Der Ornithologische Beobachter 101: 115 –124 (2004) 115 Die Einnischung einer neuen Vogelart am Bodensee: die Weisskopfmöwe Larus cachinnans Siegfried Schuster The niche of a new bird at Lake Constance: the Yellow-legged Gull Larus cachinnans. – Since the sixties and the seventies, Yellow-legged Gulls from the Mediterranean have been increasingly observed at lakes in Central Europe. Records from Lake Constance started later (first observation 1961) than at Lake Geneva and Lake Neuchâtel. At the delta of the river Rhine (Vorarlberger Rheindelta, Austria) up to 1000 immature and adult moulting birds have been observed every summer since about 1995, up to 10 000 at Lake Geneva. Ring readings indicate that birds at Lake Constance originated from the Adriatic Sea and from Liguria, the ones in Western Switzerland from Sardinia and the Provence. In both areas the main food consists of dead fish (often from fishing boats). The extension of the birds’ feeding area from Lake Constance-Obersee to Untersee re- sulted in a change of food because dead fishes were less frequent at the Untersee. In this area the Yellow-leg- ged Gulls exploited rubbish dumps, showed kleptoparasitism of waterbirds and predated on juvenile or adult waterbirds. Only 10– 20 % of the total population at Lake Constance occurred at the Untersee. The waterbirds changed their behaviour due to predation by gulls in different ways: escaping, hiding, dispersing over large lake areas, forming dense groups, or changing the diurnal rhythm. Key words: Larus cachinnans michahellis, Larus c. cachinnans, adaptation, distribution, food resource, population trend, predation, waterbirds, Lake Constance. Siegfried Schuster, Amriswiler Strasse 11, D–78315 Radolfzell, e-mail [email protected] Im Zuge ihres Vordringens nach Norden und Mauser- und Winterbestände der Weisskopf- Westen besiedelte die Mittelmeerform der möwe am Bodensee? (2) Welche Nahrungsres- Weisskopfmöwe Larus cachinnans michahel- sourcen nutzen die Vögel hier? (3) Welche lis («Mittelmeermöwe») in den Dreissigerjah- Auswirkungen hatte das Erscheinen dieser ren Norditalien und Südfrankreich. In den neuen Vogelart auf andere Wasservögel? Sechzigerjahren drang sie über das Rhonetal bis zum Genfersee vor, wo sich im Herbst 1968–1971 etwa 500 diesjährige und immatu- 1. Material und Methode re Weisskopfmöwen aufhielten. Am Neuen- burgersee kam es 1968 zur ersten Brut am Fa- Das Zahlenmaterial zur Bestandsentwicklung nel (Glutz von Blotzheim & Bauer 1982). am Bodensee (mit den drei Seeteilen Obersee, Ab 1991 fand dort eine starke Zunahme des Untersee und Überlinger See) wurde aus den Brutbestands statt, nämlich von 79 Gelegen im seit 1960 viermal jährlich erscheinenden «Or- Jahr 1991 auf 520 im Jahr 2002. In diesem nithologischen Rundbriefen für das Bodensee- Zeitraum wurden weitere Brutplätze u.a. am gebiet» der Ornithologischen Arbeitsgemein- Genfersee, am Murtensee, an Stauseen im schaft Bodensee, aus den Wasservogelzählun- Schweizer Mittelland und im Tessin besetzt. gen am Bodensee (die Grossmöwen werden Diese wurden aber nie von mehr als je sechs erst seit 1971 erfasst), aus den drei Bodensee- Brutpaaren besiedelt (Schmid et al. 1998, Vo- Avifaunen (Jacoby et al. 1970, Schuster et al. let & Burkhardt 2003). Zudem stieg die Zahl 1983, Heine et al. 1999) und aus eigenen, fast der sommerlichen Mausergäste (Juli bis Okto- täglichen Beobachtungen am westlichen Bo- ber) am Genfersee auf 8000 –10 000 Vögel densee zusammengestellt. H. Jacoby steuerte (Géroudet 1989). zahlreiche Beobachtungsprotokolle zum An- In dieser Arbeit sollen folgende Fragen un- griffsverhalten von Grossmöwen am östlichen tersucht werden: (1) Wie entwickelten sich Untersee bei. Weitere Beobachtungen zum 116 S. SCHUSTER, Einnischung der Weisskopfmöwe am Bodensee Ornithol. Beob. Verhalten von Möwen und anderen Wasservö- 2. Ergebnisse geln am westlichen Untersee stammen von H. 2.1. Bestandsentwicklung am Bodensee Reinhardt, M. Schneider-Jacoby und S. Werner und am Obersee vor allem von G. Knötzsch Die ersten Beobachtungen «Gelbfüssiger Sil- und E. Seitz. bermöwen» (wie Weisskopf- bzw. Mittelmeer- Neben der Mittelmeerform Larus cachin- möwen früher bezeichnet wurden) am Boden- nans michahellis, die im Folgenden als «Mit- see datieren von Anfang der Sechzigerjahre: telmeermöwe» bezeichnet wird, tritt am Bo- Am 21. Januar 1961 wurde ein Altvogel bei densee auch die südöstliche Unterart Larus c. Friedrichshafen beobachtet (G. Knötzsch u.a.). cachinnans auf, die in der Folge als «Steppen- Ab 1961 übersommern je ein bis zwei Altvögel möwe» benannt wird. Auf die in den letzten im Vorarlberger Rheindelta (Jacoby et al. Jahren ebenfalls nachgewiesenen Silbermöwen 1970). Vom «Seegfrörnewinter» (Februar «mit gelben Beinen» (früher als Larus argenta- 1963) liegt ein Fotobeleg eines Altvogels bei tus «omissus» bezeichnet) wird wegen geringer Friedrichshafen vor (J. Myrzik). Auch die 22 Bestände nicht eingegangen. immaturen Grossmöwen, die G. Knötzsch am Die Grossmöwen werden bei den Wasservo- 14. August 1962 im Rheindelta sah, waren ver- gelzählungen zwar seit 1971 erfasst, doch dürf- mutlich zum grossen Teil Mittelmeermöwen. ten sich vor der artlichen Trennung von Weiss- Ab 1968 gab es im Juli und August regel- kopf- und Silbermöwe (vermutlich auch noch mässig Einflüge von Mauservögeln aus dem später) durch Glutz von Blotzheim & Bauer Mittelmeerraum ins Rheindelta (z.B. 52 am (1982) einige Meldungen von «Silbermöwen» 17. Juli im Rheindelta, Jacoby et al. 1970). tatsächlich auf Weisskopfmöwen beziehen. Über 100 Mittelmeermöwen wurden dort erst- Dasselbe Problem stellt sich neuerdings auch mals im September 1977 gezählt (Schuster et wieder mit der Unterscheidung von Mittel- al. 1983). Die Zunahme im Rheindelta hat den meer- und Steppenmöwe. Daher musste in den bisherigen Höhepunkt mit 1000 Vögeln im Abbildungen auf die etwas ungewöhnliche August 1999 erreicht (Abb. 1). Form von 10-Jahres-Maxima zurückgegriffen Bis 1981 waren im Rheindelta immature und werden, weil die Erfassung bei den grossen diesjährige Mittelmeermöwen in der Überzahl. Entfernungen und den zahlreichen Störungen Ab 1982 stieg am Bodensee der Anteil der im Sommer sonst eine sehr «unruhige» Dar- adulten Mauservögel auf bis zu 80 % (Abb. 1). stellung ergeben hätte. Im Rheindelta werden die Maxima regel- mässig im August erreicht. Die Mauserzüge Abb. 1. Entwicklung des Weisskopfmöwenbestands im Vorarlberger Rheindelta, dar- gestellt anhand der Höchst- zahl in 10 Jahren von Ende Juni bis Anfang Oktober von immaturen (schwarz) und adulten Vögeln (grau). – Ma- ximum number of immature (black) and adult Yellow-leg- ged Gulls (grey) recorded in the Vorarlberger Rheindelta (Austria) between end of June and beginning of October, for four decades. 101, 2004 S. SCHUSTER, Einnischung der Weisskopfmöwe am Bodensee 117 Abb. 2. Durchschnittlicher Weisskopfmöwenbestand am Bodensee von Mitte Novem- ber (schwarz) und Mitte Ja- nuar (grau) der jeweiligen Winter. – Mean number of Yellow-legged Gulls at Lake Constance recorded during the waterbird censuses in mid-November (black) and mid-January (grey). Figures before the split of Larus ar- gentatus in 1982 (possibly even later) may include Her- ring Gulls. der Vögel führen grundsätzlich in relativ stö- 2.2. Nahrung der Weisskopfmöwen am Bodensee rungsarme und nahrungsreiche Gebiete. Im Rheindelta ruhen die mausernden Möwen den Erst ab 1998 tauchen neben den Mittelmeer- grössten Teil des Tages auf den grossen Kies- möwen auch Steppenmöwen in grösserer Zahl und Sandbänken sowie auf Dämmen. Erst nach am Bodensee auf, aber immer erst ab Dezem- der Mauser verlassen sie im Oktober teilweise ber und vor allem ab Januar. Bisher sind keine das Rheindelta und verteilen sich am übrigen wesentlichen Unterschiede in der Ernährung Obersee bzw. ziehen ab. dieser zwei Formen bekannt geworden. Da Seit 1990 überwintern die Vögel in zuneh- ausserdem die folgenden Befunde fast aus- mender Zahl am Bodensee (Abb. 2). Die Ver- schliesslich auf Beobachtungen vor dem Jahr doppelung der Januarzahlen seit etwa 1998 2000 basieren, handelt es sich überwiegend um geht aber nach neuesten Beobachtungen von Beobachtungen an Mittelmeermöwen. Ausnah- E. Seitz u.a. sehr wahrscheinlich auf verstärkte men sind im Text vermerkt. Einflüge von Steppenmöwen jeweils ab Mitte Dezember zurück. Wegen der in Kap. 1 ge- schilderten Erfassungsschwierigkeiten bei den 2.2.1. Nahrungsbestandteile und -quellen Wasservogelzählungen ist es möglich (und so- Fischereiabfälle: Am südöstlichen Obersee gar wahrscheinlich), dass z.B. von den bei der bilden Fischereiabfälle die Hauptnahrung der Wasservogelzählung am 13. Januar 2002 am Möwen. Berufsfischer werfen hier manchmal gesamten Bodensee erfassten 897 «Weiss- unbrauchbaren Beifang (z.B. Weissfische) und kopfmöwen» (davon nur 126 am Untersee) Fischreste in den See zurück. etwa die Hälfte Steppenmöwen waren, nach- Tote Fische: Zu Zeiten der Überdüngung des dem zwei Monate vorher insgesamt 448 Bodensees in den Siebziger- und Achtzigerjah- «Weisskopfmöwen» (und zu dieser Jahreszeit ren waren tote Fische eine wichtige Nahrungs- wohl noch keine Steppenmöwen) erfasst wor- quelle, weil es immer wieder zu Fischsterben den waren (Ornithologische Arbeitsgemein- kam. Mit der Verbesserung der Wasserqualität schaft Bodensee). fallen tote Fische seit Beginn der Neunziger- Der Untersee wurde erst ab 1979 von Mittel- jahre seltener an. Eine Ausnahme war der heis- meermöwen genutzt. Er beherbergt auch heute se Sommer 2003 mit vielen Tausend toten nur 10 –20 % der Bodenseevögel
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