Sport

FUSSBALL Europas Spitze? Interview mit Günter Netzer über Motivationskünstler im Trainerjob, egozentrische Profis und die vergebliche Hoffnung auf schönen Fußball in der

Netzer, 52, spielte als Profi bei Borussia als unsere, aber verlieren immer wieder Mönchengladbach, Real Madrid und beim gegen sie. Grasshopper-Club Zürich und bestritt 37 SPIEGEL: Und das beleidigt Ihren ästheti- Länderspiele. Mit ihm als Manager ge- schen Anspruch? wann der Hamburger SV den Europa- Netzer: Ich lasse mich von diesem Spiel gern pokal. Heute ist Netzer Geschäftsführer berauschen, und das erlebe ich, wenn ich es der Schweizer Sportvermarktungsagentur etwa in den Stadien von Frankreich, Spa- CWL. nien oder Portugal beobachte. Ich weiß gleichzeitig, daß die irgend etwas falsch ma- SPIEGEL: Herr Netzer, die Deutschen sind chen, weil sie weniger Erfolg haben. Wenn Europameister und haben in Schalke 04 die Brasilianer unsere deutschen Fähigkei- und Borussia Dortmund zwei Europapo- ten hätten, wären sie unbesiegbar, und zwar kalsieger. Haben wir wieder die stärkste schon seit 30 Jahren. Aber die werden sie Liga der Welt? eben nie haben. Die Art, wie Fußball ge- Netzer: Wirklich nicht. Die Dominanz, die spielt wird, wird immer typisch sein für das der FC Bayern München in den siebzi- Lebensgefühl der einzelnen Länder. ger Jahren in Europa hatte, ist für eine SPIEGEL: Auch jetzt noch, wo sich die na- Dortmunder Profis nach dem Champions-League- deutsche Mannschaft heute nicht mehr tionalen Ligen als Folge des Bosman-Ur- möglich. Dazu ist unsere Spielkultur in teils international durchmischen? SPIEGEL: Die Deutschen können sich Deutschland zu unterentwickelt. Netzer: Ja. Weil das jeweilige Publikum im- noch so viele Künstler ins Land holen, aber SPIEGEL: Sind Sie nie zufrieden? mer nur den Fußball annehmen wird, der die Künstler haben sich immer anzu- Netzer: Ich weiß, daß es seiner Mentalität ent- passen? schon fast blasphemisch spricht.Wenn man in Por- Netzer: Der Italiener Rizzitelli zum Bei- ist, den deutschen Fußball tugal deutsch spielen wür- spiel ist auch deshalb von Bayern Mün- kritisch zu betrachten. de, dann wären die Sta- chen geholt worden, weil er ein bißchen Seit über 40 Jahren spielt dien leer. Und umgekehrt: mehr deutsch spielt als die anderen Italie- Deutschland in der Spitze Wenn in Deutschland ner. Der Elber vom VfB Stuttgart ist tech- mit.Aber ich habe immer eine südländisch geprägte nisch brillant wie eben ein Brasilianer, hat sehr hohe Maßstäbe an Mannschaft auftauchen dazu aber deutsches Durchsetzungsver- Spielkultur gelegt, und würde, würde man sehr mögen. Und wie nennen die Italiener den die werden hier nicht er- schnell feststellen, daß die Bayern-Trainer Trapattoni? „Il tedesco“, füllt. keinen Erfolg hat – weil der Deutsche. SPIEGEL: Der Dortmunder sie den Fußball nicht auf SPIEGEL: Der ist mit seinen Münchnern in Stratege Andreas Möller die Art interpretiert, die der abgelaufenen Saison mehr durch in- hat uns Mittwoch nacht in Deutschland gesucht ternen Zoff als durch kultivierten Fußball trotzdem erklärt, der und gewollt wird. aufgefallen.Wie kann man dennoch Deut- deutsche Fußball stehe SPIEGEL: Ist es den Leuten scher Meister werden? da, „wo er hingehört: an nicht egal, wie gewonnen Netzer: Bayerns Titelgewinn ist nur logisch, der Spitze in Europa“. wird? weil sie nun mal das größte Potential ha- Netzer: Wir haben nach Netzer: Als die Holländer ben. Mich wundert nur, daß sie überhaupt wie vor spielerische De- mit ihrer Traumelf um Konkurrenz zuließen. Schön haben ande- fizite. Fest steht aber Gullit und van Basten re gespielt, wie der VfB Stuttgart etwa. Die auch: Wir haben immer 1988 Europameister wur- Tragik des Fußballs ist, daß Schönheit nicht noch das, was die ande- den, schrieben englische immer erfolgreich ist. ren nie erreichen werden: Zeitungen, mit dieser Art SPIEGEL: Hat Bayer Leverkusen schönen Ehrgeiz, Disziplin, Ver- von Fußball würden die Fußball gespielt? bissenheit, Charakterstär- Zuschauer auf der Insel Netzer: Zuweilen ja. Aber Leverkusen hat- ke. Das hat sich im Spiel aus den Stadien vertrie- te nie eine ernsthafte Chance. Die müssen Dortmund gegen Turin ben. Und wenn der Gullit ja selbst erschrocken gewesen sein, als sie widergespiegelt. Das war heute als Trainer vom FC plötzlich da oben standen. Diesen Klub nicht das wahre Juventus. Chelsea versuchen wür- hatte man über viele Monate vergessen, Daran verzweifeln die de, holländisch spielen zu ich möchte sagen, berechtigterweise ver- anderen ja mittlerweile: lassen, dann würde er gessen. Denn man will ja eigentlich gar

Sie sehen, daß sie dieses ZB / DPA zum Tempel hinausge- nicht an Leverkusen denken. Spiel besser beherrschen Fußball-Vermarkter Netzer jagt. SPIEGEL: Einmal Plastik, immer Plastik?

124 der spiegel 23/1997 mit seiner Medienpräsenz gelegentlich die eigenen Ziele torpediert, muß man in Kauf nehmen. Denn mit den negativen Seiten Beckenbauers lebt man immer noch besser als mit all diesen Präsidenten, die nichts von seiner Aura haben. SPIEGEL: Die Münchner Konflikte zu lösen ist auch Beckenbauer nicht gelungen. Jür- gen Klinsmann hat davor kapituliert. Ist der an sich selbst oder an den Umständen gescheitert? Netzer: Wenn man Klinsmann holt, muß man wissen, wen man holt: Er ist gewiß kein genialer Fußballspieler, aber einer mit gewissen Qualitäten. Wenn ich so expo- nierte Typen hole, muß ich bereit sein, für sie etwas zu tun. Ich habe als Manager des Hamburger SV den ein- gekauft. Der war ein minderbemittelter Fußballer, und wir haben das einzige ge- nutzt, das ihn ausgezeichnet hat: Das war sein Kopf – und den hat der Kaltz immer getroffen. SPIEGEL: Mit Mario Basler und Lothar Mat- thäus beschäftigt Bayern München die bei- den größten Exzentriker der Liga. Sie sel- ber sind früher im Ferrari durchs Land ge- fahren, Beckenbauer reiste im Pelzmantel zu den Wagner-Festspielen nach Bayreuth.

AP Muß man etwas überspannt sein, um Sieg gegen Juventus Turin: „An der Willenskraft der Borussia zerbrochen“ außergewöhnlich Fußball zu spielen? Netzer: Ich finde es akzeptabel, wenn je- Netzer: Nein, ich habe schon Hochachtung heute nicht mehr den Erfolg hätten, den sie mand, der auf dem Fußballplatz sein In- vor dem, was die in dieser Saison zustan- zu ihrer Zeit hatten? nerstes nach außen kehrt, auch in seinem de gebracht haben. Der Christoph Daum Netzer: Dem muß ich schon deshalb wi- normalen Leben eine besondere Rolle für ist zwar wirklich nicht mein Fall, aber er dersprechen, weil so eine Behauptung die sich beansprucht – im Rahmen des Erträg- war der richtige Mann am richtigen Platz. Grundfesten des Fußballs erschüttert. Die- lichen. Zu meiner Zeit mußten wir unsere Sie brauchten nur die richtige Ansprache, se Genies hätten sich in jeder Zeit durch- Verrücktheit immer wieder durch gute Lei- und diese Fähigkeit hat Daum nun mal. gesetzt, so wie wir Spieler uns heute auch stungen rechtfertigen. Heute ist vieles in SPIEGEL: Warum ist Daum nicht Ihr Fall? durchgesetzt hätten. Ein einziger Happel Schieflage geraten. Die Profis sind inzwi- Netzer: Ich bin ein erklärter Feind dieser bringt dem Fußball mehr als tausend Mo- schen Teenie-Idole, obwohl sie überwie- Motivationskünstler – da werde ich ganz tivationskünstler und Sprechakrobaten. gend den Ball nicht richtig treffen. Und krank. Daum benutzt nach wie vor jeden SPIEGEL: Gilt das auch für Franz Becken- viele sind berühmter wegen ihres Lebens und alles für seine Zwecke. Das hat eine ge- bauer als Präsident des FC Bayern? neben dem Fußballplatz als wegen des Pro- wisse Lebensdauer, und dann ist es schnell Netzer: ist das Glück dukts, das sie auf dem Rasen abliefern. zu Ende. des deutschen Fußballs schlechthin und da- SPIEGEL: Auch Ihre Kräche mit Trainer Hen- SPIEGEL: Sie halten ihn für einen Blender? mit auch das Glück des FC Bayern. Daß er nes Weisweiler hatten hohen Unterhal- Netzer: Ich möchte ihm gewisse Qualitäten nicht absprechen. Er ist ein gewissenhafter Arbeiter und ein Fußball-Besessener – das sieht man ja allein schon an seinen Augen. Ob er dabei von sich selbst besessen ist oder von der Sache, das sei mal dahin- gestellt. Und daß er die Gabe hat, sämt- liche Bedürfnisse der Medien zu bedienen, spricht ebenfalls nicht gegen ihn. Daum hat einfach die Gunst der Stunde genutzt, schlau, wie er ist. SPIEGEL: Daum ist also nicht besser, son- dern im Zeitalter von „ran“ nur wir- kungsvoller als etwa ein , der in Leverkusen erfolglos war? Netzer: Absolut. Michels war ein Trainer von Weltformat, mit wirklichem Sachver- stand. Daß dessen Qualität weniger Reso- nanz findet als das Palaver von diesem Daum, macht mir große Sorgen.

SPIEGEL: Kann es sein, daß Fußball-Strate- BONGARTS DPA gen wie oder Trainer Trapattoni, Daum: „Leverkusen hatte nie eine ernsthafte Chance“

der spiegel 23/1997 125 tungswert – nichts anderes leistet sich Bas- ler mit Trapattoni. Netzer: Ich kenne den Basler nicht genug, um seinen Antrieb beurteilen zu können. Ich kann es nicht anders ausdrücken: Ich finde ihn einfach zu viel. Meine Auseinan- dersetzungen mit Weisweiler haben auf höchstem Niveau stattgefunden und sel- tenst in der Öffentlichkeit. Es ist uns immer um die Sache gegangen und nie um Ef- fekthascherei. Inzwischen wird jede klein- ste Regung eines Basler oder Matthäus ver- öffentlicht, und das wird von den Spielern sogar gepflegt. SPIEGEL: Sie haben leicht reden. Zu Ihrer Zeit wurden Sie nicht von Kameras und Mikrofonen verfolgt. Netzer: Und trotzdem hätte ich mich ga- rantiert nicht prostituiert, wie es heute so viele tun, die sich selber und ihre Bedeu- tung nicht richtig einschätzen können. SPIEGEL: Es sind doch die Vereine, die mit ihren Millionenangeboten den Profis den Kopf verdrehen. Netzer: Jeder echte Star, der die Qualität des Fußballs vorantreibt, soll das Doppel- te von dem verdienen, was er jetzt be- kommt.Von mir aus kann ein Sammer oder ein Möller zehn Millionen Mark verdie- nen. Das Problem sind die Gagen der Mit- läufer. Seit dem Bosman-Urteil gibt es kein Regulativ mehr. Der Sport gehört nicht in die europäische Rechtsprechung, er muß seine Sonderstellung behalten. So, wie es jetzt ist, sind die Vereine den Spielern aus- geliefert. Und das ist auch der Grund, war- um ich im Fußball keinen Platz mehr habe. SPIEGEL: Die Macht der Spieler läßt selbst Dortmunds Meistertrainer wegen seiner Distanziertheit in die Kritik geraten. Sind die Trainer nicht mal mehr durch Erfolge geschützt? Netzer: Hitzfeld ist über jede Kritik erha- ben. Es ist absurd und vermessen, wenn Spieler ihren Trainer danach beurteilen, welches Lebensgefühl er ihnen vermittelt. Wir haben mit Branko Zebec einen Alko- holiker zum HSV geholt, der nicht fähig war, Mannschaftssitzungen abzuhalten. Und trotzdem sind die Spieler für ihn durchs Feuer gegangen. SPIEGEL: Anfang der Saison wurde be- fürchtet, die Vielzahl der jetzt spielbe- rechtigten Ausländer führe zu einem Iden- tifikationsbruch des Anhangs mit seiner Mannschaft – ein Irrtum? Netzer: Identifikation findet heute über Er- folg statt. Ein anderes Denken kann man sich gar nicht erlauben, sonst ist man näm- lich weg vom Fenster. Gefühlvolle Werte gehen im Fußball aber nicht erst seit heu- te zurück. Schon vor 25 Jahren habe ich gesagt, daß auf dem Platz keine elf Freun- de stehen. Daraufhin hatte ich Sepp Her- berger, den Urheber dieser These, in mei- ner Diskothek in Mönchengladbach sitzen. Wir haben zwei Stunden darüber geredet. Und ich glaube, am Ende war ich Punkt- sieger. ™

der spiegel 23/1997