (CDU/CSU): Herr Präsident! Außengrenzen einhergehen. Diese Außengrenzkon- Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kol- trolle muß zukünftig als gesamteuropäische Aufgabe lege Welt, eine ganz kurze, aber notwendige Ergän- angesehen werden. zung zu Ihrer Rede, zu einem Sachverhalt, von dem ich weiß, daß Sie ihn kennen, aber geflissentlich Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, vergessen haben, ihn hier zu erwähnen; das ärgert gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Günter mich ein wenig, deshalb muß ich es ergänzen. Graf? Ich bin fast völlig mit Ihrer Analyse der Probleme im Bereich einer notwendigen stärkeren Integration der (CDU/CSU): Ja, bitte. Innen- und Sicherheitspolitik in der Europäischen Michael Stübgen Union einverstanden. Aber Sie wissen sehr genau, daß dieser Bereich der Europäischen Politiken Günter Graf (Friesoythe) (SPD): Herr Kollege Stüb- — Art. K des Vertrages der Europäischen Union, der gen, nur zur Klarstellung — vielleicht habe ich es sogenannte dritte Pfeiler der europäischen Politik — falsch verstanden —: Sie haben das Schengener dem Einstimmigkeitsprinzip unterliegt. Sie wissen Informationssystem in dem Zusammenhang erwähnt, genau, welche Vorstöße die Bundesregierung in den daß dann die Bearbeitung der Asylanträge besser letzten vier Jahren in diesem Bereich gemacht hat. Sie vonstatten gehen kann. Habe ich das so richtig ver- wissen auch sehr genau, welche Länder das blockie- standen? ren und sich leider fast überhaupt nicht bewegen. Einige Regierungen dieser Länder, die sich da nicht Michael Stübgen (CDU/CSU): Durch die zentrale bewegen, stehen Ihnen parteipolitisch deutlich näher Sammlung der Daten über illegale Einwanderer und als uns. Vielleicht lassen Sie uns darauf einigen, daß Asylmißbrauch kann die Prüfung, ob ein Antrag Sie versuchen, diese Länder mit diesen Regierungen berechtigt ist oder nicht, schneller abgeschlossen zu überzeugen, weiterzugehen. Dann wären wir werden: durch SIS. schon wesentlich weitergekommen. Die Verschärfung der Außengrenzkontrolle muß (Beifall bei der CDU/CSU) zukünftig als gesamteuropäische Aufgabe angesehen Das ist heute aber nicht mein grundsätzliches werden. Ich würde mir wünschen, daß die finanzielle Thema. und personelle Ausstattung der jeweiligen Grenz- Mit der zur Überweisung vorliegenden Drucksache posten bereits auf der Regierungskonferenz 1996 wird die seit Jahren in diesem Haus diskutierte Frage thematisiert wird. nach der Behandlung von Asylbewerbern innerhalb Ergebnis solcher Beratungen kann nur eine propor- der Europäischen Union zunächst abschließend tionale Verteilung der Lasten sein. Ansonsten werden beantwortet. Jeder Bewerber, der in seinem Heimat- die europäischen Grenzstaaten — Deutschland ist land tatsächlich verfolgt wird, kann Aufnahme in gegenwärtig ein europäischer Grenzstaat — durch die einem der EU-Staaten finden, sofern er dies wünscht. Kostenlast erhebliche Probleme bekommen, was Dies durchzuhalten ist aber nur möglich, wenn dafür unweigerlich einen negativen Einfluß auf die weite- Sorge getragen wird, daß offensichtlich unbegründete ren Integrationsschritte der Europäischen Union Asylanträge schnellstmöglich bearbeitet werden und hätte. die betreffenden Personen umgehend in ihre Her- Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kunftsländer zurückkehren. Zukünftig wird dies möchte gerade im Zusammenhang mit dieser Debatte durch die in allen EU-Ländern gleich geltenden darauf hinweisen, daß die genannten Abkommen Vorschriften des Dubliner und des Schengener lediglich als vorläufige Maßnahme angesehen wer- Abkommens gewährleistet. den können. Sie werden auf Dauer den Ansturm von Bereits heute zeigen sich erste positive Ergebnisse Menschen, die in ihrem Heimatland keine Zukunfts- der gesamteuropäischen Asylpolitik, vor allem in perspektive haben, nicht aufhalten. Schätzungen Deutschland. Die Zahl der Asylbewerber ist erheblich gehen davon aus, daß bis zu 70 Millionen Menschen zurückgegangen, was dazu geführt hat, daß die ein- vornehmlich aus der Dritten Welt und aus Osteuropa zelnen Verfahren in kürzerer Zeit bearbeitet werden in den nächsten Jahren versuchen werden, in die können. Darüber hinaus ist eine deutliche Beruhigung Länder der Europäischen Union einzuwandern. 754 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Michael Stübgen Daher müssen wir stetig bemüht sein, die Gründe der Bürger in ein gemeinsames Europa zu stärken. Die für die Migrationsbewegungen in den Flüchtlingslän- Abstimmungen zum Maastrichter Vertrag bzw. die dern selbst zu bekämpfen, dies insbesondere, weil an Beitrittsabstimmungen in einigen Ländern haben uns den Ostgrenzen unseres Staates schon jetzt eine noch einmal deutlich gemacht, wie groß der Nachhol- Trennlinie zwischen Reich und Arm verläuft. Zusam- bedarf auf diesem Gebiet ist. men mit den Partnern in der Europäischen Union Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. müssen wir für eine Verbesserung der wirtschaftli- (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — chen und sozialen Lage der Asylsuchenden sorgen. Günter Graf [Friesoythe] [SPD]: Am Thema Erste gute Ansätze bilden die Bemühungen der Bun- vorbei! Sachlich zum Teil völlig falsch!) desregierung, abgelehnten Asylbewerbern z. B. aus Rumänien, Polen oder Bulgarien durch strukturför- dernde Reintegrationsprojekte die Rückkehr in ihre Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun

Heimatländer zu ermöglichen. das Wort der Kollegin Amke Dietert - Scheuer. (Zuruf von der SPD: Einsatz der Bundes wehr!) Amke Dietert - Scheuer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Weiterhin ist es wichtig, die Integration der osteu- NEN): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ropäischen Staaten in die Europäische Union mit hier zur Entscheidung anstehende Protokoll zu dem Ernst zu betreiben. Ich bin sicher, daß sich der Dubliner Übereinkommen ist nur ein Mosaikstein im Flüchtlingsstrom verringern wird, wenn den Bürgern Gesamtkonzept der EU-Staaten zur Abschottung dieser Staaten in den Ländern selbst eine absehbar gegen Flüchtlinge und Einwanderer. Wir haben sichere Zukunftsperspektive geboten wird. gerade wieder erlebt, wie sich die Kollegen von SPD und CDU nach einer Intensivierung dieser Forderung Bei aller Diskussion über die Absicherung unserer gegenseitig überboten haben. Da wir uns gegen diese Ostgrenzen und der Hilfe für die unmittelbaren Nach- menschenverachtende Politik insgesamt wenden, so meine barstaaten müssen die baltischen Staaten, werden wir natürlich auch diesen Gesetzentwurf ich, einen besonderen Platz einnehmen. Sie waren es, ablehnen. die sich frühzeitig von der Sowjetunion lossagten und westeuropäische demokratische Strukturen einführ- Gerade heute berichtet die „Frankfurter Rund- ten. Dabei vertrauten sie auf die Unterstützung insbe- schau" — darauf wurde schon Bezug genommen — sondere der Bundesrepublik. Ich selbst hatte mehr- über einen drastischen Rückgang der Asylbewerber- fach die Möglichkeit, mir im Baltikum und auch in zahlen in Europa. Herr Kanther und seine Kollegen werden dies sicher als Erfolg verbuchen. Aber was Kaliningrad — das zur Russischen Föderation- gehört und gehören wird, aber geographisch auch zum steht dahinter? Baltikum — ein Bild von der dortigen Lage zu machen. Sicher gibt es heute nicht weniger Menschenrechts- Ich konnte feststellen, mit welchem Eifer die Leute verletzungen, Verfolgung und Kriege auf der Welt als dort vor Ort versuchen, die neue demokratisch-politi- in den vergangenen Jahren. Flüchtlingen wird jedoch sche und wirtschaftliche Situation zu stärken und der notwendige Schutz verweigert: durch die auszubauen, und das bei den unglaublichen Proble- Abschottung der Außengrenzen der EU, durch immer men, vor denen sie stehen. Ich habe nur wenige restriktivere Asylverfahren, durch Anerkennungskri- getroffen, die Interesse daran haben, in ein westeuro- terien, die der Verfolgungssituation von Menschen in päisches Land auszuwandern. Sie wollen bei sich die keiner Weise gerecht werden. Situation verbessern und dort bleiben, wo sie ihre Die Abkommen von Schengen und Dublin legen Heimat haben. fest, daß derjenige Staat für die Durchführung eines Dieses und andere Beispiele stützen meine These: Asylverfahrens zuständig ist, in dem ein Flüchtling Abkommen wie die aus Schengen und Dublin sind zuerst EU-Gebiet betreten hat. Ein anschließender lediglich ein vorübergehender Schutz unseres Sy- Asylantrag in einem anderen EU-Staat ist nicht mehr stems vor einer nicht zu verkraftenden Immigrations- möglich. Dagegen wäre rechtlich grundsätzlich nicht welle. Gelingt es uns nicht, den Menschen vor unserer einmal viel einzuwenden, wenn in allen Staaten Haustür eine realisierbare Zukunftsvision aufzu- Asylverfahren garantiert wären, die den Mindeststan- bauen, wird sich der Druck auf die zentraleuropäi- dards der Genfer Konvention entsprechen. schen Staaten erneut vergrößern. Um aber die wirt- Dazu gehört ein faires Prüfungsverfahren, eine schaftlichen und politischen Entwicklungen über die gerichtliche Überprüfung der Entscheidungen sowie Europäische Union verbessern zu können, muß der vor allem ein Aufenthaltsrecht bis zum Abschluß des Deutsche Bundestag frühzeitig Kenntnis von den Verfahrens. Letzteres ist leider auch in der Genfer Planungen in Brüssel erhalten. Derzeit sind die Ver- Konvention nicht mit der nötigen Klarheit geregelt. handlungsinhalte — z. B. zum europäisch-russischen Vom UNHCR wurde eine solche Regelung zwar Partnerschaftsvertrag — nicht einmal dem Europäi- eingefordert, aber u. a. auch von der Bundesregierung schen Parlament bekannt. abgelehnt. Die Zuständigkeitsregelung führt jedoch Hier wird es Aufgabe der Bundesregierung sein, zu einer Konkurrenz aller Mitgliedsstaaten um die sich auf der Regierungskonferenz 1996 weiterhin für wirkungsvollste Abschreckungspolitik und den nied- eine Stärkung des Europäischen Parlaments und rigsten Standard in Asylverfahren. einer Verbesserung der Informationsschienen zu den Durch die Definition sogenannter sicherer Dritt- nationalen Parlamenten einzusetzen. Dies führt auto- staaten, die zuerst in der Bundesrepublik mit dem matisch zu einer höheren Transparenz europäischer unseligen Asylkompromiß gesetzlich festgelegt Politik, die dringend notwendig ist, um das Vertrauen wurde, werden Flüchtlinge in Durchreiseländer abge- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 755

Amke Dietert-Scheuer schoben, in denen Schutz vor Verfolgung nicht gesi- die große Änderungsanstrengung des deutschen chert ist. Es besteht die akute Gefahr, daß sie durch Asylrechts von 1993, der sogenannte Asylkompromiß, Kettenabschiebungen wieder im Verfolgerland an- politisch vollständig gerechtfertigt. Denn diese führte kommen. bekanntlich von der alten Asylgarantie ab, weil man Die europäischen Staaten berufen sich gerne auf die Alleinstellung der deutschen Verfassungslage ihre gemeinsamen Werte von Demokratie und Men- beseitigen wollte, die zu dem starken Asylbewerber schenrechten. Sie sind aber nicht bereit, Flüchtlinge druck führte. Das Ringen, die Mühen, die emotionale vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen, son- Diskussion und die anhaltende Kritik seither sind wohl dern diffamieren sie als Schmarotzer und Bedrohung allesamt noch präsent. unserer Sicherheit, wie dies leider auch gerade durch Jedenfalls legt ab 1993 auch der neue Artikel 16a den Kollegen der SPD wieder geschehen ist. Abs. 2 des Grundgesetzes das Ziel der Asylrechtshar- Der Vertrag von Maastricht sieht die gemeinsame monisierung mit unseren Nachbarn an. Diese Vor- Einführung eines Visumzwangs vor, wenn auf Grund gabe muß nun ausgefüllt werden. Die materielle einer Notlage in einem Land eine größere Fluchtbe- Rechtsangleichung in Europa muß hier also geschafft wegung zu erwarten ist. So wird ganz bewußt verfolg- werden. Systematisch würde man sich ohnehin eine ten oder unter sonstigen Notlagen leidenden Men- andere Reihenfolge für die politischen Schritte wün- schen die Flucht erheblich erschwert, oft sogar schen: Zunächst käme die Harmonisierung in der unmöglich gemacht. Flüchtlinge werden damit gera- Sache und erst dann die Vereinheitlichung von dezu in die Arme von Schlepperorganisationen getrie- Zuständigkeiten und Verfahren. ben, über die man sich hier so gerne beschwert. (Jochen Welt [SPD]: Sehr wahr!) Aber auch Menschen aus sogenannten Drittstaaten, Denn das zu beratende Protokoll mit seinen Geltungs- die schon länger in der EU leben, werden von der als anordnungen bedeutet unübersehbar, daß der zustän- liberale Errungenschaft gepriesenen Freizügigkeit dige Verfahrensstaat mit seinem Asylrecht auch die sowie von politischen und sozialen Rechten ausge- Sachentscheidung des konkreten Falles bestimmt. nommen. Gerade für die größten Einwanderergrup- Das kann doch kaum zufriedenstellen, wenn die pen, wie Türkinnen und Türken in der Bundesrepu- Standards dabei noch ganz unterschiedlich sind. blik und Nordafrikaner in Frankreich, gelten nicht einmal so minimale Mitbestimmungsmöglichkeiten Im übrigen wird die Begeisterung beim vorliegen- wie das kommunale Wahlrecht. den Objekt natürlich dadurch gebremst, daß lediglich Wir fordern ein Europa, das seinem demokratischen zwei ohnehin weitgehend gleichlautende Regelun- gen voneinander abgeschichtet werden, und dann Anspruch gerecht wird. Ein Maßstab dafür- ist der Umgang mit Minderheiten und Menschen anderer auch noch solche, die noch gar nicht in Kraft gesetzt Herkunft und der Schutz von Flüchtlingen. Das Dub- worden sind. Freilich erfaßt das nun allein geltende liner und das Schengener Abkommen leisten dazu Dubliner Abkommen nominell alle Mitgliedstaaten keinen Beitrag. der EU, während Schengen dies nicht tut. Das mag ein kleiner Fortschritt sein. Aber überwiegend ist das (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sogenannte Bonner Protokoll gegenüber dem Sachan- und bei der PDS) liegen eben doch nur europarechtlicher Formalauf- wand. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, Gleichwohl aber wird man dem Protokollgesetz da das Ihre erste Rede im Hause war, möchte ich Ihnen natürlich zustimmen können und müssen. Denn die- herzlich gratulieren. ser kleine Prozeßschritt ist sowohl systematisch not- (Beifall) wendig als auch im noch internationalrechtlich aufge- Ich erteile nun dem Kollegen Professor Edzard bauten Europa leider unumgänglich. Nur darf es Schmidt-Jortzig das Wort. dabei auf gar keinen Fall sein Bewenden haben. (Beifall bei der F.D.P. sowie des Abg. Andreas Schmidt [Mülheim] [CDU/CSU]) Dr. Edzard Schmidt - Jortzig (F.D.P.): Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Das, was wir hier Vielmehr muß die weitere und vor allem wirkliche zu beraten haben, ist lediglich ein erster Schritt auf Asylrechtsharmonisierung mit Entschiedenheit vor- dem Weg einer Harmonisierung des Asylrechts in angetrieben werden. Die Bundesregierung bleibt des- Europa; nicht weniger, aber auch nicht mehr. Es geht halb aufgefordert, dieses Ziel nicht aus den Augen zu bei dem jetzigen Schritt nämlich allein um die Klärung lassen, es beständig zu fördern und die Erreichung von Zuständigkeitsfragen. Als nächstes steht dann dieses Zieles mit allen Kräften zu betreiben. die Vereinheitlichung des Asylverfahrensrechts an. Danke sehr. Hierzu sind, wie man hört und wie man auch weiß, Vorarbeiten schon weit gediehen. Auch das Parla- (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordne ment wird sich damit demnächst ausführlich zu befas- ten der CDU/CSU) sen haben. Aber als Ziel des ganzen Prozesses muß natürlich die Angleichung der materiellen Abmessungen des Herr Professor Asylrechts in Europa, mindestens in der Europäischen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Schmidt-Jortzig, ich möchte auch Ihnen im Namen Union, bewerkstelligt werden. Nur dann wird zu des Hauses zu Ihrer ersten Rede gratulieren. diesem Thema ein einheitlicher europäischer Rechts- raum geschaffen. Nur wenn das erreicht ist, ist auch (Beifall) 756 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch Ich erteile nun der Kollegin Maritta Böttcher das die Einführung von Chipkarten bei der Überwachung Wort. anderer sozialer Randgruppen haben wird. (Beifall bei der PDS — Zuruf von der CDU/ CSU: Quatsch!) Maritta Böttcher (PDS): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! So sehr es zu begrüßen ist, wenn Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Damit schließe rechtliches Durcheinander in Ordnung gebracht wird, ich die Aussprache. so vermögen wir dem heute zur Debatte stehenden Interfraktionell ist Überweisung des Gesetzentwur- Gesetzentwurf dennoch nicht zuzustimmen. Denn fes auf Drucksache 13/24 an die Ausschüsse, die in der was von Ihnen schönrednerisch als „weiterer Schritt Tagesordnung aufgeführt sind, vereinbart. — Ich sehe zur Harmonisierung von Asylverfahren in der Euro- und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so päischen Union" verkauft wird, übersetzen wir fol- beschlossen. gendermaßen: daß Sie aber auch nichts unversucht lassen, die Festung Europa gegenüber Flüchtlingen Wir kommen nun zu dem letzten Tagesordnungs- bis ins letzte Detail auszubauen. punkt, Zusatzpunkt 8: Das, was wir heute maßgeblich debattieren, ist die Beratung des Antrags der Fraktion BÜND- rechtliche Erstzuständigkeit in Asylverfahren, wie sie NIS 90/DIE GRÜNEN sich aus dem Dubliner Abkommen und dem Schenge- Veröffentlichung der Rede des Alterspräsiden- ner Vertrag ergibt. Dieser Regelungsgegenstand ist ten ein gutes Beispiel dafür, wie Sie mit typisch deutscher Akribie auch noch nach dem letzten Schlupfloch für in — Drucksache 13/97 — Westeuropa um Hilfe nachsuchende Flüchtlinge Überweisungsvorschlag: suchen, um es dann flugs zu stopfen. Ältestenrat (federführend) Ausschuß für Wahlprüfung, Die Realität sieht doch so aus, daß es selbst heute Immunität und Geschäftsordnung noch eine signifikant unterschiedliche Asylrechtspre- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für chung in den verschiedenen EU-Staaten gibt. Das hat die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei zum Teil deutlich voneinander abweichende Asylan- die Fraktion BÜNDNIS 90/GRÜNE fünf Minuten erkennungsquoten zur Folge. Es ist aus unserer Sicht Redezeit erhalten soll. Ich sehe und höre keinen das elementare Menschenrecht eines um Anerken- Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. nung nachsuchenden Flüchtlings, sich in das Land zu Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin retten, das ihm den besten Asylschutz gewährlei- Simone Probst das Wort. stet.

Hingegen ist es aber Ihr, im Dubliner Abkommen Simone Probst (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr festgeschriebenes, Ziel, dieses legitime Ansinnen Präsident! Meine Damen und Herren! Wir beantra- systematisch zu untergraben. Sie schließen die Gren- gen, daß die Rede des Alterspräsidenten im Bulletin zen mit Zäunen, Wärmebildkameras und Nachtsicht- der Bundesregierung veröffentlicht wird. Dieser geräten. Und obwohl Sie ganz genau wissen, daß Antrag ist beileibe keine Sonderregelung, denn bisher damit wahrlich kein einziges Problem der um Asyl sind alle Reden der Alterspräsidenten in diesem nachsuchenden Menschen gelöst wird, stimmen Sie, Organ veröffentlicht worden. wie zuletzt Bundesminister Kanther, dann auch noch Der Alterspräsident Stefan Heym hat in Berlin ein demagogisches Heulen und Zähneklappern über gesprochen. Es hat keinen Widerstand gegeben. Es ist die vermeintlich „gewissenlose und verbrecherische überhaupt kein Grund, ihn in irgendeiner Weise zu Schleuserkriminalität" an. diskriminieren, nur weil er der Gruppe der PDS Zurück zur Erstzuständigkeitsregelung in Asylver- angehört. Es ist einfach lächerlich, der PDS demokra- fahren: Zu diesem Ansatz gehört, wie in Art. 15 des tische Gepflogenheiten und übliche Rechte zu ver- Dubliner Abkommens vorgesehen, die möglichst voll- wehren, wo doch eigentlich die politische Auseinan- ständige datenmäßige Erfassung von Identifizie- dersetzung ansteht. Wir sind nicht bereit, uns dieser rungsmerkmalen von Flüchtlingen. Wohin dies führt, politischen Auseinandersetzung zu entziehen und konnten wir in den vergangenen Tagen in der Diskus- uns hinter formalen Diskriminierungen zu verstecken, sion um die sogenannte Asyl-Card verfolgen. In einer wie das anscheinend die Regierungskoalition tut. vom niedersächsischen Datenschutzbeauftrag ten un- Vielen Dank. serer Ansicht nach zu Recht als verfassungswidrig bezeichneten Aktion sollen Asylbewerberinnen und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Asylbewerber als gläserne Menschen, mit einer Chip- und der PDS) karte ausgestattet, zu reinen Objekten staatlichen Handelns degradiert werden, nämlich — ich zitiere — Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun zu „Transporteuren der auf dem Chip gespeicherten dem Kollegen Andreas Schmidt das Wort. Daten". Dies zeigt, welchen Preis Flüchtlinge für Ihre Überwachungsstaatspläne zu begleichen haben: Sie Andreas Schmidt (Mülheim) (CDU/CSU): Herr Prä- bezahlen mit ihrer Menschenwürde und ihrer völligen sident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Entrechtlichung. Liebe Frau Kollegin Probst, Sie haben sehr kurz Machen Sie uns nichts vor: Wir sind, wie der geredet. Ich finde, die Kürze zeigt auch die Bedeutung niedersächsische Datenschutzbeauftragte, der Mei- Ihres Antrages. nung, daß die Asyl-Card eine „Türöffnerfunktion" für (Lachen bei der PDS) Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 757

Andreas Schmidt (Mülheim) Ich finde wirklich, daß es eine Form der Beschäfti- eine demokratische Tradition stellen würden mit gungstherapie ist, was Sie hier machen. Ich finde, es anderen Personen, die Sie genannt haben. Stimmen besteht keine politische Notwendigkeit, hierüber eine Sie mir in der Feststellung zu, daß gerade Ihre Partei lange und große Diskussion zu führen. Stefan Heym bis zum Jahre 1990 just in diese demo- (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Darum kratische Tradition gestellt und ihn als einen antista- hat sie es ja kurz gemacht!) linistischen Kämpfer für Demokratie geehrt hat? Die Zielsetzung, des Antrages ist leider ebenso klar (Beifall bei der PDS) wie eindeutig. Sie wollen die Bundesregierung auffor- dern, die Rede des PDS-Alterspräsidenten des Deut- schen Bundestages im Bulletin — — Andreas Schmidt (Mülheim) (CDU/CSU): Ich habe (Freimut Duve [SPD]: Es gibt keinen parteior meine Meinung zu Stefan Heym. Ich habe mich mit ganisierten Alterspräsidenten!) seiner Biographie beschäftigt. Ich werde noch einige — Lassen Sie mich doch einmal ausreden, Herr Zitate von ihm nennen, und dann werden Sie sehen, Kollege! daß ich zu dieser Person eine klare Meinung habe. (Freimut Duve [SPD]: PDS-Alterspräsident Diese Meinung wird mir auch die PDS in diesem ist falsch!) Hause nicht verwehren können. — Also gut, ich sage: Es geht um den Alterspräsiden- (Dr. Winfried Wolf [PDS]: Das war keine ten Stefan Heym, der Mitglied der PDS ist, Antwort!) (Freimut Duve [SPD]: Richtig!) Meine Damen und Herren, Stefan Heym, ist ein was für mich kein großer politischer Unterschied zu Mann, der es nötig befunden hat, über den schicksals- dem ist, was ich gerade gesagt habe. trächtigen 17. Juni 1953 zu sagen, das Eingreifen der sowjetischen Panzer sei notwendig gewesen — ich Jedenfalls soll die Rede im Bulletin der Bundesre- zitiere „denn sonst wäre die DDR am Ende gierung abgedruckt werden, einem Mitteilungsblatt, gewesen; und ich war für die DDR". Die Demonstran- in dem zu den unterschiedlichsten Anlässen auch ten bezeichnete er seinerzeit als — ich zitiere — Redebeiträge großer Abgeordneter der deutschen ,,keine Deutschen und keine Arbeiter, sondern etwas, Parlamentsgeschichte wie Konrad Adenauer oder das man aus dem Leibe der Nation auspreßt wie Eiter Willy Brandt veröffentlicht worden sind. aus einem Furunkel". Auch dies sind Zitate von Stefan Ich will sehr persönlich sagen, daß der Alterspräsi- Heym, die er so gesagt hat und die, meine ich, auch dent Stefan Heym für mich nicht in der- großen Rückschlüsse auf seine Biographie zulassen. demokratischen und rechtsstaatlichen Tradition steht, wie sie von Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer (Zuruf von der CDU/CSU: Dafür sollte man und Willy Brandt verkörpert wird. sich schämen!) (Lachen bei der PDS) Das bloße Innehaben — ich lege schon Wert darauf, das hier zu sagen — der Formalposition des Altersprä- Ich bin schon verwundert, daß ausgerechnet die sidenten verändert nicht die eigene Biographie. Daß Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die sich zu sich der Kollege Heym für die PDS hat in den Recht rühmt, Bürgerrechtler aus der ehemaligen DDR Deutschen Bundestag wählen lassen, zeigt im übri- in ihren Reihen zu haben, die unter Inkaufnahme gen, daß er aus seinen, wie ich finde, menschenver- persönlicher Nachteile Widerstand gegen den DDR- achtenden und antidemokratischen Äußerungen in Staatsapparat geleistet haben, Urheber dieses An tr a- der Vergangenheit bis heute nicht die richtigen ges ist. Schlüsse gezogen hat. (Manfred Müller [Berlin] [PDS]: Die sind eben demokratisch!) (Maritta Böttcher [PDS]: Das ist eine Frech heit!) Der Alterspräsident, um den es hier geht, ist ohne Zweifel ein frei gewählter Abgeordneter, aber immer- - Gerade auch im Hinblick auf die Opfer der SED hin auch ein Mann, von dem z. B. der Historiker Diktatur empfinde ich keine moralische Verpflich- Michael Wolffsohn gesagt hat, er sei — ich zitiere — tung, die Regierung zu bitten oder aufzufordern, die „ein Selbstdarsteller ohne Rücksicht auf Prinzi- Rede des Alterspräsidenten im Bulletin der Bundesre- pien". gierung zu veröffentlichen. (Freimut Duve [SPD]: Einen einzigen Selbst (Zuruf von der PDS: Zensur oder was?) darsteller kann der Deutsche Bundestag aus Es ist übrigens auch ein guter Grundsatz der Gewal- halten!) tenteilung, daß einerseits die Bundesregierung in eigener Kompetenz entscheidet, was in den Publika- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, tionen der Exekutive veröffentlicht wird, und daß gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten andererseits das Parlament in eigener Kompetenz Wolf? darüber entscheidet, was in ihren Publikationen ver- öffentlicht wird. Andreas Schmidt (Mülheim) (CDU/CSU): Bitte (Freimut Duve [SPD]: Und die Regierung schön. kritisieren kann, darf und muß!) — Das können Sie tun, Herr Kollege. Sie können aber Dr. Winfried Wolf (PDS): Herr Kollege Schmidt, Sie nicht erwarten, daß wir uns dieser Kritik anschließen, haben gerade gesagt, daß Sie Stefan Heym nicht in weil wir dazu eine andere Auffassung haben. 758 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Andreas Schmidt (Mülheim) Die Rede des Alterspräsidenten Stefan Heym ist im solche Entscheidung treffen? Ich habe das für ganz übrigen im Protokoll des Deutschen Bundestages und gar falsch gehalten. dokumentiert. Dies ist richtig und angemessen, aber Ich bin im Auswärtigen Ausschuß und muß deshalb im Hinblick auf den Inhalt der Rede und die Biogra- hin und wieder ins Ausland. Ich bin merkwürdiger- phie des Redners völlig ausreichend, meine Damen weise selten auf einen Vorgang so häufig angespro- und Herren. chen worden wie auf diesen, auch in den Vereinigten Ich habe noch einige Minuten, will aber hier Schluß Staaten. Leute, die sich mit Deutschland befassen, machen, weil ich meine, daß das Thema erschöpfend sprachen mich sowohl auf das Verhalten während der behandelt worden ist. Vielleicht kann man mir die Rede an, wo von der Union ganz deutlich gemacht Zeit auf meinem Redekonto gutschreiben. Es wird an- wurde: Wir bleiben drin, aber wir zeigen dem deut- dere Themen geben, die wichtiger sind, zu denen ich schen Fernsehpublikum per Miene, daß wir von dem dann gerne wieder etwas länger Stellung nehmen Mann und allem Drum und Dran nichts halten! Und es möchte. kam dann die Kritik aus dem Bruch mit der Tradition, Vielen Dank. daß die Bundesregierung den Alterspräsidenten oder die Alterspräsidentin durch Veröffentlichung im Bul- (Beifall bei der CDU/CSU) letin honoriert. Paul Löbe ist in dieser Weise honoriert worden. Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Marie-Elisabeth Lüders von der F.D.P. ist in dieser diesen Wunsch kann ich Ihnen leider nicht erfüllen, Weise zweimal honoriert worden. Robert Pferdmen- weil es mit der Geschäftsordnung nicht vereinbar ist. ges ist so honoriert worden; Konrad Adenauer wurde Ich werde aber in meinem Exemplar des Kürschner schon erwähnt. Um William Borm hat es, was ich sehr ein Sternchen dafür anbringen. tragisch finde, als er tot war, irgendwann plötzlich (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr gut, Herr Präsi eine Diskussion über bestimmte Stufen seiner Biogra- dent!) phie gegeben, die ich sehr bedauert habe. Es ging um bestimmte Kontakte, die er gehabt hat. Ich habe ihn Ich erteile damit als nächstem dem Kollegen Frei- lange gekannt, sehr gemocht. mut Duve das Wort.

Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gehabt haben Freimut Duve (SPD): Herr Präsident! Herr Kollege, soll. ich weiß nicht, ob das, worüber wir hier reden, so nebensächlich ist. Wir werden über diesen- Antrag wahrscheinlich noch intensiver diskutieren. Ich finde Freimut Duve (SPD): Gehabt haben soll, völlig es aber gar nicht so schlecht, daß wir einmal über das richtig. Danke, Herr Präsident Hirsch. — Dann merkwürdige Verhalten einer großen Bundestags- erschien Ludwig Erhard zweimal, später Alterspräsi- fraktion während der Rede des Alterspräsidenten und dent Herbert Wehner, der große Demokrat mit einer der Bundesregierung nach dieser Rede sowie über die dramatischen, von der deutschen Geschichte be- Formulierung des Pressesprechers, als es massive stimmten Biographie mit unzähligen zitierbaren Din- Kritik gegeben hatte, reden. Es tut mir leid, Herr gen. Natürlich haben wir alle — auch Sie —ihn geehrt. Vogel; ich freue mich, daß Sie da sind; es ist eine Ihrer Dann erschien dreimal Willy Brandt. Auch er ein letzten Wochen im Amt. Mann mit einer eigenen Biographie. Herr Vogel, Sie haben damals gesagt: Wir als Wenn dann Stefan Heym dort erscheint, dann kann Bundesregierung wollten der PDS keine Plattform man sagen: Mein lieber Stefan Heym, du stehst jetzt geben. Das kann man inhaltlich nachvollziehen. Ist es für die DDR, für die kommunistische Geschichte. Ich aber angebracht, daß der Pressesprecher der Bundes- bin nun kein großer Freund von der PDS, das muß ich regierung den Stil, die Haltung, die wir uns seit 1949 sagen. erarbeitet haben, mit dem Wort Plattform sozusagen (Wilhelm Schmidt [Salzgitter] [SPD]: Sehr plattmacht? verständlich!) (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig!) Stefan Heym ist ein ehemaliger Kommunist, ein ame- Die Stillosigkeit lag darin, zu sagen: Jetzt ist es mal rikanischer Offizier, ein Bürger der DDR, ein Jude, etwas anderes! Jetzt gucken wir auf den Sprecher und vielfach verfolgt, ein Deutscher, dessen Brechungen seinen Inhalt! Das, was man Gott sei Dank mit all den auch in seinen Büchern und auch in seinem Verhalten Menschen, die andere Berufe ausüben, nicht so leicht deutlich werden. Ich habe mich im Zusammenhang machen kann, wurde mit einem Schriftsteller getan. mit Havemann und meinem Engagement als Lektor Der Schriftsteller steht, lebt und stirbt mit all dem, was von Schriften Robert Havemanns auch über ihn geär- er in seinem Leben gesagt und geschrieben hat. gert. Aber immerhin ist er dann doch zur Beerdigung Diejenigen, die andere Berufe ausüben — auch die von Havemann gekommen. Ich habe es für ungeheu- Juristen —, haben wunderbare Möglichkeiten, damit erlich gehalten, daß angesichts einer solchen die ihnen das, was sie in vielen Etappen ihres Lebens deutsche Geschichte in ihren Brechungen gelebt gedacht und gesagt haben, nicht so präzise serviert habenden Biographie die Bundesregierung nicht die wird, wie Sie das heute gemacht haben. Gelassenheit aufgebracht hat und sagt: Das nehmen wir so hin, das ist das älteste demokratisch gewählte (Jörg van Essen [F.D.P.]: Manche sind jetzt Mitglied des Deutschen Bundestages, wir hören uns über ihre Urteile selbst erschrocken!) diese Rede gelassen an, und wir erweisen ihr den — Ja, ich bin einverstanden. Ich sage nur: Wie können gleichen Stil wie den Reden all seiner Vorgängerin- wir, wenn wir Heym als Alterspräsidenten haben, eine nen und Vorgänger. Das wäre souverän gewesen. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 759

Freimut Duve Ich fand die Haltung der Bundesregierung außeror- nehmen, was in unserer Zeitschrift, der Zeitschrift dentlich unsouverän. Sie hat etwas getan — Herr „Das Parlament", erscheint? Präsident Hirsch, auch Sie haben es seinerzeit kriti- (Freimut Duve [SPD]: Wir müssen Einfluß auf siert —, was ich für unser Parlament nicht möchte, die Bundesregierung nehmen!) nämlich zu überlegen: Wer von uns Mitgliedern ist ein Gegner, und wer ist eigentlich ein Feind? Der Feind- Wir würden uns das mit Nachdruck verbitten, zu begriff — da sind wir uns einig, das weiß ich, weil wir Recht, und sind deshalb gut beraten, uns umgekehrt nicht anders zu verhalten. uns kennen — darf nie in das Parlament. Der Feind- begriff gehört nicht in die Demokratie. Da gibt es auf Aber ich gebe Ihnen, lieber Herr Duve, in einem allen Seiten und in allen Parteien manche unter uns, recht: Es steht uns dann immer noch frei, über Stilfra- die das immer wieder lernen müssen. Herr Vogel gen — das haben Sie ja zu Recht angesprochen — — Sie können hier jetzt leider nicht dazu Stellung unterschiedlicher Meinung zu sein. nehmen —, ich glaube, daß Sie diese Entscheidung Ein weiteres Wort, das Sie, Herr Kollege Duve, längst bereuen. Aber indem Sie diese Entscheidung verwandt haben, möchte auch ich aufgreifen: „Gelas- getroffen haben, haben Sie von einer Seite, die auch senheit". Gelassenheit ist immer ein guter Ratgeber in Präsident Hirsch seinerzeit kritisiert hat, den Feind- der Politik. Ich bin sicher, daß dann, wenn man sich begriff in das Verhältnis zwischen Exekutive und dieses Ratgebers Gelassenheit bediente, heute man- Legislative hineinkriechen lassen. Denn morgen ent- ches anders entschieden würde, die Frage, ob man die scheidet in einer Frage des Stils und der Form ganz Rede abdruckt, aber vielleicht auch die Frage, ob wir jemand anders, der sich dann auf Sie und diese über diesen Punkt tatsächlich im Parlament debattie- inhaltliche Begründung beruft und sagt: Dem eine ren sollten. Plattform geben? Der beansprucht Art. 5 des Grund- Vielen Dank. gesetzes für sich? (Beifall bei der F.D.P.) Herr Vogel, das war ein Ausrutscher. Es war aber auch eine Beschädigung für unseren Staat. Ich denke, Sie sollten anders als mein Vorredner die Souveränität Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun haben zu sagen: Wir veröffentlichen das im Bulletin. das Wort dem Kollegen Gerhard Zwerenz. — Damit ist die Sache erledigt, und wir setzen ein Zeichen des Stils und der demokratischen Gelassen- (PDS): Herr Präsident! Meine heit. Die halte ich mit für das Wichtigste, was wir in Gerhard Zwerenz Damen und Herren! Ich werde die drei Minuten, die den nächsten vier Jahren brauchen. mir zustehen, nicht damit ausfüllen, daß ich die Rede Ich danke für die Aufmerksamkeit. halte, die ich halten wollte. Ich meine, daß es ange- (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE bracht wäre, daß, wenn darüber gesprochen wird, GRÜNEN, der PDS und der F.D.P.) Stefan Heym Genugtuung widerfahren zu lassen, er dazu anwesend wäre. Das halte ich für notwendig. Ich glaube ferner, daß ich so antworten müßte, daß Vizepräsident Dr. Burkard Hirsch: Ich erteile das Wort dem Kollegen Jörg van Essen. ich eine Antwort an die Adresse bestimmter Kollegen geben müßte, u. a. an den Kollegen Dregger und an den Bundeskanzler — an den Kollegen Dregger Jörg van Essen (F.D.P.): Herr Präsident! Meine deswegen, weil er ja Alterspräsident geworden wäre, Damen und Herren! Der Bundestag hat seine Beratun- wenn es Heym nicht wäre, und weil er offensichtlich gen heute mit der Debatte über Tschetschenien die Rede, die er als Alterspräsident hatte halten begonnen und tauscht sich nun über die Frage aus, ob wollen, als erste normale Rede im 13. Bundestag eine bereits mehrfach abgedruckte Rede nochmals gehalten hat. Darauf wäre einmal zu erwidern. veröffentlicht werden soll. Das zeigt die Spannbreite Ich stelle lediglich jetzt fest: Hier stehen sich zwei der Gewichtigkeit der Themen. politische Richtungen diametral gegenüber. Die Rich- Ich habe die Rede des Kollegen Heym mit großem tung, die behauptet, es hat am 8. Mai 1945 keine Interesse verfolgt. Manchem habe ich zustimmen Befreiung gegeben, ist bei Ihnen integriert. Dabei können; anderes fand ich ziemlich blauäugig. Einige finden Sie nichts; das gehört zu Ihrer Ordnung. Aber Dinge erschienen mir nicht akzeptabel. Aber auch für Sie ist es ein unfaßbarer Vorgang, wenn ein Kollegen aus meiner Fraktion haben Stefan Heym für Vertreter der großen, weit gestreuten, pluralistischen seinen Redebeitrag Beifall gezollt. War die Rede so, linken Literatur nach 1945 — gewiß ein umstrittener, daß wir uns als Parlamentarier darüber Sorge machen aber auch ein verdienstvoller Mann — wie Stef an müßten, daß sie an möglichst vielen Stellen abge- Heym hier sprechen soll. Denken Sie daran, wie Sie druckt wird? gehandelt haben, als Sie im Reichstag in Berlin wie ein (Freimut Duve [SPD]: Das ist nicht die Eisblock trotzig sitzengeblieben sind, als der Alters- Frage!) präsident eingetreten ist. — Ich komme noch darauf, Herr Kollege. (Dr. Peter Struck [SPD]: Richtig! Stimmt!) Der Bundestag hat die Zeitung „Das Parlament"; Von da an haben Sie Obstruktionspolitik gemacht. die Rede des Alterspräsidenten ist dort selbstverständ- Das finde ich nicht nur stilistisch falsch; darüber wäre lich dokumentiert. Das Bulletin erscheint in der Ver- einmal zu verhandeln. antwortung der Bundesregierung. Wie würden wir Deswegen möchte ich auch gern dem Bundeskanz- eigentlich reagieren, Herr Kollege Duve, wenn die ler eine Antwort auf sein heutiges Verhalten geben. Es Bundesregierung versuchen würde, Einfluß auf das zu ist einfach mehr als nur ungehörig, zu einem Mann 760 Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Gerhard Zwerenz wie dem Grafen von Einsiedel zu sagen: „Er hat doch Veröffentlicht werden Dokumentationen von ..." — Der Mann hat ein Recht auf seinen Namen. Er Staatsverträgen, Regierungsabkommen, Regierungs- ist nun einmal ein Abgeordneter der PDS. Die Art und erklärungen, Reden, offizielle Meldungen, Glück- Weise, wie hier mit PDSlern umgegangen wird, bestä- wünsche, Beileidskundgebungen, diplomatische tigt mich jedenfalls da rin, daß es richtig war, in Agréments und amtliche Statistiken. Also, das Bulletin meinem Alter von fast 70 Jahren in dieses Parlament ist Organ der Exekutive. Es ist deshalb nicht für die hineinzugucken, um zu sehen, was da eigentlich ist. Öffentlichkeitsarbeit anderer Verfassungsorgane zu- Ich fühle mich nun in einer absoluten, radikalen ständig. Das gilt insbesondere für Reden, die im Oppositionsrolle bestätigt; denn das, was Sie hier Bundestag gehalten werden. Dort gehaltene Reden vorführen, ist unsachlich; das ist nicht demokratisch; werden im Bulletin nur dann veröffentlicht, wenn sie das ist beschämend. Damit möchte ich schließen. als Erklärung der Bundesregierung vom Bundeskanz- Ich hoffe, daß ich die Rede, die ich jetzt nicht halten ler bzw. vom zuständigen Fachminister vorgetragen konnte, irgendwann noch halten darf. werden. Ich danke Ihnen. Seit Beginn der zweiten Legislaturperiode 1953 hat (Beifall bei der PDS sowie bei Abgeordneten sich eine gewisse Tradition entwickelt, konstitu- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ierende Sitzungen des Deutschen Bundestages aus- zugsweise im Bulletin zu dokumentieren. In der Tat sind seit einigen Jahren auch die Reden der Alters- Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile nun präsidenten der konstituierenden Sitzungen veröf- Herrn Bundesminister Bohl das Wort. fentlicht worden. Aber z. B. bei der konstituierenden Sitzung des 5. Deutschen Bundestages 1965 ist die Rede des damaligen Alterspräsidenten Dr. Adenauer , Bundesminister für besondere Auf- lediglich mit zwei kurzen Zitaten im Bulletin wieder- gaben: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen gegeben worden. Die Rede ist keineswegs in toto und Herren! Herr Zwerenz, ich möchte zunächst publiziert worden. feststellen, daß für die moralische Erhöhung, die Sie meinen in Anspruch nehmen zu können, angesichts (Freimut Duve [SPD]: Da hätte sich die CDU der Tatsache gar keine Veranlassung besteht, daß Sie beschweren müssen!) in einer Partei sind, die sich nun einmal in der — Das hätten wir vielleicht machen können. Ich war Nachfolge der SED befindet. Sie brauchen uns keine damals gerade in die CDU/CSU eingetreten. Ich war Belehrungen dazu zu geben. seit drei Jahren Mitglied und war noch nicht so weit (Gerhard Zwerenz [PDS]: Herr Bohl, ich- bin nach vorne gedrungen. nicht in der Partei! Sie sollten sich informie Zweitens. Auf der anderen Seite — das möchte ich ren, bevor Sie reden!) mit Deutlichkeit sagen — ist die Funktion eines — Herr Zwerenz, zur Kultur gehört auch, daß man sich Alterspräsidenten ja mehr eine formale Funktion. Ich zumindest gegenseitig anhört. Ich habe Sie angehört. sage einmal nicht für die Bundesregierung, sondern Sie werden sicherlich die Geduld haben, mich eben- als Abgeordneter dieses Hauses, daß ich es mir als falls zu ertragen. präsumtiver Alterspräsident sehr wohl überlegen Ich möchte Ihnen ergänzend sagen: Bauen Sie doch würde, ob ich eine solche Funktion wahrnehmen bitte keinen Popanz auf! Der Bundeskanzler hat von würde, wenn im Hause erkennbar so viel Widerspruch dem Herrn Vorredner gesprochen und hat dann „der gegen meine Person, gegen meine Politik, gegen Vorredner" gesagt und hat „er" wiederholt. Daher meine Alterspräsidentschaft bestehen würde. Ich brauchen Sie sich nicht hier hinzustellen und einen würde das — ich rede von mir — mit Sicherheit nicht Popanz aufzubauen, als würde der Bundeskanzler die tun. Es muß nicht jeder Beifall klatschen; aber es muß Menschenwürde eines Mitgliedes dieses Hauses nicht für mein Empfinden eine gewisse allgemeine Zustim- beachten. Ich muß ganz ehrlich sagen: Das ist das mung, ein Common sense, dafür da sein. Ich sage das typische Verhalten, das die Mitglieder der PDS seit als meine persönliche Meinung. Das ist nicht die vier Jahren hier an den Tag legen. Wir werden das Meinung der Bundesregierung. jedenfalls nicht mitmachen. Richtig ist, daß Stefan Heym — ich muß zugeben, Für die Bundesregierung ist folgendes zu sagen: daß mich das schon überrascht hat — laut ARD- Erstens. Das Bulletin erscheint seit dem 27. Oktober Sendung „Report" vom 21. November 1994 z. B. 1988 1951 zur Unterrichtung der Öffentlichkeit über die gesagt hat: Tätigkeit der Bundesregierung. Herr Kollege Duve, es Honecker ist ein Mensch, der sich verändert, der ist nicht so, daß die Bundesregierung auf Grund der sucht. Glauben Sie bitte nicht, daß er geistig Tatsache, daß sie der Kontrolle des Bundestages erstarrt oder verkalkt ist. unterliegt, verpflichtet wäre, das zu publizieren, was der Bundestag wünscht. 1989 meinte Stefan Heym: (Freimut Duve [SPD]: Wir sind aber berech Viele von den jungen Leuten in Ungarn und tigt, es zu kritisieren!) Österreich, die da jetzt jeden Abend samt ihrer — Aber selbstverständlich können Sie Ihre Meinung Fluchtstory im Westfernsehen gezeigt werden, äußern; das ist doch klar. Aber daraus ergibt sich keine sind im Grunde genommen Spießbürger. Ihre Verpflichtung der Bundesregierung, dem zu folgen, Vorstellungen von Demokratie: „primitiv". was der Bundestag oder einzelne Abgeordnete kriti- Meine Damen und Herren, daß der zuständige Chef sieren. des Bundespresse- und Informationsamtes vor einem Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 761

Bundesminister Friedrich Bohl solchen Hintergrund und weil auch keine rechtlichen Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Interfraktionell Verpflichtungen bestehen, die allergrößten Schwierig- wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 13/97 keiten hat, eine solche Rede zu publizieren und zu zur federführenden Beratung an den Ältestenrat und dokumentieren, ist, glaube ich, mehr als nachvollzieh- zur Mitberatung an den Ausschuß für Wahlprüfung, bar. Deshalb hat die Bundesregierung die Entschei- Immunität und Geschäftsordnung vorgeschlagen. — dung des Regierungssprechers und Chef des Presse- Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist die und Informationsamtes der Bundesregierung mitgetra- Überweisung so beschlossen. gen. Es handelt sich jetzt um den Antrag einer Fraktion Ich möchte mir zum Abschluß, da wir hier in einem dieses Hauses. Wir haben die Stellungnahmen der relativ kleinen Kreis zusammen sind, die Bemerkung Fraktion gehört. Der Bundesregierung liegt mit Sicher- erlauben, daß eine Entscheidung in innerer Souverä- heit nicht am Herzen, daß dieser Vorgang der PDS in nität getroffen werden möge, die uns eine weitere irgendeiner Weise die Chance gibt, sich selbst sozusa- parlamentarische Behandlung dieses Vorgangs er- gen eine Märtyrerrolle zu schaffen. Wir werden deshalb spart. die Beratungen im Ausschuß abwarten, dort noch ein- mal unsere Position darlegen und auch gerne erfragen, (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE was die Fraktionen dazu im einzelnen meinen. GRÜNEN und der PDS)

Wir haben jedenfalls nicht die Absicht, diesen Vor- Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tages- gang als Instrument der PDS benutzt sehen zu wollen, ordnung. ihrem politischen Anliegen in irgendeiner Weise Vor- schub zu leisten. Wir werden den Vorgang nach den Beratungen in den Ausschüssen innerhalb der Bundes- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf morgen, Freitag, den 20. Januar 1995, regierung und der Koalition noch einmal bewe rten. 9 Uhr ein. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Die Sitzung ist geschlossen. Freimut Duve [SPD]: Das hört sich doch sehr gut an, Herr Bohl!) (Schluß der Sitzung: 21.23 Uhr)

Deutscher Bundestag - 13. Wahlperiode - 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 763*

Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 Verstärkung der humanitären Hilfe für Bosnien ein. Dieser Ansatz hat sich bewährt. Die Vereinbarung der Liste der entschuldigten Abgeordneten Parteien über die vollständige Einstellung der Feind- seligkeiten vom 31. Dezember 1994 sieht u. a. wesent- entschuldigt bis Abgeordnete(r) liche Erleichterungen im humanitären Bereich vor, einschließlich wie die volle Bewegungsfreiheit für UNHCR und die Öffnung der Zufahrtswege nach Sarajewo. Obwohl Beucher, Friedhelm SPD 19. 01. 95 das Waffenstillstandsabkommen noch nicht vollstän- Julius dig implementiert ist, hat es bereits zu ersten Verbes- 19. 01. 95 Borchert, Jochen CDU/CSU serungen im humanitären Bereich geführt: der musli- Braun (Auerbach), Rudolf CDU/CSU 19. 01. 95 mische Ort Cazin innerhalb der Bihac-Tasche ist im Gröbl, Wolfgang CDU/CSU 19. 01. 95 Auftrag der UNHCR von fünf Konvois erreicht worden Häfner, Gerald BÜNDNIS 19. 01. 95 (zuletzt am 27. Dezember 1994, 4. und 11. Januar 90/DIE 1995); ein IKRK-Konvoi ist am 11. Januar 1995 nach GRÜNEN Bihac gelangt. Die medizinische Versorgung in Bihac Heym, Stefan PDS 19. 01. 95 ist nach Aussage des IKRK vom 11. Januar „unter Hilsberg, Stephan SPD 19. 01. 95 Kontrolle": IKRK versorgt Krankenhaus in Bihac und Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 19. 01. 95 andere Stationen regelmäßig aus seinem Vorratsla- Dr. Jacob, Willibald PDS 19. 01. 95 ger. Das Verbindungsbüro Deutsche Humanitäre Knoche, Monika BÜNDNIS 19. 01. 95 Hilfe in Zagreb hat UNHCR angeboten, ca. 120 t 90/DIE Nahrungsmittel und Hygieneartikel in die Bihac- GRÜNEN Tasche zu transportieren. Dennoch ist die humanitäre Dr. Köster-Loßack, BÜNDNIS 19. 01. 95 Lage bei weitem noch nicht befriedigend. Entgegen Angelika 90/DIE der schriftlichen Vereinbarung mit UNPROFOR, die GRÜNEN Transportwege für humanitäre Hilfe nach Sarajewo zu Kraus, Rudolf CDU/CSU 19. 01. 95 öffnen, halten die bosnischen Serben die Zufahrts- Dr. Leonhard, Elke SPD 19. 01. 95 wege für Hilfskonvois auch weiterhin geschlossen. Dr. Maleuda, Günther PDS 19. 01. 95 Wir werden uns weiter mit unseren Partnern um die Johannes Öffnung bemühen. Matthäus-Maier, Ing rid SPD 19. 01. 95 Odendahl, Doris SPD 19. 01.- 95 Ostertag, Adolf SPD 19. 01. 95 Dr. Pfaff, Martin SPD 19. 01. 95 Anlage 3 Dr. Scheer, Hermann SPD 19. 01. 95 Antwort Schoppe, Waltraud BÜNDNIS 19. 01. 95 90/DIE des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen des GRÜNEN Abgeordneten Dr. Christian Schwarz-Schilling Schumann, Ilse SPD 19. 01. 95 (CDU/CSU) (Drucksache 13/213 Fragen 13 und 14): Such, Manfred BÜNDNIS 19. 01. 95 In welcher Weise hat die Bundesregierung bisher private 90/DIE Initiativen für Bihac, insbesondere im Hinblick auf Transport, unterstützt, und welche Maßnahmen unternimmt die Bundesre GRÜNEN gierung, um den nach VN-Resolutionen garantierten freien Vergin, Siegfried SPD 19. 01. 95 Zugang nach Bihac oder zumindest die Versorgung der Zivilbe- Wallow, Hans SPD 19. 01. 95 völkerung sowie der Krankenhäuser in Bihac über erprobte Korridore oder ggf. durch Helikopter (wie bereits praktiziert) durchzusetzen? Neben welchen Maßnahmen der UNPROFOR stehen die Maßnahmen der Bundesregierung, und über welche Korridore Anlage 2 sollen die Versorgungsleistungen erfolgen? Antwort Zu Frage 13: des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen Die Bundesregierung gewährt privaten Initiativen, des Abgeordneten Freimut Duve (SPD) (Drucksache die Hilfsgüter nach Bosnien-Herzegowina und somit 13/213 Fragen 11 und 12): auch nach Bihac bringen möchten, Transportkosten- Gibt es Überlegungen der Bundesregierung, innerhalb der Europäischen Union gegenüber der Kontaktgruppe oder gegen- zuschüsse. Bundesaußenminister Kinkel hat seit Mitte über der VN sich dafür einzusetzen, daß die Verhandlungen für November 1994 wiederholt an die Konfliktparteien Frieden in Bosnien-Herzegowina mit Garantien für die Durch- appelliert, humanitäre Hilfstransporte für Bihac pas- setzung humanitärer Hilfe verknüpft werden? sieren zu lassen. Er hat ebenfalls bereits im November Warum sind bisher Verhandlungen über einen Waffenstill- 1994 in Gesprächen mit der bosnischen Regierung, stand nicht gekoppelt worden an Zusicherungen für die Gewährleistung humanitärer Hilfe? dem Bürgermeister von Bihac, VN-Generalsekretär Boutros-Ghali und NATO-Generalsekretär Claes Die Bundesregierung setzt sich gemeinsam mit Möglichkeiten geprüft, der Bevölkerung Hilfe zukom- ihren Partnern in der Kontaktgruppe, der EU und im men zu lassen. Im Ergebnis bestand Übereinstim- Sicherheitsrat der Vereinten Nationen für eine Stär- mung, daß nur eine tragfähige politische Lösung eine kung des Waffenstillstands und gleichzeitig für eine gesicherte Versorgung ermöglicht. Die andauernde 764* Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Weigerung der krajinaserbischen Seite, Hilfstrans- der Verlängerung der Sanktionssuspendierung um porte durchzulassen, zeigt dies deutlich. 100 Tage zugestimmt, weil die in Resolution 970 dafür Trotz allem ist es gelungen, seit Mitte Dezember aufgestellten Voraussetzungen vorlagen. Die russi- 4 Hilfstransporte mit insgesamt 415 Tonnen Hilfsgü- sche Enthaltung lag darin begründet, daß in der tern in die Bihac-Region durchzubringen. Resolution nochmals ausdrücklich bekräftigt wird, daß auch Transporte nicht-humanitärer Güter in die VN-Schutzgebiete in Kroatien der ausdrücklichen Zu Frage 14: Genehmigung der kroatischen Regierung bedürfen. Im Rahmen der Kontaktgruppe bemüht sich die Nach dem Bericht der an der serbisch-bosnischen Bundesregierung darum, die politischen Vorausset- Grenze stationierten ICFY-Mission vom 4. Januar zungen für den freien Zugang der humanitären Hilfe 1995 an den Generalsekretär der Vereinten Nationen zu schaffen. Bei Gesprächen in Zagreb, Pale, Sarajewo hält die Regierung der „Bundesrepublik Jugosla- und Belgrad in der vorigen Woche wurde die vollstän- wien" (Serbien/Montenegro) weiterhin ihre Ver- dige Einhaltung des Waffenstillstandes, einschließlich pflichtung ein, die Grenze zwischen der „Bundesre- der Vereinbarungen über die Öffnung der Versor- publik Jugoslawien" (Serbien/Montenegro) und den gungswege gefordert. bosnisch-serbisch kontrollierten Gebieten von Bos- nien-Herzegowina zu schließen. Die Bundesregierung, die der European Commu- nity Task Force (ECTF) 30 Lkws und einen Tanklast- zug zur Verfügung gestellt hat und den „Deutschen Konvoi" in Opuzen unterstützt, nutzt ausschließlich die von UNHCR und UNPROFOR freigehaltenen Anlage 5 Zufahrtswege. Eigene Möglichkeiten der Schaffung Antwort zusätzlicher Korridore werden nicht gesehen, da die Konvois nur als Einrichtung des UNHCR und unter des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage dem Schutz der UNPROFOR operieren können. des Abgeordneten Ottmar Schreiner (SPD) (Drucksa- che 13/213 Frage 34): Wer soll nach den Vorstellungen der Bundesregierung die Pflegebedürftigkeit von Beihilfeberechtigten zukünftig feststel- len, der Medizinische Dienst oder der Amts- bzw. Vertrauens- Anlage 4 arzt? Antwort Im Beihilferecht des Bundes wird für die Zuordnung des Staatsministers Helmut Schäfer auf die Fragen der zur jeweiligen Stufe der Pflegebedürftigkeit das Gut- Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen) (BÜND- achten der sozialen oder privaten Pflegeversicherung NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 12/213 Fragen 15 maßgeblich sein; dies ist deshalb sinnvoll, weil die und 16): Zuordnung zu einer Pflegestufe nur einheitlich für Welche Pläne hat die Bundesregierung in bezug auf den Versicherung und Beihilfe erfolgen kann. Deutschen Konvoi in Notgebiete Bosnien-Herzegowinas, und kann der Deutsche Konvoi seine Arbeit auch 1995 fortsetzen? Weshalb stimmt die Bundesregierung der Verlängerung der Lockerung des Embargos gegenüber Restjugoslawien im VN- Sicherheitsrat zu, obwohl VN-Vertreter bezeugen, daß in Bihac Anlage 6 Einheiten der regulären Armee Serbiens auf seiten der Angreifer kämpfen und obwohl der US-Geheimdienst Erkenntnisse dar- Antwort über hat, daß das Embargo Serbiens gegenüber den bosnischen Serben nicht eingehalten wird? des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Fra- gen der Abgeordneten Ulrike Mascher (SPD) (Druck- sache 13/213 Fragen 35 und 36): Zu Frage 15: Beabsichtigt der Bundesminister des Innern die Tages- und Der „Deutsche Konvoi" wird zunächst bis Ende Kurzzeitpflege im Beihilferecht zukünftig in gleicher Weise zu März 1995 in unveränderter Weise den Nichtregie- regeln wie im Pflegeversicherungsgesetz, so daß eine Leistungs- rungsorganisationen und privaten Initiativen zur Ver- obergrenze von 2 800 DM eingeführt wird? fügung stehen. Die Bundesregierung wird sich darum Wie werden die Beihilfevorschriften für bereits jetzt pflegebe- dürftige Beamte ausgestaltet, bleibt es beim bisherigen Beihil- bemühen, auch danach diesen Initiativen Transport- ferecht, oder wird das angepaßte Beihilferecht zur Anwendung möglichkeiten anzubieten, damit die Hilfsgüter zu kommen? den notleidenden Menschen gebracht werden kön- nen. Das Auswärtige Amt wird zu gegebener Zeit mit Zu Frage 35: dem UNHCR und dem Amt der Europäischen Gemeinschaft für Humanitäre Hilfe (ECHO) Kontakt Mit Ihrer Frage, wie der Bereich der sog. Tages- und aufnehmen, um in Zusammenarbeit mit diesen Stellen Kurzzeitpflege im Beihilferecht geregelt wird und ob eine Versorgung der bosnischen Bevölkerung sicher- insoweit eine Leistungsobergrenze von 2 800 DM zustellen, falls dies nicht auf kommerziellem Weg eingeführt wird, sprechen Sie Sachbereiche des § 41 möglich sein sollte. und § 42 SGB XI an. In den geänderten Beihilfevor- schriften des Bundes wird der Bereich der Tages- pflege geregelt. Insoweit gelten dieselben Vorgaben Zu Frage 16: wie bei häuslicher Pflege; das heißt, die Beihilfelei- Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat mit stungen werden entsprechend dem Grad der Pflege- dem sehr eindeutigen Ergebnis von 14 Ja-Stimmen bedürftigkeit limitiert. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 765*

Für die Kurzzeitpflege wird in Zusammenarbeit der Entscheidungsspielraum zu. Die Beitragskalkulatio- für das Beihilferecht ihrer Landesbeamten verant- nen der privaten Pflegeversicherungen werden von wortlichen Länder eine Umsetzung in Anlehnung an dem Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen das SGB XI angestrebt. geprüft. Mir ist nicht bekannt, daß das Amt der Tarifgestaltung widersprochen hätte. Zu Frage 36: Das zum 1. April 1995 in Kraft tretende neue Beihilferecht gilt in gleicher Weise für bereits jetzt pflegebedürftige Beamte wie auch für künftige Pfle- Anlage 9 gefälle. Das bedeutet für Fälle der häuslichen Pflege- Antwort bedürftigkeit im wesentlichen: des Parl. Staatssekretärs Dr. Kurt Faltlhauser auf die — Entweder Beihilfe zu den Kosten einer Berufspfle- Frage des Abgeordneten Friedrich Merz (CDU/CSU) gekraft entsprechend der Zahl von beihilfefähigen (Drucksache 13/213 Frage 41): Einsätzen, also 30, 60 oder 90, je nach Stufe der Welche Rechtsauffassung vertritt die Bundesregierung in Pflegebedürftigkeit; bezug auf die geltend gemachten Ansprüche der Stadt Arnsberg auf Rückübertragung des bis zum Sommer 1994 von den — oder eine anteilige Pauschalbeihilfe zu 400, 800, belgischen Streitkräften genutzten Geländes der Jägerkaserne, 1 300 DM, wenn der pflegebedürftige Beamte und ist die Bundesregierung bereit, mit der Stadt Arnsberg und seine notwendige Pflege und hauswirtschaftliche anderen, in ähnlicher Weise betroffenen Gemeinden kurzfristig Versorgung in geeigneter Weise durch sog. Pflege- eine außergerichtliche Einigung über die Rückübertragung zu personen selbst sicherstellt. Diese Regelung ent- erzielen? spricht im Kassenbereich dem System der Zahlung von Pflegegeld (§ 37 SGB XI). Im Zusammenhang mit der Freigabe ehemals mili- tärisch genutzter Liegenschaften haben verschiedene Für Fälle eines stationären Pflegebedarfs gilt das Kommunen — so auch Arnsberg — Ansprüche gegen bisherige Beihilferecht bis zum 30. Juni 1996 wei- den Bund auf unentgeltliche Rückgabe erhoben. ter. Begründet werden diese Ansprüche damit, daß die Kommunen diese Liegenschaften dem Deutschen Reich aufgrund von Garnisonsverträgen unentgeltlich übereignet hatten und ein dauerhafter Bedarf des Anlage 7 Bundes nach Freigabe durch die Streitkräfte nicht Antwort bestehe. des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage Der Bund vertritt die Ansicht, diese Ansprüche seien des Abgeordneten Wilhelm Schmidt (Salzgitter) unbegründet. (SPD) (Drucksache 13/213 Frage 37): Er ist deshalb nicht bereit, mit der Stadt Arnsberg Treffen Informationen zu, nach denen in einem angepaßten oder anderen in ähnlicher Weise betroffenen Kommu- Beihilferecht die sogenannten „Hotelkosten", d. h. die Kosten nen eine außergerichtliche Einigung zu treffen. für Unterkunft und Verpflegung bei stationärer Unterbringung für die Berechtigten ganz oder teilweise beihilfefähig bleiben?

Über Art und Umfang der Beihilfeänderung der stätionären Pflege wird in der noch anstehenden Anlage 10 zweiten Stufe entschieden. Dazu werden Gespräche Antwort zwischen dem Bundesministerium für Arbeit und des Parl. Staatssekretärs Dr. Kurt Faltlhauser auf die Sozialordnung und dem Bundesministerium des Frage des Abgeordneten Dr. Helmut Lippelt (BÜND- Innern und in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe statt- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 13/213 finden. Frage 42): Nachdem die USA, Frankreich, Finnland und die Schweiz zwischen 1991 und 1993 von der bei der Umschuldung der polnischen Schulden durch den Pariser Club 1991 eingeräumten Anlage 8 Möglichkeit der ECO-Conversion (debt for environment swap) Gebrauch gemacht haben, frage ich die Bundesregierung, wie Antwort hoch wäre die den zur Konversion eingeräumten 10 % entspre- chende Summe im Fall der Bundesrepublik Deutschland, und des Parl. Staatssekretärs Eduard Lintner auf die Frage warum hat gerade die Bundesregierung sich noch zu keinem des Abgeordneten Karl - Hermann Haack (Extertal) solchen Vertrag entschlossen? (SPD) (Drucksache 13/213 Frage 38): Falls Informationen zutreffen, nach denen die private Versi- Polen hat für Schuldenumwandlungen über die cherungswirtschaft Beamten einen bis zu 17 %igen Rabatt auf Vereinbarungen des Pariser Clubs hinaus die ihre Pflegeversicherungsprämien einräumen will, kann die Bun- Umwandlung in Finanzierungsbeteiligungen an ei- desregierung angeben, wie die Versicherungsunternehmen dies begründen, und hält sie dies für angemessen? nem polnischen Ökofonds vorgeschlagen, der insbe- sondere grenzüberschreitende Umweltprojekte (z. B. Die Beitragskalkulation der Pflegebeiträge für ihre Ostseereinhaltung) finanzieren soll. Mitglieder ist Sache der privaten Versicherungswirt- Die Frage einer Beteiligung an diesem Fonds ist von schaft. Innerhalb des durch § 110 SGB XI vorgegebe- der Bundesregierung wiederholt eingehend geprüft nen gesetzlichen Rahmens steht ihnen ein gewisser und abgelehnt worden. Denn für Umweltprojekte 766* Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

stehen grundsätzlich bereits Mittel aus Erlaßmaßnah- Gilt der Erhalt von Pflegegeldleistungen, die im Rahmen der men zugunsten Polens zur Verfügung. Die Bundesre- Pflegeversicherung ab 1. April 1995 an Pflegebedürftige bzw. an pflegende Personen gezahlt werden, als Bezug eines Einkom- gierung hat nämlich 1990 den „Jumbo-Kredit" (KfW- mens im Sinne des Einkommensteuergesetzes, das vom Pflege- Kredit von 1975, insgesamt 1,3 Mrd. DM) teils erlas- bedürftigen bzw. von der pflegenden Person versteuert werden sen, teils in Zloty umgewandelt; das entspricht etwa 12 muß? Prozent aller westdeutschen Forderungen. Die Zloty Wird häuslichen Pflegekräften die Übernahme von Renten- Beträge im Gegenwert von rd. 570 Mio. DM fließen und Unfallversicherungsbeiträgen durch die Pflegeversiche- einer „Stiftung für deutsch-polnische Zusammenar- rung im Rahmen der ab 1. April 1995 gewährten Leistungen als geldwerter Vorteil im Sinne des Einkommensteuergesetzes beit" zu, die damit u. a. auch „Umweltprojekte" in angerechnet? Polen fördert. Außerdem ist Deutschland als größter Gläubiger Zu Frage 44: Polens am stärksten durch die Gesamtregelung der Anspruch auf Pflegegeld nach dem Pflege-Versi- polnischen Altschulden belastet. Die darin einbezoge- nen polnischen Schulden von insgesamt 9,1 Mrd. DM cherungsgesetz hat nur der Pflegebedürftige. Nur er werden danach bereits zu 50 Prozent (rd. 4,5 Mrd. DM) erhält Leistungen aus der Pflegeversicherung. Lei- erlassen; der Rest ist in Raten bis zum Jahr 2009 stungen aus einer Pflegeversicherung an Bedürftige zurückzahlbar. sind nach § 3 Nr. 1 Buchstabe a Einkommensteuerge- setz steuerfrei. Der Einsatz von 10 Prozent der einbezogenen bun- desdeutschen Forderungen für Schuldenumwandlun- Zu Frage 45: gen ergäbe einen Betrag von 580 Mio. DM. Für häusliche Pflegekräfte zahlt die Pflegeversiche- rung keine Beiträge zur Unfallversicherung. Diese Personen sind — wie z. B. ehrenamtlich tätige Perso- nen — beitragsfrei unfallversichert. Die Frage eines Anlage 11 geldwerten Vorteils stellt sich somit nicht. Antwort Für nicht erwerbsmäßig tätige häusliche Pflegeper- sonen im Sinne des § 19 des XI Buches des Sozialge- des Parl. Staatssekretärs Dr. Kurt Faltlhauser auf die setzbuches zahlt die Pflegeversicherung Beiträge zur Frage des Abgeordneten Manfred Kolbe (CDU/CSU) Rentenversicherung. Diese Zahlungen sind als Lei- (Drucksache 13/213 Frage 43): stungen aus einer Pflegeversicherung nach § 3 Num- In welcher Höhe hat die ehemalige Präsidentin der Treuhand- mer 1 Buchstabe a Einkommensteuergesetz steuer- anstalt Birgit Breuel aufgrund ihrer dortigen Tätigkeit- Versor- frei. gungsansprüche erworben?

Bei großen und mittelgroßen Kapitalgesellschaften besteht nach § 285 Nr. 9 HGB die Pflicht, die Gesamt- bezüge des Geschäftsführungsorgans im Anhang zur Anlage 13 jährlichen Bilanz bekanntzugeben. Einzelgehälter Antwort sind unter Beachtung des Persönlichkeitsrechts des des Parl. Staatssekretärs Dr. Kurt Faltlhauser auf die einzelnen Vorstandsmitglieds vertraulich; sie unter- Fragen des Abgeordneten Gernot Erler (SPD) (Druck- liegen dem Recht auf informationelle Selbstbestim- sache 13/213 Fragen 46 und 47): mung. Dieses Recht gilt selbstverständlich auch für Frau Breuel. Personenbezogene Daten dürfen allen- Aus welchen Gründen erwägt das Bundesministerium der Finanzen eine Zusammenlegung der Hauptzollämter Freiburg falls — unter Wahrung der Vertraulichkeit — bekannt- und Kehl, obwohl die Oberfinanzdirektion Freiburg gewichtige gegeben und verwendet werden, wenn dies im öffent- sachliche Argumente für eine Zusammenlegung am Standort lichen Interesse erforderlich ist; hierbei ist der Grund- Freiburg vorgetragen hat? satz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Dieser Welche Bundesbehörden und Bundesdienststellen bzw. Teile Grundsatz ist verletzt, wenn über die Bekanntgabe von ihnen, einschließlich solcher der Deutschen Bundesbahn der Gesamtbezüge des Vorstandes der Treuhandan- und der Deutschen Bundespost, sind zwischen 1980 und 1995 aus der Stadt Freiburg i. Br. abgezogen worden, und wie viele stalt hinaus auch Angaben zu Einzelgehältern oder Arbeitsplätze waren davon be troffen? Gehaltsbestandteilen, wie z. B. den Versorgungsbe- zügen, gemacht würden. Solche Angaben sind des- halb auch gegenüber dem Haushaltsausschuß ver- Zu Frage 46: weigert worden. Bitte haben Sie Verständnis dafür, Bei der Standortentscheidung sind neben den Aus- daß ich deshalb Ihre Frage nicht beantworten kann. wirkungen für die Bürger und die Wirtschaft auch strukturpolitische Überlegungen hinsichtlich der Prä- senz an Bundesbehörden zu berücksichtigen. Da Kehl dabei gegenüber Freiburg erhebliche Defizite auf- weist, hat sich das Bundesfinanzministerium für den Anlage 12 Standort Kehl ausgesprochen. Die von der Oberfi- Antwort nanzdirektion Freiburg zu einem früheren Zeitpunkt für den Standort Freiburg vorgetragenen Argumente des Parl. Staatssekretärs Dr. Kurt Faltlhauser auf die betreffen überwiegend verwaltungsinterne Regelun- Fragen des Abgeordneten Otto Reschke (SPD) gen und Zuständigkeiten und sind insgesamt nicht (Drucksache 13/213 Fragen 44 und 45): zwingend. Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 767*

Zu Frage 47: In welcher Form und zu welchem Zeitpunkt gedenkt die Bundesregierung, die Zustimmung des Deutschen Bundestages Im Bereich des Bundesfinanzministeriums und des zur dritten Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungs- Bundesministeriums des Innern sind keine Behörden union einzuholen? aus der Stadt Freiburg abgezogen worden. Nach meiner Kenntnis wurden von 1980 bis 1995 Die Notwendigkeit eines „zustimmenden Votums das Verteidigungskreiskommando 533 aufgelöst und des Deutschen Bundestages" vor dem Übergang zur das militärgeschichtliche Forschungsamt nach Pots- 3. Stufe der Währungsunion ist Gegenstand der Ent- dam verlegt. Von diesen Veränderungen sowie der schließung des Deutschen Bundestages vom 2. De- Umstellung der Standortfernmeldeanlage auf neue zember 1992 gewesen. In dieser Sitzung hat Bundes- Technik waren insgesamt 109 Arbeitsplätze betrof- finanzminister Dr. bereits erklärt, daß fen. sich die Bundesregierung vor dem Eintritt in die Im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums Währungsunion „der Rückendeckung der gesetzge- benden Gremien versichern" wird. Auf der Tagung für Post und Telekommunikation wurden die Paket- umschlagstelle des Postamtes (V) Freiburg sowie des Rates der EU-Wirtschafts- und Finanzminister am 5 Postämter geschlossen; hierdurch sind rd. 100 Ar- 25. Oktober 1993 hat die Bundesregierung darüber hinaus erklärt, daß sie die Voten des Deutschen beitsplätze entfallen. Bundestages und des Bundesrates im Rahmen des Das Bundesministerium für Verkehr hat die Wasser- verfassungsrechtlich erforderlichen Zusammenwir- und Schiffahrtsdirektion mit Wirkung vom 1. Januar kens von Bundesregierung und Parlamentarischen 1976 aufgelöst; dann bis 1. Januar 1990 in eine Körperschaften sowie im Rahmen des Vertrages über Außenstelle der Wasser- und Schiffahrtsdirektion die Europäische Union beachten wird. Hieran wird Südwest in umgewandelt und schließlich festgehalten. Die Bundesregierung sieht derzeit keine danach als Landesaufgabe auf das Land Baden Notwendigkeit über Form und Zeitpunkt des einzu- Württemberg zurückübertragen. schlagenden Verfahrens zu diskutieren. Weiterhin sind im Verkehrsbereich in Freiburg entfallen: — Generalvertretung Güterverkehr — Generalvertretung Personenverkehr Anlage 15 — Betriebsamt Antwort — Maschinenamt - des Parl. Staatssekretärs Dr. Heinrich L. Kolb auf die — Kraftverkehrsbetriebswerk Fragen des Abgeordneten Dr. Jürgen Meyer (Ulm) — Bahnmeisterei (SPD) (Drucksache 13/213 Fragen 49 und 50): — Hochbaumeisterei Wie lautet die Stellungnahme der Bundesregierung zur geplanten Übernahme der Ulmer Firma Karl Kässbohrer GmbH — Nachrichtenmeisterei durch die Mercedes Benz AG gegenüber der EU-Kommission — Betriebswagenwerk (Fusionsfall IV/M. 477)? Was wird die Bundesregierung künftig dafür tun, daß das — Dienststelle Hauptbahnhof Fusionskontrollverfahren der Kommission beschleunigt durch- — Bezirkskasse geführt und die Arbeitsplätze bei Kässbohrer erhalten wer- den? — Ausbildungswerkstatt des Bahnbetriebswerkes — Privatisierung des Kombi-Ladungsverkehrs Zu Frage 49: Neu eingerichtet wurden im Rahmen der Privatisie- Die Europäische Kommission hat in der Sitzung des rung: Beratenden Ausschusses am 9. Januar 1995 eine erste — Niederlassung Fernverkehr Anhörung der Mitgliedstaaten zu dem Fusionsvorha- ben Mercedes Benz/Kässbohrer durchgeführt. Ent- — Niederlassung Nahverkehr sprechend der Aufgabenteilung und der bewährten — Niederlassung Personenbahnhof Praxis obliegt es in Deutschland allein dem Bundes- — Regionalbereich Ladungsverkehr kartellamt, zur wettbewerbsrechtlichen Beurteilung von Einzelfällen im Beratenden Ausschuß Stellung zu — Zweigniederlassung Bahnbau und Hochbau nehmen. Auf der Grundlage der Vorschriften in der Nähere Angaben zu den personellen Gesamtaus- Europäischen Fusionskontrollverordnung hat sich das wirkungen dieser Maßnahmen waren in der Kürze der Bundeskartellamt, ebenso wie die ganz überwie- Zeit nicht möglich. gende Mehrheit der anderen Mitgliedstaaten, kritisch zu dem Entwurf der Kommission für eine Freistellung der Fusion geäußert. Diese Stellungnahme entspricht der Rechtslage, wonach im europäischen Fusionskon- Anlage 14 trollverfahren allein wettbewerbsrechtliche, und nicht regionalpolitische oder sonstige Arbeitsplatzgesichts- Antwort punkte, maßgeblich sind. Das Bundeswirtschaftsmi- des Parl. Staatssekretärs Dr. Kurt Faltlhauser auf die nisterium hat keine Stellungnahme gegenüber der Frage des Abgeordneten Jürgen Augustinowitz Kommission abgegeben, weil dies, wie bereits ausge- (CDU/CSU) (Drucksache 13/213 Frage 48): führt, nicht zu seinen Aufgaben gehört. 768* Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Zu Frage 50: Eine Konsultation der NGOs zu deren fachlichen Beiträgen auch zu spezifischen Beratungsgegenstän- Die Bundesregierung hat sich bereits sehr frühzeitig den in der WTO ist durch das vorgesehene Verfahren gegenüber der Kommission für eine möglichst kurzfri- stets gewährleistet. Den NGOs steht es zudem frei, stige Entscheidung eingesetzt, damit die Unsicherheit sich mit fachlichen Beiträgen auch an die Regierung für die Arbeitsplätze bei Kässbohrer so rasch wie im jeweiligen Sitzland zu wenden und die Konsulta- möglich beendet wird. Die Kommission hat zunächst tion hierüber zu suchen. ein abgekürztes Verfahren durchgeführt und damit den finanziellen Schwierigkeiten von Kässbohrer Die WTO kann und wird im übrigen verständlicher- Rechnung getragen. Die endgültige Entscheidung der weise das von ihr vorgesehene Konsultationsverfah- Kommission muß nach der europäischen Fusionskon- ren nicht von Kosten der Tätigkeit von NGOs abhän- trollverordnung bis zum 27. Februar 1995 erfolgen. gig machen. Es ist auch nicht erkennbar, daß den Die Bundesregierung wird auch weiterhin, soweit ihr NGOs durch das vorgesehene Verfahren höhere dies möglich ist, darauf hinwirken, daß die Kommis- Kosten entstehen. sion eine Entscheidung trifft, mit der die Arbeitsplätze bei Kässbohrer erhalten werden.

Anlage 17 Antwort Anlage 16 des Parl. Staatssekretärs Dr. Heinrich L. Kolb auf die Antwort Frage des Abgeordneten Winfried Nachtwei (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (Drucksache 13/213 des Parl. Staatssekretärs Dr. Hein rich L. Kolb auf die Frage 52): Frage der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard (SPD) (Drucksache 13/213 Frage 51): Besteht nach Kenntnis der Bundesregierung zwischen den Firmenspenden an die F.D.P., der Erteilung von Exportgeneh- Welchen Standpunkt hat die Bundesregierung angesichts der migungen für bestimmte (Rüstungs-)Geschäfte und aus neueren Tatsache, daß Artikel 5 Abs. 2 des Übereinkommens zur Errich- Erkenntnissen bzgl. des Mordes am damaligen F.D.P.-Schatz- tung der Welthandelsorganisation (WTO) zwar feststellt, der meister, Heinz-Herbert Karry, ein Zusammenhang, wenn ja, Allgemeine Rat könne geeignete Vorkehrungen für Konsultatio- welcher? nen und Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) treffen, aber beabsichtigt ist, diese — wie im Rahmen des GATT — nur außerhalb der Tagesordnungen einzuladen, Nein. gegenüber einem Antrag der Vereinten Nationen eingenom- Ausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgeschäfte men, der die Zusammenarbeit der WTO mit NGOs verbessern soll, und ist die Bundesregierung sich bewußt, daß Konsultatio- werden allein auf der Grundlage der einschlägigen nen mit NGOs außerhalb der Tagesordnungen bei erheblichem gesetzlichen Vorschriften des Gesetzes über die Kon- Kostenaufwand für die NGOs fachliche Beiträge der NGOs zu trolle von Kriegswaffen (KWKG) und des Außenwirt- spezifischen Beratungsgegenständen nicht ermöglichen? schaftsgesetzes (AWG) in Verbindung mit der Außen- wirtschaftsverordnung (AWV) erteilt. Artikel V des Abkommens über die Welthandelsor- ganisation (WTO) unterscheidet zwischen der Zusam- menarbeit mit Regierungs- und Nichtregierungsorga- nisationen. Anlage 18 Daher sieht Art. V Abs. 2 des WTO-Abkommens vor, Antwort daß geeignete Vorkehrungen für Konsultation und Zusammenarbeit mit NGOs getroffen werden, die sich der Parl. Staatssekretärin Michaela Geiger auf die mit WTO-Angelegenheiten befassen. Im Vorberei- Frage des Abgeordneten Ludwig Stiegler (SPD) tungsausschuß für die WTO waren die Signatarstaa- (Drucksache 13/213 Frage 57): ten der Uruguay-Runde in ihrer weit überwiegenden Treffen Informationen zu, nach denen die Bundesregierung Mehrheit der Auffassung, daß Information und Kon- plant, das deutsche Verbindungskommando auf dem Truppen- sultation der NGOs außerhalb des Allgemeinen Rates übungsplatz Grafenwöhr aufzulösen, und wird sie bei allen künftigen Planungen berücksichtigen, daß durch den Abbau der WTO der geeignete Weg gemäß Art. V Abs. 2 sei. von Arbeitsplätzen beim Verbindungskommando Grafenwöhr In der EU wurde diese Haltung von der KOM und allen in dieser Region bereits ein überproportionaler Verlust an EU-Mitgliedsländern unterstützt. Diese Haltung be- Arbeitsplätzen durch den Abzug der US-Streitkräfte zu verkraf- ruht auf dem einmütigen Verständnis aller Teilhaber ten ist? der Uruguay-Runde, daß die Vereinbarungen im Rahmen der WTO ebenso wie zuvor im GATT unter Die Bundesrepublik Deutschland hat den Truppen- Staaten/Regierungen getroffen sind. Die Zusammen- übungsplatz Grafenwöhr dem US-Heer gemäß Arti- arbeit im Allgemeinen Rat der WTO als einem beson- kel 48 Abs. 2 des Zusatzabkommens zum NATO- ders wichtigen Organ der WTO sollte deshalb den Truppenstatut zur ausschließlichen Nutzung überlas- Regierungen und Regierungsorganisationen vorbe- sen. Die Bundeswehr kann den Truppenübungsplatz halten bleiben. Grafenwöhr an 30 Tagen jährlich mitnutzen. Deshalb - In bestimmten Fragen, z. B. Handel und Umwelt, ist wird nach derzeitigen Planungen das Verbindungs dagegen eine ad hoc-Anhörung von NGOs durch die und Truppenübungsplatzkommando Grafenwöhr jeweiligen Fachausschüsse möglich und bereits auch nicht aufgelöst. schon erfolgt. Hier können NGOs ihre Expertise Der allgemeine Zwang, Betriebskosten zu senken, einbringen. erfordert allerdings, daß bei natürlicher Personalfluk- Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 769* tuation in jedem Einzelfall zu prüfen ist, ob die schaftspflege Freiburg dahingehend, daß sowohl der Personalausstattung noch den vorgegebenen Aufga- Standortübungsplatz Müllheim als auch die für ben entspricht. Von 105 Dienstposten sind derzeit 90 Übungszwecke vorgesehene Fläche des ehemaligen besetzt. Flugplatzes Bremgarten ökologisch wertvolle Be- Wie bisher, werden auch künftig in die für die standteile enthalten. Die Aussage, eine der beiden Stationierung und sonstigen organisatorischen Maß- Flächen sei als Übungsplatz besser geeignet, ist schon nahmen erforderlichen Entscheidungsprozesse neben deswegen nicht nachvollziehbar, weil die Nutzungs- dem Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit absichten für die benötigte Fläche in Bremgarten zum sowie den Belangen der Bundeswehr auch die zivilen, Zeitpunkt der Gutachtenerstellung noch nicht in insbesondere raumordnerischen und sozialen Interes- vollem Umfang bekannt waren. Außerdem hat die sen einbezogen. Derzeit liegen solche Entscheidun- Bundeswehr nicht die Alternative, eine der beiden gen nicht an. Flächen zu nutzen; vielmehr sollen beide Flächen in Müllheim und in Bremgarten genutzt werden. Die Bundeswehr plant für die Übungsflächen eine umweltverträgliche Nutzung. Erfordernisse militäri- Anlage 19 scher Übungstätigkeit und Ziele des Naturschutzes Antwort werden, wo immer möglich, aufeinander abgestimmt. Dies beinhaltet auch, daß die Bundeswehr Nutzungs- der Parl. Staatssekretärin Michaela Geiger auf die einschränkungen hinnimmt. Fragen der Abgeordneten Marion Caspers - Merk (SPD) (Drucksache 13/213 Fragen 58 und 59): Die Bundesregierung sieht daher weder in Müll- heim noch in Bremgarten eine Gefahr für die Natur. Steht die Bundesregierung nach wie vor zu ihrer Zusage, die Konversion des Fliegerhorstes Bremgarten zu einem Gewerbe- park dadurch zu unterstützen, daß sie, mit Ausnahme des angegliederten Schießplatzes, auf eine zusätzliche militärische Nutzung des Geländes verzichtet? Anlage 20 Teilt die Bundesregierung die Ergebnisse eines Gutachtens der Bezirksstelle für Naturschutz und Landschaftspflege Frei- Antwort burg, daß der Standortübungsplatz Müllheim als militärisches Übungsgelände für die deutsch-französische Brigade aus ökolo- der Parl. Staatssekretärin Michaela Geiger auf die gischen Gründen besser geeignet ist als das Gelände auf dem Frage der Abgeordneten Dr. Elke Leonhard (SPD) ehemaligen Fliegerhorst Bremgarten, und welche Konsequen- (Drucksache 13/213 Frage 60): zen zieht sie aus dem Gutachten? Welche Kenntnisse liegen der Bundesregierung hinsichtlich Planungen der Vereinigten Staaten von Amerika für die Zukunft Zu Frage 58: der US-Air Base Spangdahlem vor, und welche Maßnahmen Die Konversion des ehemaligen NATO-Flugplatzes ergreift die Bundesregierung, sofern ihr Kenntnisse über Pla- nungen hinsichtlich der US-Air Base Spangdahlem durch die Bremgarten zu einem Gewerbepark wird von der Vereinigten Staaten von Amerika nicht vorliegen, um Kenntnis Bundesregierung im Prinzip unterstützt. Die Freigabe über den aktuellen Planungsstand zu erhalten? ist für 1995 vorgesehen. Im räumlichen Zusammen- hang mit der von Anfang an nicht freigegebenen Dem Bundesministerium der Verteidigung liegen Standortschießanlage wird jedoch noch ein Gelände- bisher keine Informationen dahingehend vor, daß die teil von ca. 70 Hektar für Ausbildungs- und Übungs- US-Streitkräfte im Rahmen der Truppenreduzierung zwecke der Deutsch/Französischen Brigade benö- den Flugplatz Spangdahlem freigeben wollen. Auf tigt. Grund von Gerüchten in Spangdahlem, die dem Dieser im Jahr 1991 nicht voraussehbare Bedarf in Bundesministerium der Verteidigung vor kurzem Bremgarten soll in Ergänzung zum vorhandenen bekannt wurden, und einer sachgleichen schriftlichen Standortübungsplatz Müllheim die dringenden mili- Anfrage des Kollegen Rauen an den Bundesminister tärischen Erfordernisse der im Bundeswehrstandort der Verteidigung ist die US-Seite mit Schreiben vom Müllheim stationierten Teile der Deutsch/Französi- 2. Januar 1995 um eine Auskunft zur künftigen schen Brigade erfüllen. Diesem Bedarf kommt wegen Nutzung des US-Flugplatzes Spangdahlem gebeten des Status der Deutsch/Französischen Brigade als worden. Die Antwort steht noch aus. Ich bedauere, binationalem Verband mit Modell- und Erprobungs- daß ich Ihnen derzeit noch keine Auskunft geben charakter und der Aufgabenerfüllung im Rahmen kann. Sobald die Stellungnahme der US-Streitkräfte multinationaler Großverbände eine herausgehobene vorliegt, werde ich Sie informieren. Bedeutung zu. Die beabsichtigte Nutzung der am Rande des Flug- platzareals gelegenen Fläche, in deren Mitte die Standortschießanlage liegt, stört die Einrichtung des Anlage 21 Gewerbeparks nicht. Im übrigen findet zu der gesam- Antwort ten Thematik am 25. Januar 1995 eine Besprechung beim Regierungspräsidenten Freiburg statt, zu der des Parl. Staatssekretärs Walter Hirche auf die Frage Sie, Frau Kollegin, auch eingeladen sind. des Abgeordneten Horst Kubatschka (SPD) (Druck- sache 13/213 Frage 61): Zu Frage 59: Zu welchem Ergebnis kam die Dritte Internationale Alpenkon- ferenz am 20. Dezember 1994 in Chambery, und für welchen Die Bundesregierung teilt das Ergebnis des Gutach- Zeitpunkt rechnet die Bundesregierung nun mit der Zeichnung tens der Bezirksstelle für Naturschutz und Land- der einzelnen Durchführungsprotokolle zur Alpenkonvention? 770* Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995

Auf der dritten Internationalen Alpenkonferenz am Zu Frage 62: 20. Dezember 1994 in Chambéry konnten die ersten Die Thematik wurde vom Bundesministerium für drei Durchführungsprotokolle zur Alpenkonvention Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit an den in den Bereichen „Naturschutz und Landschafts- Beirat für Naturschutz und Landschaftspflege heran- pflege", „Raumplanung und nachhaltige Entwick- getragen und in den einzelnen Arbeitsphasen intensiv lung" sowie „Berglandwirtschaft" angenommen wer- begleitet. Sie selbst, Frau Kollegin Mehl, haben an den. einem Workshop im Februar 1994 teilgenommen und Vor Annahme der drei Durchführungsprotokolle damit auch zur Entstehung des Gutachtens beigetra- wurde das Fürstentum Monaco einmütig als neunter gen. Signatar der Alpenkonvention begrüßt und ein ent- Das Gutachten geht davon aus, daß trotz aller sprechendes Beitrittsprotokoll unterzeichnet. Fortschritte und Erfolge im Naturschutz weiterhin Die Alpenkonferenz hat außerdem Leitlinien für große Anstrengungen erforderlich sind, um die natür- lichen Lebensgrundlagen des Menschen zu sichern. den Aufbau eines Alpenbeobachtungs- und -informa- tionssystems beschlossen. Ausgehend von dem Ziel Der Wert des Gutachtens liegt vor allem in der eines internationalen Alpenzustandsberichts be- Analyse der Ursachen für die mangelnde Akzeptanz schreiben die Leitlinien ein dezentrales, auf vorhan- von Naturschutzanliegen und in der Erarbeitung von dene Strukturen und Organisationen aufzubauendes Handlungsfedern für eine Verbesserung der Rahmen- Fachinformationssystem. bedingungen für die Durchsetzung von Naturschutz- vorhaben. Das Gutachten stellt deshalb einen wichti- In Chambéry wurden die drei genannten Protokolle gen konstruktiven und handlungsorientierten Zwi- von Deutschland, Frankreich, Italien, Monaco, Slowe- schenschritt für die Weiterentwicklung des Natur- nien und der Europäischen Gemeinschaft unterzeich- schutzes dar. net. Österreich, die Schweiz und Liechtenstein haben diese Protokolle nicht gezeichnet. Da in dem Gutachten sehr stark Handlungsbereiche angesprochen werden, die in die Zuständigkeit der Ursprünglich waren auch die Protokolle „Verkehr" Länder fallen, ist beabsichtigt, das Gutachten des und „Tourismus" für die Behandlung auf der Alpen- Beirats in der nächsten Sitzung der Länderarbeitsge- konferenz in Chambéry vorgesehen. Die Verhandlun- meinschaft Naturschutz, Landschaftspflege und Erho- gen zu diesen beiden Protokollen gestalteten sich lung im März 1995 zu erörtern mit dem Ziel, darauf schwieriger als erwartet, so daß sie in Chambéry nicht aufbauend Vorschläge für Konsequenzen und Hand- vorgelegt werden konnten. In Vorbereitung sind lungen zu erarbeiten. außerdem die Protokollentwürfe „Bodenschutz" und „Bergwald". Die Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift ist vorgesehen und soll baldmöglichst erfolgen. Ausgehend von den Erfahrungen aus den bisheri- gen Protokollverhandlungen ist ein Termin der Zeich- Zu Frage 63: nung dieser Protokolle nicht voraussagbar. Die Bundesregierung sah keine Möglichkeit, Die Umweltminister der Alpenstaaten haben auf Staatssekretär Stroetmann eine andere angemessene der 3. Alpenkonferenz die Erwartung ausgedrückt, Funktion zu übertragen. daß das Verkehrsprotokoll bis Mitte 1995 auf dem Wege intensiver Konsultationen und die anderen bis Ende 1995 fertigverhandelt vorliegen sollten. Eine Zeichnung ist dann in Übereinstimmung mit den Festlegungen der Alpenkonvention auf der nächsten Anlage 23 Alpenkonferenz möglich. Antwort des Parl. Staatssekretärs Walter Hirche auf die Frage des Abgeordneten Dietmar Schütz (Oldenburg) (SPD) (Drucksache 13/213 Frage 64): Welche Kosten entstehen dem Steuerzahler durch die Ent- Anlage 22 scheidung der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Dr. Angela Merkel, den Staatssekretär Cle- Antwort mens Stroetmann vorzeitig in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen? des Parl. Staatssekretärs Walter Hirche auf die Fragen (SPD) (Drucksache der Abgeordneten Ulrike Mehl Herrn Staatssekretär Stroetmann steht nach dem 13/213 Fragen 62 und 63): heutigen Stand für die folgenden fünf Jahre ein Wie bewertet die Bundesregierung die Analyse- und Verbes- Ruhegehalt von monatlich 14 550,78 DM (brutto) gem. serungsvorschläge des Beirats für Naturschutz und Landschafts- § 53a BeamtVG zu. pflege beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit „Zur Akzeptanz und Durchsetzbarkeit des Das Ruhegehalt vermindert sich bei Erwerbsein- Naturschutzes", und wann wird sie das Gutachten veröffentli- kommen auf bis zu 12 848,94 DM (brutto). chen? Nach Ablauf der fünf Jahre erhält er nach heutigem Hat die Bundesregierung keine Möglichkeit, den Staatssekre- tär Clemens Stroetmann anderweitig zu beschäftigen, anstatt Stand ein Ruhegehalt von monatlich 13 798,63 DM ihn in den einstweiligen Ruhestand zu versetzen? (brutto). Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 12. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 19. Januar 1995 771*

Anlage 24 schweizerischen Aufsichtsbehörde (HSK) erhalten. Nach eingehenden Untersuchungen der HSK erfolgte Antwort am 17. 9. 1993 eine entsprechende Meldung an das des Parl. Staatssekretärs Walter Hirche auf die Frage internationale Incident Reporting Systems (IRS) der der Abgeordneten Simone Probst (BÜNDNIS 90/DIE OECD. Über die Ergebnisse der entsprechenden Ana- GRÜNEN) (Drucksache 13/213 Frage 65): lysen wird die Bundesregierung im Rahmen der Deutsch-Schweizerischen Kommission seit 1993 un- Seit wann hat die Bundesregierung Kenntnis von den Kern- terrichtet. Über Risse in US-amerikanischen Siede- mantel-Rissen in den Siedewasserreaktoren in Mühleberg/ Schweiz und den verschiedenen Reaktoren in den USA? wasserreaktoren im Bereich von Schweißnähten, die den Kernmantel mit dem oberen Flanschring verbin- den, wurde die Bundesregierung Ende 1993 von der Die Bundesregierung hat 1991 erste Kenntnisse von US Nuclear Regulatory Commission (US NRC) durch den Kernmantelrissen im Kernkraftwerk Mühleberg eine Information-Notice mit Datum vom 30. Septem- in der Schweiz aus dem Jahresbericht der zuständigen ber 1993 informiert.