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Abo Bauboom in Abriss und Aufwertung in Zürichs Westen Nirgendwo wird so viel gebaut wie im Quartier an der Stadtgrenze. Vermehrt müssen alte Wohnhäuser weichen – beim Lindenplatz der Stararchitektur.

Hannes Weber 3 Kommentare Publiziert heute um 06:00 Uhr

Die Visiere als Vorboten des Stararchitekten-Projekts: Hier soll die Überbauung von Herzog & de Meuron entstehen. Foto: Anna-Tia Buss

Der Lindenplatz in Zürich-Altstetten verströmt eine trügerische Ruhe. Pflastersteine, Bäume und Bänke, alles am Fuss eines grünen Kirchenhügels – das unaufgeregte Zentrum eines unaufgeregten Stadtteils.

Aber gleich über die Strasse stehen diese Bauvisiere, welche die etwas heruntergekommenen Altbauten an der Badenerstrasse weit überragen: das Geschäftshaus mit dem Kebab-Imbiss und der Kinderkrippe im Erdgeschoss genauso wie die Wohnhäuser aus verschiedenen Epochen. Und erst recht die Remise mit Schreinerei im Innenhof mit dem etwas anarchisch wirkenden Parkplatz.

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Die Visiere sind Vorboten der Abrissbagger und eines Neubauprojekts mit 72 Wohnungen, Preissegment mittel bis gehoben, geplant von Herzog & de Meuron. Stararchitektur in Altstetten (lesen Sie hier mehr).

«Mittleres bis gehobenes Preissegment»: So soll die neue Überbauung beim Lindenplatz dereinst aussehen. Visualisierung: Senn Resources AG

«Ich bin erschrocken, als ich die Visiere sah», sagt Esther Leibundgut. Die 59-Jährige ist wie schon ihre Eltern in Altstetten aufgewachsen, präsidiert den örtlichen Quartierverein und lebt hinter dem Lindenplatz neben dem letzten Bauernhof in der Gegend. Wie alle Ur-Altstetterinnen nennt sie ihr Quartier «Dorf».

Erschrocken sei sie, weil es jetzt auch mitten im Dorf anfange mit den immer höheren Häusern, der «fast schon aggressiven Bauweise», kurz: der unwiderruflichen Verwandlung des Dorfes in eine Stadt. Diese Entwicklung könne man weder aufhalten, noch könne man wirklich dagegen sein, sagt Leibundgut. «Aber es geht so schnell – der Wandel überfährt einen.»

Sie sieht den Wandel mit gemischten Gefühlen: Ur-Altstetterin Esther Leibundgut vor dem letzten Bauernhof mitten im «Dorf». Foto: Anna-Tia Buss

Am augenfälligsten ist er rund um den Bahnhof Altstetten und entlang der Gleise an der Hohlstrasse – hier sind in den vergangenen fünf Jahren hohe Wohntürme entstanden. Die drei schwarzen, 80 Meter hohen Vulcano-Hochhäuser mit Büros, Hotel und 296 Wohnungen. Das Westlink der SBB, ebenfalls mit 80-Meter-Turm und 235 Wohnungen. Und die Überbauung auf dem lange Zeit besetzten ehemaligen Labitzke- Areal, acht Gebäude, 277 Wohnungen. «Wenn man mich mit verbundenen Augen zu diesen Orten führen und mir die Augenbinde dann abnehmen würde, hätte ich nicht das Gefühl, dass ich in Altstetten bin», sagt Esther Leibundgut.

Nirgends in Zürich wird so viel gebaut wie in Altstetten. Und weitere Hochhäuser sind am Entstehen oder bewilligt. An der Baslerstrasse 71 wächst ein 76-Meter-Wohnturm in die Höhe, die SBB planen mit dem Letziturm bei den Gleisen das nächste 80-Meter-Hochhaus. Wo in Zürich am meisten Wohnungen gebaut wurden Zeitraum: 2015-2019 Lesebeispiel: In Altstetten entstanden in den vergangenen fünf Jahren 1930 neue Wohnungen in Neubauten.

Die Stadt weist die Summe aus Datenschutzgründen nicht aus, wenn in einem Jahr weniger als drei Gebäude pro Quartier gebaut wurden. Daher fehlen die Daten für den Kreis 1. Grafik: hwe • Quelle: Statistik Stadt Zürich • Daten herunterladen

Doch vielleicht ist das Projekt von Herzog & de Meuron mittlerweile bezeichnender für den Wandel. Denn viele Neubauprojekte entstehen nicht mehr anstelle von Brachen oder alten Industriebauten, wie die grossen Neubauprojekte an den Gleisen. Für die meisten weichen mittlerweile Wohnhäuser mitten im Quartier.

Auch hier geht es in die Höhe – in den Plänen von Herzog & de Meuron etwa bis zu 30 Meter. Meist werde so hoch gebaut, wie es die Bau- und Zonenordnung (BZO) zulasse, sagt Robert Weinert, Immobilienexperte bei Wüest Partner. «Aufgrund der vielen alten und teilweise relativ niedrigen Gebäude ist das Potenzial für innere Verdichtung in Altstetten gross.» Ein weiterer Turm klettert in die Höhe: Das entstehende 80-Meter-Hochhaus an der Baslerstrasse 71. Foto: Anna-Tia Buss

«Neben der Erweiterung bestehender Bauten ist der Ersatzneubau oftmals die Losung der Stunde», sagt auch Katrin Gügler, Direktorin des Amts für Städtebau. Weil die Industrieareale in der Stadt grossmehrheitlich umgenutzt worden sind und es nur noch vereinzelt Baulandreserven gibt, sei häufig nur so eine innere Verdichtung möglich. Und diese sei im Sinne einer nachhaltigen Raumplanung unabdingbar.

Zürich wächst rasant, bis im Jahr 2040 gemäss Szenario der Stadt von heute gut 434’000 Einwohnerinnen und Einwohnern auf rund 520’000. Mittels Richtplan definiert die Stadt deshalb Orte, wo verdichtet werden kann. Solche, die gut an den öffentlichen Verkehr angeschlossen sind. Und solche, wo «ein hoher Erneuerungsbedarf in der Bausubstanz» besteht, wie Gügler es ausdrückt. «Altstetten erfüllt diese Bedingungen optimal.» Der Amtschefin schwebt eine Art Stadt in der Stadt vor: Altstetten solle sich nebst der Innenstadt und zu einem dritten Zentrum weiterentwickeln. Wo in Zürich am meisten Wohnungen entstehen Lesebiespiel: In Altstetten waren Ende vergangenen Jahres Neubauten mit 1177 Wohnungen im Bau oder bewilligt.

200 400 600 800 1000 1200 1400

Die Stadt weist die Summe aus Datenschutzgründen nicht aus, wenn in einem Jahr weniger als drei Gebäude pro Quartier gebaut wurden. Daher fehlen die Daten für den Kreis 1 und für das Quartier Escher-Wyss. Daten herunterladen

Ein Indiz dafür, dass Altstetten immer mehr als solches wahrgenommen wird, sind die steigenden Preise des bebauten Bodens. Ein Vergleich der Stadt zeigt, dass bei Grundstückverkäufen zwischen 2008 und 2010 erst ein mittlerer Preis von 2752 Franken erzielt wurde; 2016–2019 war der Mittelwert mit 5780 Franken dann mehr als doppelt so hoch.

Dieser Preis liegt zwar noch immer leicht unter dem städtischen Durchschnitt. Und in der Innenstadt wird ein Vielfaches davon bezahlt. Doch das hat auch damit zu tun, dass die bestehenden Liegenschaften eine wichtige Rolle bei der Preisbildung spielen – und in Altstetten sind viele Häuser beim Kauf alt. «Wenn hier neue Immobilien mit höherem Wert gebaut werden, steigt auch der Wert des bebauten Bodens weiter an», sagt Martin Brenner von Statistik Stadt Zürich. So teuer ist der bebaute Boden in Zürich Vergleich der Medianpreise in Franken, Perioden 2008-2010 und 2016-2019. Grundlage sind alle Handänderungen von ganzen Parzellen mit mindestens einer Wohnung in der jeweiligen Periode («Anzahl»).

08-10 16-19

Quartier Anzahl Preis Anzahl Preis Veränderung ▼

Langstrasse 26 14’486 22 31’456 117%

Unterstrass 34 4’931 56 10’451 112%

Altstetten 67 2’752 86 5’780 110%

Wollishofen 40 3’254 56 6’706 106%

Enge 28 7’633 30 14’791 94%

Witikon 23 2’567 43 4’834 88%

Seefeld 12 17’385 15 32’389 86%

Affoltern 37 2’020 39 3’692 83%

Alt-Wiedikon 42 5’528 51 9’978 81%

Seebach 63 2’351 67 4’265 81%

Hottingen 45 6’383 43 11’089 74%

Wipkingen 40 4’582 37 7’810 70%

Friesenberg 15 4’121 15 6’901 67%

Kreis 1 18 27’744 22 45’987 66%

Escher Wyss 6 5’346 10 8’758 64%

Oerlikon 76 3’197 71 5’187 62%

Ganze Stadt 939 4’110 1121 6’592 60%

Höngg 63 2’998 74 4’772 59%

Sihlfeld 32 10’113 40 15’705 55%

Hirslanden 29 5’490 30 8’533 55%

Oberstrass 35 5’647 46 8’425 49%

Kreis 12 50 2’330 57 3’472 49%

Gewerbeschule 22 10’070 23 14’771 47%

Albisrieden 45 2’778 56 3’993 44%

Hard 12 13’301 11 18’916 42%

Leimbach 15 2’090 21 2’783 33%

Fluntern 28 5’640 50 6’897 22%

Weinegg 16 4’880 26 5’422 11%

Werd 8 17’553 11 14’398 -18%

Mühlebach 12 14’219 13 11’236 -21%

Von den Quartieren in den Kreisen 1 und 12 liegen aufgrund der geringen Anzahl der Handänerungen nur aggregierte Zahlen vor. Tabelle: hwe • Quelle: Statistik Stadt Zürich • Daten herunterladen

Das dürfte auch an der Badenerstrasse gelten, wenn die neue Überbauung von Herzog & de Meuron dereinst steht. Die ehemalige Eigentümerschaft habe das Grundstück und die Gebäude erst vor etwa vier Jahren verkauft, erzählt ein Mieter, der anonym bleiben will. Er wohnt in einem der Häuser, die der neuen Überbauung weichen sollen. Der Auszug sei im September nächsten Jahres vorgesehen.

Die neue Besitzerin ist die Senn Resources AG aus St. Gallen. Er verstehe die Bauherren, sagt der Mieter. «Die Bausubstanz ist alt, Heizung und Isolation ebenso», sagt der Ingenieur. Aus energetischer Sicht mache ein Neubau Sinn. Doch er weiss auch: Eine so günstige Bleibe wird er kaum mehr finden. Für seine 80 Quadratmeter grosse 3,5-Zimmer-Wohnung zahle er rund 1500 Franken. Er persönlich könne sich zwar auch eine teurere Wohnung leisten. Doch er wisse von langjährigen Mietern im Haus, für die das schwierig werde.

So haben sich die Mieten in den Zürcher Stadtkreisen entwickelt Vergleich der Median-Wohnungsmieten für 85 Quadratmeter. Grundlage sind ausgeschriebene Wohnungsinserate im ersten Quartal des jeweiligen Jahres.

2014 2017 2020 2014 vs. 2020 ▼

Kreis 1 2830 2820 3240 14.5%

Kreis 9 1970 2090 2120 7.6%

Kreis 2 2260 2330 2400 6.2%

Kreis 10 2110 2140 2190 3.8%

Kreis 11 1990 1970 2050 3.0%

Kreis 8 2820 2740 2900 2.8%

Kreis 12 1940 1950 1960 1.0%

Kreis 4 2590 2550 2610 0.8%

Kreis 5 2570 2560 2560 -0.4%

Kreis 7 2420 2480 2390 -1.2%

Kreis 6 2680 2660 2620 -2.2%

Kreis 3 2380 2490 2310 -2.9%

Mieten ohne Nebenkosten. Tabelle: hwe • Quelle: Wüest Partner • Daten herunterladen

Von einem solchen Fall erzählt auch Esther Leibundgut. Einem älteren Ehepaar sei kürzlich nach 60 Jahren gekündigt worden, ihr Haus weicht einer neuen Überbauung. Sie hätten verzweifelt nach einer neuen Wohnung gesucht – ohne Erfolg. Nun gehen sie ins Altersheim.

Eine Auswertung liefert Hinweise dafür, dass dies mehr als Einzelfälle sind: Die Mieten im Kreis 9 (Altstetten und ) steigen im städtischen Vergleich besonders stark. Ein Vergleich von ausgeschriebenen Wohnungen zwischen dem ersten Quartal 2014 und 2019 zeigt eine knapp 8-prozentige Steigerung. Und an guten Lagen ging es gar um fast 26 Prozent nach oben. So haben sich die Mieten an guten Lagen in den Zürcher Stadtkreisen entwickelt Vergleich der Wohnungsmieten für 85 Quadratmeter. Um die tendenziell guten Lagen abzubilden, wird das 70-Prozent-Quantil ausgewiesen. Grundlage sind ausgeschriebene Wohnungsinserate im ersten Quartal des jeweiligen Jahres.

2014 2017 2020 2014 vs. 2020 ▼

Kreis 9 2100 2500 2640 25.7%

Kreis 7 2760 2800 3260 18.1%

Kreis 12 2100 2500 2480 18.1%

Kreis 6 3120 3140 3590 15.1%

Kreis 2 2740 2860 3130 14.2%

Kreis 3 2860 3000 3200 11.9%

Kreis 8 3380 3310 3650 8.0%

Kreis 10 2510 2510 2710 8.0%

Kreis 11 2180 2410 2300 5.5%

Kreis 5 3090 3420 3190 3.2%

Kreis 4 3360 3140 3380 0.6%

Kreis 1 3860 3390 3850 -0.3%

Mieten ohne Nebenkosten. Tabelle: hwe • Quelle: Wüest Partner • Daten herunterladen

Gegen explodierende Mieten fahre die Stadt eine mehrgleisige Strategie, sagt Katrin Gügler vom Amt für Städtebau. Einerseits schaffe sie über eigene Wohnbaustiftungen und ihren Wohnbaufonds günstigen Wohnraum. Jüngstes Beispiel in Altstetten ist die geplante städtische Siedlung Letzi mit 265 Wohnungen, unter anderem für ältere Menschen und Familien mit vielen Kindern und bescheidenem Einkommen.

Weiter stelle man Wohngenossenschaften Bauland im Baurecht zur Verfügung. Wobei die Genossenschaften dort, wo sie schon sind, häufig selber im grossen Stil zum Umbau des Quartiers beitragen. So erstellt etwa die Gemeinnützige Baugenossenschaft Röntgenhof Zürich an der Freihofstrasse anstelle der abgerissenen Häuser aus den 1930er- und 1950er-Jahren 173 neue Wohnungen. Auch die Genossenschaften ersetzen ihre alten Gebäude: Hier baut die Baugenossenschaft Röntgenhof. Foto: Anna-Tia Buss

Seit Ende 2019 hat die Stadt einen zusätzlichen Hebel: Sie kann bei künftigen Ein- und Aufzonungen mittels eines neuen Paragrafen des kantonalen Planungs- und Baugesetzes und der dazugehörigen Verordnung über den preisgünstigen Wohnraum einen Mindestanteil an erschwinglichen Wohnungen verlangen. Man werde diese so schnell wie möglich umsetzen, sagt Gügler.

Wie schnell, dürfte für die künftige Entwicklung nicht unerheblich sein – in Altstetten wird weiterhin laufend geplant, bewilligt und gebaut. Der Prozess, an dessen Ende neben moderner Stararchitektur mehr Wohnraum, aber auch steigende Mieten stehen, sei noch längst nicht abgeschlossen, sagt Robert Wei​nert von Wüest Partner. «Im Vergleich zu anderen Quartieren ist Altstetten noch in einem frühen Stadium.»

Publiziert heute um 06:00 Uhr

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Sueton vor 31 Minuten In Schwamendingen wurde die Genossenschaftssiedlung Mattenhof abgerissen und neu gebaut. Ausnutzungsziffer vorher 20%, jetzt satte 80%. Alle Wiesen, Gärten, Büsche und Bäume weg. Amsel, Fink, Schwalbe, Igel, Wiesel, Maus etc. gibt es nicht mehr. Alles Grüne, alle Natur wegbetoniert um noch mehr Menschen in viereckige Betonkklötze zu sperren.