Grün als Orientierungsfarbe einer erneuerten Linken

Positionspapier Realismus und Substanz

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Positionspapier Realismus und Substanz

2. Perspektivkongress Realismus & Substanz am 1. Mai 2004, Spener Haus, Frankfurt am Main

Autorinnen und Autoren:

Peter Siller, Tarek Al-Wazir, Klaus Müller, , Grietje Bettin, Mathias Wagner, , Omid Nouripour, Katja Husen, Niombo Lomba, Stefan Tidow, Ralph Obermauer, Fe- lix Holefleisch, Olaf Cunitz, Heiko Thomas, Anna Lührmann, , Michael Schä- fer, Robert Heinrich, Sibylle Knapp, Ulrike Gauderer, Malte Spitz, Jan Fries, Stefanie Wolpert, , , , Oliver Dalichow, Aram Lintzel, Michael Hack, Mi- chael Scharfschwerdt, Theresia Bauer, Wulfila Walter, Michael Ortmanns, Michael Kellner, Bastian Bergerhoff, Sebastian Bukow, , Bene Lux, u.a.

Herausgeber:

Realismus & Substanz c/o Peter Siller Dunckerstr. 25 10435 Berlin E-Mail: [email protected] www.realismus-und-substanz.de

Satz und Layout: Olaf Cunitz Druck: Ebenhoch Buch- und Offsetdruck GmbH, Niedernhausen Frankfurt am Main 2004

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Vorwort

Jenseits von blindem Pragmatismus und politi- und globalen Wandel der letzten Jahrzehnte. schen Traditionalismus gibt es die Notwendig- Globalisierung, Demographischer Wandel, In- keit, aber auch ein neues Bedürfnis nach dividualisierung, Digitalisierung, Migration und grundsätzlichen politischen Debatten. Eine an- Klimawandel sind nur einige der Stichpunkte, spruchsvolle und attraktive Politik muss die die die tiefgreifende Transformation beschrei- Frage nach ihren Konzepten und ihrer normati- ben. ven Orientierung beantworten. Dazu wollen die Im Zentrum unseres Vorschlags steht ein Ge- Autorinnen und UnterzeichnerInnen des vorlie- rechtigkeitsbegriff, der die gesellschaftlichen genden Papiers einen Beitrag leisten. Veränderungen und neugewonnen Einsichten Ausgangspunkt und Plattform ist das bundes- einbezieht. Gerechtigkeit braucht Selbstbe- weite Netzwerk "Realismus & Substanz", be- stimmung und selbstbewusste Individuen. Ge- stehend aus ca. 40 jüngeren Grünen, deren rechtigkeit heißt zuallerst Parteinahme für die Ziel es ist grundsatzprogrammatische Fragen Schwachen. Gerechtigkeit zielt auf die Vermei- zu stellen und zu diskutieren. Das Positionspa- dung von Exklusion, von der eine zunehmende pier spiegelt den Stand der bisherigen Diskus- Zahl von Bürgerinnen und Bürgern bedroht ist. sion wieder. Gerechtigkeit heißt deshalb Teilhabe an den zentralen gesellschaftlichen Sphären von Unsere These lautet: Deutschland und Europa Selbstbestimmung und Anerkennung – Bil- brauchen eine starke emanzipatorische, ökolo- dung, Arbeit und Demokratie. Und Gerechtig- gische und demokratische Linke - diese Linke keit muss sich der ökologischen Frage Anneh- wird es jedoch nur geben, wenn sie sich von men, denn hier liegt eine zentrale soziale Frage Grund auf erneuert. Dabei geht es uns mit der Zukunft. "Links Neu" nicht um die Beschreibung klassi- scher Lager. Diese sind längst am erodieren. Die Grünen müssen die Pioniere einer solchen "Links Neu" ist vielmehr der Versuch einer Erneuerung sein. Denn viele Konzepte und Po- normativen, programmatischen Orientierung. sitionen, für die die Grünen auch und gerade von strukturlinker Seite Prügel bezogen haben, Das Konzept „Links Neu“ enthält eine doppelte entpuppen sich zunehmend als zentrale Bau- Zumutung: Es verpflichtet die Modernisierer, steine einer Linken auf der Höhe der neuen sich der Substanzfrage zu stellen, worin bei Herausforderungen und Einsichten. Reformvorschlägen der Ertrag für Gerechtigkeit und Selbstbestimmung liegt. Und es verpflichtet Das vorliegende Papier ist Grundlegung und die traditionelle Linke, sich der Modernisie- Zwischenstand unserer Diskussion um die Ori- rungsfrage zu stellen, die zwingend ist, um die entierung grüner Politik. Wir wollen an dieser gesellschaftlichen Herausforderungen zu be- Position weiterarbeiten und sie präzisieren. Die antworten. Diese doppelte Zumutung ist jedoch Frage, was die dargelegte Grundorientierung auch eine doppelte Chance. Denn sie bietet für die einzelnen Politikfelder konkret heißt, den Modernisierern die Möglichkeit bestimmte muss erst noch beantwortet werden. Daran Reformschritte plausibel zu erklären und damit wollen wir arbeiten und konkretere Vorschläge ihr ideelles Vakuum zu füllen. Und sie bietet zu einzelnen Themenbereichen folgen lassen. Teilen der traditionellen Linken die Chance, Wir laden Euch herzlich ein, Euch an dieser aus der Rolle der Bremser und Blockierer, und Diskussion zu beteiligen. Wir hoffen auf eine damit aus der Nische zunehmender gesell- rege Resonanz und eine interessante Debatte, schaftlicher Irrelevanz herauszukommen. von deren Notwendigkeit wir überzeugt sind. Eine erneuerte Linke und eine neue Politik für soziale Gerechtigkeit muss darauf reagieren, dass sich die Bedingungen für die Verteilung Berlin, den 24.9.04 von Wohlstand im postindustriellen Zeitalter Realismus & Substanz drastisch verändert haben. Sie muss die Augen öffnen für den dramatischen gesellschaftlichen

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Inhalt

I. Auf der Suche nach einer erneuerten Linken - Gerechtigkeit und Freiheit weiterdenken

1. Zumutungen und Chancen 2. Rolle der Grünen 3. Gefahr des Neokonservatismus 4. Orientierungsschwäche der "neuen Mitte" 5. Gesellschaftliche Debatte statt Nabelschau 6. Die Chance aktiv ergreifen

II. Eckpunkte einer erneuerten Linken - Erweiterte Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Ökologie, Demokratie

1. Was heißt „Links Neu“? 2. Die Alternativen 3. „Links Neu“ im postindustriellen Zeitalter 4. Parteinahme für die Schwachen 5. Offenheit für andere politische Traditionen 6. Neue Herausforderungen

III. Strategie einer erneuerten Linken - Potentiale, Perspektiven, Bündnisoptionen

1. Vertrauen und Selbstvertrauen 2. Zukunft Ostdeutschland 3. Bündnisoptionen 4. Die Erneuerung jetzt beginnen

IV. Anhang: Die AutorInnen

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"Das Unglück muss zurückgeschlagen werden"

(Tocotronic)

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Grün als Orientierungsfarbe einer erneuerten Linken

Das vorliegende Papier enthält den Vorschlag sammenschlüsse nicht ohne Bezug auf grund- einer grundsätzlichen Verortung der Grünen, legende Orientierungen tragfähig. Es gibt die die wir der Partei empfehlen und für die wir Notwendigkeit, aber auch ein neues Bedürfnis streiten wollen. Die gesellschaftliche Akzep- nach politischen Grundsätzen, nach politischer tanz der Grünen ist in den letzten Jahren stetig Richtung und politischen Zielen. Ohne Strahl- gewachsen. Das grüne Wahlergebnis bei den kraft, ohne ein gemeinsames attraktives „Ge- Europawahlen von 11,9% hat dies noch einmal samtprojekt“, das verschiedene politische deutlich gezeigt. Daraus erwächst auch eine Themenfelder zusammenführt, wird es weder größere gesellschaftliche Verantwortung und gelingen, die notwendige Reformkraft zu ent- die Notwendigkeit eines entsprechenden An- falten, noch wird es gelingen, Mehrheiten zu gebots an die Gesellschaft. Wir nennen dieses gewinnen. Angebot, diese Grundsatzorientierung „Links Die Grünen haben mit ihrem "Berliner Pro- Neu“. gramm" einen wichtigen Anfang gemacht und Wir wissen um die Irrwege und Verbrechen in ein wegweisendes Grundsatzprogramm verab- der Geschichte der Linken, und deshalb geht schiedet. Dieser Prozess darf nicht stehen es uns um eine neue, um eine erneuerte Linke, bleiben. Die Partei muss weiter an ihren pro- in der Freiheit, Selbstbestimmung und Demo- grammatischen Konturen arbeiten, wenn sie kratie zum Zentrum gehören und in der die ihre Rolle als gesellschaftlicher Akteur erhalten neuen Gerechtigkeitsherausforderungen eine und ausbauen will. Das betrifft insbesondere entscheidende Rolle spielen. Wir wissen auch die jüngere Generation bei den Grünen, bei um die Schwierigkeit einer grundsätzlichen denen eine programmatische Verortung über- Positionierung überhaupt. Viele alte Lager- und fällig ist. Deshalb halten wir es für notwendig, Wertezuordnungen sind ins Wanken geraten, jetzt eine präzisierte Grundsatzposition vorzu- die Dinge mischen sich neu und die Ge- schlagen, aus der die Richtung, die Klammer schwindigkeit des gesellschaftlichen Wandels und die Perspektive unserer Politik deutlich macht Vieles unübersichtlich. werden. Gleichzeitig sehen wir aber, wie die Politik un- Das vorliegende Papier ist Grundlegung und ter der daraus folgenden Grundsatzlosigkeit Zwischenstand unserer Diskussion um die Ori- leidet und wie wenig attraktiv der daraus fol- entierung grüner Politik. Wir wollen an unserer gende tagespolitische Pragmatismus gerade Position weiterarbeiten, sie präzisieren und für die jüngere politische Generation ist. Das vervollständigen. Und wir hoffen auf eine rege politische System insgesamt leidet an einer Resonanz und eine interessante Debatte, von kurzatmigen, nur tagespolitisch ausgerichteten deren Notwendigkeit wir überzeugt sind. Aufgeregtheit, die kurzfristig Aufmerksamkeit schafft, mittel- und langfristig jedoch zur Ab- wendung vieler von Politik überhaupt führen kann. Trotz des Zerfalls der klassischen Lager, den wir nicht beklagen, sind politische Zu-

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I. Auf der Suche nach einer erneuerten Linken - Gerechtigkeit und Freiheit weiterdenken Entgegen dem Zeitgeist sagen wir: Deutsch- rechten Teilhabe an Arbeit, Bildung und land und Europa brauchen eine erneuerte Demokratie, nicht auf die der gleichen Ver- Linke, die die zentralen Fragen und neuen wirklichungschancen unter den Bedingungen Herausforderungen von Gerechtigkeit und von Globalisierung und Postindustrialismus, Selbstbestimmung aufnimmt. Die Linke nicht auf die von Gerechtigkeit und Sicher- kommt nur dann zurück ins Spiel, wenn sie heit nach dem Zerfall der Blöcke, nicht auf dem konservativen und marktradikalen Geg- die der Generationengerechtigkeit unter der ner und sich selbst wieder etwas zumutet. Prämisse des demographischen Wandels, Sie muss dem konservativen Hegemonie- dann gibt es nur zwei Alternativen: weiterer bestreben intellektuell und strategisch ent- Bedeutungsverlust oder Erneuerung. gegnen, und das wird ihr nur gelingen, wenn Vor dieser Alternative stehen nicht nur die sie ihre eigenen Positionen mit den dramati- Linkstraditionalisten in den Parteien, son- schen gesellschaftlichen Veränderungen dern auch die Gewerkschaften. Nur mit dem und neugewonnenen Einsichten abgleicht. Mut zu Modernisierung und Wandel wird es Wir brauchen eine dynamische, reformfreu- ihnen gelingen, ihre Gestaltungskraft zu er- dige Linke. Wenn sie die Kraft zu den not- halten bzw. wiederherzustellen. wendigen Reformschritten nicht aufbringt, Eine erneuerte Linke kann nur eine freiheits- werden die Konservativen den Reformkurs orientierte und pluralistische Linke sein. Es bestimmen – in eine verheerende Richtung. geht ihr um die Anerkennung unterschiedli- Der Versuch, Gerechtigkeit und Verände- cher Lebensformen, Lebensstile und Le- rung im Rahmen von "Links Neu" zu verbin- bensentwürfe, um Toleranz und Respekt. den, darf dabei kein Lippenbekenntnis blei- Selbstbestimmung für alle und die Chance, ben. Soziale, wirtschaftliche und finanzpoliti- das eigene Leben zu leben, sind die Leitidee sche Modernisierungsprojekte sind gerade einer Linken, die sich der pluralistischen Ge- aus Gerechtigkeitsperspektive notwendig, sellschaft verpflichtet fühlt. Eine erneuerte und deshalb braucht eine mehrheitsfähige Linke widerspricht energisch der Vorstellung, Linke den Mut zur Modernisierung. Diesen es gäbe nur ein "gutes Leben", nach dem Mut darf sie sich auch dann nicht nehmen sich alle zu richten hätten. Eine erneuerte lassen, wenn sie bei der traditionalistischen Linke zielt nicht auf Gleichmacherei, sondern Linken aneckt und unbequem wird. Nur eine auf gleiche Freiheit und gleiche Verwirkli- Linke, die sich nicht – sobald ihr der Wind chungschancen für alle. Sie fühlt sich denen ins Gesicht bläst – sofort wieder ins gesi- verpflichtet, die in ihren Verwirklichungs- cherte Terrain veralteter Glaubenssätze zu- chancen auf Grund ihrer sozialen Lage, auf rückzieht, hat die Kraft zur Erneuerung. Grund bestimmter Handicaps oder aus an- Wenn „links sein“ heißt, gesellschaftliche deren Gründen benachteiligt sind. Selbstbe- Realität an Gerechtigkeit und Selbstbestim- stimmung richtet sich gegen Obrigkeit und mung zu messen, dann brauchen wir eine Paternalismus. Unfrei ist, wer "zugerichtet" starke Linke, denn es ist richtig, an diesem wird, diszipliniert oder unterdrückt. Der Frei- Anspruch festzuhalten. Er ist der tiefere heitsbegriff einer erneuerten Linken ist aber Grund unseres politischen Engagements. nicht bloß negativ, also durch die Abwesen- heit von Repression definiert. Die Ausübung Wenn es jedoch auch richtig ist, dass die der Freiheit hat Voraussetzungen, die das Konzepte der Linken aus dem 20. Jahrhun- Individuum nicht alleine zu schaffen vermag. dert keine befriedigenden Antworten auf die Materielle Sicherheiten, Bildung oder soziale zentralen sozialen Herausforderungen des Anbindung sind Bedingungen, sind Entwick- 21. Jahrhunderts sind - nicht auf die der ge-

9 Links Neu Realismus & Substanz lungsressourcen für eine positiv verstandene und ihrer Lebenszeit. Freiheit. Hier muss ein Staat und ein libera- Eine erneuerte Linke steht für eine Revitali- les Gemeinwesen dafür Sorge tragen, dass sierung des Selbstverwaltungsgedankens allen diese Voraussetzungen geschaffen der Kommunen. Die Grenzen im fairen werden. Wettbewerb müssen auch die Gestaltungs- Eine erneuerte Linke sieht sich nicht im Wi- freiheit der Kommunen schützen, Dienstleis- derspruch zur Marktwirtschaft, sondern tungen von allgemeinem wirtschaftlichen braucht sie, solange die sozialen und ökolo- und nichtwirtschaftlichen Interesse zu gischen Leitplanken definiert sind und ein- erbringen, der sogenannten Daseinsvorsor- gehalten werden. Fairer Wettbewerb in sozi- ge. Für die Städte und städtischen Ballungs- alen und ökologischen Grenzen ist notwen- räume, in denen ein Großteil der Bevölke- dig, denn nur er entfaltet die notwendige Dy- rung lebt, muss auch weiterhin die Möglich- namik, um jene Wertschöpfung zu erzielen, keit bestehen, lokale Dienstleistungen für die die erst Wohlstand für alle auf hohem Ni- Bürgerinnen und Bürger selbständig oder veau ermöglichen kann. Auch ist die soziale durch eigene Unternehmen zu erbringen, und ökologische Marktwirtschaft diejenige sowie deren Quantität und Qualität zu defi- Form, die am meisten Freiraum für Selbst- nieren. Lebensnotwendige Güter wie Was- bestimmung und individuelle Gestaltungs- ser, Post oder Telekommunikationsdienste - möglichkeiten schafft. Gleichwohl ist es eine aber auch ein ausreichendes Angebot an enorme politische Gestaltungsaufgabe, Ge- Kultur - müssen allen Menschen zur Verfü- rechtigkeit und reale Selbstbestimmung un- gung stehen. ter den Bedingungen von Globalisierung und Eine erneuerte Linke ist eine ökologische eines entgrenzten Weltmarktes herzustellen. Linke, denn in der Erhaltung der natürlichen Uns besorgt die wachsende Schere zwi- Lebensgrundlagen liegt eine entscheidende schen Arm und Reich – global, aber auch soziale Frage der Zukunft. Ökologie ist eine mit Blick auf unser eigenes Land. Wir wollen Frage der Lebensbedingungen und der indi- Gleichheit der Verwirklichungschancen und viduellen Lebensqualität – und damit eine akzeptieren Ungleichheit nur dort, wo sie zentrale Voraussetzung von Gerechtigkeit auch die Schwächeren besser stellt. Eine und Selbstbestimmung. Internationale Ge- emanzipatorische Linke hat sich schon lange rechtigkeit und eine friedliche Weltgesell- von dogmatischer Kapitalismuskritik abge- schaft wird es nur geben, wenn wir das glo- wendet und weiß, dass ein staatlich geplan- bale Energieproblem lösen. Dem Westen ter Wirtschaftsapparat eine große Bedro- muss die Energiewende gelingen, Erneuer- hung für die Freiheit darstellt und auch an bare Energien sowie Energieeffizienz müs- der Verwirklichung von Gerechtigkeit schei- sen einen spürbaren Schub bekommen. tert. Unfreiheit kann aber auch aus der un- Darin liegt auch eine enorme Chance für die kontrollierten Dynamik eines Marktgesche- Staaten im Osten und Süden unserer Erde. hens entstehen . Der Einzelne kann bei der Eine weitere Herausforderung einer erneuer- Wirtschaftstätigkeit am Markt sowohl seine ten Linken besteht in der Beantwortung der Freiheit ausüben als auch fremdbestimmten Mobilitätsfrage. Individuelle Mobilität und Zwängen ausgeliefert sein. Bezüglich der Weltoffenheit sind wichtige Elemente eines Marktwirtschaft hat eine emanzipatorische selbstbestimmten Lebens. Nur wenn es uns Linke also wie bei der Gerechtigkeit mehrere gelingt Mobilität auf eine zukunftsfähige, Perspektiven zu berücksichtigen: die Dimen- ökologische Grundlage zu stellen, wird es sion der Freiheit am Markt und die Dimensi- uns gelingen, individuelle Mobilität und die on der Freiheit vom Markt. Das gilt insbe- natürlichen Grundlagen von Selbstbestim- sondere, wenn es um den Arbeitsmarkt geht, mung überhaupt zu erhalten und auszubau- also den Handel mit dem "eigensten" was en. Eine Aufgabe einer erneuerten Linken die Menschen "besitzen", ihren Fähigkeiten

10 Realismus & Substanz Links Neu besteht zudem in der Stärkung der Verbrau- ten, echter Wahlfreiheit und effektivem cherinnen und Verbraucher. In Zeiten der Schutz vor Risiken und Gefahren ausgestat- Gentechnik, der Agrar- und Lebensmittelin- tet sind. All diese Herausforderungen gehö- dustrie und komplexer Kommunikations-, In- ren von der Peripherie ins Zentrum einer er- formations-und Transporttechnologien ist neuerten Linken, denn hier liegen entschei- Selbstbestimmung nur möglich, wenn die dende Voraussetzungen von Gerechtigkeit Konsumenten mit starken Informationsrech- und Selbstbestimmung.

1. Zumutungen und Chancen Das Konzept „Links Neu“ enthält eine dop- Modernisierern die Möglichkeit bestimmte pelte Zumutung an das eigene Spektrum, Reformschritte plausibel zu erklären und und es muss sie enthalten. Es verpflichtet damit ihr ideelles Vakuum zu füllen. Und sie die Modernisierer in Partei und Gesellschaft, bietet zum anderen Teilen der traditionellen sich der Substanzfrage zu stellen, worin der Linken die Chance, aus der Rolle der Brem- Ertrag für Gerechtigkeit und Selbstbestim- ser und Blockierer, und damit aus der Ni- mung bei ihren Reformvorschlägen liegt. sche zunehmender gesellschaftlicher Irrele- Und es verpflichtet die traditionelle Linke, vanz herauszukommen. Aus dieser doppel- sich der Modernisierungsfrage zu stellen, die ten Zumutung für Modernisierer und traditio- zwingend ist, um die gesellschaftlichen Her- nelle Linke kann die politische Kraft erwach- ausforderungen zu beantworten. Diese dop- sen, um den Kampf mit den Konservativen pelte Zumutung ist jedoch auch eine doppel- um die Meinungsführerschaft zu gewinnen. te Chance. Denn sie bietet zum einen den

2. Rolle der Grünen Bei dieser Erneuerung fällt den Grünen nach tet dort seine strukturierende Wirkung für die unserer Einschätzung eine wichtige Rolle zu. grüne Programmatik. Denn viele Konzepte und Positionen, für die Unsere These lautet: Deutschland und Eu- die Grünen auch und gerade von strukturlin- ropa brauchen eine starke Linke – diese Lin- ker Seite Prügel bezogen haben, entpuppen ke wird es jedoch nur geben, wenn sie sich sich zunehmend als zentrale Bausteine einer von Grund auf erneuert. Bei diesem Erneue- Linken auf der Höhe der neuen Herausforde- rungsprozess können und müssen die Grü- rungen und Einsichten. nen eine Pionierrolle einnehmen, denn sie Die Grünen haben mit einem neuen, erwei- waren es, die von Anfang an die neuen Ge- terten Gerechtigkeitsbegriff einen Fokus ge- rechtigkeits- und Emanzipationsfragen des funden, der dem Projekt einer erneuerten anbrechenden 21. Jahrhunderts gestellt und Linken zu Struktur und Wirkung verhelfen beantwortet haben. kann. In den neuen Gerechtigkeitsdimensio- - Es sind die Grünen, die Freiheit und nen liegt ein entscheidender Unterschied Selbstbestimmung zum festen Be- zwischen der "alten" und der "neuen" Linken standteil von Gerechtigkeit und So- - die entschiedene Parteinahme für die zialstaat gemacht haben. Uns geht Schwächsten, der emanzipatorische Gehalt, es um die Solidarität mündiger Bür- die Erweiterung in räumlicher und zeitlicher ger, nicht um die Verfestigung einer Hinsicht, die Einbeziehung der ökologischen entmündigenden Bürokratie. Uns Frage und die Bezugnahme auf "neue" sozi- geht es um gleiche Verwirklichungs- ale Güter wie Bildung, Arbeit oder Partizipa- chancen und ein selbstbestimmtes tion. Er ist auch in unserem neuen Leben, nicht um Bevormundung. Grundsatzprogramm festgehalten und entfal-

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- Die Grünen haben mit Ökologie und ein zentrales Element grüner Politik. Umweltschutz schon sehr früh eine - Die Grünen haben die Geschlechter- der zentralen sozialen Fragen der frage zu einem Gerechtigkeitsthema Zukunft thematisiert. Die anderen gemacht und damit eine entschei- Parteien haben bis heute eine der dende Dimension der sozialen Frage zentralen neuen thematisiert. - Gerechtigkeitsfragen verschlafen. - Und die Grünen haben gezeigt, wie Die ökologische Frage kommt dort sich Pragmatismus und Idealismus, inzwischen zwar in den Programmen wie sich Realismus und Substanz vor, ist aber in deren realer Politik verbinden lassen. Sie sind weder be- immer das erste Opfer. liebig geworden, wie wir das in Tei- - Die Grünen haben die sozialen Fra- len der neuen Mitte, aber auch bei gen von Anfang an auf der Raum- Regierungen mit PDS-Beteiligung und Zeitachse verlängert. Generati- beobachten konnten, noch sind sie onengerechtigkeit und Nachhaltigkeit in die Falle des Traditionalismus und sind zu grünen Labeln geworden. der Sektiererei gelaufen. Fallen, die, Ebenso internationale Gerechtigkeit wie wir wissen, für die Linke beson- und gerechte Globalisierung. Hier ders attraktiv zu sein scheinen. liegen zwei Kernherausforderungen Jetzt kommt es darauf an, diesen program- einer modernen Linken, die auf der matischen Vorsprung weiterzuentwickeln, zu Höhe der Zeit agiert. verdichten und als Zentrum unseres Politik- - Die gerechte und von der sozialen ansatzes in die Gesellschaft zu geben. Denn Herkunft unabhängige Teilhabe an dort entscheidet sich die Zukunft einer er- Arbeit, Bildung und Demokratie ist neuerten Linken und nicht in Hinterzimmern.

3. Gefahr des Neokonservatismus Wenn wir von der Gefahr des Neokonserva- levant. Die Probleme der Linken sind dabei tismus sprechen, meinen wir mehr als ihr ak- nicht allein tagespolitisch zu begründen. Sie tuelles Zentrum, also die neokonservativen haben ihre tieferen Ursachen auch in der Konzepte zur Außenpolitik in den USA. Wir gesellschaftlichen Entwicklung der letzten meinen damit jenes Zusammenspiel von Jahrzehnte und in der Art und Weise, wie staatlicher Entverantwortlichung, gesell- sich die Linke dazu verhalten hat. Wir müs- schaftlichem Rückschritt und außenpoliti- sen feststellen, dass die europäische Linke scher Renationalisierung, wie wir es bei den seit längerem keine attraktive Antwort auf Konservativen beobachten können. die neuen Herausforderungen des postin- dustriellen Zeitalters hat. Die Konservativen Auch wenn die jüngsten Wahlen in Spanien stoßen damit in ein Vakuum aus Pragmatis- und die Kommunalwahlen in Frankreich und mus und Lethargie, das ihnen – wenn wir Italien Anlass zu Hoffnung geben, sehen wir nicht aufpassen – eine politische und kultu- mit großer Sorge, wie nicht nur in Deutsch- relle Hegemonie bescheren könnte. land, sondern in ganz Europa linksliberale Reformbündnisse unter Druck geraten und – Das jedoch wäre fatal, denn die konservati- falls sie die Regierung stellen - schließlich ven Antworten sind völlig falsch und hätten abgewählt werden. Erneuerung der Linken fatale Konsequenzen. Der Neokonservatis- heißt für uns deshalb auch Erneuerung der mus zielt darauf, die politischen Themen aus europäischen Linken, denn die anstehenden dem Kontext der Gerechtigkeitsfrage her- Fragen sind für die Linke in ganz Europa re- auszulösen und in die private Sphäre zu

12 Realismus & Substanz Links Neu verbannen. Phänomene der gesellschaftli- und Informationszeitalter, Partizipation oder chen Modernisierung wie Individualisierung, Ökologie stecken in Wahrheit oft harte mate- Migration oder die Auflösung der traditionel- rielle Verteilungsfragen neuer Art. Uns len Familie als Wirtschafts- und Versor- kommt es darauf an, den Maßstab der Ge- gungsgemeinschaft reduziert der Neokon- rechtigkeit im Sinne gleicher Anerkennung servatismus auf individuelle Fehlentschei- und gleicher Verwirklichungschancen im dungen, für deren Bewältigung Staat und Hinblick auf die neuen gesellschaftlichen Gesellschaft keine Verantwortung tragen. Herausforderungen zu verteidigen. Das kann Ablehnung der Moderne und Überforderung jedoch nur gelingen, wenn der linke Gerech- durch ihre Komplexität sind der Hintergrund tigkeitsdiskurs seinerseits neu ausgerichtet für die im Wesentlichen auf den Abbau kol- wird, denn die neuen Verteilungsfragen blei- lektiver Verantwortung gerichteten politi- ben nicht ohne Konsequenz für den Modus schen Konzepte des Neokonservatismus: und die Adressaten einer gerechtigkeitsori- Für individualisierte und gleichzeitig hoch- entierten Politik. verflochtene Gesellschaften werden Konzep- Viele Bürgerinnen und Bürger haben noch te angeboten, deren scheinbarer Reiz in der die Hoffnung, Gerechtigkeit durch Moderni- Einfachheit liegt. Sie resultiert jedoch tat- sierung herstellen zu können. Wenn die Lin- sächlich daraus, dass die wesentlichen Ge- ke diese Hoffnung enttäuscht, werden die rechtigkeitsfragen ausgeblendet werden. Ek- Menschen resignieren und sich mit dem latante Ungerechtigkeit, Entmündigung und Spatz in der Hand begnügen, den ihnen der noch mehr Unsicherheit sind das Ergebnis. Neokonservatismus vorhält: Modernisierung Hinter den angeblich postmateriellen Fragen statt Gerechtigkeit. wie etwa Bildung, Arbeit im Dienstleistungs-

4. Orientierungsschwäche der "neuen Mitte" Auch hinter dem Schlagwort von der „neuen recht" in einem traditionalistischen Sinne Mitte“ war der zumindest rhetorische Ver- sein. Und schließlich wieder der Schwenk such zu beobachten „Innovation und Ge- zur Modernisierungsrhetorik, ohne das Ge- rechtigkeit“ zu verbinden. Es ist der Politik rechtigkeitsanliegen entwickelt und heraus- hinter diesem Label jedoch nicht gelungen, gearbeitet zu haben. Vom „Genossen der dieses Versprechen halbwegs einzulösen. Bosse“ zum „Robin Zwickel“ und wieder zu- Die Politikansatz der "neuen Mitte" war in rück – so hatten wir uns den „Dritten Weg“ den Feldern der Wirtschafts-, Sozial- und nicht vorgestellt. Der interne Zusammen- Arbeitsmarktpolitik oft weder gerecht noch hang zwischen Gerechtigkeit und Moderni- innovativ. Zunächst wurde die Frage der Ge- sierung wurde zu keinem Zeitpunkt erkannt: rechtigkeit ausgeklammert und ganz auf Gerechtigkeit braucht Veränderung und Ver- Modernisierungsrhetorik gesetzt. Als Schrö- änderung muss gerecht sein. Das ist der der zunehmend Gegenwind aus dem eige- Zweisatz unserer grünen Vorstellung einer nen Lager bekam, besann man sich des erneuerten Linken. Gegenteils und wollte plötzlich wieder "ge-

5. Gesellschaftliche Debatte statt Nabelschau Wir wollen die Erneuerung der Linken als einer solchen Debatte zu werden. Verant- gesellschaftliche Debatte führen und nicht wortliche Politik muss sich an der gesell- als Nischendebatte in der Partei. Nur mit schaftlichen Situation orientieren, an den diesem Anspruch haben die Grünen auch Lebensbedingungen der Menschen, und eine Chance, zum Motor und Bezugspunkt nicht an der kleinen heilen Welt der eigenen

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Partei. Deshalb begreifen wir die erneuerte gen oder neben dieser Linken aufstellen, Linke auch nicht als Sekte, Strömung oder hängt für die Zukunft der Partei mehr ab, als Flügel, sondern als den Teil der Gesell- manche glauben. Daran hängen das pro- schaft, der die Leitideen der Gerechtigkeit grammatische Profil, wie auch handfeste und Selbstbestimmung für sich reklamiert. Machtoptionen. Von der Frage, wie sich die Grünen in, ge-

6. Die Chance aktiv ergreifen Mit der Strategie „Links Neu“ verbinden sich doch der Weg ist inhaltlich notwendig und erhebliche inhaltliche wie strategische strategisch sinnvoll. Das neue Grundsatz- Chancen. Sie fliegt uns jedoch nicht zu, programm ist ein wichtiger Anfang, mit sei- sondern sie muss aktiv ergriffen werden - als nen Grundsäulen der erweiterten Gerechtig- programmatische Richtung, als Kommunika- keit, der Selbstbestimmung, der Demokratie tionsstrategie, als strahlkräftiges Angebot an und der Ökologie. Jetzt gilt es, diesen Weg die Gesellschaft. Die Chance „Links Neu“ zu fortzusetzen und nicht wieder in den alten ergreifen wird nicht ohne Mühen abgehen, Burgfrieden zurückzufallen.

II. Eckpunkte einer erneuerten Linken - Erweiterte Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Ökologie, Demokratie Wir beginnen mit der inhaltlichen Beschrei- sondern rechtfertigen sich nur durch berech- bung von „Links Neu“, denn Strategien, tigte inhaltliche Anliegen. Macht und Prozente sind kein Selbstzweck,

1. Was heißt „Links Neu“? Die von uns vorgeschlagene Option lautet, in der Parteienlandschaft zu unterschei- insofern an die demokratische Linke anzu- dungsschwach, ist in doppelter Hinsicht knüpfen, als wir die Frage der Gerechtigkeit falsch. Zum einen ist die Kategorie der Ge- und Selbstbestimmung als Grüne nochmals rechtigkeit bei Liberalen und Konservativen neu stellen. kaum existent. Zum anderen hängt die Strahlkraft des Gerechtigkeitsgedankens Die Parteinahme für Schwächere und das ganz entscheidend von seiner Interpretation Versprechen der Selbstbestimmung sind ab. Nur als interpretierter Begriff erhält er nicht nur der normative Ausgangspunkt un- Konturen und vermag zu überzeugen. Und seres politischen Engagements, sie sind wir meinen, der Entwurf des Grundsatzpro- auch das, was wir von den Grünen erwarten. gramms hat hier mit dem Konzept der Erwei- Die Grünen stehen hierbei nicht mit dem terten Gerechtigkeit eine ausgesprochen Rücken zur Wand, sondern können selbst- starke Interpretation anzubieten: bewusst und erhobenen Hauptes agieren. Die traditionelle Linke hat es versäumt, die Wir haben einen emanzipatorischen Gerech- neuen Gerechtigkeitsfragen – Ökologie, tigkeitsbegriff, dem es um Empowerment Minderheitenschutz, demokratische Teilha- und gleiche Verwirklichungschancen in sozi- be, Generationengerechtigkeit, internationa- aler Sicherheit geht. Gerechtigkeit zielt nach le Gerechtigkeit, gerechter Zugang zu Bil- der grünen Programmatik auf konkrete – und dung – in ausreichendem Maße zu themati- nicht nur abstrakte – Chancengleichheit. sieren. Und Gerechtigkeit heißt zuallererst Partei- nahme für die am schlechtesten Gestellten. Der Einwand, der Gerechtigkeitsgedanke sei Damit meinen wir nicht eine verkürzte Wahr-

14 Realismus & Substanz Links Neu nehmung des Konflikts zwischen Kapital und tigkeitsfragen stehen nicht neben oder gar Arbeit, in der die erworbenen Rechte des gegen die Frage der Verteilungsgerechtig- männlichen Facharbeiters auf ewig der ent- keit, sie sind Verteilungsfragen, wenn auch scheidende Maßstab für die Verwirklichung neuer Art. Es wäre naiv zu glauben, die Fra- von Gerechtigkeit bleiben. Wir machen Poli- ge der Teilhabe an Arbeit und Bildung, der tik für diejenigen, die ohne Unterstützung der globalen Gerechtigkeit oder der Generatio- Gesellschaft keine Chance auf Wahrneh- nengerechtigkeit hätte keine Verteilungsdi- mung ihrer Rechte, Selbstbestimmung oder mension. Ganz im Gegenteil: Gerade hier eigenverantwortliche Lebensführung haben. sind erhebliche materielle Anstrengungen Arbeitslose, Migrantinnen und Migranten, Al- nötig, wenn auch mit einem anderen Ziel, leinerziehende, Kinder und viele andere nämlich der Partizipation an zentralen ge- Menschen sind auf das politische Engage- sellschaftlichen Gütern. ment der Grünen angewiesen. In diesem Es kommt entscheidend darauf an, den in- Sinn ist Gerechtigkeit kein abstrakter Ge- ternen Zusammenhang zwischen Gerechtig- danke, sondern politisch hochrelevant. Ein keit und Selbstbestimmung herauszustellen. Gerechtigkeitsbegriff, der auf die sozialen Gerechtigkeit steht aus grüner Sicht nicht Herausforderungen der Gegenwart und Zu- gegen Freiheit, sondern für den Gedanken kunft Antwort geben will, hat notwendiger- gleicher Verwirklichungsmöglichkeiten. Be- weise mehrere Dimensionen. greift man Gerechtigkeit als gleiche reale Stichpunkt Teilhabegerechtigkeit: Wer wenn Freiheitschancen, so wird bereits hier deut- nicht wir ist in der Lage, die neuen Fragen lich, wo das eigenständige Profil der grünen des Zugangs zu den entscheidenden gesell- Partei liegt. Sowohl der sozialdemokratische schaftlichen Ressourcen – Arbeit, Bildung, Ruf nach Gerechtigkeit als auch der freide- demokratische Teilhabe – zu stellen und zu mokratische Ruf nach Freiheit greifen zu beantworten? Stichpunkt Geschlechterge- kurz. Die Grünen sind in der Lage, Gerech- rechtigkeit: Wer wenn nicht wir ist willens, tigkeit und Freiheit zusammendenken. Ge- das immer noch uneingelöste Versprechen rechtigkeit zielt aus unserer Sicht nicht auf eines gleichberechtigten Lebens zwischen einen entmündigenden Staatspaternalismus, Frauen und Männern weiter zu realisieren? sondern verlangt nach realer Chancen- Stichpunkt internationale Gerechtigkeit: Wer gleichheit und Selbstbestimmung. Freiheit wenn nicht wir hat die Möglichkeit, die Glo- erhält vor diesem Hintergrund eine emanzi- balisierung in ihrer Ambivalenz zu erkennen pative Stoßrichtung, die die materiellen und und entsprechende Schlüsse daraus zu zie- immateriellen Voraussetzungen von Selbst- hen? Stichpunkt Generationengerechtigkeit: bestimmung nicht ausklammert, wie es der Wer wenn nicht wir berücksichtigt schon Laisser-faire Liberalismus der FDP tut. heute die Interessen der jungen und zukünf- Eine Partei, die es mit dem Begriff der Ge- tigen Generationen – in Fragen der sozialen rechtigkeit ernst meint, ist aufgefordert, den Sicherung und der Umweltpolitik? Und Verallgemeinerungsgrundsatz räumlich und schließlich Stichpunkt Umweltgerechtigkeit: zeitlich weiterzudenken. Und spätestens an Wer wenn nicht wir sollte das Thema Um- den beiden Punkten der internationalen Ge- welt als eine harte Gerechtigkeitsfrage, eine rechtigkeit und der intergenerationellen Ge- Frage der Lebensvoraussetzungen und der rechtigkeit müsste jedem deutlich werden, Lebensqualität von heute und morgen the- worin die Eigenständigkeit des grünen An- matisieren? satzes liegt. Im Zentrum unserer Politik steht die Partei- Gerechtigkeit heißt im grünen Kontext von nahme für die sozial Schwachen und Be- jeher internationale Solidarität. Und die Grü- nachteiligten – mit all ihren verteilungspoliti- nen haben mit dem Thema Europa die histo- schen Konsequenzen. Die "neuen" Gerech- rische Chance, sich zum Anwalt Europas

15 Links Neu Realismus & Substanz und damit zum Anwalt einer der großen Vi- einer erneuerten, ökologischen und emanzi- sionen unserer Zeit zu machen. patorischen Linken – und die Grünen kön- nen und müssen sie beantworten. Es geht Und Gerechtigkeit heißt im grünen Kontext nun darum, das Verhältnis der verschiednen mit an vorderster Stelle Generationenge- Gerechtigkeitsdimensionen zueinander mög- rechtigkeit – und auch hier liegen sowohl im lichst genau zu bestimmen. sozialen wie auch im ökologischen Bereich die Themen der Zukunft vergraben. Es geht Der erweiterte Gerechtigkeitsbegriff wird sich um nichts weniger als um die Zukunftsfähig- dabei der Schwierigkeit von Abwägungen keit der sozialen Sicherungssysteme und nicht entziehen können. Es geht nicht überall damit des Sozialstaats als solchem. Wir ha- immer nur um ein Mehr an allen Dimensio- ben über den vorgeschlagenen Weg die nen von Gerechtigkeit, es wird auch zu Ziel- Chance, die soziale Relevanz von Umwelt- konflikten kommen. Doch eine erneuerte themen deutlich zu machen. Im angloameri- Linke kann diese Dimensionen nicht gegen- kanischen Raum ist der Begriff der „envi- einander ausspielen, weil sie verschiedene ronmental justice“ längst ein fester Begriff. In wichtige Aspekte der sozialen Frage benen- ihm wird deutlich, dass sich hinter der ökolo- nen. Bis zu einem gewissen Grad ist dieser gischen Frage handfeste Fragen der Ge- Gegensatz auch künstlich. Teilhabe am ge- rechtigkeit und Freiheit verbergen. Im Be- sellschaftlichen Geschehen ohne angemes- reich ökologischer Politik geht es um die sene Teilhabe an der Verteilung erwirtschaf- Freiheitsspielräume junger und kommender teten Wohlstandes kann schnell zum instru- Generationen; und es geht um die sozialen mentalisierten Argument für Befürworter a- Bedingungen, unter denen Menschen zu le- symmetrischer Sozialbeziehungen werden, ben haben werden. Hier bekommt ökologi- zum "Abspeisen" mit der bloßen schulter- sche Politik einen anderen Zungenschlag, klopfenden Anerkennung. Und jede "post- als in manchen „small is beautiful“-Arien. Ei- materielle" Orientierung hat selbstverständ- ne Politik der Umweltgerechtigkeit kann da- lich starke materielle Voraussetzungen. Die- bei keineswegs auf ökologische Grenzzie- se deutlich zu machen ist Aufgabe einer er- hungen verzichten. Sie ist jedoch in der La- neuerten Linken. ge, den Bürgerinnen und Bürgerinnen plau- Über die Strategie „Links Neu“ kann es ge- sibel zu machen, warum diese Grenzzie- lingen, die ökologischen und sozialen Kern- hungen notwendig sind, indem sie positiv an anliegen der Bündnisgrünen als "harte" Fra- den Freiheits- und Gerechtigkeitskern mo- gen zu vermitteln, die die Lebensbedingun- derner Gesellschaften anknüpft. gen und die Zukunftschancen der Menschen Wir dürfen uns nicht zurücklehnen, sondern betreffen. Man tut den grünen Schlüssel- müssen den programmatischen Vorsprung themen keinen Gefallen, wenn man sie im weiter vertiefen und ausbauen. Wie verhal- Dunstkreis des klassischen Milieus belässt. ten sich die verschiedenen Gerechtigkeits- Erst wenn die grünen Anliegen von den Bür- dimensionen zueinander? Welche Rolle ge- gerinnen und Bürgern als ernsthafte Sorge nau spielt die Verteilungsdimension in den um die Bedürfnisse und Verwirklichungsan- "alten" und "neuen" Gerechtigkeitsfragen? sprüche der Menschen aufgenommen wer- Wie bewegt sich eine Politik der Generatio- den, wird die eigentliche Reichweite des nengerechtigkeit zwischen Haushaltskonso- grünen Projekts sichtbar. lidierung und Zukunftsinvestitionen? Welche Es ist unübersehbar: in dem Fokus der Ge- Konsequenzen haben Teilhabe- und Zu- rechtigkeit laufen die Themen und Anliegen gangsgerechtigkeit für die Lebensstandard- grüner Politik zusammen. Aus der Gerech- sicherung? Was heißt es, die Ökologie als tigkeitsperspektive sind grüne Anliegen nicht Gerechtigkeitsanliegen zu thematisieren? nur postmaterialistische Wohlfühlthemen, Das sind entscheidende Orientierungsfragen sondern sie betreffen "harte" Zukunftsfragen.

16 Realismus & Substanz Links Neu

Über diese Perspektive haben die Grünen gesellschaftliche Relevanz ihrer Anliegen zu die Chance, stärker als bislang in die gesell- vermitteln. schaftlichen Debatten einzugreifen und die

2. Die Alternativen Neben unserem Vorschlag einer erneuerten, Statt einer Antwort bekommen sie aber oft europäischen und ökologischen Linken las- drei. Und genau das ist das Problem. Im sen sich in der Partei mindestens vier ande- schlimmsten Fall vertreten Einzelne alles re Optionen feststellen, auch wenn deren gleichzeitig und merken gar nicht, wie kon- Protagonisten sie in der Regel nicht explizit turlos und unpointiert diese Aneinanderrei- aussprechen. Diese Optionen bezeichnen hung von Bruchstücken ist. Die unterschied- wir als "Alles zugleich", "Radikaler Pragma- lichen Grundpositionen in der Partei zu in- tismus", "Links alt" und "Wertkonservatis- tegrieren und zusammenzukitten ist harte mus". Arbeit und eine große Leistung. Wenn wir also über praktisches Parteimanagement Option Alles zugleich: Eine Option besteht sprechen, ist das Zusammenhalten der ver- darin, sich als Partei aus allen politischen schiedenen Kräfte alternativlos und notwen- Ideen, Weltbildern und Traditionen zu bedie- dig. Wenn wir aber eine Perspektivendiskus- nen. Innerparteilicher Pluralismus ist ein ho- sion führen, so müssen wir die Diskussion her Wert - und eine Partei basiert am Ende um den gemeinsamen Kern führen. „Alles immer auf Kompromissen höchst unter- gleichzeitig“ – das wird auf Dauer nicht rei- schiedlicher Akteure. Was uns jedoch beun- chen. ruhigt ist, dass bislang eine engagierte streitbare Debatte um ein normatives Fun- Option Radikaler Pragmatismus: Eine wei- dament für die Gesamtpartei kaum stattfin- tere Option besteht darin, den undogmati- det. So wichtig Pluralismus und Meinungs- schen, unbefangenen Problemlöser zu ge- vielfalt sind, so wenig dürfen die Inhalte ei- ben. Ein beliebtes Image, gerade auch bei ner Partei zu einem Bauchladen werden. Ei- Jüngeren. Es ist jedoch ein „naturalistischer ne der größten Schwierigkeiten der Grünen Fehlschluss“ erster Klasse, wenn behauptet ist das Phänomen der permanenten Selbst- wird, man solle normativpolitische Katego- dementierung. Wir reden an diesem Punkt rien („gerecht“/„ungerecht“, "selbstbe- nicht über die Pluralität grüner Themen oder stimmt"/"paternalistisch", „links"/"rechts“etc.) die Vielfalt grüner Persönlichkeiten, sondern einfach über Bord werfen und die „Probleme, über das Aussenden dissonanter, wider- die in der Gesellschaft vorhanden sind, un- sprüchlicher Botschaften. Wir halten die mittelbar und tabulos ansprechen“. Wonach These für falsch, dass die Qualität einer Par- bestimmt sich eigentlich, was ein „Problem“ tei darin liege, dass sie die „Widersprüche in ist? Und woraus ergibt sich eigentlich der der Gesellschaft repräsentiert“. Parteien sind Weg, ein Problem zu lösen? Diese Fragen dazu da, Partei zu ergreifen. Und die Bürge- lassen sich ohne ein normatives Fundament rinnen und Bürger wollen von einer Partei überhaupt nicht beantworten. Die Rhetorik wissen, welche Position sie zu einem be- der Problemlösung unter unmittelbarer Be- stimmten Thema einnimmt. Dem muss ein zugnahme auf den „eigentlichen" Willen der pluralistischer und lebendiger innerparteili- Bevölkerung und der Verzicht auf normative cher Willensbildungsprozess vorausgehen, Begrifflichkeiten und einen politischen Kom- aber am Ende braucht eine attraktive Partei pass macht Politik gegenüber den Feinden eine kohärente Position. Da helfen auch von Demokratie und Toleranz anfällig, hilflos Leerformeln wie "Nicht rechts, nicht links, und schwach. Diese Immunschwäche ist sondern vorne" kaum weiter. Die grünen aber nicht nur ein Problem der Westerwel- Wähler wollen wissen, wofür Grün steht. les, sie ist eine allgemeine Gefahr für die Po-

17 Links Neu Realismus & Substanz litik. Anstatt die normative Landkarte weg- unter einem weniger offensichtlichen Etikett. zuwerfen wollen wir sie, wo nötig, ergänzen Wir halten diesen Weg nicht nur aus strate- und umschreiben. Die Orientierungslosigkeit gischen Gründen für falsch, weil er die Grü- ist ein Problem der “neuen Mitte“ insgesamt. nen in jene Nische zurückdrängen würde, Wofür steht diese „Mitte“ eigentlich? Innova- aus der sie sich mühselig herausbewegt ha- tion in welche Richtung? Bewahrung von ben. Wir halten ihn insbesondere aus inhalt- was? Modernisierung in welcher Hinsicht? lichen Gründen für falsch. Eine Linke, die So wichtig es ist, bei der Wahl der politi- dem Traditionalismus verfällt, ist zu Antwor- schen Instrumente offen für Neues zu sein, ten auf die drängenden Fragen der Gegen- so naiv ist es, zu glauben, diese Unbefan- wart nicht in der Lage. Zu stark haben sich genheit alleine habe schon allzu viel mit Poli- die gesellschaftlichen Realitäten gewandelt. tik zu tun. Gerade bei dem gewaltigen Pro- Und zu stark ist auch die Verständigung jekt der Erneuerung des Sozialstaates, das darüber fortgeschritten, was die Ziele der in die Lebensbedingungen jedes Einzelnen Gerechtigkeit und der Emanzipation im Kern eingreift, stellt sich das für eine solche Auf- bedeuten. Viele grüne Debatten der letzten gabe notwendige Vertrauen der Menschen Jahre waren eben nicht nur dem Druck der nicht von alleine ein. Auf diese Reise werden Regierungsbeteiligung geschuldet, sondern sich die Menschen nur einlassen, wenn sie der Einsicht in veränderte gesellschaftliche das normative, politische Ziel kennen. Und Realitäten und veränderte normative Zielset- wer auf die Definition dieses Zieles zu ver- zungen. zichten können glaubt, wird scheitern. Option Wertkonservatismus: Eine Option, Die beschriebene Form des Hyper- die bei den Grünen immer wieder aufschim- Pragmatismus speist sich faktisch oft aus mert, lässt sich wohl am besten als „wert- wirtschaftsliberalem Gedankengut, das sich konservativ“ beschreiben. Diese Option auch gerne rein pragmatisch gebärdet, in scheint uns jedoch nicht nur wenig aussage- Wahrheit aber auf einer klar beschreibbaren kräftig, sondern sie hat darüber hinaus eine Theorie beruht. Der Staat wird hier in eine gefährliche Schlagseite. Sie ist wenig aus- Statistenrolle zurückgedrängt. Anstatt die sagekräftig, weil sie unklar lässt, welche staatliche Gestaltungsaufgabe entsprechend Werte denn konserviert werden sollen. Mo- den gesellschaftlichen Herausforderungen ralphilosophie und Geschichte haben ja eini- neu zu justieren und neue Arrangements zu ges an Werten zu bieten. Wenn damit ge- kreieren, wird simpel Entstaatlichung gefor- meint ist, was der SPD-Linke Erhard Eppler dert. Mit Sicherheit keine Option für eine im Kern vor 20 Jahren meinte, nämlich dass Partei, der es auf Gerechtigkeit und Selbst- die Verteidigung der aufklärerischen Werte bestimmung ankommt. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ eine be- wahrende Dimension hat, dann ist der Beg- Option Links alt: Eine weitere Option der riff unproblematisch. Unser Eindruck ist je- Partei könnte Back-to-the-roots heißen. doch, dass sich dieser Begriff zunehmend „Schluss mit den anstrengenden Debatten aus dem aufklärerischen Kontext herauslöst. um Erneuerung der Linken, gesellschaftli- Mit seinen Versatzstücken aus Ökologie- chen Wandel und neue Herausforderungen. Primat, Zivilgesellschaft und Kulturpessi- Schluss mit den verwirrenden Debatten um mismus wird er immer mehr zur einer Vari- einen neuen, komplexen Gerechtigkeitsbeg- ante eines „wohlfühlenden“ Konservatismus. riff. Schluss mit den anstrengenden Kom- Die Option, die sich dahinter verbirgt, ist promissen in der Regierung.“ Die Option des nicht zu unterschätzen, denn sie hat für ei- Back-to-the-roots wird vor dem Hintergrund nen Teil der Partei offenkundig eine gewisse der guten grünen Wahlergebnisse keine ü- Attraktivität. Die emanzipatorischen Zuge- bermäßige Kraft besitzen, aber sie steht winne der letzten Jahrzehnte, die nicht zu- nach wie vor im Raum, wenn vielleicht auch letzt grüner Politik zu verdanken sind, wer-

18 Realismus & Substanz Links Neu den aus dieser Perspektive skeptisch bewer- egalitären und individualistischen Wurzeln tet. Die Welt – zu laut, zu bunt, zu schnell. speist und diese miteinander verbindet. So lautet das wertkonservative Lamento, Im Übrigen fördert die Politik Solidarität nicht das im ökologischen Gedanken einen ver- durch wertkonservative Verantwortungsap- meintlichen Verbündeten sucht. Gegen den pelle, sondern durch die aktive Gestaltung Individualismus werden die undefinierten der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Begriffe vom Gemeinwohl und Gemeinsinn in Bereichen wie dem Bildungssystem oder angeführt, die in der konservativen Begriffs- Arbeitswelt. Anstatt über den vermeintlichen geschichte keine Unbekannten sind. Diese Egoismus der Gesellschaft zu jammern und Begriffe sind jedoch ungenau und in ihrer in appellativer Verantwortungsrhetorik zu Wirkung problematisch, da sie an den kollek- versinken muss die Politik den Verantwor- tiven Zusammenhalt appellieren, ohne das tungsbegriff auf ihre eigenen institutionellen normative Ziel dieser Kollektivität offen zu Aufgaben beziehen. Zu diesen Aufgaben legen. Hier ist das Konzept eines erweiter- gehört es nicht zuletzt, die Menschen über- ten, grünen Gerechtigkeitsbegriffs präziser haupt erst in die Lage zu versetzen, Eigen- und missbrauchsresistenter, weil es sich aus verantwortung wahrnehmen zu können.

3. „Links Neu“ im postindustriellen Zeitalter Eine erneuerte Linke und eine neue Politik trielles Wachstum darf aber nicht weiterhin für soziale Gerechtigkeit muss darauf reagie- notwendige Strukturreformen ersetzen. Dies ren, dass sich die Bedingungen für die Ver- gilt umso mehr, wenn man den demographi- teilung von Wohlstand im postindustriellen schen Wandel unserer Gesellschaft einbe- Zeitalter drastisch verändert haben. Her- zieht. Die Finanzierung sozialer Sicherheit kömmliche Industriearbeit wurde in den letz- kann nicht mehr nur an der abhängigen Be- ten Jahrzehnten in hohem Maße durch den schäftigung anknüpfen, sondern muss ande- Dienstleistungssektor ersetzt. Unter dem re Erwerbsmöglichkeiten und Einkommen Druck der Globalisierung spielt wissensba- einbeziehen. Gleichzeitig gibt es ein Bedürf- sierte Arbeit eine immer größere Rolle, da nis nach kollektiver sozialer Absicherung Deutschland weder über Rohstoffe noch ü- jenseits der abhängig Beschäftigten, etwa ber billige Arbeitskräfte verfügt. Umwelt- bei Selbständigen oder Menschen, die ge- freundliche Technologien und Instrumente sellschaftlich notwendige Arbeit ohne Bezah- sind unter dem Druck der Umweltzerstörung lung verrichten. Früher eher randständige und knapper Ressourcen zunehmend zu Risikolagen sind mittlerweile so verbreitet harten Wirtschaftsfaktoren geworden. Der und so folgenreich für den Einzelnen, dass demographische Wandel postindustrieller eine Neujustierung des Sozialstaats drin- Gesellschaften führt zu großen Herausforde- gend erforderlich ist: Das betrifft insbesonde- rungen für den Sozialstaat. Eine erneuerte re, das Risiko einer Erwerbsbiographie mit Linke muss diesen veränderten Bedingun- Phasen der Arbeitslosigkeit oder Teilzeitar- gen des Postindustrialismus Rechnung tra- beit, die den Aufbau einer Altersvorsorge gen, wenn sie weiterhin ihren Anspruch auf aus eigener Kraft nicht mehr zulässt, das Ri- die Verwirklichung von Gerechtigkeit und siko der Alleinerziehung, das Risiko unzurei- Selbstbestimmung aufrechterhalten will. chender oder veralteter Qualifikation oder das Risiko eines Scheiterns beim Sprung in Wir brauchen unter den jetzigen Bedingun- die Selbständigkeit. Die Modernisierung des gen von Staatsverschuldung und demogra- Sozialstaates kann deshalb nicht seinen phischem Wandel Wachstum, soweit es so- Rückzug bedeuten. Im Gegenteil, substan- zial und ökologisch nicht schädlich ist. Die zielle Erfolge beim Kampf gegen die Arbeits- trügerische Hoffnung auf klassisches indus-

19 Links Neu Realismus & Substanz losigkeit, etwa durch bessere Verteilung von cherung, die ja bisher den erfolgreichen Zu- Arbeit, sind nur dann zu erzielen, wenn die gang zum Arbeitsmarkt voraussetzt, verkehrt Solidarsysteme diese neuen Risikolagen be- sich jedoch dann zu einer Ungerechtigkeit, rücksichtigen. Die anhaltend hohe strukturel- wenn sie zum teuren Privileg einiger weniger le Arbeitslosigkeit ist nicht eine Folge von wird, das die Verbesserung der Zugangs- zuviel sozialer Sicherung. Sie ist auch Folge chancen vieler anderer verhindert. Eine ge- von zu wenig oder falscher sozialer Siche- rechte Verteilung von Chancen auf dem Ar- rung für bestimmte Problemlagen. beitsmarkt lässt sich deshalb nur erreichen, wenn die Sozialsysteme weniger Verantwor- Wir müssen entlang unseres Gerechtigkeits- tung für die Sicherung des einmal erreichten begriffs eine Entscheidung treffen, welche Lebensstandards übernehmen, um statt der bisher kollektiv abgesicherten Risiken in dessen dem Einzelnen bei der Bewältigung Zukunft der Einzelne zu tragen hat und wel- des Risikos dauerhafter Abkopplung vom che individuellen Risiken künftig mehr Un- Arbeitsmarkt und von existenzieller sozialer terstützung erfahren müssen. Bislang orien- Sicherung mehr unter die Arme zu greifen. tieren sich die sozialen Sicherungssysteme Die Grünen haben mit Blick auf all das mit am Ziel der Aufrechterhaltung des Lebens- ihren Konzepten der Bürgerversicherung standards. Diese Zielsetzung war allenfalls sowie der sozialen Grundsicherung zwei so lange gerecht, als die Angewiesenheit auf zentrale Lösungsansätze benannt. Hieran Sozialleistungen als Ausnahmefall von der müssen wir kontinuierlich weiterarbeiten, Regel lebenslanger Beschäftigung betrach- wenn wir einer veränderten Welt zu mehr tet werden konnte. Diese Lebensstandardsi- Gerechtigkeit verhelfen wollen.

4. Parteinahme für die Schwachen Parteien sind nach unserem Anspruch keine Eine der ganz entscheidenden Aufgaben, Interessengruppen, sondern haben die Auf- wahrscheinlich die entscheidende über- gabe, einzelne Interessen mit Blick auf Ge- haupt, ist es, die Interessen ans Tageslicht rechtigkeit und Fairness zu transformieren. zu bringen und zu unterstützen, die keine Diese Transformation ist nicht einfach die Lobby haben. Parteinahme für die Moderation verschiedener Interessen, son- Schwächsten: Das ist wahrscheinlich der dern das Geltendmachen des ureigenen An- tiefste Grund, aus dem wir unsere politische spruchs der politischen Sphäre, Gerechtig- Kraft und unseren politischen Idealismus be- keit und Fairness herzustellen. Deshalb sind ziehen. Wer sich nicht artikulieren kann, fällt die zahlreichen Kommissionen, Räte und sonst von vornherein aus Gerechtigkeits- Konsensrunden zumindest problematisch, überlegungen heraus. Orientierung an den da sie Gefahr laufen, der Politik das Be- Schwächsten: das ist die Essenz des neuen wusstsein für ihre eigene Gestaltungsaufga- grünen Grundsatzprogramms, das in dem be zu nehmen. politischen Philosophen John Rawls einen Vordenker findet. Hier haben die Grünen ei- Auch wenn es faktisch oft anders ist: Die ne ganz besondere Rolle, denn ihre Politik Parteien sollten ihren Streit nicht als Streit wendet sich genau an diese Gruppen. zwischen unterschiedlichen Interessengrup- pen, denen sie sich verpflichtet fühlen, be- Vor dem Hintergrund dieser Gestaltungsauf- greifen, sondern als Auseinandersetzung gabe von Politik und Staat ist der pauschale zwischen unterschiedlichen Konzeptionen Ruf nach "Weniger Staat" und "Deregulie- von Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Hier gibt rung" nicht akzeptabel. Es geht vielmehr um es erhebliche Unterschiede, und es wäre eine neue Aufgabenbeschreibung des Staa- wichtig, diese herauszuarbeiten. tes vor dem Hintergrund einer völlig verän-

20 Realismus & Substanz Links Neu derten gesellschaftlichen Lage: Demogra- zielle Vorsorge für bestimmte Risiken von phischer Wandel, Globalisierung, Migration, der Solidargemeinschaft auf den Einzelnen Individualisierung, Digitalisierung sind hier zu übertragen, der Staat jedoch gleichzeitig entscheidende Stichpunkte. Dabei geht es die reale Entscheidungsfreiheit dieses so be- nicht einfach um "weniger" vs. "mehr" Staat, lasteten Einzelnen noch weiter beschneidet sondern um neue Balancen und Arrange- als bisher. Durch neue Erwerbsformen und ments. unbeständigere Berufskarrieren wird die Be- rufswahl zu einem immer größeren Risiko. So ist es beispielsweise auffällig, dass die Gelegentliche Erwerbslosigkeit wird oft zur beiden großen realisierten Reformprojekte in Regel. Staat und die sozialen Sicherungs- der Sozialpolitik, Riester-Rente und Hartz- systeme können den Wohlstand nur noch Reform, beide einerseits eine Flexibilisie- begrenzt umverteilen, sondern stellen eine rungs-und Eigenverantwortungs- Grundsicherung für alle Lebenslagen zur Komponente haben, anderseits aber stark Verfügung. Wenn mehr Eigenverantwortung auf staatliche Hilfestellungen und staatliche die Drohung des neuen Sozialstaats sind, Mittel angewiesen sind. Empowerment und dann ist ein mehr an realer Selbstbestim- Emanzipation der Bürgerinnen und Bürger mung das Versprechen, dass er einlösen braucht in bestimmten Hinsichten einen muss. Weniger Sicherheit muss einhergehen starken, aktiven Staat. mit mehr eigener und realer Entschei- Wir lehnen es ebenso ab, wenn das dungsmacht des Einzelnen, und zwar nicht Schlagwort von „mehr Eigenverantwortung“ nur dort, wo dies dem Staat in den Kram ausschließlich verwendet wird, um die finan- passt.

5. Offenheit für andere politische Traditionen Wir sind uns bewusst, dass wir mit tradierten neuerung der Linken heißt auch, Brücken zu politischen Begrifflichkeiten – zu denen auch bauen in verschiedene politische Milieus und das Begriffspaar links/rechts gehört - vor- Weltanschauungen, ohne dabei beliebig zu sichtig umgehen sollten, da sie nur noch be- werden. grenzt taugen und auch früher nur begrenzt Doch auch wenn sich eine erneuerte Linke getaugt haben. Wir wissen aber auch, dass für Elemente anderer politischer Traditionen wir trotz dieser Probleme nicht umhinkom- öffnen muss, so geht es uns eben doch um men, für uns eine nachvollziehbare normati- eine Neuausrichtung linker Politik und damit ve Position zu bestimmen. Dazu taugen we- um eine Absage an die These von der Äqui- der ein unkoordiniertes Nebeneinanderstel- distanz der Grünen zu den unterschiedlichen len der unterschiedlichen politischen Traditi- Traditionen und erst recht an die These, die onen noch blinder Pragmatismus, weder lin- Grünen seien die eigentlich konservative ker Traditionalismus noch kulturpessimisti- Partei. Das ist kein Streit um Worte, sondern scher Wertkonservatismus. dahinter steht das Kernanliegen, grüne Poli- Eine erneuerte, lernfähige Linke ist keine tik an den Anliegen Gerechtigkeit und Linke, die sich aggressiv von anderen auf- Selbstbestimmung zu orientieren. Wenn die- klärerischen Traditionen absetzt. Im Gegen- se beiden Anliegen den substanziellen Kern teil: Sie nimmt den Pathos von Selbstbe- einer 'erneuerten Linken' ausmachen, dann stimmung und Pluralismus, Freiheitsrechten ist der Begriff notwendig, um die Orientie- und Rechtsstaatlichkeit des politischen Libe- rung unserer Politik zu beschreiben. ralismus ebenso in sich auf, wie die wert- Was meinen wir, wenn wir sagen, die Grü- konservative Idee der Verteidigung von nen sind keine konservative Partei, sondern Menschenwürde und Solidarität gegen öko- die einer erneuerten Linken? Wenn "konser- nomische oder technokratische Zugriffe. Er-

21 Links Neu Realismus & Substanz vativ" die bloße formale Beweislastregel ziehen, ist nicht eine formal sondern eine in- meint, dass man das Vorhandene bewahren haltlich bestimmte. Denn der Neokonserva- sollte, solange man nicht starke Gründe für tismus, wie er sich momentan abzeichnet, ist eine Veränderung hat, dann scheint uns das nicht durch die genannte formale Beweis- zwar auch nicht plausibel, aber in jedem Fall lastregel gekennzeichnet. Ihm geht es viel- keine sinnvolle Trennlinie. Es ist völlig klar, mehr um die aktive Durchsetzung bestimm- dass wir als freiheitsorientierte Linke nicht ter inhaltlicher Ziele und Gesellschaftsvor- nur die überlebenswichtige Umwelt, sondern stellungen – und das oftmals in aggressiver etwa auch die zentralen Errungenschaften Abwendung von der vorhandenen Sozial- des liberalen Rechtsstaats und des demo- und Rechtsstaatssubstanz. Ellenbogenmen- kratischen Sozialstaates bewahren wollen. talität statt Solidarität, gemeinschaftliche Be- Insofern hat eine moderne Linke selbstver- vormundung statt Selbstbestimmung, Rena- ständlich konservative Elemente. Genauso tionalisierung statt Weltoffenheit – das ist die gut wissen wir, dass wir in vielen Bereichen Agenda des Neokonservatismus. Dem in- mutige reformerische Veränderungen brau- haltlich bestimmten Neokonservatismus geht chen, gerade um diese Errungenschaften es im Kern darum, über die Unsicherheitsge- vor dem Hintergrund dramatischer gesell- fühle und Ängste in der Bevölkerung eine schaftlicher Veränderungen bewahren und Politik zu installieren, die sich gegen die e- verteidigen zu können. manzipatorische und gerechtigkeitsorientier- te Substanz der liberalen Linken aufstellt. Die Konservative, auf die wir uns kritisch be-

6. Neue Herausforderungen Eine erneuerte Linke muss die Augen öffnen neue Herausforderungen, auf die wir im Fol- für den dramatischen gesellschaftlichen und genden eingehen: Globalisierung und Sozia- globalen Wandel der letzten Jahrzehnte. le Sicherungssysteme, Massenarbeitslosig- Globalisierung, Individualisierung, Digitalisie- keit, Bildungsreform, Zukunft der Energie rung, Demographischer Wandel, Migration und Internationale Sicherheit nach dem 11. und Klimawandel sind nur einige der Stich- September. punkte, die die tiefgreifende Transformation Herausforderung Globalisierung und So- beschreiben. Dieser Wandel macht neue ziale Sicherungssysteme. Der Sozialstaat Ansätze und neue Instrumente notwendig, gerät durch die Globalisierung unter erhebli- um dem Anspruch auf Gerechtigkeit und chen Druck, auf den eine erneuerte Linke Selbstbestimmung auch tatsächlich gerecht eine realitätstaugliche Antwort geben muss. zu werden. Wir wollen im Folgenden nur Die Globalisierung der Weltwirtschaft führt beispielhaft einige Schnittstellen benennen, dazu, dass unser Sozial- und Wirtschafts- an denen unser normativer Anspruch und system mit anderen Wirtschaftsordnungen die gesellschaftliche Veränderung zu einer zunehmend konkurriert. Ein leistungsfähiges besonderen Herausforderung für eine er- Sozialsystem für alle Schichten der Bevölke- neuerte Linke führen. Wir wollen dabei zum rung im Sinne des kontinentaleuropäischen jetzigen Zeitpunkt zunächst einmal Grund- Sozialmodells ist dabei auch ein Standort- fragen und Grundprobleme in verschiedenen vorteil. Bereichen aufzeigen. Es geht uns in dieser Phase also weder um Tagespolitik noch um Die zunehmende Internationalisierung von Vollständigkeit. Gleichzeitig wollen wir in den Handel, Wirtschaft, Arbeitsteilung und Geld- nächsten Monaten das Papier so weiterent- strömen hat auf Leben, Wohlstand, Kultur wickeln, dass wir auch zu den tagespoliti- und Partizipationsmöglichkeiten der Men- schen Konsequenzen und zu noch offenen schen positive wie negative Auswirkungen. Politikfeldern Stellung beziehen. Es sind fünf Wohlstandsgewinne, internationaler Aus-

22 Realismus & Substanz Links Neu tausch, Wissens- und Kompetenztransfer Probleme. Jeder macht mit und alle fühlen und komparative Kostenvorteile sind auch sich im Recht. Die Akzeptanz vieler staatli- aus unserer Sicht Chancen der Globalisie- cher Regeln und Institutionen scheint konti- rung. Sie kann in vielerlei Hinsicht also e- nuierlich zu sinken. Eine Reihe von instituti- manzipatorische und gerechtigkeitsfördern- onellen Vorrichtungen haben in Deutschland de Wirkungen haben. Auf der anderen Seite das Gegenteil dessen zur Folge, was sie ei- sind die Verteilungswirkungen der Globali- gentlich einmal leisten sollten. Es kann nicht sierung nicht geklärt, das Geschehen ent- die Antwort der erneuerten Linken sein, un- gleitet der demokratischen Kontrolle, Macht- taugliche Regeln oder Abgaben aufgrund ei- gewichte verschieben sich, die Verhand- ner symbolischen aber faktisch ausgehöhl- lungsmacht mobiler Akteure steigt an. Wenn ten Gerechtigkeitswirkung auf Gedeih und wir aus der Perspektive einer erneuerten Verderb zu verteidigen. Es kann allerdings Linken gestaltend eingreifen wollen, müssen auch nicht die Antwort der erneuerten Linken wir versuchen, beide Seiten im Blick zu hal- sein, dem Druck der Wirtschaftseliten, des ten. Steuer- und Sozialdumpings oder des kurz- sichtigen Rationalität der Schattenwirtschaft Vor allem zwei Phänomene der Globalisie- einfach stattzugeben. Die Ziele einer erneu- rung gilt es aus der Perspektive einer erneu- erten Linken von Gerechtigkeit, Selbstbe- erten Linken heraus zu betrachten: Die in- stimmung, Ökologie und Demokratie haben ternationale Konkurrenz auf der Ebene der in Deutschland immer noch hohe Überzeu- Produktion, also die Standortkonkurrenz, gungskraft. Gelingt es uns, institutionelle Ar- und auf der Ebene des Konsums, also die rangements zu schaffen, die diese Werte Marktkonkurrenz. Vor allem die Standort- überzeugend in die Realität umsetzen, dann konkurrenz gerät nun in Deutschland zu- könnte auch Steuermoral wieder zunehmen nehmend in den Blick. Arbeits-, Umwelt- und und die Schwarzarbeit zurückgedrängt wer- Sozialstandards werden von unternehmeri- den. Aus Sicht einer erneuerten Linken ist schen Akteuren zunehmend als Kostenfakto- darauf hinzuweisen, dass der volkswirt- ren gesehen und ihren Ansiedlungs- und schaftliche Schaden etwa durch Steuerhin- Abwanderungsentscheidungen zugrunde ge- terziehung oder Schwarzarbeit bei weitem legt. Dadurch entsteht ein massiver Druck den Schaden übersteigt, der durch den von Seiten eines letztlich dezentralen öko- Missbrauch unserer Sozialsysteme entsteht. nomischen Geschehens auf demokratisch Mit welchen steuerlichen Instrumenten man legitimierte und teilweise verfassungsrecht- die Beteiligung der oberen Schichten an den lich festgelegte sozialstaatliche Institutionen. Finanzierungsaufgaben gewährleistet und Linke strukturkonservative Reaktionen beto- wie man Steuerflucht, Steueroasen, Flucht nen als Gegengift Abschottungsmanöver vor der materiellen Mitverantwortung verhin- und Protektionismus. Doch ein solcher ten- dert, ist eine wichtige Gestaltungsaufgabe. denzieller Rückzug aus dem internationalen Eigentum bleibt auch sozialpflichtig. Handel ist aus unserer Sicht nicht wün- schenswert, da er die Freiheits- und gerech- Zentral für eine erneuerte, internationalisti- tigkeitsfördernden Wohlstandseffekte der sche und kosmopolitische Linke ist dabei Globalisierung verspielt. Gleichzeitig gilt, selbstverständlich das Operieren auf interna- dass eine unregulierte Globalisierung nicht tionaler Ebene. Nicht nur müssen sich automatisch die gerechte Verteilung von gleichgesinnte Parteien stärker vernetzen, Freiheits- und Wohlstandseffekten zur Folge auch die Stärkung und Allianz von Organisa- hat, und sie birgt die Gefahr der Aushöhlung tionen, die Öko-, Sozial- und Arbeitnehmer- demokratischer Partizipation. interessen auf internationaler Ebene vertre- ten, sollte unser Ziel sein. Das Kapital ist Vor diesem Hintergrund sind Kapitalflucht, längst multinational, so muss es denn auch Schwarzarbeit, Steuerhinterziehung riesige die Arbeit sein. Wesentlichen Einfluss auf

23 Links Neu Realismus & Substanz die internationale Regulierung der Globali- Die Globalisierung lässt sich nicht mit einem sierung wird man vor allem auch über die Rückzug des Staates bestehen: Gerade die Europäische Union ausüben können. Wir Globalisierung verlangt, dass wir allen Kin- müssen zusammen mit unseren europäi- dern Bildungsqualität anbieten, unabhängig schen Schwesterparteien dafür sorgen, dass vom Einkommen oder der Herkunft der El- dabei politische Verantwortung erkennbar tern. Sie verlangt Investitionen in die For- und demokratischer Einfluss möglich blei- schung und in die Nachqualifizierung älterer ben. Denn gerade die Gerechtigkeitsfragen, Menschen. Und sie verlangt nicht zuletzt ein die sich im Zusammenhang mit der Globali- starkes, dauerhaftes Engagement für mehr sierung stellen, können nicht durch Exper- Gerechtigkeit zwischen dem Norden und tentum und Facharbeitsgruppen europäi- dem Süden des Globus. scher Beamter gestellt und beantwortet wer- Die Globalisierung und die damit einher ge- den. Die Globalisierung braucht Demokrati- hende Tendenz zur Dienstleistungs-, Infor- sierung und politische Verantwortlichkeit, mations- und Wissensökonomie sind die zuallererst innerhalb der Europäischen Uni- wichtigsten Gründe, die für neue und inter- on. national koordinierte Modell der sozialen Ab- Ein weiterer wesentlicher sozialer Faktor, sicherung und der steuerlichen Finanzierung der die westeuropäischen Gesellschaften in staatlicher Aufgaben sprechen. Wir brau- den kommenden Jahrzehnten im Unter- chen ein Sozialstaatsmodell für das Globali- schied zu anderen Wirtschaftsregionen tref- sierungszeitalter, sonst werden wir uns ent- fen wird, ist die Verlängerung der Lebenszeit weder der Globalisierungschancen berauben bei gleichzeitig geringen Geburtenraten und oder schon sehr bald internationales Steuer- weiterer Marginalisierung der Familie als so- und Sozialdumping, globale Billiglohnkonkur- zial-ökonomischer Sicherungsinstitution. Aus renz und Working Poor überall sehen. Für dieser besonderen europäischen Situation eine erneuerte Linke geht es um nicht mehr werden zusätzliche soziale Lasten insbe- und nicht weniger als darum, der wirtschaft- sondere für das Renten-, Pflege- und Ge- lichen Transformation eine ensprechende sundheitswesen entstehen. Wenn wir eine politische Transformation gegenüberzustel- Senkung der Lohnnebenkosten fordern, um len, die demokratische Legitimation und so- die Kosten des Faktors Arbeit zu senken und ziale Sicherung unter den Bedingungen der im Gegenzug ein stärkeres Gewicht auf die Globalisierung herstellt. steuerliche Finanzierung der sozialen Siche- Herausforderung Massenarbeitslosigkeit. rung legen, dann heißt das nicht, dass wir In der Bekämpfung der Massenarbeitslosig- die Stärkeren in unserer Gesellschaft einsei- keit liegt eine der herausragenden Heraus- tig entlasten wollen. Ein Weg der Neuvertei- forderungen einer erneuerten Linken. Hier lung führt über eine stärkere Finanzierung zeigt sich, ob sie in der Lage ist, einem der über indirekte Steuern, wie dies bei der Ren- drängendsten Gerechtigkeitsprobleme unse- te durch die Ökosteuer begonnen wurde und rer Gesellschaft effektiv zu begegnen. Hier- bei der Gesetzlichen Krankenversicherung für ist es unverzichtbar nach Konzepten zu fortgesetzt werden soll. Daneben müssen suchen, die sich auf die spezifischen Bedin- die Leistungsbezieher selbst teilweise die gungen der postindustriellen Gesellschaft vorsorgende Verantwortung bei einigen Leis- einlassen. Blickt man auf die traditionelle tungen übernehmen, die bisher von Arbeit- Linke, so hat man den Eindruck, hier wird nehmern und Arbeitgebern paritätisch finan- noch immer auf der Grundlage der längst ziert wurden - etwa die Pflicht zum Aufbau untergegangenen Welt des Industriezeital- einer privaten Zusatzvorsorge für das Alter. ters argumentiert. Die spezifischen Verände- Damit bewahren wir unsere Wettbewerbsfä- rungen der letzten Jahrzehnte – der immen- higkeit und geben dem Sozialmodell konti- se Bedeutungsgewinn von Dienstleistungen nentaleuropäischer Prägung eine Zukunft.

24 Realismus & Substanz Links Neu und Kommunikation, Wissen und Bildung, wir uns primär wenden. Wir tun das selbst- Mobilität und Individualisierung, Globalisie- verständlich auch, denn für manche Wirt- rung und Migration – stellen dramatische schaftsaufgabe werden auch weiterhin Herausforderungen an die Arbeitsgesell- Großstrukturen gebraucht, und auch die gilt schaft des 21. Jahrhunderts dar. Die Moder- es in unserem Sinne zu beeinflussen. Doch nisierung, Rationalisierung und innovative es sind insbesondere die kleinen und mittle- technologische Veränderung von Wirtschaft ren Unternehmen, die sich als Partner für und Arbeit schreiten fort. Ein Aspekt davon unsere Ziele anbieten. Die ökologischen und ist das Zurückgehen der Notwendigkeit ei- qualitativen Innovationen, die wir zur Um- nes gewissen Typs Arbeit (Industrie, Produk- gestaltung unserer Lebens- und Wirt- tion, Landwirtschaft) zugunsten eines ande- schaftsweise brauchen, kommen immer ren (Dienstleistung, Information, Wissen). wieder von den kleinen und mittleren Unter- Ein zweiter ist eine Zunahme der Flexibili- nehmen. Erneuerbare Energien, neue tätsanforderungen und für viele das Ende Dienstleistungen, neue Produkte der Wis- der konsistenten Vollzeit-Erwerbsbiografie. sens- und Informationsgesellschaft zum Bei- Ein dritter Aspekt ist die tendenzielle Ver- spiel. Und auch die organisatorischen Inno- langsamung des quantitativen Wachstums. vationen, die neuen Arbeitsweisen, die fla- Eine erneuerte Linke ist hier gefordert, auf cheren Hierarchien, die kooperativen und der Suche nach Gerechtigkeit das Neue mit- netzwerkartigen Strukturen und die Beteili- zudenken und zu realitätstauglichen Lösun- gungen der Mitarbeiter am kreativen Pro- gen zu kommen. zess. Die derzeitige Verengung der Debatte lässt manchen vergessen, dass es unsere Die Beschäftigungsfelder der Zukunft liegen eigentliche Aufgabe ist, die Wirtschaft der im Aufbau der Wissensgesellschaft, einer Zukunft, die Wirtschaft des postindustriellen Dienstleistungs- und Informationsökonomie Zeitalters zu gestalten. sowie dem Aufbau zukunftsfähiger Wirt- schaftszweige. Dazu gehören natürlich die Es ist noch immer unbeantwortet, ob Felder Energiewende, nachhaltige Mobilität, Dienstleistungs-, Informations- und Wis- Kreislaufwirtschaft, Ressourceneffizienz, und sensökonomie sowie die von uns forcierte umweltverträgliche Landwirtschaft. Diese ökologische Umstellung der Wirtschaft mit Beschäftigungsfelder haben unter den ge- ihren großen Beschäftigungspotentialen am eigneten Rahmenbedingungen ein großes Ende so viele Arbeitsplätze schaffen, wie in Potenzial, die Gesellschaft hin zu mehr Ge- der Produktion verloren gehen. Man muss rechtigkeit, mehr individueller Emanzipation sich zumindest auf die Möglichkeit einstel- und mehr demokratischer Beteiligung zu len, dass das Phänomen der "Arbeitsver- entwickeln. Sie verlangen und fördern Kom- knappung" im Sinne einer Verknappung an- munikation, affektive Qualitäten der Arbeits- gemessen bezahlter Erwerbsarbeit für eine welt, individuelle Bildung und Entfaltung von längere Übergangszeit bleibt. Ohne sich also menschlichen Fähigkeiten, Kreativität und auf die simple These des Endes der Arbeits- Beteiligung. gesellschaft festzulegen, muss eine erneuer- te Linke institutionelle Überlegungen anstel- Strukturell findet diese Wirtschaft der Zu- len, mit diesem Problem möglicher Arbeits- kunft immer weniger in den Großstrukturen knappheit umzugehen. des Industriezeitalters statt. Selbständigkeit, Freiberuflertum, kleine und mittlere Unter- Eine orientierende Grundformel grüner Ar- nehmen tragen diesen Wandel. Es ist nicht beitsmarktpolitik ist in den letzten Jahren die ökologisch oft problematische Großin- "Flexicurity", die Verbindung von Flexibilität dustrie, der behäbige und durchverwaltete und Sicherheit. Je nachdem wie diese Staatsbetrieb oder der multinationale und Grundformel institutionell ausgestaltet wird, undemokratisch agierende Konzern, an den kann man sie durchaus als Element einer

25 Links Neu Realismus & Substanz erneuerten Linken bezeichnen. Arbeitsmarkt auf dem die Arbeitskraft- Dienstleistungs-, Informations- und Wis- Anbieter eine gewisse Grund-Souveränität sensökonomie und die damit notwendig und Verweigerungsmöglichkeit haben, werdende Flexibilisierung sind grundsätzlich zwingt die demokratische Gesellschaft, dar- zu begrüßen und nicht nur als alternativoser über nachzudenken, welche Beschäftigung Sachzwang kapitalistischer Modernisierung sie überhaupt fördern will, womit sie "sich hinzunehmen. Wem sollte an der Verteidi- beschäftigen" will, was ihre Bürger tun, pro- gung der Mühsal des Fließbandes gelegen duzieren, arbeiten sollen. Damit wird die sein? Außerdem begünstigt die Wissensge- Wirtschaft auch an den Bedürfnissen des sellschaft den Umbau zu einer ökologisch produzierenden, tätigen Lebens ausgerich- nachhaltigen Wirtschaftsweise. Diese Vortei- tet, und nicht ausschließlich an den durch le wiegen den Verlust an absoluter Pla- Marktnachfrage vermittelten Konsumbedürf- nungssicherheit, an klaren Rollenprofilen nissen. Diese Gewährung von Grund- und anderen Lebensumständen des Arbeit- Souveränität durch sanktionsfreie Existenz- nehmers im Industriezeitalter auf. sicherung kann dann eine faire Preisbildung auf dem Arbeitsmarkt für geringqualifizierte Doch das existenzielle Sicherheitsbedürfnis Tätigkeiten gewährleisten. "Working Poor" der Menschen bleibt, und seine Berücksich- können wir getrost dem schwarz-gelben tigung ist Mitvoraussetzung für eine von den Programm überlassen. Menschen begrüßte und als Chance begrif- fene Flexibilisierung. Darum "Flexicurity": Wer ohne die Aussicht auf feste, konsisten- Wir brauchen neue Sicherungssysteme, eine te, langfristige Berufslaufbahn lebt; wer sich neue Balance für das postindustrielle Zeital- gleichzeitig immer weiterbilden muss, um ter der flexibilisierten Arbeitsgesellschaft. seine Chancen zu wahren; wer ständig Neben Reformen bei Rente und Gesundheit Netzwerke und Bekanntschaften auch aus gilt es daher auch das Risiko Arbeitslosigkeit beruflichen Motiven pflegen muss; wer also anders abzusichern. Dort müssten alle ab- seine Arbeit und seinen Beitrag oft wechselt gesichert sein, einschließlich derer, die noch und neu anpasst; wer lebenslang lernt und nie in einem "regulären" Arbeitsverhältnis dazu auch Auszeiten braucht und Um- waren. Bestimmte Elemente der Arbeitslo- bruchszeiten erfahren wird; wer also senversicherung des Industriezeitalters pas- zwangsläufig gelegentlich "arbeitslos" sein sen nicht mehr, da sie Langfristigkeit und ei- wird - der/die hat einen Anspruch auf Absi- ne konsistente Erwerbsbiografie vorausset- cherung gegen die Gesellschaft. Eine Ge- zen. Hohe Lebensstandardssicherung wird sellschaft, die diesen Weg geht und ihn als sich über die Grundsicherung nicht finanzie- ergriffene und gestaltbare Chance sieht und ren lassen. Grundsicherung muss dabei ech- nicht als alternativlose Entwicklung eines ter Schutz gegen Armut und Ausgrenzung globalisierten Markt- und Modernisierungs- sein und darf nicht durch repressive Ar- geschehens, muss in einem neuen solidari- beitsmarktintegration konterkariert werden, schen Gesellschaftsvertrag ihren Mitgliedern etwa durch zu rigide Zumutbarkeitsregelun- existentielle Grundsicherung zusichern. Das gen. Eine echte Grundsicherung ist aus der ist die Gegenleistung, die die zukünftigen Sicht einer erneuerten Linken eine Voraus- flexibilisierten Arbeiter voneinander fordern setzung für die Akzeptanz weitgehender müssen, die Sicherung, die sie sich gegen- Flexibilisierungen. seitig gewähren und garantieren. Es ist nicht ausgemacht, ob es bei jeder po- Herausforderung Bildungsreform. In der tentiellen "Nachfrage" nach "Arbeit" auch Bildungspolitik müssen die Grünen einen kulturell, gesellschaftlich oder moralisch Neuanfang wagen. Unsere Gesellschaft wünschenswert ist, sie zu befriedigen bzw. braucht eine "große Bildungsreform", und ihre Befriedigung politisch zu fördern. Ein die Grünen müssen hier konzeptionelle Vor-

26 Realismus & Substanz Links Neu reiter sein. Wir müssen aus der Kleinteilig- ne Ware, die wie jede andere gehandelt, zur keit heraus und ein umfassende Idee von Privatangelegenheit degradiert oder ökono- Bildung für Vorschule, Schulen, berufliche misch instrumentalisiert werden darf. Denn Bildung und Hochschulen entwickeln, die die Anforderungen an die integrative Funkti- sich am Ziel gleicher Bildungschancen und on des Bildungssystems werden angesichts erhöhter Bildungsqualität orientiert. Gerade zunehmender Desintegration in anderen ge- um der Bildungsgerechtigkeit willen müssen sellschaftlichen Bereichen, nicht zuletzt im wir für Veränderung streiten und die einge- herkömmlichen System der sozialen Sicher- fahrenen Schienen der Bildungsdiskussion heit steigen. Das Bildungssystem wird einer in Fachzirkeln hinter uns lassen. Auch wenn der wichtigsten Bausteine des sozialen Si- die Kompetenzen für Schule und Hochschu- cherungssystems unter Globalisierungsbe- le bei den Ländern liegen, brauchen wir eine dingungen sein müssen. Diese existenzielle gesamtgesellschaftliche Debatte über die Bedeutung für den gesellschaftlichen Frie- Bildung. Die Bundespartei muss in dieser den verlangt staatliche Verantwortung. Debatte mit Konzepten und Impulsen sicht- Gegenwärtig ist die soziale Herkunft vorbe- bar werden, denn nur so gewinnt das Bil- stimmend für die Bildungschancen. Das gilt dungsthema die Aufmerksamkeit, die es für die Schulbildung, für die Hochschulbil- verdient. dung und für die berufliche Fortbildung glei- Bildung ist die soziale Frage des 21. Jahr- chermaßen. Das deutsche Schulsystem hat hunderts. Die soziale Schieflage bei den Bil- im internationalen Vergleich eine besonders dungschancen ist eine der drängendsten große Leistungsstreuung über die unter- Gerechtigkeitsherausforderungen in unserer schiedlichen Schulformen verteilt. Diese so- Gesellschaft. Bildung ist nicht nur das ent- ziale Segregation der Schülerschaft ist vor scheidende Gut der Wissensgesellschaft, sie allem auch der institutionellen Differenzie- ist auch Grundvoraussetzung für Autonomie rung nach Schulformen geschuldet – das be- und Selbstbestimmung jedes Einzelnen. In legt PISA eindrücklich. Da sich aber Kinder der Bildungsfrage entscheidet sich, ob eine in ihren Fähigkeiten ständig weiterentwi- emanzipatorische Linke die konzeptionelle ckeln, wenn man sie nur lässt oder wenn und strategische Kraft zur Veränderung hat, man solche Entwicklungsprozesse stimuliert, ob die neuen Unsicherheiten und Freiheiten muss sich das Schulsystem darauf einstel- auch neue Chancen bedeuten, oder nur len, dass ein und derselbe Schüler zu unter- neue Risiken. In der Wissensgesellschaft schiedlichen Zeitpunkten zu unterschiedli- misst sich Chancengerechtigkeit entschei- chen Leistungen in der Lage ist. Ein sozial dend am Zugang zu lebenslanger und guter gerechtes und leistungsfähiges Schulsystem Bildung. Genau hier hat Deutschland derzeit muss sich deshalb von der auf Leistungs- große Defizite. homogenität zielenden Selektion verab- schieden. Eine frühe Selektion entspricht Bildungserfolg hängt bei uns wesentlich weder der Maßgabe von Chancengerechtig- mehr von der sozialen Stellung als von der keit noch einer notwendigen Förderung von wahren Begabung ab. Unser Kernanliegen Qualifizierungen und Kompetenzen. Ein ist es, einen gerechten Bildungszugang un- Mehr an individueller Förderung und Bin- abhängig von der sozialen Lage der Eltern nendifferenzierung sind wichtig, damit die herzustellen und die Qualität von Bildung zu neue Schule mit ihrem integrativen Charak- verbessern. Qualitätsverbesserung heißt, ter funktionieren kann. insbesondere die Fähigkeiten und Begabun- gen der Lernenden zu fördern und sie in ih- Auch in der Hochschule brauchen wir glei- rer Autonomie ernst zu nehmen. Wir stehen che Bildungschancen für alle, statt für dieje- für die grundsätzliche öffentliche Verantwor- nigen, mit der besten Vorbildung oder dem tung für das Bildungswesen. Bildung ist kei- dicksten Geldbeutel. Das Schlüsselwort in

27 Links Neu Realismus & Substanz diesem Zusammenhang ist deshalb nicht die Innovationsfreude erstickt. Zukunft der Elite-Universität sondern die der Herausforderung Zukunftsenergie. Um- Universität in der Breite. Eine durchlässige, weltschutz ist eine zentrale Gerechtigkeits- qualitativ gut ausgestattete Hochschule, an frage. Deshalb zählen Ökologie und Nach- der alle teilhaben, muss das Ziel unserer Po- haltigkeit zum Zentrum einer erneuerten, litik sein. Die Frage des Zugangs und der postindustriellen Linken. In der Energiefrage Qualität der Universität in der Breite markiert liegt ein Schlüssel für die Lebensbedingun- die entgegengesetzte Richtung zum derzei- gen und Lebensqualität der Zukunft. Hier tigen Mainstream in der bildungspolitischen wird entschieden über Krieg und Frieden, Debatte. über Armut und Reichtum und dessen Ver- Das gesamte Bildungssystem leidet an der teilung. Gleichzeitig ist die Fähigkeit zu öko- Undurchlässigkeit zwischen den Bildungs- logischen Innovationen und umweltscho- formen, zwischen den einzelnen Schultypen nenden Technologien inzwischen ein harter genauso wie zwischen beruflicher und aka- Wirtschaftsfaktor. Der ökologische Druck auf demischer Bildung, zwischen der Ausbildung die Länder und ihre Ökonomien nimmt dra- junger Menschen und dem Ziel lebenslan- matisch zu und damit auch die Notwendig- gen Lernens. Während es die Gesellschaft keit eines ökologischen Umbaus. Wir sind einerseits versäumt, ihre Erwartungen an besorgt, mit welcher Fahrlässigkeit die Sozi- das Bildungssystem kritisch zu hinterfragen aldemokraten das ökologische Thema links und neu zu formulieren, werden die Bil- liegen lassen und wollen nicht mit ansehen, dungsinstitutionen anderseits im strengen dass eines der zentralen Gerechtigkeitsthe- Griff der Ministerialverwaltungen gehalten. men der Zukunft verschlafen wird. Der an- Der staatlichen Aufsicht fehlen auf der einen gekündigte und dann wieder zurückgeholte Seite die Maßstäbe für eine echte Kontrolle Export der Nuklearanlage von Hanau sowie der Bildungsqualität, während sie auf der die sozialdemokratische Position zum Emis- anderen Seite den Bildungsinstitutionen die sionshandel machen auf alarmierende Wei- notwendige Freiheit dafür nimmt, flexibel auf se deutlich, wie rückwärtsgewandt die Mehr- die unterschiedlichen Bedürfnisse der Ler- heit im Mitte-Links-Lager nach wie vor ist. nenden und die sich radikal verändernden Hier liegt eine entscheidende Herausforde- Anforderungen an Bildung zu reagieren. rung für eine erneuerte, ökologische Linke, Deshalb braucht das Bildungssystem mehr wie wir sie vertreten. staatliche Unterstützung und mehr Freiheit Es sind schon heute die ärmeren Bevölke- gleichzeitig: Mehr verantwortliche Debatte rungsschichten innerhalb einer Gesellschaft, und Kontrolle der Qualität von Bildung, mehr die am meisten unter Verkehrslärm, Luftver- staatliche Verantwortung für den gerechten schmutzung, ungesunden Nahrungsmitteln, Zugang zu Bildung, aber auch mehr Durch- vergifteten Böden oder Trinkwassermangel lässigkeit zwischen den Bildungswegen, leiden. Das gilt insbesondere im internatio- mehr Raum für Bildungsbiographien, die nalen Raum. Die hochindustrialisierten Ge- vom Standard abweichen, und deshalb mehr sellschaften des Nordens verbrauchen einen Autonomie für die Bildungseinrichtungen. weit überproportionalen Anteil an den natür- Wir brauchen nicht eine Bildungsreform, lichen Reichtümern und sie verursachen ei- sondern Platz für viele Bildungsreformen – nen ebenso übermäßigen Anteil der Belas- am besten in jeder Schule eine. Die Redu- tungen der Biosphäre. Sie stehen daher vor zierung von Bildung auf ihre wirtschaftliche allem in der Pflicht, den Ressourcen- und Verwertbarkeit ist nicht nur wissenschaftlich Energieverbrauch auf Bruchteile des jetzigen und kulturell schädlich. Sie beruht auch auf Standes zu verringern. Wir brauchen einen dem Irrglauben, der Wert von Wissen und internationalen ökologischen Lastenaus- Bildung sei planbar und voraussehbar. Und gleich zwischen reichen und armen Ländern. dieser Irrtum hat noch jede Kreativität und

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Der „Norden“ hat nicht das Recht, den Um- riken arbeiten, die keine Emissionen mehr weltraum der Erde stärker zu nutzen als der erzeugen. Sie müssen morgen zum allge- „Süden“. meinen Maßstab für eine lebenswerte Ge- sellschaft mit geringem Ressourcen- Die Bewahrung der natürlichen Lebens- verbrauch werden. Die sinnvolle Ausnutzung grundlagen ist vor allem auch eine Frage der der bei der Stromerzeugung anfallenden Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Wärme spielt dabei eine Schlüsselrolle. Das „Nach uns die Sintflut“ ist kein akzeptables geht nur auf Grundlage einer dezentralen Prinzip. Deshalb müssen wir den Natur- Struktur. Dezentrale Systeme bieten darüber verbrauch auf ein Maß zurückschrauben, hinaus eine Versorgungssicherheit, die mit das die Regenerationsfähigkeit der Ökosys- Großkraftwerken nicht oder nur mit unnöti- teme nicht überfordert. Der Leitbegriff für gen Überkapazitäten zu erreichen ist. diese Aufgabe heißt nachhaltige Entwick- lung. Ökologische Krisen werden zu den wichtigs- ten internationalen Konfliktursachen des 21. Ökologische Politik ist ein Gebot einer frei- Jahrhunderts gehören. Eine solidarische in- heitsorientierten, emanzipatorischen Linken. ternationale Umweltpolitik, die den eigenen Umweltzerstörung schafft neue Zwänge, die Ressourcenverbrauch reduziert und zugleich das Leben der Menschen einschränken. Der den wenig industrialisierten Ländern finan- Verbrauch der natürlichen Reichtümer redu- ziell und technologisch hilft, einen nachhalti- ziert die Entscheidungsspielräume künftiger gen Entwicklungsweg einzuschlagen, ist Generationen, beschneidet deren Chance deshalb zentraler Bestandteil ziviler Krisen- zur Selbstbestimmung. Das gilt auch für und Gewaltprävention. Die Länder an der „Erblasten“ wie die drohende Klimakatastro- Industrialisierungsschwelle brauchen Unter- phe oder die über Jahrtausende radioaktiv stützung beim umweltverträglichen Ausbau strahlenden Abfälle der Atomkraftwerke. ihrer Infrastruktur und bei der Ausrichtung ih- Deshalb ist ökologische Vernunft die Bedin- rer Wirtschaft auf nachhaltige Prinzipien. gung für Selbstbestimmung heute und mor- Angesichts des rapide wachsenden Ener- gen. Ökologische Vernunft verlangt, fehler- giebedarfs und der sprunghaft ansteigenden freundlicher und angepasster Technologie Mobilität in den neuen Industrieländern ist es den Vorzug vor irreversiblen Großtechnolo- eine ökologische Überlebensfrage, diese gien zu geben. Umgekehrt kann ökologische Entwicklung mit den modernsten, umwelt- Politik nur gelingen, wenn sie die Menschen schonendsten Technologien zu organisieren. überzeugt und in ihren Freiheitsrechten ach- tet. Herausforderung Internationale Sicher- heit nach dem 11. September. Die Be- Die Zukunft der Energieversorgung ist solar kämpfung des internationalen Terrorismus und dezentral. Sonne, Wind, Biomasse, ist eine der zentralen Herausforderungen der Erdwärme, Wasserkraft, Meeresenergie: Er- Internationalen Sicherheitspolitik am Beginn neuerbare Energie ist weltweit im Überfluss des 21. Jahrhunderts. Dass dieses auch in vorhanden. Alle Menschen dieser Welt sind Europa eines der zentralen Themen der poli- auf eine sichere Energieversorgung ange- tischen Auseinandersetzung geworden ist, wiesen: Wohlstand, Gesundheit und Mobili- muss dem Letzten seit den Anschlägen von tät sind davon abhängig. Es steht fest, dass Madrid klar geworden sein. Die entschei- diese Versorgung auf Basis fossiler, also dende Frage der kommenden Zeit ist die begrenzter Energieressourcen nicht gesi- Frage nach Europas Antwort. Am außenpoli- chert werden kann. Eine sichere Energiever- tischen Ansatz der Bush-Administration lässt sorgung kann nur mit zukunftsfähigen Tech- sich ein neokonservativer Irrlauf beschrei- nologien erreicht werden. Wir können schon ben, gegen den auch Europa nicht grund- heute Häuser bauen, die mehr Energie er- sätzlich gefeit ist. Ausgehend von neuen und zeugen als verbrauchen. Wir können in Fab-

29 Links Neu Realismus & Substanz sinnvollen Fragen der Sicherheitspolitik, ins- einem eigenen Modernisierungsprozess zu besondere bedingt durch den 11. Septem- verknüpfen. Der Westen steht in der Ver- ber, kommen die Neokonservativen zu fata- antwortung, zur Lösung der Regionalkonflik- len Antworten. Auf die neuen Herausforde- te beizutragen, und einen wirklichen Moder- rungen durch internationalen Terrorismus, nisierungs- und Transformationsprozess zu Modernisierungskrisen, Staatenzerfall und befördern – das ist die richtige Konsequenz Privatisierung der Gewalt, ethnische Konflik- im Interesse des Friedens, der Menschen- te und globale Armut, antworten sie mit ei- rechte, der Zukunftssicherung und der glo- nem aggressiven Unilateralismus. Dieser balen Sicherheit. Die Hälfte der Menschen in führt zwar Demokratie und Menschenrechte der arabischen Welt ist unter 18 Jahre alt. im Mund, immer aber aus der Sicht eines Die Bevölkerung ist eine schnell wachsende. kurzsichtigen, vermeintlich nationalstaatli- Der Nahe und Mittlere Osten hat eine nega- chen Sicherheitsinteresses. tive Entwicklung bei den Investitionen, und gleichzeitig eine sehr dramatische Positiv- Die Linke muss sich ihrerseits auf die be- entwicklung beim Bevölkerungswachstum. schriebenen Herausforderungen einlassen, Wohin das führt, ist relativ einfach auszu- wenn sie eine angemessene politische Ant- buchstabieren – soziale Armut und Verunsi- wort auf die Bedrohungen in der Welt des cherung, der ideale Nährboden für Terroris- 21. Jahrhunderst geben will. Eine erneuerte mus. Demokratisierung, Unabhängigkeit der Linke weiß um die Bedeutung von Demokra- Justiz, Modernisierung der Wirtschaft, Auf- tie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrech- bau einer Zivilgesellschaft – eine Moderne, ten – auch für die Sicherheit der eigenen die gleichzeitig eingebettet ist in die islami- Bevölkerung. Gleichzeitig weiß sie, dass Si- sche Tradition - das sind die Herausforde- cherheit, auch nationale Sicherheit, nur mul- rungen. Die Rolle der Frau ist im UNDP- tilateral und durch ein nichtinstrumentelles Bericht zu Recht als eine der entscheiden- Verhältnis zu Demokratie und Menschen- den Fragen über die Zukunftsfähigkeit dieser rechten zu erreichen ist. An die Stelle des Region identifiziert. Transformation ist die Unilateralismus stellt sie die multilaterale Herausforderung, und deshalb ist es auch Durchsetzung des Primats der Menschen- richtig, der Türkei eine Beitrittsperspektive rechte und der Demokratie. Menschenrech- zur Europäischen Union zu eröffnen. te, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind kein Mittel zum Zweck, mit dem man mal so Eine Politik der Menschenrechte, der Demo- und mal so verfährt, sondern originäre Ziele. kratie, der Gerechtigkeit und des kulturellen Frieden und Humanität lassen sich eben Dialogs, wie wir sie vorschlagen, ist deshalb nicht abgekoppelt von Legitimation schaffen. auch unsere Antwort auf die neue Sicher- heitsherausforderung. Deshalb stehen multi- Aus unserer Sicht gründet sich der neue laterale Institutionen und Rechtsstaatlichkeit Terrorismus vor allen Dingen auf eine Mo- im Zentrum einer erneuerten Linken. Dem dernisierungsblockade in der arabischen aggressiven Unilateralismus stellen wir die Welt. Eine friedliche globale Perspektive Perspektive eines integrativen und koopera- hängt daher nicht zuletzt davon ab, ob es tiven Multilateralismus zur Verwirklichung den Gesellschaften des Nahen Ostens ge- dieser Ziele entgegen. lingt, die Tradition und Kultur des Islam mit

III. Strategie einer erneuerten Linken - Potentiale, Perspektiven, Bündnisoptionen Die Option „Links Neu“ besticht nicht nur können im Moment auf beachtliche Umfra- durch ihre inhaltliche Ausrichtung, sie ist gewerte und Wahlergebnisse verweisen. Bei auch strategisch überzeugend. Die Grünen den Europawahlen haben wir uns mit 11,9%

30 Realismus & Substanz Links Neu als starke dritte Kraft etabliert und lagen ge- veau stabilisieren, müssen den Abstand zum rade in vielen Städten vor der SPD. Auch im Boden erhöhen, wenn sie sich als Reform- Osten haben wir Zuwächse erzielt. Gleich- kraft verstetigen wollen. Dabei muss man zeitig hat die SPD einen historischen nicht in Zahlen-Harakiri eintreten und eine Tiefstand erreicht, von dem sie sich nun konkrete Prozentzahl anpeilen. Vielmehr ist langsam erholt. Die Grünen sind jedoch gut es von entscheidender Bedeutung, dass je- beraten, sich von der aktuellen Konstellation de Zahl mit einem inhaltlichen „Weil“ zu ver- nicht blenden zu lassen. Die guten Ergeb- binden ist, anstatt sie wie die FDP zum nisse der Grünen liegen nicht nur an eigener Selbstzweck zu machen. Dieses "Weil" ist konzeptioneller Stärke, sondern auch daran, aus unserer Sicht mit der Grundorientierung dass sie für die Sozial- und Wirtschaftspolitik einer erneuerten Linken entlang Gerechtig- der Regierung nicht in dem Maße haftbar keit, Selbstbestimmung, Ökologie und De- gemacht werden, wie dies bei den Sozial- mokratie aufzufüllen. demokraten der Fall ist. Das "postmaterialis- Die Option „Links Neu“ ist der Schlüssel für tische" Milieu der Grünen kommt mit den die strategische Herausforderung, auf der Reformen auf diesen Gebieten besser klar Grundlage unserer programmatischen Über- als das Arbeiter- und Angestelltenmilieu der zeugungen eine Verstetigung auf höherem SPD. Niveau zu erreichen. Wenn die Grünen die Die SPD steckt– wie die Sozialdemokratie in Orientierungsrolle einer erneuerten deut- anderen europäischen Ländern auch – in ei- schen und europäischen Linken annehmen ner tiefen Orientierungskrise. Diese Orientie- würden, besteht die begründete Aussicht auf rungskrise hat personelle Gründe, sie beruht Stimmenzuwächsen aus bislang unerreich- aber noch viel mehr auf einer tiefgreifenden ten linksliberalen Milieus, von progressiven programmatisch-strategischen Verunsiche- Linken, von Nichtwählern, aber auch aus rung. Anstatt die Linke an die Zukunftsfragen dem progressiven Bürgertum, das über die heranzuführen, schwankt sie hilflos zwi- Mehrheitsfähigkeit einer erneuerten Linken schen blinder Modernisierung und struktur- mit entscheidet. linkem Traditionalismus, zwischen neuer Mit- Gewinnen können wir über diesen Weg nicht te und alter Linken. Das zeigt sich auch dar- die frustrierten Traditionalisten, wohl aber an, dass Schröder und die SPD die beste- jene, die auf der Suche nach einer zukunfts- hende Koalition kaum als gemeinsames rot- fähigen, modernen Linken sind. Dabei grünes Reformprojekt konzipiert, empfun- wächst die Verunsicherung auch bei den den, und kommuniziert haben. traditionellen Linken, ob die alten Weisheiten Trotz der aktuellen Umfragewerte besteht noch stimmen. Für all die ist die Strategie eines der größten Probleme der Grünen „Links Neu“ zwar eine Zumutung, die per- nach wie vor in ihrer geringen Fallhöhe. Eine spektivisch jedoch eine gewisse Anzugskraft kleine Partei ist bei personellen Veränderun- entfalten könnte. gen und konzeptionellen Umbrüchen in ei- Die anzustrebende Orientierungsstärke der nem Dilemma. Der zeitweilige Zustim- Grünen wird auch für die Stärke des linksli- mungsverlust, den programmatische oder beralen Spektrums ingesamt nicht folgenlos personelle Erneuerungsphasen fast zwangs- bleiben. Wenn die Grünen es schaffen, die- läufig mit sich bringen, verbindet sich bei ei- se Orientierungsstärke in die Gesellschaft zu ner Partei dieser Gewichtsklasse fast auto- tragen, wird dies auch die SPD orientieren matisch mit der Gefahr des Abrutschens un- und stärken und die Wahrscheinlichkeit von ter die 5% Hürde. Die Grünen müssen des- rot-grünen Koalitionen erhöhen. halb ihren Wählersockel auf höherem Ni-

1. Vertrauen und Selbstvertrauen

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Als kleiner Partei fehlt uns oft noch das Ver- deren Vorteil herauszuverhandeln und an- trauen von Teilen der Gesellschaft, und viel- sonsten die Verantwortung für das sozialpo- leicht auch das Selbstvertrauen, die große litische Projekt der Linken dem größeren Frage gesellschaftlicher Gerechtigkeit um- Partner zu überlassen. Die Tendenz, den fassend anzugehen und zu beantworten. Kopf einzuziehen, während die Sozialdemo- Das Projekt der gerechten Modernisierung in kraten ihre Überforderung in der Reformdis- höchst unsicheren Zeiten greift tief in die Le- kussion zur Schau stellen, hat bei den Land- bensbedingungen jedes einzelnen ein und tagswahlen in Hessen, Niedersachsen, ist auf das Vertrauen der Menschen funda- Hamburg und Thüringen zwar zusätzliche mental angewiesen. Duch den Ansatz "Links Gewinne ermöglicht. Rot-Grün insgesamt Neu" können wir jenes konzeptionelle hat jedoch weiter verloren. Das Ergebnis Selbstvertrauen erlangen, durch dass wir dieser Landtagswahlen verweist deshalb auch das Vertrauen der Bevölkerung in un- gleichzeitig die Gefahr, die eine Strategie sere Reformvorschläge noch mehr gewin- der Beschränkung auf „urgrüne Themen“ nen, als bislang. birgt: Die Grünen können sich je nach Bun- desland und Zustand der SPD auf Ergebnis- Beim Werben um dieses Vertrauen reicht se zwischen 5 und 12 Prozent freuen, wäh- nicht, unsere eigenen Widersprüche und rend die CDU regiert. Wenn wir uns in diese Ratlosigkeiten hinter dem Rücken der Sozi- Sackgasse begeben, hat kein grünes Thema aldemokraten zu verstecken, gelegentlich für mehr die Chance auf Verwirklichung, auch bestimmte Zielgruppen den einen oder an- nicht die „urgrünen“.

2. Zukunft Ostdeutschland Die Stärkung der Bündnisgrünen in Ost- leben, sind gravierende soziale Verwerfun- deutschland ist von elementarer Bedeutung gen, bei denen es im Kern um gesellschaftli- für eine Erhöhung des grünen Wählerni- chen Teilhabe und Ausschluss geht. Wenn veaus. Bei den Landtagswahlen in Thürin- sich die grüne Partei als politische Kraft in gen konnten wir unser Ergebnis mehr als diesen Auseinandersetzungen Gehör ver- verdoppeln und verpassten nur knapp den schaffen will, dann muss sie deutlich ma- Einzug in den Landtag. Der Einzug der Grü- chen, dass sie eine Antwort auf die neuen nen in den sächsischen Landtag war ein sozialen Fragen hat, die die Menschen in weiterer Schritt in diese Richtung. Die Zu- Ost und West umtreiben. Eben dies zu ver- kunft der Grünen entscheidet sich auch im deutlich steht im Zentrum von „Links Neu“. Osten – und hier kann die Option „Links Die Hochwasserkatastrophe hat gezeigt, Neu“ Türen aufstoßen. Dabei kommt eine dass der Schutz der natürlichen Lebens- lernfähige, freiheitsorientierte Linke über- grundlagen eine "harte" soziale Frage betrifft haupt nicht umhin, die Anliegen der ostdeut- – und zwar nicht erst übermorgen, sondern schen Bürgerrechtsbewegung in ihren Kern- schon heute. Die Massenarbeitslosigkeit in bestand aufzunehmen. Außerdem eröffnet Ostdeutschland hat gezeigt, dass grüne „Links Neu“ einen neuen, aussichtsreichen Wege der Arbeitspolitik keine Träumerei Weg der Vermittlung grüner Themen im Os- sind, sondern eine harte Notwendigkeit bei ten als ernsthafte soziale Anliegen. Das Bild der Arbeitslosigkeitsbekämpfung. Pisa hat der Grünen als Partei der "weichen", und gezeigt, das die grüne Forderung nach dem rein "postmaterialistischen" Themen ist gerechten Zugang zu Bildung keine Luxus- schon in Bezug auf den Westen falsch, in frage betrifft, sondern eine "harte" Zukunfts- Bezug auf den Osten ist es fatal. Was wir im frage. Moment nicht nur, aber gerade im Osten er-

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3. Bündnisoptionen Wenn es uns gelingt, als Vordenker und Mo- men des Wertkonservatismus unterstellen tor einer erneuerten europäischen Linken zu oder sich einem blinden Pragmatismus ver- programmatischer Identität und faktischen schrieben haben, bei dem Koalitionen nur Selbstbewusstsein zu finden, stellt sich aus noch den Charakter von Mehrheitsbeschaf- unserer Sicht auch die Frage zukünftiger fung haben. Dieser Analyse erteilen wir eine Koalitionsoptionen anders dar. Als gestärkte inhaltliche wie strategische Absage. Weder Partei der modernen Linken werden wir den sehen wir einen sozialen und emanzipatori- Konservativen mit einem klaren eigenständi- schen Grundkonsens mit den Konservativen, gen Profil stark und selbstbewusst gegenü- noch glauben wir, dass uns diese Form der bertreten. Dann wäre es eine strategische Anpassung in eine starke und durchset- Frage entlang klar definierter Kriterien, ob zungsfähige Verhandlungsposition bringt. eine Koalition unsere Anliegen nach vorne Multioptionalität besteht vielmehr gerade auf bringt oder nicht. Unsere Sorge im Moment der Grundlage einer eigenständigen Position ist, dass manche in der Partei mit Schwarz- mit klaren Kanten, und nicht auf der Basis Grün deshalb sympathisieren, weil sie eine von Annäherung oder Affirmation. weltanschauliche Gemeinsamkeit im Rah-

4. Die Erneuerung jetzt beginnen Links Neu ist ein Stoff, an dem sich die Grü- ligen herauskommen und größere Linien nen abarbeiten und mit dem sie wachsen zeichnen, um eine substanzielle und strahl- können. Diesen Stoff braucht gerade die kräftige Politik beschreiben zu können. Wir junge Generation, wenn sie aus der derzeiti- haben mit dem erweiterten, grünen Gerech- gen „Tristesse Royale“ herauskommen tigkeitsbegriff eine hervorragende Klammer, möchte. Aus ihm können Politikerinnen und die inhaltlich wie strategisch viel Potenzial Politiker mit Anliegen und Charisma erwach- hat. Wir haben mit dem Anspruch einer er- sen - Akteure, die die Grünen in der nächs- neuerten, europäischen und ökologischen ten und übernächsten Generation dringend Linken ein Projekt, das weit über uns Grüne brauchen werden. Wir müssen in den ent- hinausreicht und unseren gesellschaftlichen scheidenden Politikfeldern aus dem Kleintei- Anspruch auf lange Sicht deutlich macht.

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III. Anhang: Die Autorinnen und Autoren

Al-Wazir, Tarek Husen, Katja Rottmann, Manuela Fraktionsvorsitzender der Mitglied der Hamburger ehem. Vorstandssprecherin Grünen im Hessischen Bürgerschaft und des Bun- Grüne Jugend Landtag desvorstands Schäfer, Michael Andreae, Kerstin Janecek, Dieter Büroleiter Reinhard Bütiko- Mitglied des Bundestags Landesgeschäftsstelle Bay- fer ern Bauer, Theresia Scharfschwerdt, Michael Mitglied des Landtags Ba- Kellner, Michael Leiter Öffentlichkeitsarbeit den-Württemberg Wissenschaftlicher Mitarbei- Bundespartei ter Büro Bergerhoff, Bastian Siller, Peter Mitglied des Parteivorstan- Knapp. Sibylle Geschäftsführender Vorsit- des der Frankfurter Grünen Wissenschaftliche Mitarbei- zender der Grünen terin Büro Krista Sager Grundsatzkommission Bettin, Grietje Mitglied des Bundestags Lintzel, Aram Sorge, Sarah Wissenschaftlicher Mitarbei- Mitglied des Landtags Hes- Bukow, Sebastian ter Büro sen Politiologe, Wissenschaftli- cher Mitarbeiter an der HU Lomba, Niombo Spitz, Malte Berlin ehem. Mitglied des Bundes- Politischer Bundesge- vorstands schäftsführer Grüne Jugend Cunitz, Olaf Vorstandssprecher der Lührmann, Anna Steffen, Till Frankfurter Grünen Mitglied des Bundestags Mitglied der Hamburger Bürgerschaft Fries, Jan Lux, Bene Landesvorstand Bremen ehem. Vorstandssprecher Thomas, Heiko der Grünen Jugend Referent Büro Mathias Bern- Gauderer, Ulrike inger, BMVEL Stadtverordnete Frankfurt Müller, Klaus a.M. Minister für Umwelt und Tidow, Stefan Landwirtschaft in Schleswig- Referent Büro Jürgen Trittin, Gehring, Kai Holstein BMU Landesvorstand NRW Nouripour, Omid Wagner, Mathias Hack, Michael Mitglied des Bundesvor- Mitglied des Landtags Hes- ehem. Vorsitzender Grüne stands sen Jugend Hessen Obermauer, Ralph Walter, Wulfila Heinrich, Robert Wissenschaftlicher Mitarbei- Schatzmeister Kreisverband Büroleiter ter Büro Rezzo Schlauch Frankfurt a.M.

Holefleisch, Felix Ortmanns, Michael Wolpert, Stefanie Geschäftsführer der Bürger- Pressesprecher von Bünd- Mitglied des Hamburger schaftsfraktion in Bremen nis 90/ Die Grünen NRW Landesvorstands

Palmer, Boris Mitglied des Landtags Ba- den-Württemberg

Pop, Ramona Mitglied des Abgeordneten- hauses Berlin

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Jenseits von blindem Pragmatismus und politischen Tra- ditionalismus gibt es die Notwendigkeit, aber auch ein neues Bedürfnis nach grundsätzlichen politischen Debat- ten. Eine anspruchsvolle und attraktive Politik muss die Frage nach ihren Konzepten und ihrer normativen Orien- tierung beantworten.

Dazu wollen die Autorinnen und UnterzeichnerInnen des vorliegenden Papiers einen Beitrag leisten. Ausgangs- punkt und Plattform ist das bundesweite Netzwerk "Rea- lismus & Substanz", bestehend aus ca. 40 jüngeren Grü- nen, deren Ziel es ist grundsatzprogrammatische Fragen zu stellen und zu diskutieren.

Die These lautet: Deutschland und Europa brauchen eine starke emanzipatorische, ökologische und demokratische Linke - diese Linke wird es jedoch nur geben, wenn sie sich von Grund auf erneuert. Eine erneuerte Linke und eine neue Politik für soziale Ge- rechtigkeit muss darauf reagieren, dass sich die Bedin- gungen für die Verteilung von Wohlstand im postindus- triellen Zeitalter drastisch verändert haben. Sie muss die Augen öffnen für den dramatischen gesellschaftlichen und globalen Wandel der letzten Jahrzehnte. Globalisie- rung, Demographischer Wandel, Individualisierung, Digita- lisierung, Migration und Klimawandel sind nur einige der Stichpunkte, die die tiefgreifende Transformation be- schreiben. Im Zentrum unseres Vorschlags steht ein Gerechtigkeits- begriff, der die gesellschaftlichen Veränderungen und neugewonnen Einsichten einbezieht. Gerechtigkeit braucht Selbstbestimmung und selbstbewusste Individu- en. Gerechtigkeit heißt zuallerst Parteinahme für die Schwachen. Gerechtigkeit zielt auf die Vermeidung von Exklusion, von der eine zunehmende Zahl von Bürgerin- nen und Bürgern bedroht ist. Gerechtigkeit heißt deshalb Teilhabe an den zentralen gesellschaftlichen Sphären von Selbstbestimmung und Anerkennung – Bildung, Arbeit und Demokratie. Und Gerechtigkeit muss sich der ökolo- gischen Frage Annehmen, denn hier liegt eine zentrale so- ziale Frage der Zukunft. Die Grünen müssen die Pioniere einer solchen Erneue- rung sein. Denn viele Konzepte und Positionen, für die die Grünen auch und gerade von strukturlinker Seite Prügel bezogen haben, entpuppen sich zunehmend als zentrale Bausteine einer Linken auf der Höhe der neuen Heraus- forderungen und Einsichten.