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Deutschlands WM- Der Chef und Trainer seine Nachfolger Die deutschen WM-Trainer – ihre Karrieren, ihre Geschichten, ihre Erfolge 1 Fotos: dpa

Editorial Acht Trainer, acht Geschichten Von Stephan Klemm

ie Geschichte der deutschen Fußballnationalmann- wortung stand, bis Joachim Löw. Zum Vorschein kom- Dschaft bei Weltmeisterschaften hat viele Facetten men acht verschiedene Trainer-Persönlichkeiten, ihr und sie lässt sich von einer Reihe von Blickwinkeln aus Werdegang und ihr Auftreten bei Weltmeisterschaften. betrachten. Weil die DFB-Elf gerade bei diesem Turnier Herberger, der schon deutlich klar machte, dass ohne besonders erfolgreich war, sind es vor allem die Spieler ihn nichts geht, hatte einen ganz anderen Führungsstil und die Spiele, die im Vordergrund stehen. als sein sehr auf Mitbestimmung setzender Nachfol- Aber es gibt natürlich auch noch die Menschen hin- ger Helmut Schön, während wiederum die Zeit danach ter den Triumphen, die ihre Akteure mit ihren Prinzi- unter allzu zwanglos verflog. Und so ging pien und taktischen Vorgaben erst dazu gebracht ha- es weiter über den auf einer Woge des Glücks gleiten- ben, Partien, die im Gedächtnis blieben, wie etwa das den , den zu akribischen , WM-Finale von 1954, zu gewinnen. Deshalb haben den vom Volk verehrten Rudi Völler und den Erneuerer wir in dieser Spezialausgabe alle Trainer in den Mittel- Jürgen Klinsmann bis hin zu Joachim Löw, den Vertre- punkt gestellt, die bei den Endrunden die Nationalelf ter des schönen Spiels. ausgewählt, aufgestellt und betreut haben – von Sepp Viel Spaß also beim Lesen und Stöbern durch die deut- Herberger, der schon 1938 in Frankreich in der Verant- sche WM-Geschichte.

2 Fototermin der deutschen Fuß- ballnationalmann- schaft im Jahr 1951 - . Foto: dpa

Stratege, Wunder­ ma­ cher,­ ewig Suchender Sepp Herberger steht für den WM-Sieg von 1954. Taktisch hat ihn auch Maos Guerilla-Lehre inspiriert. Noch heute gilt er als Autorität seines Sports. Von Stephan Klemm

in ganz besonderer Ball ist die wichtigste Reliquie im sung von , dem Kapitän. In der Kabine ging ELeben des Sepp Herberger, sein heiliger Gral, sein das Leder in den Besitz des gerührten Sepp Herberger größter Schatz. Aufbewahrt hat er ihn daheim in Ho- über. Heute ist dieser Ball ein zentrales Ausstellungs- hensachsen bei , das Leder schimmert gelb, stück des Deutschen Fußballmuseums in . darauf stehen die Unterschriften seiner Weltmeister. Dort hat man dem einstigen Reichs- und Bundestrainer Der Endspielball von Bern 1954 ist ein Unikat, damals Herberger eine ganze Abteilung gewidmet. Zu sehen gab es nur ein einziges Exemplar pro Spiel. Und immer sind unter anderem einige seiner Trainingspläne und wieder hat Herberger dieses besondere Andenken für auch die Eheringe der Eheleute Eva und Sepp Herber- Besucher hervorgeholt, um die Magie des Exponats mit ger. Im Zentrum aber steht das Spielgerät, mit dem die dem Betrachter zu teilen. Besorgt hat es Herbergers deutschen Außenseiter im Finale von 1954 die jahre- robuster Verteidiger auf Veranlas- lang unbezwungenen Ungarn schlugen, 3:2. „Der Ball

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Auf Schultern getragen: Fritz Walter (oben l.) und Sepp Herberger (Mantel) nach dem Sieg im WM-Fi­nale von Bern 1954 Foto: dpa ist ein zeitgeschichtliches Dokument der jungen Bun- Herberger nach den verpatzten Olympischen Spielen desrepublik. Und er war ein wichtiges Erinnerungs- von Berlin 1936, als die deutsche Elf im Viertelfinale an stück für Herberger persönlich“, sagt Manuel Neukirch- Norwegen scheiterte, als Reichstrainer nominiert wur- ner, Museums-Direktor und Herberger-Experte. de. Nerz war nicht mehr zu halten. Bundestrainer war Herberger schließlich ab 1950. Geschichte eines Aufsteigers Zu Herbergers Nachlass gehören auch 1500 Bücher. Herbergers Geschichte ist die eines Aufsteigers. Gebo- Eine Bibliothek, die - wie Neukirchner mit seinem Werk ren 1897, groß geworden in einer Mannheimer Arbei- „Herbergers Welt der Bücher“ zeigen konnte - die tersiedlung, Schulabschluss mit 14. Auf dem Weg nach Grundlage für alle Weisheiten ist, die Herberger so von oben half der Fußballsport, den er liebte. Er war der sich gab. Und Neukirchner zeigte auf, dass sich Her- Quell seines Ehrgeizes: Fußballlehrer wollte er wer- berger für seine Taktik Anleihen bei Militärstrategen den, unbedingt. Und wie es sich so fügt im Leben eines nahm, etwa bei Carl von Clausewitz (1780 bis 1831), wild Entschlossenen: Er, ehemaliger Fußball- und Nati- einem preußischen Generalmajor und Militärethiker. onalspieler, schaffte es, durch Überzeugung und Hilfe Und auch in den drei Hauptwerken von Mao Tse-tung, von Unterstützern, seinen Traum zu verwirklichen. Ei- der für Guerillakrieg gegen die Gruppe der Kuomintang ner seiner Förderer war , Reichstrainer seit stand, die 1912 die erste Republik China gründeten, 1926, den Herberger aus Mannheimer Fußballerzeiten wurde Herberger fündig. Er sei eben wissbegierig ge- kannte. Nerz lotste Herberger nach Berlin, wo er dank wesen, „ein ewig Suchender“, erzählt Neukirchner. Von bester Referenzen mit einer Ausnahmegenehmigung Clausewitz nun empfahl, dass die Armee bei Überge- ohne Abitur 1927 ein Studium an der Hochschule für wicht des Gegners in der Defensive verharren solle, Leibesübungen aufnehmen durfte, das er 1930 als bis der Kontrahent ermüdet sei, um dann selbst ein Jahrgangsbester abschloss. 1932 bekam Herberger Übergewicht zu erlangen. Herberger entwickelte dar- eine Anstellung als Cheftrainer beim Westdeutschen aus eine Art Guerilla-Wirbel, permanente Bewegung, Fußballverband, und in dieser Funktion arbeitete er ständige Positionswechsel. Und schuf ein System, das Nerz zu. Deshalb war es keine Überraschung, dass Vorteile in Überraschungscoups suchte - sichere Ab-

4 Deutschlands WM- Trainer Eva und Sepp Herberger am Rande der Gala zum 80. Ge­burts­tag des ehe­ma­li­ gen Bun­des­trai­ners 1977 im Mann­hei­mer Schloss Foto: ima­go/S­ven Simon

wehr und dann „Blitzangriffe“ setzen. Entstanden war Umstände, weil er nach der Eingliederung Österreichs so ein Mao-Clausewitz-Fußball, der 1954 im Halbfinale aus zwei Nationen mit zwei Spielstilen eine Elf formen der WM gegen Österreich (6:1) und im Finale gegen die musste, was misslang. Dabei hatte Herberger zuvor Ungarn seine Blüte erlebte. mit der Breslau-Elf ein famoses deutsches Team gebil- Neben seiner Taktik steht Herberger für psychologi- det, das zehn von elf Spielen gewann. 1954 der Höhe- sches Geschick, sein Können, Spieler durch einfühl- punkt: Weltmeister in der Schweiz. 1958: Halbfinale, same verbale Umarmungen starkzureden. Doch der während 1962 in Chile das Aus im Viertelfinale kam: vermeintlich so herausragend psychologisch geschulte 0:1 gegen Jugoslawien. Kritik mischte sich in sein Al- Musterstudent hatte ein Manko: Im Fach Psychologie terswerk, es folgte 1964 der Rücktritt mit 67 Jahren. erhielt er in seinem Abschlusszeugnis nur ein „genü- Herbergers Bilanz nach 162 Länderspielen: 92 Siege, 26 gend“. Herberger reagierte darauf mit verstärkter Lek- Unentschieden, 44 Niederlagen. Sein Fazit: „Innerlich türe von wissenschaftlichen psychologischen Abhand- gab es für mich keinen Abschied vom Fußball. Ich kann lungen und Ratgebern. es nicht. Es ist wie mit der Zeit. Zeit habe ich immer zu Für die Umsetzung seiner Ideen brauchte Herberger wenig gehabt.“ Herbergers prägnantes Gesicht mit den einen Strategen auf dem Platz. Er fand ihn in seinem Falten auf der Stirn schenkte ihm, gemischt mit seiner Lieblingsschüler Fritz Walter, seinem Kapitän von 1954, Erzählfreude und seiner Lebensleistung, eine spezielle sein „Feldmarschall“, wie Neukirchner es formuliert. Aura, er war eine beliebte Instanz voller Humor. Zuletzt „Herberger hat gesagt, die Theorie kann das Spiel vor- empfing er im blauen Trainingsanzug in seinem Haus in bereiten, aber das Spiel wird auf dem Platz entschie- der Sepp-Herberger-Straße 8 Fernsehteams, Schulklas- den durch den Geniestreich - und dabei dachte er an sen, Freunde und seine ehemaligen Nationalspieler. Fritz Walter.“ Der machte auch 1958 noch mit, mit 37 Der Tod kam Ende April 1977, einen Monat nach sei- - bei der WM in Schweden bestätigten die Deutschen nem 80. Geburtstag. Deutschland spielte in Köln gegen ihren Aufschwung. Halbfinale, Platz vier. Nordirland. Zur Halbzeit, es stand 0:0, klagte Fern- Vier Weltmeisterschaften verantwortete Herberger als seh-Zuschauer Herberger über Herzschmerzen. Er Trainer deutscher Nationalteams. 1938 scheiterte er wurde in ein Hospital gebracht, wo er um 1.30 Uhr an im Achtelfinale an der Schweiz und erhielt mildernde Herzversagen starb. Deutschland gewann noch 5:0.

5 Mann mit Mütze und Profil: Bun­ destrai­ ner­ Helmut Schön Foto: dpa

Erfolg­ reich­ mit Eleganz, Harmonie und Diplo­ ­matie­ Helmut Schön führte deutsche Teams durch vier WM-Turniere. 1974 gewann er auch dank seines antiautoritären Führungsstils den Titel im eigenen Land. Von Stephan Klemm

ie Fischer-Chöre haben vor dem Anpfiff gesungen, blau-grünen Schottenmuster auf dem Kopf trägt? „Völ- Ddie Menschen im Stadion befinden sich in Hoch- lig benommen blieb ich für ein paar Augenblicke sit- stimmung, schreibt Helmut Schön in seiner Autobio- zen. Das war es also. Kein überschwängliches Gefühl, grafie, Titel: „Fußball“. Und nachher - der Erfolg steht keine wilde Begeisterung. Es war nur, als wenn man fest, der Triumph bei der Weltmeisterschaft im eige- abschließend sagt: „So“.“ nen Land - „detonierte der Jubel“. Sieg im WM-Finale So. Nüchterner lässt sich ein solcher Coup vor ausflip- von München gegen die Niederlande, 2:1, der größte penden heimischen Fans wohl kaum wahrnehmen. Tag in der Laufbahn des Bundestrainers. Neben ihm Und fast beruhigend muss man es ja finden, dass die- „springen alle von der Bank auf“, liest man weiter. Und ser zurückhaltende Mensch an jenem 7. Juli 1974 dann er, der Sieger, der Weltmeister-Trainer, der zu diesem doch wenigstens seine jubelnden Spieler umarmt und Zeitpunkt noch seine charakteristische Mütze mit dem schließlich sogar den Pokal küsst. Jeweils ohne Mütze.

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Nach der krachenden Niederlage gegen die DDR von im letzten Vorrundenspiel hatte auf so ein Ende nicht viel hingedeutet. Dieses 0:1 hat Schön sehr getroffen. Er stammt aus Dresden, dort wird er am 15. September 1915 geboren. Im Mai 1950 verlässt er mit seiner Frau Annelies und Sohn Stephan die DDR, neue Heimat wird Wiesbaden. Er habe die Freiheit gewählt und sich entschlossen, „diesen Polizeistaat zu verlas- sen“. Auch wegen seiner Vergangenheit wühlt ihn die Pleite gegen die DDR so sehr auf. Wanderer zwischen den Welten Seinen ursprünglichen Plan, Medizin zu studieren, legt der Theater- und Opern-Liebhaber Schön beisei- te - weil er sehr gut Fußball spielt, Halbstürmer beim Dresdner SC, 1,90 Meter groß, technisch versiert und sehr treffsicher. Schön sei ein „Wanderer zwischen den Welten gewesen, hin- und hergerissen zwischen dem runden Leder und den Dingen, die er im Grunde sei- nes Herzens für schöner und wichtiger hielt“, schreibt Ludger Schulze, einer seiner Biografen. 16 Länderspiele bestreitet Schön zwischen 1937 und 1941, trifft dabei 17 Mal. Mit dem Dresdner SCge- winnt er Pokal (1940 und 1941) und Meisterschaft (1943 und 1944). Knieprobleme machten ihm immer wieder zu schaffen, sie sind einer der Gründe, warum Ein emotio­ ­na­ler Moment: Schön küsst den WM-Po­kal. Links: Schön nicht häufiger für Deutschland gespielt hat. Ein Kanzler Schmidt Foto: imago/Werek anderer: Reichstrainer Sepp Herberger. „Schön ist ein Weichling!“, urteilt Herberger nach einem Länderspiel. allerdings von der Überfigur emanzipiert. Das Glück Herberger hinterließ der Welt damit das Bild vom we- währt aber nur kurz, die Qualifikation zur Europameis- nig kampffreudigen, einsatzscheuen Menschen - das terschaft 1968 misslingt, es gibt viel Kritik. Schön bleibt galt für den Spieler und später auch für den sensiblen Bundestrainer, auch, weil er bereits vor dem EM-Aus Trainer Schön. einen Fünf-Jahres-Vertrag vom DFB erhalten hat. Dessen erster wichtiger Job als Coach: Chef der Schön überzeugt mit seiner Mannschaft während des DDR-Nationalelf von 1949 bis 1950. Herberger, nun WM-Turniers in Mexiko 1970. Platz drei am Ende. Der Bundestrainer, hilft Schön fortan, vermittelt ihn als Trainer hat den Mut, im Sturm auf Gerd Müller und Trainer zum damals autonomen Fußballverband des zu setzen. Im Halbfinale scheitert Schöns Saarlandes. 1956 nimmt er Schön als Assistenten auf Team in einem der großartigsten Spiele der WM-Ge- und duldet ihn 1964 auch als seinen Nachfolger. Schön schichte mit 3:4 nach Verlängerung an Italien. duzt anders als Herberger seine Spieler, schafft eine neue, entspanntere, antiautoritäre Atmosphäre - , Ansammlung von Weltklassespielern und Herberger schwebt in den ersten Jahren wie ein Fortan profitiert der Trainer von einer außergewöhnli- besserwissendes Phantom über Schön. Mit Rang zwei chen Spielergeneration. im Tor, Franz Be- bei der WM 1966 in England hat sich der Nachfolger ckenbauer, Uli Hoeneß, , dazu Wolfgang

7 Deutschlands WM- Trainer Daheim im Garten: Schön mit seiner Ehefrau Annelies. Foto: dpa

Overath, Günter Netzer und die Torversicherung Gerd ler, angeführt von Kapitän Beckenbauer. „Tacheles“ Müller - lauter Weltklassespieler, die Schön mit seinen habe man geredet, bis fünf, sechs Uhr „bei viel Wein Mitteln zu einem Team mischt. Er mag es harmonisch, und Bier“, sagt Sepp Maier. Schön „hat uns gewähren nimmt seine Profis in die Verantwortung und etabliert lassen“. Die personelle Statik des Teams wird deutlich einen demokratisch-diplomatischen Stil. Die National- verändert, es startet durch zum Titelgewinn. Auch weil spieler hätten Schöns Art auch „richtig aufgenommen“, Schön seinen Kapitän als spielenden Nebentrainer dul- sagt Günter Netzer dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Laut det. werden „war nicht sein Naturell. Er hat die Mannschaft Durch vier WM-Turniere hat Schön deutsche National- anders geführt. Das war sein Erfolgsrezept.“ teams geführt. Nach Platz zwei in England 1966, Rang Schöns Idee vom Fußball erlebt 1972 eine spieleri- drei in Mexiko 1970 und dem Titelgewinn von 1974 en- sche Sternstunde mit dem EM-Gewinn - nach Siegen det die WM 1978 in Argentinien jedoch mit einem Fias- im Viertelfinale in England und im Finale von Brüssel ko: Aus in der zweiten Finalrunde nach einer 2:3-Pleite gegen die UdSSR, 3:0, eine Demonstration von Eleganz gegen Österreich. Für Schön „brach eine Welt zusam- und Leichtigkeit. „Dieses wunderschöne Spiel wurde men“. Seine Bilanz ist dennoch herausragend, er war umgemünzt in Spektakel, Tore und Siege“, sagt Netzer. Welt- und Europameister - und ist, gemessen an den Vor dem Finale habe Schön seine Spieler übernehmen erreichten Platzierungen, bis heute der erfolgreichste lassen. Für Netzer ist „das das größte Kompliment, Nationaltrainer der Welt. dass ich in meinem Fußballerdasein erlebt habe: Dass Zuletzt lebte Schön zurückgezogen und geschwächt ein Trainer einer Mannschaft derartiges Vertrauen ent- von der Alzheimer Krankheit. Er starb am 23. Februar gegenbringt und sagt: „Macht doch was ihr wollt. Ihr 1996 im Alter von 80 Jahren. Und sein Vermächtnis? wisst schon, was ihr macht.““ Schön schrieb einmal: „Man sollte stets versuchen, aus Nach der DDR-Schmach bei der WM 1974 zieht sich dem Fußballspiel der Jetztzeit das Beste herauszuho- Schön zurück auf sein Zimmer. Nicht aber seine Spie- len. Was ist das Beste? Das gute und schöne Spiel.“

8 Gab sechs Jahre die Kommandos für die Na­ tio­nalelf: Jupp Derwall, daneben Co- Trai­ner . Foto: dpa

In der langen Leine verheddert Jupp Derwall ließ seinen Stars viel Freiraum. Doch damit konnten sie nicht umgehen – und hinterließen bei der WM 1982 einen verheerenden Eindruck Von Stephan Klemm

etzt wird es plötzlich lustig und gemütlich, ganz an- toniert Stimmungslieder. Wein und Bier sind erlaubt. Jders als bis vor zwei Jahren. Da aber hatte ja auch Selbstverantwortung, viele Freiheiten, wenig Kontrolle noch Helmut Schön das Kommando, ein disziplinierter, - das war das Prinzip Derwall. In der Sprache der Zeit zurückhaltender, leiser Trainer. Diese Zeiten hat Jupp hieß das „lange Leine“ und in Italien passte diese Art Derwall krachend beendet. Der Rheinländer ist nun der Menschenführung auch zu den Spielern. Derwall, Bundestrainer, und er mag es heiter an seinem Lager- geboren am 10. März 1927 in Würselen bei , feuer. 3:2 hat seine Elf im Juni 1980 gegen die Nieder- führte sein Team ins Finale, das es mit 2:1 gegen Bel- lande gewonnen, der zweite Sieg im zweiten Spiel bei gien gewann. „Ein ganz lieber Mensch, nicht streng. der Europameisterschaft in Italien - und Derwall ver- Ein bisschen Kumpel, eine Art Vater für uns“ sei Jupp sammelt seine Spieler in der Bar des Teamquartiers im Derwall gewesen, sagt , damals der Holiday Inn von Rom, packt seine Gitarre aus und in- Torwart. Kapitän schwärmte: „Reiberei-

9 Deutschlands WM- Trainer en gibt es keine. Es gibt ay. Deutschland verlor kein Machtgefälle, kei- gegen Argentinien und ne Herrschaftsbereiche, Brasilien mit 1:2 und keine Cliquen.“ Und der 1:4. Derwall wirkte hilf- „Spiegel“ attestierte los, blieb es auch bei der dem Trainer 1981 „ein WM 1982. Und war es geradezu selbstmörderi- schon zuvor im Umgang sches Harmoniebedürf- mit und nis“. Paul Breitner. Den Ex- Eine vielversprechende zentriker des FC Bayern Mannschaft hatte - Der hatte Derwall im April wall beisammen, 24,4 1981 ins Team zurückge- Jahre im Schnitt und mit holt. Schuster hatte der Schumacher (damals Bundestrainer zunächst 26), Karlheinz Förster für ein Spiel suspendiert, (21), Hansi Müller (22), weil er im Mai 1981 Hans-Peter Briegel (24), nach der Partie gegen Karl-Heinz Rummenig- Brasilien nicht an einem ge (24), (25), Teamtreffen in Stutt- (27) und gart teilnahm. Schuster Treffen mit Kanzler Kohl: Jupp Derwall (l.) und Kapitän Rum­me­ Doppel-Finaltorschüt- nigge 1984. Foto: dpa sollte am nächsten Tag ze (29) zu seinem Klub FC Bar- einen Spielerstamm auch für das nächste Turnier, die celona reisen, gab aber noch spät in der Nacht Inter- WM 1982 in Spanien. Und da war auch noch Bernd views. Derwall fühlte sich brüskiert, der Spieler nahm Schuster vom 1. FC Köln, die 20-jährige Verheißung im die Strafe des Trainers persönlich. Und weil Schuster Mittelfeld. später auch noch sagte, er wolle nicht mit Breitner zu- sammenspielen, fiel er für die WM aus. „Mein Fehler“, Nicht eingelöstes Versprechen sagte Derwall später zu dieser Episode. Schuster kehrte Doch das Team löste sein Versprechen nicht ein. noch einmal zurück in Derwalls Team, doch bei der EM Deutschland wurde zwar Vize-Weltmeister, hinterließ 1984 fehlte er verletzt. auf dem Weg ins Finale aber einen verheerenden Ein- Die WM-Vorbereitung am Schluchsee in Schwarzwald druck, Derwall war mit seiner Strategie gescheitert. verlief unglaublich. „Es gab keine Disziplin, und man- Auf und ab in Rekordzeit. che benahmen sich schlimmer als der berühmte Keg- Seit 1970 war Derwall Schöns Assistent - und eine ler auf dem Mallorca-Ausflug“, schreibt Schumacher DFB-Tradition besagte damals, dass der zweite Mann in seinem Buch „Anpfiff“. Der Ort des Trainingslagers auf den ersten folgt, wenn dessen Posten frei wird. So machte als „Schlucksee“ Karriere - es war laut Schu- war es bisher immer. 1978 war dann Derwall an der macher ein Sauf- und Zockgelage. Derwall verhedderte Reihe. Doch der war schon vor der Job-Übernahme sich zunehmend in seiner „langen Leine“, die aktuel- umstritten, weil ihm das Format abgesprochen- wur len Spieler nutzten sie nun aus. Dietz, der für Breitner de. Derwall schaffte es aber, seine Kritiker -zu über weichen musste, stellte nach der Rückkehr des neuen zeugen: EM-Titel plus 23 Spiele in Folge ungeschlagen Chefspielers fest: „Es lässt sich nicht leugnen, dass sich seit Amtsantritt (18 Siege, fünf Unentschieden) - Re damit die Atmosphäre in unserem Kreis abrupt änder- kord bis heute. Der Bruch und Stimmungsumschwung te. Cliquen bildeten sich plötzlich wieder. Was über setzte Anfang 1981 ein, bei der Mini-WM in Urugu- zweieinhalb Jahre an kameradschaftlichem Miteinan-

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Ein Held in Istanbul: Derwall wurde von den Ga­la­ta­sa­ray-Fans ange­ ­him­melt. Foto: imago/kicker der funktionierte, war von heute auf morgen vorbei.“ nach Verlängerung gegen Frankreich, Entscheidung für Und das war erst der Prolog. Deutschland im Elfmeterschießen. Schumacher parier- te zwei Mal. Aber es gab kein Happy End. Der Torwart Eine verheerende WM hatte Patrick Battiston nach gut einer Stunde brutal Das erste Spiel ging mit 1:2 gegen Algerien verloren. gefoult. Der Franzose musste bewusstlos ausgewech- Derwall empfahl: Auf das eine oder andere Gläschen selt werden, Schumacher hatte sich nicht entschuldigt, Wein und Bier solle künftig eben verzichtet werden. stattdessen während der Behandlungszeit den Ball Und es wurde nach dem 4:1-Sieg gegen Chile noch jongliert und später zynisch reagiert. Kaum zu glau- schlimmer. Deutschland und Österreich wussten schon ben: Vier Wochen benötigte diese vielversprechende vor ihrem Gruppenfinale, dass ein knapper deutscher Mannschaft, um ihren Ruf zu ramponieren. Sieg beiden Teams zum Weiterkommen reichen würde. Derwall blieb der Trainer. Doch im EM-Turnier 1984 Die letzten Spiele einer Gruppe fanden nicht zeitgleich schied sein Team schon in der Vorrunde aus - ein No- statt, ein fataler Fehler der Turnierplaner. Nach elf Mi- vum. Und so trat der Chef nach dem Aus als erster Bun- nuten stand es 1:0 für Deutschland und dabei blieb es destrainer vorzeitig ab. Später sagte er: „Ich bin stolz, auch. Danach entwickelte sich ein fürchterliches Ball- dass ich Bundestrainer war.“ geschiebe ohne Torgefahr - die „Schande von Gijon“. Im Ausland gelang dem daheim Geschmähten die Re- Algerien war draußen, die auf Ergebnis Spielenden wa- habilitation. Er arbeitete ab Juli 1984 erfolgreich bei ren zwar weiter, wurden aber heftig kritisiert und ver- Galatasaray Istanbul und wurde dort Meister und Po- loren weltweit viel Prestige. kalsieger. 1989 übernahm er einen Job als Berater der Deutschland erreichte tatsächlich das Finale, unterlag türkischen Nationalelf, beendete diese Mission aber dort aber Italien mit 1:3. Zuvor hatte Derwalls Team 1991 nach einem Herzinfarkt. Jupp Derwall starb im im Halbfinale ein mitreißendes Spiel geboten, 3:3 Juni 2007 im Alter von 80 Jahren.

11 Wie einer, der nie Trainer war, den WM-Titel­ gewann

Franz Beckenbauers Karriere als Teamchef begann 1984 mit einer Idee, die nicht seine war, und endete mit dem Sieg über Argentinien im Finale von Rom. Von Frank Nägele

Foto: dpa

ies ist eine Würdigung der Verdienste von Franz gereist und hatte in dieser Eigenschaft auch kräftig auf DBeckenbauer um die deutsche Fußball-National- die Versager geschimpft. Um die Umstände seiner Er- mannschaft. Sie stammen aus einer Zeit, in der das nennung zum Teamchef ranken sich einige Mythen. Gelingen für den „Kaiser“ zwanghaft war. Er konn- Gesichert ist, dass sie einer Idee des in diesen Fragen te machen, was er wollte - und es hat funktioniert. damals allmächtigen Mediengiganten entsprang, der Manchmal funktionierte auch das, was er nicht wirk- ihn bezahlte. lich wollte. Wie das Amt des DFB-Teamchefs, das man für ihn erfunden hat, weil er nie ein Trainer war. Niederlage zum Beginn Im Juni 1984 war die Fußball-Bundesrepublik Deutsch- Irgendjemand in der Springer-Zentrale war auf die Idee land in Aufruhr. Die Nationalelf, ermüdet von den Jah- gekommen, Beckenbauer zu Derwalls Nachfolger zu ren unter dem netten Onkel Jupp Derwall, war bei der machen. Angeblich war der Betroffene noch ahnungs- EM 1984 in der Gruppenphase gegen Spanien ausge- los, als die erste Schlagzeile gedruckt wurde: „Derwall schieden. Das Kopfballtor von Maceda haben heute vorbei - Franz: bin bereit“. Es musste nur noch jemand noch alle in Erinnerung, die damals schon alt genug gefunden werden, der es dem Franz sagte. Angeblich waren, um seine Tragweite zu erkennen. Beckenbauer geschah das bei einem Glas Wein im Pariser Hotel war als „Bild“-Kolumnist zum Turnier nach Frankreich „Henri IV“. Andere erzählten sich die Geschichte, dass

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Be­cken­bauer mit Lothar Matthäus (Mitte), und dem WM-Po­kal Foto: dpa die Nachricht auf der Rückreise im Flugzeug über- „Rumpel-Fußball“ erfinden, er stampfte mit seinem bracht worden war. Sicher ist, dass der Gebetene sich Team von Runde zu Runde. lange gesträubt hat, ehe er sich ins Unabänderliche Diplomatisch war Franz Beckenbauers erste WM als fügte und das Amt mit dem neuen Namen übernahm. Teamchef ein Desaster. Den Jähzorn aus Spielerzeiten Franz Beckenbauer begann seinen neuen Job am 12. hatte sich der sogenannte Kaiser noch nicht abtrainiert. September 1984 in Düsseldorf mit einer Niederlage. Seine Schimpftirade gegen einen mexikanischen Jour- 1:3 gegen Argentinien. Das war noch keinem seiner nalisten hätte fast eine politische Krise ausgelöst. Im Vorgänger passiert. Aber er konnte sich das erlau- Hotel meuterten die unzufriedenen Spieler. , ben. Beckenbauer hatte schon als Spieler viele Krisen der schlecht gelaunte dritte Torhüter, diktierte der unbeschadet überstanden - sogar die Steuerflucht in Presse am Swimmingpool das Wort „Suppenkasper“ in die USA 1977. So war das damals. Franz Beckenbauer die Notizblöcke. Eine abwertende Anspielung auf Be- wurde vom Schicksal alles verziehen. Aber er war kein ckenbauers Vergangenheit als Werbeträger von Maggi. Spinner. Er übernahm eine Mannschaft ohne Glanz. In der Vorrunde wurde der Nationalelf von Dänemark Die Förster-Brüder, und gezeigt, wie moderner Fußball geht. Sie verlor 0:2 und prägten ihr Image mit Drecksarbeit. Lothar Matthäus wirkte chancenlos. Dennoch stand sie Wochen später war noch sehr jung, die Sturmstars Karl-Heinz Rum- im Finale. Der Ausgang ist bekannt. 3:2 für Argentinien. menigge und Rudi Völler neigten zu Verletzungen. Aber Saublödes Siegtor durch Burruchaga. man erreichte trotz der bis heute einzigen Niederlage in einem WM-Qualifikationsspiel (0:1 gegen Portugal Die Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen in Stuttgart) die Endrunde in Mexiko problemlos. Aber Typisch für Beckenbauer war die Fähigkeit, aus Fehlern Beckenbauer sah, dass er dort an Fußball, wie er selbst zu lernen. Er hatte sie bei seiner ersten WM alle be- ihn gespielt hat, gar nicht erst denken durfte. Er tat, gangen und war trotzdem Vizeweltmeister geworden. was er als Spieler so verachtet hatte, und setzte auf die Das war die Grundlage für den Erfolg vier Jahre später. deutschen Tugenden Kraft und Ausdauer. Mochten die Nach der Europameisterschaft 1988 im eigenen Land, anderen modern spielen, die Journalisten den Begriff bei der Beckenbauer mit einem fußballerisch stark ver-

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1974 hält Franz Be­cken­bauer als Kapitän den WM-Po­kal in die Höhe. Foto: imago/ulmer besserten Team im Halbfinale am niederländischen te ein Elfmeter, den Andreas Brehme verwandelte. Im Star-Ensemble scheiterte, reiste er erfahren und gefes- Siegesrausch von Rom entstand das Bild, in dem die tigt 1990 nach Italien. Der einstige Bauchmensch und Ära des Teamchefs Franz Beckenbauer weiterlebt. Ein Ballgenius hatte sich eine erstaunliche Form der Akri- schlanker Mann mit einer Medaille um den Hals schrei- bie erworben und für alles Spezielle seine Spezialisten tet im Wissen, dass dies seine letzte Amtshandlung als gefunden. Am wichtigsten war sein Assistent Holger Teamchef war, ein verwaistes Spielfeld ab. Man hat viel Osieck, der viele der klassischen Traineraufgaben für Tiefe vermutet in dieser Szene. den Teamchef übernahm, nach außen hin aber ganz Ob sie wirklich da war, oder ob es sich nur um eine hinter Beckenbauers Charisma verschwand. missinterpretierte Pose der Leere handelte, weiß nur In seinem Kader hatte der Teamchef für jeden Moment Franz Beckenbauer selbst. Aber er redet nicht mehr den richtigen Spieler. Lothar Matthäus war sein Kapi- viel in der Öffentlichkeit. Das Wenige, was nötig ist, tän und Antreiber vom ersten Spiel an, Jürgen Kohler erledigen seit Jahren seine Anwälte. Das Bild des so der unüberwindliche Zweikämpfer, Rudi Völler der An- lange Zeit Auserwählten droht wegen der dubiosen führer im Angriff, Jürgen Klinsmann der junge Wilde, Zahlungen im Zusammenhang mit der WM 2006, die der mit dem Spiel seines Lebens das Achtelfinale gegen er auf seine Weise nach Deutschland geholt hat, auf die Holländer für Deutschland 2:1 gewinnen half. Dazu ewig beschädigt zu werden. Entschieden ist darüber kamen der junge Kölner Torwart und sein noch nicht endgültig, weder von Gerichten noch von krummbeinig dribbelnder Klubkollege . der Geschichte. Aber kein Urteil würde etwas ändern Als im Finale einer gebraucht wurde, der den großen an Franz Beckenbauers Verdiensten um die National- ausschaltete, zauberte Beckenbauer mannschaft. Den zweiten Weltmeistertitel hatte er ihr den Grobmotoriker aus dem Hut, der 1974 als Spieler geschenkt. Den dritten 1990 als Team- zur Sensation des Endspiels wurde. Den Rest erledig- chef. Das bleibt.

14 WM 1998: Berti Vogts während der Partie der deutschen Elf gegen Jugo­ ­ sla­wien (2:2) Foto: imago/­ we­rek

Viel Wissen und Akribie, wenig Glück und Intuition Berti Vogts übernahm das Weltmeister-Team von Franz Beckenbauer. Er wurde zwar Europameister, scheiterte aber zweimal im Viertelfinale einer WM. Von Stephan Klemm

einen besonderen Trainer-Moment erlebt Berti Leute zu einer Welle, klatscht in die Hände, winkt und SVogts am Abend des 30. Juni 1996 im Wembley-Sta- geht. Dieser Augenblick hat ihn gewiss ein wenig ent- dion, nach dem Finale der Europameisterschaft, sei- schädigt für das, was bisher geschah, nachdem er 1990 nem größten Sieg in leitender Funktion. Das Turnier hat den Job als Bundestrainer übernommen hatte. Aber da seine Auswahl vor allem deshalb gewonnen, weil sie es wusste Vogts noch nicht, was noch auf ihn zukommen schaffte, nach dem Vogts-Prinzip zu handeln: „Der Star würde, zwei Jahre später. ist die Mannschaft“. Mit den Spielern hat Vogts schon Nein, die achtjährige Amtszeit an der Spitze der gejubelt nach dem 2:1-Erfolg gegen Tschechien, nun DFB-Trainer war keine Phase des Glücks und der beruf- steht er vor dem feiernden Kurven-Volk auf dem Ra- lichen Erfüllung für Hans-Hubert Vogts, den Sohn ei- sen. Fans, die ihn besingen, das hat es so noch nicht ge- nes Schusters aus Büttgen am Niederrhein. Übernom- geben. Also verbeugt sich Vogts dreimal, animiert die men hat er das Team im Sommer 1990, es war gerade

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Weltmeister in Italien geworden, angeleitet von Franz Beckenbauer, dessen riesiger Lichtkegel alle seine Mit- arbeiter in den Schatten stellte. Das ging ja alles unter im Zuge der Apotheose des Franz B. - dass Vogts die Analyse, die Gegnerstudie, sogar die Hinführung von Talenten für den Teamchef Beckenbauer organisiert hatte. Vogts war Beckenbauers wichtigster Helfer und Ratgeber in jenen italienischen Wochen. Und sollte danach zeigen, dass er es auch allein konnte. Beckenbauers Hypothek Der Einstieg war schwer genug. Wer einen Weltmeis- ter übernimmt, kann höchstens bestätigen, was war. Und das wird erwartet. Im Raum stand außerdem noch ein Beckenbauer-Satz. Jetzt, wo die Spieler der ehemaligen DDR noch hinzukämen, war für ihn klar: „Es tut mir Leid für den Rest der Welt - aber die deut- sche Mannschaft wird in den nächsten Jahren nicht zu besiegen sein.“ Willkommen im neuen Job. Berti Vogts, geboren am 30. Dezember 1946, verlor früh seine Eltern. Die Mutter starb, als er zwölf war an Leukämie, der an Herzproblemen leidende Vater EM 1996: Deutschland ist Eu­ro­pa­meis­ter - und Vogts verneigt ein Jahr später. Fortan lebte er bei seiner Tante, in be- sich vor den deutschen Fans. Foto: Getty Images scheidenen Verhältnissen, schloss eine Werkzeugma- cher-Lehre ab und startete als unbequemer Verteidi- Weltmeisters gegen den krassen Außenseiter Däne- ger eine große Spieler-Karriere in Mönchengladbach. mark. Die Bewertungen fielen negativ aus. Da wusste Geprägt dort von , dem Trainer, Vogts schon, dass er es schwer haben würde, zu gefal- eine Art Ersatzvater für den Waisen. Fünfmal deut- len. scher Meister wurde Vogts, Pokalsieger, zweimal Ue- 1994 in den USA leitete er die Mission WM-Titelvertei- fa-Cup-Gewinner, 96 Länderspiele, 1974 wurde er - wie digung. Aber: „Wir hatten keine Mannschaft. Die hat Beckenbauer - Weltmeister. 1994 nicht funktioniert“, sagte Vogts. Drei Gruppen Als Bundestrainer arbeitete Vogts, der 1979 als Jugend- habe es gegeben: „Die Weltmeister von 1990, die Spie- coach beim DFB einstieg, anders als sein entspannter, ler aus der Ex-DDR und die Neuen.“ Und so misslang intuitiv handelnder Vorgänger. Vogts ist ein systemati- Vogts‘ erster WM-Auftritt als Trainer. Das Aus im Vier- scher Analytiker, er schätzt akribische Faktenrecherche telfinale gegen Bulgarien (1:2 nach 1:0-Führung) war und Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Fleiß, Leistung. All das unnötig. Vogts litt in jenen Tagen an Kontrollwahn, -ar sind Dinge, die Vogts gelassen durch seinen neuen Job beitete verbissen und scheiterte auch an Problem-Pro- hätten gleiten lassen können, weil er sich ja selbst ver- fis. zeigte den ihn und das Team kriti- trauen konnte und schon so viel erreicht hatte. Doch sierenden Fans im Spiel und nach seiner Auswechslung diese Lockerheit war ihm nicht gegeben. Verkrampft gegen Südkorea im letzten Vorrundenspiel den Stin- und verbissen wirkte Vogts von Beginn an, misstrau- kefinger. Es war das WM-Aus für den impertinenten isch und argwöhnisch. Profi. Nach der Pleite gegen Bulgarien trat Torhüter Schon bei der EM 1992 erreichte Vogts mit der deut- Bodo Illgner aus der Nationalelf zurück, Lothar Matthä- schen Elf das Finale. Doch er verlor es, als Trainer des us stellte seine Kapitänsbinde zur Verfügung, es ging

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WM 1994: Al­lein­ge­las­sen nach dem Aus? Was wie eine typische Vogts-Szene aussah, war eine Täuschung:­ Seine Tisch­kol­le­gen waren gerade am Buffet. Foto: imago/Sven Simon drunter und drüber. „Erstens war ich den Spielern ge- Vogts? Wurde zu Deutschlands „Trainer des Jahres“ genüber immer noch zu gutgläubig. Und zweitens habe gekürt. ich mich für den falschen Torwart entschieden“, sagte Er machte weiter und schlitterte in sein finales WM-De- Vogts später. bakel. Das Aus kam erneut im Viertelfinale. Nun verlor man 0:3 gegen Kroatien. Zwei WM-Turniere in Folge Die Kritik nimmt zu ohne deutsche Halbfinal-Teilnahme hatte es noch nicht Vogts stand jetzt mitten im Feuer der Kritik, „Bild“ for- gegeben. Vogts verrannte sich nach der Pleite, die auch derte ihn zum Rücktritt auf: „Herr Vogts, unterschreiben mit der Roten Karte für Christian Wörns nach 40 Minu- Sie hier“ stand neben einem fiktiven Abschiedsgesuch. ten zu tun hatte, und sprach von einem Fifa-Komplott Die Zeit danach verlief übel für den Bundestrainer: „Ich gegen sein Team, wofür er sich später entschuldigte. wurde angepöbelt und angespuckt. Diese Zeit wünscht Immer noch blieb er im Amt. Holte Effenberg zurück man seinem ärgsten Feind nicht.“ Nach dem WM-Aus - vergebens. Nach zwei schwachen Spielen Anfang entstand ein Foto, das für die Ära Vogts bis zu diesem September 1998 verabschiedete sich erst der indispo- Zeitpunkt stehen sollte: Einsam sitzt der Trainer am nierte Spieler und schließlich auch Vogts: „Ich bin es Tisch im Team-Quartier. Doch das Bild ist aus dem Zu- mir selbst schuldig, den letzten Rest Menschenwürde sammenhang gerissen, seine Tischmitglieder waren zu verteidigen, welcher mir noch gelassen worden ist.“ gerade am Buffet. Es lief einfach nicht für Vogts. Vogts übernahm von 2000 bis 2001 Bayer . Bis zum Triumph von Wembley. Vogts gab sich offener Dann versuchte er es in der Verbands-Diaspora für aus- - und profitierte von Spielern, auf die er sich verlassen rangierte Fußballlehrer aus der ersten Reihe: Kuwait, konnte und die das Wesentliche verstanden hatten: Er- Schottland, Nigeria, Aserbaidschan. Bestenfalls B-Wa- folg im Fußball ist Teamsache. Jürgen Klinsmann gehör- re. Den Sprung nach ganz oben schaffte Vogts nicht te dazu, sowie . Und mehr.

17 Jubel nach dem Erfolg über Kamerun im letzten Vorrunden- spiel der WM 2002 – Team- chef Rudi Völler Foto: Getty Images

Gute Laune, klare Hierarchie, günstige Fügung Zunächst war für Teamchef Rudi Völler nur eine Übergangszeit vorgesehen, doch daraus wurden vier Jahre. Höhepunkt war das WM-Finale 2002. Von Frank Nägele

en 7. Juli 2000 wird Rudi Völler sein Leben lang Bundestrainer diesen Kompromiss hervorgebracht, Dnicht vergessen. Er betrat das Privathaus eines Ver- denn der Werksklub sträubte sich vehement dagegen, sicherungsagenten vor den Toren Kölns als Angestellter seinen erfolgreichen Trainer vorher freizugeben. Nach von – und verließ es als Teamchef Stunden ohne Lösung hatte der damalige DFB-Präsi- der deutschen Nationalmannschaft. Man hielt das für dent Gerhard Mayer-Vorfelder dem damaligen Bay- eine gute Idee, aber für keine sehr bedeutende Perso- er-04-Sportchef Rudi Völler ins Gesicht geschaut und nalentscheidung. Elf Monate später, so war es ausge- gesagt: „Mach du es doch!“ Die anderen, inklusive macht, sollte das Amt übernehmen. Daum-Kritiker Uli Hoeneß taten ihre Zustimmung kund. Die Zusammenkunft aller in der Sache wichtigen Par- So begann eine der überraschendsten Episoden in der teien – Deutscher Fußball-Bund, Bayer 04 Leverkusen, eher für Ruhe und Regelmäßigkeit bekannten Ge- Bayern München – hatte im Ringen um einen neuen schichte der deutschen Fußball-Nationalmannschaft,

18 Deutschlands WM- Trainer denn der designierte onsspielen gegen die Uk- Bundestrainer Christoph raine. „Ich habe einige Daum sollte wegen sei- Stressmomente gehabt ner Kokain-Affäre in Le- in meiner Zeit als Spie- verkusen den Teamchef ler und Teamchef“, er- Rudi Völler niemals ab- innert sich Völler, „aber lösen. mehr Stress als vor die- In den vielen Jahren der sen Spielen werde ich stetigen Erfolgsarbeit nie mehr haben.“ Der unter Joachim Löw hat Grund dafür ist simpel. man vergessen – oder „Ich wäre der erste ge- je nach Geburtsjahr nie wesen in der Geschichte, erlebt – in welchem der sich mit der deut- Zustand sich die Nati- schen Nationalmann- onalelf damals befand. schaft nicht für eine Sie hatte nicht nur eine Fußball-WM qualifiziert furchtbare EM und das hätte.“ Im Hinspiel war Ende der zweijährigen die Ukraine schnell 1:0 Leidenszeit unter Erich in Führung gegangen. Ribbeck hinter sich. Der 85 000 Zuschauer im Weltmeister als Spieler: Rudi Völler jubelt im Kreis der 1990er-Sie- deutsche Fußball litt un- ger neben Jürgen Klinsmann und Thomas Häßler. Foto: dpa in Kiew ter einer Talentarmut jubelten. „Doch dann wie nie in seiner ereignisreichen Geschichte seit dem hat der das 1:1 gemacht, und danach Zweiten Weltkrieg, außerdem war er strategisch und war Ruhe“, erinnert sich Völler. Das Rückspiel vier Tage taktisch weit hinter den Standard der großen Länder später gewann Deutschland in Dortmund 4:1. Michael zurückgefallen. Ballack war mit zwei Toren wieder der entscheidende Mann. Und das Duo aus Leverkusen funktionierte bis Geringe Erwartungen beim Start zum WM-Finale am 30. Juni 2002 gegen Brasilien. Mitten in dieser Krise erschien der Rudi Völler, der Die Reise dahin war beispielhaft für die Nationalmann- nach glanzvollen Jahren in , Rom und Marseil- schaft unter Rudi Völler. Die Dinge gelangen durch eine le seine Spielerkarriere 1998 in Leverkusen mit einem Melange aus guter Laune, klarer Hierarchie und güns- Popularitätsstatus beendet hatte, den vor ihm im nur tiger Fügung. Mit dem Fußball als solchem war man Uwe Seeler besaß. So trat der Ex-Profi mit seinem As- geduldig. Die Mannschaft bestand bei der WM 2002 in sistenten zum ersten Spiel seiner Amts- Japan und Südkorea vor allem aus , Micha- zeit im August 2000 in Hannover gegen Spanien an. Die el Ballack, Bernd Schneider und einem jungen Mann Erwartungen waren gering. Deutschland besiegte eine namens . Unter dem Radar schlich das aus dem Urlaub angereiste, mit Stars gespickte spani- DFB-Team nach einer mit Mühen gewonnenen Vorrun- sche Mannschaft, in der und Raul stan- de mit drei 1:0-Siegen über Paraguay, USA und Südko- den, durch Tore von (2) und Alexander rea ins WM-Finale und lieferte dort ihr bestes Spiel ab. Zickler (2) 4:1. Und das, obwohl der Anführer Ballack fehlte, weil er Die nächsten beiden Jahre waren geprägt von der Rück- sich im Halbfinale gegen den Co-Gastgeber eine Gelbe kehr des deutschen Stolzes, mit der das Fußballerische Karte abgeholt hatte, um ein Gegentor zu verhindern. nicht ganz mithalten konnte. Dieser Widerspruch kul- Dann passierte dem bis dahin übermenschlich Bälle minierte im November 2001 in den WM-Qualifikati- haltenden Torhüter Oliver Kahn der zur Legende ge-

19 Deutschlands WM- Trainer

Legendär: Rudi Völler holt im Studio von Waldemar Hartmann die Verbalkeule hervor. Foto: dpa wordene Fehler bei einem Schuss von Rivaldo. Er ließ schen Fußball-Geschichte. Völler hatte gemeinsam mit ihn nach 67 Minuten eines von Deutschland überlegen Skibbe schon bei seinem Amtsantritt erkannt, dass sich geführten Spieles abprallen, Ronaldo schob ein. Das die Ausbildung junger Spieler und die Sichtweise auf Spiel endete nach einem weiteren Ronaldo-Tor 0:2. die Lehre des Fußballs erneuert werden muss, damit Rudi Völler wäre zwölf Jahre nach dem WM-Triumph Deutschland mal wieder Weltmeister werden kann. als Spieler fast ein zweites Mal Weltmeister geworden. Vier Jahre später, bei der EM 2004, standen bereits Zuhause wurden er und seine Mannschaft empfangen, drei Spieler aus der Zukunft im Kader: als hätte es das „fast“ nicht gegeben. Zum ersten Mal (20), (19) und Lukas Podolski seit 1990 hatte dieses Land, dem Fußball so wichtig ist, (19). Zehn weitere Jahre später sollten sie alle gemein- seine Nationalmannschaft wieder lieb. Dies bleibt das sam den WM-Titel in Brasilien gewinnen. Aber bei der wahre Vermächtnis des Teamchefs Völler. EM in Portugal war ihre Zeit noch nicht angebrochen. Deutschland schied ohne Sieg in der Vorrunde aus. Die Im Studio mit Waldemar Hartmann Zeit für etwas Neues war gekommen. Rudi Völler, der Im öffentlichen Gedächtnis wird diese Leistung aber eigentlich nicht mal ein Jahr als Teamchef der Natio- überlagert von seiner Rede nach einem 0:0 gegen Is- nalmannschaft hätte bleiben sollen, hatte das erkannt land. Der impulsive Hesse hatte direkt nach dem Spiel und den Weg frei gemacht, obwohl die WM im eigenen die Nörgeleien des ARD-Duos Günther Netzer/Gerhard Land nur noch zwei Jahre entfernt war. Delling mitbekommen und im Interview mit Walde- Der DFB versank in den Wochen danach dennoch in mar Hartmann seiner Wut mit Sätzen wie „So einen Panik. Aber nur so war es ihm möglich, den als Bun- Scheiß lasse ich mir nicht länger gefallen…“ freien Lauf destrainer mit vielen Traditionen brechenden Jürgen gelassen. Seiner Popularität hat das gar nicht gescha- Klinsmann zu dessen Bedingungen zu installieren und det. Der Vorgang gehört längst zum Inventar der deut- die Moderne zu betreten.

20 Steiniger Weg zum Sommermärchen

Mit viel Schwung und neuen Konzepten stieg Jürgen Klinsmann 2004 beim DFB ein. Das provozierte Widerspruch, doch der Erfolg gab ihm recht. Von Christiane Mitatselis

Foto: dpa

s ist ein sonniger Tag Ende Juli 2004, an dem Jürgen Kind soll wieder den Wunsch haben, Nationalspieler zu EKlinsmann und Oliver Bierhoff freundlich lächelnd werden.“ in die DFB-Zentrale in rauschen. Die beiden Weltmeister werden beim Turnier im eigenen Land? ehemaligen Nationalspieler nehmen auf dem Podium Den Nachwuchs begeistern? Die Aussagen mögen heu- neben dem damaligen Verbandspräsidenten Gerhard te banal klingen, damals waren sie jedoch verwegen. Mayer-Vorfelder Platz – und erzählen, was sie sich für Die Nationalmannschaft befand sich 2004 in einem die nächsten zwei Jahre mit der Nationalelf vorgenom- traurigen Zustand. Bei der EM in Portugal, die Anfang men haben. Als Bundestrainer Klinsmann und Team- Juli zu Ende gegangen war, schied die von Rudi Völ- manager Bierhoff. ler gecoachte Auswahl in der Vorrunde aus. Völler trat Klinsmanns zentrale Sätze: „Mein Wunschgedanke zurück. Zwei Jahre zuvor hatte die Nationalelf mit ihm geht dahin, ein Spielsystem Schritt für Schritt aufzu- zwar in Korea noch das WM-Finale erreicht. Bei der bauen, das nach vorne gerichtet ist.“ Und: „Ich weiß, EM lief jedoch nichts mehr. Kein Tempo, keine Offen- dass die Fans in unserem Land vor allen Dingen einen sivkraft, keine modernde Taktik. Wunsch haben, nämlich, dass wir die WM 2006 ge- Klinsmann sollte es gelingen, das Team wiederzube- winnen. Das ist auch mein Ziel.“ Bierhoff meint: „Jedes leben. Er wird sogar als Vater eines Sommermärchens

21 Deutschlands WM- Trainer 2006 in die deutsche Fußball-Histo- rie eingehen. Sein Weg dorthin ist allerdings steinig. Die DFB-Funktionäre und Bundes- liga-Manager wissen zwar, dass sie Entwicklungen verschlafen haben, dass sich deshalb vieles ändern muss. Der frühere Weltklassestür- mer aus dem Schwabenland packt die Dinge jedoch forsch und eigen- sinnig an. Er entscheidet knallhart und umgibt sich ausschließlich mit Menschen, denen er zu 100 Prozent vertraut. Auf manche mag es wie Abschottung gewirkt haben. Protest ist programmiert. Bald nach seiner Präsentation -er nennt Klinsmann Joachim Löw, da- mals 44, zu seinem Co-Trainer. Klins- mann hat zwar einen Trainerschein, aber kaum Erfahrung als Coach. Und Klinsmann legt sich einen Stab aus Fachleuten für jeden Bereich zu. Das hat er sich aus dem US-Sport abge- schaut, Klinsmann ist mit einer Ame- rikanerin verheiratet und wohnt in Kalifornien. Die Nationalmannschaft Motivator: Klinsmann bei einer seiner Kabinenansprachen während der WM 2006 – bekommt einen Sportpsychologen, Szenen aus dem Film: „Deutschland. Ein Sommermärchen“. Foto: dpa einen Chefscout. Und dann springen plötzlich die US-Fitnesstrainer um Mark Verstegen mit trainer Sepp Maier auf dem Flughafen von Teheran ihren Gummibändern auf dem Platz herum, um die Na- mit, dass er gehen dürfe. Maier hat Klinsmann verär- tionalspieler zu drillen. In der kommt erste gert, denn er hat über gesagt: „Er wird Skepsis auf. Brauchen wir so etwas? Sind das die richti- nie die Nummer eins.“ Zu Maiers Nachfolger bestimmt gen Methoden für unsere Profis? Klinsmann zieht sei- Klinsmann Andreas Köpke, der bis heute im Amt ist. nen Plan durch. Beim 2:0 gegen den Iran feiert der 20-jährige Per Mer- tesacker sein Länderspieldebüt. Er steht für den von Ballack wird Kapitän Klinsmann eingeleiteten Verjüngungsprozess. Er macht Michael Ballack zum Kapitän seiner Mann- Das Jahr 2005 läuft gut. Beim Confed-Cup im Juni in schaft – sportlich nachvollziehbar, allerdings muss er Deutschland, dem Turnier vor der WM, verkauft sich dazu Torwart Oliver Kahn absetzen. Doch der Sturm die Nationalelf ordentlich. Im Halbfinale in Nürnberg legt sich. Denn bei Klinsmanns Länderspiel-Heimpre- verliert sie erst nach großem Kampf 2:3 gegen Brasi- miere in Berlin im September 2004 gelingt ein 1:1 ge- lien. Im Spiel um Platz drei erreicht die Nationalelf in gen Brasilien, den Weltmeister von 2002. Damit sind Leipzig in Unterzahl ein 4:3 n.V. gegen Mexiko. „Wir alle zufrieden. Der nächste Knall folgt jedoch prompt. sind in einem Jahr enorm gewachsen“, kommentiert Im Oktober teilt Klinsmann dem langjährigen Torwart- Klinsmann zufrieden.

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Das Trainerteam mit Köpke, Klinsmann, Löw und Teammanager Bierhoff (v.l.) feiert in Berlin WM-Platz drei. Foto: dpa

Es ist die Ruhe vor dem Sturm. In der Bundesliga wird WM. Es ist eine Entscheidung für das moderne Spiel, immer heftiger kritisiert, dass Klinsmann nicht aus den sinnbildlich für Klinsmanns Amtszeit. „Jens verkörperte USA nach Deutschland ziehen wolle. Außerdem ist von eher die damals noch neue Philosophie, bei der sich Kommunikationsproblemen zwischen ihm und der Liga der Torhüter mehr ins Spiel einschaltet. Das hat letzt- die Rede. Bei einem Krisengipfel im Herbst in Frank- lich den Ausschlag gegeben“, sagte Klinsmann kürzlich furt muss Klinsmann akzeptieren, dass ihm eine vom der „Zeit“. Mitte Mai 2006 gibt er seinen WM-Kader be- Bayern-Granden Uli Hoeneß angeführte Task Force zur kannt, er beruft überraschend den Debütanten David Seite gestellt wird. Er darf jedoch in den USA wohnen Odonkor. Das Glück ist fortan mit Klinsmann. Odonkors bleiben. Der Bundestrainer hat zudem die „Bild“-Zei- Sprint in der Nachspielzeit der WM-Vorrundenpartie tung gegen sich, da er ihr keine Vorzugsbehandlung gegen Polen, seine Flanke auf Olivier Neuville, der das gewährt. 1:0-Siegtor schießt, gilt heute als der Schlüsselmo- ment, der das WM-Sommermärchen möglich machte. Volle Breitseite vom Boulevard Der Funke springt über. Klinsmanns Mannschaft reißt Nachdem die Nationalelf am 1. März 2006, also gut das Publikum mit, das Land zelebriert bei bestem Wet- drei Monate vor dem WM-Start, in Florenz 1:4 gegen ter eine WM-Party von ungeahnter Dimension, die Italien verliert, bekommt Klinsmann volle Breitseite: auch nicht endet, als die Nationalelf im Halbfinale in „Grinsi-Klinsi – was gibt es da zu lachen?“, fragt das der Verlängerung mit 0:2 an Italien scheitert. Im Spiel Boulevard-Blatt und zeigt ein Foto des lächelnden Bun- um Platz drei gelingt ein 3:1 gegen Portugal. Als die destrainers. Im ganzen Land wird darüber diskutiert, WM vorbei ist, will der DFB Klinsmann halten. Auch die ob man den Coach noch austauschen solle, um ein „Bild“ hofiert ihn nun. Doch Klinsmann sagt nein. Es sei WM-Desaster zu verhindern. für ihn ein Projekt für zwei Jahre gewesen – er schlägt Klinsmann darf bleiben, und er bleibt mutig. Im April seinen Assistenten als Nachfolger vor. Acht Jahre spä- beendet er die Rotation im Tor und macht Jens Leh- ter erreicht Löw in Brasilien das erklärte Ziel: den WM- mann – und nicht Kahn – zu seiner Nummer eins für die Sieg mit Offensiv-Fußball.

23 „Jetzt zeig der ganzen Welt, dass du besser bist als Messi“ – mit diesen Wor- ten schickte Löw Mario Götze ins WM-Finale. Foto: imago/ sportfoto- dienst

Die Sehnsucht nach dem totalen Triumph Joachim Löw hat seine Karriere mit dem WM-Titel 2014 längst gekrönt, doch der Bundestrainer will weitere große Siege, zum Beispiel 2018 in Russland. Von Christian Löer

m 12. Juni startet die deutsche Nationalelf in die geht. Er ersann die Pläne, mit denen auf die Taktik des Aletzte Phase dieser Weltmeisterschaft, mit der jeweiligen Kontrahenten zu reagieren sein wird. Und Landung in Moskau und dem Bezug des Quartiers in er beschwor den Mannschaftsgeist, das ist traditionell Watutinki südwestlich der russischen Hauptstadt rü- besonders wichtig für das deutsche Turnierglück. cken die Spiele in greifbare Nähe. Die vorentscheiden- Mit Erfolg, offenbar, denn der 2018er-Geist muss sich den WM-Tage fanden allerdings bereits zuvor in Süd- im Vergleich mit seinen Vorgängern offenbar nicht ver- tirol statt. Zum dritten Mal in Serie war die Sportzone stecken: „Das ist ein sehr guter Geist, der hier entwi- Rungg Schauplatz der deutschen WM-Magie. Hier leg- ckelt worden ist“, meldete Löw schon nach wenigen te Joachim Löw die körperlichen Grundlagen, um sei- Tagen in Südtirol. ner Elf den entscheidenden Vorsprung zu verschaffen, Der Teamgeist ist eine der wichtigsten Kräfte im deut- wenn es in den K.o.-Spielen um Sein oder Nichtsein schen WM-Tross, doch von allein erscheint er nicht.

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„Jeder muss wissen, dass er nur ein Puzzleteil ist. Al- lein kann niemand Weltmeister werden, egal, wie vie- le Tore er macht. Er braucht alle anderen. Wenn das jeder versteht, gibt es einen guten Lauf“, erklärt der Bundestrainer. Löw ist einen weiten Weg gegangen mit der Nationalelf. Als Jürgen Klinsmann im Sommer 2004 das tief ge- stürzte Prunkstück des deutschen Fußballs übernahm, stand Löw zwar im Schatten des ehemaligen Starstür- mers, zumal Löw der erst dritte Bundestrainer in der Geschichte des deutschen Fußballs ist, der nie ein A-Länderspiel bestritten hat. Doch als er von Klins- mann übernahm, wurde bald offenbar, dass es der deutschen Elf an nichts fehlte. Löw wusste, wie es geht. Dem WM-Rausch von 2006 ließ Löw in seinem ersten Turnier als Alleinverantwortlicher das Finale bei der EM 2008 folgen, als Deutschland an den Spani- ern scheiterte – an jenen Spaniern, die auch 2010 im WM-Halbfinale von Durban noch unschlagbar waren, als sie mit ihrer Jahrhundertgeneration nach der EM auch noch die Weltmeisterschaft gewannen. 2012 war das Jahr, in dem tatsächlich einmal etwas schiefging, was Löw angefasst hatte. Mit einer Mann- schaft, die stark genug für den Titelgewinn schien, unterlag er den Italienern, weil er die falschen Mittel Lukas Podolski verbrachte beinahe ihre gesamte Länderspielkar- gewählt hatte gegen Passgenie Andrea Pirlo. riere mit Joachim Löw. Foto: dpa

Souveränes Scheitern bald verziehen. Löw ist dennoch nie vereinnahmt wor- Löw war schon damals souverän genug, sein vollum- den von seinen Mitbürgern, das mag daran liegen, dass fängliches Scheitern zu erklären – und daraus zu ler- sie ihn nie wirklich zu fassen bekommen haben. Gera- nen. Er kam wieder auf die Beine und machte sich de zu Beginn seiner Zeit als Bundestrainer war er vielen bereit zum großen Wurf, dem Titelgewinn in Brasilien. suspekt. Er trieb der Nationalmannschaft das Kegelklu- Seit dem WM-Sieg von Rio 2014 gilt Löw als der Voll- bartige aus. Wenn sich der DFB-Tross heutzutage auf endete. Reisen begibt, sind nur noch Spezialisten dabei. Nichts Bei der EM in Frankreich zeigte die Mannschaft im an dieser Mannschaft riecht mehr nach Schweiß, und Halbfinale gegen Frankreich 2016, dass sie einen wei- bierselige Männerrunden beim Kartenspiel im Mann- teren Schritt getan hatte in ihrer spielerischen Entwick- schaftsquartier sind längst unvorstellbar. Löw war stets lung. Doch hatte sie in Marseille zu wenige Torchancen hervorragend angezogen, gut frisiert und hatte einen und zu viel Pech, um gegen eine fantastisch besetzte Werbevertrag mit Nivea. Gemeinsam mit der Vermark- Gastgeber-Mannschaft zu gewinnen. Allerdings sind tungs-Maschine Oliver Bierhoff, auch der ein Experte Niederlagen auf diesem Niveau verzeihlich. Die Luft auf seinem Gebiet, verpasste Löw der Nationalmann- in einem EM-Halbfinale ist extrem dünn. Jeder Feh- schaft ein neues Image. ler kann das Ende bedeuten. Dass Löw dem WM-Sieg Obwohl sie ihn beinahe zärtlich „Jogi“ rufen, ist Joa- nicht auch noch die EM folgen ließ, hat ihm das Land chim Löw den Leuten fremd geblieben. Womöglich

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Die Erfüllung beim WM-Sieg im Maracana von Rio de Janeiro Foto: dpa auch deshalb, weil es mehrere Löws zu geben scheint: nicht über das Turnier in Russland hinaus, doch kann Den Hauptstadt-Löw, der sein gesellschaftliches Leben er sich vorstellen, dass es am Ende dieses Sommers von einem Penthouse in Mitte aus organisiert. Ein ge- einen Umbruch geben könnte. Die EM 2020 als Über- pflegter Mann, der nicht fremd wirkt in Gegenwart der gangsturnier, dann eine weitere Weltmeisterschaft mit Schönen, Reichen und Mächtigen der Hauptstadt. Der einem verjüngten Kader – offenbar sieht Löw genug allerdings nach wie vor im Breisgau immer wieder in Talent nachwachsen, um den Weg weiter zu gehen. Er sein weitgehend unbehelligtes Leben zurückkehrt. scheint sich nicht zu sorgen, dass er in zwei Jahren vol- Und dann gibt es noch den Turnier-Löw, der in den ler Wehmut auf die großen Jahre zurückblicken könnte. vergangenen Wochen wieder eine Position in der öf- Dabei hat Joachim Löw schon viele Abschiede ertragen fentlichen Wahrnehmung eingenommen hat, die ihn in müssen. Seit er 2006 Jürgen Klinsmann verlor, seinen die Nähe der Bundeskanzlerin führt. Jürgen, sind Spieler wie Lahm, Schweinsteiger, Podolski und Mertesacker und all die anderen gegangen. Nach Beruhigend ergraut dieser WM könnte es weitere Rücktritte geben, auch Beinahe fühlt es sich beruhigend an, dass Löw äußer- das ist das Los eines Bundestrainers. lich ein wenig gealtert ist seit der EM in Frankreich. Doch Joachim Löw hat noch die Kraft in sich, einen Das Haar ist zwar immer noch verblüffend voll, doch es weiteren Neubeginn zu wagen. Weltmeister ist man ist erheblich grauer geworden; nun, da er 58 Jahre alt zwar für immer, doch will er noch einmal das Gefühl ist. Neulich erst hat er seinen Vertrag beim Deutschen des totalen Triumphs. Die Vollendung seiner Karriere Fußball-Bund verlängert, er wird die Nationalelf auch ist längst erfolgt. Doch auf Joachim Löws Ehrenrunde noch während der WM 2022 in Katar betreuen. Die gibt es nach wie vor Siege zu feiern. Ein Triumph am nächste WM sei noch einmal eine gute Motivation für 15. Juli in Moskau – er würde sich anfühlen, als sei es ihn, hat er neulich in Eppan gesagt. Er denkt zwar noch das erste Mal.

26 Impressum Verlag M. DuMont Schauberg GmbH & Co. KG Expedition der Kölnischen Zeitung Amsterdamer Str. 192 50735 Köln

Redaktion: Carsten Fiedler (verantwortlich) Stephan Klemm, Frank Nägele, Christian Löer, Christiane Mitatselis

Gestaltung: Timo Schillinger 27