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PP.b.b..b.b. GGZZ 009Z0382589Z038258 M VVerlagspostamterlagspostamt 11150090 WWienien

NNr.r. 2/20171/2016 . •€ €5,90 5,9 0/ SFr./ SF r6,50. 6,50 Materialien & Texte aus Uncreativeden sieb Writingen Körben Kenneth GoldsmithNeue Gesc überhicht edasn v Schreibenon Alexan inde undr Klu mitge Neuen Medien, das Internet und die Geisterwelt „Themen außerhalb meines Selbst Dasinter Leichentuchessieren mich der Literaturnicht“ Thomas LangLebe nüber un d KnausgårdsAnsichten von Kampf und seine Folgen Pierre Drieu la Rochelle, Narzisst

BRD Noir P h Ichilipp Fe lundsch im Ge sderpräch m iUrknallt Frank Witzel über die schwarze Romantik der alten Bundesrepublik Raoul Schrott im Gespräch mit Erich Klein über – fast alles Beiträge von Felix Philipp Ingold, Teresa Präauer, Ulrich Faure, Uwe Schütte, Norbert Gstrein, Martin Roda Becher, Arno Geiger, Thomas Lang, Susanne Schleyer, Andreas Maier, Klaus Siblewski, Alexander Nitzberg, Michael Braun, Klaus Zeyringer, Fatima Naqvi, Stefan Gmünder, Katrin Hillgruber u.a. „Niemand weiß, ob Adorno auf den Hohn der drei jungen Frauen mit Tränen reagierte.“ (Seite 6) FELIX PHILIPP INGOLD DOPPELSCHLAG bei / by ritterbooks

104 Seiten brosch. mit CD ISBN: 978-3-85415-557-7 € 17,90 SFR 30,80

„Niemals keine Nachtmusik“ enthält thematisch höchst unterschiedliche, informell, nach „innerer“ Notwendigkeit angelegte, teils in Prosa-Betrachtung mündende Gedichte Felix Philipp Ingolds aus den letzten zehn Jahren, dazu ein Hörstück für drei Stimmen. Konzentriert und nonchalant zugleich unternimmt der findige Form- Experimentator und Forscher von Wirkungen poetischer Sprache Sondierungsgänge ins System sprachlicher Zeichen und untersucht im kreativen Prozess Mechanismen der Produktion von Bedeutung und Sinn. Ingold durchstreift dabei einen ganzen Kosmos an Tradition von Kunst, Dichtung, Musik und Philosophie, umkreist Fremdes mit Anspielungen und amalgamiert solches mit Eigenem zu hochkomplexen poetischen Gebilden. Mit Ironie, akkuratem Humor und Wortwitz beutelt Ingold konfektionierte Lyrismen und gängige Weisen metaphorischen Denkens durcheinander und führt uns vor, wie sich poetisches Sprechen heute aus jedem Gedicht heraus neu zu entwerfen vermag.

80 Seiten brosch. 22 x 22 cm ISBN: 978-3-85415-548-5 € 13,90 SFR 24,30 mit einem Nachwort von Magnus Wieland

In seinem neuen und, ich sage es gleich, wunderbaren Gedichtband „Fortschrift“, einem „Gedicht in fünfzehn Würfen“, gelingt Felix Philipp Ingold eine wunderbare Schwebe zwischen dem, was ihm nicht als Sinn sich konstituiert, sondern in Form und Wort zufällt, was er aber kohärent ordnet; wobei das Zufallen das Material wie das Prinzip betreffend Mallarmé meint. (...) Sperrig, aber zugleich notwendig und schwebend beginnt sich so alles zu entfalten: Wortmagie, doch aufgeklärte; wer sich den Band nicht ansieht, dem wird womöglich Entscheidendes „nicht zufallen“. Martin A. Hainz, „Fixpoetry“, Mai / 2017

www.ritterbooks.com Inhalt Mit Helmut Kohl an Rilkes Grab Gisela Trahms über Marcel Beyers Das blindgeweinte Jahrhundert ...... 4

Schleyers Fotojournal ...... 7

Ich und der Urknall Erich Klein im Gespräch mit Raoul Schrott über Literatur als Ahnendienst, die Dauer der Berge, Kochen für Philippe Soupault und sein Buch Erste Erde ...... 8 Writer at Large 8 Ein Spendenaufruf des Brenner Archivs Innsbruck im Jahre 2066 des Herrn. Von Norbert Gstrein ...... 20

Die Bewohner von Château Talbot Von Arno Geiger ...... 23

Materialien & Texte aus den sieben Körben Durchlässigkeit. Ursprünglich positive Bedeutung des Wortes „vergeblich“. Von ...... 24 24

Neulich Von Andreas Maier ...... 32

Lyrik-Logbuch Von Michael Braun und Paul-Henri Campbell ...... 33

Ausschreibungen ...... 35

Bedingt brauchbar Ein Streifzug durch germanistische Kompendien. Von Uwe Schütte ...... 36

Präauer streamt Von Teresa Präauer ...... 41

Grenzgänge der Literatur Lektüre- und Betriebsberichte von Felix Philipp Ingold ...... 43

Eine Art stirbt aus 41 Nachschrift auf Gerd-Peter Eigner (1942–2017). Von Alban Nikolai Herbst...... 50

Das Leichentuch der Literatur Thomas Lang über Karl Ove Knausgårds literarische Anpassungsleistung ...... 52

Das Netz als telepathischer Raum Von Kenneth Goldsmith ...... 60

Nachts schreiben, um am Tag nicht verloren zu gehen Gedanken zu Literatur und Selbsterfahrung. Von Arne Rautenberg...... 66

Fragebogen: Gerrit Bartels ...... 71

Preis-Telegramm ...... 72

Termine / Impressum ...... 74 60

VOLLTEXT 1/2017 SEITE 3 Mit Helmut Kohl an Rilkes Grab

Vom Busenattentat auf Adorno zum Fall von Strauss-Kahn, Heintjes „Mama“ und der Affe mit der Kamera – Das blindgeweinte Jahrhundert von Marcel Beyer vernetzt Disparates zu einem individuellen Gespinst.

VON GISELA TRAHMS

chriftsteller, und besonders jene, Handelt es sich um eine Reportage, wie Irrealitätsmarker unbeachtet, glaubt er die „die eigene Arbeit nicht als Orts- und Datumsangabe suggerieren? drei Seiten lang auf einem durch Daten SBürotätigkeit in der Fiktionsver- Oder doch um eine Erzählung, Genre und Details fixierten Felsen zu stehen, waltung“ betrachten, lieben das Grenz- Mystery? Wie von einer hoch gelege- bis dieser ihm plötzlich unter den Fü- land zwischen den Gattungen, wo sie nen Plattform aus schaut der Leser ins ßen wegrollt. Ja, was denn nun? Was ist die Pfähle selbst einschlagen können. Schneetreiben, hat das Knattern der Tatsache, was Fiktion? Marcel Beyer gibt schon auf der Rück- rotierenden Flügel in den Ohren, fühlt Schon das Cover, ein Szenenfoto seite des Covers an, was sein neues Buch sich ins epochale Jahr 1989 versetzt aus Murnaus Stummfilm-Klassiker Das blindgeweinte Jahrhundert jeden- (doch die Mauer wird erst im Herbst Faust, stimmt nicht nur auf Ton und falls nicht ist. „Es ist schwer, nicht einen fallen), hört dann von einem Staatsgast, Atmosphäre des Textes ein, sondern Roman zu schreiben“, steht dort. Der der im Hotel Bellevue logierte, hört illustriert mit dem mondbeschienenen Satz stammt von Siegfried Unseld, ein vom Dichter Rilke, welcher im nahe Schnee oder Wolkendunst auch die Bo- Stoßseufzer über die Auseinanderset- gelegenen Château de Muzot seine denlosigkeit der Leseerfahrung. Dazu der irritierende Titel – ein Jahrhundert kann doch nicht „blindgeweint“ sein? Ein so zarter, empfindsamer Hausgott Eher müsste das Attribut wohl die trä- nenden Augen derer kennzeichnen, wie Rilke für den Saumagen-Liebhaber? die im Erleben oder im Rückblick nur Und doch, und doch … noch Schemen sehen. Der Titel sugge- riert, dass das Jahrhundert auf den Be- trachter zurückschaute, wäre es nicht zungen mit Thomas Bernhard. Hier je- letzten Jahre verbrachte und in Raron durch unzählige mediale Vermittlun- doch signalisiert das Zitat den Versuch, begraben liegt und erfährt schließlich, gen selber „blind“, das heißt unscharf die so nahe, so ferne Wirklichkeit des dass der Staatsgast Helmut Kohl sich am in seinen Konturen geworden. Ein vergangenen Jahrhunderts auf andere, besagten Apriltag einen Wunsch erfüll- zwischen Subjekt und Objekt oszillie- unerprobte Weise am Wickel zu packen. te, nämlich Rilkes Grab zu besuchen, rendes Konstrukt, das bis zum Schluss „Im leichten Gestöber, das am 14. dass er jedoch keineswegs im Helikop- beunruhigt. April 1989 über dem Rhonetal herrscht, ter angereist kam – der über eine Seite Im Kontrast dazu heißt der schlich- wäre ein von Süden heranfliegender wirbelnde und ratternde Kurzfilm ent- te Untertitel: „Bild und Ton“. Jedes der Helikopter ohnehin erst in dem Mo- sprang Marcel Beyers Fantasie. zehn Kapitel macht deutlich, wie his- ment zu erkennen, da er in der Luft ste- torische Episoden zu Bildern kompri- henbleibt, um zur Landung anzusetzen. Was ist Tatsache, was Fiktion? miert und abgespeichert werden, viele An diesem Tag ist es überhaupt nicht Warum der Autor den Politiker-Besuch unterlegt von Musik oder Geräuschen. recht hell geworden. Die Bäume stehen am Dichtergrab mit diesem Intro ver- Beyer beschwört sie in Beschreibun- da, als wüßten sie nicht weiter im Nebel, sah, weiß er, wie er gesteht, selbst nicht gen, diskutiert Varianten, verknüpft und es hätte etwas Rechthaberisches, da genau. Offenbar verlangte die schwer- sie mit anderen Bildern und Ereignis- hineinzufliegen…“ fällige, immobile Figur „Helmut Kohl“ sen, oft ungewohnten und erstaunli- Mit diesen Worten beginnt das drit- nach Bewegung und Abenteuer. Lässt chen, öffnet Türen zu Ähnlichkeiten te Kapitel, es heißt „Ein Tag in Raron“. der Leser den Konjunktiv („wäre“) als und Parallelen, kurz: stellt sie in ein

SEITE 4 VOLLTEXT 2/2017 MARCEL BEYER FOTO: © JÜRGEN BAUER / SUHRKAMP BAUER VERLAG JÜRGEN © FOTO: Grundlage von Marcel Beyers neuem Text sind seine Frankfurter Poetikvorlesungen aus den Jahren 2015/16. neues Licht. Wer würde beim Stichwort Forschung, die bislang Getrenntes und Zweck. Friedrich Kittler, Witold Gom- „Rilke“ an Helmut Kohl denken? Ein so Gegenläufiges miteinander verwebt, browicz, Ignatius von Loyola, Heintje zarter, empfindsamer Hausgott für den indem sie dem Leit- und Lebensfaden – bunter könnte die Mischung kaum Saumagen-Liebhaber? Und doch, und des Erzählers folgt. sein. Neue, bemerkenswerte Details doch … (etwa dass „Mama“ nicht für den hol- Ein Buch, das zwischen allen Stüh- Reale und geträumte Tränen ländischen Kindersänger komponiert len sitzt. Traditionelle Erzählungen nur Denn immer geht es um Ereignisse wurde, sondern für einen Spielfilm als Ausnahme, aber keine Essaysamm- und Figuren, die den Autor zur Un- von 1941, der den Krieg als Schnulze lung der gewohnten Art, erst recht kein tersuchung reizten. Das sogenann- inszenierte) überraschen und erlauben historisches Sachbuch. Keine Geschich- te „Busen-Attentat“, das Adorno er- neue Urteile. Gleich das erste Kapitel te der Tränen (ein unausgeführt geblie- schütterte. Der Sturz des Dominique eröffnet mit einer spektakulären Sze- benes Projekt von Roland Barthes), wie Strauss-Kahn vom Präsidentschaftsa- ne: der Fotoreporter Hilmar Pabel fo- das Nachwort betont, sondern ein Buch spiranten zur Unperson. Die Tränen tografiert 1938 im Berliner Zoo einen der Tränen, eine Schatulle, die vieles religiöser Ekstase, die körpereigenen Affen, dem eine Kamera umgehängt und Disparates aufgenommen hat in Drogen, der Schreibfuror. Reale und wurde. Muss das Auge des Fotografen dem Ehrgeiz, es zu einem durchkom- geträumte Tränen. Tränen als un- ein menschliches sein? ponierten, individuellen „Gespinst“ willkürliche, authentische Reaktion „Photographieren heißt sterben ler- zu vernetzen. Historie als individuelle und als klug eingesetztes Mittel zum nen, rede ich laut vor mich hin“ – damit

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 5 MARCEL BEYER geht es los. Kein Philosophieren mehr, Anders gesagt: der Garant der Be- und vielleicht sind es diese von Matrat- sondern Abbilden, Ausschnitte wäh- deutung ist, wie in allen Texten, hier zen-Concord und Dänischem Bettenla- len, zeitliche wie räumliche, Licht und aber als direkt und deutlich sprechen- ger umgebenen, wunderbar sentimen- Schatten, Dunkelheit und Helle, Hinter- de Person, der Erzähler. Er konstruiert talen Bennschen Tränen, die den Leser grund und Vordergrund. Der Fotograf, das Gerüst und entscheidet über das erstmals die eigenen schlucken lassen. der „nahe dran“ ist, der „zeigt, wie es ist Fleisch. Was der Tagebuchschreiber Vorangegangen ist die Geschichte einer bzw. war“, während er doch vor allem Witold Gombrowicz in sein Diarium todkranken Frau, die eine eigenwillige sein Medium präsentiert, das täuschen schreibt, gilt genauso für den zitieren- Art zu sterben wählte, und die Frage, ob und verleugnen kann wie andere Me- den Marcel Beyer: dies „wirklich“ geschah, ist völlig irrele- dien auch. Niemand weiß, ob Adorno MONTAG vant. Der Text ist eine Erzählung, eine auf den Hohn der drei jungen Frauen Ich. kunstvolle, bewundernswerte Fiktion, mit Tränen reagierte oder was genau DIENSTAG die enthüllt, wie wir leben. in Strauss-Kahns New Yorker Suite ge- Ich. Ähnlich ging es mir mit dem achten schah. Es existiert kein Bild. Aber exis- MITTWOCH Kapitel, das von einer kurzen Begeg- tierte eines, inwiefern wären wir der Ich. nung zwischen Schriftsteller und Leser Wahrheit näher? DONNERSTAG erzählt. Wieder, wie in allen Texten, Grundlage des Textes sind die fünf Ich. sagt Beyer ICH. Im Frankfurter Haupt- poetologischen Vorlesungen, die Beyer Schafft es der Erzähler nicht, die eigene bahnhof, auf dem Weg zum Zug, hört im Wintersemester 2015/16 in Frank- Faszination für die Ereignisse und/oder dieses Ich plötzlich seinen Namen. Der furt hielt. Lösungen bieten sie nicht, hin Personen auf den Leser zu übertragen, Rufende ist ein heruntergekomme- und wieder eine These. Gleich eingangs ihn in den Stromkreis seines Schreibens ner, einarmiger Mann, die verbliebene bezeichnet der Autor den Frankfurter einzuschließen, „läppert der Text aus“, Hand ist verletzt. Er spricht Beyer auf seine Gedichte an. Nur einen Moment lang stehen sich die beiden Männer „in Niemand weiß, ob Adorno auf den ein und derselben Sphäre“ gegenüber, der Autor und sein Deuter, die einander Hohn der drei jungen Frauen mit so notwendig brauchen. Tränen reagierte. Der Leser hat sich ein Bild des Autors gemacht, da jeder Text etwas über seinen Verfasser aussagt. Der Hörsaal als „einen Raum des Denkens, wie Beyer in einem Gespräch formu- Autor kann sich nur selten ein Bild in dem idealerweise nicht bereits Ge- lierte. Der artistische Anspruch liegt des Lesers machen. Indem er von der dachtes aufgesagt … wird, sondern die nicht im historischen Faktenreichtum, Begegnung erzählt und sie „Die Buch- Hörer Zeuge werden, wie Sätze aus- nicht im Grad des Realismus, nicht da- staben am Leib“ nennt, verneigt er einander hervorgehen, wie einer den rin, ob eine Beschreibung dem histori- sich vor dem Ausgestoßenen, dessen nächsten vorbereitet, im Rückblick schen Faktum „gerecht wird“, sondern Leben nach landläufigen Begriffen bereits zu enthalten scheint und den- in der Stringenz und Überzeugungs- gescheitert, aber vielleicht näher an noch in eine neue Richtung weist – man kraft der Verknüpfungen und damit in der Wahrheit ist als das eigene. Liest denkt und spricht immer ins Ungewisse der Schreibweise, also in dem, was den man den Text als Allegorie, wird der hinein, darin liegt, wie beim Schreiben, Schriftsteller ausmacht. Wahrheit, so Verstümmelte dennoch für kurze Mi- der Reiz.“ wie dieses Buch sie aufblättert, ist nicht nuten zum König. zu verwechseln mit Tatsächlichkeit, sie Schüttelbox darf die subjektiven Urteile und die ein- Marcel Beyer: Das blindgeweinte Jahrhun- Fließend und „idealerweise“ gene- gewebten Fiktionen nutzen. dert. Bild und Ton. Suhrkamp, Berlin 2017. rieren also die Sätze selbst ihren Zu- Das vorletzte Kapitel wagt dann den 271 Seiten, € 22,95 (D) / € 23,60 (A). sammenhang. Wie schaffen sie das? Sprung. Es heißt „Kann keine Trauer Schließlich muss ja ein solider Faden sein“ und trägt damit denselben Titel Gisela Trahms lebt als Literaturkritikerin entstehen, damit das „Gespinst“ glü- wie Gottfried Benns letztes, vor sech- in Düsseldorf. Sie arbeitet unter anderem cken kann! Wenn seine Magie nicht zig Jahren entstandenes Gedicht. Beyer für die FAZ, Die Welt, den Tagesspiegel unmittelbar einleuchtet, bleibt es bei bettet es ein in die Beschreibung trost- und das Online-Magazin Der Umblätterer. einer Schüttelbox, in der die Plastik- loser Gewerbegebiete, anfangs in ein- Bei SuKuLTuR erschienen die Titel perlen durcheinander kullern wie in zelnen Bruchstücken und Hinweisen, Die Schlangen wechseln die Ufer (2010) den Repetitionen des Alltags. zum Schluss mit der Wucht der Verse, und Rauchen (2011).

SEITE 6 VOLLTEXT 2/2017 SCHLEYERS FOTOJOURNAL

Datei-Informationen Objektname karl_ove_knausgard_782.jpg Fotograf/ Verfasser Susanne Schleyer Informationen zum Bild Der norwegische Autor Karl Ove Knausgård Backstage rauchend im Fenster zwischen Lesung und Signierstunde nach zweistündiger Premiere seines Buches „KÄMPFEN“. Aufnahmedatum/ Uhrzeit Montag; 22.05.2017; 21:28:50 Ort/ Bundesland/ Land Radio Eins (Liveübertragung) im RBB- Sendesaal, Masurenallee, Berlin, Deutschland Bildrechte © 2017 Susanne Schleyer/autorenarchiv.de Auftraggeber/ sonstige Hinweise Luchterhand Verlag

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 7 Ich und der Urknall

Erich Klein im Gespräch mit Raoul Schrott über Literatur als Ahnendienst, die Dauer der Berge, Kochen für Philippe Soupault und sein Buch Erste Erde. PETER-ANDREAS HASSIEPEN PETER-ANDREAS © FOTO: Raoul Schrott: Wie sieht man die Aggressivität des Menschen als Reptilienforscher, wie als Primatologe?

ERICH KLEIN Wann wurde Ihnen klar, einem Sex-Kino – , standen da all diese des Dichters Raoul Schrott? dass Sie Schriftsteller werden wollten? alphabetisch geordneten Autoren: Ca- SCHROTT Nein. Ich mag keine Selb- RAOUL SCHROTT Kaum dass ich Bü- mus, Breton und auch H. C. Artmann. In stinszenierungen – aber Bücher. Die wa- cher lesen konnte, wollte ich sie bald mehreren seiner Bücher stieß ich dann ren bei uns zu Hause immer selbstver- einmal auch selber schreiben. Da war auf diese magisch klingenden, kursi- ständlich; die Bibliothek meines Vaters dieses Mysterium von Geschichten, von ven Wörter auf Gälisch und dachte mir ist nach wie vor größer als die meine. Für denen sich nie genau sagen ließ, ob sie damals: Aha, wenn du Dichter werden mich waren Bücher aber auch deshalb erfunden oder wahr waren. Und wie willst, musst du also Gälisch lernen. Das wichtig, weil sie eine Art von sprachli- sie sich ergaben. Als ich mit zehn nach habe ich gemacht. So führt eines zum an- cher Heimat darstellten. Ich habe mei- Landeck kam und in der Stadtbücherei deren – wie immer. ne Kindheit in Wien, Zürich und Tunis endlich in den Raum für die Erwachse- KLEIN Das muss ungefähr 1974 gewesen verbracht, weil mein Vater für die Wirt- nen gelassen wurde – es gab dort einen sein und es handelt sich vermutlich um schaftskammer arbeitete und von einer schweren schwarzen Vorhang wie bei einen kleinen Mythos über die Anfänge Außenhandelsstelle zur nächsten ver-

SEITE 8 VOLLTEXT 2/2017 INTERVIEW setzt wurde. Lesen und Schreiben habe linsauer, didaktisch und entweder po- Aber da kam W. G. Seebald, der noch ich in Tunis gelernt, am Vormittag Fran- litiklastig oder der eigenen Nabelschau nicht als Schriftsteller bekannt war, zu ei- zösisch von links nach rechts, am Nach- verschrieben. So wenig freigeistig oder nem Gastvortrag über Stifter – und zeig- mittag Arabisch von rechts nach links. temperamentvoll, eher blutleer. Ganz te mir, dass es auch andere Arten gab, Um da überhaupt mitzukommen, ver- anders als die romanischen Traditionen, an Literatur heranzugehen. Er brachte suchte ich anhand von Mimik und Ges- mit denen ich groß geworden bin. Dage- mich an die Uni in Norwich, wo ich mit tik zu verstehen, wovon dabei gespro- gen aber gab es unseren Englischlehrer, einer völlig anderen Denke konfrontiert chen wurde. Kinderbücher waren rar; der vom schwierigsten Buch der Welt wurde, bei der es um die Schlüssigkeit das Einzige, was es in Tunis für mich gab, erzählte – Finnegans Wake von Joyce. von Argumenten bei der Interpretation war Asterix und Obelix auf Französisch. Ich bestellte es mir in der Landecker Pa- ging, nicht um das bloße Präsentieren Also hielt ich mich an die Bücher für die pierhandlung: es dauerte ein halbes Jahr, von Wissen aus der Sekundärliteratur, Erwachsenen, Jack Londons Wolfsblut bis es da war – und ich kapierte dann die man samt Bibliografie zitierte, um sie etwa, wo ich auch noch nicht alles be- schnell, woher sein Ruf rührte. Mehr als mit ein wenig Fülltext zu verbinden. Ich griff. Literatur erschien da wie ein Rätsel, das andere offenbar leicht lösen konn- ten. Warum ich aber selber schreiben wollte, ist schwer zu sagen: Vielleicht um Über Kroetz oder Turrini wurden wir mir jene Geschichten zu erfinden, die elendslang abgeprüft, wir mussten die ich nicht in den Büchern anderer fand? Im Nachhinein ist das immer Westenta- sechs Phasen der Literatur in der DDR schenpsychologie. KLEIN Aus einem Leser wird nicht not- auswendig lernen. wendigerweise ein Schreiber. SCHROTT Vielleicht spielte es eine Rolle, dass ich in Tunis genauso fremd war wie dass der erste Satz den letzten fortführt, wollte da eigentlich schon längst Verglei- später in Tirol, beide Male ein Außensei- habe ich damals nicht kapiert. Doch die- chende Literaturwissenschaft studieren, ter, der nirgendwo richtig dazugehörte. ser Anspruch an Literatur – dass sie auch aber das gab es nur als Doktoratsstudi- Diese Position am Rand bringt einen ein Kunstwerk der Sprache ist – prägte um. Ich habe mich dann in den Neunzi- Blick von außen mit sich – Dinge erschei- sich ein. Genauso wie letztlich dann gern dort habilitiert. nen durch ihre Fremdheit eigenartiger doch der realistische Ansatz der deut- KLEIN Der ein wenig mysteriöse nächste und überraschender, als wenn man mit schen Literatur, die wir vorgesetzt beka- Punkt in Ihrer Biografie lautet: „Sekretär ihnen wie selbstverständlich aufwächst. men. Aber wie beides miteinander auf von Philippe Soupault“. Wie wird man Eben dieses Andersartige rückt die Lite- einen Nenner kriegen? als Tiroler Germanistikstudent zum Se- ratur dann systematisch in den Vorder- KLEIN Wir befinden uns am Anfang kretär eines lebenden Klassikers des Sur- grund, indem sie die Welt immer wieder der 80er-Jahre. Sie wollen noch immer realismus? von neuen Perspektiven aus schildert. Schriftsteller werden? SCHROTT Im Seminar Richard Shep- KLEIN Das Gymnasium in Tirol brachte SCHROTT Ja – aber ich wusste nicht, ob pards in Norwich begann ich mich für Sie dann vermutlich der deutschsprachi- ich überhaupt das Talent dafür habe. Dadaismus zu interessieren. Bis da- gen Literatur näher. Zumindest einen Brotberuf brauchte ich hin wusste ich davon nur, was uns der SCHROTT Wir hatten einen sehr links- deshalb. Also dachte ich mir, ich studiere Deutschlehrer beigebracht hatte: Dada lastigen Deutschlehrer, der uns dauernd Literatur – da habe ich Zeit, es heraus- ist Unsinnspoesie. Die Beispiele, die aufforderte: „Kommt’s zum Stammtisch zufinden und kann mir gleichzeitig das ich kannte, waren zwar ganz amüsant, der SPÖ!“ Das fand ich schon damals nötige Wissen dafür erwerben. Das war schienen aber nicht weiter profund. Bis für einen Pädagogen manipulativ. Sein nicht ganz falsch, hat allerdings den Weg Sheppard mir die komplexen Konzep- Lehrplan war dementsprechend einsei- zum Handwerk des Schriftstellers etwas te dahinter zeigte. Die Dadaisten sind tig: Über Kroetz oder Turrini wurden wir länger gemacht, weil man so das Theo- dabei auch heute noch unterschätzt. Ei- elendslang abgeprüft und mussten die retische erst bewältigen muss, um es da- nerseits hatten sie angesichts des Ersten sechs Phasen der Literatur in der DDR nach wieder in den Hintergrund treten Weltkriegs eine Bilanz der europäischen auswendig lernen, zu Rilke oder Hof- zu lassen. Ich habe mich also zunächst Kulturtraditionen gezogen, andererseits mannsthal aber gab es kaum mehr als fürs Lehramt auch auf der Germanistik ist an ihnen aber bereits die erste Aus- zehn Zeilen. Völlig unabhängig davon in Innsbruck eingeschrieben – die da- formung der heutigen Moderne ables- mochte ich die deutsche Literatur nicht mals einen ziemlich verschulten, fast bar: in der Auseinandersetzung mit der besonders: Sie erschien mir zu mora- schon amtsmäßigen Charakter hatte. Technik, dem triebhaft Irrationalen im

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 9 INTERVIEW

Widerspiel mit dem Rationalen, dem Be- KLEIN Der ging wie? später in sich zusammenfallen muss, wusstsein der Artifizialität unserer Aus- SCHROTT Serner hatte Soupault irgend- weil der Wind es einem vom Tisch drucksmittel. Sie versuchten die jeweili- wann im April 1920 an einem Nach- weht. Für mich verkörpert die Figur gen Dynamiken dieser Felder mit dem mittag in Genf getroffen. Es war mir des Hochstaplers die Erkenntnis, dass Humanen irgendwie im Gleichgewicht natürlich klar, dass er sich wohl kaum all unsere Sinnkonstruktionen – ob zu halten – in einer Art von gelebtem Re- mehr daran erinnern würde. Außerdem moralische, philosophische oder religi- lativismus. Es gibt keine Kunstform des hatte er es da bereits längst satt, über öse – stets relativ und letztlich absurd heutigen Mainstreams, die Dada nicht seine Jugendjahre mit dem Dadaismus sind. Dass jedes Dogma und jede Au- schon erfunden hätte: Happening, Rea- zu sprechen, als hätte er sonst nichts ge- torität bloß auf Macht beruhen – die der Hochstapler auf poetische Weise untergräbt. Indem er zugleich das Bes- Ich mochte die deutsche Literatur nicht te an uns darstellt, das Urmenschliche: das Schelmische und Närrische näm- besonders: Sie erschien mir zu lich. Was mich letztlich dazu geführt hat, den schönen Schein, Schwindel moralinsauer, didaktisch und und Täuschung in allen Bereichen zu entweder politiklastig oder der hinterfragen: indem man ihnen auf den Grund geht. Und zwar mit jener eigenen Nabelschau verschrieben. Gründlichkeit, die einem auch das Li- teraturstudium beizubringen vermag. KLEIN Der Aufenthalt in Paris 1985/86 dy Made, Installationen, Collagen, Mon- leistet. Er verlieh mir großzügig den Ti- war die Grundlage für Ihre späteren Bü- tagen; im Film reicht das bis zur heutigen tel seines Sekretärs – ich ordnete seinen cher über Dada und das recht exotisch Videokunst, beim Tanz bis zu Pina Bau- Nachlass, kochte für ihn und seine Frau klingende Thema Dadaismus in Tirol? sch. Selbst die heutige Weltkunst nahm Re, putzte, ging einkaufen, stellte Fragen SCHROTT In den Literaturgeschichten Dada mit seinem Interesse für den ‚Pri- und hörte vor allem zu. Für mich aber stand damals nicht mehr, als dass die mitivismus‘ vorweg. Dada war die erste war ebenso wichtig zu sehen, wie er als Dadaisten 1921 und 1922 dort Ferien Begegnung mit den Ausprägungen unse- Mensch war. Was sind Dichter, was muss machten. Punkt. Ich konnte im Archiv rer gegenwärtigen Zivilisation, aber das man dafür wissen, welche Person muss dann entdecken, dass diese Jahre die noch in aller Frische. So ähnlich wie bei man sein, welchen Blick muss man ha- letzte fruchtbare Periode Dadas dar- den Vorsokratikern in ihrer Zeit. ben – das sind Dinge, die einen keiner stellten, bevor er sich in Konstruktivis- Sheppard brachte mich mit den Expo- lehrt, die man selber erfahren muss. Das mus und Surrealismus aufspaltete. Bei nenten von Dada in Kontakt. So nahm er Auratische, mit dem man sonst gerne die ihren langen Aufenthalten in Tarrenz mich zu einem gewissen Wilhelm Simon Poesie verklärt, war mir stets suspekt. und Imst passierte eine Unmenge: Max Guttmann mit, der einer der Gäste bei der Soupault brachte mich dann auch in die Ernst arbeitet dort erstmals jene Total- Eröffnung des Cabaret Voltaire 1916 ge- Pariser Bibliothek Doucet, in der der ge- collagen aus, für die er berühmt wurde. wesen war. Guttmann betrieb da mit 103 samte Nachlass der Dadaisten und Sur- Zusammen mit Paul Eluard verfasste Jahren noch immer ein Fotostudio in der realisten aufbewahrt wird. So begann ich er zweihändig Texte zu seinen eigenen Oxford Street – vor allem war er aber Zeit- dort über Serner zu forschen, dessen Kri- Collagen, die Unglücksfälle der Unsterb- zeuge. Er hatte das Neopathetische Caba- minalgeschichten mir damals gefielen. lichen, das als zweites Buch im surrea- ret in Berlin gegründet und dabei Georg Dazu hatte es mir seine Letzte Lockerung listischen Kanon gilt und in Innsbruck Heym als Dichter entdeckt und später mit – Ein Handbrevier für Hochstapler ange- gedruckt wurde – all das, während Ernst Majakowski in Moskau gearbeitet. Ihm tan. ein Dreiecksverhältnis mit Eluards Frau zu begegnen war wie ein Handschlag mit KLEIN Sie haben also eine Vorliebe für Gala hatte, Breton auf seiner Hochzeits- dem 19. Jahrhundert. Ich begann mich Hochstapler? reise vorbeikam und dann auch Freud darauf ausführlicher mit Walter Serner, SCHROTT Nicht, weil ich mich selber als in Wien besuchte. Hans Arp feierte dort dem Österreicher unter den Dadaisten solchen sehe – obwohl ich wünschte, seinen fünfunddreißigsten Geburtstag. zu beschäftigen und fand schnell heraus, ich hätte dessen Eleganz und Leichtig- Sie druckten dort eine Nummer der Da- dass einer der Pariser Dadaisten noch leb- keit –, sondern weil jedes Kunstwerk, da-Zeitschrift Dada au grand air oder te: Philippe Soupault. Also fuhr ich nach ja jedwede existenzielle Sinnstiftung Der Sängerkrieg in Tirol. Ein gemein- Paris, brauchte aber, um so mir nichts, dir für mich etwas von einem Kartenhaus sames Manifest, „Aufruf zu einer letz- nichts bei ihm einfach aufzutauchen, ir- an sich hat, das man am Rande des ten Alpenvergletscherung“, wurde dort gendeinen Vorwand. Abgrunds errichtet, wo es früher oder ebenso geschrieben wie eines der ersten

SEITE 10 VOLLTEXT 2/2017 INTERVIEW

Stücke absurden Theaters, Tristan Tzaras Literatur, wie sie H. C. Artmann betrieb, Gasherz, das dort aufgeführt wurde. Eine der mir mit seinen breiten Interessen große Zahl von Gedichten entstand, wel- und seiner poetischen Luftgängerei che Dadas – bis dahin ein rein urbanes mehr als nur imponierte. Entgegen der Phänomen – Auseinandersetzung mit ganzen damaligen Suhrkämpferei, die der Natur zeigen. Louis Aragon war da, mir als allzu narzisstisch erschien, wusste aber auch die ersten Vertreter der ame- er, dass es bei der Dichterei auch darum rikanischen „Lost generation“. All das geht, die vielfältigen Traditionen leben- war Thema meiner Dissertation, die ich dig zu erhalten – um erst dann etwas Ei- darauf beim Haymon Verlag, der damals genes folgen zu lassen. Allerdings wurde nur Tyrolensien und Kochbücher pro- mir bald klar, dass ich mit diesem Ansatz duzierte, als Buch herausbrachte: Dada bereits in dritter oder vierter Generation 21/21. Musikalische Fischsuppe mit Rei- das betrieb, was zuvor schon die Surrea- seeindrücken. Wobei ich beim Layouten listen gemacht hatten, und ich damit von und beim Druck des Buches auch meine vornherein als Epigone dastand.

ersten Erfahrungen mit der Gestaltung SERNER DOROTHEA KLEIN Sie hatten ein Naheverhältnis zu © von Büchern machte. Artmann, der Sie wohl auch ein wenig

KLEIN Die weltberühmten Dadaisten in FOTO: protegierte? Tirol haben Sie mit Lokalpatriotismus Walter Serner SCHROTT Protegiert zu werden ist so eine erfüllt? Wiener Idee. Ich wüsste nicht, wer mich SCHROTT Natürlich! (lacht) Ich war froh senschaftlicher Natur. Wo lagen die An- je protegiert hätte. Hätte ich mich auch gewesen, früh aus der Tiroler Enge weg- knüpfungspunkte zum eigenen Schrei- ungern lassen. Wichtig für mich war zukommen, in England, Paris und dann ben? vielmehr, dass Artmann mich erstaun- in Berlin zu studieren. Dass die größten SCHROTT Zunächst musste ich, um das licherweise schätzte. Vielleicht weil er französischen Dichter nun aber von der Buch zu verkaufen, daraus vor Publi- sah, dass wir ähnliche poetische Auffas- Gegend, in der ich aufgewachsen war, kum lesen – was notgedrungen an eine sungen besaßen, ich aber auch in ganz begeistert waren, brachte mir sie erst als Performance gebunden war. Das stellte andere Bereiche wollte. Meine erste Le- Heimat näher. eine ziemliche Herausforderung dar: sung gemeinsam mit ihm im Standesamt KLEIN Einige der Dadaisten gerieten ich hatte ja nicht die geringste Erfahrung von Innsbruck, im Goldenen Dachl, war auch auf ideologische Abwege – Breton darin und war dazu eher schüchtern. Al- jedenfalls wie ein Ritterschlag für mich. und Aragon verbeugten sich nach dem Zweiten Weltkrieg sogar vor Stalin. SCHROTT Dem jugendlichen Relativis- Solche Paradoxien nicht zu negieren, mus Dadas treu zu bleiben, war offen- bar schwierig – offenbar braucht es mit im Bewusstsein, dass es kein endgültiges zunehmendem Alter für manche klare ideologische Bezugspunkte. Deshalb Rechts oder Links gibt, dieser war Dada wohl ein zeitlich begrenztes Geisteshaltung fühle ich mich nach Phänomen. Manche wurden Kommu- nisten, Julius Evola sogar Faschist – nur wie vor verbunden. Tristan Tzara und Raoul Hausmann blieben sich treu im Versuch, in dem permanenten Wechselspiel von Kräften, les in allem eine harte, aber lehrreiche Dabei war er noch aufgeregter als ich, dem sie sich ausgesetzt sahen, ein immer Schule. Daraus wieder ergab sich schnell Krawatte auf und zu, eine Zigarette nach nur als vorläufig zu erachtendes inneres die Notwendigkeit, auch eigene Texte der anderen! Ich dachte, eigenartig – der Gleichgewicht zu bewahren. Solche Pa- vorzutragen – wobei mir die „Wiener macht das doch schon seit fünfzig Jah- radoxien nicht zu negieren, im Bewusst- Gruppe“ ein zeitgenössisches Modell ren. Wir lasen Liebesgedichte – ich einige sein, dass es kein endgültiges Rechts bot. Sie zeigte einem ebenfalls, wie man meiner arabischen Übersetzungen und oder Links gibt, dieser Geisteshaltung sich von Sprache treiben lassen konnte, ein paar eigene. Mit ihm das machen fühle ich mich hingegen nach wie vor um zu sehen, wie weit man damit kam. zu dürfen, gab mir eine Bestätigung, als verbunden. Das reichte vom automatischen Schrei- könnte vielleicht doch noch irgendwann KLEIN Ihre Beschäftigung mit dem ben bis zu dem spielerischen Umgang was aus mir werden. Dadaismus war literatur- und kulturwis- mit den verschiedensten Formen von KLEIN Ihre Gedichte entwickelten sich

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 11 INTERVIEW dann aber in eine ganz andere Richtung. SCHROTT Ich entdeckte Derek Walcott, dessen Mittsommer/Midsummer ich übersetzte. Er verkörperte für mich auf exemplarische Weise eine Bildlichkeit, die ich schon von Shakespeare oder den Imaginisten her mochte – ein Denken in Bildern, das eine klare Sprache als Vehi- kel dafür einsetzte. Nichts Obskures wie bei Celan, sondern ebenso diskrete wie musikalische Sätze, um Bilder zu tragen und damit Realitäten auf poetische Wei- se wiederzugeben. Darüber fing ich an, mich nun auch handwerklich mit dem zu befassen, was ein Gedicht ist, welche Mittel es einsetzt, zu welchem Ziel und Zweck. Über die surrealistischen Sprach- spiralen und Wortkaskaden hatte ich ge- lernt, mir die Freiräume des Imaginären zu erarbeiten – aber ich wollte mit ihren Mitteln auch die Welt um mich abbilden. Wenn eine Häuserfassade rot ist, dann nicht bloß eines Reimes willen, sondern weil sie es wirklich ist. Ich wollte die Bedeutungen dessen erfassen, was uns umgibt. Um die Welt auf einen dichteri- schen Punkt zu bringen – mit den Koor- dinatenachsen von Vergangenheit und Gegenwart. KLEIN Nach Ihrem ersten Roman Fi- nis terrae, mit dem Sie beim Bach- mann-Preis Erfolg hatten, erschien Mit- te der 1990er-Jahre Die Erfindung der Poesie. Das Buch wurde zur Sensation und machte Sie schlagartig bekannt. Wie kam es dazu? SCHROTT Ich wollte einfach wissen, was Poesie ist, woher ihre Ausdrucksmittel

kommen, und wozu sie dienen. Und (1874) GUIDE HIS AND HOMER - BOUGUEREAU WILLIAM-ADOLPHE ILLUSTRATION: zwar auch deshalb, weil damals, als ich „Mich interessierte Homer als Schriftsteller in seiner Zeit, als Kollege gewissermaßen.“ zu schreiben begann, der Reim als reak- tionär galt, das Sonett als „beschissen“, Griechen, Römern und Arabern über KLEIN Hat Sie die große Resonanz gar wie es Robert Gernhardt formulierte, die irischen Mönche bis ins 14. Jahrhun- nicht überrascht – „Gedichte aus den ers- und eine Genetivmetapher als nicht er- dert. Ich hatte da einerseits die Kompa- ten viertausend Jahren“, das klang nicht laubt. Für mich waren das alles Postu- ratistik im Hintergrund, andererseits die gerade zeitgeistig? Ähnlich erging es Ih- late, deren Gründe mir wenig nachvoll- Auffassung, dass Literatur immer auch nen dann mit den Homer-Büchern – der ziehbar erschienen. Also fragte ich mich, „Ahnendienst“ darstellt, wie es Arno Übersetzung der Ilias und der Neuveror- wer hat das Gedicht eigentlich erfunden Schmidt einmal nannte. Dass nicht die tung von Troja. und wozu? Das hieß, zurück zu den eigene subjektive Großartigkeit in erster SCHROTT Der Erfolg hat mich tatsäch- Quellen gehen, um beispielsweise her- Linie zählt, sondern der Versuch, die Tra- lich erstaunt. Das gilt auch für die Re- auszufinden, dass der erste uns bekann- dition der Poesie für sich zu verkörpern sonanz auf Homer. Das deutsche Bild te Dichter ein Sumerer war – und dazu und sie weiterzutragen Die Erfindung der Homers war da noch immer von einer eine Frau. Und dann ging es von den Poesie war also eine Art Gesellenarbeit. rein ideologischen Auffassung geprägt,

SEITE 12 VOLLTEXT 2/2017 INTERVIEW die ihn für ihre bildungsbürgerlichen dass man sie begriffen hatte. Sinnkonst- Tag hinsetzen. Zwecke instrumentalisierte. Man wollte ruktionen als sprachliche Architekturen KLEIN Das Troja-Buch erfuhr teilweise in ihm bloß den großen Genius sehen, lassen sich leicht auf dem Blatt erstellen harsche Kritik. Sie meinten dazu, keines der den Beginn Europas symbolisierte, – aber sie tragen erst, wenn man sie auch der Argumente überzeuge Sie. Bisweilen ohne irgendwelche Abhängigkeiten von erden kann. Namen, Verweise, Anspie- reicht die Kritik an Ihren Büchern bis zur den Kulturen des Nahen und Mittleren lungen nur irgendwie urban fallen zu Gehässigkeit – ist Ihnen das egal? Ostens wahrhaben zu wollen. Eine auch lassen, wirkt auf mich bloß lächerlich – SCHROTT Literatur ist im Wesentlichen literaturwissenschaftlich völlig verstaub- was zählt, ist das Argument. Nicht das immer – selbst wenn sie kafkaesk auftritt te Sichtweise. Mich interessierte Homer Bildungsgut an sich ist von Bedeutung, – Ausdruck eines Selbstbewusstseins. Sie aber als Schriftsteller in seiner Zeit, als sondern seine Anwendbarkeit auf die hinterfragt und durchdenkt die Dinge Kollege gewissermaßen. Dazu kommt, Wirklichkeit – und seine poetische Qua- jedesmal neu. Warum man mir das, wie dass es bei den Dichtern, von denen lität. Ich mochte die elitäre Bildungs- bei meiner Homer-Theorie – die nach ich am meisten gelernt habe – Pound, huberei auch bei Ezra Pound nie: diese wie vor die Plausibelste ist, auch weil Heaney, Brodsky oder Nabokov etwa – normal war, dass man seine Vorgänger übersetzt. Es gehört nicht nur zum Be- Entgegen der ganzen damaligen rufsethos eines Dichters, im angelsächsi- schen Raum war es auch selbstverständ- Suhrkämpferei, die mir als allzu lich, Gedichte auf poetische und nicht nur philologische Weise zu übersetzen. narzisstisch erschien, wusste Artmann, Während der deutsche Literaturbetrieb dass es bei der Dichterei auch darum die Aufrechterhaltung der poetischen Traditionen weiterhin viel zu sehr den geht, die vielfältigen Traditionen lebendig Universitäten überlässt. Ohne deren Arbeit lassen sich die alten Texte nicht zu erhalten. erschließen – das habe ich bei meiner akademischen Ausbildung gelernt. Auf dieser Basis kann erst die Übersetzung Haltung, dass erst ein eingeweihtes sie die Forschungen seither zunehmend eines Gedichts, die selbst ein Gedicht ist Publikum die eigenen Produktionen bestätigt – als Arroganz auslegt, ist wohl – wie Enzensberger einmal sagte –, dem goutieren kann. Als Schriftsteller startet nur dadurch zu erklären, dass man durch Original gerecht werden. Wobei sich ge- man ja auch meist bei einer Position des neue Sichtweisen wohl oder übel über- rade dadurch auch jene unterschiedli- Nicht-Wissens, um sich durch das Schrei- holte Dogmen aushebeln muss. Aber chen Interpretationen ergeben, welche ben und die Recherche etwas zu erschlie- darin steckt keine Überheblichkeit, son- die Kunst der Poesie über die Jahrhun- ßen. Ich habe mich dabei noch nie für dern viele harte Grundlagenarbeit. Na- derte hinweg am Leben erhalten. Wie klüger als meine Leser gehalten – ich türlich kann man sagen – „Viel Neid, viel das bei der Musik gang und gäbe ist: habe ihnen jedesmal nur mein Interesse Ehr“. Aber es gibt noch ein wichtiges an- auch da zählt die Aufführungspraxis, für bestimmte Dinge voraus. Vielleicht deres Moment: Literatur hat ganz allge- die eine reine Partitur erst zum Leben ist dieser Anspruch zu demokratisch, mein etwas Anarchisches. Etymologisch erweckt. aber ich empfinde all das Raufschielen gesehen bedeutet das – es gibt kein erstes KLEIN Ist Bildungsbürgertum oder zu- zum Auratischen als ebenso kontrapro- Gesetz, kein oberstes Prinzip. Jedes Buch mindest das humanistische Gymnasium duktiv wie das anmaßende Herabschau- verkörpert etwas Eigengesetzliches. In nicht ohnedies die Voraussetzung, um en von Kritikern. Taugt Literatur was, der österreichischen und deutschen Lite- den Poeta doctus Raoul Schrott zu lesen? dann will sie in Augenhöhe verhandelt ratur rechnet man sie allzu simpel diver- SCHROTT Mir ist bildungsbürgerliche Ar- werden. Aber dazu gehört eben auch, sen Strömungen oder politischen Lagern roganz fremd. Ich bin weder mit diesem dass sie eine jahrhundertealte humanis- zu und unterstellt sie einem präskrip- Anspruch aufgewachsen, noch bringt tische Tradition besitzt – die es wert ist, tiven ethischen Denken. Im Gegensatz er einen aus seinem Elfenbeinturm. immer wieder neu belebt zu werden. dazu war Literatur für mich stets mehr Intelligenz und Wissen sind das eine: Weil sie uns etwas über den Menschen die Beschäftigung mit den Abgründen doch erhalten sie erst Bedeutung, wenn sagt. Schreiben war für mich immer eine des Menschen, eher Anthropologie im sie relevant werden können. Und das Möglichkeit, Erkenntnisse über die Welt, eigentlichen Sinn. Dadurch erhält die bedarf einer gewissen Bodenständig- die Natur und den Menschen zu gewin- Literatur aber auch etwas A-Moralisches keit. In meinem intellektuellen Umfeld nen – das ist das Spannende daran. Wäre – das merkt immer wieder auch daran, musste man die Dinge erklären, zeigen, es anders, würde ich mich nicht jeden wie rasch man auf Tabuthemen stößt.

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 13 INTERVIEW

KLEIN Kommen wir zu Ihrem jüngsten etwas geahnt oder nur wenig begriffen geben. Inzwischen weiß ich – wenn ich Buch Erste Erde. Wie lange haben Sie an hat – vom Urknall über die Bildung der auf das Karwendel schaue, dass es sich diesem Epos plus wissenschaftlichem chemischen Elemente in den Sonnen; um sedimentiertes Plankton handelt, Anhang gearbeitet? den Mineralien, die als Katalysatoren das sich etwa mit einem Zentimeter in SCHROTT Sieben Jahre. für die Entstehung des Lebens wirkten; hundert Jahren abgelagert hat. Es sind KLEIN Sie beginnen mit einem Welt- welche Formen des Lebens es überhaupt also gar nicht so viele Jahrmillionen, die schöpfungsmythos der Maori und einem gibt; wie weit man beim Blick in den man da vor seinen Augen aufragen sieht. spektakulären Abstieg in eine Höhle: „im Nachthimmel zurück in die Vergangen- Und ich weiß, dass ich aus diesem Plank- anfang war das nichts“. Wie viel Angst heit sehen kann … Es tut sich eine solche ton hervorgegangen bin. Das holt diese steckt in den 840 Seiten – der Kosmos als Fülle von Erscheinungsformen auf, die Berge plötzlich nahe. Abgrund ist ein zentraler Gegenstand einem einerseits zeigen, wie winzig wir KLEIN Aber Sie sind ja trotzdem nicht nur Ihres neuen Buches. sind in diesem gleichgültigen und leeren Plankton! SCHROTT Ist nicht jedes Buch eine Revol- Universum – und wie sehr doch zugleich SCHROTT Mir geht es dabei um etwas te gegen den Tod? Und der Versuch, die Teil von ihm und mit ihm verbunden. Es anderes. Auch von einem 135 Millio- Angst davor zu überwinden, indem man gibt so viele Zugänge und Aspekte, dass nen Jahre alten Berg bleibt am Ende gar einen Bezug zur Welt herstellt? Das Buch ich mich nach wie vor frage: Wie geht das nichts übrig. Vom größten Gebirge, das ist jedenfalls aus einem zutiefst privaten alles unter einen Hut? (lacht) es je gab, ist heute der Sockel des Harz und existenziellen Bedürfnis heraus ent- KLEIN In den sieben Büchern, in denen übrig. Auch das Ewige der Berge ist nicht standen. Ich wollte einfach wissen, bevor auch unterschiedlichste literarische Gen- ewig und dadurch entwickelt man ei- ich sterbe, wo ich da war und was da ist res durchgespielt werden, treten zahlrei- nen anderen Bezug. Ich schaue aus dem – nicht aufgrund einer Religion, sondern che Wissenschaftler als Ihre Referenten Fenster und sehe, das ist ein Riff. Was ich auf der Grundlage dessen, was wir aktu- auf. Den größten Bogen beschreibt dann mir erklären kann, schafft ein Nahever- ell darüber wissen. Mythen stellen dabei Raoul Schrott selbst. Der Weg führt quasi hältnis – das ich so vorher nicht kannte. die ersten Ausprägungen unserer kultu- vom Nichts bis zur Heimkehr in die Al- Andrerseits bin ich natürlich kein Plank- rellen Denkmuster dar – die sich dann pen. ton – was mich wieder in die Ferne rückt. durchaus auf das naturwissenschaftliche SCHROTT Ich wollte beim Urknall an- In diesem Oszillieren zwischen Ferne Denken auswirken. Die Idee des Ur- fangen und mich an einem roten Faden und Nähe, Fremdem und Eigenem liegt knalls beispielsweise als creatio ex nihilo über die Entstehung der Erde, des Le- eine unauflösbare Spannung, die ich als ist dabei auch schon in der Bibel präsent bens und des Menschen bis zu meiner höchst lebendig empfinde. Man kann und gelangt über Augustinus und den aktuellen Heimat im Bregenzerwald die Widersprüche nicht aufheben, es sei Priester und Physiker Lemâitre schließ- hinschreiben. Dabei aber hat sich mein denn, in einer Religion, die alles in ihrer lich auch in die Physik. Blick auf die Welt und den Menschen Statik auflöst, oder in einer Ideologie, die von Vornherein nur als begrenzt an- zusehen ist. Ich wollte einfach wissen, bevor ich KLEIN Ihr Ansatz ist gleichermaßen en- zyklopädisch wie existenzialistisch grun- sterbe, wo ich da war und was da ist – diert. SCHROTT In einer Buchhandlung fin- nicht aufgrund einer Religion, sondern den sich Tausende, auf einer Buchmesse auf der Grundlage dessen, was wir Hunderttausende Bücher, die sich stets nur mit dem Allzumenschlichen be- aktuell darüber wissen. schäftigen – als hätten wir nicht längst genug von solchen Selbstbespiege- lungen. Bücher über die Natur gibt es, KLEIN Das klingt vorerst einmal recht mehr als je zuvor verändert. abgesehen von Fotobänden und eini- faustisch! KLEIN Inwiefern? gen wissenschaftlichen Publikationen, SCHROTT Hatte aber nicht das geringste SCHROTT Ein einfaches Beispiel: Die relativ wenige. Als wäre das nicht die mit schriftstellerischer Selbstdarstellung Tiroler Berge waren für mich ewig, im- Bühne, auf der all die Figuren dieser Fik- oder Großmannssucht zu tun. Und dazu mer schon da, totes Gestein, fern, fremd. tionen agieren! Und dabei gibt es prak- war diese Form der Auseinandersetzung Das, wozu ich werde, wenn ich sterbe. tisch keine Bücher, die auf zeitgemäße mit der Welt auch eine sehr lustvolle! Das Ich bin etwas kurzlebig Organisches, und literarische Weise versuchen, jene Wissen öffnet einem ja ganze Welten, die Berge das anorganisch Tote. Einen Beziehung zwischen Mensch und Welt von denen man vorher entweder kaum größeren Gegensatz schien es nicht zu herzustellen, welche die eigentliche ety-

SEITE 14 VOLLTEXT 2/2017 INTERVIEW mologische Bedeutung von „re-ligio“ ist: Figuren, in die ich schlüpfen kann, um auf, Astronomen, Biochemiker, eine An- nämlich die Rückbindung des Subjekts, durch sie die Welt jedesmal neu, anders thropologin – die Schauplätze von Erste Es gibt zwar die biblische Genesis, die im zu sehen. Dazu bedarf es Personen, für Erde sind über die ganze Welt verstreut. 6. Jahrhundert vor Christus geschrieben die das Wissen, über das sie verfügen, Bisweilen wird man als Leser leicht über- wurde und damals sozusagen auf dem etwas Selbstverständliches ist. Es ging fordert. neuesten wissenschaftlichen Stand war mir dazu nicht um die reine lyrische SCHROTT Wird man der Welt gerecht, – aber inzwischen unrettbar überholt ist. Darstellung von Wissen, sondern auch wenn man sie so simplifiziert, dass sie Und selbst in Alexander von Humboldts um die Frage, was macht dieses Wissen sich in der U-Bahn zwischen ein paar Kosmos ist kaum je vom Menschen und mit den jeweiligen Menschen? Welchen Stationen lesen lässt? Ich glaube nicht. seinen möglichen Beziehungen zur Welt Blick auf die Welt bekommt man, sobald Das Grandiose am Universum ist gerade die Rede. Das Enzyklopädische und das man dieses oder jenes über Kosmologie, seine Komplexität, die jedwede dichteri- Existenzielle sind da nur zwei Seiten der- selben Münze. KLEIN Sie muten der Literatur damit ziemlich viel Empathie zu. SCHROTT Die Literatur wie alle anderen Künste lebt doch gerade von der Empa- thie zu den Dingen, die uns umgeben. Dabei aber scheinen wir inzwischen in völlig selbstbezüglichen Sphären zu exis- tieren. In einer Art in sich abgeschlos- sener Schneekugelwelt – innen der Stephansdom, und wenn man schüttelt, dann schneit es. Das funktioniert aber bloß auf Basis unseres Wohlstandes – so- bald der wegbricht, wird die Notwendig- keit einer Anbindung an die Welt größer.

Mein Epos bezieht sich deshalb nicht nur (1810) JORULLO VULKAN - BOUQUET LOUIS ILLUSTRATION: darauf, was wir – in all der bisher noch „Totes Gestein, fern, fremd. Das, wozu ich werde, wenn ich sterbe.“ nie dagewesenen Fülle – über die Natur wissen, sondern auch welche Haltungen Chemie oder Evolution weiß. Wie sieht sche Fantasie weit übersteigt. Das habe und Positionen sich aufgrund dieses Wis- man die Aggressivität des Menschen als ich versucht, anschaulich werden zu las- sens für einen ergeben können. Reptilienforscher und wie als Primato- sen und so gut es geht auch zugänglich KLEIN Die einfachsten Fragen sind die loge? Wie stellt sich das Leben dar, wenn und durchschaubar zu machen. Darin schwierigsten! Ihre Fragestellung ist aber ich über seine Ursprünge Bescheid weiß? bestand eine der Anstrengungen des nicht so neu: Sie erwähnen selbst die Wie sehen wir uns, wenn wir erkennen, Schreibens: sie dem Leser möglichst Zwei Kulturen von C. P. Snow, der in den dass wir von Schwämmen abstammen durchdacht nahezubringen. Dabei aber 1950er-Jahren das Auseinanderklaffen – oder dann vom Lungenfisch? Wie be- zu simplifizieren ist wie Populismus in von Natur- und Geisteswissenschaften greifen wir uns, wenn wir uns durch die der Politik: übermäßige Vereinfachung und das mangelnde Interesse bei den Entstehung der Pflanzen einer völlig verfälscht die Dinge bis zur Unkenntlich- Dichtern an Wissenschaft beklagte. In- anderen Lebensform gegenüber sehen? keit. Aber ich habe versucht, einen roten wiefern ist Erste Erde eine Synthese der Welche Weltbilder entstehen dadurch? Faden durch dieses Labyrinth zu finden: beiden Sichtweisen? Sie haben gleichsam Um so etwas darstellen zu können, muss indem ich mich auf die wesentlichen zur Illustration eine Reihe von Figuren das jeweilige Wissen jedoch einen Sitz im Stationen des Universums und seiner eingeführt, die sich mit den jeweiligen Leben haben – in Figuren, durch die das Evolution hin zum Leben und zu uns be- Problemen wissenschaftlich befassen. Wissen anschaulich wird, mit denen sich schränke: auf Orte, die dafür stehen kön- SCHROTT Ich wusste von vornherein, Geschichten verknüpften: kurz in ihren nen, auf einzelne wichtige Fundstellen dass ich nicht einfach über mich selbst Biografien und Lebensumständen. Nur und die Menschen dahinter. schreiben kann, so nach dem Motto: so wird etwas in aller menschliche Breite KLEIN Werden in diesen Figuren die ich und der Urknall, ich und die Entste- für uns nachvollziehbar. Deshalb besteht Masken des Relativismus absolut gesetzt hung des Lebens. Das geht nicht – auch das Buch, wenn Sie so wollen, aus vielen – oder verkörpern sie dabei auch univer- weil ich mich nicht in dem Übermaß eigenständigen Kurzromanen. selle Gesetze? für mich selbst interessiere. Ich brauche KLEIN Es treten unter anderem Physiker SCHROTT Die Figuren erlauben mir, zu

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 15 INTERVIEW skizzieren, welche Positionen sich ge- leben lohnt. Ich wollte, ich wäre ganz denz und Metaphysik. Dichtung zeigt, genüber der Welt einnehmen lassen. ohne diesen kulturellen Ballast aufge- wo diese Metaphysik beginnt – bei der Einer glaubt an Gott, ein anderer nicht, wachsen, der einem den Blick auf die Koppelung von zwei Worten. Dabei ent- der nächste sieht ihn ganz in der Natur Welt verstellt, den man immer erst für stehen verschiedenste Widersprüche, aufgehen, der übernächste will mit ihm sich überwinden muss, um sie unvor- Ambivalenzen, die aber – anders als in nichts zu tun haben, selbst wenn es ihn eingenommen zu sehen. Dabei haben der Religion – offengelassen werden gäbe. Die dadurch sich ergebenden mo- mich jedoch stets Bibel wie Koran als und sich nicht in der erlösenden Figur ralischen Haltungen durchzuspielen, Literatur interessiert – inwieweit sie über eines Gottes umfassen lassen. Anders als machte auch die Lust beim Schreiben unsere Begierden etwas aussagen. Die so in der Religion tritt bei ihr das Brüchige aus – erst dadurch wird das Buch ja zur berechtigt sind wie es zugleich naiv ist, und Rissige unserer humanen Sinnkons- Literatur. Andernfalls wäre es nur eine zu glauben, sie würden sich je durch die truktionen klar zutage – und gerade das moderne Form von Lukrez’ De rerum Welt erfüllen lassen. Aber auch, weil die bringt eine Spannweite und Spannungs- natura, wo man halt Wissen lyrisch Poesie ja aus der Religion kommt, ihre breite in unser Denken ein. Wechselnde verblümt aufbereitet wiederfindet. Ich Sprache in ihr entwickelt hat. Positionen, in denen sich über Wahrheit selbst tauche nur dort auf, wo es sich KLEIN Hat das für einen Dichter spezielle verhandeln lässt – sowohl intellektuell nicht lohnte, eine Figur zu erfinden. Was Folgen? wie emotional. Während die Idee Got- die Wissenschaften dabei aber lehren, SCHROTT Es bedeutet zumindest nicht, tes ihren zivilisatorischen Erfolg daraus ist, dass es keine wirklich letzten Dinge, dass ich ein reiner Materialist oder Posi- bezieht, dass sie all das Paradoxale auf kein endgültiges Fundament gibt – keine tivist wäre. Als Dichter produziert man ja ein menschliches Agens vereinfacht. Im Theorie von Allem, sosehr man sie sich permanent Transzendenzen, Metaphysi- Vergleich zum unmenschlichen, gran- auch erhofft. sches, wörtlich: Über-das-Physische-Hin- diosen, majestätischen, kalten, leeren KLEIN Sie führen einen relativ leiden- ausgehendes. Das ist an einem einfachen Universum finde ich die Idee Gottes ... schaftlichen und wortreichen Kampf ge- Beispiel leicht zu zeigen. Wir wissen alle, KLEIN Läppisch? gen das Christentum. was Erde ist – man muss nur in einen SCHROTT Läppisch klingt zu arrogant. Das wäre nur meine eigene Reaktion. Es wird ja auch in jedem Gedicht eine Art von Metaphysik betrieben: Das Gedicht Aber es gab genügend Stellen, an denen konstruiert jedoch bloß für einen spezi- der Lektor sagte: „Raoul, da musst du ellen Moment Sinn, in der Totalität eines Zusammenhangs, die sich normalerwei- vorsichtig sein. Du kannst die Juden- se im Alltag nicht so leicht erschließt. Literatur und Religion sind also nicht vernichtung nicht mit dem Genozid in ganz weit voneinander entfernt: Man Myanmar oder mit Pol Pot gleichsetzen.“ muss nur daran erinnern, dass Religion ursprünglich Literatur war, die dann für dogmatisch erklärt wurde. Poesie hat sich wiederum aus diesen religiösen For- SCHROTT Wenn, dann gegen die Dog- Blumentopf greifen. Eine Orange fin- men entwickelte und wurde nach und men der Religionen, die in oder selbst det sich in einer Fruchtschale. Und was nach über Jahrhunderte wieder selbst- hinter dem Universum ein Wesen postu- „blau“ ist, dazu genügt, auf den Himmel ständig und säkular. Würde ich an Gott lieren – das noch dazu uns selbst glei- zu zeigen. Wenn ich diese Elemente zu glauben, hätte ich so ein Buch wohl kaum chen soll. Paul Éluards Metapher „Die Erde ist blau geschrieben. Und wüsste auch nicht, wie KLEIN Das erspart mir die Gretchenfrage. wie eine Orange“ verbinde, dann erhal- Gott und das naturwissenschaftliche SCHROTT Ich bin Atheist. te ich aber ein Bild, das nicht einmal Weltbild noch zusammengehen sollten. KLEIN Ein Kind, das in einem Kuhstall mehr per Photoshop darstellbar wird. Das hat sich auch kürzlich bei einem am Rand des römischen Imperiums ge- „Die Liebe ist eine Rose“ ist ebenfalls langen Gespräch für die FAZ mit einem boren wird und später als Retter der Welt eine – wenn auch abgegriffene – Meta- Jesuiten erwiesen, der zugleich Physiker auftritt, das berührt Sie nicht? pher. Auch sie demonstriert, dass der ist. Dabei wurde völlig klar, dass wir un- SCHROTT Nein. Nicht einmal in der Vergleich von zwei Dingen miteinander sere katholischen Vorstellungen eines Verblendung einer historischen Figur, strukturelle Ähnlichkeiten erkennen Himmels und einer Hölle, von Auferste- die gewissermaßen als Che Guevara lässt und dabei einen Bezug zu etwas hung und ewigem Leben, einem Gott als von damals auftrat – um dann für eine Fremdem herstellt – die Natur in diesem strafender Autorität, der unser Gebete Idee zu sterben, für die es sich allein zu Fall. Darin liegt bereits genug Transzen- erhört oder seinen Sohn als Sündenbock

SEITE 16 VOLLTEXT 2/2017 INTERVIEW schickt ad acta legen müssen. Gott kann nur noch als abstrakte Prima Causa aufgefasst werden – sozusagen vor und hinter jedem Urknall. Doch was erklärt eine solche Idee Gottes noch, wenn sie derart unpersönlich aufgefasst werden muss? Wenn wir nicht einmal die Grün- de für den Urknall begreifen können, wozu dann die Idee Gottes einführen? Geschweige denn, dass diese Art der Religion überhaupt nichts mehr mit den Konfessionen zu tun hat, denen die Menschen heute anhängen. Das wäre dann eine völlig neue Sekte. KLEIN Von einer Ihrer Expeditionsrei- sen bringen Sie einen Meteoriten mit, den Sie vorerst auf Ihrem Bücherregal ablegen. Später heißt es, Sie würden ihn eines Tages Ihrer Tochter schen- ken. Der Meteorit fungiert dabei als eine Art Symbol dafür, dass keinerlei Religion vonnöten ist. Was ist, wenn Ihre Tochter nun doch in den Religi-

onsunterricht gehen will? TRIVIER MARC © SCHROTT Das tut sie ohnehin, weil sie

es in der Volkschule so wollte, eigent- FOTO: lich aber nur der anderen Kinder we- „Für mich war wichtig zu sehen, wie Soupault als Mensch war. Was sind Dichter? Welche gen. Inzwischen kommt sie selber da- Person muss man sein, welchen Blick muss man haben?“ rauf, dass da manches nicht stimmen kann. Mir geht es dabei nicht um eine ich: Träume wachsen auf Bäumen, es zungen x gleich y ist. Das selbe tut die Entgegensetzung von Literatur und muss also einen Traumbaum geben. Formel E = mc2. Beides baut auf analo- Religion. Die aggressive Religionskri- Das mag ein erster Ansatz sein, um gischem Denken auf. tik eines Richard Dawkins halte ich für über Sprache und Ursachen zu reflek- KLEIN Kurz gesagt – wer Wissenschaft kurzsichtig, schon allein deshalb, weil tieren. Aber das Wissen, das wir mittels und Kunst hat, der hat auch Religion. wir in unserer Sprache permanent die solcher Denkbewegungen erlangen, Wer beide nicht hat, der habe Religion, Dinge personifizieren und das Verlan- erschließt uns dann aber ganz ande- wie schon Goethe meinte. gen nach Metaphysischem menschlich re Aspekte. Die so schrittweise in sich SCHROTT Ja. Meine Beschäftigung mit ist. Oder, um meinen letzten Gedicht- schlüssig sind und aufeinander aufbau- den Naturwissenschaften kommt da- band zu zitieren: es ist unmöglich, an en können. Die Wissenschaft nimmt bei auch aus der Poesie. Die Hälfte nichts zu glauben. Auch der Glaube keine solchen Setzungen vor, sondern der geschriebenen Gedichte besteht an das Nichts ist ja ein Glaube. Das konstruiert in permanentem Hinterfra- ja nach wie vor aus Naturlyrik – um Transzendente ist aber schon in un- gen eine Welt aufgrund rationaler und jedoch eine Weltauffassung weiterzu- seren kognitiven Strukturen in uns überprüfbarer Mittel – um letztlich tragen, die immer noch größtenteils angelegt, indem wir in Metaphern zu denselben Mysterien zu gelangen. romantisch geprägt ist. Sie stellt eine und Analogien denken. In den Wol- Das Rätsel wird der Welt dadurch nicht zeichenhafte Natur dar, wie sie etwa ken einen Gott zu sehen, der donnert, genommen: aber es wird ein Zugang Peter Huchel oder Paul Celan sah. Will ist kein besonders großer Schritt – er dazu hergestellt, der all unsere Fähig- man das nicht blind weiter betreiben, stellt bereits das erste wissenschaftliche keiten umfasst, die rationalen wie die muss man sehen lernen und dabei Denken dar, indem dabei nach Grün- irrationalen. Auch die poetischen: auch berücksichtigen, was wir heute den dafür gesucht wird. Glauben heißt denn Wissenschaft wie Poesie basieren über die Natur wissen. Dann taucht jedoch, etwas einfach zu setzen. Sagen letztlich auf einem Analogiedenken. automatisch auch die Quantenphysik wir: Traum hat aufgrund seines Klan- Eine Metapher ist eine Gleichung, die des Lichts oder die physikalische Optik ges etwas mit Baum zu tun. Also sage sagt, dass unter bestimmten Vorausset- auf. Ich weiß nicht, wie viele Hundert-

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 17 INTERVIEW tausend Gedichte über Sonnenunter- dass etwas qualitativ anderes dabei ent- monatelang vor Augen – und kommt gänge es gibt, obwohl jeder weiß, dass steht: unser Bewusstsein – oder eben dann plötzlich an einen Ort, an dem die Sonne nicht untergeht. Gleichzeitig das Leben, das sich schließlich aus den es Milliarden Jahre in die Tiefe geht. kenne ich kein Gedicht, das schildert, beim Urknall entstandenen chemi- Es war überraschend, erschreckend, dass sich die Erde dabei von der Sonne schen Elementen ergibt. Ohne Meta- in allen Variationen. Das eigentlich wegdreht, die so unter den Horizont phern, die das irgendwie anschaulich Erstaunliche ist aber der Umstand, in gerät – weshalb man hinter sich den und imaginierbar machen, sind wir welchem Maß das Wissen einem erst Erdschatten aufsteigen sehen kann. jedoch gar nicht imstande, zu solchen die Dinge aufzeigt. Wüsste man nicht, Diese Überlegung hat mir neue Sicht- Erkenntnissen zu gelangen. Letztlich was man da vor Augen hat, was es be- weisen eröffnet – die auch poetisch sind wir – in einem philosophischen deutet und darstellt, ginge man in der nutzbar sind. Sinne – ohne Metaphern nicht in der Regel achtlos daran vorbei. KLEIN Heinrich von Kleist sprach in ei- Lage produktiv zu denken. KLEIN Das letzte Kapitel ist ein Buch in nem Fragment von zwei Gruppen von KLEIN Erste Erde ist auch ein Reisebuch, eigener Sache. Warum gehen Sie mit Ih- Menschen – die eine verstehe sich auf mit allen möglichen Abenteuern und rer Heimat so harsch um, während Sie Metaphern, die andere auf Integrale. Gefahren verbunden. Gestatten Sie sonst in Sachen Politik eher Zurückhal- Die Schnittmenge derer, die beides be- eine „touristische“ Frage: Wo war die tung üben. Das Ende des Kommunis- herrschen, sei zu klein und könne des- Welt am schönsten, wo am schreck- mus blitzt einmal am Rand auf, oder halb vernachlässigt werden. Sie führen lichsten? auch die Frage „Wer glaubt noch an Ge- – etwa auch in ihrem Buch Gehirn und SCHROTT Sie war immer wieder anders. schichte, an Entwicklung“? Gedicht – eine permanente Auseinan- Sie war nicht einmal schöner, einmal SCHROTT Je näher man sich selbst dersetzung mit diesem Argument. hässlicher – sondern anders in ihrer kommt, umso konkreter kann man SCHROTT Das stimmt so nicht ganz. Fremdheit oder Nähe. Es gab da kei- werden – vom Urknall bis hin zur ei- Schon Robert Musil oder Hermann ne Konstanten – in Neufundland auf genen Heimat. Im Buch geht es doch Broch haben genau das versucht; das- der Suche nach den ersten vielzelligen gerade um solche Verortungen im selbe gilt für Enzensberger, Thomas Lebewesen die Klippen abzugehen, Hier und Jetzt. Dafür aber die einzel- Lehr oder Ulrich Wölk. Ich bin also während es saukalt war und die Gischt nen Figuren zu ideologisieren, hätte nicht der Einzige, der sich für so etwas einem ins Gesicht peitschte, hatte et- den Zugang zum jeweiligen Thema interessiert. Außerdem ist wohl klar, was unheimlich Wildes – und zugleich verbaut – und wozu solche aufgesetzte dass Wissenschaftler keine andersgear- zutiefst Beeindruckendes. In Australi- Schriftstellerkommentare produzie- tete Spezies darstellen. Sie sind in der en sah ich Stromatolithen als die alle- ren? Aber es gab genügend Stellen, an denen der Lektor sagte: „Raoul, da musst du vorsichtig sein. Du kannst Jede wissenschaftliche Erkenntnis die Judenvernichtung nicht mit dem Genozid in Myanmar oder mit Pol Pot beruht auf einem metaphorischen Denken. gleichsetzen.“ Genau auf dieser Ebene argumentiert aber die Primatologin – sie zeigt Ähnlichkeiten auf, die durch- gleichen Zivilisation sozialisiert und rältesten fossil erhaltenen Formen ers- aus politisch auswertbar sind. Das ihre Kreativität ist in ihren Grundlagen ten Lebens. Das bedeutete durch eine stellt nicht immer meine Überzeugun- einem poetischen Denken durchaus unglaubliche Wüste mit einem kaput- gen dar – diese Positionen entwickeln vergleichbar. Jedes wissenschaftliche ten Auto zu fahren. Und da war auch sich auch aufgrund der Eigendynamik Heureka, jedes Aha-Erlebnis rührt aus Angst dabei. Dann sieht man aber ein einer Figur. Es ist eine Sache, mögli- der Erkenntnis, dass etwas wie etwas Stück Strand, an dem noch das Wellen- che Bezüge zur Welt herzustellen und Anderes ist. Auf einem metaphori- spiel sichtbar ist, als sich das Meer vor moralische Sichtweisen zu skizzieren, schen Denken also. In Gehirn und Ge- 3,5 Milliarden Jahren zurückzog – und und eine andere, diese dick zu unter- dicht habe ich versucht, die kognitiven steckt plötzlich in dieser unvordenk- streichen. So etwas steht der Literatur Strukturen, die dahinterstecken, ein- lichen Zeit. Man kann sogar auf den immer schlecht an. Sie liefert die un- mal genauer abzuklopfen. Erste Erde Sandstein klopfen und der Sand rieselt terschiedlichsten Modelle, die einen unternimmt das ebenfalls, nur für an- wieder daraus hervor. Das sind höchst anderen Blick auf die Welt erlauben dere Gebiete. Wobei sich auch da Phä- intensive Erfahrungen, die man auch – und ich sage das nicht, um mich ir- nomene von Emergenz ergeben – das nur zu machen in der Lage ist, wenn gendwie rauszureden. Und es gab da heißt, so viele rückbezügliche Schlei- man sich damit vorher ausführlich be- jedes Mal den Punkt, wo ich mir dach- fen und ineinandergreifende Prozesse, schäftigt hat. Man hat das Ziel schon te: den Rest kann jeder selber weiter-

SEITE 18 VOLLTEXT 2/2017 INTERVIEW

denken. Völlig unabhängig davon, ob irgendwann aber kriegt man etwas in ich mich im Augenblick sehr amüsiere. etwas politisch korrekt ist oder nicht. den Griff – dann aber kann sich Routi- Mehr will ich dazu noch nicht sagen. Es KLEIN Ihr vorletzter Gedichtband Die ne einschleichen. Es bleibt ein dauern- ist ja wieder ein neues Rätsel, das man Kunst an nichts zu glauben ist mit den der Wettstreit – Dinge einerseits frisch sich nach und nach beim Schreiben löst. Porträts von Alltagssituationen und und neu sehen zu können, andererseits sogenannten einfachen Menschen er- über eine gewisse handwerkliche Fin- Raoul Schrott: Erste Erde. Epos. Hanser, staunlich profan. Das Buch kommt bei- gerfertigkeit zu verfügen, ohne dass sie München 2016. 848 Seiten, € 68 (D) / nahe ohne den für Sie typischen Appa- zum Leerlauf wird. € 70 (A).

Raoul Schrott/ Arthur Jacobs: Gehirn und Ich bin alles andere als unglücklich, Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konst- ruieren. Hanser, München 2011. 528 Seiten, wenn ich nicht schreiben muss. € 30 (D) / € 30,90 (A).

Raoul Schrott: Homers Heimat. Der Kampf rat an Zitaten und Verweise aus. Man KLEIN Zwei Fragen zum Abschluss: um Troia und seine realen Hintergründe. Han- bekommt fast den Eindruck, als wollten Schreiben Sie lieber, oder lesen Sie lieber ser, München 2008. 432 Seiten, € 24,90 (D) / Sie sich freischreiben. vor? € 25,60 (A). SCHROTT Die Kunst an nichts zu glauben SCHROTT Ich schreibe lieber. Ich sprach entstand neben der Ersten Erde. In dem kürzlich mit Michael Köhlmeier darüber, Homer: Ilias. Neu übertragen von Raoul Fall aus dem Wunsch heraus, zu wissen, der meinte, er würde am liebsten gerne Schrott. Hanser, München 2008. 632 Sei- wer die Menschen da draußen, wer wir jeden Abend auf der Bühne stehen, wä- ten, € 40 (D) / € 41,20 (A). heute sind. Man begegnet einem Stra- ren da nicht diese ständigen Zugfahr- ßenarbeiter und will dann das, was er ten. Ich würde lieber zu Hause bleiben. Erich Klein, geboren 1961 in Altenburg, lebt einem erzählt, zum Sprechen bringen. Ich produziere mich im Grunde nicht als Übersetzer und Literaturkritiker in Wien. Erste Erde und Die Kunst an nichts zu gerne vor Fremden. Auf jeden Fall bin 2013 erhielt er den österreichischen Staat- glauben sind da gewissermaßen kom- ich nicht applausbedürftig. Ich bin auch spreis für Literaturkritik. Er arbeitet unter an- plementär. Ich habe diese Reihe von kein Schriftsteller, der sich nicht wohl derem für den Falter, den Standard, den ORF Berufsbildern, die von atheistischen fühlt, wenn er einen Tag lang nichts ge- und die Literaturzeitschrift Wespennest. Maximen umrahmt werden, sehr ger- schrieben hat. Wenn ich könnte, wie ich ne geschrieben – ich musste ja nur zu- wollte, würde ich nur reisen. Ich bin alles Raoul Schrott, geboren 1964 in Landeck, lebt schauen und zuhören. Das Schreiben andere als unglücklich, wenn ich nicht als Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und dabei ist ja immer auch einer Entwick- schreiben muss. Übersetzer in Vorarlberg. Für sein Werk wur- lung unterworfen – man entfaltete seine KLEIN Das nächste Buch ist trotzdem de er unter anderem mit dem Joseph-Breit- Themen, sein eigenes Ich, seine Mittel. schon im Entstehen? bach-Preis, dem Rauriser Literaturpreis und Am Anfang ist die Anstrengung größer, SCHROTT Es ist ein Roman, mit dem dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet. PQ_az-17.qxp_VOLLTEXT_210x91 31.05.17 10:19 Seite 1

Poetische Quellen int. Literaturfest Bad Oeynhausen · Löhne

23. ›› 27. 08.2017

Die Frage: Wo kommst du her? wird erst dann unverdächtig sein, wenn ähnlich oft gefragt wird: Wo gehst du hin? Ilija Trojanow

www.poetischequellen.de

PQ_az-17_volltext_210x91.pdf 1 31.05.17 10:20 WRITER AT LARGE Ein Spendenaufruf des Brenner Archivs Innsbruck im Jahre 2066* des Herrn

VON NORBERT GSTREIN

in memoriam F. H. (1966–2016) Geldgeber, angeblich aber eine dubiose Figur mit Verbindun- gen zu Drogen- und Waffenhändlern auf mehreren Kontinen- Liebe Landsleute in Nord-, Ost- und Südtirol, ten, die Kostbarkeit für das nationale Archiv des Landes erwer- liebe Brüder und Schwestern in den angegliederten lombar- ben, in dem sie ausgestellt worden ist und wo sich auch das dischen, trentinischen, venetischen und carinthisch-friauli- Original in der Originalsprache befindet. Das Robert-Musil-In- schen Regionen, stitut, i.e. Kärntner Literaturarchiv in Klagenfurt, könnte sich liebe Freunde des trefflichen Wortes auch anderswo auf der vorstellen, das Exponat auf neunundneunzig Jahre feuer- und Welt, wassersicher einzulagern, wenn es mit keinen zusätzlichen Kosten für das nunmehr seit fast einem Dreivierteljahrhundert unter den aus dem Nachlass des Schriftstellers Norbert nicht nur ökonomisch heruntergewirtschaftete Land Kärnten Gstrein bei Sotheby’s zur Versteigerung anstehenden Schrift- verbunden wäre. Im Gegenzug kann die Doppel-Universität stücken findet sich auch die auf der Nebenseite als Faksimile Klagenfurt gemeinsam mit dem angeschlossenen Alpen-Ad- abgedruckte Urkunde. Die Österreichi- ria-College den Erben des Autors eine sche Nationalbibliothek will dafür drei Es ist eine viel zu wenig gewürdigte posthume Ehrenpromotion, also den Millionen neue Schilling bereitstellen, Tatsache, dass der Autor, immerhin begehrten „Dokta in Klognfuat“, und umgerechnet in den entsprechenden Träger der Eduard-Wallnöfer-Me- die posthume Aufnahme in den carin- Pfund- oder Dollarbetrag, versteht daille (Abteilung Kultur) in Gold thischen Lindwurm-Orden anbieten sich. Es sieht aber so aus, als würde die und in Silber, in unserer schönen – selbstverständlich nur, sofern sie das University of Delaware, wo die Papiere Stadt seine Geburt als Schriftsteller wollen, Bedingung ist es keine. Außer- des amerikanischen Beat-Poeten Alan erlebt hat und von unserer wunder- dem würde sie eine wissenschaftliche, Kaufman aufbewahrt werden und die baren Bergkulisse zu seinen ersten mit den modernsten Schwarmverfahren auch den Briefwechsel zwischen dem Gedichten inspiriert worden ist. sprachlogisch und komparatistisch-sta- zu Beginn des jüngsten europäischen tistisch aufbereitete Bearbeitung des Bürgerkrieges verschollenen österreichischen Autors und Alan Schriftstücks vornehmen und dafür einen wissenschaftlichen Kaufman ersteigert hat, ein höheres Angebot machen. Auch die Mitarbeiter oder bei gleicher Qualifikation vorzüglich eine wis- Stanford University in Kalifornien, wo er Ende der achtziger senschaftliche Mitarbeiterin einstellen und für die Dauer des Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein knappes Jahr als soge- Projekts großzügige Umwidmungen in ihrem engen Budget nannter Visiting Scholar verbracht hat, bietet mit und hat eine durchsetzen. Sie weist ausdrücklich darauf hin, dass eine erste Bittschrift an ihre zum Teil milliardenschweren Alumni ver- Begutachtung ihrer zweisprachigen Experten nach Rückspra- sandt. Sie würde das Dokument in ihre berühmte „Bibliothek che mit den Kollegen im ehemaligen Ljubljana, jetzt wieder für Außerirdische“ aufnehmen, die zwei Mal im Jahr mit ihren Laibach, die Vermutung nahelegt, dass es sich bei dem Text der Raketen die wertvollsten Teile ihres Bestandes ins Weltall beför- Urkunde um eine Übersetzung aus dem Slowenischen handeln dert. Zudem möchte ein privater, auf Anonymität bestehender könnte und dass die ganze Chose daher in ihren Kompetenzbe-

SEITE 20 VOLLTEXT 2/2017 KOLUMNE

Bei Sotheby’s zur Versteigerung anstehendes Dokument aus dem Nachlass des Schriftstellers Norbert Gstrein.

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 21 KOLUMNE reich fällt. Der einzige emotional richtige Ort dafür aber wäre nerungs- und -optimierungsgesetzes, das seit 3. Juni 2061 für Texte dennoch das Brenner Archiv Innsbruck, das jedoch leider auch mit mehr als 1000 Zeichen in Kraft ist. nicht über die entsprechenden Geldmittel verfügt. Es ist eine in der Wissenschaft – sowohl in der Germanistik als auch in der (***) „Zu Mantua in Banden“ lauten die ersten Worte des Andreas-Ho- Austriazistik und Tirolistik – viel zu wenig gewürdigte Tatsache, fer-Liedes, der Tiroler Landeshymne, von der wir hier zur Bildung un- dass der Autor, immerhin Träger der Eduard-Wallnöfer-Medail- serer Leserschaft, zu Ehren der tapferen letzten Leiterin des Brenner le (Abteilung Kultur) in Gold und in Silber, in unserer schönen Archivs Innsbruck Mag.a Iris Unterkircher-Mustafi und nicht zuletzt, Stadt seine Geburt als Schriftsteller erlebt hat und von unserer um auch damit den Forderungen des Landesverschönerungs- und -op- wunderbaren Bergkulisse zu seinen ersten Gedichten inspiriert timierungsgesetzes Genüge zu tun, die erste sowie die fünfte und die worden ist.** Deshalb ergeht ein Spendenaufruf an die geneig- sechste Strophe abdrucken: te literarische Öffentlichkeit. Jeder an das angeführte Konto überwiesene Betrag ist willkommen, um diesen einmaligen Be- 1. Zu Mantua in Banden leg für den hohen Stellenwert, den die heimische Literatur zu Der treue Hofer war, Anfang dieses Jahrhunderts im Ausland genossen hat, in den In Mantua zum Tode Besitz des Landes Tirol zu bringen. Mit Beginn der neuen Sub- Führt ihn der Feinde Schar. ventionsperiode sind meine beiden Kolleginnen Mag.a Berna- Es blutete der Brüder Herz, dette Pfurtscheller-Türk und Mag. Feridun Oberkofler per Not- Ganz Deutschland, ach in Schmach und Schmerz. verordnung laut mehrfach revidiertem Beamtendienstgesetz in |: Mit ihm das Land Tirol, den Zwangsruhestand versetzt worden. Also melde ich mich Mit ihm das Land Tirol. :| mit umso größerer Dringlichkeit im Jahre 2066 des Herrn als letzte verbleibende Mitarbeiterin und gleichzeitige Leiterin un- [...] serer so lange blühenden Institution aus den bombensicheren Lagern in den Moränen des früheren Stubaier Gletschers und 5. Dort soll er niederknie‘n, bitte um Ihr Wohlwollen, Ihre Solidarität und Ihr Geld. Er sprach: „Das tu ich nit! Will sterben, wie ich stehe, Zu Mantua in Banden*** Will sterben, wie ich stritt! Mag.a Iris Unterkircher-Mustafi So wie ich steh‘ auf dieser Schanz‘, Es leb‘ mein guter Kaiser Franz, Überweisungen bitte an Brenner Archiv Innsbruck |: Mit ihm sein Land Tirol! IBAN: AT65 ...... Mit ihm sein Land Tirol! :| BIC: SPIHAT22 6. Und von der Hand die Binde (*) In diesem weltweit als Bolaño-Jahr gefeierten Jahr richtet das Bren- Nimmt ihm der Korporal; ner Archiv Innsbruck gemeinsam mit der UNAM (Universidad Nacional Und Sandwirt Hofer betet Autónoma de México) unter dem Titel „Bleiben oder Gehen. Heimat Allhier zum letzten Mal; oder Exil. Die eine Hölle oder die andere“ ein Symposium aus, bei dem Dann ruft er: „Nun, so trefft mich recht! es um den Einfluss Roberto Bolaños auf die Tiroler Literatur (Nord-, Ost- Gebt Feuer! Ach, wie schießt ihr schlecht! und Südtirol unter Berücksichtigung der trentinischen Exklaven) und |: Adé, mein Land Tirol! um den Einfluss der Tiroler Literatur auf Roberto Bolaño gehen soll. Den Adé mein Land Tirol! :| Eröffnungsvortrag „Heimat ist für mich immer noch ein Blutbegriff“ wird der Tiroler Schriftsteller Bülent Außerhofer halten. Erwartet werden Norbert Gstrein, geboren 1961, lebt als freier Schriftsteller in auch Reden von Maria Tatzl-Öcalan und Elisabeth Reinstadler-Aydın. Hamburg. Zuletzt veröffentlichte er im Hanser Verlag die Romane Die ganze Wahrheit (2010), Eine Ahnung vom Anfang (2013) sowie (**) Dieser Satz wurde auf Betreiben der Tiroler Fremdenverkehrswer- In der freien Welt (2016). Eine Sammlung seiner bisherigen bung eingefügt und entspricht den Forderungen des Landesverschö- Kolumnen findet sich auf https://volltext.net.

www.facebook.com/volltext DIE BEWOHNER VON CHÂTEAU TALBOT

VON ARNO GEIGER

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 23 MATERIALIEN & TEXTE AUS DEN SIEBEN KÖRBEN Durchlässigkeit. Ursprünglich positive Bedeutung des Wortes „vergeblich“

VON ALEXANDER KLUGE

UNSCHÄRFE Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wil- DAS ABSOLUTE NICHTS helm Grimm, Band 25, V-Verzwunzen:

IST DAS TELESKOP ODER DIE TRÄNE DIE BESSERE VERGEBLICH: adj. und adv. erfolglos. „die bedeutung ist ‚so VERSTÄRKUNG DES AUGES? beschaffen, dasz man es hingeben kann‘.“ JACOB UND WIL- HELM GRIMM WEISEN DARAUF HIN, DASS IN ÄLTERER UNSER MUTTERGESTIRN IST EINE KÜHLE SONNE ZEIT „VERGEBLICH“ IN POSITIVEM SINNE VERWENDET WURDE. DAS WORT HABE ZWEI VERSCHIEDENE BE- RHABARBERBLATT BEI OSCHERSLEBEN DEUTUNGEN GEHABT. Eine davon entsprach: „zur Gabe geeignet“. Etwas, was man gern gibt, weil es einen Wert hat. LICHT TRIFFT AUF GLAS UND SPRICHT MITEINAN- „angenehm, erfreulich.“ „wahrscheinlich hatte ein herz voll DER OHNE MENSCHLICHE BOTEN vergeblicher Liebe die schöne schwärmerin unter die erde gezogen“ (Jean Paul). Hier ist das Wort „vergeblich“ wie un- ausschöpflich, generös, „verschwenderisch gebend ohne auf gegenleistung zu warten“ verwendet. Oxford Dictionary Unabridged Erst später, so Jacob und Wilhelm Grimm, nimmt das Adjektiv und Adverb die Bedeutung von „erfolglos“ an. FUTILITARIAN: man or woman believing that human hopes VERGEBENS, adv.: umsonst. Genetiv des Partizips von VER- are vain and human strivings unjustified; a person who holds GEBEN. Frustra, ohne Vergeltung, ohne Bezahlung. this belief Gegenpol: UTILITARIAN „Ein guter gott hat nicht vergebens FUTILITY = Vergeblichkeit. „Along the series of futilities prece- gestreuet freuden ohne zahl ded the rebels defeat.“ auf die bedorrte bahn des lebens“ FUTILE: incapable of producing any result; ineffective; useless; „attempting to force-feed the sick horse a futile effort“; „a head „Vergebens mühen sich die Lieder, staffed with silly futile ideas“; „that which flows easily is vain“ vergebens quälen sie den Stein“ (Schiller)

SEITE 24 VOLLTEXT 2/2017 KOLUMNE

erzwingen kann, er im ABSOLUTEN NICHTS aber als ab- „Drum siegeln sie des Grabes Thür wesend gedacht werden müsse, kläglich ein. Was immer die Und legen starke Wache für Meister des Orients sagen, so Duns Scotus wörtlich (und ihn Umsonst und gar vergebens! erreichten Nachrichten aus Indien, überliefert durch die „Ein schaffer und anschicker hat sein wonung ... vergebens Rabbinen von Babylon über die frühe Seidenstraße): Das und ... on zinse“ Nichts ist keine sichere „Höhle ohne falschen Glauben“, in die sich der Gläubige auf der Suche nach Reinheit begeben „Freut euch des Lebens könne. Nicht, fügte der Theologe hinzu, weil er den Impuls Solang das Lämpchen glüht nicht in seinem Herzen selber spüren würde, sich aus der Alles vergebens“ dürren Welt zu entfernen: daß diese Sehnsucht auf etwas Unmögliches gerichtet sei, hindere ihn, nach dem Eingang „Da hast Du mir vergebens der Fluchthöhle überhaupt zu suchen. Geschenket mildiglich Das wehrte Brod des Lebens“ Das Volumen eines landläufig „nichts“ genannten Gebildes Ein Schnitt wie ein Nichts Für Irritationen sorgte es, als kürzlich auf einem Kongreß Mit dem kurzen Schwert trifft der Samurai den Gegner un- in Hawaii sich ein Astrophysiker in die Jahresversammlung terhalb der Panzerung in die Eingeweide. Dort sitzt die Le- der Hochscholastik-Forscher verirrte. Obwohl Indizien ihm benskraft. Dann zerschneidet er mit dem Langschwert den deutlich machten, daß er sich in der Tür geirrt hatte, trug er geschwächten Feind. Die Klinge ist so scharf, daß sie nur je dennoch sein vorbereitetes Manuskript vor. Die komplizier- für einen Hieb taugt. Alle Übungen konzentrieren sich auf te Anfahrt war zu lang, um jetzt innezuhalten. diesen einen Hieb. Das Langschwert ist eine Standeswaffe. Das Volumen eines landläufig „nichts“ genannten Gebil- Trifft die Schneide auf einen Menschenkörper, verschwindet des, teilte er der Gemeinde mit, sei physikalisch als Zustand sie unmerklich in der Haut und den Knochen. In der Praxis definiert, in dem alle Elementarteilchen (und deren Sub- hat der Gegner oft gar nicht bemerkt, daß er schon durch- strukturen) das Energiekonto Null zeigten. Gerade dieser schnitten war. Die beiden Hälften blieben für einige Augen- Zustand sei aber im Kosmos (von den Anfängen bis zur Plan- blicke zusammen und auch das Blut floß gewohnheitsmäßig cklänge hin) auszuschließen. Er sei weder in geschlossenen durch die getrennten Adern. noch in offenen Räumen noch außerhalb des Raums, also im Nirvana, möglich. Die Quanten nämlich seien in ihren Eigenschaften für alles Mögliche gut, für Unwahrscheinlichkeiten unglaubli- Das ABSOLUTE NICHTS nach Duns Scotus cher Art, aber niemals könnten sie sich zu einem durchweg einheitlichen Verhalten verständigen. Einige wären stets ge- Der nicht von allen Kreisen der Kirche gewürdigte Spätscho- zwungen zu rebellieren. Bei meßbarem Energiepegel Null lastiker Duns Scotus – im 13. Jahrhundert lehrend und im bilden sich virtuelle Teilchen, führte er aus. So habe sein Va- Gegensatz zu dem Kirchenlehrer Thomas sich befindend, ter während des deutschen Balkanrückzugs 1944 in seinem der stets nur ein Entweder–Oder kennt – unterschied zwi- Tagebuch festgehalten: Wo die Besatzungsmacht sich stark schen dem relativen Nichts, aus dem Gott schöpfte, wenn er konzentriert, nehmen die Partisanenverstecke zu. Das Vaku- Erde, Tiere und Menschen erzeugte, und dem ABSOLUTEN um – und hier gelangte der Gast bereits auf die Hauptstraße NICHTS. Dieses ABSOLUTE NICHTS – wegen der Wahr- der astrophysikalischen Erkenntnis der Gegenwart zurück, heitskrümmung, die eine so mächtige Substanz ausüben er leistete sich Lyrismen – der „Sauerteig“, die „Urquelle“ würde – sei von ihrem Gegenpol aus, der Realität, NICHT und die „Alchemistenküche“ der Materie, sozusagen der DENKBAR. Es könne ein solches Nichts in der Welt nicht Zustand der Neuheit, des Noch-Nicht und des Nicht-Mehr- geben. Auch in keiner anderen. Weder als eine Finsternis, Aber-Sofort-Wieder. Dies habe er mit Physikern in Indien noch als eine „völlig durchsichtige Helligkeit“. Duns Scotus ausgetauscht. bewies das aus der „stillen Aufsässigkeit aller Elemente des Die hochscholastische Gemeinde war begeistert. Noch in Seins“. Es können, schreibt er, nicht alle Entitäten, die das derselben Nacht bewegte sich eine Majorität aus dem Lager Nichts quasi wie eine riesenhafte Höhle stützen, gleichzei- von Thomas von Aquin und Albertus Magnus, den Aristote- tig tätig werden. Immer stürzt also die Höhle, weil nur Gott likern, ins Lager von Duns Scotus, der, wie schon gesagt, über eine allseitige Verständigung der Elemente auf Gehorsam ein größeres Depot asiatischer Texte verfügte.

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 25 KOLUMNE

Blick in den Abgrund des Himmels

Auf einer Sternwarte in Australien blickt das optimal ge- schliffene Instrument eines 12-Meter-Spiegels in den AB- GRUND DES HIMMELS. Nämlich in Richtung des Kerns der Milchstraße. Eine Meisterarbeit, die zehn Jahre im Le- ben eines Kollektivs von Glasermeistern fordert, die noch aus dem Jenaer-Kombinat der DDR stammen.

Alpenarchitektur

In 25 Kilometer Luftlinie Abstand vom Mont Blanc hätte Bru- STUFEN DER DURCHLÄSSIGKEIT no Taut gern eine Bergkuppe – wie mit einer DURCHSICHT- BLENDE – mit einer Serie von in den unterschiedlichen Far- ben des Tages leuchtenden Gläsern ausgerüstet. Sah man vom „Die Farbe ist nach unten gesunken“ nächstliegenden Berg im Norden Richtung Rhone, zeigte sich die Reihe von acht Glasflächen als „durchsichtiger als Luft“ und Kirchenfenster aus dem Burchardi-Kloster Halberstadt aus auch als „Schatzgräber des Lichts“. Für einen, der es nicht selbst dem 8. Jahrhundert. Das Glas wurde 200 Jahre, weil die Kir- sah, war die Wirkung schwer zu beschreiben. Keine Vergröße- che nicht benutzt wurde, in Kellern gelagert. Die Farbe ist rung! Keine Hinzufügung von irgend etwas: absolutes Licht. nach unten gesunken. Die unteren Teile der Farbfenster zei- Dafür hätte Bruno Taut aber die Adresse der Werkstatt haben gen ein dichteres Licht. Das Absinken der Farben ereignete müssen, die für das Toyoshima-Projekt das Glas anfertigte. sich, wie Magdeburger Kuratoren bestätigen, nicht aus Grün- den der Gravitation. Die Schwerkraft zieht Farben nicht nach unten. Die Wirkung folgt vielmehr aus dem AUFSTEIGEN Durchsichtigkeit eines „Paravents für die VON VERUNREINIGUNGEN von unten nach oben. Mikro- Passagen-Arbeit“ bielle „Störungen“ machen die Farben lebhaft. Walter Benjamin bezeichnete damit seinen Aufsatz über den Surrealismus. Kein Glas, sondern eine Folie, ein Untersu- Berufsglas chungsmodus im Kopf, verschafft die Durchsichtigkeit.

Sonnenbrille, unabdingbar für Sicherheitsleute, die den Prä- sidenten bewachen. Sie müssen die Tücken des Sonnenlichts, Freudenträne die Blendung, scheuen. Pier Paolo Pasolini schrieb an Luigi Nono: Das Mittel für genau- es Hinsehen ist keine Brille. Im Film kommt es auf die Schärfe Ein filigranes Geschöpf der Leinwand nicht an. Vielmehr ist es die Träne, die das Film- aus Menschenhand bild verschwimmen läßt, die den Blick öffnet. Die Tränen skan- dieren („ich würde sagen: sie montieren“) meinen Film. Es gibt Die raffinierte Durchsichtigkeit der vier Linsen auf den so viele Tränen (welche die Durchsicht unscharf machen), wie es digitalen Aufnahmegeräten der auf dem Kometen Tschu- Freuden und bitteres Leid gibt. ri abgestürzten Sonde wirkt sich zur Zeit nicht positiv aus, weil alle Optiken auf die Wand einer Höhle gerichtet sind. Die Körner der Kometensubstanz, oft nur ein Tausendstel Nur weil neue Ödnis über Millimeter groß, wären deutlich zu sehen, wenn überhaupt Griechenland gekommen war Licht in diese Höhle dringen könnte, in der die Sonde steckt. Man hofft, daß im Juni des kommenden Kometen- Pasolini widersprach der Behauptung, daß es absolut stummes jahres ein Funke Licht für den Forschungszweck hier unten Leid gibt. Die rebellischen Willenskräfte kommen im tiefsten abfällt. Schock aus ihren Verstecken hervor, in denen sie bisher jede

SEITE 26 VOLLTEXT 2/2017 KOLUMNE

Hunnenschlacht überlebten. Sie beginnen, das Leid soweit zu bei dem so ernsthaften Geschäft sich zunichte zu machen, stören, daß es sich wieder äußern wird. Wie man ein schmer- hatte ihn bewegt, die Marmorplatten aus ihrer Halterung zendes Auge, wenn es nicht weinen will, reizt, bis es tränt. Es herauszureißen, ohne diesen Riß anschließend zu tarnen. dauert, fügt Pasolini hinzu, aber lange, bis das Leid durch ein Das war den Dienern aufgefallen. Nachdem ihm die Anni- solches Fenster (das Verschwimmen des Blicks) abfließt. Die hilierung zweimal mißlungen war, machte er keine weiteren Quelle der Niobe konnte noch 1941 von einem deutschen Versuche. Die Energie dazu war ihm abhanden gekommen. Hauptmann der Reserve aus Jüterbog, Oberstudiendirektor im Fröhlich wurde er nie wieder. Zivilberuf, besichtigt werden. Sie zeigte keine Anstalten, ihren Strom zu verändern. Nachträglich bereute der Arzt, seine Schweigepflicht nicht gebrochen zu haben DIE SCHWIERIGKEIT, ZU „NICHTS“ ZU WERDEN Der Seelenarzt, der den Todespiloten, welche die Lufthan- RADIKALE DURCHLÄSSIGKEIT ALS IDEAL VON sa-Maschine in einem Alpental abstürzen ließ, untersucht, DOLMETSCHERN BEI FRIEDENSVERHANDLUNGEN mit Rücksicht auf die ärztliche Schweigepflicht aber dessen Einsatz nicht unterbunden hatte, fragte sich im Nachhinein, warum dieser Selbstmörder sich auf keine andere Weise hat- „Die sieben Verlangen des te töten können, als indem er eine große Zahl anderer Men- Körpers nach Auftrieb“ schen (eine „Hekatombe“) wie ein Stück Ballast mit sich riß. War das Quantum Selbstmitleid, das der Arzt in den Äuße- Ein junger Engländer, der unter dem Eindruck der trost- rungen des Kranken beobachtet hatte und das der Selbsttö- losen Kämpfe in Flandern im Frühling 1918 schwermütig tung entgegenwirkte, nur durch ein solches „Begleitopfer“ zu geworden war und – ehe er andere Soldaten mit seiner Ne- überwinden? Darüber war in den Lehrbüchern nichts ver- gativität anstecken konnte – nach Südengland zurücktrans- merkt. Nachträglich bereute der Arzt, seine Schweigepflicht portiert worden war, suchte zweimal vergebens den Tod. In nicht gebrochen zu haben. Er hatte sich nicht vorstellen kön- einen tiefen See auf dem Landgut der Eltern warf er sich ins nen, daß ein Übergang ins Nichts mit solcher Komplikation Wasser. So sehr er anfangs mit den Armen ruderte, um unter verbunden wäre. Er hatte angenommen, daß der Patient bei Wasser zu bleiben, so starkherzig trieben ihn die Lungen, Gelegenheit Gift nehmen würde (davon hatte er gespro- gierig auf Atem, nach oben zur Oberfläche. Es blieb sein chen), nicht aber, daß er die Berufsausübung selbst zum „fei- Vanitas-Gefühl. Der unabweisbare Seelendruck, sich zu ver- erlichen Suizid“ nutzen würde. nichten. Er mußte sich beim zweiten Versuch mit Marmor- platten umgürten, aus dem elterlichen Gewächshaus, um sich am Wiederauftauchen zu hindern. So machte er sich in Diplomatische Wortwechsel wie tiefer Nacht ans Werk, war schon, mit Stricken unlösbar, mit unübersteigbare Berge dem Marmor verknüpft, am Boden des Sees fest angelangt, als die Dienstboten des Hauses den See erreichten. Sie stie- Im Juni 1954 während der Indochina-Konferenz in Genf be- ßen Leitern hinab zur Schlammkruste des Seebodens, klet- stand die Volksrepublik China erst seit knapp fünf Jahren. terten daran in die Tiefe und retteten das kostbare Herren- Verhandlungserfahrung auf internationalem Terrain be- söhnchen. Eine gewisse Oberflächlichkeit, eine Ungeduld saß in der Führungscrew Chinas niemand. Die besten Ver- handler wie Tchou En-lai kannten Verhandlungsführung zwischen Fraktionen der Partei, Debatten mit Abweichlern, Kapitulationsgespräche mit Unterhändlern der Kuo-Min- Tang – also Dorfgespräche. Sie improvisierten gegenüber den geübten Messerwerfern Frankreichs, sämtlich aus den grand écoles kommend, die in Sekundenschnelle ihren ge- meinsamen Rhythmus fanden oder abänderten. Am letzten Verhandlungstag vor Auslaufen des Ulti- matums, das sich Mendès-France, der französische Chef öffentlich selbst gesetzt hatte, war noch eine Fülle offener Fragen zu klären. So viel offene Fragen, daß wenig Hoffnung ins Gelingen bestand. Bei der Übersetzung ins Chinesische konnte ein „Berg offener Fragen“ nicht wörtlich übersetzt werden, weil nach chinesischem Verständnis, offene Fra-

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 27 KOLUMNE gen keine Berge bilden, sondern eine Schlucht oder eine Mulde. „Ein Nichts, das auf Antwort wartet.“ So forderten schon solche Nebensachen der Verständigung kommuni- kative Aufmerksamkeit und Zeit. Die Übersetzer, ein in vier Wochen Verhandlungszeit zusammengewachsenes Kollek- tiv beider Seiten, waren „trunken vor Eifer“. Es hieß: SICH DURCHLÄSSIG MACHEN. Nichts von der Schärfe einer Aussage durfte unübermittelt bleiben, wenn das Übersetzte bei einer der „Langnasen“ oder (umgekehrt) bei einem der „Gelben“ ankommen sollte. Es waren am Ende dann doch nicht die Klarheiten, die zur Einigung führten, sondern eine Reihe massiver Irrtümer über Bachverläufe, Flußmündun- gen und örtliche Bezeichnungen. Über solche Verwechslun- vor den drei Oberen Fakultäten der Hohen Schule ist eine gen, nicht aber über die genauen Absichten, fanden beide Wandergeschichte. Es gibt eine Version, die sich an der Uni- Seiten zu einem „Mittelwert“, der für alle akzeptabel blieb. versität Paris abspielt. Dann eine für Freiburg, die Verlegung Die Uhr war um Mitternacht um zwanzig Minuten zurück- des Geschehens nach Prag ist eine spätere Überlieferung. Eu- gestellt worden. In diesen letzten Minuten, in der Weltzeit lenspiegel soll den Lehrkörper, 42 Hauptleute mit zahlreichen nicht enthalten, gelang der Frieden, ein Blitzfrieden gegen Gehilfen und Begleitern (Zeugen), nach der Disputation vor alle Wahrscheinlichkeit. Die Hingabebereitschaft, die in der die Stadt geführt haben in Richtung der Böhmischen Wäl- Fähigkeit der Übersetzer beider Seiten sich manifestierte, der. Auf einer Halbinsel umgeben von Dickicht und einer sich selbst zu vergessen, hätte es verdient, daß dieser „Frie- versumpften Flußniederung, baumumstanden, konnte ihm de“ in Vietnam länger gehalten hätte, als er dann tatsächlich zuletzt niemand aus dem langen Zug so leicht entkommen. dauerte. Schon das Wort Friede für das Zustandekommen Die ganze Truppe mußte sich drehen und konnte erst dann in des Vertrags enthielt Schwierigkeiten. In der chinesischen Richtung Stadt wieder abfließen. Sie konnten auch ihn, den Version ging es um „einen mit Perspektiven versehenen Narren, nicht verfolgen oder strafen, der sich über eine Brücke Waffenstillstand“, keineswegs um Frieden, der mit dem von Ästen oder Bäumen über das Wasser entfernte, als kopiere Klassenfeind nicht zu erwarten war. „Unübersteigbar“ wa- er Gottes Sohn. ren die Wortspiele und Metaphern beider Seiten, ohne die Vor dem die DEMONSTRATIO abschließenden TUMULT doch eine Verhandlung nicht auskommt. Die Schwierigkeit hatte der merkwürdige Geist aus Deutschland die Gelehrten zum Beispiel war in einer bestimmten Phase der Auseinan- aufgefordert, den Blick zum Himmel zu wenden. Mit ausge- dersetzung „offenes Wasser“, „Sumpf“, „absolute Barriere“, breiteten Armen hatte er das „Fenster zum Himmel“ oben, un- „rote Linie“ und „Durchlässigkeit“ zu unterscheiden. Hät- terbrochen von den Baumkronen, ihnen bezeichnet. Dort ge- ten die französischen Übersetzer Verhandlungshindernisse nau sei der Platz, das maß er mit Meßbändern am Boden (also mit dem Überklettern eines Berges verglichen, hätten ihre gewissermaßen analog) ab, wo sich direkt zur Seite Gottes die Gegenüber umgekehrt vom Durchwandern einer Wüste ge- Mutter Gottes befinde. Einige der mitgekommenen Zeugen sprochen. Nur weil sie von all diesen Abgründen absahen, wollten in dem in Dämmerung befindlichen Himmelsaus- gelang – wie im Suff, wie in Trance – die Verständigung in schnitt die Mondsichel gesehen haben. Eine filigrane Sichel den letzten zwanzig Minuten, vorbereitet durch das Durch- von weniger als einem hundertsten Teil des Vollmonds, fast sichtigmachen schon in den letzten fünf Tagen, ja, ermög- gar nichts der Substanz nach. Keiner aber der zu den steiner- licht durch die gewaltige Anstrengung des ganzen Monats. nen Räumen der Universität in Prag Zurückdrängenden hatte Zuletzt sah es so aus, als ob die Unterlagen, Vertragsentwür- das von Eulenspiegel gezeichnete Quadrat, eine Art Kathed- fe, Landkarten und Beweisdokumente auf den Verhand- rale aus hohen Stämmen, Astwerk und eines Stücks Farbe des lungstischen direkt, ohne Beteiligung der Menschen, mitei- Himmels wirklich betrachtet. Alle waren abgelenkt von ihrer nander verhandelten. Absicht, den Sitz des Göttlichen mit ihren Wissenschaftsaugen zu ergattern. Die enorme Wildnis des Orts, der sich von Minu- te zu Minute verändernde Abendhimmel berührte sie nicht. Überall verkantetes Holz, willkürlicher Durchblick. Die Nacht „Till Eulenspiegel war nie in Prag“ fiel herein. Am nebligen Himmel Böhmens im Herbst waren nicht viele Sterne zu sehen. Mit einer „little transparent par- Der Braunschweiger Stadtschreiber, auf dessen Ermittlungen tition between reality and illusion“ konnte keiner der bedeu- zum Leben des listenreichen Improvisateurs (nicht Bauern, tenden Scholaren umgehen. Dabei hatte Eulenspiegel auf ein nicht Städter, was war er dann?) wir uns verlassen, hat das kostbares Stück Natur hingezeigt. Niemand nahm den Hin- definitiv festgestellt. Die Geschichte vom Auftritt des Poeten weis auf. Alle sahen auf Eulenspiegel, glaubten sich betrogen.

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häufiger scheinen als in Europa. In zwei legendären Fällen ha- ben Windgötter Japan vor der mongolischen Kriegsflotte geret- tet. Das geschah unabhängig von der sichtbaren Sonne, bei tief verhangenem Himmel, mit Blitz und Wasserstürzen. Ahnherr der Kaiser und Schutzgott Japans ist auch nicht der Naturkörper, den wir Sonne nennen, und der ein Glutball ist, der sich für irdische Belange nicht interessiert. Eine SCHWAR- ZE SONNE, unsichtbar für das Auge, ist der wahre Grund für den Sonnenball in Japans Landesflagge. Die rote Farbe ist da- bei willkürliche Annahme. Die grundlegende Unsichtbarkeit der SPIRITUELLEN SONNENSCHWESTER setzte sich lange Zeit darin fort, daß der Kaiser seinem Volk nicht vor die Augen tritt. Auch bei der Kapitulation Japans im Frühherbst 1945 war der Sonnenabkömmling nur über den Rundfunk zu hören, Regeln für das Weinen nicht zu sehen.

Wenn feuchtes Holz beim Brennen singt, ist es das Weinen der armen Seelen. Wenn der Wind im Holz und um die Ecke des Rhabarberblatt bei Oschersleben Hauses pfeift, weinen die ungetauften Kinder. In den Tälern des Nordharzes (vor allem oben in Schierke und Elend) soll Lichtstrahlen fielen auf ein Rhabarberblatt bei Oschersleben, der Pate am dritten Tag nach der Geburt dem Neugeborenen ohne daß die Welt oder ein Beobachter davon Notiz nahmen. das Weinen abkaufen. Er muß Geld in die Wiege legen. Wenn Myriaden von Photonen. Eines von den Photonen war vor eine schwangere Frau weint, gibt das ein brüllendes Kind. Nun 100.000 Jahren in der Sonne auf unwahrscheinliche Weise ent- weinte meine Mutter im Februar 1937 bitterlich, aber ihr am 2. standen. Unwahrscheinlich deshalb, weil nach den Regeln der April 1937 geborenes Kind, meine Schwester, war stets fröhlich, klassischen Physik dort kein Fusionsprozeß stattfinden kann, brüllt niemals Leute an, wie es ihr Vater oder ich durchaus tun. bei dem ein solches Photon ausgesendet wird. In der Schweiz heißt es, man müsse Kinder weinen lassen, Die Sonne, unser Zentralstern, ist in ihrem Kern nicht heiß denn während sie weinen, wächst ihnen das Herz. Bei Homer, genug, um sich autonom durch Kernverschmelzung mit Ener- bei den Sioux, auf den Andamanen und auf Neuseeland wer- gie zu versorgen. Unser Muttergestirn ist eine kühle Sonne. So den Heimkehrer mit Tränen empfangen. Das sei, sagt Derrida, beschrieb es die US-Astronomin aus Hawaii in der Runde des nicht Ausdruck seelischer Erregung, sondern eine das Übel ab- CERN in Genf. An den Rändern der Wahrscheinlichkeit aber wehrende Kraft. Es soll dem Heimkehrer gutgehen, und er soll tunneln die Quanten. Widergesetzlich zum Verbot, dennoch keine Übel importieren. in wilder Verläßlichkeit. Auf diesen Verstößen gegen die phy- Die Tränen der im Leben Zurückbleibenden, die den Toten sikalischen „wirklichen“ Verhältnisse, einem Ungehorsam der liebten, brennen im Verstorbenen wie Feuer. Je mehr man um Materie (immerhin macht dies zehn Prozent der Aktivitäten im den Toten weint, desto mehr Wasser muß er in der Unterwelt Kern der Sonne aus), beruhen Sonnenlicht und Leben. schöpfen. Deshalb sagt man in einem Seitental der Etsch, wo Jenes Photon ist in einer Zick-Zack-Bahn in hunderttausend ein altes Latein gesprochen wird, es dürften um ein totes Kind Jahren durch den gewaltigen Sonnenkörper gewandert. Oft ein- nicht mehr Tränen vergossen werden, als eine Tasse davon gefangen in fremden Partikeln, dann dort erneut ausgestoßen. faßt. Da der Tote noch zwei Tage lang alles sieht, soll man in Die gewaltigen Strudel der Konvektion, seebebenähnlich, zur diesen Tagen nicht zu viel weinen. Oberfläche stoßend (es sind aber Umwälzungen des Plasmas), Gestorbene Kinder, die unter den Tränen ihrer Mutter lit- haben die Wanderung eher verzögert als beschleunigt. ten, erschienen im Hause und wiesen auf ihr nasses, schweres Hemdchen hin. Sie schleppten einen Krug mit sich, bis zum Rande mit Tränen gefüllt, und ließen sich erst wieder ins Grab Unbesiegbare Sonne niederlegen, als die Mutter versprach, nicht mehr zu weinen In den Legionen des Konstantin, die sich in den Morgenstun- den gegenüber der Brücke vor Rom aufstellten, waren mehr Schwarze Sonne Anhänger der UNBESIEGBAREN SONNE, sol invictus, ver- treten als CHRISTEN. Kaum ein Soldat dagegen verehrte Das nervöse Wetter Japans, höchst verschieden im Norden, in noch die Stadtgötter oder die Statuen der Kaiser. Es war wie der Mitte und im Süden der Inseln, mit jäh wechselnden Win- ein Rausch, der die antike Welt ergriffen hatte: einer Religion den und Regengüssen von allen Seiten, läßt die Sonne nicht anzugehören, die Wunder verhieß.

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Kein Augenblick wie der andere. Die Lichtmuster von kurzem Leben und gleich darauf nicht mehr rekonstruierbar, sondern durch andere Figurationen ersetzt. Filmt man diese Bewegung mit einer Laufgeschwindigkeit der Kamera von einem Bild pro Sekunde, so hält man das Sonnenlicht indirekt und in einer „lebhaften Ereignisfolge“ fest. Während im Studio mit mittlerem Aufwand an Dekora- tionen und fest installierten Scheinwerfern ein Drama insze- niert und aufgezeichnet wurde, existierte hier im Nebenge- laß das kinematographische Motiv, die Herausforderung.

Eine „Lichtdusche“ Es war ein Zufall, daß die Standarte mit dem christlichen Symbol rascher zur Verfügung stand als die Feldzeichen, wel- Der Kameramann M. galt als lichtverrückt. Nach seinem Ver- che die Sonne markierten. Großen Streit gab es nicht, da der trag war er verpflichtet, im Studio einen Farbfilm zu belichten. Eifer des Kampfes alle Sinne in Anspruch nahm. Erst später Das erlaubte nicht allzuviel Licht. So griff er sich in einer Pause, wurde den Zeichen des Christengottes der Sieg zugeschrieben. hungrig, eine Handkamera und hielt sie direkt in die Schein- Von da an wurde von Staats wegen die Vergöttlichung des Gott- werfer. Das überstrahlte Material ließ er entwickeln und kopie- essohnes betrieben. Dem Kaiser war das recht. Jeden Tag erhob ren. Er brauchte eine solche Lichtdusche für sein Auge, seine sich mit großem Glanz die Sonne. Damit konnte sich der Kaiser Seele. Kostümierte Schauspieler und nur auf den Set gerichtete nicht vergleichen. Die Einordnung fiel leichter gegenüber dem Farbscheinwerfer genügten dafür nicht. Der Produzent, dem Christengott, der dreigeteilt war. Hier konnte der Kaiser als das unbestellte Material „gehörte“ und der von der verschwen- Vierter im Bunde hinzutreten. derischen Allüre des Kameramannes erfuhr, nutzte die eigen- artigen „Bilder“, die aus der Eskapade entstanden waren, später in einem anderen Film für eine „Traumsequenz“. Eine Sekte der Spätzeit

Im Südwesten Rumäniens, dort, wo die Daker von Kaiser Ti- Zeitrafferaufnahme eines Sonnenaufgangs tus unterworfen wurden, existierte in den dreißiger Jahren eine Sekte, welche die Sonne anbetete. Sol invictus. Der Kult paßte Um fünf Uhr früh muß die Kamera am Mainufer aufgestellt zu der verbreiteten Auffassung, daß die moderne Gesellschaft sein. Sie registriert in den folgenden Stunden das Verlöschen von in der Sonne gebräunten Menschen geleitet werden müsse, der Lichter der Stadt; für eine kurze Zeit ist es ganz dunkel vom Heil durchflossen. Bis in eine Gruppe der SS hinein ver- (die letzten Menschen sind schlafen gegangen), dann erhebt breitete sich die Sonnen-Religion, machte sich anheischig, den sich vom Osthorizont des Herbsttages her ein schwaches pessimistischen Christenkult ganz abzulösen. Für die epide- Grau, das die Hochhäuser enthüllt. Aus deren Zentralkami- mische Ausbreitung einer neuen Religion (mag sie auch noch nen steigt steil eine Dampfsäule in die kalte Luft, die Hei- so alt sein) sind aber mehr als 40 Jahre nötig. Es standen kaum zungen sind längst angeworfen. Die Sonne zieht über die sieben Jahre zur Verfügung. Bald war kein Platz mehr für aus- Fensterfront eines Hochhauses in Überstrahlung. Während- holende Bewegungen der Seele in Europa. dessen liegt der Westhorizont noch in blau-violetter Dämme- rung. Mehr als 1600 Farben unterwegs. Nach einer halben Stunde hat die Sonne die interessanten Anfänge dieses Ta- Die Sonne im unbeachteten ges gleichgemacht. Das Tageslicht hat die Einzelfarben zum Nebengelaß eines großen Filmstudios großen Teil verschluckt. Die Tagesarbeit hat begonnen. Die nachmittags halb drei Kamera kann abgebaut werden.

In einem Nebengelaß der CCC-Studios in Berlin-Spandau, in dem Kostüme und Dekorationen abgestellt waren, fiel auf die Morgenröte im Irak große beigefarbene Wand, die den Fensteröffnungen gegen- überlag, das Abbild der Bewegung von Sträuchern und Bäu- Von „rosenfingriger Morgenröte“ kann im Irak nicht gespro- men, die das Studio umgaben. Die Sonne belichtete die zittern- chen werden. Steil und hell erhebt sich über braunem Boden de Bewegung dieser Lebewesen und führte sie den Nachmittag das Himmelsgestirn, und man kann von Glück sagen, wenn an über, bis sie gegen 18 Uhr unterging, auf der Wand entlang. diesem Morgen nicht geschossen wird.

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len), würden sich ihm nähern und je näher sie kommen, ihn zu- letzt erschlagen. Die Vorstellung der Gravitation als einer Kraft, Die Suche nach den Geschwistern der Sonne so der Astrophysiker ist nämlich eine Fiktion. Tatsächlich veran- laßt ein massiver Körper wie die Erde, daß die Wege des freien Aaron Fludd, Nachfahre einer Cousine zweiten Grades des ge- Falls zusammenlaufen (Raumkrümmung). Im Erdmittelpunkt heimnisvollen Robert Fludd (1574–1637) in Oxford, beobachtete führen alle Wege des freien Falls zu einem einzigen Punkt. jahrelang einen größeren Nebelfleck in der Großen Magellanwol- ke. Er hielt R136, so der Name des Gebildes, zunächst für einen einzelnen Riesenstern mit 2000-facher Sonnenmasse und glaub- Aus dem Giftschrank der te, mit dessen Einsturz und Explosion demnächst rechnen zu Allgemeinen Relativitätstheorie müssen. Dann aber verbesserte sich ab dem Jahre 1996 das Auf- lösungsvermögen der Refraktoren rasant, und es zeigte sich, daß Reales Licht unterscheidet sich dadurch von dem Licht, von R136 aus einem nur wenige Millionen Jahre alten Haufen von dem Newton spricht, daß es selbst dann Energie enthält, wenn etwa 10.000 Sternen besteht. Der Sternenstrom zieht in Richtung es eiskalt ist. Quantenmechanischer Schall verhält sich wie des „Schwanzes“ der Magellanschen Wolke und neigt unter dem Licht. Dabei sind Licht und Schwerkraft verknüpft und beide gravitativen Einfluß der Milchstraße dazu, sich zu zerstreuen. kollektiver Natur. Alle Einsicht kommt schlagartig. Jahr für Jahr hatte Aaron Die sogenannte kosmologische Konstante geht von einer Fludd nach den „Geschwistern der Sonne“ gefahndet. Unser gleichförmigen Massendichte des relativistischen Äthers (Ge- Muttergestirn entstand nämlich aus einer Urwolke von Materie webe) aus. und zwar in einer Zahl von etwa 10.000 Sonnen. Das schien dem Sternenstrom sehr ähnlich zu sein, den er in der Nachbargalaxie Alexander Kluge, 1932 in Halberstadt geboren, lebt als Schriftsteller beobachtete. Eine dieser Sonnen, eine Supernova, in der Nähe und Filmemacher in München. Für sein Werk wurde er mit zahlreichen des Stroms, aus dem unser Zentralgestirn stammt, explodierte. Film- und Literaturpreisen ausgezeichnet. Zuletzt veröffentlichte er bei Und so waren alle unsere Geschwistersonnen mit einem Schauer Suhrkamp die Bände Nachricht von ruhigen Momenten (2013), 30. April schwerer Elemente kontaminiert, darunter radioaktives Nickel 1945 (2014), Kongs große Stunde (2015) und Die Kunst, Unterschiede zu 60, gefunden in einem Meteoriten im Jemen, ein seltenes Element machen (2016). Demnächst erscheint: Georg Baselitz, Alexander Kluge: mit einer Halbwertszeit von 2,6 Milliarden Jahren, das allein aus Weltverändernder Zorn – Nachricht von den Gegenfüßlern (Suhrkamp). einer Urwolke nicht entstanden sein kann, so Aaron Fludd. Man kann die Geschwister der Sonne, die ihre Bahnen in- zwischen im Halbkreis um die Milchstraße ziehen, an ihrer Ge- schwindigkeit und an der einstigen Kontamination durch die Supernova erkennen. Nach ihnen sucht Aaron Fludd.

Das Gewebe der Raumzeit

James Clarke Maxwell schrieb die Maxwell-Gleichungen, die das Verhältnis zwischen Elektrizität und Magnetismus beschreiben. Sie bilden den Ansatz für Einsteins Relativitäts- theorie. Maxwell hielt die elektrischen und die magnetischen Felder für Verlagerungen von FLÜSSEN DES ÄTHERS. Er entlieh die Bausteine seiner Formeln der Flüssigkeitstheorie. Wenig später wurde bewiesen, daß die Erde keine Ätherhülle hinter sich herschleppt: Den Äther gibt es nicht. Dennoch weiß man im Jahre 2010, daß die Raumzeit selbst ein Gewebe ist. Sie HANNSMANN-POETHEN schlägt Wellen und die Analogie Maxwells war nicht so absurd, wie es oft hingestellt wird. LITERATURSTIPENDIUM Der russische Astrophysiker Dimitri Tscherkassow hält die Idee, daß ein Astronaut auf geradem Weg zur Erde fallen könn- TANDEM-STIPENDIUM FÜR AUTOR/IN te, für keinen guten Vorschlag. Die Gegenstände, die zugleich UND KÜNSTLER/IN AUS ANDERER SPARTE mit ihm fallen (und eine solche Situation kann man nicht aus- schließen, denn zumindest würde das Raumschiff, in dem er Gefördert wird ein spartenübergreifendes Kunstprojekt inklusive Aufenthalt in 2018 sich befindet und die Gegenstände darin mit ihm zugleich fal- 15.000 Euro * Miete frei BEWERBUNGSSCHLUSS: 15. NOVEMBER 2017 VOLLTEXT 2/2017 SEITE 31

www.stuttgart.de/hannsmann-poethen-literaturstipendium NEULICH

VON ANDREAS MAIER

s war einmal ein Herbstmarkt in Friedberg, ich erin- (Das Wort bürgerlich ging uns damals besonders gut über die nere mich, Schallers Festzelt stand groß auf der Wiese, Lippen.) Eüberall Volksmusik, Bier, wie immer, aber auf diesem Die Stimmung stieg. Wir waren entschlossen, grimmig. Mit Herbstmarkt war etwas anders als sonst, es war der Herbst- der Birne in der Hand wollten wir nun in das Zelt. Allerdings markt der geistig-moralischen Wende, und es war Wahlkampf, musste nun jeder seine Birne an der Garderobe abgeben, es und der Vorsitzende der CDU, Helmut Kohl, wollte dort reden handelte sich bei den Birnen, sagte man, um potenzielle Wurf- in Schallers Festzelt auf dem Herbstmarkt in Friedberg in der geschosse. Nun gut, also erhielten wir alle Garderobenmärk- Wetterau. Das führte zur Versammlung zweier Gruppen, den chen. Anhängern des neuen Kanzlers und den Gegnern desselben. Das Geschehen während der Rede, im Nachhinein erin- Und wir waren jung und ohne jeden Begriff. Wir gingen dort nert: ein Rausch aus Dumpfheit, Rauch und schalen Farben. hin, rein aus Amüsiergründen. Es war die Zeit der Blockaden Kohl sprach wie immer damals von Frieden und Freiheit, ich und der Demonstrationen, und man rief etwas dazwischen, es entwickelte hatte eine gewisse Übung in den Din- Es war die Zeit der Blockaden und sich ein kurzer Wortwechsel mit dem gen des selbstgefälligen Widerstands der Demonstrationen, und man hat- Vorsitzenden der Christlich Demo- gegen dies und das. Mir saßen die Ar- te eine gewisse Übung in den Dingen kratischen Partei Deutschlands, dann gumente damals locker im Mund, alles des selbstgefälligen Widerstands kamen die Saalordner, zogen uns von schien mir klar, die Welt war sauber in gegen dies und das. den Tischen herunter, auf denen wir zwei Hälften geteilt, die vernünftige standen, drohten uns mit der Zeltstan- und die verrückte, die kriegstreiberische und die friedliche, ge etcetera, andere von uns verbrannten in diesem Mief klei- und auf der Seite der Guten stand vor allem immer ich (ich ne Deutschlandfahnen, die irgendwelche Funktionäre vorher war fünfzehn). verteilt hatten. Zwei Punks begannen sich auf wilde Weise zu Vor Schallers Festzelt entstand ein erster Auflauf. Die An- küssen. Empörung allerorten und am Ende: Deutschlandlied. hänger Kohls in ihren Mänteln betrachteten uns wie etwas Johlend zogen wir aus dem Saal, ja, ich muss sagen: wie auf sehr Eigenartiges, wir unsererseits hielten sie natürlich für ein verabredetes Zeichen hin sprangen wir sofort alle auf, vollkommen wahnsinnig. Jemand hatte eine Stiege mit Birnen hielten uns die Ohren zu und rannten aus Schallers Festzelt dabei, an jedem Birnenstiel war ein Fähnchen angebracht, da- hinaus. Das heißt, zuerst holten wir noch unsere Birnen von rauf stand: Birne – gut zum Essen, schlecht für Hessen. Alle der Garderobe ab. lachten wir. Es war ja überall Birnenkult in der Bundesrepu- Ich kann mich erinnern, dass irgendwer von uns einen blik damals. Später entstanden hitzige großen Stoß Deutschlandfahnen aus Debatten am Eingang, es ging um den Die Stimmung stieg. dem Zelt mitgenommen hatte und Amerikaner und den Russen etcetera, Wir waren entschlossen, grimmig. damit irgendwo in der Stadt ein fünf man kann das heute gar nicht mehr Mit der Birne in der Hand wollten Meter großes Hakenkreuz ausgelegt aufschreiben, so eigendynamisch wa- wir nun in das Zelt. hatte, mitten in der Nacht. Ich kann ren diese sinnlosen, völlig sinnlosen mich erinnern, dass eine Schulkame- Gespräche, in denen es uns jeweils so vorkam, als ginge es um radin von uns, die während Kohls Rede abseits von uns saß, die ganze Welt. nicht zum Deutschlandlied aufstand und es auch nicht sang, Ein immer größeres Gedränge entstand vor Schallers Fest- sodass man sie vom Stuhl herunterzog und ihr Ohrfeigen zelt, auf dem Boden stand die halb entleerte Birnenstiege, und ins Gesicht schlug. Ich kann mich erinnern, dass wir uns da- plötzlich fuhr in ziemlich hohem Tempo ein Mercedes durch mals über alles völlig klar waren. Worin diese Klarheit be- die Menge. Das kam uns unglaublich vor. Der Mercedes hatte stand, daran kann ich mich allerdings überhaupt nicht mehr ein genaues Ziel: die Stiege. Er walzte sie platt und war schon erinnern. wieder vom Platz vor dem Festzelt verschwunden. Wir waren Ich weiß auch nicht, wann ich zum letzten Mal das Wort dankbar schockiert und wussten umso genauer, wie es um den ‚wir‘ gesagt habe. Irgendwann habe ich aufgehört, es zu ver- Feind und seine bürgerliche Fassade tatsächlich bestellt war. wenden.

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Diesen Text habe ich vor Urzeiten geschrieben, da gab es gonisten verliebt sind, ist immer Frühjahr . Im Frühjahr gibt es noch gar keine Zeitschrift Volltext. Deshalb beginnt die Ko- allerdings keine Birnen, deshalb musste ich im Roman auf Sa- lumne diesmal nicht mit „Neulich“. Da aber neulich Helmut latköpfe ausweichen. Literatur hat mit Wahrheit nichts zu tun. Kohl gestorben ist und besondere Anlässe besondere Wirkun- gen hervorrufen, weichen wir diesmal von unserer Regel ab. Andreas Maier, geboren 1967, lebt als freier Schriftsteller in Ham- Übrigens habe ich diese Szene bereits in meinem vorvo- burg. Er veröffentlichte im Suhrkamp Verlag die Romane Das Haus rigen Roman Der Ort wiederverwertet. Dort musste sie aus (2012), Die Straße (2013) und Der Ort (2015) sowie die Kolumnen- gegebenen Gründen aber im Frühjahr angesiedelt werden, sammlung Mein Jahr ohne Udo Jürgens (2015). Zuletzt erschien sein denn mein Protagonist war verliebt, und wenn meine Prota- Roman Der Kreis (Suhrkamp).

LYRIK-LOGBUCH

VON MICHAEL BRAUN UND PAUL-HENRI CAMPBELL

Ror Wolf lichen Lebensfrist durch den großen Matthias Claudius im Drei unvollständige Versuche das Leben zu beschreiben Gedicht „Der Mensch“ hat Wolf eine sehr knappe Beschrei- bung davon gegeben, was geschieht, wenn wir das Licht der Dritter unvollständiger Versuch Welt erblicken und – so heißt es bei Claudius – „empfangen und genähret“ werden, „vom Weibe wunderbar“. Kaum ist Zweiunddreißig, Juni, nachts zwei Uhr, der Mutterschoß verlassen, sind wir offenbar in einem wei- als ich nass aus meiner Mutter fuhr, teren schwarzen Loch verschwunden, das als „Leben“ an- als ich stumm aus meiner Mutter kroch, nonciert ist. Der Text setzt ein wie das nüchterne Protokoll aus dem einen in ein andres Loch, eines Geburtsvorgangs, verwandelt sich dann aber zu einer aus dem Fleisch heraus hinein ins Leben, metaphysischen Studie über das Ausgesetztsein desjenigen, sagte man mir: So ist das eben. der den Schock über den „Nachteil, geboren zu sein“ (Emil Cioran) überwinden muss, um am „Leben“ teilzuhaben. Im November nachts Zweitausendeins Der Ursprung des Menschen wird als ein blutiges Ereignis lag ich nackt und aufgeschlitzt in , markiert, strukturverwandt mit dem operativen Eingriff tief im Blut und alle Tropfe tropften, in den Leib eines Schwerkranken, der hier offenbar, wie es die Kanüle, die Katheter klopften, eine doppelbödige Redensart so schön ambivalent konsta- alles floß hinein in das Plumeau, tiert, mit dem Leben davonkommt. (mb) und man sagt zu mir: Das ist halt so.

Lapidarer lässt sich die Daseinsstrecke eines Menschen Gerrit Achterberg wohl kaum bilanzieren. Der Dichter und Prosa-Anarchist Euklid Ror Wolf ist ein Meister in der Erfindung leichthändig dahingeworfener Nihilismen und katastrophischer Le- In diesem Dasein bist du Streit und Fehl. bensverläufe. Die Grundstimmung seiner Literatur sei ein Um dich herum die Rundung und der Bogen, „Komplott aus Leichtigkeit, Schwermut, Spiel, Ernst, Skur- an deinem Bilde außen gradgezogen, rilität, Lust, Spaß und Entsetzen“, hat Wolf einmal erklärt – so wurdest du zu allem parallel. und auch in diesem Selbstporträt ist die Lust am Reim-Spiel nicht ohne einen makabren Blick in den Abgrund zu ha- Die Zeit wurd ungelegen zwischen diesen ben. 230 Jahre nach der barocken Vermessung der mensch- Geraden, schob aus deinem Leib den Raum.

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Begriffe, die noch etwas von dir wissen, schütterten, rissigen, rutschenden) axiomatischen Funda- erhalten zuviel Ziel, doch Mittel kaum. mente der Welt nicht naheliegend? (phc)

Ich kann dich nicht mehr mit Euklid beschreiben, benötigt doch dein kongruentes Bild Izzet Yasar noch Punkte an unendlich fernem Ort. Brust

Gleichwohl musst du auf jenem Beete bleiben, wasche wo im Gedicht von dir ein Abschlag gilt nähre es in all der Weiße rund um jedes Wort. kleide ein halt seine hand Als sei das Sonett noch der schwache Versuch, die klaren geh auf die straße Axiome und die Proportionenlehre zu zelebrieren, die bring es an orte Euklid im dritten Jahrhundert in den dreizehn Büchern sei- zeig es leuten ner Στοιχεῖα (Lehre der Bestandteile oder Elemente) definiert dass es ihnen gefällt hatte. Im euklidischen Weltbild schien alles seinen wohl- halt seine hand geordneten Ort zu haben, war alles herzuleiten aus dem bring es zurück Fluchtpunkt der platonischen Idee. Aber wie die Mathema- nähre es tik scheint die Sprache widerspenstig, scheint sie zugleich erzähl ihm präzise und fragwürdige Wissenschaft zu sein. Denn schon bring es zu bett in der Übersetzung aus dem Niederländischen spielt die fließend gewordene Semantik dem Formwillen des Sonet- Es ist eine fast mittelalterliche Betrachtung der Brust, die der tisten einen Streich. Gerrit Achterberg (1905–1962) stellt in 1951 in Istanbul geborene Izzet Yasar hier in zarten Imperativen diesem Gedicht jedoch mehr zur Diskussion, als bloß die im hinsagt. Man stelle sich ein Fresko vor, eine Skulptur, ein Altar- 19. Jahrhundert stattfindende Zeitenwende von der euklidi- blatt: Das Christuskind an der Brust der Jungfrau, darunter oft schen zur nichteuklidischen Geometrie. Später, in der Ent- eine lateinische Notiz wie „ich habe ihn genährt“ oder „genährt, stehungszeit von „Euclides“ (1948), wird bekanntlich durch genutet und umsorgt“. Hatte nicht einmal die Kunsthistorikerin Albert Einstein diese Kränkung jener alten Mathematik von Margaret Miles in ihrem Buch über die Säkularisation der weib- Vitruv und dem Abt Suger von Saint-Denis abermals wie- lichen Brust auch festgestellt, dass in gotischer Kunst die Brust derholt werden. Der Calvinist Achterberg jedoch versteht, nährt, während sie durch die deutlich säkularisierteren, oft auch dass antike Geometrie immer auch Weltanschauung, auch protestantischen Künstler ab dem Barock nur zum bloßen ero- Ideenlehre ist, sodass – einer zweiten kopernikanischen tischen oder medizinischen Motiv reichte. Dieses Gedicht wird Wende gleich – mit diesem Gedicht auch Abschied von Pla- aus seinem Naturalismus gespeist, seiner geradezu anthropo- ton bzw. dem Platonismus genommen wird: „benötigt doch logischen Selbstverständlichkeit. Die Wucht dieser wenigen dein kongruentes Bild / noch Punkte an unendlich fernem Zeilen, scheint mir, aus einem naiven Befehlston zu erwachsen, Ort“. Die ontologische Grundierung der Formen, Ordnun- darin sich sowohl Fürsorge („halt seine hand“) mit Stolz („zeig gen und des Denkens scheint fort zu sein, obsolet. Doch es leuten“) mengen. Während türkische Autoren in Westeuropa die beiden Terzette hier sind keine Eulogie, sind weder La- gegenwärtig oft aufgrund ihrer politischen Gedichte Beachtung mento noch Goodbye, vielmehr wendet der Niederländer finden, lassen sich bei Izzet Yasar – neben gesellschaftskritischen Achterberg die Sinnrichtung hin zur konkreten, erlebnis- Texten – eine Vielzahl an Texte entdecken, die sich über alle De- basierten, immer auch nichtrationalen Wahrnehmung des formationen hinweg durchringen zu scheinbar dem Zeitenlärm Menschen, womit er den eingangs angesprochenen Konflikt entkoppelter Poesie, verspielt, oft raffiniert oder, wie hier, als fei- der menschlichen Situation – „in diesem Dasein bist du erliche Umsprachung, Hingabe ans Leben. (phc) Streit und Fehl“ – spiegelt im memento mori: „wo im Gedicht von dir ein Abschlag gilt“. Andere Gedichte aus dieser Schaf- fensperiode tragen Titel wie „Punkt“, „Konvexe“, „Descartes“, Katharina Schultens „Spinoza“. „Streit und Fehl“ sind dem Dichter Gerrit Achter- knochenorakel berg wohlbekannt, der die 1930er-Jahre überwiegend in psychiatrischen Kliniken verbrachte und 1937 sogar seine es ist eine wolke gekommen, aus dem wolkenfeld hinter simplon verwitwete Haushälterin erschießt und ihre sechzehnjähri- eine riesige meeresschildkröte, jetzt schwimme ich in ihrem innern ge Tochter mit einer Kugel schwer verwundet. Ist daher das verzweifelte Ringen um die Formfrage in diesem Gedicht, ihr sucht panorama, ich bevorzuge schutz. horn um horn um elementare Ordnung, die Problematisierung der (er- stößt aus weicher erde, widderhörner, ziegenhörner:

SEITE 34 VOLLTEXT 2/2017 KOLUMNE nest-, fletsch- und schreckhorn nennt ihr, weiß- und schwarzhorn ihrem geheimnisvollen Klang (z.B. „allalinhorn“ oder „sa- allalinhorn, sage ich, rimpfischhorn, satamar, héremence! tamar“) ein „seltsames Verhältnisspiel der Dinge“ (Novalis) suggerieren. Wie sehr sich die Dichterin von Verbalreizen reichts nicht, dass ihr wisst, wie sie heißen? inspirieren lässt, zeigt das Schlussbild, in der ein Benen- nungsfehler zum poetischen Movens wird: Die heilende könnt sie benennen, habt alle namen aller orte, werdet „Salbe“ und die lyrisch strukturgebende „Silbe“ fallen zu- eine gegend erzeugen. ich kann zu wenig sehen, sagt ihr da. sammen. (mb) mach mal eine silbe auf meine haut, da wo die dorne war Quellen: sagt das kind: ich lasse diesen hellen vokal, wie er ist. Ror Wolf: Die Gedichte. Mit einem Nachwort von Friedmar Apel. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2017. Hier wird ein grandioses Naturtheater aufgeführt – wobei sich Hendrik Marsman / Gerrit Achterberg: Land ohne Ende. Übersetzt der Naturstoff mit sinnlich erfahrener Sprachmaterie verbin- von Alfred Schreiber. Edition Rugerup, Berlin 2016. det. Der Blick des schreibenden Ich richtet sich zunächst auf Izzet Yasar: Durch meine Verse lasse ich lange Fische gleiten. „die flüchtigsten aller Meisterwerke“ (H.M. Enzensberger), die Übersetzt von Özlem Özgül Dündar. Verlag Das Wunderhorn, Heidel- am Himmel hinter dem Simplonpass auftauchen, der Tran- berg 2016. sitachse zwischen dem Schweizer Kanton Wallis und Nordit- Katharina Schultens: Untoter Schwan. Gedichte. Kookbooks, Berlin alien. Es sind die in majestätischem Weiß dahintreibenden 2017. Wolken, die sich unablässig neue fantastische Gestalten her- vorbringen, ein Festzug von imaginären Tieren mit Schuppen- Michael Braun, geboren 1958, lebt als Literaturkritiker in Heidelberg. panzern und Hörnern. Er veröffentlichte zuletzt als Herausgeber Die zweite Schöpfung. Katharina Schultens hat 2015 als Spycher-Literaturpreis- Poesie und Bildende Kunst (Verlag Das Wunderhorn, 2016). trägerin einige Zeit im Wallis verbracht. Ihr Gedicht ent- ziffert die Metamorphosen der Wolkenformationen als ein Paul-Henri Campbell, geboren 1982 in Boston, lebt als Schriftsteller Szenarium gehörnter Tiere und Bergrücken. So entsteht in und Übersetzer in Montabaur. Promoviert derzeit im Fach Fundamen- der Auflistung von Berggipfeln einerseits eine Topografie taltheologie an der Hochschule der Jesuiten in Frankfurt am Main. Im der Walliser Alpen, andererseits eine Ansammlung geheim- Frühjahr erschien sein Gedichtband nach den narkosen (Verlag Das nisvoller Chiffren, die in ihrer opaken Verschlossenheit und Wunderhorn).

LEONDINGER AKADEMIE Ausschreibungen FÜR LITERATUR 2017/18 Im Herbst 2017 wird die Leondinger Akademie für Literatur unter der künst- WEBINAR / SEMINAR findlichen längeren Text handeln. In lerischen Leitung von Gustav Ernst „LITERARISCHES SCHREIBEN“ den Sitzungen werden die eingereich- und Karin Fleischanderl zum zwölf- VOLLTEXT bietet ab Oktober in Wien ten Beiträge im Detail besprochen und ten Mal ihren Betrieb aufnehmen. Die und ab sofort laufend im Internet Se- Vorschläge zu ihrer weiteren Entwick- (maximal) dreizehn TeilnehmerInnen minare bzw. Webinare zum Thema lung erarbeitet. Auch die sprachliche des einjährigen Lehrgangs erhalten „Literarisches Schreiben“ mit der Lek- Feinarbeit kommt in den Sitzungen die Möglichkeit, in Zusammenarbeit torin Angelika Klammer (Leitung), nicht zu kurz. Um den TeilnehmerIn- mit renommierten AutorInnen, Lite- der Autorin Sabine Gruber und dem nen eine realistische Einschätzung raturkritikerInnen und Literaturwis- Literaturkritiker Stefan Gmünder an. des literarischen Feldes zu ermögli- senschaftlerInnen eigene literarische Das Hauptaugenmerk der Seminare/ chen, werden im Laufe des Seminars Formen und Schreibhaltungen zu ent- Webinare mit begrenzter Teilneh- die Autorin Sabine Gruber und der wickeln. In monatlich stattfindenden merzahl gilt der konkreten Arbeit am Literaturkritiker Stefan Gmünder als Wochenend-Workshops und mittels Text. Voraussetzung für die Teilnah- GastreferentInnen von ihren konkre- kontinuierlicher Online-Feedbacks be- me ist daher die Einreichung eines ten Erfahrungen berichten und für schäftigt sich die Akademie sowohl auf etwa 10 (bis maximal 30) Seiten lan- Fragen zur Verfügung stehen. praktischer als auch auf theoretischer gen Prosatextes. Dabei kann es sich Nähere Informationen zu den Se- Ebene mit dem Spezifischen des Medi- um einen abgeschlossenen Text, eine minaren bzw. Webinaren sowie lau- ums Literatur, vorrangig mit der Text- Sammlung von Prosaminiaturen oder fend aktualisierte Termine finden Sie und Projektentwicklung. Nähere Infor- einen Auszug aus einem in Arbeit be- im Internet unter https://volltext.net. mationen: www.literatur-akademie.at.

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 35 Bedingt brauchbar

Ein Streifzug durch neuere germanistische Kompendien

VON UWE SCHÜTTE

nfang dieses Jahres war es wie- des Eifers, mit dem in saftig dotierten anfänger geschrieben werden, zugleich der einmal soweit: Eine im Spie- Sonderforschungsbereichen dutzend- aber auf ein Marktsegment jenseits der Agel publizierte Generalanklage fach promovierte Germanisten produ- Proseminare schielen. gegen die Germanistik sorgte für sofor- ziert werden, davon ausgehen, dass es Denn passionierte Leser, die einen tige Empörung in der Disziplin, gefolgt bald mehr Arbeitslose mit Doktortitel Bedarf an – wie es so schön heißt – „Se- von einer vorübergehenden Diskussion gibt als ohne. kundärliteratur“ haben, weil sie vom samt Gegenstellungnahmen üblicher Fachwissen der Experten zu profitieren Verdächtiger. Natürlich sei die Germa- Periodischer Selbstzweifel hoffen, um den Lesegenuss an Büchern nistik unverzichtbar, so gaben Junior- Zu kritisieren an der Germanistik gibt es ihrer Lieblingsautoren zu verstärken oder wie Seniorprofessoren zu Protokoll, die also einiges. Wenigstens ist sich die Dis- auf ihnen noch unbekannte Autoren zu Studierenden dürfe man – als Kinder ziplin dieses Umstands selber bewusst. stoßen, mögen heutzutage vielleicht ei- ihrer medienüberfluteten Zeit – nicht Schon vor vielen Jahren hatte Karl nen Atavismus darstellen, doch gibt es für die Unkenntnis zentraler Autoren Heinz Bohrer lakonisch konstatiert: sie durchaus noch. Werden sie von der oder unverzichtbarer Bücher kritisie- „Die Geisteswissenschaften befällt seit Germanistik angemessen bedient? Versu- ren, wie auch die Bereitschaft der Lite- längerem schon periodisch ein Anfall chen wir eine Antwort zu finden anhand raturwissenschaftler, sich Bereichen jen- von Selbstzweifel.“ Zur Frage nach der von vier exemplarischen Werken. seits ihrer Kernaufgabe der Textanalyse gesellschaftlichen Relevanz der Germa- Den Anfang macht eine umfassen- zu widmen, doch Belobigung verdiene, nistik gehört aber nicht nur ihre soziale de Geschichte der deutschen Literatur, die war da etwa zu lesen. Verantwortung, sondern ebenso der As- 2016 in vierter, aktualisierter Auflage als Vielleicht hätte man lieber per un- pekt der Brauchbarkeit ihrer Produkte Taschenbuch erschienen ist. Interessant bezahlter Pflichtlehre ausgebeutete Pri- über den engeren Fachkreis hinaus. Was ist dieses literarhistorische Unterfangen vatdozenten befragt, die jahrelang mit die in den Doktorandenschmieden ent- allein deshalb schon, weil es ein Produkt schwindender Hoffnung auf eine Pro- stehenden Promotionsschriften betrifft, der Auslandsgermanistik repräsentiert, fessur dem Abstieg in den Status eines so ist mindestens seit den letzten zehn entstanden in den 1990er-Jahren an der überqualifizierten und damit schwer- Jahren ein stetiger quantitativer Anstieg Universität von Odense in Dänemark als vermittelbaren Langzeitarbeitslosen in Zahl wie Länge zu verzeichnen ohne Gemeinschaftsprojekt unter der Feder- entgegensehen. Deren Blick auf ihre korrespondierende qualitative Verbes- führung des (mittlerweile verstorbenen) Profession wäre ein zweifellos interes- serung. Manche jüngere und jüngste Bengt Algot Sørensen. (Ein ähnliches santerer gewesen, denn er hätte ein an- Promotionsschriften – auf Nennung literarhistorisches Nachschlagewerk hat deres Bild dieses Massenfachs ergeben, konkreter Beispiele sei hier bewusst übrigens auch die kroatische Germanis- das massenhaft in prekäre Verhältnis- verzichtet – sind nachgerade unlesbar. tik vorgelegt, nämlich die von Viktor se entlassene Praktikanten und Kurz- Doch wie steht es um germanistische Žmegač in drei Bänden publizierte Ge- zeit-Projektangestellte mit Doktortitel Publikationen, in denen es gerade um schichte der deutschen Literatur vom 18. produziert. In Anlehnung an Thomas eine breite Verständlichkeit gehen soll- Jahrhundert bis zur Gegenwart, welche Bernhards Klage, dass es in Österreich te, da die entsprechenden Werke wie erstmals 1984 erschien.) bald schon mehr Ober mit Professoren- Handbücher, Einführungen und Über- Der zweite Band von Sørensens deut- titel als ohne gäbe, darf man angesichts blicksdarstellungen primär für Studien- scher Literaturgeschichte umfasst etwas

Vor der notwendigen Revision der Bewertung mancher Autoren schrecken die Verfasser zurück.

SEITE 36 VOLLTEXT 2/2017 LITERATURWISSENSCHAFT

ausgegebenen Anthologie zum Ausdruck kommt, deren notorischer Titel Deutsche Erzähler des 20. Jahrhunderts: Von Arthur Schnitzler bis Robert Musil lautet. Das Bie- dermeier-Kapitel berücksichtigt nämlich Grillparzer wie Stifter, und auch in fast allen weiteren Epochen-Abschnitten ma- chen Österreicher und Schweizer bis zu 50 Prozent der besprochenen Autoren aus. Im Kapitel zur Literatur der zwan- ziger Jahre stehen dem Deutschland al- lein repräsentierenden Döblin sogar mit Broch und Musil gleich zwei österreichi- sche Schriftsteller gegenüber.

Deutsche Identitätsproblematik Ganz im Gegensatz dazu ist das letzte Kapitel, das die Gegenwartsliteratur im Zeitraum von 1990 bis 2016 be- handelt, ganz der literarischen Refle- xion deutscher Identitätsproblematik seit der Wiedervereinigung gewidmet und räumt daher insbesondere Auto- ren aus Ostdeutschland gebührenden Raum ein. Am Testfall Thomas Bern- hard wiederum lässt sich exemplarisch erkennen, wie eine solche Literatur- geschichte an dem Versuch scheitern kann, die Vielzahl relevanter Autoren einer Zeitperiode einzuordnen in eine übergreifende Epochenerzählung: ab-

ISOLDE OHLBAUM ISOLDE gesehen von ein paar Namensreihen, © in denen er en passant vorkommt,

FOTO: wird lediglich Bernhards Dramatik in W. G. Sebald: Die Kanonisierung des Widerspenstigen einem Absatz summarisch abgehan- delt. Das dürfte nicht nur österreichi- über 500 Seiten und reicht vom 19. Jahr- grunds drückt sich die zu befürwortende schen „Nutzern“ dieses Werkes unbe- hundert bis in die Gegenwart. Genauer Sichtweise dieser Literaturgeschichte friedigend erscheinen. gesagt, beginnt er um 1815, also im Zeit- aus, nämlich Literatur dezidiert vor dem Nicht ganz befriedigend ist auch alter von Biedermeier und Vormärz; eine realen Hintergrund ihrer Entstehungs- der Umstand, dass die Verfasser offen- angesichts der offenkundigen Parallelitä- umstände zu begreifen. Bevor das Buch sichtlich vor der notwendigen Revisi- ten zur Gegenwart unverändert reizvolle dann konkret auf acht exemplarische Au- on der Bewertung mancher Autoren Epoche der deutschen Literaturgeschich- torinnen und Autoren der Zeit eingeht, zurückschrecken; so wird Günter Eich te. Zunächst wird die bis 1848 reichende widmet es sich einer grundsätzlichen unverändert als unbelasteter Autor ei- Periode kurz in ihren politischen und Einschätzung, wie sich die Entwicklung ner engagierten „jungen Generation sozialen Grundzügen erklärt, um den der Gattungen Lyrik, Epik und Drama voll kritischem Humanismus“ ins Feld Zeithorizont zu definieren, vor dem die im Zeitalter politischer Repression und geführt, was sich angesichts von dessen literarischen Texte entstanden sind. Auf keimenden Aufbegehrens gestaltete. Schweigen über seine Rolle im Natio- gerade mal elf Seiten muss dies notwen- Wie bei einem außerhalb der „In- nalsozialismus ja kaum halten lässt. Vor digerweise knapp ausfallen, zugleich landsgermanistik“ entstandenen Werk übermäßiger Glorifizierung der Grup- aber darf man solche Grundkenntnisse nicht erstaunen wird, vermeidet es jene pe 47, ein Manko vieler Literaturge- kaum mehr automatisch voraussetzen. In imperiale Sichtweise, welche etwa in ei- schichten, schreckt der Band hingegen der Skizzierung des historischen Hinter- ner 1994 von Marcel Reich-Ranicki her- verdienstvollerweise zurück und punk-

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 37 LITERATURWISSENSCHAFT tet zudem dadurch, dass der Wiener Kafka, Adorno oder Heiner Müller, zu Übersetzung von Sebalds zwei Essay- Gruppe ein ihr gebührender Platz im denen bereits autoritative Nachschla- bänden zur österreichischen Literatur – selben Abschnitt eingeräumt wird. Ins- gewerke im Metzler Verlag erschienen als im Jahre 2012 erschienen vermeldet. gesamt darf so resümiert werden, dass sind. Die renommierte Reihe hat sich Doch dergleichen mag akademisch un- ein Publikum jenseits des Universitäts- mit dem von Michael Niehaus und beleckten Sebald-Lesern zugegebener- betriebs mit dieser Überblicksdarstel- Claudia Öhlschläger herausgegebenen weise gar nicht auffallen, noch sie son- lung gut bedient wird, weiß man doch, Band, der auch einige Beiträge des Ver- derlich stören. Auf jeden Fall zumindest dass solche Unterfangen es ohnehin nie fassers enthält, allerdings keinen son- werden sie in diesem Band eine ganze allen recht machen können. Eines aber derlichen Gefallen getan. Sebald-Leser, Menge hervorragender Einträge finden, gelingt den Dänen: eine im Großen und die an seiner Prosa zumal deren Genau- in denen die literarischen Werke dieses Ganzen verlässliche Handreichung zu igkeit wertschätzen, werden gleich ein- Ausnahmeautors nach allen Regeln einem komplizierten Feld zu liefern. gangs ungut über einen Schreibfehler philologischer Kunst auf dem aktuellen Bemerkenswert an der neuen Auf- im ersten Satz stolpern. Sie sollten ihn Stand der Forschung analysiert werden. lage von Sørensens Literaturgeschichte als Omen für das Weitere verstehen: Im Dass dabei teilweise Fachjargon oder ist im Übrigen das Coverdesign. Vier Band wird schlampig zitiert, Autoren- theoretische Ausführungen die Lektü- repräsentative Autorinnen und Autoren namen wie Buchtitel durch Fehlschrei- re erschweren, muss als unvermeidlich sind darauf in bewusster Genderbalan- bung verunstaltet, Textgenesen falsch in Kauf genommen werden; dennoch ce abgebildet: Ingeborg Bachmann und datiert und so weiter. können die sozusagen gewöhnlichen Herta Müller stehen Thomas Mann und Sebald-Leser durchaus profitieren von W. G. Sebald gegenüber. Letzteres wie- Zweifel am Sachverstand dieser Fachpublikation. derum darf man als Indiz werten für den Das sind aber eben nicht nur Indizien Hinters Licht geführt werden aller- mittlerweile auch im deutschsprachigen oberflächlicher Lektorierung, die in ei- dings jene, die Sebalds Werk nur in Aus- Raum nicht mehr aufzuhaltenden Ruhm nem solchen, wissenschaftliche Ansprü- schnitten kennen, soll heißen: nur seine dieses Auslandsgermanisten, der aus che erhebenden Werk ohnehin schon vielgerühmten Erzählwerke gelesen Frustration über die neoliberalen Refor- mehr als nur unschön sind. Es lässt sich haben, nicht aber die literaturkritischen men des britischen Universitätswesens, an manchen Stellen auch ernsthaft am Schriften des renitenten Außensei- aber auch aufgrund seiner Aversion ge- Sachverstand der professoralen Her- ter-Germanisten. Aus deren Kenntnis gen die meisten Hervorbringungen der ausgeber zweifeln, denn sie scheinen ergibt sich ein durchaus anderes Bild deutschen Nachkriegsliteratur in den nicht zu erkennen, dass beispielsweise des Autors, als es dieses Handbuch achtziger Jahren selber zu schreiben be- in Beiträgen von Laien sachlich haltlose zeichnet, das doch beansprucht eine gann. Was er kaum ahnen konnte, war, Behauptungen aufgestellt werden, die umfassende Darstellung zu sein. Der dass er gerade mal drei Jahrzehnte spä- man selbst Studierenden im Prosemi- oftmals ungerechte, hart an der Grenze ter vereinnahmt werden sollte, von just nar so nicht dürfte durchgehen lassen. zur Entgleisung operierende Polemiker jener Institution, gegen die er angetreten Beispielsweise behauptet gleich der Sebald kommt nur nebenbei vor, eben- war: obgleich, oder vielleicht gerade weil zweite Eintrag, dass der im Deutschen so sein Faible für geistesverwandte Au- Sebald zeitlebens ein erbitterter, oft auch Literaturarchiv in Marbach in zwei ßenseiterfiguren wie den anarchischen ressentimenterfüllter Kritiker seiner Pro- Fassungen lagernde Jugendroman „ver- Autodidakten Herbert Achternbusch fession war, macht diese ihn nun zu ei- schollen“ sei, obwohl der gegenteilige oder den schizophrenen Lyriker Ernst nem ihrer Paradeobjekte. Sachverhalt schon seit vielen Jahren be- Herbeck, ganz zu schweigen von den so kannt ist, weshalb darüber auch bereits vitalen wie verdeckten Einflüssen einer Schlampig zitiert eine Dissertation und ein Kapitel in ei- Reihe von Anstoßgebern, die unterhalb Ablesen lässt sich diese Kanonisierung nem zuvor erschienenen Sammelband wissenschaftlicher Satisfaktionsfähig- eines Widerspenstigen am jüngst er- publiziert wurden. keit stehen, wie etwa der Biologe Ru- schienenen W. G. Sebald-Handbuch, mit Von ähnlichem Kaliber ist die Fal- pert Sheldrake oder der oberbayerische dem der verlorene Sohn der deutschen schmeldung am Ende des letzten Bei- Rutengänger und Hellseher Alois Irl- Germanistik in eine Reihe gestellt wird trags, die ein (noch) gar nicht existie- maier. Sie alle bleiben außen vor, weil mit Größen wie Hölderlin, Büchner, rendes Buch – nämlich die englische dergleichen einer orthodoxen Germa- Virtuose Beherrschung des Jargons ist erforderlich, will man etwa Prozesse der Semantisierung durch historisch-transtextuelle Referenzialisierung in architextueller Hinsicht verstehen.

SEITE 38 VOLLTEXT 2/2017 LITERATURWISSENSCHAFT nistik vielleicht gar nicht vorstellbar ist. nen, dass gerade das, was mit einem An- textueller Hinsicht verstehen. Der „Ty- Diese macht sich lieber das geschönte spruch auf akademische Qualität und pologie der Lyrik“ überschriebene Teil Bild eines Unorthodoxen zurecht, der Verlässlichkeit auftritt, den zumal in des Handbuchs hingegen liefert viele orthodoxen Sichtweisen genügen muss, diesem Fall hohen Ladenpreis für den spannende und aufschlussreiche Be- weil man selber nicht über den profes- Privatgebrauch nur begrenzt lohnt. trachtungsweisen des Phänomens der sionellen Tellerrand hinauszublicken Lyrik, etwa anhand solcher Stichworte wagt. Sebald aber war anders. Kein Verlässliche Qualität wie Liebeslyrik, politische Lyrik oder Wunder, dass er der Germanistik als Einen veritablen Beweis dafür, warum Lyrik und Komik. Ebenso sind viele der junger Mann ins Ausland entlaufen war. man sich ansonsten durchaus unbesorgt Einträge, die sich mit der Beziehung Sebald ordnete in seiner über drei auf die Qualität der Handbuch-Reihe von Lyrik zu anderen Kunstformen be- Jahrzehnte entstandenen Literaturkritik verlassen darf, liefert das unlängst in schäftigen, mehr als fesselnd – so etwa die von ihm behandelten Schriftsteller zweiter, aktualisierter Auflage erschie- im Hinblick auf Popsongs, Film, bilden- stets einem Schwarz-Weiß-Muster fol- nene Kompendium zur Lyrik. Dessen de Kunst und nicht zuletzt Dramatik gend als Freund oder Feind ein, weil für Herausgeber, Dieter Lamping, gehört und Epik. ihn – im Gefolge von Benjamin – das übrigens zu den Advokaten von Alfred Dem schweren, aber verdienstvollen Ästhetische nicht zu ablösen war von Andersch und hat versucht, das von Se- und nicht zuletzt auch gesellschaftlich der politischen Moral. Daher sind seine bald demolierte Image des als Klitterer notwendigen Geschäft der Vermittlung essayistischen Schriften entweder von seiner Biografie entblößten Schriftstel- von Lyrik in Zeiten digitaler Dauerbe- empathischer, geistesverwandtschaftli- lers zu reparieren. Im Lyrik-Handbuch rieselung widmet sich ein eigener Ab- cher Nähe oder von einseitiger, affektge- ladener Ablehnung geprägt, sobald er in der Biografie des Autors Indizien für ein ihm politisch problematisches Verhal- ten erkennt – wie dies insbesondere in der Causa Alfred Andersch der Fall war. Sebalds 1993 erschienene Polemik be- schädigte nachhaltig das Ansehen dieser Portalfigur der deutschen Nachkriegsli- teratur, die er als Mitläufer und Oppor- tunisten angriff, zumal im Gefolge der Literaturwissenschaftliche Kompendien: In Restbeständen zumindest zahlt sich die Arbeit der teilweise überzogenen Attacke noch wei- Germanistik auch für eine allgemeine Leserschaft noch aus. tere Evidenzen ans Licht kamen, die sein pauschales Verdammungsurteil nach- jedoch leistet er als Herausgeber ganze schnitt: Lyrik in der Schule, Lyriküber- träglich untermauerten. Arbeit: Auf knapp 500 Seiten behan- setzungen, Lyrik in der Literaturkritik, Oder nehmen wir die beißende Po- deln ausgewiesene Experten alle nur aber auch die schwierige Lage der Lyrik lemik, mit welcher der wegen seiner be- denkbaren Aspekte dieses weiten Felds, im aktuellen Buchmarkt werden ge- merkenswerten literarischen Beschäf- entsprechend der im Untertitel genann- winnbringend verhandelt. So erfährt tigung mit jüdischen Opferschicksalen ten Vorgaben, also Theorie, Analyse man beispielsweise im Abschnitt über vielgelobte Sebald den Holocaust-Über- und Geschichte. Dies geschieht zudem Dichterlesungen Interessantes über die lebenden Jurek Becker noch zu dessen auf dem letzten Stand der Dinge, da die Rolle subversiver wie staatlich verord- Lebzeiten attackierte (weshalb der be- Neuauflage nun auch die Lyrik der un- neter Lyriklesungen unter dem Natio- treffende Essay ungedruckt blieb und mittelbaren Gegenwart berücksichtigt. nalsozialismus wie in der DDR. erst knapp zwei Jahrzehnte später aus Natürlich sind auch in diesem pri- Gewissermaßen das Kernstück des dem Nachlass publiziert wurde). Die- mär wissenschaftlich ausgerichteten Bandes ist der rund 160 Seiten umfas- se, und noch einige andere Aspekte des Band einige Einträge irrelevant für sende Überblick zur Entwicklung der Werks und der Persönlichkeit Sebalds nicht-akademische Lyrikfreunde, vor Lyrik, von den archaischen Anfängen bleiben im Handbuch weitgehend un- allem im theoretisch ausgerichteten ers- im alten Griechenland bis zu ihrer Zu- terbelichtet, was das bestehende einsei- ten Teil des Handbuchs, wo eine virtuo- kunft im digitalen Zeitalter. Ganz im tige Porträt des eigensinnigen Einzel- se Beherrschung theoretischen Jargons Sinne eines solch umfassenden An- gängers weiter befestigt, und schlimmer erforderlich ist, will man beispielswei- satzes bleibt stets die internationale noch, dabei den falschen Anschein wis- se Prozesse der Semantisierung durch Lyrik im Blick der Darstellung, auch senschaftlicher Objektivität vermittelt. historisch-transtextuelle Referenziali- wenn der Fokus selbstredend auf der Laienleser müssen insofern damit rech- sierung in architextueller oder hyper- deutschsprachigen Dichtung ruht. Ös-

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 39 LITERATURWISSENSCHAFT terreichische Lyriker sind ebenso stark Darstellung des „Betriebsklimawandels“ lagslandschaft eingestellt worden sind, präsent; bezeichnenderweise endet das des Literaturbetriebs ergänzt, den die weil kein Markt mehr für dergleichen Handbuch sogar mit einem Hinweis auf beiden Wissenschaftler als Entwicklung Bände besteht, mit denen bis in die Franz Josef Czernin und dessen Band in Richtung Medialisierung, Eventisie- 1990er-Jahre noch ein erfolgreicher Metamorphosen. rung und Skandalisierung verstehen. Brückenschlag zwischen Universität Als markante Absenz mag man das Dementsprechend fungiert ein Über- und Gesellschaft unternommen wur- Fehlen eines anderen österreichischen blick über die wichtigsten Literatur- de. Allenfalls altgediente Leser werden Lyrikers erachten, nämlich Ernst Her- debatten in Deutschland seit 1990 als sich heute noch an sie erinnern: die beck und dessen in der Isolation der Grundlage. Danach werden in sieben hellbeigen „Materialien“ von Suhr- psychiatrischen Heilanstalt in Gugging übersichtlichen Abschnitten zentrale kamp, die dunkelblauen „Realien zur bei Wien entstandenen lyrischen Texte, Themen der erzählenden Literatur ab Literatur“ von Metzler, die ockerfarbe- die eine ganze Zeit lang auf erhebliche der Wiedervereinigung vorgestellt: ne- nen „Autorenbücher“ von Beck oder Resonanz in der Leserschaft stießen, die ben Unvermeidlichem wie Wende, Po- die „Köpfe des 20. Jahrhunderts“-Reihe Germanistik aufgrund ihrer Konstitu- proman und Geschichte im Gedächtnis des Morgenbuch Verlags. tion an einem quasi extraterritorialen kommen aber auch interessantere The- Heute lässt sich mit etwas Glück Ort aber wohl überforderten, nicht zu- men wie Posthumanismus, Globalisie- noch ein vergilbtes Exemplar aus einer letzt weil sie ihren hehren Analyseappa- rung und fantastische Literatur zum Zug. Ramschkiste ziehen und mag einen an rat in Frage stellten. (Wie oben erwähnt, die eigene Lesesozialisation erinnern, interessierte sich vor allem Sebald für Ästhetik vor Kommerz als jedes neue Buch von Thomas Bern- die Texte eines leidenden Mitmen- Die Auswahl der Romane zu jedem hard noch ein tatsächliches literarisches schen und widmete ihnen berührende Thema ist breit gestreut, sodass man als Ereignis war oder man sich seinen Weg Essays.) Gesellschaftliche Relevanz der interessierter Leser sicher die eine oder durch das imposante Werk von Thomas Germanistik involviert, so könnte man andere Entdeckung machen wird, wobei Mann mithilfe solcher Handreichungen in seinem Gefolge argumentieren, auch jeweils ein Text besonders ausführlich bahnte. die ethische Dimension, sich neben vorgestellt wird, weil er nach Ansicht der trivialen Produkten der Populärkultur Verfasser als exemplarisch gelten darf. Bengt Algot Sørensen (Hg.): Geschichte oder modischer Digitaltrends, auch Diese Ehre widerfährt in vielen Fällen der deutschen Literatur. Bd. 2: Vom 19. der Benachteiligten und Minderen an- aber nicht unbedingt der offenkundi- Jahrhundert bis zur Gegenwart. 4. Auflage. zunehmen, um mit dem Leitfaden der gen Wahl, sondern weist ohne Ansehen C.H. Beck, München 2016. 512 Seiten, Ästhetik dem nachzuspüren, was sich in kommerziellen Erfolgs auf genuine li- € 17,95 (D) / € 18,50 (A). sozial marginalisierten Zonen ereignet. terarische Leistungen; so wird etwa im Michael Niehaus / Claudia Öhlschläger Doch dergleichen war, ist und bleibt ein Abschnitt zur Fantastik eine ausführli- (Hg.): W. G. Sebald-Handbuch. Leben – utopisches Programm, das sich nur für che Würdigung des ungeheuerlichen Ro- Werk – Wirkung. Metzler, Stuttgart 2017. vorübergehende Zeit im Germanistik- manprojekts Thetis. Anderswelt von Al- 335 Seiten, € 89,95 (D) / € 92,47 (A). betrieb Geltung verschaffen konnte. ban Nikolai Herbst unternommen. Auch Dieter Lamping (Hg.): Handbuch Lyrik. ist ein eingehender Hinweis auf Patrick Theorie, Analyse, Geschichte. 2. Auflage. Betriebsklimawandel Roths Christustrilogie zu finden, deren Metzler, Stuttgart 2016. 506 Seiten, Zuletzt noch ein Band, der sich im Be- immense literarische Qualitäten ange- € 99,95 (D) / € 102,75 (A). reich des Erschwinglichen befindet, sichts Vorurteile aller Art gegen diesen Leonhard Herrmann / Silke Horstkotte: und zudem sein Geld mehr als wert ist: Text außerhalb gläubiger Kreise leider Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Die von Silke Horstkotte und Leonhard weithin unbekannt sind. Metzler, Stuttgart 2016. 232 Seiten, € 24,95 Herrmann erarbeitete Gegenwartslite- Zwar prangt der etwas abschre- (D) / € 24,95 (A). ratur. Eine Einführung richtet sich an ckende Begriff „Lehrbuch“ auf dem Studierende, aber auch ältere Semester Umschlag dieses broschierten Bandes, Uwe Schütte ist Dozent für German Studies jenseits der Hörsäle können ordentlich aber als ein „Abfallprodukt“ universi- an der Aston University, Birmingham. etwas draus lernen. Der Einführungs- tärer Schulung ist dieser Band ebenso Zuletzt erschienen u. a. die umfangreiche band versteht es nämlich, auf etwas eine Dienstleistung für alle, die sich für Studie Interventionen. Literaturkritik als über 200 Seiten nicht nur Studenten zu die Literatur unserer Zeit interessieren. Widerspruch bei W. G. Sebald (Edition text erklären, was gegenwärtig der Stand der In Restbeständen kann sich die Arbeit & kritik, München 2014), Über W. G. Sebald. Dinge in Sachen Literatur ist. der Germanistik so noch für eine allge- Beiträge zu einem neuen Bild des Autors Dabei werden die (für jedermann meine Leserschaft auszahlen in einer (Hg., De Gruyter, Berlin 2016) und der Band nachvollziehbaren) theoretischen Über- Zeit, in der Einführungsreihen und GODSTAR – Der verquere Weg des Genesis legungen durch eine sehr facettenreiche Autorenbücher quer durch die Ver- P-Orridge (Der Konterfei).

SEITE 40 VOLLTEXT 2/2017 PRÄAUER STREAMT Lilies of the Valley

s gibt im Internet ein klei- nicht viel wissen, um das zu ver- nes Filmchen, das geistert stehen, denn manches lehren Edort schon länger durch uns Umsicht und Erfahrung. die Foren. Ich habe es immer Das Zirkumflex über den Voka- wieder einmal gesehen. Manch- len ist hier ein Dehnungs- oder mal denke ich daran, und muss Längenzeichen, man rechnet es mir dann vorstellen, höre die die Lautverschiebung hinzu Musik dazu schon im Kopf. Muss und denkt sich manch harten, die Maschine gar nicht einschal- stimmlosen Konsonanten als ten, die doch ohnehin immer im weichen, stimmhaft geschrie- Stand-by-Modus ist, selten off- benen (dennoch als Fortis ge- line. Ich habe mich verliebt. In sprochen, da auslautend), und diese Musik und in dieses kleine macht so aus „lîp“ nicht die Lip- Filmchen, und vielleicht kann pe, sondern den Leib (und das ich im Schreiben ergründen, Leben). Ich schreibe das hier woran das denn liegen mag. nieder, um sie mir wieder ins Zum Liegen und Sich-Ver- Gedächtnis zu rufen, die stillen lieben sei an dieser Stelle ein Tage in Salzburg, als wir in un- kleiner Exkurs erlaubt, aber seren Betten lagen und mittel- ich stehle mich nicht davon: In hochdeutsche Versepen lasen. Hartmann von Aues Heldener- Erec gewöhnte seinen Leib sehr zählung Erec heißt es einmal, als an Gemächlichkeit durch seine Erec verliebt mit seiner Ange- Frau. Die liebte er so sehr, dass trauten Enite allzu lang beisam- er sich ihretwegen nicht mehr men liegt und die Ritterspflicht, um seine Ehre kümmerte, bis er Staats- und Kriegsführung darob sich so völlig verlag, dass keiner vernachlässigt hat: Er habe sich mehr Achtung vor ihm haben verlegen. Eine Verlegenheit, mochte. und ich habe den Lexer vor mir Gegen die Verlegenheit hat liegen, das Mittelhochdeutsche schon manchmal das Tanzen ge- Taschenwörterbuch aus Studi- holfen. In meinem kleinen Film- entagen, wäre demnach eine chen, in das ich mich so verliebt „schimpfliche Untätigkeit“. Ich habe, tanzen die Paare. Sie tan- muss gar nicht weiterblättern, zen in einem neuen Mash-up, schon auf derselben Doppelsei- einem Zusammenschnitt von te stoße ich auf das Verlieben, alten Filmszenen, die, so erfah- das ein „Verbleiben“ und „Ver- This music ... it’s like you’re at a party, re ich nun, da ich die User-Kom- harren“ ist, auch ein „Einverlei- but something terrible is coming ... mentare, die unterhalb des Vi- ben“. deos angebracht sind, lese, aus Bei Erec heißt es: „Êrec wente sînen lîp / grôzes gema- einem halbstündigen Film aus dem Jahr 1956 stammen: aus ches durch sîn wîp. die minnete er sô sêre / daz er aller êre Dance americana, einer Art Geschichte amerikanischen Le- / durch si einen verphlac, unz daz er sich sô gar verlac / bens, Kultur und Wirtschaft im Lichte der Tänze und Tanz- daz niemen dehein ahte / ûf in gehaben mahte.“ Man muss veranstaltungen der letzten beiden Jahrhunderte. Ein rares

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 41 KOLUMNE

Fundstück aus dem Archiv der you a breath of despair …“. Ja, U.S. Information Agency, nicht die User, sie sprechen ein großes zu verwechseln mit der NSA. Wort gelassen aus. Jun Miyake, der japanische Getanzt wird nun dazu im Zu- Komponist, hat diese Musik ge- sammenschnitt der schwarz-wei- schrieben für Pina Bausch. Wim ßen Bilder, vermutlich aus den Wenders verwendete das Stück frühen 50er-Jahren, die Frauen mit dem Titel Lilies of the Valley tanzen vor, die Männer tanzen auch in einer zentralen Sequenz nach. Es ist ein Sich-Einüben im seines Pina-Films aus dem Jahr selben Takt, das hier erprobt zu 2011, die ebenso auf YouTube werden scheint, wir machen vor, unter dem Namen des Musik- ihr macht es nach. Ein Springen stücks gefunden werden kann. und Sich-Drehen, ein Räder- Ein zartes, doch giftiges Maig- und Purzelbäume-Schlagen, ein löckchen hat Pina Bausch uns Hände-Ausschütteln, ein Tanzen mit ihrer Choreografie hier hin- wie die Pinguine, lächerlich und terlassen, und es mag wohl blas- schön. Fred Astaire tanzt dann phemisch anmuten, sich nicht dazwischen einmal Charleston, auf ihre Bilder zu berufen, son- das sind wohl noch ältere Bilder dern stattdessen den Videozu- (wenn ich mich nicht täusche, so sammenschnitt aus Dance ame- lang lebe ich ja auch noch nicht). ricana dazu zu streamen. Wer Am Ende des Filmchens liegt dieser Cutter und Composer ein Cowboy tot in der Prärie des des Found Footage, von dem ich Filmstudios und wird von einer hier spreche, ist, lässt sich nicht Frau in Weiß in ausladender mehr herausfinden, aber es lässt Stummfilmgeste betrauert. sich sagen, dass es jemand ge- Ach ja, ein weißes Kostüm wesen sein muss, der Taktgefühl im Schwarz-Weiß-Film war oft hat, der die Musik hört und die nicht weiß, sondern gelb, habe Bilder sieht. Jemand, der ein ich einmal erzählt bekommen. melancholisches Stück Musik Ist nichts, wie es scheint, oder kühn kombiniert mit einem all- ist alles nicht so einfach, nie so zu fröhlich hopsenden Tanzen, einfach, wie wir es uns manch- jemand, der vielleicht etwas von mal wünschen? Ein Weiß ist ein der Liebe versteht und ihren Gelb, eine Geste ist eingelernt bittersüßen Geschmack kennt. und dann doch echt, ein Zitat Pina Bausch, um doch noch ist nicht ironisch, sondern nost- einmal auf sie zurück zu kom- „There is something disturbing in this song“, algisch – und dann wieder ganz men, war in ihrer Bildsprache schreibt User tomek860827 in den Kommentaren ernst und authentisch und neu? selbst schon eine Meisterin des auf YouTube, und JustDance Pinky 33 schreibt: Ich sage es euch, liebe Leserin- Schneidens und Überblendens, „Most of these people have died ...“ nen und Leser, es ist wohl die der Kombination von hohem Liebe, tausendfach erprobt und Pathos mit kleiner Geste und umgekehrt. Jun Miyake nun doch so ungelenk, dass sie euch den Kopf verdreht und euch fügt in seiner Musik einfache Tonfolgen seriell aneinander, verrückt macht und tanzend. sie klingen wie ein Fragen und Antworten, unterlegt von der Nostalgie des Bossa Nova und der Chansonmelodien Verbleiben, Verharren und Einverleiben. Diese Kolumne ist dem der Nouvelle Vage. „There is something disturbing in this Serienschauen und Videos-Klicken im Internet gewidmet. song“, schreibt User tomek860827 in den Kommentaren auf YouTube dazu, und JustDance Pinky 33 schreibt: „Most of Teresa Präauer ist Autorin und bildende Künstlerin in Wien und these people have died ...“ Stephen Jules Rubin meint „wha- pflückt dort einen Maiglöckchenstrauß aus Wörtern, obwohl es be- tever this is its dope“ und NaedMalario: „This music ... it’s reits Sommer ist. Statt sich der Liebe zu widmen, sollte sie aktuell like you’re at a party, but something terrible is coming ... an einem Theaterstück für das Schauspiel Frankfurt (Uraufführung you cannot fully enjoy the moment, because you feel inside 2018) schreiben.

SEITE 42 VOLLTEXT 2/2017 GRENZGÄNGE DER LITERATUR

Lektüre- und Betriebsberichte von Felix Philipp Ingold

Reden auf, die sein elitäres Kunstver- ständnis erläutern und rechtfertigen sollen – alles, was diesem Verständnis widerspricht, wird als Kitsch, mithin als Zeugnis kultureller Unbedarftheit abgefertigt. Diese Unbedarftheit diag- nostiziert der Herbeigereiste bei seinen zurückgebliebenen Landsleuten als falsches Bewusstsein, und seine einzi- ge Ambition scheint darin zu bestehen, eben dieses falsche, dabei ganz norma- le Bewusstsein bei jeder sich bietenden Gelegenheit richtigzustellen: Als ein

EL CIUDADANO ILUSTRE / DER EHRENBÜRGER DER / ILUSTRE CIUDADANO EL enthusiastischer Leser, der in einem © seiner Romanhelden einen nahen Ver-

FOTO: wandten entdeckt zu haben glaubt und Die Provinz ehrt ihren Nobelpreisträger ihn, den Autor, zum Dank für die „Ver- ewigung“ zu sich nach Hause zum Essen einlädt, beschimpft er ihn auf offener Ein Großschriftsteller als Kinoheld Straße und macht ihm weis, dass Kunst nichts, aber auch gar nichts mit erlebter Wirklichkeit zu tun habe und dass je- 1 kein besonders unterhaltsamer und der, der dieser naiven Fehleinschätzung Dass ein kommerziell austarierter Pu- auch kein besonders witziger Film. Die anhängt, als Banause gelten müsse. blikumsfilm nicht nur zu spaßiger Un- Regie bleibt durchwegs in Konventiona- Der abgehobene Nobelpreisträger terhaltung, sondern auch zu ernsthaf- lität befangen, ebenso die Kamera, die hat sich offenkundig die postrealisti- tem Nachdenken anregt, dürfte selbst Wahl der Schauplätze, die karikierende sche Poetik der europäischen Moderne im Arthouse-Kino eher die Ausnahme Zeichnung der Charaktere. Ein Glei- zu eigen gemacht und er kann sie auch denn die Regel sein. Noch ungewöhn- ches gilt für den Plot: Ein weltberühm- plausibel begründen, doch vergisst er licher ist es, wenn als Impetus und Stoff ter argentinischer Schriftsteller, geadelt dabei, dass er eine Autorenpoetik ver- des Nachdenkens die Kunst herangezo- als Nobelpreisträger, kehrt, nach jahr- tritt, die für seinen gutmeinenden Leser gen wird, genauer – die künstlerische zehntelanger Abwesenheit, aus Europa irrelevant und ohnehin in keiner Wei- Literatur im Selbstverständnis eines Au- in sein Geburtsdorf zurück, um dort die se nachvollziehbar ist. Der Dialektiker tors und gleichzeitig im ganz anders ge- Ehrenbürgerschaft entgegenzunehmen wird zum Opfer seines eigenen Rigo- arteten Verständnis einer kunstfernen und einige seiner Schul- und Jugend- rismus, der stets vom Entweder-oder Leserschaft. Eben dies haben der argen- freunde – unter ihnen seine erste Liebe ausgeht und sich die Möglichkeiten des tinische Drehbuchverfasser Andrés Du- – wiederzusehen. Aus der Konfrontati- Sowohl-als-auch entgehen lässt. Es mag prat und sein Bruder Gastón Duprat als on von Weltläufigkeit und Provinziali- zur Normalität modernistischer Schrift- Regisseur mit A Distinguished Citizen tät werden possenhafte Episoden ent- stellerei gehören, die äußere Welt zu unternommen, einer turbulenten Film- wickelt, die sich wie Revuenummern vereinnahmen und sie bis zur Unkennt- komödie, die im vergangenen Jahr in vorhersehbar aneinanderreihen. lichkeit zu verfremden, für den Durch- Cannes Furore machte und die nun seit Demgegenüber tritt der Protago- schnittsleser (und wohl noch mehr für Kurzem unter dem Titel Der Ehrenbür- nist, klischeehaft portraitiert als recht- die Leserin) gilt jedoch nach wie vor, ger auch in hiesigen Kinos zu sehen ist. haberischer Intellektueller und eitler dass sich Literatur grundsätzlich durch Der Ehrenbürger ist kein starker, Starautor, unentwegt mit lehrhaften einen affirmativen Weltbezug zu legiti-

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 43 FELIX PHILIPP INGOLD mieren und das Gebot der Widerspiege- zeichnet mit der Begründung, dass ein Handvoll herausgerissener Seiten aus lung zu befolgen hat. Aufgabe der Kri- Werk, das globale Zustimmung finde einem seiner Bücher entfacht der welt- tik wäre es, zwischen diesen konträren und von Laien wie von Kritikern und weit Gefeierte auf dem Weg – dem Irr- Positionen zu vermitteln, eine Aufgabe, Akademikern gleichermaßen geschätzt weg – in sein Heimatdorf nächtens ein die sie heute zunehmend vernachläs- werde, keinen nachhaltigen Wert ha- Feuer, um in der Dunkelheit die erhoff- sigt, indem sie die naiv realistische Be- ben könne, ist das als frontale Polemik ten Retter auf sich aufmerksam zu ma- trachtungsweise der mehrheitlichen gegen den internationalen Literatur- chen, und ein paar weitere Druckseiten Leserschaft übernimmt. betrieb zu verstehen, der schon lange reißt sein Fahrer heraus, um sich damit Der verkannte Starautor und Eh- nicht mehr von künstlerischen Kriteri- nach der Notdurft am Wegrand den renbürger wird von den Einheimischen en dominiert ist, sondern von Ratings, Hintern zu wischen. Damit wird gerade entweder vorbehaltlos bewundert oder Likes, unprofessionellem Konsens und die Literatur als Müll schlechtgemacht, vorbehaltslos gehasst, und es erweist unbedarften Slogans. Laienherrschaft die der Nobelpreisträger in der Folge sich, dass auch für ihn das sarkastische hat sich im Kunstbereich längst gegen vor seinem unverständigen und wider- Bonmot Geltung hat, wonach der Intel- Experten- und Spezialistentum durch- strebenden Publikum vehement gegen lektuelle (und wohl ebenso der Künst- gesetzt – nicht Fachkompetenz, son- jegliche nutzbringende Vereinnah- ler) letztlich immer oben bleibt, auch dern unreflektiertes Konsensbedürfnis mung verteidigt. wenn er bisweilen ganz unten ist. In ist weithin bestimmend geworden für Als einziger unter den Dorfbewoh- diesem Fall gelingt es ihm freilich nicht, einschlägiges jurorisches, kuratorisches nern bewundert zuletzt nur noch ein zwischen Oben und Unten zu vermit- und publizistisches Engagement. junger Hotelangestellter den neuen teln, zwischen denen also, die wissen, Obwohl der Preisträger seine Kritik „Ehrenbürger“ – er übergibt ihm ein und den andern, die nicht wissen kön- als Selbstkritik kaschiert, indem er sein Bündel eigens verfasster Kurzgeschich- nen oder nicht wissen wollen. Stattdes- eigenes Werk eben wegen dessen Kon- ten mit der Bitte, sie zu lesen und ihm sen lässt er sich von den Ereignissen sensfähigkeit für obsolet erklärt, nimmt dazu seine Meinung mitzuteilen. Der treiben und beschränkt sich darauf, das er die Urkunde des Nobelkomitees und gerührte Autor zeigt sich davon so sehr bald ins Lächerliche, bald ins Brachia- den ihm zugesprochenen Geldbetrag angetan, dass er den Anfänger um- le ausartende Geschehen in brillanten noch so gern entgegen. Zwar stößt er standslos mit Kafka vergleicht und ihm Monologen zu kommentieren, ohne die Preisjury, die Kulturprominenz und, nicht nur eine Publikationsmöglich- sich im Geringsten vereinnahmen zu nicht zuletzt, die schwedische Königs- keit, sondern sofort auch einen Vor- lassen. Dabei wirkt er wie ein Missionar familie mit seinen Aussagen gezielt vor schuss verschafft: Gönnerhafte Geste oder ein Ethnologe, der primitive Ein- den Kopf, doch tut er es im Wissen, dass eines Arrivierten, dessen Wort als sak- geborene mit europäischem Geist auf- man ihn gleich danach, dessen unge- rosankt gilt und der sich infolgedessen zuklären versucht, bis er schließlich, nur achtet, mit dem üblichen Applaus be- weder für beiläufiges Lob noch für pau- knapp einer mörderischen Hetzjagd lobigen wird. Damit beweist er seinem schale Kritik rechtfertigen muss. Die des örtlichen Gangsterkonsortiums ent- Publikum wie auch sich selbst, dass das angekratzte Autorität des Großschrift- kommen, ernüchtert in sein Exil nach Wort des Schriftstellers ebenso ambiva- stellers ist damit wiederhergestellt, sei- Barcelona zurückkehrt, um das Erlebte lent und potenziell lügenhaft ist wie das ne Schreibblockade behoben und die und Erlittene literarisch aufzuarbeiten. eines jeden Normalverbrauchers. literarische Welt erneut in Ordnung – er Der Autor weiß um Wert und Be- gewinnt seine frühere Produktivität zu- 2 deutung von Literatur als Kunst, verrät rück, bleibt weiterhin erfolgreich und Auch wenn der Film als solcher nicht aber und verkauft dieses Wissen beden- lässt sich den Erfolg auch weiterhin ge- ganz überzeugen kann, verweist er doch kenlos nach Maßgabe des Betriebs und fallen, im prekären Wissen darum, dass auf einige rezente Fragen der zeitgenös- im eignen materiellen Interesse − seine breiter, durch Ratings, Bestseller und sischen literarischen Kultur. Wenn der Selbstkritik erweist sich letztlich auch Auszeichnungen beglaubigter Erfolg Nobelpreisträger in seiner Stockholmer nur als risikolose Selbstironie und als die Literatur als Kunst nicht bestätigt, Dankesrede die hohe Auszeichnung sarkastische Verhöhnung künstlerisch sondern, im Gegenteil, sie in Misskre- als Tiefpunkt seines Künstlertums be- anspruchsvoller Literatur: Mit einer dit bringt.

Der Autor weiß um Wert und Bedeutung von Literatur als Kunst, verrät aber und verkauft dieses Wissen bedenkenlos nach Maßgabe des Betriebs und im eignen materiellen Interesse.

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tern“, jahrelang Klassenfeinden, jahre- lang drangsaliert wurde. In einem nach der Preisverleihung ausgestrahlten TV-Interview bestand die Autorin darauf, „nichts erfunden“ oder „dazuerfunden“ zu haben – alles an ihrem Buch sei Faktografie, beruhe auf Recherchen, die exemplarische Ge- schichte ihrer Mutter sei nicht Erzäh- lung, sondern Bericht. Der Buchpreis, indes, wird für Literatur vergeben, wor- unter ja wohl in diesem Fall Belletristik zu verstehen ist. Die Autorin hat zwar ein Buch, nicht aber Literatur geliefert.

SUSANNE SCHLEYER / AUTORENARCHIV.DE / SCHLEYER SUSANNE Oder sollen wir, unterm Eindruck von © Fake News und postfaktischer Infor-

FOTO: mation, dokumentarische Berichte als Natascha Wodin Romane lesen? Und ... oder anderseits – Romane als Geschichts- oder Zeitdo- kumente? Berichterstattungsbelletristik Die Leipziger Jury hat es sich auch diesmal zu leicht gemacht. Trotz ihrer Ankündigung, auch sperrige, riskante, er Leipziger Buchpreis, eine Titel Sie kam aus Mariupol Zeugnis innovative Texte berücksichtigen zu Dder renommiertesten, auch ablege über den Lebens- und Leidens- wollen, ist sie ihrer gewohnten Leise- höchstdotierten Auszeichnungen für weg ihrer Mutter, die während der treterei treu geblieben, statt für ein- deutschsprachige Literatur, ging in NS-Okkupation aus der ukrainischen mal einer unkonventionellen Stimme diesem Frühjahr an Natascha Wodin Sowjetrepublik nach Deutschland Raum zu geben, die künstlerisch und für ein „anrührendes“ und „aufrütteln- verschleppt und dort, zusammen mit thematisch gleichermaßen zu überzeu- des“ Werk, das unter dem prosaischen vielen andern sogenannten „Ostarbei- gen vermöchte.

im Werkentwurf nicht. Pasolini begnügt Signatur als Gedicht sich mit beiläufigen Notizen, überlegt sich, wie er den anarchistischen Fürsten Stawrogin in die italienische Gegenwart für Hans Ulrich Reck enischen Originalfassung unter dem versetzen könnte, kommt bei diesen Titel Petrolio als Buch, 1994 folgte die Überlegungen jedoch über Vorfragen n den frühen 1970er-Jahren arbeitete deutsche Übersetzung. und Ansätze nicht hinaus. Das gilt eben- IPier Paolo Pasolini an einem auf rund Ich habe mir vor Kurzem die Ta- so für das Romanprojekt insgesamt und 2000 Druckseiten angelegten Erzähl- schenbuchausgabe von Petrolio (2015) entspricht einem frühen poetologi- projekt, mit dem er sich, nach einer Rei- besorgt, nachdem ich auf einen Hin- schen Statement, das er (Leopardi pa- he skandalöser Filmerfolge, ultimativ weis gestoßen war, demzufolge Pasolini raphrasierend) wie folgt auf den Punkt als Großschriftsteller etablieren wollte. mit seinem Roman zumindest teilweise brachte: „Ich mache kein Werk, ich ma- Das geplante Romanwerk – Pamphlet, Dostojewskijs Dämonen überschrieben che lediglich Versuche, um unentwegt Prophetie und verkapptes Selbstbe- habe oder jedenfalls habe überschrei- zu präludieren ...“ kenntnis in einem – blieb unvollendet. ben wollen. Zwar wird Dostojewskij Für den Autor des Petrolio scheint Als 1975, mit Pasolinis Ermordung, die und wird auch sein großer Roman über die Erkundung der sexuellen Kampf- Schreibarbeit vorzeitig abbrach, lagen das Ringen der russischen „Nihilisten“ zone zwischen Arschloch (Anus), zwar einige hundert Seiten vor, doch mit ihren konservativen Vätern bei Möse (Vulva) und Pimmel (Penis) ein kohärenter Text war daraus noch Pasolini beiläufig erwähnt, doch zu ei- klaren Vorrang zu haben – über Hun- nicht zu ersehen. Erst 1992 erschienen ner produktiven Auseinandersetzung derte von Seiten widmet er sich den die disparaten Fragmente in der itali- mit dem berühmten Vorbild kommt es erotischen Phantastereien und den

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schwulen Vorlieben seines Protago- dicht“ sei – der Erzähler wird hier vom oder Sommer 1972 bei der täglichen nisten Carlo, den er, stets präsent als Lyriker (der Pasolini schon immer war) Zeitungslektüre erstmals als solches Ich-Erzähler, unverkennbar als sein in geradezu programmatischer Weise aufgefallen: Einerseits steht Erdöl (Pe- Double in Szene setzt. Der klassen- sekundiert, und tatsächlich finden sich troleum) unter klassenkämpferischem kämpferische Sound der kleinteiligen in Petrolio an manchen Stellen ingeni- Gesichtspunkt für Kapitalismus und Texte, die sich zum Roman hätten öse Wortspielereien, die ansonsten von Ausbeutung, andererseits lässt die fügen sollen, bleibt vergleichsweise politisch engagierten Autoren eher ge- Lautgestalt des Begriffs „Petrolio“ di- moderat, und auch die eingestreuten mieden werden. verse Assoziationen aufkommen, die beschreibenden Passagen (Naturbil- Pasolini durchaus willkommen waren der, Straßenszenen, Intérieurs usw.) und die er denn auch bewusst zu nut- kommen über fahrige Skizzen kaum zen versuchte. je hinaus. Der enorme editorische Auf- „Petrolio“ soll erstens auf den anti- wand, mit dem man dieses unfertige, ken Dichter Petronio (Titus Petronius über weiteste Strecken uninteressante Arbiter) und dessen Hauptwerk, das Werk publik gemacht hat, ist einzig Satyricon, verweisen, das zu Pasoli- mit Pasolinis Kotierung als herausra- nis wichtigsten Vorlagen gehörte, und gender Filmkünstler und einflussrei- es soll zweitens das italienische Wort cher politischer Publizist zu erklären; „troia“ (Sau) beziehungsweise „troiai“ zu rechtfertigen ist er nicht. Die Skrip- (Sauerei) evozieren, das zu den Inhal- ten zu digitalisieren und sie somit für ten des geplanten Romans und sei- die Forschung zugänglich zu machen, ner erzählerischen Intonation bestens hätte durchaus genügt. passt. Und nicht zu vergessen: „Petrolio“ Und dennoch wollte ich das Buch ist außerdem, wenn man den Begriff

nach mehrtägiger Lektüre nicht ein- WAGENBACH ARCHIV buchstäblich nimmt, ein (unvollständi- © fach weglegen. Auf Seite 465 setzte ich ges) Anagramm des Autornamens Pier

mich von der Aussageebene des Erzähl- FOTO: Paolo Pasolini – der Werktitel gewinnt werks ab, verlegte meine Aufmerksam- Pier Paolo Pasolini mithin zusätzlich die diskrete Funkti- keit von den zahllosen „Wichsern“ und on einer Signatur, und mehr als dies: „Arschfickern“ auf die Textoberfläche, Unter diesem Gesichtspunkt er- „Petrolio“ ist als mehrdeutige Laut- und achtete also mehr auf das Wortmateri- weist sich Pier Paolo Pasolini allein Buchstabenkombination nach Pasolinis al und dessen Gebrauch denn auf das, schon durch die Wahl seines Werkti- eigenem Dafürhalten ein Gedicht. Allein was Pasolini mit graphomanischem Fu- tels als feinsinniger Dichter, feinsin- deswegen hat sich für mich der Gang ror hat „sagen“, darstellen, wahrhaben nig im Kontrast zu seinem brachialen durch den Steinbruch des unvollendet wollen. Auf selbiger Seite findet sich im Erzählstil. Der Titel – Petrolio – war gebliebenen Romans gelohnt. Auch im Übrigen das überraschende Diktum, ein Zufallsfund: Pasolini ist das ge- Scheitern war Pasolini ein Meister, ein wonach „jede Wortkombination ein Ge- läufige Wort (für „Erdöl“) im Frühjahr Gewinner. o-toene17_ray_210x90_a_.qxp_o-toene06_plakat_D_ 03.07.17 18:32 Seite 1 www.o-toene.at

oLITERA-TURFEtST IöM MUSEnUMSQUAeRTIER 6. JULI BIS + 24. AUGUST 2017 o-töne debüts JEDEN DONNERSTAG 20.00 FELIX PHILIPP INGOLD

Sätze fielen ihm, sagt er, in Überfülle zu, lenkten seine Hand, sein Denken, seine Einbildungskraft. Walser zitiert mit sichtlichem Hochgefühl ein paar frische Bonmots, wohlformulierte Ein- fälle, kühne, paradoxal in sich gekehr- te Metaphern, die er nach eigenem Be- kunden für großartig und einzigartig hält, für die er aber, als Autor, letztlich nicht zuständig sei – Metaphern wie (sinngemäß) diese: „Ich bin die Asche einer Glut, die ich nie gewesen bin.“ Kommentar: „Ich kann doch nichts dafür, ich versteh’s ja auch nicht, das

ISOLDE OHLBAUM ISOLDE kommt einfach über mich, das macht © die Sprache von sich aus.“

FOTO: Da unterstellt sich einer, weise ge- worden, dem Regime der Sprache, lässt sich von ihr beherrschen, statt sie – zu welchem Zweck und Nutzen, zu wes- Sprachvertrauen sen Belehrung oder Unterhaltung auch immer – beherrschen zu wollen: So alt nun, und allzeit bereit, den Einfall (der artin Walser, der heitere Neunzi- den. In einem TV-Interview zu seinem ja auch bloß ein Zufall sein könnte) wal- Mger, hat sich vom einstmals „en- jüngsten – dem 90. − Geburtstag be- ten zu lassen! gagierten“ Literaten und KP-Ideologen richtet er, luzid und überschwänglich Das Abenteuer erfordert kein Pro- zu einem wortverliebten Tagträumer zugleich, vom späten Glück der Inspi- jekt; es findet unbedacht statt. Walsers gewandelt. Aus dem Sprachvergesse- ration, die nun seine höchst produk- Sprachvertrauen erweist sich als eine Art nen ist ein Sprachbesessener gewor- tive Schreibarbeit bestimme. Worte, von Gottvertrauen.

Meisterwerken – Romane, Erzählun- Mutterhaus … gen, Dramen – abzufassen vermochte, ist ebenso staunenswert wie die Tatsa- Totenhaus der Menschheit che, dass er nie aus dem Schriftsteller- verband ausgeschlossen, nie verhaftet, o-toene17_ray_210x90_a_.qxp_o-toene06_plakat_D_ 03.07.17 18:32 Seite 1 nie verurteilt, nicht in den Gulag oder fremd, sogar als staatsfeindlich rubri- ins Ausland verschickt wurde, derweil 1 ziert wurde. allzu viele seiner Freunde und Kollegen Als der sowjetrussische Schriftsteller Für Platonow hatte diese Funda- den Säuberungen der 1930er-/1940er- www.o-toene.at Andrej Platonow nach langer Krank- mentalkritik (der sich auch Stalin expli- Jahre zum Opfer fielen. heit 1951 in Moskau starb, war sein zit anschloss) zur Folge, dass er zeitle- Erst lange nach Platonows vorzei- Name bereits weitgehend in Verges- bens von der Zensur behindert wurde tigem Tod wurde sein verschollenes senheit geraten. Wer sich an ihn erin- und dass er in der UdSSR niemals ein literarisches Lebenswerk allmählich in nerte, dachte damals vielleicht noch Auskommen als Schriftsteller oder Pu- Umrissen erkennbar. Diverse frühere an seine Märchenbücher, seine Repor- blizist finden konnte – er führte ein un- Publikationen wurden neu aufgelegt, tagen und literarischen Essays, kaum stetes Leben in permanenter Not, muss- und in den 1970er-/1980er-Jahren er- jedoch an sein umfangreiches Erzähl- te immer wieder Jobs auf abgelegenen schienen dann auch – zuerst im west- LITERATURFEST IM MUSEUMSQUARTIER werk, das er seit den 1920er-Jahren, Großbaustellen annehmen und hatte lichen Ausland, später in der UdSSR – o-töne mehrheitlich in Zeitschriften und eine Vielzahl familiärer und gesund- die großen Werke aus dem Nachlass, zu Sammelwerken verstreut, vorgelegt heitlicher Probleme ohne jede Hilfe- denen nebst dem hintergründigen Auf- + hatte, das aber von der offiziellen Kri- stellung zu bewältigen. Dass er gleich- bauroman Tschewengur von 1927/1928 6. JULI BIS tik durchweg als schädlich, als volks- zeitig eine Reihe von einzigartigen auch die 1929/1930 entstandene Er- o-töne 24. AUGUST 2017 VOLLTEXT2/2017 SEITE 47 debüts JEDEN DONNERSTAG 20.00 hat sich der Eindeutschung des sperri- ob Knecht oder Herr – das ist, was er ist gen Originaltexts mit bemerkenswer- und was er bleiben wird: ein in sich wi- tem philologischen Scharfsinn ange- dersprüchliches Mängelwesen, von sei- nommen, im Bemühen, möglichst viel nem Bewusstsein nicht weniger gequält von dessen Eigenart in die Zielsprache als von seiner prekären Körperlichkeit zu retten, bisweilen auch zu viel, sodass und Sinnlichkeit, unfähig, das eigene die primitivistische, wenn nicht unge- Ich klaglos zum gemeinschaftlichen schlachte Anmutung von Platonows Wir hin zu transzendieren – durch kei- Personalstil immer wieder ins Manie- nen Diktator zu begradigen, durch kei- rierte abhebt, was da und dort amüsant nen Gott zu retten, ständig schwankend wirken mag („fing an, die Luft mit der zwischen Gram und Sehnsucht, letzt- Nase zu treiben“, „sich labenderweise“, lich unheilbar mit sich selbst entzweit. „verstummterweise“, „beaugenschei- Ein ähnlich verkommenes, gerade in nen“ usw.), im Russischen aber viel un- seiner Verkommenheit und Verloren- auffälliger daherkommt und folglich heit zutiefst anrührendes Menschen- die deutsche Fassung über weite Stre- bild findet sich sonst nur noch bei Sa- cken unnötig verfremdet.1 muel Beckett. Was vorliegt, ist ein rund 150-seiti- ger Prosatext, der größtenteils in direk- 2 ter Rede gehalten ist und von wenigen Eine dominante wortführende Haupt- männlichen Protagonisten beherrscht figur ist in Platonows Baugrube eben- wird, die allesamt als Repräsentanten, so wenig auszumachen wie ein klar Propagandisten und willige Büttel der identifizierbarer Erzähler. Es gibt die neuen bolschewistischen Ordnung namenlosen Kollektive der Proletarier,

SUHRKAMP VERLAG SUHRKAMP auftreten. Das Geschehen konzentriert der Kulaken, der Parteigenossen, und © sich auf zwei gegensätzliche Schauplät- es gibt eine Gruppe von durchweg un-

FOTO: ze − einerseits auf die städtische Bau- bedarften Vertretern der Sowjetmacht Andrej Platonow grube, die von einer Arbeiterbrigade – darunter den Vorarbeiter Tschiklin, freigeschaufelt wird, damit dort ein ge- der zu wenig denkt und deshalb allzu zählung Die Baugrube gehört, ein Pla- waltiger Wohnturm für das Proletariat oft vorschnell handelt; den Grubenar- tonow’scher Schlüsseltext (russischer errichtet werden kann; andererseits auf beiter Wostschew, der – umgekehrt − zu Erstdruck London 1969), der in der So- eine ländliche Region, die von selbigen viel nachsinnt und dem eben dadurch wjetunion erst 1987 veröffentlicht wer- Arbeitern „entkulakisiert“, also von jeder Sinn abhandenkommt; den Ge- den konnte. privatwirtschaftlichen „Elementen“ der werkschaftsvorsitzenden Paschkin, der Nun bietet sich die Gelegenheit, Bauernschaft befreit werden soll. sich mit dem unaufgeklärten und un- den Text anhand einer deutschen Neu- Beide Unternehmungen enden in disziplinierten Arbeitervolk schwertut, übersetzung wiederzulesen, man könn- fatalem Stillstand. Das Scheitern so- während der Bauführer, Ingenieur te auch sagen: ihn wiederzuentdecken wohl des „Aufbaus“ einer neuen kom- Pruschewskij, seinen hochgemuten in seinem sprachlichen Reichtum und munistischen Lebenswelt wie auch Glauben an den wissenschaftlich-tech- seiner singulären stilistischen Ausprä- der „Liquidierung“ der alten kleinbür- nischen Fortschritt mehr und mehr gung, die unterschiedlichste Diskurse gerlichen und mittelständischen Da- verliert. Gleichrangig und doch ganz – Alltagssprache, Berufsjargons, Par- seinsweise geht nicht allein auf klas- unterschiedlich agieren außerdem ein teirhetorik, Kirchensprache u.a.m. – senkämpferisches Versagen zurück, „Sozialist“, ein „Aktivist“, ein „Hammer- nahtlos synthetisiert. Gabriele Leupold vielmehr darauf, dass „der Mensch“ – schmied“ sowie der dämonische „Staat-

Für Platonow hatte die Fundamentalkritik (der sich Stalin explizit anschloss) zur Folge, dass er zeitlebens von der Zensur behindert wurde und in der UdSSR niemals ein Auskommen als Schriftsteller finden konnte.

SEITE 48 VOLLTEXT 2/2017 FELIX PHILIPP INGOLD sinvalide“ Shatschew, ein Krüppel aus Die solcherart privilegierte Kind- schen wird irgendeine individuelle dem imperialistischen Krieg, der erbar- frau – nunmehr pathetisch „Sowjeti- Spur hinterlassen, an Stelle des geplan- mungslos seiner Fresssucht, Sexsucht na“ genannt − wärmt, kost und trös- ten himmelhohen Bauwerks wird für und Neugier frönt, dieweil andere sich tet die vergrämten Proleten, und sie alle Zeit ein gigantischer Abgrund klaf- abrackern und verhungern. Zu den entwickelt sich dabei rasch zu einer fen als letzter Beweis dafür, dass „der handelnden „Personen“ sind bei Plato- erbarmungslosen Helfershelferin der Mensch“ da war, sich bemüht hat und now auch die Tiere zu zählen, Hunde, neuen Machthaber, indem sie deren − gescheitert ist. Pferde, Schweine, die sich gegenseitig Parolen kolportiert und sich an der Der Abgrund ist aber auch, abge- ebenso erbarmungslos massakrieren Aufspürung und Liquidierung von an- sehen von seinem zeitgeschichtlichen wie die Menschen, die den Menschen geblichen Konterrevolutionären betei- Kontext, ein Mahnmal allgemein- jedoch auch dienstbar sind, indem sie ligt. Doch wie alle Platonow’schen An- menschlicher Niedertracht und Nich- tigkeit, die sich überall gleichermaßen manifestiert – im Kapitalismus wie im Sozialismus, unter demokratischen Andrej Platonow hat ohne jede Aussicht wie unter despotischen Regimen, in auf Veröffentlichung ein Menschheitsbuch christlichen wie in nichtchristlichen Kulturen. Dieser erweiterten Optik geschrieben, das nur im obersten Kreis wird die heute übliche Lesart der Pla- tonow’schen Baugrube kaum gerecht, der Weltliteratur seinesgleichen findet. da sie den Text vorab als Satire oder Pa- rodie auf die damalige sowjetische Pro- duktions- und Parteiliteratur begreift, ihnen Nahrung, Nähe, Wärme bieten, tihelden ist sie in sich gebrochen – ihr mithin auch – implizit − als kritische ohne zwischen Gut und Bös zu unter- ganzer Hass gehört dem bürgerlichen Widerspiegelung planwirtschaftlicher scheiden. In Gestalt eines umtriebigen Klassenfeind, ihre ganze Liebe bleibt und ideologischer Gleichmacherei. Hufschmieds werden Mensch und Tier aber der toten Mutter vorbehalten, ob- Die Baugrube ist aber viel mehr als das zu einem monströsen „Bären“ geklont wohl sie doch eben jenem „Feind“ zu- – Andrej Platonow hat ohne jede Aus- – menschliche Bestialität und tierische zurechnen ist. Die Szene, in der Nastja sicht auf Veröffentlichung ein Mensch- Sensibilität, vitale und mechanische die Knochen der Verstorbenen einzeln heitsbuch geschrieben, das nur im Energie gehen ineinander auf. an sich drückt, sie dann reinigt, ab- obersten Kreis der Weltliteratur seines- Eine besondere Rolle kommt in küsst und vor sich ausbreitet, ist von gleichen findet der Baugrube (die als „Muttergrube für unvergleichlicher Schlichtheit und In- das Haus des künftigen Lebens“ konzi- tensität: Hier wird deutlich, dass und Anmerkung piert ist) den Frauen zu, genauer – der wie die menschliche „Wahrheit“, von 1 Andrej Platonow: Die Baugrube. Aus Frau, deren Lebenserfahrung darauf der bei Platonow so oft die Rede ist, dem Russischen übersetzt von Gabriele beschränkt bleibt, entweder als Mutter sich konkretisieren kann, bevor noch Leupold. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. Schläge und Kinder zu empfangen oder, das „Denken“ und „Unterscheiden“ im Gegensatz dazu, sich als kostümier- einsetzt. Felix Philipp Ingold arbeitet als freier Autor te Nutte in einen Totentanz einzurei- Wenn die kleine Sowjetina, die für im französischsprachigen Jura (Canton de hen und als solche für die Männerwelt das Arbeiterkollektiv zur fragilen Ver- Vaud); jüngste Buchveröffentlichungen: zum unausweichlichen Verhängnis zu körperung aller Zukunftshoffnungen Direkte Rede (Prosa, Passagen Verlag 2016), werden. Eine Ausnahme macht einzig geworden ist, schon bald von einem Niemals keine Nachtmusik (Poesie, Verlag das halbwüchsige Mädchen Nastja, die tödlichen Fieber dahingerafft wird, Ritterbooks 2017). Tochter einer alleinerziehenden Mut- stirbt mit ihr auch jene „Wahrheit“, je- ter, die als „Burshujka“ (bourgeoises Ele- ner unfassbare „Gott“, der dem absur- ment) zu den erklärten Feinden des Bol- den Tun in der Baugrube zumindest schewismus gehört. Nastja wärmt die vorübergehend einen vagen Sinn ver- sterbende, dann die gestorbene Frau, liehen hat. Alles bleibt so, wie es schon Nicht nur für Schreibtischleser der sie innig verbunden ist, mit ihrem immer gewesen ist: „Ihr seid jetzt ge- www.bundesakademie.de hageren Leib, bis sie vom mütterlichen worden wie ich“, erklärt Wostschew Leichnam weggeholt wird, um nun den den Kolchosearbeitern mit merklicher Bundesakademie für Bauarbeitern reihum als lebendige Pup- Erleichterung: „Ich bin auch nichts.“ Kulturelle Bildung Wolfenbüttel pe zuhanden zu sein. Keiner der kollektivierten Sowjetmen-

VOLLTEXT2/2017 SEITE 49 Eine Art stirbt aus

Nachschrift auf Gerd-Peter Eigner (1942–2017)

VON ALBAN NIKOLAI HERBST

„Denn jede persönliche Katastrophe ist te, ihn zu unterbinden. Er, Eigner, dürfe nehmen konnte. Sondern es setzte die doch nur die genauere Auskunft über den da nicht stehend reden. Woraufhin er zu Fluchtgeschichte des in Oberschlesien Zustand der übrigen Welt.“ schreiten begann und schreitend weiter geborenen Jungen fort, der über Dres- vortrug. Die Versammelten folgten ihm. den nach Wilhelmshaven kam, an das der wollen wir uns immer alles Die Traube wurde auseinandergetrieben, ihn eine zeitlebens währende Hassliebe nur abhandeln, sublimieren, Eigner Inhaftierung angedroht. band. Die fand ihren tiefsten Ausdruck Oerledigen, mithin: ersetzen las- Die Aktion schlug Wellen. Der Ro- in seinem dritten, 1988 bei Hanser er- sen?“ fragt Gerd-Peter Eigner 1985 in man aber konnte, bei DVA, schließlich schienenen Roman Mitten entzwei. seinem großen Roman Brandig – einem erscheinen. Aber er schon – wie die Reflexlosig- Buch von solch stilistischer Macht, dass Wie alle Bücher Eigners ist er aus ei- keit auf seinen dort vorher erschienenen dem Literaturbetrieb im Wortsinn Spu- nem einzigen Guss. Erst seinen späten Roman Brandig, Eigners unbedingtem cke und Tinte wegbleiben mussten – sei- Romanen ist eine gewisse Schwächung Meisterstück – war Anlass einer stillen, nerzeit schrieben ja nur wenige bereits anzumerken, die teils krankheitsbeding- ständigen Qual. Der Verlag hatte den ei- auf dem Computer. Jedenfalls wurde die- te Gründe hat. Das macht sie bisweilen gentlichen Titel – „Stroff“ – nicht akzep- ses Buch – von Wend Kässens’ viel zu spät beklemmend – einerseits der Schönheit tiert, der die drei Bücher Golli, Brandig erschienenem Artikel abgesehen – so ihrer langrhythmischen Sätze wegen, an- und eben Mitten entzwei als die Trilogie gut wie nie besprochen. Eigner war halt dererseits weil eben sie die persönliche ausgewiesen hätte, die sie ist, auch und kein Kinski: Im Film lässt man Vitalisten Verzweiflung spüren lassen, die unter ih- gerade formal. Ausgehend von Thomas schon mal durchgehen, in der deutschen nen liegt. Dem Zeitgeist indes stand die Manns im Doktor Faustus entwickelten Literatur aber nicht. Überdies war der poetische Verschmelzung von Schmerz Verfahren der sozusagen „gespiegelten Mann auch politisch vor keinen Karren zu poetischer Verklärung im Weg. „Das Biografie“ zeichnet Eigner in ihnen das zu spannen. Er nahm sogar, zum Schre- Erschauen“, heißt es in Brandig, „ist et- Charakterportrait dreier Unangepasster cken der Szene, eine Gabe des Schlesi- was, das einem schwer zusetzen kann.“ aus der faszinierten, ja ihnen verfallenen schen Kulturpreises an – damals ein auch Nicht nur, dass Eigner aus der stets Perspektive je eines, sagen wir, Bourgeois. für Vertriebenenkinder völliges No-Go. direkten Erfahrung schrieb. Als er sich In Golli springt das Wahnsystem des er- Dass hier einer der größten Roman- der Literatur zuwandte, war er bereits zählten Protagonisten sogar auf den Er- ciers nach ’68 sprach, blieb dennoch ein Vielgereister. Gar hatte ihn 1973 die zähler über. nicht unbekannt. Sogar machte sein Gol- griechische Militärjunta ausgewiesen. In Die Meisterschaft dieses ästhetischen li Furore, bevor er noch veröffentlicht diesen Jahren lebte er wechselnd auf Kre- Vorgehens ist in ihrer über Mann hin- wurde. In ihm poetisierte Eigner seine ta, Formentera, in Nordafrika und Paris, ausgehenden Modernität im deutschen Erfahrungen als Lehrer für gestörte Kin- später vor allem in Olevano Romano, ei- Sprachraum einzigartig. Eigner hat da- der und Jugendliche vermittels einer, so- nem mittelalterlichen Ort der Prenestiner rin das Handwerk der von ihm bewun- zusagen, überspringenden Introjektion. Berge. Der Schlesienpreis hatte ihm dort derten Dichter Flaubert, Beckett und Wie nicht wenige ungewöhnliche einen bescheidenen Grundstückskauf auch Goytisolo (Juan sin tierra, 1975) Bücher trat auch dieser Roman erst ein- ermöglicht. In Deutschland hat Eigner – verschmolzen, mit dem er zuzeiten mal eine Odyssee durch die Verlage an. abgesehen von seinen späten, schon ge- befreundet war. Während die deutsch- Er wurde wieder und wieder abgelehnt. zeichneten Jahren – nie wirklich sesshaft sprachige Romanliteratur – von weni- Woraufhin sich der 34-Jährige in Bre- werden können. Und auch dann noch gen Außenseitern und österreichischen men, wo er zeitweise wohnte, vor den lebte er hier wie ein innerer Emigrant. Sonderwegen abgesehen – zunehmend Roland stellte und aus Roman und Ab- Dies hatte seinen Grund nicht nur in in einen banalen „Realismus“ regre- lehnungsschreiben rezitierte. Dabei kam seinem unbedingten, jeglicher Autorität dierte, setzte Eigner den Erzählfluss der es zu einem Menschenauflauf. Die Polizei abholden Temperament, die, durchaus psychologischen Großerzählung fort, – wohl von Anliegern gerufen – versuch- aggressiv, querköpfiges Ausmaß an- besonders französischer und russischer

SEITE 50 VOLLTEXT 2/2017 GERD-PETER EIGNER

Provenienz, vor allem Dostojewskis. Da- bei kommen seine langen, bisweilen an Kleist erinnernden Satzperioden weni- ger von Thomas Mann, dessen Bildungs- protz ihm fremd war, als mehr von eben Goytisolo her: „(...) von der sommerlichen Enthüllung der Grube der öffentlichen Bauarbeiten aus, die wie die Todesspur eines Flugzeugs den Asphalt des Gehsteigs aufgerissen, die darunter verborgene Erde bloßgelegt und sie längs der Fahrbahn angehäuft hat, parallel zu dem Brettersteg, über den du gedankenverloren gingst, während sich die bescheidenen Arbeiter unter deinen Füßen

mit Spitzhacken und Schaufeln abmühten HASINGER WALTRAUD © und das Rattern des Preßluftbohrers ein

Stück weiter drüben deine Ohren mit den FOTO: dumpfen Einschlägen eines Maschinenge- Gerd-Peter Eigner: Im Film lässt man Vitalisten schon mal durchgehen, in der deutschen wehrs durchlöcherte .“ 1 Literatur aber nicht. Wiederum Eigner in Brandig: „(...) daß die Menschen um ihn, Stavros, und Darüber hinaus geht es erzählästhe- unter bis zu sieben am Tag –, sind in ihrer sie, Sue, herum mit ihren gerade zuvor tisch kaum mehr. Sodass Eigners letzter Direktheit mitunter herzzerreißend, ge- erst am flackernden Ölschalendocht des Roman, Die italienische Begeisterung von rade weil sie auf Distanzierungsmittel, Popen entzündeten schlanken Kerzen in 2008, nur sehr durchschaubar verstellt in etwa Ironie, komplett verzichten und den Händen zurückwichen – manch Licht seine Autobiografie zurückgeführt hat. sich auch sonstiger Stilisierungsmittel erlosch vom Luftzug des Schrecks –, der Ihre Fassbarkeit brachte Eigner kurzzei- enthalten, deren Meister dieser Schrift- Pope aber ungerührt weitermurmelte die tig den, nun ja, „Ruhm“, der den großen steller war. große heilige Litanei, die Arme jedoch ein Büchern versagt blieb. Aber auch der wenig höher gestreckt gen Himmel und die hielt nicht lange. Auch hallte wohl Na- Satzbau Sinn und Grammatik Augen inzwischen weit offen, um Stavros bokovs später Ruf, er habe diese Fiktions- Rettung und Vernichtung zugleich 3 und die Maschinenpistole, wenn ich es von scheiße satt, allzu mahnend in Eigners der hintersten Reihe aus richtig sah, milde Ohren nach. Sodass sein nunmehr Ver- Nach Wochen des Komas ist der unbe- und nachsichtig anzublicken, die Stimme mächtnis – der höchst persönliche, über queme große Mann am 13. April dieses um ein paar Tonstufen zu heben und dann 350-seitige Gedichtband Mammut – ei- Jahres von der Welt gegangen. Eine gan- mit weit ausholender Geste das Kreuz zu gentlich niemanden, der diesen Dichter ze Art starb mit ihm aus. Als er seinem schlagen über die links und rechts mit ih- kannte, wundern muss. Das Buch ist im Gedichtband den Namen gab, wird er ren Lichtern ins Dunkel zurückgewichenen vergangenen Herbst in dem kleinen fei- das gewusst haben. Gläubigen, so daß nun Stavros, der, wie ich nen Berliner Verlag PalmartPress erschie- sah, als ich mich auf die Fußspitzen stellte, nen und spricht rein ungebrochen „Ich“: Anmerkungen nur auf einem Knie kniete, drauflosballer- 1 Juan Goytisolo, Johann ohne Land, S. 145, te wie hinter einem im Zickzackkurs in den Und ich vor den Gestellen Frankfurt am Main 1978, dtsch. v. Joachim Himmel Flüchtenden her (...)“ ein und derselbe A. Frank. Solche Perioden erschaffen eine der ganz andere als derjenige der ich war 2 „Buch“, in: Mammut, Gedichte, Berlin höchst eigene Aura der Literarizität, die der unstet Stetige 2016. sich über ihr Dargestelltes gleichsam er- ungehemmt Betende 3 „Schreiben“, in: Mammut, Gedichte, Berlin hebt und es in Form auflöst. So wird die vor dem Altar eines Daseins 2016. Botschaft zur Poesie selbst und verliert das nicht sonderlich brauchbar ihr Funktionales. Der Roman kommt als doch immer unbedingt war 2 Alban Nikolai Herbst, geboren 1955, lebt in Roman ganz zu sich. Eine Verfilmung Berlin. Zuletzt veröffentlichte er die Romane wäre nur noch als Nachdichtung mög- Die Gedichte, die er vor seinem Zusam- Argo (Elfenbein) und Traumschiff (mare). lich – eines Filmedichters vom Range menbruch in einer gewaltigen Anstren- Er betreibt den Weblog „Die Dschungel. Godards, Herzogs oder Lynchs. gung aus sich herausschießen ließ – mit- Anderswelt“.

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 51 KARL OVE KNAUSGÅRD FOTO: © ANDRÉ LØYNING ANDRÉ © FOTO: In mein Tagebuch schrieb ich: „den ersten knausgård zu ende gelesen. er wird mal den nobelpreis kriegen.“

SEITE 52 VOLLTEXT 2/2017 Das Leichentuch der Literatur

Über Karl Ove Knausgårds literarische Anpassungsleistung in seinem sechsbändigen Roman Min kamp

VON THOMAS LANG

m Jahr 2011 sah ich in einem Laden ich den Engel-Roman dazu, sind es vier- len aufeinander. Das tägliche Ringen um ein Buch mit dem Titel Sterben. Von tausendzweihundert. Danach kann ich Freiräume, Lebensfreude und Zeit wird Iseinem Autor hatte ich noch nie ge- schwerlich behaupten, ich hätte mich zum unauflösbaren Konflikt. Die eigene hört, aber der Titel und der Umschlag gelangweilt. Identität muss mit Klauen verteidigt, die sprachen mich an, so ein schönes Tür- Der Gegenstand all dieser Seiten ist Liebe immer wieder neu gefunden wer- kis aus der Abteilung Bergsee war das. kurz gesagt Karl Ove Knausgård (KOK), den.“ Fjord, hätte ich schreiben sollen. Ein ein 1968 geborener Mann aus dem nörd- Spielen: „So selbstvergessen, so selbst- Norweger – kannte ich einen außer Ib- lichen Europa, der in einer Kleinfamilie verloren gelingt es nur in der Kindheit sen und Hamsun? Jon Fosse, aber den aufwuchs, die ihre Macken hatte, und – das Spielen. Karl Ove Knausgård be- hatte ich weder gelesen noch eines seiner der beschloss, Schriftsteller zu werden. leuchtet eine Zeit, in der Leben gleich- Stücke im Theater gesehen. Ich kaufte Der heiratete und drei Kinder zeugte, um bedeutend ist mit Entdecken, Fürchten, das Buch und las darin – befremdet. Es die er sich kümmerte, ohne ein Vorbild Wundern. Er erzählt vom Erwachsen- zog nicht richtig oder ich spürte nicht, dafür zu haben. Der Gegenstand dieses werden eines Kindes, das in seinen Nö- wohin der Text wollte. An einer Stelle, Romans ist mit anderen Worten mein ten und Höhenflügen exemplarisch ist.“ nicht sehr tief im Buch, ging es viele Sei- eigenes Leben. Plus Norwegen. Hat das Bild des Grauens – Vater = Schatten ten lang darum, dass ein Jugendlicher es so interessant für mich gemacht? Den auf dem Leben – Romantik vs. Alltag in den 1980er-Jahren auf eine Silves- Inhalt von Min kamp beschreiben die – Selbstverwirklichung, moderne Men- ter-Party gehen wollte. Das musste oder Klappentexte (leicht gekürzt) so: schen – Selbstvergessenheit, Erwachsen- sollte ohne Wissen der Familie gesche- Sterben: „Als [der Vater] stirbt und werden. hen, außerdem musste der Junge Bier [Knausgård] sich mit seinem Bruder Leben: „Das Abitur hat er in der Ta- besorgen beziehungsweise, da er selbst daran macht, den Nachlass zu ordnen, sche, die Eltern haben sich getrennt, keines kaufen durfte, organisieren. Mit- bietet sich beiden ein Bild des Grauens. die Begegnungen mit dem Vater sind ten in dieser Schilderung gab ich auf. Da Während sie das Haus reinigen und die spannungsgeladen, die ersten Schritte ... erzählte jemand bloß meine Geschichte, Beerdigung vorbereiten, kommen Erin- begleitet von Alkoholräuschen ... verhei- plus Norwegen. Sollte ich lesen, was ich nerungen hoch. So sehr hat dieser Vater ßen sie ihm doch Befreiung von all den ohnehin schon wusste? einen Schatten auf das Leben der Brüder Komplexen, Unsicherheiten und Nöten, Das war lange, bevor Knausgård geworfen, dass sie den Bestatter bitten, die ihn plagen ... Auf der Schwelle zum zum Hype wurde. Erst 2015, als ich mir sagen musste, dass ich womöglich etwas verpasst hatte – denn plötzlich liebten Da erzählte jemand bloß meine oder hassten alle Knausgård, machte ich Geschichte, plus Norwegen. einen neuen Versuch. Diesmal klappte es, vielleicht auch, weil ich endlich mal hundertfünfzig Seiten an einem Tag die Leiche sehen zu dürfen. Erst dann erwachsenen Leben beschließt Knaus- schaffte. Ich war drin und ich nahm mir ... werden sie glauben können, dass er gård ein Jahr als Aushilfslehrer an eine vor, nach und nach alle sechs Bände zu wirklich tot ist.“ Dorfschule nach Nord-Norwegen zu lesen. Lieben im Herbst 2015, Spielen Lieben: „Was bleibt von all der Ro- gehen.“ und Leben im Herbst 2016, Kämpfen im mantik und Leidenschaft, wenn der Träumen: „14 Jahre verbrachte Frühling 2017. Dazwischen las ich noch Alltag Einzug hält ins Leben zweier Knausgård in Bergen, bevor er ... nach den Engel-Roman Alles hat seine Zeit moderner, auf Selbstverwirklichung Stockholm floh, als ginge er ins Exil ... Es und den ein oder anderen Essay. Knapp bedachter Menschen mit kleinen Kin- waren Jahre, in denen er unermüdlich dreitausendsechshundert Seiten, rechne dern? Anspruch und Wirklichkeit pral- versuchte, Schriftsteller zu werden, in

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 53 KARL OVE KNAUSGÅRD denen schließlich seine erste Ehe schei- jene drei Themenkomplexe, die in Min Der Schriftsteller selbst sprach bei terte, in denen sich Momente kurzer kamp traditionell literarische sind: der der Lesung von einem concept-art-ähn- Glücksgefühle mit jenen tiefster Selbst- Hass auf den Vater, die Auseinanderset- lichen Ansatz, ohne das weiter auszu- verachtung die Hand gaben, in denen zung mit dem älteren Bruder – das sind führen. Die Äußerung ist insofern auf- sich Demütigungen und Höhenräusche mit die ältesten Motive von Literatur, schlussreich, als bei Konzeptkunst der ebenso schnell abwechselten wie selbst- und sie entfalten bei Knausgård durch- grundlegende Gedanke wichtiger ist als zerstörerische Alkoholexzesse und erste aus eine mythologische Wucht. Dazu die Ausführung – ein Eindruck, den man künstlerische Erfolge ...“ kommt das Märchen der Liebe eher von den vorliegenden, eilig geschriebe- Kämpfen: „Die Rücksichtslosigkeit in einer romantischen als mythischen nen 3600 Seiten auch gewinnen kann. anderen – aber vor allem sich selbst Grundierung. Dazwischen wird es ein Darüber hinaus gibt die Aussage einen gegenüber. Die Radikalität des Ansat- bisschen zäh: Die Bände über die Kind- Hinweis darauf, dass Knausgård einen zes. Die schwindelerregenden Wechsel heit und Adoleszenz von KOK streifen strikt künstlerischen und keinen doku- mentarischen Ansatz verfolgt – er betont zudem, dass es sich bei Min kamp um ei- Der Begriff Authentizität taucht allein im nen Roman (und nicht um eine Autobio- letzten Band 33 Mal auf. grafie) handele, was auch immer man da- runter verstehen mag. Darin ähneln die sechs Bücher den autobiografischen Ro- zwischen kleinsten Details und großen bloß diese wuchtige Motivik und bilden manen August Strindbergs. Der schwedi- Gedanken. Die essayistischen Passagen meines Erachtens die schwächsten der sche Autor äußerte übrigens schon 1885 zu Themen der Kunst- und Literaturge- Reihe. Die Notizen zu ihnen verlor ich, (nach einem Zensur-Prozess), es könne schichte. Und diesmal auch: die berüh- als ich mein iPad neu aufsetzen musste. einer nur dann Schriftsteller sein, wenn rende Schilderung einer Krankheit und Dazwischen geht es um Selbstver- er wie ein „Vampir das Blut seiner Freun- Ehekrise.“ gewisserung, um Hölderlin und Hitler, de, seiner Nächsten, sein eigenes“ sauge. Alkoholräusche – erwachsenes Le- Dostojewski und Dante, Hamsun, Van Den Hinweis auf diesen Satz verdanke ben – Exil – Schriftsteller werden – De- Gogh, Munch, Celan, immer wieder ich Aldo Keel in der NZZ. mütigungen, Höhenräusche – erste Er- auch ums Schreiben, schließlich um die folge – Radikalität – Krankheit, Ehekrise. schmutzige Wäsche der Familie. Bei sei- Wahres, Wirkliches, Authentisches Aus dem Gedächtnis möchte ich ner Lesung in München sagte Knausgård, Bei seinem ersten Erscheinen in Norwe- ergänzen: Die Geschichte der Vernarrt- dass der Roman eine Kreisbewegung gen hat der Roman offenbar in erster Li- heit eines 20-Jährigen in eine 13-jährige vollführen sollte: von der Beerdigung nie über den Skandal gewirkt. Da hatte Schülerin. Die ist wichtig, weil Knaus- des Vaters zurück bis in die Kindheit und also einer gewagt, über seine Familie zu gård sie in seinem ersten Roman auf dann wieder vor über die Studienjahre schreiben und nicht mal die Namen zu skandalöse Weise behandelt (es kommt bis zum Tod des Vaters. So gesehen wäre ändern. Glaubt man dem sechsten Band, zum Geschlechtsverkehr mit der Jugend- der Roman (der in Wahrheit über diesen so suchten die Journalisten Kontakt mit lichen). Und der One-Night-Stand mit Zeitraum hinausführt) bereits nach fünf real existierenden Romanfiguren und einer Frau, die ihn später der Vergewalti- Bänden vollendet. Dieses Gefühl stellt transferierten die Auseinandersetzung gung bezichtigen wird. Ergänzen ließen sich beim Lesen tatsächlich ein, denn mit diesem Kunstprodukt vom Ästheti- sich auch noch Fake-News, die ich von der sechste Band ist anders, reflektiert schen ins Gesellschaftliche, recht eigent- anderen Knausgård-Lesern hörte, etwa schon die Reaktion auf das Erscheinen lich in den Bereich der Klatschpresse. dass der Roman einen 400-Seiten-Essay der ersten Bücher, die Knausgårds Be- Aus der Distanz betrachtet wirkt all das über Dostojewski enthielte, oder dass schäftigung mit den Phänomenen des nicht übermäßig interessant. Der Um- er darin seinen Bruder bloßgestellt und „Namens“ und der „Zahl“ auslösen, mit gang mit den wirklichen Figuren wird von dessen Prozess (wegen Vergewalti- einer titelgleichen Autobiografie und für den Leser schwieriger, denn ihre gung?) erzählt hätte. dem Leben Adolf Hitlers, der sie schrieb, Wahrhaftigkeit lässt sich rein literarisch Die Zusammenfassungen zeigen, außerdem dem Gedicht Engführung von nicht mehr beurteilen. In diesem Zu- dass es nicht gerade der mitreißende Paul Celan. Den letzten Satz der Hexa- sammenhang ist es bezeichnend, dass Plot ist, der diese Bücher lesenswert logie habe er von Anfang an im Kopf Knausgård sich in Kämpfen gegen den macht. Es geht um Alltägliches, eine Je- gehabt, sagte Knausgård auch. Er lautet: Vorwurf der biografischen Lüge letztlich dermanns-Geschichte, setzt man den „... werde ich den Gedanken genießen, ästhetisch wehrt. Sein Onkel behauptet Traum vom Schreiben stellvertretend für wirklich genießen, dass ich kein Schrift- da, die Erzählung über seinen Vater sei irgendeinen jugendlichen Lebenstraum. steller mehr bin.“ Das zeichnet Min kamp völlig falsch. Weder sei er ein schwerer Die Klappentexte enthüllen aber auch als Bildungsroman aus. Alkoholiker gewesen noch habe er am

SEITE 54 VOLLTEXT 2/2017 KARL OVE KNAUSGÅRD

Ende seines Lebens über ein Jahr lang Denkens auf, und Knausgård benutzt es Erzähler die Zügel schießen. Dazu ge- bei seiner Mutter gelebt. KOK ist verun- ebenso sehr, wie er es auf Schlagworte hören eine Szene im Band Träumen, in sichert und zieht sich nicht ohne Trotz herunterbricht und diffamiert. dem er eine Selbstverletzung schildert: darauf zurück, dass es sich eben um sein Entgegen seiner eigenen Aussage „Ich zog die Scherbe über die andere Bild von seinem Vater handele und er scheint mir die wichtigste Stilvorgabe für Wange, diesmal jedoch so fest ich konn- das Recht habe, ihn so zu schildern. Min kamp zu sein, dass es authentisch te ... ich ... nahm die Scherbe und ritzte Meistens betont KOK jedoch die Au- wirkt. Die Schilderungen seiner Erinne- zwei tiefe Schnitte neben die früheren thentizität seines Lebensromans. Der rungen folgen wiederkehrenden Mus- ...“ Diese Schilderung scheint mir über- Begriff taucht im gesamten Romanwerk tern, etwa in der Dialogführung oder trieben. Tiefe Schnitte, die die gesamte rund vierzigmal auf, dreiunddreißigmal in der Art der Montage, dem Herstellen Haut durchtrennen, müssten Narben allein im letzten Band. Dabei verwen- von bruchhaften Überleitungen (etwa, hinterlassen haben; davon ist im Gesicht det der Autor ihn im alltagssprachlichen wenn er die obige Passage über Nietz- des Autors jedoch nichts zu erkennen. So Sinn von „echt, wahr“. In einem Mail an sche und Foucault folgendermaßen fort- lappt nun die Fiktion in die Wirklichkeit den Onkel erklärt er, alle Namen und setzt: „Ich stand auf, ging aufs Klo, um zu hinein. Ereignisse seien authentisch, „das heißt, pinkeln. Der Urin war hell beinahe ganz Eine weitere Stelle in demselben das Erzählte ist geschehen, wenn auch blank, und ich dachte an die Pisse mei- Band schildert detailliert eine Geburt, nicht bis ins kleinste Detail.“ Auf der an- nes Vaters ... Dunkelgelb, beinah braun schweigt aber über die Nachgeburt und deren Seite ist das Authentische für ihn hatte sie ausgesehen.“) Dass Szenen aus stört damit das Empfinden von Authen- durchaus als etwas Fiktives denkbar, wie der Vergangenheit nicht in dieser De- tizität empfindlich. Schließlich denke er im Hinblick auf den „Bilderhimmel“ tailfülle im Gedächtnis eines Menschen ich an den knalligen Schluss des Bandes der Nazis äußert. In Sterben lässt er sei- aufgehoben sein können, ist eine Bana- Leben. Da fickt er (ein anderes Verb wäre nen Bruder Yngve sagen, das Authen- lität, und Knausgård macht auch keinen nicht angemessen) ein Mädchen von tische existiere nicht für sich, vielmehr Hehl daraus: „die Geschichte über mich hinten, während sie sich, den Kopf aus entstehe es beim Rezipienten, es sei also ... habe ich erzählt. Ich habe übertrie- dem Zelt streckend, übergibt. Gesche- eine Frage der Form. Yngves Sichtweise ben, ich habe ausgeschmückt, ich habe hen oder nicht, das ist zu schön hässlich, ist für den Autor ein „akademischer Kö- weggelassen, und vieles habe ich nicht um wahr zu sein, denke ich. nigsweg“. verstanden.“ So ist das eben mit den literarischen Das Akademische aber ist bei Knaus- Wahrheiten, sie entstehen in den Köpfen gård ambivalent konnotiert, gegen den „Es war so“ der Leser. Entscheidend dafür ist auch (postmodernen) Diskurs der Achtziger- Das Beharren des Erzählers auf dem „es nach Knausgård nicht, ob etwas tatsäch- und frühen Neunzigerjahre wehrt er sich war so“ muss also verstanden werden lich geschehen ist, sondern ob wir es mehrfach, er sei ihm zu kompliziert, er als Teil eines künstlerischen Konzepts. glauben. Es mag sein, dass das Festhal- habe nichts davon verstanden oder – als Es findet statt, was Christian Klein in ten an wirklich Geschehenem, an einem er in Kämpfen einmal über seinen geisti- seiner Abhandlung über Kultbücher als Leben, das wir (aus derselben Genera- gen Weg schreibt –, er habe sich fünfzehn doppelten Authentizitätseffekt darstellt: tion westlicher Menschen) mühelos als Jahre „damit beschäftigt [dass Raum re- „Der Leser meint (1) authentische Rede das unsere wiedererkennen, den Sog des lativ ist] und Denker gelesen, die dies be- vorzufinden, die (2) authentische Erleb- Authentischen vergrößert, es mag sogar stätigen: Nietzsche und Heidegger, aber nisse im doppelten Sinn präsentiert, weil sein, obwohl es ein bisschen magisch auch Foucault ... Das Problem war, dass sie (a) als tatsächliche Erlebnisse des Au- klingt, dass das Festhalten an Klarnamen ich ... mich im Lauf der fünfzehn Jahre ... tors wahrgenommen werden und (b) ei- die Authentizität vergrößert (in jedem nicht vom Fleck bewegt hatte. Es wider- gene existenzielle Erfahrungen der Leser Fall ist es publizistisch aufgegangen, all sprach ja im Grunde allem. Entstehung, zu thematisieren scheinen.“ Das wäre an die aufgebrachten Menschen, die sich in Werden, Erscheinen, das ewig Neue – nur anderer Stelle weiter zu untersuchen. Norwegen um ihr Privatleben betrogen nicht in mir und meinem Verständnis.“ Nur an wenigen Punkten hatte ich sahen, haben hübsch zur Glaubwürdig- Immer wieder blitzen in dem Roman das Gefühl, Knausgård mache es sich keit des Romans beigetragen). Das Ge- jedoch die Spuren jenes akademischen ein bisschen einfach und lasse seinem schehen lässt sich aber ebenso als eine

Karl Ove Knausgård sei übrigens halber Österreicher, daher das Verschweigen des Vaternamens und die vielen Verweise auf Bachmann, Bernhard, Broch, Handke und Hitler.

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 55 KARL OVE KNAUSGÅRD sehr gut gemachte Fiktion lesen, ganz Knausgård in einer Glaubwürdigkeits- bis in die kleinste Spalte und Furche ohne darüber zu philosophieren, ob es krise, der es mit einem neuen Ansatz zu seines Charakters hinein, und merk- eine absolute Realität überhaupt gibt begegnen galt. In dieser Hinsicht erin- lich geformt von der langsamen Eros- und ob sie woanders sein kann als im nert er an Nathalie Sarraute, die in den ion der Begebenheiten, und man den Augenblick. In dem Fall ginge es beim 1950ern detailliert darlegte, warum die Lauf der Gefühlsströme bis zu ihrem knausgårdschen Erzählen um eine Neu- Literatur des neunzehnten Jahrhunderts Ursprung zurückverfolgen würde, Er- kalibrierung dessen, was glaubwürdige ihre Relevanz verloren hätte. lebnissen in der Kindheit, der Jugend Fiktionen ausmacht. Diesen Gedanken oder dem Mannesalter, so würde man greift der Autor wie so Vieles im letz- Geschichte der Engel trotz allem nicht klüger werden, da ten Band an mehreren Stellen selbst Bleiben wir noch einen Moment bei der die Bedeutung des Dokumentierten auf, nur wendet er ihn polemisch und Idee des Authentischen. Vor Min kamp doch stets unbekannt bliebe. Selbst behauptet, über eine Wirklichkeit zu schrieb Knausgård den Roman Alles hat wenn die Ereignisse und Beziehungen schreiben, die ihrerseits an keiner Stel- seine Zeit. Darin erzählt er, grob gesagt, in seinem Leben bis ins Detail mit ei- le infrage steht, sondern als gesetzt gilt. die Geschichte der Engel von der Schöp- nem Leben in unserer Zeit zusammen- Die größte Prägnanz weist vielleicht fol- fung bis in die Gegenwart. Er erfindet fielen, das wir verstehen und kennen, gende Passage auf: einen frühneuzeitlichen Engelsforscher, würden wir ihm doch niemals näher „Die Grundidee meiner Romanrei- Antinous Bellori, der sich vor allem mit kommen. Antinous war in erster Linie he lautete schließlich, die Wirklichkeit den biblischen Erscheinungen der Engel ein Teil seiner Zeit. Will man verste- zu schildern, wie sie war. Eine Jugend, befasst, gleichzeitig aber persönliche Be- hen, wer er war, ist sie es, die man un- geprägt von ihm, der da wohnte und gegnungen mit Engeln hat und versucht, tersuchen muss ... unsere Welt ist nur dies tat, von ihr, die da wohnte und das die Autorität des biblischen Textes mit eine von vielen möglichen, woran uns tat ..., aber nicht in das Leichentuch der seiner eigenen Erfahrung in Einklang zu nicht zuletzt die Schriften eines Anti- Literatur gehüllt, nicht kunstfertig aus- bringen. Dieser Roman erzählt in weiten nous Bellori und seiner Zeitgenossen geleuchtet im abgedunkelten Studio Teilen die Geschichte von Kain und Abel erinnern.“ Zwei Aspekte machen den Seiten- blick auf den früheren Roman interes- Die Literatur war für Knausgård in einer sant. Zum einen scheint Knausgård hier geradezu das Gegenteil über Authen- Glaubwürdigkeitskrise, der es mit einem tizität zu behaupten wie in Min kamp. neuen Ansatz zu begegnen galt. Jemanden bis in seine kleinsten Regun- gen und mit dem gesamten Archiv seiner Gefühle zu kennen, führe gerade nicht der Prosa, sondern in hellem Tageslicht wieder, außerdem diejenige der Sint- zur Authentizität. Jede Epoche sei sicher, beschrieben, von Wirklichkeit umhüllt. flut, allerdings in einer norwegischen „dass gerade sie den Normalfall ver- Ich wollte versuchen, zum Rohen und und zwar vormodernen, aber historisch körpert, dass gerade dies der eigentliche Willkürlichen dieser Realität vorzudrin- bewusst inkorrekt dargestellten Gesell- Zustand der Dinge ist.“ Deshalb komme gen ...“ An anderer Stelle heißt es etwas schaft. Der Erzähler dieses kontramy- es darauf an, die Zeit, also den größeren nebulös: „Ein Roman, der etwas Wah- thischen Romans behauptet, damit das Zusammenhang zu durchleuchten, in res über die Wirklichkeit sagen wollte, authentische Setting zu schildern. Die dem jemand lebt, um ihn zu verstehen.“ durfte nicht zu einfach sein, er musste in Menschen der nachsintflutlichen Epo- In Min kamp heißt es dagegen: „Also seiner Kommunikation ein Element von che, die in einer heißen und unwirtli- musste ich mich ducken, um unter den Exklusivität haben ...“ chen Welt gelandet seien, hätten die vor- Ideologien wegzutauchen, gegen die Manchmal spürt man auch eine sintflutlichen Erzählungen einfach ihrer man sich nur verteidigen kann, indem regelrechte Wut gegen die meiste her- Normalität, ihrer Lebenswelt angepasst, man auf seinem eigenen Erleben der kömmliche Literatur, einmal nach au- „all die Fichten, all die Fjorde und Ber- Wirklichkeit beharrt und es nicht ver- ßen gerichtet gegen die Bücher anderer ge, aller Schnee und Regen, alle Luchse neint, denn das tun wir die ganze Zeit Autoren, ein andermal gegen das eigene und Bären, Wölfe und Elche“ seien im ... und nirgends war die Täuschung des Schreiben vor Min kamp, bei dem er an- Nachhinein verschwunden. Vom Beginn Ichs, des Einzigartigen und Partikulären, geblich Wochen damit zubringen konn- dieses Buches möchte ich ebenfalls eine größer als in der Kunst ...“ Der Akzent te zu schildern, wie jemand einen Koffer längere Passage zitieren: hat sich eindeutig zum Individuellen vom Gepäckband nimmt, das Ergebnis „Selbst wenn es einem gelänge, verschoben – auch wenn die Ideologie- aber selbst unglaubwürdig findet. Die seine [Belloris] innere Landschaft zu freiheit dieser Perspektive bezweifelt Literatur ist (oder war bis zu ihm) für dokumentieren, wie sie wirklich war, werden darf.

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Es stimmt, dass Knausgård auch an- drängt das Bedürfnis nach Grenzen und duums. Tonje [seine erste Frau, um die setzt, unsere Gegenwart zu durchleuch- Distanz …“ es in dem Roman auch geht] ist keine ten. Dies geschieht aber ebenso auf der Da kann ich nur nicken – oder den ,Figur‘. Sie ist Tonje ...“ Ebene des Individuellen und recht ei- Kopf schütteln. In diesen Passagen er- Der Autor reflektiert in dieser Passa- gentlich des Ästhetischen. Wenn KOK innert KOK mich an jene Typen, die ge seinen Regelbruch, die Rücksichtslo- feststellt, dass unsere Zeit übervoll von immer alle Platten aller Bands kannten sigkeit, mit der er – im Zusammenhang Fiktionen sei, was sich an der Überprä- und alles, was man lesen musste, schon seines eigenen Lebens – das Leben senz der Fiktionen verbreitenden Fern- drauf hatten. Mein Freud Adlr, der über der anderen öffentlich ausbreitet. Mir sehschirme zeige, dann zieht er daraus gute Kontakte in die norwegische Litera- scheint jedoch, dass er mit der Behaup- die Konsequenz, dass „der Romancier“ turszene verfügt, vertraute mir übrigens tung, Tonje sei keine literarische Figur, keine weiteren Fiktionen schreiben an, Karl Ove Knausgård sei gar nicht Karl falsch liegt. Für die Mehrzahl seiner Le- dürfe. Seltsam ist, dass er nicht darauf Ove Knausgård. Als erster Autor der Welt ser kann sie nichts anderes sein, denn sie eingeht, wie sich durch die Massenme- lasse er sich doubeln, da er sich aufgrund erschaffen Tonje reinweg in ihrer Fan- dien auch die (angebliche?) Realität seines zerschnittenen Gesichts und sei- tasie, auch wenn der Stoff ihnen fester immer stärker ausbreitet in zahllosen nes hohen Körpergewichts (er habe es in gewebt erscheinen mag, sobald er Kett- Dokus und Reportagen, Nachrichten- Wirklichkeit nie geschafft abzunehmen) fäden wie „Norwegen“, „meine Genera- sendungen, Talkshows, Reality-TV-For- öffentlich nicht zeigen wolle. Der Knaus- tion“, „wirklich geschehen“ usw. enthält. maten, um beim genannten Medium zu gård, den wir von den Fotos, den Lesun- In Wahrheit webt er damit an der bleiben. gen, den Interviews kennten, sei Yngve, immer stärker werdenden Matrix, je- Knausgård ist meines Erachtens ein der ältere Bruder des Autors. So erkläre ner groben Vereinfachung, die wir uns Thesen-Aufsteller; es geht in seiner Lite- sich mancher Widerspruch. Karl Ove aktuell als Realität auftischen lassen. ratur vor allem darum, Positionen aus- Knausgård sei ein Nerd, zu nichts zu ge- In dieser Matrix gibt es nichts Unver- zuprobieren, die um der literarischen brauchen als vierzehn Stunden am Tag ständliches, keine Paradoxa, weder Wirkung willen apodiktisch formuliert vor dem Rechner zu sitzen und Seite um Tiefe noch Geheimnis. Sie drängt die sind, ohne unbedingt durchdacht wor- Seite zu schreiben. Übrigens sei er halber schmerzhaften Aspekte des Lebens ab, den zu sein. Das wäre zugleich das ein- Österreicher, daher das Verschweigen sie gibt uns eine Fantasie des Geord- zige Argument, das man für das zum des Vaternamens und die vielen Ver- netseins, des Gerichtetseins, in der das Teil schwer erträgliche Dozieren über weise auf Bachmann, Bernhard, Broch, eigentliche Chaos, der primäre Wahn- alles und jeden im letzten Band anfüh- Handke und Hitler. sinn, in dem unser Bewusstsein grün- ren könnte. Hier, besonders in den es- det, zu einem harmlosen, nicht nen- sayistischen Passagen, wechseln lichte Lebendiges, Totes, Liebes nenswerten Rest zusammenschrumpft. Momente, die eher einem Fragen denn Lassen wir es bei diesen neidgetriebe- Nur um diesen Preis kann der Satz aus einem Antworten gleichen, mit farblo- nen Fantasien bewenden. Ich möchte dem Klappentext zu Sterben gelten, der sen, durch nichts gestützten Statements jedoch nicht vom Verhältnis zwischen behauptet, jeder Mensch sei „ein einma- ab; KOK räsoniert. Ich gebe ein Beispiel: Fiktion und Wirklichkeit bei KOK las- liger und unerschöpflicher innerer Kos- „Wenn ich Intimität und alle Formen sen, ohne das Perspektiv (genau, ein mos.“ Die Welt des KOK ist zu Teilen die von Gefühlsausbrüchen verabscheue monokulares Fernrohr) noch einmal eines neubürgerlichen common sense. und mich in allen Beziehungen, die ich umzudrehen. Denn durch die Fiktion Knausgård lesen ist wie in einen Spiegel eingegangen bin, früher oder später einer Wahrheit, dem anderen, das Min schauen, in dem unser Bild bereits ge- auf das Neutrale, Zurückhaltende, Ab- kamp erschaffen hat, und das nun in malt und festgelegt ist. Ebenso nimmt geklärte zurückgezogen habe, ist die- die Wirklichkeit gewisser Menschen in der Transfer wirklicher Personen in se Abscheu dann nicht eigentlich ein Norwegen und Schweden hineinlappt, den Text ihnen das Leben, sie werden Symptom dafür, dass eine Vater- oder geschieht, wie ich glaube, noch etwas zu Schatten, nicht mehr zurückzuholen Mutterbeziehung schiefgegangen ist? anderes. In einer seiner Betrachtungen aus dem Totenreich der Fiktion. Dieses Nein, ich verabscheue Intimität und Ge- über das eigene Schreiben sagt KOK: schwer zu belegende Gefühl beschlich fühlsausbrüche, weil ich Intimität und „In Wahrheit gibt es so etwas wie das mich im Lauf der Lektüre, der Eindruck Gefühlsausbrüche verabscheue, ich will Soziale nicht, nur einzelne Menschen, einer Übergriffigkeit, eines Angriffs auf es nicht … Nur die sexuelle Begierde ver- unser Du, auch auf der Seite des Indivi- die Lebendigkeit auch von Erinnerung.

Es ist also der Tote, der nicht mehr von der Seite des wirklichen Lebens her Einspruch erheben kann, dem der größte Affront gilt.

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Es ist nicht so, dass Knausgård die schrift zu dem lesen, was Knausgård mit dass alles entweder Fiktion ist oder als Wirklichkeit schildern könnte, wie sie Min kamp versucht hat. Genau in diesen Fiktion gesehen wird, kann die Aufgabe ist, und das ist ihm auch bewusst. Doch Passagen jedoch, in denen es um seine des Romanciers nicht länger darin be- er lehnt die Fiktionalisierung, die in der psychisch kranke Frau Linda und seine stehen, weitere Fiktionen zu schreiben.“ Erschaffung einer eigenen, von unserer kleinen Kinder geht (die sich zu dem, Das ist schlicht falsch. Denn zum einen Lebenswirklichkeit gelösten, wenn auch was Knausgård über sie schreibt, nicht bedeutet Fiktion Lebendigkeit, Offen- über die Bedeutung mit ihr verbunde- verhalten können, die es vorerst nicht heit, Fragen statt Zuschreiben. Darin nen Welt ab. Diese Welt empfindet er als einmal lesen können), verlässt ihn die enthalten ist: Respekt. Zum anderen hat unwahr. Seine dagegen wirkt zeitweise Sorglosigkeit und er beginnt, Rücksicht Knausgård aber auch mit Min kamp ein untot. All die Urteile über andere, die zu nehmen. „Ich weiß, dass die Geschich- Werk der Fiktion geschaffen, das den Festschreibungen von Charakteren und te des vorigen Sommers ... sich in Wahr- tradierten Mustern des fiktionalen Er- die Erinnerungen an sie bilden einen heit ganz anders abgespielt hat. Warum? zählens folgt, das am stärksten ist, wenn Teil der großen Matrix. Aber sie breiten Weil Linda ein Mensch ist, und das We- es die alten Motive des Erzählens – Va- auf ihre Art das Leichentuch der Lite- sentliche an ihr lässt sich nicht beschrei- terhass, Bruderzwist, Paarliebe – wieder ratur über die Lebenswirklichkeit aus. ben.“ Etwas weiter vorn in Kämpfen steht aufnimmt, wenn es mit anderen Worten Deshalb wehren sich die Betroffenen, sie über seinen Roman zu lesen: „Hätte ich (auch) mythisch wird. wollen die Versteinerung dessen, was sie ihn noch schmerzhafter werden lassen, In einer seiner schönsten Passagen geworden und wie sie es geworden sind, wäre er noch wahrer geworden. Es war über das Schreiben setzt KOK sich mit und vor allem dessen, was sie darstellen, ein Experiment und es ist missglückt“, Peter Handkes Wunschlosem Unglück nicht akzeptieren, sie wollen weiter dar- aber „es ist nicht wertlos.“ auseinander. Er beschreibt, wie Handke über verfügen. Alles hat seine Zeit drückt nach dem Wahren sucht, indem er sei- Beunruhigung aus bei dem Gedanken, Keine Träume ne Mutter nicht präsentiert, sondern ihr dass auch die „Vergangenheit nicht ab- Ein bisschen wahrer, ob das geht? Nach Bild aus dem „gesamtgesellschaftlichen geschlossen ist, dass auch sie sich verän- all den Kämpfen, die das 20. Jahrhundert Sprachfundus“ entstehen lässt. Handke dert, als gäbe es in Wahrheit nur eine Zeit für die volle Wahrheit focht, nach all den sei der „Respekt vor ihrer [der Mutter] für alles.“ Versuchen, den ganzen Menschen, mit Integrität besonders wichtig gewesen. In der großen Schilderung seiner seiner Verdrängung, seiner Sexualität Sein eigenes Verfahren beim Schreiben Familie, der Lovestory mit seiner Frau und seinem Weltraum an Unbewusstem über den Tod des Vaters findet Knaus- Linda und der immer wieder versuch- sichtbar zu machen, folgt nun das. Es gård dem diametral entgegengesetzt: ten zärtlichen Hinwendung an seine wird niemanden überraschen, dass KOK „Ständig setze ich Gefühle, Affekte und Kinder scheint eine andere Möglichkeit Freud nicht folgt, dass es in Min kamp das Sentimentale ein, das Gegenteil des Rationalen, ich dramatisiere meinen Vater und stelle ihn als einen Charakter „Es war ein Experiment und es ist in einer Erzählung dar; ich präsentiere missglückt“, aber „es ist nicht wertlos.“ ihn so, wie man fiktive Charaktere prä- sentiert, indem ich das ,als ob‘, das sämt- liche Literatur betonte, verbarg und ihn des Erzählens auf. Hier hebt einer den keine Träume gibt (denken wir dagegen und seine Integrität auf grundlegende Blick und schaut weniger urteilend denn zurück an Henry Miller!) und Sexualität Weise verletzte, indem ich sagte, so war fragend. Nur so kann das Lebendige ge- salopp als überbewertet gilt und damit er.“ Knausgård verbindet das mit der wahrt bleiben. in den Büchern einen vergleichsweise Behauptung, er habe ausschließlich in In seiner rätselhaften Meditation geringen Stellenwert erhält. Das ist die diesem Fall keinerlei Rücksicht genom- über den Orpheus-Mythos (Der Blick Gegenwart. men. Es ist also der Tote, der nicht mehr des Orpheus), über die KOK selbst in In einem Interview mit dem von der Seite des wirklichen Lebens her Träumen nachdenkt, versucht Maurice Deutschlandfunk Kultur bestätigt Einspruch erheben kann, dem der größ- Blanchot das, was sich entzieht, in Worte Knausgård, er habe das Schlimmste te Affront gilt. Wieder verwickeln sich zu fassen, ihm wenigstens nachzujagen weggelassen. Doch hier macht er eine die Ebenen des Lebendigen und des To- – ein großartiger Versuch über das Ge- interessante Ergänzung: „Jetzt ... kann ten, der Realität und der Fiktion; eines heimnis des Schöpferischen. Blanchot ich das, was ich ausgespart habe, in eine ragt in das andere hinein. spricht unter anderem von der Über- fiktive Gestalt gießen. Ich kann einen Knausgårds Sixpack bewegt sich zwi- tretung und der Sorglosigkeit, die zum fiktiven Roman schreiben und da all schen zwei Polen – (lebendiger) Liebe kreativen Prozess gehören. Der Essay diese Erlebnisse hineinflechten ...“ In und Tod. Klassischer geht es eigentlich ließe sich in Teilen wie eine Programm- Kämpfen hieß es noch, „wenn es so ist, nicht. Was er vorsätzlich nicht tun will,

SEITE 58 VOLLTEXT 2/2017 Der große Roman von tut er eingestandenermaßen doch fort- selbst zu landen. So gesehen hat Min Chris Kraus während: er verwandelt, er schafft eine kamp etwas von einem Selfie. Version der Wirklichkeit, die manchmal In mein Tagebuch schrieb ich im an eine Landlust-Welt erinnert, Dörfer Augst 2015: „den ersten knausgård ohne Brennnesseln und Kuhscheiße, ei- zu ende gelesen. er wird mal den no- nen Sehnsuchtsraum, den wir nicht mal belpreis kriegen. den titel ‚min kamp‘ mehr wirklich betreten wollen und viel hat er nicht zufällig gewählt, sondern lieber als Vintage-Vision vorblenden. weil er den bildungsroman eines man- Das kalte BlutDas Andererseits schafft sie in ihrer gedank- nes schildert, der eine art literarischer lichen Sprunghaftigkeit und manchmal weltherrschaft (≈ weltruhm) anstrebt. Widersprüchlichkeit, in ihrer zärtlichen darüber wäre nachzudenken. in der Zuwendung zum Detail und groben erzählung ist er meistens gut, mir Chris Kraus Chris Kraus Missachtung von Wegseh-Geboten viel- manchmal zu bestimmt auftretend, Chris Kraus leicht doch eine eigene Matrix. Mehr- meistens genau und glaubwürdig. hie Das kalte Blut fach wurde dem Norweger der Satz von und da ist der zuschnitt der szene zu entgegengehalten, er (Frisch stark dramaturgischen überlegungen respektive Gantenbein) probiere Ge- unterworfen. manchmal tickt er zu schichten an wie Kleider. Aber dazu sehr das triviale an, zu explizit, soll- sollte man ergänzen, was Frisch bereits te ich sagen. an dieser stelle lässt die Roman · Diogenes 1975 in Montauk schrieb: „... der kleine suggestion des authentischen nach, Ort, wo er gestern beschlossen hat, die- ich fange an mich zu fragen, was da- 1200 Seiten, Leinen, € (D) 32.– ses Wochenende zu erzählen: autobio- von eigentlich erfunden ist. – und Auch als eBook graphisch, ja, autobiographisch. Ohne natürlich ist alles erfunden. es scheint Personnagen zu erfinden, die exem- dann, dass der grund für die ganze plarischer sind als seine Wirklichkeit; ausschlachtung der eigenen biografie Zwei Brüder aus Riga machen ohne auszuweichen in Erfindungen ... hauptsächlich der ist, ein maximum Karriere: erst in Nazideutsch­ ohne Botschaft.“ Kurz darauf fällt der an glaubwürdigkeit zu gewinnen. so- land, dann als Spione der jungen große Satz, er (Frisch) habe sich in sei- dass die moderne sich am ende selbst Bundesrepublik. Die Jüdin Ev ist nen Geschichten entblößt „bis zur Un- aufisst. danach müsste eine andere art mal des einen, mal des anderen kenntlichkeit“. Max Frisch ist dabei kon- des erzählens kommen ...“ Geliebte. In der leidenschaft­ zise und treffsicher auf das Wesentliche Die Moderne isst sich selbst auf; lichen Ménage à trois tun sich beschränkt; er braucht den Wald von ihre Kinder fressen die Postmoderne. moralische Abgründe auf, die zu Stützen nicht, die den knausgårdschen An vielen Stellen und auf ganz unter- abenteuerlichen politischen Ver­ Romandampfer umgeben, als würde er schiedliche Arten wird spürbar, dass wicklungen führen. noch auf der Helling liegen. die Nachkriegsepoche mit ihren aus unglaublichen Katastrophen gewon- Neuartige Beschreibungskunst nenen Maximen vorbei ist und mit ihr »Glänzend erzählt. Seit jeher bebt die Literatur unter den eine bestimmte Art des Schreibens. Das Das kalte Blut hat das Zeug Fortschritten der Gesellschaft. Die erzeugt einen andersartigen Zugriff auf zur literarischen Sensation des Empfindsamen spürten das wie die die Welt, bedeutet aber nicht das Ende Frühjahrs: Unbedingt lesen!« Romantiker, die Realisten wie die Na- der Fiktion. Es geht darum, literarische Thomas Schmitz­Albohn / Gießener Anzeiger turalisten. Sicher bleiben Fragen, etwa: Glaubwürdigkeit zu behalten oder wie- wie man in dieser Ästhetik eigentlich derzuerlangen. Es kann nicht darum ge- von sich selbst absehen kann oder was hen, erzählerische Spielräume einzuen- »Das Buch ist in einer sehr mit der Künstlichkeit werden soll. Wo- gen. Karl Ove Knausgård zeigt sich der schnellen, plastischen, ja geradezu möglich zeigen sich bei Knausgård im Welt als das schöne Gesicht der postli- filmischen Sprache geschrieben, Ganzen schon Umrisse einer neuarti- beralen Literatur. die dennoch über einen eigenen gen Beschreibungskunst, obwohl das Sound verfügt.« Buch in keinem seiner Teile neu ist. Thomas Lang, Jahrgang 1967, lebt als Tomasz Kurianowicz / Die Zeit, Hamburg Am schmerzlichsten fehlt vielleicht Schriftsteller in München. Zuletzt erschie- das Gefühl, sich im Anderen erkennen nen die Erzählung Jim (C.H. Beck, 2012) zu können, sich selbst beim Lesen zu und der Roman Immer nach Hause (Berlin verlieren und am Ende doch bei sich Verlag, 2016).

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volltext_kraus.indd 1 29.05.17 11:13 Das Netz als telepathischer Raum

VON KENNETH GOLDSMITH

Mit Seminaren für „unkreatives Schreiben“ Follower Spambots sind, wird für die E-Mail-Verteilern – wann immer wir mit und dem Versuch das Internet auszudru- anderen mein Tweet nur ein weiterer einer Gruppe von Menschen kommuni- cken, wurde der Lyriker und Konzept- Funke auf jenem Radarschirm sein, zieren, die wir zu kennen meinen. Wann künstler Kenneth Goldsmith international der vierundzwanzig Stunden am Tag immer wir eine elektronische Botschaft bekannt. Demnächst erscheint seine viel blinkt. Wie kann das funktionieren? Die versenden, schicken wir die sprichwört- zitierte Poetik Uncreative Writing in einer Vorstellung einer Durchschnittsperson, liche Flaschenpost los; von der Übertra- erweiterten Fassung bei Matthes & Seitz. die ein globales Publikum anspricht, gung bis zum Empfang wirft die Mecha- Bei dem hier vorabgedruckten Text handelt ist beispiellos, und die Macht, die sich nik des Netzwerks Wälle aus wirklichem es sich um ein für die deutsche Ausgabe ver- in einem solchen Individuum vereint, und metaphorischem Rauschen auf. fasstes Zusatzkapitel. furchteinflößend. Aber wenn jeder in Wir mögen glauben, dass heutige On- der Lage ist, so laut und weithin hörbar line-Kommunikation instantan vor sich ch betreibe einen Twitter-Feed mit zu sprechen, nimmt diese Macht wieder geht, aber es gibt immer eine Verzöge- mehr als 18.000 Followern. Wenn ab und jeder Sender – der im Grunde rung – eine bedeutungsvolle Zeitspanne Iich mich daranmache, etwas zu pos- nur so etwas wie Schlagzeilen produ- – zwischen dem Moment, an dem man ten, ist das eine Herausforderung. Wie ziert – sinkt ironischerweise wieder ‚Senden‘ klickt, und dem, an dem die kann ich zu einer solchen Unmenge mir auf den Status lediglich einer weiteren Nachricht empfangen wird. nicht bekannter Menschen sprechen? Stimme in der Masse zurück. Wenn ich einen Tweet absetze, be- Was kann ich überhaupt sagen und wie steht der erste Teil dieser Zeitspanne oft kann ich es tun, dass so viele Personen Flaschenpost aus Schweigen, während sich die Nach- wie möglich verstehen, was ich kom- Dennoch hängen wir der Illusion an, richt den Weg durch das Netzwerk bahnt munizieren will? Außerdem weiß ich Einfluss zu haben, und vielleicht haben und sich bei mir Nervosität und Zweifel nicht, wo oder wie sie meine Informa- wir ihn auf eine äußerst begrenzte Weise einstellen. Habe ich’s vergeigt? War das tionen empfangen werden. Sie können auch. Um aber einen Tweet an ein sol- völlig daneben? Wenn das der Fall ist, ha- auf der Arbeit sein oder im Bett liegen, ches unbekanntes Publikum zu schrei- gelt es sehr schnell harsche Widerworte, inmitten einer politischen Revolution ben, müssen wir einen gemeinsamen die meine Zweifel bestätigen. Vielleicht stecken oder völlig bekifft sein. Sie kön- sprachlichen Nenner finden. Das ist eine war mein Tweet aber auch einfach so nen mir folgen, weil sie mich anhim- schwierige Aufgabe, die uns im Idealfall schwach, dass er überhaupt keine Reakti- meln oder, wenn sie Trolle sind, weil sie beim Versuch, uns die Rezeption unserer on hervorruft. Aber noch herrscht Stille, mich hassen. Der Tweet kann potenziell Nachricht vorzustellen, zu Gedanken- eine, scheint es, unendliche Zeitspanne. in jeder Zeitzone, auf jedem Kontinent lesern werden lässt. Dabei begeben wir Ich halte den Atem an. Für einen Au- und in jedem Land der Erde gesehen uns nicht bloß im Twitter-Feed in einen genblick überlege ich, meinen Tweet zu werden. Vor allem wird von dieser po- spekulativen telepathischen Modus. Das löschen. Und dann, plötzlich, kommt ein tenziellen Menge nur eine kleine Grup- gleiche passiert immer, wenn wir eine Like. Dann noch einer. Und noch einer. pe meinen Tweet wirklich lesen oder in Online-Korrespondenz aufnehmen, von Ich kann fühlen, wie sich mein Körper sich aufnehmen. Während viele meiner SMS- und Direktnachrichten bis hin zu entspannt, sich meine Gesichtsmuskeln

Dem Web, einem körperlich-affektiven und telepathischen Raum, haftet etwas Okkultes an, das an die spiritistischen Bewegungen aus dem 19. Jahrhundert erinnert – ein früher Fall von Körper-Netzwerk-Verschmelzung.

SEITE 60 VOLLTEXT 2/2017 KENNETH GOLDSMITH lockern und mein Selbstbewusstsein sich dass ich sie für selbstverständlich halte, wiederherstellt. Ich sammle meine Likes während in meinen elektronischen In- und Retweets als symbolische Medien- teraktionen Abwesenheit merkwürdi- währung ein – es gibt hier nun mal kei- gerweise präsenter ist als Präsenz in der ne echte –, die mich für den Augenblick echten Welt. wappnet, an dem ich mich hinsetzen Wenn sich das alles sehr vertraut werde, um meinen nächsten Tweet zu anhört, liegt das daran, dass es das auch schreiben. Auf diese Weise folgen meine Abbildung 1: Das Gerät erwacht zum Leben. ist. Man denke an Marshall McLuhans Online-Episteln oft einem Spannungs- Idee, dass alle elektronischen Medien bogen, in dem sich Bangen in erneutes eine Erweiterung unseres Zentralner- Bangen auflöst. vensystems sind: „Während nämlich die Ganz ähnlich verhält es sich, wenn ganze vorhergehende Technik (ausge- ich eine E-Mail schreibe. Dann befin- nommen die Sprache selber) tatsächlich de ich mich, wenn ich auf die Antwort einen Teil unseres Körpers erweitert warte, ebenfalls in einem telepathischen hatte, kann man von der Elektrizität Zustand. Obwohl die Durchsatzraten sagen, daß sie das Zentralnervensystem zunehmen, ist die Geschwindigkeit doch selbst einschließlich des Gehirns nach immer noch nicht instantan. Wenn ich Abbildung 2: Patrick Morgan, Instagram-Por- außen gebracht hat.“ Oft sind Klagen einen Brief schreibe und ihn in den Kas- trät von Kenneth Goldsmith, 10. März 2016 darüber zu hören, dass soziale Medien ten werfe, habe ich oft die Antwort des unser Innerstes kompromittieren, dass Empfängers im Hinterkopf, aber andere wir uns völlig nach ‚außen bringen‘, wie Gedanken schieben sich in dieser langen McLuhan es nennt. Die Erweiterung des Zeitspanne, in der ich auf die Antwort Zentralnervensystems in soziale Medien warte, dazwischen. Online bin ich oft hinein ist, ganz gleich, wie man es nun völlig von dieser Antwort eingenommen finden mag, in der Tat eine Verschmel- und auf sie fixiert. Ich drücke gewisser- zung von Geistern – Geistern, die sich maßen ständig ,Aktualisieren‘. Häufig fällt andernfalls nicht begegnet wären –, die es mir schwer, an irgendetwas anderes zu in den Apparat selbst verwoben ist. Das denken. Ich bin völlig präsent, fast bud- Abbildung 3: „Ich bin immer wieder ein führt zu einer Situation, die manchmal dhistisch ,achtsam‘, mit nur einem Gedan- wenig schockiert, wie einfach es ist, Worte ,Schwarmintelligenz‘ (hive mind) ge- ken im Kopf, was diese Zeitspanne des von Webseiten zu stehlen.“ nannt wird, worunter man „eine große Wartens auf eine elektronische Antwort Menge von Menschen, die ihr Wissen sich noch länger und emotional und phy- bin ich so nervös wie beim Senden oder ihre Meinungen miteinander tei- sisch lähmender anfühlen lässt, als es die meiner Tweets. Meine Handflächen len“ versteht, was „entweder die Pro- des analogen Postsystems je war. beginnen zu schwitzen, mein Magen duktion und kritische Konformität oder Ein SMS-Geplänkel steckt voller sol- rotiert und mein Puls ist erhöht. Ich kollektive Intelligenz impliziert“. Die cher Zeitspannen. Immer, wenn ich je- klebe am Telefon. Wie beim Tweet fühlt Wellen der Empörung in den sozialen mandem eine SMS schicke, treffe ich auf sich dieser Moment wie eine Ewigkeit Medien werden von McLuhans Theorie ein tödliches Schweigen, das zwischen an, bis endlich die so sehr erwarteten erklärt, der zufolge sich Millionen von ein paar Sekunden und ein paar Tagen Worte auf meinem Bildschirm erschei- Nervensystemen in einer kollektiven dauern kann, wenn überhaupt eine nen. Man sagt, dass uns unsere Geräte Einheit verschweißen. Der Schwarm Antwort kommt. Kann ich annehmen, voneinander trennen und uns weniger agiert uniform, schafft hoch anstecken- dass die Person präsent ist, klebe ich an menschlich machen, aber ich verstehe de Situationen, bringt Viralität hervor meinem Telefon und starre auf das Dis- nicht, warum Interaktionen wie diese (um eine andere Körpermetapher zu play, bis ich eine Antwort erhalte. Dann, – Interaktionen, die jeden Tag mehr- verwenden), die sich wie ein Lauffeuer plötzlich, erwacht das Gerät zum Leben. mals passieren – mich entmenschlichen durch eine zunehmend auf sie reagie- Ich sehe drei Punkte, die von links nach sollten. Im Gegenteil, in jener Zeit- rende Umwelt verbreitet. Nimmt die rechts hüpfen, was anzeigt, dass der an- spanne achte ich sehr viel genauer auf Schwarmintelligenz einmal Fahrt auf, dere eine Antwort eingibt. jemanden, der abwesend ist, als ich es ist es unglaublich schwer, sie wieder Ich kann ganz buchstäblich die phy- im Falle einer anwesenden Person tun zum Anhalten zu bewegen. Von außen sische Präsenz des Schreibenden spü- würde. Wenn ich jemandem in Fleisch erscheint es wie ein Fall von Massenhys- ren. Ist es eine SMS, bei der es auf etwas und Blut gegenüberstehe, dann lese ich terie oder kollektiver Wahnvorstellung ankommt, wie in Abbildung 1, dann dessen emotionale Nuancen so genau, – als hätte jemand LSD ins Wasser getan

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 61 KENNETH GOLDSMITH oder den von Mutterkorn befallenen Roggen über das Netz verbreitet, der die Hexenprozesse von Salem befeuerte – und so als die dunkle Seite spontaner Irrationalität, die durch die Venen eines angeblich logischen Netzwerks spukt.

Flottierende Sprachbrocken Ein solcher Austausch geschieht vor- nehmlich durch Sprache und ist daher auch allen ihren semantischen Verfor- mungen und Schwierigkeiten ausge- setzt. Telefongespräche haben damit verglichen den Vorteil, Ton und Stim- mung wiederzugeben und die Sicher- heit unmittelbar menschlicher Kommu- nikation zu reproduzieren, wohingegen die Bedeutung und Rezeption frei flot- tierender Sprachbrocken, wie uns fran- zösische Theoretiker vor langer Zeit erklärt haben, fluktuieren, launenhaft und chamäleonartig sind – so vielfältig wie die Situation, in der sie sich wie- derfinden. Gelangt nun Sprache in das Spiegelkabinett des Internets, dann ist es ein Wunder, dass sie, linguistisch ge- Pearl Curran begann 1913 mit ihrem Hexenbrett Nachrichten von einem britischen Geist aus sprochen, überhaupt funktioniert. Die dem siebzehnten Jahrhundert zu empfangen. Als sie ihre Tätigkeit als Medium einstellte, Zunahme von Online-Hass, Hate-Spe- hatte sie ein Werk von 400.000 Wörtern geschaffen, von denen kein einziges ihres war – ech und Trolling ist zumindest teilweise eine Unkreative Schreiberin, Textverarbeiterin und Datenumsetzerin fast hundert Jahre auf die Schlüpfrigkeit der Bedeutung vor dem Internet. von Sprache und Kontext zurückzufüh- ren. Nimmt man noch die Möglichkeit online zu schreiben. Daher gehe ich ich Likes und Retweets einfangen kann, des Kopierens, Neurahmens und Re- beim Verfassen eines Tweets sehr sorg- womit ich meine Follower-Zahl erhöhe kontextualisierens hinzu, dann befin- fältig vor, mache oft mehrere Entwürfe, und meine leise Stimme tausendfach det man sich im Albtraum eines jeden kürze Wörter und schärfe Adjektive, um verstärken kann. Um das zu tun, muss Linguisten. Um das auszugleichen, ihn so schwungvoll wie möglich wer- ich das Vokabular meiner Userbasis ver- versuchen wir, Wörter mit Bildern wie den zu lassen. Ich bearbeite und lösche stehen und darauf hinarbeiten, in ihrer Emojis anzureichern, um sie verstehbar doppelte Leerzeichen, verwandle jedes Sprache zu sprechen. Ich muss aus prä- zu machen, was in den meisten Fällen ,und‘ in ein ,&‘. Wenn ich den Tweet zise gewählten lexikalischen Reservoirs schöpfen, um den Durst meiner Sippe zu löschen. Von Erfindungen wie dem Telegrafen Trifft man den Ton nicht, riskiert angespornt, begannen Spiritisten damit, man, jenen Zorn auf sich zu ziehen, den Joyce Carol Oates zu spüren bekam, als die Toten durch den Äther anzuzapfen sie 2015 unschuldig tweetete: „Alles, was wir von ISIS hören, ist puritanisch und ihre Worte zu materialisieren. & bestrafend; gibt es da nichts Feierli- ches & Fröhliches? Oder ist die Frage dazu führt, die Verwirrung nur noch zu schließlich abschicke, setze ich besten- naiv?“ Gut gemeint und aufrichtig – vergrößern; Emojis sind so vage wie die falls ein kleines, unter selbstauferlegten sogar von einem Warnhinweis beglei- Sprache, die sie umgibt. Einschränkungen geschriebenes Meis- tet – traf sie den Ton in einem Medium Trotzdem machen wir, im Glauben terwerk in Umlauf. Zugleich werfe ich nicht, für das Doppeldeutigkeit und verstanden zu werden, weiter damit, eine Angelschnur aus und warte ab, ob Ironie gängige Münze sind. Es ist merk-

SEITE 62 VOLLTEXT 2/2017 KENNETH GOLDSMITH würdig, dass eine so angesehene Au- Nichts – beim Herunterladen oder Druck Dieses Phänomen ist als ideomotori- torin so wenig Sensibilität für den Ton einer PDF-Datei – hallt noch ein Echo scher Effekt bekannt – das, was geschieht, an den Tag gelegt hat, was vielleicht des Okkulten nach. wenn man seinen Arm ausstreckt, an nur beweist, dass man in einem Medi- Die Spiritisten des neunzehnten Jahr- dem eine Schnur mit Gewicht hängt. um Meister sein kann, während man in hunderts beschworen Worte aus dem Schon der Gedanke an Kreise bewirkt einem anderen stolpert. Aber es zeigt Nichts durch die Praktik des automa- eine minimale Kreisbewegung der Hand, auch, dass es verschiedene Arten von tischen Schreibens, bei dem ein leben- die wiederum über das Gewicht verstärkt Meisterschaft gibt, die in verschiedenen der Mensch zum Medium für die Toten und sichtbar gemacht wird. Genauso ge- Arten des Schreibens auf verschiedenen wurde und sie zu Papier brachte. Der be- schieht es, wenn wir eine Maus benutzen Plattformen nötig sind, was nur einmal rühmteste automatische Schreiber Ame- und unsere Mikrobewegungen verstärkt wieder belegt, dass Literatur viele For- men annehmen kann und alles andere als monolithisch ist. Ohne Frage, wenn Auch in der Materialisierung eines ganzen sogar eine Schriftstellerin wie Oates Buches aus dem Nichts – beim Herunter- so zutiefst scheitern kann, müssen wir besondere Sorgfalt beim Schreiben für laden oder Druck einer PDF-Datei – hallt diese Apparate aufwenden. Während wir dazu neigen, unseren noch ein Echo des Okkulten nach. digitalen Interaktionen Körperlichkeit abzusprechen – wir meißeln schließlich rikas war Pearl Curran, die 1913 damit werden, sowohl auf dem Bildschirm (die keine Marmortafeln, sondern schieben begann, mit ihrem Hexenbrett Nachrich- Bewegung der Maus) wie auch im Netz- Pixel hin und her –, sprechen meine ten von einem britischen Geist aus dem werk (wenn wir die Maus benutzen, um feuchten Handflächen und mein erhöh- siebzehnten Jahrhundert namens Patien- ,senden‘ zu klicken). ter Herzschlag eine andere Sprache. Dem ce Worth zu empfangen. Curran saß vor Die Idee, dass Worte unsichtbar Web, einem körperlich-affektiven und dem Hexenbrett und empfing, Buchsta- durch die Luft übertragen und später telepathischen Raum, haftet etwas Ok- be für Buchstabe, Worths Gedanken, die wieder materialisiert werden können, kultes an, das an die spiritistischen Be- sie dann transkribierte. Die Sendungen geht auf eine Episode in Rabelais’ Gar- wegungen erinnert, die Mitte des neun- kamen bald so schnell, dass Curran nicht gantua und Pantagruel (1532) zurück, zehnten Jahrhunderts durch Europa und länger mitkam. Sie ließ das Brett hinter in dem eine Schlacht in derart kaltem Amerika schwappten – ein früher Fall sich und fand heraus, dass sie in der Lage Wetter stattfindet, dass die Klänge ein- von Körper-Netzwerk-Verschmelzung. war, Worth auch ohne den Apparat zu frieren und zu Boden fallen, wo sie Von Erfindungen wie dem Telegrafen beschwören. Fortan saß sie einfach da dann lautlos herumliegen, bis das Früh- angespornt, der die Sprache entmateria- und transkribierte seine Worte, die spon- lingswetter sie wieder auftaut. Von der lisierte und sie von einem Ort an einen tan in ihrem Geist erschienen – zunächst Sonne erwärmt, schmelzen sie nachei- anderen übertrug, wo sie in einer Reihe mit Papier und Bleistift, später mit der nander und schaffen ein Feld sinnloser dekodierbarer Worte zum Vorschein Schreibmaschine. Als sie ihre Tätigkeit Sprachgeräusche. Die meiste Sprache kam, begannen Spiritisten damit, die To- als Medium einstellte, hatte sie ein Werk im Netz ist gefriergelagert, in virtuellen ten durch den Äther anzuzapfen und ihre von 400.000 Wörtern geschaffen, von de- Eisplaneten kryogengefroren, die zwi- Worte zu materialisieren. Die Schöpfung nen kein einziges ihres war. Curran war schenzeitlich aufgetaut werden können, von Sprache aus der Luft ist ähnlich dem eine Unkreative Schreiberin, eine Text- wenn sie etwa durch eine Google-Suche Empfang einer E-Mail oder SMS heute. verarbeiterin und Datenumsetzerin fast beschworen werden, was selbst bereits Wir verstehen ihre physikalischen oder hundert Jahre vor dem Internet. okkult und orakelhaft anmutet. Der geografischen Ursprünge nicht wirklich, Mathematiker Charles Babbage (1791– stattdessen erscheinen sie mysteriös mit Analoges Internet 1871) stellte sich die Luft als ein riesen- einem Mal in unserem Posteingang, au- Das Hexenbrett selbst ist wie ein analo- haftes Speichergerät vor, wohl nicht ßer einer E-Mail-Adresse (die überall sein ges Internet, wobei das Brett als Schnitt- so verschieden von unserer Idee einer könnte) ohne jeden erkennbaren Her- stelle, die Planchette als Maus und die Cloud heute: als „eine riesige Biblio- kunftsort und voll langer Zeichenketten Geisterwelt als Netzwerk fungierten, thek, in deren Seiten für immer all das meist unverständlicher Zahlen, die un- und alles über den Körper des Benutzers geschrieben steht, was der Mensch hier sichtbar im Header meiner E-Mails ste- kommuniziert. Das Hexenbrett funktio- gesagt oder geflüstert hat.“ Eine Abfrage cken, etwas für die Maschine bedeuten, niert, indem es Gedanken und Kleinst- in Google einzugeben ist so, wie sie an für mich aber nichts. Auch in der Materi- bewegungen des menschlichen Muskel- Babbages Luft zu stellen, ein Glaube, alisierung eines ganzen Buches aus dem systems durch die Planchette verstärkt. dass all die Sprache und all die Ideen,

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 63 KENNETH GOLDSMITH die in ihr nachhallen, sofort und für im- schen dem Zeitpunkt, an dem jemand alle unsere Medien – Filme, Töne und mer wieder abrufbar sind. eine Nachricht absetzt und dem, an dem Bilder – bestehen letztlich aus alphanu- Das Netzwerk selbst ist neutral und sie in meinem Feed erscheint – existiert merischen Zeichen) und die Verbreitung indem es sich entwickelt, feuern seine immer noch notwendigerweise, der phy- der meisten Ideen geschieht semantisch. Synapsen in immer schnelleren Fre- sikalischen Netzwerkverzögerung we- Selbst wenn neue Konventionen nötig quenzen. Als das Internet entstand, war gen, und bewahrt dem Netz seine anti- werden, verwendet man schlicht wieder es langsam. Ich erinnere mich, in den zipatorische und telepathische Qualität. die alten alphanumerischen Formen, wie Neunzigerjahren bei einem Dienst an- Diese rasanten Mechanismen strömen etwa im Fall des Hashtags, das als eines gemeldet gewesen zu sein, der mir im- durch unsere Körper. Wenn wir gewisser- der ersten indexikalischen Zeichen auf mer, wenn meine Lieblingsinternetseite maßen in sozialen Medien ‚trenden‘, ste- die frühen IRC-Netzwerke zurückgeht. aktualisiert wurde, eine E-Mail schickte. hen unsere Körper unter Strom, weil das Sollten wir das semantische Netz einmal Später automatisierten RSS-Feeds die- Netzwerk und unser zentrales Nerven- verlassen, würden wir natürlich rein visu- se Aufgabe, aber auch sie hinkten noch system sich vereinigen und einen fabel- elle Signifikanten wählen, in dieser spä- dem schwer fassbaren Ziel hinterher, haften Adrenalin- und Endorphinrausch ten Phase etwa Emojis. Dabei sind auch Echtzeit-Updates bereitzustellen. Erst mit erzeugen. Es ist kein Wunder, dass wir Bilder noch von Sprache beherrscht, dem Aufkommen sozialer Medien – mit auf sozialen Medien hängenbleiben. Wie selbst in solchen Umgebungen wie Ins- ihren Interfaces, die beweglich genug bei einem Drogentrip muss man wieder tagram, die für die meisten rein visuell zu sind, kleine Informationsmengen blitz- runterkommen; zwangsläufig ebben die sein scheinen. Sieht man sich einmal ei- schnell zu verarbeiten und zu übertragen Likes und Retweets wieder ab. Wie Junki- nen Instagram-Post genauer an, bemerkt –, begann das Web tatsächlich, sich der es, die nach dem nächsten Schuss suchen, man schnell, dass es kein Bild ohne die Echtzeit anzunähern. Twitter, basierend suchen wir nach der nächsten neuralen dazugehörige Sprache gibt. auf SMS-Standards, bei denen die Anzahl Dröhnung, was uns an sehr dunkle Orte der Zeichen 160 beträgt, abzüglich 20 für führen kann. Wir setzen mehr aufs Spiel, #kennethgoldsmith #portrait den Benutzernamen, erlaubt das Senden schöpfen das Potenzial des Apparats Nehmen wir etwa ein Instagram-Port- von Tweets in einer Geschwindigkeit, die selbst aus, anstatt an unser Publikum zu rät, das ein englischer Künstler von mir sich wie Echtzeit anfühlt. Als sich soziale denken, und lassen damit unsere Com- angefertigt hat, dann sehe ich ein Ver- Medien entwickelten, ähnelten sie im- munity im Stich, zu der wir sorgsame hältnis von einem Bild, das mich zeigt, mer mehr unserem Zentralnervensys- sprachliche Bindungen geknüpft haben. zu sieben Hashtags, die diesem Bild tem; sie wurden reizbarer und empfäng- Wir wollen größere und immer größe- beigefügt wurden: »#kennethgoldsmith licher für unsere Körper und Gedanken, re Leserkreise, die wir nur um den Preis #portrait #platedrawing #reliefart #dra- verschmolzen uns mit dem Netzwerk. zunehmender Missverständlichkeit er- wing #newyorker #ubuweb.« Zusätzlich zum Benutzernamen stehen da noch weitere Wörter: ein Folgen-Button, der Wir wollen größere und immer größere Like-Zähler, die Veröffentlichungs- Leserkreise, die wir nur um den Preis zeit, „Log in to like or comment“ und schließlich ein Kommentar, dem ein Be- zunehmender Missverständlichkeit nutzername zugeordnet ist (Abbildung 2). Wenn ich all das in meinem Browser erwerben können. betrachte und auf eines dieser Hashtags klicke, gelange ich auf eine Seite voller Die Twitter-App von heute etwa re- werben können. Und dann hängst du Bilder, von denen jedes die gleichen gistriert jede Bewegung, die ich mache, drin, was genau ist, was der Apparat der Hashtags enthält wie mein Porträt und und verstärkt sie so, dass sie mir nicht sozialen Netzwerke will: Die Bewahrung mir so vor Augen führt, dass das Netz nur diejenigen meiner Tweets anzeigt, und Erweiterung der Benutzerbasis ist durch Schlüsselwörter völlig seman- die geteilt wurden, sondern auch solche, der Schlüssel zum Wachstum und damit tisch geordnet ist. die ich von anderen geteilt habe und die auch zur Profitabilität. Das Hashtag hat seinen Weg bereits andere wiederum von mir teilen. Mein All das geschieht vorwiegend durch in die geschriebene Umgangssprache Feed ist jetzt zu keinem Zeitpunkt mehr Sprache, was Zweifel an der oft gehör- gefunden. In einem beliebigen Face- statisch, sondern pulsiert automatisch ten Behauptung aufwirft, wir läsen und book-Eintrag etwa werden bestimmte und aktualisiert sich in einer Geschwin- schrieben immer weniger. Wenn wir on- Wörter mit einem Hashtag versehen, was digkeit, die sich wie Echtzeit ausnimmt; line sind, bestehen unsere Interaktionen vor nicht allzu langer Zeit noch keine exis- die minimale Verzögerung aber – die vor allem aus Worten (und, wie ich zu tente Konvention war. Auch Werbung ist bedeutsame Zeitspanne der Pause zwi- Beginn dieses Buches geschrieben habe, häufig voll davon. Wenn das Hashtag zur

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Betonung oder bloß dekorativ benutzt wird, beginnt es, seine ursprüngliche in- dexikalische Funktion zu verlieren. Heu- te, da diese Konvention rasant zu einem Klischee zu werden droht, hat es bereits viel von seinem Nutzen eingebüßt und ist poetisch geworden. Klickt man auf der Suche nach einer bestimmten, damit zu- sammenhängenden Information auf ein Hashtag, verliert man sich oft in einem absurden und surrealen dérive. Ich höre viele Leute darüber klagen, dass die Sprache im Netz Körperlichkeit und Präsenz vermissen lässt, dass wir, statt

auf einen Bildschirm zu starren, wirklich RODRIGUEZ MARISOL © lieber Bücher lesen sollten. Aber das Netz

bietet eine sehr viel tiefere Art von Kör- FOTO: perlichkeit als das Buch. Wenn ich einen Das Internet ist ausgedruckt, der Autor macht Pause. langen Artikel im Netz lese, dann ertappe ich mich dabei, unbewusst, fast nervös, dem gesunden Menschenverstand etwas Regierungen abgegriffen wird, die eben- Passagen in meinem Browser zu markie- mehr entspricht. falls unseren nächsten Zug antizipieren. ren und sie als Geisterwörter herumzube- Auch unsere mobilen Geräte basie- Was kann man tun? Edward Snowden wegen, während ich lese (Abbildung 3). ren auf Körperlichkeit und werden völlig meinte, dass wir uns, um uns vor Regie- Wenn ich wollte, könnte ich diese Passa- durch unseren Leib betrieben. Ohne die rungsbehörden zu schützen, die unsere gen auf meinen Desktop bewegen, wo Vermittlung einer Maus drücken wir un- Daten einsammeln, von Dropbox, Face- sie dann aus ihrem Webseitengefängnis sere Daumen und Finger auf Wörter und book und Google lossagen sollten, um befreit wären und als reine, nackte Spra- wischen sie beiseite. Wir unterzeichnen uns „nach verschlüsselten Kommunika- che zur Verfügung stünden. Ich bin im- Kreditkartenrechnungen auf Tablets, in- tionsdiensten umzusehen“, weil diese un- mer wieder ein wenig schockiert, wenn dem wir unser Fleisch auf iPad-Bildschir- sere „Rechte durchsetzen“. Wenige sind ich daran denke, wie einfach es einem die me pressen. Gleichzeitig trainieren wir diesem Ratschlag gefolgt. Auch Snowden Programmierer von Browsern machen den Apparat, menschlicher zu werden, konnte nicht widerstehen: Am 6. Okto- – allen Beschwerden über Plagiate und reizbarer und vorausschauender. Vor ber 2015 meldete er sich auf Twitter an Urheberrechtsverletzungen zum Trotz –, Kurzem verlieh ein Freund dem Zögern – und nur neun Stunden später hatte er Worte von Webseiten zu stehlen. Genau- Ausdruck, auf einen Facebook-Link zu bereits über 710.000 Follower … so bin ich schockiert, dass es einem Brow- klicken, weil er fürchtete, vom System ser in diesem fortgeschrittenen Stadium gelesen zu werden. Er hatte recht. Mit je- © Matthes & Seitz, Berlin 2017 noch immer erlauben, den Quelltext ei- dem Klick weiß der Apparat mehr über ner Seite anzuzeigen und ihn an sich zu mich und reagiert entsprechend. Aber Kenneth Goldsmith: Uncreative Writing. nehmen. Es ist noch nicht so lange her, als Darsteller in sozialen Netzwerken Sprachmanagement im digitalen Zeitalter. dass sich mit dem Erscheinen von Flash, haben wir keine andere Wahl als mit- Erweiterte deutsche Ausgabe. Matthes & das Seiten zu Bildern werden ließ, die zuspielen. Es nicht zu tun, würde den Seitz, Berlin 2017. 351 Seiten, € 20 (D) / Dinge in die gegenteilige Richtung zu Signal-Rausch-Abstand unserer Feeds € 20,60 (A). Das Buch erscheint im August. entwickeln schienen. Ich erinnere mich umkehren und uns mehr Rauschen als an die frustrierende Erfahrung, die Seite Signal liefern. Wollen wir mehr Signal, so Kenneth Goldsmith, geboren 1961 in Freeport, eines Restaurants aufzurufen, wo ich die müssen wir das Spiel mitspielen, indem Long Island, ist Konzeptkünstler, Dichter und Adresse kopieren wollte, aber durch die wir den Content, den unsere Feeds uns Literaturwissenschaftler. Er lehrt an der Uni- Flash-Oberfläche daran gehindert wur- anbieten, liken, klicken und browsen. versity of Pennsylvania Uncreative Writing und de. Man musste tatsächlich wieder Stift Tun wir das, steigt das, was wir geklickt Interventionist Writing und erregte internatio- und Papier nehmen und die Adresse auf- haben, höher in unseren Feeds auf und nal Aufmerksamkeit durch sein Kunstprojekt schreiben, als wenn es wieder 1985 wäre. reduziert das Rauschen. Zur selben Zeit „Printing Out the Internet“ und seine Poetik. Zu Zum Glück ist Flash ausgestorben und wird jeder dieser Klicks einem über uns seinen wichtigsten Werken gehören neben Un- das Web ist, wie es oft geschieht, zu einem erstellten Konsumentenprofil hinzuge- creative Writing die Textsammlung Against Ex- urzeitlicheren Stand zurückgekehrt, der fügt, das an Vermarkter verkauft oder von pression: An Anthology of Conceptual Writing.

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 65 Nachts schreiben, um am Tag nicht verloren zu gehen Gedanken zu Literatur und Selbsterfahrung

VON ARNE RAUTENBERG

anz bei mir bleiben. In meinen Schreibarbeiten, in denen der Hauch Zu dieser Einsicht zu kommen, hat Texten, in meinem Vortrag. der Inspiration kleingeschrieben ist: mich viele Jahre gekostet: Jahre des GIch bin Lyriker, ich schrei- Mails, Briefe, Überarbeitungen, Zug- Leichtsinns, des trotzigen Aufgehens be Gedichte und keine Romane. Das fahrten buchen, Grübeleien über an- in einem juvenilen Loser-Feeling, Jahre heißt, ich muss mir nicht täglich eine stehende Grundsätzlichkeiten neuer der inspirativen Erweckung samt arro- Seite Prosa rausquälen (wie ich es Projekte, Sortierarbeiten, Recherchen, ganter Zurschaustellung einer freilich auch schon getan habe), sondern darf Telefonate, Aufsätze, Lektüren. noch nicht ausgereiften Künstlernatur, sprunghaft und phlegmatisch sein, ein- Der Tag nimmt seinen Lauf. Mit- Jahrzehnte des Coolseins und der unan- fach dahinleben und mir eine gewisse tags kochen, essen, die Kinder kom- gemessenen Überheblichkeit. Für mich Zeitoase zur schreibenden Besinnung men aus der Schule. Nachmittags ist das alles Geschichte. Mein Alltag, einräumen. bin ich ganz normaler Familienvater, der meine drei Glücksfaktoren bedingt Dies ist meinen momentanen Le- das heißt: schön auf dem flauschigen – erstens frei über die eigene Zeit verfü- bensumständen geschuldet. Ich bin Wohnzimmerteppich rumkugeln, aus gen, zweitens etwas tun, was man gerne Nachtarbeiter geworden. Noch vor Versehen einschlafen, Musik hören, tut, drittens so viel Zeit wie möglich mit eineinhalb Jahrzehnten ging ich vom Spiegel online lesen, Haus- und Gar- denen verbringen, die einem am meis- Bett aus direkt an den Schreibtisch tenarbeiten erledigen, H.C. Artmann ten am Herzen liegen – hat mich Demut und erledigte mein Schreibwerk, noch lesen, Stadtfahrten angehen, mit dem gelehrt. saumselig aus der Nacht heraus, frisch Sohn auf den Fußballplatz, mit der Allerdings bin ich in meinem All- und ungefiltert konnte ich den erwa- Tochter auf den Pferdehof (sie reitet tag 24 Stunden online mit meinem er- chenden Gedanken nachgehen, ihnen ein Araber-Pferd), mit der Frau spa- weiterten Bewusstseinsstrom. Kommt hinterherschreiben, sie zu fassen krie- ziere ich frühabends an der Kieler För- mir etwas Sonderliches in die Quere, gen und en passant auch größere Pro- de entlang (wir erzählen uns unseren schreibe ich es in meinen Notizblock. sastrecken bewältigen. Tag – eine wunderbare, beziehungs- Mein Credo seit vielen Jahren: Ein Das ist vorbei. Wir haben zwei Kin- stabilisierende Gewohnheit), im Som- Tag, von dem nichts übrig bleibt, der der, ein bis an die Knochen gehender, mer bin ich viel am Strand, nach der ist nichts wert – oder als Variante: Ein hochfrequenter Ton piept um 6:30 Tagesschau wird vielleicht noch etwas Tag, von dem nichts übrig bleibt, der ist verloren für immer. Und ich bin ein vergesslicher Mein Sohn erzählt etwas von Arschhaaren Mensch. Also bewege ich mich mit vom Elefanten, ich schreibe es auf. offenen Sinnen und sammle via No- tiz, was ich sehe, was ich höre, was ich denke. Mein Sohn erzählt etwas Uhr, dann heißt es, aufstehen, anzie- fern gesehen, Murakami oder Knaus- von Arschhaaren vom Elefanten, ich hen, Weckdienste an den Kindern voll- gård gelesen, alles ganz normal, wie es schreibe es auf. Meine Tochter zeigt ziehen, aufdecken, Brote schmieren, jeder kennt. Ich habe auch kein Prob- mir auf ihrem Handy ein Foto, auf Minimal-Konversationen am Laufen lem damit, sondern halte es wie Tonio dem sie aus ihren langen Haaren ei- halten bzw. ertragen, Zeitung lesen – Kröger bei Thomas Mann: „Man ist als nen Kranz zu einem Nest geflochten und wenn die Kinder in die Schule ra- Künstler innerlich Abenteurer genug. hat, damit sie ihr schwarzes Lieblings- deln, sind die den Geist erweckenden Äußerlich soll man sich gut anziehen, huhn hineinsetzen kann. Ich schreibe Akkus bereits halbleer. zum Teufel, und sich benehmen wie es auf. Und überlege später, als ich das Also erledige ich am Morgen die ein anständiger Mensch“. Foto noch einmal betrachte: Ist der

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Erstes Paradoxon: Auflösungserscheinungen Der Moment der nächtlich-produkti- ven Selbstvergessenheit. Kinder helfen einem im Leben, sich aus dem Würge- griff der Egozentrik zu befreien, ein- fach, indem man merkt, wie viel Liebe zu geben man imstande ist und dass man bereit ist, das andere, aus einem entstandene Leben als das Wertvolle- re, Wichtigere zu begreifen, kurz, dass man dabei ist, sich im Weltgebaren auf- zulösen. Dieser Umstand setzt zweier- lei in Gang: Zum einen eine mit nichts zu vergleichende Befriedigung, Teil am Lauf der Welt zu sein und Anteil

BIRGIT RAUTENBERG BIRGIT daran zu haben, einem biologischen © Programm zu folgen. Andererseits eine

FOTO: Trotzreaktion: Keine Ich-Auflösung Juveniles Loser-Feeling, Coolsein und unangemessene Überheblichkeit - bitte! Und wenn doch, so möge im für Rautenberg ist das alles Geschichte. Rahmen dieser Auflösung mein Kern erst recht zu leuchten beginnen! Kopf ein Nest, der das Huhn behütet – Der Tag bekommt einen fruchtbrin- oder hat das Huhn den Kopf ausgebrü- genden Dreh, wenn die Familienmit- Zweites Paradoxon: Von mir lernen, tet? Ich sitze am Strand und die Möwe glieder schlafen gehen. Wenn die Kin- indem ich mich vergesse mit dem Totenkopf fliegt vorbei, ich der schlafen, wenn meine Frau schläft, In der nächtlichen Entrückungsphase schreibe es auf. wenn kein Festnetz mehr klingelt, spiegelt sich ein seltsam befriedigen- Manchmal bleibt der Notizblock wenn kein Handy mehr klingelt, wenn der Zustand wider: einerseits bin ich leer. Dann wundere ich mich, warum ich keine SMS mehr bekomme, keine dabei, mich vollends zu verlieren, auf- ich so unausgeglichen bin. Vielleicht Whatsapp-Nachricht mehr bekomme, zugehen in meinem In-mir-um-mich- bin ich auch nur ungeduldig, denn wenn keine E-Mails mehr kommen, Spiel, andererseits bin ich zu keinem eigentlich weiß ich, dass die Zeit lite- dann bin ich an meinem Schreibtisch Zeitpunkt meines Lebens näher dran, rarischer Schaffensdurststrecken eine hellwach – und es wird ganz still in mei- mich zu finden (und zwar anders als in bald kommende Zeit literarischer nem Kopf. Da ist es meist schon Mitter- einem gut angezogenen Gegenüber in Fruchtbarkeit einläutet. Nichts ist um- nacht. Nun habe ich zwei, drei Stunden, der Schaufensterscheibe). sonst, so eins meiner Hilfskonstrukte in denen ich entrücke und ganz bei und Sich widersprechen ist immer auch zur Selbstüberlistung, auch nicht die in mir sein darf. Ein Zustand der Ent- Teil der Selbstbefragung, der Nach- Zeit des Müßiggangs, des vermeidli- grenzung. Ich schrieb über die Bedeu- und Neujustierung. chen Müßiggangs müsste man korrek- tung dieses Moments ein „selbstportrait Das regellose Dichtwerk wider- terweise sagen, oder noch besser, man als nachtarbeiter“: spricht sich ohnehin ständig, und er- schaltet den Müßiggang mit einer Zeit möglicht so erst die Bewegung. Ich der geistigen Rekonvaleszenz gleich, sitze am schreibtisch denke an John Cage, der sagte: Ich welche erst den nächsten Produktivi- trinke bier bedien die tastatur habe nichts zu sagen/ und ich sage es/ tätsschub bedingt. Wenn es mal nicht schaue auf die uhr und das ist Poesie/ wie ich sie brauche. so läuft und man bloß einmal mehr Doch zurück an den mitternächtli- dahinströmt, ist Gelassenheit ange- nulluhrnull im monitor chen Schreibtisch: Niemand will etwas sagt, gelingt aber nicht immer. Jeder erneutes nichts so beginnt der tag von mir. Zeit wird wieder spürbar, um- produktive Mensch kennt das. des jüngsten gedichts mantelt mich und ich? – muss erst ein-

Wenn es zu laufen beginnt, sich also Text ergibt, ist es eine beinahe spirituelle Erfahrung.

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 67 ARNE RAUTENBERG mal sehen, wie ich in ihr aufzugehen an mehreren Texten gleichzeitig. Das die Museumswand gestenzelt wurde, imstande bin. Dann mache ich mehr Schreiben am Laptop ist dabei unab- ganz klein zu fühlen. Zusammenzu- oder weniger lustlos Sachen, die mich dingbar. Ständig muss der Text wieder schrumpfen vor einem Text, der einem den Alltag abwerfen lassen (im Inter- umgeschrieben werden, Einschübe zudem inhaltlich noch die Endlichkeit net nach diesem und jener schauen) kommen hinein und heraus, mit einem aufzeigt. Hier bekommt das Gedicht oder meinen Blick fokussieren, z. B. Mal habe ich lose Enden zu fassen, ver- jäh eine ganz andere Kraft als im Dun- indem ich Gedichte sehr flüchtig und liere mich in Formulierungsvarianten, kel eines meist zugeschlagenen Buchs. schweifend lese, auf der Jagd nach plötzlich nötigen Recherchen, durch- Wenn es so etwas wie einen kon- mich anregenden Verlesern: Hut statt forste Reimlexika auf der Jagd nach zeptuellen Dreh gibt, der meine Schrei- Haut, verseuchen statt versuchen, Zer- dem passenden Wort, ergehe mich in barbeit am Laufen hält, so muss man fall statt Zufall; vielleicht dauert es eine Wortfeldanalysen, um mich einem schon weit zurücktreten, um ihn über- Stunde, bis Denkbewegung und (Un-) Phänomen anzunähern, lese mir laut haupt auszumachen. Dann sieht man Zeitgefühl im Einklang sind, ich in mir etwas Geschriebenes vor – bin das Me- zwei Ansätze: Zum einen, das Kleine angekommen bin und mich jenseits dium meiner selbst. groß machen (also nicht als „der Ver- aller Ergebnisorientierung an einen Dabei verfolge ich kein Programm. steher“ angebliche Wahrheiten für Fol- lower in Würfelform zurechtzumini- mieren) – sondern genau hinzusehen Wenn dann noch ein Gärungsgetränk und und die vermeidlichen Belanglosigkei- ten als Sensationen zu nehmen) – zum ein leichtes Nervengift dazu kommen, ist anderen: Dinge zusammenzubringen, es eine Art Rock’n’Roll am Schreibtisch. die nicht zusammengehören. Prinzip Collage also, oder: Ausgleich durch Unordnung, um einem System näher Zustand der Schöpfung anzubinden Ich versuche, im Leben so gut wie mög- zu kommen, das wir nicht verstehen verstehe. Der innere Blick kanalisiert lich zu funktionieren, Kompromisse können. sich, wird zum Tunnelblick, auf den und Konventionen einzugehen, und Bildschirm gerichtet; zugleich erwei- das ist völlig okay für mich; bitte, so Der Tag danach tern die Gedanken ihre Kreise, flüchten wenig Widerstände wie möglich, denn Wie sehr ich beim Schreiben als Medi- aus meinen engen Denkmarkierungen ich brauche meine Kraft. Allerdings um meiner selbst auch neben mir stehe, und dringen dabei, ein weiteres Para- muss ich Konventionen nicht auch merke ich, wenn ich am nächsten Mor- dox des Schreibens, tiefer in mich ein. noch in der Kunst haben. Hier ist die gen aufwache und nicht mehr weiß, wo Wo liegen die Grenzen, die meine Ver- Rücksichtslosigkeit mein Freund und ich in der Nacht zuvor gewesen bin. An nunft mir aufzwingen will? Partner. Und also ist es mein lyrisches welche Ufer habe ich mich, wurde ich, Wenn es zu laufen beginnt, sich also Programm, keines zu haben. wurde ich von mir hingespült? Welche Text ergibt, ist es eine beinahe spiri- Mir geht es in der Poesie ums Zu- mentalen Schlingen und Winkelzüge tuelle Erfahrung, wenn dann noch lassen, um den unbewussten Entgren- habe ich vollzogen? Im „Rückerobern“ ein Gärungsgetränk und ein leichtes zungszustand, den dunklen Funken- des frisch Geschriebenen, im Hinterher- Nervengift dazu kommen, ist es eine schlag, darum, den Möglichkeiten, die gehen, ja Hintergehen von Stimmungen Art Rock’n’Roll am Schreibtisch. Ich sich auftun, Raum zuzugestehen. und Gefühlen liegt ein erstes Moment denke an die Amazonas-Indianer, die Das heißt gereimt und ungereimt, der Selbsterkenntnis. Lévi-Strauss in den 30er-Jahren des flach und tief, bunt und schwarzweiß, Indem ich einen aus mir entstande- vorigen Jahrhunderts qua teilnehmen- hässlich und schön, heiter und ernst, nen Texte lese, begebe ich mich, diesmal der Beobachtung begleitet hat: Nachts heiß und kalt, ein Wandeln am Rande mit einem reflektierteren Sensorium singen und sich berauschen – und erst des Abgrunds, ein Schweben in Sphä- als im Moment des Schreibens, auf die zum Sonnenaufgang schlafen legen; ren des Hans-Guck-in-die-Luft, gern Spuren meiner selbst, meiner aufgelese- dann bis mittags schlafen – was ja auch schreibe ich auch Gedichte für Kinder nen Wahrnehmung. Ich bin auf der Su- Sinn macht: der Dunkelheit, dem Ver- oder verfalle der Visualität der Schrift che nach dem, was mich ausmacht, was borgenen, den Fraßfeinden mit Vitali- in konzeptuell angelegten Texten, etwa mich umtreibt, darf Goldschürfer mei- tät zu trotzen und zu ruhen, wenn das für den Kunstraum. Auch das kann ner selbst sein: Bürste ich genug gegen Licht es den Sinnen – der Mensch ist eine poetische Selbsterfahrung sein: den Strich? Erzeuge ich genug Reibung, ein Augenmensch – einfacher zu ma- sich vor einem kreisförmig gesetzten um zu merken, dass ich lebe? Übertra- chen versteht. visuellen Gedicht, welches in fünf gen sich Überschwang und Lebenslust? Wenn es läuft, sitze ich oftmals Meter Durchmesser via Schablone an Bekomme ich im Dunkeln etwas ange-

SEITE 68 VOLLTEXT 2/2017 ARNE RAUTENBERG leuchtet? Ist ausreichend Undurchdach- meinen Tod hinaus lesbar bleibe. Was das Scheitern als Chance, auch als eine tes im Text geblieben? vielleicht nicht für viele wichtig ist, aber intellektuelle Grenzerfahrung an, ich Wenn mir ein Text nach einer gewis- vielleicht doch für die, denen ich wich- wandel am Abgrund, schaue und stei- sen Liegelänge gelungen scheint, kann tig bin. Kurz: Etwas, das mich ausmacht, ge hinein, dahin gehen, wo es weh tut, ich ihn rausgeben zur Veröffentlichung. ist zum Hinterlassen da. Eine Spur. Po- die Lieben, die Eltern, die Kinder, der Wenn er mir misslungen scheint, packe esie ist für mich, die Spur der Einma- Tod, das Naive an allem, die Dinge ein- ich ihn in einen Ordner mit dem Titel ligkeit zu setzen, die meine Existenz fach mal so nehmen, wie sie sind, und „Halbfertigkeiten“ – dessen Dateien ich, ausmacht. Das mag nicht viel sein. Aber nichts hinzufügen, sie stehen lassen, wenn mir nichts Besseres einfällt, immer vielleicht ist für eine überschaubare bedenkt sehen und so neu und wie- mal wieder durchkämme. So kann ich auf Zeit eine Spur mehr als keine Spur. Als der und vielleicht einmal im richtigen die Frage: Wie lange dauert ein Gedicht? Schöpfer, als Schöpfer von Text fühle Licht sehen, die Welt als Wunder, die nur antworten: Zwischen zehn Sekunden ich mich so dem Rausch einer fiktiven Welt der Kleinigkeiten als Wunder fei- und zehn Jahren ist alles möglich. Zehn Ewigkeit angebunden. Möglicherweise ern, ich als du, du als ich, wir tauschen Sekunden: der mir vielleicht viermal im ist das Sich-berauschen an einer fiktiven unsere Häute, gehen in uns, durch- Jahr widerfahrende Streich, der sofort Ewigkeit nicht mehr als eine (mir nötig dringen uns, und da erst spüre ich, was gelingt. Zehn Jahre: ein vielleicht guter scheinende) Behelfskonstruktion zur du mit mir machst, was das mit mir Anfang eines Textes, den ich vor einer De- Selbstüberlistung, um den Gedanken macht, schon bin ich mir Ablassventil, kade anging, kann nun, mit dem taufri- an die Endlichkeit all dessen, was mir Tränenkrüglein, gehe im Augenblick schen Blick fortgeschrittener Erfahrung etwas bedeutet, ertragen zu können. auf, eine zen-hafte Erfahrung, jeden- und Veränderung seinen entsprechenden Schreiben als Seelenbalsam. falls reicht der Zustand aus, mir das als Fortgang zur Fertigstellung erfahren. Zudem genieße ich, Teil eines gro- eine solche vorzustellen, und schon Jedenfalls finde ich über die Refle- ßen Gesprächs zu sein. Poesie ist ja gehe ich in der Kunst auf, die mich xion des Geschriebenen (nennen wir der weltweite und zeitübergreifende berührt, ich habe mehr Einfälle, wäh- es ruhig Überarbeitung), über das „es Code der Feinsinnigen. Indem ich mich rend ich mich in Museen aufhalte, als schreibt“ zu einem „ich schreibe“ zurück. über Lektüre mit dem gemein mache, während ich mich in der Natur aufhal- Und ich trage die Selbsterkenntnis, die was ein inzwischen Verstorbener oder te, Max Ernst, die Jungfrau züchtigt das ich daraus gewinne, für alle weiteren fernab auf diesem Planeten lebender Jesuskind, Noldes Wolken im gelben Texte in und mit mir. Mensch in einem Gedicht hinterlassen Himmel, die aussehen wie faulende Das Verrückte beim Schreiben (etwa hat, indem mich sein oder ihr Gedicht Auberginen, die Weltuntergangsstim- im Gegensatz zur Bildenden Kunst) befeuert, mir neue Denk- und Dach- mung bei Radziwill, das lange Schwert ist ja, dass ich etwas von mir gebe, das kraft gibt, indem mich ein Gedicht zu von Barlachs Geistkämpfer, van Goghs ich bei mir behalten kann. Die Rede ist einem anderen Gedicht animiert, bin Sonnenblumen, da, Emily Dickinson von Momenten, in denen der Text zur ich Teil des großen Gesprächs. Umkehr- erwartet nach einem langen Winter Performance kommt, also von Lesun- schluss: anderen bin ich mit meinen die Bienen zurück oder Lemmy Kil- gen oder Veröffentlichungen. Der Text Gedichten Funkenschlag über Zeit und mister hilft mir, meinem Drang nach bleibt mir, und wenn ich ihn brauche, Raum hinweg. Mir ist das wie ein stil- Zerstörung nachzugehen, ich gehe mit ist er da. Und so ist das Schreiben ein In- ler Triumph: denn mein Denken reicht der Kettensäge durch Teletubbi-Land, strument der doppelten Selbsterkennt- zum Durchdringen größerer Zusam- spiegel mich, googel meinen Namen, nis: einmal über die Reflexion des Ge- menhänge nicht aus; doch schreibe ich um zu sehen, dass es mich gibt, zerstö- schriebenen, einmal über die Reaktion weniger, um die Sprache der Erklärung re mein Spiegelbild, ergehe mich in Er- aufs Geschriebene. zu bedienen, sondern vielmehr, um innerungen, schweife ab, lasse es lau- Nach dieser doppelten Selbster- mich mit der Sprache der Poesie an der fen, erzähle in Gedichtform von mir kenntnis bin ich süchtig und für die- Verklärung zu beteiligen, quer durch und meinem Leben, einfach so, 1:1, se doppelte Selbsterkenntnis bin ich alle Wahrscheinlichkeiten der Sterbeta- Magic Moments, entscheidende Be- dankbar. Sie ermöglicht mir, meine feln hindurch etwas in die Welt hinein gegnungen, gehe in Wörtern auf, wie Konturen, meine Tiefen, Kanten und zu zaubern, zu verschleiern und so dem durchschraubbar ich bin, Mutter, lese Rundungen zu erkennen. Sie ist mir Wesen des Tatsächlichen im Angesicht in Splittern der Weltgeschichte, im Fa- Seelenhygiene. wahrhafter zu begegnen. milienalbum, „lustiger Abend auf Stu- Die Summe meiner Texte ist darüber be 14“, Putin, Geiseln in der Gasanlage hinaus mein emanzipiertes Tagebuch, Mäandern von Algerien, werde plötzlich riesen- was bedeutet, dass die mir wichtigen Das Abenteuer des grenzenlosen groß und unfassbar, wachse aus mir Wegmarken meines Lebens einen Platz Mäanderns, es ist wirklich eins, und heraus, kann das Haus verlassen, kann zugewiesen bekommen und ich über so nehme ich die Herausforderung, alle Häuser verlassen, habe die tota-

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 69 ARNE RAUTENBERG le Übersicht, kann in dreißig Zeilen kommst du geschneit, du wohnst in entschiedenheit und Vielheit, die Mög- den Plastikmüll der Meere erklären, den Wolken, dein Gang ist so geil, wie lichkeit bleibt erregender als die pro- Schreiben ist nicht nur, wie der Kieler ich Kind meiner Zeit bin, die Stimme grammatische Beschränkung, welche Lyriker Hans-Jürgen Heise es bezeich- von Damon Albarn im Gedicht singen mit ihrer Begreifung einher geht, man nete „Reisen ohne Gepäck“, schreiben lasse, Google Earth zur tragenden Idee tritt sicher nicht an, um Regeln oder ist auch zeitreisen ohne Gepäck, und eines Textes wird oder das Moment Erwartungen zu bestätigen, die andere indem ich die Alten lese und so schrei- eines völlig irrwitzig abgehängten aufgestellt haben, William Blake: „Ich bend ein anderer werde, bin ich wie Rankings der gesammelten Gedichte muss ein System erschaffen, weil ich ein Yanomami-Indianer, der die Asche von Bertolt Brecht am 27.03.2011, am nicht Sklave eines Systems sein will, das ein anderer Mann schuf“, und so gerät die Poesie zu einem Instrument, Meine Idee des guten Lebens: etwas aus um in der geistigen Landschaft einen mir selbst heraus erschaffen, das ich nicht Schleichpfad hin zur Verführung (oder Erlösung?) durch eine zeitlose, künstle- voll durchdringe, das die Kraft hat, mich rische Freiheit zu öffnen – bevor alles schon wieder von der Super-Herrschaft zu überraschen. der Ratio plattgewalzt und zubetoniert worden ist – damit hinterher ein Park- seiner Ahnen in den Brei einrührt, um Tag von Fukushima, wie ich Konflikte platz mit aufgemalten Parkbuchten für sie in sich aufzunehmen, um daran zu austrage und offene Wunden herzeige, verinnerlichte Gemeinplätze daraus wachsen und Teil von etwas Größeren um mehr darin zu sehen als eine Nie- wird. zu sein, wie ich mich mittels Parodien, derlage, wie mich die Idee, die Existenz Pastiches, Camouflagen neben wuchti- ist Zufall und der Zufall ist eine kausa- Einmal festhalten ge Texte stelle, sie umkreise, merke ich, le Kette von Abfolgen, die man nicht Meine Idee des guten Lebens: etwas ich umkreise doch wieder nur mich, mehr ad infinitum zurückverfolgen aus mir selbst heraus erschaffen, das in einem Tanz, in Posen und Masken, und damit verstehen kann, elektrisiert, ich nicht voll durchdringe, das sich an der Mensch, so Nietzsche, entfaltet was gab den ersten Anstoß, wer oder etwas Faustdickeres anbindet, das die seine Hauptkräfte in der Verstellung, was hat das Nächste, das Neue in der Kraft hat, mich zu überraschen. Und Formen der Selbstüberlistung, Zerstö- Beißzange, wie sich der Raum in der das, wenn es einmal in der Welt ist, rung des Selbstbildes oder unentschie- Nutzlosigkeit zu öffnen und auszuwei- mir wieder Erkenntnisse (über mich) den mit sich selbst sein, sich als Person ten beginnt: es geht sicher nie darum, zurückspiegelt, die mich meiner selbst mit vollem Namen und für alle lesbar Druck auszuüben und andere zu kon- mehr bewusst werden lassen, sodass in ein Gedicht einschreiben, zu einem trollieren, sondern im Gegenteil, ich ich mein Selbstbewusstsein daraus Ich stehen, das Fassade wird, weiter, beharre auf der Existenz des Geheim- ziehen kann. Ich kann sagen, dass ich näher heran an den Feind, die ablau- nisses und möchte diesem Geheimnis danach süchtig bin. Sicher habe ich fende Zeit, der Wunsch, sich mit der in meiner Arbeit stets mehr Raum ver- damit auch den Schlüssel der Selbst- Endlichkeit zu verbinden, die Gewalt schaffen, es gilt, jenseits des gewohnten therapie um den Hals. Unfertig bin der Pflanzen, der so langsam wachsen- Lebens das gewohnte Denken in Frage ich, unfertig ist jeder Mensch, dahinter den Pflanzen abfeiern, welche unsere zu stellen, darauf hinzuweisen, dass es steckt die Hoffnung, dass noch etwas Ruinen schon bald überwuchern, wie noch etwas anderes gibt, als Systeme kommt, jedenfalls ist es das Unfertige, ich plötzlich innehalte und den Raum der Vergleich- und Bewertbarkeit zu und ich weiß: Wir werden immer un- allen Schweigens ermesse: du denkst bedienen, ich wehre mich gegen die fertig bleiben. So auch jetzt. So auch // du hast etwas zu sagen, wie ich alles Behauptung von so muss es sein!, ich ich. So auch hier. für ein Gedicht tue, einer Schnapsidee glaube nicht an so muss es sein!, ganz folge, Haikukränzchen im Café Kranz- und gar nicht glaube ich daran, man Arne Rautenberg, geboren 1967, lebt als ler, und dafür nach Berlin ins Café kann sogar sagen, ich kämpfe gegen so freier Schriftsteller und Künstler in Kiel. Kranzler fahre, um es aufzuschreiben, muss es sein!, was wichtig und was un- Zuletzt erschienen die Lyrikbände nulluhr- wie ich meiner Großmutter Grabsteine wichtig ist in unserer Welt ist nicht klar, null (Horlemann, 2017) und unterm bett liegt erschreibe, mich in Konzepten verliere alles ist Teil eines größeren, stets hö- ein skelett (Peter Hammer Verlag, 2016). und plötzlich gegen ABC-Windmüh- heren Strebens, ich glaube daran, dass Der hier abgedruckte Text basiert auf einem len anreite, wie ich aus der Notgeil- sich das Wichtige von allein zeigt und am 12.05.2017 im Rahmen der Veranstal- heit heraus meinen Sehnsuchtsraum so ist das Zulassen mir Wegmarke, alles tungsreihe „Literatur und ihre Vermittler“ im verkleinere, Weißröckchen, wann kann kommen, ein Hoch auf die Un- Literaturhaus Stuttgart gehaltenen Vortrag.

SEITE 70 VOLLTEXT 2/2017 Fragebogen: Gerrit Bartels

Zum Geschäft der Literaturkritik heute

Was sehen Sie als die primäre Aufgabe der Literaturkritik heute? Die wenigen guten von den vielen mittelmäßigen bis schlechten Büchern unterscheiden. Sortieren. Informie- ren. Neues entdecken. Und genau be- gründen, warum es sich lohnt, genau dieses Buch, diese Art von Literatur zu lesen. Zudem: Begeisterung für Li- teratur vermitteln und wecken. Dabei sollte im besten Fall die Literaturkri- tik selbst einen gewissen Unterhal- tungscharakter haben, um genau der Literatur, die mehr ist als bloße Unter- haltungsliteratur, zu ihrem Recht zu

verhelfen. RÜCKEIS/TAGESSPIEGEL THILO ©

Was sind die größten Herausforderun- FOTO: gen/Probleme für die Kritik heute? Gerrit Bartels: „Es ist nicht so leicht, sich dem Druck zu widersetzen.“ Es ist nicht so leicht, sich dem Druck zu widersetzen, der von außen auf Spielen literaturwissenschaftliche Joachim Kaiser, wenn er über Litera- die Literaturkritik ausgeübt wird: Die Theorien eine Rolle für Ihre tur schrieb, und vor allem Reinhard Verlage, die bestimmte Bücher pus- Tätigkeit als Kritiker? Baumgart lieber und näher, wohltu- hen wollen, selbst wenn sie nicht gut Ich würde lügen, wenn dem bei jeder end unaufgeregt, frei von Apodiktik. sind, die Bestsellerlisten, die angeb- Rezension, die ich schreibe, so wäre. Und heute? Gibt es einige, Jörg Mage- lich vermitteln, „was gelesen wird“, die Sie helfen sicher manchmal, wenn es nau zum Beispiel, Julia Encke, Chris- Erwartungen von Menschen, die am gilt, die Form über den Inhalt zu stel- toph Schröder … liebsten im Urlaub lesen oder eben len, wenn es gilt, größere Zeiträume die Bücher, die gerade alle lesen, und in der Literatur zu überblicken, was Wie viele Bücher muss ein Kritiker die meinen zu wissen, wie Literatur- ja immer nur mit einem gewissen Ab- gelesen haben, um kompetent kritik sein muss. Warum besprecht ihr stand geschehen kann, und doch sind urteilen zu können? Wie viele haben nicht den neuen Suter? Warum igno- Literaturkritik und Literaturwissen- Sie gelesen? riert ihr den neuen Irving? Überdies schaft zwei unterschiedliche Felder Was für eine Frage! Muss man wirk- wird das Verlangen immer größer, – was man immer auch merkt, wenn lich so viel gelesen haben? Die Masse dass es schnell gehen muss, dass Bü- Literaturwissenschaftlerinnen undmacht es bestimmt nicht. Das merkt cher „empfohlen“ werden sollen oder -wissenschaftler sich literaturkritisch man allein daran, dass man in den je- eben nicht, „in aller Kürze“, dass der betätigen. weiligen Saisonen, so es sie überhaupt Daumen hoch- oder runtergehen soll. noch gibt (für die Verlage ist inzwi- Ein Für und Wider zu diskutieren, Welche LiteraturkritikerInnen schen das ganze Jahr Saison), viel zu abzuwägen, das wird immer schwieri- schätzen Sie am meisten? viel liest. Wichtiger ist, wie man liest, ger. Ein Keulenschlag ist es jedes Mal, Für welche Qualitäten? wie sorgfältig man liest. Auch wichtig: wenn jemand nach der Lektüre einer Den Fernsehkritiker Marcel Reich-Ra- ein bestimmter Kanon, der individuell Rezension von mir sagt: Ich weiß jetzt nicki habe ich früher immer sehr ge- ganz verschieden sein kann und den gar nicht, ob du das Buch gut oder schätzt, im Literarischen Quartett. man stets gewahr und, so es die Zeit schlecht fandest. Als schreibende Kritiker waren mir zulässt, vertiefen sollte.

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 71 FRAGEBOGEN / PREISE

Wie viele Neuerscheinungen lesen von Sturmfluten des Frühlings, was ich Was lesen Sie, das nichts mit dem Sie pro Jahr? als Parodie auf einen Roman von Sher- Beruf zu tun hat? Siehe oben – vielleicht eine pro Woche? wood Anderson überhaupt nicht ver- Sehr regelmäßig, sehr aufmerksam die Jedenfalls zu viele, die oft davon ablen- stand, über Fiesta, was ich großartig Sportteile von Süddeutscher Zeitung ken, dass so viele bessere Bücher schon fand, bis zu Paris, ein Fest fürs Leben, und Tagesspiegel. Jedes Buch, das ich geschrieben worden sind, man aber was mir schließlich haufenweise ande- mit in den Urlaub nehme und keine nicht dazu kommt, sie zu lesen. Trotz- re Schriftsteller offerierte, die ich lesen Neuerscheinung ist, das ich wiederle- dem: Einen neuen Bolaño, einen neuen wollte, allen voran F. Scott Fitzgerald. se, das den eigenen Kanon vertiefen Herrndorf entdecken zu wollen – dieser Ja, und so ging es weiter, auch mit den soll – am Ende hat es doch wieder mit Reiz verkümmert nie. deutschsprachigen Autoren, mit Böll, dem Beruf zu tun. Johnson, Handke, Grass, Bernhard, Welche AutorInnen haben Ihnen mit dann Thomas Mann, Musil, Proust Haben Sie in Ihrer Laufbahn als Kriti- 15 gefallen, welche schätzen Sie heute? und Joyce. ker je ein Urteil grundlegend revidie- Mit 15 habe ich noch Jugendbücher, Wen schätze ich heute? Manches von ren müssen? an die ich mich nicht mehr erinne- Hemingway geht überraschenderweise Grundlegend sicher nicht. Im Nach- re, die Lustigen Taschenbücher und immer noch, auch Fitzgerald, Proust ist hinein, so kommt es mir vor, war ich Jerry Cotton gelesen – ich glaube, ich ein Lebensautor. Wirklich beglückend sicher das eine oder andere Mal zu war 16 oder 17, als mein Vater mir an ganz neuen Sachen, weil so seltsam, freundlich, zu milde. die Jerry-Cotton-Hefte tatsächlich so anders, so neben der Spur, war Ro- verbot (er war sonst nicht so) und berto Bolaños 2666, eigentlich fast alles Gerrit Bartels, Jahrgang 1967, ist Literatur- mir anschließend Hemingways Ge- von diesem leider schon so früh verstor- redakteur des Berliner Tagesspiegels. Zuvor sammelte Werke in so einer braunen benen Chilenen, dann Herrndorf, Kur- war er Literaturredakteur bei der taz und Rowohlt-Billigtaschenbuchausgabe zeck, auch Knausgård, ja, doch, es gibt arbeitete als Arzt in der Inneren Medizin und schenkte. Die habe ich dann gelesen, so einiges. Psychiatrie.

Preis-Telegramm

Astrid Lindgren Memorial Award Kreidl und Anna Weidenholzer Süßmuth, Stefanie Schüler-Springorum, Preisträger: Wolf Erlbruch Dotierung: je € 57.600 Johano Strasser, Hubert Winkels, Jutta Sauer, Dotierung: 5 Millionen SKR (€ 522.000) Tilman Westphalen, Thomas Schneider, Georg-Büchner-Preis Wolfgang Griesert, Sven Jürgensen Preis der Leipziger Buchmesse Preisträger: Jan Wagner Preisträgerinnen: Natascha Wodin Dotierung: € 50.000 Österreichische Staatspreis (Belletristik), Barbara Stollberg-Rilinger für europäische Literatur (Sachbuch/ Essayistik) und Joseph-Breitbach-Preis Preisträger: Karl Ove Knausgård Eva Lüdi Kong (Übersetzung) Preisträgerin: Dea Loher Dotierung: € 25.000 Dotierung: insgesamt € 60.000 Dotierung: € 50.000 Jury: Kristina Maidt-Zinke, Maike Albath, Heinrich-Böll-Preis Friedenspreis des Alexander Cammann, Gregor Dotzauer, Preisträger: Ilija Trojanow Deutschen Buchhandels Meike Feßmann, Burkhard Müller, Dotierung: € 30.000 Preisträgerin: Margaret Atwood Jutta Person Jury: Christof Hamann, Guy Helminger, Eva Dotierung: € 25.000 Menasse, Ulrich Peltzer, Andreas Platthaus, Jury: Philipp Blom, Stephan Detjen, Stefan Man Booker International Prize Henriette Reke Könemann, Karl-Josef Kuschel, Felicitas von Preisträger: David Grossman, Jessica Cohen Lovenberg, Ethel Matala de Mazza, Janne Dotierung: £ 50.000 (rund € 57.000) Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis Teller, Matthias Ulmer, Heinrich Riethmüller Preisträgerin: Aslı Erdoğan Robert-Musil-Stipendien Dotierung: € 25.000 Thomas-Mann-Preis Preisträger: Franz Josef Czernin, Margret Jury: Wolfgang Lücke, Heribert Prantl, Rita Preisträgerin: Brigitte Kronauer

SEITE 72 VOLLTEXT 2/2017 PREISE

Dotierung: € 25.000 Paul-Celan-Preis Preisträgerin: Elif Shafak Jury: Friedhelm Marx, Michael Krüger, Birte Preisträgerin: Christiane Körner Dotierung: € 10.000 Lipinski, Martin Mosebach, Hans Pleschinski, Dotierung: € 15.000 Gabriele Schopenhauer, Thomas Sprecher Jury: Hinrich Schmidt-Henkel, Gabriele Gutenberg-Preis der Stadt Leupold, Burkhart Kroeber, Miriam Preisträger: Klaus Detjen Robert Gernhardt Preis Mandelkow, Gunther Nickel Dotierung: € 10.000 Preisträgerinnen: Maike Wetzel, Daniela Dröscher Österreichischer Kunstpreis Georg-Christoph-Lichtenberg-Preis Dotierung: insgesamt € 24.000 für Literatur Preisträgerin: Silke Scheuermann Preisträger: Wolf Haas Dotierung: € 10.000 Internationaler Literaturpreis – Dotierung: € 15.000 Haus der Kulturen der Wel Literaturpreis Wartholz Preisträger: Fiston Mwanza Mujila / Peter-Weiss-Preis Preisträger: Cedric Weidmann (Literaturpreis Katharina Meyer und Lena Müller der Stadt Bochum Wartholz), Sebastian Hage-Packhäuser (Land (Übersetzung) Preisträger: Milo Rau Niederösterreich Literaturpreis), Markus Liske Dotierung: € 20.000 / Dotierung: € 15.000 (Publikumspreis), Monika Koncz (Newcomer- € 15.000 (Übersetzung) Preis), Gertraud Klemm (Bader-Waissnix- Jury: Verena Auffermann, Jens Bisky, Literaturpreis der Stiftungspreis) Frank Heibert, Jens Hillje, Michael Krüger, Konrad-Adenauer-Stiftung Dotierung: € 10.000 (Literaturpreis Marko Martin, Sabine Scholl Preisträger: Michael Köhlmeier Wartholz)/€ 5.000 (Land Niederösterreich Dotierung: € 15.000 Literaturpreis)/€ 2.000 (Publikumspreis)/ Literaturpreis des Kulturkreises Jury: Oliver Jahraus, Christine Lieberknecht, Buchveröffentlichung/€ 1.000 (Bader- der deutschen Wirtschaft Felicitas von Lovenberg, Ijoma Mangold, Waissnix-Stiftungspreis) Preisträgerin: Ulrike Sandig Gerhard Lauer, Birgit Lermen Jury: Olga Flor, Angelika Klammer, Dotierung: € 20.000 Michael Stavaric Wynfrid Kriegleder Jury: Bettina Fischer, Regina Dyck, Pulitzer Preis Bettina Oberender, Claudia Hamm, Preisträger: Colson Whitehead Vorarlberger Literaturpreis Dirk Hülstrunk, Nina Hugendubel Dotierung: $ 15.000 (rund € 14.000) Preisträger: Sarah Rinderer / Michael Vögel (Arbeitsstipendium) Friedrich-Hölderlin-Preis Alemannischer Literaturpreis Dotierung: € 7.000 / € 1.500 Preisträgerin: Eva Menasse/ Preisträger: Arno Geiger (Arbeitsstipendium) Nele Pollatschek (Förderpreis) Dotierung: € 10.000 Dotierung: € 20.000 / € 7.500 (Förderpreis) Hohenemser Literaturpreis Jury: Sandra Kegel, Alexander Hetjes, Literaturpreis des Landes Steiermark Preisträger: Selim Özdogan Gerhard Kurz, Sabine Doering, Heinz Drügh, Preisträger: Clemens J. Setz / Natascha Gangl Dotierung: € 7.000 Alf Mentzer, Christoph Peters (Literaturstipendium) / Christoph Szalay Jury: Anna Mitgutsch, Sudabeh Mohafez, („lichtungen“-Stipendium) Zafer Şenocak Kleist-Preis Dotierung: € 10.000 / € 5.000 Preisträger: Ralf Rothmann (Literaturstipendium) Düsseldorfer PoesieDebütPreis Dotierung: € 20.000 Preisträgerin: Maren Kames Juror: Hanns Zischler Outstanding Artist Award Dotierung: € 5.000 für Literatur Italo-Svevo-Preis Preisträgerin: Anna Weidenholzer Stefan-Andres-Preis für Literatur Preisträgerin: Zsuzsanna Gahse Dotierung: € 10.000 deutscher Sprache Dotierung: € 15.000 Preisträgerin: Gila Lustiger Jury: Katharina Teutsch, Sebastian Guggolz, Österreichischer Staatspreis Dotierung: € 5.000 Wolfgang Hegewald für Literaturkritik Preisträgerin: Evelyne Polt-Heinzl Frau-Ava-Literaturpreis Gert-Jonke-Preis Dotierung: € 10.000 Preisträgerin: Katharina Bendixen Preisträger: Paul Nizon Dotierung: undotiert Dotierung: € 15.000 Ehrenpreis des Jury: Christa Gürtler, Barbara Neuwirth, Jury: Angelika Klammer, Alexandra Pontzen, Österreichischen Buchhandelsfür Toleranz Evelyne Polt-Heinzl, Brigitte Schwens- Norbert Wehr in Denken und Handeln Harrant, Elisabeth von Leon, Erika Schuster

VOLLTEXT 2/2017 SEITE 73 TERMINE

Festivals & Veranstaltungen

lung will Graf jenseits der Klischees als in- nach Erlangen kommen. Mittelpunkt des ternationalen und modernen Schriftsteller traditionsreichen Literaturfestivals sind die zeigen. Im Mittelpunkt stehen sein Leben langen Lesenachmittage am Samstag und und Schreiben in den Jahren des Exils und Sonntag im Erlanger Schlossgarten. Das die Frage nach der „wahren Heimat“. detaillierte Programm wird Ende Juli auf www.literaturhaus-muenchen.de der Website veröffentlicht. www.poetenfest-erlangen.de VERSTÖRUNGEN 2017 – EIN FEST FÜR THOMAS BERNHARD POETISCHE QUELLEN Die sechste Auflage der „Verstörungen“ in Vom 23. bis 27. August findet das Interna- Goldegg ist unter anderem der Beziehung tionale Literaturfest „Poetische Quellen“ von Thomas Bernhard zu in Bad Oeynhausen und Löhne statt, das in gewidmet. Vom 21. bis 24. September seiner 16. Auflage unter dem Motto „Erneu- lesen u.a. Friedrich Ani, Jens Harzer, Albert erung“ steht und literarischen Neuentde- Ostermaier, Hans Platzgumer, Aglaia Szys- ckungen viel Platz einräumen will.

FOTO: © STAATSBIBLIOTHEK MÜNCHEN / BILDARCHIV / MÜNCHEN STAATSBIBLIOTHEK © FOTO: zkowitz, Peter Lohmeyer und Aleš Šteger. www.aquamagica.de www.verstörungen.at OSKAR MARIA GRAF – LIT:POTSDAM REBELL, WELTBÜRGER, ERZÄHLER ERLANGER POETENFEST Vom 5. bis zum 9. Juli findet die 5. Ausgabe Mit dem von Exil und Staatenlosigkeit ge- Zum 37. Mal findet vom 24. bis 27. August von LIT:potsdam statt – mit Lesungen von prägten Leben des bayerischen Schriftstel- das Erlanger Poetenfest statt. Über 80 Hanns-Josef Ortheil, , Olga lers Oskar Maria Graf beschäftigt sich eine Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Grjasnowa, Navid Kermani, Senthuran Ausstellung des Literaturhauses München, Publizisten und Literaturkritiker werden zu Varatharajah, John von Düffel u.v.m. die bis 5. November 2017 läuft. Die Ausstel- Lesungen, Gesprächen und Diskussionen http://www.litpotsdam.de

Impressum Herausgeber Thomas Keul, Fatima Naqvi, Christian Reder Medieninhaber Thomas Keul Geschäftsleitung Thomas Keul Redaktion Teresa Profanter AutorInnenen Thomas Ballhausen, Michael Braun, Arno Geiger, Norbert Gstrein, Katrin Hillgruber, Felix Philipp Ingold, Angelika Klammer, Alexander Kluge, Thomas Lang, Andreas Maier, Christoph Schröder, Uwe Schütte, Daniela Strigl, Klaus Zeyringer Typografisches Konzept Rainer Dempf Produktionsleitung Markus Raffetseder JÜRGEN BAUER / LITERATURFOTO.NET / BAUER JÜRGEN Anzeigenverkauf Büro für Branchenkommunikation – © Hanne Knickmann (D) Druck Niederösterreichisches

Pressehaus Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., FOTOS: Gutenbergstraße 12, 3100 St.Pölten Zu Gast bei den O-Tönen: Eva Menasse und Florjan Lipuš Erscheinungsweise Vier Ausgaben pro Jahr Erscheinungsort Wien Vertrieb Österreich Morawa Vertrieb International IPS Pressevertrieb Literaturfestival O-Töne Verlagspostamt A–1150 Wien Anschrift Redaktion Goldschlagstr. 78/22, 1150 Wien on 6. Juli bis 24. August präsentiert das Literaturfestival O-Töne im Wiener Mu- E-Mail [email protected] Internet www.volltext.net seumsquartier diesen Sommer wieder 16 Autorinnen und Autoren mit ihren Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 1/2017 V Jahresabonnement 4 Ausgaben € 19 (Einzelpreis aktuellen Büchern. Die Lesungen finden jeweils am Donnerstag um 20.00 Uhr unter € 5,90). Namentlich gekennzeichnete Beiträge freiem Himmel statt. Die Eröffnung bestreiten dieses Jahr Eva Menasse mit ihrem spiegeln nicht unbedingt die Meinung des Medien- neuen Roman Tiere für Fortgeschrittene und Birgit Birnbacher, die ihr mehrfach aus- inhabers wider. Die Publikation von VOLLTEXT gezeichnetes Debüt Wir ohne Wal vorstellen wird. Zum Abschluss im August liest wird vom Bundeskanzleramt unterstützt. Florjan Lipuš aus seinem im Herbst erscheinenden Buch Seelenruhig. Weitere Infor- mationen: www.o-toene.at.

SEITE 74 VOLLTEXT 2/2017 José Luís Peixoto

Roman

»Eine großartige Familiensaga – durchzogen von Liebe, Betrug und großen Hoffnungen, geschrieben mit großem Verständnis für die verschiedenen Generationen und Spannungen zwischen diesen.« The Times

»Eine Geschichte durchzogen von Sex und Verrat, von Ambition und Frustration, vom zumeist vereitelten Wunsch zu gefallen … Peixoto hat ein unnachahmliches Gespür für Rhythmus und einen scharfen Blick für leuchtende Bilder.« Independent

Aus dem Portugiesischen von Ilse Dick

José Luís Peixoto Friedhof der Klaviere Roman

Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen 320 Seiten,23,00 €, ISBN: 978-3-902711-67-0

www-septime-verlag.at Philipp Schönthaler bei Matthes & Seitz Berlin

»Wie Schönthaler die Figuren in einer impulsiven, faktengesä igten Sprache denken und miteinander reden lässt, ist so beeindruckend wie erschreckend.«

ANJA HIRSCH, FAZ

»Von diesem Autor kann man was lernen!«

SONJA STEPHAN, LESARTEN

»Die Erzählungen leben von ihrem dynamischen Sound, ihrer Präzision und Detailverliebtheit […]. So entsteht eine visionäre Energie, die Kunstfertigkeit und Gesellscha‡ skritik literarisch klug zusammenbringt.«

BJÖRN HAYER, BERLINER ZEITUNG Kathrin Schoenegg Kathrin

Foto

Das Schiff das singend zieht Vor Anb ruch der Morgenröte auf seiner Bahn Erzählungen Roman 213 Seiten, geb. mit Schutzumschlag 274 Seiten, geb. mit Schutzumschlag 978-3-95757-404-6, 20,00 Euro (D) 978-3-88221-074-3, 19,90 Euro (D)

Portrait des Managers als junger Autor Nach oben ist das Leben offen Zum Verhältnis von Wirtschaft und Literatur Erzählungen 168 Seiten, Klappenbroschur 201 Seiten, geb. mit Schutzumschlag 978-3-95757-266-0, 15,00 Euro (D) 978-3-88221-584-7, 19,90 Euro (D) Matthes & Seitz Berlin Seitz & Matthes // Alle Bücher auch als E-Books erhältlich. Preise und Anhaben ohne Gewähr.