<<

Die Allgemeine SS im ersten Kriegsjahr – »Fundament des Ordens« »bloßes Organisationsgerippe«?

BASTIAN HEIN

In einer kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges herausgegebenen Broschüre über die »Geschichte, Aufgabe und Organisation der Schutzstaffeln der NSDAP« bezeichnete Gunter d’Alquen, der Hauptschriftleiter der Zeitschrift »« und somit der bedeutendste SS-Propagandist,1 die sogenannte Allgemeine SS als die »Mutter aller übrigen SS-Formationen«.2 Rund drei Jahre später würdigte der Reichsführer-SS, , im Rahmen der Trauerfeierlichkeiten für , seinen wichtigsten, von tschechischen Widerstandskämpfern getöteten Mitarbeiter,3 die Allgemeine SS als »Fundament« »Ordens«.4 Wiede- rum drei Jahre darauf, als die im Nürnberger Prozess als »verbrecherische Organisation« vor Gericht stand, schloss sich der amerikanische Anklagevertreter, Warren F. Farr, dieser Wertschätzung der Allgemeinen SS an – wenn auch nun unter negativem Vorzeichen. Für ihn bildete diese Teilorganisation den »Hauptstamm« und das »Rückgrat« der gesamten Schutzstaffel.5 In der seit den 1950er Jahren stetig anschwellenden SS-Forschung dominierte da- gegen bislang eine relative Geringschätzung der Allgemeinen SS.6 Diese habe, so Er- menhild Neusüss-Hunkel in ihrer 1956 erschienenen Dissertation, lediglich eine se- kundäre Rolle im »Schwarzen Orden« gespielt und der »Beschaffung von Beziehungen und Ansehen, Geld und Auslesemöglichkeiten für die Berufs-SS« gedient.7 1972 ur- teilte ein amerikanischer Doktorand, die Allgemeine SS sei eine Organisation, »die lediglich auf dem Papier bestand und wenig aus sich selbst heraus zu Wege brachte«. Seit 1936 sei sie de facto überflüssig gewesen.8 Und zehn Jahre später schrieb Bernd Wegner, mittlerweile als Nestor der Waffen-SS-Forschung anerkannt, die Allgemeine SS sei spätestens mit Kriegsbeginn zu einem »bloßen Organisationsgerippe« verkom- men.9 Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche dieser beiden gegensätz- lichen Positionen der komplexen Realität während des ersten Kriegsjahres näher kommt und inwieweit die Allgemeine SS somit ein Arbeitsfeld war, das Heinrich

1 Vgl. zur Person Augustinovic/Moll: Gunter d’Alquen; zum »Schwarzen Korps« . a. Zeck: Das Schwarze Korps. 2 D’Alquen: Die SS, S. 15. 3 Vgl. zu diesem Gerwarth: Heydrich. 4 Rede Himmlers vor hochrangigen SS- und Polizeiführern vom 9.6.1942, zitiert in Smith/Peterson (Hg.): Himmler Geheimreden, S. 157. 5 IMG, Bd. 4, S. 188. 6 Eine Revision bietet nun Hein: Elite. 7 Neusüss-Hunkel: Die SS, S. 15. 8 Shalka: The »General-SS«, S. 152-153 und 324-325. [Übersetzung B. H.] 9 Wegner: Hitlers Politische Soldaten, S. 277. 156 Tätigkeitsfelder 1940

Himmler in diesem Zeitraum nachhaltig beschäftigte. Dazu wird zunächst skizziert, worum es sich bei der Allgemeinen SS eigentlich handelte, das heißt, wie sie sich bis 1939 entwickelte. Anschließend wird auf ihren Zustand in den ersten 15 Monaten nach Kriegsbeginn eingegangen beziehungsweise auf die Pläne, die die Reichsführung-SS in dieser Zeit für sie schmiedete. Abschließend wird dargestellt, was in der Folgezeit aus diesen Ideen wurde.

Die Entstehung der Allgemeinen SS und ihre Entwicklung bis 1939

Die eigentliche Geburtsstunde der Allgemeinen SS lässt sich auf das Ende des Jahres 1934 datieren. Ihre Gründung erfolgte vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Himm- ler im Sommer und Herbst 1934 endlich die seit Jahren erstrebte Unabhängigkeit vom zweiten, größeren NS-Kampfbund, der , erreicht hatte. Nachdem die Schutzstaffel im sogenannten Röhm-Putsch die Spitze der allzu eigenmächtigen SA für Hitler ermordet hatte, gewährte dieser ihr den Status einer eigenständigen Gliede- rung der NSDAP.10 Über diese formale Besserstellung hinaus, genehmigte der »Füh- rer« zudem den Ausbau der kleinen »politischen Bereitschaften« – das waren seit 1933 entstandene, bezahlte und kasernierte paramilitärische SS-Eingreiftruppen – zu einer regulär bewaffneten, soldatischen »Verfügungstruppe«, dem Nukleus der späteren Waffen-SS.11 Schon seit Mai 1934 hatte Himmler zudem die Systematisierung und Professionalisierung der KZ-Wachverbände unter ihrem neuen Führer vorangetrieben.12 Den Schlussstein der Reorganisation der Schutzstaffel bildete nun ein Himmler-Befehl vom 14. Dezember 1934, in dem der Reichsführer-SS die Unter- scheidung zwischen vier Teilgruppen seines »Ordens« festschrieb: Neben der Verfü- gungstruppe, den KZ-Wachverbänden und Heydrichs 1931 gegründetem Partei- und SS-Geheimdienst SD sollten die restlichen, weiterhin vorrangig ehrenamtlich agieren- den Verbände als Allgemeine SS stehen.13 Den zu diesem Zeitpunkt zehn Oberabschnitten, 29 Abschnitten, 130 Standarten, 449 Sturmbannen und 1.777 Stürmen der Allgemeinen SS14 gehörten circa 200.000 Mann15 und damit mehr als 90 % aller SS-Männer an. Sozialstrukturell waren diese Männer entgegen den Ergebnissen der älteren SS-Forschung keineswegs ein Sammel- becken der »alten Eliten«.16 Vielmehr fand sich in der Schutzstaffel – wie in der NS- DAP auch17 – ein äußerst heterogener Querschnitt durch alle Klassen und Schichten des deutschen Volkes. Zwar gehörten ihr beispielsweise Ende 1937 tatsächlich unge- fähr 22.000 Akademiker an, aber eben auch knapp 13.000 an- oder ungelernte Arbei- ter, 3.500 Schreiner, 23.000 kaufmännische Angestellte und 11.500 Bauern. Das Durch-

10 Befehl Hitlers vom 20.7.1934, in IMG, Bd. 29, S. 28. 11 Zum Gründungsprozess der Waffen-SS vgl. Wegner: Hitlers Politische Soldaten, S. 79 ff.; Hatheway: In Perfect Formation, S. 68-72. 12 Vgl. zu deren Entwicklung im Überblick Orth: Bewachung, S. 126-140. 13 Rundschreiben Himmlers vom 14.12.1934, in BArch NS 19/1934, Bl. 183. 14 Nolzen: »… eine Art von Freimaurerei in der Partei«, S. 30. 15 Diese Zahl blieb in den Jahren 1935 bis 1938 relativ stabil; die SS-internen Statistiken bzw. Statisti- schen Jahrbücher in IfZ-Archiv, DC 01.06. 16 Maßgeblich für diese Interpretation Kater: Zum gegenseitigen Verhältnis von SA und SS, S. 339-379. 17 Kater: The ; Falter: The first German Volkspartei, S. 53-81.