Christoph Bausenwein

ECKENBAUER – die ganze Welt kennt diesen Namen: der herausragende B Spieler, der erfolgreiche Teamchef, der souveräne Weltmeister, die Lichtgestalt, der Frauenschwarm und biedere Popstar. Ein Mann, der für alles werben kann, der heute das und morgen das genaue Gegenteil davon behauptet. Der „Kaiser“, der seiner Heimat Deutschland das Sommermärchen 2006 besorgte und bis heute nicht versteht, warum sein Vorgehen von damals angezweifelt, gar für illegal erklärt wird. Kurz: ist ein Phänomen mit vielen Facetten, von denen Autor Christoph Bausenwein in diesem Buch die wichtigsten BECKENBAUER einer ganz genauen, zugleich charmanten Beobachtung unterzieht.

Es gibt keine größere Fußballlegende in Deutschland als Franz Beckenbauer. BECKENBAUER INHALT

BOWAZU Erste Erfolge am Ball...... 6 WATSCHN vom König der Löwen ...... 9 BECKMANN Ein unmoralischer Außenläufer gefällt Herberger ...... 11 SCHWAMMERL Ah, geht’s weiter – der Franz und die Unbegabten ...... 14 FORMAT Glänzendes DFB-Debüt in Schweden ...... 18 PITTERS PECH Das Vorspiel zum Libero ...... 20 MAILAND Hier spielte die Musik...... 22 LEUCHTENDER STERN Jungstar bei der WM in England ...... 24 GUTE FREUNDE Ein Sänger in Fußballschuhen...... 27 IMMER OBEN Der Geldmacher Robert Schwan ...... 29 LIBERO Die große Freiheit auf dem Platz ...... 32 KAISER Mehr als ein Fußballkönig ...... 37 ANTIPOLITIKER Der Brandt-Satz ...... 41 OFFIZIER Der bandagierte Held ...... 44 SUPERTRUPPE unterm luftigen Zeltdach ...... 47 SCHICKERIA Promi unter Promis, fesch und frei ...... 52 RAMBA ZAMBA Die Jahrhundertelf ...... 56 PUTZER Des Kaisers Lebensversicherung ...... 59 LIBERO Der Filmfl op ...... 62 EUROPAPOKAL Die Bayern-Krönung in Brüssel ...... 64 SCHLENZER Tor des Monats, März 1974 ...... 66 PRÄMIENPOKER in Malente ...... 67 DIE NACHT VON MALENTE nach Sparwassers Coup ...... 70 NÄCHTENS ZU HEIDI im Lastenaufzug ...... 74 WELTMEISTER 7. Juli 1974...... 75

4 EKLAT beim Bankett ...... 77 FLANIERER im Europapokal ...... 79 EIGENTORE von Europas Bestem ...... 83 NEUE WELTEN bei Cosmos New York...... 86 AMIGOS Bericht eines Finanzbeamten ...... 92 ABSCHIED in Hamburg ...... 96 TEAMCHEF Eine narrische Idee ...... 98 ZAUBERER im ZDF-„Sportstudio“ ...... 101 OBERHIRSCH UND SUPPENKASPER Chaostage in Mexiko ...... 103 HORRORTAKTIK Krieg mit Bild ...... 107 LICHTGESTALT In Rom auf dem Gipfel ...... 111 DIREKTOR beim Patron in Marseille ...... 116 KLEINE BALLSUCHT Der Hobbygolfer & seine Flightpartner ...... 118 COMEBACK – nur als was?...... 119 FERNSEHEXPERTE auf allen Kanälen ...... 123 NOTHELFER Meistertrainer als Vizepräsident ...... 127 PRÄSIDENTEN-COUP Ohne Otto zum „Cup der Verlierer“ ...... 131 MULTIPLE PERSÖNLICHKEIT in Wort und Bild ...... 135 FRAUEN an des Kaisers Seite ...... 139 KAISERGROLLEN vor dem Europapokal-Triumph ...... 143 WERBEKAISER nicht nur zur Weihnachtszeit ...... 146 ENTMACHTUNG Der Kaiser wird Frühstücksdirektor ...... 150 DENKMAL für den Sommermärchen-Macher ...... 154 SCHATTENGESTALT im Funktionärssumpf ...... 160 RÜCKZUG und was bleibt ...... 165

5 Zurück in die Kindheit: in die Kindheit: Zurück Zugspitzstraße 6. Zugspitzstraße Franz Beckenbauer Beckenbauer Franz groß geworden ist. Früher Früher ist. geworden groß Münchner im Hauses des Stock 4. den auf deutet 2, 2, St.-Bonifatius-Platz er dem in Giesing, Stadtteil lautet die Adresse heute: heute: Adresse die lautet

imago images / WEREK Wir hatten uns eigentlich eine Tochter gewünscht. Wir hatten auch schon einen Namen: Erika. Auch an Franziska BOWAZU haben wir gedacht. Na, und dann wurd’s halt der Franz. Erste Erfolge am Ball Antonie Beckenbauer (Mutter)

ier Monate nach Kriegsende, München war eine Stadt in Schule. Nach den Hausaufgaben spielten wir mit unseren VTrümmern, da wurde am 11. September 1945 um 22 Uhr Freunden in der ‚Bowazu-Mannschaft‘: eine kleine Auswahl und 25 Minuten der kleine Franz als Sohn des Postobersekre- von Jungs aus dem Viertel, eben aus der Bonifazius-, Watz- tärs Franz Beckenbauer und dessen Frau Antonie im Kran- mann- und Zugspitzstraße. Zuerst war der Franz noch Ball- kenhaus in der Richard-Wagner-Straße geboren. Zusammen junge, doch dann durfte er mitspielen, und es stellte sich mit seinem vier Jahre älteren Bruder Walter wuchs Franz schnell heraus, dass er sehr talentiert ist.“ im Stadtteil Giesing auf. Am St.-Bonifatius-Platz 2, 4. Stock, Angefangen hatte der kleine Franz mit einem Wollknäuel. bewohnte die Familie gemeinsam mit Antonies Schwester Mit Fünf oder Sechs hatte er einen Stammplatz in der „Bo- Frieda, deren beiden Söhnen und Großmutter Katharina bis wazu“, die bald mit einem echten Lederball richtig kicken 1950 eine Vierzimmerwohnung. Toilette zwischen den Stock- konnte: Mit dem Austragen von Zeitungen und dem Sammeln werken im Treppenhaus. von Altpapier brachten die Brüder Beckenbauer das Geld für Giesing zählte zu den ärmsten Vierteln Münchens, die die Anschaffung zusammen. Franz war mit Feuer und Flamme Verhältnisse waren bescheiden, schwere Not aber litten die dabei. „Wenn er sich zum Kicken auf die nahe Wiese verab- Beckenbauers nicht. Franz, der eigentlich ein Mädchen hätte schiedete“, berichtete Mutter Antonie einmal, „war er unten, werden und Franziska hätte heißen sollen, war mit Unterge- bevor ich von der Tür ans Fenster kam. Die Nachbarn haben wicht zur Welt gekommen und blieb lange ein schmächtiger ihn ‚Akute‘ genannt. Das kam vom Krieg. Da mussten wir bei Junge. Aber es gelang ihm bald, seine körperliche Unterlegen- ‚akuter Luftgefahr‘ schnell in den Luftschutzkeller.“ Auf dem heit durch Bewegungstalent zu kompensieren. Die „Martins- Platz war der Franz bald als schlechter Verlierer berüchtigt. wiese“ beim Sportplatz des SC 06 wurde seine eigentliche Einen besonderen Moment gab es am 6. Juli 1954, als am Heimat. Vater Franz hielt zwar überhaupt nichts vom Fußball, Münchner Bahnhof der Sonderzug mit den „Helden von Bern“ aber Mutter Antonie unterstützte den Junior in seinen Wün- einfuhr. „Ich war fußballnarrisch“, erinnerte sich seine Mutter schen stets nach Kräften. Antonie gegenüber dem Beckenbauer-Biografen Torsten Kör- Walter Beckenbauer erzählte, wie es losging: „Ob Regen ner: Als die deutsche Weltmeister-Mannschaft aus der Schweiz oder Schnee – wir waren immer draußen, richtige Straßen- per Zug auf Triumphfahrt durch Deutschland ging, nahm sie kinder, für die es damals nur zwei Dinge gab: Fußball und Walter, 13, und Franz, 9, an die Hand und pilgerte mit ihnen

7 Die Helden von Bern zu Gast in München 1954: Kapitän , DFB-Vizepräsident Hans Huber und Trainer Sepp Herberger (v.l.) Horstmüller

Stolz auf seinen Lederball und die deutschen Weltmeister: Sein erster Trainer hieß Franz Neudecker. „Ich bin viel-

der kleine Franz leicht erschrocken“, erinnerte sich Beckenbauer. „Der lief auf Privat Privat zwei Krücken, weil er im Krieg ein Bein verloren hatte. Dann sagt der zu mir: ‚So, jetzt üben wir Zweikampf!’ Ich bin auf zum Münchner Hauptbahnhof. Der kleine Franz hatte Mühe, ihn zu, aber der war so schnell mit seinen Krücken, ich bin überhaupt etwas zu sehen: Von den Menschenmassen schon nicht vorbeigekommen, und wir sind beide gestürzt. Der war in der Schillergasse aufgehalten, kletterte er auf das Dach so schnell wieder auf seinem Bein, da lag ich noch rum.“ einer Bretterbude – und erspähte von dort, wie die Weltmeis- Das erste Pfl ichtspiel bestritt Franz schließlich im August ter zu ihrer Triumphfahrt durch München starteten. Allen 1956. Daneben kickte er in der Schul- und Kirchenmann- voran Sepp Herberger und Fritz Walter im Mercedes-Cabriolet. schaft – in der Heilig-Kreuz-Kirche wirkte er als Aushilfsmi- Franz kickte da schon beim SC 06. Mit Skistiefeln! „Meine nistrant – und zeigte auch in anderen Ballspielen sein Talent: ersten Fußballschuhe waren Skistiefel, die der Schuster bei uns Als Schüler holte er die Stadtmeisterschaft im „Ball über die im Rückgebäude in München als Fußballschuhe hergerichtet Schnur“ und im Handball. Aber vor allem sorgte er im Trikot hat.“ Erst als Zehnjähriger habe ihm ein Gönner zu Weihnach- des SC 06 für Furore: Rasch sprach es sich herum, dass es ten ein Paar Adidas-Schuhe geschenkt. „Mit denen bin ich am da einen feingliedrigen Außenstürmer gab, dem der Ball am Heiligen Abend ins Bett gegangen. In meinen Armen habe ich Fuß zu kleben schien und der Tor um Tor schoss. Kurz: ein sie ganz fest gehalten, damit sie mir ja keiner mehr wegnimmt.“ Riesentalent.

8 WAT S CH N vom König der Löwen

ls Beckenbauer zwölf Jahre alt war, drohte sich die Ju- bezeichnet, dann habe er diesen mehrmals umspielt, ein Tor Agendabteilung des SC 06 aufgrund Spielermangels aufzu- geschossen und gesagt: „Na, da schaust, du Depp.“ In einer lösen. Der bereits als Könner umschwärmte Franz liebäugelte anderen Erzählvariante schob er dem Gegner den Ball durch mit einem Wechsel zur damaligen Nummer eins in München: die Beine und erzielte danach ein Tor. den Löwen des TSV 1860. Zum Saisonabschluss im April 1958 Also, wie war es denn nun? Am 31. Mai 2010 präsentierte trat der Mittelstürmer Beckenbauer bei einem Jugendturnier ein schelmisch grinsender Moderator Wolfgang Nadvornik in Neubiberg südöstlich von München an – und traf dort auf in der TV-Sendung „Blickpunkt Sport“ den angeblich echten die Mannschaft der Sechziger. „Es war eigentlich klar, dass Übeltäter: Gerhard König aus Füssen, 66 Jahre alt, ehema- ich zu Sechzig gehe“, erzählte Beckenbauer später. „Die Sech- liger Wirt des „Waldwinkel“ und des „Adler“, einst Jugend- ziger und Giesing, das war eins, und Schwabing mit seinem spieler des TSV 1860 und später für den Drittligisten TSG neureichen FC Bayern weit weg.“ Aber in diesem Spiel habe Pasing als Torwart am Ball. Während eines Namibia-Urlau- ihm ein Löwe hinter dem Rücken des Schiedsrichters eine bes habe sich König einem Bekannten als „Watschnmann“ Watschn verpasst, und ihm sei klar gewesen: „Zu dem Ver- geoutet, beim Bayerischen Rundfunk habe man davon erfah- ein gehe ich nicht.“ Verletzter Stolz als Auslöser für den wohl ren und – 52 Jahre nach dem Geschehen! – die ehemaligen folgenreichsten Vereinswechsel im deutschen Fußball – jeder Kontrahenten für „Blickpunkt Sport“ zu einem Treffen ins Bayern-Fan kennt die Geschichte von der „Watschn“. Aber wie Olympiastadion eingeladen. ging es dabei eigentlich genau zu? Die Geschichte lautete nun so: „Irgendwie waren wir uns nicht sympathisch“, so Beckenbauer. König, sonst immer im Franz Beckenbauer lieferte im Lauf der Zeit unterschiedli- Tor stehend, hatte in dem besagten Spiel als Verteidiger aus- che Versionen. Mal sprach er von einem Mittelläufer namens geholfen: „Der Franz hat mich ausgespielt, ich habe ein Tack- Bauernfeind, mal von einem kräftigen Spieler namens Jahnke, ling gemacht, daraufhin gab ein Wort das andere, und ich mal von einem gegnerischen Betreuer, dann wieder von habe ihm die Watschn gegeben.“ Beckenbauer hörte schmun- einem Unbekannten. Mal berichtete er nur ganz knapp von zelnd zu: „Es hat mich wahnsinnig geärgert.“ Er sei damals einem „Deppen“, mal malte er die Sache aus: Da sei ihm ein als Bub „schon ein bisschen frech“ gewesen, „gut möglich, großer Junge gegenübergestanden, der habe ihn als „Depp“ dass es von mir ein paar entsprechende Worte gegeben hat.“

9 WATSCHN vom König der Löwen

Für mich wäre das kein Problem. Franz Beckenbauers Enkel Bundesligapremiere Luca 2020 zu einem möglichen gegen die „Blauen“: Wechsel zum TSV 1860, für Zum Saisonauftakt den bereits sein Vater Stephan am 14. August 1965 gekickt hat (1988 bis 1990) treffen die Bayern auf die Sechziger. Sie verlieren mit 0:1 durch ein Tor von Timo Konietzka, Beckenbauer ist machtlos (im Bild). Am Ende der Saison sind die Löwen Meister – und Beckenbauer kann sich fragen, ob er nicht doch lieber zu den Sechzigern hätte wechseln sollen. Bekanntlich entwickelt sich alles anders: Die Meisterschaft von 1966 ist die letzte des TSV 1860! imago images / Sven / Sven Simon images imago

Wie ging’s weiter? „Ich hatte die Szene nach dem Spiel Fans etwa, angestachelt durch den Traum, was mit einem schon wieder vergessen und ärgerte mich über unsere Franz Beckenbauer aus den Sechzigern hätte werden können. knappe 1:2-Niederlage“, so König in einem späteren Inter- Der abschließende Kaiser-Kommentar: „So, wie sich die view. „Bald danach bekam ich mit, dass er nicht zu uns wech- Dinge anschließend entwickelt haben, muss ich dem König seln würde, sondern zum FC Bayern. Und erst viele Jahre ja fast dankbar sein, dass er mir eine geschmiert hat.“ Ja mei, später erfuhr ich den Grund dafür.“ Aber warum hatte er so es wäre vermutlich schon schwer gewesen, als „Blauer“ eine lange geschwiegen? „Ich wollte es nicht publik machen, weil ähnliche Karriere hinzulegen. Aber warum musste der Franz ich eine Gaststätte besaß und Angst davor hatte, dass mir eigentlich so viele unterschiedliche Varianten und somit al- Chaoten vielleicht die Bude kaputt hauen“ – wütende Löwen- ternative Wahrheiten präsentieren?

10 BECKMANN Ein unmoralischer Außenläufer gefällt Herberger

m Jahr 1959, nach dem Abschluss der Hauptschule, begann hübschen Damen poussierte und es ihm schon früh nicht ge- IFranz Beckenbauer eine Lehre beim Versicherungsunter- nügte, nur in Haustüren zu stehen. Der junge Mann war nicht nehmen Allianz. Dort betrug sein erstes Lehrlingsgehalt nur am Ball ein Frühvollendeter, sondern auch am anderen 90 DM, mit 18 wurde er Sachbearbeiter in der Kfz-Abteilung Geschlecht früh vollendend: Während seiner Lehre bei der und verdiente 450 DM im Monat. Seine Aufgabe: Die Policen Allianz lernte er eine junge Frau namens Ingrid Krönke ken- mit den Endziffern 6 und 7 ordnen – es wäre ein weiter Weg nen, ein Jahr älter als er und damals eine Freundin von Sepp gewesen bis zum Chefsessel … Maiers späterer Frau Agnes. Ingrid brachte am 20. Oktober Seinen Weg machte Beckenbauer auf dem Fußballplatz, 1963 ein uneheliches Kind zur Welt. Was für ein Skandal! ab der Saison 1959/60 in der C-Jugend des FC Bayern Mün- Eine nach den damaligen Moralvorstellungen kaum verzeih- chen. Der Stürmer sorgte auf Anhieb für Aufsehen: Er erzielte liche Schande. Entsprechend sah sich auch der Deutsche mehr als 100 Tore. Sein Mitspieler und Freund Wolfgang Fußball-Bund (DFB) zum Handeln gezwungen. Steiner, schon beim SC München 06 mit ihm in einer Mann- Für die Verbandsfunktionäre wurde Beckenbauer wegen schaft aktiv, erzählte über diese Zeit: „Franz war nicht immer seines „unmoralischen Lebenswandels“ zur „Persona non Abwehrspieler, sondern hat als halblinker Stürmer gespielt. grata“. Tatsächlich sollte er nach der Entscheidung des DFB- Ich erinnere mich an ein Vorbereitungsspiel in der B-Jugend: Vorstands nicht für das Spiel der DFB-Jugendauswahl gegen Wir siegten 25:0, Franz schoss 17 Tore. Franz war sehr ehr- die Schweiz am 8. März 1964 in Lörrach zugelassen werden. geizig und wollte immer gewinnen. Niederlagen waren ihm Aber dann traten der Jugendtrainer und schon damals regelrecht peinlich, sie störten seinen inneren kein Geringerer als Bundestrainer Sepp Herberger – dem Frieden.“ das außergewöhnliche Können des Hochbegabten natürlich Sein innerer Frieden wurde auch noch an einer anderen nicht entgangen war – als Fürsprecher des losen Talents Front erschüttert: Schon in sehr jungen Jahren entwickelte auf. Ausgerechnet der „Chef“, der noch bei der WM 1958 aus Beckenbauer ein Interesse für das andere Geschlecht. Zwar Gründen der moralischen Zucht die Stubenmädchen gegen schrieb er noch in seiner Biografi e „Einer wie ich“ (1975), männliche Hausangestellte hatte austauschen lassen! Bei der dass er „nie Sehnsucht“ danach gehabt habe, „mit Mädchen DFB-Sitzung, in der die Spieler für die Jugendauswahl nomi- in Haustüren zu stehen“. Tatsache ist aber, dass er gerne mit niert werden sollten, entlockte Herberger den Anwesenden

11 BECKMANN Ein unmoralischer Außenläufer gefällt Herberger

ihre Jugendsünden. Und vor diesem Hintergrund warb er schüchternen kleinen Jungen aus Mönchengladbach: Berti dann um Verständnis für den Sünder Beckenbauer: „Meine Vogts. Vor 5.000 Zuschauern legte ein leicht und locker auf- Herren, sie waren doch auch mal jung …“ spielender Beckenbauer eine fantastische Leistung hin und Die List des „Chefs“ wirkte, zumal man sich auf zusätz- erzielte beide Treffer zum 2:1-Sieg über die Eidgenossen. liche Sicherheitsmaßnahmen einigen konnte. Der neue Ju- Als er nach dem Spiel ein Fernsehinterview geben sollte, niorennationaltrainer Dettmar Cramer, eben erst von einer stauchte ihn Dettmar Cramer zusammen. „Was glauben Sie, Schulungsmission aus Japan zurückgekehrt, wurde damit wer Sie sind? Pelé, oder was? Sind Sie so naiv oder glauben beauftragt, den jugendlichen Schürzenjäger aufs Zimmer zu Sie, Sie können alles tun, was Sie möchten?“ Ein Jugendlicher begleiten. Cramer sollte dafür Sorge tragen, dass der keinen hatte damals keine Interviews zu geben. Am besten war, ihn Unsinn anrichten konnte und die anderen mit seiner Umtrie- erst gar nicht namentlich zu erwähnen. „Es war ein schönes bigkeit nicht ansteckte. Franz nahm das alles gelassen. Beim Spiel. Ich möchte keinen Spieler besonders herausheben, Zubettgehen fragte er: „Trainer, soll ich noch einen Witz er- denn es ist nicht richtig, den Jungen schon jetzt Flausen in zählen, bevor wir einschlafen?“ Es wurde eine Beziehung, die den Kopf zu setzen“, grummelte Bundestrainer Herberger lange hielt. Cramer war Beckenbauers Trauzeuge, als er 1966 dem Reporter der Badischen Zeitung in den Notizblock. Ob das erste Mal heiratete. Und der „Kaiser“ verhalf Cramer im er ihm auch aufgetragen hat, den Doppeltorschützen in sei- Januar 1975 ins Traineramt beim FC Bayern. nem Bericht nicht zu erwähnen, ist nicht bekannt. Ein Be- So also durfte der damals noch sehr offensiv ausgerichtete ckenbauer tauchte jedenfalls hernach in der Zeitung nicht Schlüpferstürmer im Stadion an der Haagener Straße auf der auf, dafür ein „Außenläufer Beckmann“, der zwei Tore erzielt Position des rechten Läufers sein Können zeigen. Abgeschirmt habe. Der Mann mit dem Namen Beckenbauer blieb ab jetzt wurde er dabei von einem bissigen rechten Verteidiger, einem für den DFB trotzdem gesetzt.

Über den Dingen schwebend: Beckenbauer (rechts oben) während eines Juniorennational­ mannschaftseinsatzes gegen die Niederlande im März 1964 Horstmüller imago images / Pressefoto Baumann Beckenbauer, 1964 Beckenbauer, Schlüpferstürmer: Schlüpferstürmer: SCHWAMMERL Ah, geht’s weiter – der Franz und die Unbegabten

ranz Beckenbauer war noch als Erwachsener der Meinung, W-M-System defensiver interpretiert wurde als im früheren Fdass ihn sein Jugendtrainer bei Bayern, Rudolf Weiß, 2-3-5-System, in dem dem mittleren Spieler der Läuferreihe wegen seines unehelichen Kindes „erst mal aus der Mann- zugleich die zentrale Position im Spielaufbau zugedacht war. schaft geschmissen“ habe. Der Trainer selbst hatte es anders Beckenbauer begnügte sich natürlich nicht damit, als bloßer in Erinnerung, es seien vielmehr „erzieherische Gründe“ ent- Stopper und Ausputzer nur defensiv zu agieren, er füllte die- scheidend gewesen. Das Verhalten des Jugendlichen auf dem sen Posten auch offensiv aus. Anfangs habe der Trainer vor Platz sei unhaltbar gewesen, er habe Schiedsrichterentschei- Angst gebrüllt, wenn er nach vorn gestürmt sei, erinnerte er dungen kritisiert und sich nach Fouls revanchiert, er habe sich. „Doch als er sah, dass ich auch Tore schoss, akzeptierte sich selbst oft nicht richtig freigelaufen, aber mit den Augen er diese Art.“ Eine Frühform des Liberos war damit geboren. gerollt, verächtlich abgewinkt oder einen Vogel gezeigt, wenn Die freimütige Lockerheit – positiv in der Art, wie er sich er nicht exakt angespielt wurde. Weil er dazu unentwegt über auf dem Platz bewegte, negativ in der Form des losen Mund- die „Nichtskönner“ gemosert habe – er bezeichnete sie am werks gegenüber Spielern, Schiedsrichtern und Zuschauern liebsten als „Schwammerl“ (bayerisch für Pilze), aber auch und kritisch bewertet hinsichtlich seines Lebenswandels ab- als „Würschtl“, „Pickerl“ (Pickel), „Blinde“ oder ironisch seits des Rasens – wird ihn durch seine ganze Karriere be- „Zauberer“ –, habe er mit dem jungen Mann, so Rudolf Weiß, gleiten. Zum Fallstrick ist sie ihm nicht geworden, weil er als „viel über Disziplin und bewussten Einsatz diskutiert“ und Fußballspieler in seiner unnachahmlichen Art alle überragte ihn schließlich, da er sich nicht besserte, für drei Monate in und im sonstigen Leben immer lächelte und nie dazu neigte, die Reserve versetzen müssen. sich einen dicken Kopf zu machen. Bald nach seiner Rück- Um seinem Supertalent mit dem hohen Anspruch end- kehr in die erste Jugend des FC Bayern durfte das Jungtalent gültig die Hörner zu stutzen, beorderte ihn der Trainer beim DFB ran. Eine Karriere als professioneller Fußballspie- zudem ins Abwehrzentrum. Der Beckenbauer, begründete ler zeichnete sich ab … Weiß, habe eine Aufgabe gebraucht, um endlich das mann- Im Februar 1964 unterschrieb Franz Beckenbauer senior schaftsdienliche Spiel zu erlernen und seine Überheblich- für seinen noch minderjährigen, erst 18 Jahre alten Sohn einen keit abzulegen. Mittelläufer hieß diese Position damals bzw. Dreijahresvertrag beim damaligen Regionalligisten FC Bayern. zurückhängender Mittelläufer, da sie im vorherrschenden Erster Verdienst: 140 DM Grundgehalt, mit Prämien maximal

14 SCHWAMMERL Ah, geht’s weiter – der Franz und die Unbegabten

Erster Profi trainer: Nach Unterzeichnung seines Arbeitspapiers beim FC Bayern bekommt es der 18-jährige Becken bauer mit Trainer Tschik Cajkovski zu tun. Horstmüller

15 KLEINE BALLSUCHT Der Hobbygolfer & seine Flightpartner

er Kaiser spielte als Fußball- Drentner anfangs häufi g Tennis, er wanderte oft in den Bergen, und er fuhr auch regelmäßig und gerne Ski – schließlich wohnte er gleich beim „Wilden Kaiser“ um die Ecke. Seine bevorzugte Spaß-Sportart aber wurde Golf. Aber was heißt eigentlich Spaß? Beim Golfen konnte man oft einen ausfl ippenden Wut-Kaiser erleben wie früher beim Fußball als Spieler oder Teamchef. „Das Schöne am Golf“, sagte der große spanische Profi Severiano Ballesteros einmal „ist, dass man es nie lernt.“ Genau deswegen wurde es auch für Franz Beckenbauer zur Sucht. Außerdem: Man spielt Golf ja nicht allein. Man konnte da auch gut Kon- takte knüpfen, geschäftliche Fäden ziehen oder einfach ein bisschen Spaß haben mit seinen Flightpartnern: mit den „Bild“-Kumpeln Herbert Jung und Alfred Draxler, Fußballfreunden wie oder guten Bekannten wie Sean Connery und Mick Jagger. Oder Gutes Spiel: Im Jahr 1985 auch mit Golfgrößen wie Bernhard absolviert Franz Beckenbauer Langer und Tiger Woods. 1993 spielte seine erste Runde Golf mit dem frisch gekürten US-Masters- der Hobbygolfer Beckenbauer ein res- Champions Bernhard Langer. / Sammy Minkoff images imago pektables Singlehandicap von –7.

118 Wenn der Franz morgen sagt „Der Ball ist rechteckig“ klatschen alle Beifall und schreiben: Endlich hat es mal einer gesagt. COMEBACK Otto Rehhagel (Trainer) – nur als was?

ls sein Stern 1966 aufging, trug Franz Beckenbauer die trologie für den Verstand. Die Jungfrau denkt deshalb gerne ANummer 4 auf dem Rücken, später als Libero die Num- über Gott und die Welt nach. Sie ist eine kritische Beobachte- mer 5. Der Teamchef jedoch vertraute bei der Weltmeister- rin ihrer Umwelt und neigt dazu, mit ihren weniger perfek- schaft in Italien 1990 ganz auf seine Lieblingszahl 6, die er ten Artgenossen etwas ungnädig umzugehen. selbst in New York getragen hatte. Damit die doppelt wirkte, Beim bekannten „Fußballspiel der Philosophen“, einem waren alle Koffer und Kleider mit der Nummer 66 gekenn- Sketch der Komikergruppe Monty Python aus dem Jahr 1972, zeichnet. Eine der großen Entdeckungen dieser WM-End- trägt eine Kaiser-Figur die Rückennummer 6. Sie tritt im Bay- runde im deutschen Team war Guido „Diego“ Buchwald, ern-Trikot an der Seite der in historischen Kostümen gewan- der im Finale Maradona keinen Stich ließ. Natürlich trug er deten Großdenker Kant, Hegel, Nietzsche, Schopenhauer (mit das Trikot mit der Nummer 6. Nach dem Finale äußerte der der Schwarzenbeck-Nummer 4) und Heidegger gegen die Teamchef: „Meine Lieblingszahl ist die 6. Als wir Weltmeister altgriechische Philosophennationalmannschaft an. „Becken- wurden, gegen Argentinien, das war mein 66. Länderspiel. bauers Aufstellung überrascht ein wenig“, sagt der Sprecher. Double Six. Da konnte überhaupt nichts schief gehen.“ Es war Nach dem Anpfi ff des Spiels gehen die Philosophen in ihre das letzte Länderspiel, das er betreute, was sollte denn auch Theorien versunken auf dem Spielfeld umher. Der Ball bleibt noch kommen? 2010 verzichtete er auf die Feier seines 65. unbeachtet von beiden Teams auf dem Mittelpunkt liegen, Geburtstages. Die große Party sei erst für das nächste Jahr „Beckenbauer“ steht verwirrt herum und lässt den Betrachter und den nächsten Geburtstag geplant: „Mit 66 fängt ja das im Dunklen darüber, was er in dem Sketch eigentlich zu su- Leben erst an.“ Und was bedeutet die 66? In Büchern über chen hat. In der 90. Minute ruft Archimedes „Heureka!“ und Astrologie und Kabbala erhält man folgende Aufklärung: animiert die Griechen, den Fußball zu benutzen. Auf Flanke Schwingung des vollkommenen Lichts der Sonne. Man hat von Archimedes kommt Sokrates zum Kopfball, der deutsche das Bild vor sich: Der Kaiser allein schreitend im Flutlicht am Torhüter Leibniz ist machtlos. Die Deutschen protestieren Mittelkreis, 1990 in Rom. mit philosophischen Argumenten, der inzwischen für Hegel Die Zahl 6 hat auch etwas mit dem Sternzeichen Be- eingewechselte Marx will ein Abseits gesehen haben. Doch ckenbauers zu tun. Die Jungfrau ist das sechste Zeichen des Schiedsrichter Konfuzius lässt sich nicht beirren: Griechen- Tierkreises. Ihr Planet ist der Merkur, und der steht in der As- land gewinnt mit 1:0.

119 COMEBACK – nur als was?

Franz Beckenbauer war zu dieser Zeit einer der welt- der er sich auch nach dem Ende der Beziehung immer wie- weit bekanntesten Fußballspieler, und wahrscheinlich haben der einmal ein Horoskop erstellen ließ. Auf die Frage, ob er die britischen Komikerikonen den Kaiser nur deswegen als sich danach richte, antwortete er typisch beckenbauerisch: Kontrastfi gur in ihren Sketch eingebaut (dessen Spielszenen „Manchmal.“ Bevor er 1977 nach Amerika ging, quälte ihn übrigens im Grünwalder Stadion gedreht wurden). Folgte die Sorge, was denn nach dem Ende seiner Karriere kommen man dem deutschen Kultur- und Ästhetikphilosophen Martin werde. „Ich habe Angst vor der Leere, die kommt, in die man Gessmann, wäre aber auch eine inhaltliche Begründung für fällt und nicht weiß, was man tun soll.“ die Nominierung Beckenbauers möglich gewesen. Derzufolge stellt der Libero Franz Beckenbauer für den Fußball genau Nachdenklich beim Golfen jenes Phänomen dar, welches der Fußball- und Beckenbauer- fan Martin Heidegger gerne für die politische Kultur gewesen Eine nachdenkliche Phase hatte Beckenbauer nach seinem wäre: ein geistiger Lenker und Gestalter. Daraus also kann Abschied aus Marseille Anfang der 1990er-Jahre, als er ge- geschlossen werden, dass der von Beckenbauer originär ge- rade nicht gar so viel zu tun hatte und mit Golfen allein nicht formte Libero in der ansonsten innovationsarmen deutschen ausgefüllt war. Da begann er mehr zu lesen und beglückte Fußballgeschichte der wohl wichtigste Beitrag Deutschlands das immer noch am kaiserlichen Empfi nden interessierte Pu- zur Taktikgeschichte des Fußballs ist – oder, wie man heute blikum mit frischen, an der Lektüre von Hesse, Konfuzius, gerne sagt – zur „Philosophie“ des Spiels. Laotse und Krishnamurti geschulten Gedanken, die immer Mit Intellektuellen, der Philosophie und den dazugehöri- wieder um die Themen Tod und Wiedergeburt kreisten. Dem gen Witzen konnte zumindest der junge Beckenbauer freilich legendären Paul Sahner, den die taz als „Gottvater der Intim- nicht viel anfangen. „Vielleicht ist das mit eine Krankheit, beichte“ bezeichnete, gab er im Oktober 1992 ein ebenso warum es vielleicht wirtschaftlich nicht so gut läuft, wie legendär gewordenes Interview für das Erotikmagazin Pent- man sich das vorstellt“, äußerte er sich in den 1970er-Jah- house. Daraus wurde der folgende Satz oft zitiert: „Wenn du ren einmal zum Thema Handwerkermangel: „Weil es zu viele mal als Mensch auf der Welt warst, hast du die Stufen Pfl anze Studenten, zu viele ‚Intellektuelle‘ gibt.“ Um seine Persön- und Tier überschritten. Vielleicht komme ich noch mal als lichkeit zu entfalten, benötigte er keine intellektuellen Spe- Frau zur Welt, dann kann ich Kinder kriegen.“ Die FAZ titelte renzchen, da genügte das Geviert des Fußballplatzes. „Wenn daraufhin: „Früherer Teamchef plant Comeback als Frau.“ ich zum Beispiel einen Schopenhauer lese – ich verstehe ihn Es blieb auch in der Frage der Wiedergeburt letztlich nicht“, bemerkte Beckenbauer einmal kurz und bündig. Im- offen, wie ernst Franz Beckenbauer seine Aussagen meinte. merhin hat er es probiert, griff aber im Regal dann lieber Man dürfe ja nichts zu wichtig nehmen, auch sich selbst tiefer und arbeitete sich durch Jostein Gaarders „Sofi es Welt“, nicht, antwortete er 1997 der Woche auf eine entsprechende „diesen dicken philosophischen Schinken“, und gewann aus seiner Lektüre Erkenntnisse: „Sokrates, Aristoteles, Platon und diese Leute haben sich vor zweitausend Jahren Gedan- ken gemacht, da sind wir noch auf den Bäumen gesessen und Franz träumerisch in New York: Als wer oder was wird der Mann mit der mystischen Nummer 6 wiederkehren? Als haben uns vor den Wildschweinen gefürchtet. Seither haben Briefmarke war er schon da: Andy Warhols Bild „Beckenbauer“ sich nur ganz wenige weiterentwickelt.“ von 1977 wurde 2006 in Österreich als 75-Cent-Marke vertrieben (Aufl age: 800.000). Der Erlös von insgesamt Beckenbauers Vorliebe für Zahlenmystik rührt wahr- 90.000 Euro ging zu gleichen Teilen an die Stiftung Deutsche scheinlich von Diana Sandmann her, einer Astrologin, von Sporthilfe und an die Franz-Beckenbauer-Stiftung.

120 imago images / WEREK imago images / Sabine Gudath COMEBACK – nur als was?

Frage: „Ich brauch nur nachts raufzuschauen, wenn sternen- klarer Himmel ist, ich schaue mir unser Sonnensystem an, Des Kaisers fernöstliche die Erde ist mit der kleinste Planet, von diesem Sonnensys- Lebensweisheiten (Auswahl) tem gibt’s noch Milliarden andere. Und da fragen Sie, wie wichtig ich bin?“ „Mir geht das Fußballgeschäft oft auf die Nerven. Der Kaiser zeigte sich als Esoteriker ebenso fl exibel wie Ich denke an Konfuzius, der gesagt hat: Fasse die Sorgen des Tages zusammen auf eine halbe Stunde, auf anderen Gebieten und konnte sogar, wie zum Beispiel und in dieser Zeit mache ein Schläfchen.“ im Jahr 2013, als er gerade als Werber für die Olympischen „Ich glaube an ein Ende, das irgendwie feststeht. Winterspiele in München unterwegs war und zusammen mit So eine innere Uhr, oder so ein Chip, der der Staatskanzleichefi n Christine Haderthauer oben auf dem dann plötzlich aufhört zu arbeiten.“ Olympiaturm einen Pressetermin wahrnahm, den Esoteriker „Wenn ich einmal den Schirm zumache, Beckenbauer im Auftrag des Werbeprofi s Beckenbauer spre- kann man über meinen Körper verfügen.“ chen lassen. Nach dem Philosophen Konfuzius, erläuterte er „Als Organspender bin ich selbst am Ende meines Lebens da, brauche der Mensch drei Dinge: Brot zum Essen, Wasser noch reich. Ich kann einem anderen das Leben schenken.“ zum Trinken und einen angewinkelten Arm zum Schlafen. „Ich habe keine Angst vor dem Tod. Der Tod ist „Das hat sich geändert“, fügte er wie immer charmant und das Leben. Du musst den Tod als Freund begreifen, leicht spitzbübisch lächelnd hinzu: „Der Mensch braucht der dich in ein anderes Leben begleitet.“ auch die Olympischen Spiele.“ „Ob wir noch einmal auf die Erde dürfen, wissen wir Apropos Turm: Die Vorsehung wollte es, dass Franz Be- nicht. Aber der Gedanke hilft dir doch, dass dein Leben nicht ganz sinnlos war, dass du was vollbracht hast. Stell ckenbauer an einem bestimmten Tag seinen Lieblingsturm dir vor, jetzt bist du so ein Prachtbursche, und dann nicht betrat. Während seines Aufenthalts in New York in den haut’s dich zusammen und das war’s dann. Das ist doch 1970er-Jahren und auch noch bei seinen jährlichen Besuchen nichts. In irgendeiner Form werden wir weiterleben.“ danach gehörte das im 107. Stock gelegene Restaurant „Win- „Ich glaube, es gibt nichts Schöneres, als einem Menschen dows on the World“ im Nordturm des von 1966 bis 1973 er- das Leben zu schenken. Wenn ich in stoffl icher Form wieder richteten World Trade Centers zu den Lieblingsplätzen des auf die Welt käme, wäre es keine schlechte Idee als Frau.“ Cosmos-Profi s. Man hatte dort während des Essens einen „Krishnamurti lehrt, das eigene Leben und die Umwelt täglich als etwas Neues, Unbekanntes zu erleben und so sich atemberaubenden Blick auf die Skyline von Manhattan. „Fast neuen Dimensionen der Schönheit und Fülle zu offenbaren.“ täglich, mindestens einmal die Woche“ sei er da oben gewe- „Am liebsten wäre mir eine friedfertige Welt, sen. „Das war mein Stammplatz.“ Und dann der 11. Septem- in der jeder die Menschen in zwei Gruppen einteilt, ber 2001. Niemand, der sich zum Zeitpunkt des Anschlags in die, die er liebt, und in die, die er achtet – und hier aufhielt, überlebte. Franz Beckenbauer, der an diesem die er wenigstens nicht verletzen will.“ 11. September seinen 56. Geburtstag beging, war so geschockt, „Mit dem Begriff Glück kann ich nichts anfangen. dass er New York jahrelang nicht mehr besuchte. „Für mich Glück ist mir zu scheinheilig.“ unvorstellbar, dass du nach New York kommst, und dann sind „Ich bin das Lieblingskind des Schicksals.“ die zwei Türme nicht mehr da.“ Und um das Thema hiermit „Ich bin doch nicht Jesus.“ abzuschließen: Der Mensch braucht nicht nur Glück, sondern „Meist tritt das Gegenteil von dem ein, was ich behaupte.“ er muss auch von der Vorsehung geleitet werden, um seine Geburtstagsparty nicht am falschen Ort zu planen.

122 FERNSEHEXPERTE auf allen Kanälen Wen der Kaiser sprich, lege selbs di Enge ihr Harfe a di Seit. Max Merkel (Meistertrainer & Sprücheklopfer)

eckenbauer hatte im Lauf seiner Karriere reichlich Erfah- historisch einmaligen Situation der Initialzündung von Be- Brung mit Werbeauftritten, Studiobesuchen, Interviews zahl- und Privatsendern als gleichsam unverzichtbares Kom- und Talkshows angesammelt, und nach seinem Aus in Mar- mentationsbeiwerk im Nukleus des Geschehens. Und ließ seille hatte er sich für eine neue Strategie entschieden. Am sich das gut bezahlen: Seine Gagen pro Engagement und Sai- 25. August 1991 erklärte er in einem Interview: „Meine Zu- son lagen im Millionenbereich. kunft liegt beim Fernsehen.“ Und zwar nicht bei der ARD Der Kaiser kommentierte zunächst beim Pay-TV-Sender oder beim ZDF. „Bei uns hat man im Ersten nichts und im Premiere Spiele der Bundesliga, dann im Free-TV bei RTL Zweiten auch nichts. Wenigstens fünf Programme wären gut“, auch die der Champions League, 1994 durfte er in der WM- hatte er sich schon früh fürs Privatfernsehen ausgesprochen. Sendung „Schau’n mer mal“ zudem als Oberkritiker von Berti Es schwebe ihm vor, „dass das private Fernsehen sich etab- Vogts’ DFB-Elf auftreten. Und so ging es ununterbrochen wei- liert, dass es sattelfester wird und dass ich als Fernsehkom- ter. Franz Beckenbauer wurde im Lauf der 1990er-Jahre auf mentator arbeite.“ allen Kanälen – samt seinen in den Pausen in Dauerschleife Der Kaiser kam genau zur richtigen Zeit, denn die Fern- laufenden Werbespots – omnipräsent. Wo immer der Ball sehlandschaft war eben erst dabei, sich grundlegend zu wan- rollte, da war auch der Kaiser, es schien fast so, als gehöre deln. Seit Mitte der 1980er-Jahre waren mit RTL und Sat.1 ihm das Fußball-TV persönlich. Und der Ball rollte immer Privatsender on air gegangen, seit März 1991 gab es mit Pre- häufi ger, bald beinahe täglich. Dem Dauerpräsenten war’s miere auch einen Pay-TV-Kanal. Genau in dem Moment, als nur recht. „Bei dieser Flut an Arztserien und unsäglich dum- diese Sender sich die Übertragungsrechte für den nationalen men Talkshows kann es gar nicht genug Fußball im Fernse- und internationalen Fußball sicherten, stand der kaiserliche hen geben.“ Und wohl auch nicht genug Beckenbauer. Denn Fußballinterpret mit seiner untrüglichen Witterung für neue der Franz wusste: Er lebte hauptsächlich von Werbeeinnah- Entwicklungen vor der Tür und besetzte in den entstehenden men, und wenn das gut funktionieren sollte, war es wichtig, Spielräumen mit all seinem Charisma beinahe jeden Win- in den Wohnzimmern als Kommentator präsent zu sein. Um- kel. Wie er in den Anfängen des öffentlich-rechtlichen Fern- gekehrt konnten sich die Medien keinen Besseren wünschen sehfußballs als medienkompatibler Jungstar seinen Nimbus als ihn: Eine Lichtgestalt, ein lebendes Denkmal großartiger als Spieler erobert hatte, so postierte er sich jetzt in einer Fußballvergangenheiten, eine Verkörperung deutscher Fuß-

123 SCHATTENGESTALT im Funktionärssumpf

Berater tätig gewesen war. Im Zuge der Ermittlungen kamen sich die Steuer gespart. Sie musste nachgezahlt werden, als nebenbei noch weitere unsaubere Geldfl üsse auf den Tisch: das Finanzamt Frankfurt Ende 2010 bei einer Steuerprüfung s Im Jahr 2005 hatte die FIFA, deklariert als Beratungs- im DFB auf den Vorgang gestoßen war. leistungen von Franz Beckenbauer und Konsorten (Fedor Selbst die größten Beckenbauer-Bewunderer hatten jetzt Radmann und Andreas Abold), für die WM-Bewerbung des allmählich genug. Alles konnte man dem Kaiser irgendwie südafrikanischen Fußballverbandes insgesamt 1,7 Millionen verzeihen, selbst eine Trickserei bei der Vergabe der WM Euro erstattet. Das Geld für Beckenbauer fl oss auf das Konto 2006. Aber dass er dann auch noch, während er scheinheilig einer Firma Romnex in Gibraltar. stets vom nimmermüden ehrenamtlichen Einsatz sprach, still s Zwischen 2008 und 2011 zahlte die FIFA 5,4 Millionen und heimlich abkassierte, sei moralisch sehr enttäuschend, Schweizer Franken, die als Löhne und Zulagen für die Arbeit so etwa Franz Neuhäuser in der Augsburger Allgemeinen: des FIFA-Exekutivmitglieds Beckenbauer deklariert waren, „Denn nun ist klar: Wir wurden von Beckenbauer getäuscht, auf ein Konto von Fedor Radmann. Der leitete die Hälfte auf wir wurden von ihm belogen.“ ein Konto von Beckenbauer weiter. Man darf sich aber natürlich fragen, ob der Absturz der Im März 2017 sagte Beckenbauer vor der Bundesanwalt- Lichtgestalt aus völlig heiterem Himmel gekommen ist. Un- schaft in Bern aus, äußerte sich aber öffentlich nicht zu den gereimtheiten gab es im Leben Beckenbauers ja schon seit Inhalten der Vernehmung. Beckenbauers Verfahren wurde der Steueraffäre 1977, ja bereits zehn Jahre vorher, als der dann von den anderen abgetrennt, da ihm seine Ärzte attes- FC Bayern unter Robert Schwan seine „kriminelle Kehrseite“ tierten, weder einvernahme- noch verhandlungsfähig zu sein. pfl egte. Mit den Gepfl ogenheiten bei der FIFA war er schon Am 27. April 2020 wurde der Prozess eingestellt wegen Ver- lange vertraut. 1998, vor der Wahl des neuen FIFA-Präsiden- jährung: ohne Freispruch, ohne Verurteilung. ten in Paris, hatte sich Beckenbauer für den europäischen Kandidaten Lennart Johansson ausgesprochen, war aber kurz vor der Wahl von diesem abgerückt und hatte Joseph Blat- Honorar für den WM-Organisationschef ter empfohlen. Der Spiegel schrieb: „Als dann in der Nacht Die DFB-Führung und Franz Beckenbauer haben stets erklärt, vor der Wahl reichlich Geld in Briefumschlägen durch Pari- dass die Tätigkeit des Chefs des Organisationskomitees der ser Hotels getragen worden sein soll und am nächsten Tag WM 2006 ein „Ehrenamt“ war. Als der Spiegel im September Blatter gewann, sagte Beckenbauer: ‚Das wird alles viel zu 2016 enthüllte, dass Franz Beckenbauer 5,5 Millionen Euro wichtig genommen.‘“ Blatter wurde gewählt, und viele Jahre für seine vermeintlich ehrenamtliche Tätigkeit im Vorfeld der später gestand ausgerechnet der frühere FIFA-Vizepräsident WM 2006 bekommen hat, hieß es zunächst, dass das Geld von Jack Warner aus Trinidad, für die Unterstützung Blatters bei dem staatlichen Sportwetten-Anbieter Oddset stamme, für dieser Wahl einen Millionenbetrag erhalten zu haben. den der Kaiser Werbung machte. Oddset erklärte allerdings: Einen Mangel an Lockerheit im Verhältnis zu Verfehlun- „Das Werbehonorar erhielt Herr Beckenbauer vom DFB.“ gen konnte man Franz Beckenbauer nie unterstellen. Noch So lief es ab: Oddset wurde am 1. Juli 2004 nationaler im Juni 2015, kurz bevor der FIFA-Chef von der Ethikkom- Förderer der WM, wenig später schloss der DFB mit Becken- mission der FIFA für alle mit dem Fußball verbundenen Tä- bauer einen Vertrag über dessen Werbetätigkeit für den tigkeiten gesperrt wurde, stellte er sich schützend vor Joseph Wettanbieter ab; nach der WM wurde diese Vergütung auf 5,5 Blatter: „Der Mann versteht sein Geschäft seit 30 Jahren, um- Millionen Euro festgelegt und direkt dem Sponsorentopf für schifft jede Klippe auf hoher See.“ Genau das hätte Becken- die Organisation der WM entnommen. Auch hier hatte man bauer auch über sich selbst sagen können.

164 Für das Image der Deut- schen im Ausland hat er RÜCKZUG mehr geleistet als 50 Jahre Diplomatie und zehn Goethe- Institute zusammen. und was bleibt André Heller (Multimedia-Künstler)

m 23. Mai 2020 saß ein kümmerlich wirkender Kaiser keit in seinen Ansichten, die hinter seinem weltmännischen Aisoliert und mit Gesichtsmaske auf der Ehrentribüne Auftritt hervorlugende Spießigkeit, die männlichen Schwä- der Allianz Arena und verfolgte den 5:2-Sieg der Seinen im chen im Umgang mit dem anderen Geschlecht, die aggressive Geisterspiel gegen . Die Situation war be- Beleidigung von Kritikern, die lächerlichen und oft unfreiwil- dingt durch die Corona-Pandemie, und doch wirkte es so, als lig komischen Aussagen als Fernseh-Plauderfranz – nichts drücke das Bild symbolisch seinen tiefen Sturz und seinen konnte seinem Heldenstatus etwas anhaben. Er blieb beliebt ganzen Jammer aus. Die glorreichen Kaiser-Zeiten, sie sind trotz und wegen der Beliebigkeit seiner Aussagen, selbst als für immer vorbei. Opfer der Satire war sein Status als Kaiser unantastbar. Die Für ältere Menschen, darunter nicht nur Fußballfans, FAZ beschrieb es im September 2005 treffend so: „Dass Kritik, ist Franz Beckenbauer über ein halbes Jahrhundert hinweg sofern sie überhaupt geäußert wird, an ihm abperlt wie an eine der wenigen Konstanten im Leben gewesen. Einer, der einer Tefl onschicht, dass schon eine nüchterne, ausgewogene immer präsent war und immer Erfolg hatte, ganz gleich, was Beurteilung seiner Person den Tatbestand der Majestätsbelei- er gerade anpackte. „Sein Leben ist ein einziges Märchen“, digung erfüllt, ist oft gesagt worden und im Grunde nur Aus- sagte Otto Rehhagel einmal über den Kaiser. Es war das Mär- druck des Geheimnisses, das er darstellt.“ chen vom Glückskind, ein Märchen, das vom phänomenalen Ohne Frage konnte Franz Beckenbauer sich auf besondere Aufstieg des Postbeamtensohns aus dem Münchner Arbei- Begabungen verlassen: Seine außergewöhnliche ästhetische terviertel Giesing zu einer der schillerndsten Figuren der Zeit- Erscheinung auf dem Platz, gepaart mit einem gleichsam aris- geschichte erzählte. Niemand hätte vorhersehen können, dass tokratischen Führungsanspruch, war auch für Fußballlaien aus dem hochbegabten, einst eher respektierten denn wirk- sofort erkennbar, die (nach Anlaufschwierigkeiten) souve- lich geliebten Fußballspieler eine Lichtgestalt und schließlich räne Umsetzung seines Nimbus als Fußballheld vergangener die geradezu überirdische Erscheinung eines Sommermär- Zeiten verschaffte ihm als Teamchef beispiellosen Respekt bei chen-Schöpfers werden sollte, die von Journalisten hymnisch Spielern wie bei Fans, seine Nonchalance und Weltläufi gkeit, umjubelt, von Politikern ehrfürchtig umschwärmt und vom sein freundlich-selbstironischer und liebenswerter Charme Volk einem Heiligen gleich verehrt wird. Die Sprunghaftigkeit als Funktionär schlug seine Gesprächspartner in den Bann. seines Charakters, der Wankelmut und die Widersprüchlich- Dennoch kann dies alles zusammen alleine die grandiose Kai-

165 RÜCKZUG und was bleibt

ser-Erscheinung noch nicht erklären, die das Publikum der- als die riesige Scheinhülle an zu vielen Stellen löchrig gewor- artig verblendete, dass es Franz Beckenbauer alles zutraute den war. Plötzlich kamen die Menschen nicht mehr an der und jeden Fehler verzieh. Hinzukommen musste ein spezi- Erkenntnis vorbei: Auch unter diesem prachtvollen Riesen- fi sches Moment der Verklärung. gewand verbirgt sich nur ein irdisches Wesen, behaftet mit Man kann Franz Beckenbauer bewundern oder kriti- allen menschlichen Fehlern. Und Franz Beckenbauer musste sieren – als Spieler, Teamchef, WM-Macher, Medien-Dauer- erfahren, dass selbst der beste Ruf sich in Schall und Rauch plauderer, Werbe-Weltmeister –, das Phänomen Beckenbauer aufl ösen und nicht über jedes Problem elegant hinwegge- kann man so weder ganz erfassen noch völlig dekonstruie- plaudert werden kann. Der Kaiser wurde verletzbar. ren. Denn es liegt im Betrachter: Deutschland hat so eine „In der Glückskind-Biografi e der Lichtgestalt Franz Be- Kaiser-Figur gewollt, und die Welt hat sie anerkannt. Bei ckenbauer gibt es nun auch einen Bruch“, schrieb der Mer- dieser Erscheinung verhält es sich wohl ein wenig so wie kur 2015 zum Tod seines drittältesten Sohnes Stephan, der bei dem bekannten Herrn Tur Tur, dem „Scheinriesen“ aus im Alter von 46 Jahren einem Gehirntumor erlegen war. Den dem 1960 erschienenen Kinderbuch „Jim Knopf und Lukas Kaiser plagte ein schlechtes Gewissen, nicht genug Zeit mit der Lokomotivführer“ von Michael Ende: Je näher man her- seinen älteren Kindern verbracht zu haben. „Ich war ein anzoomt und dabei die Details sichtbar werden, desto kleiner schlechter Vater, weil ich nie da war“, hatte er schon in einer wird der Kaiser. Tritt man aber zurück und betrachtet ihn TV-Gala aus Anlass seines 60. Geburtstages gestanden. in seiner Gesamtheit als globale Erscheinung, ist er wieder riesig groß. Man darf also nicht zu genau hinschauen, wenn „Ich bin einer, der das mehr in sich hineinfrisst, die Scheinhaftigkeit der Größe Franz Beckenbauers bestehen und das ist anscheinend das Verkehrte“ bleiben soll. Zugleich muss man sich klarmachen, dass diese Größe keinesfalls nur ein Trugbild ist. Es braucht eine aus- Bei Ehefrau Heidi und den gemeinsamen Kindern Joel und reichend große Menge von Menschen, die geleitet und an- Francesca hat er alles besser machen wollen und es sicher getrieben sind von der Sehnsucht und dem Verlangen, einen auch besser gemacht. Doch allzu viel Muße blieb ihm nicht. Schönspieler, Superhelden und Scheinheiligen bewundern Als dem Skandal um das gekaufte Sommermärchen immer zu dürfen und ihm Glauben zu schenken. Und nicht jedem weitere Enthüllungen folgten, bekam der Kaiser gesundheit- ist die besondere Gabe gegeben, jeweils zum richtigen Zeit- liche Probleme. „Ich bin einer, der das mehr in sich hinein- punkt die passende Projektionsfl äche als ballkünstlerische frisst, und das ist anscheinend das Verkehrte“, sagte er der Ausnahmeerscheinung, glanzvoller Teamchef und internatio- Illustrierten Bunte. Beckenbauer hat nie gelernt, mit Rück- nal bewunderter Deutschland-Verzauberer anzubieten. Kurz: schlägen umgehen zu müssen. Stets schien er unverwundbar, Franz Beckenbauers gekonnt präsentierte Talente, ausgebaut auf dem Platz wie im Scheinwerferlicht der TV-Studios. Nun und professionell inszeniert in einer jahrzehntelang andau- fraß sich ätzende Kritik in Seele und Körper. ernden Medien- und Marketingkampagne, verknüpften sich Anfang September 2016 musste er sich einer Herzopera- mit einer Art säkularen Messias-Erwartung zu einem einzig- tion unterziehen. Mehrere Bypässe wurden ihm gelegt, eine artigen Enthusiasmus-Phänomen. anstrengende Reha schloss sich an. Als es endlich bergauf zu Während allerdings der Herr Tur Tur von Kindesbeinen gehen schien, musste im Herbst 2017 erneut ein Eingriff am an alleine war und sich schließlich in die Wüste zurückzog, Herzen vorgenommen werden. Anfang 2018 erhielt er eine weil die Menschen vor seiner augenscheinlichen Größe Angst künstliche Hüfte. „Ich musste in den Länderspielen immer bekamen, wurde es um den Kaiser in dem Moment einsam, für Günter Netzer mitlaufen“, kommentierte der immer noch

166 RÜCKZUG und was bleibt zu Scherzen aufgelegte Kaiser, „für ihn habe ich gerne meine Hüfte geopfert“. Nur noch selten zeigte er sich in der Öffent- lichkeit. So hielt er Anfang Mai 2019 bei der Gala zum 50-jäh- rigen Jubiläum des ersten Bayern-Doubles eine kleine Rede und tadelte das aktuelle Team etwas matt in altbekannter Weise als „Uwe-Seeler-Traditionsmannschaft“. Im Juli 2019 erlitt Franz Beckenbauer einen Augeninfarkt. Auf dem rechten Auge sehe er „wenig bis nichts“, berichtete er der Bild. Anfang Januar 2020 lud er in einem Kitzbühe- ler Hotel zum 33. Mal zu einem traditionellen Karpfenessen. „Puhlt euch eine Schuppe raus, wascht sie, wickelt sie ein und gebt sie in den Geldbeutel“, sagte der im Brauchtum be- wanderte Kaiser. Denn: Eine einzelne im Portemonnaie ver- staute Fischschuppe soll dafür sorgen, dass einem das Geld das ganze Jahr über nicht ausgeht. Von Geldsorgen konnte in seinem Fall freilich schon längst keine Rede mehr sein. Wie viele ältere Herren mit Vermögen hatte sich auch der Fußballheros aus Giesing zum Connaisseur entwickelt. 2013 kaufte er sich zusammen mit seinen Beratern Andreas Abold und Fedor Radmann das renommierte südafrikanische Weingut Lammershoek. Die 80 Hektar großen Weinberge lie- gen in der Region Swartland, etwa 80 Kilometer nördlich von Kapstadt. Man muss nicht lange raten, auf welchen Namen der 2015 präsentierte Flaggschiffwein getauft wurde: „Libero No. 5“. Aber auch der Hobbywinzer Beckenbauer, der seine An- teile an dem Gut 2019 wieder abgab, ist bereits Geschichte. Ein feines Tröpfchen „Libero“ wird aber gewiss noch für eine gute Weile erhältlich sein. Wer also möchte, kann sich eine Flasche kaufen und zum schwelgerischen und nostalgischen Verklären ebenso wie zum kennerischen und pedantischen Kleinreden seines Lebenswerks eine elegante kaiserliche Spitzencuvée genießen: fruchtige Nase, begleitet von Aromen roter süßer Beeren und Noten von weißem Pfeffer, am Gau- Einsam: Franz Beckenbauer sieht sich das men schön vollmundig, rund und harmonisch im Geschmack Bundesligaspiel zwischen Bayern München

mit samtigem, langem Abgang. und Eintracht Frankfurt in der Allianz / Poolfoto images imago Arena an. Wegen der Corona-bedingten Hygienevorschriften trägt er eine Maske.

167 Christoph Bausenwein

ECKENBAUER – die ganze Welt kennt diesen Namen: der herausragende B Spieler, der erfolgreiche Teamchef, der souveräne Weltmeister, die Lichtgestalt, der Frauenschwarm und biedere Popstar. Ein Mann, der für alles werben kann, der heute das und morgen das genaue Gegenteil davon behauptet. Der „Kaiser“, der seiner Heimat Deutschland das Sommermärchen 2006 besorgte und bis heute nicht versteht, warum sein Vorgehen von damals angezweifelt, gar für illegal erklärt wird. Kurz: Franz Beckenbauer ist ein Phänomen mit vielen Facetten, von denen Autor Christoph Bausenwein in diesem Buch die wichtigsten BECKENBAUER einer ganz genauen, zugleich charmanten Beobachtung unterzieht.

Es gibt keine größere Fußballlegende in Deutschland als Franz Beckenbauer. Jürgen Klopp

ISBN 978-3-7307-0514-8 BECKENBAUER VERLAG DIE WERKSTATT