Der Ornithologische Beobachter 101: 115 –124 (2004) 115

Die Einnischung einer neuen Vogelart am Bodensee: die Weisskopfmöwe Larus cachinnans

Siegfried Schuster

The niche of a new bird at : the Yellow-legged Gull Larus cachinnans. – Since the sixties and the seventies, Yellow-legged Gulls from the Mediterranean have been increasingly observed at lakes in Central Europe. Records from Lake Constance started later (first observation 1961) than at Lake Geneva and Lake Neuchâtel. At the delta of the river (Vorarlberger Rheindelta, Austria) up to 1000 immature and adult moulting birds have been observed every summer since about 1995, up to 10 000 at Lake Geneva. Ring readings indicate that birds at Lake Constance originated from the Adriatic Sea and from Liguria, the ones in Western from Sardinia and the Provence. In both areas the main food consists of dead fish (often from fishing boats). The extension of the birds’ feeding area from Lake Constance-Obersee to Untersee re- sulted in a change of food because dead fishes were less frequent at the Untersee. In this area the Yellow-leg- ged Gulls exploited rubbish dumps, showed kleptoparasitism of waterbirds and predated on juvenile or adult waterbirds. Only 10– 20 % of the total population at Lake Constance occurred at the Untersee. The waterbirds changed their behaviour due to predation by gulls in different ways: escaping, hiding, dispersing over large lake areas, forming dense groups, or changing the diurnal rhythm. Key words: Larus cachinnans michahellis, Larus c. cachinnans, adaptation, distribution, food resource, population trend, predation, waterbirds, Lake Constance. Siegfried Schuster, Amriswiler Strasse 11, D–78315 Radolfzell, e-mail [email protected]

Im Zuge ihres Vordringens nach Norden und Mauser- und Winterbestände der Weisskopf- Westen besiedelte die Mittelmeerform der möwe am Bodensee? (2) Welche Nahrungsres- Weisskopfmöwe Larus cachinnans michahel- sourcen nutzen die Vögel hier? (3) Welche lis («Mittelmeermöwe») in den Dreissigerjah- Auswirkungen hatte das Erscheinen dieser ren Norditalien und Südfrankreich. In den neuen Vogelart auf andere Wasservögel? Sechzigerjahren drang sie über das Rhonetal bis zum Genfersee vor, wo sich im Herbst 1968–1971 etwa 500 diesjährige und immatu- 1. Material und Methode re Weisskopfmöwen aufhielten. Am Neuen- burgersee kam es 1968 zur ersten Brut am Fa- Das Zahlenmaterial zur Bestandsentwicklung nel (Glutz von Blotzheim & Bauer 1982). am Bodensee (mit den drei Seeteilen Obersee, Ab 1991 fand dort eine starke Zunahme des Untersee und Überlinger See) wurde aus den Brutbestands statt, nämlich von 79 Gelegen im seit 1960 viermal jährlich erscheinenden «Or- Jahr 1991 auf 520 im Jahr 2002. In diesem nithologischen Rundbriefen für das Bodensee- Zeitraum wurden weitere Brutplätze u.a. am gebiet» der Ornithologischen Arbeitsgemein- Genfersee, am Murtensee, an Stauseen im schaft Bodensee, aus den Wasservogelzählun- Schweizer Mittelland und im Tessin besetzt. gen am Bodensee (die Grossmöwen werden Diese wurden aber nie von mehr als je sechs erst seit 1971 erfasst), aus den drei Bodensee- Brutpaaren besiedelt (Schmid et al. 1998, Vo- Avifaunen (Jacoby et al. 1970, Schuster et al. let & Burkhardt 2003). Zudem stieg die Zahl 1983, Heine et al. 1999) und aus eigenen, fast der sommerlichen Mausergäste (Juli bis Okto- täglichen Beobachtungen am westlichen Bo- ber) am Genfersee auf 8000 –10 000 Vögel densee zusammengestellt. H. Jacoby steuerte (Géroudet 1989). zahlreiche Beobachtungsprotokolle zum An- In dieser Arbeit sollen folgende Fragen un- griffsverhalten von Grossmöwen am östlichen tersucht werden: (1) Wie entwickelten sich Untersee bei. Weitere Beobachtungen zum 116 S. SCHUSTER, Einnischung der Weisskopfmöwe am Bodensee Ornithol. Beob.

Verhalten von Möwen und anderen Wasservö- 2. Ergebnisse geln am westlichen Untersee stammen von H. 2.1. Bestandsentwicklung am Bodensee Reinhardt, M. Schneider-Jacoby und S. Werner und am Obersee vor allem von G. Knötzsch Die ersten Beobachtungen «Gelbfüssiger Sil- und E. Seitz. bermöwen» (wie Weisskopf- bzw. Mittelmeer- Neben der Mittelmeerform Larus cachin- möwen früher bezeichnet wurden) am Boden- nans michahellis, die im Folgenden als «Mit- see datieren von Anfang der Sechzigerjahre: telmeermöwe» bezeichnet wird, tritt am Bo- Am 21. Januar 1961 wurde ein Altvogel bei densee auch die südöstliche Unterart Larus c. Friedrichshafen beobachtet (G. Knötzsch u.a.). cachinnans auf, die in der Folge als «Steppen- Ab 1961 übersommern je ein bis zwei Altvögel möwe» benannt wird. Auf die in den letzten im Vorarlberger Rheindelta (Jacoby et al. Jahren ebenfalls nachgewiesenen Silbermöwen 1970). Vom «Seegfrörnewinter» (Februar «mit gelben Beinen» (früher als Larus argenta- 1963) liegt ein Fotobeleg eines Altvogels bei tus «omissus» bezeichnet) wird wegen geringer Friedrichshafen vor (J. Myrzik). Auch die 22 Bestände nicht eingegangen. immaturen Grossmöwen, die G. Knötzsch am Die Grossmöwen werden bei den Wasservo- 14. August 1962 im Rheindelta sah, waren ver- gelzählungen zwar seit 1971 erfasst, doch dürf- mutlich zum grossen Teil Mittelmeermöwen. ten sich vor der artlichen Trennung von Weiss- Ab 1968 gab es im Juli und August regel- kopf- und Silbermöwe (vermutlich auch noch mässig Einflüge von Mauservögeln aus dem später) durch Glutz von Blotzheim & Bauer Mittelmeerraum ins Rheindelta (z.B. 52 am (1982) einige Meldungen von «Silbermöwen» 17. Juli im Rheindelta, Jacoby et al. 1970). tatsächlich auf Weisskopfmöwen beziehen. Über 100 Mittelmeermöwen wurden dort erst- Dasselbe Problem stellt sich neuerdings auch mals im September 1977 gezählt (Schuster et wieder mit der Unterscheidung von Mittel- al. 1983). Die Zunahme im Rheindelta hat den meer- und Steppenmöwe. Daher musste in den bisherigen Höhepunkt mit 1000 Vögeln im Abbildungen auf die etwas ungewöhnliche August 1999 erreicht (Abb. 1). Form von 10-Jahres-Maxima zurückgegriffen Bis 1981 waren im Rheindelta immature und werden, weil die Erfassung bei den grossen diesjährige Mittelmeermöwen in der Überzahl. Entfernungen und den zahlreichen Störungen Ab 1982 stieg am Bodensee der Anteil der im Sommer sonst eine sehr «unruhige» Dar- adulten Mauservögel auf bis zu 80 % (Abb. 1). stellung ergeben hätte. Im Rheindelta werden die Maxima regel- mässig im August erreicht. Die Mauserzüge

Abb. 1. Entwicklung des Weisskopfmöwenbestands im Vorarlberger Rheindelta, dar- gestellt anhand der Höchst- zahl in 10 Jahren von Ende Juni bis Anfang Oktober von immaturen (schwarz) und adulten Vögeln (grau). – Ma- ximum number of immature (black) and adult Yellow-leg- ged Gulls (grey) recorded in the Vorarlberger Rheindelta (Austria) between end of June and beginning of October, for four decades. 101, 2004 S. SCHUSTER, Einnischung der Weisskopfmöwe am Bodensee 117

Abb. 2. Durchschnittlicher Weisskopfmöwenbestand am Bodensee von Mitte Novem- ber (schwarz) und Mitte Ja- nuar (grau) der jeweiligen Winter. – Mean number of Yellow-legged Gulls at Lake Constance recorded during the waterbird censuses in mid-November (black) and mid-January (grey). Figures before the split of Larus ar- gentatus in 1982 (possibly even later) may include Her- ring Gulls.

der Vögel führen grundsätzlich in relativ stö- 2.2. Nahrung der Weisskopfmöwen am Bodensee rungsarme und nahrungsreiche Gebiete. Im Rheindelta ruhen die mausernden Möwen den Erst ab 1998 tauchen neben den Mittelmeer- grössten Teil des Tages auf den grossen Kies- möwen auch Steppenmöwen in grösserer Zahl und Sandbänken sowie auf Dämmen. Erst nach am Bodensee auf, aber immer erst ab Dezem- der Mauser verlassen sie im Oktober teilweise ber und vor allem ab Januar. Bisher sind keine das Rheindelta und verteilen sich am übrigen wesentlichen Unterschiede in der Ernährung Obersee bzw. ziehen ab. dieser zwei Formen bekannt geworden. Da Seit 1990 überwintern die Vögel in zuneh- ausserdem die folgenden Befunde fast aus- mender Zahl am Bodensee (Abb. 2). Die Ver- schliesslich auf Beobachtungen vor dem Jahr doppelung der Januarzahlen seit etwa 1998 2000 basieren, handelt es sich überwiegend um geht aber nach neuesten Beobachtungen von Beobachtungen an Mittelmeermöwen. Ausnah- E. Seitz u.a. sehr wahrscheinlich auf verstärkte men sind im Text vermerkt. Einflüge von Steppenmöwen jeweils ab Mitte Dezember zurück. Wegen der in Kap. 1 ge- schilderten Erfassungsschwierigkeiten bei den 2.2.1. Nahrungsbestandteile und -quellen Wasservogelzählungen ist es möglich (und so- Fischereiabfälle: Am südöstlichen Obersee gar wahrscheinlich), dass z.B. von den bei der bilden Fischereiabfälle die Hauptnahrung der Wasservogelzählung am 13. Januar 2002 am Möwen. Berufsfischer werfen hier manchmal gesamten Bodensee erfassten 897 «Weiss- unbrauchbaren Beifang (z.B. Weissfische) und kopfmöwen» (davon nur 126 am Untersee) Fischreste in den See zurück. etwa die Hälfte Steppenmöwen waren, nach- Tote Fische: Zu Zeiten der Überdüngung des dem zwei Monate vorher insgesamt 448 Bodensees in den Siebziger- und Achtzigerjah- «Weisskopfmöwen» (und zu dieser Jahreszeit ren waren tote Fische eine wichtige Nahrungs- wohl noch keine Steppenmöwen) erfasst wor- quelle, weil es immer wieder zu Fischsterben den waren (Ornithologische Arbeitsgemein- kam. Mit der Verbesserung der Wasserqualität schaft Bodensee). fallen tote Fische seit Beginn der Neunziger- Der Untersee wurde erst ab 1979 von Mittel- jahre seltener an. Eine Ausnahme war der heis- meermöwen genutzt. Er beherbergt auch heute se Sommer 2003 mit vielen Tausend toten nur 10 –20 % der Bodenseevögel (Abb. 3). Aalen und Äschen am Untersee. Tote Wasservögel: Tote Wasservögel waren wahrscheinlich ein wichtiger Grund dafür, dass 118 S. SCHUSTER, Einnischung der Weisskopfmöwe am Bodensee Ornithol. Beob.

Abb. 3. Entwicklung des Weisskopfmöwenbestands im Ermatinger Becken (schwarz) und am westlichen Untersee (grau), dargestellt anhand der Höchstzahlen in 10 Jahren zwischen Oktober und März. – Maximum numbers ot Yel- low-legged Gulls recorded between October and March in the Ermatinger Becken (black) and in the western part of Untersee (grey), for four decades. Figures before the split of Larus argentatus in 1982 (possibly even later) may include Herring Gulls.

am Untersee das Ermatinger Becken zuerst von Kleptoparasitismus bei Blässhühnern Fulica Weisskopfmöwen genutzt wurde. Dort fand bis atra, Tafelenten Aythya ferina und Reiherenten 1985 jeden Winter die «Gemeinschaftliche A. fuligula tritt bisher nur dort auf, wo diese Wasserjagd» statt, eine Lizenzjagd für bis zu Arten bei dichten Wandermuschelbänken Nah- 150 Jäger auf 500 ha Wasserfläche. Dabei fie- rung suchen, vor allem beim Rheinausfluss am len regelmässig angeschossene bzw. tote Was- Untersee-Ende bei Eschenz/Öhningen. Beim servögel an. gezielten Anflug von Sturm- und Grossmöwen Müllplätze: Seit Ende der Neunzigerjahre lassen die Enten und Blässhühner die erbeute- spielen Müllplätze kaum noch eine Rolle, weil ten Muscheln sofort fallen. es fast keine offenen Deponien mehr gibt. Die von Mittelmeermöwen meistbesuchte Deponie Singen-Radolfzell wurde 1999 geschlossen. 2.2.3. Töten von jungen Wasservögeln Dadurch schrumpft die Nahrungsbasis für Das Töten von jungen Wasservögeln ist für die Grossmöwen am Untersee auf die folgenden wenigen, bis maximal 40 Mittelmeermöwen, Ressourcen. die am Untersee schon im Juli und August an- wesend sind, eine bedeutende Ernährungsmög- lichkeit. 2.2.2. Kleptoparasitismus Ab 1987 begannen Mittelmeermöwen im Er- Kleptoparasitismus bei Haubentauchern Podi- matinger Becken und ab 1990 am westlichen ceps cristatus und Gänsesägern Mergus mer- Untersee im Raum Radolfzell Jagd auf junge ganser ist mancherorts zu einer der wichtigsten Taucher, Enten und Blässhühner zu machen. Nahrungsquelle geworden, so vor dem Eriskir- Die von den Mittelmeermöwen am häufigsten cher Ried bei Friedrichshafen (G. Knötzsch), angewendete Jagdtechnik ist ein Suchflug 0,5 – in Teilen des Untersees und zunehmend auch 2 m über der Wasseroberfläche und Herunter- am südöstlichen Obersee bei Lindau (E. Seitz). stossen auf einzelne, versprengte Wasservogel- Dort beobachtete E. Seitz im Winter 2003/04 küken. Erbeutete Tiere werden entweder im erstmals, wie Steppenmöwen sogar Kormora- Schnabel weggetragen oder gleich verschlun- nen Phalacrocorax carbo Fische wegschnapp- gen. Manchmal werden auftauchende Küken ten. In lockeren Trupps von mehreren Hundert durch einen Schnabelhieb auf den Kopf getötet Haubentauchern schmarotzen im Winter regel- und erst später als Aas aus dem Wasser geholt. mässig Dutzende von Sturmmöwen Larus ca- Erfolgreiche Tötungen von Küken wurden nus und Grossmöwen erfolgreich. beim Haubentaucher (2-mal), Schwarzhals- 101, 2004 S. SCHUSTER, Einnischung der Weisskopfmöwe am Bodensee 119 taucher Podiceps nigricollis (7-mal), Zwerg- und manchmal werden sogar die Innereien aus taucher Tachybaptus ruficollis (4-mal) und dem noch lebenden Vogel gezogen. Nur die Blässhuhn (6-mal) beobachtet. Dazu kommen drei beobachteten Tötungen von Gründelenten zahlreiche Beobachtungen erfolgloser Erbeu- zwischen 1987 und 1991 erfolgten durch Auf- tungsversuche bei weiteren Arten: Stockente hacken des Entenrückens (H. Jacoby). Anas platyrhynchos, Kolbenente Netta rufina In der Anfangsphase dieser Strategie Anfang und Reiherente. Am häufigsten finden die der Neunzigerjahre liessen die Möwen getöte- Attacken wohl sehr früh morgens statt. Daher te Enten und Blässhühner im Wasser liegen. dürften die erfolgreichen Beutezüge insgesamt Nach einigen Tagen konnte dann der weich ge- um ein Vielfaches höher liegen. wordene Körper leichter geöffnet werden. Dann profitierten auch immature Möwen von der Beute. Am 22. Januar 2002 beobachtete 2.2.4. Töten von adulten Wasservögeln S. Werner, wie eine adulte Mittelmeermöwe Seit Beginn der Neunzigerjahre tritt diese Beu- eine Reiherente tötete; anschliessend zog eine tefangstrategie vermehrt auf. Beobachtungen adulte Steppenmöwe den Kadaver aufs Eis und liegen vor für die Tötung von adulten Zwerg- bearbeitete ihn. Wohl wegen der vielen Kom- tauchern (7-mal), Schwarzhalstauchern (2-mal mensalen hat sich dieses Vorgehen nicht Mauservögel; H. Jacoby), von je einer adulten durchgesetzt. Schnatterente Anas strepera, Stockente, Löf- Zwergtaucher werden oft fliegend auf feste felente A. clypeata und Kolbenente, von Tafel- Unterlagen transportiert und dort – meist erst enten (3-mal), Reiherenten (14-mal) und Bläss- nach mehreren Versuchen – verschlungen. Bei hühnern (6-mal; alle Daten von H. Jacoby, zwei adulten Schwarzhalstauchern im Ermatin- S. Schuster und S. Werner von 1987 bis 2000). ger Becken gelang dies trotz vieler Bemühun- Die meisten erfolgreichen Prädationen fanden gen nicht (H. Jacoby in Heine et al. 1999). in der Mauserzeit der Wasservögel (mehr- Die Prädation auf adulte Wasservögel ist fast wöchige Flugunfähigkeit) von Juli bis Septem- ausschliesslich am Untersee beobachtet wor- ber sowie vor allem von November bis Anfang den, am Obersee bisher nur wenige Male, z.B. Februar statt. ab Januar 2002 mehrfach vor dem Eriskircher Auch hier betragen die erfolglosen bzw. ab- Ried bei Tafel- und Reiherenten (G. Knötzsch). gebrochenen Angriffe ein Mehrfaches der er- Die Bildung dichter Blässhuhn-Gruppen ab folgreichen Beutezüge. So lassen sich im Win- 2002 am Schweizer Oberseeufer deutet eben- ter am Untersee nahezu täglich Grossmöwen- falls auf gelegentliche Grossmöwenattacken attacken auf Wasservogelschwärme beobach- hin. Dagegen fehlen bis Anfang 2003 Beob- ten. Im extrem heissen Sommer 2003 gab es achtungen aus dem Raum Lindau (E. Seitz). wegen des Fischsterbens indes keine Angriffe auf Wasservögel. 2.3. Abwehrverhalten der Wasservögel Die Jagdversuche laufen fast immer gleich ab: Aus einem Suchflug in wenigen Metern Die häufigsten Abwehrmechanismen werden Höhe in der Nähe von Wasservogelschwärmen im Folgenden kurz beschrieben. Diese Feststel- wassert die Möwe nur dann, wenn ein Einzel- lungen beziehen sich nahezu ausschliesslich vogel oder wenige Vögel nicht abfliegen, son- auf den Untersee. dern eine Flucht durch Abtauchen versuchen. Flucht durch Tauchen: Für Zwerg- und Die Möwe verhindert nun das Wiederauftau- Schwarzhalstaucher sowie für Reiher- und Ta- chen, indem sie immer über dem tauchenden felente ist eine Flucht durch Tauchen zwar eine Vogel schwimmt. Taucht der Vogel schliess- artgemässe Reaktion auf Angriffe (Abb. 4), lich doch auf, wird er entweder durch Schna- aber nur mit geringem Erfolg. Abtauchen wird belhiebe auf den Kopf getötet oder beim Weg- 10 Jahre nach dem Erscheinen der Weisskopf- schwimmen immer wieder am Schwanz ge- möwen fast nur noch von offenbar unerfahre- zerrt, wobei die Schwanzfedern herausgerissen nen immaturen Enten angewandt. Unter den 14 werden. Schliesslich wird der After geöffnet, erfolgreichen Tötungen von Reiherenten war 120 S. SCHUSTER, Einnischung der Weisskopfmöwe am Bodensee Ornithol. Beob.

Abb. 4. Eine Reiherente ist abgetaucht statt abzufliegen. Die adulte Steppenmöwe stösst nach und schwimmt dann minutenlang über der tauchenden Ente. Die er- schöpfte Reiherente wird dann oft zur Beute. Rheindel- ta, 28. Februar 2004. Aufnah- me S. Trösch. – A Tufted Duck tries to escape from a predation by a Caspian Gull. Vorarlberger Rheindelta (Austria), 28 February 2004.

nur ein ausgefärbtes h. Alles andere waren Winterhalbjahr am Bodensee wegen des 1– braune, wohl überwiegend immature Vögel. 2 m niedrigeren Wasserstandes nicht möglich. Flucht durch Auffliegen: Beim langsamen, Diese Strategie ist aber im Sommer vor allem suchenden Anflug einer Weisskopfmöwe flie- für die Tausenden mausernder Schnatter-, Kol- gen fast alle Enten (z.T. Trupps von 30 000 In- ben-, Tafel-, Reiherenten und Blässhühner ent- dividuen) nach Unterschreiten einer Fluchtdis- scheidend. tanz von 20 –50 m auf. Die meisten Vögel lan- Verteilen auf grosse Seeflächen: Dies ist den nach wenigen Minuten wieder am ur- eine Schutzmöglichkeit für die kleinen Lap- sprünglichen Ort; es kommen aber auch Verla- pentaucher, die sich vor der «Möwenzeit» oft gerungen von 5–10 km vor. Die Möwen ver- in Gruppen an nahrungsreichen Plätzen ver- folgen solche fliegenden Schwärme nicht, sammelten. Beim jetzigen Abstand von mehre- welche sich schnell in kleinere Verbände auf- ren Dutzend Metern zueinander konzentriert teilen. sich eine angreifende Möwe minutenlang auf Verstecken: Verstecken im Schilf, am einen Einzelvogel, der durch Abtauchen seine Schilfrand, zwischen Booten, unter Bootsste- Überlebenschance zu wahren versucht. Be- gen, in Häfen oder unter Uferbäumen schützt zeichnend war die Reaktion des Koloniebrüters fast vollständig vor Möwenangriffen. In weni- Schwarzhalstaucher. Die bis zu 100 Familien gen Jahren haben Junge führende Wasservögel verbleiben gleich nach dem Schlüpfen der Jun- ihr Verhalten völlig umgestellt: Vor 1990 wa- gen nicht wie früher vor den Brutplätzen. Viel- ren die Lappentaucher-, Enten- und Blässhuhn- mehr verteilen sie sich im Ermatinger Becken familien auf der offenen Wasserfläche leicht zu und auf benachbarten Seeteilen auf mehreren zählen. Seit Mitte der Neunzigerjahre bleiben Quadratkilometern Wasserfläche. die Familien im Schilf versteckt und sind un- Verdichten zu kompakten Gruppen: Diese gleich schwerer zu erfassen, was bei der Aus- Strategie – das Gegenteil zur Verteilung – wertung von langfristigen Bestandserfassun- kommt vor allem beim Blässhuhn vor und bil- gen zu beachten ist. So haben Schwarzhals- det einen effektiven Schutz gegen die Angriffe. taucher im Juli/August 2002 ihre Jungen dicht Solche Blässhuhn-Ansammlungen von manch- unter einem viel begangenen Bootssteg in mal mehreren 1000 Vögeln sind von erhöhten Moos am Untersee aufgezogen. Dagegen blie- Standorten auf mehrere Kilometer Entfernung ben dort 20 Paare auf der freien Wasserfläche auszumachen. Dieselbe Reaktion zeigen Bläss- ohne Nachwuchs. Verstecken im Schilf ist im hühner in Norddeutschland gegenüber Adlern 101, 2004 S. SCHUSTER, Einnischung der Weisskopfmöwe am Bodensee 121 und Grossmöwen (Glutz von Blotzheim et al. 3. Diskussion 1973). Am Untersee hat diese Reaktion dazu 3.1. Einwanderung am Bodensee geführt, dass im Winter zeitweise ganze Seetei- le blässhuhnfrei sind, was vor 1993 nicht vor- Die Weisskopfmöwe ist am Bodensee später gekommen ist. Verdichtung kommt auch bei aufgetreten als am Genfersee (Glutz von Blotz- Schwarzhalstaucher und Reiherente vor. heim & Bauer 1982). Ab Ende der Sechziger- Aktive Abwehr der Möwen: Eine aktive Ab- jahre kam es im Juli und August regelmässig wehr der Möwen ist bisher vor allem beim zu Einflügen von Mauservögeln aus dem Mit- Haubentaucher zu beobachten. Beim Angriff telmeerraum ins Rheindelta. Die Bestände ha- auf ihre Küken schwimmen oder fliegen die ben ihren bisherigen Höchststand mit 1000 Vö- Altvögel herbei und wehren die Möwen mit geln 1999 erreicht, während sich die Zahlen ihren langen Schnäbeln erfolgreich ab. Da- am Genfersee bei 10 000 einzupendeln schei- bei springen sie sogar etwas aus dem Wasser. nen (Géroudet 1989). Aktive Abwehr leisten gelegentlich auch Im Rheindelta wie auch am Genfersee waren Schwarzhalstaucher und Blässhuhn. zuerst immature und diesjährige Möwen in der Veränderter Tagesrhythmus: Ein veränderter Überzahl. Ab 1982 stieg der Anteil der adulten Tagesrhythmus kommt bei Blässhühnern und Mauservögel auf bis zu 80 %, während es am Tauchenten ebenfalls vor. Vom Untersee ist Genfersee 1989/90 60 % Altvögel waren (Gé- seit Jahrzehnten bekannt, dass im September roudet 1992b). Im Rheindelta mausern die Mit- und Oktober mehrere Tausend Tauchenten (in telmeermöwen ihr Grossgefieder und verteilen den Sechzigerjahren meist Tafelenten, heute sich erst anschliessend am übrigen Obersee mehrheitlich Reiherenten) tagsüber auf den bzw. ziehen ab. Nach Glutz von Blotzheim bootsfreien Mindelsee ausweichen und in der & Bauer (1982) beginnen die Altvögel die Abenddämmerung auf den dann störungs- Schwingenmauser schon am Brutplatz mit dem armen Untersee zur Nahrungssuche fliegen Abwurf der 1. bis 4. Handschwinge (HS 1 bis (z.B. Schuster & Thielcke im Druck). Am HS 4) und setzen sie im Juli, August und Sep- westlichen Untersee ergab sich seit dem Win- tember mit den langen Handschwingen HS 5 ter 1995/96 ein anderes Bild: Tagsüber ruhen bis HS 10 an bestimmten Mauserplätzen fort. gemischte Trupps von bis zu 40 000 Wasservö- Auch die Immaturen mausern das Grossgefie- geln an den von Möwen weniger frequentierten der von Juni bis September. Stellen des Sees. In der Abenddämmerung lö- Erst nach 1979 erschienen Weisskopfmöwen sen sich die Trupps auf, und die Vögel am Untersee, wobei dort auch heute nur 10 – schwimmen oder fliegen mehrere Hundert Me- 20 % der Bodenseevögel vorkommen. Gründe ter bis einige Kilometer zu günstigen Nah- für die geringeren Bestände dürften in der en- rungsplätzen mit reichlich Armleuchteralgen geren Nahrungsbasis und im Mangel an gross- und Wandermuscheln. Dieses Verhalten bringt flächigen störungsarmen Ruheplätzen liegen. den Vorteil, dass die Nahrungssuche in die Die Möwen am Genfersee stammen aus dem möwenfreien Nachtstunden verlegt wird. westlichen Mittelmeerraum (vor allem Sardi- Die Blässhühner wählten eine andere Strate- nien I und Provence F; Géroudet 1989). Nach gie: Sie verliessen möwenreichere Seeteile oft Ringablesungen durch E. Seitz mausern dage- für viele Monate völlig, z.B. den Markelfinger gen im Rheindelta Vögel aus der nördlichen Winkel, und konzentrierten sich an optimalen Adria, aus Ligurien I, aus der Toskana I und Nahrungsplätzen in dichten Scharen, wo sie vom Fanel; dagegen gibt es hier keine Ring- tagsüber ebenfalls teilweise schliefen. fundnachweise aus der Provence F und von Sardinien I (Heine et al. 1999). Eine neue Entwicklung setzte ab 1998 ein, als jeweils ab Dezember zunehmend Steppen- möwen an den Bodensee zogen und die Win- terbestände der Grossmöwen stark erhöhten. 122 S. SCHUSTER, Einnischung der Weisskopfmöwe am Bodensee Ornithol. Beob.

3.2. Nahrung der Weisskopfmöwen am Bodensee dass 1987 in der vorher kleinen Schwarzhals- taucherkolonie an der Radolfzeller Aachmün- Weisskopfmöwen sind Nahrungsopportunis- dung erstmals mehr Paare erfolgreich brüteten ten. Zwar bilden (tote) Fische und Müllreste als im 15 km entfernten Wollmatinger Ried, die Hauptnahrung, aber je nach Gelegenheit nämlich 21 gegenüber 15 (H. Jacoby u.a.). Ab werden auch Muscheln, Käfer, Heuschrecken, 1998 dagegen gab es an der Radolfzeller Aach- Regenwürmer und sogar Früchte (Kirschen, mündung nur in zwei Jahren mehr als 10 Fami- Feigen) in grösserer Zahl gefressen (Glutz von lien und sogar mehrfach Totalverluste durch Blotzheim & Bauer 1982). Am Bodensee Möwen. Das führte beim Schwarzhalstaucher zählen im südöstlichen Teil Fischereiabfälle zur weiteren Streuung der Brutplätze am Un- zur Hauptnahrung der Möwen. Am Untersee tersee in weniger optimale Gebiete (d.h. ohne fällt diese Nahrungsquelle wegen der hier viel Schutz durch Lachmöwenkolonien, schmaler strengeren Kontrollen nach dem Abfallbeseiti- Schilfgürtel und Konkurrenz mit dem Hauben- gungsgesetz nahezu ganz aus. Damit erklärt taucher). Insgesamt sind aber die Wasservogel- sich wohl auch die überragende Bedeutung des bestände am Untersee trotz des grösser gewor- Obersees für die neu eingewanderte Weiss- denen Prädationsdrucks stabil geblieben bzw. kopfmöwe. haben sich sogar leicht erhöht. Die Weisskopfmöwen erschlossen sich am In den Sommermonaten des extrem heissen Untersee andere Nahrungsquellen: Zuerst wur- Sommers 2003 gab es im Untersee nahezu kei- den tote Wasservögel, tote Fische und Müll- ne Wasservogelverluste durch Weisskopf- plätze genutzt, doch diese Nahrung spielt mitt- möwen, weil seit Ende Juni – wohl wegen der lerweile keine grosse Rolle mehr. Kleptopara- hohen Wassertemperaturen – Hunderte tote sitismus bei Blässhühnern und Tauchenten Aale (später auch Brachsen, Äschen und ande- blieb auf wenige Stellen beschränkt, während re Fische) als leichte Beute den Möwen zur Kleptoparasitismus bei Haubentauchern und Verfügung standen. Erstmals sah ich am 5. Gänsesägern in einigen Teilen des Obersees September wieder Weisskopfmöwen an einem und des Untersees zu einer der wichtigsten toten (wohl getöteten) Blässhuhn. Nahrungsquelle geworden ist. Das Töten von adulten Wasservögeln durch Das Töten von jungen Wasservögeln ist im Grossmöwen ist in der Literatur mehrfach be- Sommer am Untersee, besonders im Ermatin- schrieben worden (Tamisier 1970, Glutz von ger Becken, mittlerweile eine bedeutende Er- Blotzheim & Bauer 1982, Géroudet 1992a, nährungsmöglichkeit. Das dürfte mit ein Grund Keller & Zbinden 1998, Jeanmonod 2000), dafür sein, dass das Ermatinger Becken als ers- aber bisher im Binnenland wohl noch nirgends tes Gebiet am Untersee besiedelt wurde. Hier in so grossem Umfang beobachtet worden wie brüten – oft kolonieweise – über 100 Schwarz- am Untersee. Die meisten erfolgreichen Tötun- halstaucherpaare, über 200 Haubentaucherpaa- gen finden in der Mauserzeit der Wasservögel re, über 100 Blässhuhnpaare und zahlreiche sowie von November bis Anfang Februar statt. Enten. Von Juni bis August können also 500 Die erfolgreichen Angriffe werden nur von Wasservogelfamilien mit weit über 1000 Kü- adulten Weisskopfmöwen ausgeführt, was auf ken versammelt sein (Ornithologische Arbeits- ein Erlernen der komplizierten Jagdabläufe gemeinschaft Bodensee). Als Ende der Achtzi- deutet. gerjahre der Prädatorendruck stieg und es auch Die geschilderte Jagdmethode erklärt auch, zu Tötungen von gefährdeten Wasservögeln warum nur bestimmte Wasservogelarten getö- (Schwarzhalstaucher, Kolbenente) kam, gab es tet werden: Gründelenten fliegen sofort ab und Befürchtungen wegen Bestandseinbrüchen. tauchen nicht, Schellenten Bucephala clangula Dieser Fall ist nur lokal eingetreten. So hat fliegen ebenfalls vollständig auf. Am häufigs- beim Zwergtaucher die Prädation durch Weiss- ten versuchen immature, unerfahrene Reiher- kopfmöwen zum Verlust des Schwingenmau- enten den Möwen durch Tauchen zu entkom- serplatzes im Ermatinger Becken geführt (Hei- men. ne et al. 1999). Der Möwendruck bewirkte, 101, 2004 S. SCHUSTER, Einnischung der Weisskopfmöwe am Bodensee 123

3.3. Abwehrverhalten der Wasservögel durch den «Neubürger», weshalb auch Be- kämpfungsmassnahmen gegen die Weiss- Die Weisskopfmöwen haben am westlichen kopfmöwen nicht notwendig sind. Keller & Untersee zu erheblichen Veränderungen bei Zbinden (1998) haben dies für die Schweiz in den Wasservögeln geführt, nämlich (1) zu ei- ähnlicher Weise dargestellt. ner Verlagerung grosser Wasservogelschwär- Viel problemloser verlief anfangs die Einni- me im Herbst und Winter, (2) zu einer Konzen- schung der bis zu 1000 Weisskopfmöwen am tration an wenigen Stellen und (3) zu einem Obersee. Solange die Hauptnahrung Fisch in veränderten Tagesrhythmus. ausreichender Menge verfügbar war, verhielten Anders verliefen die Reaktionen am östli- sich die Möwen wie in ihren Herkunftsgebie- chen Untersee. Hier befinden sich die grössten ten. Mit zunehmender Oligotrophierung des und nahrungsreichsten Flachwasserzonen des Bodensees durch die zahlreichen Kläranlagen Untersees, in denen durch Naturschutzmass- werden die Fischerträge aber zurückgehen. So nahmen (v.a. durch den Schutz der Wasser- gibt es seit 2002 erste Berichte über Weiss- flächen) menschliche Störungen minimiert kopfmöwen-Attacken auf Wasservögel auch werden konnten. Hier vertreiben die Möwen vom Obersee. zwar immer wieder grosse Wasservogel- schwärme von ihren Ruheplätzen, aber nur mit Dank. Das Datenmaterial basiert auf der Gemein- kurzfristiger Wirkung. So entfielen im Erma- schaftsarbeit der Ornithologischen Arbeitsgemein- schaft Bodensee (OAB). Umfangreiche Protokolle tinger Becken von November 1985 bis Februar zum Verhalten verdanke ich Harald Jacoby, Gerhard 1986 bei 380 aufgetretenen potenziellen Stör- Knötzsch, Ekkehard Seitz und Stefan Werner. Aus- faktoren zwar 14 % auf Grossmöwen, die aber ser diesen lasen Hans Leuzinger, Hermann Rein- nur 2 % der 136 registrierten Störfälle mit hardt, Martin Schneider-Jacoby und Peter Willi das Manuskript kritisch durch. Weitere Kommentare Fluchtreaktionen bei Wasservögeln ausmach- zum Manuskript machten zwei Gutachter. Die Grafi- ten. Fast 90 % der Störfälle gingen dagegen ken und die englische Zusammenfassung fertigte von Menschen aus (Frenzel & Schneider dankenswerterweise Markus Peintinger an. Meine 1987). Solche menschlichen Störungen führten Frau stellte das umfangreiche Datenmaterial zusam- men, und Peter Knaus gab wertvolle Hinweise zur bei Familien von Eiderenten Somateria mollis- besseren Ausformulierung. sima zudem dazu, dass diese nach der Störung häufiger von Grossmöwen angriffen wurden (Keller 1991). Zusammenfassung In beiden Gebieten hat sich nach rund 10 Die mitteleuropäischen Seen wurden seit den Sech- Jahren etwa ab 2000 ein Gleichgewicht zwi- ziger- und Siebzigerjahren von Weisskopfmöwen schen den Möwen und ihren potenziellen Beu- aus dem Mittelmeergebiet besiedelt. Die Einwande- tetieren ergeben. Die Weisskopfmöwen haben rung erfolgte am Bodensee später (erste Beobach- tung 1961) als am Genfersee bzw. Neuenburgersee. besonders am Untersee sichtbare Veränderun- Im Vorarlberger Rheindelta mausern seit etwa 1995 gen bewirkt, vor allem im Verhalten und in ei- bis zu 1000 immature und adulte Weisskopfmöwen, ner teilweise anderen Flächenverteilung von am Genfersee bis zu 10 000. Die Bodenseevögel einigen Wasservogelarten. Die Wasservögel stammen nach Ringablesungen von der Adria und aus Ligurien, während die westschweizerischen Vö- reagieren mittlerweile nicht mehr so hektisch gel von Sardinien und aus der Provence kommen. In wie in der Anfangsphase um 1990 und schei- beiden Gebieten stellen tote Fische (oft aus Fischer- nen die Absichten fliegender Weisskopf- booten) die Hauptnahrung dar. Beim Vordringen möwen schon von weitem einschätzen zu kön- vom Obersee an den Untersee kam es zu einem Nah- rungswechsel, weil hier tote Fische weniger häufig nen. So lösten 8 um einen toten Fisch streiten- sind. Die Weisskopfmöwen erschlossen sich hier an- de Grossmöwen im Januar 2003 bei mehreren dere Nahrungsquellen durch Nutzung von Müllplät- Hundert nur wenige Meter entfernt schwim- zen, Kleptoparasitismus bei Wasservögeln sowie menden Blässhühnern und Tauchenten im Töten von jungen und adulten Wasservögeln. Der Untersee beherbergt heute nur 10 –20 % des Boden- Markelfinger Winkel keine Reaktionen aus. seebestands. Die Wasservögel reagierten auf die Prä- Neben einigen unerfahrenen Einzelvögeln kam dation durch Möwen mit ganz unterschiedlichem es daher zu keinen tiefgreifenden Verlusten Verhalten: Flucht, Verstecken, Verteilen auf weite 124 S. SCHUSTER, Einnischung der Weisskopfmöwe am Bodensee Ornithol. Beob.

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