Faust Und Geist. Literatur Und Boxen Zwischen Den Weltkriegen
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Wolfgang Paterno FAUST UND GEIST Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen 2018 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR Veröffentlicht mit Unterstützung des Austrian Science Fund ( FWF ): PUB 458-G30 Open Access: Wo nicht anders festgehalten, ist diese Publikation lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung 4.0; siehe http://creativecommons.org/ licenses/by/4.0/ Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Duell zwischen Jack Dempsey und Georges Carpentier in der Arena Boyle’s Thirty Acres, Jersey City, New Jersey, 2. Juli 192. (© Illustrated London News Ltd / Mary Evans / picturedesk.com) © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Lektorat: Katharina Krones, Wien Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz und Layout: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Hubert & Co GmbH & Co.KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20545-6 In Erinnerung an den alten Boxer Quido Paterno (1937–2016) Inhalt EINLEITUNG 9 ..................................... TEILI.ZEITZEICHENBOXEN Grundlagen..................................... 15 Kritikpunkte: Propagierungsmaschinerie .................... 21 Fokussierung: Recherchewege und Kapitelüberblick .............. 29 Vorstellung der Methode: Dispositiver Gefechtsraum ............. 32 Forschungsberichte: Lückenhafte Spurenlage ................. 45 Haupt- und Nebenschauplätze: Epochensymptom .............. 53 TEILII.IMMODERNE-LABOR Ringfeldsichtung .................................113 Kraft- und Körperkulte: Boxsport-Mode im Unterhaltungsroman .....118 Box-Demontage: Faustkampf in der elaborierten Erzählliteratur .......160 „Zeitfigur“ im Ring: Brechts Diskurserweiterungen ..............237 Primat der Reflexion: Musils Reorganisation des Boxens ...........304 ZUSAMMENFASSUNG 389 .............................. ANHANG Bibliografie .....................................402 Bildnachweis ....................................438 Dank ........................................439 Namensregister ..................................440 Jeder kennt gern die Fighter.1 EINLEITUNG Vorbemerkung: Aporien des literarisierten Boxens Das noch junge Jahrhundert sieht sich mit denkwürdigen Ereignissen konfron- tiert. In Philadelphia stehen sich am 23. September 1926 – und fast genau im Jahr darauf in Chicago – Jack Dempsey und Gene Tunney im Boxring gegen- über. Der Seilgeviert-Crack Dempsey, der „berühmteste Sportler der Twenties“2, trifft im Kampf und Rückkampf um die Schwergewichtsweltmeisterschaft im Boxen auf den Gentleman-Sportler Tunney.3 Die beiden Duelle sorgen für hohe Wettkampfbörsen, Sondereinträge in die Annalen des Boxsports4 – und volle Publikumsränge: Über 225.000 Menschen finden sich in der Soldiers Field ge- nannten Arena von Chicago und im Sesquicentennial Stadium von Philadel- phia ein, die „größte Zuschaueransammlung in der gesamten Sportgeschichte“5. Die New York Times widmet dem Ereignis am 24. September 1926 praktisch ihre ganze Titelseite6; der Kampf von 1927 geht als The Long Count Fight in die Boxsporthistorie ein. Die beiden Boxgefechte bezeichnen Wendepunkte in der „Geschichte des spectator sport, des Sports als Massenunterhaltung“7. 1926 wird Gene Tunney nach Punkteaddition zum Sieger erklärt; im Revanchekampf 1927 schickt Dempsey sein Visavis mit einer Schlagkombination in der siebten Runde auf die Bretter. Das Anzählen durch den Ringrichter wartet Dempsey aber nicht in der neutralen Ecke ab, dem Kampfplatzabschnitt ohne Trainer und Betreuer. Er stürmt in Richtung des am Boden liegenden Kontrahenten. Ring richter Dave Barry zählt Tunney mit Verzögerung aus, es gelingt dem Re- feree nur mit Mühe, Dempsey in die neutrale Ecke zu beordern.8 Barry beginnt 1 Die Quellenangaben für die Abschnittsmottos siehe Anhang 2 Leppmann 1992, S. 245 3 Vgl. Kohtes 1999, S. 52; Scherzer 1976, S. 13; Gumbrecht 2005, S. 106 4 Vgl. Ellwanger 2008, S. 11–22 u. 26f 5 Gumbrecht 2003, S. 73; vgl. Scherzer 1976, S. 13; Linnemann 2004, S. 35 6 Vgl. Leppmann 1992, S. 244 7 Vgl. ebd. (Hervorh. im Orig.) 8 Vgl. Junghanns 1997, S. 133 10 | Einleitung Tunney anzuzählen; bei „‚neun‘ springt Tunney, der sich in den so zusätzlich gewonnenen Momenten erholen konnte, auf“9. In der achten Runde schlägt er seinen Gegner nieder; Dempsey steht sofort wieder auf seinen Füßen. Tunney gewinnt die zehn Runden nach einstimmiger Punkterichter-Entscheidung; die siebte Runde war die einzige, die 1927 nicht für Tunney, den alten und neuen Schwergewichtsweltmeister, zählte. In der Gegenwart des 21. Jahrhunderts ist Boxen ein Sport der Hyperkom- merzialisierung, medial in Zeitungen, Zeitschriften und TV-Sendern als ein Phänomen leicht durchschaubarer Antagonismen inszeniert, instrumentalisiert und pathetisch orchestriert. Der Sport mit Fäusten, dieser große Symbol- und Kommunikationsraum aus Zeichen, Praktiken, Worten, Licht-, Geräusch- und Architekturelementen, hat sich zu einem geheimnisfernen Feld von Geschäfts- tüchtigkeit und Gewinnsucht gewandelt. Hinter dem Flitter und Tand ist, in blassen Schemen und flüchtigen Konturen, jedoch jene Sprengkraft noch ge- genwärtig, die den Sport einst zu einem denkwürdigen wie massenkulturellen Phänomen des vergangenen Jahrhunderts machten. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden Boxer zu „beinahe mythischen Figuren“10 überhöht, zu schematisierten Figurentypen, die, ausgestattet mit trapezförmigen Körpern, vor Virilität und Vitalität geradezu zu beben schei- nen, inszeniert als Gegenbilder zum Gros der Zeitgenossen, das ziellos und willensschwach im Morast seiner Sehnsüchte und Wünsche stecken geblieben ist. Als Sportart liefert Boxen, verstanden als geregelt-institutionalisierter, von hoher Siegorientiertheit geprägter und mit gepolsterten Fäusten ausgetragener Wettkampf zweier Kontrahenten, so einprägsame wie konfektionierte Mythen und stilisierte Denkbilder von Rohheit und Erbarmungslosigkeit, Gewalt und Tod, häufig über die Physis definiert, den Boxbühnen mit ihrem Sportschau- spiel kontrollierter körperlicher Verausgabung durchaus entsprechend. Boxen generiert nach dem Ersten Weltkrieg Themen, Anekdoten, Attitüden, Tonla- gen, Wortassoziationen, Motive, Metaphern, literarische und journalistische Redeweisen. Häufig werden diese unter Zuhilfenahme von Gegensätzen kon- struiert, die Wahrnehmung erst strukturieren: Körper und Denken, Faust und Geist, Kraft und Intellekt. Hier Dempsey, der „Panther“11, der „Männertöter“12, „Eisenhammer Dempsey!“13, The Manassa Mauler, der Knochenhauer aus Ma- 9 Leppmann 1992, S. 244 10 Maase 2007, S. 136 11 Shaw 1981, S. 112 12 Brecht 1993e, S. 381 13 Zech 1956, S. 366 EinleitungVorbemerkung:AporiendesliterarisiertenBoxens | 11 nassa.14 Da Tunney, der „boxende Shakespeare-Interpret“15 und „moderne Ath- letentyp“16: Man trage, so ein Zeitzeuge, „Tunney“17. Dempsey nennt sich boxer und prize fighter. Tunney bevorzugt die aus dem Lateinischen stammende, nob- lere Bezeichnung pugilist.18 Boxen wird grosso modo als ein Sport mit hohem Praxisbezug und solider The- orieabwehr betrachtet. Die Tätigkeit des Boxens ist den meisten Menschen in groben Umrissen bekannt; über den Sport bildet man sich schnell eine Meinung. Man wähnt sich beim Boxen in einen darwinistischen Überlebenskampf verstrickt und in eine existenzielle Duellphantasmagorie versetzt, die durch Show und Kör- perakrobatik abgemildert scheint – das Stereotyp als die bevorzugte Wahrneh- mungsform des Boxens. „Spielregeln haben, übrigens nicht nur im Sport, ihre Geheimnisse“19, schreibt Erich Kästner. Im Boxen scheint dies suspendiert. Die manichäische Grundkonstellation ist zur Genrekonvention geronnen. Die Boxer – in einem mit Männlichkeit und Massenpublikum, Gewalt und Geschäft asso- ziierten Milieu verankert – erscheinen als berufsromantische Schmerzensmän- ner, die sich in einem Koordinatensystem aus Aufwärtshaken und Jabs behaupten müssen. Die Bühnen des Journalismus und der Literatur betreten Boxer nach allgemeiner Auffassung ebenfalls als einfach gestrickte Kraftmeier: Mann gegen Mann, der träge Tanz tumber Körperklötze.20 Die Kulturwissenschaften überlas- sen das Feld des Boxens deshalb vielleicht auch allzu leichtfertig jenen Formen der boxspezifischen Literatur, welche die Schwerathletik hauptsächlich als eine Quelle für Zitate-, Bilder- und Textsammlungen mit Titeln wie „111 Gründe, Boxen zu lieben“ oder „Knockout“ heranziehen – als ein Proprium des Populären, dessen Rezeption einer schier endlosen Geschichte von Verdammung und Vertei- digung, Polemik und Indienstnahme, Antipathie und Adoration gleicht. Bei näherem Hinsehen ruft Boxen allerdings Grundfragen nach Körper- vorstellungen und Disziplinierungsakten, Machtkonstellationen und Wissens- formationen, nach performativen wie ritualisierten Aspekten hervor. Dass sich die Bedeutung des Boxens nicht in schlichten Polaritäten erschöpft und sich gerade deshalb als ein Fanal der Zeit und eine wirkungsmächtige Signatur der 14 Vgl. Gumbrecht 2005, S. 106f 15 Löffler 1939a, S. 113 16 Kosmopolit 1927, S. 101 17 Zit. n. Kluge 2004, S. 96 18 Vgl. Leppmann 1992, S. 276 19 Kästner 1998c, S. 158 20 Das von einem Pay-TV-Sender Anfang Mai 2015 übertragene Duell im Weltergewicht zwi- schen Floyd Mayweather und Manny Pacquiao wurde als „Jahrhundertkampf“ annonciert; im