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Werbeseite DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung 12. Juli 1999 Betr.: St. Petersburg, Mikrochips, Bluthandel

isweilen ist für Berichterstatter Bdie Grenze zwischen Teilhabe und Teilnahme an Ereignissen nicht klar zu ziehen. Diese Erfahrung machte SPIEGEL-Reporter Jürgen Neffe, 43, einmal mehr, als er in St. Petersburg die ausgelassenen und ausschweifenden Feste rund um die Sommersonnenwende beobachtete. Auf der Datscha eines neureichen Russen konnte er sich dem unent- N. IGNATIEV / NETWORK / AGENTUR FOCUS / NETWORK AGENTUR N. IGNATIEV wegt kredenzten Wodka nicht ent- Neffe, Dolmetscherin Reiser auf der Newa ziehen und mußte tüchtig Bruder- und Schwesterschaft trinken. Dolmetscherin Sonia Reiser ließ der Gastgeber gar nicht erst auf die Party, und Neffe mußte mit deutlichen Gesten die offensiven An- gebote weitgehend unbekleideter – wohl vorab schon pauschal bezahlter – Damen abwehren: „Immerhin konnte ich ihnen klarmachen, daß ich Hemd und Hosen an- behalten wollte.“ Als die turbulente Feier in den frühen Morgenstunden zum Ende kam und die Gesellschaft ermattet zur Ruhe ging, legten Neffe und Fotograf Nikolai Ignatjew doch noch ihre Kleidung ab – sie setzten sich in die Sauna und sprangen anschließend in das erfrischende Wasser eines angrenzenden Sees. Neffe: „So etwas nennt man ein reinigendes Bad, glaube ich“ (Seite 134).

eit 30 Jahren schon kämpft der Halbleiterhersteller AMD in den USA gegen den Sübermächtigen Konkurrenten Intel – jetzt wird eine neue Runde eingeläutet, allerdings nicht im Silicon Valley, sondern in Sachsen. Im Dresdner Stadtteil Wilschdorf hat AMD die modernste Chip-Fabrik Europas gebaut. Obwohl die hochempfindliche Anlage derzeit gerade angefahren wird, durfte SPIEGEL- Wissenschaftsredakteur Jürgen Scriba, 34, streng vermummt das Allerheiligste betreten – den penibel staubfrei gehaltenen „Reinraum“. Einfach war das nicht: „Erst als die AMD-Leute erfuhren, daß ich früher selbst als Halbleiterphysiker in derartigen Anlagen gearbeitet habe, ließen sie mich rein“ (Seite 154).

luthändler Josef Stava, 49, Bhat Wohnsitze im Tessin, in der Karibik und in Tschechien. Nach Deutschland mag er nicht mehr reisen – hier liegt ein Haftbefehl gegen ihn vor. Stava gilt als Schlüsselfigur einer mil- lionenschweren Schmiergeld- affäre um das Bayerische Rote Kreuz (BRK). Nachdem der SPIEGEL schon mehrfach über S. DÖRING / VISUM PLUS 49 Stava, Krach, Mascolo die mutmaßlich kriminellen Machenschaften beim BRK-eigenen Blutspendedienst berichtet hatte, konnten die Redakteure Wolfgang Krach, 36, und Georg Mascolo, 34, Kontakt zu Stava aufnehmen. Der empfing die SPIEGEL-Leute rund 90 Kilometer südlich von Prag auf seinem Schloß Bechyn¤. Dort packte Stava – sich selbst keines Vergehens bewußt – über das lukrative Geschäft mit Blutprodukten aus. Seine früheren deutschen Partner belastete er dabei schwer: „Die wollten alles immer in bar“ (Seite 34).

Im Internet: www.spiegel.de der spiegel 28/1999 3 Werbeseite

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Werbeseite In diesem Heft

Titel Jugend ’99 – die pragmatische Generation...... 94 Deutsche Rapper artikulieren die Ängste und Wünsche der 99er...... 100 Gemeinsam gegen Brüssel Seite 22 Jugend-Aufbruch vor 100 Jahren ...... 102 Der scheidende Wettbewerbskommissar Interview mit Heike Makatsch Karel Van Miert räumt auf: Die Düssel- und zwei Teenagern über Karrierestrategien und Konsum...... 104 dorfer WestLB soll rund 1,6 Milliarden Die US-Jugend im Konkurrenzkampf Mark angeblich unerlaubte Subventionen um Aufstiegschancen und Geld ...... 107 zurückzahlen. Van Miert stellt damit das deutsche System der öffentlich-rechtlichen Deutschland Banken in Frage. Doch Kanzler Gerhard Panorama: Neue Forderungen Schröder und die Länderchefs verweigern von Zwangsarbeitern / Brüssel den Gehorsam. Der neue Kom- Ex-Verfassungsschutzchef untergetaucht...... 17 missionspräsident Romano Prodi, so die

Europa: Bonner Fehden mit Brüssel ...... 22 M.-S. UNGER Hoffnung, könnte die Entscheidung gegen Prodis neue Kommission...... 25 Prodi, Schröder die Bank wieder zurücknehmen. Die EU will Bangemann anklagen ...... 26 über das Verhalten der FDP im Fall Bangemann ...... 27 Bonn/Moskau: Profitiert die Mafia vom Datenaustausch der Sicherheitsbehörden?...... 30 CDU: Rentenkampagne fürs Sommerloch ...... 33 Seite 30 Affären: Interview mit Josef Stava, dem Kron- Schilys riskanter Datendeal zeugen im bayerischen Blutspendeskandal ...... 34 Zum gemeinsamen Kampf Umzug: Wie ein Beamter Bonn für den gegen die Russenmafia hat Verlust der Regierung entschädigte...... 40 Hauptstadt: Wo sind die Mauerreste?...... 42 Innenminister Schily Moskauer Sparkassen: Teures Mißmanagement Sicherheitsbehörden und Ge- in Mannheim...... 48 heimdienstlern Daten aus deut- Mittelstand: Unternehmer wollen schen Kriminal-Computern am Wiederaufbau im Kosovo verdienen ...... 50 versprochen. Der jüngst unter- Asyl: Nur noch wertfreie Lageberichte zeichnete Deal könnte mehr vom Auswärtigen Amt?...... 52 schaden als nützen. Experten Unternehmen: Unis für Jung-Manager ...... 56 befürchten, daß die Fahndungs- Kirche: Bistumsblätter in der Krise ...... 62 Wie die Diözese Stuttgart Infos aus Deutschland auf einen Chefredakteur feuerte...... 64 direktem Wege bei den Hinter-

Städtebau: Deutsche Bank plant männern des organisierten AFP / DPA ein neues Stadtviertel in Frankfurt ...... 66 Verbrechens landen. Schwarzmarkt-Razzia in Moskau Kommunalwahlen: Veto gegen Fünfprozentklausel ...... 67 Minister: Watschenmann Jürgen Trittin...... 68

Wirtschaft Trends: IG Metall fordert vorzeitige SAP setzt aufs Internet Seite 78 Verhandlungen / Daimlers Schlappe in der „Das Internet verändert die Welt noch stärker, als wir es erwarten konnten“, sagt SAP- Telekommunikation / Boom bei Billigreisen ... 71 Geld: Was kommt nach der Sommer-Rallye? / Chef Hasso Plattner im SPIEGEL-Gespräch. Der erfolgreiche Softwarekonzern muß Der Aufstieg der WCM-Aktie ...... 73 sich anpassen, er will seine Strategie ganz auf das Internet ausrichten. Autoindustrie: Die fetten Jahre sind vorbei ... 74 Touristik: Preussag mutiert zum Reisekonzern 76 Software: SPIEGEL-Gespräch mit SAP-Chef Hasso Plattner über die Zukunft des Internet und die Strategie seines Unternehmens ...... 78 Post: Das Briefmonopol wankt...... 81 Showdown auf Mallorca Seite 88 Arbeitsmarkt: Wirtschaftswunder in Spanien.. 82 Thomas Gottschalk wagt sich Medien mit Hunderten von „Wetten, daß…?“-Helfern nach Mallor- Trends: Milliardenpoker um Bundesliga- Rechte / „Marienhof“ im Kino ...... 85 ca. Der Ballermann-Trip ist Fernsehen: Action-Rolle für Esther Schweins / logistisches Abenteuer und TV-Zuschauer akzeptieren Werbepausen...... 86 teurer Testfall für die Frage: Vorschau...... 87 Wieviel Kommerz verträgt TV-Shows: „Wetten, daß …?“ wagt sich die ZDF-Show? Erstmals nach Mallorca ...... 88 helfen Sponsoren im großen Fotografen: Hat ein angesehener Stil bei der Finanzierung. Bildjournalist junge Kollegen betrogen?...... 91 „Mallorca war eine Schnaps- idee“, kritisiert Gottschalks Gesellschaft Regisseur. An neuen Vermark- Szene: Britische Mode-Schmuggler ACTION PRESS ACTION tungskonzepten wird allerdings narren Boutiquebesitzer / Das Lexikon der Werbesprüche ...... 93 Gäste Joop, Schiffer, Gastgeber Gottschalk längst gearbeitet. Folklore: Der Gipsy-Pop der V¤ra Bílá ...... 109

6 der spiegel 28/1999 Sport Radsport: Frankreich feiert den Dopingsünder Richard Virenque...... 112 Schwimmen: Sandra Völker hat sich von Franziska van Almsick emanzipiert...... 114

Ausland Panorama: Interview mit dem serbischen Oppositionsführer Zoran Djindjiƒ / Nordirland – Die Entwaffnung der IRA ...... 117 USA: Der Wahlkampf des George W. Bush.... 120 Kosovo: Das Kinder-Massaker ...... 124 Der Kampf der Bundeswehr um Recht und Ordnung...... 126 Die Aufgaben deutscher Polizisten ...... 128 Montenegro: Nest des Widerstands...... 129 Afrika: Interview mit Ruandas

AFP / DPA Verteidigungsminister Paul Kagame über Hinterbliebene mit Bildern der Opfer von Bela Crkva den Waffenstillstand für den Kongo ...... 130 China: Ketzerei im Internet ...... 133 Rußland: Weiße Nächte in St. Petersburg ..... 134

Terror-Orgie im Kosovo Seite 124 Spiegel des 20. Jahrhunderts Ein Massengrab bei Bela Crkva mit sieben Kinderleichen belastet die Belgrader Das Jahrhundert des Kapitalismus: Führung schwer vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal. Überlebende des einst Japan in der Krise...... 139 Standpunkt: Yasuhiro Nakasone über wohlhabenden Dorfes berichten von der Tötungsorgie der Serben. die Zukunft seines Landes ...... 148

Wissenschaft + Technik Prisma: Legebatterien vor der Schließung? / Ersatz für havarierten Röntgensatelliten...... 151 USA: Vorteil für Bush Seite 120 Prisma Computer: Internet-Kurse für Senioren / Mangelhafte Suchmaschinen ...... 152 Der texanische Gouverneur Computer: Wer baut den schnellsten Chip?... 154 George W. Bush, Sohn des SPIEGEL-Gespräch mit Jerry Sanders, früheren US-Präsidenten, will Chef des Halbleiterproduzenten AMD, das höchste Amt für die Repu- über seinen Kampf gegen Marktführer Intel... 156 blikaner zurückgewinnen. Sein Tiere: Der Moschushirsch ist vom Aussterben bedroht ...... 159 Charme und millionenschwere Medizin: Das schreckliche Leiden Unterstützung schaffen ihm von Alzheimer-Kranken ...... 162 einen überraschenden Start- Eisenbahn: Der Luxuszug „Metropolitan“ vorteil gegenüber dem amtie- soll Vielflieger anlocken ...... 166 renden Vizepräsidenten der Archäologie: Zweifel an schwäbischer Demokraten, Al Gore. Bushs Höhlenmalerei ...... 167 Gegner lästern dagegen über

die „Blankoschecks für ein un- AP FOTOS: Kultur beschriebenes Blatt“. Präsidentschaftsbewerber Gore, Bush Szene: Die Rückkehr von Tim und Struppi / Streit um Musik-Jingle für die Expo 2000...... 169 Schriftsteller: „Die Wahrheit im Morgenlicht“ – ein Afrika-Buch aus dem Nachlaß Ernest Hemingways ...... 172 Interview mit Hemingway-Sohn Patrick Goldfisch aus Hamburg Seite 114 über die Legendenbildung um seinen Vater ... 174 Buchmarkt: Wie deutsche Verleger mehr Sie ist der sicherste Goldtip des deutschen Teams bei Bücher in den USA verkaufen wollen ...... 178 den Schwimm-Europameisterschaften nächste Woche in Ausstellungen: „art open“ in Essen...... 180 Istanbul: Sandra Völker schwamm über Jahre im Schatten Autoren: Der Ex-Spion John le Carré des Glamour-Girls Franziska van Almsick, obwohl sie sport- zu Besuch in Bonn ...... 182 lich schon lange an ihrer Rivalin vorbeigezogen ist. Inzwi- Literatur: Der Russe Andrej Kurkow und sein Mafia-Roman „Picknick auf dem Eis“ ... 183 H. RAUCHENSTEINER schen wird auch die Hamburgerin hofiert. Denn keine Bestseller...... 184 Völker andere deutsche Schwimmerin arbeitet so professionell. Film: Das Kinowerk „Go“ – eine charmante Jagd nach Geld und Spaß ...... 186

Briefe ...... 8 Hemingways letzte Safari Seiten 172, 174 Impressum ...... 14, 188 Zum 100. Geburtstag von Ernest Hemingway hat sein Sohn Patrick, 71, in die Leserservice ...... 188 Nachlaß-Kiste gegriffen und einen Safari-Roman des Dichters und Jägers vorgelegt. Chronik...... 189 Register...... 190 Im Interview rechtfertigt er seine Editionsarbeit: „Ich habe nur gekürzt.“ Personalien ...... 192 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 194

der spiegel 28/1999 7 Briefe

Abstimmung eintreten und die deutschen Beiträge an die Partnerländer noch viel ge- „Kraftmensch Schröder? Gestern zielter als bisher einsetzen. Neu-Delhi Dr. Heide Richter noch koalitions- und medien- Fachkraft für Entwicklungszusammenarbeit

gebeutelter Krötenschlucker und Nachdem Herr Stollmann als parteiloser heute plötzlich siegfriedhafter Freund der Wirtschaft, Herr Lafontaine als Männerfreund des Kanzlers und nun Herr Drachentöter? Welch atem- Hombach als der Dritte im Bunde den Kraftmenschen im Kanzleramt verlassen beraubende Metamorphose!“ haben – verlassen mußten, bleibt die Fra- Wolfgang Silvester aus Gaimersheim (Bayern) zum Titel ge, wann Gerhard „Siegfried“ Schröder „Der Kraftakt – Die große Wende am Ende der Bonner Ära“ und Hans „Herkules“ Eichel die alte Tan- SPIEGEL-Titel 26/1999 te SPD und dieses Land hin zur wirklich neuen Mitte führen. Die Ansätze sind vor- handen und über alle Parteipolitik hinweg Aktionäre am Hungertuch nagen, müssen sicher auch gut, nur ob Schröder die mitt- Was für eine heroische Aktion! endlich mal die ran, die noch im überquel- lerweile vierte Chance zum Aufbruch auch Nr. 26/1999, Titel: Der Kraftakt – lenden Wohlstand leben. Neoliberalismus nutzt? Die große Wende am Ende der Bonner Ära und Globalisierung als Lösung und nicht Merzenich (Nrdrh.-Westf.) Stephan Erven etwa als Ursache der Probleme: Da hat die Gratulation zum Gerhard-Siegfried-Titel- SPD im ganzen Paradigma-Gebrabbel wohl Der „Automann“ Schröder ein Kraftkerl, bild. Der letzte jedoch, der als Kanzler- den Überblick verloren. gar ein Siegfried? Doch wohl eher ein Par- Darsteller und „Staatsschauspieler“ zu Barcelona Dr. Klaus Bitzer venü, stolz geschwellt, weil er Herrn Piëch wirken wußte, war Helmut Schmidt. zu Willen sein darf.Wären Rentner die eif- Göttingen Dr. Hagen Weiler Der Rotstift kann manchmal ein nützliches rigsten Autokäufer, würden ihre Bezüge Geschenk sein – zum Beispiel in den Hän- gewiß in traumhafte Höhen steigen! Mir fällt auf, daß der Schorsch versucht, den der roten Heidi, wenn er richtig ein- Cuxhaven Dieter C. Günther den Drachen mit einem Stich in die Rippen gesetzt wird. Viele der Entwicklungshilfe- zu erledigen; wird wohl nicht klappen, zu- Projekte, die über große multilateral fi- mal kaum Blut zu sehen ist, in dem der nanzierte Organisationen, zum Beispiel EU Absolut deplaziert Bundeskanzler gleich hätte ba- Nr. 26/1999, Aufbau Ost: den können. Er hätte sich lieber SPD-Abgeordnete rütteln an Hilfsprogrammen an den Kopf wagen sollen, so- lange der ihn noch nicht gebis- Das Aufbau-Ost-Programm, Ausdruck der sen hat, denn das Hemd aus Pelz staatlichen Grundverantwortung für Struk- wird den Kanzler sicher nicht turpolitik, ist und bleibt in seiner Größen- schützen können. Vor allem hat ordnung unerläßlich, um das DDR-Erbe ihn der Drache ja schon am lin- der jungen Bundesländer – Strukturdefizi- ken Bein erwischt, wie will er te und Standortnachteile – schrittweise ab- sich da je wieder befreien? zutragen. Der Leipziger Raum gehört zwei- Reichenbach (Bad.-Württ.) felsfrei zu den am meisten prosperierenden Nikola Kos Regionen östlich der Elbe. Zu verdanken ist dies auch den vielen Milliarden Mark, die Können wir Berliner uns jetzt seit der Wiedervereinigung hier in Infra-

auf einen stabilen statt labilen M. DARCHINGER struktur vernünftig angelegt worden sind. Kanzler freuen? Wird jetzt (nach Kanzler Schröder: Frischer Wind im Amt? Doch eines stimmt nicht: Die Ost-Hilfen etlicher Verspätung) endlich sind keine liebgewordenen Besitzstände, frischer Wind im Kanzleramt wehen? Lan- oder Weltbank, gefördert werden, sind um die gejammert wird. Sie sind vielmehr ge genug gewartet haben wir ja. schlecht untereinander abgestimmt und faktisch notwendig, damit das Wirkprinzip Berlin Christian Schiller überdimensioniert. Der starke Druck, Mit- „Hilfe zur Selbsthilfe“ auch erreicht wer- telabfluß vorzuweisen, hat dann oft schäd- den kann. Es geht um die Zukunft der Men- Sie zitieren mit „Schluß mit liche Wirkungen. Hier kann die Ministerin schen in Deutschland in ihrer Einheit! dem Rundum-Sorglos-Paket“. Ich zahle aus der Spar-Not eine Tugend machen: bei Leipzig Wolfgang Tiefensee ununterbrochen 41 Jahre in die Renten- den internationalen Gebern für bessere Oberbürgermeister der Stadt Leipzig kasse. Hierzu wurde ich zwangsverpflich- tet. Dieser Vertrag wird jetzt einseitig ab- geändert, was ich als Vertragskündigung Vor 50 Jahren der spiegel vom 14. Juli 1949 ansehe. Man sollte uns eine Alternative Prozeß in Wuppertal wegen Kameradenmißhandlung in russischer wie zum Beispiel die Auszahlung der ein- Gefangenschaft Otto Schmitz zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Münch- gezahlten Beträge plus Zinsen anbieten. ner Hofbräuhaus in der Krise Affäre Blum erschüttert den Bayerischen Hamburg Helmut Pohl . US-Senator Tom Connally, Vorsitzender des Außenpolitik-Aus- schusses, will Atlantikpakt durchboxen Gefürchteter Mann hinter den Kulissen. Peco Bauwens, Präsident des Deutschen Fußball-Bundes: „Wir Da hat die Nähe zu des Kanzlers teuren Zi- spielen bald wieder im Ausland.“ Regisseur Kurt Maetzigs Epos „Die garren den Redakteuren des SPIEGEL wohl Buntkarierten“ Ost- und Westprominenz feiert Premiere in Berlin. das Hirn vernebelt. Was für eine heroische Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter http://www.spiegel.de Aktion des Kanzlers,Arbeitslose und Rent- Titel: Der kahlgeschorene Tänzer Harald Kreutzberg ner zu enteignen! Da Unternehmen und

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Werbeseite DPA Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bei Schloß Altenstein in Thüringen: Hilfe zur Selbsthilfe?

Herr Hilsberg möchte sich doch bitte aus hältnisse, Arbeit und ausreichendes Ein- seinem Sessel der Arbeitsgruppe „Angele- kommen in quasi Rufweite, auch weiterhin genheiten der neuen Länder“ erheben, sich aufrechterhalten werden könnten. selbst in die neuen Bundesländer begeben Kamen-Heeren (Nrdrh.-Westf.) Jürgen Kestin und dort mit Mittelständlern und Kleinst- unternehmern mal die Frage des „Jam- merbonusses“ diskutieren und sagen, wo Auf allen Ebenen es diesen gibt. Mir als Mittelständler ist Nr. 26/1999, Panorama: PDS, Ohne Publikum dieser Bonus noch nicht untergekommen. Magdeburg Ulrich Schmitz … Falsch geraten. Der PDS-Parteivorstand erwägt keineswegs, seine Sitzungen künf- Die geforderten Milliardenkürzungen sind tig ohne Publikum abzuhalten. Und das absolut deplaziert und verdecken völlig, gilt auch weiterhin für Vorstände und Frak- daß im Sparentwurf von Hans Eichel der tionen der PDS auf allen Ebenen. Osten mit über 26 Prozent der Einsparun- Berlin Hanno Harnisch gen bei einem Bevölkerungsanteil von un- PDS-Pressesprecher ter 20 Prozent schon überproportional be- teiligt ist. Mathias Schubert sollte Anwalt des Ostens sein und nicht williger Voll- Hirnloser Umgang strecker, wenn der Finanzminister oder Nr. 26/1999, Hirnforschung: vielleicht auch der SPIEGEL einen dum- Was machte Einstein zum Genie? men „Ossi“ sucht, der die Diffamierung vom Milliardengrab Ost wiederholt. Er Man muß schon einen besonderen Ge- schadet damit allen neuen Bundesländern. schmack haben, angesichts der politischen Daß es vieles besser zu machen gibt, ist Geschichte Lenins oder seiner Schriften richtig: Falsch ist aber, vom Land Bran- von einer zu erklärenden Genialität aus- denburg und den dortigen Verschwendun- zugehen. Diese wurde vielmehr durch Par- gen, zum Beispiel im Ministerium von Re- tei- und Staatsideologie per Beschluß vor- gine Hildebrandt, auf Sachsen oder Thürin- gegeben. Wer aber stellt als Explanandum gen zu schließen. Schubert soll sagen, auf die Genialität Einsteins fest? Sicher zählt er welchen Autobahnbau, auf welche Orts- zu den Größten in der Ahnengalerie der umgehung und auf welchen Eisenbahn- Physiker, aber noch nicht einmal die Phy- ausbau er verzichten will. Wer pauschal sik ist Einstein in allen Vorschlägen und den Osten in Mißkredit redet, muß gehen. Meinungen gefolgt. Es ist wohl mehr ein Berlin Günter Nooke MdB/CDU Personenkult von Leuten, die Einsteins Physik nicht verstehen, und ein Klischee, Es ist, selbst unter Nutznießern von das jede politische und philosophische Nai- Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), vität Einsteins verklärt – bis hinunter zum besonders in Teilen Brandenburgs und Einstein-Bild mit herausgestreckter Zunge Mecklenburg-Vorpommerns, durchgängi- auf Postern und Meinungsbuttons. Selbst ge Erkenntnis, daß damit zwar über Kurz- wenn der Ansatz der Hirnvermesserin Wi- zeiträume Einkommensverbesserungen telson naturwissenschaftlich seriös wäre, erzielt, aber dauerhaft weder Qualifizie- ist man mit der Bestimmung des Expla- rung noch Aussicht auf Dauerarbeitsplätze nandums mehr als hirnlos umgegangen. erreicht werden. Man kann mit den Maß- Marburg Prof. Dr. Peter Janich nahmen keine Strukturen verändern, je- Institut für Philosophie der Uni Marburg denfalls nicht in diesen beiden Ländern, die über lange Jahre vor der Gründung der DDR bestanden und sich nach deren Zu- Stacheliges Menetekel sammenbruch fast zwangsläufig wieder- Nr. 26/1999, Reichstag: Die Graffiti der Rotarmisten hergestellt haben. Es war der Fehler der jüngeren Vergangenheit, den Menschen Die Graffiti wecken mehr Emotionen und dieser Region unter anderem eben durch sagen mehr aus (über alle Beteiligten) als ABM vorzugaukeln, daß die DDR-Ver- eine Geschichtsstunde am deutschen Gym-

12 der spiegel 28/1999 Briefe nasium. Im übrigen scheinen sie ein sta- cheligeres Menetekel zu sein als das ganze Monument, das demnächst eine Ecke wei- ter gebaut wird. Göttingen Jiƒí Burgerstein

Im Reichstag ist so viel Wandfläche, daß man eine beliebige Zahl Bilder angemes- sen aufhängen und beleuchten kann, ohne die Fläche mit den Graffiti in Anspruch neh- men zu müssen. Es ist ein schlichter Mangel an Zivilcourage, wenn die Kritiker über die Graffiti und ihren Sinn nicht offen reden. Je- dem unbefangenen Betrachter drängt sich tatsächlich der Eindruck auf, daß zwar ei- nige Graffiti erhalten bleiben sollten, nicht aber die Vielzahl der dort belassenen Signa- turen. Ich habe Verständnis dafür, daß sie- gestrunkene Soldaten der Roten Armee sich dort verewigen wollten. Es war der erkenn- bare Schlußpunkt eines schrecklichen und blutrünstigen Krieges. Es ist auch notwen- dig, sich daran zu erinnern oder daran er- innert zu werden. Aber ich erinnere mich sehr gut daran, daß wir die Rote Armee nicht als Befreier sahen, obwohl wir glück- lich waren, daß wir den Krieg und das da- mals so genannte Dritte Reich lebendig überstanden hatten. Die Rote Armee wüte- te unter der deutschen Zivilbevölkerung mit Mord, Plünderungen und massenhaften sy- stematischen Vergewaltigungen. Auch das kann ich nicht vergessen. Vielleicht könnte man im Reichstagsgebäude auch Bilder der in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ ermordeten Reichstagsabgeordne- AKG Rotarmisten im Reichstag 1945 Erkennbarer Schlußpunkt eines Krieges ten und der zum Tode verurteilten Mitglie- der des Paulskirchenparlaments anbringen. Bonn Dr. Burkhard Hirsch Bundestagsvizepräsident a. D.

120 unbeschwerte Minuten Nr. 26/1999, Kino: Schriftsteller Leon de Winter über Julia Roberts und ihren Film „Notting Hill“

Es fällt mir schwer zu kapieren, wie ein derart intelligenter Mensch wie Leon de Winter sich auf drei Seiten derartig ernst- haft über einen kleinen, seichten, netten Film abstöhnen muß. Für mich ist Hugh Grant eine trübe Tasse, der einmal gut war

der spiegel 28/1999 Briefe

Leon de Winter abreichung wirksamer Antibiotika ist ge- spricht mir mit sei- fährlich. Bei der Behandlung von Lyme- ner Kritik aus der Borreliose-Kranken könnten Kosten ver- Seele! Nachdem ich mieden werden, denn eine Fehldiagnose mich schon ernsthaft verursacht immense Folgekosten – vom fragen mußte, ob mit Leid und der Qual nicht zu sprechen. mir „was nicht in Stuttgart Dieter Pillath Ordnung“ ist – nie- mand, der den Film Die jährliche Infektionsrate für die Borre- gesehen hat, fand ihn liose in Deutschland wird von Fachleuten auch nur annähernd bereits mit 60000 bis 80 000 angegeben. so langweilig, nichts- Eine bundesweite Meldepflicht hält das sagend und vor al- Bundesgesundheitsministerium für diese lem unlogisch wie heimtückische Infektionskrankheit nicht ich! –, freue ich mich, für notwendig. Die Durchseuchungsrate in daß Leon de Winter bestimmten Bevölkerungsgruppen bewirkt

POLYGRAM ihn als das entlarvt, keinesfalls eine Immunität. Neuinfektio- Schauspieler Grant, Roberts in „Notting Hill“: Netter, seichter Film was er ist: ein schlap- nen sind immer wieder möglich. Die per Aufguß des „Vier Krankheit kann auch noch nach Jahren in „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“, Hochzeiten“-Themas, der uninspiriert da- ausbrechen. Es gibt bereits 800000 chro- und Julia Roberts begeisterte mich ebenso herkommt. Die Figuren bleiben verblüffend nisch Kranke durch dieses unglaublich viel- in „Pretty Woman“. Trotzdem weiß ich eindimensional, in keiner Sekunde fühlt fältige Krankheitsbild. Forschungsergeb- schon jetzt – ohne den Film gesehen zu man sich ihnen verbunden. Selbst für einen nisse aus den USA werden in Deutschland haben –, ich werde einen netten Kinoabend Mainstreamfilm ist das ein bißchen wenig. einfach nicht zur Kenntnis genommen. haben. Grant und Roberts – worüber reden Bath (England) Tania Ghosh Berlin Hanna Priedemuth wir hier eigentlich – haben hinreichend be- BV Borreliose Selbsthilfeorganisationen wiesen, daß sie keine wirklichen Schau- spieler sind. Sie sind die immer wieder- Unglaublich vielfältiges Krankheitsbild Zecken lauern nun zwar nicht auf Bäu- kehrende Auferstehung von Inge Meysel, Nr. 26/1999, Medizin: men, sondern im Gesträuch und auf Grä- die in allen Ehren auch nur – betroffen – Impfstoffe gegen Zeckeninfektionen sern – aber warum um alles in der Welt nur sich selbst spielen konnte. in Wald und Flur? Darf ich Sie in meinen Hamburg Monika Voss Der Rat, Zecken möglichst früh mit einer Garten einladen? Ich (als ziemlich häufig Pinzette zu entfernen, ist nur bedingt rich- besuchter Zeckenmensch) fange sie mir Es gibt Menschen, die freuen sich über die tig: Die Greifflächen der Pinzette quet- (oder sie mich?) schon bei einem kurzen unmöglichsten Dinge im Leben, genießen schen den Körper der Zecke ebenfalls, wo- Gang über ganz normalen Rasen, beim die kleinen, unfaßbaren Momente, er- durch deren Körperinhalt in die Wunde Blumenpflücken, Unkrautjäten oder dem schließen diese emotional und sind mit injiziert wird. Wesentlich besser sind Aufstellen der Wäschespinne respektive dem Herzen dabei. Und es gibt daneben Zeckenzangen, die den Zeckenkörper um- Menschen, die erklären uns nüchtern prak- fassen. Dadurch wird der Ausstoß von Kör- tisch alles. Es sind die Typen Menschen, perinhalt sicher verhindert. Außerdem hat die uns vor geraumer Zeit sogar die Struk- die Zeckenzange eine Schließfeder, und turen der Märchen analysierten und die Zecke kann zu einem sehr frühen Zeit- trocken feststellen, daß Liebe lediglich eine punkt sicher erfaßt und aus der Haut durch Abfolge von chemischen Prozessen im Drehen der Zange entfernt werden. menschlichen Organismus darstelle. Zu Grasbrunn (Bayern) Franz Hegele dieser Sorte Mensch gehört offensichtlich Leon de Winter. Seine bemerkenswerte Re- Laien sind inzwischen besser informiert zension qualifiziert ihn ohne Umwege zu als der Medizinerstand. Die vielfältigen einer höheren Laufbahn bei der Kriminal- Beschwerden überfordern so manches

polizei. Hoffentlich findet er dort weniger Medizinerhirn. Wenn Einschränkungen AMW Zeit, Filmkritiken zu schreiben. zurückbleiben und von Sozialgerichten Borrelien-Überträger Zecke Aachen Christoph Allemand Gutachter bestellt werden, dann wird es 800000 chronisch Kranke abenteuerlich. Wo Schmerzen den Bewe- gungen Grenzen setzen, legt der Gutachter dem Aufhängen der Wäsche. Ich halte es selbst Hand an und drückt, bis der Bewe- auch für ziemlich unwahrscheinlich, daß VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Panorama, gungsgrad erreicht ist. Nervale Ausfälle sich Zecken von heller Kleidung beein- Affären, Hauptstadt, Sparkassen, Mittelstand, Asyl, Kirche (S. 64), Städ- tebau, Kommunalwahlen,Fotografen,Kosovo (S.126, 128): Ulrich Schwarz; sind ja nur Einbildung der Kranken. Doch drucken lassen. Nach meiner Erfahrung für Europa (S. 22, 26, 27), Bonn/Moskau, CDU, Umzug, Unternehmen, inzwischen sind auch Mediziner unter reagieren sie vorrangig auf die auch im Minister, Chronik: Dr. Gerhard Spörl; für Europa (S. 25), Panorama den Lyme-Borreliose-Betroffenen, und sie Artikel beschriebene Wärmesensorik. Ausland, USA, Kosovo (S. 124), Montenegro, Afrika, China, Rußland: Dr. Romain Leick; für Kirche (S. 62), Trends, Geld, Autoindustrie, Touri- schildern genauso die Leiden wie unzäh- Bremervörde Elfrun Holtmann stik, Software, Post, Beschäftigung, TV-Shows: Armin Mahler; für lige Normalmenschen. In den USA sind Fernsehen, Szene, Titelgeschichte, Folklore, Schriftsteller, Buchmarkt, die Forschungen weiter fortgeschritten. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Ausstellungen, Autoren, Literatur, Bestseller, Film: Wolfgang Höbel; für vollständiger Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu Radsport, Schwimmen: Alfred Weinzierl; für Spiegel des 20. Jahrhunderts: Deutschland ist dagegen Notstandsgebiet veröffentlichen. Dr.Dieter Wild; für Prisma,Computer,Tiere,Medizin (S.164),Eisenbahn, und hinkt hinterher: Es werden Ausfälle Archäologie: Olaf Stampf; für die übrigen Beiträge: die Verfasser; für einzeln betrachtet und daran herum- Briefe, Register, Personalien, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titelbild: Thomas Bonnie; für Layout: Wolfgang Busching; für gedoktert, anstatt die Ursache des Be- Der Gesamtauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe ist eine Postkarte der Firma JVC Professional, Friedberg, beige- Hausmitteilung: Hans-Ulrich Stoldt; Chef vom Dienst: Thomas Schäfer schwerdesystems anzugehen. Die Borre- klebt. Einer Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe liegen (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) lien mögen auch die Nervensubstanz des TITELFOTO: Jan-Peter Böning/ZENIT Beilagen von AOL Bertelsmann Online, Hamburg, sowie Gehirns, und jede Verzögerung von Ver- vom Zeit Verlag, Hamburg, bei.

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Werbeseite Panorama Deutschland FOTOS: ULLSTEIN BILDERDIENST (gr.); DPA (kl.) DPA BILDERDIENST (gr.); ULLSTEIN FOTOS: Häftlinge des KZ Mittelbau Dora (1944) Kastrup

ZWANGSARBEITER verhandelt werden.Auch um den Auszahlungs- Modus wird gestritten. Während die Industrie eine Fonds-Lösung anstrebt, fordern die Opfer- Neue Forderungen Organisationen inzwischen eine Pro-Kopf-Ent- schädigung. Den Sinneswandel bewirkten die ünftig soll Deutschlands Botschafter bei den Vereinten Na- Erfahrungen mit dem Fonds der Schweizer Banken. Die von Ktionen in New York, Dieter Kastrup, an Stelle von Bodo den Instituten einbezahlten 2,4 Milliarden Mark liegen seit ei- Hombach die Verhandlungen über die Entschädigung von Nazi- nem Jahr auf einem Sperrkonto, weil sich die Verbände nicht Opfern und Zwangsarbeitern durch die deutsche Wirtschaft einigen konnten, wieviel Geld an wen gereicht werden soll. führen. Hombachs Nachfolger im Kanzleramt, Frank Walter Bei dem nun vorgeschlagenen Verfahren müßten die Unter- Steinmeier, sowie Außenminister und Finanz- nehmen weit mehr als die für den Fonds vorgesehenen drei Mil- minister Hans Eichel hatten den Vermittlerjob zuvor abgelehnt. liarden Mark zahlen. Viele Manager schließen nun ein Schei- Kastrup erwartet bei den Verhandlungen am 15. Juli in Wa- tern der Verhandlungen nicht mehr völlig aus. In diesem Fall shington eine schwierige Aufgabe. So fordern die osteuropäi- drohen den Unternehmen jedoch Sammelklagen in Milliar- schen Regierungen – sie vertreten den größten Teil der ge- denhöhe. Doch die Wirtschaftsbosse sind zunehmend bereit, schätzten 1,7 Millionen ehemaligen Zwangsarbeiter – von den dieses Risiko in Kauf zu nehmen – auch weil eine freiwillige deutschen Unternehmen jetzt eine Vorauszahlung, über die Entschädigung nicht rechtsverbindlich vor den Sammelklagen endgültige Höhe der Entschädigung könne zeitgleich weiter- schützt.

ARBEITSLOSENVERSICHERUNG fortzahlung bekommen. Im Gegenzug soll der Arbeitgeberanteil an der Ar- Zitat Skeptische Bürokraten beitslosenversicherung von 3,25 Pro- zent der Bruttoverdienste entfallen. »Wo waren Sie denn? or allem auf die Schützenhilfe der Details des Reformkonzepts liegen aber VWirtschaftsverbände ist Bundes- noch nicht vor, Müller („Ich wollte das Ich hatte schon Entzugs- wirtschaftsminister Werner Müller an- schluckend in die Debatte einbringen“) erscheinungen.« gewiesen bei seinem Versuch, die Ar- hat sich den Vorschlag weitgehend beitslosenversicherung zu ohne seine Bürokraten ausgedacht. Die »Wieso? Haben Sie reformieren. Sein eigenes sind skeptisch: Firmen, die zu Entlas- niedrigen Blutdruck? Da Ressort muß er nämlich sungen gezwungen seien, würden zu- helfe ich gern. Ich bin erst noch überzeugen. sätzlich belastet. Nun werden die Un- Müller: „Wir sind uns da ternehmensverbände nachrechnen und ein homöopathisches selbst noch nicht ganz ei- nach dem Vorbild der Pensionssiche- Aufputschmittel.« nig.“ Der parteilose Mi- rungsvereine ein Modell liefern, das die Dialog zwischen BDI-Chef Hans-Olaf Henkel nister will, daß Arbeitslo- Ansprüche der Beschäftigten im Falle und Bundesumweltminister Jürgen Trittin beim Staatsbesuch in der Ukraine MELDEPRESS se künftig vom letzten des Konkurses ihres Unternehmens ab- Müller Arbeitgeber eine Lohn- sichert.

der spiegel 28/1999 17 Panorama

ABSCHIEBUNG „Das ist eine Zumutung“ Der neugewählte Präsident der Bundes- ärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, 58, über die ärztliche Begleitung von Ab- schiebehäftlingen

SPIEGEL: Politiker fordern, Ärzte sollten abgelehnte Asylbewerber bei der Ab- schiebung begleiten, um Zwischenfällen vorzubeugen. Sind Sie auch dafür? Hoppe: Gesundheitlich gefährdete Men- schen bei ihrer Abschiebung zu beglei- ten, damit sie im Zweifelsfall ärztliche Hilfe bekommen können und die Ab- schiebung überleben, ist auch für die Ärzte eine Zumu- tung. Diese Form der Patientenbetreuung

widerspricht dem Be- / GAMMA STUDIO X K. KURITA rufsethos. Domingo, Carreras, Pavarotti (1996 in Tokio) SPIEGEL: Warum? Hoppe: Die ärztliche STEUERN Betreuung setzt im-

M. TÜREMIS mer voraus, daß die Hoppe Patienten sie wollen. Singen für den Fiskus? Es gehört nicht zu den ärztlichen Aufgaben, staatlichen wei der drei Star-Tenöre José Carreras, Luciano Pavarotti und Plácido Domin- Zwang durchzusetzen. Der Arzt verletzt Zgo haben ihre Steuerschuld beim deutschen Fiskus noch nicht beglichen. Von die körperliche Integrität des Abschie- Pavarotti verlangt der Staat noch 2043330 Mark, Carreras soll 4524016 Mark zah- behäftlings, wenn er ihn gegen seinen len. Gegen die drei sowie gegen die Sängerin Montserrat Caballé hatte die Mann- Willen begleitet. heimer Staatsanwaltschaft im Oktober vergangenen Jahres ein Ermittlungsverfah- SPIEGEL: Hamburger Ärzten ist vorge- ren wegen des Verdachts der Beihilfe zur Steuerhinterziehung eingeleitet. Gegen worfen worden, sie hätten in Gefällig- Caballé ist das Ermittlungsverfahren inzwischen gegen Zahlung einer Geldbuße keitsbescheinigungen Abschiebehäftlin- eingestellt worden. Sie tritt in Deutschland auch wieder auf. Tenor Pavarotti läßt gen Reiseunfähigkeit attestiert. seine Fans weiter schmoren. Auf dem Michael-Jackson-Konzert am 27. Juni in Hoppe: Diese Vorwürfe sind nicht be- München fehlte er trotz Ankündigung. Offizielle Begründung: Nachdem er schon legt. Es sieht eher so aus, als sei das ein zuvor einen Auftritt in Oslo nur mit Mühe durchstehen konnte, sei er für München Entlastungsangriff der Hamburger In- zu heiser gewesen. nenbehörde, die abschieben möchte.

KRIMINALITÄT diensteten von Verwaltung und Gefäng- WAHLKAMPF nissen festgestellt worden. Laut BKA Beste Kontakte verfügen verdächtige Albaner über CDU linkt Stolpe bundes- und europaweite Verbindungen osovo-albanische Exilpolitiker pfle- zu Schleuserbanden und Drogenhänd- randenburgs CDU hat im Internet Kgen nach Erkenntnissen des Bun- lern in Tschechien, Polen und Süd- Bzwei Webseiten eingerichtet, die deskriminalamtes (BKA) gute Verbin- europa. den Namen von SPD-Prominenten tra- dungen zu kriminellen Albanern gen: www.manfredstolpe.de und in der Bundesrepublik. Das geht www.reginehildebrandt.de. Im Wahl- aus dem jüngsten BKA-Lagebild kampf will die CDU dort für das eigene zur Organisierten Kriminalität Programm werben. Möglichen rechtli- hervor. chen Schritten der Potsdamer Staats- Außerdem stießen BKA-Aus- kanzlei gegen den Namensklau sieht die werter auf legale Organisatio- CDU gelassen entgegen. Unter rund nen, die von verdächtigen Alba- 600000 CDU-Mitgliedern in Deutsch- nern unterhalten werden. Es land würde sich wohl eine Regine Hilde- handelt sich überwiegend um brandt oder ein Manfred Stolpe finden Kulturvereine, in deren Reihen lassen. Im Moment ist als Seiteninhaber „hauptsächlich Straftäter an- der CDU-Wahlkämpfer Heiko Hom- zutreffen“ seien. In Ermitt- burg eingetragen – bei derzeitiger

lungsverfahren seien Kontakte A. ULRICH Rechtsprechung wäre die CDU ihre von Tatverdächtigen zu Be- Festnahme eines Albaners (1998 in Hamburg) Stolpe-Seite schnell wieder los.

18 der spiegel 28/1999 Deutschland

SPD sei die ideologische Nabelschau „fast schon Politikzweck“. In einem sechssei- Aufbruch der Youngster tigen Positionspapier („Aufbruch nach Berlin“) formulieren die Jungsozis, die ach den Grünen droht jetzt auch sich gegen die traditionalistischen Jusos Nden Sozialdemokraten ein Genera- abgrenzen, eine Reihe von Forderungen tionenkonflikt. Eine Gruppe junger an Parteichef Gerhard Schröder. Der Bundestagsabgeordneter verlangt das Kanzler müsse dafür sorgen, „daß neu- Ende der „lähmenden Auseinanderset- es Denken in neues Handeln mündet“. zung darüber, was in der Deshalb erwarten die SPD links und rechts ist“. „Youngster“ um die Hes- Die 13 „Youngster“, wie sin Nina Hauer, 31, und sie sich nennen, verbinden den Thüringer Carsten ihren Aufruf mit einer Schneider, 23, von Schrö- Attacke gegen weite Teile der, „daß er die Ausein- des Partei-Establishments: andersetzung in der Par-

„Für die mittlere Funk- WOLFF / BILD ZEITUNG tei sucht und maßgeblich tionärsebene der SPD “ Schneider Hauer organisiert“.

ERMITTLUNGSVERFAHREN Vergeblich gewartet er mit internationalem Haftbefehl gesuchte frühere Verfassungsschutzchef und DStaatssekretär im Verteidigungsministerium Ludwig-Holger Pfahls (CSU) hat sich möglicherweise abgesetzt. Am Dienstag vergangener Woche warteten seine Anwälte und Beamte des Bayerischen Landeskriminalamts vergeblich am Flughafen München auf den jetzigen DaimlerChrysler-Manager. Pfahls wird vorgeworfen, im Zusammen- hang mit der Lieferung von „Fuchs“-Spürpanzern der Bundeswehr an Saudi-Arabien 3,8 Millionen Mark Schmiergeld erhalten zu haben. Er hatte der Staatsanwaltschaft Augsburg gegenüber angekündigt, er werde sich stellen. Um 8.35 Uhr sollte er mit einer Maschine aus Zürich ankommen. Nach Erkenntnissen der Ermittler verließ Pfahls Montag abend zwar Taipeh, wo er sich angeblich in einer Klinik aufgehalten hat, in Richtung Hongkong. Den Weiterflug in die Schweiz trat er jedoch nicht an.

GEN-DATEI DNA-Identifizierungsmusters moleku- largenetisch untersucht“ werden. Das Gezwungen freiwillig Ergebnis wird in die Gen-Datei beim Bundeskriminalamt eingegeben, wenn n Bayerns Gefängnissen werden Häft- „Grund zu der Annahme besteht“, daß Ilinge aufgefordert, „freiwillig“ einen gegen die Täter „künftig erneut Straf- genetischen Fingerabdruck abzuliefern. verfahren zu führen sind“. Zwar kann Ihre Körperzellen aus Speichel- oder nach dem Gesetz nur ein Richter die Blutproben sollen „zur Feststellung des Häftlinge zur Zellabgabe zwingen. Doch die Bayern haben offenbar ein subtiles Zwangsmittel entdeckt. Wer nicht frei- willig mitmacht, kann nach Angaben von Justizminister Alfred Sauter (CSU) „darauf hingewiesen werden, daß die Verweigerung des Einverständnisses Auswirkungen auf die Gewährung von Vollzugslockerungen haben“ könne. Der Bayerische Landesbeauftragte für den Datenschutz, Reinhard Vetter, hält das Vorgehen im Freistaat deshalb für „nicht zulässig“. Bei Menschen, die „sich in den Zwangsverhältnissen einer Justiz- vollzugsanstalt befinden“, könne man generell nicht davon ausgehen, daß die „Einverständniserklärung“ wirklich frei-

C. LEHSTEN / ARGUM willig erlangt worden sei.

Justizvollzugsanstalt Landsberg 19 Panorama Deutschland

Am Rande Tolerant Vor einem Jahr hat die Landes- regierung in Potsdam die In- itiative „Tole- rantes Branden- burg“ ausgeru- fen. Den Ein- wohnern sollte auf eine pädago- gisch überzeugende und doch so-

zialverträglich behutsame Art klar- / ARGUS RAUPACH T. gemacht werden, daß man Auslän- Havel bei Brandenburg der nicht grundlos jagen, Fremde UMWELT verbänden verhandelt – es bleibt bei nicht verhauen und Behinderte der Flußschiffahrt. Hält der für Wasser- nicht quälen darf. Unter anderem Kanal voll straßen zuständige Bund sich an die gab es einen vom Bildungsministe- Ländervorgaben, verstößt die rot-grüne rium geförderten Internet-Wettbe- achsen-Anhalt und Brandenburg wi- Regierung gegen die eigene „Gemeinsa- werb gegen Gewalt, Rechtsextre- Sdersetzen sich den Bemühungen von me Elberklärung“. Das damals noch mismus und Fremdenhaß. Bundesregierung und Umweltschutz- CDU-geführte Ministerium hatte sich verbänden, die Elbe und ihre Neben- darin mit Naturschutzverbänden auf die Inzwischen zeigt das Programm flüsse zu renaturieren. Die beiden Bun- Renaturierung entlang der Elbe geei- echte Wirkung, das tolerante Bran- desländer wollen die Flüsse auch weiter nigt. Dieses Ökoprojekt hält Verkehrs- denburg nimmt Gestalt an. Seit im vor allem für den gewerblichen Binnen- minister Franz Müntefering (SPD) aller- Regionalverkehr der Bahn zwi- schiffverkehr nutzen. Sie fordern Bonn dings auch nach dem Vorstoß aus Bran- schen Frankfurt (Oder) und Berlin- auf, die Untere Havel weiterhin als denburg und Sachsen-Anhalt für „nicht Zoo die Reisenden auch auf Pol- „Bundeswasserstraße“ einzustufen. Be- gefährdet“: Bis im Jahr 2003 eine Ka- nisch begrüßt und die Stationen auf gründung: Für eine Renaturierung seien nalbrücke die Elbe bei Magdeburg Deutsch und Polnisch angesagt „die Voraussetzungen derzeit nicht ge- überquere und die Schiffe die Schutzge- geben“. Vergangene Woche hat Mini- biete umfahren könnten, müsse die Un- werden, häufen sich bei der Bahn sterpräsident Reinhard Höppner in tere Havel als „Ausweichstrecke“ für Beschwerden deutscher Passagie- Magdeburg erneut mit den Öko- die Binnenschiffer dienen. re, „daß Polen überhaupt begrüßt werden“. Ein Sprecher der Deut- schen Bahn AG bedauerte die Re- BALKANHILFE aktionen und erklärte, Polen sei Nachgefragt „ein großer Markt“, da könne sich Ohne den Wirt die Bahn „Vorurteile nicht leisten“. ie Bundesregierung muß beim Sta- Kids unter Kontrolle Dafür aber einen Kompromiß. Um Dbilitätspakt für den Balkan auf eine die Brandenburger Toleranz nicht Geste mit Symbolwert verzichten. Die Hessens Innen- zu überfordern, wird es „künftig in erste, für Ende Juli geplante Konferenz minister Volker jeder Fahrtrichtung nur noch eine der Pakt-Staaten wird nicht, wie von Bouffier (CDU) Bundeskanzler Gerhard Schröder an- will Schulhöfe mit Durchsage“ auf Polnisch geben – Videokameras überwachen kurz vor beziehungsweise hinter gekündigt, in Sarajevo, sondern vermut- lich in Deutschland stattfinden. Die lassen. Was meinen Sie dazu? Frankfurt (Oder). Sollte anderswo Wahl der Hauptstadt von Bosnien-Her- ein Pole an der falschen Station zegowina sollte ein Zeichen für die Re- Das finde ich gut, aussteigen, weil er die deutsche An- gion setzen. Schröders Plan scheitert um Gewalt und Drogen- 52% sage nicht verstanden hat, werden wohl an der bitteren Realität vor Ort. In mißbrauch zu bekämpfen ihm die Brandenburger sicher wei- der nach wie vor stark verwüsteten Olympiastadt mangelt es an der Infra- Ich lehne es ab, daß terhelfen, zu Fuß bis zur polnischen schon Kinder und Jugend- 40% Grenze oder zur nächsten Erste- struktur: Für die rund 4000 erwarteten liche überwacht werden Diplomaten und Journalisten stehen Hilfe-Station, wo im Rahmen des einstweilen nur 800 Hotelbetten zur Emnid-Umfrage für den SPIEGEL vom 6. und 7. Juli; Programms „Tolerantes Branden- Verfügung, Räumlichkeiten für die Ta- rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: keine Angabe burg“ sogar verletzte Ausländer gungen müßten erst neu geschaffen ambulant behandelt werden. werden. Außerdem fehlen ausreichende Telekommunikationseinrichtungen.

20 der spiegel 28/1999 Werbeseite

Werbeseite KONFLIKTE ZWISCHEN BONN UND BRÜSSEL

Werften-Hilfe Sprachenstreit Banken-Beihilfe

EUROPA Ein trotziges Nein Die EU-Kommission fordert eine Milliarden-Beihilfe von der WestLB zurück und setzt sich dabei über eine Intervention des Kanzlers hinweg – ein Präzedenzfall, der das öffentliche Kreditwesen in Deutschland bedroht. Gegen die Brüsseler Entscheidung wollen Schröder und die Länderchefs nun politisch und vor Gericht vorgehen.

er Kanzler machte sich gerade auf Es geht nicht allein ums Geld. Der Be- werden, wie Schröder im Wahlkampf tön- den Weg in die Ukraine, da kam schluß des EU-Wettbewerbskommissars te, ob bei Ratssitzungen ein trotziges „man Dam vergangenen Donnerstag aus Karel Van Miert greift tief in ein typisch spricht deutsch“ eingefordert wird – die Brüssel eine Meldung, die ihn empörte. deutsches System ein, meinen die Kanzler- neue Regierung schlägt in Europa eine an- Kurz vor Ablauf ihrer Amtszeit hatte die Vertrauten. „Wenn Van Miert recht bekä- dere Tonart an als , dem der EU-Kommission entschieden, daß die Düs- me“, sagt Steinmeier, „wäre das in der Tat liebe Frieden in der EU viel Geld wert war. seldorfer WestLB knapp 1,6 Milliarden existenzbedrohend für das öffentlich-recht- Bei der Auswahl der neuen EU-Kom- Mark unerlaubte Beihilfe zurückzahlen liche Kreditwesen in Deutschland.“ missare beharrte der Kanzler stur auf sei- muß. Banken und Sparkassen im Besitz von nen rot-grünen Personalvorschlägen, ob- Noch während der Verhandlungen über Ländern und Kommunen, wie die WestLB, wohl der designierte Kommissionspräsi- die Atomkraftwerke in Kiew entschied könnten sich kaum noch finanzieren. Die dent Romano Prodi mehrmals deutlich ei- Gerhard Schröder: Den Brüsseler Anord- Institute, mit denen die Länderregierungen nen Vertreter der Unions-Parteien verlangt nungen sei nicht zu folgen, nichts werde zum Beispiel ihre Strukturpolitik unter- hatte.Am vergangenen Freitag wurden des gezahlt. „Einer Kommission, die nur noch stützen, die sie aber auch zur Unter- Kanzlers Wünsche erfüllt: Prodi benannte zwei Monate im Amt ist, fehlt jede Legiti- bringung mancher Parteifreunde nutzen, Günter Verheugen (SPD) und Michaele mation“, monierte der Kanzler. wären wohl nicht mehr lange zu halten. Schreyer (Grüne) und gab ihnen sogar Den trotzigen Widerstand gegen die Eu- Wieder einmal mußte Schröder ent- wichtigere Kompetenzen als zunächst vor- rokraten wollte Schröder sogleich aus der decken, daß sein Kanzleramt keineswegs gesehen (siehe Seite 25). Ukraine der Weltöffentlichkeit bekannt- so mächtig ist, wie er dachte. Die Brüsse- Der alten Kommission, die wegen zahl- machen. Kanzleramtschef Frank-Walter ler haben, völlig legal und zuletzt im Am- reicher Korruptionsvorwürfe ihren Rück- Steinmeier, daheim in Bonn, sollte die sterdamer Vertrag von allen EU-Mitglie- tritt einreichte, traut Schröder nicht mehr Empörung über die Brüsseler Willkür in dern sanktioniert, immer mehr Kompe- viel zu. Ausgerechnet ein deutscher Ver- griffige Worte fassen. Erst als Juristen des tenzen an sich gezogen. treter versammelte noch einmal alle Vor- Auswärtigen Amtes davor warnten, per Mit dem neuen Selbstbewußtsein der urteile gegen die Eurokraten in seiner Per- Pressemitteilung des Kanzleramtes die 68er, die der Gnade der späten Regierung son: Kommissar Martin Bangemann, der in WestLB zum Rechtsbruch aufzufordern, teilhaftig wurden, tritt Rot-Grün nun in Eu- die Dienste der Madrider Firma Telefóni- ließ Schröder von der Provokation ab. ropa auf. Ob Gelder in Brüssel „verbraten“ ca wechseln will. Die Bundesregierung

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flossen, nahm auch der Schmu mit den Bei- 1,6 Milliarden Mark, die die WestLB hilfen massenhaft zu. Schwerster Fall war zurückzahlen soll, ergeben sich als Diffe- die Verschiebung von Aufbau-Ost-Geldern renz zwischen dem Betrag, den die West- im Verbund der Vulkanwerft nach Bremen. LB zwischen 1992 und 1998 an die Lan- Kommissar Van Miert nahm die Verfol- deskasse überwiesen hat, und einem von gung auf, etwa bei der sächsischen Sub- Van Miert ermittelten Marktpreis, den eine vention für das VW-Werk Mosel. Gegen private Bank hätte zahlen müssen. Der Ver- das ausdrückliche Verbot überwies Mini- zicht auf eine angemessene Vergütung, be- sterpräsident 240 Millio- fand der Wettbewerbskommissar, sei eine nen Mark an VW – nun entscheidet der unerlaubte Beihilfe. Europäische Gerichtshof (EuGH). Nach diesem Muster haben viele Lan- Am gleichen Tag, als Van Miert sich die desherren ihren Banken auf die Sprünge WestLB vornahm, verlangte er auch von geholfen. Konsequent erklärte Van Miert der Kvaerner-Warnow-Werft in War- den dicksten Brocken, die WestLB, zum nemünde 83 Millionen Mark zurück, die Präzedenzfall. In seinem Beihilfe-Ent- Gröditzer Stahlwerke in Sachsen sollen 239 scheid kündigt er an, nun müsse die Kom- Millionen Mark herausrücken. In beiden mission sich auch der anderen Landesban- Fällen konstruierten die Unternehmen, so ken annehmen. Doch das wird nicht mehr der Vorwurf, teilweise im Zusammenspiel er selbst, sondern sein Nachfolger Mario mit staatlichen Agenturen falsche Voraus- Monti verantworten müssen. Und da setzt setzungen für Beihilfen. Schröder an. Bei dem bis ins Jahr 1991 zurückgehen- Besonders ärgerlich für den Kanzler: Die den Streitfall WestLB gibt es Klagen pri- Kommission setzte sich über einen Brand- vater Banken: Der Staat habe die öffentli- brief vom vergangenen Mittwoch an den Buchpreisbindung chen Institute durch Kapitalaufstockung amtierenden Präsidenten Jacques Santer

FOTOS: T. ERNSTING / BILDERBERG (li.); F. DARCHINGER (M. li.); F. ROGNER / NETZHAUT (M. re.); F. ZANETTINI / LAIF (re.) F. ROGNER / NETZHAUT (M. re.); DARCHINGER (M. li.); F. ERNSTING / BILDERBERG (li.); F. T. FOTOS: gestützt. Neben dem Fall WestLB liegen kühl hinweg, mit dem Schröder eine Ver- noch sechs weitere Klagen vor, die vor al- tagung des Beschlusses erreichen wollte. stimmte vorige Woche zu, Bangemann vor lem auf die großen Landesbanken zielen. Die vorgesehene Entscheidung Van Mierts, dem Europäischen Gerichtshof zu verkla- Die WestLB war 1992 vom Land befand Schröder apodiktisch, sei „nicht gen (siehe Seite 26). Nordrhein-Westfalen durch die Übertra- hinreichend fundiert“. Das Beihilfeverfah- Den Ärger mit der WestLB-Beihilfe ver- gung der Wohnungsbauförderungsanstalt ren sei über den Einzelfall hinaus von be- dankt Schröder freilich einem Kommissar mit haftendem Kapital in Höhe von 2,5 sonderem politischem Gewicht. von untadeligem Ruf. Der flämische So- Milliarden Mark ausgestattet worden. „Unabhängig von unseren gravierenden zialist Karel Van Miert hatte sich in seiner Dafür zahlte die Bank dem Land einen be- Bedenken hinsichtlich der Fundierung der Amtszeit als Wettbewerbskommissar nichts scheidenen Betrag – zu bescheiden, von Herrn Kommissar Van Miert ange- zuschulden kommen lassen. fanden die privaten Banken. Sie selbst strebten Entscheidung glaube ich auch“, Einst ein ausgesprochener Freund der müßten sich ihr Kapital viel teurer be- heißt es weiter, „daß der künftigen Kom- Deutschen, lernte Van Miert zu seiner Ent- schaffen, deshalb seien sie im Wettbewerb mission in dieser außerordentlich sensiblen täuschung, daß auch dem Wort deutscher benachteiligt. Frage keinesfalls durch eine kurzfristige Beamten und Politiker nicht ohne weiteres Folgerichtig beschwerten sich die Geld- Entscheidung vorgegriffen werden darf.“ zu trauen ist. Nach der Wende, als Milliar- herren beim Brüsseler Wettbewerbshüter, Die Sache könne nur „von der künftigen densubventionen nach Ostdeutschland und der gab ihnen jetzt recht. Die knapp Kommission nach eingehenden Ge- H. WAGNER J. SCHICKE J. Kanzler Schröder, Schröder-Brief (Ausriß), EU-Kommissar Van Miert: „Nicht hinreichend fundiert“

der spiegel 28/1999 23 Deutschland sprächen mit der deutschen Seite entschieden und politisch verantwortet werden“. Gegen die Stimme der Deutschen Monika Wulf- Mathies, bei Enthaltungen der dänischen und grie- chischen Kommissare, ent- schied das Gremium am ver- gangen Donnerstag dennoch, die Milliarden-Forderung an die dem Land Nordrhein- Westfalen, den Landschafts- verbänden und den Spar- kassen gehörende Bank ab- zusenden. WestLB-Chef Friedel Neu- ber drohte umgehend mit Klage beim EuGH in Luxem- burg. Auch in den Staatskanz- leien von Düsseldorf, Mün- chen, Hamburg, Kiel, Hanno- ver und Berlin herrschte heller

Aufruhr gegen Brüssel. „Nicht / LAIF / REPORTERS CAPPELLEN v. W. hinnehmbar“, „Roßtäusche- EU-Zentrale in Brüssel: Eingriffe in ein typisch deutsches System rei“, „grober Fehler der Kom- mission“, empörten sich schwarze wie rote von der alten Kommission auf den Weg ge- Länderfinanzminister, die bisher zuwenig Länderchefs. brachten Zahlungsbefehl durch die neue Zinsen bekommen hätten. Die Aufregung ist begreiflich. Denn Prodi-Kommission zurückholen zu kön- Die Länder allerdings rechnen anders wenn die WestLB von ihren Milliarden las- nen. Denn noch sind die anderen strittigen und sehen sich auch noch um einen Teil ih- sen muß, dann sind die anderen Landes- Banken-Fälle nicht entschieden; das wird res eigenen Geldes geprellt. Rund drei Mil- banken ebenfalls betroffen. Am Ende, erst die neue Kommission erledigen kön- liarden Mark müßte die WestLB mobili- analysierten die Bankmanager und Lan- nen. Und die, so hofft Schröder, sieht die sieren, um die fast 1,6 Milliarden Mark despolitiker gemeinsam, würde der Brüs- Sache womöglich anders als der gestrenge zurückzahlen zu können, kalkuliert der seler Beschluß jegliche unternehmerische Van Miert. Düsseldorfer Finanzminister Heinz Tätigkeit von Bund, Ländern und Gemein- Wenn er die nächste Kommission Schleußer (SPD). Denn auf die Ausschüt- den auf Märkten unmöglich machen, auf dazu bringen könnte, anders zu ent- tung fallen Körperschaftsteuern an. denen sich auch private Wettbewerber scheiden, müßte sie aus Gründen der Die Reserven gehören eigentlich den öf- tummeln. Deshalb, heißt es in den Län- Gleichbehandlung auch die WestLB ver- fentlichen Eigentümern, also auch dem dern, soll auf allen Ebenen geklagt wer- schonen. Land.Als Steuerzahlung jedoch stünde das den, nicht nur in Luxemburg, sondern auch Zumindest möchten die öffentlichen Geld zur Hälfte dem Bund zu. Die andere beim Verfassungsgericht in Karlsruhe. Banker den italienischen Wirtschaftspro- Hälfte fließt zwar in die NRW-Länderkas- Der Kanzler aber denkt gar nicht an fessor Prodi davon überzeugen, daß die se – von da aber als Zusatzeinnahme über den Rechtsweg. Hinter dem trotzigen Nein vorgegebene Rendite im Falle WestLB ab- den Länderfinanzausgleich sofort weiter zur Zahlungsaufforderung steckt eine surd hoch festgesetzt worden sei. Eine an die armen Länder wie das Saarland, trickreiche Strategie. Erstmals gibt er das deutliche Minderung würde zwar auch Sachsen-Anhalt oder Thüringen. Mithin Kohlsche Motto aus: Abwarten und aus- noch zu Nachzahlungen führen, aber nicht, verlieren die WestLB-Eigentümer bei Van sitzen. wie jetzt in sämtlichen Provinzhauptstäd- Mierts Strafaktion noch Geld. Der Beschluß der alten Kommission ten behauptet wird, Bund, Ländern und Ungeachtet des Widerstandes der Deut- wird vermutlich erst im September zuge- Gemeinden das Bankertum unmöglich schen will Van Miert auch die letzten Tage stellt. Dann gilt eine Einspruchsfrist von machen. in Brüssel unbeirrt seines Amtes walten. drei Monaten, die aber die Deutschen un- Van Miert kann die Empörung kaum Schließlich sei er zur vertragsgemäßen Er- genutzt verstreichen lassen wollen. verstehen. Schließlich kassiere ja nicht füllung seiner Aufgaben verpflichtet – die Der gelernte Rechtsanwalt Schröder Brüssel die verdeckten Subventionen wie- Kommission hat nur freiwillig verzichtet, glaubt, einen Dreh gefunden zu haben, den der ein, vielmehr gehe das Geld an die neue politische Initiativen zu ergreifen. Be- schwerdeführer im laufenden Verfahren, Deutscher Sparkassen- und Giroverband Finanzgruppe 1998 so der Kommissar, hätten ein Recht auf Bescheid. GESCHÄFTSVOLUMEN GESCHÄFTSSTELLEN MITARBEITER Den gibt es – wieder zum Verdruß der 3707 Milliarden Mark 25 074 362 665 Deutschen – womöglich schon in dieser nur Kreditinstitute Woche zur Buchpreisbindung zwischen Deutschland und Österreich. Die Aufhe- 13 Landes- 13 Landesbanken/ 594 Sparkassen 40 Öffentliche bausparkassen Girozentralen Versicherungsanstalten bung gilt als sicher, selbst wenn feinsinni- ge Verleger wie Klaus Wagenbach Van * 79 Mrd. 1840 Mrd. 1788 Mrd. 25,3 Mrd. Miert darob „auch mit Fußtritten“ gedroht 966 449 19 659 4000 haben und Schröders Kulturminister *Brutto- Michael Naumann mehrmals in Brüssel da- 10 280 33 639 287 646 31 100 beitrags gegen intervenierte. Winfried Didzoleit, einnahmen Michael Schmidt-Klingenberg

24 der spiegel 28/1999 bei einem TV-Sender in Sri Lanka. Eigent- EUROPA lich wollte Ministerpräsident Göran Pers- son seinen Entwicklungsminister Pierre Flucht nach Schori zur Kommission befördern. Fle- hentliche Bitten Prodis, der um seine Frau- enquote rang, führten zur Verlegenheits- vorne lösung.Wallström war „ganz überrascht, so schnell in die Politik zurückzukehren“, nun Romano Prodi stellte seine ist sie „stolz, etwas für die Weiterentwick- lung Europas tun zu können“. neue Kommission vor – Prodis bester Mann ist der Österreicher nicht alle Kandidaten haben Franz Fischler, der kenntnisreiche und re- den besten Leumund. formbereite Agrarkommissar aus der Kom- mission des Luxemburgers Jacques Santer. in „top class team“ werde er präsen- Fischler soll von den Überlebenden der tieren, eine politisch ausgewogene zurückgetretenen Kommission – auch der ESpitzenmannschaft, und Kommissar Italiener Mario Monti, der Brite Neil Kin- könne unter ihm nur werden, wer sein „to- nock und der Finne Erkki Liikanen sind tales Vertrauen“ besitze. So hatte es der de- wieder dabei – als einziger sein Ressort signierte Kommissionspräsident Romano behalten. Prodi beim EU-Gipfel in Köln feierlich ver- Paris bietet den versierten ehemaligen

sprochen. DPA Europaminister Michel Barnier, Madrid Der Italiener versuchte, Wort zu halten. EU-Politiker Prodi den früheren Finanzminister Pedro Solbes Doch die Umstände waren gegen ihn. Die Sorgen macht das Parlament auf.Als gute Wahl gelten wegen langer be- Kompetenz nicht nur der deutschen Grü- ruflicher Erfahrung auch der deutsche nen-Kandidatin Michaele Schreyer wurde frühere Berliner Umweltsenatorin ohne AA-Staatsminister Günter Verheugen und angezweifelt; Gerüchte waberten um die jegliche Europaerfahrung, wurde Kandi- der Brite Chris Patten. Der letzte Gouver- Ressortverteilung.Vergangenen Freitag er- datin für den hochdotierten Job. neur von Hongkong hatte sich unter Mar- griff Prodi deshalb kurz entschlossen die Am vorigen Mittwoch zeigte sich, daß garet Thatcher in der Nordirlandpolitik be- Flucht nach vorne und stellte seine 19köp- sie noch lernen muß.Vor der Grünen-Frak- währt, diente als Staatsminister in den fige Mannschaft vor – mit Schreyer als tion des Europäischen Parlaments in Brüs- Ministerien für Bildung und Wissenschaft Haushaltskommissarin und Günter Ver- sel geriet sie bei Fragen zur landwirt- und für das Commonwealth, war mit über- heugen als Kommissar für die politisch schaftlichen Strukturpolitik oder zu den seeischer Entwicklungshilfe befaßt und überaus wichtige EU-Erweiterung. Demokratie-Defiziten der EU-Institutio- stieg zum Umweltminister auf. Prodi war bei der Auswahl auf die Vor- nen ins Schwimmen. Sorgen macht sich Prodi wegen des Eu- schläge der 15 Mitgliedstaaten angewiesen, Die Iren entsenden nicht mal einen ge- ropäischen Parlaments, das dem Präsiden- auch wenn laut neuem EU-Vertrag Kom- standenen Politiker. Sie bieten ihren Ge- ten samt seiner Kommission im September missare nur „im Einvernehmen“ mit ihm neralstaatsanwalt David Byrne auf, der die die Zustimmung erteilen muß. Politische zu bestellen sind. Und die Regierungschefs, EU nur aus der Zeitungslektüre kennt. Ausgewogenheit glaubt er auch ohne ei- die wenig Interesse an einer übermächtigen Die Niederländer präsentieren gar ei- nen CDU/CSU-Kommissar vorweisen zu Quasi-Regierung in Brüssel haben, stellten nen engagierten Anti-Europäer. Der rechts- können – acht Kommissare stammen aus ihm nicht nur die Allerbesten zur Verfü- liberale Frits Bolkestein ist gegen den dem bürgerlichen Lager, obgleich 11 der 15 gung. europäischen Bundesstaat („eine Täu- EU-Regierungen von Sozialdemokraten Im Gerangel ging Gerhard Schröder vor- schung“), gegen den Aufbau einer eu- geführt werden. an. Ohne Rücksicht auf europäischen Pro- ropäischen Verteidigung („Holland ist bes- Ein Problem könnte er indes mit Liika- porz fiel einer der beiden den Deutschen ser in der Nato aufgehoben“), gegen eine nen bekommen, unter Santer zuständig für zustehenden Posten beim Koalitionsscha- großzügige EU-Erweiterung („die Türkei Haushalt, Personal und Verwaltung und cher an die Grünen. Joschka Fischer und nicht“). Gegen die Einführung des Euro damit ein Hauptverantwortlicher für Miß- Rezzo Schlauch wären bereit gewesen, die war er übrigens auch. management und Korruption. Die Par- Brüsseler Ansprüche gegen zwei Staatsse- Aus Schweden kommt eine ehemalige lamentarier werden wohl auch Anstoß neh- kretärsstellen in der Bundesregierung ein- Greenpeace-Aktivistin: Margot Wallström men am offenkundigen Widerspruch zwi- zutauschen. Doch das wurde ruchbar, die war bis 1998 vier Jahre lang erst Kultur-, schen Prodis Ankündigung, mit seiner Basis begehrte auf – und Schreyer, eine dann Sozialministerin, zuletzt arbeitete sie neuen Kommission breche eine neue sau- REUTERS H. WAGNER AFP / DPA G. v. ROON / HOHO LAIF G. v. De Palacio Busquin Kinnock Bolkestein

der spiegel 28/1999 25 Deutschland bere Zeit an, und dem zweifelhaften Leu- mund einiger Kandidaten. Die britische „Sunday Times“ regt sich EUROPA darüber auf, daß nicht nur die Ehefrau, sondern auch die Schwiegertochter des Kommissars Neil Kinnock als Abgeordne- Genialer Faulpelz te ins Europäische Parlament einziehen. Die jährlichen Einkünfte der sozialistischen „Kinnock-Eurodynastie“ aus Steuermit- Martin Bangemann setzt noch einmal Maßstäbe: Erstmals steht teln beziffert das Blatt auf rund 500 000 ein EU-Kommissar vor dem Europäischen Gerichtshof. britische Pfund (1,5 Millionen Mark). Beim belgischen Anwärter Philippe Bus- quin, Chef der wallonischen Sozialisten, hält sich hartnäckig der Verdacht, er habe von einem Schwarzgeldkonto seiner Partei gewußt, auf das Schmiergelder des fran- zösischen Rüstungskonzerns Dassault ge- flossen sein sollen. Reichlich provozierend wirkt auch die konservative spanische Kommissionsaspi- rantin Loyola de Palacio. Die ehemalige Landwirtschaftsministerin war politisch verantwortlich für das Treiben ihrer rangho- hen Mitarbeiter, die sich und ihren Fami- lien Millionen-Sub- ventionen aus Brüssel für den Flachsanbau zugeschanzt hatten. Ob zuviel Zuschüsse gezahlt wurden, läßt sich nicht mehr genau prüfen: Der Flachs ist DPA weg, vernichtet durch SCHUERING W. Schreyer Großfeuer in den La- FDP-Politiker Bangemann*: Sitzungen geschwänzt, Dienstreisen privat genutzt gern. Ein Untersu- chungsausschuß des it seinen hohen Gitterzäunen und zum verheerenden Ruf der Brüsseler Su- Madrider Parlaments der Fassade aus Granit gleicht das perbürokratie bei. befaßt sich jetzt mit MBrüsseler Ratsgebäude einer Fe- Er schwänzte Sitzungen, nutzte Dienst- den mutmaßlichen stung. Gleich dreimal zogen sich die EU- reisen zu privaten Vergnügungen, zweimal Brandstiftungen. Botschafter vergangene Woche hierher wurde ihm dabei der Dienstwagen geklaut. Furios auch kämpf- zurück. Noch beim Lunch am Mittwoch Ebenso wie die Kommissarinnen Edith te die Ministerin plagte die Herrenrunde Zweifel, ob eine Cresson und Monika Wulf-Mathies brach- gegen alle Pläne des Klage gegen den deutschen Skandal-Kom- te Bangemann einen Freund, den Schul- Agrarkommissars missar juristisch tragen würde. Wenig spä- und Segelkumpel Dieter Eggen, mehrere Fischler, den in Spa- ter zerstreuten sich die Bedenken, die Bot- Jahre in Brüssel unter. nien gängigen Betrug schafter erhielten Weisung aus ihren Jetzt müssen die Luxemburger Richter

REUTERS bei Olivensubventio- Hauptstädten: Martin Bangemann soll vor prüfen, welches Insiderwissen der Kom- Verheugen nen einzudämmen. Gericht. missar erwarb, welche Entscheidungen er Fischler wollte Zu- Der Wechsel des Industrie- und Tele- oder seine engen Berater für sein neues schüsse nur noch nach der Zahl der Oli- kommunikationskommissars zur spani- Unternehmen traf, welche Wettbewerbs- venbäume gewähren. De Palacio setzte die schen Telefónica – ohne Schamfrist, ohne nachteile für Konkurrenten durch seine Fortdauer der Regelung durch, wonach Wartezeit – wird jetzt zu einer „Causa neue Tätigkeit entstehen könnten. Kleinbauern bis zu einer Gesamternte von Bangemann“ vor dem Europäischen Ge- Die EU hat bislang nur schwammige For- 500 Kilogramm ohne jeden Nachweis Zu- richtshof (EuGH) führen. Die EU will dem meln für das Betragen der höchsten EU- schüsse aus Brüssel erhalten. Ihre Oliven beurlaubten Kommissar die monatliche Beamten aufgestellt. „Ehrenhaft und verkaufen sie oft an Ölmühlen, die wie- 14000-Mark-Pension aberkennen lassen. zurückhaltend“ müsse sich ein Kommissar derum Subventionen kassieren – ausge- Der Drei-Zentner-Deutsche setzt damit nach seinem Abgang verhalten. Klar ist, rechnet diese Frau möchte Prodi neben wieder einmal Maßstäbe. Erstmals steht daß über die Tische in Bangemanns Dienst- Kinnock zur Stellvertreterin machen. ein Kommissar vor dem EuGH, das Ver- stellen sämtliche wichtigen Marktdaten der Die strenge Katholikin hat gelobt, künf- fahren könnte anderthalb Jahre dauern. europäischen Telefonbetreiber gingen. tig auch in Brüssel für „die Interessen Spa- „Lieber ein genialer Faulpelz als ein Bangemann rechtfertigt die Übernahme niens“ zu kämpfen – ein glatter Verstoß fleißiger Idiot“ – in dieser Rolle gefiel sich des Postens bei der Telefónica mit dem gegen die Kommissionspflichten.Aber wie der ehemalige FDP-Parteichef als Brüsse- Beispiel anderer Brüsseler Kollegen. soll Prodi die rabiate Baskin bändigen, ler Kommissar am besten. Damit trug er Tatsächlich hatten in den siebziger und über die der spanische Sozialist Alfon- achtziger Jahren Kommissare wie die so Guerra urteilte: „Halb Nonne, halb * Im Mai 1986 in Hannover bei der Wiederwahl zum Par- Franzosen François-Xavier Ortoli oder Soldat“? Dirk Koch teivorsitzenden. Etienne Davignon in die höchsten Etagen

26 der spiegel 28/1999 von Banken oder Industriekonzernen ge- und ich habe weder finanzielle noch pro- Das Motorsegelschiff ist ein europäisches wechselt. fessionelle Interessen in anderen Unter- Gesamtkunstwerk: Sein Rumpf wird aus Die Kommissare hatten seinerzeit je- nehmen“, schrieb er am 22. Februar 1995. Kostengründen auf einer Danziger Billig- doch weit weniger Einfluß. Erst in den Offenbar hat Bangemann damit auch ge- werft gebaut, den Motor und die Wellenan- neunziger Jahren, mit zunehmender gen den kommissionsinternen Verhaltens- lage liefert die Firma Prowell in Bremen. In Machtfülle der Kommission im gemeinsa- kodex verstoßen. Das dürfte den Europäi- Buxtehude ist die „Mephisto“-Firma ins men Binnenmarkt, wurde der Brüsseler schen Gerichtshof interessieren. Handelsregister eingetragen, doch das Schiff Job enorm aufgewertet. Der Geschäftsführer der „Mephisto“- soll unter luxemburgischer Flagge segeln. Mitten im Wirbel, bestens gelaunt, ver- Segelschiffahrtsgesellschaft, Lothar Mah- Die Eigentümerrunde der Jacht, die als traute Bangemann einem Freund, dem ling, der einst Bangemanns Parteisprecher Tagungsschiff vermietet werden soll, ent- Frankfurter PR-Unternehmer Moritz Hun- stammt dem Speckgürtel Ban- zinger vorige Woche an: „Mein Wechsel gemanns: Mit von der „Mephi- zu Telefónica war und ist richtig.“ Hun- sto“-Partie sind seine EU-Kabi- zinger solle derweil das „Krisenmanage- nettsmitglieder Paul Weissen- ment“ übernehmen. berg und Helmut Schmitt von Bangemann zog sich am Wochenende Sydow, der Bangemann-Schul- auf sein französisches Landgut bei Poitiers freund Eggen, Parteifreund Tor- zurück, wo er vor einigen Jahren seinen sten Wolfgramm und auch PR- Hauptwohnsitz nahm. Das Anwesen liegt Mann Hunzinger aus Frankfurt. in der Region, in der eine andere Skandal- Bei der Staatsanwaltschaft kommissarin früher ihr Bürgermeisteramt Bremen steht die „Mephisto“ versah: Edith Cresson. in den Akten. Sie ermittelt we- Auch die Leidenschaft für schöne Segel- gen möglicher Untreuehand- schiffe litt nicht unter der Last seines Am- lungen ehemaliger Verantwort-

tes. Zahllose Schiffskizzen fertigte der Kom- AFP / DPA licher der Bremer Vulkan- missar während vieler Dienstsitzungen an. EU-Kommissar Bangemann*: „Mein Wechsel ist richtig“ Werft: Von einer ostdeutschen Bis 12. Mai 1995 war Bangemann laut Vulkan-Tochter soll kostenlos Handelsregisterauszug Miteigentümer an war, erklärte dazu, daß der Kommissar be- eine Bauaufsicht für die „Mephisto“ ge- einer Gesellschaft zum Bau der 40 Meter reits mit Gesellschafterbeschluß im No- stellt worden sein. langen Jacht „Mephisto“, eingeschossenes vember 1994 aus der Firma ausgetreten sei. Als der Bauaufseher bei „Mephisto“ tä- Kapital: 500000 Mark. In der Brüsseler EU- Bangemann habe jedoch nach wie vor tig wurde, war Bangemann noch Mitgesell- Kommission hatte er wenige Monate zuvor „regste Interessen“ an dem Boot. schafter. Doch Geschäftsführer Mahling be- noch eine Unabhängigkeitserklärung ab- streitet alle Vorwürfe: „Wir haben bezahlt. gegeben: „Ich bin Vorsitzender des Kura- * Mit Telefónica-Chef Juan Villalonga am 30. Juni in Weitere Summen werden wir begleichen, toriums der Friedrich-Naumann-Stiftung, Madrid. wenn sie fällig werden.“ Sylvia Schreiber

scheidende Ursache ist aus meiner „Unappetitlicher Eindruck“ Sicht die mangelnde demokratische Kontrolle der EU-Kommission. Besser FDP-Generalsekretär Guido Westerwelle wäre es, die Kommissare würden direkt vom Europäischen Parlament gewählt über das Verhalten der Liberalen im Fall Bangemann und könnten auch von ihm abberufen werden. SPIEGEL: Herr Westerwelle, Ihr Partei- Westerwelle: Juristische Schritte führen SPIEGEL: Ist Bangemann auch der Partei freund Martin Bangemann ist als EU- nicht weiter. Ein Ausschluß ist nur aus dem Ruder gelaufen? Kommissar beurlaubt worden, beim Eu- möglich, wenn jemand vorsätzlich der Westerwelle: Wir sind jedenfalls vor voll- ropäischen Gerichtshof wird Klage ge- eigenen Partei Schaden zufügen wollte. endete Tatsachen gestellt und vor den gen ihn eingereicht. Zeit für Der Bundesvorstand hat Kopf gestoßen worden. Leider hat Mar- die FDP, sich von Bange- Martin Bangemann aber tin Bangemann sich schon seit Jahren mann zu trennen? gebeten, die neue Tätigkeit nicht mehr auf Bundesparteitagen se- Westerwelle: Die FDP di- nicht anzunehmen. Jeder, hen lassen. Selbst am Europa-Parteitag, stanziert sich glasklar von der hören will, wird ver- Anfang dieses Jahres, konnte er leider dem Verhalten Martin Ban- stehen. nicht teilnehmen. gemanns. Durch seinen SPIEGEL: Es sei unsinnig, SPIEGEL: Warum hat die FDP Bange- Wechsel während seiner meint Bangemann, ihm den mann, obwohl ihm lange schon ein laufenden Amtszeit zur spa- Zugang zu der Branche zu zweifelhafter Ruf anhing, 1994 für eine nischen Telefónica entsteht versperren, in der er sich zweite Amtszeit als EU-Kommissar der unappetitliche Ein- auskennt. nominiert? druck, jemand wolle in der Westerwelle: Diese Argu- Westerwelle: Der EU-Kommissar Ban-

Politik erworbenes Insider- DECROCK / SPICA F. mentation kann ich nicht gemann hat durchaus Erfolge vorzuwei- Wissen in der privaten Wirt- Westerwelle nachvollziehen. Der jetzi- sen. Niemand konnte voraussehen, daß schaft zu Geld machen. ge Fall zeigt ein Grund- seine zweite Amtszeit so endet. Auch in SPIEGEL: Warum wird denn so ein Mann problem: Wir müssen uns fragen, der Privatwirtschaft verbieten nicht nur nicht aus der Partei ausgeschlos- warum in den letzten Monaten ein Kom- der Anstand, sondern in aller Regel Kon- sen, obwohl er den Ruf der FDP schä- missar nach dem anderen in poli- kurrenzklauseln solch einen stillosen digt? tischen Verruf geraten ist. Die ent- Wechsel. Interview: Paul Lersch

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Werbeseite Werbeseite

Werbeseite DPA Vertragspartner Stepaschin, Schily (am 3. Mai in Moskau): Auskunft aus dem Fahndungscomputer

BONN/MOSKAU Daten für die Mafia? Im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität wollen deutsche und russische Fahnder eng kooperieren. Innenminister Schily läßt Moskau großzügig BKA-Wissen zukommen – gegen die Regeln polizeilichen Datenschutzes. Experten warnen: Die Daten sickern in die Unterwelt.

it den Deutschen hat Robert M. hat Bundesinnenminister Otto Morgenthau, Chefermittler in Schily (SPD) dem russischen MManhattan, bald so viele Schere- Kollegen fest versprochen: reien wie mit der Mafia. Man kriegt sie großzügige und regelmäßige nicht. Auskunft aus dem Fahndungs- „Fast unmöglich“, klagt der prominente computer des BKA – und damit New Yorker Ankläger, sei es, aus Bonn oder indirekt aus dem europaweiten vom Bundeskriminalamt (BKA) mal ein polizeilichen Datenverbund. paar Daten zu bekommen: „Man wird hin Im Kampf gegen das organi- und her geschickt, überall Datenschutz“, es sierte Verbrechen, so hat Schily ist die Hölle. schon stets vertreten, dürfe es Da haben es die Russen viel besser. weder Parteigrenzen noch Län- Oberst Alexander Malinowski, ein mäch- dergrenzen geben. Darum führt tiger Mann im Moskauer Innenministeri- der neue SPD-Minister ent-

um, acht Telefone am Schreibtisch, schlossen fort, was der CDU- S. MORGENSTERN schwärmt von der Zusammenarbeit Vorgänger Manfred Kanther BKA-Zentrale in Wiesbaden: Prinzip Mißtrauen mit dem Bundeskriminalamt: Die Ermitt- angefangen hat. Die Polizei ler aus der deutschen Datenschutz-Hölle bekommt immer neue und immer gefährli- denen Regeln des polizeilichen Daten- hätten zu den Kollegen aus dem mafia- chere Befugnisse. schutzes. Die so vertrauensvoll herausge- unterwanderten Russenreich ein „Mega- Das deutsch-russische Abkommen „über gebenen Fahndungsinterna, befürchten Ex- vertrauen“. Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von perten, dürften auf kurzem Wege in die Das braucht es auch.Was die Deutschen Straftaten von erheblicher Bedeutung“, Hände jener Macht geraten, gegen die seit Jahren den amerikanischen Freunden das Schily vor wenigen Wochen unter- Deutsche und Russen offiziell zusammen- und dem großen Rest der Welt verwehren, schrieben hat, bricht nicht nur mit den gol- arbeiten wollen: der Mafia.

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Denn im Machtbereich des siechen Bo- von deutschen in russische Computer wan- mationelle Selbstbestimmung“, war bis zu ris Jelzin ist vorerst nicht hinreichend zwi- dern zu lassen. Schilys Amtsantritt eine unverzichtbare schen Oberwelt und Unterwelt zu unter- Auf dem Umweg über das Bundeskri- Bedingung für Verträge über Datenaus- scheiden. Das US-amerikanische „Wall minalamt sollen die russischen Stellen tausch mit dem Ausland. Das Risiko, daß Street Journal“ verbreitete die Einsicht in- ebenso Zugang zu Informationen aus den Kriminaldaten, einmal weitergegeben, in ternationaler Expertenrunden: Das orga- Staatsanwaltschaften und Kriminalämtern den Computern anderer Rechts- oder Un- nisierte Verbrechen in Rußland „kämpft der Länder haben. Zudem ist das BKA an- rechtsstaaten ein Eigenleben führen, schien nicht nur gegen die Staatsmacht, in vielen geschlossen an die europäischen Daten- selbst Law-and-order-Leuten von der Uni- Fällen ist es die Staatsmacht selbst“. stränge des Schengen-Abkommens und on unakzeptabel. Die russischen Sicherheitsbehörden sind von Europol. Und es sind nicht nur Daten Eine Begrenzung der Datennutzung auf aus dem zerschlagenen sowjetischen Ge- über Hardcore-Kriminelle, die in den Com- genau jenen Einzelfall, dem der Transfer heimdienst KGB hervorgegangen. So ent- putern der obersten Polizeibehörde in dienen sollte, war selbstverständlicher Be- stand auch der „Föderale Sicherheits- Wiesbaden zu finden sind. standteil des Polizeivertrages mit Polen, dienst“ (FSB), eine Art geheime Staatspo- Seit der von Schilys Vorgänger Kanther den Schilys Vor-Vor-Vorgänger Wolfgang lizei, die nun neben dem Innenministerium durchgesetzten Verschärfung des Bundes- Schäuble schon 1991 unterschrieben hat. für die Bekämpfung der Mafia zuständig kriminalamtgesetzes hat im Kampf gegen Ähnliche Klauseln finden sich – selbstver- ist. Ein FSB-Resident in Bonn fungiert als das organisierte Verbrechen nahezu jeder ständlich – in der Europol-Konvention, die Ansprechpartner für Schilys Ostunter- Bürger gute Chancen, ins Informationssy- den Datenverkehr der neuen zentralen Po- händler. stem des BKA aufgenommen zu werden. lizeibehörde mit Nicht-EU-Staaten regelt. In Bonn glaubt man, über den FSB nur zu gut Bescheid zu wissen. Eine Runde von Staats- schützern aus Bund und Län- dern, die sich unter dem wahrscheinlich unzutreffenden Namen „Arbeitsgruppe Landes- verrat“ gelegentlich trifft, warn- te schon 1997 in einem Dossier: Mafia und Teile des FSB seien „symbiotische Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen“ ein- gegangen. Die Zusammenarbeit der KGB-Nachfolger mit „ma- fiosen Strukturen“ geschehe „mit ausdrücklicher Unterstüt- zung der russischen Regierung“. Ganz abwegig scheint das nicht. Der einstige FSB-Chef Sergej Stepaschin unterschrieb mit Schily den Kooperations- vertrag und ist mittlerweile rus- sischer Ministerpräsident. Allerdings war es Stepaschin, der darauf bestand, daß die Zu-

sammenarbeit mit den Deut- SWERSEY / GAMMA STUDIO X schen beim Moskauer Innenmi- Privater Nachtclub in Moskau: „Symbiotische Beziehungen zum gegenseitigen Nutzen“ nisterium konzentriert sein soll- te. Und „niemals“, schwört der Moskauer Die Fahnder dürfen neben Verbrecherda- Weil die Amerikaner für das europäi- Innenministeriale Malinowski, werde er ein ten und Informationen über Verdächtige sche Zweckbindungspostulat bei der Zu- Info von den Deutschen an den FSB wei- auch Angaben über Personen registrieren, sammenarbeit von Justiz und Polizei „nur tergeben. die – zufällig oder nicht – mit Verbrechern ein Grinsen“ (so ein Justizministerialer) Das macht gar nichts. Schily hat ver- in Kontakt waren, als Zeugen interessant übrig hatten, war es bisher nicht möglich, sprochen, daß der umstrittene Dienst di- werden könnten oder nach Expertenan- mit Ermittlern wie Morgenthau ins rekt beliefert wird. Sogar die Einrichtung sicht einfach als Sicherheitsrisiko gelten. Geschäft zu kommen. Mehrere Versuche, einer Faxleitung mit Verschlüsselungs- Solche Daten dürfen nicht vagabundie- Vereinbarungen mit USA-Behörden zu vorkehrungen für ganz Geheimes aus ren. Deshalb sieht das BKA-Gesetz strenge schließen, scheiterten am Datenschutz. Deutschland ist besprochen. Datenschutzvorkehrungen und Löschungs- Nun sind die Amerikaner zwar weltweit An den russischen Inlandsgeheimdienst, fristen vor. Insbesondere die Weitergabe berüchtigte Datenpanscher, aber sie kön- an den Generalstaatsanwalt, an den von personenbezogenen BKA-Daten ins nen auf ihren anerkannt hohen Rechts- Grenzschutz, sogar an den als besonders Ausland ist verboten, wenn das Empfän- staatsstandard verweisen. Im Umgang mit korrupt geltenden russischen Zoll soll gerland keinen „angemessenen Daten- russischen Sicherheitsbehörden, so die das Bundeskriminalamt künftig Daten schutzstandard“ aufweist, wenn nicht Warnungen aus dem Bonner Justizmini- und Analysen liefern – „sofern organisier- sichergestellt ist, daß die Informationen sterium an die Innen-Kollegen, seien die te kriminelle Strukturen“ bei Verdächti- ausschließlich zu dem Zweck verwendet Risiken ungleich höher. gen erkennbar sind, Kleinkram nicht aus- werden, zu dem sie überstellt worden sind. Wie dicht sind russische Computer? genommen. Die Informationspflicht be- Gerade die strenge „Zweckbindung“ der Die Bedenken waren immerhin schwer- steht laut Vertrag „unabhängig von der Daten, ein Essential des vom Bundesver- wiegend genug, den Abschluß des Vertra- Schwere der Straftat“. Selbst der organi- fassungsgericht im Volkszählungsurteil von ges mit Moskau um Jahre zu verzögern. sierte Ladendiebstahl reicht, Verdächtige 1983 statuierten Grundrechts auf „infor- Schon unter der Regierung von Helmut

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Kohl scheiterten am Widerstand aus dem müßten ein direktes Zugriffsrecht auf die Wie deutsche Kriminaldaten in Rußland Justizministerium mehrere Vertragsent- Datenbank der Europol-Zentrale in Den mitunter genutzt werden, zeigen Erfah- würfe. Haag bekommen. rungen bei der Fahndung nach gestohlenen Doch der Sozialdemokrat Schily hat Die Russen hatten sogar schon mit Ab- Autos. Moskau erhält ständig Datensätze schon öfter demonstriert, wie beharrlich bruch jeglicher polizeilicher Zusammen- aus deutschen Beständen; neureiche Rus- er rechtsstaatliche Bedenken aus dem arbeit gedroht, wenn es mit dem Vertrag sen nutzen dies auf ihre Art: Bevor sie of- Wege räumt, wenn es darum geht, das ei- nicht bald etwas werde. Und das scheint fenkundig illegal importierte Luxuskaros- gene Profil als Verbrechensbekämpfer zu dem Innenstaatssekretär Claus Henning sen erwerben, lassen sie dienstbare Polizi- schärfen. So war es, als er – noch aus der Schapper die größere Gefahr: „Wir haben sten feststellen, ob der Wagen schon zur Opposition – Unionspläne für den Großen hier gewaltige Probleme mit der impor- Fahndung ausgeschrieben ist. Lauschangriff in der SPD durchsetzte, so tierten Kriminalität aus dem Osten.“ Be- Nun aber wird es um Größeres gehen. war es beim Streit um neue Befugnisse für dauern im Innenministerium: „Man kann „Wir bereiten jetzt Schritte vor, für die den Bundesgrenzschutz, bei der bundes- sich seine Partner nicht aussuchen.“ mehr als Vertrauen erforderlich ist“, kün- weiten Einführung der Schleierfahndung Doch die Großzügigkeit des Schily-Mi- digt feierlich der Moskauer Oberst Mali- im vergangenen Jahr, der Verschärfung der nisteriums beim Datenaustausch hat noch nowski an. Nicht nur Daten, auch Personal Geldwäschevorschriften. einen anderen Grund: Wenn die Deutschen könnte nach den Plänen des Innenministe- Schilys Parole: „Es geht heute nicht ihre russischen Partner bei der Weiterver- riums ausgetauscht werden. In jedem Ein- mehr darum, den einzelnen vor dem Staat wendung der Polizei-Infos zu stark binden, zelfall, verlangt jedoch Justizstaatssekretär zu schützen, sondern den einzelnen vor dann sind sie umgekehrt auch gebunden. und Ex-Nachrichtendienst-Chef Hansjörg der Organisierten Kriminalität.“ Daß jen- Schily, so geht aus internen Vermerken Geiger, sei zu prüfen, ob die Kooperation seits seines Horizontes das eine und das an- hervor, wollte sicherstellen, daß das Bun- mit der russischen Seite wirklich unbe- dere möglicherweise nicht zu trennen ist, deskriminalamt auch über Moskauer Da- denklich sei. Wer Infos ans Ausland gebe, focht ihn nicht an. Im Mai reiste er nach ten fortan frei verfügen kann. Denn nicht sagt Geiger, „muß wissen, daß er so oder so Moskau, um den Vertrag gegen alle War- nur die russischen, auch die deutschen Ge- die Hoheit über die Daten verliert“. nungen zu unterschreiben. heimdienste haben Interesse an den Infos Der Datendeal, der allen nutzen soll, ist Stepaschins Fahndern wird darin er- aus dem Reich der Russenmafia. zwar unterschrieben, aber noch nicht in laubt, BKA-Daten, die einmal in ihrem Be- Und klappte nicht bisher schon der klei- Kraft. Wenn er schon nicht zu verhindern sitz sind, frei zu verwenden, wenn es der ne Datendienstverkehr mit den russischen war, soll er wenigstens, so die Forderung „Verhütung und Verfolgung von Straftaten Geheimen ganz gut? Tatsächlich schätzen aus dem Justizministerium, dem Parlament von erheblicher Bedeutung“ oder der „Ab- Russenfahnder aus Bund und Ländern seit und dann auch dem Bundesrat zur Ab- P. KASSIN P. Datenempfänger Malinowski, Moskauer FSB-Geheimdienstzentrale: „Wir bereiten Schritte vor, für die mehr als Vertrauen erforderlich ist“ wehr von erheblichen Gefahren für die öf- Jahren die Kooperation mit dem Moskau- stimmung vorgelegt werden. Die Einsicht, fentliche Sicherheit“ dient. er FSB. Die Ermittlungsabteilung des Ge- daß sich der Vertrag mit dem deutschen In Rußland, da kann man sich beim Aus- heimdienstes gilt als professioneller und Polizeirecht nicht verträgt, verbirgt Geiger wärtigen Amt erkundigen, ist die öffentli- auskunftsfreudiger als die Hauptabteilung hinter der Formulierung, das Regelwerk che Sicherheit stets in erheblicher Gefahr. Organisiertes Verbrechen im russischen In- habe „rechtsändernden Charakter“. Erst neulich mußte im Moskauer Innenmi- nenministerium. Schilys Schapper sieht das natürlich ganz nisterium, wo Oberst Malinowski sitzt, ein Bei der Weitergabe von Daten galt je- anders. So ein Regierungsabkommen be- Sprengsatz entschärft werden, den jemand doch bisher das Prinzip Mißtrauen. Nur in kräftige doch nur, „was wir schon immer ins marmorverkleidete Foyer gelegt hatte. Fällen ziemlich alltäglicher Kriminalität getan haben und was auch nicht anders im Der Datendeal sei nicht strenger zu re- spielten Deutsche und Russen mit offenen Gesetz steht“. geln gewesen, heißt es in Schilys Umge- Karten. Ein BKA-Experte: „Bei brisanten Sowieso. „Wir halten uns an deutsche bung. In Polizeivereinbarungen mit Län- Dingen stellt sich sofort die Frage, ob der Normen, weitestgehend“, verspricht der dern, die wie Polen in die EU wollen, kön- Verdächtige Deckung von oben hat.“ Moskauer Ministeriale Malinowski. Schily ne man ja „ein bißchen Druck“ machen, So übermittelte das Bundeskriminalamt sagt ja auch: „Ein Stückchen Vertrauen“ „aber mit Rußland geht das nicht“. bislang bei Personenanfragen aus Moskau müsse man dem Staat entgegenbringen, Schilys Leute sind schon froh, daß es ge- vorsichtshalber nur die Auskunft „wohn- „so wie einem Arzt“, weitestgehend. lungen ist, den Moskauer Freunden die haft in der Bundesrepublik“, aber keine Andrej Batrak, Thomas Darnstädt, mega-vertrauensvolle Idee auszureden, sie genauen Wohnanschriften. Georg Mascolo

32 der spiegel 28/1999 geklebt. Ein Flugblatt erinnert an Schröders stellen muß, nicht auf die Teilnehmerliste CDU „Garantiekarte“ mit den neun Wahlkampf- seiner Kommission – ein Signal. Wie SPD- versprechen der SPD. Noch im Februar hat- Mann Rudolf Dreßler gehört Blüm der aus- Rächer der te der Kanzler weit von sich gewiesen, daß sterbenden Spezies von Sozialpolitikern die Rentenerhöhung ausfallen könnte. („Sopos“) an, die vor allem auf Verteilung Eine „Gratwanderung“ sei die Aktion, setzen und sich im Gegensatz zum Wirt- Rentner räumt Fraktionschef Schäuble ein. Groß ist schaftsflügel der Partei sehen. die Befürchtung, die Union könne in die Die größere Aufmerksamkeit in der So- Die CDU nutzt den Ärger der „Dreßler-Falle“ geraten, wie CDU-Sozial- zialdebatte gewannen bereits in der ver- experte Julius Louven es nennt: „Die SPD gangenen Legislaturperiode die Wirt- Alten über die Kürzungspläne der hat vor der Wahl den Mund zu voll ge- schaftsexperten. Mittelständler wie der Regierung. Auf ein eigenes nommen und quält sich jetzt mit den Fol- Konditormeister Louven und der Müller Rentenkonzept mag sich die gen.“ Auf keinen Fall, diese Sorge plagt (CSU) wurden Wortführer Opposition aber nicht festlegen. auch Schäuble, dürfe die Union als Re- ihrer Fraktionen. Den sogenannten demo- formverweigerer dastehen. graphischen Faktor zur Drosselung des ls Wolfgang Schäuble vergangene Andererseits ist nicht vergessen, daß die Rentenanstiegs, mit dem sich Blüm gern Woche besorgt im Krankenhaus an- Union die Bundestagswahl auch deshalb schmückt, erfand der Mittelstandspolitiker Arief, um sich nach Norbert Blüms verlor, weil 1,7 Millionen Rentner zur Kon- Andreas Storm, 35, vormals Referent im Befinden zu erkundigen, war der Patient kurrenz abwanderten. Hin- und hergeris- Wirtschaftsministerium. gerade beim WDR – trotz Magengeschwürs sen zwischen populistischen Oppositions- Storm, der nun auch für die Wulff- und Blutungen. Seit sein Nachfolger Wal- reflexen und dem eigenen schlechten Kommission ein Rentenmodell entwickeln ter Riester zwei Nullrunden bei der Ren- Gewissen, bleibt die CDU die Frage nach soll, zählt nicht zum klassischen Ar- tenerhöhung ankündigte, ist der Mann mit zukunftsfähigen Alternativen schuldig. beitnehmerflügel der Union: Auch nach der „sicheren Rente“ wieder auf allen Die CDU-Kommission „Sozialstaat 21“, seinem Konzept wären den Rentnern Kanälen und klärt die Bevölkerung über in der die Experten aus Partei und Fraktion einige Nullrunden beschert worden – ähn- die „Rentenlotterie“ der Sozialdemokra- sitzen, soll nun unter Leitung des Nieder- lich wie bei den umstrittenen Plänen ten auf. sachsen bis zum Jahr 2001 der SPD. In der CDU-Zentrale häufen sich die neue Konzepte erarbeiten. Klar ist bislang An allzu ausgeklügelten Konzepten ist Anfragen ostdeutscher Landesverbände nur, was die CDU nicht will: keinen Sy- die CDU nicht interessiert. Ein „Übermaß nach Wahlkampfauftritten des Parteivizes. stemwechsel zur kapitalgedeckten Rente, an Konkretisierung“, so Schäubles Über- Die Unionsspitze um Wolfgang Schäuble wie ihn der sächsische Regierungschef Kurt zeugung, sei in der Opposition von Übel, und CSU-Chef Edmund Stoiber ist über Biedenkopf fordert, keinen Herz-Jesu-So- weil es den Spielraum bei einer erneuten das Comeback dagegen wenig begeistert. zialstaat à la Blüm. Regierungsübernahme unnötig einengen Als Blüm im mal wieder den Dessen Namen setzte Wulff, der seine würde. „Wir werden Eckpunkte vorlegen Rächer der Rentner gab, nahm CDU-Chef eigene Kompetenz erst noch unter Beweis und die Richtung beschreiben, in die Schäuble den übermotivierten die Reformen gehen sollen“, Ex-Minister zur Seite und riet zu stellt Schäuble klar, „aber wir mehr Zurückhaltung. „Blüm tut werden keine Gesetzentwürfe so, als könne alles beim alten blei- vorlegen.“ ben, und mauert uns damit ein“, Bei Kanzler Schröder zeigte sorgt sich ein Schäuble-Berater. die CDU-Rentenkampagne be- Die Chance, mit dem Unmut reits Wirkung. Noch vor den der Senioren über die Kürzungs- Landtagswahlen wolle die SPD pläne der Regierung bei den näch- bei einem Rentengipfel Kon- sten Landtagswahlen zu punkten, sensgespräche mit der CDU möchte sich die CDU jedoch nicht führen, ließ er über Fraktions- entgehen lassen. Sieben Millionen chef Peter Struck ausrichten. Briefe sollen in den kommenden Ein konkretes Gesprächsan- Wochen an Rentner in ganz gebot des Kanzlers ist bei Op- Deutschland verteilt werden, in positionsführer Schäuble noch denen Schäuble die „rot-grüne nicht angekommen. Eine wirk- Rentenlüge“ anprangert und dazu liche Chance zum Konsens gibt auffordert, den Brief an Freunde es auch nicht. Nur wenn die Re- und Verwandte weiterzugeben. gierung von ihrem Plan abginge, 20 Millionen Leser will die die Nettolohnanpassung für die CDU auf diesem Weg erreichen, beiden nächsten Jahre auszuset- Kosten der Aktion: 380000 Mark. zen, will die CDU verhandeln. Weil Verschicken zu teuer wäre, Das aber macht Arbeitsminister sollen die Mitglieder der Orts- Riester nicht mit. und Kreisverbände die Briefe Ihre Kampagne gegen Schrö- selbst einwerfen. ders kurze Beine will sich die Flächendeckend wird ein Pla- CDU durch das Gesprächsange- kat mit der Aufschrift „Lügen ha- bot ohnedies nicht kaputtma- ben kurze Beine“ und dem un- chen lassen. Ab August schaltet ten abgeschnittenen Konterfei die CDU eine Telefon-Hotline von Kanzler Gerhard Schröder für die zornigen Alten, die Minute zu 24 Pfennig.

* Am vergangenen Dienstag bei der Prä- DPA Tina Hildebrandt, sentation der Renten-Kampagne in Bonn. Christdemokratin Merkel, CDU-Plakat*: Sieben Millionen Briefe Elisabeth Niejahr

der spiegel 28/1999 33 Deutschland

AFFÄREN „Ein einziger Sumpf“ Der Hauptbelastungszeuge im bayerischen Blutspendeskandal packt aus – über Schmiergeldzahlungen an das Rote Kreuz und den Club der internationalen Bluthändler. S. DÖRING / VISUM PLUS 49 Diag-Gründer Stava „In Ordnung, wir machen das so“

SPIEGEL: Herr Stava, Ihr Vermögen wird auf weit über 100 Millionen Mark ge- schätzt. Um wieviel könnte es noch höher sein, wenn Sie an den Blutspendedienst (BSD) des Bayerischen Roten Kreuzes kei- ne Schmiergelder hätten zahlen müssen? Stava: Das läßt sich so nicht sagen. Ohne Schmiergelder hätten wir ja nichts liefern können, also hätte es für uns auch keinen Umsatz gegeben und damit keinen Ge- winn. Tatsache freilich ist, daß die BSD- Geschäftsführer Hiedl und Vogt allein von uns, der Diag Human AG, zwischen 1983 und 1997 zusammen mindestens sechs Mil- lionen Mark erhalten haben. SPIEGEL: Wie begann das mit den Schmier-

F. HELLER / ARGUM F. geldern? Blutkonserven beim Bayerischen Roten Kreuz: „Eines der lukrativsten Geschäfte“ Stava: Ich hatte 1981 gemeinsam mit Mar- kus Gnädinger in der Schweiz die Diag ge- ie Schmiergeldaffäre beim Bayeri- Kenntnis aller Ermittlungsakten zu den gründet, die sich mit dem Handel von Blut, schen Roten Kreuz (BRK) beschäf- Vorwürfen äußern. Blutprodukten und dem dafür notwendi- Dtigt die Justiz seit rund neun Mo- Einer der wichtigsten Geschäftspartner gen Zubehör beschäftigt. Schon bald ka- naten.Am 19. Oktober vergangenen Jahres des BSD war die Diag Human AG mit Sitz men wir mit dem BSD ins Geschäft. Aller- durchsuchten Beamte der Staatsanwalt- in Bachenbülach bei Zürich. 1981 von dem dings ging es nur um kleine Mengen. 1983 schaft München I und des Landeskrimi- gebürtigen Tschechen Josef Stava, 49, und machten Gnädinger, Hiedl, Vogt und ich nalamts die Zentralen des BRK sowie des dem Schweizer Markus Gnädinger, 51, ge- eine Reise in die Tschechoslowakei. Hiedl BRK-eigenen Blutspendedienstes (BSD) in gründet, vertreibt die Diag Blutprodukte fragte mich zu meiner Überraschung, ob München. Ebenfalls durchsucht wurden die und Medizinbedarfsartikel. Dem BSD lie- wir beim Bayerischen Roten Kreuz nicht Privatwohnungen der langjährigen BSD- ferte sie Blutbeutel und Testseren. Außer- größer einsteigen wollten. Ich sagte natür- Geschäftsführer Heinrich Hiedl, 67, und dem kaufte die Diag von ihm Plasma. lich „ja“. Daraufhin erwiderte Hiedl: „Um- Adolf Vogt, 65. Stava, der dem Diag-Verwaltungsrat vor- sonst ist aber nur der Tod.“ Das war sein Beide sitzen seit Monaten in Untersu- steht, gilt als einer der schillerndsten und berühmter Spruch. Mir war klar, was damit chungshaft und sollen den Ermittlungen erfolgreichsten Händler im weltweiten gemeint war. zufolge von Zulieferfirmen Schmiergeld Blutgeschäft. Er und Diag-Geschäftsführer SPIEGEL: Und als Sie aus der Tschechoslo- in Millionenhöhe angenommen haben Gnädinger werden von der Münchner Ju- wakei zurück waren? (SPIEGEL 11/1999). Im Gegenzug hätten stiz wegen Bestechung verfolgt, dienen ihr Stava: Da fragten uns Hiedl und Vogt, ob Hiedl und Vogt den Unternehmen Aufträ- aber zugleich als Hauptbelastungszeugen wir für den BSD bestimmte Produkte be- ge zu „weit überhöhten Konditionen“ zu- in Sachen Hiedl und Vogt. Bei einer Ein- schaffen beziehungsweise dem BSD ab- geschanzt. Noch im Sommer will die reise nach Deutschland müßte Stava mit nehmen und dann weiterveräußern könn- Staatsanwaltschaft gegen die früheren sofortiger Verhaftung rechnen. Der SPIE- ten. Als wir uns interessiert zeigten, wur- BSD-Geschäftsführer Anklage wegen Un- GEL traf ihn auf seinem Schloß Bechyn¤ in den wir nach München bestellt. In Hiedls treue, Bestechlichkeit und Steuerhinter- Böhmen. Neben der tschechischen hat Zimmer erläuterten uns die Herren ihr ziehung erheben. Hiedl und Vogt wollen Stava die schweizerische und kanadische „Modell“: Danach mußten wir zahlen – sich nach Aussage ihrer Anwälte Axel Staatsangehörigkeit. Diese Länder liefern egal, ob wir vom BSD Plasma kauften oder Heublein und Walther Geissler erst in ihn nicht nach Deutschland aus. an ihn Blutbeutel oder Testseren verkauf-

34 der spiegel 28/1999 Werbeseite

Werbeseite Deutschland R. KWIOTEK / ZEITENSPIEGEL R. KWIOTEK S. KIENER / BILD ZEITUNG Geschäftspartner Gnädinger, Hiedl: „Umsonst ist nur der Tod“ ten. Hiedl sagte, wir müßten für ihn und Hause und sagt uns morgen Bescheid.“ der größten Abnehmer in ganz Deutsch- Vogt zusammen für jeden Liter Plasma Ich hatte damals bereits einiges kennenge- land ist. Es ging schließlich um Umsätze in zehn Mark abzweigen. Pro Blutbeutel, den lernt im Geschäftsleben. Aber Vogt und der Größenordnung von über zehn Millio- der BSD der Diag abnehme, bekämen er Hiedl – die waren schon ungewöhnlich nen Mark pro Jahr. und Vogt je eine Mark. Bei Testseren be- dreist. SPIEGEL: Und um Bestechung. trage der Anteil für beide zusammen zehn SPIEGEL: Sie ließen sich trotzdem auf den Stava: Mir war klar, daß es zu Problemen Prozent der Auftragssumme. Deal ein? kommen könnte.Wir sprachen deshalb mit Dann teilte uns Hiedl noch die Preise mit, Stava: Das war echt ein Diktat. Am näch- unserer Steuerberatungsfirma Arthur An- zu denen wir liefern müßten. Als Gnädin- sten Tag rief ich Hiedl an und sagte: „In dersen in der Schweiz. Die sagten uns: Ver- ger und ich anfangen wollten zu diskutie- Ordnung, wir machen das so.“ Wir wollten merkt die Zahlungen in euren Büchern, ren, sagte Hiedl nur noch: „Fliegt nach das Geschäft mit dem BSD, weil das einer dann ist alles in Ordnung. Hiedl und Vogt wurden deshalb bei uns von Anfang an of- ten die Angelegenheit jedenfalls für sich SPIEGEL: Wie ist es Ihres Wissens anderen fiziell als „externe Mitarbeiter“ geführt – geklärt. Hiedl machte immer einen so Zulieferern mit Hiedl und Vogt ergangen? mit Verträgen, Adressen und allem. Alle selbstsicheren Eindruck, als ob ihm über- Stava: Aufgrund unserer Kontakte zu an- Zahlungen an sie von 1983 an sind als „Ver- haupt nichts passieren könnte. Er sprach deren Firmen weiß ich, daß Hiedl und Vogt kaufskommission“ verbucht. Auf die Pro- auch gern von seinen exzellenten Verbin- ihre Taschen bei allen aufhielten.Wer nicht visionen hat die Diag in der Schweiz sogar dungen bis hinein in die Spitze der CSU. zahlte, flog aus dem Geschäft. noch 22 Prozent Steuern bezahlt. Ich dach- SPIEGEL: Zu wem konkret? SPIEGEL: Wieviel, schätzen Sie, haben Hiedl te, damit hätten wir die Sache legalisiert. Stava: Zu Sozialministerin Barbara Stamm, und Vogt insgesamt kassiert? SPIEGEL: Haben Sie Hiedl und Vogt je ge- zu , zum ehemaligen Ge- Stava: Die konkreten Zahlen weiß ich fragt, ob sie das Geld versteuern? neralsekretär Erwin Huber und natürlich, natürlich nicht. Nach meinen Hochrech- Stava: Wir haben vom ersten Tag an auf bis 1988, zu Franz Josef Strauß. Für Strauß nungen dürften Hiedl und Vogt jeder rund eine saubere Lösung gedrängt und Hiedl mußte Hiedl DDR-Geschäfte erledigen. 20 Millionen Mark bekommen haben. und Vogt sogar empfohlen, eine eigene Fir- SPIEGEL: Sie hatten den Eindruck, Hiedl SPIEGEL: Was macht das Blutgeschäft denn ma zu gründen, auf deren Konto wir die und Vogt seien politisch abgesichert? so interessant? Provisionszahlungen überweisen könnten. Stava: Natürlich, Hiedl war doch ständig Stava: Es ist eines der lukrativsten über- Doch das wollten die beiden nicht, die ha- mit all den CSU-Größen zusammen. Ein haupt. Wenn Sie, nur um eine Größen- ben jedes Gespräch darüber total abge- paarmal, beispielsweise mit Strauß und Hu- ordnung zu nennen, mit einem Lastwagen blockt. Die wollten alles immer in bar. ber, war ich auch dabei. Deshalb war ich Aspirin 10 000 Mark verdienen können, SPIEGEL: Wo und wie oft fanden die Geld- mir absolut sicher, daß die beiden nie Pro- dann verdienen Sie mit einem Lkw übergaben statt? bleme haben würden. Blutplasma 100 000 Mark auf einen Stava: In der Regel viermal im Jahr. Wir SPIEGEL: Sind Schmiergeldzahlungen im Schlag. Der Club der Bluthändler ist eine fuhren nach München. Im Zimmer von Blutgeschäft branchenüblich oder war das sehr geschlossene Gesellschaft – mit, sa- Hiedl holte Gnädinger einen Umschlag aus Bayerische Rote Kreuz ein Sonderfall? gen wir, weltweit 20 Mitgliedern. Jeder der Tasche, überreichte die Scheine, und Stava: Üblich in Deutschland ist, daß je- kennt jeden, man läßt niemanden Neuen die sackten sie ein. Manchmal kamen Hiedl mand, der Medizinzubehör benötigt, den hinein. Man muß hohe Diskretion bewah- und Vogt auch in die Schweiz.Wichtig war Auftrag ausschreibt und ihn an den gün- ren. Deshalb sind auch die „Eintrittsprei- immer nur eines: Es durfte außer uns vie- stigsten Bieter vergibt. Da braucht es kein se“ hoch. ren nie jemand anderes dabeisein. Schmiergeld. Beim Roten Kreuz allerdings SPIEGEL: Zeigten sich Hiedl und Vogt Ihnen SPIEGEL: Trotz soviel Konspiration gingen ist das anders. Dessen Blutspendedienste gegenüber auch mal erkenntlich? Sie davon aus, daß Hiedl und Vogt die Zah- schreiben bundesweit entweder gar nicht Stava: Wir wurden jedes Jahr zum Schörg- lungen versteuerten? oder nur pro forma aus. Das gilt für Mün- huber ins Hacker-Pschorr-Zelt aufs Okto- Stava: Das will ich so nicht behaupten.Wir chen genauso wie für Springe oder Hagen. berfest eingeladen. waren aber überzeugt, Hiedl und Vogt hät- Dieser Laden ist ein einziger Sumpf. Interview: Wolfgang Krach, Georg Mascolo Werbeseite

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Werbeseite UMZUG Leichtes Schaudern Ein Ministerialbeamter sorgte dafür, daß Bonn für die Umsiedlung der Regierung reich entschädigt wird.

er Ministerialdirigent Klaus West-

kamp, 56, hat einen ausgeprägten FOTOARCHIV / DAS M. MATZEL DSinn fürs Niedliche. In seinem Bon- Umzug des Bundestags (am vergangenen Montag): „Die ziehen uns über den Tisch“ ner Büro steht, fein säuberlich aufgereiht, eine stattliche Sammlung Porzellan-Ent- Unterhändler noch mit leichtem Schau- eine lange Liste aus: Mehr als 20 Behörden chen. Wenn er nachdenkt, schweift der dern: „Das Gruselkabinett bremste und mit einigen tausend Arbeitsplätzen sollten Blick des Kettenrauchers über den draußen blockierte, wo es nur ging.“ von der Spree an den Rhein wechseln. Am sanft vorbeifließenden Rhein. „Alles Quatsch“, kontert Westkamp. Seit nächsten Tag bei der ordentlichen Sitzung An seinem Bonn hängt der Ministerial- 1991 ist er Stabsleiter, er dient in dieser bekam Senatskanzleichef Volker Kähne das dirigent – privat wie beruflich. Er ist Stabs- Funktion dem mittlerweile sechsten Mini- Ergebnis zu Gesicht – „die ziehen uns über leiter im Bauministerium, sorgte von Amts ster, erst im Innen- und jetzt im Baumini- den Tisch“, lautete sein Kommentar. wegen dafür, daß die kleine Stadt am Rhein sterium. Berlin gab nach, Westkamp triumphier- großzügige Kompensation für den Umzug Der Bundestag hatte sich 1991 mit knap- te: Mit rund 6500 neuen Arbeitsplätzen vor per Mehrheit (338:321) für Berlin als Re- allem aus Berlin seien die Verluste im Öf- gierungssitz entschieden. In Bonn hob fentlichen Dienst nahezu komplett auszu- großes Wehklagen an, die Wirtschaft jam- gleichen. merte über Kaufkraftverlust durch Ab- Zugleich hatte der Ministerialdirigent wanderung, die Düsseldorfer Landesregie- sein größtes Problem im Grundsatz gelöst. rung machte mobil für die Entschädigung Zigfacher Stellentausch, so die politische der ehemaligen Hauptstadt. Absicht, sollte möglichst viele Staatsdie- Bonn soll nicht darben, war die politi- ner vor einem Umzug bewahren. sche Losung, der sich die Bundesregierung Großzügige Ausnahmen hatten West- beugte. So sah es Westkamp ohnehin. Er kamp und seine Leute schon ausgetüftelt: konnte nun erstaunlich frei schalten. Beamte mit fürsorgebedürftigen Ange-

J. H. DARCHINGER J. Schon im Umzugsbeschluß von 1991 for- hörigen, schulpflichtigen Kindern oder be- Bonner Beamter Westkamp mulierten der Beamte und seine Mitarbei- sonderen Bindungen an Vereine konnten Passende Modelle ausgetüftelt ter einen grundlegenden Widerspruch: Der sogenannte Sozialpunkte sammeln und auf „Kernbereich der Regierungsfunktionen“ Anerkennung als Härtefall hoffen. von Legislative und Exekutive nach Berlin solle künftig in Berlin angesiedelt, zugleich Der Ministerialdirigent, der sich sonst erhält und daß den Beamten noch ein paar aber solle „der größte Teil der Arbeitsplätze gern seiner Verdienste um Bonn rühmt, Privilegien mehr zufließen, egal ob sie in in Bonn erhalten“ werden. Dem damaligen beläßt es im ungewissen, welchen Beitrag Bonn bleiben oder nach Berlin umsiedeln. Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU) er auch zu den Sonderprivilegien für Um- Westkamp ist bekennender Umzugs- erklärte der Beamte später: „Wir müssen zügler leistete, zum wöchentlichen Pen- gegner und kommt seiner dienstlichen eine Seite des Beschlusses aufgeben.“ Un- deln für die Dauer von zwei Jahren oder Tätigkeit effizient nach. 25 Vorlagen, die er möglich, befand Schäuble, der Ministeriale für die Erhöhung der Mietzuschüsse. „Ei- für seinen Minister schrieb, passierten das müsse ein passendes Modell ersinnen. nige Ideen, mehr gewiß nicht“, habe er bei- Kabinett. Lange bevor die Spediteure mit Heraus kam die Teilung jedes Ministeri- gesteuert, sagt er. dem Packen begannen, waren 2,81 Milliar- ums mit festgelegten Personalstärken. Die- Jedenfalls intervenierte Westkamp bei den Mark an Subventionen für die kleine ses sogenannte Kombinationsmodell, das der Kultusministerkonferenz zugunsten Stadt am Rhein bewilligt und beinahe kom- wußten alle Beteiligten, würde die Admi- der Ehegatten von Ministerialen: Wer will, plett verplant worden. 8000 Beamten bleibt nistration weiter aufblähen. Darauf läuft kann in der neuen Stadt seinen Lehrer-Job der Umzug nach Berlin erspart. es jetzt hinaus. aufnehmen. Die Ehefrau des Bundestags- Gegen den Umzug hat Westkamp stets Wie erfolgreich Westkamp den Ausgleich direktors fand so auf Anhieb einen Schul- offen opponiert. Schon vor dem Bundes- für Bonn betrieb, mußten besonders die leiterposten in Berlin. tagsbeschluß am 20. Juni 1991 warnte er Berliner erfahren.Wochenlang verhandel- Die letzte Sitzung des Bundestages in gemeinsam mit Bauministeriale Wolfgang te das Innenministerium 1992 in der Fö- Bonn am vorvergangenen Donnerstag hat Neusüß und dem Umzugsverantwortlichen deralismus-Kommission mit Abgeordneten Westkamp auf der Besuchertribüne verfolgt, des Finanzministeriums, Mathias Gerusel, und verschiedenen Bundesländern, welche ohne allzu große Rührung. „Mein Job ist er- in einem internen Bericht vor der „spiral- Behörden die künftige Hauptstadt Berlin ledigt“, sei ihm durch den Kopf geschossen. förmigen Abwärtsentwicklung“ Bonns, an Bonn abzugeben habe. Und jetzt? „Durchatmen“, sagt er und wenn Berlin Hauptstadt und Regierungs- Zur entscheidenden Runde der Kommis- blättert im ledergebundenen Faksimile des sitz werde. sion, am 27. Mai 1992, erhielten die Berliner Berlin/Bonn-Gesetzes. Dann aber will er An dieses Trio, ergänzt um den noch im- keine Einladung. In der Bonner Vertretung „Ausschau halten nach einer neuen Her- mer amtierenden Finanzstaatssekretär des Saarlandes baldowerten die Vertreter ausforderung“. Natürlich am liebsten in Manfred Overhaus, erinnern sich Berliner aller Parteien, darunter Wolfgang Clement, Bonn. Petra Bornhöft

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Werbeseite S. DÖRING / VISUM / PLUS 49 Original-Grenzmauer in Mödlareuth: „Man muß selbst vor diesem Teil der Nachkriegsgeschichte stehen“

steine markiert werden. Sie ersetzen (für HAUPTSTADT rund 1,1 Millionen Mark) auch jenen ver- waschenen roten Pinselstrich, der am Bran- denburger Tor den Mauerverlauf doku- „Weg, weg, weg“ mentieren soll. Doch nur wenige Berlin- Besucher erkannten die Bedeutung der Beim Abriß der Mauer dachte in Berlin niemand an den Farbmarkierung quer über die vielbefah- rene Kreuzung. Erhalt eines Stücks deutscher Geschichte. Jetzt soll „Wie das Schreckenssystem im Zentrum sie nachgebaut werden – als eine Art deutsches Disneyland. der Stadt funktionierte, sagen die Über- bleibsel keinem mehr“, meint Hel- ie Stimmung war prächtig. mut Trotnow, Direktor des Alliier- 28 Jahre hatte der Betonwall tenMuseums. Auch Robert Lebe- Dden Ort geteilt. Weil die gern, Historiker im Grenzmuseum behördlichen Abrißkommandos zu Mödlareuth, ist sich sicher, daß in langsam vorankamen, ließen die Berlin „ein Gesamtkonzept für die Gemeindevorsteher aus Ost und Stadt“ gefehlt hat, um „ein paar West demonstrativ am Tag der hundert Meter am Originalstand- Deutschen Einheit einen Bagger ort zu erhalten“. Das wichtige Ka- kommen, der nun die „Schand- pitel der Nachkriegsgeschichte sei mauer“ plattmachte – es gab Frei- mit Büchern oder Filmen nicht zu bier und Würstchen für alle. erfassen, „man muß selbst davor- Doch je höher sich Stacheldraht- stehen“.

reste und Mauerschutt türmten, de- I. RÖHRBEIN In Berlin wollte das damals kaum sto mehr kam der West-Bürgermei- Maueröffnung in Berlin 1989: Kleiderordnung West einer. Die Modrow-Regierung gab ster ins Grübeln: „Wenn alles ver- noch im Wendejahr der NVA den schwindet, weiß in zehn Jahren keiner fanden sich geschichtsbewußte Politiker, Abrißbefehl, und im Westen waren sich die mehr, wie es sich hier lebte.“ Noch am die die Bedeutung der Grenzreliquien er- damaligen und heutigen Kontrahenten um Biertisch beschlossen die Kommunalchefs, kannten – doch in der deutschen Haupt- den Bürgermeistersessel, Walter Momper „ein Stück Geschichte original zu erhal- stadt wurde die Mauer behandelt wie die (SPD) und Eberhard Diepgen (CDU), einig ten“. Jetzt stehen im Flecken Mödlareuth, Vereinigung: Als es endlich soweit war, wie selten: „Die Mauer muß sofort und er- einst von den US-Soldaten „Little Berlin“ wußte niemand etwas damit anzufangen. satzlos fallen!“ getauft, noch 100 Meter jenes „antifaschi- Die „eingebildete Metropole“, beklagt Ein deutsch-deutsches „Kuratorium stischen Schutzwalls“, der zu einem Kern- der Stadthistoriker Michael Bienert, habe Mauer“ sollte den Verkaufserlös der bun- stück deutscher Vergangenheit wurde. sich „den Luxus geleistet, die markanteste ten Segmente an Behindertenvereine, ma- Die Vision, die 1990 die Kommunalpo- städtebauliche Struktur, das Eigenartigste, rode Krankenhäuser und Kulturstätten im litiker an der bayerisch-thüringischen Lan- was es besitzt, einfach zu zerstören“. Osten verteilen. Bis zum 3. Oktober 1990 desgrenze umtrieb, bewegt fast zehn Jah- Im Höchsttempo, das Bagger und Pla- kamen 2,1 Millionen Mark zusammen – re später nun auch den Regierenden Bür- nierraupen hergaben, wurde fast jeder Me- doch das Gros der ausgewählten Empfän- germeister Eberhard Diepgen – weil sich ter plattgemacht. Die Mauer erfuhr ein ty- ger hat bis auf einen kleinen Abschlag kein immer mehr Berlin-Besucher beschweren. pisch Berliner Schicksal. Sie wurde zer- Geld gesehen. Erst hatte man vergessen, Auf der Suche nach Zeugnissen für die bröselt, verschenkt oder verhökert. Gera- die Vergabe im Einigungsvertrag zu regeln, damalige Teilung irren heute die Touri- de erst wurde am Potsdamer Platz ein dann klagten zwei Mauerkünstler auf Ge- sten hilflos durch die einstige Frontstadt Stück des Originalteils abgerissen, da winnbeteiligung. mit 43,1 Kilometer Mauer. Im kleinen möchte Diepgen die Grenzanlage wieder Bei einer Versteigerung von 81 Beton- Mödlareuth dagegen empfinden jährlich nachbauen lassen – das Schreckensszena- segmenten im Juni 1990 in Monte Carlo über 50 000 Besucher „bedrückt und fas- rio des Kalten Krieges als deutsches Dis- waren auch ihre bunten Graffiti-Gesichter sungslos“ (Bürgermeister Arnold Fried- neyland. aus der Berliner Waldemarstraße unter den rich) den Wahnwitz der deutschen Ge- Bis es soweit ist, darf sich die fatale Ber- Hammer gekommen, mehr als 40000 Mark schichte nach. liner Neigung zum Künstlichen erst mal im brachten manche Stücke ein. Der Bundes- Nicht nur in der Provinz, überall auf der kleinen ausleben: Noch vor dem zehnten gerichtshof befand 1995, daß auch die Mau- Welt sind Mauerstücke zu Freiheitssym- Jahrestag der Maueröffnung am 9. No- ermaler einen Anspruch auf die Erlöse ha- bolen des ausgehenden 20. Jahrhunderts vember sollen 7,5 Kilometer ehemaliger ben. Jetzt muß das Landgericht Berlin über geworden. Von Mödlareuth bis Honolulu Grenze mit einer Doppelreihe Pflaster- die Höhe urteilen. Bis dahin, entschied das

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Werbeseite H. FRANKENFELD S. DÖRING / VISUM PLUS 49 Berliner Mauerteile in Kapstadt: Ein Geschenk für Nelson Mandela Deutscher Grenzbeton im polnischen Sosnówka:

Bonner Finanzministerium, bleibe das 2. Dezember verschwinden – es standen wollte auch der amerikanische Geheim- Kuratoriumskonto gesperrt. Wahlen an. dienst ein Stück Grenzbeton. „Die Mauer Auch die mit dem Verkauf betrauten Un- Kurz danach bekam Ocken vom Vertei- hat das Leben unglaublich vieler hier ge- ternehmen hatten kein Glück. Der DDR- digungsministerium den Auftrag, alle Ab- prägt“, begründeten die CIA-Beamten Außenhandelsbetrieb Limex, heute Bau- bauteile weltweit zu vermarkten – „nach ihren Wunsch. Das Monument blockiert firma VGH, ist in Liquidation, und die von den im Verteidigungsressort geltenden nun am Südeingang den Fußweg zum Park- ihm angeheuerte West-Berliner Firma Le strengen Grundsätzen“. Ocken ließ kur- platz – „jeder muß drum herum“. Lé wurde aufgelöst – mangels Masse. Doch zerhand die Vorschriften außer acht und Häuschenbauer zahlten für Wandplat- deren clevere Geschäftsführerin Judith- legte sich für etwaige Kritiker diese Ant- ten aus den Sperrgräben zehn Mark pro Beate La Croix steckte vorher 100 000 wort zurecht: „Werden bei der nächsten Stück, Gartenfreunden waren Fahrspur- Mark in ein neues Unternehmen – und Wiedervereinigung beachtet.“ platten aus den ehemaligen Patrouillen- zierte sich, den wahren Erlös des Mauer- Kaufanträge kamen kistenweise – vom wegen sogar 20 Mark wert, die feuerver- verkaufs zu nennen. japanischen Restaurantbesitzer bis zum zinkten Metallmatten aus dem Grenzzaun Vom 3. Oktober 1990 an galt dann, sagt Amerikaner, der seinem Bruder in Chica- wurden für sechs bis zwölf Mark pro Stück General a. D. Rolf Ocken, „die bundes- go einen Turm schenken wollte. Er habe, zum Stützkorsett der Betonwände vieler deutsche Kleiderordnung“. Der damalige erinnert sich Ocken, damals „volles Rohr“ Neubauten. „Beauftragte für die Auflösung der verkauft: „Bei mir lautete die Devise: weg, Winfried Prem, Chef einer von der Bun- ehemaligen Grenztruppen“ sollte 1393 weg, weg.“ deswehr angeheuerten Bauschutt-Recyc- Kilometer Sperranlagen schnellstens räu- Ebenso wie ein Freak im kleinen polni- lingfirma, erinnert sich gern an das Ge- men, die Berliner Mauer schon bis zum schen Dörfchen Sosnówka nahe Breslau schäft mit der Mauer. „180 000 Tonnen Freiheitssymbol in der Provinz Mauerdenkmal vor dem CIA-Hauptquartier: „Das Leben unglaublich vieler geprägt“

recycelter Mauerbeton gingen jeweils für Nur wo Kommunen oder Historiker bei wieder abgerückt, als er dem NVA-Offi- 21,50 Mark weg – das war ein guter Ge- den Abbaukommandos intervenierten, zier ein Schreiben Wolfgang Schäubles un- winn.“ Fast der ganze Südring, die Auto- blieben Originale für die Geschichtsstunde ter die Nase gehalten habe, in dem der den bahn um Berlin, sei damit gebaut worden. übrig. Sie sind in 26 Museen und Gedenk- letzten Regierungschef der DDR um den Prem war auch cleverer als die Berliner stätten entlang der einstigen innerdeut- Erhalt dieses Mauerabschnittes bat. Politiker. Er hat „für alle Fälle“ fast hun- schen Grenze erhalten. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Ge- dert Meter Originalmauer im Bayerischen Während in Honolulu nur wenige Kilo- schichte hat sich in der Hauptstadt nicht eingelagert. Falls Diepgen ein paar Stücke meter vom Waikiki-Strand entfernt das geändert. Wenige Wochen bevor nun brauche, sagt der weitsichtige Geschäfts- „Berlin Wall Freedom Monument“ an die Diepgen auf den Gedanken verfiel, die mann gönnerhaft, könne er „ja was deutsche Wiedervereinigung erinnert und Mauer so zu rekonstruieren, „daß sie den zurückkaufen“. Kapstadt-Besucher in der Touristenmeile ganzen Schrecken ausdrückt“, sorgte der Abwickler Ocken erlöste für den „Ein- Waterfront die Nelson Mandela geschenk- Senat für das vorerst letzte Mauer-Abriß- zelplan 14“ des Verteidigungsetats sechs ten Originalmauerteile bewundern können, spektakel: 15 Meter Hinterlandmauer Millionen Mark. Personal- und Maschi- verkommen in Berlin die wenigen Mauer- mußten weichen. Sie standen auf einem nenkosten für die Demontage verschlan- reste, das Denkmal Bernauer Straße wurde Grundstück der Stadt und waren der Ge- gen dagegen über 170 Millionen Mark. Die mit zwei riesigen Stahlplatten verfremdet. staltung des Prestige-Objektes „Potsda- DDR hatte sich den Bau dereinst rund 1,8 Selbst dieses historische Monument, mer Platz“ im Wege. „Berliner Luft“ hat- Milliarden Mark kosten lassen, weil Walter weiß der Direktor des AlliiertenMuseums, te ein Mauerkünstler auf den Beton ge- Ulbricht glaubte, nur so den Westdrang der Helmut Trotnow, sei „nicht das Ergebnis sprüht, bevor der zwischen die Bagger- DDR-Bürger stoppen zu können. städtischer Planung“. Die Bagger seien erst zähne kam. Irina Repke Werbeseite

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beider Gremien ist der Mannheimer Ober- te, daß die Airline Millionenverluste ein- SPARKASSEN bürgermeister Gerhard Widder. fuhr, wollte der Unternehmer aussteigen. Gerade Provinzpolitiker versuchen im- Doch die Kommunalpolitiker, so Ding, Verluste auf mer wieder, über die regionalen Sparkas- „brauchten mich und meine Fluglinie“. sen Infrastrukturpolitik zu betreiben. Das Sonst hätte das Land den Ausbau des klei- dient der Karriere, aber mancher kommt nen Mannheimer Flughafens mit seiner da- Rekordniveau mit den betriebswirtschaftlichen Regeln mals gerade mal 800 Meter langen Lande- nicht zurecht. So geraten Sparkassen, bahn nicht bezuschußt. An dem Projekt Der Ehrgeiz lokaler Politiker und deren Gewährsträger Kommunen oder aber hing der Oberbürgermeister. Widder Landkreise sind, häufiger mal in die bestreitet die Ding-Version. Im übrigen sei Banker kostete die Sparkasse Bredouille. „für das operative Geschäft der Banken- Mannheim Hunderte von Millio- In der zweitgrößten Stadt Baden-Würt- vorstand verantwortlich gewesen“. nen Mark. Jahrelang tembergs bewegen sich die Schadensum- Am 27. April 1994 beriet der Kreditaus- sahen die Aufsichtsgremien weg. men jedoch auf Rekordniveau. „Die Po- schuß, der Darlehen ab fünf Millionen litiker haben die Darlehen nicht etwa Mark zustimmen muß, mal wieder den laß und sichtlich geknickt wirkt der toleriert, sondern sogar gefordert“, sagt Fall Arcus. Als der zuständige Sachbear- Mann. Die über 15monatige Unter- Hörner-Verteidiger Rolf Dieter Ruppert. beiter der Bank das Ausfallpotential Bsuchungshaft hat den Ex-Vorstand Im Fall der regionalen Fluggesellschaft „bei einer sofortigen Insolvenz auf ca. der Sparkasse Mannheim, Fridolin Hörner, Arcus Air etwa sei die treibende Kraft für 20 Millionen Mark“ schätzte, befand Wid- 50, schwer gezeichnet. immer neue Kredite die Stadt gewesen, der laut Sitzungsprotokoll, daß „im Ein- Gegen ihn und seine früheren Vor- gab der Eigentümer Erhard Ding gegen- zelfall auch Mißerfolge möglich“ wären, standskollegen Horst Hoffmann, 50, Hans über den Ermittlungsbeamten an. Der die aber „durch erzielte Erfolge in der Brei- Joachim Rieken, 66, und Helmut Sauer, 55, Unternehmer war von dem ehrgeizigen te … in Kauf zu nehmen“ seien. ermittelt die Staatsanwaltschaft Mannheim Widder angesprochen worden, ob er eine Rund 15 Millionen Mark gewährte die seit knapp eineinhalb Jahren wegen des Fluglinie zwischen Mannheim und Mün- Sparkasse einer großen Mannheimer Back- Verdachts der Untreue. Sie sollen für die chen betreiben wolle. Als sich herausstell- stube. Mitinhaber war der Sohn eines größte Pleite in der Geschichte der bun- CDU-Stadtrats, der auch im Verwaltungs- desdeutschen Sparkassen verantwortlich rat saß. Die Bank mußte den Kredit fast sein. Vorvergangene Woche legten die völlig abschreiben. Allein bei den drei Behörden eine Teilanklage vor. größten Engagements machte das Institut In der Amtszeit des Vorstandsquartetts etwa 255 Millionen Mark Verlust. explodierte das Kreditgeschäft. Doch zahl- Daß die Mannheimer jahrelang wichtige reiche Darlehen wurden ohne ausreichen- Kaufmannsregeln ignorieren konnten, liegt de Absicherung vergeben. Auf rund 850 offenbar auch an mangelnder Kontrolle der Millionen Mark addiert sich der Wert- Sparkassenaufsicht in Baden. berichtigungsbedarf. Um die Sparkasse zu In einem internen Vermerk der ermit- stützen, mußte die Stadt aus ihrem Haus- telnden Landespolizeidirektion Karlsruhe halt 50 Millionen Mark zuschießen. kommen die Beamten zu der Feststellung, Hörner und seine drei Mitangeklagten daß in den Prüfberichten des Badischen sehen sich zu Unrecht beschuldigt. „Ich Sparkassen- und Giroverbandes geschum- weiß, daß ich willentlich keinen Schaden melt worden sei. Die Sichtung von Unter- anrichten wollte“, sagt der Ex-Banker. lagen habe den „konkreten Verdacht“ er- Außerdem seien alle Kreditvergaben „mit geben, „daß die Inhalte von Prüfberichten den zuständigen Gremien abgestimmt ge- zwischen dem Prüfverband und Verant- wesen“. wortlichen der Sparkasse Mannheim ab- Gemeint sind der Verwaltungsrat und der gestimmt wurden“.

Kreditausschuß der Sparkasse.Vorsitzender B. BOSTELMANN / ARGUM Auch das Berliner Bundesaufsichtsamt für das Kreditwesen stellt den Kontrolleu- Zentrale der Sparkasse Mannheim, Oberbürgermeister Widder: „Mißerfolge möglich“ ren ein vernichtendes Zeugnis aus. Bereits im Juni 1997 notierte das Aufsichtsamt: „Der Eindruck, daß über Fehlentschei- dungen und Mißmanagement die Hand ge- halten wurde, läßt sich anhand der Ent- wicklung der letzten drei Jahre belegen.“ Daß die Kreditabteilung der Sparkasse nicht mehr in der Lage war, das extrem ausgedehnte Geschäft zu bearbeiten, sei aus den Unterlagen des Badischen Spar- kassen- und Giroverbandes „nicht zu ent- nehmen“ gewesen. Die Kontrolleure hätten „im Gegenteil kritische Bemerkungen ab- sichtlich aus Bericht und Zusammenfas- sung herausgehalten“. Gerhard Widder hat schon die Flucht nach vorn angetreten und räumte in einer Zeitungsanzeige ein, „auch ich habe Feh- ler gemacht“. Er will am nächsten Sonntag im zweiten Wahlgang als Oberbürgermei-

THEMA ster wiedergewählt werden. Felix Kurz Werbeseite

Werbeseite MITTELSTAND Ganz schnell Miese Mittelständische Betriebe – vom Schlüsseldienst bis zur Tauchfirma – haben sich zusammengetan,

um am Wiederaufbau des Kosovo K. MÜLLER mitzuverdienen. Zerstörter Ort im Kosovo: „Was ist kaputt, was wird am nötigsten gebraucht?“ en Krieg im Kosovo hat er vom Barthel ist Tauchermeister und Inhaber Fernsehsessel aus genau verfolgt. eines Bergungsunternehmens, das mit 65 D„Auf fast jedem Bild“, schwärmt Mitarbeitern – darunter 25 ehemalige Arnold Nicolaisen, „war im Hintergrund Kampftaucher – und zwei Schwerlast- ein total zerstörter Backofen.“ Das, glaubt Schwimmkränen normalerweise Welt- der 60jährige Backofenbaumeister aus Bo- kriegsbomben und Schiffe aus Rhein, chum, „ist meine Marktchance“. Mosel und Neckar birgt. Jetzt reizen den Nicolaisen, der 1970 in einer Garage sei- Hobby-Großwildjäger Aufgaben in neuen nen Handel mit gebrauchten Bäckereima- Revieren. Er würde „gern mithelfen, ein- schinen gründete, sieht sich als einer der gestürzte Brücken aus der Donau raus- deutschen Pioniere beim Wiederaufbau des zuholen“. Kosovo. „Ein bißchen Glücksritter“, sagt Mit der Ortskenntnis hapert es allerdings der gelernte Bergmann und langjährige Tauchermeister Barthel (M.), Mitarbeiter noch. Barthel hat inzwischen „ein Pro- Stahlarbeiter stolz, „war ich immer schon.“ blem“ entdeckt: „Die Donau fließt leider Ein ganzer Pulk von kleinen und mittel- gar nicht durchs Kosovo.“ Jetzt will er sich ständischen Betrieben möchte am Wieder- erst mal aktuelle Karten beschaffen und aufbau in der Krisenregion mitverdienen. nachschauen, ob es „vielleicht einen an- Handwerker, Dienstleister und Produzen- deren interessanten Fluß dort unten gibt“. ten hoffen auf kosovo-albanische Koope- Vorsorglich hat er am Schreibtisch rationspartner, öffentliche Aufträge und ein durchgespielt, wie er seine Kräne auf den Stück vom Fördermittelkuchen, den EU- Balkan schaffen könnte: Nach 2100 Fluß- Kommission und Bund verteilen. Kilometern, 67 Schleusen und rund 4 Wo- Mit der Realität haben ihre hochfliegen- chen Fahrtzeit, sagt Barthel, „wären wir den Pläne oft wenig zu tun. „Wer sich nicht zumindest schon mal in Belgrad“. wenigstens ein bißchen auf dem Balkan Backofenbauer Nicolaisen Andere beschleichen inzwischen Zwei- auskennt, macht da ganz schnell Miese“, fel, ob ihre Waren und Dienste im Kosovo warnt Torsten Klette vom Deutschen In- überhaupt gefragt sind. Dirk Rutenhofer, dustrie- und Handelstag. Mitinhaber des Dortmunder Schlüssel- Der Aufbruchstimmung tut die Warnung dienstes Weckbacher, der den Kosovaren keinen Abbruch: Mehr als 220 zumeist mit- gern „ordentlichen Einbruchschutz“ ver- telständische Unternehmer aus der ganzen kaufen möchte, schwant: „Der Privatmann Republik haben sich über eine Hotline der im Kosovo ist froh, wenn ihm überhaupt ir- Industrie- und Handelskammer (IHK) gendwas zum Abschließen geblieben ist.“ zu einer Interessengemeinschaft Auch in der Bauindustrie beurteilen Ex- zusammengeschlossen. Neben Planungs- perten die Chancen unbedarfter Einstei-

büros, Bauunternehmen und Maschinen- / LAIF BAATZ U. FOTOS: ger im Aufbaugeschäft skeptisch. „Mei- bauern schrieben sich auch Exoten vom Schlüsseldienst-Inhaber Rutenhofer stens“, sagt Rolf Bollinger, Geschäftsführer Schlüsseldienst bis zum Möbelhaus als Mit- Potentielle Kosovo-Unternehmer Auslandsbau beim Hauptverband der glieder des „Kosovo-Unternehmenspools“ „Ein bißchen Glücksritter“ Deutschen Bauindustrie, „kommen am ein. Ein Geflügelzüchter aus Norddeutsch- Ende doch eher die großen und in Krisen- land („Ich habe 200 Tonnen Brathähnchen wie etwa zu den Handels- und Geschäfts- gebieten erfahrenen Firmen zum Zuge.“ nach Skopje geschickt. Jetzt suchen wir gebräuchen im Kosovo geplant. Glücksritter Nicolaisen („Ich bin ein Zwischenhändler im Kosovo“) ist ebenso So will Günzel mithelfen, daß deutsche Typ, der springt ins Wasser und dabei wie ein Gerüstbauer aus dem nord- Firmen – anders als in Bosnien – „weit schwimmt“) läßt sich von solchen Beden- rhein-westfälischen Dorsten. mehr als acht Prozent der Wiederaufbau- ken nicht bremsen. Rund 300 000 Mark, IHK-Chef Klaus Günzel gibt sich opti- Aufträge“ ergattern. Und dafür sorgen, daß sagt der Backofenbauer, wolle er in das mistisch, daß er der bunten Truppe binnen auch Kleinere zum Zuge kommen. Balkan-Experiment investieren. Sollte weniger Wochen zum nötigen Know-how Norbert Barthel aus Mülheim an der nicht bald konkreter Rat aus Dortmund für Geschäfte im Krisengebiet verhelfen Ruhr setzt auf den Dortmunder Pool. „Für kommen, verkündet er, „fahre ich selbst ins kann. Die drängendsten Fragen (Günzel: einen x-beliebigen Handwerksmeister“, Kosovo und suche mir dort einen Partner“. „Was ist kaputt, was wird am nötigsten ge- sagt der 53jährige selbstbewußt, lohne sich Von dem Erfolg seiner Mission ist er fest braucht, wie läuft die Auftragsvergabe?“) das Unternehmen Kosovo wahrscheinlich überzeugt. „In fünf Jahren sind wir der soll ein Spähtrupp vor Ort in Prizren nicht. „Aber bei einem Spezialbetrieb wie stärkste Second-Hand-Backofenbauer im klären. Später sind Info-Veranstaltungen bei uns ist das schon was anderes.“ Kosovo.“ Andrea Stuppe

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Werbeseite sache eingestuft – aus Sorge vor diplomatischen Verwicklungen. Von Fischers Beamten hängt das Schicksal zahlloser Flücht- linge ab – und für die Grünen, nach eigenem Verständnis die Partei der Menschenrechte, ihre Glaubwürdigkeit. Einmal hat diese schon schwe- ren Schaden genommen: Wäh- rend Fischer im Kosovo-Krieg die Verfolgung der Kosovaren durch die Serben mit der der Juden im Dritten Reich verglich, trug sein Amt zur selben Zeit mit seinen Einschätzungen dazu bei, daß noch im März 2364 Asylanträge abgelehnt wurden. Ziemlich zer- knirscht gestand Fischer auf dem

H. SACHS / VERSION Bielefelder Sonderparteitag der Kurdische Demonstranten*: Warnung vor erhöhtem Risiko Grünen im Mai: „Das war ein Fehler, das muß ich akzeptieren.“ Seitdem sucht der grüne Vorzeigemini- ASYL ster nach einer Lösung für ein Problem, das kaum zu lösen ist. Werden die Lage- berichte über die politische Situation in „Folter oder Willkür“ sogenannten Problemstaaten wie Algerien, Türkei, Nigeria oder Sri Lanka weiterhin Das Innenministerium protestiert gegen den Entwurf des neuen geschönt, droht Ärger mit zahlreichen Menschenrechtsgruppen; zeichnen die Lageberichts zur Türkei, der das Asylrecht für Kurden Dossiers aber ein kritisches Bild der staat- stärkt. Außenminister Fischer hält den Text unter Verschluß. lichen Repression in den Ländern, droht eine höhere Anerkennungsquote bei den itte Juni verkündete Ludger Vol- Das folgenschwere Papier konnte Vol- Asylanträgen und damit Streit mit den In- mer, Staatsminister im Auswär- mer den Abgeordneten jedoch nicht vor- nenministern der Bundesländer, die Flücht- Mtigen Amt, im Auswärtigen Aus- zeigen.Außenminister Joschka Fischer hat linge aufnehmen müssen. schuß des Bundestages Großes: eine den Text-Entwurf des prokurdischen La- Fischers Staatsminister Volmer heizte die Wende in der deutschen Türkeipolitik. Im geberichts im Tresor seines Büroleiters Diskussion um die Objektivität der Lage- neuen „Lagebericht“ zur Türkei, erklärte wegschließen lassen. Die Angelegenheit ist berichte noch kräftig an. Sie seien von der er, werde jetzt Klartext gesprochen.Anders neuerdings Chefsache. alten Regierung bisweilen „aus innenpoli- als in den Zeiten der alten Regierung wer- Denn die Lageberichte des AA sind tischen Gründen“ verfaßt worden – um den de nun nicht mehr verschleiernd vom „Süd- Grundlage der Asylentscheidungen. Sowohl Ansturm der Asylsuchenden abzuwehren. Ost-Problem“ geschwafelt – sondern das das Bundesamt für die Anerkennung aus- Zu welchem Schlingerkurs das Außen- „Kurdenproblem“ beim Namen genannt. ländischer Flüchtlinge (BAFl) als auch die ministerium auch unter der neuen politi- Der einstige linke Vormann der Grünen Verwaltungsgerichte verlassen sich bei schen Führung fähig ist, zeigt der jüngste redete sich derart in Rage, daß er sogar ihren Entscheidungen auf Bonner Experti- Lagebericht zu Sri Lanka aus dem Januar. von „Kurdistan“ sprach – wofür ihn sofort sen: Wo wird gefoltert, welchen Volksgrup- Gewalt habe dort lange zur allgemein ver- ein CDU-Mann abwatschte. pen droht staatliche Verfolgung, wo müssen breiteten Verhörpraxis gehört, heißt es Abgeschobene Gefängnis und Todesstrafe zunächst erstaunlich offen. Doch dann * Am 17. April in Bonn. fürchten? Die Dossiers sind als Verschluß- kriegt das Amt salomonisch die Kurve: Deutschland

„Die Sicherheitskräfte agieren im Kurden in der Türkei „nicht generell Vergleich zu früher im allgemeinen ethnisch verfolgt“. Aber selbst wer auch zurückhaltender.“ sich als Kurde „weder terroristisch Fischer versuchte das Problem auf noch separatistisch“ betätige, könne die internationale Ebene zu verlagern „Folter und Willkür“ ausgesetzt sein. – und damit loszuwerden: Die Be- Das kommt einem Affront der Re- urteilung der Zustände in den Her- gierung in Ankara gleich, die sich kunftsländern der Antragsteller derzeit um die Aufnahme in die Eu- sollte Organisationen wie dem Uno- ropäische Union bemüht. Flüchtlingshilfswerk UNHCR über- Auch droht Widerstand aus der ei- tragen werden. Aber dagegen hätten genen Regierung. Das Innenministe- sich die deutschen Innenminister ge- rium hat schon wissen lassen, daß wehrt – das UNHCR gilt als zu libe- ein solches Papier nicht akzeptable ral. Selbst im Außenamt stießen die Auswirkungen habe. Selbst krimi- Pläne auf Widerstand. Bei einem Ver- nelle Kurden könnten dann kaum

zicht auf eigene Berichte fürchten die K.-B. KARWASZ noch abgeschoben werden. Ministerialen eine Flut von Einzelan- Minister Fischer (M.)*: Am liebsten raushalten Vorvergangenen Freitag debattier- fragen der Verwaltungsgerichte, de- te Fischer mit seinen Leuten erneut ren Richter offensichtlich nur AA-Ein- andererseits erwarten die in Deutschland das Problem.Weil das AA „nicht mehr den schätzungen trauen. lebenden Kurden von Rot-Grün Unter- Schwarzen Peter haben“ will, müsse ein Bei der Überprüfung der amtsinternen stützung. Bisher ist noch der alte Lagebe- „neues Konzept“ her, entschied die Runde. Abläufe bemerkten Fischers Rechercheure richt gültig. Fischers Ministerium hat nur Es ist der Versuch, sich herauszuhalten. eine höchst fragwürdige Praxis: Seit Mitte vorsichtige Korrekturen vorgenommen. Künftig will das Auswärtige Amt in seinen vergangenen Jahres formulieren auch Nach der Entführung des PKK-Chefs Berichten keinerlei Wertung mehr abge- BAFl-Leute an den Berichten mit – also Abdullah Öcalan im Februar warnte das ben. Anstelle von Sätzen wie „Gruppen- Mitarbeiter jener Behörde, die später über AA in einem sogenannten Ad-hoc-Bericht verfolgung findet nicht statt“ tritt eine die Asylanträge entscheidet. vor einem „erhöhten Risiko für kurdische streng tatsachenorientierte Einzelfallschil- Das Innenministerium hat sie an deut- Volkszugehörige“. Die „hochemotionali- derung. Die Richter sollen so gezwungen sche Botschaften abgeordnet. In Ankara, sierte Atmosphäre“ in der Türkei mache werden, sich ein eigenes Bild zu machen. Belgrad und anderen heiklen Auslands- ihre Situation gefährlich. Um den Veränderungen in den proble- vertretungen unterstützen sie das AA „bei Das Bundesinnenministerium aber matischen Ländern gerecht zu werden, sol- der Feststellung der asyl- und abschie- wischte in einer Einschätzung für die Bun- len die Berichte individuell in bestimmten bungsrelevanten Lage vor Ort“. desländer die Bedenken beiseite. Die AA- Zeitabständen überarbeitet werden. Die Vorsorglich will Fischer künftig jedes Warnung sei „nicht so zu verstehen, daß Botschaften erhalten Anweisung, ihre Be- brisante Dossier sehen und über die Frei- damit Abschiebungen dieses Personen- richte ständig auf dem laufenden zu halten. gabe selbst entscheiden. Manchem in sei- kreises generell nicht mehr möglich sind“. Die Richter sollen die Aktualisierungen ner Partei und auch im eigenen Ministe- Nach „sorgfältiger Prüfung des Einzelfal- dann telefonisch abrufen können. rium reicht das nicht. Gerd Poppe, Men- les“ könne „grundsätzlich weiterhin abge- Einig war sich die Runde, daß innenpo- schenrechtsbeauftragter im Auswärtigen schoben werden“. litisch dominierte Gründe für das AA „ir- Amt, fordert „mehr Mut vom eigenen Hätte Fischer dem neuen Entwurf nun relevant sind“. Man will verhindern, daß Haus.Wir sollten unsere Empfehlungen so zugestimmt, wäre die Abschiebung von sich das Innenministerium „nach seinen eindeutig formulieren, daß kein Richter sa- Kurden erheblich erschwert, wenn nicht Kriterien die Ablehnung von Asylsuchen- gen kann, er habe sie falsch verstanden“. fast unmöglich gemacht worden. Denn der den leichter“ macht. Was die Beurteilung der Türkei angeht, bislang geheimgehaltene Text, dessen Frei- Obwohl der umstrittene Text-Entwurf hat sich Fischer noch immer nicht zur Her- gabe durch den Außenminister auch Vol- zur Türkei den neuen Grundsätzen schon ausgabe eines neuen Lageberichts durch- mer längst erwartet hatte, ist eindeutiger sehr nahekommt, bleibt er vorerst im ringen können. Die Auswirkungen dieser und kritischer als je zuvor: Zwar würden Panzerschrank. Auch die letzten wer- Expertise sind gravierender als in jedem tenden Angaben müssen noch eliminiert anderen Fall: Einerseits droht noch mehr * Mit der Verteidigungsexpertin Angelika Beer (l.) beim werden. Stefan Berg, Carolin Emcke, Ärger mit dem schwierigen Nato-Partner, Sonderparteitag der Grünen im Mai in Bielefeld. Paul Lersch, Georg Mascolo Werbeseite

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Werbeseite Deutschland G. HUBER / LAIF R. RUEFFER / FRANKFURT PICTURE Jung-Manager an der Lufthansa School of Business, Lufthansa-Zentrale in Köln: Geistige Auffrischung für die leitenden Kräfte

über Arbeitsrecht oder Personalführung UNTERNEHMEN geschickt worden, die wenig für die Praxis hergaben. Für die Leute von der Lufthan- sa aber soll sich in Zukunft alles um das Lernen für die Rendite „Intellectual Capital als essentiellen Bau- stein für den Erfolg“ und den „Return on Nach amerikanischem Vorbild gründen deutsche Konzerne Investment von Bildung“ drehen, sagt Michael Heuser, Leiter der Lufthansa firmeneigene Universitäten. Doch der akademische School of Business. Im deutsch-englischen Anspruch wird in den Kaderschmieden kaum eingelöst. Kauderwelsch der Konzerne müssen solche Neuerungen unbedingt hip, dynamisch und ie Jung-Manager geben sich dies- erkannte Wissenschaftler die hochrangigen kosmopolitisch klingen. mal lässig und entspannt. Jürgen Führungskräfte des Unternehmens. Sie- Was damit gemeint ist, spricht Walter DSiebenrock und Rainer Kröpke, benrock wurde eigens eingeflogen, damit Oechsler,Wirtschaftsprofessor an der Uni- beide 36, haben ihre Sakkos abgelegt, auf er demnächst noch besser für die Rendite- versität Mannheim, sachlich und streng die milieugerechte Krawatte verzichtet, sit- steigerung seines Unternehmens sorgen aus: „Die deutschen Unternehmen haben zen wie Studenten auf ihren Stühlen und kann. Er lebt in Rio de Janeiro, arbeitet sich in der Vergangenheit zu sehr auf ihre lauschen dem Vortrag eines kräftigen dort für Lufthansa Cargo und ist als Technik und ihre Produkte konzentriert, Engländers, der sie über Unternehmens- stellvertretender Chef fürs Mittel- und die Qualifizierung des Managements aber strategien belehrt. Hin und wieder blät- Südamerika-Geschäft zuständig. Kröpkes vernachlässigt.“ In vielen Wirtschaftsspar- tern sie in den Fotokopien, die vor ihnen Anfahrtsweg war kürzer, er ist General- ten ist die Produktion weitgehend rationa- liegen, oder machen sich kurze Notizen. Manager fürs Marketing der Lufthansa- lisiert. Nun sind die Menschen dran – die Siebenrock und Kröpke gehören zur jün- Tochter Condor in Frankfurt. Firmen schöpfen ihr sogenanntes Human- geren Manager-Elite der Lufthansa AG. Sie Die Lufthansa gründete als erster deut- kapital aus. sind zur geistigen Auffrischung nicht an ei- scher Großkonzern im vergangenen Jahr In Zeiten der Globalisierung, des Fusi- ner Universität gelandet, sondern in der eine eigene Firmen-Universität, die im onsfiebers und der Dezentralisierung wird firmeneigenen School of Business in See- ambitiösen Sprachgebrauch der Branche es für Großkonzerne zudem ziemlich heim-Jugenheim, nahe Darmstadt, einer „Corporate University“ genannt wird.An- schwierig, eine gemeinsame Firmenkultur kleinen Betonburg zwischen alten Bäumen dere Vertreter der deutschen Wirtschaft, zu entwickeln. Wer in Stuttgart „beim in schönster Hanglage. darunter Bertelsmann, DaimlerChrysler Daimler“ schaffen geht, was verbindet den Mit zwei Dutzend anderen leitenden An- oder die Metallgesellschaft, folgten kurz mit seinem Pendant bei Chrysler in Au- gestellten der Lufthansa diskutieren sie darauf. burn Hills bei Detroit? Oder was hat der über Marktsegmente und Kundenzufrie- Mit einer Universität im landläufigen leitende Angestellte im Bertelsmann-Buch- denheit, müssen Kurzreferate über Schlüs- Sinn haben die Firmen-Unis wenig ge- club mit dem Jung-Manager in der kon- selkompetenzen und Qualitätsmanagement meinsam. Da geht es natürlich nicht um zerneigenen Multimedia-Agentur Pixel- halten, werfen mit Hilfe eines Overhead- Bildung im Humboldtschen Sinn, frei und park gemeinsam? Projektors Grafiken über Stärken und aufklärerisch – Money matters. „Früher funktionierte die Identifikation Schwächen anderer Fluglinien an die Wand. Die Firmen hatten festgestellt, daß die mit dem Unternehmen und seinen Zielen Das Ziel der Übung: Lernen, die Kon- traditionelle Fort- und Weiterbildung ihres über das jahrelange Wachstum in der Hier- kurrenz zu schlagen. Führungsnachwuchses wenig effektiv und archie“, meint Ulrich Steger vom Interna- In Seeheim-Jugenheim trainieren fir- ohnehin überholt ist. Die leitenden Ange- tional Institute for Management Develop- meneigene Experten und international an- stellten waren in theorielastige Seminare ment in Lausanne. Heute müßten selbst

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Werbeseite Deutschland die leitenden Kräfte sich „ein gemeinsames Um flexibel und kostengünstig zu ar- Grundverständnis“ erst erarbeiten. Auch beiten, sind die Firmen-Universitäten meist dazu dienen die Firmen-Unis. virtuelle Einrichtungen. Sie verfügen nur Dort erhalten die Führungskräfte nicht über wenige eigene Räume und festan- nur Wissen über neue Trends, etwa in gestellte Dozenten, nur selten über eine Sachen Multimedia, sie sollen vor allem Bibliothek. Ein Team organisiert in auf die Konzern-Spitze eingeschworen Absprache mit dem Vorstand das Lehr- werden und untereinander Kontakte angebot, die Kurse finden wahlweise in knüpfen. Firmengebäuden, bekannten Universitäten Für Thomas Middelhoff, Vorstandsvor- oder Konferenzzentren irgendwo auf der sitzender von Bertelsmann, ist der Zweck Welt statt. der Corporate University des Gütersloher Fachkompetenz kaufen die Unterneh-

Konzerns denn auch, firmeninterne „Netz- B. BOSTELMANN / ARGUM men bei Experten: So kooperiert die Luft- werke zu bilden“ und die Manager an „le- Bertelsmann-Chef Middelhoff hansa unter anderem mit der Cranfield benslanges Lernen“ zu gewöhnen. Das er- „Netzwerke bilden“ School of Management in Großbritannien fordert bei einem Medienriesen mit rund und mit der Hitotsubashi University in 300 Profit-Centern in über 50 Ländern Übernehmen, um zu übertrumpfen – Japan, DaimlerChrysler arbeitet mit dem ziemlich viele Seminare für die nächsten deshalb hat auch , Geschäfts- Management Zentrum St. Gallen zusam- Manager-Generationen. führer der Bertelsmann-Tochter Ufa Film men, Bertelsmann hat Abkommen mit der Abgekupfert haben die deutschen Kon- & TV Produktion, am Seminar „Mastering Harvard Business School, Teil der Harvard zern-Strategen das Modell der Corporate New Challenges“ („Übers Meistern neuer University an der amerikanischen Ostküste University in den USA. Dort organisieren Herausforderungen“) der Bertelsmann-Uni – alles erste Adressen der Management- über 1500 Unternehmen ihre Weiterbil- teilgenommen. Dabei wurden unter ande- Schulung. dung in entsprechenden Einrichtungen.Als rem die Strategien von Konkurrenz-Kon- Das reine Vergnügen ist die Fortbildung Pionier gilt der Elektronik- und Kommu- zernen wie Walt Disney und Time Warner für die Nachwuchs-Manager nicht. Doch nikationskonzern General Electric, der analysiert. eine Einladung dazu ist eine Auszeich- schon 1956 ein entsprechendes Bildungs- Während in den Vereinigten Staaten vie- nung, die Karriere verheißt. Jung-Manager zentrum eröffnete, der Computerriese IBM le der Konzern-Unis allen Mitarbeitern of- Siebenrock kennt schon den nächsten betreibt heute das größte mit mehr als fenstehen, sind sie in der Bundesrepublik Termin. Für das Block-Seminar in einigen 10000 Kursen im Jahr. meist dem leitenden Management vorbe- Monaten wird er nach Cranfield in Groß- „Best Practice“ heißt eine gängige Me- halten. britannien reisen. Daheim in Rio will er thode, auf die der Nachwuchs getrimmt Bei DaimlerChrysler besitzen von den jetzt aber erst einmal seine soeben er- wird: Seziere genauestens deine Konkur- weltweit rund 460000 Mitarbeitern nur ei- worbenen „Tools“ anwenden – die neuen renz, übernehme, was dir wertvoll er- nige Tausend den Status, der es erlaubt, in Strategien aus dem Seminar in Seeheim- scheint, mixe eigene Ideen bei, werde der den erlauchten Kreis der Teilnehmer vor- Jugenheim. Beste. zustoßen. Der Kampf geht weiter. Joachim Mohr J. TACK / DAS FOTOARCHIV / DAS TACK J. Harvard University in Cambridge: Erste Adresse der Management-Schulung

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Ende Juni haben die kirchlichen Gesell- schafter ihr freudloses Organ, dessen Auf- lage in den vergangenen drei Jahrzehnten von über 130000 auf magere 46000 Exem- plare abgebröckelt ist, dem Partner zur kompletten Übernahme angeboten. Das Modell sieht vor, daß die Kirche weiter die publizistische Linie bestimmt und eine abgespeckte jährliche Subvention in Höhe von 4,5 Millionen Mark zahlt. Der Süddeutsche Verlag könnte durch den enormen Verlustvortrag in den nächsten fünf Jahren 35 Millionen bis 50 Millionen Mark Steuern sparen und diese Summe zurückinvestieren. Nach Brummers Vor- stellungen würde das betuliche „Sonn- tagsblatt“ dann einem bunten Magazin weichen, das eine Atmosphäre erzeugen soll, mit der auch eine „Anwältin erreicht werden kann, die Gewissensnöte hat, weil sie abgetrieben hat“. Fraglich ist, ob die Gremien der evange- lischen Kirche mitziehen werden und Brummer damit die Gelegenheit geben, dem Jammertal zu entfliehen, in dem sich die gesamte kirchliche Presse befindet. Mit vielen Millionen versuchen die beiden großen Konfessionen, ihre Botschaft un-

J. RÖTTGER / VISUM RÖTTGER J. ters Volk zu bringen, doch die Schäfchen verweigern sich zunehmend dem frommen Tun. Die 23 wöchentlichen Bistumsblätter der katholischen und die 18 Kirchenge- KIRCHE bietsblätter der evangelischen Kirche er- reichen zwar zusammen eine Auflage von 1,6 Millionen, doch die nimmt ständig ab. Abo aus Mitleid Nur wenige der Blättchen schaffen es, ohne kirchliche Subventionen auszukommen. Mit massiven Subventionen versuchen die Bischöfe, ihre Die regionale Kirchenpresse befinde sich in einer „ihre Existenz bedrohenden Struk- zahllosen Zeitschriften und Wochenblätter am Leben turkrise“, warnte eine Studie („Markt und zu erhalten. Ohne großen Erfolg – die Auflagen sinken stetig. Mandat“) der Evangelischen Kirche in Deutschland bereits vor zwei Jahren. Und b und zu braucht Arnd Brum- eine Untersuchung der katholischen Kirche 1,4 in Millionen mer Tagträume, um seinem tristen Abtrünnige kommt zu dem Schluß: Die vorhandene AChefredakteursalltag zu entfliehen. Schäfchen Leserschaft wird älter und verschwindet Dann stellt er sich vor, wie es wäre, wenn 1,3 durch den Generationswechsel vom Markt. die evangelische Kirche aus seinem „Deut- Verkaufte Auflage Im Klartext: Die Leser sterben weg, der schen Allgemeinen Sonntagsblatt“ eine Art jeweils IV. Quartal Begriff „Karteileiche“ erhält in diesem Zu- 1,2 BISTUMS- „Geo“ für Glauben und Spiritualität ma- ZEITUNGEN sammenhang eine neue Bedeutung. chen würde. Kein „Andachtsjodlerblatt katholisch „Wenigstens sinkt die Auflage nicht im oder Kundenmagazin für Gläubige“. Nein, 1,1 gleichen Tempo wie die Zahl der Gottes- eine bunte Monatszeitschrift, mit der die 1,08 dienstbesucher“, macht sich Hans-Josef Kirche ein „positives Verhältnis zu Glauben Joest Mut, der als Chefredakteur 1,0 und Lust“ präsentiert. Wenn auch ohne „RheinischerRheinischer in Tausend die münstersche Bistumszeitung „Praymate des Monats“ zum Ausklappen in MerkurMerkur“ 120 „Kirche + Leben“ leitet (Auflage: der Heftmitte. 0,9 112,7 111,7 154 000). „Zwangsbeglückung auf Brummer, 42, trinkt seinen Kaffee aus ei- 100 Kirchensteuerkosten“ nennt dage- 92,7 nem schwarzen Becher mit der Aufschrift: gen ein Kenner der Szene die 0,8 80 „Wenn Sie meinen Job hätten, würden Sie „DeutschesDeutsches „Wurstblätter“, die oft noch nicht auch trinken.“ In seinen neun Jahren an AllgemeinesAllgemeines 60 einmal die Qualität von Lokalzei- SonntagsblattSonntagsblatt“ 47,4 der Spitze des „Sonntagsblatts“ hat er 0,7 40 tungen der fünfziger Jahre erreich- trotz aller Bemühungen den schleichenden ten. Und: „Die alten Mütterchen Niedergang der „Christlichen Wochenzei- Quelle: IVW abonnieren die nur aus Mitleid.“ tung für Politik, Wirtschaft und Kultur“ 0,6 Die Macher verweisen in ihrer Not gern nicht aufhalten können. KIRCHEN- wolkig auf gesamtgesellschaftliche Ent- 0,52 Neun Millionen Mark steckte die evan- 0,5 GEBIETSBLÄTTER wicklungen. Glaube sei eben nicht mehr gelische Kirche Jahr für Jahr in das Blatt, evangelisch „trendy“, meint Michael Rutz, der Chef- das ihr zusammen mit dem Süddeutschen redakteur des „Rheinischen Merkur“ (Auf- Verlag („Süddeutsche Zeitung“) gehört. 1992 93 94 95 96 97 98 lage: 111 700), der von den katholischen

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Bischöfen jedes Jahr mit geschätzten 16 Millionen Mark unterstützt wird. „Die Lockerung kirchlicher Bindungen ist kein ausreichender Erklärungsgrund für Kraft durch Schweigen die Abwanderung von Abonnenten“, wi- derspricht eine Studie des Allensbach-In- Wie die Diözese Stuttgart einen Chefredakteur feuerte stituts der Rutz-These, die auch von ande- ren Chefredakteuren kirchlicher Blätter itten im frommen Schaffen für ne Martinusmedaille, die höchste Aus- gern bemüht wird.Abbesteller kritisierten das „Katholische Sonntags- zeichnung der Diözese, an den Gene- die „Themenauswahl, Kommentare, Fotos, Mblatt“ des Bistums Rottenburg- ralvikar zurück. Eine spontane „Initia- Bilder, die ganze äußere Aufmachung“ und Stuttgart ereilte Chefredakteur Uwe tive Katholisches Sonntagsblatt“ for- die Gestaltung der frommen Blätter. Renz die Kündigung.Wann er gedenke, dert die Rücknahme der Kündigung. Kein Wunder bei Spitzenprodukten der die Redaktionsräume zu verlassen, Bischof Kasper und seinem Domka- Publizistik wie der „Kirchenzeitung“ für fragte ihn der Bote seiner Kirchenobe- pitel war der Renz-Kurs seit Jahren su- das Erzbistum Köln (Auflage: 75000), das ren. Im Laufe des Nachmittags, erwi- spekt. Mal waren Texte über die Jung- seinen alternden Lesern neben Tips gegen derte der Gefeuerte, schneller gehe es frauengeburt zu locker, mal brachte ein Nierensteine („Steter Tropfen höhlt den nicht. „Nein“, insistier- Artikel über das Prie- Stein“) und frommen Traktaten („Der Hei- te der Kurier, „bis in 30 sterbild des vom Papst lige Geist stößt neue Tore auf“) vor allem Minuten wollen wir Sie gemaßregelten Theolo- das segensreiche Wirken des Kölner Kar- hier nicht mehr sehen – gen Hans Küng die Kir- dinals und „Kirchenzeitung“-Herausgebers okay, sagen wir bis in chenleitung in Wallung. Joachim Meisner preist, dem „Sonderge- einer Stunde“ – Mob- Als Renz sich weigerte, sandten des Papstes für die Einweihung bing auf katholisch. einen Nachruf auf ein der Pfarrkirche von Astana in Kasachstan“. Der Journalist und langjähriges Aufsichts- Vergebens schlugen die kirchlichen Lai- Theologe Renz, 40, ratsmitglied des Schwa- en im Medienausschuß des Kölner Diöze- stand seit längerem bei benverlages vor Veröf- sanrates vor, das Blatt doch bitte den seiner Bistumsleitung in fentlichung zur Geneh- Anforderungen des ausgehenden 20. Jahr- Ungnade, weil er ver- migung vorzulegen, hunderts anzupassen. Der Chefredakteur, sucht hatte, aus dem wurde er abgemahnt, ein vom Kardinal eingesetzter Prälat, wur- verstaubten Kirchen- gleichzeitig ein neues de ausfällig. Anschließend benötigte der blatt eine weltoffene Redaktionsstatut instal- Mann Gottes nicht nur himmlischen, son- Postille zu machen, die liert. Das verlangte von dern auch juristischen Beistand. auch mal Kritisches der Redaktion, alle 14 Der Kardinal läßt den Priester seines über den eigenen Ver- Tage beim Bischof vor- Vertrauens weiter in seinen Artikeln („Kru- ein druckte – „ein Fo- zusprechen und sämtli- zifixus mit monumentaler Ausstrahlung“) rum des Dialogs, so che Berichte über den die eigene Sprachlosigkeit bekennen: „Die vielfältig, wie das Le- Vatikan, die Bischofs- Vokabeln fehlen, um den spektakulären ben der Kirche und der konferenz oder den Neuerwerb des Kölner Diözesanmuseums Diözese nun eben mal Rottenburger Diöze- gebührend zu würdigen.“ ist“ (Renz). Sein letzter sanrat vorab zensieren Die Halbwertszeit jener Chefredakteu- Kommentar endete mit zu lassen. Renz willigte re, die gelegentlich eine gemäßigt kirchen- dem Satz: „Die Gestalt zähneknirschend ein. kritische Position ins Kirchenblatt heben,

der Kirche wird sich än- + KLINK STOPPEL Die Ruhepause ist dagegen oft gering. Das mußte zuletzt dern, und eines Tages Bischof Kasper währte nur kurz. Ein Uwe Renz, Chefredakteur des „Katholi- können Veränderungen Bericht über „späte Vä- schen Sonntagsblatts“ des Bistums Rot- möglich sein, an die heute niemand zu ter“, garniert mit einem Bild Oskar La- tenburg-Stuttgart, erfahren, der Ende Juni glauben wagt.“ fontaines, führte Ende März zum er- binnen einer Stunde seinen Schreibtisch Bis dahin hat es wohl noch Weile. sten Versuch, den Chefredakteur los- zu räumen hatte (siehe Kasten). Der Rauswurf des Redakteurs ist die zuwerden. Der Betriebsrat intervenier- Angesichts der kläglichen Ergebnisse der letzte Tat des inzwischen in die vatika- te – zunächst mit Erfolg. Ein Eklat zu kirchlichen Presseanstrengungen werden nische Kurie aufgerückten Rottenbur- diesem Zeitpunkt, so Insider, hätte den die Stimmen lauter, die nach einem Ende ger Oberhirten Walter Kasper. Seitdem Abgang Kaspers nach Rom verdunkelt. der Subventionen rufen. So greift Matthias die Leitung des Schwabenverlags, in Die Redaktion war so eingeschüchtert, Nückel, Chefredakteur der kirchenunab- dem das „Sonntagsblatt“ (Auflage daß sie Anfang Juni nicht wagte, eine hängigen, aber katholischen „Neuen Bild- 65000) erscheint, in dürren Worten die Meldung über die Wahl Margot Käß- post“, das „Subventionsunwesen“ an, mit Trennung von Renz verkündete („we- manns zur evangelischen Bischöfin zu dem der Markt verstopft werde. gen erheblicher Probleme in der Zu- drucken. Renz war da gerade im Ur- „Sonntagsblatt“-Chef Brummer ver- sammenarbeit mit der Verlagsleitung“) laub. Erst nachdem Kasper abgereist breitet dennoch Zweckoptimismus. Ir- rumort es unter den Katholiken: Bin- war, exekutierte das Domkapitel Mitte gendwann werde auch die Kirche begrei- nen weniger Tage bestellten Hunderte Juni die Entlassung. An diesem Don- fen, daß sie in einer Mediengesellschaft von Lesern die Kirchenzeitung ab, dar- nerstag verhandelt das Arbeitsgericht ihre Berührungsängste zur Popkultur auf- unter 70 Pfarrer. Autoren verweigern den Fall Renz. geben müsse. So wie das „Mediengenie“ ihre weitere Mitarbeit, Stuttgarter Fo- Auf der Internetseite des „Katho- Martin Luther, der bereits 1530 gefordert tografen wollen dem Blatt keine Bilder lischen Sonntagsblatts“ prangt der- habe: „Man muß die Mutter im Hause, die mehr liefern. Der Referent der katho- zeit der Spruch: „Schweigen gibt Kinder auf der Gassen, den gemeinen lischen Diözesen gab unter Protest sei- Kraft!“ Uwe Beck, Peter Wensierski Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen.“ Konstantin von Hammerstein

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und Einkaufsviertel emporschießen. Mit ner Kabarettbühne, einer Spielbank und STÄDTEBAU einer Fläche von 90 Hektar und Kosten mehreren Museen, beispielsweise für Autos von sechs Milliarden Mark übertrumpft das oder Geld. Dazu kommen Wohn- und Völlig überrollt Projekt des geschäftstüchtigen Kreditinsti- Bürotürme, eine Halle für Konzerte und tuts sogar die Daimler-City auf dem Pots- Sportwettkämpfe („Eurena“), die 20 000 In der bauwütigen Finanz- damer Platz in Berlin, die auf sechs Hekt- Besucher fassen soll, sowie ein Stadion für ar vier Milliarden Mark verschlang. 50000 Zuschauer. metropole Frankfurt Das riesige Grundstück, auf dem zur Ein großer Wurf, so scheint es. Doch die plant die Deutsche Bank ein Zeit nur ein paar Gräser im Wind schau- Präsentation ist den Deutsch-Bankern ganzes Stadtviertel – keln, sorgt bei Immobilienkennern für gründlich mißlungen. Sie hatten offenbar Kosten: sechs Milliarden Mark. leuchtende Augen – die Lage ist exzellent. vergessen, die Stadt rechtzeitig einzuwei- hen. Frankfurts Oberbür- germeisterin Petra Roth (CDU), die Ende Juni bei einem Treffen mit Bankchef Rolf Breuer völlig unvorbereitet vor das Jahn-Modell geführt wurde, ließ säuerlich ver- lauten: „Das Projekt ist sehr interessant, läßt aber viele Fragen offen.“ Deutlicher mokiert sich Martin Wentz (SPD), De- zernent für Stadtpla- unbebaute Fläche nung: „Wir sind völlig des ehemaligen überrollt worden.“ Güterbahnhofs Nicht nur der Stil des Geldhauses ist fragwür- dig. Die geplante Retor- tenstadt wirft eine ganze Der Entwurf von vorhandene Blick- Reihe konkreter Proble- Helmut Jahn Messehallen richtung auf dem me auf. So könnte die Luftbild Messe, ein entscheiden- neue der Wirtschaftsfaktor für Hallen Euroturm Frankfurt, kaum noch U U wachsen. Daß aber neue Park U Eurena Galerie Stadthaus Stadion Hallen nötig sind, um Kunden wie die Interna-

R. OESER/FRANKFURT PICTURE Ver- Kino Eurotel Eurohaus tionale Automobilaus- Geplantes Frankfurter Neubauviertel waltung stellung oder die Buch- „Viele Fragen offen“ neue Wohnungen messe in der Stadt zu hal- ten, gilt als unstrittig. Der escheiden sind die Frankfurter selten Das zwei Kilometer lange und mehr als Jahn-Entwurf verringert die Erweiterungs- gewesen. Jetzt wollen sie klotzen 400 Meter breite Brachland grenzt unmit- flächen um mehr als die Hälfte. Bwie noch nie. telbar ans Messegelände, eine Fahrt in die Große Sorgen bereitet den städtischen Rund zwei Dutzend neuer Hochhäuser City oder zum Flughafen dauert mit U- Planern auch das Nebeneinander von Mes- sollen nach der Jahrtausendwende in den oder S-Bahn keine viertel Stunde. se, Sportarenen und Einkaufszentrum. Der Himmel über der Mainmetropole ragen, Als Mastermind engagierten die Banker Architekturprofessor Jochem Jourdan, der ein 365 Meter hoher „Millennium-Tower“ den Stararchitekten Helmut Jahn, 59. Der kürzlich im Auftrag der Stadt einen soge- zielt auf den europäischen Höhenrekord. gebürtige Franke, der in Chicago residiert, nannten Hochhausrahmenplan aufgestellt Weitere Großprojekte kommen dazu – machte sich etwa mit dem „State of Illinois hat, sieht „eine wahnsinnige Verkehrsbe- vom 1,3 Milliarden Mark teuren Wohn- und Center“ in seiner Wahlheimat oder mit lastung“ anrollen, wenn etwa an einem Bürokomplex („Frankfurter Welle“), der dem Frankfurter Messeturm einen Namen. Messetag die Frankfurter Eintracht in dem an der Rückseite der Alten Oper aus dem Auch das Sony Center am Potsdamer Platz neuen Stadion spielt. Boden wächst, bis zu einem neuen Wohn- in Berlin, das im Herbst dieses Jahres fer- Ganz besonders düpiert sieht sich eine und Arbeitsquartier am Westhafen. tig sein soll, stammt von Jahns Reißbrett. Investorengruppe, die auf einem Teil des Allein mit den Plänen, die bereits den Sein Entwurf für die neue Frankfurter Geländes ein ebenfalls vielbeachtetes Bau- Segen des Magistrats haben, würde die hes- Messestadt trägt deutlich amerikanische werk hochziehen möchte – ein Urban En- sische 650000-Einwohner-Stadt zur Groß- Züge. Grünanlagen und ein See, umgeben tertainment Center mit Kaufhäusern und baustelle. Doch für die größte Bank der von sieben- bis zehngeschossigen Wohn- einem Musicaltheater (SPIEGEL 13/1999). Welt, die in Frankfurt ihren Hauptsitz hat, häusern, erinnern an den New Yorker Cen- Unterschriftsreife Verträge liegen vor, im ist das noch lange nicht genug. tral Park. Als größtes Bauwerk soll nach Herbst sollte Baubeginn sein. Die Deutsche Bank, nach dem Kauf der dem Vorbild der vollklimatisierten Shop- Ronald Hetzke, Manager des deutsch- US-Firma Bankers Trust die Nummer eins ping Malls ein überdachtes Einkaufszen- kanadischen Investors Trizec-Hahn, hofft auf dem Globus, will die gewaltigste Bau- trum entstehen („Galerie“). nun auf einen Kompromiß für sein Enter- grube Europas ausheben. Auf dem Areal Kultur und Entertainment sind im soge- tainment Center: „Ich bin aufgeschlossen des ehemaligen Hauptgüterbahnhofs soll nannten Stadthaus zusammengefaßt – im für eine Zusammenarbeit mit der Deut- ein gigantisches Wohn-, Arbeits-, Freizeit- Entwurf spielt Jahn mit einem Theater, ei- schen Bank.“ Dietmar Pieper

66 der spiegel 28/1999 KOMMUNALWAHLEN David und Goliath Kurz vor der Kommunalwahl kippten Verfassungsrichter Hürden für den Einzug in die Fünfprozenthürde in Nord- Kommunalparlamente rhein-Westfalen – eine keine Beschränkung Chance für mehr Demokratie? / NETZHAUT DIETRICH J. Baden-Württemberg NRW-Verfassungsrichter* igentlich möchte Nor- Bayern Recht auf Gleichheit bert Hess lieber me- Berlin Editieren, denn das Brandenburg Im Münchner Stadtrat gehört zum Programm der Niedersachsen regiert Oberbürgermeister Naturgesetz Partei, die mit Nordrhein-Westfalen* Christian Ude (SPD) mit Yogischen Fliegern die Welt Sachsen den Grünen und dem Ab- retten will. Doch seit ver- Sachsen-Anhalt geordneten Thomas Nie- gangener Woche plagen den derbühl von der „Rosa Li- 3%-Klausel Mann handfestere Nöte: Bis ste“ der Schwulen und Les- zum 6. August will er mehr Rheinland-Pfalz ben. Fallweise wird er auch als 100 Kandidaten für die 5%-Klausel von der ÖDP und der Ein-

Kommunalwahl in Nord- EINBERGER / ARGUM T. Bremen Mann-Gruppierung „Da- rhein-Westfalen auftreiben. „Rosa Liste“-Abgeordneter Niederbühl Hamburg vid gegen Goliath“ unter- Den Reisekaufmann Mi- Partner der SPD Hessen stützt, die gegen Atomkraft chael Krebs beschäftigen Mecklenburg-Vorpommern kämpft. ähnlich diffizile Sorgen: Kann er sich als ordnete aus dem Urlaub ho- Saarland In Baden-Württemberg Vorsitzender der Königswinterer „Bürger- len, um das Wahlgesetz zu Schleswig-Holstein werden in „erster Linie initiative gegen den Fluglärm“ für die Wahl ändern. Ministerpräsident Persönlichkeiten gewählt Thüringen am 12. September selbst als Kandidat auf- Wolfgang Clement (SPD) * und weniger die Parteien“, stellen, oder braucht er einen Vorstands- kommt aus dem US-Staat Gesetzentwurf wird vorbereitet erklärt Norbert Brugger beschluß? Den wird er bis zum Ablauf der Minnesota zurück, wo er die vom Landes-Städtetag. Des- Meldefrist nicht hinbekommen, denn seine Geburt seines Enkels Jannick gefeiert hat. halb sei eine Sperrklausel „nie diskutiert Mitstreiter sind in Urlaub. Kosten des parlamentarischen Spektakels: worden“. 43 Mandate hat die ÖDP im Mit seinem Urteilsspruch vom Dienstag mehrere hunderttausend Mark. Ländle, mit Fünfprozentklausel wären es 15 vergangener Woche gegen die Fünfprozent- Was den Bürgern in NRW ins Haus weniger. klausel bei Kommunalwahlen hat der Ver- steht, ist anderswo in der Republik längst Nicht ganz uneigennützig strebt die fassungsgerichtshof von NRW die Parteien Praxis – mit unterschiedlichen Resulta- neue CDU/FDP-Landesregierung in Hes- mitten im Sommerloch aufgestört. Grüpp- ten. Bei den Kommunalwahlen in Nieder- sen eine Änderung des Kommunalwahlge- chen und Bürgerinitiativen, die bisher kei- sachsen gibt es keine Fünfprozenthürde, setzes an. In dem Land, wo die FDP mit ge- ne Chance hatten, wollen jetzt antreten. Sachsen-Anhalt hat dieses System vom rade mal 5,1 Prozent den Sprung in den Gewählt werden die Räte von 396 Städten Partner-Bundesland übernommen: Jeder Landtag schaffte, soll künftig eine Drei- und Gemeinden sowie 31 Kreistagen. Die Wähler hat drei Stimmen, kann für drei prozentklausel gelten – damit der libera- SPD fürchtet nach ihrem desaströsen Ab- verschiedene Parteien oder Wählergrup- le Koalitionspartner auch bei weiterer schneiden bei der Europawahl in NRW (mi- pen votieren, anteilig bekommen dann die Schwindsucht politisch präsent bleibt. nus 9,6 Prozent im Vergleich zur Bundes- Fraktionen ihre Mandate im Stadt- oder Kritiker der Aufweichung des parla- tagswahl) nun den Verlust roter Bastionen Gemeinderat. „Die befürchtete Zersplitte- mentarischen Numerus clausus verweisen in den Kommunen. Deswegen hatten sich rung in den Kommunalparlamenten“, sagt gern auf die Verhältnisse im Reichstag der die Sozialdemokraten bis zuletzt gegen den Landeswahlleiter Karl-Ludwig Strelen, Weimarer Republik: Dort habe das Fehlen Wegfall der Fünfprozenthürde gesperrt. Ge- „hat es nie gegeben.“ Splitterparteien spie- einer Sperrklausel zur Destabilisierung des klagt hatten die PDS und die Öko-Splitter- len in Niedersachsen kaum eine Rolle. Landes und letztlich zum Untergang der partei ÖDP, die ihr „Recht auf Chancen- Ganz anders in Baden-Württemberg und Demokratie beigetragen. gleichheit“ verletzt sahen. Bayern. Im Freistaat stellen die Freien Doch Fachleute sehen im Verzicht auf „Für uns große Parteien wird es enger“, Wähler und „sonstige“ Parteien insgesamt die Fünfprozentbarriere an der Basis mehr fürchtet die Kölner Bürgermeisterin Rena- die stärkste Fraktion in den Kommunen. Vor- als Nachteile für den politischen Wett- te Canisius (SPD). Auch NRW-Opposi- Sie kamen bei den Wahlen am 10. März bewerb. Dadurch könnten leichter neue tionsführer Laurenz Meyer (CDU) erwartet 1996 auf insgesamt 41,8 Prozent der Sitze in Parteien entstehen, die den Etablierten Einbußen: „Bürgerinitiativen und Wähler- Städten und Gemeinden. Die CSU erhielt Druck machen, glaubt der Staatsrechtler gemeinschaften bilden sich im konservati- lediglich 32,8 Prozent, die SPD 21,8, die Hans Herbert von Arnim. Heraus komme ven Potential.“ Die FDP, die bei den letz- Grünen blieben bei 3,7 hängen. Würzburg „mehr Demokratie für den Bürger“. ten Kommunalwahlen vier Fünftel ihrer und Dachau werden von Oberbürgermei- Die Stabilität der Republik bleibt un- Mandate einbüßte und landesweit auf 3,8 stern geleitet, die auf Listen von freien gefährdet: An die Aufhebung der Zu- Prozent schrumpfte, hofft dagegen auf er- Wählergemeinschaften kandidiert haben. lassungsbeschränkung für Bundestag folgreiche Wiederbelebung. In dieser Woche und Landtage denkt niemand ernst- muß der Düsseldorfer Landtag 221 Abge- * Bei der Urteilsverkündung am 6. Juli. haft. Barbara Schmid

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MINISTER Der Rüpel vom Dienst Noch ist der grüne Umweltminister Jürgen Trittin in der Regierung unentbehrlich – als Feindbild und Sündenbock. Sein Gegenpart Joschka Fischer nimmt nun die Gespräche mit der Atomindustrie über den Ausstieg selbst in die Hand.

bungsmassage. Schröder holte seinen un- berechenbarsten Mann an den Tisch zum Plausch. Der Kanzler schmauchte und trug sein Regieren-macht-Spaß-Gesicht. Seht her, so sollten die Mitreisenden merken, der Jürgen gehört doch noch dazu – vor allem allerdings aus strategischen Gründen. Die Grünen haben derzeit keine überzeugende Alternative zu bieten, zu- dem wäre der Vorrat an Sündenböcken er- schöpft, wenn Trittin nun wie Oskar La- fontaine und Bodo Hombach den Dienst- wagen abgeben müßte. Im Oktober allerdings, falls die SPD nach Sachsen, Thüringen und dem Saar- land auch die Wahl in der deutschen Hauptstadt krachend verlieren sollte, herrscht womöglich Bedarf an einem, der schuld ist. Auch wenn der Kanzler einen Grund bräuchte, die rot-grüne Koalition aufzukündigen, stünde der Rüpel vom Dienst als Universalvorwand bereit. Trittin weiß, daß er in den letzten neun Monaten überzogen hat. Mit seiner Rammbock-Politik hat er den Wider- standsgeist der Atombosse noch einmal richtig entfacht; das dämmert auch der grü- nen Basis langsam. Ohne Trittin, sagen selbst Sympathisanten, wäre der Ausstieg womöglich bereits vereinbart. Trittin ist eines der großen Rätsel der rot-grünen Regierung. Kaum ein Minister startete vor neun Monaten mit so guten Voraussetzungen, keiner legte einen derart

F. DARCHINGER F. fulminanten Absturz hin. Grünen-Minister Trittin: Krawall statt Konsens Der Kaufmannsohn genoß eigentlich ei- nen guten Ruf aus den Jahren als Bundes- er kälteste Punkt deutscher Politik Tagen ist aus dem jahrelangen Spiel aller- und Europaminister im rot-grünen Han- lag vergangene Woche in knapp 13 dings Ernst geworden. Eine falsche Bewe- nover. Bei dem Ministerpräsidenten Schrö- DKilometer Höhe über dem Meeres- gung noch, und Schröder jagt den grünen der erarbeitete er sich damals das Prädikat: spiegel. In der ersten Reihe des Luftwaffen- Minister davon. Das wäre für Trittin „Das ist ein Guter.“ Airbus A 310 döste der Bundeskanzler, der womöglich sogar eine Erleichterung. Denn Trittin hatte sein Ministerium gut orga- Minister drei Reihen dahinter schien für Ger- der lange Bremer ist seit Wochen einer per- nisiert und arbeitete sich fix in komplexe hard Schröder gar nicht mehr zu existieren. manenten öffentlichen Demütigung aus- Themen ein. Sein Drang zur Korrektheit al- Da hockte einsam ein schnauzbärtiger gesetzt wie einst der glücklose Bundes- lerdings hat sich inzwischen ins Pedantisch- Mann und blätterte in einem Stoß Papiere. trainer Berti Vogts. Etatistische gesteigert. In jedem Gesetzes- Keiner mochte mit ihm reden, nicht In- In deutschen Kneipen und Wohnzim- text findet er noch ein Folterwerkzeug für nenminister , nicht Verteidi- mern ist Trittin das Symbol für das rot-grü- die Atom-Industrie, etwa für die Blockade gungsminister , erst recht ne Böse an sich, für die in Bonn und Ber- der für die Stromkonzerne notwendigen nicht Wirtschaftsminister Werner Müller. lin, die ohnehin nur Mist machen. Was Castor-Transporte. Mal ein verstohlener Blick, halb mitleidig, Franz Josef Strauß einst für die Linke war, Formal alles richtig, atmosphärisch je- halb abschätzig, das war alles, was Jürgen ist der Umweltminister mitunter sogar für doch ein schwerer Fehler. Und das krasse Trittin auf dem Weg zum Staatsbesuch in halb Europa – das Feindbild schlechthin. Gegenteil dessen, was Schröder vorgibt: die Ukraine zuteil wurde. Spätabends am vergangenen Donnerstag Krawall statt Konsens. Das Dasein als Außenseiter im politi- in Kiew gewährte der Kanzler dem einsa- In Schröders Sinne hätten Trittin und schen Betrieb ist Trittin gewohnt. In diesen men Minister eine kleine Wiederbele- Wirtschaftsminister Müller, der einstige

68 der spiegel 28/1999 Veba-Manager, gleich nach dem Macht- wechsel eine gemeinsame Strategie für die Verhandlungen mit der Atomindustrie aus- klügeln müssen. Statt dessen verzehrten sich die beiden im Kleinkrieg. Sieger natür- lich, obwohl zuweilen nicht weniger pro- vokant: Müller. In Kiew taten die Streithähne wenigstens so, als seien sie sich einig. Denn der Besuch bei Präsident Leonid Kutschma war von politischer Brisanz. Scheitert der Staats- chef bei den Wahlen Ende Oktober, droht die Gefahr, daß die Ukraine sich stärker an Moskau orientiert. Ein Ausstieg der Deutschen aus den Kre- ditzusagen für die beiden Atomkraftwerke K2 und R4 würde das Risiko noch beför- dern. Die Russen sprängen bei der Fertig- stellung der Meiler ein, und die für das Jahr 2000 angekündigte Abschaltung des letzten Reaktors von Tschernobyl – das

Gegengeschäft für die Kredite – wäre REUTERS womöglich auch dahin. Staatsgast Trittin am vorigen Freitag in Kiew*: Guter Start, fulminanter Absturz Hier ging es nicht um falsch und richtig, wie es Trittin gern gehabt hätte, sondern könnte, falls die von Müller ausgegebene Partner, die alle strittigen Fragen unter um das Abwägen zweier Übel. Als „gut“ 35-Jahres-Frist für die deutschen Atom- sich ausmachten. Da hätte Trittin seine bezeichnete Trittin nachher tapfer das Kli- kraftwerke von der Regierung gegen den Fischer-Phobie noch abstellen und mit dem ma bei den gemeinsam mit Müller geführ- Willen des kleinen Koalitionspartners Ober-Grünen gemeinsame Sache machen ten Verhandlungen. sanktioniert wird, ist eher unwahrschein- können. Trittin gilt mittlerweile als „einfach nicht lich. Die Idee, mit der vermuteten Mehr- Es scheint die Lebensaufgabe von Trittin konsensfähig“, wie einer seiner Partei- heit der Partei im Rücken Politik gegen die zu sein, einen Gegenentwurf zu Fischer zu freunde sagt.Wie Lafontaine und Hombach Linie der Regierung machen zu können, versuchen. Wo aber der Außenminister begeisterter Polarisierer, definiert sich der war schon bei Lafontaine grandios ge- Mitarbeiter verabschiedet, die ihm nicht einstige Hochschulkommunist stets aus einer scheitert. mehr nützen, hält der Umweltminister treu Anti-Haltung. Er ist gegen die Staatsmacht, Macht hat, wer die Umfragen anführt – an seinen fest. Wo Fischer das Gesicht in die Industrie. Trittin ist Django. Anders als und das ist Fischer. Beide verbindet eine weltschmerzschwere Falten legt, grinst Trit- der einsame Cowboy ist er allerdings ein mi- lange, innige Männerfeindschaft.Während tin sein Grinsen, das Hohn und Unsicher- serabler Zocker. Beim Poker um den Atom- der eine in Hannover Minister war, diente heit, Hochmut und Freude am Chaos si- ausstieg „überreizt er noch mit dem letzten der andere in Frankfurt am Main. Trittin gnalisiert. Fischer wirkt authentisch, Trittin Mistblatt“, sagt eine hohe Genossin. robbte sich wie Lafontaine mit Hilfe der künstlich. Der eine produziert historische Ob Trittin auf einem grünen Atom-Son- Partei von links nach Bonn, Fischer eher TV-Bilder, der andere klemmt Reporter- derparteitag tatsächlich noch bestehen gegen die Partei aus der Mitte heraus – wie mikrofone in der Autotür ein. Schröder. Politisch so gut wie erledigt, dient Trit- Noch bei den Koalitionsverhandlungen tin Kanzler und Vize-Kanzler derzeit nur * Oben: mit Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye (l.); unten: am 4. März 1997 bei einer Anti-Atom-Demon- im Oktober letzten Jahres waren die vier als Sandsack. Deshalb hat der Umweltmi- stration in der Nähe von Gorleben. auf Augenhöhe, scheinbar gleichstarke nister noch einmal knapp drei Monate auf Bewährung für die Abwicklung der deut- schen Atomkraft bekommen. In einer von ihm geleiteten Arbeitsgruppe sollen Ex- perten verschiedener Ministerien ermit- teln, wie der rechtssichere und entschädi- gungsfreie Atom-Ausstieg zu bewerkstelli- gen ist. Obschon leidensfähiger als ein realpoli- tischer Scherpa, mußte Trittin von der fer- nen Ukraine aus vergangenen Freitag den Gipfel der Demütigung ertragen. Da traf sich Fischer, der bislang als einziger Um- weltminister eine Atom-Anlage in Deutsch- land dichtgemacht hat, mit den vier wich- tigsten Bossen der Stromwirtschaft. Die Botschaft ist klar. Der Ausstieg ist möglich – aber ohne Trittin. Derweil überlegen der Umweltminister und seine Mitarbeiter, wie er sich künftig neu erfinden könnte. Eine Positiv-Strategie für Jürgen Trittin? Dann, sagt ein Minister-

AP Kollege, „muß er aber wirklich verzweifelt Demonstrant Trittin*: Folterwerkzeuge für die Atomindustrie sein“. Hajo Schumacher

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M. DARCHINGER Stihl, Schröder, Schulte

TARIFPARTEIEN dert sie die sogenannte „Rente mit 60“, die einen vorzeitigen Ruhestand ohne Rentenabschläge ermöglichen soll. Grundla- ge für den Vorstoß ist eine gemeinsame Erklärung von Arbeit- Das Bündnis lebt gebern und Gewerkschaften zur künftigen Tarifpolitik, die DGB-Chef Dieter Schulte und DIHT-Präsident Hans-Peter Stihl ie Tarifparteien beginnen damit, die Ergebnisse des Bünd- zusammen mit Bundeskanzler Gerhard Schröder in der ver- Dnisses für Arbeit umzusetzen. An diesem Dienstag will gangenen Woche im Rahmen der Bündnisgespräche vorstellten. die IG Metall den Arbeitgeberverband Gesamtmetall zu vor- „Wir würden uns einem solchen Gesprächswunsch nicht ver- zeitigen Verhandlungen auffordern. Erstes Thema sind die schließen“, sagt Gesamtmetallchef Werner Stumpfe. Klar ist Überstunden – die Gewerkschaft möchte den Manteltarifver- ebenfalls, daß die Arbeitgeber ihrerseits Themen aus der Bünd- trag, der eigentlich noch bis zum Jahr 2001 läuft, entsprechend nis-Erklärung in den Gesprächen mit der IG Metall behandeln ändern. Die IG Metall will möglichst für jede Überstunde ei- wollen: etwa die Einführung ertragsabhängiger Lohnbestand- nen zwingenden Freizeitausgleich erreichen; bisher werden teile und die Reform des Flächentarifvertrages, die zu stärke- die ersten 16 Überstunden im Monat ausgezahlt.Außerdem for- ren betrieblichen Regelungskompetenzen führen sollen.

TELEKOMMUNIKATION TOURISTIK Daimler gibt auf Boom für it dem Verkauf der Telefonfirma Billigangebote MDebitel für 3,2 Milliarden Mark an die schweizerische Swisscomm haben chnäppchenjäger, die im DaimlerChrysler und der Handelskon- SUrlaub bevorzugt gün- zern Metro die Notbremse gezogen. stige Last-Minute-Trips bu- Das Gemeinschaftsunternehmen, das chen, können demnächst mit mit großem Erfolg im lukrativen Handy- einem noch größeren Ange- Geschäft startete, konnte in dem hart bot an Billigreisen rechnen. umkämpften neuen Telefonmarkt kaum Das ist das Ergebnis eines Fuß fassen. Erst Anfang des Jahres Rechtsstreits, den sich die mischte sich Debitel-Chef Joachim Marktführer TUI und Dreyer mit einem Call-by-call-Angebot Neckermann schon seit Mo-

in den Preiskampf ein. naten liefern und in dem / ARGUS N. MATHOFF Doch die hohen Erwartun- jetzt eine wichtige Entschei- Last-Minute-Schalter (in Hamburg) gen erfüllten sich nicht. dung gefallen ist. Die TUI- Statt der erhofften 15 Mil- Tochter L’Tur hatte vor zwei Jahren mit Urteil entschied der Bundesgerichtshof lionen Telefonminuten pro Hilfe des Oberlandesgerichts in Düssel- jetzt, daß auch längere Vorlaufzeiten Tag konnten die Stuttgar- dorf der Neckermann-Last-Minute- zulässig sind. Bei dem vielfältigen An- ter im Call-by-call-Ge- Tochter Bucher untersagt, übriggeblie- gebot der Großveranstalter, argumen- schäft meist nicht einmal bene Flüge und Hotelbetten bis zu tierten die Richter, sei die Frist von

T. GRABKA / ACTION PRESS GRABKA / ACTION T. eine Million Minuten ver- sechs Wochen vor dem geplanten Ab- 14 Tagen für die Kunden weniger wich- Dreyer kaufen. Trotz der Schlappe flug zu vermarkten. Liegen zwischen tig als ein günstiger Preis. Branchen- gab es genug Kaufofferten Buchung und Abreise mehr als zwei kenner erwarten nun, daß vom kom- für die Firma. Die Interessenten, unter Wochen, so hatten die Richter damals menden Jahr an auch anspruchsvolle anderem die US-Firma MCI, France entschieden, dürfe der werbewirksame Pauschalarrangements wie Kreuzfahr- Télécom und Teldafax, reizte vor allem Zusatz „Last Minute“ nicht verwendet ten oder Studienreisen bis zu fünf Wo- das Handy-Geschäft mit den fast vier werden. Das gilt nun nicht mehr. In der chen vor Reisebeginn als Last-Minute- Millionen Debitel-Kunden in Europa. Revisionsverhandlung gegen das OLG- Schnäppchen angeboten werden.

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HAUSEIGENTÜMER Krach bei den Vermietern en organisierten Vermietern Dsteht ein handfester Krach ins Haus – wegen Finanzschlamperei im Verbandsmanagement. Der rheini- sche Landesverband der Deutschen Haus-, Wohnungs- und Grundeigen- tümer, mit rund 80000 Mitgliedern der größte Beitragszahler im Zen- tralverband, hat zum Ende näch- DPA sten Jahres seinen Austritt aus der Morissette Dachorganisation beschlossen. Den Rheinländern werden vermutlich INTERNET noch andere Landesverbände fol- gen. Auslöser des jüngsten Streits ist der geplante Neubau des Zentral- Rückschlag für Musikindustrie verbands in der Berliner Moh- renstraße. Obwohl die Spitzenorga- m Kampf gegen die Musik im Internet stenlos erhältlich sind. Sie arbeiten des- nisation der privaten Vermieter chro- Imuß die Schallplattenindustrie einen halb an eigenen Verfahren für den digi- nisch knapp bei Kasse ist, hält deren Rückschlag verkraften. Mit einer Klage talen Musikvertrieb, mit dem Raubko- Präsident, der frühere CDU-Staats- wollte der US-Branchenverband RIAA pien verhindert werden sollen. Doch sekretär Friedrich-Adolf Jahn, starr den Run auf die digitalen Walkman- die dafür propagierte Technik steht an seinem Vorhaben fest, die insge- Geräte, die Musik aus dem Internet im frühestens zum Weihnachtsgeschäft samt 21,9 Millionen Mark teure Ver- sogenannten MP3-Format speichern 1999 zur Verfügung, und die Geräte- bandszentrale hochzuziehen – für und wiedergeben, stoppen. Doch ein industrie will die dazu passenden Digi- Fachleute ein Musterbeispiel grotes- US-Gericht wies die Klage nun endgül- talplayer zunächst einmal so gestalten, tig zurück. Jetzt wollen immer mehr daß sie auch weiterhin die umstrittenen Firmen, darunter auch Konzerne wie Songs abspielen. Unterdessen schlagen Lucent Technologies, Texas Instruments sich immer mehr renommierte Künstler und RCA, Geräte für das MP3-Format auf die Seite der MP3-Befürworter. So zum Preis von rund 200 Dollar auf den ließ Popstar Alanis Morissette eine Markt bringen. Die Schallplattenfirmen ganze Tour vom Internet-Anbieter sehen in MP3 eine große Bedrohung, da MP3.com sponsern und kündigte an, im Cyberspace bereits Tausende von Anteile der US-Firma zu erwerben, Songs, davon viele als Raubkopien, ko- wenn sie demnächst an die Börse geht.

VERWALTUNG

W. SCHUERING W. Schwerfällige Beamte Jahn undeswirtschaftsminister Werner ker Fehlplanung. Beispiel: Im sech- BMüller will sein Ministerium radi- sten und siebten Stock des Gebäudes kal reformieren. Das geht aus dem un- sind Zweizimmerwohnungen vor- veröffentlichten Wirtschaftsbericht gesehen, jede ist mit über 2,3 Millio- hervor, einer Aufgaben- und Kompe- nen Mark so teuer wie eine Villa in tenzbeschreibung, die das Müller-Res- bester Lage. Selbst bei einer Spitzen- sort Mitte Juli vorlegen will. Der Be- miete von gut 4000 Mark für die 134- richt kündigt an, in einigen Bereichen Quadratmeter-Wohnungen, so Exper- des Ministeriums eine komplette Hier- ten, bringt jede Wohnung einen mo- archieebene zu streichen. Opfer von

natlichen Verlust von mehr als 7600 Müllers Umgestaltungswillen sollen LANGROCK / ZENIT P. Mark. Die Baukosten seien „maßlos die Unterabteilungsleiter (Grundge- Wirtschaftsministerium in Berlin überhöht“, kritisiert Johann Eekhoff, halt: rund 12600 Mark) werden. För- ehemaliger Bonner Staatssekretär dern will der parteilose Wirtschaftsminister hingegen Frauen. Ihr Anteil an den und Anführer der rheinischen Ver- Führungskräften im Wirtschaftsministerium soll in den nächsten Jahren von derzeit mieter, er habe „das Vertrauen in die sechs auf rund zehn Prozent steigen. Als Nachteile der klassischen Strukturen im Solidität der Haushaltsführung des Ministerium führt der Bericht Abteilungsegoismus, vielstufige Hierarchien und ge- Zentralverbands verloren“. ringe Eigenverantwortung des einzelnen an. Dadurch ergebe sich ein schwerfälliger, ineffizienter und unkreativer Verwaltungsablauf.

72 der spiegel 28/1999 Geld

Gute und schlechte Börsenmonate AKTIEN Dax-Gewinne/-Verluste in Prozent, Durchschnitt der Jahre 1990 bis 1998 Highflyer WCM 3,56 2,71 2,93 2,81 ur ganz wenige Aktien außerhalb des 2,58 2,22 1,49 0,72 NNeuen Marktes sind im Wert so stark ge- 1,26 August Sept. 1,31 stiegen wie die Papiere von WCM. Indepen- Jan. Febr. März April Mai Juni Juli Okt. Nov. Dez. dent Research bescheinigt dem Unternehmen „eine ungewöhnliche, aber auch ungewöhnlich Quelle: –3,67 –3,88 HSBC Trinkaus&Burkhardt erfolgreiche Geschäftsstrategie“. Die WCM Beteiligungs- und Grundbesitz-AG verdient Geld mit zwei höchst unterschiedlichen Berei- BÖRSEN chen: mit grundsolidem Immobilienbesitz und mit Aktienspekulationen. Derzeit gehören der Ampeln auf Gelb WCM rund 24000 Wohnungen, vermutlich werden bald 31000 Eisenbahnerwohnungen ie Sommer-Rallye hat begonnen, glaubt Ralph Acampora vom US-Broker- aus dem Bundesbesitz hinzukommen. Das Dhaus Prudential Securities, und sie kann „berauschend“ werden. Bis in den Unternehmen hat September hinein könnte die Hausse andauern, weissagt der Börsenguru, er hält kürzlich 25,3 Prozent Kurs der es für möglich, daß der Dow Jones Index auf 12500 Punkte klettert. Auch die der RSE Grundbesitz WCM-Aktie 30 meisten deutschen Analysten sind zunächst noch optimistisch. Der Dax könnte und Beteiligungs AG in Euro bis zum Herbst rasch noch einige hundert Punkte nach oben springen, meint (42000 Wohnungen) 25 etwa Klaus Schlote von der Dresdner Bank. Gleichwohl sieht der Analyst auch übernommen und etliche Gefahren. Die Ampeln seien längst auf Gelb ge- will zum Jahresende sprungen, so Schlote: „Das größte Risiko ist die Wall Street mit der RSE fusionie- 20 – es riecht nach Crash.“ Auch Thomas Teetz von HSBC ren; der RSE-Kurs hat Trinkaus befürchtet, daß ein Kurssturz in den USA bis in sich seit Jahresanfang 15

die deutschen Börsensäle schwappt. Die Monate August verdreifacht. Neben Quelle: Datastream und September waren in den vergangenen Jahren zumeist dem Wohnungsge- sehr schwach, weiß Teetz, der Dax könnte bis auf 5200 schäft beteiligt sich 10 Punkte rutschen. In einer Studie vergleicht die Investment- die WCM an unterbe- bank HSBC das amerikanische Wirtschaftswunder mit der werteten Unterneh- 5 Lage in Japan vor dem Crash 1990. Die Ähnlichkeiten über- men, die sie nach ei- raschen: Die hohe Liquidität und die geringe Sparquote, so niger Zeit meist mit

T. EVERKE T. das Fazit, eine starke Währung und eine schwache Lei- ordentlichem Gewinn Acampora stungsbilanz seien typische Vorboten eines Börsenkrachs. verkauft. 1994 95 96 97 98 1999

INVESTMENTFONDS Rußland-Krise die internationalen Anleger keine Risiken mehr eingehen mochten.Angesichts niedriger Zinsen für europäische Renaissance der Junk-Bonds Staatsanleihen sind die Anleger nun wieder mutiger geworden. Die Union Investment, drittgrößte deutsche Fondsgesellschaft, rüher waren sie als Junk-Bonds (Ramsch-Anleihen) ver- hat jetzt den Fonds UniRenta HighYield aufgelegt, der zu über Fschrien, jetzt erleben die Risikopapiere als High-Yield-Bonds 60 Prozent in Entwicklungsländern anlegen will. Doch die Ri- (Hochzinsanleihen) eine überraschende Renaissance. Invest- siken bleiben groß. Auf dem US-Markt für Hochzinsanleihen mentfonds, die sich auf Anleihen aus hochverschuldeten Ent- ist die Zahl der notleidenden Papiere bereits kräftig gestiegen. wicklungsländern oder von Unternehmen mit schlechter Bo- Etliche Unternehmen können ihre Schulden nicht mehr be- nität spezialisiert haben, konnten seit Anfang des Jahres mit dienen. Peter Ludewig von der Berliner Fonds-Vermögensver- Renditen bis zu 25 Prozent glänzen. Vorausgegangen war al- waltung F & V bezweifelt, daß die Renditesteigerungen der ver- lerdings im Herbst ein tiefer Sturz der Kurse, als während der gangenen Monate wiederholbar sind.

Wertentwicklung von High Yield Fonds seit Anfang 1998 in Prozent, auf Euro-Basis Quelle: Datastream

DWS Rendite Spezial Fleming FFF Em. Mkts. Debt DG Lux CONZEPT Em. Mkt.-Bd. Baring Gl. Um. High Yield Bd. +10 +10 +10

0 0 0 —10 —10 —10

—20 —20 —20

—30 —30 —30

—40 —40 —40 19981999 1998 1999 1998 1999 1998 1999

der spiegel 28/1999 73 Wirtschaft

W. SCHMIDT / NOVUM VW-Chef Piëch, Bentley-Studie: Wachsende Zweifel an den Plänen für die Luxusklasse

AUTOINDUSTRIE Wolfsburger Wirren Kippt die Autokonjunktur? Sicher ist: Die hohen Wachstumsraten der Vergangenheit sind erst mal vorbei. Das trifft besonders den VW-Konzern, der sich die Zukunft schöngerechnet hatte. Doch die neue Modellvielfalt bringt nicht die erhofften Erfolge.

hristian Breitsprecher beobachtet kauft als zur gleichen Zeit im Vorjahr. Und deutschen Herstellern in den vergangenen seit mehreren Jahren die deutsche das war schon ein Rekordjahr. Jahren Produktionsrekorde bescherte? CAutoindustrie, nicht als Hobby, son- In Deutschland aber machten Krisen- Oder hat nur der VW-Konzern Probleme dern höchst professionell als Analyst der meldungen die Runde. „Volkswagen kürzt im Stammgeschäft, die er bislang hinter Deutschen Bank.Auf seinem Spezialgebiet die deutsche Produktion um 20 Prozent“, dem PR-Rummel um die gekauften Edel- sollte ihm eigentlich niemand viel vorma- titelte die „Financial Times“. Und in den marken Bentley, Bugatti und Lamborghini chen können. Vergangene Woche aber ge- deutschen Werken (Wolfsburg, Emden, versteckte? stand Breitsprecher: „Ich bin verwirrt.“ Hannover, Kassel, Braunschweig, Salzgit- Bereits im vergangenen Jahr hatte der Mehreren hunderttausend Aktionären ter, Mosel) fragten irritierte Beschäftigte damalige BMW-Chef Bernd Pischetsrieder und Mitarbeitern des VW-Konzerns ging ihre Betriebsräte, was denn los sei bei VW. vor einem Ende der glänzend laufenden es offenbar nicht anders. Das Wolfsburger Für die Volkswagen-Beschäftigten, die Autokonjunktur gewarnt. Die Konkurren- Unternehmen sorgte mit höchst wider- in den vergangenen Jahren Überstunden ten hatten sich darüber eher mokiert.Auch sprüchlichen Signalen für Unruhe an der und Sonderschichten fuhren, gilt jetzt wie- sie wußten, daß die Krisen in Asien und Börse und in den Fabriken. der die Vier-Tage-Woche mit 28,8 Stunden, Lateinamerika für sinkende Verkaufszah- In Göteborg wurden positive Meldun- die im Krisenjahr 1993 eingeführt worden len sorgen werden, daß wichtige Märkte gen über den Konzern verbreitet.VW-Chef war, um die Entlassung von 30000 Arbei- wie Italien schwächeln werden, weil dort Ferdinand Piëch präsentierte das erste tern zu verhindern. In Wolfsburg (Golf-, eine Verschrottungsprämie für Altautos Drei-Liter-Auto der Branche, eine Sonder- Bora- und Lupo-Produktion) und in Emden ausläuft. Doch öffentlich sprechen wollten version des Lupo, als „Meilenstein in der (Passat-Montage) stehen bis zum Jahres- sie darüber nicht. Automobilgeschichte“ und gab Rekord- ende freitags die Bänder still. Von einer Krise kann auch jetzt noch zahlen für das erste Halbjahr bekannt. Der Die Nachrichten aus Wolfsburg sorgten keine Rede sein. In Westeuropa wird der Konzern (Marken VW, Audi, koda, Seat) in der gesamten Branche für Aufsehen. Absatz nach Schätzung des Prognoseinsti- hat weltweit 8,5 Prozent mehr Autos ver- Kippt die Automobilkonjunktur, die den tuts Marketing Systems noch leicht zule-

74 der spiegel 28/1999 gen. Und beim Export in die stammt, auch in Wolfsburg USA erreichen die deut- montiert werden. Aber weil schen Hersteller neue Re- hierzulande in den ersten kordmarken, die den Ver- fünf Monaten nur gut 14000 kaufsrückgang in Asien und Beetle verkauft wurden, be- Lateinamerika fast ausglei- steht kein Bedarf für eine chen. Verabschieden aller- zusätzliche Beetle-Montage. dings müssen sich die Her- Seit diesem Frühjahr lie- steller von den hohen gen die Auftragseingänge Wachstumsraten der ver- unter Plan. Dennoch hielt gangenen Jahre. Vertriebschef Büchelhofer Die verwirrenden Mel- an seinen Prognosen fest. Er dungen aus Wolfsburg aber wollte wohl die im Sommer haben mit dieser Entwick- anstehende Verlängerung lung wenig zu tun. Sie sind seines Vertrags nicht gefähr- das Ergebnis einer Fehlein- den, mutmaßen VW-Ma- schätzung durch den VW- Modell der VW-Autostadt: Freizeitpark, Museum und Luxushotel nager. Doch nachdem die Vorstand, der im Herbst Marke Volkswagen einen ei- vergangenen Jahres die „Planungsrunde deutschen Publikums, und der Lupo zeigt genen Vertriebschef bekam, was als par- 47“ verabschiedete, den internen Fünfjah- die Grenzen der Plattformstrategie. tielle Entmachtung Büchelhofers angese- resplan für die Jahre 1999 bis 2003. Der Kleinwagen ist eigentlich ein Seat hen wird, revidierte der Konzern seine Die Eckpunkte gab der VW-Vorsitzende Arosa, der mit anderen Scheinwerfern und Absatzprognosen. Piëch vor, der die Produktion des Konzerns anderer Innenausstattung als Volkswagen In Westeuropa sollen 300000 Autos we- von 4,8 Millionen Fahrzeugen im vergan- angeboten wird. Diese Art von Marken- niger produziert werden als geplant. Das genen Jahr auf sechs Millionen im Jahr 2003 Mischmasch geht den Kunden anscheinend sind immer noch fast 100000 mehr als 1998 steigern will. Immer neue Modellvarianten zu weit. und wäre kein Anlaß für Krisenmeldun- auf wenigen Plattformen sollen dem Kon- Büchelhofer bot den Händlern bis Ende gen. Doch weil in den Werken bis vor kur- zern eine Sonderkonjunktur bescheren und Juni eine Prämie von 1500 Mark, wenn sie zem Sonderschichten gefahren wurden, ihn weitgehend unanfällig für das Auf und einen neuen Lupo verkaufen und dafür ei- muß die Fertigung plötzlich und stark ge- Ab in einzelnen Märkten machen. nen Gebrauchtwagen einer anderen Mar- bremst werden. Vertriebsvorstand Robert Büchelhofer ke in Zahlung nehmen. Dennoch wurden Die Fehlplanung hat Folgen. Knapp 6000 glaubte offenbar, seinen Chef in Sachen in den ersten fünf Monaten hierzulande befristet Beschäftigte haben kaum noch Optimismus noch überbieten zu müssen. gerade mal 29136 Lupos abgesetzt. Chancen, im September, wenn ihr Vertrag Schon für 1999 plante er glänzende Unerwartet schlecht läuft in Deutsch- ausläuft, übernommen zu werden. Und die Wachstumsraten für die Marke Volkswa- land auch der Beetle, der falsch positio- Rentabilität des Konzerns leidet ebenfalls. gen ein. Die Produktion sollte in Westeu- niert ist. Er ist teurer als der Golf, obwohl Milliardenteure Produktionsanlagen wer- ropa von 1,94 Millionen Fahrzeugen auf das Spaßauto für junge Leute eher billiger den nur vier Tage in der Woche ausgelastet. 2,33 Millionen erhöht werden, ein Plus von sein müßte. Der Konzern mußte wegen Das ist höchst ineffizient und derzeit ein- 20 Prozent. des schleppenden Absatzes sogar die Plä- malig in der deutschen Autoindustrie. Doch die neuen Modelle, die das Wachs- ne für eine Neuaufteilung der Produktion Trotz solcher Widrigkeiten im Stamm- tum bringen sollten, enttäuschen. Der aufgeben. geschäft baut der Konzern für rund eine Beetle ist vielen Kunden zu teuer, der Bora Ursprünglich sollte der Beetle, der bis- Milliarde Mark in Wolfsburg die „Au- trifft offenbar nicht den Geschmack des lang aus dem mexikanischen VW-Werk tostadt“ mit Freizeitpark, Museum und Luxushotel. Weitere Milliarden sollen für Rekorde am Fließband die Entwicklung neuer Modelle von Bent- 5,35 ley, Bugatti und Lamborghini und ein Produktion und Beschäftigte in der deutschen Automobilindustrie Oberklassefahrzeug der Marke VW ausge- 4,86 geben werden. 4,68 4,68 4,54 Im Konzern wachsen die Zweifel dar- 4,36 an, ob die Zukunftspläne des Vorsitzenden 4,09 für die Super-Luxusklasse sinnvoll sind 3,79 oder ob die Investitionen nicht stärker Produzierte Pkw in Millionen auf das Hauptgeschäft konzentriert wer- den sollten. 802,7 In Gefahr gerät jetzt auch ein wichtiges 758,4 Ziel des VW-Vorsitzenden. Nach seinem Dienstantritt vor sechseinhalb Jahren ver- 708,2 709,8 sprach er, eine Umsatzrendite von 6,5 Pro- 672,3 zent zu erreichen. Im vergangenen Jahr lag 662,3 661,0 659,0 der VW-Konzern immerhin schon bei 4,7 Prozent. Eine weitere deutliche Steigerung Beschäftigte in Tausend ist 1999 wegen der jetzt reduzierten Ab- satzerwartungen für die Marke Volkswagen wohl kaum möglich. Analyst Breitsprecher hat seine Konse- quenzen gezogen. Er hat die Gewinn- Quelle: VDA erwartungen für den VW-Konzern redu- ziert und die Aktie abgewertet von „kau- 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 fen“ auf „neutral“. Dietmar Hawranek

der spiegel 28/1999 75 Wirtschaft

kräfte bewußt in Kauf. Bestätigung findet er anderswo – bei einer Gruppe, die für TOURISTIK den Preussag-Konzern bislang nur Hohn und Spott übrig hatte, den Analysten. Seit der Science-fiction-Fan im Sommer „Nichts ist ewig“ 1997 beschloß, seinen Gemischtwarenladen aus Stahlhütten, Kohlezechen oder Feuer- Innerhalb weniger Jahre hat Ex-Banker Michael Frenzel den meldern in Europas größten Touristik- konzern zu verwandeln, mauserte sich die verschlafenen Rohstoffriesen Preussag zu Europas Preussag-Aktie vom Ladenhüter zum Lieb- größtem Reisegiganten umgebaut. Doch sein Ehrgeiz geht weiter. ling der Börsianer. In den vergangenen zwölf Monaten hat sich der Kurs des Pa- piers fast verdoppelt. Branchenkenner hatten dem ehemali- gen Beteiligungsmanager der WestLB ei- nen solchen Kraftakt kaum zugetraut. Als Frenzel auf Wunsch seines damaligen Chefs Friedel Neuber, 64, vor gut zehn Jah- ren an die Spitze des Preussag-Konzerns (WestLB-Anteil: 34 Prozent) rückte, fand er ein bunt zusammengewürfeltes Konglo- merat aus Stahl-, Schiffbau- und Trans- portunternehmen vor. „Wir waren in kei- nem unserer Geschäftsfelder Marktführer und in unterproportional wachsenden Branchen vertreten“, erinnert sich der Preussag-Chef mit Grausen. Mit Rückendeckung seines Mentors und Aufsichtsratschefs Neuber begann Frenzel

W. SCHMIDT / NOVUM W. das Firmendickicht zu lichten.Vor vier Jah- ren verkaufte er den an- Kurs am 9. Juli geschlagenen Mobilfunk- Aktienkurs der 58,40 hersteller Hagenuk. Die Preussag AG 55 Tochterfirma hatte der Preussag-Chef Frenzel: „Wir standen mit dem Rücken zur Wand“ in Euro staatliche Salzgitter-Kon- zern eingebracht, der 1989 as Büro von Michael Frenzel, 52, in riese Thomas Cook in die 50 mit der Preussag fusio- der hannoverschen Preussag-Zen- gesonderte Sparte Hapag niert wurde. Den Wag- Dtrale ist kaum wiederzuerkennen. Touristik Union (HTU) gonbau und das Kfz-Zu- Wo früher eine brave Radierung für ge- ausgegliedert. Sie ist dem 45 lieferergeschäft, ebenfalls pflegte Langeweile sorgte, hängen neuer- Preussag-Vorstand direkt eine Altlast aus Salzgit- dings knallbunte Bilder spanischer Künst- unterstellt. Das Nachse- 1999 ter-Zeiten, stieß der So- ler. „Die habe ich selbst in Mallorca aus- hen haben dabei die Ma- JFMAMJJ40 zialdemokrat schon vor- gesucht“, erzählt der Preussag-Chef. nager des 1997 übernom- her ab. Auch die spielzeuggroßen Waggons und menen Traditionskonzerns Hapag-Lloyd Der Erfolg der Aktion hielt sich in Gren- Kesselwagen auf der Anrichte sind ver- in Hamburg. zen. „Ende 1996“, gibt Frenzel selbstkri- schwunden. Statt dessen stehen dort ver- Hapag-Lloyd-Chef Bernd Wrede, einer tisch zu, „standen wir mit dem Rücken zur schiedene Flugzeugmodelle. der Verlierer in Frenzels Firmen-Monopo- Wand.“ Der Reserveleutnant und seine Frenzels Büro symbolisiert einen Wan- ly, muß seine einträgliche Charterflugge- Kollegen begannen nach neuen Wachs- del, wie es ihn so radikal bei noch keinem sellschaft und Reisebürokette abgeben und tumsmärkten Ausschau zu halten. deutschen Traditionsunternehmen gege- bekommt dafür die Transport- und Logi- Ein Wiedereinstieg in die Telekommuni- ben hat: Innerhalb weniger Jahre hat der stikunternehmen VTG-Lehnkering und Al- kation schien Frenzel zu riskant. Auch vor unterkühlte Ex-Banker den verschlafenen geco von der Preussag zugeschanzt. „Es dem Ausbau der Gebäudetechnik schreck- Mischkonzern (35 Milliarden Mark Um- läßt sich nicht leugnen“, kritisiert der Ma- te der Preussag-Chef zurück. „Ich wollte satz, 66000 Beschäftigte) zu Europas größ- nager hanseatisch zurückhaltend, „daß der das Schicksal des Konzerns nicht von einer tem Touristikgiganten umgekrempelt und Abgang wertvoller ist als der Zugang.“ dieser beiden Sparten abhängig machen“, angestammte Geschäftsfelder wie den Auch Wredes Ex-Kollegen Claus Wül- rechtfertigt er seine Entscheidung. Anlagenbau oder die Telekommunikation fers, 60, bootete Frenzel aus. Der frühere Schließlich kam Frenzel der Zufall zu abgestoßen. Das Geschäft mit den schön- Hapag-Lloyd-Flug-Chef bescherte der Fir- Hilfe. Lufthansa-Chef Jürgen Weber hatte sten Wochen des Jahres trägt bereits jetzt ma durch seine Sparsamkeit hohe Gewin- beschlossen, seinen Anteil an dem Ham- mehr als 40 Prozent zum Umsatz bei und ne und hatte sich Hoffnungen auf einen burger Reederei- und Touristikkonzern Ha- soll bald zwei Drittel der Einnahmen Job in der HTU-Spitze gemacht. Nun darf pag-Lloyd zu verkaufen, weil er seinen ausmachen. er den Preussag-Chef nur noch beraten. Charterableger Condor mit der Karstadt- Seinen jüngsten Coup landete der ehe- „Es ist doch ein Unding“, empört sich Tochter Neckermann vereinigen wollte. malige Kommunalpolitiker Ende Juni.Von ein Arbeitnehmervertreter, „daß wir un- Eine Beteiligung an beiden Unternehmen Oktober an werden die zusammenge- sere Filetstücke bei der Preussag einbrin- hätte das Kartellamt nicht zugelassen. kauften Touristikbeteiligungen wie die gen, aber unsere Leute dort künftig nichts Daraufhin signalisierten auch die übri- TUI-Gruppe, Hapag-Lloyd, die Reise- mehr zu sagen haben.“ Frenzel nimmt den gen Aktionäre Verkaufsbereitschaft. Fren- bürokette First oder der britische Reise- Frust seiner Betriebsräte und Führungs- zel und sein Aufseher Neuber, der 30 Pro-

76 der spiegel 28/1999 zent an der TUI hielt, erkannten die ein- malige Chance, sich eine Mehrheit an Eu- ropas größtem Reiseveranstalter zu sichern und sie mit der Touristiksparte von Hapag- Lloyd zu verschmelzen. Die Hamburger brachten weitere 30 Pro- zent an der TUI in die Firmenehe ein. Die restlichen Prozente steuerten die Fürther Schickedanz-Gruppe (Quelle-Versand) und die Bahn bei. Seither ist Frenzel in seinem Ehrgeiz, die HTU zum weltgrößten Reisekonzern auszubauen, nicht mehr zu bremsen. Um den Kaufpreis von 2,8 Milliarden Mark für seine Neuerwerbung Hapag-Lloyd wieder hereinzubekommen und Kapital für wei- tere Firmenkäufe aufzutreiben, verkauft

der Preussag-Chef ein Unternehmen nach / BILDERBERG M. HORACEK dem anderen, zuletzt so traditionsreiche Preussag-Ferienclub (in der Türkei): Hilfe vom mächtigen Mentor Unternehmen wie den Anlagenbauer Noell, den Schiffbauer HDW, seine Stahl- aus Touristikbeteiligungen zusammenge- die zehnjährige Verkaufsbeschränkung für tochter und die Kohlezeche Ibbenbüren. kauft, darunter den Düsseldorfer Reise- die Mietwohnungen aus. Gleichzeitig kaufte er im großen Stil veranstalter LTU, den britischen Ferien- Frenzel reagiert sichtlich sauer, wenn er Touristikbeteiligungen zu. Ende vergange- spezialisten Thomas Cook oder 1993 das als Handlanger seines Übervaters Friedel nen Jahres schnappte er sich Deutschlands 30-Prozent-Paket an der TUI.Auch an dem Neuber dargestellt wird. „Wenn man Un- größte Reisebürokette First. Demnächst Geschäftsreisespezialisten First erwarb der terstützung von seinem Großaktionär hat, soll auch noch der britische Reiseveran- ehrgeizige Banker Anteile. kann man das doch nutzen“, wehrt er sich. stalter Thomas Cook mehrheitlich zur Neuber wollte aus seinen Touristikbau- Der Ehrgeiz des Konzernbauers ist noch großen HTU-Familie stoßen. steinen schon vor Jahren einen Urlaubs- lange nicht gestillt. Als nächstes Land will Der Zusammenprall der unterschied- konzern zimmern. Doch Konkurrenten er – „ein hochinteressanter Markt“ – Spa- lichen Unternehmenskulturen sorgt intern und das Kartellamt machten dem Banker nien aufrollen.Auch in Frankreich und Ita- immer wieder für Zoff. Die sparsamen immer wieder einen Strich durch die Rech- lien würde der Manager lieber heute als Hapag-Lloyd-Manager werfen ihren TUI- nung. Nun darf Frenzel vollenden, was morgen einsteigen. Der erste Vorstoß ging Kollegen Verschwendungssucht vor. Die Neuber verwehrt blieb. allerdings ins Leere: Club-Med-Großak- wiederum stören sich am Führungsstil der Auch die zehn Jahre zurückliegende Fu- tionär Giovanni Agnelli, dem Frenzel gern neuen Preussag-Herren. „Bei uns stehen sion mit dem Staatskonzern Salzgitter er- seine Feriendörfer und den italienischen die Türen immer offen“, erzählt ein TUI- leichterte es Frenzel, seinen ehrgeizigen Veranstalter Alpitour abkaufen würde, ließ Topmanager, „Frenzel und seine Berater Plan umzusetzen. Seine Vorgänger durf- den Deutschen erst mal abblitzen. bunkern sich in ihren Chefbüros ein.“ ten den gesunden und ertragsstarken Kon- Frenzel läßt sich dadurch nicht entmuti- In der schillernden Touristikbranche zern, zu dem auch noch über 30000 Woh- gen. Er hat schon den nächsten Übernah- wird der Quereinsteiger trotzdem als Shoo- nungen gehören, damals zum Schnäpp- mekandidaten im Visier, den Schweizer ting-Star gefeiert. „Frenzel“, schwärmt ein chenpreis von knapp 2,5 Milliarden Mark Fernreisespezialisten Kuoni (6,5 Milliarden hochrangiger Lufthansa-Manager, „ist zur übernehmen. Dabei war das Unternehmen Mark Umsatz). Einer Kooperation haben Zeit der mit Abstand professionellste Spie- nach Ansicht von Fachleuten mindestens die Schweizer schon zugestimmt. ler auf dem Markt.“ 3,5 Milliarden Mark wert. Die günstig er- Gelingt es Frenzel, auch noch Kuoni zu Da mag was dran sein. Wahr ist aber worbenen Firmen und Immobilien konnte schlucken, ist er seinem Ziel, zur Nummer auch, daß Frenzels radikaler Umbau ohne der Preussag-Chef gewinnbringend ver- eins im weltweiten Touristikgeschäft auf- die Hilfe seines mächtigen Mentors Neuber kaufen und damit einen Teil seiner Touri- zusteigen, ein gutes Stück nähergerückt. kaum möglich gewesen wäre. stik-Neuerwerbungen finanzieren. Analysten rechnen damit, daß er späte- Der einflußreiche Banker hatte bereits in Ende des Jahres kann Frenzel seine stens dann die Reste der alten Preussag den achtziger Jahren ein Sammelsurium Kriegskasse erneut auffüllen. Dann läuft abstoßen wird. „Nichts ist ewig in diesem Konzern“, sagt der Chef vielsagend. Auf dem Weg zum Reisekonzern Er macht sich allerdings keine Illusio- Die neue Preussag-Konzernstruktur nen, daß er mit jedem weiteren Schritt Preussag noch attraktiver macht für einen TOURISTIK ENERGIE/GRUNDSTOFFE LOGISTIK GEBÄUDETECHNIK Aufkäufer, der dasselbe Ziel verfolgt wie er 46300 Mitarbeiter 7200 Mitarbeiter 8700 Mitarbeiter 13500 Mitarbeiter – den eigenen Konzern ins wachstums- kräftige Tourismusgeschäft zu beamen. Hapag Touristik Preussag Energie Hapag-Lloyd AG Fels-Werke Deshalb muß er den Börsenkurs so hoch Union GmbH (Erdöl- und Erdgas- (Transport) (Baustoffe) wie möglich halten. TUI Deutschland, geschäft) VTG-Lehnkering Wolf-Gruppe Und dann ist da auch noch sein Mentor Niederlande, Deutag Gruppe (Boh- (Tanklager und (Heizsysteme) Neuber. Der geht im Jahr 2002 aufs Alten- Österreich rungen im On- und Transportmittel) andere Offshorebereich) teil, und niemand zweifelt, wen er sich Thomas Cook Algeco (Mobil- und als Nachfolger wünscht: seinen Ziehsohn andere Industriebauten) First-Reisebüro Frenzel. Doch der hat wenig Interesse an andere andere dem gutdotierten Job. „Ich habe so viel ERWARTETER UMSATZ Spaß am Tourismusgeschäft“, bekennt er, „daß ich gern da bleiben möchte, wo ich 20 Milliarden Mark 10 Milliarden Mark 6 Milliarden Mark 4 Milliarden Mark bin.“ Dinah Deckstein

der spiegel 28/1999 77 FOTOS: R. KWIOTEK / ZEITENSPIEGEL SAP-Zentrale in Walldorf: „Die Computerwelt steckt in einem ähnlichen Umbruch wie vor zehn Jahren“

SPIEGEL-GESPRÄCH „Es gibt eine klare Marschrichtung“ SAP-Mitbegründer Hasso Plattner über die Zukunft des Internet, die Nachteile des Börsenbooms und die Strategie seines Unternehmens

SPIEGEL: Herr Plattner, Sie sind als letzter habe den grundlegenden Wandel durch das SPIEGEL: Welche Konsequenz haben Sie aus aus dem Gründungsquintett von SAP noch Internet zu spät erkannt. dieser Erkenntnis gezogen? im Tagesgeschäft aktiv, Sie sind Vorstands- Plattner: Das ist Unsinn. Wir beschäftigen Plattner: Wir haben das Design verbessert sprecher und haben jetzt auch persönlich uns seit 1996 intensiv mit dem Internet, und unsere Software überschaubarer ge- die Verantwortung für die Internet-Strate- wir haben Produkte angekündigt und ge- macht. Ein Hobbyfotograf kommt ja auch gie übernommen. Bleibt da noch Zeit für liefert, was ja in dieser Branche nicht nicht mit einer Profikamera zurecht. Und Ihr Lieblingshobby, das Golfspielen? selbstverständlich ist. Aber das Interesse wenn alle Mitarbeiter einer Firma am PC Plattner: In letzter Zeit komme ich kaum bei unseren Kunden war gering.Wir hatten arbeiten, dann sind viele Funktionen, die noch dazu. Mein Handicap hat sich auch damals schon die richtige Vision, aber of- wir früher mühsam gemeinsam mit unse- schon von 19 auf 21 verschlechtert. Aber fenbar nicht das passende Marketing. ren Kunden erarbeitet haben, nicht mehr bei SAP stehen wichtige Entscheidungen SPIEGEL: Vielleicht waren die Produkte sinnvoll, weil sie das Programm zu kom- mit weitreichenden Konsequenzen an, die nicht überzeugend. plex machen. meine volle Aufmerksamkeit fordern. Plattner: Vermutlich haben wir damals SPIEGEL: Dennoch konnte Ihre Internet- SPIEGEL: Worum geht es? nicht klar genug erkannt, daß durch das In- Strategie bislang kaum überzeugen. Selbst Plattner: Die Branche steckt in einem ähn- ternet ganz andere Benutzer angesprochen SAP-Mitarbeiter äußern offen Zweifel, und lichen Umbruch wie vor gut zehn Jahren, werden. Früher wurde unsere Software nur Analysten rechnen für die nächsten Quar- als der PC seinen Durchbruch erlebte. Jetzt von Profi-Usern benutzt, jetzt kommen tale mit deutlich niedrigeren Zuwächsen verändert das Internet die Welt noch viel immer mehr Gelegenheitsnutzer und Com- bei Umsatz und Gewinn. schneller, als wir es erwarten konnten. puter-Neulinge dazu. Die Software für die- Plattner: Mag sein, daß wir das Internet SPIEGEL: Den Markt für Unternehmens- se Anwender muß viel schicker und pop- anfangs nur als Accessoire gesehen ha- software beherrscht SAP seit Jahren wie piger sein als bisher. Unsere Standardsoft- ben, um die Möglichkeiten der EDV in den keine andere Firma. Im Internet dagegen ware R/3 sah nun mal nicht nach Fun aus. Unternehmen zu vergrößern. Aber der haben Sie noch wenig zu bieten. Hat SAP den An- schluß verpaßt? Hasso Plattner Plattner: Als der PC die verließ 1972 zusammen mit vier Kol- Großrechner verdrängte, legen den Computerkonzern IBM, um konnten wir unsere be- eine eigene Firma zu gründen. Sie hat- währte Strategie mit an- ten die damals revolutionäre Idee, deren Mitteln fortsetzen. Standardsoftware für die Buchhaltung Jetzt ist eine echte Neu- zu entwickeln. Nach dem Börsengang ausrichtung erforderlich, 1988 stiegen die Umsätze sprunghaft bei der es darauf an- an, SAP entwickelte sich zum Welt- kommt, zur richtigen Zeit marktführer bei Unternehmenssoft- die richtigen Weichen zu ware. Doch mit dem Siegeszug des stellen.Wenn man zu früh Internet bekam die Erfolgskurve von kommt, verbrät man nur SAP einen Knacks. Plattner, 55, seit Geld, aber wenn man den 1997 Vorstandssprecher, will das Un- Trend verpaßt, ist man ternehmen deshalb neu ausrichten leicht aus dem Rennen. und das Internet zum „Kern all unse- SPIEGEL: Viele Experten rer Überlegungen“ machen. werfen Ihnen vor, SAP

78 der spiegel 28/1999 Wirtschaft

Wandel ist gravierender, und jetzt ist das schnellen Reaktionen. Den besten Rabatt Internet zum Kern aller unserer Überle- Daten aus der Denkfabrik und den günstigsten Preis erwischt man gungen geworden. Dabei muß man nicht SAP im Vergleich eben nicht dadurch, daß man in der Stadt unbedingt der erste sein. Es reicht, wenn ein paar Geschäfte abklappert, sondern man Besseres zu bieten hat als die Kon- Kurs der SAP-Aktie in Euro durch elektronische Suchmaschinen. Da- kurrenz. 700 mit kann jeder Verbraucher leicht feststel- SPIEGEL: Ist Ihr Reformansatz nicht immer 600 len, welcher Anbieter sich am besten dar- noch zu zaghaft? Manche Ihrer amerika- stellt, wer den besten Preis bietet und wer nischen Konkurrenten behaupten, der 500 den besten Service leistet. Markt für Unternehmenssoftware, mit der 400 SPIEGEL: Droht da nicht eine Zweiteilung SAP groß geworden ist, sei tot. In Zukunft 300 der Verbraucher – auf der einen Seite die laufe alles über das Internet, SAP werde Quelle: Datastream Elite der Informierten und auf der anderen 200 dadurch in den Grundfesten erschüttert. 1998 1999 Seite die Info-Habenichtse? Plattner: Das ist eine geradezu groteske Plattner: Wenn die Gesellschaft immer Verzerrung. Es macht mich richtig sauer, Umsatz mit Unternehmenssoftware mehr auf Informationen aufbaut, dann wenn sogar Topleute unserer Branche wie in Milliarden Dollar 2,4 muß der freie Zugriff auf diese Informa- Scott McNeally von Sun oder Oracle-Chef tionen so etwas wie ein Grundrecht wer- 2,0 Larry Ellison aus sehr eigennützigen Mo- den, dann müssen zum Beispiel Schulen tiven so einen Quatsch verzapfen. 1,5 oder Bibliotheken den Zugang zum Inter- SPIEGEL: Was ist so falsch an deren Ein- SAP net ermöglichen. Vielleicht wird auch der schätzung? 1,0 Fernseher zum Träger des Volks-Internet, Plattner: Das Internet hat sicher dramati- Peoplesoft 0,58 erste Kombinationen von TV-Gerät und In- Oracle sche Auswirkungen auf den Verkauf, auf 0,5 0,58 ternet-Zugang gibt es ja bereits. Aber die Vertriebs- und Marketingabteilungen.Aber 0,35 Technik muß noch viel einfacher werden, nach wie vor beruht die Wirtschaft doch 0 Baan etwa so wie beim Videotext im Fernsehen. darauf, daß wir Autos, Computer, Flug- 1996 97 98 SPIEGEL: Skeptiker befürchten einen zeuge, Häuser, Maschinen und andere Pro- massiven Verlust an Privatsphäre, dukte entwerfen, sie herstellen und phy- Börsenwert von SAP im Vergleich wenn der Surfer mit jedem sisch zum Kunden transportieren und dann mit Internet-Firmen SAP Mausklick eine Datenspur im auch noch abrechnen. Das alles soll jetzt in Dollar Cyberspace hinterläßt. Sehen über Internet-Portale gesteuert werden? Stand: Anfang Juli 1999 37 Mrd. Sie da auch die dunkle Seite Gewinnangaben Gewinn: 598 Mio. Meine Projektabrechnung macht mir in beziehen sich auf des Internet? Zukunft also Yahoo, meine Abstimmung in das Geschäfts- Mitarbeiter: 19300 Plattner: Machen wir uns doch der Fertigung bekomme ich bei AOL, und jahr 1998, nichts vor: Schon jetzt be- meine Ersatzteilbeschaffung erledigt Ama- Anzahl der komme ich 90 Prozent mei- Mitarbeiter zon.com? Das ist doch absurd, und über auf Ende ner Post, weil irgendwelche kurz oder lang wird die Industrie sagen: 1998 America Online Adressenhändler meine An- Diese Hypestorys helfen uns nicht weiter, schrift verkauft haben. Je- wir brauchen jemanden, der uns wirklich 139 Mrd. der Trick wird genutzt, um hilft, das Internet in unsere strategischen Gewinn: 134 Mio.* meine Aufmerksamkeit zu Zukunftspläne einzubeziehen – etwa beim YAHOO Mitarbeiter: 8500 wecken, obwohl es klare Da- Online-Handel. Denn das Einkaufen im tenschutzgesetze gibt. Das Mrd. AMAZON Netz ist zu praktisch, als daß es ein Mißer- 37 wird sich im Internet noch Gewinn: 26 Millionen folg werden könnte. Man kann wie auf ei- * Mrd. verstärken, und das Rau- Mitarbeiter: 850 Geschäftsjahr 20 nem richtigen Markt bummeln, die Ware endete Verlust: 124 Mio. schen der Informationen, anschauen und wieder gehen, ohne etwas am 30.6.1998 Mitarbeiter: 1600 die einen gar nicht interes- zu kaufen – anders als im Laden, wo man sieren, könnte vorübergehend sofort angesprochen wird und sich unter schon sehr groß werden. Aber Druck gesetzt fühlt. zu einer dramatischen Reduzierung der dann wird sich auch schnell ein neuer Ver- SPIEGEL: Welchen Zeitraum glauben Sie Geschäftsvorfälle in den Firmen. Jeder Mit- haltenskodex entwickeln. denn seriös überblicken zu können? arbeiter kann seine Arbeits- und Büro- SPIEGEL: Sehen Sie das Problem der Por- Plattner: Bislang ist die Entwicklung der mittel per Internet bestellen, wobei elek- nographie im Internet auch so locker? kommenden drei Jahre absehbar. Und wir tronische Codes genau festlegen, was, in Plattner: Das sehe ich überhaupt nicht lok- werden in dieser Zeit in Richtung Internet welchem Umfang und zu welchen Preisen ker.Aber man darf dem Internet auch nicht zehnmal soviel machen müssen, wie wir es er bestellen kann. Ich könnte mir auch vor- Sachen anhängen, die in den vergangenen in den vergangenen drei Jahren gemacht stellen, daß die Fluggesellschaften ihre Ge- 20 Jahren schon längst im Fernsehen vorge- haben. Denn daß da eine Lawine in Gang schäfte mit allen Firmen, die SAP-Software zeichnet wurden. Und wenn das TV mehr gekommen ist, auf die sich die Unterneh- einsetzen, direkt und ohne Einschaltung technische Möglichkeiten bieten würde, hät- men einstellen müssen, ist klar. eines Reisebüros über dieses Portal ab- te sich die Pornographie auch dort noch wei- SPIEGEL: SAP will sich auf diese Lawine wickeln. Da geht es um enorme Summen. ter ausgebreitet. Warum, so frage ich mich, mit mySAP.com einstellen. Werden Sie Allein unser Reiseetat beläuft sich auf über sollte sich das Internet völlig moralisch ent- jetzt zum Online-Versandhändler? 400 Millionen Mark im Jahr. wickeln, wenn das Fernsehen die Pornogra- Plattner: Nein.Wir arbeiten daran, alle Fir- SPIEGEL: Welche Auswirkungen wird das phie bereits salonfähig gemacht hat. men, die unsere Software R/3 einsetzen, Internet für die Verbraucher haben? SPIEGEL: Pornographie, Verlust an Privat- unter einem Internet-Portal zu vereinigen. Plattner: In der ersten Runde wird ein gna- sphäre – beschleunigt das Internet den Wenn alle mitmachen, sind das 20000 bis denloser Preiskampf auf der Consumer- Trend zu einer amoralischen Gesellschaft? 30000 Adressen aus allen Branchen.Wenn Seite entbrennen. Nie zuvor war das Pro- Plattner: Immer wenn sich so etwas aus- diese Firmen ihren internen Einkauf über duktangebot so transparent, nie zuvor hat- breitete, gab es in der Menschheitsge- mySAP.com abwickeln, dann führt das ten die Anbieter die Möglichkeit zu so schichte eine neue Moral, einen Drang da-

der spiegel 28/1999 79 weiter von der realen Welt. Auf der ande- ren Seite besitzt das Internet mehr Leben als alle früheren Entwicklungen der Com- putertechnik, weil es interaktiver ist. Damit verstärkt es die Illusion einer realen Welt. Es ist die perfekteste der nichtrealen Wel- ten. Dennoch wird das Internet niemals das echte Leben, die zwischenmenschli- chen Beziehungen ersetzen, etwa das per- sönliche Gespräch oder den Sex. SPIEGEL: Besonders heftig hat das Internet offensichtlich die Phantasie der Börsianer angeregt. Selbst Firmen, die noch nie einen Pfennig Gewinn erwirtschaftet haben, wer- den mit Milliardensummen an der Börse

T. EVERKE T. bewertet. SAP-Aktion zum Börsenstart in New York: „Das macht mich schon fuchsig“ Plattner: Ja, aber das ist noch nicht mal elektronisches Geld, geschweige denn Pa- nach, wieder Ordnung und Regeln zu ze passen nicht mehr in die Zeit. Aber es piergeld oder gar Gold. Das ist wie eine schaffen. Das wird auch im Internet-Zeit- gibt auch eine klare Marschrichtung: Das Wette beim Pferderennen.Allerdings läuft alter passieren. Im Fernsehen gibt es schon Internet entwickelt sich weiter. Es gibt kein dieses Vabanquespiel schon zu lange zu Ansätze zu einer neuen Moral. Plötzlich Zurück mehr. Mit unseren typisch eu- gut, um es als Luftblase abzuqualifizieren. gibt es dort keine Zigarettenwerbung mehr. ropäischen Bedenken halten wir nichts auf. SPIEGEL: Ärgert es Sie, wenn Newcomer in- SPIEGEL: Aber im Cyberspace verliert der Eher kann man auf die regelnde Kraft des nerhalb weniger Monate fast den gleichen Staat zunehmend an Bedeutung, denn Marktes vertrauen, und die ist im Internet Börsenwert erreichen wie SAP, die dafür Computernetze halten sich nicht an natio- viel größer als in den früheren technischen mehr als 20 Jahre brauchte? nale Grenzen.Wie soll der Staat gegen Aus- Revolutionen, die ich mitgemacht habe. Plattner: Ein bißchen fuchsig macht mich wüchse und Gesetzesverstöße vorgehen? SPIEGEL: Was macht Sie so sicher? das schon. Wir werden daran gemessen, Plattner: Verbrechen werden auch jetzt be- Plattner: Ich vertraue auf gruppendynami- welchen Gewinn wir erwirtschaften, die gangen. Ich glaube nicht, daß die Krimina- sche Effekte. Ich glaube, daß sich Gruppen anderen werden, sarkastisch gesagt, daran lität durch das Internet steigt, denn seine zu sehr gerechten Systemen und ganz be- gemessen, welchen Verlust sie machen. Bis- Transparenz ist der größte Schutz. Wenn stimmt nicht zur Diktatur hin entwickeln, weilen ist diese ungleiche Bewertung ein alles elektronisch protokolliert wird und wenn sie frei diskutieren können.Wer eine echter Nachteil für uns. später nachvollzogen werden kann, dann bestimmte Freiheit hat, der gibt sie nicht SPIEGEL: In welcher Beziehung? ist die Hürde für Kriminelle im Cyberspace wieder her – und das Internet bietet alle Plattner: Das größte Handicap entsteht bei sogar größer als im echten Leben. Beden- Freiheiten der Information. Deshalb bin der Rekrutierung neuer Mitarbeiter. Wir ken Sie nur, wie schnell der Autor des ich auch überzeugt, daß man es nicht dik- mußten schon einen kräftigen Aderlaß an berüchtigten Melissa-Virus, der im März tatorisch beherrschen kann. Wer das ver- Managern hinnehmen, weil sie von diesen zahllose Computer vorübergehend lahm- suchte, würde gnadenlos von der Net- „.com“-Firmen lukrative Angebote mit gelegt hat, gefaßt werden konnte. Das ist Community niedergemacht. Alle können Stock-options erhielten. doch ein hoffnungsvolles Indiz.Außerdem es sehen, es gibt viel zu viele Spieler, SPIEGEL: Sprechen Sie von Einzelfällen, bin ich sicher, daß es schon bald eine vir- zu viele Trägergesellschaften. Einer, der oder ist das ein größeres Problem? tuelle Polizei, etwa eine elektronische In- falsch spielt, würde gnadenlos entlarvt. Plattner: Das sind keine Einzelfälle. Das ist terpol, geben wird, die über Ländergren- SPIEGEL: Das klingt stark nach beruflich be- ein nicht nur in Amerika grassierendes zen hinweg operieren kann. gründetem Optimismus. Problem, und die Summen, um die es geht, SPIEGEL: Ist die digitale Welt nicht viel an- Plattner: Eigentlich bin ich eher Skeptiker. werden immer höher. Die Versprechungen fälliger für kriminelle Attacken? Aber wenn man sich am Internet reiben zum Beispiel, die mein früherer Kollege Plattner: Auch jetzt gibt es Verrückte, die will, sind es die zwischenmenschlichen Paul Wahl einigen unserer Mitarbeiter im die Schienenverbindung zwischen Berlin Themen, die mich zum Grübeln bringen. mittleren Management gemacht hat, wa- und Frankfurt aufreißen, und es gibt Leu- SPIEGEL: Woran denken Sie? ren völlig unvorstellbar in SAP-Dimensio- te, die Strommasten absägen. Die Hacker Plattner: Alles wird mechanisiert und digi- nen. Und ich kann es keinem Mitarbeiter im Internet richten dagegen nicht mal Per- tal zerlegt und entfernt sich damit immer verdenken, wenn er uns verläßt, weil er sonenschaden an. Aber dennoch muß es potentiell zigmal mehr ver- natürlich auch dafür Gesetze geben. Solche dienen kann, als im größten Entwicklungen sind doch ganz normal. deutschen Konzern der Kreditkartenbetrug zum Beispiel hat es bei Chef verdient. Für diese den alten Römern noch nicht gegeben, den- Entwicklung reichte meine noch haben wir das Problem in den Griff Phantasie vor drei Jahren bekommen. noch nicht aus. SPIEGEL: Sie haben keine Sorgen, daß sich SPIEGEL: Was wollen Sie da- das Internet zu einem neuen Wilden We- gegen unternehmen? sten entwickelt? Plattner: Dagegen läßt sich Plattner: Natürlich muß eine neue Balance nichts machen. Man kann zwischen Privatsphäre und Gesetzesschutz nur auf die Kräfte des Mark- gefunden werden. Dafür brauchen wir tes hoffen. Aber kurzfristig neue Regeln, denn manche der alten Geset- tut es uns sehr weh. SPIEGEL: Herr Plattner, wir

* Peter Bölke und Klaus-Peter Kerbusk in der SAP-Zen- / ZEITENSPIEGEL R. KWIOTEK danken Ihnen für dieses trale in Walldorf. Plattner (r.), SPIEGEL-Redakteure*: „Richtige Vision“ Gespräch.

80 der spiegel 28/1999 POST Angriff der Rosinenpicker Das Briefmonopol der Deutschen Post gerät in Gefahr. Ausgerechnet vor dem Börsengang drohen Milliardenausfälle.

iel Grund zum Feiern hat Jungun- ternehmer Daniel Giersch in seiner Vkurzen Karriere noch nicht gehabt. Seit er vor wenigen Jahren mit seinem klei- K. B. KARWASZ nen Fahrradkurierdienst KDI in Itzehoe Post-Konkurrent Giersch mit Fahrradkurieren: „Einfach schneller und flexibler“ gegen die Deutsche Post AG angetreten ist, gehören „Rufmordkampagnen, Übergrif- siert und sich die Zustellung eines Din-B4- Monaten auf den Börsengang vorbereitet. fe ausrastender Postboten und nervenzeh- Kuverts sogar mit drei Mark vergüten läßt, Service und Produkte wurden verbessert. rende juristische Auseinandersetzungen“, nehmen Firmen wie KDI in den von ih- Mehr als zehn Milliarden Mark investierte so Giersch, zum Alltag des 25jährigen Exi- nen versorgten Städten lediglich zwischen der frühere McKinsey-Manager in wichti- stenzgründers. 80 Pfennig und einer Mark. ge Zukäufe wie das Schweizer Logistikun- Am vergangenen Dienstag jedoch Das Geschäft boomt. In dem 35000-Ein- ternehmen Danzas, die Postbank oder eine herrschte bei den 35 Mitarbeitern des klei- wohner-Städtchen Itzehoe beispielsweise Beteiligung an der weltweit operierenden nen Kurierdienstes Partystimmung. Grund befördert KDI mit seinen 35 Bikern inzwi- Luftfrachtgesellschaft DHL. war eine Entscheidung des Verwaltungsge- schen rund 80 Prozent aller innerstädti- Doch um diese Expansion finanzieren richts Köln. Das hatte kurz zuvor eine Kla- schen Briefsendungen. „Tante Frieda von zu können, ist der Post-Chef dringend auf ge der Deutschen Post AG zurückgewiesen, nebenan“ (Giersch) gehört genauso zu den die sicheren Milliardeneinnahmen des Mo- die Giersch und rund 180 Unternehmer- Kunden wie das Krankenhaus, Behörden nopolgeschäfts angewiesen. Genau die Kollegen in der gesamten Republik um ihre oder Rechtsanwälte. drohen Zumwinkel nun wegzubrechen. Existenz gebracht hätte. Der Ex-Monopolist bemühte die Juri- Bisher hatten sich wegen der unsicheren Genauso viele Klein- und Kleinstfirmen sten. Das Ganze, sagt Post-Chef Klaus Rechtslage nur wenige kleine Firmen in haben sich nämlich in den vergangenen Zumwinkel, sei ein unzulässiger Eingriff den Markt gewagt. Trotz einzelner Erfolge Jahren mit teilweise hohem Risiko in ei- in das bis zum Jahr 2002 garantierte Brief- wie in Itzehoe ist ihr Anteil an dem 19 Mil- ne Marktlücke gestürzt. In Städten wie monopol, er zog gegen die lästigen „Rosi- liarden Mark schweren Briefgeschäft mit Itzehoe, Düsseldorf oder Bremen holen nenpicker“ vor Gericht. 0,3 Prozent verschwindend gering. sie kiloweise Briefe in Behörden, Unter- Das hätte er besser nicht getan: Wenn Mit dem Kölner Urteil dürfte sich dies je- nehmen oder Privathaushalten ab und die Kurierdienste ihre Briefe innerhalb ei- doch schnell ändern. Die bestehenden Un- bringen sie – innerhalb der Stadtgren- nes Tages zustellten, beschieden die Rich- ternehmen wollen ihr Geschäft zügig aus- zen – in Rekordtempo zum gewünschten ter, liege keine Verletzung des Monopols weiten, Großunternehmen wie der Deut- Empfänger. vor. Dann nämlich werde ein zusätzlicher sche Paket Dienst oder German Parcel Gegen die unkonventionellen Zusteller Service erbracht, den das Bonner Staats- könnten in das Kuriergeschäft einsteigen. auf ihren bunten Bikes haben die blau-gelb unternehmen selbst gar nicht anbiete. „Kaum ein Kunde“, prophezeit Anwalt uniformierten Briefträger der Post nur sel- Für Zumwinkel, der den Konzern mit Ralf Wojtek, der zahlreiche Kurierdienste ten eine Chance. „Wir sind“, sagt Giersch, seinen rund 260000 Angestellten im näch- vertritt, „wird dann noch bereit sein, „ganz einfach schneller und flexibler.“ Und sten Jahr an die Börse bringen will, könn- die hohen Preise der Post zu bezahlen.“ das zu unschlagbaren Preisen. te das Urteil schlimme Folgen haben. Das Unternehmen müßte das Porto sen- Während der gelbe Riese für einen Stan- Konsequent hatte der Post-Chef den ken und damit Milliardeneinbußen hin- dardbrief Porto in Höhe von 1,10 Mark kas- schwerfälligen Koloß in den vergangenen nehmen. Ganz soweit ist es noch nicht. Kampflos will Post-Chef Zumwinkel den Markt nicht an die Konkurrenten abgeben.Vergangene Deutschland 110 Woche diskutierte er mit Vorstandskolle- gen über geeignete Reaktionen. Eine Op- Frankreich 88 tion: Die Post führt einen niedrigeren City- Dänemark 79 Preis ein. So könnte sie der neuen Kon- kurrenz begegnen – und gleichzeitig die Italien Teurer als die 77 Preise bei allen anderen Briefsendungen Niederlande Konkurrenz 75 Beförderungsentgelt unangetastet lassen. Portokosten im Vergleich in Pfennig* Sollte die Bonner Regulierungsbehörde Japan 65 Inlandsbriefe bis dieses Modell nicht genehmigen, erwägt die Großbritannien 62 20 Gramm Gewicht Post den Aufbau einer eigenen Radlertrup- pe. Die würde unter denselben Bedingun- USA 48 *nach Kaufkraftparitäten Quelle: Deutscher Verband für gen wie die exotische Konkurrenz arbeiten Spanien 44 Post- und Telekommunikation und könnte deshalb auch niedrigere Preise nehmen. Frank Dohmen, Oliver Link

der spiegel 28/1999 81 T. RAUTERT / VISUM RAUTERT T. Boomstadt Barcelona: Ist das iberische Beispiel ein Vorbild für das deutsche Bündnis für Arbeit?

neuen Jobs in Euroland, also bei den Mit- ARBEITSMARKT gliedsstaaten der Währungsunion. Zwar hat Spanien immer noch die höchste Arbeits- losenquote in der Europäischen Union – Das spanische Wunder je nach Erhebungsmethode liegt sie bei 18 oder 10,8 Prozent. Doch nirgendwo bes- Beschäftigungsboom in Spanien: Gemeinsam sert die Lage sich so schnell. Die Zeiten, in denen Spanien vor allem mit Gewerkschaften und Arbeitgebern hat die konservative als verlängerte Werkbank für deutsche Au- Regierung den Arbeitsmarkt reformiert – mit Erfolg. tobauer oder als Oliven-Exporteur reüs- sierte, sind passé. Für Schlagzeilen sorgen eder Winkel ist besetzt. Kartons mit tieren die Eingangsräume stets zur Lager- international erfolgreiche Exporteure wie Sektgläsern stapeln sich in der Ein- halle, wenn wieder mal eine Party für ei- die Designer-Kette Zara oder der Süßig- Jgangshalle, hinterm Empfangstisch lie- nen Großkunden fällig ist. keiten-Produzent Smint, der es mit Bran- gen Sektkübel parat, im langen Flur lagern Die Agentur von Torres kommt ins Ge- chenriesen wie Wrigley’s aufnimmt. Für Präsente für die Gäste. Nur für Besucher ist schäft, wenn Unternehmen bei Shows das Jobwachstum verantwortlich sind jun- kein Platz mehr frei. „Wir haben so viele ihren Reichtum zelebrieren wollen – und ge, agile Service-Firmen wie die Agentur neue Leute eingestellt, daß wir dringend das ist fast jeden Tag der Fall: mal bei der von Torres. Und immer mehr Spanier, Pri- umziehen müßten“, erklärt Yolanda Torres, Teenager-Party für MTV auf Ibiza, dann vatleute und Unternehmer, wollen den 33, Chefin der Marketing-Agentur „Equi- bei der Modenschau in Barcelona. „Noch Wohlstand zeigen: Allein bei Mercedes hat po Singular“ in Barcelona. vor zwei Jahren mußten wir erklären, was sich der Absatz in den vergangenen fünf Weil mittlerweile 25 Mitarbeiter in dem Event-Marketing überhaupt ist“, erzählt Jahren vervierfacht. Büro untergekommen sind, das Torres 1995 Torres. „Jetzt können wir uns vor Anfragen Schon ist die Begeisterung über das noch für drei Kollegen nutzen wollte, mu- kaum noch retten.“ spanische Wirtschaftswunder bis nach Die Chancen für Deutschland vorgedrungen. Industrieprä- ¡Viva España! neue Kundenpartys sident Hans-Olaf Henkel preist bei jeder könnten nicht viel Gelegenheit das iberische Beispiel, auch Wirtschaftswachstum Veränderung des realen Bruttoinlandsprodukts besser sein. Die Spa- bei der nächsten Bündnis-Runde im Kanz- gegenüber dem Vorjahr in Prozent nier konsumieren, ar- leramt will er schwärmen: „Da sieht man, beiten und feiern, als was eine klare Liberalisierungspolitik am 4 3,8 SPANIEN wollten sie Rekorde Arbeitsmarkt bringt.“ 3,3 brechen: Die Wirt- Tatsächlich haben die Spanier einiges 2,7 2,8 schaft wuchs zuletzt geschafft, worüber die Deutschen noch de- 3 um nahezu vier Pro- battieren: Wie der deutsche Kanzler Ger- 2,3 zent, die Zinsen sind hard Schröder hat der spanische Minister- auf Rekordtief abge- präsident José María Aznar unmittelbar 2 sunken, die Zahl der nach der Wahl einen Dialog mit den Tarif- 1,2 DEUTSCHLAND Arbeitsplätze steigt partnern angebahnt – mit erstaunlichem rasant. Allein 1998 Erfolg. Ausgerechnet die konservative Re- 1 ab 1999 Prognose entstanden 427 000 gierung hat dem Land mehr sozialen Frie-

ACTION PRESS ACTION 1995 96 97 98 99 2000 neue Stellen – mehr den beschert: 1995 gab es noch 64 flächen- Premier Aznar als zwei Drittel der deckende Streiks in Spanien, 1997 waren es

82 der spiegel 28/1999 Wirtschaft noch zehn, 1998 wurde das Land nur drei- Trotzdem zögerte er keine Sekunde, als nalen Abteilung der mächtigen Allgemei- mal bestreikt. Siemens ihm im vergangenen März nur nen Arbeiterunion UGT. „Aber mit der Vereinbart haben Politik und Wirtschaft einen Jahresvertrag anbot. „Eine feste Stel- neuen Regierung machen wir unsere Ge- unter anderem, für bestimmte Zielgrup- le für einen Einsteiger wäre absolut un- schäfte.“ pen die Sozialbeiträge vom Staat zu sub- üblich gewesen“, sagt der Jungmanager Die wichtigsten werden in einem un- ventionieren – ähnlich wie es kürzlich Ex- leichthin. „Hätte ich darauf gedrängt, wäre auffälligen Betonklotz unweit des Prado perten aus der sogenannten Benchmar- das nur als Zeichen von Unsicherheit aus- in Madrid vorbereitet. Zurückgezogen, still king-Gruppe im deutschen Bündnis für Ar- gelegt worden, hätte aber nichts gebracht.“ und effizient arbeiten hier die Mitarbeiter beit vorgeschlagen hatten. Das passende Von Acebrons Kurzzeit-Vertrag profi- des Wirtschafts- und Sozialrats der Regie- Programm lieferte, wie beim deutschen tierte Siemens schließlich doppelt: Erstens rung, den Arbeitgeber, Gewerkschaften Kanzler, ein Gemeinschaftspapier mit dem war das Risiko eines Fehlgriffs geringer, und Politik zu je einem Drittel besetzen. Briten-Premier Tony Blair. Beide Regie- zweitens fiel der Konzern unter ein staat- Der soll offiziell zwar nur Ratschläge und rungschefs werben darin für mehr Eigen- liches Förderprogramm. Danach sind für Expertisen zu Gesetzesvorhaben abgeben. verantwortung, Deregulierung und neue alle Beschäftigten, deren Kurzzeit-Verträ- Tatsächlich wird dort jedoch ausgekungelt, Pflichten für Arbeitssuchende. ge in dauerhafte Bindungen umgewandelt welche Linie als konsensfähig gilt. Entscheidend für den Boom der vergan- werden, zwei Jahre lang weniger Sozial- Dabei geht es stets um heikle Fragen. genen Jahre, da sind sich die meisten Inve- beiträge fällig. Schon in der Anlaufphase Zur Zeit prüfen die Experten zum Beispiel, storen und Ökonomen einig, ist die Kom- hat das Programm Erfolg: Fast zwei Mil- wieviel Mobilität den Arbeitslosen künf- bination von guter Konjunktur und Reform- lionen befristete Jobs sind in Langzeitstel- tig abverlangt werden kann. Seit die Wirt- politik: Aznar hat einerseits soziale Stan- len umgewandelt worden. Allein bei Sie- schaft kräftig wächst, beklagen die Unter- dards wie den Kündigungsschutz gelockert mens veränderte die Personalabteilung 150 nehmen in reichen Regionen Fachkräfte- und damit die Hürden für Neueinstellungen von etwa 2000 Verträgen. mangel, während in armen Gebieten die gesenkt und andererseits durch seinen So- Die Lockerung der Arbeitsverhältnisse Arbeitslosenquote über 30 Prozent beträgt. zialdialog ein gutes Klima für Investoren hatte in den Vorjahren ausgerechnet die Doch die meisten Arbeitssuchenden, das FOTOS: T. SORIANO / WHITE STAR (li. u. re.) SORIANO / WHITE STAR T. FOTOS: M. GUMM / WHITE STAR Ingenieur Acebron Jungmanager bei Smint Spanische Nachwuchskräfte Die Hürden wurden gesenkt zeigen Umfragen, würden eher den Beruf wechseln als den Wohnort. geschaffen. „Die Beziehungen zu den Ge- Die stille Konsenssuche im Wirtschafts- werkschaften sind harmonisch wie noch rat hat Vorteile für alle Beteiligten: Die Ta- nie“, jubelt Antonio Manrique, Personal- rifpartner steigern dadurch ihren Einfluß, chef bei Siemens in Spanien. haben sie sich erst einmal verständigt, setzt Bislang bestand auf dem spanischen Ar- Marketing-Expertin Torres sich die Politik nur selten über Empfeh- beitsmarkt eine absurde Konstellation. Ein lungen hinweg. Die Regierung wiederum rigides Arbeitsrecht schützte alle, die feste sozialistische Regierung unter Felipe Gon- kann unliebsame Entscheidungen delegie- Stellen hatten. Bei Kündigungen mußten zález durchgesetzt. Über „contratos basu- ren – Gewerkschaften und Arbeitgeber oft extrem hohe Abfindungen gezahlt ra“, Müllverträge, klagen die Gewerk- rangeln erst mal untereinander. werden – bis zu 42 Monatsverdienste. In schaften seitdem. Damals bekam das histo- Wie lange die neue Friedfertigkeit er- Deutschland sind selten mehr als zwölf rische Bündnis zwischen Sozialisten und halten bleibt, weiß keiner ganz genau. Bis- Monatsgehälter fällig. Gewerkschaften tiefe Risse. Die Soziali- her haben sich die Beteiligten nur arran- Diese Regeln hat die neue Regierung sten privatisierten die großen Staatsbe- giert. Über die richtige Wirtschaftspolitik nun gelockert. Denn was als Schutz ge- triebe, senkten die öffentlichen Ausgaben wird nach wie vor gestritten: Ökonomen dacht war, bewirkte eine Erosion: Bei neun und änderten das Arbeitsrecht per Dekret drängen auf weitere Arbeitsmarktrefor- von zehn neuen Arbeitsplätzen wurden – und die Gewerkschaften quittierten das men, die Gewerkschaften wollen statt des- nur Kurzzeit-Verträge abgeschlossen – mit flächendeckendem Protest. sen die 35-Stunden-Woche, die Arbeitgeber selbst bei hochqualifizierten Kandidaten. Heute profitiert Aznar ähnlich wie Bri- sind gegen alle Arbeitszeitverkürzungen. José María Acebron, 31, zum Beispiel ten-Premier Blair von den Aufräumarbei- Schon im Wahlkampf des kommenden hätte für seinen neuen Job bei der spani- ten seiner Vorgänger. Die Gewerkschaften Jahres könnten die alten Gegensätze auf- schen Siemens-Tochter kaum besser vor- haben es den spanischen Konservativen brechen. Doch anders als seine Vorgän- bereitet sein können: Schon 1991 gehörte leichtgemacht: Schon kleine Änderungen ger kann Aznar mit Beschäftigungszah- Acebron zum Siemens-Förderkreis für aus- in ihrem Sinne, etwa beim Ladenschluß, len gegen Ideologen und Miesmacher erwählte Ingenieur-Studenten, für seine Di- empfanden sie als große Zugeständnisse. antreten, hofft Ana García Fermendia, plomarbeit recherchierte er acht Monate in „Das Herz der meisten von uns schlägt Stabschefin beim Wirtschaftsrat: „Alle ha- der Münchner Siemens-Zentrale, anschlie- zwar noch immer für die Sozialisten“, sagt ben erst mal gelernt, daß Konsens sich ßend promovierte er in Barcelona. José María Arche, Leiter der internatio- lohnt.“ Elisabeth Niejahr

der spiegel 28/1999 83 Werbeseite

Werbeseite Trends Medien

INTERNET-PRESSE Total lokal TV-RECHTE it ungewöhnlichen Ideen haben es Zwei Milliarden Mark für Mzwei Regionalzeitungen geschafft, mit ihren Online-Ausgaben den überre- gionalen Konkurrenten den Rang abzu- die Bundesliga? laufen. So werden die Internet-Seiten der „Rhein Zeitung“ aus Koblenz und in wahrer Geldregen der „Rheinischen Post“ aus Düsseldorf Esteht der Fußball-Bun- häufiger angeklickt als die der „Süd- desliga bevor. Allein für deutschen Zeitung“ aus München oder die Übertragungsrechte im der „Welt“ aus Berlin – ganz zu schwei- Bezahl-Fernsehen (Pay- gen von der „Frankfurter Allgemei- TV) fordert der Deutsche nen“, die im weltweiten Netz außer Fußball-Bund (DFB) rund Abo-Werbung wenig bereithält. „Wir 300 Millionen Mark pro sind eben sehr viel aktueller“, meint Saison ab Herbst 2000 – Erik Felske, Leiter der Online-Redak- eine Verdoppelung der tion der „Rheinischen Post“. Allein der bisherigen Preise. Die „Live-Ticker“ von der Tennismeister- Münchner Kirch-Gruppe schaft in Wimbledon wurde an einem (Sat 1, Premiere World) er- Tag 120000mal angeklickt. Zwei Drittel wägt sogar eine milliar- aller Besucher wählen die Internet-Sei- denschwere Komplettlö- ten der Zeitung, um überregionale sung: Sie will en bloc alle Nachrichten abzufragen. Mit „Stau- Fernsehrechte der Bun- Meldungen in Echtzeit“ soll aber auch desliga – Pay- und Free- die regionale Kundschaft angezogen TV – auf lange Sicht kau- werden. Die „Rhein Zeitung“ in fen. Im Gespräch ist eine Laufzeit von fünf Jahren, die mit insgesamt über Besuche bei zwei Milliarden Mark do- Online-Zeitungen tiert sein dürfte. Eine sol- WENDE monatlich, in Millionen che Summe soll vor allem Bundesliga-Spiel (Bayern München gegen Werder Bremen) 2,5 reiche Spitzenclubs wie Bayern München locken, die mit einer für sie profitableren Einzelvermarktung auf eigene Faust drohen. Pay-TV-Alleinanbieter Kirch hat auch im Free-TV bei der Bundesliga kaum Konkurrenz: ARD, ZDF und Medientycoon Rupert Murdoch 2,0 (TM 3) sprachen sich gegen einen Rechtekauf aus. Der anstehende Deal zwischen Kirch und dem DFB sei „ein klassischer Fall der Preisbildung im zweiseitigen Mo- Rheinische Post nopol“, so ein Beteiligter. „Die Gespräche sind in der Frühphase“, sagt ein Kirch- Sprecher, es gebe noch keine „formalen und informellen Angebote“.

1,5 Süddeutsche Zeitung

SOAPS richtigen Hit“, sagt Sprecher Hansgert 1,0 Eschweiler. Für die Schmonzette (Ar- „Marienhof“ im Kino beitstitel: „Marienhof – Der Film“) will Bavaria, ein Ableger der öffentlich- us der Herz-Schmerz-Mixtur der rechtlichen Sender WDR und SWR, ADaily Soaps wird erstmals ein Ki- staatliche Millionen-Zuschüsse. 0,5 nofilm. Die Münchner Produktionsfirma Bavaria dreht von Oktober an ein Lein- wand-Werk zur ARD-Dauerserie „Ma- Quelle: IVW rienhof“, das im Frühjahr 2000 erschei- 1998 1999 nen soll. Das simple Skript: Vor dem Hintergrund der Arbeiten zu der TV- Schmalzserie, die bislang immerhin Koblenz schaffte es mit ihrem Online- 6 Hochzeiten und 16 Todesfälle erlebt Angebot im April sogar, den Marktfüh- hat, verlieben sich zwei Mitarbeiter des rer „Bild“ zu überrunden, indem lau- „Marienhof“-Teams. Der von den Soap- fend aktuelle dpa-Meldungen ins Netz Autoren geschriebene und von Michael gestellt werden. „Bild-Online“-Chef von Mossner produzierte Film interes- Michael Bogdan: „Man muß neidlos siert nach einer Bavaria-Umfrage po-

anerkennen, daß die ein gutes Angebot tentiell 4,5 Millionen. „Wenn nur die ARD machen.“ Hälfte ins Kino geht, haben wir einen TV-Serie „Marienhof“

der spiegel 28/1999 85 Medien

QUOTEN nur rund ein Fünftel des Publikums aus. Dies ergibt sich aus dem Vergleich Im Frühtau Attraktive Werbung der Reichweiten des Programms mit denen der anschließenden Werbe- em großen Manitu hat es ge- ast 5000 Spots gingen 1998 Tag für blöcke. Bei ARD und ZDF, die nur am Dfallen, die Gattung des Homo FTag auf das deutsche TV-Publikum Vorabend Reklame senden dürfen, ist sapiens in Morgenmenschen und nieder – das entspricht 31 Stunden die Anzahl der Flüchter mit 19,0 Morgenmuffel zu teilen. Schon zur Werbung, eine Verdopplung gegen- beziehungsweise 12,9 Prozent noch Jugendzeit nervten die über 1993. Die Angst der Reklame- geringer. Eine Illusion ist die Ver- matinalen Euphoriker, die wirtschaft und die Hoffnung der mutung, gut gemachte Spots erzielten mit dem Lehrer zusammen Kulturkritiker beruhen auf der An- innerhalb eines Werbeblocks höhere „Im Frühtau zu Berge wir nahme, die Zahl der Werbeflüchter, Quoten als schlechte: Alle Spots zieh’n, fallera“ schmetter- die sich per Fernbedienung den Spots haben die annähernd gleiche Reich- ten, während auf die an- entziehen, sei groß. Das ist, so zeigt weite wie der gesamte Block, nicht deren das unausgeschlafene eine Untersuchung im Fachblatt eben ein Anreiz, durch besonders Gemüt drückte wie der „Media Perspektiven“, nicht der Fall. kreative und besonders teure Beiträge Muckefuck, den es zum Wegzappende Reklamemuffel machen aufzufallen. Frühstück in Jugendherber- gen zu trinken gab. Die Umschalter Anteil der Zuschauer, die bei Werbeblöcken den Sender wechseln Später, im Beruf, lernen die 1998 täglich von 18.00 bis 23.00 Uhr, Zuschauer ab 14 Jahre Schlummerhasen die uner- PRO bittliche Aufgeräumtheit und die SIEBEN markigen „Guten Morgen!“-Wün- sche der Bettflüchter fürchten. Einzig das Fernsehen bietet dem 21,822,6 25,4 26,8 27,0 Morgenmuffel zur Zeit noch eine Al- ternative: Vergangenen Freitag zum Beispiel war das wieder zu besichti- Quelle: Media Perspektiven gen.Während im Frühstücks-TV von Sat 1 die Moderatoren bereits um 5.30 Uhr zu Techno-Klängen die Hüf- ten schwangen und so auf die am Wo- TV-HISTORIE chenende ausstehende Berliner Love Parade einstimmten – selbst der Geschichte im Fernsehspiel Mops auf dem Sofa wedelte mit dem Schwanz dazu –, blieb dem schlaf- roße Titel: „Besuch aus der Zone“ (1958), „Die Unverbesserlichen“ (1965), verliebten Tageseinsteiger eine Oase: G„Nachrede auf Klara Heydebreck“ (1969), „Todesspiel“ (1997) – diese Fernseh- das gemeinsame „Morgenmagazin“ spiele und TV-Dokumentationen sind Werke, in denen sich die Geschichte der Bun- von ARD und ZDF. desrepublik spiegelt. Insgesamt 50 solcher Produktionen aus 50 Jahren Bundesrepu- Dort standen die Mitwirkenden im blik behandelt ein im Verlag der Autoren erschienenes Buch mit dem Titel „Deutsch- Regen am Starnberger See. Ein Alt- land auf der Mattscheibe“. Herausgeber ist der ehemalige WDR-Redakteur Martin Öhi aus der Fernseh-Steinzeit, Harry Wiebel. Der verdienstvolle Band mit erklärenden Texten zu den Produktionen ist Valérien, erzählte Anekdoten und von der Wehmut über den Niedergang des politischen Fernsehspiels bestimmt. TV- rollte das R so vertraut wie eh und je, ästhetische Fortschritte bei anderen Stoffen werden leider kaum erwähnt. Balsam für die noch müde Seele. Doch mit solchen Schonräumen könnte es bald vorbei sein. Pro Sie- ben will im nächsten Jahr eine satiri- PROJEKTE sche „MorningShow“ auf den Markt werfen, früh um sechs gibt’s dann, Esther teilt aus wie der Sender verkündet, die „erste Late Night des Tages“. Zur Riege der ris Berben („Rosa Roth“) versüßt gele- Comedy-Frühsportler soll etwa Wi- Igentlich als verschattete Ermittlerin den gald Boning gehören, der mit schwer Samstagabend. Auch Hannelore Hoger lustigen „Staureports“ und getürk- („Bella Block“) wirkt zuweilen auf diesem ten „Wetterberichten“ den Tag ein- Sendeplatz. Nun folgt als dritte Schöne im läutet. Bunde: Esther Schweins. Im Herbst wird Kalauerkeulen wie die Frage nach die rothaarige Aktrice, von der Comedy dem Gegenteil von Reformhaus („RTL Samstag Nacht“) zur ernsthaften (Antwort: Reh hinterm Haus, fallera) Schauspielerin gereift, in der Reihe „Im werden im Frühtau niedergehen. Fadenkreuz“ zu sehen sein. Sie stellt die Und der Trend könnte Schule ma- Chefin einer Bodyguard-Firma dar, eine chen. Die Comedy-Welle, die dem mit dem St.-Pauli-Kiez vertraute Frau, die Zuschauer bereits während des Tages hart im Nehmen wie im Austeilen ist. Bis- und am Abend auf den Wecker geht, her sind drei Filme beschlossen, die für

wird selbst zum Wecker. ZDF das ZDF von Aspekt Telefilm produziert „Im Fadenkreuz“-Star Schweins werden.

86 der spiegel 28/1999 Fernsehen

Der neue Mann an der Spitze gibt sich dynamisch. Doch bald entdeckt Vogt, daß etwas mit Professor Jordan nicht stimmt: Er leidet an Alzheimer. Kreye gelingt es beeindruckend, die Tragödie des fortschreitenden Gedächtnisver- lustes darzustellen.

Themenabend: Viagra und die Folgen Donnerstag, 20.45 Uhr, Arte Mit Diskussionen und Reportagen ver- sucht Arte, ein Stück Lifestyle-Medizin zu klären. Eine Dokumentation (Be- ginn: 22.25 Uhr) nimmt sich eines besonders heiklen Problems an: der Po- Amick (r.) in „Freundinnen über den Tod hinaus“ tenzstörungen junger Menschen.

satzstücke, die man aus dem Kino, etwa Polizeiruf 110: dem „Schweigen der Lämmer“, schon Über den Dächern von Schwerin Vorschau kennt. Sonntag, 20.15 Uhr, ARD Über den Dächern der Meck-Pomm- Einschalten Dr. Vogt: Verhängnisvolle Diagnose Metropole turnt nicht wie einst in Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD Nizza Cary Grant, sondern Schorn- Freundinnen über den Tod hinaus Schon in früheren Filmen aus der ARD- steinfeger Jens (Uwe Rohde). Der Ka- Dienstag, 20.15 Uhr, Sat 1 Ärztereihe ist Sven-Eric Bechtolf als minkehrer erpreßt mit Fotos aus Handfester US-Psychothriller, der zum Darsteller des Oberarztes Vogt ange- luftiger Höhe lokale Politikergrößen, erstenmal im deutschen Fernsehen zu nehm aufgefallen: ein Schauspieler, der die sich drunten mit Callgirls verlustie- sehen ist. Eine junge Staatsanwältin mit leisen Tönen arbeitet. Auch die ren. In dem Film (Regie: Hans Erich (Mädchen Amick) hat es mit einem be- neue Geschichte (Regie: Ines Anna Viet) entwickelt sich eine mäßig sonders heimtückischen Serienkiller Krämer, Buch: Kai Hensel) bleibt der spannende Geschichte, die nur erträg- zu tun. Es entwickelt sich eine tödliche Linie treu, durch unspektakuläre, aber lich ist, weil der bedächtige Kommissar Schachpartie, in der auch ein hinterli- präzise Milieuzeichnung zu überzeu- Groth (Kurt Böwe) und sein übereifriger stiger Geschworener mitmischt. Das gen. Im Mittelpunkt steht Vogts neuer Kollege (Uwe Steimle) wie immer TV-Movie verarbeitet geschickt Ver- Chef, Professor Jordan (Walter Kreye). brillieren.

Ausschalten

Musikantenscheune einer selbstbewußten Frau Montag, 20.15 Uhr, ARD (Sean Young), die Männer so „Holz vor der Hütte und im konsumiert, wie es sonst die Kopf das Stroh, Volksmusi ist Männer mit den Frauen tun: als lustig, Volksmusi macht froh“, reine Sexobjekte. singen die Quotenkraxler. Fußball Männer sind zum Küssen da Dienstag, 18.00 Uhr, ZDF Montag, 22.15 Uhr, ZDF Live aus dem Erzgebirgssta- Immer wenn es Sommer wird, dion in Aue: Das erste Halb- verordnen die Herren des Ler- finalspiel des DFB-Ligapokals. chenberges dem Fernsehvolk Aber selbst hartgesottene Le- etwas, dem es entgegenfiebert: derfreunde möchten mal ruhen die jährliche Dosis ZDF-Erotik. auf der – aua – Aue der Fuß- „Sommernachtsphantasien“ ball-Losigkeit. heißen die Filmreihen präten- tiös, meist Ladenhüter aus den Vera am Mittag hinteren Regalen. Immerhin Mittwoch, 12.00 Uhr, Sat 1 bringen die Liebesspiele, die – „Überraschung – heute heiraten na klar – auch anspruchsvoll wir bei Vera“. Denn was Vera sein sollen, gute zwei Millionen zusammengefügt hat, das darf Zuschauer. Der heutige Streifen Bärbel trennen, heißt es im aus den USA, eine deutsche Buch der Talk-Propheten. Und Erstaufführung (Regie: Zoe Hans Meiser kann noch mal Clarke-Williams), handelt von über alles sprechen. Young mit John Heard in „Männer sind zum Küssen da“

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TV-SHOWS „Das letzte Lagerfeuer“ „Wetten, daß…?“ wagt sich nach Mallorca. Das Mammutunternehmen ist logistisches Abenteuer und finanzielles Experiment. Hinter den Kulissen wird die Frage diskutiert: Wieviel Kommerz verträgt die mächtigste TV-Show Europas? harter-Ticket? Hartschalenkoffer? Sonnenöl? Als Clarissa Sturny An- Cfang des Jahres damit begann, ihren Mallorca-Trip zu planen, blieb es nicht beim üblichen Touristen-Paket. Da sind zum Beispiel die 14 Container mit tonnenschwerem Bühnenkrempel, die sie durch ganz Europa transportieren, auf Fähren verfrachten und nach Palma brin- gen muß. Da sind die sechs Laster mit Licht-, Bild- und Tontechnik. Dazu die drei Trucks mit Scheinwerfern, gar nicht zu re- AP den von Übertragungs- und Gerätewagen. TEUTOPRESS Sturny reist nicht allein. 206 Kamera- Moderator Gottschalk mit Regisseur Arnz, mit Madonna (1998), Jackson (1995): Nur Bill Clinton leute und Kabelträger, Ingenieure und Techniker, Bühnen- und Maskenbildner Aber was ist, wenn Fähren oder Flugge- weil man eine neue CD, Tournee oder we- brauchen Flüge, Hotels und einen Termin- sellschaften plötzlich streiken? Was, wenn nigstens Schönheit nirgendwo sonst so groß plan. 211 Künstler, Komparsen und Kandi- es am 17. Juli regnet? Und was erst soll sie rausbringen kann. Seit Jahren hat Haribo daten müssen betütert und bei Laune ge- tun, wenn brütende Hitze das Theater mit den Moderatoren-Star Thomas Gottschalk halten werden. seinen 5600 Zuschauern und 417 ZDF-Hel- unter Vertrag. Zwei Millionen Mark soll er Sturny sucht auf Mallorca keinen Zeit- fern in einen Kochtopf verwandelt? jährlich für seine Goldbären-Auftritte be- vertreib.Als Produktionsleiterin von „Wet- Die 49jährige wird dafür bezahlt, das kommen. Seit wenigen Monaten darf das ten, daß…?“ organisiert sie ihn. Am kom- Unplanbare zu planen. Das ist diesmal be- Nasch-Werk auch die Show sponsern. menden Samstag soll der funkelndste Stern sonders kostspielig. Und wenn sie eines Doch weil das diesmal alles noch nicht am europäischen TV-Unterhaltungshimmel nicht mehr hören kann, dann sind es jene reichte, durfte erstmals ein Charterunter- das erstemal auf der Urlaubsinsel leuchten. Bedenkenträger, die ihr vorrechnen, daß nehmen mit einsteigen. LTU organisiert Und weil dieser Stern immer schon hel- das mediale Auslandsabenteuer viel zu teu- alle Flüge und Hotels sowie den gesamten ler strahlte als alle anderen, braucht er er wird mit all den Eventualitäten. Kartenverkauf. Im ZDF wird nicht nur der schrecklich viel Strom. In der alten Stier- Eine normale „Wetten, daß … ?“-Sen- schleichende Werbe-Einfall durchaus arg- kampfarena Coliseo Balear müßte Sturny dung kostet rund 1,6 Millionen Mark. Der wöhnisch beobachtet. die Steckdosen nur scharf anschauen, Mallorca-Trip kann weit mehr als das Dop- Vor acht Jahren wagte sich die Show in „dann würden wir wahrscheinlich schon pelte verschlingen, wird intern orakelt, auch Xanten das erstemal unter freien Himmel ganz Palma lahmlegen“. Im Februar hat wenn die Werbewirtschaft gern bereit wäre, und wäre im Regen fast abgesoffen. Gott- sie vor Ort den Mietvertrag klargemacht mit mehr Geld einzuspringen. Das öffent- schalks Berater Antonio Geissler kann des-

und war angenehm lich-rechtliche ZDF ziert sich. Noch. Wer- halb momentan gar

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erschüttert von dem bung jenseits der 20-Uhr-Schallmauer ist nicht tief genug sta- E

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ebenso bezaubernden verpönt bis verboten. Man hat einen Auf- peln: „Mallorca ist ein N

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wie maroden Ambien- trag, auch wenn der „Unterhaltung“ heißt. Experiment“ – auch C te. Also wird auch die Plattenbosse zum Beispiel bezahlen die für die Frage: Wieviel A eigene Stromversor- „Wetten, daß… ?“-Auftritte ihrer Super- Kommerz verträgt die gung eingepackt. megagiga-Weltstars schon immer selbst, Show in Zukunft?

Frank Elstner „Titanic“-Redakteur Bernd bei der Premiere am Fritz bei getürkter Buntstift- 24 14. Februar 1981 Erfolgsshow „Wetten, daß...?“ wette am 3. September 1988 22 Zuschauer in Millionen 20,8 20 18 17,8 16,9 16 Thomas Gottschalk moderiert erst- 14 mals am 26. September 1987 12 ELSTNER GOTT Marktanteil im Jahresdurchschnitt in Prozent 70,9 71,2 10 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90

88 der spiegel 28/1999 ACTION SPORT ACTION Coliseo Balear in Palma de Mallorca

Wenn ZDF-Unterhaltungschef Viktor Worms der Kopf der Show ist, Regisseur Arnz ihr Arm und Gottschalk das Gesicht, dann ist Weber ihr Herz. Mit Assistentin und Sekretärin sitzt sie im 8. Stock des ZDF-Hochhauses am Mainzer Lerchen- berg und… nichts und. Wo man Scharen zynischer Entertainment-Profis erwartet, sieht es aus wie in der Kfz-Zulassungsstel-

ACTION PRESS ACTION le von Hagen: still, langweilig, betulich. und der Papst waren noch nicht da, aber was haben die beiden schon zu verkaufen? „Wetten, daß…?“ ist auf beinahe bizar- re Art ein Familienbetrieb geblieben, zu „Mallorca war eine Schnapsidee“, sagt ler. Als die schwarze Popchanteuse Grace dessen innerstem Kreis neben Sturny,Arnz Regisseur Alexander Arnz, der das Format Jones das komplette Bühnenbild umwer- und Weber, Gottschalk, Geissler und vor 18 Jahren mit Frank Elstner erfand. fen wollte, schmiß Arnz lieber sie raus. Worms nur wenige Zugang haben. Die all- Damals, nach der ersten Sendung in der Auch die Show hat alles überlebt: die jährliche Klausurtagung zur Planung der Düsseldorfer Messehalle, ließ er die Pre- Krawallkonkurrenz der Privatsender wie nächsten sechs Sendungen ist wohl der ge- mierenfeier sausen, fuhr nach Hause und das Moderations-Intermezzo des Quoten- heimste Zirkel, den das ZDF zu bieten hat. stöhnte seiner Frau entgegen: „Jetzt muß Ossis Wolfgang Lippert oder den Skandal Nach jeder Show sichtet Weber in ihrer ich wieder Lkw fahren.“ um Bernd Fritz. Der Redakteur des Sati- kleinen Bürowabe 1500 Wettvorschläge, Die Premiere war nicht schlecht, sie war reblättchens „Titanic“ mogelte sich an al- wählt aus und prüft, bevor sich ihr Millio- eine Katastrophe: Eine geschlagene Stun- len Vorkontrollen vorbei, gab als Wettkan- nenpublikum fragen darf: Kann jemand de lang hatte Elstner mit seinem Grund- didat vor, er könne Buntstifte nur am Ge- mit einem Mähdrescher das Alphabet in schullehrer-Charme gebraucht, um über- schmack erkennen, und grinste dann knapp eine Tastatur hacken, eine Wärmflasche so haupt die Spielregeln zu erklären. Der 18 Millionen Deutschen live entgegen, al- lange aufblasen, bis sie platzt, oder Fuß- halbblinde Stargast Curd Jürgens schoß ei- les sei nur Betrug gewesen. Der „Titanic“- baller nur an deren Waden erkennen? nen Armbrustpfeil neben die Zielscheibe, Redakteur hatte unter der Augenblende „Die Faszination des Schrecklichen“ und Elstner schrie dennoch: „Treffer.“ durchgelinst. nennt Regisseur Arnz den Zuschauerreiz Irgendwas traf die Show dennoch: zu- Sie könne diesen Super-GAU noch heu- am live vorgebrachten Absurditäten-Kabi- nächst das Herz der Kritiker, viel später so- te nicht fassen, sagt Beate Weber, die zu- nett germanischer Tüftelleidenschaft. Die gar das der Zuschauer. Der verwitterte Büh- ständige ZDF-Redakteurin. Sie habe am Show habe das „Glück der frühen Ge-

nen-Bär Arnz hat seit- Bühnenrand gestanden, Fritz gehört und

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her alles überstanden: E kein Wort verstanden, „als rede der in ei-

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vier Unterhaltungs- N ner Fremdsprache“. Elf Jahre ist das nun

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chefs und drei Mode- C her, aber die 43jährige hat seither kein Wort ratorenwechsel, Quo- A mit dem Fälscher gewechselt. „Ich habe tentäler und die Hö- mich in einem Menschen getäuscht“, sagt henflüge eitler Künst- sie bitter. „Ich bin da ziemlich sensibel.“

Wolfgang Lippert über- Prominente Gäste (v. li.) am 20. Februar 1999: Harald nimmt die Show am Schmidt, Heidi Klum, Helmut Dietl, Veronica Ferres, 26. September 1992 Peter Kraus, Gerhard Schröder bei Thomas Gottschalk 24 Gottschalk feiert am 15. Januar 22 1994 sein Comeback 20 18,1 18 15,9 15,8 16

bisher drei 14 SCHALK LIPPERT GOTTSCHALK Sendungen 12 64,7 56,6 44,3 45,7 42,9 47,2 48,2 47,5 51,0 10 0 91 92 93 94 95 96 97 98 99

der spiegel 28/1999 89 Medien burt“, glaubt Weber, weil sie ihre Größe in Show schoß die Platte zurück an die Spit- der Urzeit des öffentlich-rechtlichen Mo- ze der Charts und verkaufte sich noch nopols errang, als Einschaltquoten von 600000mal. „Das war“, schwärmt Leusch- 20 Millionen noch zum guten Ton gehör- ner, „ein Riesenschub.“ ten. Zumindest ist sie der einzige Monolith Für ein bißchen Werbung täte die Indu- aus grauer TV-Zeit, der seine Größe kon- strie fast alles, um bei „Wetten, daß…?“ servieren konnte. „Das letzte deutsche La- präsent zu sein. LTU übernahm nun nicht gerfeuer“, schwärmt Worms von Roman- nur den Transport und die Unterbringung tik, Risiko und den Ritualen deutscher Wo- der ZDF-Mannschaft, sondern auch den chenendgemütlichkeit. komplizierten Kartenverkauf. 88 Mark ko- Mittlerweile ist das Lagerfeuer der größ- steten die Mallorca-Tickets, die längst zu te und mächtigste TV-Hochofen Europas. Schwarzmarktpreisen bis zu 1000 Mark Sechsmal im Jahr ein nationales Ereignis gehandelt werden sollen. mit internationaler Dekoration. In der mo- 2000 Karten schlug LTU auf der Insel natlichen Quoten-Abrechnung kann eine los, 3600 in Deutschland. Knapp die Hälf- einzige Zwei-Stunden-Show ein halbes te der hiesigen Käufer buchte einen Ur- Prozent ausmachen. laub um das Samstagabendereignis her- Wenn die Eurovisionshymne erklingt, um. Es sei „ein sehr gutes Geschäft“, sagt schaut jeder zweite Deutsche zu, der gera- LTU-Mann Marco Dadomo, „und knall- de vor der Glotze hockt – nicht nur, wenn hart kalkuliert“. sich Paul McCartney, Cher oder Madonna ZDF-intern wird die fürsorgliche Bela- angekündigt haben. Zu „Wetten, daß…?“ gerung durch Wirtschaft und Werbung kommt mittlerweile jeder. Nur der Papst dennoch kritisch gesehen, spätestens seit und Bill Clinton waren noch nicht da.Aber Gottschalk in der Februar-Sendung den was haben die schon zu verkaufen? Film „Late Show“ vorstellte. Gottschalk Die deutsche Musikindustrie war die er- war einer der Hauptdarsteller und hatte ste Branche, die den unglaublichen Wer- als Gäste auch noch den Regisseur Helmut bewert des TV-Wanderzirkusses erkannte. Dietl sowie seine Film-Kollegen Veronica „Dort drängeln sich die Superstars“, sagt Ferres und Harald Schmidt eingeladen, der EMI-Electrola-Chef Heinz Canibol. um mit ihnen das gemeinsame Produkt zu „So einer Show brauchst du nicht mit Karl- promoten. chen Atemlos zu kommen“, sekundiert „Wir dürfen das Format nicht im gering- sein BMG-Ariola-Kollege Thomas Stein sten verbiegen“, sagt Unterhaltungschef und kobert das ZDF lieber gleich mit ei- Worms. Gegen plumpe Werbeauftritte gener A-Klasse: Whitney Houston auf- „sind wir immun“. Über weniger plumpe Geschäfte denken derweil Gottschalks Bru- der Christoph und seine Firma Dolce Me- dia nach. Mallorca soll erst der Anfang sein. Der Vermarktungs-Mann lächelt milde, wenn er an die T-Shirts, Baseball-Käppis oder Brettspiele denkt, die bislang unter dem Namen der Show verkauft wurden. Er träumt von Internet-Angeboten, flankie- renden „Events“ rund um die Show und ei- ner Auktion von Star-Devotionalien. „Wäre doch toll, wenn wir mal Madonnas BH ver- steigern könnten oder ein Notenblatt von Paul McCartney.“ Ja, wenn man bei einem Privatsender wäre … Dann gäbe es wunderbar teure Werbepausen und Gewinnsuperlative (ge-

J. LADWIG J. stiftet von DaimlerChrysler bis TUI), es ZDF-Redakteurin Weber gäbe „Wetten, daß…?“-Spielzeuge, -Rei- „Glück der frühen Geburt“ sen und -Autos und vielleicht eine Mode- kollektion mit dem Slogan: „Wetten, daß wärts. Mediale Macht sucht massenkom- Sie damit nicht nur Ihrer Frau imponie- patiblen Mainstream – und findet ihn auch. ren?“ Bevor Michael Jackson vor dreieinhalb Es gehe „nicht ums Geldverdienen“, sagt Jahren bei „Wetten, daß…?“ auftrat, war Christoph Gottschalk, „sondern darum, die sein Album „History“ längst wieder in den riesigen Kosten zu kompensieren“. Dann Katakomben der Chart-Statistiker ver- könne man mit der Show ja auch mal nach schwunden. Sony-Chef Jochen Leuschner Kapstadt, Teneriffa oder Florida, was dann bekommt noch heute leuchtende Augen: zwar noch teurer werden würde, aber … Jackson bei Gottschalk sei „vielleicht das Produktionsleiterin Sturny hat zwar Aufregendste“ gewesen, was er bislang er- momentan wirklich keine Zeit für derlei lebt habe. Planspiele, ist aber präventiv „sprachlos“. Nicht nur, weil er vorher knapp eine Mil- Nach dem kommenden Samstag, sagt sie, lion Mark investieren mußte, um den Star muß sie erst mal Urlaub machen. „Aber überhaupt ins Land zu holen. Nach der nicht auf Mallorca.“ Thomas Tuma

90 der spiegel 28/1999 Holland ohne ihr Wissen FOTOGRAFEN unter seinem Namen ver- öffentlicht. Souvenirs Als die Vorwürfe öffent- lich wurden, witterte Gra- mes eine „generalstabs- aus dem Müll? mäßig geplante Intrige“ gegen sich und seine Freun- Ein angesehener Bildjournalist din: Die Beschuldigungen durch die Kollegen seien hat offenbar unter seinem eigenen „eine Orgie der Hinterhäl- Namen Fotos von Kolle- tigkeit“. Die Fachwelt in- gen vermarktet – viel Arbeit für formierte er mit einer acht- deutsche Richter. seitigen Hochglanzbro- schüre über seine Sicht der b er Seesterne aufnahm, die auf Dinge. Und „FreeLens“ einen Sandstrand gespült worden schickte er zu 28 Punkten Owaren, ob er tätowierte Kohlen- eine Gegendarstellung. schlepper aus der DDR ablichtete oder das Hamburger Richter muß- futuristisch anmutende Bauwerk der Uni- ten schließlich entschei- versität von Katar – Fans und Kollegen den, wer nun auf den Aus- schätzten die Bilder des Esseners Eberhard löser gedrückt hatte. Daß Grames, 46, fast immer als Meisterwerke. japanische Reisegruppen Als einer der wenigen Deutschen durf- Fotograf Grames: „Orgie der Hinterhältigkeit“ vom Eiffelturm schon mal te Grames seine stilvollen Kompositionen völlig identische Fotos im New Yorker Museum of Modern Art schießen können, ist durch- ausstellen. Seine Bildbände haben längst aus denkbar. Aber die Kultstatus. Und überall in Deutschland saß „theoretische Möglich- der bekannte Lichtbildner in Gremien, die keit“, daß Aufnahmen wie sich der Förderung des Nachwuchses ver- vom Platz in Barcelona schrieben haben. gleich von zwei Fotografen Ausgerechnet der Schöngeist unter gemacht werden können, Deutschlands Fotografen hat nun die ganze schlossen die Hamburger Branche in Aufruhr versetzt: Jüngere Kol- Richter aus. legen werfen Grames vor, er habe sie ab- Als Beweis dafür, daß gezockt. Die Justiz beschäftigt sich gleich sie und nicht Grames mehrfach mit dem Fall. In einem ersten fotografiert hatten, legten Urteil nach einem Hauptsacheverfahren die Grames-Gegner Bilder bescheinigte das Landgericht Hamburg aus der gleichen Reihe vor, dem bärtigen Lichtbildner, er habe Kolle- die noch in ihrem Besitz gen betrogen: Grames habe sich von ihnen waren. Fotos angeeignet und unter seinem Namen Angebliches Grames-Foto*: Marktgängiges Diamaterial Nach eingehender Prü- verkauft. fung der Fotos, nach der Nur durch Zufall, sagen die Betroffenen, noch pingeliger als früher über korrektes Anhörung von Zeugen und der Begutach- seien sie Grames auf die Schliche gekom- Geschäftsgebaren. tung von Reiseunterlagen kam das Gericht men: Der eine fand seine Panorama-Auf- Der Streit eskalierte, nachdem das Ver- zu dem Schluß, daß Grames tatsächlich nahmen von der portugiesischen Algarve bandsorgan „FreeLens“ Ende 1997 Gra- „ihm gelieferte Fotos unter eigenem im Foyer der Firma Agfa in Leverkusen mes’ Praktiken angeprangert hatte. Dem Namen vermarktet“ hat. Der Artikel in ausgestellt, ein anderer entdeckte sein Bild Fotografen wurde in dem Bericht vorge- „FreeLens“ wurde, von einzelnen Aus- von einem belebten Café in Barcelona in worfen, daß er das Archivmaterial einiger nahmen abgesehen, als wahr beurteilt. einem Fachmagazin, ein dritter sah sein Kollegen „nach marktgängigem Diamate- Doch das Scharmützel wird schon bald Foto aus dem Regenwald von Brasilien in rial durchgekämmt“ habe, um es der Fo- in die nächste Runde gehen: Die Fotogra- einer Wochenzeitung. Angeblicher Schöp- toagentur allover seiner Freundin zugäng- fen haben ihren einstigen Förderer wegen fer aller Bilder: Eberhard Grames. lich zu machen. Prozeßbetrugs und dessen Freundin we- Bei dem Bilderstreit geht es für die Fo- Im nachhinein hätten sich viele Abrech- gen Abrechnungsbetrugs angezeigt. tografen um Grundsätzliches. Die meisten nungen der Agentur als falsch oder „of- Grames wiederum stellte bei der Staats- von ihnen arbeiten als Freiberufler. Viele fenkundig manipuliert“ herausgestellt, Fo- anwaltschaft Strafantrag gegen die Kollegen dienen als „Assistenten“ zunächst bei den tografen hätten in Einzelfällen nur einen wegen angeblich falscher Erklärung an Eides Etablierten, um überhaupt ins Geschäft zu Bruchteil des ihnen zustehenden Honorars statt. Er beharrt darauf, daß er die Bilder kommen. So machte sich auch zunächst bekommen. Allover stritt alle Vorwürfe ab gemacht habe. Die von seinen Widersachern niemand Gedanken, als Grames sie auf Fo- und konterte mit Strafanzeigen. beigebrachten Dias seien „Assistenten-Sou- toreisen schickte. Mehr als alles andere kritisierten die venirs aus der Mülltonne“. Sein Anwalt Um auf ein angemessenes Einkommen Lichtbildner aber, daß Grames ihre Fotos weist ausdrücklich darauf hin, daß das Urteil zu kommen, sind die meisten Lichtbildner als eigene ausgegeben habe. Der Meister noch nicht rechtskräftig ist; ob Grames auf strikte Vermarktung ihrer Fotos ange- habe sie aus unterschiedlichen Gründen in Rechtsmittel einlegt, werde geprüft. wiesen. Seitdem es möglich ist, Bilder am die ganze Welt geschickt und später Fotos Die Annahme indes, urteilte das Ham- Computer fast beliebig zu manipulieren aus Spanien, Portugal, Brasilien oder burger Gericht , „daß alle diese Fotografen und damit auch die Urheberschaft zu ka- den Kläger bestahlen, ist gänzlich un- schieren, wachen die Bildberichterstatter * Aus dem Regenwald. wahrscheinlich“. Udo Ludwig

der spiegel 28/1999 91 Werbeseite

Werbeseite Szene Gesellschaft

TRENDS Schmuggeln als Sport MODE Der Edinburgher Hugo Fluendy, 30, Poesie für die Wäsche über das neue britische Szene-Hobby „Shop Putting“ er heute noch mit dem Bedrucken nach den T-Shirts “. Seit Kurz’ Worte Wvon T-Shirts groß herauskommen prominente Oberkörper wie die von SPIEGEL: Herr Fluendy, Shop Putter will, scheint naiv. Für die Hamburger Nena, Marius Müller-Westernhagen und schmuggeln eigene Kleidung in Marken- Dichterin Ina Kurz, 34, ist der Plan auf- DJ Hell kleiden, haben manche Ein- läden und hoffen, daß Leute sie zu kau- gegangen.Am Anfang waren die Hemd- sichten der studierten Theologin die fen versuchen. Was bezwecken Sie mit chen bloß Werbung für Kurz’ Jobver- Welt gesehen. Da steht dann etwa „Ar- dieser Aktion? mittlungsagentur „Maegde u. Knechte“, beit macht Arbeit“ oder „Geistige Sa- Fluendy: Wir wollen darauf aufmerksam bis die meisten Anrufer „nicht mehr nität“ oder „Elastisches Gewissen“. Die machen, daß die Konsumkultur dabei nach Jobs fragten, sondern nur noch per Hand aufgedruckten und waschma- ist, Individualität ganz und gar auszu- schinenfesten Bekenntnisse merzen. befinden sich zwischen Hals- SPIEGEL: Es kann doch aber jeder ausschnitt und Brust, denn Mensch kaufen, worauf er Lust hat. von Oberweite verzerrte Fluendy: Das ist eben der Irrtum. Mode Buchstaben sind Kurz’ Sache ist heute völlig homogen. Von Chicago nicht, „das lenkt vom Den- bis Schanghai bekommen Sie in den ken ab“. Sofern sie nicht ge- gleichen Kettenläden die gleichen Kla- rade nach New York liefert motten. oder in Bundeswehrdepots SPIEGEL: Was haben Sie denn schon ver- Unterhemden abstaubt, hilft sucht, in einem Laden zu verkaufen? die Dichterin jedem Besucher Fluendy: In dem Markenshop „Diesel“ ihres Hamburger Ateliers, habe ich die Bluse einer Stewardess von die für ihn richtige Wortwahl British Airways auf die Stange ge- zu treffen. schmuggelt. Mit getürktem Preisschild. SPIEGEL: Und warteten dann stunden- lang, ob sie gekauft wird? Fluendy: Nein, ich will ja nicht auffallen. Wenn der Schwindel auffliegt, bin ich meist nicht dabei. SPIEGEL: Wie reagieren die Abteilungs- leiter? Fluendy: Bei Diesel waren sie glücklich. Sie sagten, sie fänden alles gut, das zum Denken anregt. SPIEGEL: Strafe hat man Ihnen noch

nicht angedroht? A. STEFFEN (li.); M. WITT (re.) FOTOS: Fluendy: Ich glaube, Shop Putting befin- Sängerin Nena (mit Sohn), Dichterin Kurz det sich in einer juristischen Grauzone. Aber wenn ich dafür mal vor Gericht müßte, hätte ich großen Spaß.

WERBUNG sich hören, im Unterschied zum steifen „Freiheit statt Sozialismus“. Wann und Hartes Leben von wem diese Ohrwürmer gedichtet wurden, verrät Wolfgang Hars’ „Lexi- us gutem Grund ist Juno rund“ – kon der Werbesprüche“ (Eichborn Ver- Adas leuchtet ein. Nach dem Sinn lag; 408 Seiten) – ein alphabetischer des Spruchs sollte man nicht fragen, Ar- Leitfaden durch die Reklame-Geschich- gumente haben in der Werbung nichts te der Bundesrepublik. Nebenbei gibt verloren: „Sind wir nicht alle das Buch Einblick in den Wan- ein bißchen Bluna?“ scherzte del deutscher Sitten: Als An- einst eine Brausefirma, und Ca- fang der achtziger Jahre melia schenkte „allen Frauen Hakle-Toilettenpapier ver- Sicherheit und Selbstvertrau- sprach, das Leben habe „wie- en“. Dem Linguisten Roman der ein kleines bißchen an Jakobson zufolge schätzt der Härte verloren“, streikte die Mensch am Reim, daß er sich ARD. So was könne man nie- einprägt. Das gilt auch für poli- mandem zum Abendessen zu- tische Slogans: „Jetzt zur Wahl muten, entschieden die Ver-

A. DASCHNER seid alle schlauer – wählt SPD antwortlichen und verboten Fluendy und Ollenhauer“, so was läßt die Ausstrahlung.

der spiegel 28/1999 93 Titel

Die jungen Milden

Sie halten Sex für überschätzt, Rebellion für eine hohle Geste und beharren auf dem Recht, ihre Vorstellungen vom Lebensglück individuell und auf eigene Rechnung zu verwirklichen: Nach den skeptischen Jungen der Aufbaujahre, den Revoluzzern von ’68 und der Spaßguerrilla der Neunziger präsentiert sich die Jugend der Jahrtausendwende als pragmatische Generation.

ie ganze Welt ist eine Party – und die Love Parade in Berlin längst das DRoutine-Bacchanal der Epoche. In- fernalisch lärmend, halb nackt, grell bunt und schwer gut drauf trat die Jugend ’99 am Wochenende abermals an, die Hauptstadt in einen hippen Hoppelgarten zu verwandeln. Traditionell treiben kiloweise Aufputsch- drogen, Unmengen von Powerdrinks und Alkohol die Jubelfeier der schieren Selbst- begeisterung an, das Zucken Hunderttau-

sender Arme und Beine in Ekstase. N. HEIN / PLUS 49 VISUM 94 Schlüssel zu was? Etwa zum Verständnis der Jugend von heute? Seit die Love Parade in den frühen neun- ziger Jahren zum fröhlichen Massenevent und zum Kultereignis wurde, fragen Eltern, Sozialforscher, Medienwissenschaftler und Journalisten: Was treibt sie da eigentlich, unsere Jugend? Was treibt sie an, was treibt sie um – und wohin geht sie? Wie soll man sie überhaupt nennen, die heute 15- bis 25jährigen Millennium-Kids? Die 68er kennt jedes aufgeweckte Kind – mit Schröder und Fischer sitzen sie in der Bundesregierung und kämpfen um Sparhaushalt und Rentenreform. Auch die 78er, Nachzügler der Revolte,WG-erprobt, Müsli-gestählt und gehärtet im Bezie- hungskampf, sind zusammen mit den Pionieren der Punk-Bewegung unauffällig ins Establishment nachgerutscht. Und die 89er, Teenager und Twens beim Mauerfall, haben die Not zur Tugend gemacht und schlugen ohne ideologisches Gepäck gleich den Direktkurs auf Erfolg und Karriere ein – nicht RAF, sondern BWL war ihr Ding, nicht das Kapital entlarven, sondern es schnell vermehren, das Motto. Was bleibt da den 99ern? Die „Genera- tion Y“, wie ratlose US-Marktforscher die Jungkonsumenten der Gegenwart behelfs- weise nennen (siehe Seite 107), scheint eine Jugend im Vorbeirauschen zu sein, ohne eigenes Verhältnis zu ihrer Zeit: Wie auch die vom SPIEGEL in Auftrag gegebene Em- nid-Umfrage unter mehr als 1000 Jugend- lichen zeigt, ist sie eine No-Label-Genera- tion, mit der weder eine Vision noch deren

G. SCHÖNHARTING / OSTKREUZ G. SCHÖNHARTING Gegenteil, etwa der Schlachtruf „No Fu-

Jugend 1999 SPIEGEL-Umfrage unter den 15- bis 25jährigen; Angaben in Prozent

Mehrfach- nennungen möglich Umweltzerstörung 95 Krieg 53 soziale Ungerechtigkeit 90 Einsamkeit 13 Diktatoren 83 Arbeitslosigkeit 13 Love Parade in Berlin 1997, Spaßfeindlichkeit Skater-Show Umweltkatastrophen 10 der Gesellschaft 56 Ich-Suche im Dschungel des Kriminalität 6 Hier und Jetzt Politiker 44 Scheidung der Eltern 5 Autoritäten wie Eltern oder Lehrer 26

Von 50 Trucks mit Hunderten von Riesen-Boxen stießen wummernde Beats in die tanzenden Leiber; und für den Ich fühle mich verant- Abend nach der großen Tortour de Dance wortlich für das, was in luden die Techno-Clubs von Berlin zum realistisch 33 meinem Land passiert 61 Weiterzappeln mit Sven Väth, DJ Moguai, cool 24 Niels van Gogh, DJ Tomcraft und zahllo- Was der Staat macht, sen anderen Plattengurus. Motto des gi- ehrgeizig 21 interessiert mich nur, wenn es mich betrifft 34 gantomanen Liebesspektakels: „Music is verträumt 19 the key“. Was der Staat macht, Frei nach Bundeskanzler Gerhard Schrö- politisch 2 ist mir egal 4 der: Wir haben verstanden, aber – der

der spiegel 28/1999 95 Titel M. LANGE / AGENTUR FOCUSM. LANGE / AGENTUR Kundin in einem Berliner Szene-Laden: Jagd nach einem Leben ohne Langeweile ture!“, das Protest-Fanal in den frühen Disziplin – nur auf vielen Gleisen gibt es Haeusler, 30, der ein Musikstudio in Berlin Achtzigern, zu verbinden ist. den Weg zum Glück. Die Studentin singt in betreibt, kann mit der Love Parade nichts Auf die Sinn-Fahnder der Linken und einem Chor, treibt Sport, ist politisch in- anfangen: „Das Ding ist sowieso völlig be- die kritischen Köpfe unter den heute teressiert, geht wählen, liest Zeitung und liebig geworden“, kommentiert er fach- 40jährigen wirkt die neueste Jugend leicht hat seit der Wende „ganz Europa“ und männisch. „Musikalisch sind die Leute um wie die Spreu im Winde, präsent auf jeder halb Südamerika bereist – Brasilien, Ar- 20 eh nicht mehr so festgelegt. Überall ent- Benutzeroberfläche, aber geschichtslos, gentinien, Paraguay inklusive. Nur Techno wickeln sich Mischformen wie Jazz-Jungle ohne Anker im Zeitgeist. Zehn Jahre nach oder Surf-Jungle“ – wer auf seine Indivi- dem Fall der Mauer, 50 Jahre nach Grün- dualität hält, der braucht für die eigenen dung der Bundesrepublik, am Übergang ins Vorlieben einen exquisiten Namen. nächste Jahrtausend: nur Drum’n’Bass und Klischees sind dazu da, der Wirklichkeit Dosenbier, MTV samt Hohn und Spott? ausgeliefert zu werden: Die 99er sind so- „Die wissen einfach nichts mehr“, er- wenig wie die 68er oder 89er eine auch zählte jüngst TV-Entertainer Harald nur annähernd homogene Altersgruppe, Schmidt, 41, in kleiner Runde aus eigener und die Love Parade, der Exzeß für nur ei- Erfahrung über seine blutjungen Mitarbei- nen Tag, steht keineswegs als das einigen- ter. Der Late-Night-Zyniker ehrlich ent- de Symbol ihrer Generation da. Das Mot-

setzt: „Die wissen nicht / OSTKREUZ SCHLÖSSER J. to „Gib Gas – Ich will Spaß“ ist nicht das mal mehr, wer Uwe Seeler „Wir probieren herum und suchen das Beste programmatische Bekenntnis der Millen- war.“ für uns“ niumkids. Schmidt kennt Ulrike Rossella Cestaro, 23, und Ulrike Hanitzsch, 21, Studentinnen Ob es die skeptische Generation der Hanitzsch, 21, nicht. Sie fünfziger Jahre war, die antiautoritäre der weiß es. Über sich und ihre Altersgenossen mag sie nicht. Eigentlich mag keiner ihrer späten sechziger, die Punks Ende der sieb- urteilt die in Schwerin geborene Dol- Freunde Techno. Lieber hören sie die ziger oder die Yuppies der achtziger Jahre metsch-Studentin für Portugiesisch und neuesten Nachrichten aus aller Welt. – stets prägte eine aktive Minderheit das Italienisch: „Wir probieren herum und su- Ihre Tischnachbarin im Berliner Szene- Bild der Jungen für die Gesellschaft, und chen das Beste für uns.“ Dann buchsta- Lokal „Strandbad-Mitte“, Rossella Cestaro, auch der Nachwuchs identifizierte sich da- biert sie vorsichtshalber die Konsonanten- 23, hört sowieso nur klassische Musik. Tan- mit. Jugend war immer eine Vorhut. Den folge ihres Namens zum Mitschreiben: zen geht sie nicht. „Lieber lese ich einen existentialistischen, moralischen, revoltie- „Wie Nietzsche, nur ohne e.“ Verwirrende Roman.“ Seit einem Dreivierteljahr lebt renden oder geschäftstüchtigen Trendset- Jugend – also doch gebildet? die Italienerin aus der Nähe von Triest in tern folgte, in gehörigem Abstand, gewiß, Eigentlich möchte Hanitzsch Schauspie- der deutschen Hauptstadt und bereitet sich der gesellschaftliche Mainstream. lerin werden; für den Fall, daß das nicht für die Aufnahmeprüfung an der Musik- Die gegenwärtig 15- bis 25jährigen gehö- klappt, betreibt sie ihr Studium mit großer hochschule im Fach Violine vor.Auch Sven ren zur ersten Generation in der Bundes-

96 der spiegel 28/1999 republik, die ohne Revolte, ja ohne irgend- Ein ganz neuer Zug der Aber auch im Osten sind einen deutlich artikulierten Widerspruch Zeit. Sogar die als unpoli- die Rechten in der Minder- gegen die Älteren, zumal die leiblichen El- tisch gescholtenen 89er heit – die anderen suchen tern, aufzuwachsen scheint. 95 Prozent ha- konnten mit einem pro- sich, wie die Gleichaltrigen ben Vertrauen zu ihren Eltern, 63 Prozent nonciert postideologischen im Westen, ihren privaten beschreiben ihre Erziehung als „liebevoll“. Pragmatismus, mit Yuppie- Pfad durch den Dschungel „Meine Mutter ist wie eine gute Freundin“, Gehabe und geckenhaftem des Hier und Jetzt. Lauter sagt etwa die 16jährige Schülerin Lea Rö- Börsen-Outfit ihre oft sozi- versprengte Individuen, so mer, „wir gehen sogar gemeinsam auf Par- al und politisch engagierten berichten professionelle Ju- tys.“ Ihre Cousine Levke, 18, pflichtet bei: Eltern verstören. gendkundler, erforschten „Wir haben unseren Eltern nichts vorzu- Nun aber scheint jede da im selbstgewählten Al- werfen, wir profitieren von ihrer Toleranz.“ Möglichkeit verschwunden, leingang ihren Weg zum sich politisch, kulturell und Lebensglück – ohne Leit-

ästhetisch von den Alten K. RUGE Mehrfach- abzusetzen – von einem „E-Mails schreiben ist nennungen Programm einer radikal an- für mich persönlicher als telefonieren“ möglich deren Zukunft, einst Uto- Torsten Kottmann, 25, Web-Designer Freunde treffen 85 pie genannt, dem „Noch- nicht“-Universum des Philosophen Ernst vokabeln, Großtheorien oder quasireligiö- Sport 46 Bloch, ganz zu schweigen. se Heilsversprechen. Nicht einmal die all- in die Disco gehen 33 Passend zum Millennium-Wechsel re- gemeine Idee vom Fortschritt der Mensch- präsentiert die Generation der 99er die heit tauge den Millenniumskindern zur Musik hören 33 Summe der Hoffnungen und Enttäuschun- Orientierung – allzu offensichtlich sind die ins Kino gehen 30 gen des 20. Jahrhunderts: eine Mischung Zerstörungskräfte, die der ungestüme Fort- aus Desillusionierung und neuer Lust auf schrittsgeist und die ökonomische Dyna- Computer/Internet 24 Wirklichkeit. mik der Globalisierung entfesselt haben. shoppen 21 Bei der Abschiedssitzung des Deutschen Die Mitglieder einer Hamburger Clique Bundestages in Bonn am 1. Juli trat die um Felix, Thorsten, Sana, Gregor, Frederic fernsehen 13 neue Situation zutage: Junge grüne Abge- und Sarah sind zwischen 20 und 22, haben ordnete applaudierten dem christdemo- fast alle das Abitur hinter sich. Ihre Be- kratischen Altkanzler Kohl. Milde blicken rufswünsche halten sich im sozialen Mit- die Nachkommen auf die Vergangenheit, telfeld: Computerfilmer, Kunsterzieherin, frühweise auf die Gegenwart. „Die BRD“, Handelskaufmann. mehrere Stunden pro Tag 19 findet der Hamburger Gymnasiast Thor- Es sind weder Porsche-Miezen noch etwa eine Stunde pro Tag 16 sten, „ist ein guter Staat, dessen sind wir Frühkarrieristen unter ihnen, und aus all uns bewußt. Unsere Kritik ist nur Feil- dem, was sie über sich und die Welt zu sa- mehrere Stunden pro Woche 25 arbeit.“ gen haben, wird schnell klar: Die 99er kön- weniger 21 Es scheint, als manifestiere sich hier der nen mit der Begriffskeule „Generation“ diffuse Konsens über die demokratische nicht viel anfangen. Aber als Kinder der gar keine 19 Gesellschaft der Bundesrepublik, deren Mediengesellschaft wissen sie, daß Werbe- wesentliche Botschaft die ihrer eigenen – fuzzis, die Dauerjugendlichen von ’68 und erfolgreichen – Kontinuität ist. die Berufsoptimisten des modernen Kapi- Im Osten allerdings sind nicht alle so talismus den Generations-Blues gerne sanft gestimmt. In der gesamtdeutschen Ju- hören. Warum, höflich wie sie sind, sollen sehr wichtig 5 gend, der ersten Generation, die mit der sie nicht mitsummen, wenn die Musik von eher wichtig 28 Wiedervereinigung und ohne Mauer auf- damals aufgelegt wird? gewachsen ist, bilden die jungen Rechten Verachtung wäre es nicht, was den Insi- eher unwichtig 50 den Sonderfall. Sie rebellieren gegen den gnien vergangenen Jungseins entgegen- völlig unwichtig 17 verordneten Antifaschismus ihrer Eltern schlägt, eher würden die Jungs und mit Fremdenfeindlichkeit und Gewalt: Mädchen lächeln, freundlich, nicht indi- Glatzen, Springerstiefel und die Reichs- gniert, so wie man gerührt gestimmt wird, Mehrfach- kriegsflagge gehören für sie zur stolzen wenn im Museum Kostbarkeiten präsen- nennungen Alltagsdemonstration ihrer Gesinnung – tiert werden. Die sind schön und zugleich möglich nicht mehr bloß versteckt und in dunklen weit, weit weg vom eigenen Leben. Umweltgruppen Spelunken, sondern im Jugendzentrum Mit dem Ende der Ideologien ist den wie Greenpeace 40 und auf der Straße. jungen Menschen eine zentrale Perspekti- Sportler wie Steffi Graf oder Es fehlt nicht an Ursachenerklärungen ve abhanden gekommen, der Feldherrn- Michael Schumacher 36 für den Rechtsextremismus und die seltsam hügel, von dem aus sich forsch auf die Welt Religiöse Oberhäupter aggressive Angst vor Fremden: Christian herabblicken ließ. Der moderne Diskus- wie der Dalai Lama 14 Pfeiffer, westdeutscher Kriminologe, macht sionsstil der Medien läßt Gurus, philoso- unter anderem die frühe Sauberkeitsdres- phischen Supervisoren, Sturm-und-Drang- Schauspieler wie Leonardo sur in den sozialistischen Kinderkrippen Irrationalisten – überhaupt dem klassi- DiCaprio oder Cameron Diaz 13 für die Haßlust auf ausländische Sünden- schen Schwarmgeist – keine Chance. Politiker wie Joschka Fischer 12 böcke verantwortlich – eine Kompensation Die Medienwelt hat ihre jungen Mit- des in der Kindheit verlorenen Selbst- glieder vollständig durchdrungen. Ob es Popstars wie die Backstreet Boys oder Alanis Morissette 10 wertgefühls. Manche Forscher sehen eine um das Kosovo, die Ethik, die Liebe oder andere Ursache: Rechtsradikalismus sei das eigene Selbst geht, immer läuft eine Models wie Kate Moss 7 schlicht die Reaktion auf die hohe Ar- reflektierende Parallelspur mit: Jungsein beitslosenrate. heißt auch, mit all den Berichten über das

der spiegel 28/1999 97 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Titel Weltmusik für Weltbürger Deutschrapper wie Freundeskreis sprechen den 99ern aus dem Herzen.

aximilian Herre ist schon zusammenverdienen – und an- viel in der Welt herumge- schließend im Kinderzimmer den Mreist, wie die meisten sei- Freunden von den eigenen Sorgen ner Generation. Mit 26 Jahren hat und Ängsten vorrappen. Der er halb Europa gesehen, war in Freundeskreis-Rapper Herre be- den Vereinigten Staaten und in kommt immer wieder Demo-Kas- Ghana. Seine besten Freunde sind setten von 13jährigen.Ähnlich wie Franzosen, Amerikaner und Afri- beim Sport geht es im HipHop seit kaner. Er spricht passabel Eng- jeher um das Kräftemessen mit lisch, und die Musik, die er hört, Gleichaltrigen – wenngleich in kommt aus aller Welt. Versform. Wenn der Globetrotter Herre Sogenannte Battle-Reime rappt, hört sich das so an: „Wir schreibt auch Herre, aber vor al- bringen euch HipHop-Sound, in lem hat er sich als Politrapper pro- dem die Welt sich spiegelt, das ist filiert. Das spricht die Zielgruppe für die Heads, die Raps aus 0711 der 68er-Kinder an: Herre kennt lieben.“ Oder: „Es gibt nichts, was sich mit Fidel Castro und Ché uns zügeln kann, nichts, was uns Guevara aus, schreibt über den hält, wir spreaden’s über Stuttgarts Black-Panther-Aktivisten Mumia Hügel in die Welt.“ Abu-Jamal, der in den USA in der Ein „Konzeptalbum“ nennt Todeszelle sitzt, warnt vor dem Herre, Rapper und Texter der nächsten Jahrtausend, in dem Stuttgarter Formation Freundes- „drei von vier am Existenzmini- kreis, die zweite, kürzlich erschie- mum“ leben werden, und beklagt, nene CD der Gruppe. Der Titel „kein Mensch ist mehr wert als „Esperanto“ weist darauf hin, daß sein Mehrwert“. Damit ist der HipHop überall auf der Erde ver- Stuttgarter zur Identifikationsfi-

standen wird: Weltmusik für Welt- / ZEITENSPIEGEL BARTH T. gur der Generation geworden, die bürger. Und als Weltbürger ver- Freundeskreis-Rapper Herre: Vertonte Politik die Zeit der Hausbesetzungen, stehen sich auch die meisten deut- Großdemonstrationen gegen die schen HipHop-Fans, die mit amerika- sein, global zu denken und zu hören Nachrüstung und gegen Atomindustrie nischen Seifenopern, Pasta, Sushi, Ska- und sich doch lokal verwurzelt zu oft nur aus den Erzählungen ihrer El- teboards, MTV und Internet aufge- fühlen. tern kennt. wachsen sind. Die Communities definieren sich Dabei versteht auch Herre HipHop Als „CNN der Schwarzen“ hat über einen gemeinsamen HipHop-Dia- in erster Linie als großen Spaß. Ein gu- Chuck D von der legendären US-Grup- lekt der Reime, über Kleidung und ihre ter Rhythmus und geschickt eingesetz- pe Public Enemy vor Jahren den Rap Haltung zur Welt: Die Frankfurter Rap- te Samples sind mindestens ebenso bezeichnet. Auch in Deutschland ist per lassen sich im Anzug fotografieren, wichtig wie prägnante Reime. HipHop ein Nachrichtenkanal, über tragen teure Uhren und fahren Autos Mittlerweile sind die Platten der den Botschaften versandt und Riva- der Oberklasse. Die Hamburger Rapper heimischen Rapper in den deutschen litäten ausgetragen werden – zwischen sind in Baggy-Hose und T-Shirt unter- Hitparaden erfolgreicher als die der einzelnen Gruppen, aber auch zwi- wegs. Die Stuttgarter laufen in Hosen US-Vorbilder. Wie lange das so blei- schen Städten. In Frankfurt etwa re- von Szene-Designern herum, die außer ben wird, hängt vor allem vom Musi- gieren die aggressiven und geschäfts- ihnen keiner kennt. kinteresse der nachwachsenden Tee- tüchtigen Rödelheim Hartreimer und Seit die Fantastischen Vier 1992 mit nies ab. ihre Freunde, in Hamburg haben „Die da“ einen Hit hatten, ist Deutsch Herre berichtet einigermaßen ver- sich Fettes Brot und Fünf Sterne De- als Rap-Sprache etabliert, und wer stört von den Resultaten einer Umfra- luxe aufs Blödeln und Kalauern ver- jünger als 20 Jahre ist, kann sich ge, in der 12- bis 16jährige nach ihrem legt. Im Südwesten wird Politik ver- kaum noch erinnern, daß es jemals Wunschzettel befragt wurden: An er- tont. anders war. HipHop ist heute für je- ster Stelle rangierte das Handy, auf dem In einer vielfach zersplitterten Ge- den zugänglich; längst ist die elektri- zweiten Platz die Playstation.Viele die- sellschaft bieten solche HipHop-„Fami- sche Gitarre durch den Sampler ersetzt, ser Kinder kauften sich keine Musik lies“, -„Communities“ oder -„Posses“ das ist im Computer-Zeitalter zeit- mehr, hat er beobachtet, die Sound- eine neue Heimat – für die Rapper wie gemäßer. tracks der Computerspiele reichen ih- für ihre Fans. HipHop ist viel mehr als Die technische Grundausstattung für nen vollkommen aus. Musik: Er repräsentiert Lebensgefühl die eigene HipHop-Produktion kann „Diese Generation“, gesteht der Rap- und Haltung – cool, lässig, reich und sich jeder Schüler zu Weihnachten Star aus Stuttgart, „verstehe ich nicht überlegen oder links und engagiert zu wünschen oder in den Sommerferien mehr.“ Marianne Wellershoff

100 der spiegel 28/1999 Mehrfach- nennungen möglich Mehrfach- Eltern 95 Familie 62 nennungen liebevoll 63 ja 47 möglich Freunde 91 Freundschaft 51 liberal 24 nein, bin Single 53 Geschwister 83 Gesundheit 46 Spaß 19 streng 9 Ärzte 72 Liebe 44 Geld 13 nachlässig 3

Lehrer 49 Karriere 21 Freizeit 12 gar nicht 1 Emnid-Umfrage für den SPIEGEL; rund 1000 Befragte; 6. bis 8. Juli; Politiker 12 Gerechtigkeit 20 Sex 6 an 100 fehlende Prozent: keine Angabe

Jungsein umzugehen, mit Jugendkult und schen lässig die Instrumente der Selbstin- hält, mal eben ein bißchen zu vögeln und Hipness-Chichi. szenierung zwischen Uni, Bar und Disco, nebenbei erwachsen zu werden.“ So sind die Gespräche der Jugendlichen ohne den programmatischen Narzißmus Erzählte ein Kultbuch der 78er schon im auf frappierende Weise von der Anstren- der achtziger Jahre einfach zu kopieren. Titel von der„Nutzlosigkeit, erwachsen zu gung geprägt, medial à jour zu sein. Wenn Sie sind drogenerfahren, ohne die Gefah- werden“, so fügen sich die Jungen von heu- der Satz des Soziologen Niklas Luhmann ren des Sich-Wegbeamens und des Ab- te anscheinend seufzend ergeben ins – „Was wir über die Welt wissen, wissen sturzes in die Sucht zu verkennen. Frei- Schicksal des Älterwerdens. Die über wir durch die Massenmedien“ – überhaupt willige Selbstkontrolle auf der Jagd nach 40jährigen konnten ein Jahrzehnt lang im eine Berechtigung hat, dann für die 99er. anarchistischen Kollektiv ihrer selbstbe- Der Staub medialer Altklugheit erstickt die stimmten Egowerkstatt um persönliche Be- Begeisterung. Im medialen Bombardement troffenheit und politische Identität ringen, der Fakten zerplatzen Utopien, und das bevor sie Staatssekretäre wurden. Dage- Herz vermag sich nicht zu ergießen, wo gen gilt für die heute 20jährigen: Sie sind die plappernden Herzblätter der Flimmer- bereit, sich wie Erwachsene zu verhalten, kiste flattern. lange bevor sie tatsächlich erwachsen sind. Die auffallendsten Merkmale dieser un- Viele der 99er hantieren souverän mit auffälligen Generation bündeln sich daher den Insignien der neuen Epoche, kommu- in einem aufgeklärten Realismus, der aus nizieren per iMac, Handy und Pager, oft der Not der Tabula rasa von Arbeitsmarkt noch bevor sie der erste Zungenkuß ereilt.

und Zeitgeist die „Tugend der Orientie- M. WITT Die Medienkinder der rungslosigkeit“ macht, so der Titel eines „Wir profitieren von der Toleranz unserer Jahrtausendwende haben Buches von Johannes Goebel und Chri- Eltern“ die Welt verstanden, so wie stoph Clermont über die neuen „Le- Levke Marie Petersen, 18, und Lea Römer, 16, Schülerinnen sie die Medien darstellen. bensästheten“. Die „mißratenen Kinder Die Rezeption der Nach- von ’68“ versuchten, so behaupten die Au- einem „Leben minus Langeweile“, wie der richtenströme bestimmt ihre Weltsicht und toren, aus ihrer Puzzle-Biographie zwi- Hamburger Freizeitforscher Horst Opa- drängt ihre Gefühle in die Ghettos der schen Billig-Jobs und Teilzeit-Kreativität schowski in seiner Studie ’99 den Un- Sprachlosigkeit. Engagement und Begei- ein „Gesamtkunstwerk“ zu formen. Dabei schuldsstand der Jugend branchenüblich sterung bleiben häufig auf der Strecke. Die bestimmen jene stets offiziell gepredigten flott resümierte. Verbindung von Herz und Verstand ist zer- Tugenden des „Rucks“, der durch Deutsch- Was cool erscheinen soll, ist schwere Ar- schnitten. Die jungen Pragmatiker finden land gehen soll – Flexibilität und Mobilität beit: Mit den Worten des erfolgreichen sich damit ab. –, schon längst ihren Alltag. Jeder von ih- 17jährigen Roman-Debütanten Benjamin Sex, dem Klischee nach Naturdroge nen, so schreibt die Frauenzeitschrift „Bri- Lebert („Crazy“) klingt das so: „Anstatt der 68er-Generation, hat sich derweil zur gitte“ ganz unironisch, bilde „seine eigene zu schlafen“, gelte es, „eine Feuerleiter Rundum-Dauer-Sexualisierung der Öf- Ich-AG“. hinaufzuklettern, zu saufen, was das Zeug fentlichkeit gewandelt: Ob Rahmspinat à Die vorgeblich „angepaßte Generation“, über die altge- wordene 68er gerne schimp- fen, erscheint so als trübe Pro- jektion; fest steht allein, daß die 99er eher pragmatisch leben als im träumerisch- romantischen Überschwang. Gern wohnen sie länger als nötig im „Hotel Mama“ mit Vollpension und Wäscheser- vice. „Family values“, das er- kannte schon der Grünen- Jungspund Matthias Bernin- ger, 28, sind im Kommen. Dabei kommen sie ohne Mami und Papi durchaus zu- recht: Die Youngster beherr-

Neo-Nazis in Magdeburg (1999)

Haßlust auf Sündenböcke VERSION Titel „Jauchzen der Zukunft“ Die Jugendbewegung um 1900 war radikaler als alle späteren. ugend: siehe Alter“, hieß es noch sierten*.Verblüffend oft unterscheiden men der Sonne zukehrt – so sollte der 1896 in „Meyers Konversationsle- sie sich nur im Namen von den Zielen Mensch aus dem Staub der Städte auf- Jxikon“. Die wilhelminischen Enzy- und Projekten heutiger Modernisie- erstehen. klopädie-Macher hätten kaum falscher rer. Sogar das jüngst von Tony Blair Doch Total-Aussteiger, die in Sack- liegen können. Um sie herum war eine und Gerhard Schröder neu belebte kleidern oder ganz hüllenlos das neue Jugend- und Erneuerungsbewegung in Stichwort eines „Dritten Wegs“ zwi- Leben probten – etwa in der Kolonie Gang gekommen, deren Vielfalt heute schen Kapitalismus und Sozialismus am „Monte Verità“ bei Ascona –, blie- nur noch ein paar war schon um 1900 im ben vereinzelt. Die meisten sehnten Historiker kennen. Schwange. sich nach erfülltem Gemeinschaftsle- Abgestoßen vom Allerdings glühten die ben. Landkommunen und Genossen- Drill der Industrie Zukunftsbilder damals schaften, Pfadfinder und Jugendbünde und dem fetten von visionärem Pathos. suchten Lebenssinn, wie ihn der regle- Optimismus der Die Neuerer planten nicht mentierte Staatsapparat des Kaiser- Gründerjahre, ka- bloß Bodenreform, „Gar- reichs nicht bieten konnte. men etwa im „Wart- tenstädte“, natürliche Anfangs war noch manch ergrauter burg-Bund“, einem „Brotbereitung“, Lander- Parteigänger der Revolution von 1848 „Bund für volle ziehungsheime, ja sogar dabeigewesen, der sich nun wieder ein Menschlichkeit“ und „Freigeld“ als Alternativ- nationales Erwachen, eine echte Volks- vielen anderen Ver- Währung. Die gesamte gemeinschaft erhoffte.Aber auch „Ras- bänden Menschen Kultur sollte von Plüsch sehygiene“,Arbeitslager und Ideen zur zusammen, die neue und Plunder gründlich be- Menschenzüchtung gab es unter den Maßstäbe anstreb- freit werden. Jugendbewegten vor und nach dem Er- ten. Vom Arbeiter- Wer Natur, Landschaft sten Weltkrieg. Selten ahnte einer, wel- Wanderverein „Die und Tiere schützen wolle, chen kommenden Greueln er da vor- Naturfreunde“ bis müsse bei sich selbst an- arbeitete. zur „Freiland“-Be- fangen, predigten Volkser- „Die Freideutsche Jugend will aus wegung, von Mist- zieher. Zum Aufbruch ge- eigener Bestimmung, vor eigener Ver- aposteln bis zu Ve- hörten Reformkleidung antwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit getariergruppen, an und Ausdruckstanz, Wan- ihr Leben gestalten. Für diese innere allen Ecken der Ge- dervogel-Lieder, aber auch Freiheit tritt sie unter allen Umständen sellschaft regte sich eine Zeitschrift mit dem geschlossen ein. Zur gegenseitigen Ver- vor 100 Jahren Auf- programmatischen Titel ständigung werden Freideutsche Ju- bruchsstimmung. „Kind und Kunst“. Die gendtage abgehalten. Alle gemeinsa- Angefangen hatte Wege in eine Zukunft in- men Veranstaltungen der Freideutschen es mit Einzelaktio- nerer und äußerer Rein- Jugend sind alkohol- und nikotinfrei“, nen. Seit langem heit schienen offen: In sei- erklärte Gustav Wyneken, charismati- wetterten zum Bei- nem Sachbuch „Das Lie- scher Erzieher und Leiter der „Freien spiel Abstinenzler besleben in der Natur“ Schulgemeinde Wickersdorf“, 1913 gegen die volkswirt- wollte der Volksaufklärer beim ersten „Freideutschen Jugendtag“ schaftlichen Schäden Wilhelm Bölsche die Se- auf dem Hohen Meißner. des Alkohols. In xualmoral durch den Blick In der Festschrift zu diesem legen- Bad Wörishofen, wo auf Blumen und Bienen dären Treffen schrieb der Kulturphilo-

Pfarrer Kneipps Was- AJL entkrampfen. Sein Werk soph Ludwig Klages: „Wo aber der serkuren praktiziert Sonnen-Verehrerin (um 1925) wurde zum Bestseller. Fortschrittsmensch die Herrschaft an- wurden, waren San- Frei von Plüsch und Plunder Ganz Konsequente zog trat, hat er ringsum Mord gesät und dalen zur Fußbefrei- es ohnehin auf allen Ge- Grauen des Todes.“ Natürlich meinte ung gang und gäbe. Auch der Kampf bieten möglichst weit zurück zur Natur. Klages den falschen Fortschritt, Ma- der Frauenvereine gegen das Korsett „Nackende Menschen, Jauchzen der schinen und Massenwahn. Daß der an- hatte Tradition. Doch kurz vor der Zukunft“ hieß es dann, und das „Licht- dere, neue, scheinbar ins Paradies von Jahrhundertwende wuchsen die vielen gebet“ des Grafikers Fidus, der viele Jugend und Reinheit führende Fort- zaghaften Reformansätze plötzlich Schriften der Jugendbewegung illu- schritt ebenso irregeleitet werden zum Gemeinschaftsgefühl zusammen, strierte, feierte die Ideologie des Natür- könnte, war damals keinem bewußt. die Generation der um 1880 Gebore- lichen als Ikone: Ein nackter junger Denn noch trübte kein Zweifel die nen wurde zur Trägerin der Jugendbe- Mann, der sich mit ausgebreiteten Ar- utopistische Energie der Reformer. 1970 wegung. schrieb ein Heimatpfleger wehmütig: In einem Handbuch hat kürzlich * Diethart Kerbs, Jürgen Reulecke (Hrsg.): „Hand- „Dem Naturschutz fehlt die rebellie- buch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933“. ein Historikerteam zusammengestellt, Peter Hammer Verlag, Wuppertal; 624 Seiten; rende Jugend.“ Um 1900 hätte er es welche Lebensentwürfe damals kur- 88 Mark. leichter gehabt. Johannes Saltzwedel

102 der spiegel 28/1999 la Verona Feldbusch, Unterwäsche oder tion das vergängliche Privileg straffer Haut In die Übermacht des Zeitenflusses hat tolle Heizdecken – Sex sells. Sex ist allge- so selbstverständlich genutzt wie diese. sich auch die Religion zu fügen. Wenn genwärtig, im Fernsehen, im Kino und an Doch ihre ästhetischen Inszenierungen nicht, so meinen sie, kann man sie verges- den Plakatwänden, in Zeitschriften wie im bleiben an der Oberfläche, grelle Spiele- sen. Die Jugend will sich selbst eine Reli- Internet. Kaum ein Tele-Sternchen aus reien, der Jugendstil-Mode des letzten Fin gion schaffen. Möglichst eine, die nicht „Verbotene Liebe“ oder „Marienhof“, das de siècle ähnlich (siehe Seite 102). Anders stört, sondern tröstet. sich nicht schon mit Anfang 20 für „Max“ als das wogende Dekolleté, der klassische Denn im Seelenkeller lauert eine Furcht, oder den „Playboy“ frei gemacht hat – Überbringer sexueller Nachrichten, reizt die man nicht vermutet, wenn man den absolut „künstlerisch und geschmackvoll“, das bauchfreie Top die Sinne und dämpft plaudernden Kids zuhört: die Angst vor na klar. zugleich die sehnende Erwartung. Eine Einsamkeit. „Das kann jedem passieren, Gleichzeitig nimmt die Häufigkeit der kühle, fast androgyne Ero- daß man sich ganz in sich tatsächlich praktizierten zwischenge- tik sorgt für Triebaufschub. zurückzieht“, sagt der schlechtlichen Bemühungen im Bett an- Knallenge Jeans sind out. Hamburger Zivildienstlei- geblich ab. Viele neuere, methodisch Statt dessen trägt man stende Felix, 22. Nachfra- seriöse Studien in den westlichen Indu- „Cargo Pants“, luftig gen stoßen ins Leere, die striegesellschaften, so der Sexualforscher schlabbernde Beinkleider Wortmächtigkeit erlahmt, Gunter Schmidt, zeigten „verblüffend ein- mit zahllosen aufgenähten Indiz, daß da ein Dämon hellig ein eher karges Sexualleben“ der Taschen. Dieses textile Un- haust. nachwachsenden Generation. derstatement wird kontra- Die Jugendlichen reagie- Patrick Walder, Mit-Herausgeber des stiert mit partiell verschärf- ren darauf im Stil der Ich- Sammelbandes „Techno“, formulierte die ter Körperbetonung: Ober- AG: „Wir haben das Geld, Diskrepanz zwischen Ästhetik und Sex: teile, so eng, als seien sie wir haben den Freiraum, Einerseits werde das Outfit immer aufrei- eingelaufen. Gewünschter wir sind egoistisch“, erklärt zender, andererseits würden die optischen Effekt: Freie Sicht auf den die 20jährige Nana trotzig. Versprechen nicht eingelöst – so als erset- gepiercten Nabel. Das Un- Altruismus und Engage- ze das Vorzeigen der körperlichen Waffen / OSTKREUZ SCHLÖSSER J. FOTOS: ment schweben nicht als die erotische Schlacht selbst. Der Sexual- „Musikalisch sind die Leute um die 20 nicht frei flottierende Moralkeu- wissenschaftler Martin Dannecker will in mehr festgelegt“ len über den Jungen. „Uns diesem Phänomen eine Art neue Lustlo- Sven Haeusler, 30, Musikproduzent verbindet nichts“, stellt sigkeit erkannt haben – mitten in einem Felix fest. „Meer von Sex“. perfekte, so die Chiffre, soll die athletische Ein anderer fragt: „Wozu soll ich den „The Body is the Message“ variiert die Perfektion enthüllen: schmale Hüfte, straf- Castor stoppen, wenn ich Atommüll da- Hamburger Soziologin Gabriele Klein die fer Bauch, trainierter Oberkörper. Überle- durch nicht aus der Welt schaffen kann?“ berühmte Medienthese von Marshall ben ist alles. Die mediale Abgeklärtheit kann das McLuhan in ihrem Buch „Electronic Vi- Nur in der Musik, im Hämmern der persönliche Engagement bremsen – wenn- bration“ über die Rave- und Clubkultur. Beats, im HipHop, in der Schlager-Nostal- gleich 95 Prozent der Meinung sind, es Sie unterscheidet 68er, 78er und 89er an gie, wo unter der schützenden Tarnkappe lohne sich, gegen Umweltzerstörung der Art und Weise, wie sie mit dem Körper der Ironie Sentimentalität genossen wird, zu kämpfen, und immerhin 40 Prozent umgehen. Was für die einstigen Rebellen da hat die Generation der Jahrtausend- Gruppen wie Greenpeace zum Idol ver- der „politische Körper“ war, die Verbin- wende ihr weiches Herz. klären. dung von Sex und Befreiung, das war für Wenn die Jungen zu einer traditionellen Die Welt wird nicht mehr kritisiert, um die 78er der Diskurs über den „Naturkör- Lebensweisheit wirklich Vertrauen haben, sie zu verändern, sondern zum vielfältigen per“, das Sehnen nach einer vermeintlich dann ist es das Gesetz der Entwicklung: Al- Spielmaterial genommen, um von ihm pro- authentischen, „wahren“ Natur. Die 89er les hat seine Zeit, alles geht wieder vorbei. fitieren zu können, so gut es eben geht. hingegen fahndeten rastlos nach dem Das Vorbild: Joschka Fischer. Der hat die Im Namen welcher Idee sollten die Mil- „Kunstkörper“, einem artifiziellen Objekt, Turnschuhe weggestellt und ist rechtzeitig lennium-Kids auch rebellieren, wenn an- das es erst zu formen galt. in den Anzug geschlüpft. Den Widerstand gesichts der Übermacht einer hochfrag- Und die 99er? gegen die Zeit mögen die Jungen nicht. mentierten Mediengesellschaft oft Rück- Gewiß, ihre Bauchnabelfreiheit kennt Anachronismus erscheint ihnen eine größe- zug als einzige Antwort übrigbleibt? Der keine Grenzen. Kaum je hat eine Genera- re Sünde als Gesinnungsverrat. ominöse (und einigende) Zeitgeist, der über Jahrzehnte hinweg die Tanzende Jugendliche bei der Love Parade 1997: Was cool erscheinen soll, ist schwere Arbeit intellektuellen Debatten, das Kabarett, Zeitgeist-Magazine, Soziologie-Seminare und die Veranstalter von Symposien be- schäftigte, ist längst verweht. Und die große Liebe? „Es muß sie geben“, lautet das Cre- do der 99er. Treue wird als ho- her Wert gehandelt. „Untreue ist uncool“, sagt Felix. Wie fast alle seine Freunde will er später heiraten.Allerdings gelte in der Liebe auch: „Was passiert, pas- siert.“ Die Macht des Fakti- schen ist den Millenniumskin- dern oberstes Gesetz. Susanne Beyer, Nikolaus von Festenberg, Reinhard Mohr

103 Titel „Wir sind alle Konsumäffchen“ Die Schauspielerin Heike Makatsch, 27, und die Schülerinnen Rixa Kroehl, 16, und Anna Rupp, 18, über Karriere, Zukunftssorgen, Girlies und Designer-Hemden

SPIEGEL: Frau Kroehl, Frau Rupp, vor fünf Rupp: Ich war nie Girlie, wollte es nie sein, Jahren hat Frau Makatsch im SPIEGEL-In- aber ich kenne 13jährige Mädchen, die sich terview zum Girlie-Phänomen behauptet, so kleiden und sich dabei süß vorkommen. Mädchen zu sein berechtige dazu, keine SPIEGEL: Girlies sind Teil der Generation, Autoreifen wechseln zu müssen, zu spät zu die mit der Love Parade groß geworden ist kommen und eine Art Pippi Langstrumpf und die auch als Spaßgeneration bezeich- zu sein. Gilt das auch für Ihre Generation? net wird. Fühlen Sie sich da zugehörig? Rupp: Das klingt, als müsse man schlampig, Kroehl: Nein. Ich hoffe, der häßlich und gemein zu Jungen sein, um Spaß kommt noch. Neulich „Ich habe nicht den Eindruck, daß die Jugend seinen Spaß zu haben. Ich muß nicht täg- war eine Journalistin zu Be- sich gegen das System auflehnt“ lich eine Rebellion anzetteln. such in unserer Schulklas- Heike Makatsch Kroehl: Man muß provozieren, um Leute se, und sie war ganz ent- zum Nachdenken zu bringen. setzt, wie ernst wir alle waren. Wir wollten Makatsch: Als ich 14 Jahre alt war, gab es Makatsch: Die Rotzigkeit war eine Vertei- mit ihr nur über politische, soziale und öko- Demonstrationen gegen Wackersdorf. 1981 digung gegen Vorschriften, wann man wel- logische Probleme diskutieren. habe ich in Bonn gegen die Nachrüstung che Entwicklungsstufe durchmachen muß. Makatsch: Ich habe nicht gerade den Ein- demonstriert. Damals war für mich die Mich hat die Frage, was ein Mädchen und druck, daß die Jugend sich formiert und Friedenstaube ein wichtiges Symbol, und was eine Frau ist, seit dem Gespräch ver- gegen das System auflehnt. die Devise hieß „Jute statt Plastik“. folgt. Was von beiden bin ich? Die Ant- Rupp: Das sehe ich auch so. Vor 20, 30 Jah- Kroehl: Ich bin nicht der Typ, der Joghurt- wort kenne ich bis heute nicht. ren waren Jugendliche viel politischer. becher spült und zur Recyclingtonne trägt. SPIEGEL: Würden sich die beiden Jüngeren Heute kommt es den meisten nur darauf Rupp: Wir trennen zu Hause den Müll. als Girlies bezeichnen? an, den eigenen Vorteil zu suchen und die Makatsch: Ich lebe jetzt in England, wo die Kroehl: Darüber habe ich mir noch nie Ge- Lebenspläne zu verwirklichen. Leute Glasflaschen in den Mülleimer danken gemacht. Und wenn ich überlege, Makatsch: Es gibt einen großen Individua- schmeißen. Ich kann das nicht, da ist bei daß wir auf das Jahr 2000 zugehen, daß lismus.Wer überleben will, muß eine Nische mir eine Sperre eingebaut. uns die Verdopplung der Weltbevölkerung finden. Sich mit anderen zusammenzu- SPIEGEL: Welchen gemeinsamen Nenner se- droht, oder wenn ich an ökologische Pro- schließen hindert nur am Vorwärtskommen. hen Sie, wenn Sie Gleichaltrige betrachten? bleme denke, dann kommt mir die Frage, SPIEGEL: War das in Ihrer Generation an- Rupp: Die Individualisierung. ob ich ein Girlie bin, sehr unwichtig vor. ders? Kroehl: Fitness. Müsliriegel, Vollwertessen und Kombucha. Die Ansicht, daß die mei- sten Politiker nur Idioten sind. Rupp: Politik interessiert schon einige: Man geht wählen, liest die Tageszeitung und dis- kutiert. Wenn einem die Regierungspoli- tik nicht paßt, dann wählt man das nächste Mal eine andere Partei. Kroehl: Ich habe im Sozialkunde-Unter- richt, mit meinen Eltern und mit Freunden viel über den Kosovo-Konflikt geredet. Jetzt ist in Frankfurt die Flughafenerweite- rung nach Neu-Isenburg ein großes Thema. SPIEGEL: Haben Sie sich gegen das Projekt engagiert? Kroehl: Nein, ich wohne nicht in Neu-Isen- burg und bin deshalb wenig betroffen. SPIEGEL: Die wenigsten Demonstranten ha- ben damals in Gorleben gewohnt. Kroehl: Ja, stimmt schon. SPIEGEL: In den vergangenen acht Jahren war fast durchgehend Krieg in Jugoslawien. A. SMAILOVIC Gesprächspartner Makatsch, Kroehl, Rupp, SPIEGEL-Redakteurin (l.)*: Familie ist okay * Marianne Wellershoff.

104 der spiegel 28/1999 Land man gegen wen die Eier schmeißen soll, und bleibt gleich zu Hause. Kroehl: Die Kluft zwischen Arm und Reich wird weiter wachsen. SPIEGEL: Haben Sie ein Feindbild? Kroehl: Feindbild hört sich so brutal sein. Milo∆eviƒ vielleicht. SPIEGEL: Mit Deutschland sind Sie also zu- frieden? Kroehl: Deutschland? Niemand denkt mehr an Deutschland. Jeder spricht heute von der Europäischen Union. Rupp: Wir verstehen uns als Europäer. Je- der will mal für einige Zeit im europäi- schen Ausland leben. Ich auch. Makatsch: Ich habe mich nie mit Deutsch- land identifiziert, aber es war der Boden, von dem aus ich über die Welt nachgedacht habe. SPIEGEL: Welche Vorstellungen haben Sie von Ihrer beruflichen Zukunft? Kroehl: Ich möchte Betriebswirtschaftsleh- re studieren oder internationales Marke- ting, vielleicht an einer europäischen Uni-

R. BERMES / LAIF versität. Mit 27, 28 Jahren hätte ich gerne meinen Doktor. Und dann in den Job. Ich kann mir gut vorstellen, mit Anfang 30 Kin- der zu haben. Kinder sind heute kein Hin- Fühlten Sie sich davon bedroht, oder war Makatsch: Man kann die Frage nach der dernis mehr. Man hat seinen Computer, der Konflikt für Sie weit weg? Zukunft auch globalpolitisch verstehen: Internet, E-Mail und nebenbei das Kind. Makatsch: Ich kann mich damit beschäfti- Wenn man in die Länder guckt, auf deren Rupp: Ich habe mich beruflich noch nicht so gen, ob es richtig ist, daß Deutschland wie- Rücken Deutschland seinen Reichtum auf- ganz entschieden, weil ich Angst habe, daß der eine kriegführende Nation ist, ich kann baut, dann bin ich nicht besonders optimi- die Arbeit hinterher nicht ganz so sein das verurteilen und sagen, ich habe bei der stisch. Sobald man aber erkannt hat, daß wird, wie ich sie mir vorgestellt habe. Im Bundestagswahl etwas anderes gewählt, die wichtigen politischen Entscheidungen Moment ist meine Idee, nach dem Abitur aber gleichzeitig fühle ich mich ohnmächtig. von globalen Unternehmen getroffen wer- ein Jahr nach Afrika zu gehen, dann möch- Rupp: Genau. In den siebziger Jahren hat den, weiß man nicht mehr, in welchem te ich Philosophie und Germanistik stu- man sich ein Protestschild gemalt und ist dieren. Ich möchte auch auf die Straße gegangen, heute diskutiert eine Familie haben. man daheim und kommt zu dem Schluß, SPIEGEL: Glauben Sie, daß die daß man nichts machen kann. Karrierechancen für Frauen SPIEGEL: Und was ist besser? und Männer gleich sind? Kroehl: Jedenfalls ist es einfacher, im Ses- Kroehl: In meiner Klasse las- sel sitzenzubleiben. sen die Mädchen die Jungs Makatsch: Wenn man sich an der Schule weit hinter sich, auch in den oder an der Universität in dem naiven Naturwissenschaften. Glauben zusammenschließen würde, man Makatsch: Das war bei uns könnte was erreichen, dann könnte De- auch schon so. Jungen sind monstrieren schon zum Lebensinhalt wer- vielleicht undisziplinierter. den. Ich habe einen romantischen Blick auf Und sie vertrödeln ihre Zeit die Zeit, als das noch möglich war, auch mit sinnlosen Dingen wie wenn ich sie nur aus Büchern kenne. Computerspielen. Das ist Rupp: Meine Mutter, die aus der 68er-Ge- einseitige Kommunikation, neration kommt, hat oft zu mir gesagt, wir also gar keine.Vielleicht sagt seien zu unpolitisch. Ich habe mich dann für das genug über Männer. meine Generation geschämt. Es ist ein Feh- Kroehl: Gleichberechtigung ler, sich hinzusetzen und zu sagen, macht ist heute kein Thema mehr. ihr mal, ich habe damit nichts zu tun. Ich denke darüber nicht im SPIEGEL: Haben Sie Angst vor der Zukunft? geringsten nach. Kroehl: Mit Angst kann ich die Zukunft Makatsch: Ich habe mich vor nicht bewältigen. Obwohl es eine realisti- zwei Jahren zum erstenmal sche Angst wäre, daß man keinen Ausbil- benachteiligt gefühlt. Ich dungsplatz oder keine Arbeit bekommt. war in einem kleinen Ort in Rupp: Das höre ich auch jeden Tag.Aber ich Spanien, und die Männer bin ehrgeizig, ich bin auf dem Gymnasium, spielten in einer Bar Schach. ich will studieren. Ich glau- B. BOSTELMANN / ARGUM Ich stellte mich in der be nicht, daß ich eines Ta- „Ich bin ehrgeizig, ich will studieren – ich werde nicht Schlange an, um gegen die ges dastehen werde und gar dastehen und nichts in der Hand haben“ Gewinner zu spielen. Nach- nichts in der Hand habe. Gymnasiastin Anna Rupp aus Ebersdorf bei Coburg dem ich das mehrmals ver-

der spiegel 28/1999 105 Kroehl: Das mache ich auch oft: Dolce & Gabbana- Hemd zum Second-Hand- Blumenrock. Rupp: Marken prägen den Stil, aber man braucht nicht den Aufdruck mit dem Mar- kennamen. Ich kann auch die Imitate tragen. Calvin Klein kann ich mir sowieso nicht leisten. Makatsch: Früher waren mir Marken gar nicht wichtig,

M. MATZEL / DAS FOTOARCHIV / DAS M. MATZEL heute sind sie mir nicht be- Kommunikationszentrum Cyber-Café: „Computer, Internet und nebenbei das Kind“ sonders wichtig. Manchmal finde ich es schön, mir et- geblich getan hatte, habe ich gemerkt, daß Sie stören, wenn Ihre Mutter in „New Ba- was zu leisten. Ich sage mir dann, es ist die das nicht wollten. Einen Monat lang lance“-Turnschuhen ankäme? bessere Qualität. habe ich ohne Erfolg versucht, an den Tisch Kroehl: Ich würde zweimal hinsehen und es SPIEGEL: Marken und Kleidung sind Sym- ranzukommen. Da wurde mir klar, daß bei merkwürdig finden. bole für die Zugehörigkeit zu einer be- denen im Kopf das Vorurteil war, die kann Rupp: Ich gehe manchmal mit meiner Mut- stimmten Gruppe. Zu welcher zählen Sie? das nicht, die nimmt uns den Spaß weg. ter in die Stadt, und wir kaufen uns die Kroehl: Im Moment trage ich ein Polohemd Rupp: Mir ist schon klar, daß Frauen nicht gleichen T-Shirts. Ich sehe da kein Pro- von Lacoste, eine Levis-Jeans und New- so weit gekommen wären, wenn es Alice blem. Im Gegenteil, ich kann das verste- Balance-Turnschuhe. Deshalb würde man Schwarzer nicht gegeben hätte. Aber es hen, wenn jemand jung aussehen will. mich als Bonze oder als Snob bezeichnen. gibt immer noch Benachteiligungen. Zum Wenn ich 40 oder 50 bin, möchte ich nicht Vom Charakter her würde ich mich den Beispiel zahlen die Firmen bei uns in der so rumlaufen wie heute die meisten in die- Trendscouts zuordnen. Nähe für Ferienjobs Jungen drei Mark sem Alter. SPIEGEL: Was man heute Bonze nennt, hieß mehr in der Stunde, weil sie andere Ar- SPIEGEL: Sind der richtige Stil, die richtigen früher Popper. beiten machen als Mädchen. Auch wenn Marken wichtig für die Selbstdefinition? Kroehl: Popper? Was ist denn das? eine Frau Karriere machen will, wird sie Kroehl: Wir sind alle Konsumäffchen.Wenn Makatsch: Die gibt es heute nicht mehr. schnell auf Vorurteile stoßen. ich die coolen Calvin-Klein-Models sehe, Die waren immer gestylt, immer gefönt, Makatsch: Für mich stand es nie zur De- wie sie lässig dasitzen, dann denke ich, immer sauber. batte, die Hausfrau an der Seite eines Man- okay, kaufst du mal Calvin Klein. SPIEGEL: Welche Rolle spielt Musik, um sich nes zu werden – auch wenn ich irgend- Makatsch: Wieso alle? Man könnte auch selbst zu positionieren? wann schon eine Familie gründen will. in Opposition gehen und erst recht in Se- Kroehl: Eine große Rolle. Die Skater hören Rupp: So sehen das heute mindestens 90 cond-Hand-Läden einkaufen. HipHop, die Krassen Punk oder Hard Prozent aller Mädchen. In meiner Klasse Rock, die Love-Parade-Leu- gibt es einige, die wollen Karriere machen te Techno, und dann gibt es und auf keinen Fall Kinder bekommen. noch die Normalos, die SPIEGEL: Würden Sie für den einen Richti- querbeet hören. Zu denen gen Ihre Karriere aufgeben? zähle ich mich. Kroehl: Es gibt mehrere Richtige. Rupp: Ich mich auch. Rupp: Nein, ich würde nie meine Karriere SPIEGEL: Haben Sie Vorbil- hinschmeißen. der? SPIEGEL: In Werbung, Filmen, Talkshows Rupp: Mir fällt keins ein. wird Sex offensiv präsentiert. Hat Sexua- Makatsch: John Lennon. lität noch ein Geheimnis? Kroehl: Ich habe neulich in Kroehl: Ja! der Schule einen Film über Rupp: Im persönlichen Leben hat sie das, in Kofi Annan gesehen. Der den Medien ist das Thema ausgereizt. Dalai Lama gefällt mir auch, Kroehl: Sendungen wie „Peep“ sind fast aber ich fürchte, daß sich schon Pornographie.Aber das Kribbeln im der Buddhismus nicht auf Bauch kann mir kein Fernsehen liefern. unsere Gesellschaftsform Makatsch: Vielleicht hat es mit Aids zu tun, übertragen läßt. aber in meiner Generation wurde Sex nie SPIEGEL: Und wenn Sie ganz unter dem Aspekt „Hauptsache Spaß, und lange nachdenken – fällt Ih- was dann kommt, interessiert mich nicht“ nen da auch eine Frau ein? gesehen. Romantik, Treue und Zweisamkeit Kroehl: Hillary Clinton. Die waren wichtiger als noch in den Sechzigern. will Senatorin im Staat New Damals hieß es: Endlich gibt es die Pille, und York werden, während ihr wir können machen, was wir wollen. Mann den Bach runtergeht. SPIEGEL: Wann endet die Jugend? Das finde ich gut. Das im- Kroehl: Wenn man in den Beruf eintritt poniert mir. und eigenes Geld verdient. Makatsch: Sie wollte immer SPIEGEL: Es gibt viele Er- G. GERSTER Karriere machen, aber es wachsene, die die gleiche „Vom Charakter her würde ich mich den Trendscouts war nie der Zeitpunkt dafür. modische Kleidung tragen zuordnen“ Sie ist mehr Mann als Bill wie Jugendliche. Würde es Gymnasiastin Rixa Kroehl aus Frankfurt am Main Clinton.

106 der spiegel 28/1999 mit einer neuen Generation aufwarten zu können: der „Generation Y“. Ein New Yorker namens Chris Edgar, 33, beansprucht für sich die Leistung, diese Generation erst entdeckt zu haben und innerhalb weniger Monate mit einem Klei- derversandhandel namens „Delia’s“ an den Mädchen dieser Altersgruppe richtig reich geworden zu sein. Mit buntbedruck- ten T-Shirts und Hosen wurde Edgar vom Literaturstudenten zum Multimillionär. Heute läßt er 500 Mitarbeiter US-Teenager danach ausforschen, was sie mögen und was nicht. Chris Edgar gerät ins Schwärmen, wenn er von seiner Klientel spricht. Mit bald 40 Millionen Mitgliedern „sind sie die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgrup- pe der USA“ und verfügen über eine Kauf- kraft von „120 Milliarden Dollar“. Und dazu alle so nett und gebildet. Oder wie Mr. Edgar das nennt: „optimistisch, sophi- sticated, nach vorn schauend und immer auf der Suche nach einer guten Zeit“. Wie schön, daß die Kunst erfolgreichen Marke-

RTL tings darin besteht, den Leuten einzure- US-Jugendliche in der TV-Serie „Beverly Hills 90210“: Auch du kannst es schaffen den, was sie sein wollen, und sie nicht da- mit zu nerven, was sie sind. Beim näheren Hinsehen zerfällt die „Ge- neration Y“ ebenso wie das Konzept eines homogenen Jugendmarktes. Vielmehr ist „Keiner schenkt dir was“ die Altersgruppe der Heranwachsenden in Amerika aufgespalten durch enorme Klas- Marktforscher erklären die US-Jugend zur konsumfreudigen sen- und Rassenunterschiede, der als eini- gende Kraft lediglich das Internet, große „Generation Y“ – dabei eint junge Amerikaner vor allem Ladenketten und eine boomende US-Wirt- eines: ihr Überlebenswille im gnadenlosen Konkurrenzkampf. schaft entgegenwirken. Ökonomen hoffen, daß gerade dieses it den meisten Eltern leben sie im en Entdeckung. Anfang der Neunziger ba- neue Gründerzeitfieber ansteckend ist. Streit, ihren Lehrern gehen sie auf stelten sie ein Phänomen, das sie „Gene- „Für einen Teenager“, sagt die Vize-Präsi- Mdie Nerven, und oft können sie ration X“ nannten: Deren Mitglieder schlu- dent von „Girl Games“, einer texanischen sich selbst nicht leiden – kein Wunder, daß gen sich angeblich mit schlechten Jobs Firma für interaktive Computerspiele, es nur wenige Erwachsene gibt, die wis- durchs Leben, trugen Flanellhemden, wa- „sind vier Jahre wie ein ganzes Leben. sen, was in amerikanischen Teenagern vor- ren die meiste Zeit traurig und hörten die Wenn die also ihre Jugend in einer glän- geht. Und so setzt, wenn es wieder mal Musik von „Nirvana“, einer Band, deren zenden Ökonomie erleben, wird das ihren zur Katastrophe kommt und amerikani- Sänger sich später erschoß. Ein weiteres Glauben an die Zukunft bestärken.“ sche Teenager um sich schießen, sofort Pa- Kennzeichen: Sie trauten der Werbung Das Dumme ist nur, daß der glitzernde nik ein, die nur noch übertroffen wird von nicht mehr. Aufschwung der letzten Jahre an drei Fünf- Kurzschlußaktionen aus schlechtem Ge- Das war natürlich ganz schlecht, und teln der US-Bürger spurlos vorbeiging – wissen. Die Konservativen geben Hol- deshalb lösten die Marketingmenschen die- von den Millionen der Wall Street sehen sie lywood die Schuld. Die Liberalen dem frei- se Generation X schnell auf. Nun, Ende keinen Cent, von den Milliarden der Com- en Verkauf von Schußwaffen. Und dann der neunziger Jahre, sind sie erleichtert, puterbarone ebensowenig. Zwei Drittel al- gibt es noch die Schuldirektoren, die ganz ler Amerikaner, so ergab eigene Vorstellungen haben. eine Umfrage von „News- So verbot ein Direktor in Washington week“, wissen genau, daß nach dem Massaker von Littleton das Tra- sie in ihren gegenwärtigen gen von langen Trenchcoats. In Virginia Jobs nie reich werden. Rund wurde ein Neunjähriger vom Unterricht die Hälfte der US-Haushal- ausgeschlossen, weil er auf einmal als ge- te muß mit einem Vermögen meingefährlich galt. Er hatte sein Haar blau von weniger als 50 000 gefärbt. Dollar zufrieden sein, ein Die einzigen, denen die amerikanischen Viertel mit nicht einmal Teenager richtig am Herzen liegen, sind 10000 Dollar. die Marketingmenschen – weil sie heraus- Andererseits erleben die gefunden haben, daß diese Teenager Geld Kids, wie junge Leute in der besitzen. Das wollen sie den Teenagern ab- Nachbarschaft einziehen, nehmen, und zwar so schnell wie möglich. deren Autos und Häuser im-

Deshalb nerven Marketingmenschen die BURROWS / GAMMA STUDIO X mer größer werden. Sie se- ganze Welt alle paar Jahre mit einer neu- Hispanics in Los Angeles: Elende Existenz auf der Straße hen zu, wie Studenten, die

der spiegel 28/1999 107 Titel kaum zehn Jahre älter sind mißachtet von den Politi- als sie, zu Millionären wer- kern, keine Zeit für über- den. Fernsehen, Kino und flüssiges Nachdenken haben. Internetredakteure schwat- „Werde erwachsen, und zen ihnen Tag für Tag mit zu- zwar schnell“, heiße ihr nehmendem Eifer die Bot- Motto, sagen viele. Andere schaft ein: Auch du kannst leben nach der Losung: es schaffen, wenn du nur „Halt die Augen offen, er- hart genug kämpfst. warte das Schlimmste und In diesem Konkurrenz- handle für dich selbst.“ Äl- kampf, aufzusteigen in die tere Erwachsene dagegen wohlhabenden zwei Fünftel halten den Nachwuchs im der amerikanischen Gesell- Land der Freien für eine fast schaft, haben es viele Ju- verlorene Generation. gendliche nicht darauf ange- Dabei suchen sie nur ihre legt, Gefangene zu machen, Chancen, im entfesselten sprich: Mitleid zu zeigen ge- Kapitalismus des späten 20. genüber ihren Mitmenschen. Jahrhunderts auf der Ge-

Mit dem „Pursuit of Hap- D. BLACK winnerseite zu landen und piness“, jenem Recht auf US-Volkssport Football: „Wettkampf macht mich besser“ das zu erreichen, wovon je- der Amerikaner träumt: Mit der Ordnung der US-Ge- „Cash in in a big way.“ In diesem Wunsch sellschaft machen die Kids spä- ähneln sich die 18 Millionen weißen Ju- testens auf dem Schulhof Be- gendlichen, ihre vier Millionen schwarzen kanntschaft.Wer zuwenig Mus- Altersgenossen, die vier Millionen Hispa- keln, zu billige Kleidung oder nics und die eine Million Asiaten. Sie eine zu billige Zahnspange hat, wollen vor allem Geld und ihr eigenes gilt schnell als menschlicher Ab- Geschäft, wie der 30 Jahre alte Jerry fall, bestenfalls als „Freak“. Die Yang, Gründer der Internet Firma Yahoo, langmähnige 16jährige Blondine der es bislang auf eine Milliarde Dollar Marisol Salguero von der Alex- brachte. ander Hamilton High School in Und sie wollen Anerkennung, wie der Los Angeles sagt: „Das größte 31 Jahre alte Bill Teck, Sohn einer Kubane- Ding hier sind Kleider mit La- rin, Chefredakteur der Hispanic-Zeitschrift beln drauf. Wer hier ohne Mar- „Ñ“, der sagt: „Ich gehöre zu der ersten Jugendliche in US-Werbung: Geld ist der Maßstab kennamen auf den Klamotten Generation meiner Familie, die mit einem auftaucht, muß ziemlich mutig weißen Kragen zur Arbeit geht. Ich fühle Glück, das schon die Unabhängigkeitser- sein. Auch gutes Aussehen ist wichtig. mich nicht gespalten in meiner Identität als klärung fordert, ist stets das eigene gemeint Wenn du nicht hübsch bist, will keiner et- Hispanic. Ich fühle mich doppelt stark.“ und nie das der anderen. was mit dir zu tun haben. Mädchen mit Aber nicht jeder bekommt eine Chance, 82 Prozent der Jugendlichen antwortete dunklem Haar färben es blond. Alles ist seine Träume zu verwirklichen. Drama- kürzlich in einer Umfrage: „Ich schätze ein einziger riesiger Wettkampf.“ tisch ist es für jene zwei Millionen Ju- den Wettkampf – er macht mich besser.“ Aus symbolischer Gewalt wird schnell gendlichen, die obdachlos auf der Straße Zwei Drittel sagen: „Ich muß alles neh- reale. Als der Psychologe Marshall Duke leben und deren elende Existenz von den men, was ich in diesem Leben kriegen meisten Bürgern achsel- kann. Denn niemand schenkt dir etwas.“ „Halt die Augen offen, erwarte das zuckend akzeptiert wird. Und immerhin 33 Prozent, doppelt so vie- Schlimmste und handle für dich selbst“ Oder für Leute mit ganz le wie unter den vergleichsweise idealisti- anderen Träumen, Gedan- schen Babyboomern, sagen: „Geld ist der ken und Projekten, die sich einzige Maßstab für Erfolg.“ vor kurzem 110 seiner Studenten befragte, nicht sofort zu Geld machen und In diesem Sozialdarwinismus, wo schon ob sie schon einmal in der Schule bedroht später an der Börse handeln lassen. Kinder im Sandkasten je nach Kampfbe- worden seien, hörte er 110mal die Antwort Oder für Typen, die vom großen Geld reitschaft in Gewinner und Verlierer auf- „yes“. Um den Belagerungszustand zu ver- träumen und doch nur das ihrer Eltern aus- geteilt werden, sind die Jugendlichen mehr vollkommnen, transportieren amerikani- geben, wie jener wohlstandsverwahrloste oder weniger auf sich allein gestellt. Die sche Kids jeden Tag Tausende von Feuer- zwölfjährige Junge aus dem New Yorker Hälfte aller Ehen wird geschieden, und in und Stichwaffen an den Metalldetektoren Künstlerviertel SoHo, der sich erst weiger- 63 Prozent der übrigen Familien arbeiten vorbei in die Schulen. te, mit seinen Eltern nach Griechenland zu beide Elternteile. Statt Verständnis und Angst sollte keiner von ihnen zeigen. fliegen, weil es da angeblich kein MTV gab. Orientierung erwarten die Kinder nach der „Wer das tut“, sagt ein Lehrer aus der Dann bestellte er mit den Kreditkarten sei- Schule der Fernsehapparat, das Internet South Bronx, „ist das gefundene Fressen.“ ner Eltern an seinem Computer ein Schlag- und die Mikrowelle. Aber Angst herrscht überall, sogar im Kin- zeug und japanische Spielkarten. Und flog Da überrascht es nicht, daß Teenager am derzimmer. Ein Mädchen berichtete in der auf. häufigsten über Einsamkeit klagen. So Zeitschrift „Life“ über ihre Schwierigkei- Ihn erwartet nun die Höchststrafe einer schreibt die Autorin Patricia Hersch in ten beim Babysitten: „Ich kann mich ge- Generation, deren Angehörige schon heu- ihrem Buch „A Tribe apart“: „Jedes Kind, genüber dem Kleinen nicht durchsetzen.“ te die meiste Zeit vor dem Bildschirm ver- mit dem ich mich länger unterhalten habe, Die Eltern hatten dem Neunjährigen eine bringen: Die Providerfirma AOL erteilte begann irgendwann zu erzählen, daß es Waffe geschenkt. ihm Internet-Verbot auf Lebenszeit. gern mehr mit Erwachsenen zu tun hätte – Kein Wunder also, daß amerikanische Thomas Hüetlin, am liebsten mit seinen Eltern.“ Jugendliche, vernachlässigt von den Eltern, Mathias Müller von Blumencron

108 der spiegel 28/1999 Gesellschaft

bensfreude Überstunden, die kargen Tex- Bílá muß weiter bescheiden bleiben. FOLKLORE te in der eigentümlichen Roma-Sprache Zwei Räume hat ihre blitzblanke, aber dagegen sind voller Trauer, Tragik und Me- feuchte Parterre-Wohnung, in der sie mit Düsterer lancholie. Sie handeln vom Betteln um ein ihrem Mann und ihrem Adoptivsohn lebt. Stück Brot, von früh enttäuschter Liebe, Über dem Sofa hängt ein billiger Christus- vom Tod und vom Gefängnis. Spätestens Druck, auf dem der Heiland seine Hände Glamour da verfinstert sich plötzlich Queen V¤ras süßlich zum Segnen ausbreitet. Und die PR-Glamour. kanariengelbe Tagesdecke auf dem brei- Mitreißende Musik zu Die Wirklichkeit ist mächtiger als die ten Bett ist adrett glattgezupft. Marketingmaschinerie. Königlich war das Für ihren Jungen hat die besorgte Mut- traurigen Texten – die Roma- Leben der Sängerin ohnehin nie: Sie er- ter gerade eine passende Roma-Braut aus- Sängerin V¤ra Bílá lebte Armut,Arbeitslosigkeit und Ächtung. gesucht. Demnächst wird sie ihn mit dem erobert Europa mit eingängigem Rund 18000 Menschen leben in Rokycany, hübschen 19jährigen Mädchen verheiraten, Gipsy-Pop. etwa 700 davon sind Roma. Sie blieben weil die „sauber ist und kochen kann“. Außenseiter. Das ist für V¤ra das wichtigste. Bei den chön sei sie wahrlich nie gewesen: zu Und auch V¤ras Ehe ist nicht ohne Pro- Bílás herrscht das Matriarchat des Mög- klein, zu dick, zu schwerfällig – „aber bleme geblieben. Ihr Mann saß immer wie- lichen. Sdarauf kam es mir nie an“, sagt V¤ra der im Gefängnis, der 20jährige Adoptiv- Wenn nachmittags nach und nach die Bílá beherzt. Die massige Roma-Frau aus sohn eifert ihm bereits erfolgreich nach. Musiker in V¤ras Wohnung kommen, die Rokycany, einem tristen Industrie-Ort „Als Kind war ich sehr lustig“, beschreibt Gitarren auspacken, die ersten Akkorde in der Nähe des tschechischen Pilsen, die Sängerin ernüchtert ihre psychische anschlagen und ihre Songs anspielen, dann wollte eigentlich immer nur eines: Sie Talfahrt, „aber ich bin immer trauriger ge- bewirten Mann und Sohn die Gäste wi- wollte singen. worden.“ derspruchslos mit türkischem Kaffee. An- Die Schule habe sie fast ständig ge- Daran hat auch die späte Karriere nichts sonsten müssen sie schweigen. schwänzt, sich lieber mit ihren Freunden geändert.Vor neun Jahren wurde die Grup- Denn dann versetzt sich V¤ra in die im Wald versteckt und – leidenschaftlich pe von ihrem jetzigen Manager in einem „großen Gefühle“, die sie bei ihren Vor- gesungen. Als Halbwüchsige gründete sie Prager Café entdeckt. Der Tscheche er- bildern so bewundert, bei so unterschied- gegen den Widerstand ihrer Familie eine kannte sofort das große Potential und lichen Gesangsgrößen wie Mireille Ma- Mädchen-Band und imitierte unbeküm- besorgte die ersten Verträge. Das Bílá- thieu, Stevie Wonder oder Andrea Bocelli. mert die Songs der Beatles, die sie im Ra- Business begann langsam zu florieren. Dann übertönt ihre helle und heisere, dio gehört hatte; so lange und so laut, bis Dennoch sieht die Sängerin wenig Grund aber niemals schrille Stimme die Instru- der Vater, ein begabter Violinist, den Emp- zur existentiellen Freude: „Zigeuner ster- mente, und V¤ra singt mit halbgeschlos- fänger mit dem Hammer zertrümmerte. ben früh“, sagt sie, und auch das erkläre senen Augen, die Zigarette stets in der Mittlerweile ist V¤ra Bílá, 45, wieder wohl die Düsternis ihrer Texte. Hand, vom Ende aller Freude: „Das Herz Chefin einer Musikgruppe – aber diesmal Aber immerhin, etwas Trost bleibt doch: tut mir weh, gestorben ist mir die Mutter. hat die korpulente Diva international Er- „Arme Leute lieben sich mehr als reiche Ich bin allein geblieben, allein mit meinem folg. Ihre neue Platte hat beste Chancen, Leute.“ Die materielle Basis für diese Weis- Vater.“ der Sommer-Hit aus der Abteilung Ethno- heit wird ihr wohl erhalten bleiben: Wohl- Die Musik zu diesem Familien-Drama Pop zu werden. stand hat die Sängerin trotz ihres Erfolges allerdings klingt so überschäumend, als be- Bei ihren Konzerten in ganz Europa ver- immer noch nicht angehäuft; denn einen juble das Lied eine neue Liebe oder we- setzt die Bílá mit ihrer ebenso eingängigen Teil ihrer Gagen verschlingen die Spiel- nigstens einen Sechser im Lotto. wie exotischen Musik das Live-Publikum automaten in ihrem Heimatort. Joachim Kronsbein schon längst in seliges Entzücken und fei- ert, wie die „Süddeutsche Zeitung“ beein- druckt meldet, „sensationelle“ Resonanz. Die mitreißende Melange der Bílá-Band liegt im aktuellen Trend des Ethno-Mix. Ihre Lieder sind ein Cross-over aus Gipsy- Folk, Flamenco-Pop und Disco. „Wild und leidenschaftlich“ sei die Mu- sik ihres neuen schwergewichtigen Stars, schwadroniert ihre Plattenfirma in Anzei- gen, „so leidenschaftlich wie das Leben der Roma“. Und V¤ra Bílá sei, was sonst, regierende „Queen of Romany“. Und so heißt denn auch gleich ihr neues Album. Es enthält Titel aus den ersten Platten der Gruppe, die – Künstler-Pech – vor dem großen Bílá-Boom erschienen. Doch das Image von der Roma-Queen ist nur die halbe Werbe-Wahrheit. Die Lieder der majestätischen Matrone, die sie in Heimarbeit zusammen mit ih- rer Band – alles Herren aus der engeren oder weiteren Verwandtschaft – textet und komponiert, sind verwirrend wider- sprüchlich.

Sie klingen zwar ausgelassen und über- NEMEC / ANZENBERGER T. schwenglich, ganz so, als mache die Le- Roma-Sängerin Bílá, Band: „Arme Leute lieben sich mehr als reiche Leute“

der spiegel 28/1999 109 Sport REUTERS Sprintstars Cipollini, Zabel (beim Zieleinlauf der vierten Etappe der Tour de France in Blois), Volksheld Virenque (vor dem Start in Laval): „Mal

RADSPORT Die Friedensfahrt der Nr. 69 Der spektakulärste Dopingskandal aller Zeiten hat der Tour de France nicht schaden können. Die französische Nation feiert ihr geliebtes, anrüchiges Volksfest – und ihr größter Held heißt Richard Virenque.

ichard Virenque sieht nicht aus wie schen in einer Schlange aufgestellt, und je- poietin, kurz Epo, im Jahr genommen. einer, dem die Frauen hinterherlau- der tritt einzeln vor. Eine Frau will ein Au- „Du Bastard wärst längst tot, wenn ich dir Rfen. Er hat abstehende Ohren und togramm. Richard malt seinen Namen auf alles injiziert hätte, was du wolltest“, sag- dünne Beinchen, und ein richtig Cooler ist ein Stück Papier und wartet auf die näch- te der Masseur zu seinem früheren Kunden er auch nicht, weil seine Augen des öfteren ste, aber die traut sich nicht, und Richard bei einer Vernehmung. flackern. Aber in diesen Tagen könnte er trommelt derweil mit dem Kugelschreiber Doch der hat das bis heute bestritten. Er ganz Frankreich haben. auf den Tisch. Dann kommt sie doch, strei- wurde bei Verhören derart bedrängt, daß Am Montag letzter Woche sitzt er in chelt seine Wange, und als sie fertig ist, er schrie und sich auf dem Boden gewälzt Challans, wo die zweite Etappe der Tour de setzt Richard seine Trinkflasche an den haben soll – verurteilt ist er bis heute nicht. France beginnt, mittags um zwölf in einer Hals und gurgelt, vermutlich mit Wasser. Jean-Marie Leblanc, der Chef der Tour Zeltstadt, in der die Sponsoren ihre Stän- Die Ermittlungen der französischen Ju- de France, hat dieses Jahr „die Tour der Er- de aufgebaut haben und in der es sogar stizbehörden haben ergeben, daß der Rad- neuerung“ ausgerufen. Und weil keiner Austern umsonst gibt. Unter den Sonnen- rennfahrer Richard Virenque im vergange- mehr glauben kann, was Virenque sagt, schirmen ist meistens mächtig Betrieb, nen Sommer gedopt war. Und zwar nicht wurde er zunächst ausgeschlossen. Doch bloß im Areal des Tour-Geldgebers PMU, zu knapp. Er war der Kapitän jener Festi- der Weltverband UCI entdeckte einen eines Unternehmens, das Pferdewetten an- na-Mannschaft, die den größten Doping- „Formfehler“ – die Ausladung war 13 Tage nimmt, passiert etwas ganz und gar Wei- skandal in der Geschichte des Sports los- zu spät erfolgt, und deshalb darf Virenque hevolles. Virenque ist da. trat. Sein ehemaliger Masseur sagte vor nun durch Frankreich radeln. Seit einer guten halben Stunde sitzt der dem Ermittlungsrichter,Virenque habe mit Er verdient drei Millionen Mark für den Mann mit der Startnummer 69 auf einem Dopingmitteln gedealt und selbst etwa 100 Einsatz beim italienischen Team „Polti“, Plastikstuhl, vor ihm haben sich die Men- Spritzen des Blut-Turboladers Erythro- wo er mit sicherem Instinkt gelandet ist –

110 der spiegel 28/1999 weißes Handtuch über den Lenker, damit sein Schweiß nicht aufs Gestänge tropft. Alex Zülle war mal einigermaßen dicke mit Richard Virenque. Letztes Jahr noch fuhren sie zusammen für Festina. Dann ka- men die Gendarmen und nahmen den Schweizer mit. Er verbrachte die Nacht in einem Knast, in dem es nach Urin roch, sie nahmen ihm die Brille weg, und am näch- sten Morgen war Alex weichgekocht. Er gab zu, daß er Epo genommen hatte. Dann weinte er, weil er sich schämte. Virenque weinte auch, aber nur deshalb, weil er und seine Festinas nach Hause ge- schickt wurden. Acht Monate ist Zülle ursprünglich ge- sperrt worden. Da telefonierte der Schwei- zer Verbandschef Hugo Steinegger mit dem Kollegen Hein Verbruggen, der dem Welt- verband vorsteht, und faßte das Gespräch anschließend in einem Brief zusammen: „Im Sinne Ihres Telefongesprächs mit dem Unterzeichnenden beantrage ich höflich, die Strafen maßgeblich zu reduzieren.“ Zülles Sperre wurde um einen Monat ver- kürzt, jetzt darf er in Frankreich mitspielen. „Allez, Alex“ rufen die Leute, als Alex am Start steht. Die Leute wissen noch gut, was mit Alex war. Aber solche Geschichten sind den Leu- ten egal. Doping? Frankreich will sein Fest,

AFP / DPA so wie Köln seinen Karneval wollte, ob- sehen, wer von den Jungs explodiert“ wohl Golfkrieg war. Und das Fest läuft wie geschmiert. Sogar die Police Nationale, Polti ist ein Unternehmen, das Dampf- Am Tag, als das Spektakel in dem Ort jene Ungeheuer also, die vor einem Jahr reiniger herstellt. Puy-du-Fou, was in etwa Idiotenhügel mit ihren Razzien alles versauten, fährt Als Virenque, 29, bei der Eröffnungs- heißt, beginnt, hat der sich in den Schatten diesmal in der Werbekolonne vor dem Feld zeremonie vorgestellt wird, stehen die Men- verzogen, den der Omnibus der spanischen her und verteilt Kugelschreiber unters schen auf, und der Applausmesser spuckt Mannschaft von Banesto spendet. Weil es Volk. Vive la France. die kräftigsten Ausschläge aus. Er rollt auf die Tour der Offenheit ist, steht der Lade- Es ist den Leuten egal, wenn ihrer Tour den Etappen der ersten Woche an fran- raum offen – drinnen lagern 16 Kartons die schlechten Nachrichten um die Ohren zösischen Nationalfahnen vorbei, die das „Agua Mineral Natural“, rein und klar und fliegen: egal, daß wenige Tage vor dem Publikum in die Erde gespießt hat, und dar- jederzeit erlaubt. Start die Polizei in Italien die Wohnungen unter steht: „Allez, Richard, en jaune à Nummer 161 ist Alex Zülle, ein Schwei- von Radfahrern filzte und kistenweise Arz- Paris“ – los, Richard, im Gelben Trikot in zer, den die Spanier vor kurzem als ihren neizeug sicherstellte, darunter auch Epo; Paris. Kapitän engagiert haben. Zülle, 31, trägt ei- daß neulich schon wieder ein Pfleger von Zwar hat Richard die Leute ein Jahr lang nen Goldstecker im Ohr und eine Brille auf Festina beim Zoll erwischt wurde, diesmal belogen, aber das ist den Leuten Wurst, der Nase, die er auch im Rennen braucht, mit einem Corticoid; daß Hein Verbrug- denn Richard ist der einzige Held, den sie weil er 4,3 Dioptrien hat. Er ist ein sehr ge- gen sich selbst die Maske vom Gesicht reißt in Frankreich zur Zeit haben. Der Regis- wissenhafter Sportsmann. Als sein Rad auf und Epo mit Viagra vergleicht und sagt, seur Claude Lelouch, seit seinem Film einem Gestell mit Rollen eingespannt ist, ursprünglich sei das ja auch mal ein Medi- „Ein Mann und eine Frau“ als Meister auf dem er sich warm macht, legt er ein kament gewesen, und heute gehöre es nun des romantischen Beziehungsdramas ver- mal zur Gesellschaft; daß der Superspon- ehrt, sagt: „Ich liebe Fahrer wie Virenque, sor Crédit Lyonnais über seinen Ausstieg die bereit sind, ihr Leben für eine Etappe zu nachdenkt; daß Daniel Baal, der Präsident riskieren.“ des französischen Radsportverbandes, mit- Es gibt keinen zweiten neben Richard Vi- ten ins dampfende Nationalglück hinein renque, der so symbolkräftig Pate steht für sagt: „Die Sauberen sind in der Minder- das, was die Tour de France in diesem Jahr heit.“ Egal, sollen sie sich eben nicht er- ist. Wer an eine „Tour der Erneuerung“ wischen lassen, die Bastarde. glaubt, kann auch gleich daran glauben, Die Familie ist wieder beisammen, und belgische Hühnchen würden mit Körnern das Team Telekom ist mittendrin. Gleich zu aus dem Ökoladen ernährt. Anfang haben die Bonner einen Knicks Mögen die Schlagzeilen der ersten Tour- vor Frankreich gemacht und ganzseitige Woche ’99 von Sprintern wie Cipollini, Zeitungsannoncen geschaltet: „In Frank- Steels, Zabel oder Kirsipuu handeln – die reich gibt es den besten Wein, die schönste

eigentliche Geschichte von den Usancen A. RENTZ / BONGARTS Mode und die schlimmsten Berge.“ im Radgewerbe rankt sich eher um einen Radprofi Kirsipuu (nach dem Dopingtest) Das hilft zwar nicht immer, aber wenn es Teilnehmer wie den mit der Nummer 161. Sinnbild der Sauberkeit unangenehm wird, ist der Pressesprecher

der spiegel 28/1999 111 Sport

Matthias Schumann zur Stel- Situationen, aus denen sich renque und Zülle radeln an einem Trans- le.Als ein Journalist während Kapital schlagen läßt. parent vorbei, das ein Verirrter aufgespannt einer Pressekonferenz eine Wenn Journalisten schrie- haben muß. „Ravitaillement Epo – 1ère Frage zu staatsanwaltschaft- ben, alle Radler seien gedopt, ferme à gauche“, steht da drauf – „Nach- lichen Ermittlungen im Zu- dann sei das „bullshit“, sagt schub Epo – erster Bauernhof links“. sammenhang mit Doping der Gast von weit her, nach- In Sachen Doping fuhr Alex Zülle ge- hat, geht der vormalige Ru- dem er seine Krankenge- wissermaßen immer im Windschatten von der-Weltmeister der DDR be- schichte referiert hat. Rad- Richard Virenque, und auch heute noch hend dazwischen: „Für diese sport sei eine feine Sache, hat der Franzose bei seiner persönlichen Frage sind wir hier auf der und Doping sei Geschichte. Friedensfahrt die ganze Arbeit am Hals.

verkehrten Veranstaltung.“ SPORT ACTION Und manche glauben ihm. „Ich bin ein schwarzes Schaf“ – diesen Zum Start auf dem Puy- Radprofi Zülle „Er ist der richtige Sie- Eindruck kriegt der Franzose beim besten du-Fou ist aus gegebenem ger“, findet auch Alex Zülle. Willen nicht los. Jean-Marie Leblanc zum Anlaß auch gleich die versammelte Füh- Er war beim Prolog sieben Sekunden Beispiel, der Tour-Chef, habe in den ersten rungsetage angereist. Der Kommunika- langsamer als Armstrong und wurde Zwei- Tagen kein Wort mit ihm gesprochen. tionschef Jürgen Kindervater hat die Gat- ter, aber womöglich ist ihm das ganz recht Andererseits: Leblanc, ein kleiner, dicker tin dabei, sein Oberster Ron Sommer („Wir so. Hätte er gewonnen, dann wären wie- Mann, hat einfach auch viel zu tun dieser machen hier sauberen Sport“) die hand- der diese Fragen gekommen, die er gar Tage. Beim Start einer Etappe zwängt er liche Videokamera. Er trägt ein seidenes nicht mag. seinen massigen Körper aus dem Faltdach Einstecktuch im Jackett und begrüßt die Doping? Zülle hat seine Hände unter seines roten Autos und schwenkt eine Mitarbeiter mit Handschlag: „Ja, schönen einem Tisch versteckt und dreht ange- weiße Fahne. Und wenn das rote Auto guten Tag, was macht’s ihr?“ strengt am goldenen Ring: „Dieses Thema durchs Ziel gefahren ist, eilt Leblanc immer Auch Rudolf Scharping, gewissermaßen ist Vergangenheit“, sagt er. Ob er sehr dar- in die Gegend, wo hinter einem Gitterzaun ein assoziiertes Mitglied der Mannschaft, unter gelitten habe? „Ich finde doch, die- ein Wohnmobil parkt. Das Gefährt ist frisch hat sich feingemacht. Telekom hatte seinen ses Thema ist Vergangenheit.“ Weil seine ab Werk, die Erneuerung der Tour braucht Verteidigungsminister eingeladen, und der Chefs fürchteten, der zarte Alex werde schließlich ein Sinnbild. brilliert aus einem gestärkten Oberhemd unter dem Rummel hier zusammenklap- „Hansaplast“ steht groß da drauf, doch heraus mit kühner Hardthöhen-Metapho- pen, wollten sie ihm das Handy verbieten. das ist ein Signal in die falsche Richtung. rik: „Mal sehen, wer von den Jungs explo- Aber Alex meinte, er sei alt genug zum Weiter unten klebt ein Zettel: „Contrôle diert. Hoffentlich tut’s einer.“ Telefonieren. Anti-dopage“. Hier müssen täglich einige Einer tut’s, wenngleich ein ganz anderer, Zülle will nur seine Ruhe, aber nicht mal Auserwählte in einem Raum von zwei als Scharping vermutet hatte. Der Ameri- unterwegs auf dem Fahrrad hat er die. Ir- Quadratmetern in ein Glas pinkeln, und kaner Lance Armstrong, 27, der den Prolog gendwann während der ersten Etappe ist der Arzt Michel Grosset-Janin und der gewann, ist ein Sieger, wie ihn sich die Tour plötzlich Virenque neben ihm. Sie haben UCI-Inspekteur Marc Vandevyvere gucken nicht schöner hätte backen können. Er hat nichts mehr miteinander zu tun, aber sie ihnen dabei zu. eine anrührende Geschichte, weil er den fühlen sich doch einander verbunden. Was die Fahrer dabei anhaben? „Rien“, Krebs besiegte, und ein feines Gefühl für Denn beide wähnen sich als Opfer. Vi- sagt Monsieur Vandevyvere. Nackt? „To- talement“. Und Sie, Sie gucken immer ge- nau zwischen die Beine? Immer genau zwi- schen die Beine, so ist es. Letzten Donnerstag schien es kurzzeitig so, als hätten die beiden Herrschaften ei- nen Treffer gelandet. Beim Prolog hatte ein Fahrer eine Probe abgegeben, in der sich Spuren von verbotenen Corticoiden fanden. Doch Weltpräsident Verbruggen konnte den Vorgang gewohnt elegant er- klären. Er sagte, das Medikament habe ei- ner Therapie gedient und sei deshalb er- laubt, und alles war wieder gut. So, wie es „L’Equipe“, das Organ der Tour de France, schon vorher vermutet hatte: „Die Tour scheint sich gut zu entwickeln.“ Das kommt ganz auf die Perspektive an. Lothar Heinrich beispielsweise, der Arzt vom Team Telekom, hat andere Erfahrun- gen gemacht. Als er in einer französischen Pharmacie unter Vorlage seines Arztaus- weises ein Medikament erstehen wollte, ließ ihn die Apothekerin erst mal 20 Mi- nuten warten. Solange brauchte sie, um sich im Hinterzimmer mit ihrem Chef zu beraten. Dann kam sie zurück und brach- te trübe Kunde. Der „Docteur Einrisch“, sagte Madame, könne sich auf den Kopf stellen – aber an Radsportler verkaufe sie ohne franzö-

AP sisches Rezept grundsätzlich gar nichts Massensturz an der Atlantikküste (bei Beauvoir-sur-Mer): Ist Epo wie Viagra? mehr. Matthias Geyer

112 der spiegel 28/1999 Werbeseite

Werbeseite Sport

SCHWIMMEN Breites Kreuz Sandra Völker hat sich von dem Phänomen Franziska van Almsick emanzipiert. Bei den Europameisterschaften übernimmt sie die Starrolle.

achmittags im Café „Cliff“ gehören vorn – und das, obwohl das Chlorwasser- alle Blicke ihr. Mit wehendem Haar, Starlet sportlich schon seit geraumer Zeit Ndie Trainingstasche unter den Arm schwächelt. Sandra Völker mokierte sich geklemmt, schlängelt sich Sandra Völker, öffentlich, daß der Schwimmsport hierzu- 25, durch die Tischreihen des Hamburger lande nur mit „Franzi“ in Verbindung ge- Szenetreffs an der Alster. Sogar die Kiez- bracht werde, und wurde prompt als Größe Karl-Heinz Schwensen, genannt „zickige Zweite“ oder als „neidische Kon- „Neger-Kalle“, ein Mann, der seine Son- kurrentin“ gerügt. nenbrille sonst nur zum Schlafen abnimmt, lupft für einen Augen- blick seine Gläser und guckt ihr nach. Gut sieht sie aus. „Ich fühl’ mich auch so“, sagt die Profi- Schwimmerin von der SG Ham- burg und läßt sich entspannt in einen Stuhl an der Wasserkante fallen. Es läuft ja auch wie ge- schmiert in letzter Zeit. Neulich verbesserte sie im Fürstentum Monaco ihren Welt- rekord über 50 Meter Rücken auf 28,78 Sekunden, kassierte dafür 30000 Mark und wurde im Namen von Prinz Albert zum Gala-Dinner eingeladen. Bei den

nächste Woche beginnenden Eu- K + C ropameisterschaften in Istanbul Konkurrentinnen van Almsick, Völker gehört sie auf mehreren Strek- „Langsam verglüht ein Stern“ ken zu den Anwärterinnen auf den Titel. Und auch abseits des Beckens Was Sandra Völker nicht erkannte: Fran- steht sie endlich hoch im Kurs: Die „Bun- ziska van Almsick, das putzige Girlie aus te“ hat die Hanseatin in den Kreis jener Ost-Berlin, das mit 14 Jahren bei Olympia VIPs aufgenommen, über die es sich re- 1992 zwei Silbermedaillen gewonnen hat- gelmäßig zu berichten geziemt; Fernseh- te, geriet für die Ost-West-Integration fast redakteure laden sie zu Talkshows ein, und so bedeutend wie der Solidarpakt. „Bild“ schwärmt von ihr als „Gold-Nixe“. Daß Völker in dieser gesamtdeutschen Das ist neu für Sandra Völker – und sie Schwimmsport-Soap nur die Rolle des in- genießt die spät erblühte Aufmerksamkeit. triganten Karriere-Weibchens blieb, war Denn als beste deutsche Schwimmerin gilt zudem selbst verschuldet: zu plump ihre die gebürtige Lübeckerin schon lange. Nur Versuche, ebenfalls zu Ruhm und Geld zu richtig berühmt wurde sie deswegen nie. kommen. „Völker wie Erfolg“, lautete der Profi-Sport, vor allem bei Frauen, ist ein Werbeslogan, den Freund und Trainer Dirk eigentümliches Gewerbe. Längst reicht es Lange, ein Diplomkaufmann, für sie kreiert nicht mehr, die Schnellste zu sein – man hatte. Das Echo war deprimierend: Franzi muß auch sonst etwas zu bieten haben. tauchte für Opel in einem preisgekrönten Sternchen wie die Eiskunstläuferin Tanja Werbespot in New Yorks Straßen ab und Szewczenko, die letztens im „Playboy“ in kassierte Millionen. Sandra machte Rekla- Erscheinung trat, oder die Gymnastin Mag- me für ein regionales Autohaus. dalena Brzeska profitierten von diesen Ge- Sandra Völker wäre an dem Konkur- schäftsbedingungen mächtig. renzkampf zur vier Jahre jüngeren Team- Sandra Völker sah sich lange als Opfer kollegin fast zerbrochen. Der Schwimm- dieser Marktgesetze. Denn wenn es darum sport war immer Mittelpunkt ihres Lebens. ging, die Medaillen zu versilbern, hatte Er gab ihr die Möglichkeit, ihren Lei- Franziska van Almsick, die Frau, die den stungswillen auszuleben. Doch dieser Ehr- Deutschen einst als nationaler „Goldfisch“ geiz machte es ihr fast unmöglich zu ak- ans Herz gewachsen war, immer die Nase zeptieren, nur die Nummer zwei zu sein.

114 der spiegel 28/1999 H. RAUCHENSTEINER Rückenschwimmerin Völker beim Start: „Wenn Sandra antritt, geht es für den Rest nur noch um Rang zwei“

Die Kameradinnen aus dem Deutschen Maurice Greene und den Langstreckler daß van Almsick in Australien noch mal Schwimm-Verband hatte sie als Jugendli- Haile Gebrselassie vergleichen – beide siegen könnte, muß Völker kaum befürch- che locker im Griff. Schon mit 15 Jahren Weltrekordleute, der eine ein Muskelberg, ten: Neulich bei den Deutschen Meister- wurde sie Deutsche Meisterin über 50 Me- der andere ein Schlaks.“ schaften in Leipzig blieb die Rivalin auf ter Rücken. Doch dann kam Franzi über Jetzt hat Sandra Völker – ohne den Griff ihrer Paradestrecke 200 Meter Freistil acht das neue Deutschland und über Sandra zu illegalen Mitteln, wie sie beteuert – sich Sekunden hinter ihrer Bestzeit. Völker. Die bislang Unangefochtene fiel in ein Kreuz antrainiert, das manchen männ- Schlagzeilen macht Franziska van Alm- eine Seinskrise: „Ich habe mich mit dem lichen Bodybuilder erblassen läßt. Und der sick eher an Land. Mit 116 Stundenkilo- Phänomen van Almsick mehr beschäftigt Nutzen ist unübersehbar.Während 1992 in metern innerorts in die Radarkontrolle, als mit mir. Wenn ich ins Becken sprang, Barcelona die Medien spotteten („Sandra Führerschein weg. Bei Modeaufnahmen für war Franzi immer dabei.“ Völker fast ertrunken“), weil sie über 100 eine Illustrierte posiert sie als „verträum- Völker verordnete sich eine fünfmona- Meter Rücken den Endlauf verpaßt und im te Cinderella mit Barbie-Sex-Appeal“ und tige Wettkampfpause, um Abstand zu ge- B-Finale Letzte geworden war, gewann sie läßt sich über ihre Probleme bei der winnen. „Ich dachte von mir: Alles was du bei den Spielen von Atlanta 1996 die Sil- Körperpflege aus: „Ich kann keine Haar- machst, ist falsch.“ bermedaille über 100 Meter Freistil. Ihre packungen oder Weichspüler verwenden, Solche Brüche, glaubt Dirk Lange, der derzeitige Form, beschrieb die Konkurren- weil sonst die Badekappe rutscht.“ nach der privaten Trennung nur noch San- tin Anja Buschschulte‚ unlängst so: „Wenn Während ihr Manager Werner Köster dra Völkers Trainer ist, „gehören zum Ge- bei einem Wettkampf Sandra antritt, geht über Gewichtsprobleme raunt, sorgt sich schäft“. Ein wahrer Champion müsse ler- es für den Rest nur noch um Rang zwei.“ die „Bunte“: „Langsam verglüht ein nen, sich von Konkurrenten zu emanzi- Ein schönes Lob. Aber genug ist ihr das Stern.“ Kristin Otto, sechsfache Olympia- pieren – sie abzuhaken, sie zu vergessen. noch nicht. Und deshalb steht sie an ei- siegerin von 1988 und heutige ZDF- Lange, 36, ist ein Mensch, der immer nem herrlichen Sommertag, den Kopf fast Schwimmexpertin, sieht van Almsick „in nach vorn schaut. „Stillstand ist Rück- bis an die Knie gedrückt, in Absprung- einem tiefen Zwiespalt“. Ein Teil ihres Ichs schritt“, lautet einer seiner etwas brachia- position auf dem Startblock im Hamburger suche zwar noch nach dem sportlichen Er- len Lieblingssätze. Früher war er wegen Dulsberg-Bad und ärgert sich. Das Pro- folg, die andere Seite sage aber: „Mir geht’s solcher Sprüche in der Schwimmszene blem ist ihr Gesäß. „Es hängt zu hoch“, ja auch so gut.“ ziemlich unbeliebt. Insider glauben gar, der rügt Lange. „Aber wie soll ich den Hintern Da ist wohl was dran. Auf 17 Millionen Hochtöner sei der eigentliche Grund dafür, denn weiter runterkriegen?“ keift die Mark wird van Almsicks Vermögen ge- warum sein Schützling immer so schlecht Sportlerin zurück. schätzt. Kürzlich schloß sie einen Sponso- rüberkam. Mittlerweile zollt ihm die Bran- Auf die Beantwortung dieser Frage renvertrag mit einem Produzenten nobler che Respekt. Denn daß sich Sandra Völker kommt es womöglich an. Denn der richtige Uhren ab. zur Nummer eins entwickelte, hängt auch Start wird beim „finalen Wettkampf“, so Solche Deals wird Sandra Völker, die mit seiner Arbeit zusammen. spricht Völker schon jetzt über die Olympi- seit einigen Jahren für Bademoden wirbt, Der Coach wagte es, mit herkömmlichen schen Spiele 2000 in Sydney, alles entschei- in ihrer Karriere wohl nicht mehr erwarten Lehrmeinungen zu brechen. Während ins- den. Deshalb sind am Beckenrand Video- können. Stefan Füg, der sie im Auftrag des besondere die Kollegen aus der ehemaligen kameras postiert, anhand deren Aufnahmen Managementriesen IMG vermarkten soll, DDR der Ansicht sind, auch Kurzstrecken- Völkers „Startimpuls“ analysiert werden hat bislang keinen weiteren Werbepartner schwimmer wie Völker benötigten vor al- soll. Keine andere deutsche Schwimmerin vermitteln können. „Sandra“, weiß Füg, lem Ausdauer, setzte er andere Prioritä- arbeitet derart professionell. „Ihre Beses- habe „eben das Pech, nur die Nachfolgerin, ten. Statt im Wasserbecken nur Kilometer senheit ist legendär“, lobt Lange. nicht das Original zu sein“. abzureißen, findet sich Völker nun häufiger Gold in Sydney ist der Anspruch, den die Erst jüngst scheiterte der Abschluß mit im Kraftraum oder auf der Tartanbahn ein, Norddeutsche an sich stellt. So nebenbei einem amerikanischen Hersteller von Ra- um Muskeln für die Schnellkraft zu trai- würde sie damit auch den Schatten van sierwerkzeug. Die Firmenoberen senkten nieren. Lange hat ein einfaches Bild für Almsick loswerden. Denn das Berliner Gla- nach Probeaufnahmen den Daumen – eine sein ungewöhnliches Trainingskonzept: mour-Girl kennt olympisches Gold nur Werbefigur im Badeanzug war ihnen „Man muß doch nur den 100-Meter-Läufer vom Dekolleté ihrer Gegnerinnen. Und zu sexy. Gerhard Pfeil

der spiegel 28/1999 115 Werbeseite

Werbeseite Panorama Ausland

SERBIEN Auf dem Vulkan Oppositionsführer Zoran Djindjiƒ, 46, Chef der Demokrati- schen Partei, über die Kampagne gegen Präsident Milo∆eviƒ

SPIEGEL: Sie schlagen die Bildung einer Übergangsregierung vor. Wie soll die aussehen? Djindjiƒ: Der ehemalige Gouverneur unserer Nationalbank, Dragoslav Avramoviƒ, sollte sie aus Experten formieren. Par- teien werden darin nicht vertreten sein. SPIEGEL: Was wäre Aufgabe dieser Regierung? Djindjiƒ: Die Wiederherstellung der diplomatischen Beziehun- gen zu jenen Ländern, zu denen sie während der Nato-Luftan- griffe abgebrochen wurden. Außerdem die sofortige Teilnahme Jugoslawiens an einem Marshall-Plan für den Wiederaufbau. Darüber hinaus muß es ein Sofortprogramm für die Rückkehr der Serben in das Kosovo geben und bessere Beziehungen zu Mon- tenegro. Anfang 2000 könnte es dann zu Neuwahlen kommen. SPIEGEL: Was macht Sie so sicher, daß Milo∆eviƒ vorher zurücktritt? Djindjiƒ: Er sitzt auf dem Vulkan und wird unter dem Druck der Demonstrationen zurücktreten – spätestens in sechs Monaten. Ich er- warte allerdings eher ein indone- sisches Schicksal für ihn wie mit Suharto und nicht ein gewaltsa- AFP / DPA mes Ende à la Ceau≠escu. Armee AP Djindjiƒ und Polizei werden ihn nicht Demonstration von Milo∆eviƒ-Gegnern stützen. Die sind ebenfalls maß- los enttäuscht und werden keinen Konflikt mit der Bevölke- sam mit den Sozialisten gegen eine Ablösung Milo∆eviƒs aus- rung riskieren. gesprochen. Im August werden wir die Demonstrationen nach SPIEGEL: Könnten die Demonstrationen nicht zum Bürgerkrieg Belgrad bringen. Vielleicht fällt er ja dann. führen? SPIEGEL: Das Regime schmäht Sie als Nato-Lakai und Verräter. Djindjiƒ: Überlebt Milo∆eviƒ den Herbst, wird er möglicherweise Djindjiƒ: Nachdem auch Patriarch Pavle zum Verräter erklärt den Bürgerkrieg riskieren. Aber wir werden Widerstand leisten, wurde, befinde ich mich in guter Gesellschaft. Serbien und Ju- auch wenn die Sozialisten mit Waffen gegen uns vorgehen. goslawien sind auf dem Weg in den Westen. Wir glauben dar- SPIEGEL: Ist die Opposition nach all den Querelen der vergan- an. Bitte, glauben auch Sie an uns. genen Jahre zu einem einheitlichen Auftreten fähig? SPIEGEL: Würden Sie Milo∆eviƒ an das Haager Kriegsverbre- Djindjiƒ: Die erste Geige spielen jetzt die Bürger. Aber nie- chertribunal ausliefern? mand hat ein Monopol auf Proteste. Im übrigen hat sich die Djindjiƒ: Er sollte sich freiwillig stellen und sich für seine Taten Serbische Erneuerungsbewegung unter Vuk Dra∆koviƒ gemein- verantworten.

ITALIEN Anläufen erstmals im inneren Füh- ten die Konservativen allzu große Nähe rungszirkel gleichberechtigt neben zu Berlusconi gescheut. Immerhin ist Berlusconis Richter CDU-Chef Wolfgang Schäuble und Spa- der Italiener in mehreren erstinstanzli- niens konservativem Premier José chen Urteilen wegen Bestechung, Bi- ilvio Berlusconi, Medienzar und María Aznar präsentieren. Bislang hat- lanzfälschung und illegaler Parteienfi- SChef der stärksten Partei Italiens nanzierung verurteilt worden. Berlus- (Forza Italia), steht unter neuem Ver- coni wies die neue Anschuldigung als dacht: Die Mailänder Staatsanwalt- „Theorem ohne Kopf und Schwanz“ schaft beschuldigt ihn, 1991 den römi- zurück. Die Staatsanwälte dagegen schen Richter Vittorio Metta mit rund glauben, die Zahlungen an den Richter 560000 Mark bestochen zu haben. Der belegen zu können. Ein von diesem Vorwurf kommt nicht nur Berlusconi 1991 formuliertes Urteil hatte der Ber- denkbar ungelegen. Beim Gipfeltreffen lusconi-Firma Fininvest den Weg zur der christdemokratischen und konserva- umstrittenen und heftig umkämpften tiven Parteien der EU vorige Woche in Übernahme des Verlagshauses Monda-

Spanien durfte sich der forsche Unter- AP dori freigeräumt – mitentscheidend für nehmer nach jahrelangen vergeblichen Forza-Italia-Chef Berlusconi den weiteren Aufstieg Berlusconis.

der spiegel 28/1999 117 Panorama

NORDIRLAND Betonsärge für IRA-Waffen er festgefahrene Friedensprozeß von DBelfast könnte noch gerettet werden, wenn den britannientreuen Unionisten ein Entwaffnungsplan ausreicht, den eini- ge Mitglieder der republikanischen Un- tergrundarmee IRA derzeit propagieren. Sollte David Trimble, der designierte pro- testantische Regierungschef für die Kri- senprovinz, fristgerecht am Donnerstag dieser Woche zwei politische Vertreter der IRA in das neuzubildende Kabinett auf- nehmen, wollen die katholischen Unter- grundkämpfer eine neuerstellte Inventar- liste ihrer Waffenbestände übergeben. In Depots auf beiden Seiten der Grenze so- wie in der südwestirischen Grafschaft Kerry ruhen nach Schätzungen bis zu drei Tonnen Semtex-Sprengstoff, mehrere hundert Kalaschnikows, Luftabwehrrake- ten und Raketenwerfer.Wird das Karfrei- tagsabkommen von 1998 auch in weiteren Untergrundkämpfer der IRA

RUSSLAND weit beliebter ist als deren Präsident Boris Jelzin. Mit Gespür für Volksstim- Idee der Einheit mungen umwirbt Lukaschenko die „Pa- trioten Rußlands“, verdammt den elorußlands autokratischer Präsi- „Weltmonopolismus der USA“ und prä-

Bdent Alexander Lukaschenko möch- sentiert sich als Vorkämpfer „für Unab- / SYGMA S. PAGANO te nach der Schaffung eines Staatenbun- hängigkeit und nationale Ehre“ der Sla- Entführter Airbus in Marseille (1994) des mit Rußland Präsident der neuen wen, die „Leute des Blutes“ seien. Die Slawen-Union werden. Der Vereini- „Idee der Einheit“, so der belorussische FRANKREICH gungsvertrag zwischen Rußland und Präsident, sei „genetisch in uns ange- Belorußland soll nach dem Willen der legt“. Eine Vereinigung könnte die geo- Algerischer Frühling russischen Regierung im Oktober unter- strategischen Gewichte in Europa ver- zeichnet werden. Damit will die Mos- schieben: Die drei baltischen Republi- ach der Entscheidung des algeri- kauer Führung ein Gegengewicht gegen ken wären von Großrußland beinahe Nschen Staatspräsidenten Abdelaziz die erweiterte Nato schaffen und das umschlossen, das Nato-Mitglied Polen Bouteflika, Tausende islamistischer zunehmend populäre Thema der „Sla- hätte eine gemeinsame Grenze mit dem Häftlinge freizulassen, will Paris die wischen Einheit“ nicht allein Luka- neuen östlichen Machtblock. eingefrorenen Beziehungen zu dem schenko überlassen. Maghrebstaat wieder aufwerten. Staats- Der Minsker Allein- präsident Jacques Chirac wird Algerien, herrscher kann sich je- das in einem blutigen Krieg 1962 seine doch in einer Abstim- Unabhängigkeit von Frankreich ertrotz- mung über das künfti- te, einen Besuch abstatten. Den neuen ge Oberhaupt der Sla- „algerischen Frühling“ in dem Bürger- wen-Union Chancen kriegsland (etwa 80000 Tote seit 1992) ausrechnen. Umfragen sollen weitere Schritte begleiten: Wie- und Reaktionen bei deraufnahme der Direktflüge von Air Lukaschenko-Besu- France und Air Algérie zwischen den chen in der russischen beiden Staaten; sie waren nach Ent- Provinz wie etwa ver- führung eines Airbus’ durch Islamisten gangene Woche in Si- im Dezember 1994 eingestellt worden. birien zeigen, daß der Ferner will Frankreich das als schikanös

frühere Sowchosen- DPA empfundene Limit von nur 47000 Visa Leiter bei den Russen Präsidentenkollegen Jelzin, Lukaschenko für Algerier auf 200000 erweitern.

118 der spiegel 28/1999 Ausland

CHINA rungschefs finden sich vor allem im Na- Punkten verwirklicht, soll nach IRA- tionalen Volkskongreß (NVK). Hinter Vorstellungen der Chef der nordiri- Machtkampf im Badeort ihnen steht offenkundig der NVK-Vor- schen Entwaffnungskommission, der sitzende und Zhu-Vorgänger Li Peng. kanadische General John de Chaste- n Beidaihe, der traditionellen Som- Vor einer Delegation japanischer Politi- lain, diese Depots inspizieren dürfen Imerfrische von Chinas Spitzenfunk- ker setzte sich Li deutlich von Zhu ab: und dabeisein, wenn die Waffen mit tionären, wird sich das Schicksal des China brauche sich für die WTO-Mit- Beton übergossen werden. Premierministers Zhu Rongji, 70, und gliedschaft keine Vorschriften machen Ob ein solches Verfahren den Politi- seiner Reformpolitik entscheiden. In zu lassen. Und zweimal bereits ließ Li kern der protestantischen Seite aus- dem Badeort am Bohai-Meer trifft sich Peng eine Gesetzesvorlage des Rivalen reicht, ist jedoch zweifelhaft: Sie ha- Pekings Elite im August zu informellen abblitzen – ein ungewöhnlicher Vorgang ben bislang darauf bestanden, daß die Gesprächen, um den in dem willfährigen IRA mit der Abgabe ihrer Waffen be- politischen Kurs fest- Scheinparlament. ginnt, noch bevor ihre Vertreter ins zulegen. Konservative Verschärft wurde die Kabinett einziehen dürfen. Diese Ge- Genossen werfen Zhu Fronde gegen Zhu ste war den Protestanten vom briti- vor, bei seinem USA- nach dem Nato-An- schen Premier Tony Blair – leichtfertig, Besuch im April zu griff auf die chinesi- wie sich jetzt erweist – versprochen viele Zugeständnisse sche Botschaft in worden. gemacht zu haben. Belgrad; der Premier

Eine freiwillige Zerstörung ihrer eige- Um Chinas Beitritt AFP / DPA verhalte sich den nen Waffen sei das Äußerste, was sich zur Welthandelsorga- Premier Zhu, Präsident Clinton USA gegenüber zu bei den Untergrundkämpfern in der nisation (WTO) zu nachgiebig, hieß es. IRA durchsetzen lasse, behaupten da- ermöglichen, hatte Zhu versprochen, Zhu geht derweil selbst in die Offensi- gegen die Verfechter des neuen Plans; den Markt für ausländische Firmen ra- ve. So kritisierte er negative Folgen des eine Übergabe würde einer Kapitula- dikal zu öffnen. Der Regierungschef Drei-Schluchten-Staudamms, etwa den tion gleichen. Dennoch erscheint eine will mit kapitalistischer Konkurrenz die Zwang, bis zu drei Millionen Menschen Spaltung der IRA unausweichlich: Nur maroden Staatsbetriebe auf Trab brin- umzusiedeln. Das riesige Wehr am höchstens zwei Drittel der Unter- gen. Zahlreiche Kader fürchten, die Jangtse ist ein Lieblingsprojekt Li

GAMMA / STUDIO X grundkämpfer wollen die Einbetonie- Schocktherapie Zhus werde zu noch Pengs. In Beidaihe will Zhu nun Skepti- rung ihres Arsenals hinnehmen. höherer Arbeitslosigkeit und zu sozia- ker überzeugen und die Reform der len Unruhen führen. Kritiker des Regie- Staatsbetriebe vorantreiben.

JAPAN dern, wäre die Rolle des Militärs noch KROATIEN immer beschränkt: „Derzeit kann Japan Neue Aufgabe für beispielsweise US-Truppen bei Krisen Präsidentensohn als in benachbarten Regionen nicht direkt die Streitkräfte? unterstützen, sondern muß sich auf lo- Geheimdienstchef gistische Rückendeckung beschränken“. ührende Kräfte in Japans Regie- Zugleich bemüht sich Yamasaki, Ängste taatschef Franjo Tudjman, 77, hat Frungspartei fordern eine stärkere der asiatischen Nachbarn vor einer Mi- Sseinen ältesten Sohn Miroslav, 52, Rolle für die Streitkräfte – und rühren litarisierung seines Landes zu entkräf- erneut zum Leiter des Geheimdienstes damit an eines der größten Polit-Tabus ten – zumal Tokio nach dem jüngsten HIS berufen – ohne Rücksicht auf Emp- der asiatischen Wirtschaftsgroßmacht. Raketentest Nordkoreas die eigene Ra- fehlungen aus EU-Staaten, nicht länger Taku Yamasaki, 62, in der Liberaldemo- ketenabwehr vorantreiben will. Mit der Angehörige in einflußreiche Positionen kratischen Partei aussichtsreicher An- Verfassungsreform verfolge man keine zu bringen. Der Junior war bereits von wärter auf die Nachfolge von Premier Aufrüstung, so der frühere Verteidi- 1993 bis 1998 HIS-Chef, trat jedoch auf Keizo Obuchi, will im Rahmen einer gungsminister: „Aber als souveräner Druck des Westens zurück. Die EU ver- Verfassungsänderung den Artikel 9 än- Staat muß Japan das eindeutig veranker- band Wirtschaftshilfe und eine Aufnah- dern, mit dem das Land der „Anwen- te Recht auf Selbstverteidigung haben.“ me Kroatiens in europäische Organisa- dung von Krieg als Mittel zur in- tionen mit der Forderung, der Präsident ternationalen Konfliktlösung auf müsse zuvor sein undurchsichtiges Fa- immer abschwört“. Der Passus milienimperium auflösen. Tudjmans wurde nach der Niederlage Japans zweiter Sohn, Stjepan, 50, besaß damals im Zweiten Weltkrieg von den mit der Firma Domovina das Monopol USA verordnet; seit den fünfziger für die Ausrüstung der kroatischen Ar- Jahren darf Japan seine Streitkräf- mee, und Tochter Nevenka, 48, war te lediglich zur Verteidigung unter- Chefin der Ladenkette Netel, die bei halten und sich allenfalls an Frie- der Privatisierung von Staatsfirmen mit- densmissionen der Vereinten Na- mischte. Aus vertraulichen Dokumenten tionen beteiligen. Diese Einschrän- geht hervor, daß der Geheimdienst auf kungen für das Militär seien über- Betreiben des Präsidenten Telefone von holt, meint Yamasaki. Sollten die Journalisten und Oppositionellen ab- USA im Rahmen des amerika- hörte und einen Bankenskandal zu ver-

nisch-japanischen Sicherheitspak- / GAMMA STUDIO X K. KURITA tuschen suchte, in den offenbar hohe tes in Tokio Unterstützung anfor- Militärparade in Japan Amtsträger verwickelt waren.

der spiegel 28/1999 119 Ausland

USA Gewinnen ist alles Amerika rüstet schon für das Duell um die Präsidentschaft 2000: Al Gore und George W. Bush sind in den Vorwahlen kaum noch zu schlagen. Während Clintons Vize sich von seinem Chef im Weißen Haus emanzipieren will, verkörpert Bush die neue Hoffnung der Republikaner.

er Ruf zur Macht ereilte George W. litisches Amt an, als Gouverneur von Te- nach der enttäuschenden Kongreßwahl Bush im Gotteshaus. Aber er kam xas. Die Südstaatler mochten den locke- und der gescheiterten Amtsenthebung Dnicht von oben, sondern von hin- ren Burschen aus feiner konservativer Clintons gerupft am Boden. Ihr Chefideo- ten. Pastor Mark Craig predigte gerade Familie, der so undogmatisch mit den De- loge Newt Gingrich, der 1994 die konser- über Moses, der sich dem Auftrag des mokraten zusammenarbeitete, das Bil- vative Revolution ausgerufen hatte, trat Herrn widersetzen wollte, über Pflicht, dungssystem verbesserte und Steuern kleinlaut ab. Sein Nachfolger Bob Living- Führertum und Opferbereitschaft, als Bar- kürzte. Zwar läßt die texanische Verfas- ston mußte wegen Ehebruchs gehen. bara Bush sich zu ihrem Sohn vorlehnte sung dem Gouverneur wenig Macht, doch Eiferer der erzkonservativen Christli- und zischte: „Der spricht zu dir, George.“ seine praktische Art beschert ihm Sym- chen Koalition drückten die Partei mit ra- Zuvor war die einstige First Lady schon pathien. Vergangenen November wurde dikalen Positionen immer weiter nach einmal deutlicher geworden: „Ich bring’ er mit 69 Prozent triumphal wieder- rechts. Vor Beginn des Präsidentschafts- ihn um, wenn er nicht kandidiert.“ Der äl- gewählt – das war zuvor noch keinem wahlkampfes 2000 schienen die Chancen, teste Sproß wehrte ab: „Ich bin nicht so- gelungen. das Weiße Haus zurückzuerobern, für die weit.“ Nur zu gut kennt der Sonnyboy die Das ferne Washington horchte auf. Dort Republikaner schlechter denn je, zumal die Härten des Lebens im Weißen Haus. Seine lag die republikanische „Grand Old Party“ Demokraten mit Clintons Vize Al Gore Frau Laura und die 17jährigen Zwillingstöchter Jenna und Barbara waren ebenfalls mäßig begeistert von der Aussicht, nur noch mit Bodyguards aus- gehen zu dürfen. Doch nach jenem Gebetstag im Januar erlag George W. Bush, 53, den Einflüsterungen seiner willensstarken Mutter. Er beschloß, Präsident der Ver- einigten Staaten zu werden, das von seinem Vater 1992 an den Demokraten Bill Clinton verlorene Amt für die Repu- blikaner zurückzugewinnen. Nur einmal konnte bislang der Sohn eines Präsidenten in die Fußstapfen des Vaters tre- ten. John Quincy Adams war von 1825 bis 1829 sechster US- Präsident, sein Vater hatte als zweiter Staatschef von 1797 bis 1801 amtiert. Die Aussichten von Bush Jr., dies nun zu wiederholen, sind blendend. Die Präsidentschaft des alten Bush war die Krö- nung einer konsequenten re- publikanischen Politikerkar- riere. Bush Jr. dagegen nutzt die Gunst der Stunde. Ihn treibt keine lebenslange Ideo- logie, auch geht es ihm nicht um ein feststehendes Pro- gramm. Den Sportfan reizt die Vorstellung, das spannendste Spiel der Welt zu gewinnen. Gerade mal vor fünf Jahren, mit 48, trat er sein erstes po- Wahlkämpfer Bush, Ehefrau: „Meine Mission ist Wohlstand und der amerikanische Traum für alle“

120 der spiegel 28/1999 eine scheinbar sichere Trumpf- ne Einreiseerleichterung karte ausspielen konnten. für Computerspeziali- Eine rege Reisetätigkeit in die sten, verbesserte Export- texanische Hauptstadt Austin be- bedingungen für High- gann. Während andere Präsident- Tech-Produkte und Steu- schaftsbewerber bereits durchs ersenkungen. Land tingelten, empfing Bush auf Schecks zu 1000 der Veranda seines Hauses fast Dollar – die gesetzlich täglich Abgeordnete, Senatoren, erlaubte Spendenhöchst- Parteiobere und Berater aus Wa- grenze pro Privatperson shington. Er ließ sich bitten, Ver- – flattern schneller auf pflichtungen wurden gemacht, sein Konto, als die Buch- Verbindungen geschmiedet. halter zählen können. Denn der Heiland schien ge- Bushs Netzwerk aus al- funden. Wie kein anderer erfüllt ten Familienverbindun- Bush die Stellenbeschreibung als gen und neuen Freunden Retter der Republikaner. Er steht funktioniert reibungslos.

für Familienwerte, hat Kontakte, AP Ende Juni hatte er 36,3 einen berühmten Namen und vor Bush-Konkurrent Gore, Ehefrau: 18 Millionen Dollar gesammelt Millionen Dollar ein- allem Geld. Ein Versöhner, kein getrieben und damit den Spalter, seine Auffassungen sind ver- Das klingt gut und läßt Platz für alle Wahlkampf vollkommen auf den Kopf gleichsweise moderat, und er hat kein Pro- Hoffnungen. Das Partei-Establishment er- gestellt. blem mit ethnischen Minderheiten; latein- kannte das Potential, zumal der junge Bush, Geschockt beobachten die Mitbewerber amerikanische Einwanderer kann er auf anders als sein aristokratisch wirkender Va- in den eigenen Reihen seinen fast schon spanisch ansprechen. Die Botschaft, die er ter, volkstümlichen Charme versprüht. Er räuberischen Fischzug. Nie zuvor wurde mittlerweile landauf, landab verkündet, ist lacht, bis sich vergnügte Falten wie eine in den Vorwahlen eine solche Summe ge- simpel, aber eingängig: Einen Konservati- Ziehharmonika um seine Augen legen. Er sammelt. Den zwölf Parteirivalen Bushs – vismus mit Herz wolle er, praktisch einen läuft, als wäre er gerade vom Pferd gestie- mit Ausnahme des Verlegertycoons Steve sozialverträglichen Rechtsruck. gen: rundbeinig, Gürtelschnalle voraus, Forbes – schnürt dieser einseitige Geldfluß stiefelt er mit geradezu clintonesker Kon- taktfreudigkeit auf Menschen zu. Der Doppelpack Clinton-Gore Clintons berühmten Doppelgriff – die erweckt den Eindruck, daß die Rechte schüttelt die Hand, die Linke greift vertraulich zum Unterarm – hat er ins Te- alte Gang am Ruder bleibt xanische übersetzt: Er tätschelt die Schul- tern seiner Fans gerade so wie den Hals ei- gänzlich die Luft ab. Seit 1976 das Wahl- nes Pferdes. kampffinanzierungsgesetz in Kraft trat, ge- Nun kennt die Begeisterung der ausge- wann immer der Betuchteste die Nomi- hungerten Konservativen keine Grenzen nierung. mehr. 36 Senatoren, 100 Kongreßabgeord- Für Al Gore, 51, könnte es bei den Präsi- nete, etliche Gouverneure und 2000 Spen- dentschaftswahlen im November 2000 eng der huldigten ihrer neuen Lichtgestalt beim werden. Der Luftikus aus Texas liegt in den Antrittsbesuch in Washington. Sympathiewerten mit 54 zu 38 Prozent vor Am 12. Juni startete Bush seine Wahl- dem steifen Polit-Profi Gore. Obwohl er den kampftour für die Vorwahlen im Frühling, gesamten Apparat des Weißen Hauses hin- und seither will der Rummel nicht mehr ter sich hat, sammelte der Topmann der De- aufhören. Seine Kampagne ist längst präsi- mokraten nur etwas über 18 Millionen dial, perfekt organisiert und bis ins kleinste Dollar ein. Sein Mitbewerber Bill Bradley, Detail geplant. Seine Mitbewerber sind zu ein ehemaliger Basketballspieler und Pu- Statisten degradiert. Sein Anhang schwillt blikumsliebling, zwackte 11,5 Millionen ab. lawinenartig. Ob bei den Altreichen in Be- Dumm für Gore auch, daß Hillary Clin- verly Hills oder den Neureichen im Silicon ton mit ihrer Kandidatur für den New Yor- Valley, die Fundraising-Dinner sind ausver- ker Senatsposten zur unerwünschten Kon- kauft. Er küßt kleine mexikanische Mäd- kurrenz wird. Sie zieht nicht nur enorm chen und spielt mit schwarzen Jungs bei viel Aufmerksamkeit, sondern ebenfalls 40 Grad im Schatten Football. Und kaum er- eine Menge demokratisches Geld ab. Bei blickt er eine Hochschwangere, läßt der Fa- Clinton-müden Wählern erweckt der er- milienvater sich mit ihr ablichten. neute Doppelpack Clinton-Gore strafver- Selbst Demokraten beschnuppern den schärfend den Eindruck, daß die alte Gang Wundermann neugierig. In Los Angeles lud auch ohne Bill weiter am Ruder bleibt. der Vizepräsident von Warner Brothers, Deshalb setzt sich Gore zunehmend von Terry Semel, den Texaner in sein Haus seinem Dienstherrn ab und geißelte sogar nach Hollywood. Hundert Gäste aus der dessen Lewinsky-Affäre. Zur Strafe kriti- eher linken Entertainment-Industrie woll- siert der begabte Wahlkämpfer Clinton die ten den Republikaner kennenlernen, dar- Strategie seines Vize: Gore müsse seine unter Schauspieler Warren Beatty und Pa- Sachkenntnis ausspielen und Bush wegen ramount-Chefin Sherry Lansing. fehlender Inhalte viel schärfer attackieren.

REUTERS In einer anderen Demokratenhochburg, Derweil überlegt Bush bereits, auf staat- dem Silicon Valley, versprach Bush ei- liche Wahlkampfhilfe zu verzichten. Das

der spiegel 28/1999 121 Ausland würde ihm erlauben, bei den Vorwahlen einer, der das Land zusammenschweiße Die Liste der Todeskandidaten und der in den wichtigen Staaten ohne Beschrän- und die Wirtschaft am Laufen halte. Exekutionen ist mit Abstand die längste kungen Geld auszugeben. Doch parado- Dabei lohnt es sich, genauer auf seine im ganzen Land. 92 Gefangene starben in xerweise kann sein Reichtum auch gefähr- Taten in Texas zu blicken. Sein Plan, die Bushs über fünfjähriger Amtszeit. lich werden. Schon stempelt die Konkur- Vermögensteuer zu senken, scheiterte Sieht so ein Moderater aus? „Nach einer renz Bush zum Kandidaten des Geldes. knapp. Er erhöhte die Lehrergehälter und Zeit des Zynismus“, wettert Bush, „ist das Forbes nennt ihn ein Instrument von In- führte regelmäßige Prüfungen ein, um si- Land hungrig nach neuem Stil. Ich bin teressengruppen in Washington. „Blan- cherzustellen, daß Kinder anständig Lesen stolz, ein mitfühlender Konservativer zu koschecks für ein unbeschriebenes Blatt“, und Schreiben lernen. Doch immer noch sein, das ist meine Grundlage.“ höhnen Mitglieder des Gore-Teams. „Geld fallen besonders hispanische Kinder durch Doch nicht alle goutieren den texani- mag wichtig sein, aber Ideen sind wichti- das Schulsystem. schen Freistil des George W. Bush. Politi- ger“, sagt Clinton. Er schaffte es, im Ölland Texas High- sche Gegner und natürlich die US-Medien Der Präsident trifft damit einen neural- Tech anzusiedeln, und verhinderte per Ge- suchen derzeit nach dunklen Flecken im gischen Punkt. Denn trotz seiner Tri- setz, daß die Computerfirmen für Jahr- Leben des strahlenden Kandidaten. Denn umphzüge bleibt Bushs Vorstel- der berühmte Sohn ist ein ver- lung bisher ziemlich substanzlos. zogener Baby Boomer. Auf den Als er auf dem Flughafen von Eliteschulen Andover, Yale und San Diego unter leuchtendem Harvard fiel er auf als guter Vollmond seine Kalifornien-Tour Sportler, heftiger Trinker, Party- startete, bot er nur Symbolik: gänger und Frauenbetörer. 1968 „Meine Mission ist Wohlstand gelang es dem Sohn des da- und der amerikanische Traum maligen Kongreßabgeordneten für alle. Es gibt viel Arbeit, ich George Bush, trotz langer War- bin bereit.“ teliste in die Pilotenausbildung Seine Standardrede enthält der texanischen Nationalgarde viel Pathos und vermeidet Kon- aufgenommen zu werden. Diese kretes. Dem Amt will er die Wür- Einheit, in der sich Sprößlinge de wiedergeben, kein Kind darf wichtiger Familien tummelten, vernachlässigt werden, auch soll mußte nicht nach Vietnam. sich der Präsident nicht von Um- 1977 startete Bush mit den frageergebnissen leiten lassen. Kontakten seines Vaters und dem Doch was ist „mitfühlender Geld von Finanziers eine Öl- Konservativismus“? Bushs Ant- bohrfirma in Midland. 1978 kan- wort: „Es ist Konservativismus, didierte er für den Kongreß, wur- die Steuern zu senken. Es ist mit- de aber nicht gewählt. Vier Jah- fühlend, den Leuten mehr von re später scheiterte der Börsen- ihrem Geld zu lassen. Es ist kon- gang seiner Firma kläglich, 1986 servativ, Sozialhilfe zu verrin- zwang ihn die Ölkrise zum Fu- gern, indem man die Leute zur sionieren. Er bekam Anteile und Arbeit bewegt. Es ist mitfühlend, einen Beratervertrag und feierte. Wohlfahrtsverbände und Kir- Am Tag nach seinem 40. Ge- chen zu unterstützen, die sich burtstag erwachte Bush mit ei- dann um die Übriggebliebenen nem furchtbaren Kater und gab kümmern. Es ist konservativ, auf nach einem heftigen Krach mit Bildungsstandards zu bestehen. seiner Frau das Trinken auf. Von Es ist mitfühlend, dafür zu sor- da an sollte alles anders werden. gen, daß kein Kind zurück- Doch das „Wall Street Journal“ bleibt.“ verbreitete jüngst das „unbe- Sehr allgemein formuliert er wiesene Gerücht“, daß der Sohn

seine Prinzipien: Steuerkürzun- REUTERS bei der Amtseinführung des Va- gen, freier Handel, verbesserte Wahlkämpferin Clinton: Unerwünschte Konkurrenz ters 1989 Kokain geschnupft Bildung, weniger Regierung, habe. mehr freier Markt, mehr Militär. Reizthe- 2000-Schäden haftbar gemacht werden Im selben Jahr gelang dem jungen men wie Waffenkontrolle und Abtreibung können. Zudem sind die Umweltvorschrif- Bush endlich ein Coup ganz nach seinen weicht er dagegen aus, etwa so: Ich bin ten extrem lax. Neigungen. Mit Hilfe von Papas Kontak- gegen Abtreibung, aber die Welt ist nicht Nachdem ein Schwarzer hinter einem ten kaufte er sich in die populäre Base- ideal. Gleichgeschlechtliche Ehen findet er Auto zu Tode geschleift worden war, ballmannschaft Texas Rangers ein und zwar unnormal, aber er unternimmt nichts drückte sich Bush um die Verabschiedung wurde Team-Manager. Vergangenes Jahr dagegen. Das beruhigt die Liberalen, den eines Gesetzes, das Verbrechen gegen Min- wurde die Truppe verkauft und er reich. Rechten läßt es Hoffnung. derheiten schärfer bestrafen sollte. Statt Sein Anteil am Gewinn: 14,9 Millionen Laut einer „Newsweek“-Umfrage von dessen untersagte er den Städten, gericht- Dollar. Ende Juni wissen nur fünf Prozent der re- lich gegen die Waffenindustrie vorzuge- Schon jagen Reporter seinen Steuerbe- publikanischen Wähler viel über ihr Idol. hen. Allein 1999 verabschiedete er neun scheiden nach, wühlen in alten Akten und Manche haben davon gehört, daß er, geo- Verordnungen, die Abtreibungen er- kontrollieren, ob Bush je schräge Deals graphisch unbewandert, Griechier („Gre- schweren. gemacht hat. Der hält sich bedeckt, gibt cians“) sagte und Kosovarier, auch kann Obwohl Bush sich als Fan von Resozia- nichts zu und will nichts ausschließen: „Als er Slowenien und Slowakei nicht unter- lisierung gibt, stehen in Texas kaum Pflicht- ich jung und unvernünftig war, war ich scheiden. Der Begeisterung tut das keinen anwälte zur Verfügung; wenn überhaupt, eben jung und unvernünftig.“ Abbruch. Bush, so glauben die meisten, sei werden sie erbärmlich schlecht bezahlt. Michaela Schiessl

122 der spiegel 28/1999 Werbeseite

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KOSOVO „Sie schossen sofort“ Das Dorf Bela Crkva im Südwesten des Kosovo macht auf traurige Weise Geschichte: Hier spielte sich einen Tag nach Beginn des Nato-Bombardements das vielleicht grausamste Massaker an Albanern ab. Unter den Ermordeten sind auch sieben Kinder.

chwer drückt die schwüle Hitze auf fer im Zeugnis“, versichert der Schul- ster serbischer Ausschreitungen geworden die Hügel und das satte Weidegrün direktor, der überlebte. Im Kosovo ist die war.Am 25. März mußten sie um sechs Uhr Sder Ebene. Es hat geregnet in der schlechteste Note eine Eins. morgens erneut aufbrechen, diesmal zu- letzten Nacht, nun klebt Lehm an den Doch nicht einmal Dhuratas Schullei- sammen mit ihren Gastgebern und rund Schuhen der Frauen, die am Vormittag stungen werden erhalten bleiben, weil die tausend anderen Einwohnern des Dorfes. schweigend hinaufgestiegen sind zu den Serben, als sie das Dorf überfielen, nicht Nato-Bomber hatten in der Nacht zuvor 65 frisch aufgeworfenen, blumenbekränz- nur die Hälfte der Häuser, sondern auch gleich in der ersten Angriffswelle die Poli- ten Grabhügeln auf einer Anhöhe 300 Me- zielstrebig das Schularchiv in Brand steck- zeistation von Bela Crkva zerstört. Nun um- ter vor den ersten Häusern der Gemeinde ten. Dort, wo Lehr- und Klassenbücher, Fi- zingelten serbische Panzer den Ort, Para- Bela Crkva. beln und Zeugnisse verwahrt wurden, fin- militärs durchkämmten die Straßen. Hier im Südwesten des Kosovo liegen det man heute nur noch weiße Asche. Die Die meisten Albaner liefen in der bitte- die Killing Fields, die Felder des Todes, auf Soldateska, die hier gewütet hat, wollte ren Kälte den Belaja-Fluß entlang, in der denen die Bauern in besseren Zeiten Wein und Tomaten anbauten. Viele Einwohner hatten Verwandte in Deutschland. Die Fotos auf den Gräbern zeigen die Opfer des wahrscheinlich grausamsten Mas- sakers, das Schergen des Serbenführers Slo- bodan Milo∆eviƒ während des elfwöchigen Bombenkriegs der Nato begingen. Es mögen anderswo noch mehr Leichen gefunden werden, wie erst vorigen Don- nerstag in der Nähe der Stadt Peƒ, wo ita- lienische Kfor-Soldaten das bisher größte Massengrab im Kosovo mit rund 350 Lei- chen entdeckt haben. Es mag schlimmere Verstümmelungen, brutalere Quälereien gegeben haben. Aber die sieben Kinderkörper, die am vorvergangenen Wochenende von briti- schen Fahndern in Bela Crkva gefunden

wurden und die nun am Ortsrand ihre end- REUTERS gültige Ruhestätte fanden, haben neue Ab- Gräberfeld bei Bela Crkva: Rache der Serben für die Bomben des Westens gründe des Horrors offenbart, wie Lon- dons Außenminister Robin Cook entsetzt nicht nur Menschen, sondern auch Ge- Hoffnung, den Schlächtern im Dunkeln zu feststellte. schichte auslöschen. entkommen. Doch die Serben nahmen sie Kaltblütig haben serbische Polizisten Die zehnjährige Leonita, eine Cousine in die Zange, die Familien Zhuniqi und diese Menschen liquidiert, von hinten fast Dhuratas, wird mit dem ständigen Schmerz Spahiu hatten keine Chance. Sie liefen den durchweg mit aufgesetzter Waffe in den über den Verlust ihrer engsten Freundin ausschwärmenden Polizisten direkt vor die Kopf geschossen. „So etwas können nur aufwachsen müssen. Wenn man sie nach Gewehre, weil sie mit den Kindern das Tiere tun“, sagt der 22 Jahre alte Visar Zhu- Dhurata fragt, fängt sie an zu weinen und Tempo der anderen Flüchtlinge nicht mit- niqi, während er auf den Gräbern die sagt: „Ich gehe nur wieder in die Schule, halten konnten. Schleifen richtet. Seine Großfamilie hat al- wenn Dhurata auch mitkommt.“ Aus nur 300 Meter Entfernung mußte lein 23 Angehörige verloren. Jaja Spahiu kann an den Gräbern kaum Sahit Zhuniqi aus einem Versteck mit an- Visar kann es noch immer nicht fas- noch sprechen. Er hat hier seine Fami- sehen, wie sein Bruder Clirim mit seiner sen, daß auch seine beiden Cousinen Dhu- lie beigesetzt: seine Frau, seine Eltern, sei- gesamten Familie und die Spahius abge- rata, zehn, Dardonja, sieben, und sogar ne Schwester und seine vier Kinder – schlachtet wurden: „Sie schossen sofort, der gerade fünf Jahre alte Dardani durch sechs, neun, zehn und zwölf Jahre alt. „Ich erst töteten sie den Vater, dann den Rest Kopfschüsse hingerichtet wurden. Nur ertrage es nicht, darüber zu reden“, sagt der Familie.“ der kleine Dibran überlebte das Gemet- Jaja nur. Drei Stunden später beobachtete Sahit zel. Den Zweijährigen schützte die Lei- Seine Lebenswelt zeigte erste Risse schon einen Mann aus dem Dorf, der sich vor- che seiner Mutter, die über ihm zusam- lange vor dem Massaker. Die Spahius waren sichtig der Mordstätte näherte, offenbar menbrach. nach Bela Crkva (der Name bedeutet nach Überlebenden unter den Opfern Schulfotos zeigen Dhurata im Micky- „weiße Kirche“) geflohen und hatten bei suchte und schließlich mit einem Klein- maus-T-Shirt mit tiefbraunen Augen. Das den Zhuniqis Unterschlupf gefunden, nach- kind im Arm nach Bela Crkva zurück- Mädchen war die Klassenbeste, „nur Fün- dem ihr Heimatdorf Monate zuvor Ziel er- kehrte. Er hatte den zweijährigen Dibran

124 der spiegel 28/1999 möchte. Denn die Schandtat ereig- nete sich wie fast alle anderen blu- tigen Ausschreitungen, die nun von den Kosovaren beklagt und von den Haager Ermittlern untersucht werden, unmittelbar nach Beginn der Nato-Luftangriffe: Rache für die Bomben des Westens, denen die Serben sich wehrlos ausgeliefert fühlten. Zwar waren die Aktionen der „Operation Hufeisen“ offensichtlich von langer Hand vorbereitet. Aber ob sie von Anfang an wirklich die Vernichtung der albanischen Le- bensgrundlagen im Kosovo zum Ziel hatten, und nicht vielmehr die mi- litärische Zerschlagung der Rebel- lenarmee UÇK, bleibt ungewiß. Für den angesehenen US-Kolum- nisten William Pfaff steht jedenfalls außer Zweifel, daß die alliierte Luft- kriegsstrategie „die humanitäre Tragödie beschleunigt und ausge- weitet hat, ohne irgend etwas zu ih-

AFP / DPA rer Verhinderung beizutragen“. Albanisches Mädchen mit Fotos von getöteten Angehörigen: „So etwas können nur Tiere tun“ Der alte Dorffriedhof von Bela Crkva war zu klein, um die 65 Op- unter seiner toten Mutter gefunden. Der- und die übrigen Augenzeugen werden ihre fer alle auf einmal zu fassen. Deswegen ru- zeit lebt das Kleinkind bei Verwandten in traumatischen Erlebnisse in Den Haag zu hen die Toten nun auf dem Hügel mit ei- Deutschland. Dibran wird von dem ganzen Protokoll geben, schweren Herzens, aber nem Panoramablick in die grüne Ebene. Überfall wenig mitbekommen und nichts doch entschlossen: „Wir wollen die Täter Von hier oben kann Lindohare Zhuniqi, verstanden haben, aber andere Überle- identifizieren“ – wenn die denn je gefaßt 15, die Stätten, an denen ihr Vater und ihre bende werden die qualvollen Erinnerungen werden. Geschwister starben, gut mit bloßem Au- ein Leben lang mit sich herumtragen müs- Bei ihrer Verfolgung könnten sogar in- gen erkennen. „Von den Höhen dort drü- sen. Sie wollen und dürfen nicht vergessen, ternationale Verwicklungen drohen. Einige ben schossen sie mit Panzern“, berichtet denn auf ihre Aussage kommt es an, wenn der Killer sollen nämlich Russen gewesen sie, „und auf den Silos dort drüben saßen es darum geht, die Verantwortlichen für sein, Freiwillige in serbischen Diensten, be- die Heckenschützen“, die sich schon ab die Bluttat zur Rechenschaft zu ziehen. haupten etliche der Überlebenden. Diese drei Uhr nachts auf die Lauer gelegt hatten, Der Name Bela Crkva, früher ein glück- Uniformierten hätten nicht Serbisch ge- um auf Gelegenheit zum Töten zu warten. licher Ort mit vergleichsweise wohlhaben- sprochen, auch waren ihnen offenbar die Lindohare kauert dicht neben den Frau- den Bauern, steht an herausgehobener jugoslawischen Geldscheine fremd, die sie en im vertrockneten Gras vor den Grä- Stelle in der Anklageschrift, die das Inter- ihren Opfern abnahmen. bern, als suche sie noch immer Schutz. Das nationale Haager Kriegsverbrechertribu- Die Stelle, an der die sieben Kinder er- Flüßchen Belaja, an dem so viele starben, nal gegen Milo∆eviƒ und vier seiner führen- schossen wurden, ist ein hübscher Platz war früher das Paradies der Angler aus den Helfer erstellt hat. Nicht nur der Mord am Bach, mit Mirabellenbäumen und wil- dem Dorf. Doch seit dem 25. März fischt an den beiden Familien fand Eingang in den Pflaumen. Sie wird markiert durch hier niemand mehr, „nie wieder“, versi- die Haager Akten. Auch die Fortsetzung eine fünf mal zwei Meter große Erdkuhle, chert einer der Albaner. des Gemetzels wenig später am Flußufer die nicht besonders tief ist.Als Enver Zhu- Steffen Haug, Siegesmund von Ilsemann, zählt zu den Anklagepunkten. niqi und seine Freunde sie nach der Tat Claus Christian Malzahn Dort spürten serbische Sicherheitskräf- heimlich aushoben, war der Bo- te mehr als drei Dutzend Männer auf, die den noch gefroren. vergebens in den Büschen Schutz gesucht Am Bach liegt, in den Matsch hatten, unter ihnen der Busunternehmer getreten, noch immer der rech- Isuf Zhuniqi: „Wir mußten uns am Ufer in te Gummistiefel eines Kindes. einer Reihe aufstellen. Zuerst wurden wir Vermutlich hat er Dardani ge- verprügelt, wir mußten uns ausziehen und hört, dem kleinen Bruder Dhu- unser Geld abgeben. Sie zerrissen unsere ratas, sein Cousin Enver glaubt Pässe. Dann begannen sie zu schießen. ihn zu erkennen. Dem Mann neben mir haben sie den hal- Kriminalisten und Gerichts- ben Kopf weggeschossen. Ich wurde in die mediziner vom Haager Tribunal Schulter getroffen und fiel ins Bachbett. haben ein rot-weißes Absperr- Andere Körper stürzten auf mich. Das war band aus Plastik zurückgelas- meine Rettung.“ sen. Es trägt die Aufschrift: „Do Wer sich noch rührte, wurde mit einem not cross“. Kopfschuß erledigt. Nur jene Glücklichen, Das Gemetzel von Bela die wie Isuf unentdeckt unter mehreren Crkva trübt auch das strahlende

Leichen lagen, entgingen der systema- Licht, in das die Nato ihren Bal- DPA tischen Tötungsorgie. Isuf, Sahit, Enver kan-Feldzug so gern rücken Beisetzung der ermordeten Kinder: Tod am Bach

der spiegel 28/1999 125 W. BELLWINKEL W. Hauptort des deutschen Sektors Prizren: Brennpunkt von Kriminalität und Anarchie Zentrale des Irrsinns Die Bundeswehrsoldaten streiten im Kosovo an ungewohnter Front. Als Polizisten, Staatsanwälte, Richter und Gefängniswärter kämpfen sie in Prizren mit deutschem Rechtsempfinden für Recht und Ordnung.

s ist schwül und stickig, ein Geruch UÇK-Quartier verschleppt zu haben – von Kfor-Soldaten hier beinahe stündlich mut- von Schweiß und Urin zieht durch dort ist der nie zurückgekehrt. Bungu sei maßliche Plünderer, Brandstifter oder an- Eden Flur des Gefängnisses in Priz- hingerichtet worden, erklärt Sopa treuher- dere Gewalttäter ab. ren. Im Vernehmungszimmer sitzt Jeton zig, doch damit habe er „nichts zu tun“. Verbrecherjagd ist für die deutschen Mi- Krasniqi, 25, und beteuert seine Unschuld. UÇK-Soldat Naser Brahimaj, 20, soll litärpolizisten ein ungewohntes Geschäft: Rein zufällig sei er vor vier Tagen nachts eine Frau vergewaltigt haben. „Kann nicht Zu Hause in Deutschland sind sie vor allem an jenem Café in Prizren vorbeigekom- sein“, erklärt der schmächtige Mann, „ich mit Personenschutz und Verkehrskontrol- men, als dort Irfan Byrkuqi aus Draga∆ von schwöre bei Gott, ich kenne die nicht ein- einer Kugel getroffen wurde. Vor dem Lo- mal, die mich beschuldigt hat.“ kal habe es, erzählt Krasniqi immer wieder, Seit drei Wochen hat die deutsche Mi- eine Schlägerei gegeben. Er habe lediglich litärpolizei das Gefängnis, das von außen eine Waffe, die zu Boden gefallen war, auf- einer Schule aus den siebziger Jahren in ei- gehoben, „um Schlimmeres zu verhin- ner deutschen Kleinstadt ähnelt, wieder in dern“; dabei habe sich „versehentlich“ der Betrieb genommen. Während des Krieges Schuß gelöst. herrschte hier die gefürchtete Sonderpoli- Major Andreas Naschke, 38, sinkt ir- zei des serbischen Innenministeriums gendwann matt in seinen Sessel und ver- MUP. Sie richtete Folterkammern ein, die dreht die Augen. Der Militärpolizist aus Werkzeuge stellten die Kfor-Soldaten si- dem mecklenburgischen Hagenow ist cher. Dann gab die UÇK ein Kurzgastspiel, gleichzeitig Chef der Polizeistation und danach war kein Aktenschrank mehr heil, Gefängnisdirektor. Das ist heute schon die und die alten blauen Uniformen türmten fünfte Vernehmung dieser Art, und neben sich mit Gasmasken, Papier und Patro- ihm stapeln sich die Handakten für meh- nengürteln zu gewaltigen Müllbergen. rere Dutzend weitere. Nie gibt es Zeugen, In vielen Stunden haben die Deutschen nie ein Geständnis. das Gebäude besenrein gefegt und auch Dem Weinbergarbeiter und UÇK-Sol- die vielen bei albanischen Siegesfeiern ge- daten Nuhi Sopa, 38, wird vorgeworfen, leerten Flaschen entsorgt. Exekutive und den angeblichen Serben-Kollaborateur Iz- Judikative brauchen auch in Krisenzeiten met Bungu, 33, zu Hause abgeholt und zum ein sauberes Arbeitsfeld. Nun liefern die Häftlinge, Aufseher im Gefängnis von Prizren:

126 der spiegel 28/1999 Ausland

len betraut. Hier im Kosovo, wo derzeit Shaban Abazi, 62, gibt an, seine Woh- hier gewesen ist, kommt bestimmt nicht als weder eine funktionstüchtige Polizei noch nung sei ausgeraubt worden, während er der zurück, der er mal war.“ Gerichte existieren, sollen sie, bis wieder schlief. Zija Berisha, 47, will seinen Traktor Bis Mitte vergangener Woche waren es eine zivile Verwaltung errichtet ist, für und den Anhänger zurück, den Serben zu gerade 18 Soldaten, die im deutschen Sek- Recht und Ordnung sorgen – nach deut- Kriegszeiten entwendet haben. Eine Frau tor Polizeiaufgaben erfüllten, inzwischen schen Standards und deutschem Verfah- meldet, daß in ihrem Garten ein Bein liegt, sind es 60. Zudem fährt die zur Patrouille rensrecht, aber eben auch unter Berück- einem Mann wurde das Auto gestohlen, umfunktionierte Leichte Flugabwehr aus sichtigung von Uno-Vorschriften und ju- zwei Häuser brennen, zwei Menschen, ver- Lütjenburg mit ihren Jeeps Streife rund goslawischen Gesetzen. mutlich Opfer eines Massakers, werden ver- um die Uhr. Diese gewaltige Aufgabe wäre selbst von mißt, und Ervehe Gashi, 40, Angestellter Seit dem 24. Juni gibt es auch eine einem funktionierenden Team aus Polizei, einer Bank, wird von UÇK-Leuten bedroht, Weisung aus dem deutschen Verteidi- Staatsanwaltschaft und Richtern gungsministerium, wie mit mut- kaum zu lösen. Prizren ist zu einem maßlichen Kriminellen zu verfah- Brennpunkt der Kriminalität gewor- ren ist. Ein Zwölf-Punkte-Kata- den, fast überall herrscht Anarchie. log, der von Mord, Plünderung, Jeder nimmt sich, was er will. Un- schwerer Körperverletzung, Raub, schuldige Zivilisten und angebliche Brandstiftung bis zu Vergewalti- Kollaborateure werden ermordet, gung und Bedrohung reicht, regelt, Frauen vergewaltigt. Systematisch wer ins Gefängnis muß. Das hilft vertreiben und berauben albanische schon weiter, denn die rechtliche Kriegsgewinnler Serben und Roma, Lage im Kosovo ist verworren: besetzen deren Häuser oder zünden Nach dem Mandat der Uno sollen sie an. Unbekannte sprengten vor Nato-Truppen zwar vorüberge- wenigen Tagen um Mitternacht im hend die öffentliche Ordnung Zentrum von Prizren das Denkmal sicherstellen. Weil Kfor keine Be- des großserbischen Zaren Stefan satzungsmacht und Kosovo noch

Du∆an. In Kori∆a, zwölf Kilometer K. MÜLLER immer Teil Jugoslawiens ist, gilt nordöstlich der Stadt, wurde der ser- Razzia in Prizren: Jeder nimmt sich, was er will jedoch weiterhin jugoslawisches bische Friedhof planiert. Recht. In jeder Nacht heult die Sirene der Feu- die das Geldinstitut übernehmen und ihn Der Rechtsberater des deutschen Mi- erwehr, fallen Schüsse. Und während auf hinauswerfen wollen, weil er mit den Ser- litärs, Oberst Gert Both, legt deshalb das den Hängen von Prizren die serbische Alt- ben zusammengearbeitet haben soll. Recht vor 1989, dem Jahr, in dem das Ko- stadt brennt, schallen durch die Bars unten Geduldig notiert Henkel mit Hilfe eines sovo seine Autonomie verlor, zugrunde. am Ufer der Bistrica die Lieder der natio- Dolmetschers den Sachverhalt, am Abend Gleichzeitig sollen die Polizeistation und nalpatriotischen Sänger Leonora Jakupi brummt ihm der Schädel. „Dieses schreck- das Gefängnis in Prizren nach den Regeln und Arif Vladi, die von den Heldentaten liche Volk“, das „einfach nicht aufhören eines ordentlichen Reviers und einer Ju- der Kosovo-Befreiungsarmee UÇK be- kann“, ist ihm unheimlich: „Ohne Waffe stizvollzugsanstalt in der Bundesrepublik richten: „Wir waren hier zuerst, wir ginge ich hier keinen Schritt vor die Tür.“ geführt werden. Die meisten lösen das Di- werden immer bleiben. Wir sterben fürs Die Fenster ihres provisorisch einge- lemma wie Feldjäger Henke: „Da muß Kosovo.“ richteten Reviers haben die Soldaten not- man eben so tun, als wenn man Riesen- Vor der neuerrichteten Polizeistation bil- dürftig mit Pappe gesichert. So geben sie ahnung hat, auch wenn man gar keine hat.“ den sich Menschenreihen bis zur Straße. nachts wenigstens keine Zielscheibe für „Wir können aus dem Kosovo kein Stabsunteroffizier Peter Henkel, 23, aus Anschläge ab. Geschlafen wird Mann ne- Nordrhein-Westfalen machen“, sagt Oberst Demmin bei Greifswald ist den ersten Tag ben Mann in den hinteren Räumen – wer Both. So müssen Inhaftierte mitunter fünf im Kosovo-Einsatz. Zwischen 9 Uhr mor- einen Platz auf einem Schreibtisch ergat- Tage auf die Vernehmung warten, einen gens und 20 Uhr abends nimmt der Feld- tert hat, muß sein Kopfkissen wenigstens Haftrichter, dem sie spätestens am näch- jäger die Anzeigen der Bürger entgegen. nicht mit Kakerlaken teilen. sten Tag vorgeführt werden müßten, gibt es Die drei Telefone der Polizeistation klin- nicht. Both, einziger verfügbarer Jurist mit geln meistens gleichzeitig. „Einer after dem der Befähigung zum Richteramt, ist meist anderen“, kämpft sich Hauptfeldwebel Pe- im Feldlager Tetovo in Mazedonien und ter Molzahn, 40, aus Wittenburg durch das kann nur in dringenden Fällen erreicht Sprachengewirr. Wie die meisten hier hat werden. der bullige Zweimetermann in den ver- Schon Naschkes Vorgänger, Feldjäger- gangenen 40 Stunden so gut wie nicht ge- major Norbert Reiser, 36, hatte kritisiert, schlafen, sein Kiefer zittert vor Anspan- „Polizist, Gefängnischef und Haftrichter in nung, Hauptnahrungsmittel sind seit Tagen einem“ sein zu müssen. Seither sitzen nun, Zigaretten und Kaffee. Molzahn ist über- um Exekutive und Judikative wenigstens zeugt: „Kosovo ist das Irrenhaus Europas, scheinbar zu trennen, allabendlich der Bri- und das hier ist die Zentrale.“ gadegeneral Fritz von Korff, 56, und sein Die meisten jungen Militärpolizisten se- Stellvertreter, Oberst Rolf Bescht, 52, per- hen an einem Tag mehr an Grausamkeiten sönlich über den Akten und bestimmen, und Not als in ihrem ganzen bisherigen Sol- wer raus darf und wer bleiben muß. datenleben. Nach Mitternacht wertet Ober- Wie lange die Improvisation noch dau- feldwebel René Schröder, 31, aus Neumün- ert, ist ungewiß. Prizrens Uno-Beauftragter ster die Fotos der Spurensicherung vom ver- Mark Baskin, der den Aufbau der zivilen gangenen Tag aus: Sie zeigen zwei Tote aus Verwaltung organisiert, erarbeitet derzeit einem Dorf nahe Prizren, mumifizierte Lei- eine Liste mit örtlichen Richtern, die bald

P. HENDRICKS / DER SPIEGEL HENDRICKS P. chen, deren Haut bereits über dem Brust- den Dienst aufnehmen sollen. Bis dahin „Das Grand Hotel ist leider belegt“ korb spannt. Schröder ist sich sicher: „Wer bereist ein Uno-Gericht – bestehend aus

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Richtern, Staatsanwälten und Pflichtver- teidigern – die Gefängnisse des Kosovo, um die Haftgründe der Insassen zu prüfen. Noch aber müssen sich in der Mehrzahl „Persönlich gefestigt“ der Fälle die deutschen Soldaten die meist verwirrenden Geschichten der Beschul- Deutsche Polizisten bereiten sich auf ihren Einsatz im Kosovo vor. digten anhören. „Ein Fall, zwei Beteiligte, drei Storys“, klagt Oberleutnant Marcus ach einem Kabinettsbeschluß cher Gewalt: einheimische Polizisten Granzow, 29, aus Hamburg über die Men- vom vergangenen Mittwoch zu rekrutieren und auszubilden. In 18 talität der Klientel: „Die laufen erst mit Nwird Deutschland 210 Polizisten Monaten sollen die ersten lokalen Kräf- der Kirche dreimal ums Dorf, bevor sie zur ins Kosovo schicken. Sie sind Teil eines te den Crash-Kurs an der geplanten Po- Sache kommen.“ internationalen Kontingents von 3100 lizeiakademie absolviert haben. Die meisten Kriminalfälle, die bei ihm Beamten, die im Auftrag der Vereinten Noch aber ist die Zusammensetzung auflaufen, sind für Polizei- und Gefängnis- Nationen die sichere Rückkehr der der künftigen Kosovaren-Polizei strittig. chef Naschke „Nachkriegswirren“: der Va- Flüchtlinge und „den Aufbau stabiler Die UC¸K unterhält bis heute ein fili- ter, der mit der ganzen Familie zum Plün- gesellschaftlicher Strukturen ermögli- granes Polizeisystem und beansprucht dern geht, den sechsjährigen Sohn und die chen sollen“. die Schlüsselpositionen. „Unsere Leu- Oma dabei, die vielen illegalen Woh- 70 Beamte wird der Bundesgrenz- te haben das am meisten verdient, das nungsbesetzungen, bei denen Flüchtlinge schutz stellen, 140 Polizisten kommen sind unsere Helden“, erklärt der Prä- anderer Leute Häuser belegen, oder der aus den Ländern. Die Quoten, welche fekt von Prizren, Kadri Kryeziu, 40, Lkw-Fahrer, der für 50 Mark Diebesgut Länder wie viele Leute für das Kosovo eine Art UC¸K-Bürgermeister, einge- befördert, angeblich ohne den Täter zu abzustellen haben, werden kennen. „Aus diesen Vernehmungen folgt nach dem sogenannten Kö- nichts, die machen wir alle für den Papier- nigsteiner Schlüssel ermit- korb“, sagt der Naschke, der am liebsten telt, nach dem auch Asylbe- nur die Schwerkriminellen behalten und werber in Deutschland auf den Rest laufenlassen würde. die Bundesländer verteilt Das würde auch die Situation im Ge- werden. Dieser Schlüssel fängnis verbessern, in dem wie früher eine setzt sich aus Einwohnerzahl Zwei-Klassen-Gesellschaft herrscht. Da und Finanzkraft zusammen. gibt es Zweimannzellen mit Dusche und Danach ist Nordrhein-West- WC, in denen bis vor kurzem serbische falen als stärkstes Bundes- Bürger inhaftiert waren, aber auch noch land mit 22,4 Prozent, der jene Massenverliese, in die bis zu elf Alba- Winzling Bremen mit nur ei- ner gepfercht waren. Die Deutschen bele- nem Prozent dabei. Grund- gen die Zellen sozusagen in der Reihen- sätzlich gilt: Ins Kosovo folge des Eingangs von oben nach unten. kommen nur Freiwillige. Und wenn einer in die Massenzelle muß, Aber auch von denen wird wird er schon mal getröstet: „Das Grand nicht jeder genommen. Die Hotel ist leider belegt.“ Beamten sollten „minde- Derzeit sind mehrere der inzwischen stens fünf Jahre im Dienst, knapp hundert Insassen im Hungerstreik; belastbar und persönlich ge- zwei Inhaftierte versuchten, sich mit Glas- festigt“ sein, so Polizeidirek- splittern die Pulsadern aufzuschneiden.

tor Günter Sonnenschein BELLWINKEL W. Andere weigern sich tagelang zu duschen, vom Bundesinnenministe- Hauptquartier der deutschen Militärpolizei obgleich die Luft in den Zellen unerträglich rium. Weil die Deutschen im Keinen Schritt ohne Waffe ist. „Das macht den Schweinsdeibeln of- internationalen Kontingent fenbar gar nichts aus“, schimpft Haupt- mitarbeiten, müssen sie zudem die setzt vom selbsternannten Regierungs- feldwebel Stefan Ebneth, 34, aus Mitten- Amtssprache Englisch beherrschen. chef Hashim Thaci. wald, der mit seinen Gebirgsjägern das Ge- Gebraucht werden Schutz- und Krimi- Die Deutschen stellen sich dagegen fängnis sichert. nalpolizisten, Ausbilder und Beamte einen Runden Tisch vor, an dem alle Die Belegquote in dem dreistöckigen mit Erfahrung in Einsatz- und Perso- Volksgruppen, neben den Albanern Gebäude an einer Ausfallstraße dürfte nalplanung. auch die Serben, Türken, Roma und schon bald weiter nach oben schnellen. Zur Vorbereitung auf den Einsatz Katholiken, an der Auswahl der Polizi- Denn neben den Kleinkriminellen hat sich werden sie – ähnlich wie die Kfor-Sol- sten beteiligt sind. „Nur wer von allen im Kosovo längst auch das organisierte Ver- daten der Bundeswehr – in Kursen mit akzeptiert wird, soll eingestellt wer- brechen wieder etabliert. Das auch noch in ihrer Aufgabe sowie mit Land, Leuten den“, sagt der stellvertretende Bri- den Griff zu bekommen, sagt der Nationale und möglichen Gefahren vertraut ge- gadekommandeur, Oberst Rolf Bescht. Befehlshaber der Deutschen, General Hel- macht. Für Beamte mit Bosnien-Erfah- Die Zeit drängt, je mehr Flüchtlin- mut Harff, wäre „zu viel, zu schnell vom rung, wo ebenfalls deutsche Polizisten ge und Vertriebene in ihre Heimat Militär verlangt“. im Auftrag der Uno aktiv waren, dau- zurückkehren. Die ersten deutschen Die Mafia zeigt sich heute bereits ganz ert die Schulung eine Woche, alle an- Polizisten, so Sonnenschein, könn- offen in der Stadt, die Ganoven rauschen deren müssen doppelt so lange in die ten bereits in zwei Wochen im Ko- unbehelligt in schweren Limousinen durch Lehrsäle. sovo eingesetzt werden. Wo sie ihren die Straßen. Es gilt auch als sicher, daß Eine wesentliche Aufgabe der Deut- Dienst antreten werden, stehe aber die Drogenwege wieder wie früher von schen neben der Ausübung polizeili- noch nicht fest. Andreas Ulrich den Kurieren genutzt werden. Rechtsbe- rater Both: „Den Krieg haben wir ver- loren.“ Susanne Koelbl

128 der spiegel 28/1999 MONTENEGRO Sehnsucht nach Nikola Serbiens Drohgebärden gegen Montenegro machen den Unabhängigkeitswunsch in der Bruderrepublik nur stärker.

ur ein paar junge, glattgeschorene Männer hängen gelangweilt auf den NKlappstühlen unter den roten Mar- kisen des Café Ritter und beobachten den

vorbeifließenden Verkehr. In der Mittags- REUTERS hitze, bei fast 40 Grad, halten die meisten Jugoslawisches Kriegsschiff vor Montenegro*: „Bald ist hier die Hölle los“ Einwohner von Montenegros einstiger Hauptstadt Cetinje Siesta. Doch die Ruhe In der vormaligen Metropole des König- chef zu werden. Vor allem der Westen fa- täuscht. reichs Montenegro (1910 bis 1918) sehen vorisiert den smarten Pragmatiker aus Dragan Raduloviƒ, Inhaber des klei- sie das Krebsgeschwür des antiserbischen Montenegro, der sich in den europäischen nen Cafés im Zentrum, ist in ständiger Widerstands. Doch der Krebs hat sich Regierungsmetropolen bislang eindrucks- Alarmbereitschaft. Lange werde die auf- längst ausgebreitet. Überall prallen Emo- voll präsentierte. „Ich hoffe“, verkündet gepeitschte Stimmung nicht mehr zu kon- tionen aufeinander, stehen sich wie ver- Djukanoviƒ derweil, „die Serben werden in trollieren sein: „Bald ist hier die Hölle los.“ feindete Stämme Djukanoviƒ-Loyale und Zukunft wissen, wie man einen demokra- Letzte Umfragen in der kleinen Teilre- Milo∆eviƒ-Anhänger gegenüber. tischen Führer wählt.“ publik an der Adria-Küste ergaben: 62 Pro- Nur wenn Belgrad bereit ist, die Bezie- Eine Vorreiterrolle beim Kampf um zent der montenegrinischen Bevölkerung hungen „auf eine neue Grundlage zu stel- Montenegros Unabhängigkeit spielt die Li- wollen mittlerweile aus der jugoslawischen len“, erklärt in Podgorica Premier Filip Vu- berale Partei. Deren Vorsitzender, Miodrag Föderation mit dem übermächtigen Ser- janoviƒ, werde es eine stabile, friedliche ◊ivkoviƒ, wirft dem Westen Blauäugigkeit bien des Slobodan Milo∆eviƒ ausscheren Zukunft geben. Das heißt im Klartext: vor. Die Regime in Belgrad und Podgorica und ihren eigenen Staat an die Europäische Montenegro will de facto nur eine lockere seien eineiige Zwillinge. „Wie Coca-Cola“, Union heranführen. „Wir wollen alle in Konföderation mit Serbien, um eigene Ge- sagt ◊ivkoviƒ, „nur in verschiedenen Ver- den Westen“, stellt Dragan klar – weit weg setze und Reformen beschließen zu kön- packungen; wir haben die modernere.“ von den „genetischen Hochstaplern“, wie nen. Denn der Kleinstaat braucht westliche Aber der Inhalt sei der gleiche: Geheim- er die Serben abfällig nennt. Investitionen, drei Viertel der Bevölkerung dienst und Polizei kontrollieren die Ge- Doch die 650000 Einwohner der Mini- leben von Sozialhilfe. sellschaft, die Medien werden unterdrückt. republik fürchten, daß Belgrads Antwort Sollte Serbien sich sperren, so der Pre- Unlängst wurde ◊ivkoviƒ von einem Po- Krieg sein wird oder ein Putsch gegen ihr mier, will seine Regierung in einem Refe- lizisten mit einem Fausthieb niederge- prowestliches Regime unter Präsident Milo rendum die Frage nach der Unabhängig- streckt, als er im Parlament Montenegro als Djukanoviƒ, 36. Als während der Nato- keit stellen: „Verlangt das Volk seinen „Mafiosistaat“ bezeichnet und Präsident Bombardements die jugoslawische Militär- Djukanoviƒ beschuldigt hatte, Drahtzieher polizei die Wohnungen in Cetinje durch- zahlreicher Schmuggelaffären zu sein. Das suchte, um nach Rekruten zu fahnden, wur- Land sei heute der größte Parkplatz der den Milo∆eviƒs Häscher kurzerhand von Welt für gestohlene Autos und Zentrum Polizei und Bürgerwehr aus der Stadt ge- des internationalen Zigarettenschmuggels, jagt. Strafen wegen Verweigerung der Mi- empört sich der Vormann der Liberalen. litärpflicht, so hat die Regierung in Podgo- Da trifft er sich ausgerechnet mit Mi- rica versprochen, werde es nicht geben. lo∆eviƒs Ehefrau Mirjana Markoviƒ, die als Denn Montenegro hatte den von Belgrad Moralrichterin der Nation über den Clan deklarierten Kriegszustand nicht anerkannt. Djukanoviƒ befindet: „Das sind Hehler, Nun aber will der angeschlagene Bel- Diebe und Trickprofiteure.“ grader Despot das Land der Schwarzen Kaffeehausbesitzer Dragan rät seinem SIPA PRESS SIPA Berge offenbar mit Drohgebärden diszi- DPA Präsidenten, das Schicksal jenes Mannes plinieren. Mindestens 20000 Soldaten und Serbe Milo∆eviƒ, Montenegriner Djukanoviƒ nicht zu vergessen, dessen Porträt jetzt in Reservisten der Jugo-Armee – doppelt so Wie verfeindete Stämme jeder patriotischen Stube hängt: König Ni- viele wie in Friedenszeiten – sind derzeit kola. Auch Montenegros gemütlicher letz- in Montenegro stationiert. Über 2000 Eli- eigenen Staat, wird dieser Wunsch auch ter Monarch hatte Ambitionen, Herrscher tekämpfer haben sich im nahen Lovƒen- realisiert.“ des 1918 gegründeten jugoslawischen Kö- Gebirge eingenistet. Von dort können sie Möglicherweise gibt es aber auch einen nigreichs der Serben, Kroaten und Slowe- im Ernstfall halb Montenegro unter Be- anderen Weg. Djukanoviƒ könnte sich viel- nen zu werden. Doch wurde er von der ser- schuß nehmen. Fast jede Nacht suchen leicht an der Idee berauschen, Nachfolger bischen Dynastie Karadjordjeviƒ verjagt. alkoholisierte Reservisten Cetinje heim von Milo∆eviƒ als jugoslawischer Staats- Nikolas Gebeine durften erst im Herbst „und drohen, die Stadt niederzubrennen“, 1989 von Frankreich nach Montenegro schimpft Dragan. * Im Hafen von Kotor. überführt werden. Renate Flottau

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AFRIKA „Eine Frage von Leben und Tod“

Ruandas Vizepräsident und Verteidigungsminister Paul Kagame über den Krieg im Kongo und den Völkermord an den Tutsi

SPIEGEL: Herr Kagame, Ihr Land gehört zu der früheren ruandischen Armee operieren SPIEGEL: Die Uno hat die Entsendung von den wichtigsten Helfern der Rebellen, die vom Kongo aus gegen uns. Wir haben sie Beobachtern und Friedenstruppen zuge- nach dem Waffenstillstandsabkommen im dezimiert, aber einige Gruppen haben sich sagt, um die Entwaffnung der Milizen und Kongo ihren Kampf gegen Präsident Kabi- mit Hilfe der Kabila-Regierung neu orga- Rebellen zu überwachen. Werden Sie sich la jetzt einstellen sol- nisiert und bewaffnet. Sie haben ihre Völ- unter diesen Voraussetzungen aus dem len. Kommt das Herz kermord-Pläne noch immer nicht aufgege- Kongo zurückziehen? Afrikas endlich zur ben. Wir müssen uns deshalb für unsere Kagame: Wir ziehen uns zurück, wenn un- Ruhe? Intervention nicht rechtfertigen, selbst sere Sicherheit ohne jede Einschränkung Kagame: Das hängt von wenn wir international verurteilt werden. garantiert ist. Ich weiß, wie man Aufstän- Kabila ab. Er hat die Nicht zu handeln wäre tödlich für uns. dische bekämpft. Weiß die Uno das auch? ganze Macht an sich SPIEGEL: Können Sie die Hutu-Milizen nicht Die Gründe für unsere erneute Interven- gerissen und alle ande- an Ruandas Grenzen abwehren, statt sie tion im Kongo sind dieselben wie 1996. Die ren politischen Führer im Kongo zu verfolgen? Hutu-Extremisten benutzten damals die im Kongo an den Rand Kagame: Ich bekämpfe die Milizen lieber Flüchtlingslager, um sich neu zu organisie-

AFP / DPA gedrängt, mit denen er dort als hier. Seit unsere Verbände im Kon- ren. Unter den Augen von Uno-Beobach- Kagame hätte kooperieren sol- go stehen, bleiben die feindlichen Über- tern wurden Waffen in die Camps ge- len. Wir haben ihn da- griffe auf unser Gebiet und gegen unser schmuggelt; Hutu-Kommandos starteten vor gewarnt, die Armee nur aus Angehöri- Volk, die früher beinahe täglich stattfan- ihre Angriffe von dort, und nichts wurde gen seines Stammes zu bilden. Er mißach- den, fast ganz aus. dagegen unternommen. tet die Sicherheitsbedürfnisse seiner Nach- barstaaten. Wir hätten das vernichtende Urteil Ché Guevaras ernst nehmen sollen – der hielt Kabila schon vor 30 Jahren für einen unseriösen Führer. SPIEGEL: Vor zwei Jahren haben Sie Kabi- la noch gegen Mobutu unterstützt. Heute hält Ihre Armee den Osten des großen Nachbarn besetzt. Kagame: Wer Unsicherheit sät, der riskiert, daß wir gegen die Brutstätte der Gefahr vorgehen. Hutu-Milizen und Angehörige

Krisengebiet Zentralafrika SUDAN ZENTRALAFRIK. REPUBLIK KAMERUN GbGbadoliteadolite

Kisangani UGANDA REUTERS KONGO GABUN Aufständische im Kongo DEMOKRATISCHE GGomaoma REPUBLIK KONGO BukBukavuavu RUANDA Der Flächenbrand in der Mitte Afrikas könnte jetzt endlich – nach elf Monaten Krieg im Kongo – gelöscht Kinshasa BURUNDI KananKanangaga werden.Vorige Woche einigten sich die beteiligten Parteien auf ei- TANSANIA nen Waffenstillstandsentwurf. Kernpunkt: Eine gemeinsame Be- Mbuji-MayiMbuji-Mayi obachtergruppe soll jene Hutu-Milizen entwaffnen, die 1994 zum Rebellengebiet Völkermord in Ruanda aufhetzten. An die 800000 Menschen star- ben damals. Ebenso wie der 1997 gestürzte Diktator Mobutu ge- mit Kabila LubumbashiLubumbashi verbündet währte dessen Nachfolger Laurent Kabila den Extremisten im ANGOLA mit Rebellen MALAWI Kongo Schutz. Um die Milizen abzuwehren, unterstützen Ruanda verbündet SAMBIA und Uganda Aufständische, die große Gebiete im Osten und Sü- den des ehemaligen Zaire erobert haben. Kabila bekommt Hilfe Lusaka aus Simbabwe,Angola und Namibia. Ob der nun vereinbarte Frie- den hält, hängt vor allem von Ruandas Vizepräsident und Vertei- digungsminister Paul Kagame, 43, ab. Im Juli 1994 hatte eine von NAMIBIA SIMBABWE ihm kommandierte Tutsi-Befreiungsfront das Morden beendet.

130 der spiegel 28/1999 A. HERZAU / SIGNUM Bestattung von ermordeten Tutsi in Ruanda (1995): „Wir Afrikaner sind an Grausamkeiten gewöhnt“

SPIEGEL: Beanspruchen Sie für Ruanda ein 1994 in Ruanda getötet wurde, jede Vor- SPIEGEL: Immerhin befinden sich unter den Mitspracherecht im Kongo? stellungskraft. Nachbarn mordeten Nach- Häftlingen auch Unschuldige, die aufgrund Kagame: Sicherheit ist eine Frage von Le- barn, Kinder massakrierten Kinder.Wie er- von Denunziationen ohne jeden Beweis ben und Tod für uns, sie hängt von der po- klären Sie sich diesen Haß? festgenommen wurden. litischen Entwicklung im Kongo ab. Die Kagame: Jede Führungselite kann eine Be- Kagame: Wir haben die Gefangenen nach Kongolesen müssen eine stabile Regierung völkerungsgruppe so manipulieren, daß sie der Schwere ihrer Taten in vier Kategorien bilden, die die Besorgnisse ihrer Nachbarn über eine andere herfällt. Hätten wir un- eingeteilt. Eine ganze Reihe von ihnen wird ernst nimmt; sie müssen selbst entschei- sere Anhänger bei unserem Einzug in Ki- demnächst lokalen Schiedsgerichten über- den, ob Kabila dafür der richtige Mann ist. gali aufgehetzt, Vergeltung zu üben, sie stellt. Die Gemeinden sollen selbst ent- SPIEGEL: Solange Ihnen die Regierung in hätten keine Sekunde gezögert. Statt des- scheiden, ob sie strafen oder vergeben wol- Kinshasa nicht genehm ist, werden Sie not- sen leben und arbeiten sie heute friedlich len. Das Ganze ist eine äußerst heikle An- falls weiter als Besatzungsmacht im Osten mit den Hutu zusammen. gelegenheit. Die Überlebenden werfen uns des Kongo auftreten? SPIEGEL: Doch noch sitzen 125 000 ver- vor, es mit der Ahndung des Völkermords Kagame: Ich weiß nicht, ob dieser Begriff meintliche Mörder ohne Urteil in Gefäng- nicht ernst zu nehmen. Auf der anderen unsere Präsenz dort richtig beschreibt.Wir nissen. Ist das Bedürfnis nach Rache größer Seite wird uns vorgehalten, wir seien zu können uns schließlich nicht zurückziehen als der Wunsch nach Versöhnung? unerbittlich. und den Milizen den Weg in unser Land Kagame: Die Opfer haben Anspruch auf SPIEGEL: Haben Sie deshalb voriges Jahr 22 freimachen. Solange dieser Destabilisie- Gerechtigkeit. Und es ist unsere Pflicht Gefangene öffentlich hinrichten lassen? rungsfaktor nicht beseitigt ist, werden wir als Führer, diesem Genüge zu tun. Wir Kagame: Die Hinrichtungen haben alle, die im Kongo bleiben. Aber wir haben nicht müssen ein für allemal deutlich machen, immer daran gezweifelt haben, daß wir für vor, Teile des Kongo zu annektieren. daß die Verantwortlichen nicht unge- Gerechtigkeit sorgen werden, vom Gegen- SPIEGEL: Treibt Sie bei Ihrer Offensive die schoren davonkommen. Was sind schon teil überzeugt. Das wird uns fortan die Auf- Erinnerung an den Völkermord 1994, dem 125000 Gefangene im Vergleich zu 800 000 arbeitung erleichtern. So haben nach den binnen drei Monaten 800 000 Menschen Toten? Hinrichtungen viele gestanden, die zuvor zum Opfer fielen? Die meisten der Ermor- leugneten. deten waren Tutsi wie Sie. SPIEGEL: Also werden Sie auch weiterhin Kagame: Manchmal erreichten wir damals Todesurteile vollstrecken trotz der Beden- den Schauplatz eines Massakers nur weni- ken von Menschenrechtsgruppen? ge Minuten, nachdem die Tat geschehen Kagame: In Ruanda ist die Todesstrafe nicht war: 2000 abgeschlachtete Menschen, und ungesetzlich.Vergessen Sie diese westliche die Körper waren noch warm. Man sieht so Gefühlsseligkeit und überlassen Sie es uns, etwas einmal, zweimal, dann beginnt man wie wir die Situation meistern. am Sinn des eigenen Einsatzes zu zwei- SPIEGEL: Der Genozid hat Ruanda tief ge- feln. Dennoch treffen uns dergleichen Er- spalten. Wie sollen da jemals Frieden und eignisse nicht in dem Maße, wie sie Eu- Versöhnung möglich sein? ropäer berühren würden. In Europa rech- Kagame: Erstmals in seiner Geschichte hat net man aufgrund einer gewissen Ent- Ruanda heute eine ethnisch gemischte Re- wicklungsstufe einfach nicht mit so etwas. gierung. Im Kabinett sitzen etliche Hutu. Wir Afrikaner dagegen sind an Grausam- Und das in einem Land, in dem die Ras-

keiten gewöhnt. Das macht hart. REUTERS sendiskriminierung zuvor institutionalisiert SPIEGEL: Dennoch sprengt die Brutalität, Kongo-Präsident Kabila war. Die ethnische Zugehörigkeit stand im mit der in jenen Monaten von April bis Juni „Die ganze Macht an sich gerissen“ Personalausweis. Dieser Vermerk besie-

der spiegel 28/1999 131 gelte das Schicksal des einzelnen. Ein Tut- si konnte noch so begabt sein, man schick- te ihn zum Kühehüten. Wir dagegen teilen die Macht. SPIEGEL: Der starke Mann im Land aber sind Sie, ein Tutsi. Kagame: Ich glaube nicht, daß die Ruander damit ein Problem haben. Wenn doch, bin ich gern zum Rücktritt bereit. SPIEGEL: Warum lassen Sie die Bevölke- rung darüber nicht in freien Wahlen ent- scheiden? Kagame: Wahlen und Demokratie sind nicht ein und dasselbe.Wahlen können ma- nipuliert werden. Und sie können nur dann als demokratisch gelten, wenn nach politi- schen Gesichtspunkten, nicht nach ethni- scher Zugehörigkeit abgestimmt wird. SPIEGEL: Wann wird dieser Zeitpunkt ge- kommen sein? Kagame: Demokratie ist kein Ereignis, son- dern ein Prozeß. Auf lokaler Ebene haben wir mit der Demokratisierung bereits be- gonnen. Dieser Prozeß wird früher oder später auch vor dem Präsidenten und sei- nem Stellvertreter nicht haltmachen. SPIEGEL: Noch immer mißtraut Ihre Regie- rung der Bevölkerungsmehrheit der Hutu. An der Grenze zum Kongo wurden ganze Dörfer geräumt, offenbar befürchten Sie, daß die dort lebenden Hutu mit den Mili- zen kollaborieren. Kagame: Nein, mit Hilfe der Umsiedlun- gen hoffen wir, unsere fruchtbaren Böden besser nutzen und unsere Produktivität steigern zu können. In 20 Jahren wird sich die Bevölkerung Ruandas verdoppelt ha- ben. Wir werden bis zu 20 Millionen Men- schen ernähren müssen. Das Land aber wird nicht wachsen. SPIEGEL: Wenn Sie die Hälfte Ihres Bud- gets für das Militär ausgeben, woher wol- len Sie dann Mittel zur Entwicklung des Landes nehmen? Kagame: Wie kann man einen Staat ent- wickeln, wenn er in seiner Existenz be- droht ist? Die Uno ließ den Völkermord zu, obwohl sie vorgewarnt war. Deshalb hat sie heute die moralische Verpflichtung, beim Wiederaufbau Ruandas zu helfen. SPIEGEL: Vor einem Jahr noch redete alle Welt von der afrikanischen Renaissance. Diese Hoffnungen scheinen zerstört. Afri- ka präsentiert sich erneut als Kontinent der Kriege.Wie sieht Ihre Vision für die Zu- kunft aus? Kagame: Die afrikanische Renaissance ist nach wie vor unser großes Ziel. Unsere Gesellschaft muß ihre Spaltung überwin- den. Hutu und Tutsi sprechen dieselbe Sprache, haben dieselbe Kultur; zudem gibt es zahlreiche Mischehen. Wir müssen un- sere Vielfalt für die Gestaltung unserer Zu- kunft nutzen. Sollte aber jemand versu- chen, unsere Gesellschaft erneut zu spal- ten, sollten die Tutsi erneut ihrer Rechte beraubt werden, dann werde ich wieder kämpfen. Interview: Christoph Plate, Birgit Schwarz

der spiegel 28/1999 Ausland

Die moralische Führung im Fei-Yu-Café reits unliebsames Gedankengut ab. So ver- CHINA ist ganz im Sinne der Partei. Je dichter sich hindern die Internet-Aufpasser, daß Chi- das Netz über das Reich der Mitte legt, de- nesen die „Washington Post“ oder die Große sto mehr sorgt sich Pekings Führung um die „New York Times“ online lesen. Die Nach- ideologische Festigkeit ihrer Untertanen. richten der BBC oder der Hongkonger Exil-Dissidenten beispielsweise nutzen das „South China Morning Post“ dagegen er- Brandmauer Netz, um Verhaftungen von Oppositionel- scheinen unzensiert auf dem Monitor. len und Unruhen unzufriedener Bauern zu Pekings Genossen scheinen allerdings Millionen Chinesen melden. „Wir wollen das chinesische Zen- inzwischen bereit, ein gewisses politisches sursystem mit Hilfe des Internets zer- und moralisches Risiko in Kauf zu neh- entdecken das Internet. Doch stören“, kündigt die Website „VIP Refe- men. Zu groß ist der Zwang für die Wirt- die Regierung in rence“ in den USA an. schaft des Riesenreiches, in die High-Tech- Peking fürchtet das Eindringen Aber Chinas Cyberspace-Polizisten sind Industrie vorzustoßen. Schon haben sich ketzerischer Ideen. wachsam. So verurteilte ein Gericht den die Behörden der Hauptstadt und der Son- Softwareunternehmer Lin Hai in Schang- derwirtschaftszone Shenzhen im Süden uf der Treppe hastet ein Kellner mit hai zu zwei Jahren Haft, weil er 30 000 des Landes digital vernetzt, und mit Micro- einem Gemüsegericht nach oben. E-Mail-Adressen an die VIP Reference wei- soft-Chef Bill Gates wurde das „Venus“- AGleich gegenüber der Küche im tergeleitet hatte. Nicht erwischt wurden Projekt verabredet: Noch in diesem Jahr Feuertopf-Restaurant liegt hinter einer dagegen kecke Hacker, denen es gelungen sollen sich Zehntausende Bürger mit ei- weißen Tür ein Raum, den Neonleuchten in war, in eine Regierungswebsite einzudrin- nem vereinfachten „Windows“-Betriebs- kaltes Licht tauchen. Wie in einem Klas- gen und die Internet-Adresse von Amnesty system und einem landläufigen TV-Gerät senzimmer sitzen junge Leute nebenein- International einzufügen. ins Internet einschalten können. ander an langen Tischen, auf denen Moni- Zur besseren Kontrolle will Peking eine Dann können sie auch das Angebot der tore flimmern und Tastaturen klacken. Im Organisation mit dem Orwellschen Namen ältesten Pekinger Computerfirma „Stone“ „Login“, einem Internet-Keller an der Süd- „Staatskomitee für Informationssicherheit nutzen und unter Pseudonym auf dem mauer der Peking-Universität, ist an die- und Identifizierungsmanagement“ grün- Forum „Wir sprechen über Gott und die sem späten Nachmittag jeder Platz besetzt. den. Schon jetzt dürfen Internet-Benutzer Welt“ den Herrschenden die Meinung Seit 1996 können hier Studenten für acht nur über Unternehmen ins Netz, die an sagen. Viele Teilnehmer erregen sich Yuan (zwei Mark) eine Stunde lang im In- das staatlich überwachte „Chinanet“ an- dort über bürokratische Hürden beim ternet surfen, rund 200 nutzen mittlerwei- geschlossen sind. Sie müssen sich ver- Schalten einer zweiten Telefonleitung, zür- le jeden Tag das Angebot. Den Erfolg hat pflichten, keine Informationen „zu lesen, nen über Kader („Sie fressen, saufen sich Manager Xie Zhong nicht träumen zu kopieren oder zu verbreiten“, welche und …“) oder fragen sich, ob Staats- und lassen: „Vor drei Jahren hatten wir gar kei- die „Staatssicherheit“ und die „soziale Parteichef Jiang Zemin seine jüngst ver- ne Ahnung vom Internet.“ Ordnung“ bedrohen könnten. öffentlichten Gedichte wirklich allein ge- Chinas Internet-Ge- Internet-Cafés müssen schrieben habe. meinde wächst in schnel- neuerdings jeden Kunden Partei und Regierung nutzen das Inter- lem Tempo, allein in den registrieren – eine Regel, net ihrerseits längst, um Propaganda und letzten sechs Monaten des an die sich bislang aller- Informationen zu verbreiten. Selbst Jiang vergangenen Jahres um dings kaum jemand hält. Zemin präsentiert sich mit einer Home- rund 400 000 auf insge- In Schanghai schloß die page (www.china.org.cn/cicc/jzm/profile). samt 2,1 Millionen Men- Polizei vor kurzem 300 Er sei der „Kern von Chinas Führung der schen. Nächstes Jahr, so Cafés, weil sie angeblich dritten Generation“, läßt er verkünden und schätzen Experten, könn- nicht die „notwendigen preist sich als den „Obersten Führer nach ten es bereits 10 Millionen Lizenzen“ besaßen. Mao Tse-tung und Deng Xiaoping“, der sein. Eine „Große Brand- auch in Krisensituationen stets ruhig und

Längst hat Login-Chef AP mauer“ aus elektroni- besonnen bleibe – selbst wenn „die Welt Xie scharfe Konkurrenz Internet-Café (in Tianjin) schen Filtern wehrt be- zusammenfällt“. Andreas Lorenz erhalten. In Peking gibt es inzwischen zahlreiche Internet-Cafés und – landestypische – Internet-Teehäuser. Nur wenige Meter vom Login-Keller entfernt eröffnete das „Fei Yu“-Café. Hinter grünen Samtvorhängen können die Kunden Cock- tails wie „Singapore Sling“ oder „Screw- driver“ schlürfen, während sie im Netz sur- fen, die Stunde für knapp fünf Mark. Die Kellnerin Wang Xuemei (zu deutsch: „Pflaumenblüte im Schnee“) steht Gästen bei, die sich im Internet noch nicht gut auskennen. Während die Absol- ventin der Parteihochschule Getränke ser- viert, behält sie die Bildschirme im Auge. Pflaumenblüte soll auf Anweisung ihrer Chefs verhindern, daß sich die Kunden „gelbe Fotos“, die chinesische Umschrei- bung für Pornobilder, anschauen: „Ich sage ihnen dann: ,Das ist ungesund für

deinen Geist!‘ Den meisten ist es peinlich, / SABA A. BRADSHAW und sie schalten ab.“ Internet-Kundschaft, Kellnerin Wang: Den Herrschenden die Meinung sagen

der spiegel 28/1999 133 FOTOS: N. IGNATIEV / NETWORK / AGENTUR FOCUS / NETWORK AGENTUR N. IGNATIEV FOTOS: St. Petersburger Paare (im Sex-Kabarett „Hali Gali“, am Panzerkreuzer „Aurora“, beim Brückenfest an der Newa): Wie ein Kind tastet die alte,

RUSSLAND Zauberzeit an der Newa Zur Sommersonnenwende, wenn es kaum dunkel wird, feiert St. Petersburg die warmen Nächte durch – eine Demonstration der Leichtigkeit in schwerer Zeit, mit Partys, Sex, Kunst und Musik. Von Jürgen Neffe

as Licht der Weißen Nächte von St. warum Zar Peter, später der Große ge- sinkt, schauen alle sehnsuchtsvoll gen We- Petersburg, wenn Abendrot und nannt, ausgerechnet hier in den Sümpfen sten. In ihren Ausweisen steht als Ge- DMorgenschimmer ineinanderflie- an der Newa-Mündung Anfang des 18. burtsort noch Leningrad. Die meisten aber ßen, fällt aus sternenlosem Himmel in die Jahrhunderts eine Stadt errichten ließ, die können mit Lenin nicht mehr viel anfan- Stadt, ein milchig dünnes Licht, das Schat- dem heiligen Petrus geweiht wurde und gen. Auf ihren T-Shirts ist zu lesen „Bill ten schluckt und Farben übertüncht, ein 1712 zur Hauptstadt des Russischen Rei- Gates ins Mausoleum“ und „Jedem Hacker Aufputschmittel in Moll, das die Düsternis ches aufstieg. seinen Computer“. aus den Gesichtern der Menschen und den Die Straßenbeleuchtung bleibt in den Im vorletzten Jahr gab es erstmals einen Schlaf aus ihren Gliedern treibt. Weißen Nächten abgeschaltet, die Fassa- Karneval wie in Venedig mit Masken und Sie ziehen durch die Straßen bei hell- den und Portikos, Stuckköpfe, Säulen und Umzug und Feuerwerk. Dieses Jahr fehlten lichter Nacht, Künstler, Studenten und Ka- Sphinxen verlieren im dünnen Licht ihre schon wieder die Mittel, und das „Venedig detten, einsame und verliebte Herzen, rast- Räumlichkeit und wirken in ihrer Zweidi- des Nordens“ übt sich in Bescheidenheit. lose Bettler, Rentner, Händler, Touristen, mensionalität wie gigantische Bühnenbil- Als dann beim Hochklappen der Brücken Taugenichtse, ausgemusterte Offiziere, der aus der Antike. doch noch ein paar Raketen aufsteigen, of- Polizisten, Punks. Der Newski Prospekt, In den Schulen hat es gerade Zeugnisse fenbar von einem Sponsor spendiert, wird die feine Flaniermeile, gehört den Mäd- gegeben. Ein Troß von Schülern und Stu- jeder Knall und jeder Blitz mit Jubel und chen, dieser endlosen Parade von Loli- denten schiebt sich zur Schloßbrücke, die Applaus bedacht. Bis in den Morgen tanzen tas, so hochhackig, so aufreizend in ihren beim Winterpalast die Newa überspannt. sie auf dem Schloßplatz zum Technobeat Röckchen, so verwegen frisiert und ge- Mit dem traditionellen Brückenfest im Ze- aus übersteuerten Boxen, an der Brücke schminkt auf Dame oder Hure oder beides, nit der Weißen Nächte feiert die Stadt das gibt es Russki Rock live, und als die Band daß ein Nabokov, Sohn der Stadt, hier Bil- Öffnen der hellerleuchteten Klappbrücken, Bachit kompot ihren Song „Du ziehst mich der satt für seine pädophile Prosa sammeln Höhepunkt auch der Besuchersaison. aus mit deinem Telefon“ anstimmt, singen könnte. Der Wind treibt in dichten Wolken Pap- und swingen Zehntausende mit. Bis zu 19 Stunden lang scheint die Son- pelsamen vor sich her, die Kinder singen Auf den Parkbänken an der Uferprome- ne während dieser Wochen, nur für zwei das Lied vom Sommerschnee. Feiner Re- nade liegen Kadetten und Mädchen ein- Stunden dämmert es ein wenig. Wer zum gen fällt, ein kurzer Schauer nur, so warm ander in den Armen, die einen frisch be- erstenmal in diesen Tagnächten auf den wie das Bier in den Bechern aus Pappe, mit fördert, die anderen frisch eingefangen. Schloßplatz zwischen Eremitage und Ge- dem sich die Schüler betrinken, und als die Die Strichmädchen in den Seitenstraßen neralstabsgebäude tritt, begreift vielleicht, Sonne kurz vor Mitternacht glutrot ver- und Hinterhöfen, die Table-dancer, Ani-

134 der spiegel 28/1999 blutjunge Stadt nach ihrer Neutaufe die Grenzen ihrer Möglichkeiten ab

mierdamen und Prostituierten in den Clubs In den Eingängen zur Metro recken Bett- wirtschaft abgeschafft sei. Das Gegenteil und Bars der Stadt heizen mit kühlen, her- ler wortlos die Hände. Die einen bieten sei passiert, sagt Bely, ein Vakuum ent- ablassenden Blicken ihrer männlichen Postkarten an, andere einen Wurf junger stand, das Banken, Spekulanten und die Kundschaft ein. Katzen.Auf den Märkten hocken zwischen Mafia füllten. Marina macht vor dem Sex-Club „Gol- den Ständen alte Frauen, die nichts mehr Der gebürtige Leningrader betreibt – den Dolls“ am Newski Prospekt Werbung zu verkaufen haben als eine Handvoll „als Hobby“ – eine messingblanke, neon- für die Stripperinnen drinnen, bewacht und Äpfel oder einen einzigen gebrauchten helle „Salatbar“ in der Nähe des Zen- beschützt von einem dieser Glatzköpfe in Kochtopf. trums, eine Art russischer Fast-food-Kan- Designer-Sakkos, die hier „Katschki“ Walerij Bely, 44, früher Notarzt („Das tine mit Hausmacherkost. Die Mafia küm- heißen, „Muskelpumpen“. Sie sieht aus war brotlos“), heute Fabrikant und Ge- mert sich dort um die Sicherheit, gegen wie 14, sagt aber, sie sei 21 und stamme aus schäftsmann, macht sich keine Illusionen: Schutzgeld. „Polizei oder Mafia, zahlen Murmansk. „Ich liebe Männer, ich liebe mußt du sowieso.“ Aber unterstützt er da- Sex, ich liebe Geld“, ruft Marina, leise fügt mit nicht das Verbrechen? „Ja, aber orga- sie hinzu: „Und ich liebe diese Nächte, da nisiertes Verbrechen, und das ist hier schon kommt das alles zusammen.“ Sie räkelt viel wert.“ Mit einem kalkulierbaren Auf- sich, Matrosen pfeifen, Mütter nehmen ihre schlag von 20 Prozent könne man leben. Töchter bei der Hand, eine Ordensschwe- Staatliche Organisationen dagegen seien ster schüttelt den Kopf. weniger berechenbar. St. Petersburg flaniert bis in den Morgen, Bely sitzt mit ein paar Männern am lan- eine Demonstration der Leichtigkeit in gen, weißgedeckten Tisch vor einem Lokal schweren Zeiten. Zu Abertausenden sind auf der Haseninsel. Der Chefkurator für die Menschen aus der Enge ihrer Wohntür- Moderne Kunst am Russischen Museum, me am Stadtrand ins alte Zentrum ge- Alexander Borowski, hat ein paar seiner strömt, jenen in Stein geschlagenen Traum Freunde zum Katerfrühstück eingeladen, von Größe und Ruhm, der überlebt hat als unter ihnen Anatolij Belkin, längst eta- potemkinsche Kulisse einer alten Ordnung bliertes Enfant terrible unter den russi- inmitten des neuen Chaos. Neue-Akademie-Gründer Nowikow schen Malern und Performance-Künstlern, Bausubstanz und Infrastruktur bröckeln, Blinder Maler mit Heiligenstatus und Professor Wladimir Wolkow, einen be- mit ihnen Moral und Mittelstand. In weni- kannten Spezialisten für Leberleiden. gen Händen bündelt sich der Reichtum, „Wer kann, haut ab.“ Wenn er mit seinen Abwechselnd trinken die Männer Bier und wo es geht, wird er außer Landes ge- Geschäftspartnern telefoniert, sind immer und Wodka. Belkin hält eine Lobrede auf schafft.Ansonsten herrscht spürbarer Man- wieder zwei Worte herauszuhören: „bis- die Weißen Nächte: „Dies ist eine Zauber- gel an Barem. Das Geld ist nicht nur knapp, nes“ und „krisis“. zeit, St. Petersburg ist jetzt leichter als weil die zweitgrößte Stadt Rußlands weit- „Woher soll denn der Neuanfang kom- Rom, Paris und Venedig. Erst wenn wir gehend abgeschnitten ist von den Kapital- men?“ fragt Bely, der in spätestens drei Künstler Pessimisten werden, stirbt die strömen, die sich im Filz der Hauptstadt Jahren nach Prag umsiedeln möchte. Der Stadt.“ verfangen. Die chronische Leere rührt auch größte Fehler des Westens und der Reform- Doch davon kann nicht die Rede sein. In daher, daß die Menschen das Vertrauen in elite Rußlands sei der Glaube an die Selbst- St. Petersburg ist in den letzten Jahren ihr abgewertetes Tauschmittel verloren ha- organisationskräfte des Kapitalismus ge- gleichsam aus den Ruinen der UdSSR eine ben und daß sie lieber gleich Waren gegen wesen. Sie versprachen eine kreative Grün- neue Kunstrichtung auferstanden, die mitt- Waren handeln. der- und Blütezeit, sobald nur die Plan- lerweile weltweit als Ausdrucksform wie

der spiegel 28/1999 135 Ausland FOTOS: AP (li.); N. IGNATIEV / NETWORK / AGENTUR FOCUS re und u.) / NETWORK AGENTUR (o. AP (li.); N. IGNATIEV FOTOS: Mafia-Mordanschlag, neureiche Schickeria: „Woher soll denn der Neuanfang kommen?“ als Lebensweise von sich reden macht: Die tausend, und wie ein Kind auch tastet es Grenzen und Tabus, am Ende tanzt die „Neue Akademie“ vereint Maler und Poe- die Grenzen seiner Möglichkeiten ab. Kundschaft auf den Tischen und läßt die ten, Bildhauer, Grafiker, Filmemacher, Mu- „Hali Gali“ heißt der wildeste Laden Hosen runter. siker, Fotografen und sogar Magazin-Ver- der Stadt, ein Sex-Kabarett, das sich selbst Draußen ziehen derweil ärmlich geklei- leger unter dem Dach ihrer Philosophie. zum „Club der schmutzigen Ästhetik“ sti- dete Anwohner mit Plastiktüten vorbei, in Und die ist so einfach wie bestechend: lisiert. Auf den Tischen liegen Gratiskon- der Luft liegt Geruch nach verbranntem Dem Vormarsch der amerikanischen Kul- dome und eine Speisekarte mit einer Preis- Müll. Die einen wissen nicht, wie sie sich tur setzen sie die mächtige Tradition der liste für besonderen Service: Für ein paar durchschlagen sollen, die anderen berau- europäischen Kunst entgegen und rufen Rubel können Gäste einem nackten Girl schen sich an dem Gefühl, daß für Dollar eine zweite „Renaissance“ aus. eine Hundeleine anlegen und sie Sekt aus alles käuflich ist, und denken sich in ihrer Nicht weil es dafür einen Markt gibt, einem Napf schlecken lassen. endlosen Langeweile immer neue Spie- sondern weil sie nichts Besseres zu tun wis- Roman Trachtenberg, 37, hat sich das le aus. sen, entwerfen sie neue Werke mit tradi- ausgedacht. Er führt durch die Show, die Gegen drei in der Früh fahren mit lau- tionellen Techniken – und bedienen sich im Laufe der Nacht immer pornographi- tem Getöse auf Harley-Davidsons und in dabei modernster Hilfsmittel wie Grafik- teuren deutschen Limousinen mit getönten Computer und Internet. Im Stile alter Mei- Scheiben der Bauunternehmer Sergej Po- ster schaffen sie Porträts von Popstars und lonski, 27, und seine Freunde vor – ein wil- DJs, von ihren Freunden und Verwandten, der Trupp jener jungen Neureichen, die und predigen eine neue kulturelle Ernst- sich „Neue Russen“ nennen. Und weil es haftigkeit gegen die Spaßkultur in der mo- ihnen gefällt, laden sie die ganze „Hali dernen Kunst. „Dieses könnte die erste di- Gali“-Truppe ein und brausen gen Norden gitale Kunstbewegung werden, die wirk- hinaus aus der Stadt. lich zählt“, schreibt der Schriftsteller Bruce Sergej besitzt dort eine Datscha mit ein Sterling in „Wired“, der Kultzeitschrift des paar Häusern und einem Waldsee, über Netzzeitalters. den wie im Märchen Dampfschwaden zie- Die Bewegung hat einen „Vater“, der hen. Dort angekommen, suchen sie, die heißt Timur Nowikow, wurde 1958 in Le- Frauen nackt, die Männer spärlich beklei- ningrad geboren, sieht aus wie ein moder- det, Zerstreuung bei Champagner und ner Rasputin und besitzt das Charisma ei- Wodka, Gebäck und riesigen Platten voller nes weisen Wilden. Seit er vor ein paar Touristenziel St. Petersburg Früchte, die ihnen Diener in bunten Trai- Jahren sein Augenlicht verloren hat, Traum von Größe und Ruhm ningsanzügen kredenzen. Sauna, Billard, kommt ihm als blinder Maler der Status ei- Reiten, Jetski, und immer wieder droht nes Magiers zu, wenn nicht eines Heiligen. scher wird und immer kabarettistischer. Langeweile. Wenn er hofhält in den Katakomben der Die Gäste sind fast ausschließlich Russen, Es ist gegen sieben, die Morgensonne maroden Katharinenburg, vor den herbei- einige eigens aus Moskau angereist, weil wirft lange Schatten, da finden sie Spaß geeilten Dozenten der benachbarten staat- es dort so etwas nicht gibt. Trachtenberg, daran, mit einem Druckluftgewehr, die Ell- lichen Kunsthochschule, doziert er in der stadtbekannter russischer Jude mit rotge- bogen auf das Dach eines schwarzen BMW Art eines Titanen, der nicht mehr erwäh- färbtem kurzem Haar, sagt: Pervers ist gestützt, mit Farben gefüllte Kugeln auf nen muß, daß Leute wie Warhol, Rau- nicht das Angebot, sondern die Nachfra- eine weiße Lenin-Büste zu feuern. Als die schenberg oder Haring zu seinen Wegge- ge. Dreckige Judenwitze, Faust-Persifla- Statue über und über mit bunten Klecksen fährten zählten, beschreibt er Bilder, die er gen mit Deutsch-Punk und Gretchen im beschmiert ist, regt einer an, nun auf die nur in seinem Innern sieht. Keuschheitsgürtel, nachdenkliche Balla- Mädchen zu schießen. Da winkt Sergej Po- St. Petersburg ist alt und blutjung, nach den zur Masturbationsdemo mit roten Rie- lonski müde ab. Die Nacht ist vorbei, die seiner Neutaufe wie ein Kind an der sendildos, Kopulationsgymnastik, nichts Gesellschaft zieht sich in ihre Gemächer Schwelle zum unbekannten neuen Jahr- lassen sie unversucht auf der Suche nach zurück. ™

136 der spiegel 28/1999 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite IX. DAS JAHRHUNDERT DES KAPITALISMUS: 1. Der große Aufschwung (24/1999); 2. Die Globalisierung (25/1999); 3. Die moderne Fabrik (26/1999); 4. Aufstieg und Krise des Sozialstaats (27/1999); 5. Modell Japan? (28/1999) u.) FOTOS: R. HARDING / PICTURE LIBRARY (li. o.); A. BOULAT / SIPA PRESS (li. u.); J. P. BÖNING / ZENIT (re. o.); HULTON GETTY (re. HULTON o.); BÖNING / ZENIT (re. P. PRESS (li. u.); J. / SIPA A. BOULAT (li. o.); R. HARDING / PICTURE LIBRARY FOTOS: Heiliger Berg Fudschijama; Tokio; Diskettenherstellung bei Fujitsu (1990); junge Samurai (1860)

Das Jahrhundert des Kapitalismus Modell Japan? Jahrzehntelang schien das Land unaufhaltsam auf dem Weg zur Weltwirtschaftsmacht Nummer eins. Doch 1990 stürzte die „Japan AG“ jäh ab. Schuld war ein korruptes, ineffizientes Finanzsystem, das nun reformiert wird. Doch die Tradition könnte stärker sein.

der spiegel 28/1999 139 Das Jahrhundert des Kapitalismus: Modell Japan?

Vom Himmel herab Von Wieland Wagner Spiegel des 20. Jahrhunderts AGENTUR FOCUSAGENTUR Mitarbeiter-Appell in japanischer Firma*: Harmonie und Geborgenheit in der Firmen-Familie

ippons Kapitalismus war zum Wei- gestiegen. Im Inneren pflegte die 120-Mil- nationalen Überlebensfrage geworden. Im nen. Im November 1997 gestand lionen-Belegschaft Harmonie und Konsens, Jahr 1853 zwang ein Geschwader von US- Nder Präsident von Yamaichi, Sho- nach außen griff sie erbarmungslos an. Schiffen die rückständige Nation, sich nach hei Nozawa, unter Tränen die Pleite des Die Flutwelle billiger Schiffe, Autos, über 200jähriger Abschließung zu öffnen. viertgrößten japanischen Wertpapierhau- Fernseher oder Computer, mit der Japan Amerikaner und Europäer drängten den ses ein, und viele seiner schockierten die Weltmärkte seit den späten fünfziger Asiaten „ungleiche“ Zoll- und Handelsver- Landsleute schluchzten vor den Fernse- Jahren überschwemmte, schreckte westli- träge auf. hern mit. Der ungewöhnliche Gefühlsaus- che Konkurrenten aus ihrer Selbstgefällig- Um die Unabhängigkeit des Landes – bruch des Broker-Bosses offenbarte, was keit hoch und spornte asiatische Nachbarn und eigene Privilegien – zu wahren, nah- die wachstumsgläubige Nation zu lange zum Nacheifern an. Sonst eher nüchterne men mächtige Samurai-Krieger die Her- kollektiv verdrängt hatte. Das System der Ökonomen erregten sich beim Thema Ja- ausforderung des Westens an und lenkten „Japan AG“ schien am Ende. pan wie Kriegsreporter oder verfielen dem die Nation nach westlichen Vorbildern in Yamaichi markierte für die Japaner eine „Mythos des Unbesiegbaren“, so ein Buch- die Moderne. In der Meiji-Restauration Zäsur: Statt das Finanzinstitut – wie sonst titel. Dem Kapitalismus à la Japan, schien stürzten sie den letzten Militärregenten, üblich – unter Anleitung der Regierung so- es, würde das 21. Jahrhundert gehören. den „Shogun“, und setzten den Kaiser lidarisch zu retten, überließen es die Ban- Doch da war diese Form des Kapitalismus Meiji 1868 ein. Um die Widerstandskraft ken dem Verderben. schon ein Auslaufmodell geworden. Was der Japaner gegen westliche Dekadenz zu Mit dem Begriff Japan AG bezeichne- ausländische Bewunderer – und die vom stärken, belebten sie alte Shinto-Mythen ten zunächst ausländische Ökonomen und Erfolg berauschten Japaner – übersahen: von der Auserwähltheit der japanischen schließlich die Japaner selbst Nippons ei- Die Japan AG hatte der Nation zwar als Rasse und der Göttlichkeit des Kaisers. genartige Mischform aus Marktwirtschaft Mittel gedient, um die Industriemächte des Doch wo immer es darum ging, das Land und Sozialismus. Wie eine gigantische Fir- Westens einzuholen. Aber als Japan sein militärisch und ökonomisch aufzurüsten, ma war das Land nach dem Zweiten Welt- Ziel erreicht hatte, engte das System die ahmten die Ex-Krieger den überlegenen krieg zur zweitgrößten Industrienation auf- Nation wie eine Zwangsjacke ein. Westen nach: Von Aufsteiger Preußen über- Die Aufholjagd mit dem Westen war für nahmen sie Militärwesen und autoritäre * Bei Kyocera Kokubu, einem Mikrochip-Hersteller. Japan seit Mitte des 19. Jahrhunderts zur Verfassung, von Amerika und England mo-

140 der spiegel 28/1999 derne Technik. Da dem Land risikobereite mee staatliche Betriebe an, neue Methoden der japanischen massiv überlegen war, in Kaufleute fehlten, gründeten die zu Büro- der Zwangswirtschaft zu testen. Die Vorbil- die Schlacht. Mit ihrer Übermacht zur See kraten gewandelten Samurai-Krieger sel- der dazu hatten Offiziere zuvor in Deutsch- schnürten die Alliierten Japan von den ber moderne Bergwerke,Werften und Tex- land und der Sowjetunion studiert. Bei ihren Rohstofflieferungen seines asiatischen tilfabriken – später übernahmen sie weite- Experimenten halfen ihnen sogenannte Re- Kolonialreichs ab. Gegen Kriegsende re vom Staat. Daraus sollten dann riesige formbürokraten, die nach 1945 die Schlüs- bemühten sich die Amerikaner nicht ein- Konzerne, die „Zaibatsu“, wachsen. selrolle beim Wiederaufbau Japans spielen mal mehr, gezielt Stahlwerke in Japan zu Bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts sollten – so auch Nobusuke Kishi, Nippons bombardieren. Das Kaiserreich lag ökono- war Japan zur Führungsmacht in Asien auf- bedeutender Nachkriegs-Premier. misch und militärisch am Boden. gestiegen: 1904/1905 schlug es das russi- Noch während des Pazifischen Krieges Erst unter dem Schock der Atombom- sche Zarenreich – erstmals hatte eine hatte er die Rüstung im Mutterland auf benabwürfe auf Hiroschima und Nagasaki „nichtweiße“ Nation eine westliche Groß- Hochtouren gebracht. Der Kraftakt war am 6. und 9. August 1945 rang sich Tokio macht besiegt. Der glorreiche Krieg beflü- gewaltig: Zwischen 1930 und 1940 stieg der zur Kapitulation durch. Am 15. August be- gelte auch Japans Wirtschaft: 1911 streifte Anteil der Schwerindustrie an Japans Ge- fahl Tenno Hirohito seinen Untertanen, Tokio die Fesseln der ungleichen Verträge samtwirtschaft von 35 auf 65 Prozent. Über „das Unerträgliche zu ertragen“. ab. Dann trieb der Erste Weltkrieg die In- dustrialisierung voran: Japanische Firmen, besonders Elektro- und Chemiehersteller, sprangen für die europäische Industrie ein, die im Krieg darniederlag. Aber der Staat trieb die Industrialisie- rung verarmter Pachtbauern voran. Die Elenden verkauften ihre Töchter zu Tau- senden als Arbeiterinnen an Fabriken und als Geishas an städtische Bordelle. Zum Sprachrohr der Unzufriedenen schwang sich das Militär auf, das seine Sol- daten oft aus Bauernsöhnen rekrutierte. Seinen Haß richtete es vor allem gegen die Zaibatsu – die riesigen Familienkonzerne wie Mitsui, Mitsubishi oder Sumitomo: Un- gehemmt schluckten die Zaibatsu bank- rotte Firmen und profitierten als einzige von der Krise. Wie Kraken legten sie sich über das Land, sie stellten fast alles her, vom Kimo- no bis zur Kanone. Mitsui, der größte Kon- zern, besaß rund 70 Tochterfirmen, denen je Hunderte Unterfirmen gehörten. Mitsui beschäftigte jeweils eine Million Menschen

im In- und im Ausland; um 1941 zählte die GAMMA / STUDIO X Firma zu den größten Konzernen der Welt. Pleite des Wertpapierhauses Yamaichi*: Verlorener Mythos Mit Schmiergeldern kauften sich Mitsui und Mitsubishi ganze Kabinette. staatliche Kartelle teilten die Bürokraten Niederlage? Für Japans Wirtschaftspla- Aus der Wirtschaftskrise suchten sich die Kapital und Rohstoffe zu, den Einfluß der ner war es eher eine Befreiung. Erlöst von Zaibatsu mit hemmungslosen Export-Of- Zaibatsu-Familien auf das Management der lästigen Einmischung der Militärs ver- fensiven zu retten. Billige japanische drängten sie zurück. Ansatzweise testeten loren sie keine Zeit, Japans Aufholjagd Streichhölzer, Baumwollhemden und Ten- sie damals viele jener Produktions- und nunmehr mit ökonomischen Mitteln fort- nisschuhe weckten besonders in den USA Managementpraktiken, die nach dem Krieg zusetzen. Bis zur Ankunft der US-Besatzer Angst vor der „Gelben Gefahr“. als Symbole der Japan AG gelten sollten, Ende August 1945 nannten die Beamten Auch militärisch steuerte Japan auf Kon- darunter die Arbeitsplatzgarantie. ihr Rüstungsministerium hastig in Ministe- frontationskurs mit den USA. Um von der Doch Nippons Generäle durchkreuzten rium für Handel und Industrie um und ret- inneren Krise nach außen zu lenken, trie- die Visionen der Beamten letztlich mit teten es somit in die Nachkriegszeit hin- ben Japans Generäle langgehegte Pläne ihren größenwahnsinnigen Angriffsplänen: über. 1949 sollte daraus das Miti entstehen für ein japanisches Großostasien voran: Am 7. Dezember 1941 überfielen die Japa- – das berühmt-berüchtigte Ministerium für 1931 überfiel die Armee ohne Rückspra- ner den US-Flottenstützpunkt Pearl Har- Internationalen Handel und Industrie. che mit dem Kaiser die Mandschurei und bor auf Hawaii. Dann überrannten sie fast Anders als im besiegten Deutschland gründete dort den Marionettenstaat Man- ganz Südostasien und propagierten dort ließen die US-Besatzer die japanische Re- dschukuo. 1937 zettelten die Generäle den gegen den Westen die „Großostasiatische gierung im Amt. Beim Tokioter Kriegsver- Krieg gegen China an. Wohlstandssphäre“. brecherprozeß 1946 bis 1948 verschonten Das eroberte Mandschukuo verwandelte Aber die Großmacht USA warf nach sie die Bürokraten weitgehend. Als Sün- die japanische Armee in eine riesige Expe- und nach das Gewicht ihrer Industrie, die denböcke setzten sie statt dessen Militärs rimentierregion für die heimische Rü- und Politiker auf die Anklagebank. Nun stungsindustrie. Ungestört von den Profit- * Präsident Shohei Nozawa weinend auf der Presse- verteilten Japans Kriegsökonomen im Auf- interessen der Zaibatsu-Bosse trieb die Ar- konferenz am 24. November 1997. trag der Sieger knappe Rohstoffe an die „Japan muß sich neu erfinden.“ Sony-Gründer Akio Morita

der spiegel 28/1999 141 Das Jahrhundert des Kapitalismus: Modell Japan? Industrie. Mit den Besatzern Ohne die Bevorzugung durch freundeten sich die Japaner das Miti wäre Japans Autoindu- schnell an: Viele der US-Exper- strie – der spätere Hauptexpor- ten waren Anhänger des „New teur des Landes – schon 1953 Deal“ – jener Anti-Trust-Politik, untergegangen. Damals be- mit der US-Präsident Franklin herrschten westliche Firmen Ja- D. Roosevelt Anfang der dreißi- pans Markt. Aber das Miti setz- ger Jahre die Weltwirtschafts- te den Aufbau einer nationalen krise bekämpft hatte. Nun pro- Autoindustrie durch. Erst för- bierten die Besatzer in Japan derte es die heimischen Her- jene Konzepte aus, mit denen steller, dann ließ es sie ge- sie im eigenen Land weitgehend geneinander um Marktanteile gescheitert waren. kämpfen und für den Export Im Mittelpunkt der US-Re- trainieren: Schon 1957 wagte formen stand die Zerschlagung sich Toyota mit dem „Crown“ der Zaibatsu. Japans Militärs nach Amerika. Das war zwar zu und Reformbürokraten war es früh: Das Gefährt überhitzte nie ganz gelungen, die Zaibatsu- sich auf den Highways, Toyota Kapitalisten zu unterwerfen. Im zog sich aus den USA zurück. Krieg hatten die Konzerne ihr Doch 1961 griff die Firma erneut Kapital gar vervierfacht; noch an – und blieb. zwei Monate vor der Niederla- Bereits 1960 versprach Pre- ge kassierten sie Dividenden. mier Hayato Ikeda den Lands- Welche Ironie: Was Japans Pla- leuten, die Einkommen in zehn

nern nicht gelang, vollzogen nun AKG Jahren zu verdoppeln – tatsäch- die kapitalistischen Amerikaner. Seidenweberei*: Aufrüstung mit westlicher Technik lich verdreifachten sie sich. Die Sie zerschlugen zumindest for- Wirtschaft wuchs jährlich um mell die Zaibatsu, enteigneten die Ei- mit Wolldecken. Das Miti nutzte den Boom: acht Prozent. 1968 überholte Japan die gentümerfamilien wie Mitsui und Mitsu- Da die USA Japan erlaubten, sich vom Bundesrepublik Deutschland als zweit- bishi und ersetzten sie durch jüngere an- Weltmarkt abzuschotten, konnte das Miti größte Industrienation nach den USA. gestellte Manager. die Industrie wie in einem Brutkasten päp- Statt ihrem Kaiser, der 1946 auf Druck Ungewollt beförderten die Amerikaner peln. Mit Milliardenkrediten und Steuer- der US-Besatzer seiner Göttlichkeit ent-

Spiegel des 20. Jahrhunderts damit die Herausbildung der egalitären ja- erleichterungen förderte es zunächst die sagt hatte, huldigten die Japaner nun dem panischen Nachkriegsgesellschaft, in der Schwerindustrie – Stahl, Schiffe und auch Wachstumskult. Premier Ikeda – ein frühe- sich fast alle zum Mittelstand zählten. Die Autos. Später sollte es sich um Computer rer Finanzbürokrat – trug stets ein Radio neuen, mausgrauen Firmenchefs traten als und Biotechnologie kümmern. bei sich, mit dem er die Börsenberichte ab- Sprecher des Firmenkollektivs auf. Statt Als stärkste industriepolitische Handha- hörte. Um die Loyalität des Personals zu für eigenen Profit malochten alle gemein- be diente Nippons Wirtschaftslenkern das stärken und Arbeitskämpfe – wie noch An- sam für den Erfolg der Gruppe. Devisen-Kontrollgesetz von 1949. Die Hät- fang der fünfziger Jahre – zu vermeiden, Im Koreakrieg (1950 bis 1953) profitierte schel-Branchen erhielten knappe Devi- gewährten Unternehmen und Staat Ar- Japan erstmals von der Rolle als Nach- sen zur Einfuhr von Rohstoffen oder Tech- beitsplatzgarantie und automatische Be- schubbasis der Amerikaner. Für 2,4 Milli- nologien. förderung nach dem Alter. Dafür nahmen arden Dollar belieferte es US-Truppen mit zahme Firmengewerkschaften lange Ar- Panzerzubehör, anderer Technik und selbst * Mit amerikanischen Webstühlen in Kiryu um 1925. beitstage und kurze Ferien hin.

Vom Shogunat zur Japan AG 1937 bis 1945 Krieg mit China 1947 Anti-Monopol-Gesetz der 1853 US-Kommodore Perry erzwingt 1894/95 Chinesisch-Japanischer 1940 Dreimächtepakt mit Deutsch- Amerikaner. Trotzdem bilden sich eine allmähliche Öffnung des Landes Krieg. China muß Taiwan an Japan land und Italien. Industrie wird unter später Unternehmenskonglo- abtreten militärische Kontrolle gestellt merate, jetzt Keiretsu genannt. 1867 Der letzte Shogun (Militärregent) Sie kontrollieren die Schlüssel- Tokugawa Yoshinobu wird gestürzt 1901 Beginn staatlicher Stahlpro- 7. Dezember 1941 Überfall auf die industrien und treiben den 1868 bis 1912 duktion mit chinesischem Eisenerz US-Basis Pearl Harbor, Japan erobert Wirtschaftsboom voran, vor Meiji-Zeit: Beginn 1905 Sieg über Rußland, das u.a. fast ganz Südostasien bis an die allen Mitsui, Mitsubishi und der Industriali- Südsachalin und Port Arthur abtritt Grenze Britisch-Indiens und verkündet Sumitomo die „Großostasiatische Wohlstands- sierung durch 1910 Annexion Koreas 1950 bis zur Ölkrise 1973 Übernahme und sphäre“ 1926 Hirohito wird Kaiser Durchschnittliche jährliche Japanisierung August 1945 Die USA werfen Atom- Wachstumsrate der Wirtschaft: westlicher Techno- 1931/32 Die Mandschurei wird bomben auf Hiroschima und Nagasaki

AKG acht bis zehn Prozent logien besetzt und zum Satellitenreich ab; die Sowjetunion besetzt die KAISER MEIJI 1951 Friedensvertrag von San Ab 1880 (MUTSUHITO) Mandschukuo Kurilen-Inseln; Japan kapituliert und 1852–1912 verliert die Mandschurei Francisco: Japan erkennt die Finanzcliquen for- JAPANISCHE TRUPPEN Unabhängigkeit Koreas an und IN DER MANDSCHUREI Ab Oktober 1945 Demokratisierung mieren Unternehmenskonglomerate verzichtet auf Taiwan, die Pesca- (Zaibatsu). Die Konzerne Mitsui und der Wirtschaft unter dem Besatzungs- regime des US-Generals MacArthur dores, die Kurilen und Süd- Mitsubishi entstehen sachalin. Die Regierung fördert 1889 Japan wird konstitutionelle 1. Januar 1946 Die USA zwingen Hiro- die Industrie mit Steuererleichte- Monarchie, der Tenno „heiliges und hito, seiner Göttlichkeit zu entsagen rungen und Exportsubventionen unverletzliches“ Staatsoberhaupt ARCHIVE PHOTOS

142 der spiegel 28/1999 Die Firma löste nun die konfuzianische Ingenieure wahre Meisterschaft darin, ihre abbauen. Aber dafür schottete sich das Familie als Keimzelle der Gesellschaft ab. Vorbilder durch schöpferische Nachahmung Land mit hohen Zöllen und bürokratischen Die Firma stellte die Wohnung, sie vermit- zu übertreffen. Zwischen 1951 und 1984 Tricks um so dichter ab. Gleichzeitig wehr- telte den Ehepartner, sie zahlte die Rente. schlossen Firmen rund 42000 Verträge über ten eng verflochtene Firmengruppen frem- Endlich hatten die Japaner die Marktwirt- den Import westlicher Technologien. Zum de Wettbewerber durch Handelshürden ab. schaft mit ihrer traditionellen mittelalter- Spottpreis von 17 Milliarden Dollar erkauf- Zwar untersagte das Anti-Monopol-Ge- lichen Dorfgesellschaft versöhnt. Ein Netz te Nippon sich den Zugang zum High-Tech- setz Fusionen zu marktbeherrschenden Fir- gegenseitiger Abhängigkeiten sorgte in Zeitalter. men. Über gegenseitige Aktienbeteiligun- der Firmen-Familie für Harmonie und Ge- Einige ihrer größten Erfolgsstorys schrie- gen hatten sich die ehemaligen Zaibatsu borgenheit. ben Japans Firmen indes eher trotz des aber wieder zu informellen „Keiretsu“ ver- Und für politische Ruhe sorgte Japans Miti: 1953 beantragten Masaru Ibuka und kettet. Damit waren sie noch flexibler und mächtiger Wirtschaftsverband Keidanren. Akio Morita, die Gründerväter des Elek- für Außenstehende noch undurchschauba- Mit Schmiergeldern drängte er 1955 die tronikriesen Sony, beim Miti Devisen für rer geworden. So stimmten die Bosse der zerstrittenen konservativen Parteien, sich eine neue Transistor- zur Liberaldemokratischen Partei (LDP) Technologie der US-Fir- zusammenzuschließen. In den folgenden ma Western Electric. 38 Jahren blieb die Partei, ein Zweck- Doch zuvor mußten die bündnis subventionsgieriger Klüngel, stän- Sony-Leute ein halbes dig an der Macht. Jahr lang auf das Miti Das Regieren überließen die LDP-Vor- einreden. Das Ministe- zeigeminister, die fast jährlich wechselten, rium konnte mit Transi- den Spitzenbeamten. Als Amakudari storen offenbar so we- („Vom Himmel herabsteigend“) starteten nig anfangen wie die die Beamten nach ihrer Pensionierung mit amerikanischen Erfin- 55 Jahren eine zweite Karriere in Firmen der. Das änderte sich und Banken, für die sie zuvor zuständig schnell: Die Transistor- waren. Wie ein „Spinnennetz ohne Spin- radios, die die Sony- ne“ (US-Ökonom William Lockwood) hiel- Tüftler aus dem Patent ten sie die Japan AG zusammen. entwickelten, verkör- Auf ihrem abgeschotteten Binnenmarkt perten schon bald das kassierten die Firmen von den Verbrau- japanische Wirtschafts-

chern ein Vielfaches der Weltmarktpreise. wunder. MUSEUM PEACE THE JAPAN Ungestört konnten sie somit ihre Export- Anfang der sechziger Zerstörtes Hiroschima*: „Das Unerträgliche ertragen“ offensiven vorbereiten. Unter Anleitung Jahre nahmen die Han- des Miti zielten sie auf einige wenige Pro- delsspannungen zwischen Japan und der Mitsubishi-Gruppe ihre Strategien auf ge- dukte, die sich zur billigen Massenferti- übrigen Welt zu. Zwar importierte das roh- heimen „Freitagstreffen“ im Tokioter Ge- gung eigneten. Den Angegriffenen blieb stoffarme Land fast den gesamten Bedarf schäftsviertel Marunouchi ab. Loyalität meist keine andere Wahl, als auf Nischen- an Öl, aber kaum Fertigwaren: Um 1970 zum Keiretsu war Ehrensache: Klar, daß produkte auszuweichen. So verschwanden führte Japan fast jedes dort gebaute Schiff ein mustergültiger Angestellter der Mit- in Deutschland die Kamerahersteller. aus. Ein Drittel der Exporte bestand aus subishi-Bank ein Auto mit den drei Mit- Anders als ihre hochmütig gewordenen Waren, die die eigene Industrie zehn Jah- subishi-Diamanten auf der Haube fuhr, Opfer scheuten sich die japanischen An- re zuvor noch nicht hergestellt hatte. greifer nicht, fremde Technologie zu über- Im Zuge des OECD-Beitritts 1964 muß- * Nach dem Abwurf der amerikanischen Atombombe nehmen. Wie Kabuki-Spieler sahen Japans te Japan zwar die meisten Importquoten am 6. August 1945.

1952 Ende der amerikanischen Ende 1976 Der seit 1971 frei 29. Dezember 1989 Historischer 40 000 Besetzung Japans konvertierbare Yen beginnt seinen Höchststand des Nikkei- 29. Dez. 1989 38 915 1956 Japan wird Uno-Mitglied Höhenflug Aktienindex: 38 915 Punkte 1958 Die 1946 von Akio Morita 1977 Nintendo produziert mit ameri- Ab Januar 1990 Die Wirtschafts- gegründete Firma für Transisto- kanischer Lizenz das erste Videospiel krise beginnt mit Kursstürzen an ren wird für den Weltmarkt in 1978 Unterzeichnung eines Freund- der Tokioter Börse Sony Corporation umbenannt schaftsvertrages mit China Juli 1991 Die Seifenblase („Bubble 30 000 NIKKEI-INDEX 1960 Sicherheitsvertrag 1980 Japan ist größter Automobil- economy“) der Spekulation platzt, mit den USA produzent der Welt Immobilienfirmen, Broker und Ban- ken geraten ins Trudeln Ab 1965 Massenproduktion 1981 Freiwillige Beschränkung des von Farbfernsehgeräten Automobilexports in die USA 1992 Nur noch ein Prozent Wachstum der Wirtschaft 1968 Japan wird zweitgrößte Ab Februar 1987 Massive Spekula- Industrienation nach den USA tionen lassen die Immobilienpreise Japan ist weltweit größter Kredit- 20 000 und vor Deutschland und Aktienkurse explodieren geber und zweitgrößte Exportnation (hinter Deutschland) 1971 Japan stellt mehr Autos 7. Januar 1989 her als Deutschland Tod des Kaisers November 1997 Finanzministerium schließt die erste Großbank 1972 Kakuei Tanaka wird Mini- Hirohito; Nach- sterpräsident. Im November folger wird sein Juli 1998 Faule Kredite werden Quelle: Datastream 55jähriger Sohn auf eine Billion Mark geschätzt 10 000 1974 tritt er wegen diverser 1988 90 95 99 Korruptionsvorwürfe zurück Akihito PRESS SIPA KAISER HIROHITO 1901–1989

der spiegel 28/1999 143 Das Jahrhundert des Kapitalismus: Modell Japan?

sein Kirin-Bier im Kühlschrank von Mit- subishi Electric kühlte und seine Kinder mit einer Nikon-Kamera knipste. Im Mittelpunkt der Keiretsu standen die Hausbanken. Diese führten der stets kapi- talhungrigen Industrie die hohen Sparraten der Bevölkerung als niedrig verzinstes Ka- pital zu. Das Risiko bei diesem Kapitalis- mus zum Nulltarif trug der Staat: Strau- chelte eine Bank, rettete er sie durch ge- sündere Institute. Das nannte man Ge- schwader-Methode. Dagegen bildete das Aktienkapital den Kitt, mit dem Firmen befreundete Banken, Zulieferer und Kun- den an sich banden. So konnten die Firmen Kraft für immer neue Exportoffensiven sammeln. 1971 riß der US-Regierung – das ameri- kanische Defizit im Handel mit Japan wuchs schneller als jedes andere – die Ge- duld. Präsident Richard Nixon belegte Im- porte mit zehn Prozent Zoll und gab den

Wechselkurs des Dollar frei, vor allem auch PRESS SIPA um Nippons Exporte zu verteuern. Dem in Kotau unter japanischen Geschäftsleuten: Mausgraue Chefs im Firmen-Kollektiv Japan sogenannten Nixon-Schock folgte 1973 der Ölschock: Die Verteuerung des lichsten. In ausufernden Millionenstädten Zauberformel, die nun auch europäische Importöls trieb das rohstoffarme Japan in bewohnen sie enge Holzhäuser, die Wasch- Manager in ihren Fabriken umsetzen. die Inflation.Verzweifelte Hausfrauen prü- maschine steht oft auf der Straße; wie die Trotz der Erfolge schottete sich Japan gelten sich bei Hamsterkäufen um Klopa- Dosenfische lassen sie sich in volle U-Bah- wie ein Entwicklungsland gegen Importe pier, erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg nen stopfen. Tausende fielen Umwelt- ab. In den zehn Jahren nach der Ölkrise ging das Wachstum zurück. krankheiten zum Opfer, die nach ver- wuchs der japanische Exportüberschuß auf Doch die Ursachen der Krise lagen tie- seuchten Industrieregionen benannt wa- fast 100 Milliarden US-Dollar. Im größten

Spiegel des 20. Jahrhunderts fer: Der schmächtige Herausforderer Ja- ren wie die Quecksilberseuche Minamata Abnehmerland Japans, den USA, spaltete pan war längst zum fetten Sumo-Ringer oder das Yokkaichi-Asthma. eine Japan-Debatte die Nation: Feierte herangewachsen. Die Industriepolitik, mit Nippons Politiker dachten nicht daran, Harvard-Ökonom Ezra Vogel Japan als der das Miti einst Zukunftsbranchen auf das Land zu öffnen und den Konsum an- „Number one“, zerschmetterten wütende zukurbeln. Sie setzten Gewerkschafter und Politiker vor dem auf den Staat: Mit einem Washingtoner Capitol Toyota-Autos und „Plan zur Umgestaltung Toshiba-Fernseher. des japanischen Archi- Nippon, der „Trittbrettfahrer“ des frei- pels“ verwandelte der en Welthandels, verängstigte Amerikaner bullige Premier Kakuei und Europäer fast noch mehr als die So- Tanaka Japan seit 1972 wjetunion. Wie bei Abrüstungsgesprächen in eine Großbaustelle. drängte der Westen Japan, seinen Export Allenthalben ließ er „freiwillig“ zu drosseln. Tokio gab nach. neue Straßen und Um die Beschränkung zu umgehen, bauten Brücken bauen. Wer die Hersteller vor Ort in Europa und den Aufträge bekam, be- USA Fabriken auf – und ihre Zulieferer stimmte Tanaka, der als brachten sie gleich mit. Von dort aus lie- Führer der größten ferten sie auch nach Japan. Als Tokio zum LDP-Fraktion schamlos Beispiel die Öffnung seines Fleischmarkts Schmiergelder kassierte. nicht länger verzögern konnte, kauften Ja-

B. BARBEY / MAGNUM / AGENTUR FOCUS / AGENTUR / MAGNUM B. BARBEY Japan überwand den pan-Firmen australische Rinderfarmen auf: Massenbeförderung (in Tokio): Gedrängt wie Dosenfische Ölschock und nährte im Die nationalistische Abwehr nichtjapani- Ausland den Mythos, scher Waren war für das rohstoffarme In- die Beine geholfen hatte, hielt jetzt immer daß es aus Krisen meist gestärkt hervorge- selland zur fixen Idee geworden. mehr wettbewerbsunfähige Industrien wie he. Mit rigorosen Energieeinsparungen und Doch vor allem die USA ließen nicht Petrochemie und Aluminium künstlich am neuen Produktionsmethoden senkte die locker: Um Nippons Exporte zu verteu- Leben – auf Kosten erfolgreicher Firmen. Industrie radikal ihre Kosten. So begrenz- ern, verpflichteten sie es im Plaza-Ab- Am wenigsten hatte das japanische Wirt- te Toyota die Lagerhaltung seiner Fabri- kommen 1985, den Wechselkurs des Yen schaftswunder den Menschen gebracht. ken durch das „Just in time“-System auf zum Dollar zu erhöhen. Unter den Industrienationen arbeiteten die ein Minimum. „Kaizen“ – stete Verbesse- Nun entfachten die Japaner die „Bub- Japaner am meisten und lebten am ärm- rung der Produktionsabläufe – lautete die ble“ – die Seifenblasenwirtschaft, an deren „Die Japaner haben eine ganz neue Art des Handels erfunden – den gegnerischen Handel, der wie Krieg ist, der darauf zielt, die Konkurrenz auszulöschen.“ Michael Crichton (in „Nippon Connection“)

144 der spiegel 28/1999 Werbeseite

Werbeseite Das Jahrhundert des Kapitalismus: Modell Japan?

Folgen ihr Land noch heute krankt: Inner- Produktion im eigenen Land zu teuer wur- Doch es half alles nichts: Firmen-Bank- halb von nur 13 Monaten senkte die No- de. Ökonomen verglichen die Asiaten mit rotte nahmen zu, die Arbeitslosigkeit stieg tenbank seit Januar 1986 siebenmal die Leit- einer Staffel von Fluggänsen, die der Leit- auf japanisches Rekordniveau. Erstmals zinsen. Mit allerlei Tricks schraubten die gans Japan hinterherflogen. seit der Ölkrise schrumpfte Nippons Wirt- Firmen ihre Kapitalkosten praktisch auf Im Jahr 1990 platzte Japans „Blase“. Die schaft: 1998 um 2,8 Prozent. Der Staat Null herunter. Bis dahin hatten die Herstel- Zentralbank war nicht bereit, den Kasino- rutschte immer tiefer in die roten Zahlen. ler die Kapitalbeschaffung ihren Hausban- Kapitalismus länger mit billigem Geld an- 1999 dürfte die Neuverschuldung an die ken überlassen. Nun aber entdeckten sie zufeuern. Innerhalb eines Jahres senkte sie zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts „Zaitech“ – eine japanische Sprachschöp- die Zinsen um 100 Prozent. Panisch zogen erreichen – mehr als dreimal soviel, wie fung aus den Worten Finanzen und Technik. die internationalen Anleger ihr Geld ab: es der strenge Maastricht-Vertrag den Eu- Ihren erheblichen Grundbesitz, den etwa An der Tokioter Börse verloren die Akti- ropäern zur Währungsunion erlaubt. Mitsubishi in den Büchern bisher zum Er- enkurse binnen eines Jahres 54 Prozent ih- Das Versagen der Regierung, Wachstum werbspreis von vor hundert Jahren ver- res Werts. Und mit Verzögerung krachte zu garantieren, erschütterte den Konsens bucht hatte, bewerteten sie neu. Die auf es auch auf dem Immobilienmarkt – dafür der Japan AG. Im Sommer 1993 versagten dem Papier plötzlich wertvollen Immobi- aber um so lauter: Seit 1990 fielen allein die die Japaner der Dauer-Regierungspartei lien dienten ihnen als Sicherheit, um Kre- Preise für Geschäftsimmobilien in Tokio LDP die Treue. Eine bunte Koalition aus dite aufzunehmen. Mit dem Geld bauten sie um bis zu 80 Prozent. Oppositionsparteien und abtrünnigen neue Fabriken für neue Exportoffensiven. Auf einmal saßen Nippons Banken auf LDP-Mitgliedern übernahm die Macht. Dem Boom in den Büchern folgte ein einem Fudschijama aus faulen Krediten. Plötzlich wehte frischer Wind: Mit dem ju- Boom auf dem Immobilienmarkt und an Doch die Regierung vertuschte das Aus- gendlich wirkenden Premier Morihiro Ho- der Aktienbörse. Allein im Großraum To- maß der Krise: Statt das marode Finanz- sokawa schien der Industriegigant Japan kio stiegen die Bodenpreise zwischen 1985 system durch schmerzhafte Reformen zu der Rolle des außenpolitischen Zwergs zu und 1990 um das Doppelte. Damit verdop- sanieren, hoffte sie darauf, daß die Kon- entwachsen. pelte sich auch die Kreditwürdigkeit der junktur sich erholen würde. Doch die Hoffnungen auf eine echte Grundbesitzer, die sich bei den Banken im- Dabei stand die Japan AG 1990 vor ähn- Wende wurden wiederum enttäuscht. mer höher verschuldeten. lich dramatischen Herausforderungen wie Schon nach acht Monaten trat Hosokawa wegen dubioser Finanzgeschäfte ab. Im Sommer 1994 kehrte die LDP an die Macht zurück. Als Premier schob sie den Sozial- demokraten Tomiichi Murayama vor. Des- sen Partei war mit der Japan AG so verfilzt wie die ostdeutschen Blockparteien mit

Spiegel des 20. Jahrhunderts dem System der SED. Vor allem wurde nun klar, woran es dem Land mangelte. Zwar bereicherte Japan die Welt mit dem „Tamagotchi“, dem virtuel- len Hühnerei, und allerlei Videospielen. Doch die intelligenten Gehirne der Com- puter – Mikroprozessoren und Software – stammten meist von US-Firmen wie Intel und Microsoft. Dem Land, klagten Miti- Beamte, fehle ein japanischer Bill Gates. Das folgenschwerste Versäumnis unter- lief den Japanern beim Internet: Weil Nip- pons Industriekolosse allzu lange auf alt- bewährte Massenprodukte der Unterhal- tungselektronik setzten, verschliefen sie

J. P. BÖNING / ZENIT P. J. die neue industrielle Revolution seit Erfin- Freizeitvergnügen Spielhalle (in Tokio): Lange Arbeitstage, kurze Ferien dung der Dampfwalze und der Fließband- produktion von Autos durch Henry Ford. Der Wertsprung von Immobilien und der kommunistische Ostblock nach dem Verständnislos schaute die „Nummer eins“ Aktien vermehrte den Reichtum der Japa- Fall der Mauer. Doch anders als die osteu- anfangs zu, wie US-Softwarehäuser aus ner von 1987 bis 1990 um das Vierfache. ropäischen Reformer schreckten Japans dem Silicon Valley der übrigen Welt beim Ihren plötzlichen Reichtum nutzten sie für Bürokraten davor zurück, ihre planwirt- Internet auf Jahre hinaus die Industrie- eine weltweite Einkaufstour: In Hamburg schaftlichen Befugnisse abzugeben. standards diktierten. kauften sie das Hotel „Vier Jahreszeiten“, Im Konsens schlitterte die Nation in die Die Hauptschuld daran, daß Japans In- in New York das „Rockefeller Center“. Krise. Der japanische Staat handelte wie dustrie die Neunziger dem Konkurrenten Mit Hilfe des teuren Yen bauten Nip- Ärzte, die einen Drogenabhängigen ku- USA überließ, trug der korrupte und inef- pons Firmen auch ihre Brückenköpfe in rieren wollen. Immer größere Konjunk- fiziente Finanzsektor des Landes. Ein Ge- Asien aus, fachten sie das „asiatische Wun- turspritzen pumpten Milliarden Yen in strüpp aus veralteten Vorschriften ver- der“ (Weltbank) mit an. Seit den fünfziger den kranken ökonomischen Kreislauf. Mit sperrte ideenreichen Garagenfirmen den Jahren hatte Japan seinen ökonomischen dem Geld bauten die Bosse Vergnügungs- Zugang zum nötigen Risikokapital. Um Einfluß in der einstigen „Großostasiati- parks, asphaltierten Straßen und begra- den flauen Börsenplatz Tokio zu beleben, schen Wohlstandssphäre“ der Kriegszeit digten Flüsse. Die Bank von Japan senkte kündigte der damalige Premier Ryutaro zielstrebig ausgebaut. In Indonesien und die Zinsen 1995 auf das historische Tief Hashimoto 1997 einen „Big Bang“ – einen Thailand beherrschten japanische Firmen von 0,5 Prozent, und das Finanzministe- Reformknall – bis zum Jahr 2002 an. den Automarkt. Seit den späten achtziger rium bewahrte die Aktienbörse mit Hilfe Die Liberalisierung begann wie ein Jahren montierten japanische Firmen in staatlicher Fonds vor dem natürlichen schintoistisches Reinigungsritual. In einer den Billiglohnländern dann Waren, deren Crash. sorgfältig dosierten Skandal-Welle ver-

146 der spiegel 28/1999 TONY STONE TONY Hochgeschwindigkeitszug auf der Insel Honshu: Konjunkturspritzen für den kranken Wirtschaftskreislauf suchte die Japan AG alte Geister auszu- chen auch die abgeschotteten Keiretsu auf. beteiligte und Japans zweitgrößten Auto- treiben, die ihr im Zeitalter globaler Fi- Das Brokerhaus Nikko wagte, was in Japan mobilbauer damit vor der drohenden Plei- nanzmärkte keinen Erfolg mehr verhießen: lange undenkbar war: Statt mit der Bank of te rettete. Mit der ganz unjapanischen Bürokraten, die sich von Bankern in Un- Tokyo-Mitsubishi des eigenen Keiretsu Ankündigung, mehrere zehntausend Ar- ten-ohne-Bars bewirten ließen; Broker, die schloß es sich mit der Travelers-Gruppe beitsplätze abzubauen, beflügelten japani- Politiker und Gangsterbosse auf illegalen aus Amerika zusammen. Japan drohe eine sche Firmen wie Sony und NEC im Früh- Konten für Aktienverluste entschädigten; „Versklavung“ durch das US-Finanzkapi- jahr die Tokioter Börse: Der Aktienindex Buchhalter, die faule Kredite mit Hilfe von tal, schimpft der rechte Politiker Shintaro Nikkei ist seitdem auf über 18000 Punkte Bilanzschummeleien verheimlichten. Ishihara, den die Bürger Tokios im April zu geklettert, vorige Woche schwächelte er Im Sommer vergangenen Jahres hielten ihrem neuen Gouverneur wählten. erneut. die globalen Finanzmärkte zeitweilig den Vor etwa zehn Jahren jubelte der jetzi- Kein Zweifel: Aus seinem Siechtum wird Atem an: Sie fürchteten, Japans marode ge Vize-Finanzminister Eisuke Sakakibara sich Japans Industrie wieder aufraffen – Banken könnten einen weltweiten Crash (wegen seines starken Einflusses auf die und womöglich schneller, als es lange auslösen. Erst auf internationalen Druck Devisenmärkte „Mr.Yen“ genannt), Japan schien.Aber der unausweichliche Härtetest hin stellte Tokio dann 60 Billionen Yen (940 habe „den Kapitalismus überwunden“. ist nur aufgeschoben, die zentrale Frage Milliarden Mark) bereit, um den Finanz- Was der Japaner als heimische Alternative bleibt unbeantwortet: Kann Japans Kon- sektor zu sanieren; mit Hilfe schärferer zum Kapitalismus des Heuerns und Feu- sensgesellschaft den Wandel zu einem Gesetze beschleunigte die Regierung zu- erns pries, funktionierte zwar in der Auf- weltoffenen Kapitalismus – mit dem Indi- gleich den Ausleseprozeß in der Finanz- holphase nach 1945. Doch im Zuge der viduum im Mittelpunkt – verkraften? branche: Die gestrauchelten Banken Long Globalisierung erweist sich Japans natio- Gewiß scheint nur eins: Außenseiter Ja- Term Credit und Nippon Credit verstaat- nalistische Abschließungsmentalität als pan wird den Westen auch künftig heraus- lichte sie; den Lebensversicherer Toho so- größter Standortnachteil. fordern. Keineswegs wird die ganze Japan wie die Regionalbank Tokyo Sowa zwang Der Logik der Märkte gehorchend, trei- AG sich einem ähnlich demütigen- sie praktisch zur Geschäftsaufgabe. ben jetzt die Nationalisten wie Sakakiba- den Schicksal wie Yamaichi fügen: Der Wie ein havarierter Frachter wirft Japan ra die Firmen zur Globalisierung an, er- bankrotte Broker verkaufte sein Filialnetz derzeit den Ballast seiner ineffizienten Fi- mutigen sie, Aktien ihrer Hausbanken ab- an die amerikanische Konkurrenz – samt nanzsektoren von Bord: Aus Angst vor zustoßen. Geradezu erleichtert stimmte Personal. dem Untergang retten sich neuerdings Ban- das Miti zu, als sich der französische ken in Fusionen mit der überlegenen an- Renault-Konzern im März mit 35 Prozent Wieland Wagner, 40, ist seit 1995 SPIEGEL- gelsächsischen Konkurrenz. Dadurch bre- an der hochverschuldeten Nissan-Gruppe Korrespondent in Tokio.

LITERATUR Werner Draguhn (Hrsg.): „Asienkrise: Politik und Der bedeutendste japanische Roman über die Atom- Florian Coulmas: „Japan außer Kontrolle. Vom Wirtschaft unter Reformdruck“. Institut für Asien- bombenabwürfe auf Hiroschima und Nagasaki. Musterknaben zum Problemkind“. Primus-Verlag, kunde, Hamburg 1999; 153 Seiten – Wie Indien, Japan, , Josef Kreiner (Hrsg.): „Japan ist Darmstadt 1998; 142 Seiten – Die gefährlichen Folgen China, Südkorea und andere Länder Südostasiens offen – Chancen für deutsche Unternehmen“. Sprin- der Globalisierung für Japan. auf die Asienkrise reagieren. ger Verlag, Heidelberg / Berlin 1998; 339 Seiten – John W. Dower: „Embracing Defeat. Japan in the Richard Katz: „Japan: The System that Soured“. Ver- Wirtschaftsmanager schildern ihre Erfolge. Wake of World War II“. Verlag W. W. Nor- lag M. E. Sharpe,Armonk 1998; 480 Seiten – Japan ist Jacob M. Schlesinger: „Shadow Shoguns. The Rise ton & Co. / The New Press, New York 1999; reformfähig, aber gefangen in einer Zwangsjacke and Fall of Japan’s Postwar Political Machine“. Ver- 677 Seiten – Das amerikanisch-japanische Wirt- überflüssiger Institutionen. lag Simon & Schuster, New York 1997; 366 Seiten – schaftsmodell eines „kapitalistischen Entwicklungs- Ibuse Masuji: „Schwarzer Regen“. Fischer Taschen- Die Korruption unter Premier Tanaka als Beispiel landes“. buch Verlag, Frankfurt am Main 1985; 372 Seiten – für die Mechanismen der Japan AG.

der spiegel 28/1999 147 Das Jahrhundert des Kapitalismus: Modell Japan?

STANDPUNKT „Japan wird gesund“ Von Yasuhiro Nakasone as Modell Japan lebt. Japan hat Müssen wird uns jetzt ganz von un- muß Japan sich eher stärker auf tradi- den Entwicklungsländern nach serem einstigen Erfolgsmodell verab- tionelle Grundlagen seiner Gesellschaft Ddem Zweiten Weltkrieg erfolg- schieden? Sollten wir uns völlig ameri- besinnen: Das ist die wichtigste Lehre, reich vorgemacht, wie ein Land sich kanischer Shareholder-Kultur unter- die wir aus der Bankenkrise sowie den zunächst unter dem Schutz und mit werfen? Ich glaube nicht. Denn Politik zahlreichen Skandalen im Finanzmini- Hilfe des Staates industrialisiert und und Wirtschaft können nur im Einklang sterium ziehen müssen. So sollten wir dann allmählich für den internationalen mit der Kultur eines Landes gedeihen. vor allem unser Schulsystem gründlich Wettbewerb öffnet. Für uns Japaner bleiben Konsens und reformieren. Die Moralerziehung – Länder wie Taiwan und Südkorea Harmonie ungemein wichtig: Sie ver- vom amerikanischen Besatzungsgene- haben dieses Modell übernommen. leiten uns zwar bisweilen zu Mißerfol- ral Douglas MacArthur abgeschafft – Selbst Länder in Osteuropa und La- gen, aber viel öfter erweisen sie sich gehört wieder eingeführt. teinamerika haben sich von unseren als Japans besondere Stärke. Zur Zeit leidet unser Land unter ei- Erfolgen inspirieren lassen. Und auch Was bedeutet das konkret? Auch nem Wertevakuum. Politiker und Büro- künftig werden jene Entwicklungslän- künftig werden japanische Firmen ei- kraten sind vollauf damit beschäftigt, der am schnellsten zu Industrieländern ne stärkere Trennung zwischen Ma- die Folgen der Krise zu meistern. Un- aufsteigen, die zuvor eine protektioni- nagement und Aktionären bewahren, sere Firmen bemühen sich – völlig ver- stische Übergangsphase nach japani- als dies etwa in den USA üblich ist. ständlich –, im globalen Wettbewerb schem Vorbild absolvieren. Statt sich ausschließlich von kurzat- Anschluß an moderne Technologien Doch Japan selbst ist mittlerweile zu migen Aktionärsinteressen drängen wie das Internet zu finden oder ihre einem Industrie-Giganten herange- zu lassen, können sich unsere Firmen Positionen auszubauen. Doch gerade wachsen und hat keinen Schutz mehr somit stärker auf ihre langfristi- im Zuge der Globalisierung darf Japan

Spiegel des 20. Jahrhunderts nötig. Schon 1987 hat gen Strategien konzen- nicht den Fehler wiederholen, seine meine Regierung zum trieren. Position ausschließlich über technolo- Beispiel die staatliche Auch in der Beschäf- gisches Know-how und über das Wirt- Eisenbahn privatisiert. tigungspolitik wird Ja- schaftswachstum zu definieren. Doch die Seifenblasen- pan nicht die „Hire and Japan darf seine Identität nicht ver- wirtschaft der späten Fire“-Mentalität von gessen. Von den Politikern und Büro- achtziger Jahre konnte US-Firmen überneh- kraten, die in unserem Land zur Zeit ich nicht verhindern: men. Zwar sind auch Verantwortung tragen – der Genera- Unser Land strauchelte unsere Unternehmen tion der 50- bis 60jährigen –, können über seine ökonomische gezwungen, Arbeits- wir allerdings kaum die notwendige Selbstüberschätzung. kräfte abzubauen und moralische Führung erwarten. Denn Daß die Japan-Krise das System der lebens- dieser Generation wurde durch Japans sich so lange hinzog, langen Arbeitsplatzga- Kriegsniederlage das Selbstbewußtsein war vor allem schuld un- rantie zu überdenken. gegenüber der eigenen Kultur geraubt. serer Zentralbank und Das heißt aber nicht, Um so mehr hoffe ich dagegen auf des Finanzministeriums. daß sie einfach die die jungen Japaner, die 20- bis 30jähri- Statt die Lungenentzün- Köpfe ihrer Angestell- gen. Diese Generation wird von den dung des Bankwesens ten rollen lassen: Viel- Älteren völlig zu Unrecht unterschätzt. mit dem Penicillin einer mehr versetzen die Doch die Jungen vermögen klar zu sa- Strukturreform zu hei- Konzerne überzähliges gen, was sie gut oder schlecht finden. len, wollten sie den Pa- Personal zu Tochterfir- Von diesem Nachwuchs erwarte ich die tienten mit lauwarmer men oder entlassen es Kreativität, um Japan wieder techno- Milch aufpäppeln. Doch in den Vorruhestand. logisch an die Spitze zu bringen, gleich- jetzt hat der Staat die Nur solch humanes zeitig aber auch den Willen, die Vor- nötigen Finanzspritzen Vorgehen achtet den züge des Modells Japan im Zuge der verabreicht und eine Li- Wunsch der Gesell- Globalisierung zu verteidigen. beralisierung eingelei- schaft nach Harmonie.

tet. Japan wird gesund KYODO Um den inneren Yasuhiro Nakasone, 81, war von 1982 werden. Nakasone Frieden zu sichern, bis 1987 japanischer Premierminister.

DIE THEMENBLÖCKE IN DER ÜBERSICHT: I. DAS JAHRHUNDERT DER IMPERIEN; II. … DER ENTDECKUNGEN; III. … DER KRIEGE; IV. … DER BEFREIUNG; V. … DER MEDIZIN; VI. … DER ELEKTRONIK UND DER KOMMUNIKATION; VII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 50 JAHRE BUNDESREPUBLIK; VIII. … DES SOZIALEN WANDELS; IX. DAS JAHRHUNDERT DES KAPITALISMUS; X. ... DES KOMMUNISMUS; XI. … DES FASCHISMUS; XII. … DES GETEILTEN DEUTSCHLAND: 40 JAHRE DDR; XIII. … DER MASSENKULTUR

148 der spiegel 28/1999 Werbeseite

Werbeseite Werbeseite

Werbeseite Prisma Wissenschaft

TIERSCHUTZ so das Gericht, auf- grund bestehender oder neuer Tierschutz- Kampf den Vorschriften auch ge- gen vorhandene Lege- batterien vorzugehen. Käfigen Die Behörden könn- ten Genehmigungen und und Länder streiten über die widerrufen und Anla- BZukunft der Hühnerhaltung. Das gen schließen lassen. Bundesverfassungsgericht hat vergan- Batteriebetreiber, die gene Woche die Hennenhaltungsver- keine Genehmigung ordnung, die in Deutschland Legebat- haben, könnten künf- terien legalisierte, für nichtig erklärt. tig sogar wegen Tier-

Das Land Nordrhein-Westfalen, das die FOTOS: DPA quälerei bestraft wer- Klage angestrengt hatte, will nun rasch Legebatterie, Bundesver- den. Bundeslandwirt- gegen Käfigbetreiber vorgehen. Aus fassungsgericht bei Verkündung schaftsminister Karl- dem Karlsruher Urteil, so Landwirt- des Legehennen-Urteils Heinz Funke (SPD) schaftsministerin Bärbel Höhn (Grü- versprach zwar, er ne), „ergeben sich klare Vorgaben, die schon jetzt zu beachten werde „möglichst schnell eine neue Verordnung erlassen“.An- sind“. So müßten alle Hühner ungehindert schlafen oder fres- dererseits möchte Funke bestehende Legebatterien nicht im sen können. „Im Klartext“, so Höhn: „Auch in bestehenden An- „nationalen Alleingang“ antasten: Nach der jüngsten EU-Richt- lagen müssen pro Käfig ein bis zwei Hühner herausgenommen linie müssen die Käfige erst vom Jahr 2003 an etwas geräumi- werden.“ Auf Dauer benötigten die Hühner auch die Möglich- ger sein und dürfen sonst bis Ende 2011 unverändert beste- keit zur Nestsuche, zum Scharren und Staubbaden. Dies will henbleiben. Einer neuen Bundesverordnung muß der Bundes- die Ministerin den Hennenhaltern in einem Gespräch deutlich rat zustimmen. Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen machen. Zwar steht in dem Urteil, Alt-Anlagen blieben „in kündigen einer zögerlichen Umsetzung des Karlsruher Urteils ihrem Bestand geschützt“ – allerdings nur, soweit dies gelten- den Kampf an. Höhn: „Jetzt wird nicht mehr um Zentimeter dem Recht entspricht. Der Bestandsschutz schließe nicht aus, gefeilscht.“

ABTREIBUNGSPILLE ASTRONOMIE Risiko der Ärzte Nachfolger für Weltraumteleskop enig Begeisterung unter den er außer Kontrolle geratene Rönt- WGynäkologen hat die Zulassung Dgensatellit „Abrixas“ soll möglichst der Abtreibungspille RU 486 als medika- bald durch einen Nachfolger ersetzt mentöse Alternative zum chirurgischen werden. „Wir werden versuchen, ihn Schwangerschaftsabbruch ausgelöst: Die noch einmal zu bauen“, sagt der Pots- Anwendung des Hormonpräparats, das damer Astrophysiker Günther Hasinger, in Kombination mit einem Prostaglandin einer der wissenschaftlichen Leiter der eine Fehlgeburt herbeiführt, wird da- gescheiterten „Abrixas“-Mission. Der durch erschwert, daß die Ärzte das Zu- deutsche Röntgensatellit hatte die Auf- satzmittel vorerst in eigener Verantwor- gabe, von der Erdumlaufbahn aus nach tung verabreichen müssen. Es gebe zwar Schwarzen Löchern zu fahnden. Doch „keine medizinischen Bedenken“ gegen letzte Woche mußten die Himmelsfor- das wehenfördernde Prostaglandin, sagt scher ihrem Weltraumteleskop „den To- Armin Malter vom Berufsverband der tenschein ausstellen“ (Hasinger). Schon Frauenärzte. Doch das Medikament ist wenige Stunden nach dem Start Ende in Deutschland bislang nur als Magen- April hatte es an Bord Probleme mit der mittel sowie für den Einsatz beim opera- Energieversorgung gegeben, kurz darauf tiven Schwangerschaftsabbruch zugelas- brach der Funkkontakt ab. Mit Hilfe ei- sen. Der Berufsverband appellierte des- ner riesigen Radarantenne, die nahe halb an den RU-486-Hersteller Exelgyn, Bonn von Militärforschern betrieben auch die Zulassung für ein zu kombinie- wird, konnten die Astrophysiker seither rendes Prostaglandin bei der zuständi- mitverfolgen, wie „Abrixas“ nach Art Röntgensatellit „Abrixas“ (Fotomontage) gen EU-Behörde in London zu beantra- eines Spielzeugkreisels durchs All tau- gen. Einstweilen tragen die Ärzte das melte. Ausgelöst wurde das Desaster, saublöder Fehler“, meint Hasinger. volle Haftungsrisiko für mögliche Kom- wie die Wissenschaftler inzwischen er- „Aber das Risiko von Pannen wächst plikationen. Unter solchen Bedingungen mittelt haben, durch die falsch einge- automatisch, wenn man zunehmend ge- werden „viele Ärzte RU 486 gar nicht stellte Hauptbatterie; diese erhitzte sich zwungen ist, auf wichtige Tests zu ver- erst anwenden“, fürchtet der Pro-Fami- im All auf über 200 Grad Celsius und zichten – nur um Forschungssatelliten lia-Bundesverband. wurde dadurch unbrauchbar. „Ein immer billiger zu bauen.“

der spiegel 28/1999 151 Prisma Computer

SPIELE Hitchcock auf Konsole it dem unschuldigen Videospiel „Super Mario“ hat M„Silent Hill“ soviel gemein wie „Bambi“ mit Fritz Haarmann, dem Mann mit dem Hackebeilchen. Der Hor- ror-Schocker für die Sony Playstation führt den Spieler in eine verworrene Geschichte, in der es darum geht, ein ver- lorenes Mädchen aufzuspüren. Dabei landet der Spieler in Gestalt des Hauptdarstellers Harry Mason in einem „Paralleluniversum“, in dem allerlei knifflige Rätsel zu lö- sen sind und jede Menge Monster umgelegt werden müs- sen. Der Clou liegt in der durch effektvolle Kamerafahr- ten hervorgerufenen düsteren Atmosphäre des Spiels, die Hersteller Konami etwas radebrechend als „klassisch- gothisch“ bezeichnet.

Figur aus dem Horror-Videospiel „Silent Hill“

INTERNET SENIOREN Mangelhafte Archivare Windows statt Rheumadecke oluminöse Fachbücher sind auf uf Umwegen sorgt die Gesundheitsreform aus dem Jahre 1996 für die EDV-Fortbil- Veinen gutsortierten Index dringend Adung der Senioren. Nachdem die Übernachtungen in den Kurbädern im Folgejahr angewiesen. In dieser Hinsicht mußten um 26 Prozent zurückgingen, mußten sich die Verkehrsämter neue Strategien einfallen Wissenschaftler des „NEC Research lassen. In Zusammenarbeit mit dem „Institut Arbeit und Technik“ in Gelsenkirchen Institute“ Princeton (US-Staat New bietet der ambulante Essener „Familien- und Krankenpflege e. V.“ in Lage-Hörste im Jersey) den Archivaren des Internet Teutoburger Wald neuerdings Computerurlaub für Senioren an. Zunächst haben sich schlechte Noten erteilen. In einer Studie, 20 „Newbies“ im Alter von 60 bis 79 Jahren für das Pilotprojekt eingeschrieben. Ziele veröffentlicht im Wissenschaftsmagazin der Senior-Surfer: E-Mail-Kontakt mit den Enkeln sowie Gesundheitsinformationen „Nature“, rügten die Forscher jene Pro- übers Internet. „Wir müssen verstärkt mit aufgeschlossenen Senioren rechnen“, sagt gramme, die das Internet nach vorgege- Projektbetreuer Andreas Born, „Rheumadecken ziehen nicht bei allen, und Butterfahr- benen Stichworten durchforsten. Alle ten gibt es ja nicht mehr.“ Der erste Kurs war innerhalb weniger Stunden ausgebucht. diese Suchmaschinen zusammen erfas- sen nur 42 Prozent der derzeit 800 Mil- lionen frei zugänglichen Internet-Seiten. Wer nur ein einzelnes Suchprogramm LEXIKA von Gesprächen seien, heißt es dort, wie „Hotbot“, „Yahoo“ oder „Altavi- 1876 endlich von Erfolg gekrönt gewe- sta“ befragt, erreicht im günstigsten Fall Erfinder sen. Ganz anders liest sich die Passage sogar nur 16 Prozent, im ungünstigsten in der italienischen Ausgabe von Encar- 2,2 Prozent (Euroseek). Darüber hinaus verschwiegen ta: „Die Erfindung geht zurück auf den liefern die Suchprogramme auch nicht Italiener Antonio Meucci, dem 1886 der immer frische Informationen. Mitunter evor Software auf Verdienst der Entdeckung nachträglich kann es Monate dauern, bis neue Web- Bden deutschen vom obersten amerikanischen Gerichts- Seiten in einem Index aufgenommen Markt gelangt, müssen hof zuerkannt wurde.“ Microsofts Kom- werden. Veraltete Verweise führen ihr die Programmierer mentar zur ungleichen Geschichtsausle- deshalb häufig ins Nichts: Jeder siebte zunächst die Feinhei- gung: Sie reflektiere das unterschiedli-

Treffer bei „Lycos“ und jeder zehnte STORICA FOTOTECA ten der deutschen che, manchmal sich widersprechende bei „Northern Light“ ist eine Niete. Meucci Sprache beibringen. Verständnis desselben historischen Er- Den gepflegtesten Datenbestand hält Microsoft aber zeigt eignisses. mit nur 2,2 Prozent veralteten Links darüber hinaus sogar Feingefühl zur Zeit die Suchmaschine „Hotbot“. für nationale Empfindlichkeiten. Ursache für die magere Ausbeute sind In der deutschen und englischen die immensen Kosten der Archivierung. Ausgabe der Computer-Enzyklo- Aber es gibt auch Kriterien für Aktua- pädie „Encarta 99“ gebührt die lität: Kommerzielle Seiten sind besser Ehre der Telefon-Entwicklung indiziert als Forschungs- und Ausbil- noch dem „amerikanischen Erfin- dungsangebote; populäre Web-Seiten der und Taubstummenlehrer“ werden überproportional berücksichtigt, Alexander Graham Bell. Seine und US-amerikanische Angebote Bemühungen um die Übertragung werden intensiver erfaßt als nichtameri- kanische Seiten. Computer-Lexikon „Encarta 99“

152 der spiegel 28/1999 Werbeseite

Werbeseite AMD-Testlabor für Mikrochips*: Die neuen Computerherzen schlagen schneller

COMPUTER Angriff auf das Chip-Imperium Am Stadtrand von Dresden entsteht die modernste Mikroprozessor-Fabrik Europas. Mit Milliardenaufwand will die US-Firma AMD den Wettlauf mit dem Erzrivalen Intel gewinnen. Die Amerikaner profitieren von der guten Ausbildung der ostdeutschen Mikroelektroniker.

ie Dächer sind frisch gedeckt in als die letzte Chance der angeschlagenen pe. Der Mann hat Erfahrung mit ehrgeizi- Wilschdorf. Kein Büschel Gras traut Firma, gegen das allmächtige Chip-Impe- gen Projekten. Für Siemens kämpfte er jah- Dsich auf die Bürgersteige, schicke rium zu bestehen. relang um den Megabit-Speicherchip. „Wir Designerlaternen säumen die Wege. Nach außen geben sich die AMD-Leute sind sehr stolz, daß wir bisher alle Ziele er- Aus der Vogelperspektive scheint es, als gelassen. „Von einem bestimmten Druck reicht haben.“ sei ein Raumkreuzer in den Wiesen neben an spürt man die Druckerhöhung nicht Die Maschinen sind installiert, das rund dem Dorf am Stadtrand von Dresden ge- mehr“, meint Geschäftsführer Hans Dep- 850 Köpfe zählende Stammpersonal ist ein- landet: Die amerikanische Mikroelektro- nikfirma AMD hat hier die „Fab 30“ er- richtet. In regelmäßigen „Townmeetings“ halten AMD-Manager die Bewohner von Wilschdorf auf dem laufenden. „Als wir die erste Versammlung 1996 in der Kirche abgehalten haben, war es dort voller als zu Weihnachten“, erinnert sich Firmenspre- cher Jens Drews. In Wilschdorf entscheidet sich die Zu- kunft der Mikroprozessor-Industrie. AMD ist der letzte ernstzunehmende Rivale, der das Wettrüsten mit dem weltgrößten Pro- zessor-Hersteller Intel durchgehalten hat. Der „Prozessor der 7. Generation“, der in der neuen Fabrik gefertigt werden soll, gilt

* In Singapur; wie alle von AMD produzierten Chips werden dort auch die Athlon-Prozessoren aus Dresden auf ihre Funktionsfähigkeit überprüft. Mikroprozessor-Fabrik von AMD in Dresden, AMD-Reinraum: Vermummte Gestalten bewegen

154 der spiegel 28/1999 Technik Das AMD-Dilemma gestellt. Nun gilt es, den hochkomplizier- eines neuartigen Innenlebens, bestätigen ten Fertigungsprozeß Schritt für Schritt erste Leistungstests, kann der Athlon Intels Der Herausforderer gewinnt an Boden... von Fehlern zu befreien. Die Mannschaft in Flaggschiff „Pentium III“ in den Schatten 80 86,2 der Produktion arbeitet in vier Schichten, stellen. 85,3 82,6 bezeichnet von A bis D. Je zwei wechseln Jeder Prozeßschritt wird penibel über- 79,0 76,1 sich im Rhythmus von zwölfstündiger Tag- wacht. In den Analyselabors stehen Elek- und Nachtarbeit ab. Auf jeweils drei oder tronenmikroskope, die einzelne Silizium- 60 vier Arbeitstage folgen vier oder drei freie atome sichtbar machen können. Immer Marktanteile bei Mikroprozessoren Tage. So gibt es nur einen Personalwechsel wieder schneiden Techniker Proben aus 40 auf Intel-Basis in Prozent pro Tag, der die fein abgestimmten Abläu- Testwafern und begutachten bei 500000- fe ins Stocken bringen könnte. facher Vergrößerung die Schaltungen. Mit Der Weg ins Allerheiligste der Fab 30, kriminalistischer Akribie spüren die Spe- 20 16,1 10,7 12,4 den Reinraum, führt über ein strenges Ri- zialisten zerstörerischen Verunreinigungen 6,7 6,8 tual. In einer aufwendigen Prozedur müs- nach. Ist es ein Staubfussel? Ein mikrosko- sen sich die Chip-Arbeiter bis auf die Un- pischer Schweißpartikel? 0 terwäsche entkleiden und mit weißem Wenn die ersten Athlon-Prozessoren – IV/1997 I/1998 II/98 III/98 IV/98 Overall, Kapuze und Mundschutz verhül- zunächst noch im Stammwerk in Austin, len. Im monotonen Summen und Surren Texas, gefertigt – in den nächsten Monaten ... doch Erfolge bei den Billigrechnern... der Maschinen bewegen sich die ver- auf den Markt kommen, werden diese mummten Gestalten in klösterlich anmu- Computerherzen bereits schneller schla- Marktanteile der Mikroprozessoren Intel tender Konzentration. gen als jene von Intel. Im Laufe des Jahres bei Computern in Jeweils etwa 50 Tage lang wandern die 2000 sollen die Bausteine aus Dresden der Preisklasse AMD 33,0 spiegelnden Siliziumscheiben zwischen dann auf bislang nur in Laborversuchen von unter 1000 Dollar 57,8 den Bearbeitungsstationen hin und her, bis erreichtes Leistungsniveau getrimmt wer- in Prozent, sie mit daumennagelgroßen Schaltkreisen den: Eine Milliarde Schaltvorgänge pro Stand: April 1999 9,2 gefüllt sind. In hermetisch verschlossenen Sekunde (Taktfrequenz: ein Gigahertz) gel- Kassetten gleiten die Chip-Rohlinge,Wafer ten als magische Grenze, die der Athlon- sonstige genannt, über Schienen an der Hallen- Chip als erstes Massenprodukt übersprin- ...bringen keinen Gewinn decke zu den Maschinen. Selbst dem mi- gen soll. nimalen Restschmutz des Reinraums dür- Möglich machen muß das die Crew der Gewinn/Verlust von AMD 271 vor Steuern fen sie nicht ausgesetzt werden: Jedes Abteilung „CMP/Cu“. Hier stehen die 216 in Millionen Dollar Staubkorn würde die Leiterbahnen zer- neuesten Maschinen, einige Spezialanfer- stören, die weniger als zwei Zehntausend- tigungen mit der Seriennummer 1 sind dar- –21 stelmillimeter messen. unter. Kupfer heißt das Zauberwort – aus 0 Stellt man sich einen Wafer auf die diesem Metall bestehen die Leiterbahnen Fläche Berlins vergrößert vor, würden sei- der neuen Prozessorgeneration. Mit einem –69 –104 ne Bahnen die Stadt, so weit das Auge geringeren Widerstand als das bislang 1994 1995 1996 1997 1998 reicht, mit einem Gewirr von einige Zen- übliche Aluminium und anderen günstigen timeter messenden Mustern überziehen. Eigenschaften macht es das Hochge- Auch doppelt behandschuhte Hände dür- schwindigkeitsrennen erst möglich. Weil der italienische Architekt Alfonso fen dem Silizium nicht zu nahe kommen. Ein faustischer Pakt: So vorteilhaft die Mercurio nachträglich Scheiben in die In- Roboterarme hantieren unter den wach- Kupfer-Leiterbahnen sind, so gefährlich ist nenwände der Managerbüros einsetzen samen Augen der Techniker hinter Glas. das Element für andere Fertigungsschritte. ließ, um die zu dunkel geratenen Gänge Noch ist das hier eine Art Fingerübung. Schon winzigste Verunreinigungen mit aufzuhellen, sind die Führungskräfte nun Die Fabrik wird mit der Fertigung des äl- dem Metall würden die darunterliegenden wie im Aquarium hinter Glas bei der Ar- teren AMD-Prozessors „K6“ eingefahren; Transistoren zerstören. Die Kupfer-Crew beit zu besichtigen. Der Umgangston ist doch schon bald sollen die ersten Muster arbeitet daher in eigenen Reinraumberei- amerikanisch. Schlips und Anzug sind des geheimnisumwitterten „Athlon“-Pro- chen, ihre Overalls sind mit roten Signal- ebenso verpönt wie akademische Titel. Die zessors durch die Maschinen gleiten. Dank streifen gekennzeichnet, in anderen Zonen korrekte Anrede ist Vorname und „Sie“, haben sie keinen Zutritt. und kommt das Gespräch auf den Firmen- Anfang nächsten Jahres muß die Fabrik patriarchen Sanders, heißt es, „Jerry hat in Dresden einige hunderttausend Hoch- gesagt …“ leistungs-Chips pro Woche ausstoßen, sonst Sanders, 62, ist eine der schillerndsten verpufft der Angriff auf die Intel-Bastion Figuren der Elektronikbranche. Der stets ohne Wirkung. Denn der Marktführer hat edel gekleidete Mann mit dem sorgfältig schon wieder neue Preissenkungen beim frisierten weißen Haar kultiviert eher den Pentium angekündigt. Habitus eines Filmproduzenten als den ei- Bisher habe die Fabrik alle „Meilenstei- nes Technologiemanagers. Seine Haßliebe ne“ im komplizierten Prozeß erreicht, sa- zum Erzrivalen Intel reicht schon drei Jahr- gen die AMD-Manager, und ihre Zuver- zehnte zurück. „Wir sind der Herausfor- sicht wirkt nicht gespielt. „Unsere Mitar- derer“, verkündet Sanders, „unser Ehrgeiz beiter hier haben im Durchschnitt einen ist grenzenlos“ (siehe Gespräch Seite 156). höheren Ausbildungsstand als in den 1969 begann seine Firma AMD als Her- USA“, berichtet Martin Gillo. Wo in ame- steller von Imitaten von Intel-Bausteinen, rikanischen Fabriken häufig Operateure zunächst Speicherchips, dann Mikropro- auf Hilfsarbeiterniveau antrainierte Hand- zessoren. Auf Druck des PC-Herstellers griffe ausführen, stehen in Fab 30 durchweg IBM, der nicht ausschließlich auf einen Zu- ausgebildete Techniker und Mechatroniker lieferer angewiesen sein wollte, mußte In- sich in klösterlicher Konzentration im Reinraum. tel sogar das Know-how für seine frühen

der spiegel 28/1999 155 Technik

Prozessor-Generationen lizenzieren. Doch die friedliche Koexistenz zerbrach Ende der achtziger Jahre. Intel kündigte die Li- SPIEGEL-GESPRÄCH zenzvereinbarungen, und beide Firmen beharkten sich jahrelang mit verzwickten Gerichtsverfahren. Sanders gelang es trotz- dem, auf dem PC-Markt Fuß zu fassen. Die „Nur Krümel vom preiswerten Eigenentwicklungen von AMD wie der „K6“-Prozessor wurden vor allem bei den Billig-PC unter 1000 Dollar ein Renner. In diesem Marktsegment überflü- Kuchen“ gelte die Firma sogar in kurzer Zeit den Prozessor-Goliath Intel. Jerry Sanders, Chef des Halbleiterproduzenten AMD, Doch der „800-Pfund-Gorilla“ (Sanders über Intel) schlug zurück. Mit eigenen Bil- über seinen Kampf gegen Marktführer Intel und den Frust eines ligprozessoren der „Celeron“-Serie er- Firmenpatriarchen in der Welt des schnellen Internet-Geldes zwang Intel dramatische Preissenkungen. Schon seit drei Jahren schreibt AMD nun rote Zahlen. Wenn es dem Herausforderer nicht gelingt, sich mit dem Spitzenchip Ath- lon aus dem Würgegriff des Billigmarktes zu befreien, ist die Firma am Ende. Ge- lingt das Husarenstück, rückt Sanders er- klärtes Ziel, 30 Prozent des Marktes bis Ende 2001 zu erobern, in greifbare Nähe. Knapp vier Milliarden Mark kostet die modernste Halbleiterfabrik Europas, rund 800 Millionen Mark fließen an direkten Subventionen. Mit einem Geflecht aus Bürgschaften und Krediten gewann Dres- den den Standortwettbewerb gegen Riva- len in Irland oder Singapur. Doch das Geld, betonen AMD-Manager, sei nicht der entscheidende Grund für Dresden gewesen. AMD profitiert vor al- lem vom Angebot an Arbeitskräften. Über 23 000 Bewerbungen gingen bisher ein, 3000 sind noch in Bearbeitung, um bis zum Jahresende noch knapp 200 Stellen zu be- setzen. Etwa drei Viertel der Angestellten kommen aus Sachsen, weitere zwölf Pro- zent aus den anderen neuen Bundeslän- dern. „Wir lieben die Mentalität der Inge- nieure hier“, schwärmt AMD-Statthalter Jack Saltich. „In den USA gibt es dauernd Meetings. Hier fragen die ‚Wo ist das Pro- blem?‘ und kommen eine Woche später mit der Lösung zurück.“ Viele Prozessorbauer haben schon zu DDR-Zeiten bei Firmen wie ZMD (Zen-

trum Mikroelektronik Dresden) oder an A. FREEBERG den traditionellen High-Tech-Standorten AMD-Chef Sanders: „Profit ist ein gutes Deodorant“ Erfurt und Frankfurt (Oder) gearbeitet. „Zu Anfang hatten wir Bedenken, ob de- SPIEGEL: Ihre Firma ist der letzte ernst- dauer von nur fünf Jahren. Vom neuen ren Know-how auf der Höhe der Zeit ist“, hafte Konkurrent von Intel. Wie wollen „Athlon“-Prozessor und der Fabrik in gibt David Greenlaw, Leiter der Prozeßin- Sie das technologische Wettrüsten durch- Dresden hängt unsere Zukunft ab. tegration, zu. Doch die Sorge der Ameri- halten? SPIEGEL: Warum haben Sie sich für Dresden kaner war unbegründet.Wie sie überrascht Sanders: Wir müssen effizienter sein. Wir als Standort entschieden? feststellten, arbeiteten viele DDR-Betriebe haben die weltbesten Chip-Designer. Un- Sanders: Deutschland ist der größte Markt schon früher mit modernsten Anlagen. Die sere Teams sind 80 bis 120 Leute groß. In- in Europa. Insbesondere in Sachsen finden Geräte waren auf dunklen Kanälen in die tel hat 600-Mann-Teams. Intel hat jede wir gut ausgebildete, ehrgeizige Mitarbei- Exportverbotszone gelangt – allerdings Menge Teams, wir haben drei. Die Ent- ter. Drittens, das will ich ganz ehrlich sa- ohne Wartungsvertrag und manchmal so- wicklung jeder Prozessorgeneration kostet gen, haben wir dort Geld bekommen. gar ohne Bedienungsanleitung. über 300 Millionen Dollar. Dazu kommt Ich habe Herrn Biedenkopf gesagt, wir Die erfahrenen Improvisateure in Ost- die Fertigungstechnologie. Jede dieser können Sachsen zum Mikroprozessor-Zen- deutschland hatten sich daraufhin soweit in Technologiegenerationen hat eine Lebens- trum Europas machen, aber das erfordert das Gerät vertiefen müssen, daß sie dessen eine Investition von mehreren Milliarden Innereien oft besser kannten als die ver- Das Gespräch führten Rafaela von Bredow und Jürgen Dollar, und ich habe nur 200 Millionen. wöhnten US-Techniker. Jürgen Scriba Scriba. Nach einigen Diskussionen fanden wir

156 der spiegel 28/1999 schließlich eine Lösung. Wir bringen etwa ist es uns gelungen, solche Prozessoren zu x86-Prozessor ein Standard wird. Wir ha- 400 Millionen Dollar mit, Bund und Land entwickeln. ben als einzige überlebt. geben Bürgschaften, und nun entsteht in SPIEGEL: Aber genau darin liegt Ihr Pro- SPIEGEL: Trotzdem führen Sie ein Schat- Sachsen eine Anlage, die technologisch blem: Für den Windows-Benutzer spielt es tendasein: AMD-Prozessoren gelten als Weltspitze ist. keine Rolle, ob ein Intel- oder ein AMD- Billigprodukt. „Intel inside“ hingegen SPIEGEL: Hatten Sie keine Angst vor den Prozessor im PC steckt. Warum sollte er kennt jeder, das gilt gemeinhin als Qua- vielzitierten deutschen Standortnachtei- Ihren kaufen? litätsbegriff. len, etwa den hohen Löhnen? Sanders: Wir können den Kunden nur ein Sanders: „Intel inside“ ist bullshit – über- Sanders: Löhne sind nicht wichtig, wenn Angebot machen: Bei uns bekommen Sie setzen Sie das, wie Sie wollen. Nichts wei- die Produktivität stimmt. Jeder kann heu- vergleichbare Leistung billiger. ter als ein ausgeklügelter Rabatt. Ein Bei- te die Maschinen kaufen, aber was zählt SPIEGEL: Und nun sind Sie in einen Preis- spiel: Zu Intels größten Kunden gehören sind Köpfe. Als 1996 die Entscheidung für krieg mit Intel verwickelt. Compaq und Dell, die für etwa 2,5 Mil- das Projekt fiel, ging es um eine Technolo- Sanders: Wir können nicht erwarten, daß liarden Dollar im Jahr Prozessoren kau- gie, die noch gar nicht existierte, und ein PC-Hersteller uns aus Mildtätigkeit mehr fen. Über „Intel inside“ bekommen die Produkt, das noch gar nicht entwickelt war. Geld bezahlen als Intel, also müssen wir rund 200 Millionen für Werbung mit dem Nur weil wir beweisen konnten, daß wir ei- unsere Preise auf Celeron-Niveau anpas- „Intel inside“-Logo zurück – 200 Millio- nen klaren Plan haben und die Leute, um sen. Intel hingegen kann mit Wucherprei- nen Dollar! Ich habe nur einen Kunden, ihn umzusetzen, konnten wir das Projekt sen im Marktsegment der Geschäftskun- mit dem ich überhaupt soviel Umsatz ma- verwirklichen. den, wo sie bislang keine Konkurrenz ha- che.Wer „Intel inside“-Logos auf seine An- SPIEGEL: Wie wollen Sie das Vertrauen der ben, soviel Geld verdienen, daß sie es sich zeige klebt, bekommt Geld von Intel – PC-Hersteller gewinnen, den neuen Bau- leisten können, uns im Consumer-Bereich wenn eine einzige Maschine mit AMD-Pro- stein auch in ihre Computer einzubauen? die Luft abzudrücken. zessor in der Werbung auftaucht, gibt es Sanders: Auch Intels lange angekündigter SPIEGEL: Sie sind nicht nur beim Preis un- keinen Cent. Ich habe IBM vor einigen Jah- „Merced“-Prozessor hat schon ein Jahr ter Druck geraten. Sie konnten nicht genü- ren Hunderttausende von Prozessoren um- Verspätung. Wie kann das sein? Ist Intel gend schnelle Chips liefern. sonst angeboten, damit sie die mal aus- nicht Gott? Ist Intels Firmensitz Santa Cla- Sanders: Ja, aber die Technologie ist nun probieren können. Sie haben sie nicht ra nicht Walhalla? Die können ihre Zeit- mal extrem kompliziert. Wenn Sie mit genommen, weil es ihr „Intel inside“-Pro- pläne nicht einhalten, aber sie verdienen einem Rennwagen Rekordgeschwindig- gramm gefährdet hätte. Geld, und Profit ist ein gutes Deodorant. keiten fahren, platzt auch mal ein Reifen. SPIEGEL: Warum legen Sie keine vergleich- Als wir im dritten Quartal letztes Jahr Pro- Zudem hat es das hervorragende Intel- bare Marketing-Kampagne auf? fit gemacht haben, waren wir Helden. Als Marketing geschafft, dem Käufer weiszu- Sanders: Wir werden uns an die Intelligenz wir im vierten Quartal nicht soviel Geld machen, daß ein Prozessor um so besser der Käufer wenden. Wir werden mit Lei- verdient haben, waren wir Penner. Als wir ist, je höher die angegebene Megahertz- stungstests demonstrieren, daß der Athlon- dann Verluste machten, waren wir Ab- Zahl der Taktrate ist. Das stimmt nicht, ge- Prozessor mehr fürs Geld bietet. Bei den schaum. Aber das ist Wallstreet-Gerede. nausowenig wie die Drehzahl ein Maß für Firmenkunden sind die Verhältnisse im So funktioniert diese Industrie nicht. SPIEGEL: Der Athlon-Prozessor gilt als Ihre letzte Chance auf dem Markt. Sanders: Es ist nicht unsere letzte Chance zu überleben; aber es ist unsere letzte Chan- ce, zu den Top ten der Branche zu gehören.Wenn uns der Mo- nopolist aus dem Markt drängt, leiden am Ende nur die Konsu- menten. Wenn es AMD nicht gäbe, wären PC nie so billig ge- worden, wie sie es heute sind.

SPIEGEL: Eine Zeitlang waren FRISCHMUTH / ARGUS P. Sie bei Billig-PC sehr erfolg- Intel-Anzeige, Verkauf von Billig-PC: „Intel drückt uns die Luft ab“ reich. Aber Intel hat mit sei- nen billigen „Celeron“-Prozessoren Ihren die Leistung eines Automotors ist. Unser übrigen ganz anders. Die interessieren sich Preisvorsprung rasch zunichte gemacht. K6-2-Prozessor mit 300 Megahertz leistet nicht für Intels tanzende Reinraum-Affen. Sanders: Intel verlangt Wucherpreise. Dar- bei bestimmten Testprogrammen soviel SPIEGEL: Die Aktionäre von AMD haben an gibt es nichts zu deuteln. Keine andere wie ein Pentium II mit 400 Megahertz. möglicherweise nicht solange Geduld. Auf Firma erzielt in der Halbleiterfabrikation SPIEGEL: Braucht Intel nicht AMD, um zu der letzten Hauptversammlung wurde die so hohe Gewinne. Das geht nur, weil sie beweisen, daß sie kein Monopol haben? Forderung nach Ihrem Rücktritt laut. ein Monopol bei Windows-PC haben. Sanders: Totalitäre Staaten setzen ja auch Sanders: Ach was, keine Rede davon! Die Solange wir nur Kopien von Intel-Pro- Marionetten-Regierungen ein. Aber wir Hauptversammlung war praktisch ein zessoren fertigen konnten, blieben für sind keine Marionetten, wir sind die Her- Love-in. Ehrlich. Die Aktionäre waren sehr uns nur Krümel vom Kuchen. Wir mußten ausforderer, und unser Ehrgeiz ist gren- freundlich. Ich habe ihnen erklärt, warum eine echte Alternative entwickeln. Gleich- zenlos. Wir wollen nicht in einer Markt- wir Geld verloren haben. Ich war selbst zeitig durften unsere Prozessoren aber nische für Billigprodukte leben.Wir kämp- verblüfft: Unsere Aktie ist von 33 Dollar auch nicht zu verschieden sein, denn dann fen seit 24 Jahren auf dem Prozessormarkt, auf 14 gefallen, und wir hatten praktisch wären sie inkompatibel zu Windows, das und es gibt uns immer noch. Als wir an- keine Gegenstimmen gegen unseren Vor- untrennbar mit der Intel-Architektur ver- fingen, hat Intel Technologie an 15 ver- stand. Ein einziger Investor hat sich aufge- bunden ist. Obwohl alles dagegen sprach, schiedene Hersteller lizenziert, damit der regt, weil er keine Dividende bekommen

der spiegel 28/1999 157 Technik hat. Reuters hat dann daraus eine Ge- schichte gemacht, die wirklich nichts mit dieser Veranstaltung zu tun hatte. SPIEGEL: Es gibt auch Vorwürfe gegen Sie persönlich. Manche stoßen sich an Ihrem luxuriösen Lebenswandel, den Designer- Anzügen und der Limousine mit Chauf- feur, Ihrem Gehalt. Sanders: Designer-Anzüge? Es sind Maßan- züge, und es ist mein Geld, was soll’s? War- um soll ich nicht in einer Limousine fah- ren? So kann ich zwei Stunden täglich län- ger arbeiten, auf dem Weg in die Firma und zurück nach Hause. Ich verstehe das nicht. Ich bin der am schlechtesten be- zahlte Mensch in der Halbleiterindustrie! Ich habe seit drei Jahren keinen Bonus be- kommen. Ich bekomme seit fünf Jahren ein Jahresgehalt von einer Million Dollar. Von 1993 bis 1995 haben wir soviel Geld verdient, daß ich den Maximalbonus von zwei Millionen dazubekam. Kein einziger Aktionär hat sich darüber beschwert. Das muß man den Medien mal klarmachen. SPIEGEL: Warum hacken die dann so gern auf Ihnen herum? Sanders: Weil ich in einem Haus für meh- rere Millionen Dollar in Bel Air lebe, weil ich ein luxuriöses Strandhaus besitze, weil ich so bin wie ich bin. Ich bin stolz darauf, was ich bin und was ich geschaffen habe. Aber es ist natürlich einfacher, auf mir her- umzuhacken als auf Leuten, die ihr Gepäck selber zum Flugzeug schleppen. SPIEGEL: Haben Sie nie überlegt, in dieser kritischen Situation das Feld zu räumen? Sanders: AMD ist ein Team.Wir haben eine Firma aufgebaut, die Nummer zwei bei den Mikroprozessoren ist.Weltweit. Der einzi- ge Wettbewerber, mit dem wir verglichen werden, ist Intel, deren Umsatz größer ist als der Halbleiterumsatz von IBM, Mo- torola, Lucent, Texas Instruments und AMD zusammen. Immer heißt es „Intel tut dies, was tut ihr?“ Es sollte heißen: „Mein Gott, es ist unglaublich, was ihr ge- schafft habt.“ SPIEGEL: Warum können Sie das so schwer als Erfolgsstory verkaufen? Sanders: Der Markt denkt immer nur in Sprint-Kategorien. Wir laufen Marathon. Wir haben unsere eigene Technologie ent- wickelt, wir haben unsere eigene Fabrik. Wir sind eine echte Firma und nicht so eine Internet-Bude. SPIEGEL: Frustriert Sie der Erfolg solcher In- ternet-Firmen? Sanders: Der Frust ist unendlich, das tut richtig weh. Da gibt es Firmen, die kein Geld verdienen und zehn Milliarden Dollar an der Börse wert sind. Das ist ziemlich fies. Ich habe 30 Jahre meines Lebens da- mit verbracht, eine hervorragende Firma aufzubauen.Was glauben Sie, wie ich mich fühle, wenn ich Leute sehe, deren Laden nach einem Jahr genausoviel wert ist? Aber das stellt mein Wertesystem nicht in Frage. SPIEGEL: Herr Sanders, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

der spiegel 28/1999 Wissenschaft

TIERE Walnuß voller Wohlgeruch Den Moschustieren Sibiriens droht die Ausrottung durch Wilde- rer. Für Parfumhersteller und die chinesische Medizin ist der Duftstoff kostbarer als Gold.

a spotten Europäer über chinesi- sche Männer, die ihrer Potenz mit Dzermahlenen Robbenpenissen und Seepferdchen nachhelfen – und was tun sie selbst? Sie erotisieren sich ebenfalls mit den Überresten bedrohter Tiere. Nur Parfums der obersten Preisklasse enthalten die Krone aller Düfte, ein Se- kret aus dem Hinterleib eines asiatischen Huftiers, das einen schweren, süßlichen Geruch verströmt: Moschus. So begehrt ist die im Naturzustand cremige, rot- A. CAMPIGLIO / MONDADORI PRESS PICTURE A. CAMPIGLIO bräunliche Masse, daß sie sechsmal so C. DANI / I. JESKE SILVESTRIS teuer gehandelt wird wie Gold. Für ein Moschustier, Parfumkonsumentin: Für ein Kilogramm Duftstoff sterben 160 Tiere Gramm zahlen Parfumfabrikanten rund hundert Mark. und tun vermutlich auch ihren Status kund. Etwa zehn Prozent des Moschus auf dem Kein Wunder, daß Wilderer das Mo- Nur Männchen besitzen die walnußgroße Weltmarkt fließt in Parfumflakons. Allein schustier zu ihrer Lieblingsbeute erkoren Moschusdrüse, die im Laufe eines Jahres für die exquisiten Wohlgerüche Frankreichs haben. Einer letzte Woche vorgestellten etwa 25 Gramm des Duftgemischs ab- lassen pro Jahr 1600 Moschustiere ihr Studie des World Wide Fund for Nature sondert. Leben. Derzeit erwägt die Europäische (WWF) zufolge dezimierten sie die Be- Da Wilderer aus Versehen oft auch Weib- Union, Importe aus Rußland auszusetzen. stände in der ehemaligen Sowjetunion um chen und Jungtiere erwischen, töten sie Deutsche Hersteller begnügen sich fast zwei Drittel – lebten 1988 noch 170000 im Schnitt vier Exemplare, um ein Männ- längst mit synthetischen Ersatzaromen, da Tiere, so schätzten Experten die Population chen mit einem prallgefüllten Moschus- ihnen der Naturstoff zu teuer geworden acht Jahre später auf nur noch 60000 Ex- beutel zu erbeuten. Für ein Kilogramm ist. Zwar geht der Moschusverbrauch auch emplare. „Das Moschustier ist das gegen- Ausbeute müssen somit 160 Tiere sterben französischer Duftmischer allmählich wärtig am stärksten gefährdete Säugetier – nur des Duftes wegen. Ihr Fleisch zurück, doch wollen manche Traditionsfir- Rußlands“, mahnt Alexej Waisman vom schmeckt nicht und wird allenfalls an Hun- men nicht an der Rezeptur ihrer Klassiker WWF in Moskau. de verfüttert, und auch ihr Fell taugt nichts. rütteln. Nach Angaben des WWF verwen- Wenig weiß die Wissenschaft über den In vielen Ländern ihres Verbreitungs- den unter anderen die Firmen Guerlain, Lieferanten des legendären Duftstoffs.We- gebiets stehen Moschustiere unter Schutz, Chanel und Rochas Naturmoschus. der sind sich die Systematiker einig, ob sie so in Indien, Nepal, Vietnam und sogar in Bei weitem die wichtigsten Abnehmer ihn den Hirschen oder einer eigenen Fa- Nordkorea, wo die Huftiere als „Natur- des Duftstoffs sind jedoch die Fabrikanten milie zuordnen sollen, noch ist klar, ob der denkmal Nr. 216“ klassifiziert sind.Auch in traditioneller asiatischer Arzneimittel. Al- Gattung Moschus vier, sechs oder mehr der Sowjetunion war die Moschusgewin- lein China soll jährlich 500 bis 1000 Kilo- Arten angehören. nung streng reglementiert; so konnten sich gramm verarbeiten. Von der Größe und Statur eines jungen die Bestände erholen, nachdem sie um die Die duftenden Huftiere teilen damit das Rehs, erinnert das Moschustier mit seinen Jahrhundertwende schon einmal nahezu Schicksal zahlloser seltener Arten, die ihr bis zu zehn Zentimeter langen Hauern ein ausgerottet waren. Dasein pulverisiert in chinesischen Apo- wenig an das mythische Mischwesen Wol- Bald könnte es wieder soweit sein. theken beschließen. Um der Gesundheit pertinger. Mit Sätzen, die eines Känguruhs „Durch den ökonomischen Kollaps hat die ihrer ostasiatischen Nachbarn willen plün- würdig wären, hüpft es durch die Berg- Wilderei in Rußland stark zugenommen“, dern die Russen derzeit auch ihre Gin- wälder Asiens, tummelt sich in Bam- klagt Naturschützer Waisman. Im Fernen sengvorkommen, an den Küsten sammeln bus- und Rhododendron-Dickichten und Osten Sibiriens und in der Altai-Region sie die letzten Seegurken ein. „Dieser klettert mitunter auf Bäume, wo es an Blät- sind ganze Dörfer ohne Arbeit. Zudem ha- Markt ist ein Faß ohne Boden“, stöhnt tern und Flechten knabbert. Sein Verbrei- ben sich Jäger, die traditionell Pelztieren Waisman. tungsgebiet reicht vom Polarkreis bis nachstellten, nach dem Zusammenbruch Zwar nutzt die chinesische Heilkun- zum südlichen Himalaja, von Afghanistan des Pelzmarkts auf Moschustiere einge- de fast alles, was kreucht, fleucht und bis Korea. schossen. Theoretisch dürfen sie nur eine grünt, doch zählt Moschus zu ihren be- Die einzelgängerischen Paarhufer ver- begrenzte Zahl der Tiere erlegen, doch nie- vorzugten Ingredienzen. Verarbeitet zu ständigen sich in einer Sprache der mand kontrolliert die Quoten. „Jagd- Pillen und Pflastern, soll er allerlei Be- Gerüche. Mit Kothäufchen, Urinspritzern aufseher werden miserabel bezahlt“, sagt schwerden von Herz, Nerven und Atem- und verschiedenen Sekreten, darunter der Waisman, „für das bißchen Geld will nie- wegen kurieren – und, natürlich, die Li- Moschus, markieren sie ihre Territorien mand sein Leben aufs Spiel setzen.“ bido stärken. Alexandra Rigos

der spiegel 28/1999 159 Werbeseite

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Prominente Alzheimer-Patienten A. HARDER SIPA PRESS SIPA AP Fußballtrainer Schön (1990) Schauspielerin Hayworth (1941) US-Präsident Reagan (1988)

MEDIZIN Lange Reise in die Nacht Die „Alzheimer-Krankheit“, eine mysteriöse Rückbildung des Gehirns, fordert immer mehr Opfer. Ein neues Buch schildert das Leiden in allen seinen Aspekten und erweist seinem Entdecker Alois Alzheimer die Ehre.

ie Erinnerung“, so tröstete sich der die Krankheit das Gehirn, „macht aus dem auch in China und Japan, immer mehr Dichter Jean Paul, sei das „einzige Hirn einen Friedhof“. Der Sachbuchautor, Menschen immer älter werden, steigt die DParadies, woraus wir nicht vertrie- früher Chefredakteur des „Stern“: „Alz- Zahl der Alzheimer-Patienten weltweit an. ben werden können“. Da irrte sich der Ro- heimer-Patienten werden im letzten Stadi- Die Krankheit trifft vor allem Menschen mantiker, denn das Gedächtnis wird von um ihrer Krankheit zu lebenden Leichen.“ über 65. Bis heute vermag niemand ver- Nervenzellen hervorgebracht. Die sind In dieser Woche erscheint Jürgs’ um- läßlich zu sagen, was die Ursache des sterblich, schon zu Lebzeiten. fangreicher Bericht über seine „Spurensu- Leidens ist und wie man es erfolgreich Wer an der „Alzheimer-Krankheit“ lei- che im Niemandsland“*. Der Autor schil- behandeln kann. Zwar sorgte in der ver- det, in Deutschland etwa eine Million Men- dert die vielfältigen Aspekte des Leidens gangenen Woche die irische Pharmafirma schen, der büßt jeden Tag viele Millionen (siehe Auszüge Seite 164) und verknüpft Elan für Aufsehen: Sie will erstmals einen Nervenzellen ein. Das Leiden ist eine diese mit Leben und Werk des bayerischen Impfstoff gegen die Alzheimer-Krankheit schwere, ständig fortschreitende, unheil- Arztes Alois Alzheimer (1864 bis 1915). an Menschen testen. Doch daß sich das bare Hirnleistungsschwäche. Am Ende hat Dieser Psychiatrie-Professor war jahr- Nervensterben im Hirn auf diese Weise das Gehirn, eine Ansammlung von rund zehntelang nur wenigen Insidern ein Be- wirklich verhindern läßt, halten die mei- 100 Milliarden Nervenzellen, oft nur noch griff. Seit Anfang der achtzi- sten Experten für unwahr- ein Drittel seines ursprünglichen Volumens. ger Jahre, als sich in den scheinlich. Die mysteriöse Degeneration bewirkt USA die Alzheimer-Fälle Bisher kann nicht einmal eine Krankheit des Vergessens, eine lange häuften, geht sein Name um die Diagnose zu Lebzeiten Reise in die Nacht. Erst schwindet das Ge- die Welt. Er ist heute so be- des Patienten mit Sicherheit dächtnis für neue Erlebnisse, bald auch die kannt wie Diesel, Röntgen gestellt werden; erst die Sek- Erinnerung an alte Zeiten. Aufmerksamkeit oder Beckenbauer, die ande- tion des erkrankten Gehirns und Interesse lassen nach. Wer ein Hobby ren berühmten Deutschen. nach dem Tod des Patienten hat, der läßt es friedlich einschlafen. An- Auch die nach Alzheimer, bringt Gewißheit. fangs leiden nur die etwas komplizierteren dem trinkfesten Bayern, be- Bisher müssen sich die Leistungen – lesen, schreiben, Geld zählen nannte Krankheit hat Kon- Mediziner darauf beschrän- –, nach einigen Jahren jedoch ist der Alz- junktur.Weil in den Ländern ken, durch den Ausschluß al- heimer-Patient unfähig, einen Hosenknopf der westlichen Welt, aber ler anderen Krankheiten, die zu schließen, den Löffel zum Mund zu gleichartige Symptome her- führen oder seinen Namen zu nennen. vorrufen, das 1906 erstmals * Michael Jürgs: „Alzheimer – Spu- Wie ein „Kabelbrand“, so beschreibt rensuche im Niemandsland“. List Ver- beschriebene Krankheitsbild Michael Jürgs, 54, die Situation, zerstört lag, München; 352 Seiten; 39,80 Mark. Nervenarzt Alzheimer der „eigenartigen Erkran-

162 der spiegel 28/1999 Werbeseite

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Gewöhnlich landen Alzheimer- Patienten am Ende ihres Lebens in Zerstörte Innenwelt der „Verwahr-Psychiatrie“. Doch es gibt Ausnahmen: In seinem Buch berichtet Michael Jürgs von seinen n einem regnerischen Tag be- Begegnungen mit Ärzten und Alzheimer-Kranken. Auszüge: Atrete ich das Pflegeheim „De Bleerinck“ im holländischen Em- men und stehe statt in der Ein- Unrast ist charakteristisch für Alz- Ruhigstellen durch Psychopharma- gangshalle auf einem Dorfplatz. Es heimer-Kranke. Ein neuartiges Pfle- ka, die vorübergehend Erleichterung riecht nach Leben und nicht nach geheim kommt dem Bewegungs- schaffen, aber auf Dauer nur dem Vergänglichkeit, nach Kakao, nach drang der Patienten entgegen: meist überforderten Personal helfen, Haarspray und nach feuchter Erde. nicht den Patienten. Rechts von mir die Auslage ei- ie krankheitstypische Ruhelo- Hoglund plante von Anfang an nes Friseursalons, daneben ein Re- Dsigkeit der Alzheimer-Patienten große freie Flächen auf dem Gelän- staurant. Auf der kleinen Terrasse hat vor ein paar Jahren den ameri- de von Woodside Place, auf dem sich eines Cafés schlürfen Gäste aus kanischen Architekten David Hog- Patienten bewegen konnten, ohne großen Tassen. Ein paar Meter hin- lund auf eine naheliegende Idee ge- von Türen, Treppen, Wegkreuzun- ter mir ein Supermarkt, Magazine bracht, als er den Auftrag zum Bau gen,Wänden aufgehalten zu werden. und Tageszeitungen in einem Stän- eines Pflegeheims speziell für Alz- „The Wandering Problem“, wie der an der Tür, vor mir eine Park- heimer-Patienten bekam. In einem Psychiater es nennen, definiert die bank, ein Baum und ein Blumen- kurzen Satz: Wenn die unbedingt merkwürdige Tatsache, daß Alzhei- geschäft, links eine Fußgängerzone laufen wollen, muß man ihnen Platz mer-Kranke unentwegt ihrer zer- mit Passanten. Verwirrend. Ich bin zum Laufen geben. Logisch. störten Innenwelt entfliehen wol- soeben durch das gläserne Portal Das Ergebnis seiner Überlegun- len, in der die Bedeutung von Wör- von draußen gekommen und bin gen, ein großzügig und weitflächig tern und Bildern abgestorben ist. schon wieder draußen. angelegter Gartenpfad, ist Teil der Umschreibt Fluchtversuche aus dem „Wir spielen hier täglich ein Therapie geworden, wird inzwischen Gefängnis, in dem sie sich einge- Stück“, bestätigt Piet Schievink, als beispielhaft gepriesen und, wo schlossen fühlen. Sie versuchen of- „wie im Theater. Dies alles gehört immer es geht, nachgebaut. fensichtlich laufend, etwas Unaus- dazu“, und er bezieht mich in sei- So entfällt das nicht nur bei Alz- sprechliches zu finden, aber was das ne weit ausholende Handbewegung heimer-Kranken übliche Festbinden sein könnte, scheint ihnen entfallen ein. De Bleerinck ist zwar ein Dorf, in Betten und Rollstühlen oder das zu sein. aber keines, das unter freiem Him- mel liegt. Ein Dorf unter einem ein- zigen großen Dach, ein Dorf mit festen Außenwänden und Fenstern. Der deutsche Klinikalltag für Alz- de Sätze wie: Erinnern Sie sich denn Die ganze Welt ist eine Bühne, heimer-Kranke sieht trostlos aus. nicht? sind deshalb blödsinnig. steigt aus der Tiefe meines Hippo- Jürgs fordert Reformen: Regisseure in solchen Verwahran- kampus ein Gedanke auf, der bei stalten tragen weiße Kittel und ihre allen Lebenslügen gut ist für eine n den normalen Endlagern sitzen, Autorität wie eine Monstranz vor passende Bemerkung. Igegebenenfalls festgezurrt in Roll- sich her. Kritik an ihren Auftritten ist Piet Schievink, Lockenkopf und stühlen, Demenzkranke wie auf einer nicht erwünscht. Was soll gesunder randlose Brille über müden Augen, Schnur aufgereiht und warten. Wor- Menschenverstand bei geistig Kran- ist in der Leitung des Heims für die auf sie warten, wissen sie selbst ken noch bewirken? Abteilung Pflege verantwortlich. Er nicht.Vielleicht hoffen sie auf Besuch, Der Deutsche an sich überläßt wundert sich überhaupt nicht, daß aber ihnen zu erklären, daß keiner außer Steuern gern alles dem Staat. ich verwirrt bin. Das geht allen Be- mehr kommen wird, Mein Vorschlag, daß jene, suchern so, die zum erstenmal De ist sinnlos. Das kön- die mehr als alles ha- Bleerinck betreten, sagt er, alle nen sie nicht mehr ben, zum Beispiel für ein, überfällt dieses merkwürdige Ge- begreifen. zwei, drei Jahre die Fi- fühl, daß Drinnen wie Draußen und Neunzigjährige nanzierung einer Pflege- Draußen wie Drinnen ist. freuen sich kindisch station oder das Jahres- Für Momente sind dann die von auf ihre Eltern, und es gehalt einer Kranken- draußen so verwirrt wie die drin- ist nicht hilfreich, ih- schwester übernehmen nen. Allerdings nur für Momente. nen mit der normati- könnten, mag irre sein. Die anderen für immer. Wie es de- ven Kraft des Fakti- Aber es geht um Irre. nen in ihrem Inneren ergeht, weiß schen zu widerspre- Ist nicht die Vorstellung, keiner. Noch nie ist ein Patient aus chen. Vernünftige Ar- sie bis zum späten Tod dem Zwischenreich der verlosche- gumentation verwirrt einfach vor sich hin nen Erinnerungen wieder entlassen sie und macht sie ag- dämmern zu lassen, viel worden und hat von den Stationen gressiv. Herablassen- irrer? seiner Reise erzählen können.

164 der spiegel 28/1999 nisvolle war, wohin die Reise ging und wie sie endete, konnte auch Rechercheur Jürgs 110 Jahre später nicht mehr herausfinden. Ob sich hinter der Patientin, wie manche Alzheimer-Kenner vermuten, die spätere Ehefrau Cecilie verbarg? Michael Jürgs, der bereits auflagenstarke Sachbücher über Romy Schneider und Axel Springer verfaßt hat, ist es gelungen, die Herkunft von Cecilie bis nach Amerika zu verfolgen. Dort war sie mit einem reichen jüdischen Kaufmann verheiratet. Der starb, nach Deutschland zurückgekehrt, an „De- menz“, heute „Hirnleistungsschwäche“ ge- nannt – zu Alzheimers Zeiten schlicht „Ver- blödung“.Alzheimer selbst nannte sich sein Leben lang „Irrenarzt“. Das war in der Kai-

GAMMA / STUDIO X serzeit ein akademischer Titel. Alzheimer-Diagnose mit Tomograph*: „Ein Kabelbrand macht das Hirn zum Friedhof“ Der brave Katholik Alzheimer heiratete die jüdische Witwe und führte mit ihr eine kung der Hirnrinde“ (Alzheimer) zu dia- schaftliche Alzheimer-Gesellschaft, diverse glückliche Ehe. Sie brachte ein Vermögen gnostizieren. Sehr gute Nervenkliniken er- von Ärzten begleitete Selbsthilfegruppen von rund 2,4 Millionen Goldmark in den reichen dabei eine Verläßlichkeit von rund und sogar ein Alzheimer-Museum samt Ta- Lebensbund ein, nach heutiger Kaufkraft 90 Prozent. gungsstätte im fränkischen Marktbreit. In gut 40 Millionen Mark. Die Mitgift erlaubte Im alltäglichen Sprachgebrauch ist der dem kleinen Ort nahe Würzburg ist Aloy- dem Irrenarzt ein sorgenfreies Forscherle- Begriff „Alzheimer“ mittlerweile infla- sius (so heißt er noch im Taufregister) Alz- ben, erst als Assistenzarzt in Frankfurt, dann tionär; er steht für Vergeßlichkeit, an der heimer als zweiter Sohn eines königlich- als unbezahlter Privatdozent, später als Pro- man schuldlos ist. Patienten, deren Hirn- bayerischen Notars geboren worden. fessor in München. Seine Enkel, von Jürgs leistung von Natur aus oder durch ein Dut- Der Frankfurter Psychiater Konrad Mau- befragt, wohnen noch immer in Alzheimers zend unterschiedlicher Krankheiten (dar- rer und seine Ehefrau Ulrike haben Alz- Villa an einem oberbayerischen See. unter Durchblutungsstörungen, chronische heimers Geburtshaus mit Beistand der Alzheimers sorgsame, stets an den Vergiftungen und Diabetes) eingeschränkt Pharmafirma Lilly (die an Psychopharma- naturwissenschaftlichen Gegebenheiten ist, wünschen sich als Diagnose lieber einen ka, darunter der Glücklichmacher „Fluc- orientierte Forschung trug bald Früchte. „Morbus Alzheimer“ als die ge- Aus den Tiefen des Frankfurter wöhnliche „Verkalkung“. Alz- Klinikordners hat der Psychia- heimer ist kein Tabu, im Ge- ter Maurer vor drei Jahren die genteil. Krankenakte der Auguste D. Daß Berühmtheiten wie der ans Licht geholt und in seinem amerikanische Ex-Präsident eigenen Alzheimer-Buch doku- Ronald Reagan, der ehemalige mentiert**. Fußball-Nationaltrainer Hel- Auguste D. ist die erste Pa- mut Schön oder die US-Schau- tientin, an der Alzheimer die spielerin Rita Hayworth von neue Form der Demenz dia- der Alzheimer-Krankheit heim- gnostizierte. gesucht wurden, führt dazu, Die Patientin, über Ort, Zeit den „unaufhaltsamen Hirn- und Situation nicht orientiert, schwund“ (Jürgs) auch Verstor- bot ein Bild des Elends. Sie benen zuzuschreiben, die an verbrachte fünf Jahre in der anderen Krankheiten litten. Frankfurter „Anstalt für Irre Der SPD-Zuchtmeister Her- und Epileptische“. Als sie 1906 bert Wehner, 1990 im Alter von starb, „allgemein verblödet“

83 Jahren völlig verwirrt ge- WEBER W. und „völlig stumpf“, zeigte das storben, war jahrelang schon Alzheimer-Patienten in Pflegestation: „Krankheit des Jahrhunderts“ von Alzheimer sezierte Gehirn zuckerkrank, ein Leiden, das die einen „eigenartigen Krankheits- kleinen Blutgefäße des Gehirns ruiniert tin“ alias „Prozac“, gut verdient) gerettet prozeß“: Die Hirnrinde war weitgehend („Mikroangiopathie“). Er wird, ebenso wie und renoviert. Konrad Maurer, der sich der verschwunden, in den übriggebliebenen mancher Boxer, zu Unrecht den Alzheimer- Alzheimer-Krankheit auch wissenschaft- Nervenzellen hatte sich ein „pathologisches Kranken zugerechnet. lich widmet, gilt als bester Kenner der Vita Stoffwechselprodukt“ eingelagert. Alzhei- Für das Hirnleiden bringen auch die Me- des großen Kollegen Alzheimer. mer damals: Nur die Fortsätze der Ner- diziner seit rund einem Jahrzehnt lebhaf- Der Mann wird von allen Zeitzeugen als venzellen „überdauern den Untergang“. tes Interesse auf. Es gibt eine wissen- integer und besonnen, frei von Eitelkeit Als Alois Alzheimer seinen Befund bei und Gschaftlhuberei, geschildert. Von Ju- der 37.Versammlung Südwestdeutscher Ir- gend an galt seine Leidenschaft den Na- renärzte am 3. November 1906 in Tübingen * Positronenemissionstomogramm zweier Patienten mit verminderter (links) und normaler (rechts) Hirndurch- turwissenschaften. Er botanisierte, färbte vorstellte, ahnte er nicht, daß er die „Krank- blutung; diese Untersuchung gibt einen Hinweis auf eine und mikroskopierte. Sein Medizinstudium heit des Jahrhunderts“ (so das „Deutsche Alzheimer-Erkrankung, gilt jedoch nicht als eindeutiger absolvierte er in acht Semestern. Ärzteblatt“) entdeckt hatte.Auch seine Kol- Beweis. Danach war Alzheimer zwischen Mai legen blieben gelassen. Es gab nach Alz- ** Konrad und Ulrike Maurer: „Alzheimer. Das Leben eines Arztes und die Karriere einer Krankheit“. Piper und Oktober 1888 „Reisebegleiter“ einer heimers Vortrag, so vermerkt das Protokoll, Verlag, München 1998; 320 Seiten; 39,60 Mark. „geisteskranken Dame“.Wer die Geheim- „keine Diskussion“. Hans Halter

der spiegel 28/1999 165 FOTOS: H. MÜLLER-ELSNER / AGENTUR FOCUS / AGENTUR H. MÜLLER-ELSNER FOTOS: Neuer Schnellzug „Metropolitan“, Innenraum: Welcome-Drink auf Birnbaumholz

tern Funkverstärker das Telefonieren mit EISENBAHN Handys, vis-à-vis angeordnete Sitze er- möglichen Konferenzen. Im „Club“ sind zudem Videogeräte mit Mini-Bildschir- Duft der Chefetage men erhältlich. Zwei Wagen bilden den „Silence“-Bereich, in dem Handys und Der Luxuszug „Metropolitan“ fährt von August an zwischen Laptops ausgeschaltet bleiben müssen. Hamburg und Köln. Sein Ziel erreicht er schneller als Statt dessen werden Kissen, Decken und Ohrstöpsel gereicht. der Intercity. Mit feinstem Mobiliar soll er Vielflieger anlocken. Menüs und alkoholfreie Getränke wer- den wie im Flugzeug am Platz serviert und ollautomatisch erwacht der Zug der Köln benötigt, nicht durch Raserei, son- sind im Fahrpreis enthalten. Die einfache neuen Zeit. Mitten in der Nacht, dern schlicht durch den Verzicht auf wei- Fahrt von Hamburg nach Köln kostet 180 Vlange bevor Lokführer und Crew tere Haltepunkte. An den Flachland-Me- Mark, ist also um 12 Mark billiger als im ihren Dienst antreten, trifft die Technik tropolen Bremen, Osnabrück und Münster langsameren Intercity erster Klasse. Le- Reisevorbereitungen. Fühler messen die zischt der neue Superzug achtlos vorbei. diglich Bahncard-Inhaber fahren konven- Temperatur und aktivieren Heizung oder Nicht exotische Technik – der Metropo- tionell billiger. Statt der sonst üblichen Klimaanlage; die Bordpneumatik checkt litan erreicht eine Spitzengeschwindigkeit Fahrpreis-Halbierung zahlen sie im Me- die Bremsen. von 220 km/h –, sondern höchster Komfort tropolitan nur einen auf 135 Mark redu- Bisher sind es nur Testfahrten, zu denen zeichnet das neue Schienengefährt aus. zierten Tarif. der neue Luxuszug namens „Metropo- Auf luftgefederten Drehgestellen von Die Preispolitik des deutschen Schie- litan“ aufbricht. Bereits mehrfach wurde Fiat schweben die Waggons, deren Ein- nenunternehmens, seit je ein labyrinthi- der fahrplanmäßige Einsatztermin aus richtung einer Senator-Lounge der Luft- sches Manifest, wird somit um eine weite- Furcht vor Pannen verschoben. Anders als hansa in nichts nachsteht, auf den Gleisen re Ausnahmeregelung angereichert. beim ICE-Start im Juni 1991, als über- dahin. Wie im französischen Hochgeschwin- schwappende Bordtoiletten die Premie- Der Metropolitan hat nur eine Klasse – digkeitszug TGV dürfen im Metropolitan renstimmung trübten, soll diesmal alles die allerdings weit über der ersten Klasse nur Passagiere mitreisen, die vorher reser- glattlaufen. des ICE rangiert. Die Sitze sind viert haben. Zu Stoßzeiten wer- Vom 1.August an wird der Metropolitan, durchgehend mit schwarzem den also keine Überfüllungen betrieben von der gleichnamigen Tochter- Leder bezogen und duften „Fliegen wird auftreten, die in Fernzügen zu- gesellschaft der Deutschen Bahn, Hamburg schwer nach Chefetage. Feiner, noch immer als weilen die Atmosphäre eines mit den Rhein/Ruhr-Großstädten Essen, dunkelgrauer Teppichboden und cooler und Viehtransports entstehen lassen. Düsseldorf und Köln verbinden. Als Kun- eine schallschluckende Metall- schicker Gerade die anvisierte Klien- den hat die Bahn vor allem Geschäftsleute Netzstruktur an der Decke empfunden tel von Geschäftsleuten, sagt im Visier, die diese Strecken bisher flie- ördern die gediegene Atmo- Metropolitan-Geschäftsführer gend zurücklegten, weil ihnen die Schie- sphäre. – das wollen Stefan Karl Eishold, 34, soll in nen-Alternative zu langsam und zu un- Jeder Sitzplatz verfügt über wir ändern“ dem neuen Zug nichts erleben, komfortabel war. eine 220-Volt-Steckdose. Die was sie sonst mit dem Schienen- Der Metropolitan meistert die Distanz Tische und Klapptabletts aus mehrschich- verkehr übel assoziiert: „Fliegen wird noch Hamburg–Essen in zweieinhalb Stunden. tigem, hellem Schweizer Birnbaumholz, immer als cooler und schicker empfunden Kein Linienflugpassagier gelangt so schnell maßangefertigt von den Deutschen Werk- – das wollen wir ändern.“ Die Fahrkar- von Zentrum zu Zentrum.Auch die Zeiten stätten Hellerau in Dresden, tragen an den tenkontrolle etwa sei stets „ein negatives nach Düsseldorf (drei Stunden) und Köln Kanten schwarze Lederstreifen, um Service-Erlebnis“. Sie soll im Metropoli- (drei Stunden, 20 Minuten) lassen die Luft- Laptops oder Speisen vor dem Absturz zu tan mit einem „Welcome-Drink“ kombi- hansa kaum attraktiver erscheinen. schützen. niert werden. Erreicht wird der Zeitgewinn gegenüber Die sieben Wagen des Zugs sind in drei Laut Eishold wird das Projekt schon bei dem Intercity, der auf den besten Verbin- Bereiche gegliedert. Fünf Wagen bilden die einer Auslastung von 50 Prozent schwarze dungen vier Stunden von Hamburg nach Zonen „Office“ und „Club“. Dort erleich- Zahlen schreiben. Eine optimistische Schät-

166 der spiegel 28/1999 Wissenschaft

seums in Blaubeuren, Anne Scheer, „sind ARCHÄOLOGIE in dieser Region typisch für kleine mobile Kunstgegenstände.“ Mobile Kunst Tatsächlich wurde in einer Höhle im Alt- mühltal ein eindeutig nicht aus der Wand Gab es auch in Deutschland stein- stammendes Steinfragment gefunden, das in Motiv, Maltechnik und Stil frappierende zeitliche Höhlenmalerei? Ähnlichkeiten mit dem neuesten Fund- Ein Fund auf der Schwäbischen stück aufweist. Alb sorgt für Verwirrung. Schon früher hatten Wissenschaftler ge- hofft, auf der Alb Hinweise auf Wandkunst ls die Tübinger Archäologen Nicho- gefunden zu haben. Vor zehn Jahren ent- las Conard und Hans-Peter Uerp- deckte der inzwischen verstorbene Ar- Amann letzten Montag ihren kleinen chäologe Joachim Hahn ein Stück Stein, Alu-Koffer öffneten, hielten 50 angereiste auf dem ein schwarzes „V“ zu sehen war. Journalisten den Atem an. Eine Sensation Nach neuesten Untersuchungen ist Hahns war angekündigt worden: der „erste über- Nachfolger Conard jetzt davon überzeugt, zeugende Nachweis“ dafür, daß auch daß es sich dabei wohl doch nur um eine in Deutschland Steinzeitmenschen ihre natürliche Musterung des Steins handelt. Höhlenwände mit Gemälden schmückten. Warum die Archäologen in Deutschland zung; denn der schicke Luxuszug ist für Gab es auch auf der Schwäbischen Alb vergebens suchen, während in Frankreich die Betreiber in jeder Hinsicht kostspielig. eine Grotte Chauvet, in der Löwen, und Spanien eine prächtig verzierte Höh- Allein die Entwicklungs- und Herstel- Wisente, Mammute und Nashörner von le nach der anderen entdeckt wird, dar- lungskosten der ersten beiden Züge belie- den Wänden leuchteten? Sekunden später über läßt sich nur spekulieren. fen sich auf 55 Millionen Mark. Pro Loko- die Enttäuschung: Kaum größer als ein Viele Experten machen vor allem das motive kommen weitere 10 Millionen hin- Butterkeks ist das Steinfragment, das die feuchte Höhlenklima in Deutschland ver- zu. Damit ist der Metropolitan über 10 Forscher bei Ausgrabungen in der Hohle- antwortlich, das Wände und Decken – und Millionen Mark teurer als ein gleichlanges Fels-Höhle bei Schelklingen fanden. Dar- damit auch mögliche Gemälde – frühzeitig Exemplar der jüngsten Schnellzug-Gene- auf zu erkennen sind lediglich zwei Reihen abbröckeln läßt. Denkbar wäre aber auch, ration ICE-T, die technisch sogar etwas roter Doppelpunkte. Die könnten, so be- daß andere Kunstrichtungen bei den anspruchsvoller ist, weil sie über Pendo- haupteten Conard und Uerpmann, vor schwäbischen Steinzeitmenschen einfach lino-Systeme für schnellere Kurvenfahrt 13000 Jahren einmal Teil eines größeren beliebter waren. verfügt. Wandgemäldes gewesen Hergestellt wird der silberne Business- sein. Gleiter in einem ehemaligen DDR-Betrieb, Doch das zu beweisen einst gut 3000 Mann stark und Lieferant dürfte den Forschern von Kühlwagen für die sowjetische Bahn. kaum gelingen. Denn Die heutige Fahrzeugtechnik Dessau gilt obwohl sich fast alle Ge- mit etwa 190 Angestellten inzwischen als lehrten darüber einig erstklassige Adresse für anspruchsvolle sind, daß es auch in Kleinaufträge. Metropolitan-Cheftechniker Deutschland Höhlenma- Holger Hansen, 49, lobt den Betrieb in lerei gegeben haben muß Sachsen-Anhalt gar als „Porsche des Ei- – die Versuchung, sich senbahnbaus“. auf den Wänden zu ver- Ein weiterer Kostenfaktor wird der hohe ewigen, dürfte auch für Personaleinsatz sein, der den neuartigen Steinzeitmenschen hier- Komfort an Bord sicherstellen soll. Bei zulande groß gewesen voller Besetzung kellnern neun Mitropa- sein –, könnte das nur Angestellte.Auch eine Putzkraft fährt über eine Zeichnung, die sich die gesamte Strecke mit. noch auf einer Wand be- Schon vor dem Start mußte die Beleg- findet, endgültig bele- schaft vorübergehend um einige weitere gen. Davon aber fehlt bis

Mitarbeiter aufgestockt werden. Wach- heute jede Spur. DPA männer mit Schäferhunden pirschen im Zwar ergab eine geo- Archäologen Conard, Uerpmann mit verziertem Steinfund Schichtbetrieb um das Abstellgleis in Ham- logische Untersuchung Von der Wand gefallen? burg-Eidelstedt, wo das erste Exemplar des des neuen Fundes, daß Metropolitan derzeit parkt. der Stein aus der Wand der Hohle-Fels- „Weil Deutschland dünner besiedelt war Kaum war der silberne Gleiter ange- Höhle stammen muß. Kanten und Rück- als Frankreich“, so Archäologin Scheer, kommen, lockte sein makelloses Blech- seite weisen zudem darauf hin, daß er aus „waren die Menschen hierzulande weniger kleid nächtliche Graffiti-Künstler an. Am einem größeren Stein herausgebrochen ist. seßhaft. Zwischen ihren Wanderungen leb- Morgen darauf waren drei Wagen be- Doch, so räumen selbst die Entdecker ein, ten sie jeweils nur für wenige Wochen oder sprüht. es wäre durchaus denkbar, daß zunächst Monate in einer der Höhlen hier. Mobile Mühevoll schrubbten die Reinigungs- ein nacktes Felsfragment aus der Höhlen- Kunst, die sie mit sich tragen konnten, war kräfte das kunterbunte Kunstwerk ab, das wand fiel. Erst Jahre später wurde dieses ihnen deshalb möglicherweise einfach nicht so recht zum grazilen Erscheinungs- bemalt – und irgendwann brach es ent- wichtiger als Wandmalerei.“ bild des neuen Business-Expreß passen zwei. Und so stammen die ältesten und schön- wollte. „Für sich genommen“, meint Chef- Für diese Theorie spricht vor allem das sten Elfenbeinschnitzereien Europas aus techniker Hansen jedoch respektvoll, „war Motiv. „Doppelpunkte“, so die Archäolo- den Höhlen der Schwäbischen Alb. es gut gemacht.“ Christian Wüst gin und Leiterin des Urgeschichtlichen Mu- Veronika Hackenbroch

der spiegel 28/1999 167 Werbeseite

Werbeseite Szene Kultur

KUNST Nierentisch mit Tannenbaum ls malender Hexenmeister, der Triviales und Übersinnliches in Aschimmernde Farb-Ergüsse taucht, ist Sigmar Polke, 58, welt- berühmt. Jetzt klappt der Laborant seine Rezeptbücher auf: Von Frei- tag dieser Woche an zeigt er (bis 17. Oktober) in der Hamburger Kunsthalle Kladden, Mappen und Einzel-„Arbeiten auf Papier“ der frühen Jahre 1963 bis 1974. Die 200-Werke-Auswahl war vorher im Museum of Modern Art in New York zu sehen, treffend angekündigt als „Zugang zu einem erstaunlichen Geist in Bewegung“, von Kriti- kern nicht ohne Skepsis als „angeschwollener Bewußtseinsstrom“ (so „Time“) bewertet. Tatsäch- lich bricht eine Flut durch- einanderwirbelnder Bild- einfälle auf den Betrachter herein. Neben winzigen Blättchen werden Fünf- Meter-Formate daherge- schwemmt, virtuoser Pin- selschwung wechselt mit trockenen Kugelschreiber- krakeln, und die Pop-Atti- tüde scheint sich immer wieder in Drogenräusche

VG BILD-KUNST, BONN 1999 VG BILD-KUNST, zu verflüchtigen. Durch- Polke-Gouache „Kuß, Kuß“ (1963) dringend ist der ganze Fundus vom Zeitgeist der Nierentische und des Kalten Kriegs imprägniert: Mal prangt eine flotte Tannenbaum-Gouache vor damals modischer Mosaik-Tapete, mal

mahnt eine Strichzeichnung „Dein Päckchen nach drüben“ an. Doch BONN 1999 VG BILD-KUNST, mit „Kuß, Kuß“ werden Polke-Fans auch herzlich abgeschmatzt. Polke-Gouache „Reiher“ (1968)

EXPO 2000 wurde mitgeschnitten und diente als tronischen Musik Weltgeltung und da- Grundlage des Jingles. mit ihren Preis. Im übrigen kann ich zur Stromberg: Das ist völliger Unsinn. Kraft- Beruhigung beitragen: Es kommt hier „Mehr rein als raus“ werk benutzt keine menschlichen Stim- eher mehr Geld für die Expo rein als men. ausgegeben wird. Tom Stromberg, 39, Kulturchef der Welt- SPIEGEL: Jedenfalls will der NDR, im- SPIEGEL: Wofür braucht die Expo über- ausstellung in Hannover, über den um- merhin Medienpartner der Expo, das haupt einen Jingle? strittenen Expo-Jingle der Gruppe Kraft- Stromberg: Er dient als akustisches Er- werk kennungszeichen, für Telefonwarte- schleifen, als Ankündigungston, Pausen- SPIEGEL: Herr Stromberg, Sie haben bei zeichen. So etwas gibt es heute überall: Kraftwerk eine kurze Erkennungsmelo- Zum Beispiel läuft im Pariser Flughafen die für die Expo 2000, einen sogenann- vor Durchsagen ein prägnanter Erken- ten Jingle in Auftrag gegeben – zum Preis nungston. Und was den Preis betrifft: von 400000 Mark.Wär’s nicht billiger ge- Auf dem Markt werden ganz andere gangen? Summen gezahlt. Stromberg: Das ist eine sehr populisti- SPIEGEL: Dann sind Sie fast billig davon- sche Frage. Zunächst mal: Kraftwerk gekommen? hat einen Jingle komponiert von sechs- Stromberg: Ich schmeiße kein Geld zum mal 4 Sekunden Länge, in sechs ver- Fenster raus. Aber bei der Expo wird

schiedenen Sprachen, und eine Fassung K. BOSSE man nicht dafür bezahlt, daß man immer von 15 Sekunden. Das Ganze ist kein Stromberg vorsichtiger wird. Türgong. SPIEGEL: Sie suchen die Provokation? SPIEGEL: In der Tat: Das Werk soll ent- Werk nicht im Radio spielen, und Stromberg: Natürlich braucht die Expo standen sein, als die Kraftwerk-Musiker Bundeskanzler Schröder meint: „Dafür Diskussionen, sonst verkauft man keine mit viel Sekt den Expo-Auftrag feierten. hätte ich nicht soviel Geld ausge- 40 Millionen Tickets. Wenn einfach nur Einem wurde schlecht; er sprach die gol- geben.“ irgendwer einen Ping komponiert hätte, denen Worte „Expo 2000“, so heißt es, Stromberg: Das sagt sich so locker da- hätte das keinen interessiert. Jetzt wol- über eine Kloschlüssel gebeugt aus, das hin. Kraftwerk hat als Pionier der elek- len alle das Ding hören.

der spiegel 28/1999 169 Szene

LITERATUR tag des schmalz- lockigen Reporters – Köder für den Alten der erste Tim-Comic erschien, unter dem ast alle haben ihren Beitrag zum Ju- französischen Na- Fbiläumsjahr schon abgeliefert. Aber men Tintin, 1929 in selbst jetzt, wenige Wochen vor dem der Kinderbeilage 250. Geburtstag Goethes am 28. August, der katholischen Ta- ist der Buchmarkt noch für Überra- geszeitung „Le schungen gut. Wer hätte einem Gegen- XXième Siècle“ –, wartserzähler zugetraut, den scheinbar bringt jetzt der allzu bekannten Geheimen Rat von ei- Hamburger Carlsen ner ungeahnten Seite zu zeigen? Hen- Verlag eine 19bändi- ning Boetius, 60, gelernter Germanist ge Hergé-Werkaus- und seit Jahren mit sauber recherchier- gabe heraus. Der er- ten Romanen aus der klassischen Zeit ste Band der biblio- erfolgreich, hat sich den letzten auswär- Tim und Struppi philen Reihe zeigt tigen Besucher genauer angesehen, der vor allem die irrwit- im März 1832 das Haus am Weimarer zigen Abenteuer von Frauenplan betrat. Es war ein Sohn der COMICS Tim und seinem treuen Begleiter, dem schwärmerischen Romantikerin Bettina Foxterrier Struppi, „Im Lande der Brentano, verwitwete von Arnim. Was Tim lebt Sowjets“. Strikter Antikommunismus hatte der 18jährige beim greisen Staats- prägte den Comic, obwohl er für Kinder minister zu suchen? Warum lud Goethe ls der Belgier Georges Remi, der erdacht war: Tim muß gegen skrupello- ihn sechs Tage nacheinander zu Tisch? Asich als Zeichner Hergé nannte, se Bolschewisten antreten, die sich als Weshalb traktierte er 1983 starb, verkündete die Pariser Ta- deutsche Polizisten verkleiden. Dem Er- das Kind der ihm su- geszeitung „Libération“ auf ihrer Titel- folg von Tim und Struppi hat die schlich- spekten Bettina über- seite: „Tim ist tot.“ Das war ein Irrtum: te Konstruktion nicht geschadet: Welt- haupt so liebenswür- Hergé ist abgetreten, aber sein Comic- weit wurden bisher mehr als 200 Millio- dig, daß der junge Sohn Tim lebt weiter. Zum 70. Geburts- nen Tim-und-Struppi-Alben verkauft. Mann sich wie ein Di- plomat der „Gesandt- schaft in Paris“ be- handelt fühlte? Boe- Kino in Kürze tius vermutet: Sieg- mund von Arnim „Bulworth“. Wenn einer als Hollywood-Star, Produzent und Vorzeige-Liberaler könnte als Köder ge- schon so lange so berühmt ist wie Warren Beatty, dann hat er vielleicht eines Ta- kommen sein. Denn Bettina hatte beim ges einfach die Nase voll von den Zwängen der Political Correctness. So mag er sich Dichterfürsten noch eine Rechnung of- die Figur des US-Senators Bulworth ausgedacht haben, der im Wahlkampf seinen fen. Vielleicht ahnte sie, daß ihre ver- Zuhörern statt des üblichen opportunistischen Blablas böse Wahrheiten über das störende Familienschönheit gerade in zynisch-korrupte Politik-Geschäft zu servieren beginnt – und zwar in provozierend Gestalt des Sohnes am ehesten wirken obszönem Rap-Gesang. Die dreiste „Bulworth“-Farce, in der Beatty als Produzent, mochte. So schickte sie ihn mit einem Koautor, Regisseur und Star auftrumpft, verheddert sich gegen Ende selbst ein we- verwirrend erotischen Empfehlungs- nig in ihren Volten, doch sie ist zweifellos, neben Mike Nichols’ „Primary Colors“, brief nach Weimar. die brillanteste Politsatire, die sich Hollywood in den letzten Jahren geleistet hat. Mehr erzählen hieße, Pointen zu ver- raten. Die sind Boetius gut gelungen. „Long Hello & Short Goodbye“ heißt der Versuch des Regisseurs Rainer Kaufmann, Zwar wird niemand mehr herausfinden, nach biederen Komödien („Stadtgespräch“, „Die Apothekerin“) jetzt einen rich- wie nahe die beiden ungleichen Ge- tig coolen Film zu machen, einen „Neo-Film noir“: Er engagierte aufstrebende Jung- sprächspartner einander wirklich ge- darsteller (Nicolette Krebitz) und verdiente Theatermimen (Axel Milberg, Sunnyi kommen sind. Aber als verblüffende Melles), ersann ein stimmiges Farbkonzept (mit Goldzahn: Katja Riemann) und Hypothese kann sich diese Miniatur, in wählte Drehorte von zeitloser Eleganz (etwa die SPIEGEL-Kantine). Genützt hat der nebenbei fast die ganze Lebenswelt das alles nichts: Zu manieriert wirkt Kauf- des alten Goethe gespiegelt ist, allemal manns Versuch, Ende der Neunziger ein sehen lassen. Ganz Vorsichtigen erklärt Genre der Vierziger in der Optik der sieb- der Autor in einem Nachwort, wo die ziger Jahre wiederzubeleben. So erweist Fiktion anfängt. Und kongenial illu- sich die Geschichte um einen aus dem Knast striert ist das feine Spiel mit der Wahr- entlassenen Tresorknacker an den (Kunst-) heit auch. Die 16 pfiffigen Lithogra- Haaren der Krebitz herbeigezogen, die Dia- phien von Johannes Grützke (samt ver- loge sind schwergängig wie Panzertüren, stecktem Selbstporträt ihres Schöpfers) und ein schwarzer Anzug (wie ihn der von zeigen den großen Alten, wie ihn noch Marc Hosemann gespielte Gangster trägt) keiner sah – inmitten der momentanen rechtfertigt noch nicht die Bezeichnung Goethe-Flut eine tolle Leistung. „Film noir“. Kaufmanns Beitrag zur Schwar-

WARNER BROS. WARNER zen Serie bleibt blaß und blasiert. Oder soll- Henning Boetius: „Tod in Weimar“. Merlin Verlag, Krebitz, Hosemann in „Long Hello ...“ te das etwa das Neue daran sein? Gifkendorf; 104 Seiten; 32 Mark.

170 der spiegel 28/1999 Kultur

BENEFIZ Am Rande „Eine Frau ist eine Frau“ Klappstuhl-Opfer er Kampf fürs Gute schlägt bisweilen kuriose Wege ein. So hat sich das Bonner DFrauen Museum tapfer vorgenommen, die Fördergemeinschaft „WIR ALLE – as Berliner Olympiastadion ist Frauen gegen Brustkrebs e. V.“ tatkräftig zu unterstützen. Die Museumsfrauen verfie- Din einem beschämenden Zu- len auf eine entfesselnde Idee: Sie schickten prominenten Damen jeweils einen stand. Die Uefa hat bereits gedroht, „Symbol BH“, den diese frei gestalten sollten. Die Symbol-Kollektion wird Ende des bei Champions-League-Spielen die Jahres für den guten Zweck versteigert. Die ersten Rückmeldungen sind ermutigend: Arena nur noch für 15 000 Zu- Die Sängerin Nina Hagen schickte ein dezent geblümtes Modell; die Aktrice Iris Ber- schauer freizugeben, weil es an aus- ben etwa versah ihr Exponat eigenhändig mit einer Knopf-Kollektion, obwohl sie Sti- cheleien eigentlich haßt. Die FDP-Politikerin Cornelia Schmalz-Jacobsen flüchtete reichend artgerechten Sitzmöbeln sich vor der Herausforderung dagegen ins Allgemeingültig-Literarische und kritzelte fehlt. Alle Sportfreunde angestrengt auf den Brust- haben es deshalb von panzer: „Eine Frau ist eine Herzen begrüßt, daß der Frau – ist eine Frau BLEIBT Berliner Senat nun neun eine FRAU“. Das schien Millionen Mark für die sich Steffi Graf schon längst Anschaffung von 75 000 klargemacht zu haben. Sie lichtgrauen Klappsitzen behielt den BH und steckte statt dessen kurzerhand bereitstellt. Diese Bestuh- zwei signierte Tennisbälle lungs-Problematik geht in einen Umschlag. Die Ak- uns, burschikos formu- tion trägt den treffenden Ti- liert, total am Gesäß vor-

ACTION PRESS ACTION tel: „Brust-Lust-Frust“. bei, nicht aber die finanzpolitische Grätsche, mit der die Berliner die Millionen aufgetrieben haben. Sechs der neun Millionen, so raunen In- sider, waren nämlich eigentlich für die dringende Sanierung von Dach, Gesimsen und Schnürboden der Volksbühne vorgesehen, Heimstatt FOTOS: J. BINDRIM / LAIF (li. u. re.) J. FOTOS: der Theater-Berserker Castorf und Berben, BHs von Berben, Hagen Schlingensief, die mit allerlei or- giastischen Aufführungen viel Un- ruhe in die Berliner Politik getragen POP folg beim großen Publikum dürfte den haben. Amerikanern aber weiter versagt blei- In den Zeiten knapper Kulturkas- Plattplanierte Rockhits ben. Malkmus selbst scheint es wich- sen, so lernen wir, muß die Phan- tiger zu sein, daß ihn Musikkritiker tasie ganz neue Bahnen gehen: Was ermutlich gibt es unter den ameri- weltweit als Guru der munteren Pop- der eine bekommt, das ist dem an- Vkanischen Rockbands der neunzi- Dekonstruktionsarbeit feiern – schade ger Jahre keine, die schönere Melodien um seine Melodie-Geniestreiche ist es deren genommen. Ein aufwendiges und trickreichere Texte produziert als trotzdem. Szenenbild kann ein Museum die Pavement – nur leider haben sich Sanierung des Lokus kosten, tau- Stephen Malkmus und seine Mit- send neue Jugendbücher für die streiter entschlossen, all ihre Pop- Stadtbibliothek eliminieren einen Kunstwerke sogleich wieder selbst Verdi-Opernabend.Wollt ihr Stadt- zu zerstören: Gruseliger Gitarren- schreiber oder Stadtteilfeste? Jedes krach walzt plötzlich wunderbare Sehnsuchtshymnen platt, unver- Kunstwerk wird unter dem Diktat mittelte Stolperrhythmen zer- der Rotstifte zum Tod eines ande- hacken alle Songwriterpoesie. Auf ren. Das Schöne – Rainer Maria ihrer jüngsten Platte „Terror Twi- Rilkes Elegie bekommt einen neu- light“ haben sich die ewigen Stu- en Sinn – ist nichts als des Schreck- dentenrocker nun weitgehend ei- lichen Anfang. Finanznot lehrt neu nes Besseren besonnen; und doch interpretieren. zerprügeln sie „Billie“, einen Song mit maximalen Hitqualitä- Wisse, sesselfläzender Fußball-Fan, ten, abermals durch wüstes daß Thalia deinetwegen friert. Aber Soundgehäcksel. So ist das neue dein Herz wird kalt bleiben. Der

Werk zwar die eingängigste Pave- D. KLEIMAN / RETNA INTER-TOPICS Ball ist rund, schrecklich rund. ment-Platte seit langem, der Er- Pavement-Musiker

der spiegel 28/1999 171 Kultur

SCHRIFTSTELLER Papas letzte Safari Pünktlich zum 100. Geburtstag Ernest Hemingways präsentieren dessen Erben ein weiteres Buch aus dem Nachlaß. „Die Wahrheit im Morgenlicht“ erzählt die Geschichte einer Afrika-Reise – und von Hemingways Leidenschaft für Großwildjagden und schöne Frauen.

as lang ersehnte Wiedersehen mit dem Schwarzen Kontinent wurde Dzum Fiasko. Es gipfelte Anfang 1954 in einer Serie von Unglücksfällen. Ernest Hemingway litt so stark an den Folgen, daß er im Dezember 1954 nicht einmal den No- belpreis für Literatur persönlich entgegen- nehmen konnte. Im Grunde kam der als Kraftnatur und trinkfest geltende Dichter, der Hochseefischer, Großwildjäger und Frauenheld bis zu seinem Selbstmord im Juli 1961 nie wieder richtig auf die Beine – auch nicht als Schriftsteller. Hemingway war im August 1953 mit sei- ner vierten Ehefrau Mary (und einem Re- portage-Auftrag der amerikanischen Zeit- schrift „Look“) nach Afrika gereist, um die alten Zeiten noch einmal aufleben zu las- sen. Vieles hatte von Beginn unter dem Zeichen der Wiederholung gestanden: He- mingway traf den alten Safariführer wie- der, der ihn und Pauline, die zweite Ehe- frau, schon 20 Jahre zuvor durch den Busch begleitet hatte – und auch der persönliche Gewehrträger von Gattin Mary war damals schon dabeigewesen: in Paulines Diensten. Die Unglücksserie begann mit Heming- ways Weihnachtsgeschenk für Mary: Er hat- te ihr einen Rundflug über den Ngorongo- ro-Krater und die Serengeti versprochen. Im Tiefflug streifte die kleine Cessna 180 nahe den Murchison-Fällen eine Telegra- fenleitung und stürzte ab. Das Ehepaar und der Pilot überlebten leicht verletzt. Das nächste Flugzeug, das die Heming- ways zurückbringen sollte, kam gar nicht erst in die Lüfte. Die Maschine brannte aus, der Schriftsteller schleppte sich mit schweren Kopf- und inneren Verletzungen über die brennende Tragfläche ins Freie. Statt sich richtig behandeln zu lassen, versuchte er seine Schmerzen mit Alkohol zu betäuben – und spielte bei der nächsten Gelegenheit wieder den Helden: Im Fe- bruar 1954 brannte es im Busch, und He- mingway warf sich als freiwilliger Brand- bekämpfer in die Flammen. Er erlitt schwe- re Verbrennungen. Immerhin brachte der Haudegen es fer- tig, für die Zeitschrift „Look“ unter dem Titel „The Christmas Gift“ über die Ereig-

AP nisse eine längere, fast muntere Reportage

Jäger Hemingway (1953) Recht auf zwölf Ehefrauen? großen schwarzmähnigen Löwen schießen. Die Handlung begnügt sich über weite Strecken damit, daß das Ehepaar sich am Anblick grasender Zebras und Gazellen und am nächtlichen Geheul der Hyänen erfreut. Dabei führen sie tiefschürfende Gespräche über den Zustand der Mensch- heit, über die Geschlechtsreife von Antilo- pen und die Libido schwarzer Frauen. Während der Jagd wird die Konversation auch gern in Kisuaheli geführt („Memsahib piga. Kufa!“), der Safari-unerfahrene Leser darf im Glossar nachschlagen. Das Ehe- paar aber ist gut und freundlich zueinan- der. Er lobt sie nach dem Schuß auf ein Gnu: „Das war ein sehr schöner Schuß, mein Kleines, und angepirscht hast du dich auch sehr gut. Und jetzt gib ihm den Gna-

A. NEWMAN / SILVER IMAGE A. NEWMAN / SILVER denschuß unters linke Ohr.“ Sie fragt Hemingway-Doppelgänger in Key West: Kult um einen, der stets den Helden spielte zurück: „Sollte ich ihn nicht besser in die Stirn schießen?“ Er: „Nein, bitte. Direkt zu verfassen, die im April/Mai 1954 zu le- men, oft genug zum Verdruß der Kritiker, unters Ohr.“ sen war. Noch im selben Jahr begann He- aber durchaus goutiert vom Publikum. Überhaupt ist das Buch eine fast rühren- mingway damit, einen Bericht über die Sa- Sohn Patrick läßt es sich nicht nehmen, de Verbeugung des Verfassers vor der ihn fari zu schreiben. im Vorwort gegen die Stiefmutter zu pole- begleitenden Ehefrau, die den starken Doch nach rund 800 Seiten legte er das misieren, die sich einer 25 Jahre dauern- Mann offenbar mit Formulierungen wie Manuskript später beiseite, ohne es zu be- den, „von Gin befeuerten Witwenverbren- „Aber wir beide allein miteinander, das ist arbeiten. Möglicherweise war ihm bewußt nung“ unterzogen habe. Scheinheilig ent- wunderbar“ entzücken konnte. Heming- geworden, daß auch dieses Manuskript nur schuldigt er sich bei der verstorbenen way verschweigt dem Leser auch seine eine Art Wiederholung war: In den dreißi- Mary, daß er im Buch soviel Aufhebens Antwort nicht: „Wir beide allein zusam- ger Jahren hatte er nach der ersten Reise von Debba gemacht habe, einer jungen men haben wirklich immer den meisten das Buch „Die grünen Hügel Afrikas“ pu- Schwarzen, die sein Vater sich als eine Art Spaß. Du mußt nur Geduld mit mir haben, bliziert. Oder er spürte ganz einfach, daß Nebenfrau imaginierte – wobei freilich wenn ich mal wieder dumm bin.“ er keinen neuen, im Grunde überhaupt auch in der vom Sohn edierten Fassung Auch auf dem ehelichen Lager im Zelt keinen Ton für seine Safarigeschichte mit nur ein flüchtiger sexueller Kontakt ange- erweist er sich als tapferer Held: „Wir lieb- Mary gefunden hatte. deutet wird. ten uns, und dann liebten wir uns noch Dennoch ließ die Witwe Anfang der Dabei ist die Frage, ob sich der Ich-Er- einmal, und nachdem wir uns dann noch siebziger Jahre große Passagen aus dem im zähler, hinter dem sich Hemingway offen einmal geliebt hatten, leise und dunkel und Nachlaß gefundenen Manuskript in der zu erkennen gibt, während der Tage in stumm ..., schliefen wir ein.“ Kein Wunder, Zeitschrift „Sports Illustrated“ veröffentli- Afrika in eine Affäre verstricken wird, das daß Mary ihm sagt: „Das Bett ist unser Va- chen. Und nun hat es Hemingways zweiter einzige Spannungsmoment weit und breit terland.“ Sohn Patrick für nötig gehalten, eine noch – denn von den abenteuerlichen Katastro- So ist das Spiel mit der dunklen Debba, umfangreichere Auswahl – rund die Hälf- phen ist hier keine Rede. von der Ehefrau klug geduldet („Ihr zwei te des gesamten Textes – als Buch unter Statt dessen: bis zur Erschöpfung wie- seid ein hübsches Paar“), wohl am Ende dem Titel „Die Wahrheit im Morgenlicht“ derholte Szenen vom Safarialltag. Mary mehr Wunsch als Realität. Hemingway zusammenzustellen und zu edieren**. möchte unbedingt bis Heiligabend einen nennt sie seine „Verlobte“ und versucht, Hemingway junior, 71, hielt sich, wie er im Interview erklärt, für die geeignete Per- son, „die Glaubwürdigkeit und den Stil zu erhalten“ (siehe Seite 174) – rechtzeitig zum 100. Geburtstag am 21. Juli soll das Buch nun weltweit erscheinen. Doch Patrick Hemingway und seine bei- den Brüder John und Gregory, die zusam- men eine Verwertungsgesellschaft betrei- ben und mittlerweile auch weitgehend über die Rechte am Werk verfügen, wollten of- fenbar ihr eigenes Hemingway-Buch kre- ieren – nachdem sich die Witwe schon reichlich aus dem Nachlaß bedient hatte: Eine Briefauswahl und die Bücher „Paris – ein Fest fürs Leben“, „Inseln im Strom“, „Gefährlicher Sommer“ und „Der Garten Eden“ waren so auf die Nachwelt gekom-

* Mit Torin Thatcher, Ava Gardner und Gregory Peck. ** Ernest Hemingway: „Die Wahrheit im Morgenlicht. Eine afrikanische Safari“. Deutsch von Werner Schmitz; herausgegeben von Patrick Hemingway. Rowohlt Verlag, H. KRUSE Reinbek; 464 Seiten; 45 Mark.Ab 23. Juli im Buchhandel. Hemingway-Verfilmung „Schnee am Kilimandscharo“ (1952)*: Schuß direkt hinters Ohr

der spiegel 28/1999 173 sich mit den Augen von Debba zu sehen, die gern seine Nebenfrau wäre: Müßte er nicht eigentlich zwölf Ehefrauen besitzen? Die jetzt viel erwogene Frage, ob Deb- ba wirklich existiert habe oder reine Fik- tion sei, läßt sich mit einem Blick in die Korrespondenz Hemingways leicht beant- worten: Im Januar 1954 beichtete er einem Freund, daß er sich in ein einheimisches Mädchen verliebt habe. Seine Freundin sei „ohne jede Scham“, selbst ihr Gesichts- ausdruck sei schamlos, „aber durchaus lie- bevoll und zärtlich rauh“. Mehr allerdings schreibt er dem Briefpartner nicht – mit dem Hinweis, er höre jetzt besser auf, er kriege „davon sowieso einen zu schlim- men Ständer“. Das ist selbst im pubertären Gestus mehr, als im Buch später darüber zu lesen ist. „Die Wahrheit im Morgenlicht“ ist von großer Harmlosigkeit und Freundlichkeit gegenüber allen – mit Ausnahme der Tiere, die auf eine für unsere schutzwütige Ge- genwart geradezu empörende Art verfolgt und abgeschossen werden. Das Image war Hemingway wichtig – und daran ist auch dieses Buch geschei- tert. Statt Wahrheit und Selbsterkundung suchte der Autor, dem Bild treu zu bleiben, das der zeitungserfahrene Manager seiner selbst der Welt von sich gegeben hatte. Mary half kräftig mit. Ein Foto, auf dem Hemingway mit einem Leoparden zu sehen ist, den er nicht selbst erlegt hatte, wurde von ihr erst freigegeben, als er später selbst einen geschossen hatte – wie der Amerikanist Hans-Peter Roden- berg in einer ebenfalls zum Jubiläum pu- blizierten, gut lesbaren Bildmonographie erläutert*. „Papa“ Hemingway war einer der er- sten US-Schriftsteller, dem es gelang, sich und sein Werk medienwirksam in Szene zu setzen. Er rührte die Publicitytrommel so lange und erfolgreich, bis die Person

bekannter war als das Werk, und in den GIRAUD / SYGMA P. letzten Jahren seines Lebens versuchte Abenteurer Hemingway*: Erzählerische Kraft erlahmt? er krampfhaft nachzuleben, was er in früheren Jahren erlebt und beschrieben hatte. Bis heute reicht die Ausstrahlungskraft der Inszenierung: In Afrika, auf Kuba wird „Tränen sah ich bei ihm nie“ an den Stätten, die er geheiligt hat, Kult mit ihm getrieben. Und auf der US-Inselgrup- Ernest Hemingways Sohn Patrick über den Mythos pe Florida Keys, wo er Jahre gelebt hat, werden immer noch Wettbewerbe unter Hemingway, das Verhältnis des Schriftstellers zu den Frauen und Hemingway-Doppelgängern ausgetragen. das angeblich letzte Buch aus dem Nachlaß seines Vaters Am Ende hat er sich selbst nicht mehr ausgehalten. Gern wäre er aus einem Flug- SPIEGEL: Mr. Hemingway, was hat Sie dazu durchgesetzt, und ich hielt mich für die ge- zeug gesprungen oder wenigstens in einen gebracht, „Die Wahrheit im Morgenlicht“, eignete Person, die Glaubwürdigkeit und rotierenden Propeller gerannt (beides hat Ernest Hemingways unvollendete Auf- den Stil zu erhalten. Alle Worte sind Wor- er 1961 versucht), doch ihm blieb nur der zeichnung seiner zweiten Afrika-Safari, te Ernest Hemingways. Ich habe lediglich Schuß im Morgenlicht. Mary fand ihn mit jetzt als Buch zu veröffentlichen? gekürzt und mich dabei bemüht, den Cha- zertrümmertem Schädel. Hemingway: Irgendwann hätte irgend je- rakter des Ganzen zu bewahren. Manfred Dederichs, Volker Hage mand das Werk ohnehin bearbeitet, und SPIEGEL: Und natürlich ist es der reine der hätte vermutlich weder Afrika noch Zufall, daß das Werk pünktlich zum 100. meinen Vater gekannt. Gott sei Dank * Hans-Peter Rodenberg: „Ernest Hemingway“. Ro- wohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek; 160 Seiten; 12,90 haben die Deutschen eine Verlängerung * 1954 mit Gregorio Fuentes, dem Vorbild für den Hel- Mark. der internationalen Copyright-Schutzfrist den des Romans „Der alte Mann und das Meer“.

174 der spiegel 28/1999 Kultur

Geburtstag Ihres Vaters weltweit vermark- SPIEGEL: … von der es allerdings heißt, er Hemingway: Seine Mutter war sehr herrsch- tet wird? habe sie in Wahrheit schon in den Zwanzi- süchtig. Sie hat in der Ehe den Ton ange- Hemingway: Was heißt hier Zufall? So naiv gern geschrieben – das Manuskript sei nach geben. Mein Vater hat seine Mutter als bin ich auch wieder nicht.Aber in erster Li- der Befreiung von Paris 1944 in einem im Kind sehr geliebt. Später hat er sie für den nie hat mich nicht das Jubiläum interes- Hotel Ritz vergessenen Koffer wiederent- Tod seines Vaters verantwortlich gemacht. siert, sondern das Thema. Es erinnert mich deckt worden. Aber daraus den Schluß zu ziehen, wie es an „Die grünen Hügel Afrikas“. Hemingway: So stimmt das einfach nicht. Er Biographen versuchen, er habe Frauen nie SPIEGEL: „Die Wahrheit im Morgenlicht“ hat Notizen wiedergefunden, durch die er verstanden, ist einfach falsch: Er ist mit ist bereits das fünfte umfangreichere He- sich an diese Pariser Jahre erinnern konnte. vier Schwestern aufgewachsen, hat mit ih- mingway-Werk, das nach seinem Tod von Dieses Buch ist der Beweis, daß Heming- nen das Badezimmer geteilt. Wird man anderen vollendet wurde. Glauben Sie, daß way in seinen letzten Jahren durchaus fähig durch solche Nähe nicht klüger, was das Ihr Vater das wirklich wollte? war, Texte von hoher literarischer Qualität andere Geschlecht betrifft? Hemingway: Darüber kann man nur spe- zu schreiben – und widerlegt alle gegentei- SPIEGEL: War Ihr Vater tatsächlich so, wie er kulieren. Er hat die Manuskripte wegge- ligen Behauptungen gewisser Biographen. sich selbst gern darstellte – ein furchtloser legt, nicht weggeworfen.Vermutlich hat er SPIEGEL: Wie sehr hat Sie der Selbstmord Macho, der keiner Frau, keinem Stierkampf, nur vorübergehend das Interesse an Texten Ihres Vaters 1961 überrascht? keinem Kriegseinsatz aus dem Weg ging? wie „Inseln im Strom“ oder „Die Hemingway: So hat er sich nicht selbst Wahrheit im Morgenlicht“ verloren dargestellt, so ist er verstanden wor- und wollte zu einem späteren Zeit- den.Vergessen wir nicht: Er hat selbst punkt weiter daran arbeiten. als Journalist gearbeitet und hat ge- SPIEGEL: Bestreiten Sie, daß die Fami- wußt, unter welchem Druck die Kol- lie selbst gegen Ernest Hemingways legen stehen. Er hat ihnen deshalb erklärten Willen verstieß – etwa als viele schöne Geschichten voller Über- seine Witwe Mary rund 600 Briefe als treibungen erzählt, damit sie was zu Buch herausgeben ließ, obwohl ihr schreiben hatten. Aus diesen Storys Mann 1958 verfügt hatte, daß keiner und aus seinem Genie ist sein Image seiner Briefe je veröffentlicht werden geworden. Von den vier, fünf Biogra- sollte? phen, die sich ernsthaft an ihm ver- Hemingway: Das stimmt. Aber Mary sucht haben, das nur nebenbei, hat Hemingway befürchtete, daß die Kor- nur einer ihn persönlich gekannt. respondenz ohnehin eines Tages ver- SPIEGEL: Was halten Sie von der 1987 öffentlicht würde, ohne Kontrolle über erschienenen, in amerikanischen Re- das Wie und Wo. zensionen hoch gelobten Heming- SPIEGEL: Der amerikanische Heming- way-Biographie von Kenneth S. Lynn, way-Verleger Charles Scribner III hat einer eher psychoanalytischen Be- versprochen, nach der „Wahrheit im trachtung seines Lebens? Morgenlicht“ werde es keine weite- Hemingway: Lynn ist ein Scheißkerl. ren Hemingway-Bücher geben. Kann Ich kenne ihn seit meiner Studenten- er da absolut sicher sein? zeit. Das, was der über meinen Vater Hemingway: Völlig. Zumindest zu Leb- zusammendichtete, entspricht nicht zeiten der Hemingway-Söhne wird es der Wahrheit. keine weiteren Veröffentlichungen SPIEGEL: Was macht Sie so zornig? aus dem Nachlaß geben. Wir werden Daß Lynn behauptet, Ihr Vater habe es nicht zulassen. den Tod und den Verlust seiner Man-

SPIEGEL: Angeblich existieren noch ei- G. WILTSIE neskraft gefürchtet, unter Depressio- nige Kurzgeschichten und eine Viel- Hemingway-Sohn Patrick: „Papa war kein Engel“ nen gelitten und seine Kinder ver- zahl von Hemingway-Briefen. nachlässigt? Hemingway: Von Kurzgeschichten weiß ich Hemingway: In den letzten sieben Jahre sei- Hemingway: Ich bin 71 Jahre alt, und natür- nichts. Allerdings gibt es noch ein unvoll- nes Lebens habe ich ihn nicht gesehen, weil lich denkt man in diesem Alter über die endetes Manuskript, aus dem zwei Kapitel ich in Ostafrika lebte. Obwohl wir mitein- Manneskraft und den Tod nach. Was zum bereits in einem Buch veröffentlicht wor- ander telefonierten und korrespondierten, Teufel ist so unehrenhaft daran, wenn ein den sind, die Erzählung einer amerikani- habe ich seinen mentalen Verfall erst spät Schriftsteller über den Tod nachdenkt? Ich schen Zugreise. bemerkt. Selbstmörderische Unterneh- will meinen Vater nicht als Engel darstel- SPIEGEL: Die beiden Bücher, die ihn zu ei- mungen haben ihn im Leben und in seinen len, er hatte seine Fehler, klar.Aber das ist nem der großen Autoren unseres Jahrhun- Werken schon vorher beschäftigt, etwa in kein Grund, einen der besten Schriftsteller derts machten, „Fiesta“ und „In einem an- „Wem die Stunde schlägt“. Die Nachricht dieses Jahrhunderts zu demontieren. Für dern Land“, hat Hemingway in den Zwan- vom Tod meines Vaters hat mich natürlich seine Frau war er, das können Sie in „Die zigern geschrieben; 1952 veröffentlichte er schockiert – und die Umstände auch: Die Wahrheit im Morgenlicht“ nachlesen, zart den Welterfolg „Der alte Mann und das Ärzte hatten ihn für gesund erklärt und und sensibel – nur hat er das sorgfältig ver- Meer“. Von wann an hatte Ihr Vater das aus dem Krankenhaus entlassen, gegen die steckt. Er hat wenige Menschen wirklich an Gefühl, seine erzählerische Kraft erlahme? Bedenken seiner Frau Mary. Und doch hat- sich herangelassen. Ich habe in ihm immer Hemingway: Im Jahr vor seinem Tod, als er te mein Vater unter ihrer Obhut Zugang zu mein Vorbild gesehen. von Depressionen und Paranoia gezeichnet Waffen im Haus. Warum diese Sorglosig- SPIEGEL: Und doch dachten Sie darüber war und wegen seiner Psychose mit Elek- keit? Viele Fragen, keine Antworten. nach, den Namen Hemingway abzulegen, troschocks behandelt wurde, hat er wohl SPIEGEL: Auch Ernest Hemingways Vater um dem Übervater zu entkommen. nicht mehr schreiben können, aber „Paris hat sich umgebracht, und es heißt, Ihr Va- Hemingway: Das stimmt. Das war eine Pu- – ein Fest fürs Leben“ hat er fast zu Ende ter habe seiner Mutter zeitlebens vorge- bertätsdummheit. gebracht, es war wohl seine letzte wirklich worfen, sie habe den Vater in den Selbst- SPIEGEL: Ihr Vater war berüchtigt für seine große Arbeit … mord getrieben. Ausbrüche. Hat er sich seinen Kindern ge-

der spiegel 28/1999 175 SPIEGEL: Ihr Bruder Gregory mußte eben- falls behandelt werden. Hemingway: Ja, ich bin wohl zu seinem Vor- bild geworden. Ich weiß nicht, wie vielen Schocks er sich unterziehen mußte. Bei- nah war’s so, als sei er schocksüchtig ge- worden.War er wirklich krank? Wer weiß. SPIEGEL: Sie haben sich nach Afrika abge- setzt und sind Großwildjäger geworden, so wie Papa. Bruder Gregory wurde Arzt, wie Opa, den Papa bewunderte. Bruder John widmete sich dem Angeln – einer Leiden- schaft des Vaters. War dies ein Weg für die Kinder, seine Liebe zu gewinnen? Hemingway: Papa war einfach eine über- mächtige Person. Er verbreitete eine Aura

AP – das pralle Leben, Abenteuer, Herausfor- Vater Hemingway mit Söhnen Gregory, Patrick (1940)*: Für Ausbrüche berüchtigt derung. Er hatte keine Angst, zumindest zeigte er sie nicht und konnte die Furcht genüber jemals von seiner sanfteren Seite erklärte, er sei ein Schmutzfink und reini- unter Kontrolle halten, wie viele mutige gezeigt? ge seine Fingernägel nie. Diese Ehe war Menschen. Mut muß man lernen, und wer Hemingway: Ich habe bei ihm keine Tränen ein schrecklicher Fehler, obwohl wir Söh- es geschafft hat, verachtet diejenigen, die es gesehen. Rührung vielleicht, feuchte Au- ne Martha sehr geliebt haben. nicht schaffen. Ich selbst habe mich nach gen, so wie ich sie habe, wenn ich be- SPIEGEL: Ist es richtig, daß ein deutscher Afrika abgesetzt, weil ich die Weite such- stimmte Werke der klassischen Musik höre. Psychiater, ein Kommunist, Sie auf Kuba te – und weil dort im Busch kaum einer He- Er hat, das stimmt, unglaublich gereizt und geheilt hat? mingway kannte. eruptiv auf Aggressivität reagiert, sofort. Hemingway: Durch Elektroschocks, was SPIEGEL: Haben Sie Ihren Vater je gehaßt, Seine Reaktion war sehr amerikanisch. Er anderes ist denen damals nicht eingefal- wie es Ihr Bruder Gregory tat, der die Be- konnte sehr böse werden. Ich erinnere len. Dieser Deutsche war ein KP-Mitglied, erdigung des Vaters in Idaho mit Worten mich an eine Szene in Key West, Florida. der in Deutschland gegen Hitler Opposi- der Erleichterung kommentierte: „Mir Die Stadtverwaltung hatte sich entschlos- tion betrieben hatte, aber als Kommunist wurde bewußt: Er ist wirklich tot. Ich sen, neue Telefonmasten aufzustellen, und keine Einreisepapiere für die USA erhalten konnte ihn nicht mehr enttäuschen und schlug dafür, ohne Vorwarnung, die Bäume konnte. Als er die Behandlung übernahm, nicht mehr verletzen“? in unserer Straße ab. Sie hätten meinen ging es mir sehr schnell besser. Hemingway: Das sind harte Worte, aber Vater sehen sollen: Ums Haar hätte er den SPIEGEL: Und Ihr Vater saß im Zimmer ne- Gregory hatte zu meinem Vater eine be- Chef der Abholzertruppe verprügelt. benan und schrieb an einem Roman? sonders enge Beziehung. Er war wohl sein SPIEGEL: Hat Ihre Mutter, Pauline, die zwei- Hemingway: Ich denke, dazu ist er während Liebling. Gregory war klug, sah gut aus, nur te Ehefrau, ihm je verziehen, daß er sie der vier, fünf Monate kaum gekommen – ihre Beziehung war nicht einfach. Mein Va- wegen einer jüngeren Frau verlassen hat? er hat sich Sorgen um mich gemacht. ter ist wohl weniger nachsichtig und härter Hemingway: Das ist schwer zu beantworten. Grund dafür gab’s ja. mit ihm umgegangen als mit uns. Natürlich hat sie gelitten, zumal sie einige SPIEGEL: Treffen Sie sich regel- Jahre älter war als er. Meine Mutter hat nie mäßig mit Ihren beiden Brüdern? mehr geheiratet, das war die Tragödie und Hemingway: Ja, besonders zu John ein Fehler. So einen Mann, sagte sie, kann habe ich ein enges Verhältnis. Über man nicht ersetzen, einen Gleichwertigen die gemeinsame Firma „Heming- gibt es nicht. Ich gehe sogar weiter: Sie hat way Ltd.“ vermarkten wir das ihn bis ans Ende ihrer Tage geliebt. Image Ernest Hemingways, etwa SPIEGEL: Hat Ihr Vater zu seinen drei Ex- in der Werbung. Auch das Copy- frauen überhaupt Kontakt gehalten? right ist jetzt weitgehend in un- Hemingway: Vor allem zu meiner Mutter. serem Besitz. Das hat uns mehr Als ich über einige Monate in geistiger Ver- als eine halbe Million Dollar an wirrung lebte und mit Elektroschocks be- Anwaltsgebühren gekostet. Der handelt wurde, hat sie mich in seinem Haus Kampf war hart. auf Kuba während meiner Krankheitspha- SPIEGEL: Auch gegen Ernests Witwe se mehrfach besucht. Für Mary, meine letz- Mary? te Stiefmutter, muß das schwer gewesen Hemingway: Nicht nur gegen sie – sein, aber sie hat großes Verständnis ge- auch gegen die von ihr gegründe- zeigt. Vergessen wir nicht: Mein Vater hat te Stiftung, der sie so manches ver- oft darüber geschrieben, wie ein Mann macht hat. In den letzten Jahren zwei Frauen zugleich liebt. Martha Gell- ihres Lebens war sie offenbar nicht horn, seine dritte Frau, die im letzten Jahr immer ganz klar im Kopf. gestorben ist, kam selbst zu seiner Beerdi- SPIEGEL: Haben Sie jemals davon gung nicht. Martha hat seinen Namen nie geträumt, Ihrem Vater literarisch mehr in den Mund genommen, sie hat ihn nachzueifern? aus ihrem Leben getilgt – aber ist vorher Hemingway: Nein, nie. Ich wollte noch öffentlich über ihn hergefallen. Sie immer Maler werden. Am Ende bin ich Großwildjäger geworden –

* Mit dem Filmregisseur Mervyn Leroy (r.) und dessen AKG zur Freude meines Vaters. Frau Doris. Ehemann Hemingway, Mary (1946): Waffen im Haus Interview: Helmut Sorge

176 der spiegel 28/1999 Werbeseite

Werbeseite Kultur

für den Handel mit Übersetzungsrechten verantwortlich ist. „Aber es ist äußerst schwierig, einen jungen deutschen Erzähler nach Amerika zu bringen.“ Suhrkamp ist mit rund 350 weltweit ver- kauften Auslandslizenzen im Jahr deut- scher Marktführer im Übersetzungsge- schäft.Während jedoch der Handel mit Li- zenzen nach Tschechien und Taiwan blüht, hat das Verlagshaus in den vergangenen vier Jahren bloß drei Übersetzungsrechte junger deutscher Romanautoren nach Amerika vermittelt – alle drei Werke han- deln von NS-Themen. „Könnt ihr euch nicht mal für was an- deres interessieren?“, beschwerte sich Suhrkamp-Verlagsleiter Christoph Buch- wald, 47, jetzt bei den Amerikanern. „Na- zis verkaufen sich immer“, erwiderten die und ergänzten ungerührt: „Hitler funktio- niert fast so gut wie Jesus Christus.“ Jedes siebte Buch, das in Deutschland

T. EVERKE T. erhältlich ist, wurde im Ausland geschrie- New Yorker Buchhandlung: „Nazis verkaufen sich immer“ ben, mehr als ein Drittel davon in den USA. Dagegen stammten von jenen Titeln, über hierzulande geläufige Traditionen die in den USA 1994 gelesen wurden, bloß BUCHMARKT kann ins Schlamassel führen, ganz zu 0,8 Prozent aus einem anderen Sprach- schweigen vom unterschiedlichen Litera- raum, und der deutsche Anteil daran ist Hitler und Heidi turgeschmack in Deutschland und Ame- auch noch verschwindend gering. Ein rika. Kürzlich haben deutsche Verlage schweres Hindernis für die Deutschen ist Nach dem US-Erfolg des Romans eine Offensive gewagt, die daran einiges die schrumpfende Zahl deutschkundiger „Der Vorleser“ wollen deutsche ändern soll. US-Lektoren: „Die Emigranten sterben Nach dem überraschenden und ziemlich langsam“, sagt Bärbel Becker von der In- Verlage mehr heimische Autoren singulären Bestseller-Erfolg von Bernhard ternationalen Abteilung der Frankfurter in Amerika etablieren – Schlinks Roman „Der Vorleser“, der in den Buchmesse, „und die Deutsch-Studiengän- und werden diplomatisch aktiv. USA bald eine Millionenauflage erreicht, ge an den amerikanischen Universitäten wollen die hiesigen Verlage das anschei- werden immer seltener wahrgenommen.“ rogrammchef Wolfgang Ferchl ringt nend neu erwachte Interesse der Ameri- Die Leiterin des New Yorker GBO, An- nach Worten: „Wir könnten Ihnen kaner an deutschsprachigen Erzählern drea Heyde, 32, will nun zunächst einen Pda einen wirklich großen Erzähler auch für den Export anderer Titel nutzen. Computerkatalog mit möglichen Titeln für bieten“, schwärmt er seinen amerikani- Schon im vergangenen Jahr eröffnete den US-Markt erarbeiten. „Da werden ein schen Kollegen vor, „einen neuen E.T.A. daher der Börsenverein des deutschen paar ausgewählte Titel vorkommen“, sagt Hoffmann.“ Doch die fünf US-Lektoren Buchhandels in Zusammenarbeit mit dem Heyde, „mit kurzen Exzerpten.“ Wichtig in Ferchls Frankfurter Büro, eigens aus Goethe-Institut ein „German Book Of- sei vor allem der persönliche Kontakt mit New York angereist, um neue deutsche Li- fice“ (GBO) in New York.Vorletzte Woche den US-Lektoren: „Du mußt reden, reden, teratur in Augenschein zu nehmen, mu- kamen nun, organisiert vom GBO, fünf reden.“ stern den Kollegen vom Eichborn Verlag New Yorker Lektoren in die Bundesrepu- Die zierliche Blonde mit leicht säch- verständnislos: „E.T.A. Hoffmann – wer ist blik, darunter Vertreter bekannter Verlage selndem Akzent, die den Börsenverein in denn das?“ wie Saint Martins’ Press, WW Norton und New York vertritt, stammt aus Meißen. Der Held des Erzählers sei ein Kuh- Farrar, Straus & Giroux. Bald nach der DDR-Wende war Heyde mit hirte, der viele Geschichten auf Lager Bei zahlreichen Gesprächen in Ver- ihrem Mann, einem Geologen, in den lang- habe, erläutert Ferchl, 43, schon ein wenig lagshäusern wie Suhrkamp, Piper oder weiligen amerikanischen Mittelwesten handfester: Ein alpenländischer Märchen- der Frankfurter Verlagsanstalt versuchten gegangen. Um Geld zu verdienen, starte- erzähler stehe im Mittelpunkt des Romans Deutsche und Amerikaner, ihre jeweiligen te die Germanistin dort als sogenannter „Quatemberkinder und wie das Vreneli Buchinteressen zu erkunden. Die ent- Scout. In der tiefsten Provinz suchte sie die Gletscher brünnen machte“ von Tim scheidende Frage nach den Kriterien der nach interessanten Manuskripten und Au- Krohn, der vergangenen Herbst erschien. Amerikaner beim Ankauf eines Manu- toren und besorgte Buchkunden für die Endlich wissen die Amerikaner Be- skripts fand regelmäßig die verblüffend amerikanische Buchhandelskette Barnes scheid: „Den sollten Sie vielleicht lieber einfache Antwort: „Daß es uns gefällt und & Nobles. Bald wechselte sie in eine New einen Großneffen von Heidi nennen“, daß es sich verkauft.“ Yorker Scout-Agentur, Ende letzten Jah- schlägt ein US-Kollege vor, er hält das für Bislang war zeitgenössische deutsch- res übernahm sie das GBO. den besseren Marketing-Begriff, denn „die sprachige Literatur in Amerika nur aus- In diesem Book-Office ist sie eine Ein- Brüder Grimm sind bei uns durchaus noch nahmsweise gut absetzbar, so im Falle von zelkämpferin. Hingegen arbeiten in ei- bekannt“. Daß das Alpenmädel „Heidi“ Patrick Süskinds Roman „Das Parfüm“. nem ähnlichen Büro der französischen von einer gewissen Johanna Spyri stammt „Es ist ganz einfach, das Gesamtwerk von Verlage, das seit 15 Jahren besteht, vier – „who is that?“ Jürgen Habermas, 24 Bände, nach China zu Leute. Immerhin gelang es den Franzosen Was Ferchl Anfang Juli widerfuhr, ist ty- verkaufen, Thomas Bernhard in Bulgarien im letzten Jahr, 70 Lizenzen zu vermitteln. pisch für deutsch-amerikanische Literatur- oder Hermann Hesse in Polen zu plazie- Da können die Deutschen bislang nur dialoge. Schon die simple Verständigung ren“, sagt Petra Hardt, die bei Suhrkamp neidisch staunen. ™

178 der spiegel 28/1999 Werbeseite

Werbeseite gestrichen wurde. Enttäuscht AUSSTELLUNGEN sprang er ab. „Weil Liedtke aber ein irrer und toller Typ Irrer Typ und selbst ein Kunstwerk“ sei, habe er sich als Berater ein- In Essen eröffnete der Außenseiter spannen lassen. Nur: „Viel zu beraten“, gesteht er, „hatte ich Dieter Walter Liedtke seine nicht.“ kuriose Weltkunstschau „art open“ Liedtke kümmerte sich – und trotzt damit den düsteren selbst um alles. Und wurde im- Prophezeiungen der Fachwelt. mer geheimniskrämerischer. Das wiederum ärgerte die achte hebt die klobige Straßenwalze Stadtoberen. Sie gaben sich pi- ab. Geräuschlos kreist sie, an Stahl- kiert und wollten nicht einmal Sseilen befestigt, durch die Halle. Das den Ausstellungstermin in Flugobjekt von US-Künstler Chris Burden ihrem Veranstaltungskalender ist das größtformatige Werk einer groß- drucken: „Wir kündigen nichts spurigen Ausstellung – der selbsternann- an“, beharrt Oberstadtdirektor ten Weltkunstschau „art open“, die am Hermann Hartwich, „wenn wir Wochenende in Essen eröffnet wurde. keine Inhalte kennen.“ Das Spektakel im spröden Ambiente der Zu schaffen machte Liedtke Messehallen protzt als kurioser Rundum- auch die Häme der heimischen schlag durch die Menschheits- und Kunst- Kunstszene. Georg Költzsch,

geschichte – mit Mut zur Lücke: So reihen N. ENKER FOTOS: Leiter des Folkwang-Museums, sich frisch nachgegossene Schädelfrag- Burden-Objekt, Liedtke: Unverdrossen konfus zweifelte via TV am Gelingen mente urzeitlicher Skelette an zweiköpfi- des unkonventionellen Pro- ge Voodoo-Puppen und russische Ikonen. jekts. Er glaube nicht, frotzelte Nicht weit hängen Bilder von Rubens und er, daß Liedtke erstklassige Picasso. Sonderschauen sind dem Ver- Kunst nach Essen bringe. packungsspezialisten Christo, Beuys und Angesichts solchen Spotts Nachwuchskünstlern aus dem Ruhrgebiet wurden Sponsoren und Leih- gewidmet. Der ADAC stellte eine Kunst- geber skeptisch. Einige spran- schau namens „Mobilität“ zusammen. gen ab. Statt mit erhofften 30 Ein flohmarktbuntes Sortiment, das auch Millionen Mark muß das Team musikalisch aufgeschäumt wird. Dirigent mit knapp 10 Millionen Mark Justus Frantz soll mit der Philharmonie der Unterstützung auskommen. Nationen aufspielen. Das Bremer Musical Einen Großteil der Expona- „Jekyll & Hyde“ reist an, zwischendurch te hat Liedtke aus Osteuropa trällern Folklore-Ensembles. importiert – allein 70 Bilder Inszeniert wurde dieser – bis zum 8.Au- Gemälde aus St. Petersburg: Skeptische Leihgeber vom Staatlichen Russischen gust geöffnete – Kunstzirkus von Dieter Museum in St. Petersburg. Ne- Walter Liedtke, 55. Der Maler, Autor und glaubt der Meister entdeckt zu haben, ben Stars wie Malewitsch finden sich vie- Erfinder von Selbsthaarschneidern und schlage sich auf die Gene nieder. le hierzulande unpopuläre Namen. Im- „audiovisuellem Marketing“ (SPIEGEL Als Schirmherren für das wundersame merhin gaben auch die Kunstsammlungen 34/1998) begann seine schillernde Karriere didaktische Unterfangen, für das Liedtke zu Weimar, das Kunstmuseum Bonn, das mit einer Lehre zum Elektromechaniker. auch ein eigenes Musical erfunden hat, Landesmuseum Darmstadt und das Muse- Als Künstler ist der gebürtige Essener, der treten so illustre Prominente wie Ex- um Würth Exponate ab. Szeemann und der auf Mallorca residiert und dort ein eigenes Arbeitsminister Norbert Blüm, Ex-Staats- Kunsthistoriker Karl Ruhrberg legten wohl Museum unterhält, ein unbekannter Auto- chef Michail Gorbatschow und die spani- auch bei Privatsammlern gute Worte ein. didakt. Aber einer mit Ambitionen. sche Königin Sofía auf. Bemerkenswerter Weil aber Lücken blieben, brachte Liedtke So hat er die Kunstformel „Leben + Be- ist, daß die Veranstaltung überhaupt ange- einfach eigene Werke mit. wußtseinserweiterung = Kunst“ kreiert. laufen ist. Bis zuletzt hielten sich Gerüch- „Ganz nebenbei“, sagt er, habe er in Und in Essen will er das Bewußtsein te, das Vorhaben stünde vorm Aus. seiner Heimatstadt einen Krimi durchlebt. der Massen – Liedtke rechnet mit „einer Kein Wunder. So wurden diverse Künst- An ihn adressierte Briefe kamen nicht Million Besuchern plus XXL“ – erleuch- ler wie Eros Ramazzotti angekündigt – mit an, andere waren aufgerissen. Schließlich ten. Schilder mit rekordknappen Schlag- denen dann „irgendwie“ doch keine Ver- sei in sein Büro eingebrochen worden. Ge- worten sollen staunende Laien lehren, was träge zustande kamen. Schließlich, wiegelt klaut wurden Computer mit Ausstellungs- berühmte Künstler an Neuem schufen: Ne- der Ausstellungsmacher munter ab, be- daten. Für Liedtke waren das „zu viele ben einem Bild des Manieristen El Greco deute „art open“ auch, daß bis zum Schluß Zufälle“. klebt die Tafel „Verlängerung der Körper- alles offenbleibe – in diesem Sinne verwarf Dabei, weiß er, ist er der einzige, der proportionen“, neben Kandinsky „Anfän- er auch die Idee, unter dem Motto „Vi- ein Risiko eingeht. Seit fünf Jahren arbei- ge der Abstraktion“. sions-Skulptur“ Kinder fürs nächste Jahr- tet er an seinem „Traum“. Öffentliche Gel- Solche „innovativen Erfindungen“, will tausend zeugen zu lassen. der will er nicht – Eintritt auch nicht. Er Liedtke wissen, seien das einzige Geheim- Doch mit solch konfuser Änderungswut möchte die Kunst – „als Hommage an nis großer Kunst. Hätten die Laien diese vergrämte er renommierte Partner. Harald Beuys“ – vielen Menschen nahebringen. „Kunstsprache“ verstanden, können sie Szeemann, künstlerischer Chef der dies- Auch Beuys habe seine Kunstformel zu hernach in einem Kreativstudio selbst zur jährigen Biennale in Venedig, sollte einen schätzen gewußt. Schon 1982 habe der ihn künstlerischen Tat schreiten. Und damit et- Teil der Schau organisieren. Bis er hörte, gelobt: „Junge, du bist auf dem richtigen was für ihr Erbgut tun. Jede Erkenntnis, daß die für ihn reservierte Filmabteilung Weg.“ Ulrike Knöfel

180 der spiegel 28/1999 Werbeseite

Werbeseite wird er wärmer, ist Som- mer. Im Bundestag, einem „riesigen Motel“, warten Journalisten, „träge vom Trinken, schamlos auf das Stimulans einer neuen politischen Katastrophe“. Und die Wahl Bonns als „Wartesaal für Berlin“ sei eine „Ungereimtheit“, ein „Mißbrauch“. Es waren politisch bri- sante Jahre, 1960 bis 1963, die le Carré in Bonn ver- brachte: Kuba-Krise, Berli- ner Mauer, Rangeln um den Gemeinsamen Markt, Not- standsgesetz-Entwürfe, Be- ginn der Auschwitz-Prozes- se, Adenauers Rücktritt. Die intime Kenntnis der Szene, sein Job, alarmier- ten in ihm Ängste: Der Bonn-Thriller wurde zu ei- ner Orwellschen „1984“- Vision über die Bundesre- A. ZELCK T. ERNSTING / BILDERBERG T. publik. Schriftsteller le Carré in der britischen Botschaft, Bonner Innenstadt: „Stadt auf dem Balkan“ Er spielt, Mitte der sech- ziger Jahre geschrieben, in nossen, mit anderen Menschen zusam- „naher Zukunft“, ums Jahr 1970, und AUTOREN menzuarbeiten“, und von hier aus war er statt ’68 dräut ein neues ’33. Ein rechts- „in die Einsamkeit des Schriftstellers ge- radikaler Führer marschiert nach Bonn, Goodbye, schritten“. ein ehemaliger NS-Giftgas-Experte. Na- Das Wiedersehen war ein Abschied. tionalbolschewistische Studenten, „pa- Denn auch die Britische Botschaft kehrt triotische Mittelstandsanarchisten“ folgen Wartesaal Bonn den Rücken und zieht nach Berlin; ihm, Bundesregierung wie Britische Bot- neuer Besitzer ihres trostlosen Fünfziger- schaft kungeln mit den aggressiven Hor- Die Britische Botschaft verläßt Jahre-Gemäuers wird die Telekom. Sir Paul den. „Gott sei Dank“, sagt le Carré heu- Lever, Chef der Botschaft, hatte zu einer te, „sprang die Katze in eine ganz andere Bonn. Zum Abschied erschien ihr „Goodbye“-Party geladen, „Semmel’s Hot Richtung.“ „berühmtester ehemaliger Shots“ jazzten nostalgischen Dixieland; Er sagt es in klassischem Thomas-Mann- Mitarbeiter“, der Ex-Spion und und am Abend dann, in der Bad Godes- Deutsch; schon als Junge, erzählt er, habe Thriller-Autor John le Carré. berger Residenz des Chefs, blickte ein er- er „die deutsche Muse umarmt“. Deutsch- lesener Zirkel zu Mosel melancholisch auf land schien ihm, als er seine „Kleine Stadt“ enn sie die Rhein-Fähre nach den Rhein. schrieb, eine „Scheindemokratie“; die Leu- Bonn benutzten, der alte Deut- Nostalgie – und Pikanterie. Denn der te, die die Welt zerstörten, seien nicht jene Wsche und der junge Engländer, „berühmteste ehemalige Mitarbeiter der mit den „großen Ideen“, sondern die „Mit- winkten sie sich stets launig zu. Das war Botschaft“, wie Sir Paul den ehemaligen läufer, die den Kopf nicht heben“. Mögli- Anfang der sechziger Jahre, der Alte hieß Spion le Carré feierte, hatte nach Dienst- cherweise kann er bald „Eine große Stadt Adenauer und fuhr ins Kanzleramt und schluß den berühmtesten Bonn-Thriller ge- in Deutschland“ schreiben. der Engländer, David Cornwell, in die Bri- schrieben: „Eine kleine Stadt in Deutsch- Le Carré, der glänzende Entertainer tische Botschaft. land“, 1968 erschienen. Und das war eine mit der scheuen Seele, wird immer jener Dort stand er, als „Zweiter Sekretär“, im verheerende Bilanz, über die Botschaft, Kapitän Marlow bleiben, der in Joseph diplomatischen Dienst. Insgeheim aber über Bonn und über die ganze Bundesre- Conrads Meisternovelle „Herz der Fin- diente er MI 5 und MI 6, dem britischen publik. sternis“ den Kongo hinaufdampft, um ei- Geheimdienst. Aus dem unbekannten Das Botschaftsgebäude, schrieb er, sei nem mörderischen Mabuse auf die Spur Cornwell wurde bald darauf der welt- der „stillose Gebäudeblock einer Fabrik“, zu kommen. Für seinen neuen Roman, den berühmte John le Carré, Autor des Kalte- mit einem „steinernen Gesicht“ für den 18., bereiste er gerade Afrika, Thema: Skla- Krieg-Thrillers vom „Spion, der aus der „früheren Feind“ und einem „grauen Lä- venhandel im Sudan. Und danach schreibt Kälte kam“. Und als eine englische Zei- cheln“ für den „gegenwärtigen Verbünde- er – „Es ist meine beste Zeit, ich fühle es“ tung das Pseudonym gelüftet hatte, quit- ten“. Das Personal der Botschaft selbst – seine Autobiographie. tierte John le Carré, notgedrungen, den bot die Enzyklopädie des britischen Klas- Und von seinem Rhein-Gefährten Ade- Dienst. sensystems, intrigant, inkompetent, un- nauer gibt Ex-Spion le Carré schließlich Vergangenen Montag stand John le erfreulich. doch ein Geheimnis preis. Beim Bruder- Carré, 67, wieder in seinem damaligen Bot- Bonn, so schrieb er, gleiche einer „Stadt kuß mit General de Gaulle, bei der Un- schaftsbüro und durchstreifte die vertrau- auf dem Balkan, schmutzig und geheim- terzeichnung des deutsch-französischen ten kargen Flure. Er verspürte, nach 36 nisvoll“, einem „dunklen Haus, in dem je- Freundschaftsvertrages in Paris 1963, schloß Jahren, eine „tiefe Nostalgie“: Hier hatte mand gestorben war“. Wird der „Nebel Adenauer die Augen und „blew a kiss“ – er, zum letzten Male, das „Vergnügen ge- etwas kälter“, heißt die Jahreszeit Winter, er küßte nur den Wind. Fritz Rumler

182 der spiegel 28/1999 Kultur

Viktor zum Beispiel, der arbeitslose Dichter, wird von einem geheimnisvollen LITERATUR Chefredakteur angeheuert, um Nachrufe zu schreiben. Ihm macht die Arbeit Spaß. Er wird gut bezahlt, und die Kurzform liegt Schwarzweißer Trauergast ihm. Allerdings: Diejenigen, denen er da Kränze flicht, sind alle noch quicklebendig. In seinem grotesken Roman „Picknick auf dem Eis“ Wer aber schreibt, möchte gern ver- öffentlicht werden. Wie soll das gehen? nimmt der in der Ukraine lebende Russe Andrej Kurkow die Sein Auftraggeber beruhigt ihn: „Du postsowjetische Mafia-Gesellschaft aufs Korn. schreibst einfach für die Schublade, wie viele Schriftsteller in der m Anfang war der Pinguin. Ausge- Also Mischa. Viktor liebt ihn nicht gerade, guten alten Sowjetzeit. rechnet ihn hat sich Viktor aus- aber er fühlt sich verantwortlich, und im Aber mit dem Unter- Agesucht, als der örtliche Zoo be- Laufe der Zeit wächst tatsächlich so etwas schied, daß man deine gann, seine Tiere zu verschenken, weil er wie eine leise Zuneigung. Texte früher oder später sie nicht mehr ernähren konnte. Der Pin- Pinguin Mischa ist nur eine Nebenfigur. auf jeden Fall drucken guin frißt gefrorenen Fisch, steht mei- Aber was für eine! Er watschelt durch die- wird … Das kann ich dir stens hinterm Sofa und starrt auf die sen unwiderstehlich komischen und span- garantieren.“ Wand. Er ist depressiv. Manchmal legt er nenden Roman über die postkommunisti- Tatsächlich wird das seinen Kopf auf Viktors Knie. Manchmal sche Mafia-Gesellschaft Kiews, ein stum- Problem stets auf ge- geht Viktor mit ihm spazieren, nachts, ein- mer, melancholischer Zeuge des ganz all- heimnisvolle und meist mal um den Neubaublock. Er nennt ihn täglichen Irrsinns, den Andrej Kurkow in gewalttätige Weise schnell Mischa. „Picknick auf dem Eis“ schnörkellos und gelöst – sobald Viktor je- Viktor hat sich Mischa zugelegt, weil er leicht und mühelos ausbreitet: ein Krimi manden literarisch beer- das Alleinleben satt hatte. Mit Frauen hat und eine Familiengeschichte, ein Buch über digt und das Manuskript abgeliefert hat, der junge Schriftsteller kein Glück. Sie sind rätselhafte Tode, verunglückte Liebesge- stirbt der auch in Wirklichkeit. Viktors Ei- ihm unheimlich, „wie Phantome“ mal hier, schichten, unerwartete Casino-Gewinne telkeit wird befriedigt, und die Zweifel dar- mal da. Und Hunde? Machen zuviel Lärm. und gelassene Abschiede**. über, ob der Preis nicht zu hoch ist, werden Mittlerweile tapert der mit dem Hinweis zerstreut, daß schließlich schwarzweiße Polarvogel jeder mal sterben müsse.Viktor hat gelernt: unaufhaltsam und mit über- Auch in den neuen Zeiten ist es ratsam, raschendem Erfolg in die sich nur um seine eigenen Angelegenheiten deutschen Leseregale. Als zu kümmern. Diogenes-Verleger Daniel In knappen Strichen zeichnet Kurkow Keel die ersten Seiten die- die abenteuerlichsten Schicksale dieses ses, wie es so schön heißt, Mörderalltags, und die Pointen setzt er ne- „unverlangt eingesandten benbei. Da ist der Revierpolizist, der sich Manuskripts“ gelesen hatte, Fischbein nennt, aber eigentlich Stepanen- wußte er: Aus dem Strom ko heißt. Er hatte sich auf dem Papier zum betippten Papiers hoff- Juden gemacht, weil er emigrieren wollte. nungsvoller Autoren, der da „Dann habe ich erfahren, wie die Emi- wöchentlich durch die Ver- granten im Ausland leben“, vertraut er Vik- lage fließt, hatte er einen ka- tor bei einem Abendessen an. Nämlich mi- pitalen Fang gefischt. Nun serabel. „So habe ich beschlossen, hier zu wird über die Filmrech- bleiben, und um als Jude nicht unbewaff- te verhandelt. Und Keel net rumzulaufen, bin ich zur Polizei ge- schwärmt: „So kraftvoll, so gangen.“ So wird, in einem Nebensatz, lebendig, so komisch hat sich vom Antisemitismus erzählt, vom Wirt- lange kein russischer Autor schaftselend, von der Korruption und vom zu Wort gemeldet – und listigen Kampf ums Überleben. der Pinguin funktioniert Viktor, der Einzelgänger, wird Vater: Ei- tatsächlich.“ nes Tages steht sein Bekannter Mischa mit Der ist ein genialer Er- seiner Tochter Sonja vor der Tür. Um ihn zähltrick – und wer erst ein- von dem anderen Mischa, dem Pinguin, zu mal einen Pinguin als Ro- unterscheiden, heißt dieser Bekannte, na manfigur akzeptiert hat, logisch, Mischa-Nicht-Pinguin. Nur für ein nimmt alle anderen haar- paar Tage, so beschwört der Viktor, solle sträubenden Ereignisse die- seine Tochter bei ihm wohnen.Aus den Ta- ser zerfallenden Gesellschaft gen werden Wochen und Monate, bis Vik- als das in Kauf, was sie dort tor von Mischa-Nicht-Pinguins Ableben er- sind: als Selbstverständlich- fährt: Auch er gehörte jener geheimnisvol- keiten. len Gesellschaft von Geheimpolizisten an, die sich der „Säuberung des gesellschaftli- * Vor der St.-Michaels-Kathedrale in chen Lebens“ verschrieben hat – und da- Kiew. mit der Aufgabe, all diejenigen, die ihre ** Andrej Kurkow: „Picknick auf dem Geschäfte stören, zu liquidieren. Eis“.Aus dem Russischen von Christa

AFP / DPA Vogel. Diogenes Verlag, Zürich; 288 All das ist mit nahezu unbewegtem, trau- Autor Kurkow*: Komische Storys aus dem Mörderalltag Seiten; 34,90 Mark. rigem Pinguinblick gesehen, behutsam be-

der spiegel 28/1999 183 Kultur schrieben, leise wie der stets fallende In den alten Zeiten hatte Kurkow davon Schnee und damit um so eindringlicher. Ja, geträumt, als Diplomat im Ausland zu die lebensgefährlichen Turbulenzen finden arbeiten, und Sprachen studiert. Mit der an der Peripherie dieses Blicks statt, am Diplomatenkarriere wurde es nichts. Dafür äußeren Rande des Erzählstroms. Wenn beherrscht er heute elf Sprachen, unter etwa Viktor samt Sonja und Pinguin in ei- anderem Japanisch. Er schreibt auf rus- ner Datscha am Stadtrand untertauchen sisch, gelegentlich englisch und ukrainisch. muß, weil er umgebracht werden soll, gibt Sein Deutsch ist von jener schnellen, rol- es ein viel ernsteres Problem zu lösen: Wie richtet man unter konspirativen Bedin- gungen die Silvesterfeier für ein an- Bestseller spruchsvolles Mädchen aus, das Väterchen Frosts Geschenke unter dem geschmückten Belletristik Baum erwartet? 1 (1) John Irving Witwe für ein Jahr Es ist ein altkluges Mädchen, etwa so groß wie der Pinguin, das vom Papa mit ei- Diogenes; 49,90 Mark nem Sack voller Dollarscheine zurückge- lassen wurde.Alle sind auf ihre Art Waisen, 2 (2) Henning Mankell Die falsche Vertriebene, Alleingelassene in dieser Ge- Fährte Zsolnay; 45 Mark schichte, in der im übrigen Landeswährung nicht existiert – Dollars sind das Zah- 3 (3) Henning Mankell Die fünfte Frau lungsmittel, für Viktors Artikel ebenso wie Zsolnay; 39,80 Mark für Pinguin Mischa, den die Mafia als Trau- ergast für ihre Begräbnisse anmietet. Einen Arztbesuch gibt es ebenso aus- 4 (4) John Grisham Der Verrat schließlich gegen Dollars wie eine Beerdi- Hoffmann und Campe; 44,90 Mark gung oder ein Ticket an die Antarktis. Und 1 dennoch hat man nie den Eindruck, daß sie 5 (5) Walter Moers Die 13 /2 Leben des für den stoischen Viktor mehr bedeuten Käpt’n Blaubär Eichborn; 49,80 Mark als schlecht bedrucktes Papier. Kurkow zeigt in seiner Geschichte, die 6 (6) Marianne Fredriksson Simon mit zwingender und haarsträubender Lo- W. Krüger; 39,80 Mark gik auf ein magisches, aberwitziges Finale zuläuft, wie unaufwendig er von den ganz 7 (7) Maeve Binchy Ein Haus in Irland großen Themen erzählen kann – von Lie- be und Tod und von der großen Sehnsucht Droemer; 39,90 Mark nach dem ganz anderen Leben. In einigen Passagen wirkt Kurkows 8 (8) John le Carré Single & Single Buch, als verneige sich der Autor vor den Kiepenheuer & Witsch; 45 Mark großen Phantasten und Satirikern der rus- sischen Literatur; wenn er die graue Vor- 9 (9) Minette Walters Wellenbrecher stadtwirklichkeit mit magischen Ver- Goldmann; 44,90 Mark rückungen zum Tanzen bringt, zwinkert er vergnügt Meister Bulgakow zu. Doch der 10 (10) P. D. James Was gut und 38jährige hat eine eigene, kraftvolle Stim- böse ist Droemer; 39,90 Mark me. In seiner Jugend, sagt er, habe er Bul- gakow verehrt. „Später hielt ich ihn für 11 (11) Tom Clancy Operation Rainbow ein wenig überschätzt.“ Andrej Kurkow gehört zu jenen jünge- Heyne; 49,80 Mark ren osteuropäischen Erzählern, die beide Welten erlebt haben – die kommunistische 12 (13) Paulo Coelho Der Alchimist wie die kapitalistische – und sich von kei- Diogenes; 32 Mark ner der beiden besonders beeindrucken, gar einschüchtern ließen. 13 (12) Donna Leon Sanft entschlafen In den alten Zeiten verlegte er seine Texte im Samisdat. Doch auch die Spielre- Diogenes; 39 Mark geln der neuen Zeit verstand er auf An- 14 (14) David Guterson Östlich der hieb: Für seinen zweiten Roman, eine hin- tergründige Abrechnung mit der Stalin- Berge Berlin; 39,80 Mark Zeit, pumpte er sich 25000 Dollar zusam- men, organisierte Druck und Vertrieb.Auch 15 (–) Terry Brooks die Vermarktung nahm er in die eigene Star Wars – Episode 1: Hand: Er plakatierte Kiews Busse mit Wer- Die dunkle Bedrohung bung für sein Werk, den „Bestseller, über den alle reden“, und das, bevor auch nur Blanvalet; 29,90 Mark ein einziges Buch verkauft war. Einige Dramatische Wochen später konnte er seinen Freun- Begegnungen in einer den das Darlehen samt Zinsen zurück- fernen Galaxie zahlen.

184 der spiegel 28/1999 lenden Art, das grammatisch nicht viel Fe- seinen Militärdienst als Gefängniswärter derlesens macht, aber voller Lust auf die in Odessa, und er nutzte die Zeit, um farbige Wendung ist – einer wie Kurkow fünf Kinderbücher zu schreiben. Danach sucht sich das Beste aus allen Welten zu- gab er eine Ingenieurszeitschrift heraus – sammen. das Zeitungsmilieu in „Picknick auf dem Seine Biographie besteht aus zielstre- Eis“ ist von einem tatsächlichen Ken- bigen Umwegen. Kurkow, geboren in Le- ner ohne Affigkeiten und Klischees erfaßt. ningrad, aufgewachsen in Kiew, leistete Seinen Unterhalt verdiente er auch da- nach mit Journalismus, ließ sich aber Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich gleichzeitig in den renommierten Dow- ermittelt vom Fachmagazin „Buchreport“ schenko-Filmstudios zum Kameramann ausbilden. Sachbücher Heute ist Kurkow einer der wenigen Au- 1 (1) Waris Dirie Wüstenblume toren aus der Ukraine, die sich wirklich durchgesetzt haben. Einen organisierten Schneekluth; 39,80 Mark Buchmarkt gibt es in der Ukraine so gut wie nicht. „Die Leute lesen allenfalls Kri- 2 (2) Sigrid Damm Christiane und mis oder Ratgeber-Bücher“, sagt er. „Von Goethe Insel; 49,80 Mark den Buchläden der Sowjetzeit hat nur ein 3 (3) Corinne Hofmann Zehntel überlebt.“ Doch Kurkow ist keiner, der darüber Die weiße Massai jammern würde. Im Gegenteil. Hindernis- A1; 39,80 Mark se spornen ihn an. „Manche meiner Kolle- gen denken immer noch, der Staat sei dazu da, sie zu verlegen und zu bezahlen, und Die Liebe einer ihr Job sei es, nur dazusitzen und zu dich- Schweizerin zu einem Massai-Krieger ten.“ Er sieht das anders: Bis heute sind 17 Kurkow-Drehbücher verfilmt. Das Skript für den 1997 in Cannes vorgestellten Film „Ein Freund des Verblichenen“ wurde mit einer Nominierung für den europäischen 4 (4) Klaus Bednarz Filmpreis Felix bedacht. Ballade vom Baikalsee Auch seinen Auslandsstart überließ er Europa; 39,80 Mark nicht dem Zufall – er besorgte selber eine englische Kurzfassung seines Romans so- 5 (5) Tahar Ben Jelloun Papa, was ist ein wie Leseproben und verschickte sie an 15 Fremder? Rowohlt Berlin; 29,80 Mark Verlage. Der Schweizer Diogenes-Verlag reagierte am schnellsten, faxte einen Ver- 6 (7) Ruth Picardie Es wird mir trag bereits nach drei Wochen und sicher- fehlen, das Leben Wunderlich; 29,80 Mark te sich die Weltrechte auch für vier weite- re Romane. 7 (6) Dale Carnegie Sorge dich Heute logiert Kurkow mit seiner engli- nicht, lebe! Scherz; 46 Mark schen Ehefrau und seinen beiden kleinen Kindern in der Kiewer Innenstadt, in einer 8 (8) Guido Knopp Kanzler – Die geräumigen Wohnung aus der Stalin-Zeit. Mächtigen der Republik Er hat es geschafft – er kann von der C. Bertelsmann; 46,90 Mark Schriftstellerei leben. „Ich habe Glück ge- habt“, sagt er. 9 (9) Daniel Goeudevert Um nicht der einzige zu bleiben, hat Mit Träumen beginnt die Realität er gemeinsam mit seiner Frau den Verlag Rowohlt Berlin; 39,80 Mark „Visiting Cards“ gegründet, in dem er ukrainische und russische Autoren in eng- 10 (10) Jon Krakauer In eisige Höhen lischer und französischer Sprache heraus- Malik; 39,80 Mark bringt. Doch auch umgekehrt soll es funk- tionieren. Mit der zweiten Verlagsgrün- 11 (12) Gary Kinder Das Goldschiff dung „Counterflow“ (Gegenströmung) Malik; 39,80 Mark will er westliche Autoren dem ukrai- nischen und russischen Publikum vor- 12 (13) Peter Kelder Die Fünf „Tibeter“ stellen. Integral; 22 Mark Kurkow, das ist der Erzähler als Promo- tor, der Denker als Macher. Und wenn ihm 13 (11) Jon Krakauer Auf den Gipfeln alles zuviel wird, besonders in diesen hek- der Welt Malik; 39,80 Mark tisch-heißen Kiewer Sommertagen, dann ist da immer noch das Modell Mischa: Dann 14 (14) Gerd Ruge Sibirisches Tagebuch verschwindet er einfach in seiner kleinen Berlin; 39,80 Mark Wohnung aus alten Tagen, wo seine Schreibmaschine steht – lautlos und schnell 15 (15) Monty Roberts Shy Boy wie ein Pinguin in einem Eisloch in der Stil- Lübbe; 49,80 Mark le der Antarktis. Matthias Matussek

der spiegel 28/1999 185 Kultur

rerin Ronna (Sarah Polley), ihr Kumpel Si- Hotelzimmer in Flammen, schießt einen FILM mon (Desmond Askew) und dessen Dro- Nachtclub-Angestellten an und ruiniert genkunden Zack (Jay Mohr) und Adam den Wagen seines Freundes bei einer Ver- Leicht lädiert (Scott Wolf) geben sich allesamt erfahrener folgungsjagd. und ausgebuffter, als sie in Wirklichkeit Das Tryptichon der Pannen rundet „Go“ In der charmanten sind. Sie alle bluffen, und ihr Bluff macht mit der Geschichte der Fernsehkrimi-Dar- sie anfällig für das Chaos à la Murphy. steller Zack und Adam ab, die einen Deal Halbweltfabel „Go“ gerät eine „Go“ spielt denn auch in Los Angeles und mit einem Polizisten abgeschlossen haben: Gruppe junger Leute auf Las Vegas, zwei Städten, die sich nicht ge- Wenn sie sich einmal als echte Undercover- der Jagd nach Sex und rade durch ihr Faible für die nackte Wirk- Agenten zur Verfügung stellen, streicht er Spaß in den Schlamassel. lichkeit auszeichnen. ein Vergehen aus ihrem Register. Der Fall, Ronna etwa, die ihre Miete nicht zahlen auf den die Cops wider Willen angesetzt enn etwas schiefgehen kann, kann, ihren Job haßt und auch sonst werden, ist Ronna. Aber die Jungs ver- wird es auch schiefgehen. Viel- schlechte Laune hat, versucht sich – an Si- masseln den Auftrag. Wleicht nicht hier und jetzt, aber ir- mons Statt – als Drogendealerin. Sie be- Daß „Go“ – ähnlich wie „Lola rennt“ – gendwann garantiert. Diese Gewißheit, schafft sich 20 Ecstasy-Tabletten, aber die als ausgefeilte erzählerische Versuchsan- auch als Murphys Gesetz bekannt, ist be- geplante Übergabe geht prompt daneben. ordnung angelegt ist (Drehbuch: John Au- unruhigend und beruhigend zugleich, denn Gerade noch rechtzeitig merkt die Ama- gust), verdeckt der Film geschickt dadurch, immerhin weiß man, woran man ist – und teur-Kriminelle, daß Zack und Adam als daß er sich scheinbar planlos von einem kann sich gegen Katastrophen wappnen. Polizeispitzel arbeiten. Jetzt hat sie keine Geschehen zum nächsten treiben läßt. Schon in „Swingers“, dem autobiogra- phischen Low-Budget-Gruppenporträt, das den unbekannten Independent-Filmer vor drei Jahren zu einer Branchenhoffnung hat- te werden lassen, brachten Limans linki- sche junge Helden das Geschwafel und das ewige Hin und Her ihres Alltags perfekt auf die Leinwand; und auch in „Go“ folgt der Filmemacher ganz entspannt und ein wenig verwundert dem Durcheinander, das seine unentwegt plappernde, Pläne von fa- taler Logik ausheckende Jungschar inner- halb von 24 Stunden anrichtet. In Limans Welt, das ist ihr Charme und ihre Schwäche, stößt den Leuten nichts wirklich Schlimmes zu; sie werden gera- dezu magisch geschützt durch ihre Jugend und durch die Unschuld, mit der sie sich in ihre Abenteuer stürzen. Ronna und die anderen sind staunende, harmlose Aus- flügler auf einem Trip durch die Halbwelt. Es geht alles schief, aber es geht nicht um Leben und Tod. Wenn sie sich am Morgen danach aufrappeln, haben sie vielleicht einen Kater, ein paar Schrammen und blaue Flecken, schlimmstenfalls einen glat- ten Durchschuß am Oberarm. Sie sind lädiert, und doch ist die Sache halb so wild. Der Status quo ihres Lebens bleibt unan- getastet. Das unterscheidet, mehr als alles ande-

COLUMBIA TRI-STAR re, „Go“ von seinem offensichtlichen Vor- Liman-Film „Go“*: Es geht alles schief, aber es geht nie um Leben und Tod bild „Pulp Fiction“. Auch „Go“ erzählt mehrere ineinander verwobene Geschich- Die Menschen in „Go“, dem munter ver- Ware mehr, kein Geld und einen echten ten, auch „Go“ zitiert wonnevoll die Tri- wickelten neuen Film des Amerikaners Dealer im Nacken. Am Ende des ersten vialissimi der Popkultur, auch „Go“ pflegt Doug Liman („Swingers“), sind offenbar Filmdrittels liegt Ronna leblos in einem den amüsierten postmodernen Blick auf zu jung, um schon von Murphys Gesetz Graben. Sex, Drogen, Schußwaffen und die ewige gehört zu haben. Das ist ihr Pech, denn Dann kehrt „Go“ zurück an seinen Aus- Jagd nach dem Spaß. „Go“ funktioniert nach dem Prinzip der gangspunkt, eine Szene, in der alle wichti- Aber während „Pulp Fiction“ eine größten anzunehmenden Panne. Der Film gen Figuren aufeinandertreffen, und pickt coole Ballade in Blutrot war, ist „Go“ ein setzt seine Charaktere am Anfang auf eine sich einen neuen Handlungsstrang heraus. cleveres Scherzo in Pastell. Das Gefühl schiefe Ebene und sieht ihnen 100 Minuten Nicht Ronna, sondern Simon rasselt bei der Sicherheit, in die der Film seine Fi- lang dabei zu, wie sie langsam hinunter- diesem zweiten Durchlauf in einen blu- guren bettet, macht ihn leichtherzig, schlittern. tigen Schlamassel hinein. Sein Bluff: aber auch leichtgewichtig. Was bleibt, Nicht daß sie selber ganz unschuldig Der kleine Brite gibt sich in Las Vegas als ist die prickelnde Erinnerung an eine wären an ihrer Rutschpartie: Die Kassie- welterfahrener Lebemann aus, richtet aber Nacht aus wilden Jugendzeiten, von der vor lauter Aufregung allerlei Unheil an. Ronna irgendwann ihren Enkeln erzählen * Mit Katie Holmes, Sarah Polley. Innerhalb weniger Stunden setzt er ein wird. Susanne Weingarten

186 der spiegel 28/1999 Werbeseite

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Dieter Gellrich, Hermann Harms, Sandra Hülsmann, Bianca 5331732, Fax 5331732-10 Hunekuhl, Rolf Jochum, Katharina Lüken, Reimer Nagel, ✂ Dr. Karen Ortiz, Gero Richter-Rethwisch, Hans-Eckhard Segner, DOKUMENTATION Dr. Dieter Gessner, Dr. Hauke Janssen; Jörg- Abonnementsbestellung Tapio Sirkka Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Dr. Helmut Bott, Lisa Busch, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an Heiko Buschke, Heinz Egleder, Dr. Herbert Enger, Johannes BILDREDAKTION Michael Rabanus (verantwortlich für Innere Heft- SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, Erasmus, Cordelia Freiwald, Silke Geister, Dr. Sabine Giehle, Thor- gestaltung), Josef Csallos, Christiane Gehner; Werner Bartels, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. Manuela Cramer, Rüdiger Heinrich, Peter Hendricks, Maria Hoff- sten Hapke, Hartmut Heidler, Gesa Höppner, Stephanie Hoff- Oder per Fax: (040) 3007-2898. mann, Antje Klein, Matthias Krug, Claudia Menzel, Peer Peters, mann, Christa von Holtzapfel, Bertolt Hunger, Joachim Immisch, Ich bestelle den SPIEGEL frei Haus für DM 5,– pro Dilia Regnier, Monika Rick, Elke Ritterfeldt, Karin Weinberg,Anke Michael Jürgens, Ulrich Klötzer, Angela Köllisch, Anna Kovac, Ausgabe mit dem Recht, jederzeit zu kündigen. Wellnitz. E-Mail: [email protected] Sonny Krauspe, Peter Kühn, Peter Lakemeier, Hannes Lamp, Zusätzlich erhalte ich den kulturSPIEGEL, das GRAFIK Martin Brinker, Ludger Bollen; Cornelia Baumermann, Marie-Odile Jonot-Langheim, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig- monatliche Programm-Magazin. Renata Biendarra, Tiina Hurme, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Sidow, Rainer Lübbert, Sigrid Lüttich, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Michael Walter, Stefan Wolff Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Werner Nielsen, Das Geld für bezahlte, aber noch nicht gelieferte LAYOUT Rainer Sennewald, Wolfgang Busching, Sebastian Raulf; Margret Nitsche, Thorsten Oltmer, Anna Petersen, Peter Philipp, Hefte bekomme ich zurück. Christel Basilon-Pooch, Sabine Bodenhagen, Katrin Bollmann, Katja Ploch, Axel Pult, Ulrich Rambow, Thomas Riedel, Constan- Bitte liefern Sie den SPIEGEL ab ______an: Regine Braun, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Petra Gronau, Ria ze Sanders, Petra Santos, Maximilian Schäfer, Rolf G. Schierhorn, Henning, Barbara Rödiger, Doris Wilhelm Ekkehard Schmidt, Thomas Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, PRODUKTION Wolfgang Küster, Frank Schumann, Christiane Margret Spohn, Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Claudia Stauder, Petra Thormann, Michael Weiland Stodte, Stefan Storz, Rainer Szimm, Dr.Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Name, Vorname des neuen Abonnenten TITELBILD Thomas Bonnie; Stefan Kiefer, Ursula Morschhäuser, Teichert, Dr. Iris Timpke-Hamel, Heiner Ulrich, Hans-Jürgen Vogt, Oliver Peschke, Monika Zucht Carsten Voigt, Peter Wahle, Ursula Wamser, Peter Wetter, Andrea REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND Wilkens, Holger Wilkop, Karl-Henning Windelbandt Straße, Hausnummer BERLIN Leitung: Heiner Schimmöller, Michael Sontheimer; Georg Mascolo. Redaktion: Wolfgang Bayer, Stefan Berg, Petra Bornhöft, Markus Dettmer, Carolin Emcke, Jan Fleischhauer, BÜRO DES HERAUSGEBERS Irma Nelles Jürgen Hogrefe, Susanne Koelbl, Irina Repke, Dr. Gerd Rosen- INFORMATION Heinz P. Lohfeldt; Andreas M. Peets, Kirsten PLZ, Ort kranz, Harald Schumann, Peter Wensierski, Friedrichstraße 79, Wiedner, Peter Zobel 10117 Berlin, Tel. (030) 203874-00, Fax 203874-12 Ich möchte wie folgt bezahlen: KOORDINATION Katrin Klocke BONN Leitung: Jürgen Leinemann; Hartmut Palmer, Hajo Schu- LESER-SERVICE Catherine Stockinger macher. Redaktion: Martina Hildebrandt, Horand Knaup, Ursula ^ Zahlung nach Erhalt der Jahresrechnung SPIEGEL ONLINE (im Auftrag des SPIEGEL: a + i art and infor- Kosser, Dr. Paul Lersch, Dr. Hendrik Munsberg, Elisabeth Niejahr, mation GmbH & Co.) ^ Ermächtigung zum Bankeinzug Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Christian Reiermann, Ulrich Schä- Redaktion: Hans-Dieter Degler, Ulrich Booms von 1/4jährlich DM 65,– fer,Alexander Szandar, Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) NACHRICHTENDIENSTE AP,dpa, Los Angeles Times / Washington 26703-0, Fax 215110 Post, New York Times, Reuters, sid, Time DRESDEN Andreas Wassermann, Königsbrücker Straße 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 8020271, Fax 8020275 Nachdruck und Angebot in Lesezirkeln nur mit schriftlicher Ge- Bankleitzahl Konto-Nr. DÜSSELDORF Georg Bönisch, Frank Dohmen, Barbara Schmid- nehmigung des Verlages. Das gilt auch für die Aufnahme in elek- Schalenbach, Andrea Stuppe, Karlplatz 14/15, 40213 Düsseldorf, tronische Datenbanken und Mailboxes sowie für Vervielfälti- Tel. (0211) 86679-01, Fax 86679-11 gungen auf CD-Rom. Geldinstitut ERFURT Almut Hielscher, Löberwallgraben 8, 99096 Erfurt, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Tel. (0361) 37470-0, Fax 37470-20 Verantwortlich für Vertrieb: Ove Saffe FRANKFURT A. M. Dietmar Pieper; Wolfgang Bittner, Felix Kurz, Verantwortlich für Anzeigen: Christian Schlottau Christoph Pauly,Wolfgang Johannes Reuter, Wilfried Voigt, Ober- Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 53 vom 1. Januar 1999 Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten lindau 80, 60323 Frankfurt a. 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188 der spiegel 28/1999 Chronik 3. bis 9. Juli SPIEGEL TV

SAMSTAG, 3. 7. zu schaffen und Überstunden abzubauen, MONTAG die Gewerkschaften sind zu Zugeständ- 23.00 – 23.30 UHR SAT 1 KRITIK Die SPD-Ministerpräsidenten nissen bei der Tarifpolitik bereit, die SPIEGEL TV REPORTAGE Reinhard Klimmt (Saarland) und Man- Bundesregierung will die Altersteilzeit- fred Stolpe (Brandenburg) kritisieren die Regelung ausweiten. Sperrmüll – von Sammlern, Spar- und Rentenpläne der Bundesregie- Jägern und Ökowächtern rung. Klimmt kündigt an, im Bundesrat ABTREIBUNG Die Abtreibungspille Mifegy- gegen die Reform zu stimmen. ne wird in Deutschland zugelassen, trotz Protesten der katholischen Kirche. ENTLASSEN Nick Leeson, der die britische Barings-Bank mit Spekulationsgeschäften TIERSCHUTZ Das Bundesverfassungsge- in den Ruin getrieben hatte, wird nach richt erklärt die Verordnung, die bisher dreieinhalb Jahren Haft in Singapur vor- Rechtsgrundlage deutscher Legebatterien zeitig aus dem Gefängnis entlassen. war, für nichtig, weil sie gegen Tier- schutzgesetz und Verfassung verstößt. SONNTAG, 4. 7.

SPIEGEL TV ABSCHIED Steffi Graf unterliegt im Finale MITTWOCH, 7. 7. Müllentsorgung von Wimbledon der Amerikanerin Lind- SICHERHEIT Die Bundesregierung be- say Davenport und erklärt ihren Ab- schließt, 210 deutsche Polizeibeamte ins In Stuttgart darf man ihn noch auf die schied von diesem Turnier. Kosovo zu entsenden, um im Uno-Auf- Straße werfen, in Berlin, wie in den mei- ABLEHNUNG David Trimble, Führer der trag für Sicherheit zu sorgen. Dazu kom- sten deutschen Großstädten, wird er ab- protestantischen Unionisten-Partei, lehnt men 60 Ermittler zur Unterstützung des geholt oder auf sogenannten Recycling- den britisch-irischen Entwurf zur Lösung Haager Kriegsverbrechertribunals. höfen „entsorgt“; in der Provinz wachen der Nordirland-Krise ab. Nachbarn darüber, daß der Abfall nicht in ABSAGE Ein Koalitionstreffen zum Atom- falsche Hände gerät. Reportage über den KURDEN Die Serie von Anschlägen kurdi- ausstieg wird kurzfristig abgesagt – die ökologischen Ausnahmezustand. scher Extremisten in der Türkei geht wei- Bundesregierung kann sich nicht auf eine ter. Ein Mensch stirbt, als in Istanbul ein gemeinsame Haltung gegenüber den DONNERSTAG Bus auf eine Mine fährt. Stromkonzernen einigen. 22.10 – 23.00 UHR VOX

MONTAG, 5. 7. DONNERSTAG, 8. 7. SPIEGEL TV EXTRA Queen Elizabeth 2 – PROTEST Nach Beilegung des Streits mit RÜCKKEHR Die ersten 156 der etwa 14600 der Nato schickt Rußland weitere Frie- Kosovo-Albaner, die während des Koso- die Königin der Meere denstruppen ins Kosovo. In Leskovac in vo-Krieges offiziell in Deutschland Zu- Südserbien demonstrieren 20000 Men- flucht gefunden haben, kehren freiwillig schen gegen Milo∆eviƒ – die größte Pro- in ihre Heimat zurück. testaktion seit Kriegsende. REKORD Der Tscheche Tomas Dvorak FREITAG, 9. 7. stellt mit 8994 Punkten einen neuen BERUFUNG Der designierte Präsident der Weltrekord im Zehnkampf auf. Europäischen Kommission, Romano Pro- DIENSTAG, 6. 7. di, stellt sein neues Kabinett vor. Die Grüne Michaele Schreyer erhält das Fi- DURCHBRUCH Das Bündnis für Arbeit er- nanzressort, Günter Verheugen (SPD) SPIEGEL TV zielt erste Ergebnisse: Die Arbeitgeber wird zuständig für die Ost-Erweiterung Liner „Queen Elizabeth 2“ verpflichten sich, 10000 neue Lehrstellen der Europäischen Union. Fünf Tage dauert die Reise mit dem Lu- xusdampfer von Southampton nach New York – für 1500 Passagiere bei Kabinen- preisen bis zu 60000 Mark.

SAMSTAG VOX SPIEGEL TV SPECIAL Entfällt

SONNTAG 22.10 – 23.00 UHR RTL SPIEGEL TV MAGAZIN Auf Patrouille im Kosovo – deutsche Feld- Tea-time in Glasgow: Köni- jäger im Einsatz gegen Plünderer und gin Elisabeth II. besucht am Hausbesetzer; Vom Jugendgangster zum 7. Juli erstmals Untertanen, Bordellkönig – die Karriere der Ham- die in einer Sozialwohnung burger Kiez-Größe „Albaner Willi“; leben, Susan McCarron (l.) Schlupfwinkel Mallorca – die Steuertricks und Sohn James (2. v. r.). der Reichen im 17. Bundesland. AFP / DPA

der spiegel 28/1999 189 Register

Gestorben Forrest Mars, 95. Am Anfang der Karrie- re eines der reichsten Männer der Welt Joaquín Rodrigo, 97. Für Harfe, Flöte, stand ein Streit mit dem Vater: Beide, Va- Klavier hat er komponiert, er hat sinfoni- ter und Sohn, hatten sche Dichtungen und Madrigale geschrie- die Idee, einen Riegel ben, Bagatelas, Berceuses, Danzas und mit malziger Milch- Piezas, Stücke für Ballett, für Chor und für creme statt mit leicht Kinder – mit mehr als 300 Titeln hinterließ verderblicher Schoko- der (seit seinem dritten Lebensjahr blinde) lade zu füllen. Sie ga- Spanier ein pralles Lebenswerk. Doch das ben ihm den Namen Werk seines Lebens wurde das kaum „Milky Way“ und mehr als 20 Minuten kurze „Concierto de machten damit 1932 Aranjuez“, ja, nicht einmal das ganze: nur bereits 25 Millionen

ein Stück aus dem Stück, jenes zentrale PRESS CAMERA Dollar Umsatz. Doch Adagio in Moll, in dem die perlenden Tup- dem jähzornigen und fer der Sologitarre mit filigranen Holz- machthungrigen Forrest paßte die joviale bläsern und soften Streichern zu einer Art seines Vaters als Chef nicht. Er setzte Elegie espagñol verschmelzen und ver- sich nach England ab und entwickelte dort schmachten. Schon bei der Uraufführung eine leicht veränderte Version des Milky- 1940 fand Rodrigos Hommage an Aran- Way-Riegels mit mehr Karamel und juez, den Sommersitz der spanischen schmückte das klebrige Zuckerwerk mit Könige, ein begei- seinem Nachnamen „Mars“. Auch die von stertes Echo: Dies, ihm entwickelten Produkte wie „M&M’s“ endlich, war für und „Chappi“ hatten einen Riesenabsatz. das bürgerkriegs- Bald übernahm Forrest die Firma seines versehrte Spanien Vaters in Amerika, es entstand der heute eine neue Musik im auf 20 Milliarden Dollar geschätzte M&M- alten Stil: eingängig, Konzern. Der Erfolg machte ihn aber mit folkloristischem nicht freundlicher. Forrest Mars, der we- Touch und ohne die gen seiner Medienscheuheit der „Howard zeitübliche Kopf- Hughes der Süßwaren“ genannt wurde, last. Seitdem hat galt als gefürchteter Chef, der seine Söhne,

sich die Nomenkla- DPA die das Unternehmen seit 1973 führen, und tura der Gitarristen Angestellte mit drakonischen Maßnahmen fast geschlossen über die Partitur herge- schurigelte. Forrest Mars starb am 1. Juli macht, und Stardirigenten von Barenboim in Miami. bis Rattle machten mit. Als ein „großer Baum“, klagte der Komponist einmal, Jean-Pierre Darras, 71. Die Standardflos- habe der Erfolg des Konzerts sein ganzes kel in Nachrufen, es sei wieder einmal ein Schaffen überschattet. Joaquín Rodrigo gutes, altes Stück Frankreich dahingegan- starb vergangenen Dienstag in Madrid. gen, ist im Fall die- ses Vollblutkomö- Edward Dmytryk, 90. Als aufstrebender dianten legitim. Der B-Picture-Regisseur in Hollywood traf er in Paris geborene 1944 eine fatale Entscheidung: Er trat in Sproß einer Juri- die Kommunistische Partei ein. 1947 wur- stenfamilie namens de er als einer der „Hollywood Ten“ zu ei- Dumontet war un- ner Gefängnisstrafe verurteilt, weil er sich ter dem Künstler- weigerte, einem Untersuchungsausschuß namen Darras Part- die Namen von Parteigenossen zu nennen. ner der Größten ei- Er ging dann nach England, kehrte aber ner Epoche: Gérard 1951 zurück und rehabilitierte sich, indem Philippe und Fer-

er nun vor dem Aus- ANDANSON / SYGMA J. nand Raynaud, Mar- schuß 26 Kollegen de- cel Pagnol, Jean nunzierte. In den Jah- Vilar, Jean Gabin. Das „Monstre sacré“ der ren danach hat Dmy- französischen Schauspielkunst brillierte auf tryk eine Reihe seriö- der Bühne mit Molière (Glanzrolle: „Der ser und solider Filme Bürger als Edelmann“), Kleist („Der Prinz gedreht (etwa „Die von Homburg“) und in Feydeau-Komödien, Caine war ihr Schick- wurde durch leichte Filme („Elle court, sal“ und „Die jun- elle court, la banlieue“, „Dis-moi, que tu gen Löwen“ oder die m'aimes“ ) und TV-Rollen populär. In allen

CINETEXT Western „Gebrochene Rollen hielt sich der Regisseur und Gründer Lanze“ und „War- der Festspiele von Carpentras an seine De- lock“), doch für viele Filmleute blieb sein vise: „Theater muß eine einfache Kunst Opportunismus unverzeihlich. Edward sein.“ Jean-Pierre Darras starb vergangenen Dmytryk starb am 1. Juli in Los Angeles. Montag in Paris an Krebs.

190 der spiegel 28/1999 Werbeseite

Werbeseite Personalien

Alec Baldwin, 41, amerikanischer Schau- spieler („Das Attentat“), liegt in Fehde mit einer New Yorker Institution: dem 198 Jah- re alten Boulevardblatt „New York Post“. Während einer Talkshow denunzierte der Mime das Druckwerk als „die schlechteste Zeitung in der Geschichte des Journalis- mus“, noch in jedem Comic-Heft stünden besser belegte News. Das Blatt belegte ihn daraufhin mit Ausdrücken wie „unterbe- schäftigt“, „korpulent“, „jämmerlich“ und zeigte ein wenig schmeichelhaftes Bald- win-Foto unter der Überschrift „From Hunky to Chunky“ (etwa: Vom strammen Kerl zum dicken Brocken). Im übrigen wartete die „Post“ vergangene Woche noch immer auf ei- ne „Entschuldigung“ Baldwins für sein vernichtendes Urteil und forschte, „war- um der sinkende Stern am Kinohim- mel dieser Tage so schlecht drauf ist“. Die Redakteure fan- den eine Antwort in einem Buch von Fre- deric Raphael, der das Drehbuch zu FOTOS: AP (gr.); PA / DPA (kl.) / DPA PA AP (gr.); FOTOS: THE COQUERAN GROUP Stanley Kubricks Baldwin „Eyes Wide Shut“ Madonna, Howard schrieb. Demnach habe Kubrick die Hauptrollen zunächst mit Michael Howard, 58, britischer Ex-Innenminister, ist alar- Baldwin und seiner Ehefrau Kim Basinger miert über den geplanten Auftritt der amerikanischen Sän- besetzen wollen. Doch der Filmemacher gerin Madonna, 41, auf geheiligtem Boden. Im Peter- entschied sich für das Star-Paar Nicole Kid- house College der Universität Cambridge, wo Howard sein man und Tom Cruise, das vergangene Jura-Examen ablegte und zeitweilig Präsident der Cam- Woche auch noch den Titel von „Time“ bridge Union, des berühmten Debattierclubs der berühmten Universität, war, soll eroberte. Madonna einen Vortrag halten. Auf Einladung des College-Lehrers Dr. John Adam- son, der Madonna jüngst in Los Angeles kennenlernte, wird die Sängerin über Eddie Lenihan, 49, irischer Lehrer und „Image und Wirklichkeit“ sprechen. Sie sei „hochintelligent und belesener als die Folklore-Experte, versucht einen Weißdorn meisten unserer Lehrer hier“, begeisterte sich Adamson gegenüber der Londoner vor den Bulldozern der Straßenbauer zu „Times“: „Sie ist kein seichter Rockstar.“ Die traditionsbewußten Dozenten hät- retten – der Busch ist ein Versammlungsort ten vielleicht noch nie etwas von ihr gehört, räumt Adamson ein, aber „die mehr von Elfen. Diese übernatürlichen Wesen, der Welt zugewandten Studiker bibbern vor Aufregung“. Das macht auch Howard das weiß ein jedes Kind in Irland und Sorge. „Ich bin nicht ihr Bewunderer, aber ich habe Augen im Kopf und kann mir natürlich auch jeder Erwachsene, können vorstellen, welche Wirkung sie auf Studenten ausübt.“ schlimme Dinge anrichten, wenn sie er- zürnt werden. Falls der Busch der geplan- ten Umgehungsstraße von Latoon zum Op- sich auf jeden Fall weigern, den Busch zu kann man auch nicht ernsthaft die Existenz fer fiele, würden die Elfen die Straße ver- zerstören, wenn sie von seinem Geheimnis von Elfen in Zweifel ziehen, so Lenihan: fluchen, Autobremsen würden nicht mehr erfahren. In einem Land, wo der christliche „Sie haben weißes Blut und können des- greifen, tödliche Unfälle passieren, gibt Le- Glaube an ein Weiterleben nach dem Tode halb nicht in den Himmel kommen. Das ist nihan zu bedenken. Der Lehrer gilt bei iri- für die meisten Menschen Gewißheit ist, es, was sie so bösartig macht.“ schen Wissenschaftlern als kompetenter Volkskundler und hat viele irische Ge- Bill Clinton, 52, von der Monica-Affäre schichten bei alten Leuten gehört und auf beschädigter US-Präsident, ist allemal noch Tonband archiviert, mehrere tausend Stun- gut genug für den Kommunalwahlkampf – den lang. Der leitende Straßenbau-Inge- in Köln. So druckten SPD-Wahlkampfma- nieur will über die Sache nachdenken. Und nager Plakate, auf denen Clinton zu sehen Lenihan ist sicher, daß er den Weißdorn ist, wie er sich in das Goldene Buch der retten wird, denn die Bauarbeiter werden Stadt Köln einträgt, umrahmt vom noch amtierenden Oberbürgermeister Norbert

Lenihan vor Elfenbusch bei Latoon PHOTOCALL Burger, 66, und dem Kandidaten Klaus 192 Heugel, 62, beide Sozial- stisch gestalteten Robo- demokraten. „Köln in gu- ters zum Batteriewechsel. ten Händen“, lautet be- Der Kunstmensch heißt tulich der dazugehörige Miyata Jiro, kann nur Slogan. Auch nicht eben krabbeln, nicht gehen, witzig äußerten sich die und symbolisiert den von Spitzenkandidaten der Arbeitsethik und Konfor- anderen Parteien in der mitätsdruck geprägten ja- Karnevalshochburg. „Ich panischen Angestellten. wußte gar nicht, daß Clin- Torimitsu beschreibt ihren ton“, so CDU-Kandidat lebensecht wirkenden Harry Blum im „Kölner Bürosklaven als „einen Stadt-Anzeiger“, „in Köln Soldaten des japanischen

Oberbürgermeister wer- EXPRESS / KÖLNER KRACKHARDT Firmenimperiums, der den will – mit Burger und SPD-Wahlplakat in Köln ausländische Märkte für Heugel als Praktikanten.“ das Mutterland erobert“. FDP-Aspirant Ralph Sterck kann sich gar Miyata Jiro ist ab nächsten Monat in der nicht vorstellen, „daß es ihm gefällt, als Ausstellung „Abracadabra – Internationa- Präsident einer Weltmacht in den Kölner le zeitgenössische Kunst“ in der Tate Gal- Wahlkampf gezogen zu werden – aber für lery zu sehen. solche Fälle hat er bestimmt gute Anwäl- te“. Ganz kölscher Kumpel ist Kandidat , 55, Privatier, nahm Heugel im Kölner „Express“: „Ich bin mir erstmals telefonischen Kontakt zu Hans sicher, daß Clinton mich wählen würde. Eichel, seinem Amtsnachfolger im Bonner Der hatte schließlich viele ,happy days‘ in Finanzministerium, auf – um sich zu be- Köln. Und der Bill weiß, wer dafür verant- schweren. Der Saarländer fand „nur wortlich ist.“ schwer erträglich“, wie Eichel die „flächen- deckende Wirkung“ der Lafontaine-Staats- Momoyo Torimitsu, 32, japanische Kon- sekretäre Claus Noé und Heiner Flassbeck zept-Künstlerin, verblüffte Fußgänger in charakterisiert hatte. „So kann man mit der City von London mit Lebensnähe. Auf guten Leuten nicht umgehen“, empörte der Liverpool Street robbte dieser Tage ein sich Lafontaine, das sei „weder fair noch in japanischer Manager entlang. Nachdem der Sache angemessen“. Eichel hatte die dessen Kräfte erlahmt waren, traktierte die beiden Staatssekretäre im April aus ihren als Krankenschwester auftretende Künst- Positionen entlassen und als Begründung lerin den Bedauernswerten mit einem flapsig nachgeschoben, der eine habe das Schraubenzieher. Mit dem Werkzeug öff- gesamte Finanzministerium gegen sich auf- nete Torimitsu das Gesäß des hyperreali- gebracht, der andere den Rest der Welt. Der harte Hans gab auch im Streit mit sei- nem Amtsvorgänger nicht nach. Verbind- lich, aber bestimmt beschied Eichel, was wahr ist, müsse wahr bleiben.

Matthias Platzeck, 45, populärer Ober- bürgermeister von Potsdam und aussichts- reicher Nachfolgekandidat auf den Stuhl von Brandenburgs Ministerpräsident Man- fred Stolpe (SPD), zog sich den Zorn meh- rerer Landesminister zu. Denn dem als „Deichgraf“ während des Oder-Hochwas- sers vor zwei Jahren bekannt gewordenen Platzeck wurde beim Brandenburg-Tag in Jüterbog eine hohe Ehre zuteil. Beim fest- lichen Essen im ehemaligen Zisterzienser- kloster der Stadt durfte er gemeinsam mit Manfred Stolpe und dem Jüterboger Stadt- oberhaupt am Tisch des neuen Bundes- präsidenten Johannes Rau Platz nehmen. Die Minister aus Stolpes Kabinett hingegen mußten etwas abgelegen am Katzentisch speisen – zum Ärger vor allem des ehrgei- zigen Bau- und Verkehrsministers Hartmut

BULLS / NEWS INTERNATIONAL BULLS Meyer. Die verprellten Minister scheinen sich nun zu rächen. In der vergangenen Woche blockierte das Kabinett schon mal Gelder für ein Projekt der geplanten Bun- Torimitsu, Torimitsu-Werk desgartenschau in Potsdam.

der spiegel 28/1999 193 Hohlspiegel Rückspiegel

Aus der „Hannoverschen Allgemeinen Zei- Zitate tung“: „Rau ist der vorerst letzte in einer Kette hervorragender Vorgänger. Das ver- Die „Frankfurter Allgemeine“ zum pflichtet.“ SPIEGEL-Gespräch mit Bischof Karl Lehmann über die Zukunft der Schwangeren-Beratung „Kirche – ,Das kann der Papst gar nicht‘“ (Nr. 26/1999)

Aber damit war es für Lehmann immer noch nicht genug. In einer Hamburger Zeit- Aus der „Reinbeker Zeitung“ schrift meldete sich der Bischof abermals zu Wort. Nun ist der SPIEGEL auch jenen im Vatikan ein Begriff, die des Deutschen nicht Aus der „Westfalenpost“: „Der Bonner Jour- mächtig sind, weil er auf den Titelbildern nalistentroß hatte sich – erstmals im (noch) das Oberhaupt der katholischen Kirche, das geteilten Deutschland wurde dies möglich – heißt den geistlichen Führer von Millionen in einen eigens für diesen Zweck gechar- deutscher Katholiken, gern im Stil der Sot- terten Nachtzug verfrachten und ins Do- tise darstellt. Die Monsignori ließen sich nau-Florenz nach Dresden bringen lassen.“ übersetzen, Lehmann habe ,,den Eindruck gehabt, daß der Papst für die Funktion die- ses Gespräches mit mir nicht so unterrich- tet war, wie ich das eigentlich angenom- men hatte“.Aus dem Vatikan hieß es dazu, so spreche man in der Politik von einem al- ternden Parteivorsitzenden, der seine Haus- Aus dem „Weser-Kurier“ aufgaben nicht gemacht habe, vor dessen Rücktritt, weil er der Höhe der Argumen- tation und der Schwere der Problematik Aus dem Buch „Spaß verstehen“ von Hel- nicht mehr gewachsen sei. Doch dürfe man ga Kotthoff: „Es gibt fast überhaupt keine so nicht die „Verantwortung des obersten Scherzaktivitäten des L’art pour l’art bar Hirten der Kirche“ würdigen. Nun sehen jeder Einbettung in die Relevanzstruktur manche im Vatikan die Autorität des Pap- der Lebenswelt.“ stes in Zweifel gezogen. Ob das Lehmanns Absicht und auch die der deutschen Bischö- fe war? Aus der „Thüringischen Landeszeitung“: „Die Staatsanwaltschaft Erfurt hat gegen Die „Frankfurter Allgemeine“ zur Verlei- den zweiten Geschäftsführer einer Bau- hung des Georg-Büchner-Preises 1999 firma Anklage erhoben, die für den tödli- an den Schriftsteller Arnold Stadler, der chen Absturz eines Balkons verantwort- 1994 von Martin Walser im SPIEGEL lich sein soll.“ hymnisch gefeiert worden war „Literatur – Das Trotzdemschöne“ (Nr. 31/1994)

Aus dem „Hamburger Abendblatt“: „In Der Beginn von Stadlers Erfolg hat ein Da- Wulfsdorf sind sogar die bereits ausgestor- tum. Am 1. August 1994 schrieb Martin benen Rebhühner wieder eingewandert.“ Walser im SPIEGEL eine Hymne auf den Autor und seine drei bis dahin erschienenen Romane. ,,Da ist ein Ton.“ So hob die Hym- Aus dem „Alb Boten“: „Etwas mehr als ne an, und so emphatisch ging sie weiter: neunzig Jahre ist es her, daß aus dem Ber- „Aufrufend, anrufend.“ Man hat sich da- liner Landwehrkanal die ermordete Lei- mals ein wenig über das hohe Lob vom Bo- che einer Frau geborgen wurde: Rosa Lu- densee gewundert: Überschätzt der Walser xemburg.“ da nicht ein mittleres Talent? Aber es muß- te einem bald klarwerden, was dieser ka- tholische Großautor am katholischen Nach- Aus der „Tageszeitung“: „So war das also wuchserzähler so außergewöhnlich, so be- wirklich in der entführten Lufthansa-Ma- geisternd fand. Stadler traute sich in noch schine ,Landshut‘, sagen uns Breloers relativ jungen Jahren, was sich Walser erst Doku-Dramen; so war es am Rande der am Beginn seines Spätwerks trauen sollte: Badewanne von oder im so- Die ganz nahe am Autobiographischen an- wjetischen Exil Herbert Wehners!“ gesiedelte Schreibart und die schonungslo- se Genauigkeit, mit der höchst eigene Prä- gungen und Verletzungen ausgebreitet und artistisch bearbeitet werden. Walser arbei- tete am ,,Springenden Brunnen“, seinem Kindheitsroman, als er Stadlers Bücher Aus einem Faxformular der „Österreichi- rühmte: Der Jüngere, dies darf man ver- schen Krebshilfe Oberösterreich“ muten, hat dem Älteren Mut gemacht.

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