Bizarre Welten
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Barbara Raschig Bizarre Welten Ror Wolf von A bis Z Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität-Gesamthochschule Siegen Siegen im April 2000 A Ach — ein schonender Anfang 1 B Bizarre Welten — phantastische Entdeckung hinter dem Haus 1 C Collunder, Lemm, vor allem Wobser — eigenwillige Komik 13 D Dämmerlicht und Nebelschwaden — zur Befindlichkeit 24 E Ergebnislosigkeit — das Prinzip des Scheiterns und das Absurde 29 F Filmästhetik — Cuts, Montage, Überblendungen 30 G Gattungsmetamorphosen — das intertextuelle Spiel mit den Genres 38 H Helmut Heissenbüttel und Peter Weiss — gemeinsame Voraussetzungen 46 I Imagination — Reisebeschreibung ohne Reise 65 J Jeder, jede, jedes — so oder so: kontingente Eindeutigkeit 67 K Kalkulation, Kombination, Kompilation — das Schreibverfahren 70 L Literarisches Kreuzworträtsel — Ror Wolf und seine Leser 81 M Mehrere Männer — das Prinzip des Seriellen 83 N Nirgendwo und Überall — zur Verräumlichung 85 O Orgiastische Turbulenzen — der Eros im Hinterzimmer 92 P Pilze, modrige — Hugo von Hofmannsthal: Der Brief des Lord Chandos 94 Q Quer über den Atlantik — Richard Brautigan: ‚postmoderner’ Zeitgenosse 96 R Rhythmus und Klangqualität — die Materialität der Sprache 106 S Sprachkritik gleich Gesellschaftskritik — Purismus versus Wucherung 115 T Trivialmythos — ‚Fußball’ als literarisches Sujet 123 U Ungeziefer, lebensgroß — eine Collage von Ror Wolf 128 V Virtuos verschwinden — Helden, die keine mehr sind 128 W Weltverdrehungen und Wortverwüstungen — Tranchirers Lehre von der Wirklichkeit 134 Z Zustimmung — Raoul Tranchirers letzte Gedanken 139 — Literatur A Ach • ein schonender Anfang Ein schonendes Buch. Es verschont den Leser, erspart ihm die Mühe des Auslesens. Es befreit ihn von der Last, so zu tun, als ob... Es erlaubt ihm, der Versuchung nachzugeben, umherzu- blättern, rückwärts zu lesen, kreuz und quer darin zu stöbern. Schließlich gibt es kein Buch, das man mit nie nachlassender, stets gleichbleibender Aufmerksamkeit lesen könnte. Möge also auch das zum Zuge kommen, was sonst keine Erwäh- nung findet: das dem Nicht-Einverständnis entspringende, ungeduldige Umher- blättern, die Unaufmerksamkeit, das Überspringen von Worten und Gedanken, die zuweilen unüberwindliche Langeweile. Oder gar das Herausreißen der Blätter. Möge das Buch zerfallen. Schließlich ist darin auch die heimliche Freude über sei- nen eigenen Zerfall mit eingebaut. Möge das, was sonst verhüllt bleibt, in seiner ganzen Nacktheit hervortreten. Ein schonendes Buch. Es läßt der Freude freien Lauf. Befreit die Freiheit des Lesers. Mit gutem Gewissen aufzuhören. Rückwärts zu lesen. Oder es nur in der Mitte aufzublättern. Es erspart dem Leser, das Gähnen zu unterdrücken. Möge er das Buch ruhigen Gewissens nach welchem Artikel auch immer beiseite legen. Womöglich für immer.1 B Biiizarre Welllten • phantastische Entdeckung hinter dem Haus Als Ror Wolf 19582 mit seiner frühen Geschichte Entdeckung hinter dem Haus debü- tierte, war der Einfluß von Kafkas Werk unverkennbar. Noch ist die (De-)Montage der traditionell erzählten Geschichte nachvollziehbar, ihr Kern ist für den Leser ersichtlich: Denn der Erzähler selbst erfährt im Verlauf seiner Beschreibung, was er eigentlich schon längst wissen müßte; das scheinbar Vergessene drängt sich ihm in schockarti- gen Bewußtseinsschüben auf. Mit der Plötzlichkeitserfahrung eines hinter dem Haus entdeckten Teichs konstituiert der Erzähler eine Gegenwart, die sich im weiteren Verlauf durch fortwährend in die Textwirklichkeit einbrechende Erinnerungspartikel sukzessiv verschiebt und verändert.3 So wie Kafkas Figuren sich immer mehr verzet- 1 Földényi, Làszlò: Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter. München: Matthes & Seitz 1999, S. 10. 2 Ror Wolf schrieb Entdeckung hinter dem Haus in den Jahren 1956 und 1957, sie wurde im Februar 1958 erstmals in der Studentenzeitung Diskus/Heft 2 veröffentlicht. 3 Vgl.: Schütte, Rolf: Material Konstitution Variabilität. Sprachbewegungen im literarischen Werk von Ror Wolf. Frankfurt/Main, Bern, New York: Peter Lang 1987, S. 118. 1 teln, ohne sich der Ausweglosigkeit ihrer Situation eigentlich bewußt zu sein, bewegt sich der Erzähler in Wolfs Geschichte unschuldig und ohne die geringsten Anzeichen eines ahnungsvollen Gedankens über sein bevorstehendes Ende auf die unausweichli- che Katastrophe zu. Marianne Kesting hat auf die analoge Konfliktzuspitzung – sie spricht von "kafkaesken Schocks"4 – in Entdeckung hinter dem Haus hingewiesen; zugleich hebt sie die für Wolfs Erzählweise charakteristische Selbstinszenierung der Sprache hervor, die über Kafka hinausgeht: Aber schon diese Geschichte muß aufgefunden werden, sie wird nicht mehr er- zählt, ja, bezeichnenderweise ist der Erzähler und Täter in ihr nicht mehr aktiv, die Fabel passiert ihm, sie drängt sich ihm, als ein Verdrängtes, ruckartig auf.5 Nicht mehr das zu Erzählende macht hier den phantastischen Gehalt der Geschichte aus, sondern die Sprache selbst ist konstitutives Kriterium des Phantastischen. Gleich zu Beginn teilt sich die Feststellung des Erzählers, er habe einen Teich hinter dem Haus entdeckt, als etwas Ungewöhnliches mit: Hinter meinem Haus habe ich jetzt einen Teich entdeckt. Ich erinnere mich nicht, ihn früher dort gesehen zu haben, aber gestern, bei einem Abendspaziergang, stand ich plötzlich vor ihm. (DND, 7)6 Allein durch die sprachliche Augenblicksfixierung 'jetzt' und 'plötzlich' erscheint seine Entdeckung als etwas Unerhörtes, Unerwartetes, das Leser und Erzähler gleicherma- ßen befremdet. Der Einfluß Kafkas in den Sprachwelten Ror Wolfs ist auch in Fortsetzung des Berichts deutlich spürbar: Der scheinbar endlose Hausflur mit seinen zahllosen Zimmertüren, die dem Erzähler immer wieder neue Geschichten und Assoziationen 'erschließen', erinnert an die labyrinthische Motivik Kafkas, an die augedehnten Korridore und Hausgänge in seinen Romanen und Erzählungen. Dagegen sieht Helmut Heißenbüttel innerhalb der von Wolf evozierten Szenarien in Fortsetzung des Berichts ein "ent- scheidend unkafkasches Element": die Erzählweise Wolfs sei vokabulär in einem Sin- ne, die weit über alle möglichen Vorbilder hinausgehe. Die Darstellung der Vorgänge vollziehe sich "nicht linear in der Abfolge eines Berichts, sondern ballt sich immer 4 Vgl.: Kesting, Marianne: "Der Müll um uns häuft sich". In: [Frankfurter Verlagsanstalt (Hrsg.)]: Anfang & vorläufiges Ende. 91 Ansichten über den Schriftsteller Ror Wolf. Frankfurt/Main: 1992, S. 118. 5 Ebd. 6 Für die zitierten Texte von Ror Wolf werden im folgenden Siglen verwendet. Siehe Literaturverzeich- nis. 2 wieder um Wortgruppen, Satzkonvolute, Dialogverknäuelungen zusammen."7 Dieser "extreme Nominalismus" (Heißenbüttel) findet sich in fast allen Texten Ror Wolfs, so auch in folgender Passage aus Die Gefährlichkeit der großen Ebene: […] durch die keuchende Nacht, durch die Sickergräben beim Einbruch der Dun- kelheit, unter den Krümmungen dieses Himmels, eines dünnen splitternden Him- mels, eines plötzlich geplatzten zerrissenen Himmels, beim Herabfallen eines kni- sternden Regens, der alles mit einem Grind überzog […]. (GGE, 308f.) Die nominale Anhäufung wird in den meisten Fällen durch forcierte Alliterationen zusammengehalten. Inhaltliche Beziehungen also spielen eine eher untergeordnete Rolle. Wolf inszeniert das Phantastische nicht thematisch durch die Darstellung des Unheimlichen, Wunderbaren – es handelt sich ja nur um die banale Begebenheit eines plötzlichen Regeneinbruchs –, sondern er generiert es aus den Bewegungen der Spra- che heraus. Trotzdem wird die Bedeutungsfähigkeit von Sprache keineswegs aufge- hoben, denn sie stellt unverbrauchte, ungewohnte Verbindungen her, welche die vermittelten Inhalte auf neue Weise faßbar machen und die eigentlichen Vorgänge intensivieren. (⇒ Kapitel R ). Zur Konkretion der Wolfschen Phantastik werde ich im folgenden den Begriff der phantastischen Literatur umreißen. Die Phantastik wird nicht als eigenständige, epo- chenspezifische Gattung betrachtet8, sondern definiert sich nach ihrem inhaltlichen und formalen Gepräge – sie erscheint oft in Verbindung mit dem Grotesken, Manieri- stischen, Absurden oder Unheimlichen. Hans Holländer faßt seine Darstellung der verschiedenen Phantastikkonzeptionen quasi-definitorisch zusammen: Das Phantastische wird bestimmt als die Möglichkeit, Dinge, Gestalten, Situatio- nen, Welten zu erfinden, die mit der alltäglichen, primären, vorgegebenen, zeitge- nössischen sowie mit den bekannten Naturgesetzen nicht übereinstimmen, sogar schlechthin anders sind.9 So evoziert Wolf zum Beispiel in Die Gefährlichkeit der großen Ebene die absurde Vorstellung eines tropfenden Wasserhahns, der die vermeintlich bewegungslose, ge- 7 Heißenbüttel, Helmut: "Bericht aus einer Traumlandschaft". In: Lothar Baier (Hrsg.): Über Ror Wolf. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1972, S. 18f. 8 Darauf weisen insbesondere Penning und Holländer in ihren Beiträgen zur Phantastik in Literatur und Kunst hin. Vgl.: Holländer, Hans: "Das Bild in der Theorie des Phantastischen" und Penning, Dieter: "Die Ordnung der Unordnung. Eine Bilanz zur Theorie der Phantastik". In: Christian W. Thomsen/Jens Malte- Fischer (Hrsg.): Phantastik in Literatur und Kunst. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, S. 52-78 und S. 34-51. 9 Holländer, Hans: "Das Bild in der Theorie des Phantastischen", a.a.O., S. 57. 3 räuschlose, eisige Kälte, die alle Menschen erfrieren lasse, durchbricht – ein Ereignis, das jeder rationalen Grundlage entbehrt und dennoch durch