5 | 2019 proChristliches Medienmagazin pro-medienmagazin.de

KONTAKT VERLOREN

WAS DIE KIRCHE TUN MUSS, UM HEUTE MENSCHEN ZU ERREICHEN

Thomas Middelhoff John Lennox Teresa Weißbach Bekennt Kämpft für Spendet seine Schuld den Glauben Sterbenden Hoffnung EDITORIAL

Liebe Leserin, lieber Leser, als vor 30 Jahren die Berliner Mauer fiel, da fühlten sich die Deutschen als „das glücklichste Volk der Welt“. Ehemalige DDR-Politbürokraten rätselten, warum die Stasi, das damals perfekteste Spitzelsystem der Welt, den Niedergang des real­ sozialistischen Staates nicht aufhalten konnte: Die hochgerü- stete Staatsmacht erwies sich als ohnmächtig gegenüber der Wirkung von „Kerzen und Gebeten“.

Zehntausende Ostdeut- sche hatten sich über Ungarn und Öster­ reich aus dem Staub gemacht, um Mangel- wirtschaft, Unfreiheit und Wahlfälschung zu entkommen. Schließlich gingen Millionen auf die Straße. Viele sprechen bis heute von einem „Wunder“, weil beim Untergang der DDR kein Blut vergossen wurde. In der aktuellen Ausgabe von pro erinnern sich Autoren aus unserem Team, wie sie den 44 Mauerfall erlebten. Und vor allem: wie es dazu kam. Kirchen boten Bürgerrechtlern Unterschlupf. Tausende trafen sich zu Friedensgebeten, die Gottesdienste waren voll. Für Egmond Kurzmeldungen 4 Prill, der damals in Ostberlin und Sachsen lebte, sind diese Leserbriefe 51 Erlebnisse – gerade die Gebete und Andachten – noch immer sehr präsent. Bis heute zitieren Zeitzeugen Bibelverse wie je- Titel nen aus dem 2. Buch Samuel (Kapitel 22,30): „Mit dir erstürme Soll denn nichts bleiben, wie es war? ich einen Wall, mit meinem Gott springe ich über eine Mauer.“ Warum Kirche mit den Menschen Egmond Prill gibt heute offen zu: „Wir glaubten oft nicht, was verbunden bleiben muss 6 wir beteten.“ (ab Seite 44). „Alle melden sich bei mir. Warum meldet sich meine Kirche nicht?“ Wie anders ist unsere Welt heute. Im wiedervereinigten Der Kommunikationswissenschaftler Markus Deutschland gibt es volle Kirchen fast nur noch zu Weihnach- Wiesenberg über Kirchenkommunikation 11 ten. Glaubt man der Studie „Kirche im Umbruch“, dann wird So begeistert Kirche sich die Zahl der Mitglieder der Großkirchen in 40 Jahren hal- In einer neuen Serie stellt pro gelungene biert haben. Die Autoren der Untersuchung machen dafür Kirchenprojekte vor. Dieses Mal: nicht nur den demografischen Wandel verantwortlich, son- Raumschiff Ruhr in Essen 14 dern auch „kirchenspezifische“ Faktoren. Damit, was Kirche Escape Room in Mannheim 16 tun kann, um bei den Menschen auf Gehör zu stoßen, haben wir uns in unserer Titelgeschichte beschäftigt (ab Seite 6). Dr. GESELLSCHAFT Markus Wiesenberg von der Universität Leipzig hat uns erklärt, „Wir werden zu einer selbstanbetenden Gesellschaft“ warum Direktkommunikation für die Kirche immer wichtiger Der Mathematikprofessor John Lennox im Interview 18 wird. Er spricht sich für neue Formen aus, warnt aber zugleich Ein Ausgebrannter brennt für Jesus davor, bewährte Traditionen komplett über Bord zu werfen. Was den Ex-Fußballprofi Michael Sternkopf an Jesus begeistert 20 Weil uns die innovativen Kirchenprojekte begeistert haben, auf die wir im Rahmen der Recherche gestoßen sind, möchten wir Ihnen in den künftigen Ausgaben von pro eine Auswahl vor- stellen. Los geht es in dieser pro mit dem „Raumschiff Ruhr“ (S. 14) und dem Mannheimer „Escape Room“ (S. 16). Bleiben Sie jede Woche auf dem Laufenden! Unser pdf- Magazin proKOMPAKT liefert Ihnen jeden Donnerstag die Bei der Lektüre von pro wünsche ich Ihnen wertvolle Themen der Woche auf Ihren Bildschirm. Entdeckungen, Durch die ansprechend gestalteten Seiten erhalten Sie schnell einen Überblick. Links zu verschiedenen Internet- seiten bieten Ihnen weitergehende Informationen. Bestellen Sie proKOMPAKT kostenlos! www.proKOMPAKT.de | Telefon (06441) 5 66 77 00 Ihr Christoph Irion

2 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 INHALT | IMPRESSUM

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Die Brückenbauerin POLITIK UND WIRTSCHAFT Warum sich die Athmosphärenforscherin „Ich spüre einen Auftrag in mir“ Katherine Hayhoe fürs Klima einsetzt 22 Ex-Top-Manager Thomas Middelhoff im Interview 38 Beten und Bier brauen Christliche Mode nicht aus dem Automaten: Ein Besuch in dem Kloster, Bubble Gum Studios 40 in dem das weltbeste Bier gebraut wird 26 Mit Kerzen und Gebeten Welchen Beitrag Christen zur MEDIEN Wiedervereinigung leisteten 44 Meine (Er)Schöpfung Der Tag, an dem die Mauer fiel Ein Impuls von Christ & Welt-Redaktionsleiter Erinnerungen an den 9. November 1989 46 Raoul Löbbert 29 „Glaube war in meinem Leben immer schon da“ KULTUR TV-Star Teresa Weißbach im Interview 30 Nacht für Nacht am Tisch mit Jesus Wieviel PR steckt in Greta? Was den Juden Leonard Cohen an Jesus faszinierte 48 Eine Kolumne von Wolfram Weimer 32 „Verbiegen lasse ich mich sicher nicht“ Eine Begegnung mit „Voice-of-Germany“-Sieger PÄDAGOGIK Samuel Rösch 52 Im TikTok-Fieber Musik, Bücher und mehr Die trendigste App im Kinderzimmer – und worauf Neuerscheinungen kurz rezensiert 54 Eltern achten sollten 34 Drei kleine Klima-AktiChristen Eine Kolumne von Bild-Chef Daniel Böcking 37

IMPRESSUM

Herausgeber Christliche Medieninitiative pro e.V. Lesertelefon (0 64 41) 5 66 77 77 | Adressverwaltung (0 64 41) 5 66 77 52 Charlotte-Bamberg-Straße 2 | 35578 Wetzlar Anzeigen Telefon (0 64 41) 5 66 77 67 | [email protected] Telefon (0 64 41) 5 66 77 00 | Telefax (0 64 41) 5 66 77 33 Internet www.pro-medienmagazin.de Vorsitzender Michael Voß | Geschäftsführer Christoph Irion Satz/Layout Christliche Medieninitiative pro e.V. Redaktion Martina Blatt, Dr. Johannes Blöcher-Weil, Nicolai Franz, Druck L.N. Schaffrath GmbH & Co. KG DruckMedien, Geldern Daniel Frick, Elisabeth Hausen, Anna Lutz, Michael Müller, Stefanie Bankverbindung Volksbank Mittelhessen eG | Kto.-Nr. 40983201, BLZ 513 900 00 Ramsperger (Redaktionsleitung), Norbert Schäfer, Jörn Schumacher, | IBAN DE73 5139 0000 0040 9832 01, BIC VBMHDE5F Jonathan Steinert, Swanhild Zacharias Beilage Israelnetz Magazin (16 Seiten) E-Mail [email protected] | [email protected] Titelfoto Brut Carniollus

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 3 MELDUNGEN

Kirche könnte Schiff an Seawatch übergeben Michael Diener, Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes, hat gegenüber pro die geplante Entsendung eines Schiffs zur Seenotrettung durch die EKD verteidigt. Im In- terview räumte er ein, seine Kirche denke darüber nach, das Schiff an eine Organisa- tion wie Seawatch zu übergeben. „Die EKD ist definitiv kein Experte für Seenotrettung und will auch keiner werden“, sagte er, und weiter: „Wir sind uns der Komplexität un- seres Handelns bewusst. Aber diese exemplarische Aktion ist so etwas wie ein Urschrei

christlicher Nächstenliebe.“ Anfang September hatte die Evangelische Kirche bekannt Verband Foto: Gnadauer gegeben, dass sie gemeinsam mit anderen Organisationen ein Schiff ins Mittelmeer Michael Diener hat mit pro über das geplante Rettungsschiff der Evangelischen entsenden wolle. Dazu will sie zunächst einen Verein gründen, der Spenden in Höhe Kirche gesprochen eines sechs- bis siebenstelligen Betrags sammelt. | anna lutz

31 prozent der befragten Muslime einer Studie glauben, dass bis zu 20 Mal in der Bibel steht, Christen müssten mindestens einmal in ihrem Leben auf einen Kreuzzug ge- hen und zum Beispiel heilige islamische Stätten attackieren. Das sei ihre heilige Pflicht. 19 Prozent meinen, das stehe weniger als fünfmal in der Bibel, knapp die Hälfte der Befragten sind nicht der Meinung, dass das Neue oder Alte Testament dazu auffordere – womit sie richtig liegen. Diese Antworten stammen aus einer Studie des Neuropsychologen Steffen Moritz vom Universitätsklinikum Hamburg- Eppendorf. Er wollte herausfinden, wie Vorurteile gegenüber einer anderen Religi- on überwunden werden können. In einem Online-Experiment sollten die Teilneh- mer Fragen über das Christentum und den Islam beantworten, die auf verschie- dene unzutreffende, stereotype Vorstellungen anspielten. Die Erkenntnis, bei so einer scheinbar simplen Frage daneben zu liegen oder zumindest ins Nachdenken zu kommen, könnte dann zu einer positiveren Bewertung der anderen Religion beitragen, so die Hypothese. Diesen Effekt konnte der Forscher bestätigen. An der Studie nahmen 404 Personen teil, davon 115 Muslime. | von jonathan steinert

4 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 MELDUNGEN

Drei Fragen an ...... Siegfried Fietz. Der Musiker hat zusammen mit dem Liedermacher Jürgen Werth ein Musical zum Thema „Heimat“ geschrieben. pro: Warum haben Sie ein Musical dem Thema „Heimat“ gewidmet? Siegfried Fietz: Weil es mich schon seit vielen Jahren bewegt. Aktuell sind zwischen 60 und 70 Millionen Menschen auf der Flucht vor Hunger, Durst, Krieg und Gewalt. Sie sehnen sich nach einem Platz, an dem sie menschenwürdig leben können. Unsere Ge- schichte reicht in die Jahre um 1450 zurück, wo die letzten Überlebenden aus Schön- hausen vor der Pest nach Allendorf, meinem heutigen Wohnort, geflohen sind und eine neue Heimat gefunden haben. Allendorf, das Dorf für alle und von allen. Daraus wurde im Musical Allental, Allenwelt – wir nehmen also von hier aus die ganze Welt in den Blick. Jürgen Werth sind dabei außergewöhnlich gute Texte gelungen. Welche Rolle spielt Heimat in Ihrer eigenen Biografie? Meine Eltern waren Flüchtlinge, Vertriebene aus Ostpreußen. Sie haben, obwohl sie im Siegerland angekommen waren, immer von ihrer verlorenen Heimat gesprochen, von der Weite und Schönheit dort geschwärmt. So kommt ein heranwachsendes Kind

auf den Gedanken: Dort ist was ganz Schlimmes passiert. Krieg. Als Erwachsener ist es Musik Foto: Abakus mir wichtig, mitzuhelfen, dass solche fürchterlichen Katastrophen verhindert werden. Siegfried Fietz: Der Liedermacher hat sich mit dem Thema „Heimat“ beschäftigt Welcher Aspekt an dem Thema ist Ihnen aus christlicher Sicht wichtig? Mir sind die Werte Glaube, Hoffnung, Liebe sehr wichtig, weil daraus die Perspektive für unseren Alltag möglich ist und auch Richtung Himmel. Jesus Christus, an den ich glaube, hat uns klare Hinweise gegeben, wie wir’s machen sollen. Mitzuhelfen, dass das Zusammenleben gelingt. Dass wir diesen blauen Planeten nicht zerstören, sondern dass auch die nächsten Generationen eine Chance auf Beheimatung haben. Vielen Dank für das Gespräch. | die fragen stellte jonathan steinert

Schauspieler Brad Pitt „hängt an Religion“ Die US-amerikanische Ausgabe des Lifestyle- und Männermagazins GQ hat Brad Pitt gefragt, ob er immer ein optimistischer Mensch war. Pitts Ant- wort: „Oh, Mann, ich habe alles durchgemacht. Ich klammere mich an die Religion.“ Einem Interview zufolge ist Pitt mit dem Christentum aufgewach- sen. Er habe es jedoch „immer infrage gestellt, aber es hat manchmal funkti- oniert“, erklärte der mehrfach ausgezeichnete Schauspieler und Produzent. Später, als er selbstständiger geworden sei, habe er sich vom Christentum abgewandt und sich selbst als Agnostiker bezeichnet. „Ich habe ein paar spirituelle Dinge ausprobiert“, erklärte er, habe sich aber damit nicht wohl- gefühlt. Später habe er sich als Atheist bezeichnet, um den Anschein eines Rebellen zu erwecken. Das sei er eigenen Angaben zufolge jedoch „nicht wirklich“ gewesen. „Und dann kam ich zurück zum reinen Glauben daran – ich hasse es, das Wort Spiritualität zu benutzen – zum Glauben daran, dass wir alle verbunden sind.“ Pitt zählt zu den erfolgreichsten Filmschau-

spielern weltweit. Insgesamt wurde er mit mehr als 50 Preisen ausgezeich- Glenn Francis Foto: net, darunter ein „Oscar“ als Produzent, der „Golden Globe Award“ und der Brad Pitt bei der Premiere von „Once Upon A Time In Hollywood“ „Emmy“. | norbert schäfer

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 5 TITEL

Tradition statt Postmoderne: Viele jüngere Kirchenmit- glieder schreckt das ab

Soll denn nichts bleiben, wie es war?

Die Volkskirchen werden bis 2060 die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren. Schuld ist nicht nur der demografische Wandel. Viele Protestanten und Katholiken sind unzufrieden mit dem Erscheinungsbild ihrer Kirche – oder schlimmer noch, sie nehmen sie gar nicht mehr wahr. Was nun? | von anna lutz Fotos: Jonas Hoss Jonas Fotos:

6 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 TITEL

n Titisee-Neustadt mitten im Hochschwarzwald hat eine Kir- finden. Escape­room nennt sich das Konzept, das mittlerweile chenbank den Weg an die frische Luft gefunden. Über Mo- als kommerzielle Variante in vielen deutschen Städten etabliert Inate hinweg transportierte der katholische Pastoralreferent ist. In der Jugendkirche ist das Spiel kostenlos. Die Gemeinde Sebastian Swiatkowski ihre sperrigen Holzteile immer wieder will junge Menschen auf diesem Weg dazu motivieren, sich mit mit dem Auto in den Park, auf den Campingplatz, zum Wochen- der Kirche und der Bibel zu beschäftigen. Offenbar geht das markt oder ans Seeufer. Mit etwas Geschick und einem Imbus- Konzept auf: Nicht nur Firmlinge, auch Schulklassen und Kin- schlüssel dauerte es nicht lange, bis die Sitzgelegenheit publi- dergeburtstagsgruppen suchen regelmäßig den Weg aus dem kumswirksam platziert war. „Erzähl mir was, ich hör dir zu!“, Kirchturm. (Mehr dazu auf den Seiten 14–17) Mobile Kirchen- stand auf einem Schild daneben, auf der Lehne: „Draußen. bank, Kite-Kirche und biblischer Escaperoom – das sind drei Hier. Die mobile Kirchenbank.“ Wenn alles bereit war, nahm Beispiele, die Mut machen. Kirche, so wollen sie sagen, kann der Seelsorger im Erzbistum Freiburg Platz und wartete. Es dau- auch heute relevant sein. Sie kann Zugänge ermöglichen, auch erte meist nicht lange, bis der erste Spaziergänger sich zu ihm für Menschen, die sich eigentlich nicht für sie interessieren oder gesellte. Swiatkowski hat hier schon so gut wie alles gehört: Ge- sie gar abgeschrieben haben. schichten über Scheidungen, Tod, Liebe und den Glauben. Heu- te kann man seine Bank mieten. Er selbst widmet sich anderen Heulen und Zähneklappern in Hannover beruflichen Projekten – doch das mobile Kirchenangebot soll es weiterhin geben. Mutmacher sind wichtig in Zeiten wie diesen. Denn alle Zei- Erik Neumann ist der erste und einzige Kite-Pastor der Evan- chen stehen bei der Kirche auf Bedeutungsverlust und Mitglie- gelischen Kirche. Von Mai bis Juli bittet er andere Sportbegeis- derschwund. Die einen sind nicht an Gottesdiensten interes- terte im Ostseebad Loissin aufs Brett. Mit Sicherheits- und Lenk­ siert, die anderen sehen in kirchlicher Moral und politischem leinen ausgestattet, lassen sie sich von Drachen auf einer Mi- Gebaren von Protestanten und Katholiken einen Affront gegen

Im Alter von 20 bis 40 Jahren treten die meisten Menschen aus der Kirche aus. Bis 2060 werden sich ihre Mitgliederzahlen um 52 Prozent reduzieren – und schuld daran ist nur bedingt der demografische Wandel.

Quelle: Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), www.ekd.de/projektion2060

schung aus Surfbrett und Snowboard durch Wind und Wellen die postmoderne Selbstbestimmung. Spätestens seit im Mai ziehen – und das alles im Namen der Hannoverschen Landes- die Mitgliederprojektion von der Universität Freiburg und der kirche. Denn auch Neumann ist Seelsorger. Und seine Kite- Evangelischen Kirche in Deutschland „Kirche im Umbruch“ er- Camps, da ist der Geistliche sich sicher, eignen sich wunderbar schien, dringt aus Landeskirchen hüben und drüben und dem dazu, das Leben und den Glauben zu teilen. An jedem Morgen Kirchenamt in Hannover vor allem: Heulen und Zähneklap- sind 75 Minuten Gruppengespräch über Existenzielles einge­ pern. Denn die Lage ist ernst: Bis zum Jahr 2060 wird die Evan- plant. Dann geht es aufs Wasser. Die Teilnehmer berichten da- gelische Kirche die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren. Von 21,5 nach nicht nur von emotionalen Gesprächen. Manche finden verbleiben voraussichtlich 10,5 Millionen Menschen im Schoß sogar den Weg (zurück) in die Kirche. der Kirche. Und das Schlimmste: Nicht allein die Demografie ist Während sich die meisten Kirchen darum bemühen, neue Mit- schuld. Zwar wird rund ein Viertel der Mitglieder schwinden, glieder in ihre Räume zu locken, dreht sich in der katholischen weil Sterbefälle hierzulande evangelische Zuwanderung und Jugendkirche Samuel in Mannheim alles darum, dass junge Geburten übersteigen. Doch die andere Hälfte des Schwunds Menschen aus der Kirche herausfinden. Die Bildungsreferentin geht auf „kirchenspezifische Faktoren“ zurück, wie die Forscher der Gemeinde, Lisa Stegerer, schließt regelmäßig kleine Grup- es ausdrücken. pen von Besuchern im Kirchturm ein. Das Ganze ist Teil eines Die Deutschen taufen ihre Kinder seltener, suchen als Erwach- Spiels – innerhalb von 60 Minuten müssen die Teilnehmer Rät- sene kaum Kontakt zur Kirche oder treten sogar aktiv aus. Der sel mit biblischem Bezug lösen, um den Weg nach draußen zu typische Kirchenabtrünnige ist zwischen 25 und 35 Jahre alt,

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 7 TITEL eher männlich, gerade ins Berufsleben eingestiegen und spürt Auf die Frage nach dem Warum gibt eine Studie im Auftrag deshalb erstmals die Last der Kirchensteuer und nimmt selten des Bistums Essen aus dem Jahr 2018 Auskunft. Dabei wurden kirchliche Angebote in Anspruch. Weil sich in eben dieser Le- über 300 Personen gefragt, warum sie die Kirche verlassen ha- bensphase auch die meisten Deutschen dazu entscheiden, Kin- ben. Demnach spielt die Kirchensteuer zwar eine Rolle bei der der zu bekommen, resultiert aus deren Abwendung von der Kir- Entscheidung zum Austritt. Jedoch fällt dies fast ausschließ- che auch die Nichttaufe der Kleinsten. Für die Evangelische Kir- lich zusammen mit einer fehlenden Bindung zur Kirche oder che bedeutet das dreierlei: Sie verliert Mitglieder. Sie verliert Misstrauen ihr gegenüber ins Gewicht. Viele Ausgetretene äu- (vor allem ehrenamtliche) Mitarbeiter. ßern Zweifel daran, dass die Kirche ihr Geld für gute Zwecke Sie verliert Geld – und das macht dank wegbrechender Kir- verwendet. Ein zweiter Grund liegt in den moralischen Vorstel- chensteuerzahler bei wachsenden kirchlichen Ausgaben etwa lungen der Kirche. Das Frauenbild, die Haltung zu Homosexua- die Hälfte ihrer Leistungsfähigkeit aus. Sie wird künftig weniger lität, Priester­tum, Zölibat und die Sexualmoral als solche seien Mitarbeiter anstellen und weniger Kirchengebäude unterhalten veraltet. Drittens gilt die Kirche als Institution vielen als un- können. glaubwürdig. Schuld daran scheint vor allem der Missbrauchs­ Das Phänomen ist keineswegs konfessionell begrenzt. Bei den skandal zu sein. Einige erklärten jedoch auch, die Kirche küm- katholischen Geschwistern zeigen sich ähnliche Entfremdungs- mere sich zu wenig um Missionierung. Eine vierte Gruppe gab entwicklungen: Laut der Freiburger Studie ist die Katholische als Gründe Glaubensverlust oder Enttäuschungen durch Geist­ Kirche nur minimal geringer vom Mitgliederschwund betrof- liche oder andere Kirchenmitarbeiter an. Laut Studie ist der fen. Waren 1953 noch knapp 44 Prozent der Deutschen katho- Weg hin zum Kirchenaustritt in ein recht simples Schema zu lisch, schrumpfte die Zahl bis 2017 auf gerade mal 28 Prozent. pressen: Auf die Kindstaufe folgen mit zunehmendem Alter Auch die Freikirchen können sich nicht darauf ausruhen, dass Glaubenszweifel oder eine kritische Haltung gegenüber der Kir- den meisten von ihnen gesunkene Kindstaufenzahlen und Kir- che wegen ihrer Positionen oder ihres mutmaßlich veralteten chensteuerverluste keine Einbrüche bescheren werden. pro hat Erscheinungsbildes. Die Mitglieder entfremden sich zuneh- exemplarisch verschiedene Gemeindebünde angefragt. Dem- mend, verlieren immer mehr an Bindung zu ihrer Gemeinde, nach ist die Entwicklung zwar vielschichtig und keineswegs treten deshalb aber noch nicht aus. Dazu braucht es ein enttäu- so eindeutig wie bei den Landeskirchen und den Katholiken. schendes Erlebnis, etwa mit einer Person der Kirche, oder den Dennoch beunruhigen die Zahlen. Die im Bund der Evange- Eintritt in das Berufsle­ ben und damit das erstmalige Zahlen der lisch-Methodistischen Kirche verbundenen Gemeindeangehö- Kirchensteuer. Wer entweder die eine oder die andere Belastung rigen und Gemeindeglieder waren 1992 noch knapp 70.000, im der Beziehung Mitglied-Kirche erlebt, entscheidet sich schließ- Jahr 2018 kamen knapp 50.000 Personen zusammen. Der Bund lich für den Austritt. Stichprobenartige Erhebungen, etwa in- Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden vermeldet seit Jahren nerhalb der Evangelischen Kirche Berlins und Brandenburgs, eine Stagnation rund um die Marke von 81.000 bis 82.000 Mit- zeigen ähnliche Austrittsgründe. gliedern. Und das bei strukturellem Bevölkerungswachstum. Es scheint, als sei das Hauptproblem der Kirche auf eine Der Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden ist nach eigenen ebenso einfache wie verheerende Formel zu bringen: Sie hat Angaben gewachsen – von 28.000 Mitgliedern im Jahr 1996 auf den Kontakt zu den Menschen verloren. Vor allem schafft sie es heute knapp 63.000. Über die Gründe lässt sich nur spekulie- nicht mehr, jene zu begeistern, die bereits Mitglieder sind. Wer ren. Experten gehen davon aus, dass die Eingliederung von austritt, dem fehlt die Bindung zur Kirche. Wer keine Verbin- Auslandsgemeinden dabei eine größere Rolle spielt als tatsäch- dung zur Kirche hat, kann ihr Handeln seltener nachvollziehen. liches organisches Wachstum. Und wer den Kontakt zur Kirche verloren hat, steckt Enttäu- Vielleicht ist die Erwachsenentaufe ein Grund dafür, dass schungen schlechter weg, seien sie spirituell oder menschlich. Schrumpfungsprozesse im freikirchlichen Milieu weniger ra- Was nun? sant oder gar nicht verlaufen, sorgt sie doch mutmaßlich dafür, dass Christen in mündigem Alter eine bewusste Entscheidung Wege aus der Krise für oder gegen Gott und die Gemeinde treffen. Vielleicht ist die Tatsache wichtig, dass Gemeindeglieder in Freikirchen oft stär- „Nicht heulen, sondern handeln“, fordert der Katholik, Politik­ ker in die Arbeit involviert sind, weil die oftmals kleineren Orga- berater und Welt-Kolumnist Erik Flügge in seinem gleichna- nisationen eher auf Freiwilligenengagement setzen. Doch egal, migen Buch. Er kritisiert eine „zu Tode reflektierte Theologie“ woran es liegt, Fakt ist auch: Der gesamte prozentuale Anteil der Protestanten. Zu viel Kopf, zu wenig Herz. Zu viel Bewah- der Freikirchler an der Bevölkerung Deutschlands wächst nicht. rungswillen, zu wenig Mut. Zu viel Wagenburgmentalität, zu Laut dem Marburger Institut Remid waren im Jahr 2001 knapp 1,1 wenig Leben. Wer dazu noch fröhlich nicken kann, wird eventu- Prozent der Deutschen Mitglieder von Freikirchen. 2017 waren es ell skeptischer, wenn Flügge seine Ideen ausführt. Den Gottes- gerundet ebenso viele, deren Zahl ist im Verhältnis zum Bevölke- dienst an sich erklärt er für tot und verzichtbar. Das klingt nach rungswachstum genau genommen sogar leicht gesunken. radikaler Reform, zugleich wünscht er sich aber auch ein ve- hementeres Eintreten der Protestanten für den Auferstehungs- Austrittsgründe: Die Bindung fehlt glauben, das Fundament der Kirche, wie er schreibt. So vereint ausgerechnet der als progressiv geltende Flügge zwei Sichtwei- Zusammengenommen zeigen die Statistiken vor allem eine Ten- sen auf die Krise, die symptomatisch geworden sind für den denz deutlich: Die Zahl der Christen in Deutschland sinkt über Umgang mit dem Mitgliederschwund. Denn wirft man einen die Grenzen von Denominationen und Konfessionen hinweg – Blick darauf, was Theologen, Experten für Gemeindebau oder teilweise dramatisch. schlicht Christen von der Basis vorschlagen, um Menschen neu

8 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 TITEL für die Kirche zu begeistern, dann kristallisieren sich vor allem Die Landeskirchen setzen derweil auch auf Konzepte, die sich zwei Deutungsmuster heraus. Die einen wollen Kirche neu den- den klassischen gottesdienstlichen Formaten wie Predigt, Lob- ken, auf Begegnung statt frontale Beschallung im Gottesdienst preis und gemeinsamem Vater Unser entziehen. Fresh X, ad- setzen, Lehre durch Dialog eintauschen, mit Konventionen bre- aptiert aus der Anglikanischen Kirche Großbritanniens, will chen. Die anderen fordern ein – mal mehr, mal weniger – ra- gezielt im Lebensraum der Menschen wirken und setzt vor al- dikal ausgeprägtes Zurück-zu-den-Wurzeln, etwa der Autor und len Dingen auf Niedrigschwelligkeit. Kirche soll da sein, wo die Blogger Markus Till. In seinem Buch „Zeit des Umbruchs“ plä- Menschen sind – das kann auch bedeuten, dass vor dem Kiten diert er für ein kompromissloses Back-to-the-Roots, kann dem in der Ostsee ein gemeinsamer Austausch der Sportler über Le- Mitgliederschwund sogar etwas Positives abgewinnen: „Die benskrisen und den Sinn des Lebens stattfindet, wie im Falle der Kirche ist unaufhaltsam auf dem Weg, wieder das zu werden, Camps von Pastor Neumann. Oder ein Escaperoom einen neu- was sie ursprünglich war: Eine Freiwilligenkirche von entschie- en Zugang zu biblischen Themen schafft. „Wir wollen nicht die denen Jesusnachfolgern.“ verfasste Kirchenstruktur retten, sondern einen Glauben leben, Januar 2018. 11.000 Christen aus katholischen, protestan- der in der Welt wirkt“, beschreibt Rolf Krüger seine Arbeit. Der tischen und freikirchlichen Gemeinden treffen sich in Augs­ Gründer der Plattform Jesus.de kümmert sich heute um die Öf- burg. Auf der Bühne in der Messe stehen die Worte „Jesus, Je- fentlichkeitsarbeit der in Deutschland als Verein organisierten sus, Jesus“. Eine Band mit E-Gitarren, Schlagzeug und flott ge- Fresh-X-Bewegung. In einem Podcast tauschte er sich kürzlich kleideten jungen Musikern beschallt die Besucher. Später wird mit Kollegin Katharina Haubold darüber aus, dass klassische der Gründer des örtlichen Gebetshauses und Initiator der Kon- frontale Konzepte nicht mehr sein Zugang zu Kirche seien. Er ferenz mit dem Titel „Mehr“, Johannes Hartl, predigen. Die Ta- wolle sich nicht mehr „anpredigen lassen“. Dabei könnte auch gesschau berichtet wohlwollend über das Großevent, das seit ein klassischer Predigtgottesdienst ins Fresh-X-Schema passen 2012 steigende Besucherzahlen verzeichnet. Von Besucher- – wenn das Format dem Lebensgefühl der Gemeinschaft ent- Fotos: Ruth Brozek; Gebetshaus Augsburg Gebetshaus Brozek; Ruth Fotos: Katholik Johannes Hartl auf der Mehr-Konferenz

oder Begeisterungsmangel an kirchlichen Themen ist hier spricht, in der das jeweilige Projekt wirken soll. Diversität, Di- nichts zu spüren. Und das, obwohl Hartl zu den Konservativen alog und Mission sollen Hand in Hand gehen und Berührungs- seiner Zunft gehört: Die Pille etwa sieht er kritisch. 2018 veröf- flächen für jeden ermöglichen – egal aus welchem Milieu er fentlichte er gemeinsam mit anderen ein „Mission Manifest“, oder sie stammt. Ob das Konzept aufgeht, ist schwer zu sagen. in dem Hartl unter anderem mehr Evangelisation durch die Die Verantwortlichen legen Wert darauf, dass die unterschied- Kirche fordert und eine Abkehr vom „humanistischen Main- lichen Formate „Erprobungsräume“ sind. Seit 2015 haben sie stream“. „Die Kirche muss wieder wollen, dass Menschen ihr zum Beispiel ihren festen Platz in der Evangelischen Kirche Leben durch eine klare Entscheidung Jesus Christus überge- Mitteldeutschland. Erste Erhebungen zeigen Erfreuliches: Zwi- ben“, heißt es in dem Schreiben. Im Juni twitterte er: „Ich kann schen 2.600 und 4.700 Menschen konnten die insgesamt 33 un- die Frage nicht mehr hören, was Kirche tun müsse, um attrak- terschiedlichen Angebote von Streetwork im Problemkiez bis tiv zu werden. Es gibt genau eins, das attraktiv an Kirche ist: Kochgruppe im Stil eines Hauskreises bisher erreichen. Über die Gegenwart Jesu. Wo tatsächlich sein Wort geglaubt, gebe- die Hälfte von ihnen hat nach Angaben der Kirche zuvor keinen tet, gefastet und seiner Kraft konkret vertraut wird, ist auch Kontakt zu christlichen Gruppen gehabt. Die meisten Besucher Kraft da.“ Entgegen allem, was Studien und Mitgliederprogno- sind zwischen 20 und 40 Jahre alt – genau jene Bevölkerungs- sen verlauten lassen, ist es ausgerechnet ein konservativer Ka- gruppe also, mit der sich die Kirche derzeit besonders schwer- tholik mit zahlreichen Fans an der evangelikalen Basis, der tut. Die Evangelische Kirche Mitteldeutschland hat in den letz- Massen zu begeistern vermag. ten fünf Jahren 12,5 Millionen Euro in die Arbeit investiert.

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 9 TITEL

Vielleicht lässt sich der Erfolg von so unterschiedlichen Ange- eine Einladung zu einem geistlichen Weg, in dem Jesus sich boten wie Fresh X und Hartls Mehr-Konferenz so erklären: Die als Wahrheit erschließt“, sagt Pompe. Seiner Meinung nach er- eine Form erreicht jene, die bereits kirchlich sozialisiert sind gibt sich der Inhalt für postmoderne Zuhörer erst nach einer – und die konventionelle Gestalt frommer Veranstaltungen schät- möglicherw­ eise längeren – „gemeinsamen geistlichen Reise. zen. Die andere eher jene, die einen neuen Zugang suchen oder Rainer Schacke ist Direktor des Berliner Instituts für urbane gar nicht wissen, wonach sie sich eigentlich sehnen. Der Theo- Transformation und leitet gemeinsam mit anderen eine Freie loge an der Hochschule des CVJM Tobias Faix erklärt es im Ge- evangelische Gemeinde in Berlin. Neben der Lehre vom Reich spräch mit pro so: „Wir brauchen beides, weil es unterschied- Gottes und der Versöhnung des Menschen mit Gott durch Je- liche Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen gibt und sus Chris­tus gehören für ihn die Einladung zur Lebenswende sich im großen Bild einiges gut ergänzt.“ Und damit meint er und biblische Ethik zur Basisausstattung christlicher Gemein­ einerseits die Such-Orte mit ungewöhnlichen und überraschen- schaften – auch heute und künftig. Gemeinde Jesu und ihre den Formaten und andererseits die kirchenmassenkompatiblen Gottesdienste sollten kontextuell relevant sein, ohne den Inhalt Konferenzen eines Johannes Hartl. Wichtig, so Faix, sei es, dass des Evangeliums zu kompromittieren. Wer klassisch-liturgische die missionarische Kraft und die Beziehung zu den Menschen Gottesdienste grundsätzlich abschaffen wolle, vernachlässige vor Ort nicht verloren gehe. Laut einem Aufsatz, den er gemein- allerdings jene, die diese Form schätzen. Bei etlichen Freikir- sam mit Kollegen für sein neues Buch „Kirche, ja bitte!“ verfasst chen und auch im Bereich der Evangelischen Allianz sieht er ein hat, wird sich die Zukunft der Kirche auch an den religiös In- großes Versäumnis der letzten Jahrzehnte: Die Haltung war zu differenten und Suchenden entscheiden. Jenen also, die zu we- defensiv und zu wenig auf den kulturellen Zugang zum direkten nig Bezug zu ihrer katholischen Gemeinde haben, um zum Bei- Umfeld der Gemeinden ausgerichtet. „Wir müssen neu lernen, spiel nach Aufdeckung eines Missbrauchsskandals dennoch das Evangelium in unsere Kontexte hinein zu buchstabieren Mitglied zu bleiben oder gar das System verbessern zu wollen. und in Gottes Mission unterwegs zu sein“, sagt er und meint da- Oder jenen, die zwar evangelisch getauft sind, aber danach nur mit, dass die Ortsgemeinde auch die Vielfalt der Menschen um noch zu Weihnachten mit ihren Eltern in der Kirche waren. Laut sie herum in den Blick nehmen sollte. Soll für eine Stadt wie Faix gilt beim Thema Austritt eine einfache Kosten-Nutzen-­ etwa Berlin heißen: Der Hipster aus Prenzlauer Berg sollte eben- Rechnung: „Man tritt dann aus, wenn sich das Gefühl einstellt, so angesprochen werden wie die aus Syrien geflüchtete Musli- dass eine Mitgliedschaft in der Kirche viel mehr kostet, als sie ma. Die kirchlich sozialisierte junge Frau ebenso wie der im hu- einem nutzt.“ Was muss bleiben? manistischen Verband engagierte Mann mittleren Alters. Frei- lich müsse nicht jede Gemeinde jeden Stil bedienen und kön- Wahrheit entdecken ne nicht jeden erreichen. Aber die Auseinandersetzung mit der Kultur um sie herum gehört für Schacke zum christlichen Le- Liegt das Heil der Kirche also künftig in bühnenkompatiblen ben in der Postmoderne dazu. „Die Kirchen können nicht ein- Großveranstaltungen mit perfekt arrangierten Lichtshows und fach weiter das machen, was sie immer gemacht haben“, sagt Soundeffekten? Oder eher im Stuhlkreis mit Atheisten auf der er. Dazu gehört auch: Sie können nicht nur erwarten, dass die Suche nach dem Sinn des Lebens? Experten aus Landeskirchen Menschen zu ihnen kommen, sondern Kirche muss sich auf den und dem freikirchlichen Bereich sehen in beidem Chancen und Weg zu den Menschen machen. Beispielhaft für ein Engage- Probleme. Der Theologe Hans-Hermann Pompe von der Arbeits- ment, wie Schacke es sich vorstellt, ist die Arbeit des Vereins gemeinschaft missionarische Dienste bei der Diakonie Deutsch- „Move In“. Dabei ziehen Christen in Brennpunktgegenden und land beschäftigt sich hauptberuflich mit der Frage, wie Kir- pflegen die Kontakte mit den Menschen vor Ort, erleben ihre che sich entwickeln muss, um jene anzusprechen, die sie der- Sorgen und Probleme nicht nur aus der Distanz, sondern wer- zeit nicht mehr erreicht, zugleich aber ihren Kern nicht verliert. den Teil der Nachbarschaft. In Fresh X sieht er einen von vielen Wegen, die es zu erproben Begegnungsflächen wie diese will auch Pompe schaffen – gilt, warnt aber vor einer „messianischen Aufladung“ der Bewe- nur eben auch mithilfe klassischer Konzepte. Er lobt die Aktion gung. Es gibt vieles, von dem sich die althergebrachten christ- „Gottesdienst erleben“, deren Inhalt so simpel wie wirksam ist: lichen Institutionen verabschieden müssen, ist er sich sicher: Christen laden Menschen, die sie persönlich kennen, zu Gottes- Eine automatische fromme Sozialisation gehört ebenso dazu, diensten ein – und diese sind dann so gestaltet, dass die neu wie alte Formate als Massenveranstaltung. Abschaffen will er Dazugekommenen sich so willkommen wie möglich fühlen. In den Gottesdienst, so wie Erik Flügge vorschlägt, dennoch nicht. der Predigt fallen keine fromm besetzten Begriffe. Jeder Teil der „Auch Herr Flügge ist froh, wenn das italienische Restaurant Liturgie wird erklärt. Keine Voraussetzungen, kein Insidervoka- an der Ecke zuverlässig geöffnet hat, sollte es ihn einmal nach bular, volle Annahme, könnte man das Prinzip zusammenfas- Pizza verlangen“, erklärt er gegenüber pro. „Wir kommen nicht sen. ohne Verkündigung aus“, sagt er, auch wenn sich über die Form Letztendlich können Veranstaltungen wie diese jedoch nur selbiger streiten lasse. So hält er Widerspruch aus der feminis- den Weg in die Kirche eröffnen. Ob die Menschen bleiben, ergibt tischen Bewegung gegen ausschließlich männliche Sprach- sich aus dem Innenleben der Kirchen und damit dem Engage- formen der Rede von Gott für völlig verständlich. „Gott ist Herr ment jedes einzelnen Christen: Gelingt es ihnen, Kontakte zu je- der Welt, aber Gott ist kein Mann“, sagt er. Außerdem müsse nen aufzubauen, die ihre Weltsicht nicht automatisch bejahen? sich die Kirche auch eingestehen, dass eine Predigt, basierend Interessieren sie sich für deren Sinnfragen? Daran wird sich die auf dem Bibelsatz Jesu: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und Zukunft der Kirche entscheiden – egal ob sie Kite-Pastoren an- das Leben“ heute vielleicht mehr Menschen abschrecke als be- stellt, Ecaperooms entwickelt, Kirchenbänke unter freien Him- geistere. „Jesu Satz ist kein Vogel-friss-oder-stirb-Satz, sondern mel stellt oder ganz klassische Gottesdienste feiert.

10 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 TITEL „Alle melden sich bei mir. Warum meldet sich meine Kirche nicht?“

Markus Wiesenberg hat erforscht, wie Kirche kündigungssendungen im öffentlich-rechtlichen TV und kommuniziert. Im Gespräch mit pro erklärt er, Rundfunk, zumindest kritisch zu betrachten ist.“ Was be- was Kirche ändern muss, damit der Kontakt deutet das? Die Volkskirche ist eigentlich insofern keine Volkskirche zu den Menschen nicht abreißt. | die fragen mehr, als sie eben für große Teile der Bevölkerung keine Rolle stellte stefanie ramsperger mehr spielt. Inwiefern ein Anspruch der Kirchen auf Verkündi- pro: Herr Wiesenberg, C.S. Lewis hat einmal gesagt: „Wenn das Christentum falsch ist, ist es bedeutungslos; wenn es stimmt, ist es von unendlicher Bedeutung. Was es nicht sein kann: ein bisschen wichtig.“ Müsste es nicht ziemlich einfach sein, ein Produkt mit unendlicher Bedeutung an den Mann zu bringen? Markus Wiesenberg: Der philosophische Kern von Lewis’ Satz stimmt. Aber wenn dies auf die aktuelle Realität trifft und damit auf eine geringe Nachfrage, stoßen wir auf das Span- nungsfeld, dass Religion in der westlichen Welt nicht mehr so stark verankert ist. Daher steht die Kirche vor der großen He- rausforderung, dass sie überhaupt gehört wird. In einer zu- nehmend säkularisierten Welt ist es schwieriger für Kirche, in der Medienwelt durchzudringen. Denn auch Algorithmen sind hier ja nicht neutral in der digitalen Medienwelt. Sie schreiben: „Es wird deutlich, dass mit einer De-­ Institutionalisierung der christlichen Institutionen bzw. einem Rückgang der Kirchenbindung die Frage nach einem christlichen Mehrwert für alle zum Beispiel durch die Ver-

Markus Wiesenberg, Jahrgang 1986, ist Postdoc am Lehrstuhl für Strategische Kommunikation am Institut für Kommu- nikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig und selbstständiger Kommunikationsberater. Während der Promotionszeit betreute er den European Communication Monitor (ECM) als Pro- jektmanager. Bereits vor und während des Studiums der Publizistik- und Kom- munikationswissenschaft sammelte er Erfahrungen in den Bereichen kirch- licher PR und Journalismus, Unterneh- menskommunikation, Marketing und Wissenschafts-PR.

Foto: privat

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 11 TITEL gungssendungen in TV und Rundfunk weiterhin gesellschaftlich eine Kirche geführt. Auch die Kampagnen der EKHN (Evan- legitimierbar bleibt, wenn die Mehrheit der Gesellschaft nicht gelische Kirche in Hessen und Nassau) wie „Die Bibel auf mehr kirchlich gebunden ist, wird in Zukunft diskutiert werden. einem Bierdeckel“ erscheinen mir sehr zeitgemäß und von Bedeutet das, dass Kirche Ihrer Ansicht nach zu viel in den der Zielgruppe her gedacht. Medien vorkommt? Welche Ideen haben Sie für Gemeinden, die ihre Öffent- Das bedeutet erstmal nur, dass sich die Kommunikation der Kir- lichkeitsarbeit verbessern möchten? che ändern muss und man sich stärker auf die Eigenmedien kon- Ich berate ja auch Gemeinden und wir klären immer zu- zentrieren sollte. Mit klassischen Pressemitteilungen werden Kir- nächst die grundlegenden Fragen: Wer sind wir als Ge- chen weniger durchkommen: Früher wurden ganze Textpassa- meinde und was zeichnet uns besonders aus? Wer sind un- gen von Predigten abgedruckt – auch in überregionalen Printme- sere Gemeindemitglieder und was sind unsere Ziele? Wen dien. Das gibt es immer seltener. Entsprechend haben sich auch wollen wir erreichen? Dann muss man Ehrenamtliche fin- Pressemitt­eilungen geändert, sodass die christliche Botschaft den, die Spaß daran haben, in dem Bereich aktiv mitzu- nicht mehr der entscheidende Kern ist. Das ist schade für die arbeiten. Wenn das Team steht, kann man aus dem Leit- christliche Botschaft an sich, aber es ist noch nie Aufgabe von bild und den Zielen sowie Zielgruppen konkrete Kommu- säkularen Medien gewesen, christliche Botschaften zu verbrei- nikationsmaßnahmen einleiten und dafür Ziele setzen, die ten. Solange es noch eine christliche Mehrheitsgesellschaft gab, man in regelmäßigen Abständen überprüft. Zum Beispiel war es aus Sicht der Medien noch ein Nachrichtenwert. Aber das machen wir eine Leserbefragung zum Gemeindebrief: Von scheint immer weniger der Fall zu sein. Das ist aus christlicher wem wird der Gemeindebrief analog gelesen? Wer möchte Perspektive zu bedauern. Für die Kirchen bedeutet es, dass der lieber einen Newsletter digital? Weg zur Direktkommunikation sinnvoller und ein konsequenter Auf welchen Social-Media-Kanälen sollten Gemeinden Schritt ist. Jedoch tut man sich hier derzeit noch schwer und pro- aktiv sein? biert das ein oder andere eher halbherzig aus. Gemeinden müssen die Kanäle nutzen, wo ihre Mitglie- Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund die EKD-YouTuberin der unterwegs sind. Ich empfehle keinen blinden Aktio- Jana Highholder? nismus, sondern strategisches Herangehen: Wenn keiner Wenn Sie sich die Logik von Influencern anschauen, sind das aus der Gemeinde bei Instagram aktiv ist, brauche ich den erstmal diejenigen, die ein persönliches Interesse daran haben, Kanal nicht. Ich muss nicht Facebook machen, nur weil es Einfluss zu gewinnen. Ich habe den Eindruck, dass die Kirche scheinbar alle machen, wenn die Mitglieder es nicht nut- das ein bisschen okkupieren will. Bei der Zusammenarbeit von zen und das nicht aktiv unterstützen – also als Botschafter Influencern und Unternehmen buchen sich Unternehmen bei In- Inhalte teilen. Das muss ich zunächst herausfinden. Dazu fluencern ein. Bei der Kirche ist das eher so eine Art Influencer-­ kommt: Diese Kanäle kann man nicht kontrollieren und sie Relation, also eine gegenseitige Beziehung. Die Frage ist letzt- sind nicht statisch, sondern sie leben vom Austausch und lich, ob das, was Jana Highholder macht, am Ende auf die Evan- der Interaktion. Überregional und insbesondere national gelische Kirche zurückfällt und ob es insofern strategisch einge- müssen Protestanten und Katholiken überall präsent sein. setzt ist. Das sehe ich in diesem Fall eher nicht. Denn der Auftrag ist ja klar: Gehet hin in alle Welt.

„Es gibt keine Blaupause für Kirche, wie sie kommunizieren muss, damit es am Ende zum Erfolg wird.“

Warum haben Sie begonnen, sich mit kirchlicher Öffentlich- Und die Freikirchen? keitsarbeit zu beschäftigen? Freikirchen haben als Bünde kaum Ressourcen, um die Ich bin in der Evangelischen Kirche aufgewachsen und habe dort Kommunikation strategisch anzugehen. Deshalb werden in der Jugendarbeit angefangen, Öffentlichkeitsarbeit zu machen. sie auch nicht wahrgenommen oder sogar als Sekten oder Ich bin also über die Kirche zur Öffentlichkeitsarbeit gekommen Fundamentalisten gebrandmarkt. Entsprechend findet und habe dann bei Unternehmen und Non-Profits PR und Mar- Kommunikation in der Regel nur lokal auf Gemeindeebene keting gemacht. Mit dem Thema kirchliche Öffentlichkeitsarbeit statt. Das bewegt sich aber bis auf wenige Ausnahmen un- habe ich mich dann im Studium wieder beschäftigt; was dann ter der Wahrnehmungsschwelle. Anlass für die Promotion zur strategischen Ausrichtung der ge- Welches sind die größten Herausforderungen von Kir- samten Kirchenkommunikation war. chenkommunikation heute? Sind Sie gläubig? Dass man überhaupt einen strategischen Ansatz fin- Ja, ich würde mich durchaus als gläubigen Christen bezeichnen. det und dass man Leute involviert, die Erfahrung im Welche Kirchenaktion hat Sie zuletzt überzeugt oder gar be- Kommunikationsmana­ gement haben. Für die kirchliche geistert? Publizistik bedeutet es, dass sie Mitglieder stärker einbin- Das Bistum in Köln hat zur Computerspiele-Messe Gamescom im den sollte, beispielsweise durch Online-Foren. Eine große vorletzten Jahr den Dom mit Lichtinstallation und Virtual Reality Herausforderung stellen zudem die Ressourcen für Kom- ausstaffiert. Das hat auch viele junge Menschen wieder einmal in munikation sowie die Ausbildung der Pfarrerschaft dar.

12 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 TITEL

Sie kritisieren, dass Theologen in ihrer Ausbildung nicht Druckereien spart man Geld und kann ebenfalls eine gewisse Pro- lernen, strategisch zu kommunizieren. Was würden Sie fessionalität erhalten. Die Landeskirchen müssen darüber hinaus gern ändern? Aus- und Weiterbildungsmodule bereithalten. Die EKD muss na- Die Pfarrerschaft sollte ein Grundverständnis von Kommu- türlich die großen Themen bespielen, beispielsweise durch den nikation und Medien erhalten. Sie sollten sich ausführlich Ratsvorsitzenden. Hier sehe ich viel Bedarf: Wenn sich die Kom- mit Kommunikations- und Medienwissenschaft beschäf- munikationsleiter besser abstimmen würden, könnten sie stärker tigen. Gerade weil wir sehen, dass Medien zunehmend und gemeinsam nach vorne gehen. Da gibt es noch viel zu wenig die Gesellschaft verändern. Kommunikation findet immer gemeinsame Standards unter den Landeskirchen. mehr durch digitale Medien statt. Deswegen muss ich die Wie bewerten Sie die EKD-Ratsvorsitzenden der vergangenen grundlegenden Ansätze von Kommunikation kennen und Jahre im Hinblick auf ihre Medientauglichkeit? ein Verständnis von unterschiedlichen Medien sowie deren Aus Sicht der Medientauglichkeit ist der aktuelle Ratsvorsitzende Wirkung haben. Heinrich Bedford-Strohm ein Segen für die EKD. Frau Käßmann Wozu brauchen sie konkret solche Kenntnisse? war und ist ebenfalls sehr medienaffin. Denjenigen, die in den Pfarrdienst gehen wollen, muss Und dennoch sind die Katholiken medial sehr viel präsenter klar sein, dass sie Personen des öffentlichen Lebens sind als die Protestanten. Woran liegt’s? und ihre Aussagen auch ein mediales Echo erzeugen kön- Vor allem daran, dass sie in den vergangenen Jahren besonders nen. Sie müssen wissen, was sie zu tun haben, wenn durch das Missbrauchsthema medial sehr präsent waren. Außer- Presseanfr­ agen kommen, und wie Krisenkommunikation dem gibt es bei den Katholiken die zentrale Figur des Papstes. erfolgreich umgesetzt werden kann. Wie wichtig eine mit Sie schreiben: „In jenen Städten, in denen auf der Dekanats­ der Landeskirche abgestimmte Kommunikation ist und ebene eine PR-Stelle vorhanden ist, gibt es signifikant mehr welche Rolle die unterschiedlichen Ebenen in der Kom- traditionell-innenorientierte und weniger wachstumsorien- munikation spielen. Das alles müssen Pfarrerinnen und tierte Kongregationen als dort, wo eine solche Stelle auf der Pfarrer nicht selbst machen, aber sie müssen wissen, was Dekanatsebene nicht vorhanden ist.“ Wie erklären Sie diesen zu tun wäre und an wen sie sich zu wenden haben. Das Widerspruch? gilt auch bei der Weiterbildung von Ehrenamtlichen in Die PR-Verantwortlichen auf der Dekanatsebene berichten häufig diesem Bereich. von einer sehr zähen und schwierigen Zusammenarbeit mit der Kirchen agieren auf verschiedenen Organisationsebe- Pfarrerschaft und machen dann häufig die Sachen lieber selber, nen. Welche kommunikativen Inhalte sollte zum Bei- als es sich mit der Pfarrerschaft zu verderben. Das scheint wiede- spiel die EKD einzelnen Gemeinden bereitstellen? rum für die Gemeinden ein Signal zu sein, um sich diesbezüglich Das Prinzip der Subsidiarität, wie es in der Katholischen weiter zurückzuziehen. Die Dekanate sollten jedoch nicht die Ar- Kirche stark betont wird, ist sehr sinnvoll: Jede Ebene soll beit einfach übernehmen, sondern die Gemeinden ebenfalls be- das tun, was sie tun kann. Bei Einsparungsprozessen kann fähigen. professionelle Öffentlichkeitsarbeit auf der lokalen Ebene Der Kirche laufen die Menschen weg. Die jüngsten Mitglieder- häufig nicht mehr geleistet werden. Dann muss ich das auf statistiken zeigen, dass immer weniger Menschen dabei sind. der Dekanatsebene stärker in den Blick nehmen. Das be- Was kann Kirche dieser Entwicklung entgegensetzen? deutet, man braucht auf Dekanatsebene mindestens eine Vor allem den Großkirchen laufen die Menschen nicht davon, halbe Stelle für Öffentlichkeitsarbeit, die auch die Gemein- sondern sie sterben weg. Dass zu wenig nachkommen, ist auch den im Blick hat. In der Evangelischen Kirche ließe sich eine demografische Geschichte. Nichtsdestotrotz muss sich Kir- das gut mit der alle vier Jahre stattfindenden Supervision che stärker auf unterschiedliche Zielgruppen einstellen, ohne koppeln und diese nicht nur theologisch, sondern auch auf die Stammmitglieder abzuschrecken. Also einerseits beispiels- Kommunikationsebene durchführen. weise stärker auf jüngere Familien zugehen und andererseits Die Landeskirche beziehungsweise Bistümer sind die ältere Menschen nicht vernachlässigen. Sie sollte von Anfang nächsthöhere Ebene. Hier kann man viele Dinge vorden- an mit ihren Mitgliedern kommunizieren, und zwar an allen ken und sich überlegen: Wie können wir Gemeinden und Lebenswendepunkten: Wenn ein Kind zum Beispiel in einem Pfarreien so unterstützen, dass professionelle Kommuni- Krankenhaus in evangelischer Trägerschaft geboren wird, wo kation fast automatisch passiert? Ich muss Hilfsmittel zur ist dann die Kirche? Inwiefern bekommen hier die Kinder schon Verfügung stellen, die Kirchengemeinden unkompliziert etwas mit, das sie später daran erinnert, dass sie in einem evan- nutzen können. Die EKD vertritt ja primär die Landeskir- gelischen Haus geboren wurden? Wie wurde vor, während und chen auf der Bundesebene und zwischen EKD und den Ge- anschließend mit den Eltern kommuniziert? Das Krankenhaus meinden vor Ort gibt es nur wenige Schnittmengen. könnte sich zum ersten Geburtstag nochmal melden und ein Wie könnte das konkret aussehen? Foto schicken. Wenn ich heutzutage Kunde oder Mitglied bei ei- Viele Landeskirchen bieten den Gemeinden Baukästen an, ner Organisation bin, melden die sich bei mir – ob es sich um um eigene Webseiten zu erstellen. Das kann die Arbeit vor den Handyvertragsanbieter, Versicherungen, Automobil- oder Ort vereinfachen. Wenn die Inhalte noch in eine gemein- Sportverein handelt. Alle melden sich bei mir. Warum meldet same Datenbank laufen, sodass auch lokale News es auf sich meine Kirche nicht? Die Kirche muss in allen Lebensphasen die Webseite der Landeskirche schaffen, dann ist es umso auf die Menschen zugehen. Deswegen ist die Direktkommunika- erfreulicher und spornt an. Darüber hinaus könnte man aus tion mit den Mitgliedern heute so wichtig und wird in Zukunft diesem Tool auch gleich den Gemeindebrief oder Newslet- noch viel wichtiger. ter erstellen. Durch Rahmenverträgen mit Agenturen und Vielen Dank für das Gespräch!

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 13 TITEL

Den Kirchen laufen die Mitglieder davon. Doch es gibt auch kreative Ideen und Projekte, mit denen Kirche Zukunft gestalten und Menschen erreichen will. pro stellt im Rahmen einer neuen Serie gelungene Ansätze vor. Dieses Mal: Das „raumschiff.ruhr“ in Essen und der „Escape Room“ in Mannheim. | von johannes blöcher-weil

Wer? Das raumschiff.ruhr ist eine In- itiative, die der Kirchenkreis Essen ins Leben gerufen hat. Was? Die Marktkirche in Essen wird seit etlichen Jahren nicht mehr von einer Gemeinde genutzt. Seit drei Jahren füllt unter anderem das raumschiff.ruhr das Gotteshaus mit Leben. Dazu gehören wöchent- liche Andachten, geistliche Ange- n Essen ist 2016 ein Raumschiff ge- unterstützte die Ideen. Fester Bestandteil bote im Laufe des Kirchenjahres und landet. Mitten in der Stadt. Das raum- der Arbeit war von Anfang an „Orbit“. Je- Konzerte. Auch außerhalb der Kir- Ischiff.ruhr ist kein echtes Raumschiff, den Mittwoch um 19 Uhr feiern die Besu- che unternehmen die Besucher des sondern ein innovatives Projekt des Kir- cher dort in einer Andacht die Mitte der raumschiff.ruhr viel gemeinsam. chenkreises. Es nimmt auch solche Men- Woche und des Lebens. Die Andacht bie- Ziel? Ein Ziel der Initiatoren ist es, schen in den Blick, die sich schwertun, in tet Musik, Stille und Zeit, sich mit bibli- vor allem jüngeren Singles ein An- anderen Kirchengemeinden anzudocken. schen Texten zu beschäftigen. Der Stuhl- gebot zu machen, die „normale“ Die Verantwortlichen wollen jungen kreis ist offen. Menschen, die zufällig in Kirchengemeinden aus dem Blick Erwachsenen Raum für Gemeinschaft, die Kirche kommen, dürfen sich gerne verloren haben. Damit ist das raum- Schönheit und Glauben bieten. Das Pro- dazusetzen und die Auszeit vom Alltag schiff.ruhr ein kleines Puzzleteil in jekt in der Marktkirche Essen ist vielfäl- genießen. der großen Kirchenlandschaft. tig: Andachten, spirituelle sowie musika- Was ist das Besondere? Die gute Mi- lische Angebote im Herzen der nordrhein­- Anstoßen auf die prägenden schung aus kulturellen und geist- westfälischen 500.000-Einwohner-Stadt. Ereignisse des Lebens lichen Angeboten. Ausgedacht hat sich das die Theologin Stärken? Mitten in der Stadt, Rebecca John Klug. 30 bis 45 Minuten dauert die Zeit der Be- zwischen Bahnhof und Universi- Als im Kirchenkreis Essen strukturelle sinnung. Danach bleiben viele Teilneh- tät, ist die Lage genial, um Anknüp- Änderungen anstanden, wurde auch mer, um etwas zu essen, ein Feierabend- fungspunkte zu schaffen und dort zu über die weitere Nutzung der Markt- bier zu trinken und sich über private Sor- sein, wo sich das Leben abspielt. kirche diskutiert. Regelmäßige Gottes- gen und Freuden auszutauschen. „Hier Schwächen? Eine nachhaltige Arbeit dienste gab es hier schon lange nicht kommen häufig Menschen her, die sich ist schwierig, da viele Besucher oft mehr. John Klug entwickelte die Idee des in Übergängen befinden“, sagt Hanna Ja- nur für eine überschaubare Zeit in Raumschiffs. Der Name bezieht sich auf cobs. Sie kam 2018 als Pfarrerin im Pro- Essen sind und sich engagieren. Da- die „raketenförmigen“ Fenster der Kir- bedienst nach Essen, nachdem ihre Vor- durch müssen sich die Verantwort- che. Zudem soll die Zielgruppe das Kir- gängerin ein Kind bekommen hatte. Ei- lichen vor allem auch immer wieder chenschiff als ihren Gestaltungsraum nen regelmäßigen Gottesdienst bietet das Gedanken machen, welche Ange- sehen. Als „privilegierter Untermieter“ Projekt nicht an. Dennoch wollen die Ver- bote bestehen bleiben können und darf das raumschiff.ruhr die Kirche und antwortlichen mit ihren Besuchern das welche sie lassen müssen. die Kellerräume für seine Angebote nut- Kirchenjahr gestalten und zum Beispiel zen. Die Superintendentin Marion Greve gemeinsam Heiligabend feiern.

14 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 Beim Kirchenprojekt raumschiff.ruhr in Essen sind alle Menschen willkommen

Fotos: Raumschiff Ruhr

In der Passionszeit gab es ein gemein- Musiker auf. Vier Stunden lang „verzau- fel, Sorgen und Nöte aus. Das neueste sames Angebot mit dem Namen „Trost- berten“ sie den Essener Flachsmarkt mit Projekt ist ein „Co-Working-Space“. Frei- raum“, im kommenden Jahr soll es einen ihren Klängen. tags richten die Hauptamtlichen die bei- „Raum für Risse“ geben, der hilft, die den Kellerräume so her, dass alle Interes- Karfreitagsbotschaft zu betrachten. Die Bewusst Menschen ohne sierten, denen es möglich ist, hier ihrem Teilnehmer konnten sich mit verschie- Familie im Blick Tagwerk nachgehen können. denen Formen des Trostes befassen und am Ostermorgen gemeinsam die Aufer- Das Raumschiff möchte solche Formate Das Raumschiff bleibt in stehung feiern. In diesem Jahr begann ermöglichen. Menschen sollen hier an- Bewegung die Nacht von Karsamstag auf Ostersonn- kommen und ihr Leben teilen: „Wir ha- tag mit einem Konzert. ben auch bewusst Menschen ohne Fami- Die Landeskirche finanziert das Projekt lie im Blick. Viele gestalten ihre Freizeit mit zwei Stellen, die sich auf 175 Prozent Musik in Wohlfühlatmosphäre zusammen, bei einer Kanutour, einem summieren. Bei jährlichen Treffen mit Museumsbesuch oder beim Abhängen im den Ehrenamtlichen blicken die haupt- Aus den Wünschen und Bedürfnissen der Park“, erzählt Jacobs. amtlichen Mitarbeiter in die Zukunft und Zielgruppe hat sich das Projekt „Raum- Sie beobachtet, dass es viele Menschen überlegen, welche Formate sie fortführen klang“ entwickelt. Das Rezept ist ein- gibt, die solche Angebote vermissen: und welche nicht. fach. Die Verantwortlichen laden Musi- „Die Menschen sind hier nicht wegen ih- Jacobs ist es wichtig, für Verände- ker ein, die in Wohnzimmeratmosphäre rer Gaben willkommen. Sie sollen sich rungen offen zu sein, die in die Lebens- kleine Konzerte „unter der Stehlampe“ nicht aus Pflichtgefühl einbringen, son- wirklichkeit der jungen Menschen pas- geben. Diese sind bei Musikern und Be- dern, weil sie das möchten. Wir suchen sen. Das raumschiff.ruhr ist natürlich ein suchern gleichermaßen beliebt: „Für uns nicht Mitarbeitende für etwas, sondern Aushängeschild, aber für die Mitarbeiter ist das eine Chance, junge Leute zu errei- Freiheiten für das, was sein soll. Jeder auch nur ein Puzzleteil in der großen Kir- chen“, sagt Kirsten Graupner. Sie war frü- kann mitdenken und seine Ideen einbrin- chenlandschaft. Sie möchten junge Men- her Ehrenamtliche. Seit Kurzem bildet sie gen.“ Aus einer dieser Ideen ist das Ange- schen in ihrem Glauben begleiten: „Letz- als Gemeindepädagogin das Tandem mit bot „Brot und Wein“ entstanden. Einmal ten Endes hat es der Heilige Geist alles in Jacobs. Auch bei dem Projektteil „Frei- im Monat treffen sich Menschen sonntags der Hand.“ Jetzt, wo sie zu zweit die Ar- klang“ steht die Musik im Vordergrund. um 19 Uhr in der Kirche zum Abendmahl. beit voranbringen, genießen sie es mehr 2018 traten bei dem kleinen Musikfesti- Bei Brot und Wein tauschen sie sich über denn je, gemeinsam „Gott zu fragen, was val sechs regionale und überregionale ihren Alltag und später auch über Zwei- dran ist“.

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 15 TITEL

Wer? Der Escape Room ist eine Initi- ative der Mannheimer Jugendkirche Samuel. Was? Die Kirche im Herzen von Mannheim wird seit etlichen Jah- ren nicht mehr von einer Gemein- de genutzt. Das Bistum hat sie zur Jugendkirche gemacht. Dort gibt es as Plakat vor der Jugendkirche Sa­ Stühle für den Jugendgottesdienst. Ste­ Jugendgottesdienste, weitere spi- muel verspricht Nervenkitzel und gerer führt uns in Richtung eines Kirch­ rituelle Angebote und den Escape DSpannung – unter Zeitdruck. Das turms. Die Teilnahme ist kostenlos. Room. altehrwürdige Kirchengebäude im Her­ Ziel? Ein Ziel der Initiatoren ist es, zen von Mannheim wird seit wenigen Auf jedes Detail achten mit dem Escape Room Zielgruppen Jahren nicht mehr von einer Kirchenge­ zu erreichen, die ansosnten nicht meinde genutzt. Das Bistum hat deswe­ Sie erklärt uns, was wir in den kommen­ die spirituellen Angebote der Ju- gen entschieden, das Gotteshaus in eine den 60 Minuten beachten müssen. Dann gendkirche wahrnehmen. Deswegen Jugendkirche umzuwidmen. schließt sie die vergitterte Tür hinter uns haben sie den Trend Escape Room Dort soll es Angebote geben, die in die zu. Wir steigen eine enge Wendeltreppe aufgegriffen und ein Angebot aus Lebenswelt der jungen Menschen pas­ nach oben. An den Wänden hängen Hin­ der Lebenswelt der Jugendlichen an- sen. Es gibt altersspezifische Gottes­ weisschilder. Darauf ist das Wort „Hoch­ geboten. dienste, andere spirituelle Angebote und zeit“ zu lesen. Auf der ersten Zwischen­ Was ist das Besondere? Es passt gut eben den Escape Room. Die Idee hatte ebene machen wir Halt. Hier ist ein Raum in die Lebenswelt der jungen Men- der frühere Jugendpfarrer. Das Konzept eingerichtet. In der Mitte gibt es einen schen. Sie haben Spaß und beschäf- ist einfach: Ein Raum wird thematisch festlich gedeckten Tisch. tigen sich ganz nebenbei mit bibli- gestaltet. Grundlage dafür ist im spezi­ Weil wir in einer Kirche sind, können schen Themen. ellen Fall eine biblische Geschichte. Die wir uns schon fast denken, um welches Stärken? Die Jugendkirche hat ei- Spieler werden „eingesperrt“. Sie müs­ biblische Szenario es geht: die Hochzeit nen Trend aufgegriffen, der hoffent- sen in einer vorgegebenen Zeit verschie­ zu Kana. Das Dilemma der Feier war, lich noch lange anhält. Das Konzept dene Rätsel lösen, um den Raum als Sie­ dass der Weinvorrat aufgebraucht war. ist einfach auch an anderen Orten ger zu verlassen. Unser Ziel ist es nicht, wie im biblischen umsetzbar und kann leicht „seine Die Bildungsreferentin der Jugendkirche Bezug, Wasser in Wein zu verwandeln. Kreise“ ziehen. Samuel, Lisa Stegerer, begrüßt uns an Wir müssen lediglich Rätsel lösen, um Schwächen? Der Raum, in dem das der Pforte des Gotteshauses. Mit vier Kol­ den Schlüssel zu finden, mit dem wir den Angebot stattfinden kann, ist über- legen sind wir nach Mannheim gefahren, Kirchturm wieder verlassen können. schaubar. Manche professionelle um den Escape Room auszuprobieren. Stegerer lässt es bei dieser kurzen Ein­ Anbieter „spielen“ in mehreren Räu- Wir gehen noch einmal auf die Toilette. führung bewenden. Dann gilt es für uns men und sind dadurch attraktiver. Das ist in den nächsten 60 Minuten nicht Mitspieler, den Raum genau zu inspi­ mehr möglich. In der Kirche selbst stehen zieren. Erfahrene Escape-Room-Nutzer

16 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 Fotos: pro / Laura Schade Aus der Kirche herausfinden: Beim Mannheimer Escape Room ist genau das das Ziel

wissen, dass es auf jedes kleine Detail Eine eine gute Idee, mal denkt der Ande- Sie können das Szenario dann bei sich ankommen kann. Ist es relevant, dass an re dort weiter, wo es sinnvoll ist. Fünf Mi- vor Ort „spielen“. der gedeckten Tafel nicht auf jedem Platz nuten bevor die 60 Minuten abgelaufen Unterstützt wird Stegerer von zwei jun- ein Messer liegt? Was hat der Spiegel für sind, öffnen wir den Tresor und haben gen Menschen, die ein Freiwilliges Sozi- eine Bewandtnis? Und warum sind die gewonnen. ales Jahr absolvieren. Nach jedem Durch- Flaschen auf dem Beistelltisch unter- Das Team der Jugendkirche möchte gang muss der Raum wieder hergerichtet schiedlich voll? mit dem Escape-Room ein Angebot für werden. Außerdem planen sie noch, eine eine Zielgruppe schaffen, die ihre spiri- Kamera anzubringen. Wenn ständig ein Bunte Mischung an Gruppen tuellen Angebote kaum oder nur selten Mitarbeiter dabei sein muss, bindet das nutzt das Angebot wahrnimmt. Und das gelingt: „Wir ha- personelle Ressourcen. Spannend fin- ben Gruppen mit Firmlingen, aber auch det Stegerer, wie die bis zu zehnköpfigen An der gedeckten Tafel studieren wir die Schulklassen und Kindergeburtstage“, Gruppen zusammenarbeiten. Einzelgän- Speise- und die Weinkarte. Lässt sich erzählt Stegerer. Das Ganze bietet Spaß ger kommen nicht weit. Wer beim Tresor dort aus den unterschiedliche Buchsta- und Spannung. Nebenbei beschäftigen drei falsche Codes eingibt, der wird ge- benkombinationen etwas ableiten? Hat sich die jungen Leute auch noch mit bib- sperrt. der Aktenkoffer auf dem Beistelltisch lischen Inhalten. Das Rätsel ist so konzipiert, dass eine Funktion oder soll er nur verwir- es lösbar ist. Falls eine Gruppe in der ren? Die Fragen häufen sich. Wir ertap- Erfolgreiches Konzept wird Klemme steckt, kann sie Stegerer um pen uns dabei, zu kompliziert zu denken. kopiert Hilfe bitten. Sie und ihr Team sind im Die Bildungsreferentin kann unseren Er- kirchlichen Bereich schon lange nicht folg ein wenig beeinflussen: „Ihr seid auf Heute ist Stegerers erster Arbeitstag nach mehr die einzigen, die so etwas anbie- dem richtigen Weg, aber ihr könnt viel den Sommerferien. Sie hat schon wieder ten. Die Saarbrücker Jugendkirche Elia einfacher denken. Schaut euch mal den viele Anfragen von Gruppen auf ihrem hat das Konzept kopiert. Das darf und Gegenstand dort hinten genauer an“, er- Schreibtisch. Das Angebot zieht Kreise. soll so sein. In Mannheim freuen sie klärt sie uns. Bevor die Gruppe die „Hochzeit zu Kana“ sich, wenn Kirche mit dieser Metho- So kommen wir immer ein paar klei- spielen konnten, galt es Aaron und Mose de Glaubensinhalte erlebbar machen. ne Schritte vorwärts – mal mit Hilfe und aus der Wüste zu führen. Weil die Reso- Je häufiger das geschieht, desto besser. mal ohne. Der Zeitdruck ist immer im nanz so gut war, haben sie die Utensilien Am Ende halten wir den Türöffner in Hinterkopf, aber wir knacken das Rätsel in einen Koffer gepackt, den sie für inte- den Händen. Vielleicht ist das mehr als gemeinsam. An der einen Stelle hat der ressierte Gruppen und Kreise verleihen. nur ein Symbol.

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 17 GESELLSCHAFT „Wir werden zu einer selbst- anbetenden Gesellschaft“

John Lennox ist nicht nur emeritierter Mathematikprofessor in Oxford, sondern auch ein leiden­ schaftlicher Verteidiger des christlichen Glaubens. pro traf ihn beim 20. Jubiläum des Instituts für Glaube und Wissenschaft in Marburg. Im Interview warnt er vor der schwindenden Prägekraft des Glaubens, spricht über die Frage nach dem Leid – und kritisiert die moderne Lobpreiskultur. | die fragen stellte nicolai franz pro: Sie beschäftigen sich seit Jahr­ Hintergrund, war die Wahrheitsfrage schen. Meine Grundfrage war: Ist das zehnten nicht nur mit Mathematik, son­ äußerst wichtig. Ich konnte zwar se- Christentum die Wahrheit? Oder der dern auch mit der Frage, ob das Chris­ hen, dass das Christentum funktio- Atheismus? Der Pantheismus? Ich ver- tentum vereinbar mit der Wissenschaft niert, zum Beispiel bei meinen Eltern. stehe den Glauben an Jesus Christus als ist. Ist es klug, an Gott zu glauben? Aber als ich nach Cambridge kam, er- den Sohn Gottes als eine Reaktion auf John Lennox: Schon seit meiner Kind- öffnete sich mir eine neue Welt. Ich las Indizien. Glaube an und für sich ist im- heit, ich komme aus einem christlichen sehr viel und sprach mit vielen Men- mer nur so stark wie sein Fundament.

John Lennox, Jahrgang 1943, war bis zu seiner Emeritierung Professor für Mathematik in Oxford, zuvor in Wales. Er ist ein weltweit gefragter Redner zum Thema Glaube und Wis­ senschaft und debattierte öffent­ lich mit den berühmtesten Atheisten unserer Zeit. Neben mehr als 70 Veröffentlichungen der Mathematik schrieb er mehrere popularwissen­ schaftliche Bücher, zum Beispiel „Hat die Wissenschaft Gott begra­ ben?“. Das Interview führte pro auf Deutsch.

John Lennox Ende September in Marburg

18 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 GESELLSCHAFT

Ob es klug ist, an die Wahrheit zu glau- terließ eine kleine Notiz für mich: „Ich Dann lesen wir mal diese Songs und be- ben? Immer. habe meinen Mann verloren. Aber was antworten die Frage: Ist das wirklich Lob Oft sind es nicht rationale Argumente, Sie gesagt haben, hat mir Hoffnung ge- Gottes oder Lob unserer Gefühle? Der die Menschen an Gott zweifeln lassen, geben.“ Das habe ich oft erfahren. Wenn Trend, uns selbst in den Mittelpunkt zu sondern Gefühle. Allen voran die Frage Menschen diese Gedanken des Leids mit- stellen, ist gefährlich. Wir werden zu ei- der Theodizee: Warum lässt Gott Leid denken, spüren sie: Das ist nicht nur ner selbstanbetenden Gesellschaft. Das zu? intellektuelles Gerede, sondern Gott ist extrem formuliert, aber trotzdem müs- Dazu habe ich vor allem in meinem Buch kommt ihnen in Jesus Christus nahe. Weil sen wir vorsichtig sein. Ich sorge mich „Gott im Fadenkreuz“ viel geschrieben. er nicht nur für sie gelitten hat, sondern um die Jugend. Ich selbst bin alt. Deswe- Leid gibt es in zwei Formen: Erstens das auch auferstanden ist, bekommen sie gen bin ich sehr froh, dass es auch jün- Leid, das sich Menschen gegenseitig zu- eine Hoffnung, mit der sie sich durch die gere Leute gibt, die dieses Problem er- fügen: Krieg, Terror, Hass. Und zweitens Theodizee-Frage kämpfen können. kennen. der Schmerz, der offensichtlich nicht Der Theologe Tobias Faix spricht bei Es wird schwieriger, jüngere Menschen von Menschen verursacht wird: Katastro- jungen Christen von der „Generation für den Glauben zu begeistern. Unter- phen, Tsunamis, Erdbeben, Krebs. Lobpreis“. Manche Beobachter sagen, suchungen zeigen: Wenn Menschen Zum ersten: Wenn Gott uns keine Wil- dass die Lobpreis- und Wohlfühlkultur die Kirche verlassen, tun sie das oft, lensfreiheit gegeben hätte, wären wir die ernsthafte Beschäftigung mit dem weil sie konservative Wertvorstel- bloß Automaten, keine Menschen. Wir Glauben ersetzt habe. Stimmt das? lungen ablehnen. hätten nicht mehr die Wahl, Ja oder Nein Das ist völlig klar, denke ich. Ich bin sehr Zumindest bei uns in England kommt laut zu sagen. Gott hat bei der Erschaffung für Lobpreis. Aber die oberflächlichen In- einer Studie noch ein weiterer Austritts- des Menschen also ein Risiko auf sich ge- halte vieler Songs betrüben mich sehr. grund hinzu. Der am häufigsten genann- nommen. Ein ähnliches Wagnis gehen El- Manchmal kommen sie mir vor wie Man- te Grund war: Die Kirche beantwortet un- tern ein: Sie zeugen ein Kind, obwohl sie tren. Die Leute wiederholen dieselben sere Fragen nicht. Umso erfolgreicher ist genau wissen, dass dieses Kind seine El- Zeilen wieder und wieder, bis sie fast in- der europäische Atheismus. 1.500 Jahre tern ablehnen könnte. Warum tun sie es haltslos werden. Meine Nichte Kristyn lang hat der Glaube an Gott die Geschich- trotzdem? Natürlich ist die Antwort: Weil Getty und ihr Mann Keith schreiben wun- te Europas bestimmt. In der Verfassung es so bereichernd und wunderbar ist, derbare neue biblisch fundierte Songs. der EU kommt er hingegen nicht vor. Wer wenn Kinder aufwachsen und uns lieben. „In Christ Alone“, auf Deutsch „In Chris­ Wind sät, wird Sturm ernten. Leute wie Und was ist mit dem Leid, für das Men- tus ist mein ganzer Halt“, ist zum Bei- Richard Dawkins oder Christopher Hit- schen nichts können? spiel von ihnen. Vor einem Monat war ich chens haben den Wind gesät, jetzt ernten Der Standardvorwurf gegen das Christen- auf einer Konferenz in Nashville, die hieß wir die Auswirkungen. Der BBC-Reporter tum lautet: Wenn ein guter, allmächtiger „Sing!“, mit 10.000 Teilnehmern. Kristyn Michael Buerk sagt: Zum ersten Mal in Gott das Leiden Unschuldiger zulässt, und Keith mit ihrem Team sagten dort: der europäischen Geschichte haben wir ist er entweder nicht gut oder nicht all- Wir wollen biblische Songs mit echtem keine gemeinsamen Normen mehr. mächtig. Niemand hat eine Lösung da- Inhalt. Die heutige Lobpreisk­ ultur ist ja Was können Christen tun, damit der für. Wenn wir Mathematiker jahrhunder- wunderbar – bis die Theodizee-F­rage Sturm abflaut? telang erfolglos versuchen, eine Frage zu auftaucht, bis man also leidet, bis Ver- Ich kann die Menschen beeinflussen, mit lösen, dann wenden wir manchmal ein: hältnisse in sich zusammenstürzen. denen ich in Kontakt stehe. Junge Men- Gibt es nicht eine bessere, berechtigtere Dann bleibt wenig Substanz. schen interessieren sich sehr für ethische Frage? Ich würde die Frage anders stel- Der Inhalt einiger Lieder ist Selbstlob Fragen, vor allem die großen: Den Klima- len: Gibt es Hinweise für einen Gott, dem nach dem Motto „Herr, ich wünsche mir, wandel zum Beispiel. Ich bin froh, dass wir trotz dieses unlösbaren Problems ver- dass ich dich jetzt loben“ kann. Es gibt die jungen Leute wie bei „Fridays for Fu- trauen können? Hier hat das Christentum sogar ein Lied, das „I really want to wor- ture“ sich dafür interessieren, dass unser eine eigentümliche Antwort. Der Kern ship you“ heißt. Das ist kein Lobpreis, Benehmen Konsequenzen für unsere Welt des christlichen Glaubens ist, dass Gott sondern Narzissmus. Es lohnt sich, die- hat. Und das ist biblisch: Wir haben eine Fleisch geworden und am Kreuz gestor- se Lieder zu analysieren. Denn ihr Haupt- Verantwortung, die Schöpfung gut zu ver- ben ist. Wenn Jesus wirklich Gott war, inhalt bin „ich“ und wie ich mich fühle, walten. Ich finde es aber schade, wenn müssen wir fragen: Was macht Gott an wie ich reagiere. Ich möchte junge Leute Menschen sich für die Schöpfung interes- einem Kreuz? Dann wird es offensicht- in dieser Hinsicht nicht kritisieren. Trotz- sieren, aber nicht für den Schöpfer. lich: Gott ist nicht fern vom menschli- dem ist dieser Narzissmus sehr gefähr- Wenn Jugendliche sich wieder für Ethik chen Leiden, sondern im Gegenteil: Er lich. Man sollte zuerst Gottes Wort hören interessieren, ist das nicht auch ein kennt es. und ihn dann auf der Basis des Gehörten Anknüpfungspunkt für Christen? Für ein Interview ist dieses Thema na- loben. Stattdessen gibt es in vielen Got- Ja, denn sie interessieren sich eben doch türlich zu komplex. Aber es ist wichtig. tesdiensten 40 Minuten lang Lobpreis, für die großen Fragen. Und gleichzeitig Im Februar 2011 war ich in Christchurch, gefolgt von einem kurzen Wort. geben die Kirchen zu wenig Antworten. kurz nach dem verheerenden Erdbeben, Ein Lobpreisleiter würde jetzt sagen: Sie müssen zeigen, dass das Christentum bei dem 185 Menschen starben. Ich pre- Aber ich will Gott doch von ganzem ein rational sinnvolles System ist, das digte in einem der ersten Gottesdienste Herzen loben, und das mache ich mit gute Antworten gibt.

Foto: pro/Nicolai Franz pro/Nicolai Foto: nach dieser Katastrophe. Eine Frau hin- meinen Liedern! Vielen Dank für das Gespräch!

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 19 GESELLSCHAFT Ein Ausgebrannter brennt für Jesus Michael Sternkopf konnte nicht mehr. Er hatte Angst, Depressi- onen und verspürte einen ungeheuren Druck. Dabei musste der Fußballprofi stark sein und funktionieren. Über 20 Jahre später geht es ihm gut, dank Jesus. Die Medien kritisiert er scharf. | von johannes blöcher-weil

ie Fußball-Karriere von Michael Sternkopf verläuft ge- radlinig. Seine erste sportliche Station absolviert der D„Badener Bub“ beim Karlsruher SC. Im Winter 1990 sitzen Bayern-Boss Uli Hoeneß und der damalige Trainer Jupp Heynckes im Wohnzimmer der Eltern. Der deutsche Rekordmei- ster will Sternkopf verpflichten. Ein halbes Jahr später wech- selt er zum FC Bayern: Er ist der bis dahin teuerste Transfer der Fußball-­. „Meine Eltern haben mich immer unterstützt. Wenn ich am Wochenende gespielt habe, waren sie wie selbstverständlich dabei“, erzählt der 49-Jährige. Das Ziel, Profi zu werden, hatte er für sich selbst nie ausgegeben: „Ich hatte weder einen hohen Selbstwert noch großes Selbstbewusstsein.“ Das zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben: „Ich hatte Angst davor, er- drückt zu werden. Ich hatte Angst davor, gesteckte Ziele nicht zu erreichen.“

Strahlkraft der Bayern wurde zum Verhängnis

Diese Angst sollte sich intensivieren. Er verlässt sein „Wohn- zimmer“, das Wildpark-Stadion, und wechselt 1990 als 20-Jäh- riger nach München. „Ich hatte kaum Lebenserfahrung und Ba- yern München hatte viel Strahlkraft.“ Die 3,4 Million D-Mark Ablösesumme vergrößert den Druck. In München landet er erstmal auf der Ersatzbank: „Wenn du in der Jugend erfolgreich bist, hast du oft mehr als 90 Prozent deiner Spiele gewonnen. Jetzt wirst du mit persönlichen und sportlichen Niederlagen konfrontiert.“ Während der Karlsru- her SC nach drei Siegen in Folge schon von höheren sportlichen Weihen träumt, ist der Anspruch bei Bayern ein anderer. „Nach einer Niederlage kam Hoeneß in die Kabine und sagte: ‚Zwei Niederlagen in Folge genügen nicht dem Anspruch des Ver- eins.‘“ Viele Profis können damit umgehen. Sternkopf fällt das schwer. Die ersten Rückschläge lassen ihn daran zweifeln, ob seine mentale Stärke reicht. 1991 schickt ihn Vereinsarzt Hans- Wilhelm Müller-Wohlfahrt zu einem Spezialisten, der ihm Anti- Depressiva verschreibt.

Spieler werden schnell be- und verurteilt

Seine gesundheitlichen Probleme bleiben Verschlusssache: „Der Druck wurde für mich dadurch nicht kleiner.“ Fußballer dürfen keine Schwäche zeigen, meint er. Heute betont er: „Profi­ sportler sind keine Maschinen. Keiner kann 365 Tage Höchstlei-

20 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 GESELLSCHAFT stung bringen. Weil Fußballer so viel verdienen, setzen es die Menschen stärken und sie auf Gottes bedingungslose Liebe hin- Menschen voraus.“ Leistung habe aber nichts mit dem Gehalt weisen. Stahl hatte das Gefühl, Sternkopf „fehle etwas“. zu tun. Sternkopf und Stahl bleiben in losem Kontakt. Bis sie sich per- Dass Medien und Zuschauer trotzdem schnell be- und ver­ sönlich kennenlernen, dauert es noch vier Jahre. Am 26. März urteilen, erhöht den Druck für ihn. Sternkopf zieht eine Paralle- 2018 besucht der Fußballspieler den Kampfsportler in dessen le zum Ausscheiden der Nationalspieler bei der WM 2018: „Das Heimat Bopfingen: „Obwohl wir uns nicht wirklich kannten, war demütigend und verletzend. Jeder versagt einmal, aber da- war die Atmosphäre herzlich.“ Stahl erzählt Sternkopf seine Ge- durch ist er kein Versager“, kritisiert er die schreibende Zunft: schichte: „Ein Mann, der über seine Schwächen redet. Das be- „Journalisten können das nicht nachvollziehen.“ eindruckte mich.“ „Seit Gründung der Bundesliga hat noch kein Profi zugege- ben, dass er Angst hat zu versagen. Heute muss er sich gnaden- los dem Urteil der Sozialen Medien aussetzen“, glaubt Stern- kopf. Spieler würden sehr schnell von den Medien zerrissen. Gerade von ehemaligen Mitspielern und heutigen TV-Experten wünscht er sich mehr Empathie: „Die Experten dürfen gerne sa- gen, unter welchem Druck die Sportler stehen. Das wäre wich- tiger, als noch mehr Druck aufzubauen.“

Gegen Maradona auf dem Platz

Wirklich befreit kann Sternkopf nicht mehr spielen. „Ich saß nassgeschwitzt im Bus auf dem Weg zum Stadion, weil ich Angst hatte zu versagen. Wenn du dann den ersten Zweikampf verlierst und die Zuschauer raunen, fängst du an zu überlegen und spielst Alibi.“ Sein volles Potenzial ruft er nie mehr ab: „Kein Mensch macht seinen Job ohne Angst so, wie er ihn mit Angst macht“, verdeutlicht er. Und natürlich redet Sternkopf auch über den Torwart Robert Enke. Der Fußballprofi hat sich 2009 wegen seiner Depressi- Michael Sternkopf hatte in seiner aktiven Karriere als Fußballspieler onen das Leben genommen. „Er war Deutschlands Nummer 1 Stationen beim Karlsruher SC, Bayern München, Borussia Mönchen- und hätte auch bei der WM 2010 gespielt. Und die Journalisten gladbach, Freiburg, und . In insge- samt 210 Bundesligaspielen schoss er 15 Tore. schreiben, dass er ‚nur‘ die Nummer 2 beim FC Barcelona ist. Das ist der Traum von Millionen Kindern auf der Welt. Wer das schreibt, versteht gar nicht, wie lange und anstrengend der Weg Stahl fällt nicht mit der Tür ins Haus. Er weiß, dass in Stern- dorthin ist und wie viel Wille und Talent es braucht.“ kopfs Umfeld niemand gläubig ist. Dennoch versorgt Stahl den Sternkopf darf gegen Stars wie Diego Maradona auflaufen, Fußballer täglich mit Bibelstellen und Sprüchen. Genau einen „den Fußballer meiner Jugend und Kindheit schlechthin“. Er Monat später ist sich Sternkopf sicher, dass er ein Leben mit Gott darf die Meisterschale in den Händen halten. Trotzdem bleibt er ausprobieren möchte. Am 26. April beschließt er gemeinsam mit immer hinter den eigenen Ansprüchen und den gefühlten An- seinem damals zwölfjährigen Sonn Lenni, sein Leben Jesus an- forderungen anderer zurück. Die letzten Jahre als Profi in Biele- zuvertrauen. „Ich habe mich wie neu gefühlt.“ Er sagt: „Ich bin feld ist Sternkopf von Verletzungen gebeutelt. Der Übergang in weder bibelfest, noch Profi-Christ. Ich habe ihn in meinem Her- das Leben danach gelingt. Er steigt als Mitarbeiter bei Kickers zen. Er hat in den letzen 18 Monaten Unfassbares bewirkt. Ich Offenbach ein. Er hilft dem Verein bei der Sponsorensuche und war ein körperliches und psychisches Wrack.“ in der Vermarktung. Sternkopf hat seine Berufung gefunden Nie gelernt Nein zu sagen „Ich muss keine Leistung bringen, um zu wissen, dass ich ge- 2011 wagt er die Herausforderung. Er beerbt Andreas Möller bei liebt bin.“ Mittlerweile hält Sternkopf Vorträge zu seiner Biogra- den Offenbacher Kickers als sportlicher Leiter. Die Schwäche, fie. Dabei ist ihm eines besonders wichtig: „Wenn Menschen an- nicht Nein sagen zu können, wird ihm zum Verhängnis. Ihm deren von ihren Erfolgen erzählen, fühlen diese sich klein. Aber wächst alles über den Kopf: die Arbeit und private Schwierig- auch vermeintlich erfolgreiche Menschen haben Ängste: Der keiten bringen das Fass zum Überlaufen. Besonders Menschen Fußballprofi genau wie der Arbeiter einer Firma.“ zu kritisieren und durch Entscheidungen zu enttäuschen, fällt Sternkopf möchte Hoffnung geben, weil er weiß, wie es Men- ihm schwer. Sternkopf leidet unter Panikattacken. schen geht, die sich über Leistung und Erfolg definieren. „Ich Vor fünf Jahren schickt ihm der „Body-Guard und Herzens- habe mich schlecht und klein gefühlt, obwohl ich beim FC Ba- kämpfer“ Michael Stahl über Facebook eine Nachricht. Der yern München war.“ Heute kann er mit Druck viel besser und Christ hat eine Lebensgeschichte voller Verletzungen und De- befreiter umgehen. Er glaubt, seine Berufung gefunden zu ha- mütigungen. Er hat heilsame Vergebung erfahren. Mit seiner ben: „Gott nutzt mich, um anderen Menschen die Augen zu öff-

Sportschule und seinen Selbstverteidigungskursen möchte er nen.“ privat Fotos:

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 21 GESELLSCHAFT

Die Brückenbauerin Die Atmosphärenwissenschaftlerin Katherine Hayhoe ist eine der be- kanntesten Klimaexpertinnen der USA. Und sie ist evangelikale Christin, heiratete einen Pastor. Das Time Magazine zählte sie zu den 100 welt- weit einflussreichsten Persönlichkeiten. Sie betreibt einen erfolgreichen YouTube-Kanal, mit dem sie Skeptiker des Klimawandels erreicht. Ihr Engagement führte sie bis ins Weiße Haus. Ihre zentrale Botschaft: Klima- schutz ist nicht sozialistisch, sondern biblisch. | von nicolai franz

Katharine Hayhoe bei einer Diskussion in der Lyndon- Baines-Johnson-Library Foto: Jay Godwin Jay Foto:

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ei Katharine Hayhoe kommt manches zusammen, was stellt sie hingegen umso mehr Skepsis gegen die Klimaforscher für viele Menschen nicht ins Schema passt: Sie ist Ka- fest. Sie spricht von einem Verhältnis von 999:1. Bnadierin, wohnt aber in Texas. Sie ist eine von wenigen Wie kann das sein? Laut Hayhoe liegt das an einem geschick- Frauen in ihrem Berufszweig. Sie ist eine enorm erfolgreiche ten Schachzug politisch motivierter Gegner der Klimaforschung: Klimaforscherin. Und evangelikale Christin. Damit gehört sie, Sie machten sie verächtlich, indem sie die Klimawissenschaft zumindest in den USA, einer Minderheit an. Nur 28 Prozent der selbst als „Religion“ darstellen. Forscher wie Hayhoe würden weißen Evangelikalen sind der Meinung, es gebe einen men- als „climate scientologists“ dargestellt, als ob es sich bei ihrem schengemachten Klimawandel. Hayhoes Botschaft ist: Klima- Wissenschaftszweig um eine Sekte handle. Anderswo, auch in schutz ist nicht sozialistisch, sondern biblisch. Deutschland, ist von „Klimareligion“ die Rede. Das stelle die Glaube und Wissenschaft waren für Hayhoe nie ein Wider- Christen vermeintlich vor eine Wahl, welchem Glauben sie an- spruch. Sie kommt aus einer gläubigen Familie. Ihr Vater war hängen sollten: Dem Christentum oder der „Klimareligion“. In- Lehrer für Naturwissenschaften. „Wissenschaft war für mich teressanterweise sind andere Gläubige nicht so skeptisch wie die schon als Kind das Aufregendste überhaupt. Es war eine Mög- weißen US-Evangelikalen. Während nach einer Studie des Pew- lichkeit, herauszufinden, was Gott sich bei der Erschaffung die- Institutes von letzteren nur 28 Prozent an menschengemachten ses wunderbaren Universums gedacht hat.“ Mit Mitte 20 stu- Klimawandel glauben, sind es unter schwarzen Protestanten 56 dierte sie Astrophysik und belegte einen Kurs zum Klimawan- Prozent, unter weißen Katholiken 45 Prozent und unter katho- del. „Erst da habe ich festgestellt, dass Klimawandel ein rie- lischen Hispano-Amerikanern ganze 77 Prozent. Hayhoe macht siges Thema ist, das alle anderen Umweltthemen berührt.“ die politische Ausrichtung weißer Evangelikaler dafür verant- Durch ihr Physikstudium hatte sie alle Werkzeuge erlernt, um wortlich, die mehrheitlich den Republikanern anhängen. 2016 Klimamodelle zu entwickeln. Von Anfang an war ihr klar, dass wählten 81 Prozent von ihnen die Republikaner und damit Do- ihre Forschung zu einem tatsächlichen Nutzen führen sollte. An nald Trump. Einen anderen Grund sieht Hayhoe in der Gemein- möglichst vielen akademischen Veröffentlichungen, die keiner destruktur vieler Freikirchen: Die Katholiken hätten ihren Papst, liest, war sie nicht interessiert. Mittlerweile ist sie in den USA die Anglikaner ihre Erzbischöfe, während die vielen Freikirchen mit die bekannteste Klimaforscherin. Das Time Magazine zählte oft für sich seien. Sie hätten schlicht keine Zeit, sich mit solchen sie 2014 zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt. Themen zu befassen. Die Folge ist laut Hayhoe, dass sie sich da- her auf republikanische Politiker oder Medien verlassen, die den Viele Forscher sind gläubig menschengemachten Klimawandel bestreiten. Ob jemand an den Klimawandel glaubt oder nicht, wird nach Hayhoes Auffas- In einem ihrer Vorträge versucht sie zu erklären, woher die sung somit zu einer politischen Frage. Klima­skepsis vieler US-Evangelikaler kommt. „Seit Galileo wur- de uns erzählt, Glaube und Wissenschaft stünden im Konflikt Klimawandel trifft die Schwächsten miteinander“, beginnt Hayhoe. Dabei sei dies schon damals falsch gewesen. Wenn es zwischen Glaube und Wissenschaft „Ich bin evangelikal. Also kann sich das Klima nicht ändern, Widersprüche gebe, heiße das nicht, dass die Bibel, „Gottes denn Gott ist der Herrscher, nicht wir“, spricht eine lächelnde geschriebenes Wort“, falsch sei. Stattdessen liege es oft da- Katharine Hayhoe in die Kamera. „Und selbst wenn es so ist: ran, dass wissenschaftlich noch nicht genügend Erkenntnisse Was soll’s? Die Welt geht sowieso ihrem Ende entgegen.“ Die vorliegen oder dass die Bibel nicht richtig interpretiert würde. gläubige Klimaforscherin betreibt auf YouTube den Kanal „Glo- Das sei etwas anderes, als in der Bibel oder in der Wissenschaft bal Weirding“, ein Wortspiel aus „global warming“ (Erderwär- „Fehler“ nachzuweisen. Auch radikale Atheisten wie der Biolo- mung) und „weird“ (komisch). Dort geht sie auf typische Argu- ge Richard Dawkins hätten zu einer Spaltung zwischen Wissen- mente gegen den Klimawandel ein. Sie will damit Menschen an- schaft und Glaube beigetragen. Nach Dawkins stünden auf der sprechen, die den menschengemachten Klimawandel für Spin- einen Seite die Forscher, die nach strengen Kriterien und mit nerei halten. Mit Animationen und ansprechend gestalteten scharfem Verstand die Welt untersuchen. Demgegenüber stün- Grafiken schafft sie es, auch komplizierte Zusammenhänge ein- den dumme Gläubige, die ihre unaufgeklärte Weltsicht mit ei- fach zu erklären. Wenn sie über Meeresspiegel, Methan und ner antiken Wüstenreligion begründen. Dawkins versuche so, CO2 spricht, wirkt sie eher wie eine Freundin, die auf einer Par- einen Keil zwischen Gläubige und Wissenschaft zu treiben. ty eine Geschichte erzählt, als wie eine dröge Wissenschaftlerin. Diese Spaltung gibt es aber gar nicht, sagt Hayhoe. Sie un- Mit ihrem Engagement will Hayhoe die Gesellschaft zum termauert das mit erstaunlichen Zahlen. Die Soziologin Elaine Handeln motivieren – und zwar jetzt. Sie vergleicht das mit Ecklund habe den Glauben von Naturwissenschaftlern im aka- dem Rauchen: Wenn jemand täglich Zigaretten inhaliere, scha- demischen Kontext untersucht. Etwa 50 Prozent von ihnen be- de er sich damit. Womöglich werde er kurzatmig, bekommt ei- zeichneten sich selbst mit einem religiösen Etikett: Christ, Jude, nen Herzinfarkt, einen Schlaganfall oder Lungenkrebs. „Wann Muslim. Bei denen, die in sonstigen naturwissenschaftlichen ist wohl der beste Zeitpunkt, um mit dem Rauchen aufzuhö- Berufen arbeiten, zum Beispiel die Ingenieure, sind es ganze ren?“, fragt Hayhoe. „Natürlich heute. Und wenn nicht heute, 76 Prozent. Die Erzählung von den atheistischen Naturwissen- dann morgen.“ Für Hayhoe sind Glaube und Engagement für schaftlern ist ein Märchen. das Klima keine Widersprüche, im Gegenteil. Gott habe dem Trotzdem gibt es seitens der US-Christen erhebliche Vorbe- Menschen auch den Auftrag gegeben, die Schöpfung zu bewah- halte. Umgekehrt sei dies nicht der Fall: Hayhoe nimmt von ih- ren, auch wenn sie vergänglich ist. Klimawandel treffe vor allem ren Kollegen in der Wissenschaft so gut wie keine Ablehnung die Armen, ob in Afrika oder Nordamerika. Wer sich also für Kli- gegen den Glauben wahr. Unter ihren Glaubensgeschwistern maschutz einsetze, übe nichts anderes als Nächstenliebe.

24 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 GESELLSCHAFT

Diese gewinnende Art ist der Grund, warum sie auch bei Skep- sei doch klar, dass nicht CO2 die Erde erwärme. „Sie müssen tikern ankommt. Bei einem hatte sie besonders viel zu tun: Ih- nicht einmal so schlau wie ein Fünftklässler sein, um zu wissen, rem eigenen Ehemann. Andrew Farley kommt aus Virginia, dass die Sonne das Klima bestimmt. Die Sonne!“ ging in eine sehr konservative Kirchengemeinde und kannte Hayhoe hat diese Vorwürfe schon hundertfach gehört. Sie re- niemanden, der den Klimawandel für real hielt. Bei seiner Frau agiert trotzdem nicht genervt, sondern verständnisvoll. „Ich war es genau andersherum: Sie kannte niemanden, der den Kli- schätze Ihre Ausführungen, da sind viele gute Fragen dabei“, mawandel nicht für real hielt. Sie kommt zwar auch aus einem sagt sie in das Mikrofon. Um zu Zimmerman zu sprechen, muss gläubigen Elternhaus, wuchs aber im liberaleren Kanada und in sie nach oben schauen. Für dessen Argumente gegen den Klima- Südamerika auf, wo diese Frage weniger politisiert ist als in den wandel empfiehlt sie die Website „skepticalscience.com“, die Vereinigten Staaten. Die beiden lernten sich kennen, heirateten deutsche Entsprechung dazu ist „klimafakten.de“. Dort würden – und erst nach sechs Monaten Ehe stellten sie fest, dass sie ent- alle seine Fragen beantwortet. Trotzdem geht sie in Windes- gegengesetzte Meinungen zum Klimawandel hatten. Am Intel- eile auf Zimmermanns Wutrede ein: Natürlich habe es immer lekt konnte es nicht liegen, war Hayhoe überzeugt. „Ich wuss- te, dass mein Ehemann wirklich schlau war: Er ist promovierter Linguist, er hatte eine Stiftungsprofessur, er kannte sich mit Statistik aus, er wusste also, wie Wissenschaft funktioniert.“

Ist die NASA Teil einer Verschwörung?

Die beiden setzten sich zusammen, tauschten ihre Argumente aus, drangen tief in die Materie ein. Der eifrige Farley verbrachte Stunden auf den Websites von Zweiflern des Klimawandels und sammelte Material, um in der nächsten Diskussion mit seiner Ehefrau genug „Munition“ zu haben, wie er heute sagt. „Wir gingen dabei sehr respektvoll miteinander um und wussten, dass der andere jeweils wirklich gute Gründe hatte, anders zu denken“, erinnert sich Hayhoe. Irgendwann setzten die bei- den sich zusammen an den Computer und riefen die Website Katharine Hayhoe diskutiert 2016 mit Barack Obama im Weißen Haus. der NASA auf. Für Andrew ein Schlüsselerlebnis. Er lud die Da- Rechts: Leonardo DiCabrio (Foto: The Obama White House/YouTube) ten für die globale Temperaturentwicklung herunter, fügte sie in eine Excel-Tabelle ein – und er sah, wie die Temperatur ein- deutig stieg. Ihm wurde klar: Entweder war sogar die NASA, die Klimawandel gegeben, natürlich sei die Sonne für das Klima schon Menschen auf den Mond gebracht hat, in eine weltwei- hauptverantwortlich. Doch wenn es nur nach der Sonne ginge, te Verschwörung verstrickt. Oder seine Frau Katharine hat viel- müsste sich die Erde eigentlich abkühlen, denn die Sonnen- leicht doch recht. aktivität habe in den vergangenen Jahrzehnten abgenommen. Trotz ihres Erfolges fühlt sich die lebenslustige Frau manch- Ja, Satelliten­daten in den 80ern hätten eine Abkühlung gezeigt mal traurig und mutlos. Vor allem weil sie trotz allem viel Ge- – „bis sie feststellten, dass sie ein Plus und ein Minus ver- genwind erfährt. Wenn sie morgens ihre E-Mails öffnet, schlägt tauscht hatten“. Außerdem bezögen sich Klimawissenschaftler ihr oft Hass entgegen: „Du bist eine Idiotin“, „such dir einen Job natürlich nicht nur auf Daten in einem Zeitraum von 30 Jahren. bei McDonald’s“, „stirb einfach“. „Stattdessen erkennen wir 26.000 Indikatoren für einen sich er- wärmenden Planeten, viele davon können wir in unseren eige- „Es ist die Sonne!“ nen Gärten sehen.“ Dazu kämen Messungen, mit denen man Jahrmillionen erforschen könne. Vor 1.000 Jahren habe man auf Die Argumente, die Hayhoe begegnen, sind immer dieselben. steigende Temperaturen und Meeresspiegel einfach seine Sa- So wie am 27.4.2015. Der Stadtrat von Texas hat Hayhoe als Ex- chen gepackt und sei nach Norden gezogen. „Das Problem beim pertin geladen, die über den Klimawandel spricht. In der Anhö- Klimawandel ist: Wir können das heute nicht mehr ohne Wei- rung geht es darum, wie die Politik auf Naturkatastrophen rea- teres. Wir mögen es schön beständig.“ Mit dieser Sprache trifft gieren soll. Der Republikaner Don Zimmerman ist verärgert. Er sie auch den Nerv der Konservativen, die das Gute bewahren sitzt eine Ebene höher als Hayhoe, er stellt die Fragen. „Die Wis- wollen. senschaft ist sehr, sehr kompliziert.“ Die Erde sei ja „womöglich Im Oktober 2016 diskutierte sie mit dem damaligen US-­ Millionen Jahre alt und wir schauen nur auf 30 Jahre an Daten“. Präsidenten Barack Obama im Weißen Haus über Klimawan- In den 1980ern sei durch Satellitendaten nachgewiesen worden, del. Hollywoodstar Leonardo DiCabrio moderierte. „Katharine dass sich die Atmosphäre sogar abgekühlt habe, es gebe also ist neben ihrer Rolle als herausragende Klimawissenschaftlerin keine Erwärmung. Außerdem habe sich das Klima doch schon auch eine Person mit einem sehr tiefen Glauben“, sagte Obama. immer verändert, das zeige ein Blick in die wissenschaftlichen „Sie hat sehr viel dafür getan, ein eher ungewöhnliches Publi- Daten. „Klimawandel ist normal!“ Es wäre dann doch eher un- kum zu erreichen, um eine breite Koalition in diesem Thema zu gewöhnlich, wenn jetzt die Politik versuchen sollte, das Klima bilden.“ Drei Jahre später sind die USA weit von einem breiten auf einem bestimmten Status festzunageln. Die These des Kli- Bündnis gegen den Klimawandel entfernt. Katharine Hayhoe

mawandels sei für ihn „nebulös“ und „dumm“. Und außerdem hat noch Einiges zu tun. YouTube / House White The Obama Foto:

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 25 Das Kloster Sint Sixtus liegt in Westflandern, keine 30 Kilometer von der Nordsee entfernt Beten und Bier brauen Trappisten wollen beten, arbeiten und schweigen. So wie die Mönche des Klosters Sint Sixtus in Bel- gien. Dass ihr Bier als das „beste Bier der Welt“ gilt, freut sie zwar, es ist aber auch eine Last. | von jörn schumacher

ormalerweise wollen Trappisten Sixtus auf Platz eins. „Das beste Bier der wüsste, was sich hinter der Adresse ver- ihre Ruhe haben. Seit 130 Jahren Welt“ ist ein Label, das seitdem dem Bier birgt. Auf dem Parkplatz vor dem Café, in Ngibt es diesen Orden, der sich, wie aus dem kleinen belgischen Kloster an- dem das begehrte Bier zu haben ist, sieht viele andere Mönchsorden auf die Bene- hängt. Niemand dort würde dies als Wer- man Autos aus unterschiedlichen Län- diktregeln bezieht, also die Richtlinien bespruch verwenden. Aber was einmal in dern, viele kommen aus Deutschland, von Benedikt von Nursia (480–547) dazu, der Welt war, gehörte seitdem wie selbst- Frankreich oder England. Als ich eben- wie gläubige Menschen abgeschieden verständlich zum Bier der Mönche dazu. falls einen Platz auf dem Parkplatz er- von der Welt zusammenleben sollten. In Seitdem liegt das Bier von Sint Six- gattere und aussteige, erkenne ich neben Deutschland heißen die Trappisten Zis- tus unter den Top Ten der besten Biere mir ein Auto mit dem deutschen Kenn- terzienser. Der in französischsprachigen weltweit. Als sich der Geheimtipp immer zeichen aus Düren (DN). Als das Paar Ländern gebräuchliche Begriff Trap- mehr herumsprach, füllten sich auf ein- aus dem Auto steigt, spricht es aber ein pisten geht zurück auf das Zisterzien- mal die engen Landstraßen rund um das breites amerikanisches Englisch. Offen- serkloster La Trappe in Nordfrankreich. Kloster mit Autos. Eigentlich gibt es dort bar also ein Mietwagen. Die Mönche verdienen in der Regel ih- in Vleteren in Westflandern nichts außer ren Lebensunterhalt durch ein eigenes Feldern, Bauernhöfen und Dörfern. Doch Durch Tricks zu mehr Bier Handwerk, das sie entwickelt haben. Das je näher man dem wenig pompösen Klos- kann Käse sein, ein gutes Brot oder Likör. ter Sint Sixtus kommt, desto häufiger Niemand darf mehr als zwei Holzkisten Wenn ein gutes Trappisten-Produkt bei muss man entgegenkommenden Autos zu je 24 Flaschen kaufen. Das verspricht den Leuten außerhalb der Klostermauern auf den engen Straßen ausweichen, und der Käufer zumindest an der Kasse beim bei den Bürgern gut ankommt, können desto mehr häufen sich fremdländische Kauf. Das Bier der belgischen Mönche ist die Mönche gut davon leben. Autokennzeichen. Das Kloster selbst ist mittlerweile aber so begehrt, dass viele Bei den Mönchen des Klosters Sint Six- von der Straße aus betrachtet nicht sehr Leute Tricks angewandt haben, um an tus in Nordbelgien läuft es nicht nur gut. auffällig: Die Kapelle ist nicht sehr hoch, mehr Flaschen zu kommen. Sie verkau- Seit dem Jahr 2005 rennen die Menschen und erst hinter der Klostermauer erstre- fen sie dann für einen vielfachen Preis in den Mönchen regelrecht die Bude ein. cken sich die anderen Gebäude mit dem irgendeiner Kneipe in Brüssel oder im In- Das kam so: In jenem Jahr stufte die ame- Wohnhaus für die Mönche, Gästehaus ternet. Das finden die Mönche natürlich rikanische Webseite RateBeer.com, auf und natürlich der Brauerei. Man könnte nicht gut, und sie begannen damit, den der Biere international bewertet werden, also glatt daran vorbeifahren oder es für Verkauf genauer zu kontrollieren. „Ein- das Bier „Westvleteren“ von der Abtei Sint einen Bauernhof halten, wenn man nicht mal habe ich von meinem Fenster aus ei-

26 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 Wer das begehrte Bier der Trappisten haben möchte, muss sich im Café „In de Vrede“ neben dem Kloster in die Schlange stellen. Geliefert wird nicht.

Die 19 Mönche selbst leben abgeschieden in ihrem eigenen Klos- terbereich, in den die Gäste des Cafés nicht kommen Fotos: pro / Jörn Schumacher

nen Lastwagen an der Klostermauer ste- Sieben Gebetszeiten am Tag zeiten. Da bleibt nicht viel Zeit übrig, hen sehen“, berichtet ein Mönch. „Immer um auf dumme Gedanken zu kommen. wieder gingen ältere Damen zu unserer Als erstes fällt auf: Hier in der Region Vielleicht ist das eines der Geheimnisse Verkaufsstelle und brachten die Bierki- Westflandern gibt es nicht viel. Außer von Benediktus, der sich dieses klös- sten zu dem Lastwagen. Anschließend Feldern und Bauernhöfen wird das Auge terliche Leben ausgedacht hat, das in vie- stellten sie sich wieder an und kauften nicht durch irgendetwas abgelenkt. Eine len Klöstern weltweit praktiziert wird. Es noch mehr Bier.“ Es soll auch Leute ge- gute Gegend, um als Mönch zu leben. bleibt indes genug Zeit für Meditation, ben, die sich nach dem ersten Bier-Kauf Schon im erfolgreichsten französischen für das Schweigen und das Beten. Auf eine Baseball-Mütze und eine Brille auf- Film aller Zeiten, „Willkommen bei den die Frage, warum er sich dieses Leben setzen und sich erneut anstellen, in der Sch’tis“, wurde die Gegend sprichwört- ausgesucht hat, antwortet Bruder Chri- Hoffnung, nicht erkannt zu werden. lich zur kalten Einöde, in die niemand stian, ein Deutscher, zwei Dinge: „Ich lie- Es ist gar nicht so einfach, an die wirklich will. be Gott“, sagt er, mit einer Bestimmtheit Mönche heranzukommen. Es bedarf Ein sympathischer Mönch, Bruder God- und einem zufriedenen Lächeln, die kei- mehrerer Anläufe, um irgendwann ei- fried, führt über das Gelände, auch hin- nen Zweifel aufkommen lassen. Und wei- nen Mönch ans Telefon zu bekommen. ter die Klostermauern, hinter die die nor- ter: „Schon als Kind habe ich regelmä- Und recht bald wird betont, dass man malen Kunden nicht so einfach kommen. ßig ein Kloster bei uns in der Nähe auf- nicht auf das „beste Bier der Welt“ re- Hinter einem Tor, das meistens geschlos- gesucht und ich fand es faszinierend. Mit duziert werden mag. Sie seien Mönche, sen bleibt, ist Schluss für die Besucher fünf Jahren wusste ich bereits, dass ich die in einem normalen Kloster lebten, aus aller Welt, die sich vor allem für das Mönch werden will.“ Bruder Christian das Bier sei nur ein Teil von ihnen. Im Bier interessieren. Bruder Godfried, der lebte früher in der Abtei Mariawald in der Klos-ter geht es um Gott, nicht um Bier. Prior der Abtei ist – also so etwas wie der Eifel. Die wurde jedoch geschlossen, weil Deswegen fragt man mich, ob ich nicht Verwalter –, ist seine Liebe zu „seinem“ es dort irgendwann zu wenig Mönche einen ganzen Tag miterleben wollte, 24 Kloster anzumerken. Das Bier ist tatsäch- gab. Das Niederländische eignete er sich Stunden Klosteralltag hautnah. Ich wil- lich – Nebensache. schnell an. lige ein und mache mich nicht nur auf Der Tagesablauf der Mönche ist getak- Prior Godfried bleibt vor dem schicken, eine Begegnung mit dem besten Bier der tet durch das Stundengebet: 4 Uhr Nacht- schwarzen Gebäude stehen, in dem die Welt gefasst, sondern auch auf meinen wache, 7 Uhr Laudes, 9 Uhr Terz, 12:15 Mönche wohnen. Es wirkt modern und ersten Einblick in das Leben in einem Sext, 14:15 Non, 17:15 Vesper und um könnte genauso gut ein Tagungszentrum Kloster. 19:30 Uhr Komplet. Dazwischen die Mahl- sein. Die hohen Fenster reihen sich in

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 27 britische Soldaten in das Gebiet. Sie be- die Zeit. Das Bier Westvleteren entsteht lagerten auch das Klostergelände – und mit einer wichtigen Zutat, die in kom- freuten sich enorm über das dortige Bier. merziellen, weltlichen Brauereien oft Im Jahr 1922 erweiterten die Mönche erst- ignoriert wird: mit viel Zeit. Und davon mals die Brauerei. Heutzutage handelt es haben die Mönche genug. Auf das Deut- sich um eine moderne Anlage, wie man sche Reinheitsgebot angesprochen, dem- sie bei kommerziellen Brauereien auch zufolge ein Bier nur Bier genannt werden findet. Das Dach ist mit Solar-Panels be- darf, wenn es ausschließlich aus Hopfen, stückt, das genutzte Wasser der Brauerei Malz, Hefe und Wasser hergestellt wurde, wird in der eigenen hochmodernen Was- lächelt Bruder Joris, der Qualitätsprüfer serwiederaufbereitungsanlage gereinigt des berühmten Bieres. „Das interessiert und wieder dem Wasserkreislauf zuge- uns nicht“, fügt er hinzu. In Belgien, dem führt. „Nachhaltigkeit gehörte schon Land der tausend Biersorten, hält man

Foto: pro / Jörn Schumacher pro Foto: zum Grundprogramm der Mönche, bevor von der strengen deutschen Regel nichts. In schlichten Holzkisten wird das Trappisten- es dieses Wort überhaupt gab“, klärt der Und doch ist die Herstellung von West- bier verkauft – Etikette haben die Flaschen nicht Prior auf. vleteren gar nicht so weit weg vom Rein- heitsgebot, wahrscheinlich würde es in Bete, arbeite – ohne Stress Deutschland als Bier durchgehen. regelmäßigen Abständen nebeneinan- Warum Mönche und Bier so gut zu- der. „Diese Regelmäßigkeit, die man hier Von dem Geld, das das international sammenpassen, will ich von Bruder Jo- auch an der Architektur sieht, bestimmt hochgelobte Bier einbringt, können die ris wissen. Der sagt, das habe damit zu auch unser Leben“, sagt Godfried. Der Mönche inzwischen gut leben. Mehr als tun, dass im Mittelalter das Wasser nicht Tag ist strukturiert, und in dieser Gesetz- das: Das überschüssige Geld kommt an- immer rein war. Man musste immer be- mäßigkeit bleibt Raum für das Versin- deren Klöstern zugute, wie es die Tradi- fürchten, abgestandenes, ungesundes ken in Gott. Traditionell sind Trappisten tion will; auch Klöster in Afrika werden Wasser zu trinken. Bier hingegen war, da Schweige-Mönche. Diese Regel wurde im unterstützt. Die Menge des produzierten es abgekocht war, zuverlässiger. Laufe der Zeit jedoch etwas gelockert, Bieres erhöhen die Mönche aber nicht. In der Abfüllanlage und im Lager fällt und es gibt durchaus Orte, an denen die „Bete und arbeite“ lautet die Regel Be- schnell noch etwas anderes auf, das das Mönche untereinander und mit Außen- nedikts, und nicht „bete und mache im- Bier aus Sint Sixtus von anderen un- stehenden reden. Dennoch wird darauf mer mehr Profit“. Die Mönche stressen terscheidet: Die Flaschen tragen – als Wert gelegt, dass etwa die Mahlzeiten sich nicht. Der durchstrukturierte Alltag einziges Bier in Belgien – kein Etikett. schweigend eingenommen werden, und und die Gebetsstunden bleiben erhal- Schlichte, braune Flaschen verlassen auch im Gästehaus soll geschwiegen wer- ten. Mittlerweile hat die Klosterleitung die Brauerei in einfachen Holzkisten. Al- den. Symbolbilder an den Türen und auch ausgebildete Brauerei-Mitarbeiter les, was der Verbrauer wissen muss, das Wänden weisen darauf hin. eingestellt. Den Brauprozess aber über- Haltbarkeitsdatum, der Name und die In- Fast immer befinden sich im Kloster wacht weiter ein Mönch. Bruder Joris ist haltsstoffe etwa, steht auf dem Kronkor- auch Gäste, meistens sind es sogar mehr, erst kaum zu einem Wort zu überreden. ken. Die leeren Flaschen und die Deckel als Mönche dort leben. Viele kommen Erst nach und nach bricht er sein Schwei- des Westvleteren-Bieres sind begehrte für zwei bis drei Tage, um einmal im Jahr gen. Dann sagt er jenen Satz, den man in Sammler-Objekte im Internet. Es gibt kei- vollkommen abzuschalten. Sie nehmen Sint Sixtus öfter hört: „Wir Mönche leben ne Marketing-Abteilung im Kloster, kei- die Mahlzeiten ohne die Mönche ein, nicht, um zu brauen, sondern wir brau- ne Werbeanzeigen. Warum auch? Der Ge- aber ebenso wie sie schweigend. Und das en um zu leben!“ Bruder Joris klärt auf: heimtipp aus Belgien verkauft sich von führt überraschenderweise zu einer selt- Es gibt drei Sorten Bier aus St. Sixtus: selbst. samen Erfahrung. Während von einem „Westvleteren 6“, genannt „Das Blonde“, Vor einiger Zeit hatten die Mönche ein CD-Spieler Klaviermusik ertönt, sitzt man mit einem Alkoholgehalt von 5,8 Prozent. „Biertelefon“ eingerichtet. Dort konnte mit wildfremden Menschen an Tischen, Außerdem Nummer 8 (das Braune) mit jeder auch von außerhalb Bier bestel- doch wo normalerweise wie selbstver- 8 Prozent, und schließlich das Starkbier len, und wenn es fertig ist, was manch- ständlich das Gespräch beginnen würde Nummer 12 mit 10,2 Prozent. Vom Tru- mal auch erst nach Monaten der Fall sein („Wo kommst du her? Was machst du?“), bel um das Bier sind die Mönche auch kann, konnte man es an einem bestimm- starrt man hier nur auf den Teller vor manchmal genervt. So schön es auch ist, ten Tag vorm Kloster abholen. Doch tech- sich, oder verlegen auf seine Hände. Auf dass alle gut davon leben können – so nisch versierte Kunden hatten das Sys- einmal wird jede Bewegung mit Bedeu- bleiben alle eben doch Mönche, die ei- tem überlistet und konnten so öfter als tung aufgeladen, die Körpersprache wird gentlich ihre Ruhe haben wollen. andere Kunden bestellen. Nun sind die zur einzigen Kommunikation. Zum Rezept wollen die Mönche nicht Mönche auf eine Webseite umgestiegen, Gegründet wurde das Kloster Sint Six- viel sagen. Bruder Joris deutet nur an: Die wo es gerechter zugeht. tus im Jahr 1831. Bereits acht Jahre spä- Temperatur spielt eine wichtige Rolle. Es bleibt dabei: Das Bierbrauen ist ter erhielten die Mönche von König Le- Also wann und wie lange die Maische er- nicht der Kern. Wer in Sint Sixtus lebt, opold I. die Lizenz zum Bierbrauen. Im wärmt wird und wann es Zeit ist, sie um- will Gott suchen, nicht reich durch Bier Ersten Weltkrieg kamen viele Tausend zufüllen. Der zweite wichtige Faktor ist werden.

28 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 MEDIEN

Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. So beginnt das erste Buch der Bibel. Davor war es wüst und leer. Christ & Welt-Redaktionsleiter Raoul Löbbert sieht gewisse Parallelen zur Genese seiner Texte. | von raoul löbbert

m Anfang schuf Gott Himmel und chieren, prüfen Fakten, so gut wie wir scheint. Dann ertappe ich mich manch- Erde. Ich gebe zu, das imponiert können, versuchen möglichst plastisch mal dabei, wie ich mit dem Bleistift in Amir. Himmel und Erde erschaffen, und leicht verständlich zu erzählen, re- den Texten rummale, die längst gedruckt einfach so – ich habe schon Probleme digieren uns selbst unzählige Male, las- sind. Es ist hart, einen Text in die Welt damit, einen Text zu beginnen. Manch- sen uns von unseren Ehepartnern oder zu entlassen. Er entwickelt dann ein Ei- mal schleiche ich eine halbe Stunde Lebensabschnittsgefährten redigieren genleben, andere bewerten ihn, meckern oder mehr um den Rechner, schaue im- (sehr schmerzhaft), lesen uns manchmal an ihm rum, irgendwann wird er über- mer wieder auf den weißen Bildschirm im Kollegenkreis die Texte sogar vor, weil holt von der Aktualität. Als Autor wür- meines Textverarbeitungsprogramms in man beim gesprochenen Text noch vieles de ich ihn gern davor bewahren, ihn be- der Hoffnung, dass dort plötzlich Buch- bemerkt, das einem am Blatt nicht auf- schützen. Schließlich ist er Fleisch von staben von Geisterhand erscheinen, die fällt. Und dann kommen schließlich die meinem Fleisch. Ihn so zu nehmen, wie sich von selbst zu einem preisverdäch- Kollegen, Korrektoren, Chefredakteure, er mal gedruckt wurde, ist nicht leicht. tigen Stück Journalismus zusammenset- Chefs vom Dienst, die immer irgendwas Ob es Gott mit seiner Schöpfung auch so zen. Doch so ist es leider nicht. Schrei- auszusetzten haben. geht, weiß ich nicht. Ich nehme aber an, ben, einen Text aus dem Nichts zu er- dass er manchmal auch ganz gern in ihr schaffen, ist harte Arbeit, wenn man kein Erschaffenes beschützen rummalen und sie beschützen würde. In Gott ist. Und selbst Gott hat die Schöp- diesen Tagen vielleicht besonders. fung nicht auf einmal hinbekommen. Er So füllt sich die wüste Welt, die ein Text brauchte bekanntlich sechs Tage dafür am Anfang ist, langsam mit Leben. Fer- plus Urlaub. tig jedoch ist er nie. Deshalb lese ich alte Am Anfang, heißt es in der Genesis, Texte von mir möglichst ungern. Meist war die Erde, die er schuf, wüst und leer. findet man doch noch irgendeine Formu- Das kenne ich. So sehen meine Texte an- lierung, irgendeine Metapher, die einem fänglich auch aus. Ein Chaos aus Satzan- im Nachhinein schief und missglückt er- fängen, Kurzabsätzen, losen Gedanken, die noch darauf warten, in einen Kontext gestellt zu werden. Diesem Urtext folgen dann meist zahllose Überarbeitungen

und Versionen mit inhaltlichen Ergän- Leitlein Hannes Foto: zungen und stilistischer Feinpolitur. Es gibt ja Leute, die halten nicht viel von Raoul Löbbert, Jahrgang 1977, hat Journalismus. Die denken, unsere Texte in Bonn Germanistik und Soziologie würden entstehen, indem wir mit der fla- studiert. Er volontierte beim Rhei- chen Hand einmal auf die Tastatur hau- nischen Merkur und ist seit 2010 bei en, und was so entsteht, sei dann auch der Wochenzeitung Die Zeit/Christ & noch gelogen. In Wahrheit machen wir Welt beschäftigt, seit drei Jahren als es uns oft sehr schwer mit dem, was wir Redaktionsleiter.

sagen wollen über die Welt. Wir recher- Woodard Averie Foto:

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 29 MEDIEN „GLAUBE WAR IN MEINEM LEBEN IMMER SCHON DA“ Die Schauspielerin Teresa Weißbach wurde mit 17 Jahren durch ihre Rolle in der Komödie „“ deutschlandweit berühmt.

Der Film über die DDR feiert diesen Herbst Fühlt sich auf der sein 20-jähriges Bestehen. Mit pro hat sie Theaterbühne wie auf der Kinoleinwand wohl: die über Karriere, Glaube und ihre Tätigkeit als Schauspielerin Teresa Sterbebegleiterin gesprochen. | die fragen Weißbach stellte michael müller Foto: Mirjam Knickriem

pro: Die DDR-Komödie „Sonnenallee“ erschien vor zwanzig wenn die DDR in einer Komödie oder Tragödie dargestellt wird, Jahren in Deutschland. Ihr Gesicht wurde damit schlagartig kann ich nicht nachvollziehen. in Deutschland berühmt. Können Sie noch über den Film Sie haben eine vielfältige Karriere und sind gleichzeitig Mut- sprechen oder ist Ihnen das über? ter dreier Kinder. Ist das immer in Einklang zu bringen? Teresa Weißbach: Mir ist das Thema „Sonnenallee“ nicht über, Ich war irgendwann an einem Punkt in meinem Leben, an weil ich damit unglaublich viel Schönes verbinde und dankbar dem ich gerne eine eigene Familie gründen wollte. Das war ein bin. Ich durfte mit 16 Jahren einen Kultfilm drehen. Diese Ge- großes, tiefes Gefühl. Ich habe damals allerdings nicht gedacht, legenheit hat nicht jeder Schauspieler. Bei mir sollte das eben mal Mutter von drei Kindern zu sein. Dann kommt aber das Le- gleich am Anfang meiner Karriere sein. Und nach „Sonnenal- ben oder auch Gott ins Spiel, und man denkt: Das habe ich so lee“ kamen ja noch viele Theater- und Filmengagements, die nicht geplant, aber ich nehme das an. Deswegen bin ich auch mein Schauspielerleben reich gemacht haben. glücklich damit, die Mama von drei wunderbaren Kindern zu Der Film war ein großer Zuschauererfolg. Aber es gab den sein. Das ist eine große Aufgabe und Verantwortung, die ich Vorwurf der Verharmlosung der DDR. Wie bewerten Sie jeden Tag erneut bejahe. Ich bin gerne Mama. Und ich arbeite selbst heute die Darstellung? auch gerne in meinem Beruf. Dank der Unterstützung meines Der Regisseur Leander Haußmann war der erste, der sich die- Mannes und unserer Eltern ist es mir zum Glück möglich, wei- sem Thema mit Humor gewidmet hat. Das gab es vorher nicht. terhin zu drehen und Theater zu spielen. Deshalb war der Film ein Vorreiter. Natürlich haben damals Wenn Sie Gott erwähnen, was bedeutet Ihnen dann Jesus Leute gesagt: Wie kann man so etwas machen? Das war doch al- Christus? les ganz schrecklich – Mauertote und Stasi. Ja, das gab es auch. Jesus Christus bedeutet für mich Erlösung, Freiheit, tiefe Erfül- Aber es gab auch Unbeschwertheit, Fröhlichkeit, es gab ganz lung und Dankbarkeit. Ja, das ist es, was mir spontan in den normales Leben. Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Ich Sinn kommt, wenn ich an Jesus denke. glaube, der Film hat deshalb auch so viel Kritik eingesteckt, Wie leben Sie im Alltag Ihren Glauben? weil es der erste Film war, der sich das getraut hat. Ich bete fast jeden Tag. Ich glaube an alle guten Mächte in der Wie gefiel Ihnen ein Film wie „Das Leben der Anderen“, der Form von Gott, Jesus und den Engeln. Deren Gegenwart spü- mit der Stasi die Schattenseiten des Systems schilderte? re ich und fühle mich beschützt und behütet. Meinen Glauben Das war auch ein super Film. Zu Recht hat er viele Preise gewon- und meine Zuversicht gebe ich an meine Kinder weiter, mit de- nen. Es gibt so viele unterschiedliche Arten, auf ein Leben oder nen ich auch bete. Mein Sohn geht in eine katholische Kita. eine Epoche zu blicken. Es ist doch wunderbar, wenn das von Wenn ich Zeit habe, gehe ich sehr gerne in den Gottesdienst. allen Seiten beleuchtet wird. Dass Menschen Probleme haben, Wenn ich eine Kirche sehe, habe ich Lust reinzugehen. Ich liebe

30 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 Weißbachs Durchbruch in der DDR-Komödie „Sonnenallee“

Als Försterin im ZDF-Erzgebirgskrimi

Fotos: Delphi Filmverleih, ZDF/Uwe Frauendorf

Die Komödie „Sonnenallee“ war man zu erspüren, ob etwas fehlt oder es offene Angelegenheiten 1999 der Durchbruch der gebürtigen gibt, man begleitet eben die letzte Phase. Die Person, die ster- Erzgebirglerin. Seitdem fühlt sich ben wird, gibt den Weg vor. Es geht nicht darum, die Person an Weißbach sowohl im Kino als auch die Hand zu nehmen und selbst aktiv zu sein. Der Sterbende ist im Fernsehen und auf der Theater- der Aktive. In meinem Beruf als Schauspielerin ist das ganz an- bühne wohl. Der TV-Fan kennt sie ders, da bin ich die Gestaltende, die Aktive. Aber in diesem Eh- aus der Serie „Familie Dr. Kleist“ renamt geht es gar nicht darum. Hier muss man sich als Person oder dem Film „Schiller“ mit Matthi- zurücknehmen können. as Schweighöfer. Auf der Bühne re- Stellen Sie bei dieser Arbeit denn ein wachsendes oder ab- üssierte die dreifache Mutter sogar nehmendes Bedürfnis nach Spiritualität fest? schon beim Wiener Burgtheater. Bei den Menschen, die ich generell treffe, stelle ich eine stei- Demnächst ist sie im Erzgebirgskri- gende Tendenz zu Spiritualität fest. Vielleicht hängt das aber mi des ZDF zu sehen. auch damit zusammen, dass es mich selbst interessiert und ich darin einen Sinn sehe. Ich bin froh, dass es diese Tendenz gibt. Warum? Wir haben als Menschen schon so viel Fortschritt und wissen- schaftliche Erneuerungen erreicht. Wir sind von Hightech um- diese Atmosphäre, das Gefühl des Verbundenseins. geben. Immer mehr Leute spüren, dass sie das allein nicht Sind Sie so aufgewachsen? glücklich macht, und fragen sich, was es darüber hinaus noch Meine Eltern sind auch gläubige Christen. Meine Oma, bei der gibt, was sie erfüllen kann. Woraus kann ich meine Kraft, Hoff- ich häufiger als kleines Kind war, hat morgens und abends im- nung und Stärke ziehen? Ich glaube eben, dass das nicht der mer das Vaterunser gebetet. Das ist immer noch in meiner Er- teure neue Fernseher ist, sondern dass man auf die innere Stim- innerung: das Anschmiegen an meine Oma, ihr Duft und der me, sein Herz, hört. Wenn man dem nachgeht, was einem gut wohltuende Klang des Vaterunser. Die biblischen Geschichten tut; dass man sich auch über die kleinen Dinge freut; dass man haben mich schon immer fasziniert. Ich wurde mit zwölf Jahren selbst und die Familie gesund sind; dass man in die Natur raus- spät getauft, weil ich das ganz bewusst machen wollte. Kirche gehen kann. Das ist doch erfüllend. So geht es mir zumindest. und Glaube waren in meinem Leben immer schon da. Und ich bekomme immer häufiger mit, dass es anderen Leuten Wie war das in Stollberg im Erzgebirge, wo Sie aufgewach- auch so geht. sen sind? Wenn Sie sich eine Rolle wünschen könnten, über welche Als Kind bin ich in die Christenlehre gegangen, später in den würden Sie sich heute freuen? Konfirmandenunterricht. Ich hatte Freunde, die genau wie ich Früher hatte ich immer eine Antwort auf diese Frage parat. evangelisch waren, und andere, die Atheisten waren oder der Dann sagte ich zum Beispiel: die Schneekönigin. Aber ich katholischen oder ökumenischen Gemeinde angehörten. Ich merke, im Moment fällt es mit schwer, eine Antwort zu finden. habe schon als Kind mitbekommen, dass es sehr viele Formen Die Frage zielt darauf ab, wo ich denn hin will, nicht wahr? Aber des Glaubens gibt. Meine Eltern haben mir vorgelebt, tolerant ich merke, dass ich mich gerade gar nicht so sehr auf ein Ziel und offen zu sein. konzentriere, sondern völlig mit dem Weg beschäftigt bin. Der Welche Rolle spielt Ihr Christsein bei der ehrenamtlichen Ar- Weg ist das Ziel. Ich genieße alles, was da ist. Ich fange jetzt beit als Sterbebegleiterin bei der Caritas in Berlin? an, die zweite Folge zum Erzgebirgskrimi zu drehen, wo ich eine Ich wollte mich gerne ehrenamtlich engagieren. Die Menschen, Försterin spiele. Ich darf jemanden spielen, der aus dem Erzeg- die sich an das Ambulante Caritas Hospiz wenden, gehören birge kommt und mit Land und Leuten verbunden ist. Das ist nicht immer einer Konfession an. Wenn sie aber das Bedürfnis ein Herzensprojekt, dessen erste Folge wir vergangenen Herbst haben, über Gott zu sprechen oder zu beten, dann hilft es mir, für das ZDF gedreht haben. Das ist meine Wegstrecke, die ich wenn ich dazu etwas sagen kann. Ich habe keine Scheu, ein Ge- gerade begehe. Und die ist gerade so reich und daran kann ich bet zu sprechen oder aus der Bibel vorzulesen. mich gerade so freuen, dass ich gar nicht so genau nach einem Und Sie können Hoffnung spenden. fernen Ziel schaue. Wenn die Menschen das wollen. Als Sterbebegleiterin versucht Vielen Dank für das Gespräch.

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 31 MEDIEN

Wieviel PR steckt in Greta? Die Klima-Aktivistin Greta Thunberg ist zur globalen Klima-Ikone geworden. Das Medienspektakel um das schwedische Mädchen erreicht einen Höhepunkt nach dem anderen. Im Hintergrund ziehen Profis ihre PR-Strippen und machen erstaunliche Geschäfte.| von wolfram weimer

eit 800 Jahren ist keine Kindersee- listen – schmähen sie als „öko-religiöse dukt cleverer Marketingstrategen, die fahrt mehr so beachtet worden wie Putte“ und ihr Tun als „grünen Katastro- Profit aus dem medialen Hype schlagen Sdie von Greta Thunberg nach New phenklamauk“. Jenseits der politischen wollen? Bereits im Februar berichtete die York. Die schwedische Klima-Aktivistin Lagerperspektive ist der Mensch Greta linksgerichtete Tageszeitung taz unter stach in See nach Amerika, um beim Kli- Thunberg für die meisten Beobachter dem Titel „Greta Thunberg kommerziell magipfel der Vereinten Nationen die Welt schlichtweg ein Faszinosum, ein mutiges ausgenutzt / Aktivistin als Werbefigur“. vor dem Untergang zu warnen. Und weil Mädchen mit Asperger-Syndrom, das mit Seither mehren sich vor allem in skan- sie das demonstrativ emissionsfrei tun ansteckendem jugendlichem Idealismus dinavischen Medien Berichte über die wollte, flog sie nicht, sondern segelte mit die Klimadiskussion anfacht. kommerziellen Hintergründe des Greta- der Hochseejacht „Malizia II“ los. Es war ein bildmächtiges Medienspektakel glo- baler Dimension: Das zerbrechliche Kind „Es gibt keinen Interessenkonflikt stürzt sich in die Atlantikfluten, um die Apokalypse noch zu verhindern. Titel- zwischen Klimaschutz und seiten und Nachrichtenaufmacher waren ihr damit sicher. Geldmachen.“ Historiker fühlen an das Jahr 1212 erin- nert. Damals wollten politisch beseelte Doch selbst für viele Sympathisanten Hypes. Demnach steht insbesondere die Kinder ebenfalls mit allerlei Seefahrer- sind die jüngsten Inszenierungen ihrer Aktiengesellschaft „We don’t have time“ Spektakel die Welt retten, predigten in- Person befremdlich. Es wächst im Publi- im Zwielicht. Das Unternehmen wurde brünstig für Armut wie für Gott und bra- kum die Skepsis, wer warum den neuen von einem der erfolgreichsten PR-Mana- chen ins Heilige Land auf. Ihr Anführer Superstar des Öko-Zeitgeistes eigentlich ger und Börsenspezialisten Schwedens, hieß Nikolaus, minderjährig wie Gre- so professionell inszeniert und wie es Ingmar Rentzhog, 2017 gegründet. Sein ta und ebenso charismatisch kam er dem Kind im politischen Getümmel wohl selbstbewusstes Ziel: Das „weltweit größ- aus Köln und trug ein Kreuzzeichen aus geht. Thunberg hat mittlerweile den Ter- te soziale Netzwerk für Klimaaktion“ zu Schiffstauen bei sich. Auch ihm flogen minplan eines Spitzenpolitikers; Presse- schaffen und damit möglichst viel Geld die Herzen der damaligen Zeit zu. Er ver- konferenzen, Foto-Shootings, Interviews, zu verdienen. Zeitgleich veröffentlicht sprach Kindern, die sich um ihn geschart Parlamentsreden, Demonstrationsauf- Mutter Malena Ernmann publikumswirk- hatten, ein Wunder: Das Meer würde sich tritte wechseln sich immer hektischer ab. sam einen Bestseller über das Familien- in Genua teilen und so würden sie tro- Auch die Segeljachtfahrt wird vielfach leben, die Erkrankung ihrer Tochter und ckenen Fußes nach Jerusalem gelangen. kritisch kommentiert, weil es sich um den Klimawandel. Kommerzielles Ziel Es kam anders, der friedliche Kinder- eine der teuersten Rennjachten der Welt der Rentzhog-Kampagne ist es von An- kreuzzug scheiterte, doch die Faszination handelt, weil ihr „Team Malizia“ aus Mo- fang an, über die Klima-Ikone Greta die vor dem Kind als moralischem Mahner naco stammt und also aus einem Steuer- Aktiengesellschaft „We don’t have time“ blieb im europäischen Unterbewusstsein paradies, weil das Schiff einem ominösen zu einer grünen Massen-Plattform aus- für Jahrhunderte erhalten. Stuttgarter Immobilienmillionär gehört, zubauen. Erste Investoren-Runden wer- Thunberg profitiert davon bis heute. Die weil man Greta unnötig in atlantische den anberaumt und Finanzprospekte ge- einen – vor allem im links-­ökologischen Sturmgefahren bringt. schrieben, um Aktienkapital zeichnen zu Milieu – verehren die 16-jährige Umwelt- lassen. In einem Börsenbriefing heißt es: aktivistin als selbstlose Prophetin. Die Wer an Greta verdient „Unser Vorbild ist TripAdvisor.com, das von ihr ausgelösten „Schulstr­ eiks für mit seinen 390 Millionen Usern Unter- das Klima“ seien zur wichtigen Jugend-­ So wachsen im Publikum die Zweifel über nehmen bewertet und beeinflusst.“ Bewegung „Fridays for Future“ gewach- die Motive von Gretas Hintermännern. Ist Ende November 2018 nahm Thunberg sen. Andere – vor allem Rechtspopu- sie womöglich ein kalt inszeniertes Pro- einen Platz als Beraterin im Vorstand der

32 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 MEDIEN

Non-Profit-Stiftung Rentzhogs ein, die Mehrheitsaktionärin des Unter­nehmens ist. Beim Klimagipfel in Kattowitz im De- zember reiste Thunberg wie auf einer Road Show mit den „We don’t have time“- Managern an und stellte das Projekt vor. Ohne ihr Wissen wurde sie auch von dem kommerziellen Zweig der Organisation zu Werbezwecken vereinnahmt. Nach- dem erste Kritik an der geschäftlichen Konstruktion öffentlich wurde, zog sich Thunberg aus der Stiftung zurück. „We don‘t have time“ habe sich bei ihr ent- schuldigt, teilte sie am 11. Februar auf Facebook mit. Mit Anette Nordvall war sogar eine Größe der schwedischen Venture-Ka- pitalistenszene bei der Rentzhog-Platt- form eingestiegen. In einem gemein- samen Brief an Investoren hatten Rentz- hog und Nordvall am 9. Februar geschrie- ben: „Seit wir vor 18 Monaten gestartet sind, haben wir daran gearbeitet das so- ziale Netzwerk auszubauen, Investoren anzuziehen und wichtige Klimawandel-­ Initiativen und junge Klima-Helden wie Greta Thunberg in Szene zu setzen.“ Und weiter, in erstaunlicher Offenheit: „Die Aufgabe des Unternehmens ist es, Gewinne zu erzielen, Werbeeinnahmen inbegriffen … Es gibt keinen Interessen- konflikt zwischen Klimaschutz und Geld- machen.“ Man habe in kurzer Zeit bereits Eine Künstlerin malt 23 Millionen schwedische Kronen von ein Greta-Porträt an eine Hauswand mehr als 500 Investoren aus 16 Ländern eingenommen. Foto: Markus Hurek Markus Foto:

Dr. Wolfram Weimer, geboren 1964, ist Verleger, mehrfach ausgezeich- neter Publizist und einer der wich- tigsten Kommentatoren des Zeitge- schehens. In seinem Verlag Weimer Media Group erscheinen zahlreiche Wirtschaftsmedien. Foto: istockphoto, Fabio Amicucci Fabio istockphoto, Foto:

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 33 PÄDAGOGIK

Im TikTok-Fieber

Die App TikTok steht in Kinderzimmern hoch im Kurs. Wer keine dieser kleinen Videoclips dreht, gilt auf dem Schulhof schon fast als Außenseiter. Doch ganz gefahrlos ist die Anwendung nicht. Was Eltern wissen müssen, wenn im Wohnzimmer Lip-Sync-Videos und Choreografien angesagt sind. | von swanhild zacharias

isa und Lena, Falco Punch, Chany Dakota – vielen Über- Unter-18-Jährige müssen laut AGB zur Nutzung das Einverständ- 18-Jährigen sagen diese Namen nichts. In den Kinderzim- nis der Erziehungsverantwortlichen haben. Kontrolliert werde Lmern sind sie derzeit aber höchst angesagt. Denn sie alle das aber nicht, sagt Judith Eckart, stellvertretende Leiterin im wurden durch die App TikTok bekannt. Wer bei „TikTok“ eher Bereich Internetdienste bei Jugenschutz.net. Bei der Registrie- an einen Türklopfer denkt als an eine Smartphone-Anwendung, rung müsse das Alter zwar angegeben werden, die Wahrhaftig- hinter musical.ly eine Webseite für Theateraufführungen erwar- keit der Angabe werde aber nicht überprüft. Ein Zehnjähriger tet oder sein Kind tanzend vor dem Smartphone antrifft, der sei kann sich also einfach als 13-Jähriger ausgeben. Auch eine Ein- im Folgenden kurz aufgeklärt. verständniserklärung der Eltern verlange die App nicht, sagt TikTok ist die derzeit beliebteste App der Welt. Bis 2017 hieß Eckart. Dabei nutzten beobachtbar sogar schon Achtjährige das sie musical.ly. Dann wurde sie für umgerechnet gut 900 Millio- Programm. nen Euro an den chinesischen Internetkonzern Bytedance ver- kauft. Seitdem heißt die Anwendung TikTok. Bei der App geht Gefahr von sexueller Belästigung es um sogenannte Lip-Sync-Videos. Das funktioniert ähnlich wie die Mini-Playback-Show der Neunzigerjahre im Fernsehen, Eckart verweist vor allem darauf, dass die Voreinstellungen des nur digital. Wer sich bei TikTok registriert, kann aus einer Fülle Dienstes unsicher sind: Das eigene Profil und Inhalte sind öf- von aktuellen Songs aus den Charts auswählen und dazu kurze fentlich einsehbar, man selbst durch die Suchfunktion für je- Playback-Videos aufnehmen, indem die Lippen zum abgespie- den auffindbar. Jeder könne dem Anwender private Nachrichten lten Gesang bewegt werden. Außerdem gehört eine Choreogra- schicken, wenn dieser die Einstellungen nicht ändere. fie, also die passenden Bewegungen oder Tänze, dazu. Gerade für junge Nutzer sei das Risiko sexueller Belästigung, Das machen Millionen Kinder und Teenager derzeit täglich der Anbahnung von Missbrauchshandlungen oder das Risiko und stellen diese Videos der TikTok-Welt zur Verfügung. Knapp für Cybermobbing hoch. Das gelte auch für Turnvideos, in de- neun Millionen Downloads verzeichnen die Betreiber für die nen die jungen Sportler entsprechend knapp bekleidet sind. App auf dem deutschen Markt. Spitzenreiter bei den Nutzerzah- „Erwachsene Nutzer versuchen, über Kommentare Kontakt zu len ist Indien mit fast 120 Millionen Downloads. Der Hype um Minderjährigen herzustellen und die Kommunikation auf ande- die App ist auch in Deutschland so groß, dass diejenigen, die re Dienste wie WhatsApp oder Snapchat zu verlagern“, beob­ nicht mitmachen, auf dem Schulhof fast als Außenseiter gelten. achtet Eckart. Daten- und Jugendschützern bereitet TikTok jedoch Bauch- Hochgeladene Videos könnten zudem einfach in anderen schmerzen. Im Frühjahr verließen auch die blonden Zwillinge Diensten wie WhatsApp geteilt, heruntergeladen und verändert Lisa und Lena, deren Namen mittlerweile auch über die TikTok- und so in Inhalte umgewandelt werden, die für Mobbing ge- Welt hinaus bekannt sind, das Portal. Unter anderem gaben sie nutzt werden könnten. Suchkombinationen wie „peinlich Tik- Sicherheitsbedenken als Gründe an. Junge Nutzer veröffentlich- Tok“ führten zum Beispiel zu YouTube-Videos, in denen Nutzer ten ihre Videos oft unüberlegt, ohne zu wissen, wer die Aufnah- bloßgestellt werden. men eigentlich sieht, so die Begründung. TikTok selbst biete zwar die Möglichkeit, unangebrachte In- Die unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen für Kinder und halte zu melden, die Löschung erfolge aber nicht immer zuver- Jugendliche kritisert auch die Organisation Jugendschutz.net. lässig. Von Zeit zu Zeit kläre der Betreiber die Anwender über Eigentlich ist TikTok erst für Teenager ab 13 Jahren erlaubt und Pop-up-Fenster zum Thema Mobbing auf. Wenn Nutzer jedoch

34 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 TikTok-Nutzung weltweit (in Mio.)

Polen 5,7 Spanien 6,5 UK 6,7 Italien 7,1 Ägypten 8,3 Deutschland 8,8 Frankreich 9,1 Saudi-Arabien 9,7 In sogenannten Pakistan 11,8 „Challenges“ stellen Brasilien 18,4 sich TikTok-Nutzer spielerisch Aufgaben Mexiko 19,7 und verpacken diese in Russland 24,3 Mini-Videoclips Türkei 28,4 USA 39,6 Indien 119,3

Quelle: Priori Data TikTok ist die derzeit am meisten heruntergeladene App weltweit. Die meisten Nutzer gibt es in Indien.

Fotos: Screenshot pro

einen Beitrag meldeten, würden Sie auf kein Beratungsange- bot hingewiesen. Positiv: TikTok arbeite an der Verbesserung Tipps für Eltern: des Jugendschutzes, sagt Eckart. Immer mehr riskante Hash- tags würden gesperrt und bei der Meldefunktion von Beiträgen Eltern sollten ihre Kinder bei der Internetnutzung gebe es jetzt ein Freitextfeld, um die Lage genauer zu erklären, altersgemäß begleiten. Das gilt auch für Apps Screenshots könnten als Belege angefügt werden. Eckart emp- auf dem Smartphone. Bei TikTok empfiehlt die fiehlt darüber hinaus jedoch, dass Eltern die App mit ihren Kin- Organisation Jugendschutz.net: dern zusammen einrichten und sie auf Risiken hinweisen. Der Medienpädagoge Stefan Piasecki sieht die Faszination • Informieren Sie sich im jeweiligen App-Shop von TikTok vor allem in der Möglichkeit, selbst mitmachen zu (zum Beispiel Google Play Store für Android können. „Sich einbringen zu können und zu dürfen, eigene In- oder App-Store für iOS) über Inhalt und halte zu setzen, kreativ zu sein – das alles sind Eigenschaften, Funktionsweise der App. die in der Grundnatur des Menschen liegen und die hier öffent- lich ausgelebt werden können“, sagt er. Piasecki ist Professor • Richten Sie die App zusammen mit Ihrem für Soziologie und Politikwissenschaften an der Fachhochschu- Kind ein. Legen Sie zum Beispiel gemeinsam le für öffentliche Verwaltung NRW. Zuvor hatte er den Lehrstuhl die Privatsphäre-Einstellungen fest. So für Soziale Arbeit und Medienpädagogik an der CVJM-Hoch- stellen Sie sicher, dass Fremde keinen Zugriff schule Kassel inne. Der App steht er nicht grundsätzlich ne- auf das Profil Ihres Kindes haben. gativ gegenüber, denn Kinder und Jugendliche könnten durch den Umgang damit einiges lernen: „Selektion aus einer Viel- • Unterbinden Sie In-App-Käufe beim zahl möglicher Themen, überlegtes Herangehen und nicht zu- Smartphone Ihres Kindes, damit nicht letzt auch Selbstkritik.“ Die Nutzer lernten, mit Reaktionen auf unbedacht Geld ausgegeben wird. Das ihre eigenen Inhalte umzugehen. können Sie im jeweiligen App-Store festlegen. Aufmerksamkeitsspanne wird immer kürzer • Klären Sie Ihr Kind über sicheres Verhalten Gut findet Piasecki die Vielfalt der Themen in den Videos. Viele online auf, damit es zum Beispiel subtil Nutzer unterlegen die Musik nicht einfach mit Lippenbewe- wirkende Risiken wie sexuelle Belästigung als gungen und Tänzen, sondern drehen Mini-Geschichten pas- solche einordnen kann. Informieren Sie Ihr send zur Musik. Dabei könne es neben Tiervideos und Bastel- Kind darüber, welche Möglichkeiten es gibt, tipps auch um religiöse oder politische Inhalte gehen, sagt Pi- wenn es Opfer eines Übergriffs geworden ist asecki. Doch „in der Kürze liegt nicht immer die Würze“ und oder mit belastenden Inhalten konfrontiert zum Beispiel für politische Debatten sei es fatal, wenn keine wurde. Infos zu Sicherheitseinstellungen, Diskussion mehr stattfinde, sondern es nur noch auf vermarkt- Meldesystem und Datenschutz finden Sie bare Sprüche ankomme. „Medial existent ist der, der in der Talk- auch unter kompass-social.media. Show seine 15-Sekundenstatements ablassen darf“, gibt der Me-

5 | 2019 Anzeige

PÄDAGOGIK dienpädagoge zu bedenken. Genau diese Fähigkeit werde bei TikTok eingeübt und das sieht Piasecki kritisch. Das Problem wenig bekleideter Minderjähriger hält Piasecki nicht für zentral. Viel dramatischer empfindet er die geringe Aufmerksamkeitsspanne von Jugendlichen, die durch Apps wie TikTok verstärkt werde. „Die Schulpädagogik der Neun- ziger beklagte, dass sich Jugendliche kaum mehr länger als fünf Minuten auf eine Sache konzentrieren können. Verantwortlich machte man Videoclips, die damals populär waren. Im Takt von drei bis fünf Minuten bekam man die unterschiedlichsten Welten vorgeführt.“ Durch Angebote wie TikTok verkürze sich die Aufmerksamkeitsspanne noch weiter. In seiner Hochschul- tätigkeit nimmt er wahr, dass Studierende oft nicht mehr in der Lage seien, einen längeren Text von ein bis zwei Seiten am COMPASSION Stück zu lesen. FREUNDESTAG Der Medienpädagoge Stefan Piasecki empfiehlt Eltern: 28.März 2020 „Sich das zeigen lassen, 14:00 - 20:00 Uhr interessiert sein, Ludwigshafen mitmachen. Auch mal Friedrich-Ebert-Halle Gegenvorschläge machen. Aktiv sein, nicht reaktiv.“ Dr. Wess Sta ord (USA)

Anstatt vor TikTok zu warnen, appelliert Piasecki – wie auch + Eckart von Jugendschutz.net – an die Medienkompetenz der Jennifer Gitiri (Kenia) Nutzer. Er meint damit im Besonderen die Entscheidungskom- + petenz. „Die muss immer früher gelehrt werden, schon im Kin- Outbreakband dergarten, wenn Sie mich fragen“, sagt er. Piasecki geht es da- rum, schon Kinder über die Unterschiede von Informationen + aufzuklären. „Sie müssen wissen, dass es böse Menschen und Albert Frey & Band böse Inhalte dort draußen gibt. Nicht im Sinne von Panzerkna- + cker-böse, sondern von richtig teuflisch böse. Sie müssen ler- nen, vorsichtig zu sein und Vertrauen zu dosieren. Und damit Daniel Kallauch auch lernen, Inhalte, auf die sie stoßen, abzulehnen, nicht an- + zusehen.“ Das funktioniere aber nur, wenn man um diese Tat- + und weiteren ... sache wisse und nicht unvermittelt darauf stoße. Für die Päda- gogik sei das der schwierigste Teil des Vermittelns, aber Kinder müssten darauf vorbereitet werden. Schon allein deshalb, weil sie auf dem Schulhof der „Das musst du sehen“-Mundpropa- ganda ausgesetzt seien, bei der die Faszination des Verbotenen überwiege. #ft2020 Den Betreibern von TikTok traut Piasecki zu, „dass sie wich- tige Entwicklungen und Gefahren im Blick behalten“. Viele Ent- wickler starteten als „Nerds, die zunächt ihre Technologie se- hen“. Kämen dann ökonomisch denkende Menschen im Ma- nagement und Investoren hinzu, folge oft auch das Bewusstsein für die Verantwortung. Eltern rät der Medienpädagoge: „Ver- bote bringen nichts.“ Stattdessen sollten sie Interesse zeigen und vielleicht sogar mal bei einem Video mitmachen. Auch El- tern im Freundeskreis der Kinder zu kennen und sich mit ih- nen auszutauschen, könne helfen, mögliche Gefahren früh zu erkennen. Jetzt anmelden: Foto: privat 36 pro | Christliches Medienmagazin freundestag.de5 | 2019 W innern. die Kinderandaslaufende Gebet zuer turschutz radikalisierte, versuchte ich, Höchstgeschwindigkeit inSachen Na- Fische sterben.“ Während Carlsich mit Und angeln istauch verboten, weil dann Dasmacht dieErdeschatz liegt. kaputt. buddeln! Auch wenn nicht, daeinGold zu kriegen: „Löcher darfmanauch nicht mung passte. Alsoversuchte er, dieKurve diese Anekdote gerade nicht indieStim- der Geschwister, biserselbstbegriff, dass Hehe …“Stille.„Oh.“ Blicke Strafende heute eineSonnenblume abgerissen. ne Pflanzen ausreißen!“ Carl:„Ich habe Müll in die Natur schmeißen! Und kei - Donnerstagabend imKinderzimmer. mitten in„Fridays forFuture“ aneinem schmeißen Leute Sachen hin!“Ich war es nämlich nicht immerspitze!Weil: Da (entrüstet von der Seite): „Ja, der geht ze gehen Carl soll,weil siespitzeist.“ tung): „Na, dafür, dassesderNatur spit Elsa (mittadelndemBlick inmeineRich- Nettigkeit fürdieNatur!“ Ich: „Häh?“ Abend beten wolle. Antwort: Seine „Für lig aus demRuder gelaufen: Wochenende.fürs Neulich istesunsvöl da underzählt danach von ihren Plänen tet fürihrSpenden-Patenkind inUgan - der Schulkantine zuMittag gab. Elsabe Ausführlichkeit zuschildern, was esin nächsten Atemzug inbeeindruckender fürseineFamiliezum Beispiel –umim nig denFokus. Fritz dann danktGott gehen Papa und Kinderdemonstrieren. | von daniel böcking Gespräche mit seinenKindernüber Gott und die Welt. Heute: Zum ersten Mal Daniel Böcking, stellvertretender Chefredakteur derBild-Zeitung, schreibt über 5

| Weiter ging’s! Fritz: „Mandarfkeinen Ich fragte Fritz, wofür erdennheute

2019 lieren wirmanchmal einwe und ich abends beten, ver enn Carl(4), Fritz Elsa(7) (6), sieben Jahre alt. Seine Älteste, Elsa, ist über denGlauben. mit seinenKindern Daniel Böcking spricht ------weil sieeinGeschenk von ist.“ Gott „Wir müssen(auf dieNatur) aufpassen, Erde lieb istundwirunsfreuen können.“ er: „DasHerz sollallenzeigen, dassdie neben eingroßes Herz. Stolz verkündete ich gemacht. Ernahm es und malte da- schreiben: „SchütztunserKlima!“ Hab mich Fritz, für ihnauf einBlattPapier zu stehenden Klima-Demos. Prompt bat so nicht genannt hätten). Schöpfung eintraten (auch, wenn sie es wie ener visten geworden sind.Aber esgefiel mir, nung, wann genau siezuKlima-Akti- hatten. Ich habe bisjetzt noch keine Ah- ner solchen Vehemenz fürsich entdeckt Kinder urplötzlich dasThema mit ei- schenk von ist.“ Gott wir sonststerben. Und weil eseinGe gäbe. Wir müssen darauf aufpassen, weil weilmacht essonstkeine hat, Menschen finde esschön,Gottdie dassNatur ge ja dieWelt gemacht.“ Elsaergänzte: „Ich möchte dass alle tot sind. Er hat nicht, gehtschmeißt, dieWelt Und tot. Gott Jahre alt): „Wenn Müllrein manüberall - Neunmalklug Carl(wieerwähnt: vier gehtder Ort kaputt, denwirmögen.“ und macht keinen Sauerstoff mehr. Und geht Sonst tur zuzertrampeln. diekaputt mir, dassdieMenschen aufhören, dieNa- denn nunbitten?“ Fritz: „Ich wünsche Also erzählte ich ihnenvon denan- Mir war schleierhaft, warum meine Mir war schleierhaft, Und plötzlich kam insSpiel. Gott Mister „Fritz, worum genau möchtest du Gott ­gisc h sie für die Bewahrung der - - unserem Plakat. Schöpfung. Miteinemgroßen Herz auf für dieSchönheit vonSondern Gottes gegen dendrohenden Weltuntergang. gemeinsam demonstrieren gehen. Nicht Und sowerden wirjetzt zumersten Mal sei kein Problem, sagten dieLehrerinnen. for Future“-Demo teilnehmen wolle. Das seien, wenn einKindaneiner„Fridays mich inderSchule,wiedenndieRegeln hatten. gemacht in der Natur und Gott entdeckt plappert hatten, sondern sich Gedanken heim, dasssienicht nuretwas nachge Mission zusein.Ich freute mich insge risch, plötzlich auf einer gemeinsamen tig waren wiralleeinbisschen eupho Abendgebet zusprechen. Aber gleichzei- Seite. Wir schafften esnoch, in Ruhe ein Damit hatte ermich endgültig auf seiner hristliches Medienmagazin 37 pro Am nächsten Morgen erkundigte ich Kindern inBerlin. lebt mit seinerFrau und den vier Chefredakteur derBild-Zeitung und Er arbeitet als stellvertretender (beide imGütersloher Verlagshaus). ist.großartig MeinGlück mit Jesus“ umkrempelt“ und „Warum Glaube gibt es nicht – Wie Gott meinLeben der Bücher „Einbisschen Glauben Daniel Böcking , 41 Jahre, ist Autor

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C P ÄDAGOGIK - - - Foto: Böcking POLITIK UND WIRTSCHAFT

EX-TOPMANAGER THOMAS MIDDELHOFF: „Ich spüre einen Auftrag in mir“

Er ist von ganz weit oben nach ganz unten gestürzt: Der einstige Topmanager Thomas Middelhoff. Wegen Untreue und Steuerhinterziehung im Gefängnis, fand er dort zu Gott. Das hat er bereits in einem Buch beschrieben – jetzt liegt sein zweiter Titel vor: „Schuldig.“ Auf den gut 200 Seiten bekennt sich der Ex-Vor- standschef der Bertelsmann AG und der damaligen KarstadtQuelle AG sämtlicher Todsünden schuldig, die er als schleichendes Gift bezeichnet, das den Charakter zerstöre. | die fragen stellte christina bachmann

pro: Ihr Buch „Schuldig.“ handelt mit meinem Vortrag an und vor allem von moralischen Katego- beendet war das Ganze mit rien. Juristisch beantworten Sie Ihre anschließender Diskussion Schuldfrage weiterhin anders? um 23.40 Uhr. Draußen war Thomas Middelhoff: Es gibt Anwälte, allerbestes Wetter, Beach- Richter und Präsidenten von Oberlan- volleyballmeisterschaften desgerichten, die sagen: „Das ist kein in Hamburg. Trotzdem war Anlass für eine Haftstrafe.“ Es gibt of- der Hörsaal pickepackevoll. fensichtlich andere, die sagen: „Doch, Wenn danach sehr erfolg- das ist es.“ Ich könnte es mir jetzt ein- reiche junge Startup-Unter- fach machen und sagen: „Ich habe ei- nehmer kommen und sagen: nige gesprochen – ich bin nicht schul- „Hat mir die Augen geöffnet, dig.“ Ich sage aber gleichwohl: „Ich ist mir ein Warnsignal“, dann bin schuldig.“ Denn in diesen Ge- habe ich das Gefühl, ich habe richtssaal in Essen, wo ich in straf- was Gutes gemacht oder was rechtlichem Sinne schuldig gespro- erreicht. chen wurde, da habe ich mich durch Das heißt, die persönlichen mein eigenes Verhalten, meine Arro- Reaktionen, die Sie bekom- ganz und meinen Hochmut, reinge- men, sind andere als von- bracht. seiten der Medien? Warum diese fast selbstgeißelnde Das ist völlig auseinander- Offenlegung Ihres Scheiterns und gelaufen. Bei den Medien ist Lernens – was wollen Sie mit dem es das Stereotyp des schrei- Foto: Darius Ramazani Darius Foto: Buch bewirken? Thomas Middelhoff: Grandios gescheitert, doch im Gefängnis benden Journalisten, der mit Zum einen ist das für mich selber eine Gott gefunden seinen kritischen Haltungen Frage der Ursachenforschung. Auch kommt. Auf interpersoneller da könnte ich es mir einfach machen Ebene habe ich das bis heute und sagen: „Alle anderen waren schuld.“ tern geführt haben. Dass ich aus diesem nicht erfahren. Aber für mich ist wichtig zu verstehen: Lernprozess heraus jüngeren Menschen In den Medien wurde zum Teil hämisch Was hat zu diesem Scheitern geführt? helfen kann, diese Fehler nicht zu wie- reagiert: Jetzt würden Sie Ihr Schei- Sonst könnte ich auch nicht neu anfan- derholen, das ist mein Anliegen. tern, Ihre Buße und damit wieder nur gen. Man muss das gedanklich verarbei- Glauben Sie, dass es die hören, die es sich selbst vermarkten. Inwiefern trifft ten und einordnen. Und das zweite ist, hören sollten? Sie das und wie gehen Sie damit um? dass ich der festen Überzeugung bin: Das Die jungen Menschen, diese Erfahrung Früher hätte es mich schrecklich verletzt. ist jetzt ein Erfahrungsschatz, den ich habe ich gemacht, sind sehr offen da- Jetzt gibt es hin und wieder auch noch habe. Die meisten Politiker und Spitzen- für. Es gibt für mich ein ganz eindrucks- mal einen Moment, wo das ein bisschen manager sprechen ja nicht übers Schei- volles Erlebnis im Audimax in Hamburg. näher an mich rankommt. Aber anson- tern und die Fehler, die zu diesem Schei- Es war voll besetzt, ich fing um 21.45 Uhr sten ist es ja nicht so, wie es da unter-

38 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 POLITIK UND WIRTSCHAFT stellt wird. Mein Eindruck ist, dass die- ganz, Neid, Wollust auf. Sind Sie jetzt messen und ausreichend sein. Das muss jenigen, die ich erreichen will, es völlig gefeit gegen diese Versuchungen? eine soziale Marktwirtschaft erwirtschaf- anders sehen – egal, ob Journalisten im- Nein. Die Versuchung – der Teufel – ver- ten können – das tut sie auch. Die Fra- mer wieder versuchen, das in eine ganz schwindet ja nicht, wenn man einmal ein ge, wie viel Vermögen oder wie viel Ar- bestimmte Richtung zu drehen. Zum Teil Buch geschrieben hat. Die Frage ist nur, mut möglich sind, damit man glücklich ist es ermüdend, zum Teil tut es manch- wie man damit umgeht. Und ich glaube – ist, ist eine interessante Frage. Denn ich mal weh, aber das ändert nichts daran, Zwischenfazit, heutiger Stand –, dass ich glaube nicht, dass man sehr glücklich ist, dass ich einen Auftrag in mir spüre und mit diesen Versuchungen deutlich besser wenn man sehr viel Vermögen hat. Meine auch glaube, dass ich dort Talente, die umgehe, als ich das in den letzten 20, 30 These ist, dass man ein ziemlich leeres, ich noch habe, einsetzen kann – ob man Jahren gemacht habe. materiell ausgerichtetes Leben führt, mit das will oder nicht. Wie wichtig ist es Ihnen immer noch, gemocht zu werden? Ich glaube, dass ich gelernt habe, dass es „Ich habe gelernt, dass es nicht darauf ankommt, Everybody’s Dar- ling zu sein. Natürlich ist es so, dass Sie nicht darauf ankommt, nicht alle Grundveranlagungen plötzlich abstreifen können. Aber ich kann heute Everybody’s Darling zu sein.“ in einer Situation leben, in der mir klar ist, dass eigentlich die Gesamtmedien in Deutschland gegen mich sind. Ich ver- suche, meine Erfahrungen zu kommuni- Der Glaube an Gott hat Ihnen auf Ih- ständigen Verlustängsten um sein Ver- zieren – und zwar nicht mit Hilfe, son- rem Weg sehr geholfen – wo und wie mögen. Ich habe es ja selber erlebt – wo- dern mit der kritischen Kommentierung kommt Gott heute in Ihrem Alltag vor? bei ich die Verlustängste ums Vermögen der Medien. Er kommt eigentlich immer vor! Ohne nicht so stark hatte, aber ich bin vor mir Sie schreiben in Ihrem Buch, Sie seien Gott hätte ich dieses Scheitern nicht ver- selber weggelaufen. Häufig stellen die jetzt ein anderer Mensch – sind Sie arbeiten können. Ohne Gott hätte ich Menschen sich vor, man sei glücklich, auch ein besserer Mensch? nicht einen neuen, einen besseren Weg wenn man sich etwas Bestimmtes erlau- Wenn Sie mir die Frage vor 15 oder 20 Jah- gefunden, das ist meine tiefste Überzeu- ben könne. Das ist eine völlig falsche ren gestellt hätten, hätte ich Ihnen erst- gung. Ich habe nicht nur das Gefühl, Vorstellung! In St. Tropez, wo ich in der mal einen Vortrag gehalten, was ich für dass ich – egal, wie tief ich falle – gehal- Vergangenheit häufig war und auch heu- ein wunderbarer Mensch bin! Es kommt ten werde von Gott, sondern dass es im te noch Urlaub mache, marschieren die natürlich immer auf die Werteskala an, Prinzip von ihm ein Stück gelenkt ist. Ich Menschen am Hafen an den Schiffen vor- an der man das misst. Ich glaube, dass kann mir sonst nicht erklären, dass ich ei- bei und ich sehe den Traum in ihren Au- ich heute ein besseres Leben führe. Ob nerseits alles verloren habe, andererseits gen, wenn sie vor den Schiffen fotogra- ich ein besserer Mensch bin, weiß ich aber voller Glücksempfinden bin, wenn fiert werden wollen. Ich sitze dann da nicht. ich in einem Vortragssaal wie in Ham- und sage: „Ihr werdet euch wundern. Ich Wie gehen denn Ihre fünf Kinder mit Ih- burg stehe und zu den Studenten spre- habe so ein Ding gehabt und es hat mich rer Wandlung um? che. Das macht mich glücklich – nicht nicht glücklich gemacht.“ Die gehen sehr, sehr souverän damit um. nur, weil da viele Zuhörer sitzen, sondern Vielen Dank für das Gespräch! Das mag Sie jetzt verblüffen, aber nicht weil ich das Gefühl habe: Ich bringe et- ein Kind hat sich bis heute beschwert, was rüber, was Wert hat, und das wird den Namen Middelhoff zu tragen – und von denen auch als wertvoll honoriert. sie haben auch ganz gute Positionen! Was bedeutet es, wenn Sie sagen: Man hätte annehmen können, die kom- „Gott kommt immer vor“? Haben Sie men jetzt und sagen: „Papa, du machst im Alltag feste Rituale? uns das Leben schwer!“ Nichts derglei- Ja, der Tag fängt an mit dem morgend- chen. Sie hätten sich auch beklagen kön- lichen Gebet und Besinnung und An- nen, dass ihr Elternhaus weg ist, dass das dacht. Auch zum Abend das Gebet und Haus in Frankreich weg ist, dass nicht zwischendurch der Rosenkranz. Die Be- mehr geflogen wird, dass das Schiff weg sinnung und das Zwiegespräch mit Gott, ist. Nie auch nur ein Hauch von Kritik! So das habe ich eigentlich den ganzen Tag gesehen haben meine Kinder es gar nicht über. nötig, mein Buch zu lesen, die leben das Sie schreiben: „Geld macht nicht eigentlich. Das ist ganz wesentlich der glücklich.“ Armut allerdings auch Thomas Middelhoff:„Schuldig. Vom Einfluss meiner Frau und ihre Erziehung. nicht, kann man entgegnen. Wie sieht Scheitern und Wiederauferstehen“, Laut Ihrem Buch sind Sie vielen Ver- ein besseres Maß aus? adeo, 208 Seiten, 22 Euro, suchungen erlegen – Sie zählen sämt- Es muss eine soziale Grundversorgung ISBN 9783863342401

liche Todsünden wie Habgier, Arro- hergestellt sein und die Rente muss ange- Gerth Medien Foto:

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 39 22 Jahre und schon ein eigenes Mode-Label: Peter Ronsdorf macht unter dem Namen „Bubbelgum Studios“ christliche Mode. Anfangs kritzelte er mit einem Stift direkt auf der Kleidung seine Ideen. Später ging Ronsdorf in die professionelle Produktion. Foto: pro / Jörn Schumacher

40 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 POLITIK UND WIRTSCHAFT

Bubblegum – zu deutsch Kaugummi. Kein normaler Name für ein Mode-Label. Aber für den 22-jährigen Peter Ronsdorf steht fest, dass er bei diesem Namen bleibt. Vor einem Jahr gründete der gläubige Christ die Marke, deren Mode nicht nur schick ist, sondern auch Jesus verherrlichen soll. Und schon sind bekannte Influencer wie beispielsweise der YouTuber Rezo auf die junge Mode aufmerksam geworden. | von jörn schumacher

ein derzeitiges Atelier in Kempten sieht aus wie das klas- Ihm sei sowieso klar, dass seine Kreativität von Gott kommt. sische Startup, es könnte auch in Berlin oder Hamburg „Wenn, dann sitzt Gott da am Steuer und lenkt.“ Sstehen. Es sieht aus wie eine ehemalige Fabrik, die Mau- ern sind aus weiß übermaltem Backstein, zwischendrin sind Eine Farbe namens Bubblegum Wände mit Stahltüren und großen Fenstern gezogen, der Boden lackiert und eher praktisch als gemütlich. Auf einem rollbaren Dafür bedurfte es aber an einem bestimmten Punkt des gewis- Kleiderständer hängt eine Auswahl von fünf Pullovern aus der sen Absprungs ins kalte Wasser. So schmiss er seine Ausbildung Kollektion. Peter Ronsdorf ist 22 und er brennt für Jesus. Er wur- bei IKEA hin, als er erkannte, dass Mode das ist, in das er seine de christlich erzogen, und schon früh sagte er Jesus, dass er sein Energie setzen möchte. Schon früher hatte Ronsdorf Kunst ge- Leben ihm widmen wolle. Nur zu verständlich, dass auch die macht. In Nürnberg, wo er damals wohnte, hatte er ein Atelier, Mode seines jungen Labels die christliche Botschaft vermittelt. in dem er fast täglich nach der Arbeit Bilder malte. Manche Bil- Er möchte Mode in der Richtung Streetwear machen, also der konnte er verkaufen. Aber von Kunst leben ist schwierig, das hauptsächlich für Jugendliche und junge Erwachsene, sagt war ihm klar. Zu Mode hat er schon immer eine Affinität. Er ach- Ronsdorf, der selbst so aussieht wie jemand, der auf ein sty- tet auf das, was er selbst anzieht und was andere tragen. Und so lisches Aussehen Wert legt. Eine moderneBrille auf der Nase, begann er, nicht mehr nur auf der Leinwand zu malen, sondern eine mintgrüne Wollmütze auf dem Kopf, schwarzes T-Shirt. Mit seine Ideen mit einem Stift auch auf Kleidung aufzutragen. seinen tätowierten Armen skizziert er in der Luft sein Projekt, Eine der Hosen, die er damals bestellte, um auf ihnen seine woher er kommt und wohin er möchte. Ideen umzusetzen, kam in einem schrillen Pink daher. „Der „Es gibt schon genügend Mode, auf der so plakative christliche Name auf der Packung lautete aber nicht Pink, sondern ‚Bub- Botschaften wie ‚Jesus liebt dich‘ steht“, weiß Ronsdorf. „Aber blegum‘“, erinnert sich Ronsdorf. Das blieb ihm im Ohr, und ich selbst würde das nicht tragen wollen.“ Warum also nicht so kam es zum Namen seines „Bubblegum Studios“. Klar fän- Mode selbst entwickeln, in der man sich wohl fühlt, einfach den manche das vielleicht erst komisch. Besonders Christen weil sie schön ist, und die zugleich noch eine Botschaft vermit- könnten sich fragen, was denn Jesus mit Kaugummi zu tun telt? „Ich versuche einen Mittelweg zu finden zwischen: Kann habe. Aber mittlerweile erscheint ihm der Name genau richtig, jeder tragen – auch ein Nichtchrist – und: hat eine Botschaft.“ und Ronsdorf bleibt dabei. Es müsse ja nicht unbedingt auf den ersten Blick klar sein, dass Am Anfang schrieb Ronsdorf mit einem schwarzen Stift auf der Träger glaubt, dass Jesus für ihn gestorben ist. einen gelben Hoodie drei Mal untereinander die Worte „God’s Demnächst will er nach Stuttgart umziehen und sein Label Plan“. Instagram ist das Medium, über das er sich am meisten professioneller aufstellen. Dabei ist es für ihn überhaupt kei- mitteilt, und so teilte er damals auch Fotos von diesem Hoo- ne Frage: „Bubblegum Studios ist ein christliches Mode-Label.“ die. Er berichtet: „Innerhalb von zwei Tagen bekam ich über 50

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 41 Jetzt reinsehen! bit.ly/Bubblegum Studios Fotos: pro / Jörn Schumacher pro Fotos: Peter Ronsdorf liebt Mode

Anfragen, wann man das Kleidungsstück kaufen könne.“ Und das hörte überhaupt nicht auf. Da wurde ihm klar: „Wow, Leute würden wirklich Geld dafür zahlen.“ Anzeige Ronsdorfs Bruder, der sich bereits auf anderem Gebiet selbst- ständig gemacht hat, riet ihm: „Wenn du das machen willst, dann mach es richtig!“ Also meldete Ronsdorf ein eigenes Mode-Label an und rief eine Bestell-Webseite ins Leben. Denn bisher produzierte er seine Mode auf direkte Anfragen per Nah dran Privat-Nachrichten.

Ein Hoodie für YouTuber und gut Ein Jahr ist seitdem vergangen, und viel ist geschehen. Durch vernetzt Zufall kam er in Kontakt mit der YouTuber-Szene in Köln, zu der auch der bekannte YouTuber Rezo gehört, der vor der Europa- wahl 2019 mit einem Video viele Millionen Zuschauer erreichte Besuchen Sie uns bei Instagram, und nach Meinung vieler die Wahl in Deutschland damit sogar Facebook und Twitter. beeinflusste. In einem Video trug Rezo Ronsdorfs „God’s Plan“- Pullover. Aber nicht nur das, der Influencer fragte bei dem jun- gen Modedesigner an, ob er noch mehr davon bekommen könne, neu denn der Hoodie sei auch bei seinen Freunden und Bekannten gut angekommen. Und so trug kurze Zeit später etwa auch die YouTuberin Julia Beaut (1,8 Millionen YouTube-­Abonnenten) Ronsdorfs Kapuzenpulli in einem ihrer Videos. instagram.com/ Schon bald kam Ronsdorf nicht mehr hinterher, auf persön- promedienmagazin liche Anfragen hin Einzelstücke anzufertigen. Also musste er die Produktion professionalisieren. Das soll nun noch struk- facebook.com/ turierter in einem Studio in Stuttgart geschehen. Mittlerwei- promedienmagazin le malt Ronsdorf auch nicht mehr nur mit einem Stift auf den twitter.com/ Kleidungsstücken, sondern designt digital auf dem Laptop. In- pro_magazin zwischen gibt es rund 25 bis 30 Kleidungsstücke von ihm. „Ich denke, ich bin auf einem guten Weg. Auch wenn noch viel Ar- beit vor mir liegt.“

42 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 Anzeigen

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Das Drama seiner Kindheit wird zur Berufung seines Lebens 9,- € John McGurk ist als Kind durch die Hölle gegangen, hat Der Israelnetz-Kalender zzgl. Versand dann den Himmel kennengelernt und ist nun zum Segens- „classic“ zeigt bekannte bringerLa geworden.en Sie Seine sich Geschichte ermutigen! liest sich atemlos wie und interessante Motive aus dem Heiligen ein Thriller und macht deutlich, dass Kinderarmut auch Land. Das praktische heute weltweit viel stärker bekämpft werden muss. Kalendarium enthält neben den christlichen Der Mann im Schottenrock läuft, um Geld für Kinderhilfs- und gesetzlichen projekte zu sammeln. Er hat es selbst erlebt und Feiertagen auch die vermittelt nun: Gott rettet schutzlose Kinder und wir jüdischen Festtage mit einer Erklärung. können es auch tun! Der Wandkalender hat ein Format von 48 x 34 cm, ist auf Aufstehen, Kilt richten, hochwertigem Papier weiterkämpfen gedruckt und exklusiv bei Geb., 304 S. Israelnetz erhältlich. 395.931 € 19,99

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oder telefonisch: 07031 7414-177 Per E-Mail an [email protected] POLITIK UND WIRTSCHAFT MIT KERZEN UND GEBETEN Den Jahreswechsel 1989 feierte Berlin unter dem Brandenburger Tor. Ost und West vereint. Am Abend des 9. November war die Mauer gefallen. Ein harmloser Begriff für das Ende des DDR-Grenzregimes in Gestalt tief gestaffelter Anlagen einer mörderischen Trennlinie. Christen in der DDR zählen zu den Wegbereitern. | von egmond prill

„Klagegottesdienst“ am 26. Juni 1989 in die Berliner Samariterkirche: Tausende Menschen beteten für Frieden und gedachten der Opfer der gewaltsamen Niederschlagung der damaligen Studentenproteste in China

ir waren dabei, als am Silvester­ bäche über die Wangen. Denn das war Herbst 1989 die hilflose Antwort des SED- abend 1989 spontan Zehntau­ kein Manöver, das war Ernst. Das war Politbüros in Ostberlin auf die Ereignisse Wsende am Brandenburger Tor die Vorbereitung der Staatsmacht für den in Dresden, Plauen, Chemnitz und Leip­ feierten, meine Frau Heidrun und ich. 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober und zig. Mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ wa­ Nahe der S-Bahn-Station Ostkreuz hat­ die erwarteten Proteste. Und dann war es ren Zehntausende bei Montagsdemons­ ten wir noch unsere Berliner Wohnung, an jenem Abend so, dass im „Palast der trationen auf der Straße. Höhepunkt war obwohl wir seit 1986 bereits nahe Aue im Republik“ und seine Ge­ die große Demo am 9. Oktober 1989 auf Erzgebirge wohnten und arbeiteten. Aber treuen feierten und draußen viele Men­ dem Leipziger Ring. Die Staatsmacht griff diesen Moment der Geschichte wollten schen das Ende dieser Regierung for­ nicht ein, obwohl sie sich Jahrzehnte auf wir in Berlin erleben, denn so etwas gibt derten. Die Staatsmacht knüppelte und den Tag vorbereitet hatte, da das Volk es nur einmal im Leben. Wenige Wochen verhaftete. noch einmal aufstehen würde. Seit dem zuvor war daran nicht zu denken. Am 5. Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 hatte Oktober schaute ich aus unserer Berliner Stasi, Stacheldraht und die DDR das Ziel, einen zweiten Aufruhr Wohnung und sah, wie Polizei und Mili­ Staatsmacht des Volkes zu verhindern. Es entstand tärfahrzeuge parallel zur Frankfurter Al­ das perfekteste Spitzelsystem der Welt lee Stellung bezogen. Es war bereits spä­ „Wir waren auf alles vorbereitet. Nur in Form eines Ministeriums für Staatssi­

ter Abend. Mir liefen Tränen wie Wasser­ nicht auf Kerzen und Gebete.“ Das war im cherheit mit hunderttausenden großen / epd picture-alliance Bohm, Bernd Foto:

44 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 und kleinen Spitzeln bis hinein in Briefe, März 1978 wurde diese Standortbeschrei- Berliner Mauer Häuser und Gehirne. Und dann erhob bung von Honecker und der SED-Füh- 1961–1989 sich das Volk – und es fiel kein Schuss. rung bestätigt. Von keiner Seite. Alle bewaffneten Or- In den Gemeinden freilich wuchs die Dreiste Lüge vor der gane der DDR waren scheinbar entwaff- Opposition zu dieser Stellungnahme und Weltöffentlichkeit: net. Sie hatten alle die Hand am Abzug, zum Staat. In Ostberlin waren es Kreise „Niemand hat die Absicht, eine Mauer aber der lebendige Gott hatte längst die um Pfarrer Rainer Eppelmann, Wehr- zu errichten“ – diese Beteuerung von Hand am Sicherungshebel jeder Waffe. dienstverweigerer, Umweltschützer und DDR-Staatschef vom 15. Wie ein Kartenhaus brach zusammen, Friedensbewegte, die sich organisierten. Juni 1961 ist eine der dreistesten poli- was 40 Jahre lang gegen das Volk aufge- Oft waren es vom schlichten Bibelglau- tischen Lügen der neueren Geschichte. baut worden war. ben geprägte Menschen, die sich gegen Am 13. August 1961 wurde die Mauer den totalitären Staat, dessen Anspruch dann doch gebaut – mitten durch Ber- Glaube, Gebete und auf Allmacht und Alternativlosigkeit, lin. Gottvertrauen stellten. Herausragend war das Fanal von Pfarrer Oskar Brüsewitz, der sich am Anfang der Achtzigerjahre bildeten sich 18. August 1976 vor seiner Kirche öffent­ im Lande kleine Kreise, die Verände- lich verbrannte. Weniger spektakulär Warum diese Mauer? rungen in der DDR als Gebetsanliegen war das Zeugnis tausender junger Chris- Die DDR sprach vom „antifaschisti- in die Mitte rückten. Aus Montagsgebe- ten, die sich der staatlichen Jugendwei- schen Schutzwall“. Angeblich sollte ten wurden bescheidene Andachten. Wir he verweigerten und in ihrer Konfirma- das Bollwerk den „realsozialistischen“ glaubten oft nicht, was wir beteten, ich tion nicht nur ein Bekenntnis zu Jesus Musterstaat vor den konsumorien- zumindest. Rief ich doch anfangs still sahen, sondern auch die Absage an die tierten, „revanchistischen“ und „klas- und später laut und öffentlich: „Herr, zer- allumfassende SED-Herrschaft. Ab 1978 senfeindlichen“ Einflüssen aus der brich die Macht derer, die uns regieren“, wurde mit dem „Wehrkunde-Unterricht“ Bundesrepublik schützen. Tatsächlich frei nach Psalm 37,17. Ich fand nicht nur die Militarisierung der Jugend verstärkt. ging es darum, die Massenflucht einzu- Zustimmung. Es gab große Augen und Mit dem Aufruf „Schwerter zu Pflugscha- dämmen: Bis Mitte 1961 waren bereits Verwunderung, als ich 1987 nach einer ren“ wuchs der Widerstand gegen diese 2,5 Millionen DDR-Bürger geflohen. Andacht die Leute fragte: „Und ihr betet Politik. Dies alles mündete in die groß- nicht für das Ende der DDR und die deut- en Gottesdienste mit vollen Kirchen im sche Einheit?“ Herbst 1989. Monstrum der Menschenverachtung: Die Nacht, als die Glocken Der Mauerbau trennte über Nacht schwiegen zehntausende Familien – für 28 Jahre. „Wir glaubten Das Bollwerk durchschnitt 197 Straßen, Dreißig Jahre danach fragen viele: Was dazu Bahnlinien. Gesamtlänge 1989: oft nicht, was ist daraus geworden? Waren die Kirchen 155 Kilometer, davon 106 Kilometer Be- nicht zu schnell wieder leer? Am 3. Okto- tonplattenwand (vier Meter hoch). Das wir beteten.“ ber 1990 wurde die Einheit Deutschlands System von Sperranlagen wurde stän- und damit das Ende der sozialistischen dig perfektioniert. Ein Monstrum der DDR gefeiert. Landesweit blieben die Kir- Menschenverachtung: „Todesstreifen“, chenglocken stumm. Die größten Ereig- Panzersperren, Wachtürme, Hunde- Schon in den Siebzigerjahren wurden in- nisse unserer jüngeren Geschichte, das laufanlagen. Seit den Siebzigerjahren nerhalb vor allem der Evangelischen Kir- Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa gab es sensor-elektronische Abwehrsy- che Stimmen laut, die den sozialistischen und die friedliche Revolution, blieben steme, sogar Selbstschussanlagen. Staat in dieser zunehmend totalitären ohne Echo der Kirchen. Das Schweigen Form ablehnten. In Ostberlin und auch der Glocken war 1990 der Sündenfall der in der Provinz wurden die Kirchen zu offiziellen Kirche. Wir dürfen fragen: War Schießen auf die eigene einem Raum für den offenen Austausch das am Ende doch der Triumph der „Kir- Bevölkerung: von Gedanken und Meinungen auf der che im Sozialismus“? Gott hatte diesem Für DDR-Grenzer galt der „Schießbe- Grundlage des Glaubens an Jesus Chri- Land und Volk, diesem schuldbeladenen fehl“, um „“ zuverlässig stus. Interessant ist, dass mit dem glei- Deutschland, ein Wunder geschenkt und zu verhindern. Nach Angaben des Pots- chen Anspruch des Glaubens sich die of- so der Welt gezeigt, ER ist ein gütiger damer Zentrums für Zeithistorische fizielle Kirche mit dem von Pfarrer Horst Gott. Denn der 9. November 1989 ist das Forschung starben zwischen 1961 und Kasner geprägten Begriff „Kirche im Sozi- Wunder der Geschichte vor dem Hinter- 1989 an der Berliner Mauer 136 Men- alismus“ identifizierte. Bischof Albrecht grund jenes 9. November 1938. Die Bibel schen durch das DDR-Grenzregime. Schönherr formulierte 1971: „Wir wollen zeigt uns Gott als den Herrn und Heiland Kirche nicht neben, nicht gegen, son- der Geschichte, doch die Kirche blieb | von christoph irion dern im Sozialismus sein.“ Im Spitzenge- sprachlos, ist es bis heute und so gehen spräch mit Schönherr und anderen am 6. die Leute weg.

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1. 2. DER TAG, AN DEM DIE MAUER FIEL

Über Nacht wurde Berlin zum Der Startschuss zu all dem ist bereits Nabel der Welt. Erinnerungen am vorherigen Donnerstag gefallen: Es an den 9. November 1989. | ist 18.53 Uhr. Günter Schabowski, Polit- büromitglied der sozialistischen DDR- von christoph irion Einheitspartei SED, langweilt die inter- nationale Journalistenmeute auf einer m Tag, als die Mauer fällt, da steht Pressekonferenz. Im typischen Verlaut- sie noch. Doch als am späten barungs-Kauderwelsch der DDR-Politbü- AAbend des 9. November 1989 der rokratie „informiert“ er über die jüngste DDR-Grenzkommandant Manfred Sens Krisensitzung des SED-Zentralkomitees am „Sektorenübergang“ Bornholmer (ZK). Nebulös redet er von Reformen. Ach Straße die Schlagbäume öffnen lässt, ja, und da wäre auch noch eine neue Rei- da hat die Berliner Mauer, die seit 1961 severordnung. mitten durchs Herz der geteilten Spree­ metropole verlief, für immer ihre tren- Folgenreicher Versprecher nende Funktion verloren. Meine Frau Dagmar und ich sind frisch Die entscheidende Frage stellt der Ita- verheiratet. Und das soll unser erster liener Riccardo Ehrman. Schabowskis Kurzurlaub sein? Mitten in der Nacht zu Redeschwall dauert mehrere Minuten. Samstag stehen wir im Stau. Es ist zwei Dann der Satz: „Und deshalb, äh, haben Uhr früh. Seit einer Stunde hängen wir wir uns entschlossen, heute, äh, eine Re- in unserem roten Golf Memphis fest, im gelung zu treffen, die es jedem Bürger der A111-Zubringertunnel im Berliner Nord- DDR möglich macht, äh, über Grenzüber- westen, Nähe Scharnwebertraße. Wir gangspunkte der DDR, äh, auszureisen.“ sind total k.o. – aber richtig gut drauf. Ein anderer setzt nach: „Ab wann? Wann Wie alle hier im Tunnel. Keiner ist ge­ tritt das in Kraft?“ Schabowski kratzt nervt. Die Leute lachen, sind aus ihren sich. Ihm ist entfallen, dass das ZK die Autos gestiegen, einige haben Sekt dabei. Regelung erst am kommenden Tag „ge- Wildfremde Menschen umarmen sich, ordnet durchführen“ lassen will. Und es prosten sich zu. Vorhin war Berlins Re- folgt der folgenreichste Versprecher der gierender Bürgermeister Walter Momper jüngeren Geschichte: Verwirrt antwortet im Radio zu hören: „Wir Deutschen sind Schabowski, seines Wissens trete die Re- jetzt das glücklichste Volk der Welt“, rief gelung „sofort, unverzüglich“ in Kraft. er tausenden Menschen zu. Und wir ge- Vor allem deutsche Journalisten begrei- hören zu den Hunderttausenden, für die fen anfangs gar nicht, was diese Worte an diesem Wochenende gilt: „Berlin, Ber- bedeuten. Die Bewohner Ostberlins, die lin, wir fahren nach Berlin!“ Schabowskis Auftritt live am Fernse-

46 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 3. 4. 5. Verkehrte Welt: Mitten im Tiergarten parkt ein Wartburg, statt Strafzettel gibt’s eine Rose (ganz links). Nicht weit davon sind „Mauerspechte“ bei der Arbeit, Zeitungsverlage verteilen kostenlose Sonderausgaben. Menschen aus aller Welt klettern, tanzen und demonstrieren am Brandenbur- ger Tor auf den Mauerresten (das zweite Foto von rechts stammt vom März 1990).

her verfolgt haben, verstehen umso bes­ haben rund um die Uhr geöffnet. Vor ser: Tausende strömen zu den Grenz­ Banken bilden sich Menschenschlangen, übergängen. „Der Schabowski hat ge­ selbst am Sonntag: Jeder „Ossi“ darf sich sagt, wir können jetzt reisen, nun lasst dort 100 Mark „Begrüßungsgeld“ zum uns mal durch“, rufen sie den ahnungs­ Einkaufen abholen, Kanzler Helmut Kohl losen Grenzposten zu. Tumultartige Sze­ (CDU) hat das Geld locker gemacht. nen spielen sich ab. An den Kontrollstel­ Weltgeschichte hat sich in diesen Ta­ len stauen sich die Massen, die Auto­ gen in Berlin ereignet. Der Traum von schlangen der Trabanten und Wartburgs Freiheit wurde wahr. Und möglich wur­ werden immer länger. Schließlich beu­ de er durch die friedliche Revolution der gen sich die Grenzer an der Bornholmer Ostdeutschen. Die Kirchen haben, so Straße dem Druck: „Es ist nicht mehr zu scheint es, inmitten dieses Freudentau­ halten“, meldet ein Oberstleutnant. Ein mels nicht viel zu melden. Christen und Untergebener ruft: „Wir fluten.“ ihre Kirchen waren in der DDR ebenso be­ Bürgermeister Momper erfährt das Un­ grenzt und verstrickt wie andere gesell­ fassbare um 22.25 Uhr, als er gerade in schaftliche Gruppen. Ihr Image im real­ einer Talkrunde des damaligen Senders sozialistischen Einheitsstaat war misera­ Freies Berlin (SFB) sitzt: „Mein Platz ist bel. Vor allem waren sie zahlenmäßig in jetzt woanders“, sagt der Regierende und der Defensive. verlässt das Studio Richtung Branden­ Doch haben vor dem Mauerfall gera­ burger Tor – dort tanzen die Menschen de die Kirchen eine einzigartige Rolle ge­ auf der Mauer. In diesen Tagen erlebt spielt, die ursächlich und elementar mit ganz Berlin einen euphorischen Ausnah­ der christlichen Freiheits-, Friedens- und mezustand. Millionen Menschen strö­ Versöhnungsbotschaft von Jesus Christus men aus allen Himmelsrichtungen in die zu tun hat: Denn nicht nur in Leipzig und Hauptstadt. Sie sind fassungslos und be­ Berlin, sondern überall zwischen Zinno­ soffen vor Freude. witz und Zittau waren es mutige Pfarrer und Gemeindemitglieder, die Regime­ In Berlin ereignet sich kritikern in ihren Kirchen Zuflucht ge­ Weltgeschichte währten. Der rabiaten Stasi-Staatsmacht setzten sie Kräfte entgegen, die transzen­ Vorgärten werden zu Parkplätzen, Aus­ dent wirken: Gibt es ein Mittel gegen fallstraßen zu Fußgängerzonen. Über­ „Friedensgebete“? nachtet wird bei Wildfremden, und über­ 30 Jahre nach dem Mauerfall könnten all gibt es Blumen und Sekt. Uns treibt es im heutigen Deutschland manche Spal­ zum Brandenburger Tor, zum Potsdamer tungen, Wunden und Risse in den Bio­ Platz, dann in die Bernauer Straße im graphien und in der Gesellschaft heilen, Wedding und auch auf den Ku’damm. Ein wenn wir aus der jüngeren Geschichte ler­ Trabi-Fahrer kurbelt die Scheibe runter nen. Angesichts von Brexit, Klimakrise, und ruft winkenden Passanten zu: „Ick Flüchtlings- und Terrordebatten haben fass’ mir pausenlos an’ Kopp. Ick fahr’ Christen auch heute nicht den Auftrag, mit der Karre übern Kurfürstendamm.“ alles besser zu wissen und die Machthe­ Hunderte Zweitakter verstopfen und ver­ bel in der Hand zu haben. Im Sinne der stänkern den ganzen Ku’damm – statt Ge­ Bergpredigt Jesu, wie sie im Matthäus- Ein Spalt in der Berliner Mauer: nörgel ernten sie Szenenapplaus. West­ evangelium steht, können und sollen sie Am 9. November 1989 verlor das berliner Taxifahrer chauffieren Ostgäste „Salz“ und „Licht“ (5,13-14) sein – nicht Bollwerk, das länger als 28 Jahre gratis durch die Stadt, zum Dank gibt es mehr und nicht weniger. Wie damals die Millionen Menschen voneinander trennte, für immer seine Funktion. Irion Christoph Fotos: Bussis. Geschäfte, Kneipen, Restaurants Christen in der DDR.

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Nacht für Nacht am Tisch mit Jesus „Ich liebe Jesus“. Wäre Leonard Cohen Christ gewesen, wäre die Aussage selbstverständlich. Der Liedermacher und Poet war jedoch Jude – und hielt bis zu seinem Tod am jüdischen Glauben fest. Eine Spurensuche anlässlich Leonard Cohens drittem Todestag am 7. November. | von uwe birnstein

Vor drei Jahren starb Leonard Cohen. Der jüdische Dichter und Liedermacher war fasziniert von Jesus. Foto: picture alliance picture Foto: KULTUR

ch liebe Jesus. Das habe ich schon im- genheit, zur Familie – sie nährt mich.“ Macht.“ Aber Cohen hat auch erfahren, mer getan.“ 1997 gab Cohen dieses Mit einem Zen-Meister führt er intensive dass das sexuelle Erleben etwas mit Got- Iverblüffende Bekenntnis in einem In- Gespräche, zieht sogar für fünf Jahre in teserfahrung zu tun hat. In der dritten terview ab. Er sprach mit einem Repor- dessen Kloster – Cohen prüft, behält das Strophe heißt es: „Erinnere dich: In dem ter über seine Kindheit im kanadischen Beste, doch vom jüdischen Glauben lässt Moment, als ich mich in dir bewegte, Montreal. Cohen war Spross einer wohl- er sich nicht abbringen. wehte auch der Heilige Geist in uns, und habenden jüdischen Familie. Sein Va- jeder Atemzug war ein Halleluja.“ ter Nathan war Inhaber eines Textilkauf- Halleluja Sex und Halleluja? Cohen kannte auch hauses; er heiratete Marasha, die Toch- die abgründige Seite der Sexualität. Ein- ter eines aus Russland eingewanderten Vor diesem Hintergrund schreibt Cohen mal sagte er: „Es geht nicht um Wein und Rabbiners. Zuhause wurde traditionell sein ganz persönliches, durch Lebenskri- Rosen und den mondbeschienenen Vor- jüdisch gebetet, gefeiert, gelebt – konser- sen geläutertes „Halleluja“. „Das Lied hang, der von einer leichten Brise bewegt vativ, nicht orthodox. Später blickte Co- ist aus dem Wunsch entstanden, mei- wird. Es ist viel rauer und gefährlicher als hen augenzwinkernd zurück: „Ich kann nen Glauben zu bezeugen – und zwar mit das, was wir normalerweise mit Roman- auf Hebräisch beten, kann mit dem Boss Enthusiasmus und Gefühl.“ 1984 nimmt tik in Verbindung bringen.“ Am Ende des Hebräisch reden.“ er den Song auf. Es entsteht ein Drei- Liedes heißt es: „It’s a cold and it’s a bro- Der Stadtteil Westmount, in dem Leo- klang von Glaube, Liebe und Abhängig- ken Hallelujah“ – „Es ist ein kaltes und nard aufwuchs, war eigentlich katholisch keit. Dazu greift Cohen auf zwei biblische gebrochenes Halleluja.“ Halleluja sin- geprägt. Die Kinderfrau der Familie war Geschichten zurück. Die eine: König Da- gen in verzweifelten Situationen, die nur irisch-stämmige Katholikin. Sie nahm Le- vid erblickt vom Palast aus die hübsche scheinbar glücklich sind: Was für ein Ge- onard manchmal mit in die Kirche und Bathseba und verfällt ihrer Anmut. Die danke! erzählte von Jesus. andere: Delila lockt mit ihren weiblichen Vater Nathan stirbt 1944, da ist Leonard Reizen den mit wunderhaften Kräften Jesus neun Jahre alt. Früh wird klar: Er liebt ausgestatteten Heerführer Simson in eine die Musik, außerdem schreibt er gerne. erotische Falle und entmachtet ihn. Verblüffenderweise nähert Cohen sich Schon mit 13 stromert er durch die Bars Cohen versetzt sich in die Situation auch Jesus immer wieder neu an. Am und dunkle Viertel, probiert sich aus, des musikalischen Königs David. Vol- Handgelenk trägt er oft ein Armband mit sammelt Geschichten, studiert Menschen ler Respekt und Verständnis beschreibt den Bildnissen von Jesus, Maria und eini- – vor allem Frauen. Seine Texte finden er dessen Dilemma: „Dein Glaube war gen Heiligen. schnell ein Publikum. stark, aber du brauchtest eine Prüfung: Als Kollege und Freund Bob Dylan 1979 Er lernt die junge Tänzerin Suzanne Du sahst sie baden auf dem Dach. Ihre zum Christentum konvertierte, „brachte kennen. Zusammen schlendern sie durch Schönheit und das Mondlicht haben dich das Leonards Welt wirklich ins Wanken“, Montreal, am alten Hafen und am Fluss überwältigt.“ erzählt eine Wegbegleiterin, er „sagte im- entlang. Cohen schreibt ein Gedicht, in Cohen selbst war zeitweise beses- mer wieder: ‚Ich verstehe das nicht. Wie- dem er ihre Begegnungen als tiefes spi- sen von Frauen. „Wenn man begehrt, ist so entscheidet er sich zu einem so späten rituelles Erlebnis schildert. Auch Jesus es schwierig zu wissen, wo man selbst Zeitpunkt für Jesus? Die ganze Jesus-Sache kommt in dem Gedicht vor, Cohen be- steht“, erklärt er. „Es ist überwältigend, verstehe ich nicht.‘“ Jesus ließ ihn nicht in schreibt ihn als „Seemann“ und spielt man nennt es die Versuchung – eine Ruhe. Je älter Cohen wurde, desto neugie- auf die Kreuzigung an: „Er selbst war höchst problematische und gefährliche riger und intensiver näherte er sich ihm: schon zerbrochen, lang bevor der Him- mel aufging.“ Und dann berührt Jesus, „Zeig mir den Ort so wie Suzanne, Cohens „perfekten Kör- Hilf mir den Stein wegrollen per mit seinem Geist“. Später wird ein Allein kann ich dies Ding nicht bewegen! Lied aus dem Gedicht – ein Welthit. Auch Zeig mir den Ort andere Texte vertont er, nimmt in New Wo das Wort zum Mann wurde York seine erste Platte auf und wird be- Zeig mir den Ort rühmt. Die Menschen mögen seine tiefe an dem das Leid begann“ Stimme, die einfachen, eingängigen Me- lodien und seine mystischen Texte, die singt er im Song „Show Me the Place“. direkt ins Herz gehen. Sie spüren: Da Im Lied „Come Healing“ heißt es: kehrt jemand seine Innenwelten nach außen, da ist einer ehrlich mit sich und „Das Kreuz, das du gelassen Gott. Cohen verknüpft Erfahrungen eige- Die Splitter in deinem Fleisch ner Enttäuschungen mit religiöser Weis- Heilung diesem Körper heit. „Ich lese morgens ein paar Stellen in Heilung diesem Geist. der Bibel, ich zünde am Freitag gern die O lass die Himmel schwanken Kerzen an, feiere den Sabbat, halte den Und lass künden aus der Erde Bauch; Kontakt zur Gemeinde“, bekennt er, „die Heilung den Altären Religion hält die Verbindung zur Vergan- Dem Namen Heilung auch“.

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 49 Ein Leben auf großer Bühne: Leonard Cohen

Hör-Tipp: Der Autor Uwe Birnstein hält unter dem Titel „Halleluja Leonard Cohen“ Vorträge mit Live-Musik. Infos dazu auf seiner Webseite Foto: picture alliance www.birnstein.de Und dann sieht er sich sogar selbst in der Rolle des Missionars: Unaufgeregt und in spiritueller Ehrfurcht „Die Welt fängt an, dich zu erwarten. nahm Cohen auf seiner letzten CD-Veröf- Mach den Namen neu & bring deinen Sänger in Stellung.“ fentlichung seinen Tod in den Blick. „You Want It Darker“ nannte er diese CD, „Du Rührend auch eine Notiz, die Cohen an willst es dunkler“. Im Titelsong singt Co- einem einsamen Weihnachtstag auf- hen sein eigenes Kaddisch und gibt sich schreibt: Gott hin: „Geheiligt und gepriesen / Sei Dein himmlischer Name / Hineni – Hier „Ich habe zu dem gebetet, um den es geht“. bin ich, o Herr.“ Und danach wendet er sich Jesus zu, mit ihm sitze er „jede Nacht“ zusammen – und wünscht sich Einmal notiert er: „Die Kreuzigung on ist mit dem Verstand nicht zu fassen. „ein Abkommen zwischen deiner Liebe muss wieder als universelles Symbol ver- Es ist eine unmenschliche Großmut. Eine und der meinen“. standen werden, denn das ist der Ort, wo Großmut, die die Weltordnung über den sich die Menschheit befindet: am Kreuz.“ Haufen werfen würde, wenn sie Schule Wohlgemerkt: Cohen ist bewusst Jude ge- machen würde, denn nichts könnte die- blieben. Der Jude Cohen mag den Juden sem Mitgefühl standhalten. Die Persön- Jesus: „Er ist vielleicht der prächtigste lichkeit dieses Mannes hat mich berührt Kerl, der je auf Erden herumgelaufen ist. – auch wenn ich weiß, was im Laufe der Geschichte durch das institutionalisier- te Christentum alles angerichtet worden Lese-Tipp: ist.“ Leonard Cohen: „Die Flamme / The Flame“. Zweisprachige Ausgabe The Flame

englisch/deutsch mit zahlreichen Kolf Maren Foto: Illustrationen. Verlag Kiepenheuer & Kurz vor seinem Tod vertraut Cohen Witsch, Köln 2018. 352 Seiten. einem Reporter des New Yorker an, er Der evangelische Theologe Uwe wolle noch ein Buch fertigstellen, bevor Birnstein (57) arbeitet als freier Jour- er sterbe. Wenige Wochen danach, am nalist und Publizist für viele Medien, Einer, der gesagt hat: ‚Selig sind die Ar- 7. November 2016, stirbt er. Die Auswahl u.a. für den Bayerischen Rundfunk. men, selig sind die Sanftmütigen‘, muss für die Texte hatte der 82-Jährige noch Er veröffentlichte mehrere Bücher, eine Persönlichkeit von einzigartiger treffen können. Das Buch wird 2018 un- zuletzt die Spiegel-Bestseller- Güte, Einsicht und Verrücktheit gewe- ter dem Titel „The Flame“ veröffentlicht. Biografie „Margot Käßmann – Folge sen sein. Ein Mann, der erklärt, er habe Im Vorwort erinnert Sohn Adam daran, dem, was Dein Herz Dir rät“. Er lebt seinen Platz bei den Dieben, den Prosti- dass sein Vater das Schreiben als „Missi- mit seiner Familie in Hannover. tuierten, den Heimatlosen. Seine Positi- on Gottes“ verstanden habe.

50 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 LESERBRIEFE

pro-Lesertelefon Leserreaktionen (0 64 41) 5 66 77 77

Zum Christlichen dagegen Sturm läuft. Aber wenn Herr Schweisfurth formuliert „Die Würde des Medienmagazin pro Bedfor­ d-Strohm oder Herr Marx lieber Tieres ist unantastbar“. Dass Tiere or- ihre christlichen Symbole verstecken, dentlich zu behandeln sind, haben Men- allgemein dann kann man ja nichts anderes erwar- schen schon immer gewusst, sich nur Die Artikel in den pro-Magazinen lese ich ten. (...) nicht immer daran gehalten. Nun aber stets mit großem Gewinn und ich möch- Claus Hörmann, Neustadt in Sachsen den Begriff Würde zu bemühen, damit es te mich beim Redaktionsteam für den Tieren besser geht, ist total unangemes- Dienst ganz herzlich bedanken. zum Artikel über sen. Volker Giese, per E-Mail Gloria Gaynor Mensch und Tier werden dadurch un- zulässig auf eine Stufe gestellt. Böse ge- Gerade erst fertig gelesen. Super Mix an Die Sängerin Gloria Gaynor hat eine neue sprochen: Wenn die Verletzung der Men- Berührendem, Impulsen zum kritischen CD herausgebracht, deren inhaltliche schenwürde nicht verhindert werden Nachdenken und „Wach-Werden“ und Bezüge zum christlichen Glauben Anlass kann, fangen wir erstmal beim Tierwohl Ermutigung! für einen pro-Artikel waren. an (...). Alexander, Esslingen Ernst-Reinhard Steinke, Ladenburg Der Bericht über Gloria Ganor ist schon zur Kolumne von interessant. Da ich Näheres über sie er- Vielen Dank für diesen Artikel! Wer Bil- Wolfram Weimer fahren wollte, habe ich gegoogelt und da- ligfleisch kauft, scheint sich keine Ge- bei höchst Unerfreuliches erfahren. Hier danken darüber zu machen, was dies für Kolumnist Wolfram Weimer hat ein Auszug von Wikipedia: „Trotz ihres die Tiere, die Umwelt und für manche beschrieben, wie Christen im ägyptischen Status als Schwulenikone zog die beken- Menschen bedeutet. Fußball systematisch ausgeschlossen nende Christin Gloria Gaynor Kritik auf Für die Tiere bedeutet es ein Leben und werden. sich, als sie am 13. Juli 2007 in einem In- Sterben in unvorstellbarer Qual. Für die terview für eine Sendung der BBC angab, Umwelt bedeutet es, dass zum Beispiel Dass Ägypten keine christlichen Fußbal- ihre Beliebtheit bei Homosexuellen auf- das Grundwasser durch die Ausbringung ler im Nationalteam duldet, ist zuerst ein- grund der Tatsache zu schätzen, dass sie von Millionen Kubikmeter Gülle auf den mal eine innerägyptische Angelegenheit. diese so zu Jesus Christus führen könne. Feldern vergiftet wird oder die Rinderhal- Der eigentliche Skandal ist doch, dass Den mehrfach wiederholten Fragen der tung etwa genauso viel zum Treibhaus- kein maßgeblicher Kirchenrepräsentant Journalistin zu ihrem persönlichen Ver- effekt beiträgt wie der gesamte Autover- hältnis zwischen Glauben und schwuler kehr. Fangemeinde wich Gaynor aus, ebenso Für manche Menschen bedeutet es, der Frage, ob sie Homosexualität als Sün- dass ihnen ein Drittel der weltweiten Zu jeder Ausgabe erreichen uns viele de begreife.“ Ackerfläche und damit ein großer Teil Leserbriefe und E-Mails. Aus Platzgrün- Was ist dies für ein Standpunkt? Wa- der weltweiten Getreideernte entzogen den können wir nur eine Auswahl davon rum wohl blieb die Antwort aus? Haben und für die Billigfleisch-Mast verwendet in gekürzter Fassung abdrucken. Dies die Verantwortlichen von pro nicht inten- wird. All das zeigt: „Billig“ gibt es nicht. beinhaltet keine Wertung oder Missach- siv genug recherchiert? Einer zahlt immer. tung. Betonen möchte ich, dass ich seit et- Auf die Politik braucht man nicht zu Wir freuen uns in jedem Fall über Ihre lichen Jahren pro abonniert habe und warten. Die nötigen Gesetze für die all- Zuschriften. Und wenn Sie lieber tele- mich immer wieder über die interes- gemeine Bewahrung der Schöpfung wer- fonieren, wählen Sie die Nummer un- santen Beiträge freue. den nicht kommen oder erst, wenn es zu seres Lesertelefons. Jochen Gloger, Zierenberg spät ist. Hier ist jeder einzelne Verbrau- Anrufe zu dieser Aus- cher gefragt. Auch der christliche. In gabe beantwortet zu „Müssen Christen dem Moment, da das Billigfleisch in den pro-Redakteurin Bio kaufen“ Kühlregalen liegen bleibt, wird sich ganz Martina Blatt. schnell etwas ändern – zum Wohle von In der Reportage erklären die Besitzer Mensch, Tier und Umwelt. Christliches Medienmagazin pro der Herrmannsdorfer Landwerkstätten Gerade uns Christen, finde ich, steht Charlotte-Bamberg-Straße 2 in Bayern, wie sie ökologische es ganz schlecht, wenn ausgerechnet 35578 Wetzlar Landwirtschaft mit ihrem Glauben wir die Schöpfung unseres Herrn derart [email protected] verbinden. mit Füßen treten. Das Werk Seiner Hän- Lesertelefon: (0 64 41) 5 66 77 77 de sollte uns genauso am Herzen liegen Telefax: (0 64 41) 5 66 77 33 Sie als Redaktion sprechen von „wür- wie Sein Wort. devollem Leben“ bei Tieren und Herr Marion Berger, Vaihingen an der Enz

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 51 KULTUR

„Verbiegen lasse ich mich sicher nicht“ Aus einem Dreieinhalbtausend-Seelen-Dorf im Erzgebirge hochkatapultiert ins Rampenlicht: Vori- ges Jahr gewann Samuel Rösch die achte Staffel der Musik-Castingshow „The Voice of Germany“. Jetzt tourt er mit seiner Band PaperClip durch die Lande. pro hat mit ihm über die großen Veränderungen in seinem Leben, seinen Glauben und seine Pläne gesprochen. | von christina bachmann

or dem Finalauftritt von „The Voice of Germany“ hinter der VBühne. Die Luft knistert vor An- spannung. Statt nervös auf- und ab­ zulaufen, ziehen sich Samuel Rösch und sein Coach Michael Patrick Kelly zurück, falten die Hände und beten gemeinsam. Passt das zu einer Castingshow der pri- ihn bei Wikipedia unter den Söhnen und te im Rückblick als Reden Gottes bezeich- vaten Sender? Und ob, meint Rösch. Er Töchtern der Gemeinde auflistet – als nen? Rösch überlegt einen Moment: „Ja, kann in diesem Gebet alles vor Gott able- aktuellste und einzige lebende Persön- würde ich.“ gen, die Angst vor dem Auftritt loslassen lichkeit. Immer wieder gab es in seinem Leben und ganz ruhig werden, so beschreibt er Menschen, die ihn bestärkten: Seine Fa- es in seinem Buch „Samuel Rösch. Ich Lehrer ermutigte zur milie, die er als festen Anker bezeichnet, glaub an dich“. Hat es deshalb geklappt Castingshow-Teilnahme die Band PaperClip, in der er seit 2012 ak- mit dem Finalsieg bei „The Voice“? Als tiv ist und die für ihn engster Freundes- er diese Frage hört, muss Rösch lachen: Seine Familie ist nicht nur fromm, kreis ist. Sein Jugendwart im Kirchenbe- „Das kann ich nicht sagen, aber es war sondern auch musikalisch – Rösch sang zirk, der ihn „einfach machen“ ließ und auf jeden Fall eine Stütze für mich!“ schon im Spatzenchor der Kirchenge- unterstützend hinter ihm stand. Sein Der 25-Jährige wirkt bodenständig, er meinde mit. In der Evangelischen Ju- Lehrer im Studium schließlich, der ihm kommt wie der nette Nachbar daher, der gend seines Bezirks, also der Kinder- und vorschlug, bei einer Casting­show mitzu- auf dem Weg zur Arbeit im Treppenhaus Jugendarbeit in der Evangelischen Kir- machen, was in der Folge sein Leben und freundlich grüßt. Der Glaube an Gott hat che, absolvierte er ein Freiwilliges Sozi- das seiner Frau Luisa auf den Kopf stell- für ihn von klein auf dazugehört. Aufge- ales Jahr. Eigentlich Wirtschaftsingeni- te. „Das Gute war, dass wir schon kurz wachsen ist er im erzgebirgischen Groß- eurwesen an der Uni im Blick, schwenk- davor verheiratet waren“, glaubt Rösch. rückerswalde, wo „immer viele Christen te er dann doch auf Religionspädagogik „Wir konnten diesen Weg gemeinsam ge- um mich herum waren“, wie er erklärt. an der Evangelischen Hochschule Mo- hen, es war nicht ein Ding, was ich allein Außerhalb der Region kannte vor „The ritzburg um. Ein Bibelvers mit einer Zu- gemacht habe, sondern sie war wirklich Voice“ wahrscheinlich kaum einer die- sage Gottes begegnete ihm bei einer FSJ- jedes Mal dabei und ich habe ihr viel er- sen Ort. So verwundert es nicht, dass Schulung gleich zweimal und trug zu sei- zählt. Ohne sie hätte ich das wahrschein-

dieser mächtig stolz auf Rösch ist und ner Entscheidung bei – würde er das heu- lich auch nicht geschafft.“ Carstensen/dpa alliance/Jörg picture Foto:

52 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 KULTUR

rauen Wind, der in der Branche weht, habe er durchaus schon etwas mitbekom- men. „Aber richtig einschätzen werde ich das erst können, wenn ich als Künstler mit eigenen Liedern unterwegs bin.“ Eines ist ihm ganz wichtig: Er will sich nicht verbiegen lassen. Ratschläge Der Castingshow- anhören und auch annehmen – ja. „Aber Sieger Samuel Rösch möchte mit eigenen es gibt Grundlegendes, wo ich sage: ‚Da Liedern auf Tour gehen mache ich nicht mit‘, etwa wenn es um Texte oder Auftrittsformate geht, die ich nicht unterstützen kann“, betont er. Er habe auch schon Angebote für Musiker- sprachiger Poprock – steht jetzt im Mit- kooperationen abgelehnt: „Wenn in Tex- telpunkt. Die Texte, die Samuel seit sie- ten Aussagen getroffen wurden, die nicht ben Jahren für PaperClip schreibt, zeu- meine Aussagen sind.“ gen von seinem Glauben an Gott. So etwa Dazu passt, dass er sich selbst als au- der Song „An Dich“: thentisch einschätzt. „Ich habe schon

„Werd’ das Ziel so nie erreichen Eines fehlt in meinem Plan Mein Herr, der mich erlöst hat Hat doch schon Alles getan.“

Bleiben solche Aussagen Inhalt seiner immer einfach das gesungen, was ich auf Lieder, jetzt, wo er im Fahrwasser des dem Herzen hatte“, erinnert er sich. Das „The Voice“-Erfolges schwimmt? „Natür- war auch sein Credo bei „The Voice“: „Ich lich hat sich durch den Sieg etwas ver- bin immer bei mir selbst geblieben. Das ändert“, sagt der 25-Jährige. „Nicht von klingt ganz einfach, aber oft ist es doch meinen Grundansichten her, aber es wird nicht so einfach, weil einem ja immer weg von den explizit christlichen Texten viele Leute vorschlagen, was man anders Musik steht im Mittelpunkt gehen, hin zu Erfahrungen, die ich ge- machen kann.“ Wohin sein Weg führt, macht habe. Das möchte ich als Chance weiß er noch nicht. Doch dass Gott mit- Große Veränderungen sind ihm nicht nutzen, dass Herzen aufgehen, damit ich geht, davon ist er überzeugt. fremd. Mit 23 Jahren wurde bei ihm Dia- meine Botschaft hineinsprechen kann.“ betes diagnostiziert. Durch diese Krank- Weitergeben will er mit seinen Liedern heit hat er vieles gelernt. „Ich war so ein vor allem eines: „Dass jeder Mensch von ‚Ich schaff das schon‘-Typ“, erklärt er. Gott begabt und wertvoll ist“, erklärt der Doch damals im Krankenhaus spürte er Songwriter. „Ich will Mut machen und seine Grenzen. „Meine Freunde aus der dazu aufrufen: ‚Hey, geh los und nutze Jugendgruppe waren da, meine Band war das, was dir geschenkt ist!‘“ Denn so da, meine Familie war da, meine Frau sieht er sich selbst: Von Gott begabt. „Das war jeden Tag da. Ich habe gemerkt, wie gibt meinem Leben Sinn und Perspektive wichtig es ist, diese Beziehungen zu ha- und das würde ich anderen auch wün- ben. Und vor allem die Beziehung zu Gott schen. Aber wie das dann konkret bei zu haben, der in dieser Zeit auch da war jedem aussieht und wie ich verstanden

und mich getragen hat.“ werde, das liegt nicht in meiner Hand.“ bene Foto: Auch der Castingshow-Sieg hat sein Le- ben erst einmal umgekrempelt. Um Zeit Sich selbst treu bleiben Beate Hofmann und Samuel Rösch: für die Auftritte zu haben, war zuerst eine „Ich glaub an dich“, bene!, 168 Sei- Hochschulpause geplant – nun hat Rösch „Das Musikgeschäft ist knallhart“, so ten, 14,99 Euro (Klappenbroschur), mit dem Bachelortitel in der Tasche doch drückt es Samuels Managerin im Buch 12,99 Euro (E-Book), sein Masterstudium abgebrochen. Die aus. Kann er dem Druck standhalten? ISBN 9783963401060 Musik – bei PaperClip ist das deutsch- „Das werde ich sehen“, sagt Rösch. Vom

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 53 KULTUR Musik, Bücher und mehr Aktuelle Veröffentlichungen, vorgestellt von der pro-Redaktion

Neue Lieder für Gemeindechöre

„Herz + Mund“ ist nicht nur eine CD, sondern ein Projekt. Pianist Timo Böcking veröffentlicht mit dem „Songpoeten“ und Grimmepreisträger Martin Buchholz eine Sammmlung thematisch breit aufgestell- ter Chorlieder, die für Gemeindechöre gedacht sind. „Wir lieben die vertrauten Lieder, von Paul Ger- hardts Chorälen bis zu den Worship-Songs von Lothar Kosse, suchen aber auch nach neuen Tönen, Texten und Bildern, die unser Glauben, Hoffen und Lieben für unsere Zeit verdichten und widerspie- geln“, schreiben die beiden über ihr Projekt, das wohl nicht ganz zufällig nach „Herz und Mund und Tat und Leben“ von Johann Sebastian Bach klingt. Musikalisch bieten Buchholz und Böcking eingän- gige Chorstücke mit wunderschönen Harmonien und überraschend ausgefeilten Rhythmen, die auch in ambitionierteren Chören für Freude sorgen dürften. Die Stücke greifen viele bekannte biblische Mo- tive auf wie „Der Herr ist mein Hirte“ oder „Dein Wille geschehe“. | nicolai franz Martin Buchholz, Timo Böcking: „Herz + Mund – Neue Lieder für Gottesdienste“, Martin Buchholz, 10 Euro, bestellbar unter martin-buchholz.de

Folk-Rock für Kinder – oder doch Erwachsene?

Mit „Sparkle.Pop.Rampage“ hat die nordirische Folk-Rock-Band Rend Collective ein Album heraus- gebracht, dessen Cover bunt aussieht und dessen Liedermix fröhlich stimmt. Verkauft wird es als das erste Album der Band für Kinder. Allerdings klingen längst nicht alle der 13 Tracks nach Kinderlie- dern. „My Lighthouse“ ist beispielsweise auch auf Alben für Erwachsene und im Repertoire vieler Ge- meindebands vorhanden. Dieser Mix ist offenbar gewollt, aber dennoch: Die Schwäche der ansonsten hervor­ragenden Gute-Laune-CD ist ihre unklare Zielgruppe. | stefanie ramsperger Rend Co. Kids: „Sparkle.Pop.Rampage“, Capitol CMG Paragon, 13,99 Euro, EAN: 0602567764304

Händel reloaded

Für große Gospelchöre haben Cornelius Schock und Tom Dillenhöfer Händels Oratorium „Messias“ neu interpretiert und arrangiert. Herausgekommen sind 13 „Songs from Messiah“, wie das moderne Chorwerk heißt. In Stuttgart wird das Projekt von „Gospel im Osten“ derzeit einstudiert und Anfang Dezember aufgeführt. Geeignet ist das anspruchsvolle englischsprachige Werk für Gospelchöre, die sich gern auf Neues einlassen. Musikalischer Höhepunkt: Das große „Hallelujah“. | stefanie rams- perger Gospel im Osten: „Songs from Messiah“, Chorheft 46 Seiten, 10 Euro

Kurzweiliges vom „Wetten, dass ..?“-Mann

Thomas Gottschalk hat viel erreicht. In seinem neuen Buch „Herbstbunt“ schreibt er sehr persön- lich von einem „Leben auf der Überholspur“. Gottschalk thematisiert, wie sich die Medienwelt ver- ändert und wie ihn die Katholische Kirche geprägt hat. Wenn Gottschalk die Themen reflektiert, benutzt er eine bildhafte Sprache. Auch die Trennung von seiner Frau Thea, die im Frühjahr 2019 offiziell wurde, thematisiert er. Nach „Herbstblond“ ist es die zweite Autobiografie des früheren „Wetten, dass ..?“-Moderators. Mit seinem neuen Buch gelingt es ihm, nicht nur zu unterhalten, son- dern auch wichtige Lebensfragen zu stellen. Der Glaube spielt vor allem in den Passagen über seine Kulmbacher Kindheit und Jugend eine Rolle. Auch später hat der Leser den Eindruck, dass die in der Kindheit gelegte Basis Gottschalks Leben zumindest am Rande beeinflusst und er den Herrgott tat- sächlich nicht vergessen hat, wie es ihm einst sein Onkel Hans empfahl. | johannes blöcher-weil Thomas Gottschalk: „Herbstbunt. Wer nur alt wird, aber nicht klüger, ist schön blöd“, Heyne, 272 Seiten, 15,99 Euro, ISBN: 978345320706-6

54 pro | Christliches Medienmagazin 5 | 2019 KULTUR

Weiß die Kirche, was der Islam ist?

Die Kirche habe nie wirklich eine Antwort auf die Frage gefunden: Was ist der Islam? Dabei sei die- se Frage doch über 1.400 Jahre alt und angesichts des zunehmenden islamistischen Terrors brisanter denn je. Das schreibt der kürzlich verstorbene amerikanische Philosoph und Jesuiten-Priester James V. Schall in seinem Buch „Der Islam“, das auf Deutsch erschienen ist. Der politische Islam sei untrennbar mit dem religiösen Islam verbunden, lautet eine der wichtigsten Thesen Schalls. Er bezieht sich häu- fig auf den britischen Schriftsteller Hilaire Belloc, so auch bei der These: Sollte der Islam jemals wie- der so mächtig werden wie einst, würde er auch dasselbe tun wie damals, nämlich im Namen Allahs expandieren. Im Grunde wolle der Islam alle Menschen der Herrschaft Allahs unterwerfen, das sagten seine Vertreter ja selbst. Für Schall steht fest: „Es gibt kein drängenderes Problem als das, eine exakte Antwort auf die Frage ‚Was ist der Islam?‘ zu finden.“ | jörn schumacher James V. Schall SJ: „Der Islam. Friedensreligion oder Gefahr für die Welt?“, Media Maria, 272 Seiten, 18,95 Euro, ISBN: 9783947931026

Würde hat viele Dimensionen

Als Moderator des SWR-Nachtcafés hat Michael Steinbrecher schon viele bewegende Biographien ge- hört. In seinem Buch „Der Kampf um die Würde“ thematisiert er, was es für die Gesellschaft heißt, wenn die menschliche Würde auf dem Spiel steht. Egal, ob durch einen beruflichen Abstieg, Altersar- mut, Einsamkeit oder Menschenhandel. Einen großen Teil des Buches nimmt auch die Würde am Le- bensende ein. Geschichten aus dem wahren Leben machen dieses Buch lesenswert. Die Biographien der Protagonisten öffnen die Augen: Sie zeigen, wo der Einsatz jedes Einzelnen für die Gesellschaft ge- fragt ist und gebraucht wird. | johannes blöcher-weil Michael Steinbrecher: „Der Kampf um die Würde – Was wir vom wahren Leben lernen können“, Herder, 256 Seiten, 22 Euro, ISBN: 9783451381997.

Ex-Journalist prüft Wunderberichte

Ist es überholt, an ein göttliches Eingreifen zu glauben? Der ehemalige Gerichtsreporter Lee Strobel hat sich in seinem Buch „Wunder“ auf eine Spurensuche begeben – und bietet erstaunliche Erkenntnisse. Seine Ausgangsfragen lauten: Ist es plausibel, an Wunder zu glauben? Gibt es heute noch Wunder? Wel- che Kriterien müssen gelten, um Wundergeschichten zu prüfen? „Wunder“ sind dabei keine besonders schönen Erfahrungen wie die Geburt eines Kindes, sondern Gottes übernatürliches Eingreifen in sei- ne Schöpfung. Dafür interviewt Strobel Kritiker und Befürworter, Theologen und Naturwissenschaft- ler, Ex-Christen und Pastoren. Natürlich versteckt der Christ Strobel seinen Standpunkt nicht. Dass er aber auch Atheisten zu Wort kommen lässt, bei seinen Glaubensgeschwistern kritisch nachfragt und sich mit einfachen Antworten nicht zufrieden gibt, verleihen Strobels Recherchereise Authentizität. „Wunder – Was ist wirklich dran?“ ist ein empfehlenswertes Buch, das inmitten einer Fülle an frommer Erbauungsliteratur durch seine rationale Herangehensweise besonders hervorsticht. | nicolai franz Lee Strobel: „Wunder – Was ist wirklich dran?“, Gerth Medien, 272 Seiten, 17 Euro, ISBN: 395734574

Das Große Experiment

Manchmal kommt ein gläubiger Mensch an die Grenzen seines Glaubens. Und gerade in diesen Mo- menten wird der Glaube auf seine wahre Tauglichkeit getestet. Der amerikanische Theologe John Ort- berg erinnert in seinem sehr lesenswerten Buch „Die Ewigkeit ist jetzt“ daran, dass ein Leben mit Gott nicht erst nach unserem Tod im Himmel stattfindet, sondern schon jetzt begonnen hat. Glaube bedeu- te, ständig auf der Reise zu sein und das Vertrauen auf Gott zu üben. Das Buch tut jedem gut, der Sinn im Leben sucht und sich fragt, warum die „Stufen“ im Leben manchmal scheinbar nirgendwohin füh- ren. Für Ortberg steht fest: „Nur wenn wir zu tun versuchen, was Jesus sagt, werden wir entdecken, dass das Reich Gottes, von dem er redete, sehr real ist. Dies ist das Große Experiment, zu dem Jesus selbst uns einlädt.“ | jörn schumacher John Ortberg: „Die Ewigkeit ist jetzt. Was Jesus wirklich über Rettung, Ewigkeit und den Himmel gesagt hat“, Gerth Medien, 208 Seiten, 16 Euro, ISBN: 9783957345912

5 | 2019 pro | Christliches Medienmagazin 55 Anzeige

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