- Deutscher 172. Sitzung

Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Inhalt:

Amtliche Mitteilungen ...... 9833 A Dr. Achenbach (FDP) ...... 9853 B Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) 9859 B Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation 1972 (Drucksache VI/3080) in Ver- Heyen (SPD) ...... 9869 D bindung mit Dr. Ehmke, Bundesminister . . . . 9885 C

Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag Windelen (CDU/CSU) ...... 9897 A vom 12. August 1970 zwischen der Bun- Genscher, Bundesminister . . . . 9905 D desrepublik Deutschland und der Union Strauß (CDU/CSU) ...... 9909 C der Sozialistischen Sowjetrepubliken (Drucksache VI/3156) — Erste Beratung —, Schmidt, Bundesminister . 9916 A, 9934 C mit Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär 9929 B Entwurf eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen der Dr. Barzel (CDU/CSU) . . . . 9933 C Bundesrepublik Deutschland und der Dr. Wörner (CDU/CSU) . . . . 9935 A Volksrepublik Polen über die Grund- lagen der Normalisierung ihrer gegen- Fragestunde (Drucksache VI/3165) seitigen Beziehungen (Drucksache VI/3157) — Erste Beratung —, mit Frage des Abg. Cramer (SPD) : Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU Anspruch mongoloider Kinder auf Aus- betr. Deutschland- und Außenpolitik stellung von Schwerbeschädigtenaus- (Drucksachen VI/2700, VI/2828) und mit weisen Rohde, Parlamentarischer Antrag der Fraktion der CDU/CSU betr. Staatssekretär 9872 B, C, D Beziehungen der Bundesrepublik Deutsch- land und der Volksrepublik Polen Cramer (SPD) ...... . 9872 C, D (Drucksache VI/ 1523) Fragen des Abg. Vogt (CDU/CSU) : — Fortsetzung der Aussprache — Vorlage des Vermögensbildungsbe Franke, Bundesminister 9833 D richts und des Sparförderungsberichts Dr. von Weizsäcker (CDU/CSU) . 9837 C Rohde, Parlamentarischer Mattick (SPD) 9843 A Staatssekretär . 9872 D, 9873 A, B , C, D Amrehn (CDU/CSU) 9849 B Vogt (CDU/CSU) ...... 9873 B, C II Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Fragen des Abg. Varelmann (CDU CSU) : Frage des Abg. Büchner (Speyer) (SPD) : Einschränkung der von den Landesver- Angabe von Orden und Ehrenzeichen sicherungsanstalten gewährten Leistun- in Personalbogen des öffentlichen gen für Zahnersatz Dienstes Rohde, Parlamentarischer Genscher, Bundesminister . . . 9881 B, C Staatssekretär . . 9873 D, 9874 A, C, D, Büchner (Speyer) (SPD) . . . . 9881 B, C 9875A Varelmann (CDU/CSU) . . . 9874 B, C, D, 9875 A Frage des Abg. Offergeld (SPD) : Erkenntnisse über die Wirkungen von Naßkühltürmen auf Klima und Luft — Frage des Abg. Ott (CDU/CSU) : Kühlsysteme der Kernkraftwerke Kai- seraugst und Leibstadt Anzeigenaktion der Bundesregierung über die Erweiterung der EWG Genscher, Bundesminister . . . . 9881 D, 9882 A, B Ahlers, Staatssekretär 9875 B, C, D, 9876 A, B Offergeld (SPD) ...... 9882 A Ott (CDU/CSU) ...... 9875 C, D Josten (CDU/CSU) ...... 9882 B Dr. Schmitt-Vockenhausen, Vizepräsident ...... 9875 D Frage des Abg. Schlee (CDU/CSU) : Dr. Jahn (Braunschweig) (CDU/CSU) 9876 A Verletzung der Gebietshoheit und des Damm (CDU/CSU) 9876 B Asylrechts der Bundesrepublik am 2. Februar 1972 an der deutsch-tsche- choslowakischen Grenze Fragen des Abg. Engholm (SPD) : Genscher, Bundesminister . . . 9882 C, D, 9883 A Vorschriften über die Haarlänge der Schlee (CDU/CSU) 9882 D Beamten des Bundesgrenzschutzes — Zurverfügungstellung von Haarnetzen Dr. Wittmann (München) (CDU/CSU) 9883 A und Vorgehen gegen Beamte mit lan- gen Haaren Fragen des Abg. Müller (Mülheim) (SPD) : Genscher, Bundesminister 9876 C, D, 9877 A Zielsetzung des Umweltforums und in Engholm (SPD) 9876 D ihm vertretene Organisationen — Dr. Schmitt-Vockenhausen, Stand der Vorbereitungen Vizepräsident 9877 A Genscher, Bundesminister . , 9883 B, C, D, 9884 A Müller (Mülheim) (SPD) . . . 9883 B, C, D Fragen der Abg. Dr. Schneider (Nürn- berg) und Niegel (CDU/CDU) : Dr. Jahn (Braunschweig) (CDU/CSU) 9883 D

Errichtung von Betreuungsstellen und Regionalsektionen der Kommunisti- Fragen des Abg. Dr. Häfele (CDU/CSU) : schen Partei Italiens in der Bundes- Einführung von Bewirtschaftungszu- republik schüssen in landwirtschaftlichen Pro- Genscher, Bundesminister . . . 9877 B, C, blemgebieten 9878 D, 9879 A, B, C , D, Ertl, Bundesminister . . . . 9884 B, C, D 9880 A, B , C, D, 9881 A Dr. Häfele (CDU/CSU) . . . . 9884 C, D Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) 9878 D, 9879 A Niegel (CDU/CSU) 9879 B, C Frage des Abg. Höcherl (CDU/CSU) : Brück (Köln) (CDU/CSU) . . . 9879 D Erklärung des Bundesministers Ertl in der Agrardebatte der Beratenden Ver- Matthöfer (SPD) ...... . 9879 D sammlung des Europarates über Infla- von Thadden (CDU/CSU) . . . 9880 A tionsraten Dr. Becher (Pullach) (CDU/CSU) . 9880 B Ertl, Bundesminister . . . . 9885 A, B, C Dr. Miltner (CDU/CSU) . . . . 9880 C Höcherl (CDU/CSU) . . . . . 9885 B, C Dr. Lenz (Bergstraße) (CDU/CSU) . 9880 D Vogel (CDU/CSU) ...... 9880 D Nächste Sitzung 9935 C Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 III

Anlagen mittlungsverfahren gegen Monika Ber- berich als Gegenstand der Tätigkeit der Anlage 1 Organisation Amnesty International . . 9938 -B Liste der beurlaubten Abgeordneten . . 9937 A Anlage 7 Anlage 2 Schriftliche Antwort auf die Mündliche Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Frage des Abg. Wagner (Günzburg) Fragen der Abg. Frau Brauksiepe (CDU/ (CDU/CSU) betr. wiederholte Verneh- CSU) betr. Förderung der Arbeit des mung von Kindern und Heranwachsen- Deutschen Jugendherbergwerks . . . . 9937 B den in Strafverfahren wegen an ihnen begangener Sittlichkeitsdelikte . . . . 9938 C Anlage 3 Schriftliche Antwort auf die Mündliche Anlage 8 Frage des Abg. Wagner (Günzburg) Schriftliche Antwort auf die Mündlichen (CDU/CSU) betr. politische Extremisten Fragen des Abg. Kater (SPD) betr. Aus- im öffentlichen Dienst ...... 9937 C wirkungen der Explosionen in den An- lagen der Niederländischen Gas-Union Anlage 4 auf die Belieferung der Abnehmer von Erdgas in der Bundesrepublik . . . . 9939 B Schriftliche Antwort auf die Mündliche Frage des Abg. Pieroth (CDU/CSU) betr Zahl der unbearbeiteten Anträge bei den Anlage 9 Ausgleichsämtern 9937 D Schriftliche Antwort auf die Mündlichen Fragen des Abg. Weigl (CDU/CSU) betr. Anlage 5 Nachentrichtung von Beiträgen und No- Schriftliche Antwort auf die Mündliche vellierung der Altershilfe für Landwirte 9939 D Frage des Abg. Lenzer (CDU/CSU) betr. einheitliches Urheberrecht für EDV-Pro- Anlage 10 gramme 9938 A Schriftliche Antwort auf die Mündliche Frage des Abg. Dr. Schulze-Vorberg Anlage 6 (CDU/CSU) betr. Interview des Bundes- Schriftliche Antwort auf die Mündlichen ministers Ehmke bezüglich der Konzen- Fragen des Abg. Zander (SPD) betr. Er trationsbewegung in der Presse . . . 9940 B

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Bonn, den 24. Februar 1972

Stenographischer Bericht Meine Damen und Herren, wir -fahren in der Aussprache zu den Punkten 2 bis 6 der Tagesord- nung fort: Beginn: 9.00 Uhr 2. Bericht der Bundesregierung zur Lage der Nation 1972 Vizepräsident Dr. Jaeger: Die Sitzung ist er- Drucksache VI/3080 öffnet. 3. Erste Beratung des von der Bundesregierung Die folgenden amtlichen Mitteilungen werden ohne Verlesung in den Stenographischen Bericht eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem aufgenommen: Vertrag vom 12. August 1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Der Bundesminister des Innern hat am 16. Februar 1972 die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Kleine Anfrage der Fraktionen der SPD, FDP betr. Sportförde- rung — Drucksache VI 3093 — beantwortet. Sein Schreiben wird -- Drucksache VI/3156 als Drucksache VI/3178 verteilt. Der Bundesminister für Verkehr und für das Post- und Fern- 4. Erste Beratung des von der Bundesregierung meldewesen hat am 22. Februar 1972 die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Jungmann, Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Hohen- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu stein, Burger und Genossen betr. Sehvermögen im Straßenver- dem Vertrag vom 7. Dezember 1970 zwischen kehr — Drucksache VI 3122 — beantwortet. Sein Schreiben wird als Drucksache VI/3184 verteilt. der Bundesrepublik Deutschland und der Der Vorsitzende des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Volksrepublik Polen über die Grundlagen schaft und Forsten hat am 21. Februar 1972 mitgeteilt, daß der Ausschuß gegen die nachfolgenden, zwischenzeitlich verkündeten der Normalisierung ihrer gegenseitigen Be- Verordnungen keine Bedenken erhoben habe: ziehungen Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung — Drucksache VI/3157 (EWG) Nr. 876/68 bezüglich der auf dem Sektor Milch und Milcherzeugnisse vorzunehmenden Berichtigungen der im voraus festgesetzten Erstattungen 5. Große Anfrage der Fraktion der CDU/CSU -- Drucksache VI/2739 betr. Deutschland- und Außenpolitik Verordnung (EWG) des Rates über die Beihilfe für Olivenöl — Drucksachen VI/2700, V1/2828 — - - Drucksache VI/2740 — Verordnung (EWG) des Rates zur Änderung der Verordnung 6. Beratung des Antrags der Fraktion der (EWG) Nr. 1171/71 hinsichtlich der völligen oder teilweisen Befreiung von der Verpflichtung zur Destillation der Neben- CDU/CSU erzeugnisse der Weinbereitung betr. Beziehungen der Bundesrepublik Deutsch- — Drucksache VI/2763 — land und der Volksrepublik Polen Verordnung des Rates (EWG) zur Festsetzung des Grund- preises und des Ankaufspreises für Mandarinen — Drucksache VI/1523 — zur Festsetzung des Grundpreises und des Ankaufspreises für Süßorangen Das Wort hat der Herr Bundesminister für inner- -- Drucksache VI/2772 — deutsche Beziehungen. Der Vorsitzende des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten hat am 22. Februar 1972 mitgeteilt, daß der Aus- schuß gegen die nachfolgenden Verordnungen keine Bedenken erhoben habe: Franke, Bundesminister für innerdeutsche Bezie- Verordnung (EWG) Nr. 2659/71 des Rates vom 15. Dezember hungen: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1971 zur Festsetzung der Auslösungsprefse für Wein für den Zeitraum vom 16. Dezember 1971 bis 15. Dezember 1972 Auch nach den Ausführungen des Herrn Kollegen Verordnung (EWG) Nr. 2660/71 des Rates vom 15. Dezember Schröder zum Schluß der gestrigen Debatte — eine 1971 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 2311/71 über rhetorische Leistung, die Respekt verlangt — bleibt die Beihilfe für Olivenöl die CDU/CSU bisher immer noch die Antwort auf Verordnung (EWG) Nr. 2729/71 des Rates vom 20. Dezember 1971 zur Verlängerung der Geltungsdauer der Verordnung die Frage schuldig, was von der Regierung in die (EWG) Nr. 1468/70 zur Festsetzung von Übergangsbestimmun- Verträge nicht eingebracht werden mußte, konnte gen für die Bezeichnung der Interventionszentren für Roh- tabak und durfte, ganz zu schweigen davon, daß die Al- Nr. 2730/71 des Rates vom 20. Dezember 1971 zur Änderung ternative der CDU zu unserer Politik nicht zu sehen der Verordnungen Nr. 116/67/EWG und (EWG) Nr. 2114/71 ist. Aber vielleicht kommt das ja noch. über die Beihilfe für Ölsaaten Verordnung (EWG) Nr. 2830/71 des Rates vom 24. Dezember (Zurufe von der CDU/CSU.) 1971 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1599/71 zur Festsetzung zusätzlicher Bedingungen, denen eingeführter Der CDU-Vorsitzende hat gestern gemahnt, neben Wein, der zum unmittelbaren menschlichen Verbrauch be- stimmt ist, entsprechen muß spärlichen Lichtschimmern die überwiegenden 9834 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Bundesminister Franke Schatten der Lage der Nation konkret zu betrachten. winnen kann, und das gilt für alle hier in diesem Wir kennen diese Schatten. Wir kennen auch alle Teil Deutschlands, die sich an dieser Diskussion Daten. Warum sonst unternimmt diese Bundesre- beteiligen. Der Öffentlichkeit aber, die auf ein gierung Schritt für Schritt Anstrengungen, um ein schnelles und klares Urteil dringt, mutet- diese Me- Mehr an Entspannung, Normalisierung und Ent- thode ein sehr hohes Maß an Aufmerksamkeit und krampfung zu erreichen, wenn sie nicht das Über- Geduld zu. Die Bundesregierung ist sich dessen maß an Abnormität der Verhältnisse und des Ver- bewußt, glaubt aber dennoch, ja eigentlich gerade haltens an der Grenze zwischen den beiden deut- deswegen, nicht auf diese Zumutung verzichten zu schen Staaten vor Auge hätte! Nach Auffassung der können. Deutschlandpolitik Bundesregierung bedarf die Das Grundgesetz schreibt uns vor, die nationale unter den gegebenen Verhältnissen der Nüchtern- Einheit zu wahren, und es ist eine Selbstverständ- heit, der Geduld lichkeit — dennoch betone ich es besonders —, daß (Abg. Dr. Schulze-Vorberg: „Geduld" ist die Bundesregierung ihre ganze Kraft einsetzt, die- richtig!) sem Auftrag gerecht zu werden. Was aber wäre und der Selbstbeherrschung, ja des langen Atems. unser Bekenntnis zur Einheit der Nation wert, wenn wir nicht einmal die Mühe auf uns nähmen, die (Beifall bei den Regierungsparteien. — Dinge in ihrer ganzen Breite und Kompliziertheit zur Sehr gut!, Bravo-Rufe und Beifall bei der Kenntnis zu nehmen, wenn wir darauf verzichteten, CDU/CSU.) uns im einzelnen über den anderen, uns in vielem Ich freue mich sehr, daß wir darin übereinstim- so fremden deutschen Staat zu informieren: über die men. Es kommt ja nicht darauf an, wie der eine oder Leistungen seiner Menschen, seine Ordnung, über andere das entstellt. Sie werden, wenn Sie diese seine innere und äußere Statur, sein Selbstverständ- Aussage überprüfen, nicht umhin können zuzugeben, nis und die Art und Weise, wie er mit den ihm an- daß von Anbeginn diese Bundesregierung nie Illu- heimgegebenen Menschen umgeht? Wie dieser Staat sionen geweckt hat. an seinen Grenzen zur Bundesrepublik und wie er an der Mauer zwischen Ost- und West-Berlin mit seinen (Zurufe von der CDU/CSU.) Bürgern verfährt, das wissen wir, das erfüllt uns mit Von Anfang an hat sie betont, daß wir einen müh- Bitterkeit und Abscheu. Aber wir müssen auch wis- samen Weg antreten, daß es gilt, voranzukommen sen, daß dies nicht die ganze Wirklichkeit der und, wenn es sein muß, sich millimeterweise voran- DDR ist. zukratzen. Das waren die Aussagen, die hier an dieser Stelle zu jeder Zeit gemacht wurden, und ich Die Bundesregierung ist zuversichtlich, daß es den bitte Sie herzlich darum, das so ernst zu nehmen, wie diesjährigen Materialien ähnlich ergeht wie den vor es gesagt wurde; denn sonst wäre es eine Verken- jährigen, daß sie Kenntnisse mehren und Interesse nung der Tatbestände, und uns liegt es überhaupt nach Vertiefung wecken, nicht nur in der breiten nicht, von solchen Voraussetzungen aus an die Ar- Öffentlichkeit, sondern auch in der Wissenschaft Rechts- beit zu gehen. selbst. Die Materialien 1972 stellen wichtige normen in beiden Staaten Deutschlands im Vergleich Am Anfang unserer Deutschlandpolitik — und das dar. Allerdings hat sich gezeigt, daß die Rechts- ist der Versuch, bei allen Gegensätzen die prakti- systeme teilweise so stark voneinander abweichen, schen Verhältnisse zu entkrampfen — steht die Er- daß sie, wie etwa bei Teilen des öffentlichen Rechts, kenntnis, daß die polemischen Schelten und Pau- weniger verglichen als nur mehr einander gegen- schalurteile früherer Jahre hüben und drüben nicht übergestellt werden können. Doch auch die Kon- weiterführen. Wir, die politisch Handelnden und die frontation, bei der jedes System aus seinen eigenen Öffentlichkeit insgesamt, müssen eine möglichst Denk- und Wertkategorien heraus beschrieben wird, rationale Vorstellung gewinnen auch darüber, wie schafft Einsichten in die Wirklichkeit. es im anderen Teil Deutschlands im Vergleich zu uns aussieht, was die beiden Gesellschaften leisten, Mit der Vorlage der diesjährigen Materialien ist nach welchen Normen und Regeln sie sich richten, die Bestandsaufnahme aus den erfaßbaren Bereichen wie sie gelenkt und organisiert sind. noch nicht abgeschlossen. Weitere Arbeiten ähn- licher Art werden in den nächsten Jahren folgen, um Die Bundesregierung hat sich darum vor zwei Jah- das Bild vervollständigen zu können. Es geht also ren entschlossen, ihren jeweiligen Berichten zur der Bundesregierung nicht darum, die Unterschiede Lage der Nation wissenschaftlich erarbeitete Mate- und Gegensätze zu verwischen, sondern darum, rialien beizugeben. Sie beauftragte unabhängige diese inhaltlich greifbar zu machen und sachlich fest- Wissenschaftler mit der Untersuchung und gegen- zuhalten. überstellenden Darbietung von methodisch gesicher- ten Erkenntnissen über die einzelnen Lebensbereiche Materialien der vorgelegten Art setzen uns in den bei uns und in der DDR. Ein solches Vorhaben ver- Stand zu erkennen, was die Spaltung unseres Volkes langt Distanz und Selbstbeherrschung. Beides war in Staaten und unterschiedliche Systeme tatsächlich für die Wissenschaftler selbstverständlich, denen bedeutet. Dieses Wissen, so herausfordernd und dafür unser Dank gilt; denn sie haben einen wich- vielleicht auch deprimierend es vielfach sein mag, tigen Beitrag dazu geleistet, das, was wir an Aus- muß in unser Bewußtsein und Bemühen um die Ein- einandersetzungen zu bestehen haben, so sachlich heit der Nation hineingenommen werden. Dies ist zu untermauern, daß dadurch die Aussage unserer der uns gemäße rationale Weg: aus der Anstrengung Auffassungen und Argumente nur an Qualität ge des Begreifens das Bewußtsein der Verbundenheit Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9835 Bundesminister Franke mit den Menschen in der DDR wachzuhalten. In Ziel der grundlegenden Territorial- und Machtverhält- und Methode entspricht dieser Weg unserer Politik. nisse. Eine deutsche Politik, die das versuchte, Welchen Aufruhr gab es vor zwei Jahren, als die fände in beiden Teilen Europas kein Verständnis. Materialien zum Bericht zur Lage der Nation nüch- Sie löste mehr denn je Widerstände und Mißver-- tern feststellten: ständnisse aus. Sie brächte uns um jenen Teil der Handlungsfähigkeit im Dienste unserer nationalen Die deutsche Nation ist auf dem Boden Deutsch- Anliegen, den wir nur in enger Übereinstimmung lands in seinen tatsächlichen Grenzen von 1970 mit unseren westlichen Verbündeten und in realisti- in zwei Staaten gegliedert. scher Einschätzung der Interessen unserer osteuro- päischen Nachbarvölker gewinnen können. Der Bundesregierung wird seither vorgehalten, sie gehe vor der schieren Macht in die Knie, sie kapitu- Meine Damen und Herren, schon die Regierung liere vor Kommunisten, sie ziehe unsere rechtsstaat- der Großen Koalition erkannte, daß die Trennung lichen Grundsätze in den Dreck. Die so sprechen, unseres Volkes eigene Probleme und Gefahren mit meine Damen und Herren, setzen sich dem Verdacht sich bringt, ganz zu schweigen von den individuell aus, die demokratische rechtsstaatliche Moral als menschlichen Folgen, die nach dem Bau der Berliner Feigenblatt für das Verbergen unliebsamer Tat- Mauer ins schier Unerträgliche wuchsen. Daraus sachen zu benutzen. Unsere Grundsätze und Über- leitete sie für ihre Politik die praktische Aufgabe zeugungen dürfen nicht dafür herhalten, uns um die ab, die menschlichen Folgen der Trennung nach Folgen des Krieges und der Niederlage herumzu- Möglichkeit zu lindern und dem Auseinanderleben mogeln. Hier zeigt sich, ob wir ernstlich bereit sind, der Menschen in beiden deutschen Staaten entge- politisch verantwortlich für die ganze Nation zu genzuwirken, mit einem Wort: das nationale Zu- sprechen und zu handeln. sammengehörigkeitsgefühl, die nationale Einheit zu wahren. Die heutige Opposition hält sich zugute, in den Westverträgen die deutsche Frage offengehalten zu Die Regierung der Großen Koalition bot der haben. Einer ihrer gewichtigsten Vertreter drückt Regierung der DDR Verhandlungen und gegebenen- das so aus: falls Vereinbarungen über verbesserte Kommuni- kationsmöglichkeiten zwischen Menschen und In- Es war seinerzeit der erste Bundeskanzler Dr. stitutionen in beiden Teilen Deutschlands an. Dieses , der den Westmächten einige Angebot, meine Damen und Herren, setzte doch unliebsame Verpflichtungen als Gegenleistung wohl unvermeidlich die Fähigkeit und die Zustän- für unseren Eintritt in die westliche Gemein- digkeit der DDR-Behörden voraus, für die Menschen schaft aufgezwungen hat. ihres Bereichs verbindliche Abmachungen zu treffen Meine Damen und Herren, das Ehrenhafteste, das und diese in ihren Grenzen auch durchzuführen. Das sich über die damalige Entscheidung sagen läßt, ist, mußte doch wohl die erste Voraussetzung sein, um daß sie eine Entscheidung für die Freiheit war, auf überhaupt zu diesem Angebot kommen zu können. Kosten der Einheit, gewiß, aber für die Freiheit und Die jetzige Bundesregierung ist der Meinung, daß die Demokratie und ihre Sicherung nach außen in die damalige Politik einem richtigen Ansatz ent- diesem Teil unseres Vaterlandes. Diese Option, so sprach. Nur scheut sich diese Bundesregierung nicht, meine ich, darf auch rückblickend nicht dem Ver- die Voraussetzungen und inneren Abhängigkeiten dacht ausgesetzt werden, sie sei um irgendwelcher einer solchen Politik beim Namen zu nennen. Das ist anderweitiger Leistungen oder Gegenleistungen wil- der Unterschied zu damals. Die jetzige Bundesregie- len erfolgt. Das gebietet die Solidarität unter De- rung spricht aus, daß die DDR ein Staat ist. mokraten; ich greife in diesem Zusammenhang das Wort des Fraktionsvorsitzenden der Opposition be- (Abg. Niegel: Und verschweigt vieles wußt auf, um daran zu appellieren, daß bei all den andere!) Betrachtungen, die wir anzustellen haben, dieser Weil sie ernsthaft mit der DDR verhandeln will, hat Tatsache ganz besonders gedacht werden muß. Die sie sich mehrfach bereit erklärt, die Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland ist mit den westlichen Bundesrepublik Deutschland zur DDR auf der Grund- Demokratien verbündet, weil sie selber eine Demo- lage der Achtung der Selbständigkeit der beiden kratie ist und bleiben will. Wir sollten uns nicht Staaten in Angelegenheiten, die ihre innere Kompe- scheuen, uns zu dieser Staatsräson zu bekennen. tenz in ihren entsprechenden Grenzen betreffen, zu Das hilft uns auch, die grundlegenden Dinge, die regeln. Das gehört wohl mit zu den ersten Vorausset- mit der Entstehung unseres Staates zu tun haben, zungen, wenn man es ernsthaft meint. in den richtigen Proportionen zu sehen. Wie anders sollte denn sonst verhandelt werden? Die Politik des Offenhaltens der deutschen Frage Oder sollen wir etwa an der Methode festhalten, nur kann nur durchgehalten werden, wenn wir sie einseitig Forderungen zu erheben, die uns zwar mo- glaubwürdig vertreten. Glaubwürdigkeit nach innen ralisch und seelisch in dieser oder jener Weise zu- wie nach außen setzt die Bereitschaft und die Fähig- friedenstellen mögen, aber keinerlei Fortentwick- keit voraus, unser nationales Problem richtig und lung, keinerlei Fortschritt in dem Bereich bedeuten, dimensionsgerecht in die europäische Landschaft der uns eigentlich doch gemeinsam am Herzen lie- einzufügen. Wir dürfen uns nicht überschätzen und gen sollte? Wir müssen die Tatsache berücksichti- die Erfahrungen unserer Nachbarvölker in Ost und gen, daß die deutsche Nation auf dem Gebiet zweier West nicht unterschätzen. Die Lösungsbedürftigkeit Staaten mit entgegengesetzten Gesellschaftsord- der deutschen Frage ist kein Hebel zur Umstürzung nungen und entgegengesetzten politischen Zielen 9836 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Bundesminister Franke fortbesteht. Die Materialien, die Ihnen in Verbindung Kontakt mit der Wirklichkeit abgebrochen. Ein un- mit dem Bericht zur Lage der Nation an die Hand trügliches Kennzeichen dafür, ob eine Nation be- gegeben worden sind, machen es jedem deutlich. steht oder nicht besteht, ist die Auffassung ihrer Nun sagten Sie, Herr Dr. Barzel, der DDR müsse Nachbarn, und hier besteht, glaube ich, nach allen zugemutet werden, der Realität der Einheit unseres Richtungen kein Zweifel. Für die Welt sind die Volkes in dem Maße Rechnung zu tragen, in dem wir Menschen in der Bundesrepublik und in der DDR jener Realität ins Auge sähen, daß die staatliche Deutsche, die man für die Wirkung und die Mitwir- Einheit Deutschlands in absehbarer Zeit nicht ver- kung Deutschlands haftbar macht. Davon kann sich wirklicht werden könne. Glauben Sie wirklich, wir jeder jederzeit überzeugen. könnten mit dieser unserer Einsicht, wie Sie sie um- Natürlich wirken die Auffassungen des Auslandes schreiben, in eine verhandlungsfähige Position ge- auch auf das Bewußtsein der Nation zurück. Dessen langen, die auch nur einen Schritt voranhelfen ist sich die Bundesregierung bewußt. Auch wer ihre würde? Wenn Sie das glauben, Herr Dr. Barzel, Politik ablehnt, wird nicht bestreiten können, daß dann gaukeln Sie sich etwas vor, dann spekulieren sie auf diesem Felde in der Zeit, die ihr bisher zur Sie auf Hoffnungen, die Sie uns unterstellen und Verfügung gestanden hat, für die Einheit der Nation vorwerfen. mehr erreicht und getan hat als alle früheren Re- (Beifall bei den Regierungsparteien.) gierungen. Sie hat überzeugend die Friedensbereit- schaft des deutschen Volkes gegenüber seinen Nach- Die faktische Spaltung Deutschlands ist da. Wer barn deutlich gemacht. Sie hat die Probleme unserer diesen Tatbestand ignorieren will, gaukelt sich geteilten Nation mit Maß und zugleich mit Anspruch immer noch in einer Illusion, die uns von der Wirk- in ihre europäische Verständigungspolitik einge- lichkeit fernhält und keinerlei Schritte zur Lösung bracht und für unsere Probleme neues Verständnis bedeutet. Wir wollen die Auswirkungen dieser Rea- geweckt. lität im Interesse der betroffenen Menschen und da- Nicht zuletzt für diese Politik, meine Damen und mit auch der Einheit unserer Nation mildern. Das ist Herren, hat der Bundeskanzler Brandt „im Namen das, was wir uns als konkrete Aufgabe in dieser des deutschen Volkes" den Friedensnobelpreis 1971 Zeit stellen können, und das geht eben nicht, wenn erhalten. man den Status quo verleugnet oder mit der Einsicht in Bestehendes Handel treiben will. Wer so vor- (Beifall bei den Regierungsparteien.) ginge, würde das Gegenteil bewirken und besorgte Dies war eine Anerkennung besonderer Art, und es damit — um wiederum mit Ihnen zu sprechen, Herr wäre geradezu absurd, diese Tatbestände des poli- Dr. Barzel — das Geschäft unserer gemeinsamen tischen Geschehens um uns herum zu leugnen, zu Feinde. Diese Feinde sind diejenigen, die sich jeder ignorieren, wenn wir uns mit diesem Thema zu be- Normalisierung der Verhältnisse im Zentrum Euro- fassen haben. Diese Anerkennung galt dem ganzen pas — gegen die wohlverstandenen Interessen aller deutschen Volk, das zum Teil auf Grund seiner Ver- Staaten — entgegenzustellen suchen. Diese Feinde antwortung von den Folgen des zweiten Weltkrie- nehmen für ihr Geschäft sehr dankbar Argumente ges schwer betroffen wurde und das jetzt seine entgegen, die ihnen von welcher Seite auch immer Pflicht zum Frieden allem anderen voranstellt. geliefert werden sollten; sie nehmen sie gern ent- gegen, um damit in einem Sinne zu operieren, den Es gibt eine spezifisch deutsche Verantwortung wir gemeinsam nicht anerkennen, vertreten und för- für den Frieden in Europa, der sich beide deutsche dern sollten. Staaten nicht entziehen können. Den Deutschen hüben und drüben fällt die Aufgabe zu, so neben- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich an einander und miteinander zu leben, daß die system- dieser Stelle noch einmal deutlich sagen: wir grün- bedingten Gegensätze nicht noch zusätzlich durch den unsere Politik auf die Gewißheit der Fort- eine besondere innerdeutsche Intimfeindschaft ver- existenz der deutschen Nation auf dem Gebiet stärkt werden. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, zweier Staaten. Der Bundeskanzler hat dazu gestern daß z. B. familiäre Bindungen auch eine Kehrseite einiges gesagt. Die Einheit der Nation setzt sich aus haben können. Der Sprachgebrauch spricht von mancherlei zusammen: aus einer Vielzahl von zwi- feindlichen Brüdern und meint damit ein Gegensatz- schenmenschlichen und verwandtschaftlichen Bindun- verhältnis, das gerade durch den engen Verwandt- gen, aus einem tiefsitzenden Gefühl des Zusammen- schaftsgrad verschärft wird. Von derartigen Animosi- gehörens und der Eigenart vor der Welt, aus Tra- täten gilt es das Verhältnis zwischen den beiden ditionen der Lebensart, aus gemeinsamen geschicht- deutschen Staaten zu befreien. Das kann nicht da- lichen und kulturellen Erfahrungen, gemeinsamen durch geschehen, daß man seine nationale Kompo- Erinnerungen, gemeinsamem Schicksal. Das alles nente einfach ableugnet. Worauf es ankommt, ist, läßt sich nicht so ohne weiteres an der Garderobe eine rationale Einstellung zu dieser Komponente zu der Zeitgeschichte abstreifen, sondern das besteht gewinnen, gleich weit von Negation wie von blinder fort, ob es dem einen oder anderen gefällt oder nicht Überhöhung entfernt, eine Einstellung, die den Er- gefällt, und das läßt sich auch nicht mit Konstruk- fordernissen des europäischen Friedens gerecht wird. tionen von bürgerlicher Nation oder sozialistischer Nation, wie es andere sagen, austreiben. Genauso Dazu zählt auch, daß jeder der beiden Staaten unsinnig wäre es, zwischen sinnvollen und unsinni- mit sich selbst ins reine kommt. Beide Staaten müs- gen Nationen zu unterscheiden. Vermutlich glauben sen gleichsam sich selbst finden, bevor sie im Rah- die Urheber solcher Begriffsmanipulationen selbst men des Ost-West-Verhältnisses miteinander in nicht an ihre Weisheiten, es sei denn, sie hätten den Beziehung treten. Es geht nicht um Vermischung Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9837

Bundesminister Franke und um die Errichtung von falschen Fassaden der Die Berliner können versichert sein: Die Bundes- Gemeinsamkeit in Dingen, in denen es keine Kom- regierung wird wie bisher alles in ihren Kräften promisse geben kann. Die DDR spricht von Abgren- Stehende tun, um die Vitalität und Anziehungs- zung und versteht darunter nach ihren eigenen Wor- kraft ihrer Stadt zu erhalten und zu fördern. Wer- ten die Profilierung als sozialistischer Staat. So Berlin sieht, soll und wird ein Stück unseres Lebens übertrieben und über das Ziel hinausschießend uns sehen, ein Stück unserer freiheitlichen Gesellschaft, manche der Abgrenzungsbegriffe auch erscheinen unserer Art, zu leben und miteinander umzugehen. mögen, wir sollten ihren tieferen Zweck nicht über- Dieses Ergebnis unserer praktischen Politik sollte sehen. Sie dienen augenscheinlich dazu, eine Poli- uns gemeinsam bestärken, den so beschrittenen Weg tik der Beziehungen vorzubereiten. Wir kennen weiterzugehen. Denn nur so kommen wir zu Erfol- diese Methode aus langjähriger Beobachtung und gen. Erfahrung sehr genau. Wir sollten auch nicht ver- (Beifall bei den Regierungsparteien.) kennen, daß die bisherigen Bemühungen der DDR unter dem Stichwort „Profilierung" ihren Menschen Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der einige spürbare Erleichterungen gebracht haben. Der Abgeordnete Dr. von Weizsäcker. Reiseverkehr nach Polen und in die Tschechoslowa- kei etwa sind Fakten, die sich aus Notwendigkei- Dr. Freiherr von Weizsäcker (CDU/CSU): Herr ten ergeben, die aus der allgemeinen politischen Präsident! Meine Damen und Herren! Wieder hat die Entwicklung bedingt und erforderlich sind. Bundesregierung einen umfangreichen Materialband zur Lage der Nation vorgelegt. Herr Bundesminister (Beifall bei der SPD.) Franke hat gerade darüber gesprochen. Ich teile Wir scheuen die Konkurrenz mit der DDR nicht, ja, seine Meinung, daß den Wissenschaftlern, die an der wir würden uns freuen, käme es zu einem echten Abfassung dieses Bandes beteiligt waren, Dank ge- Wettbewerb, der den Menschen hüben und drüben bührt für eine Arbeit, die ganz fraglos wissenschaft- nützen würde. Das ist unsere Auffassung schon seit liches Interesse finden wird, nicht zuletzt etwa für vielen Jahren. Wir werden jede Gelegenheit nutzen, die Frage, ob es überhaupt möglich ist, mit diesen um in einen solchen Wettbewerb eintreten zu kön- Methoden empirischer und soziologischer Forschung nen. Das würden wir, so meine ich, mit großer Zu- Systemvergleiche wertfreier Art vorzunehmen, Sy- versicht gemeinsam bestehen können. Wir sind auch stemvergleiche etwa in bezug auf Rechtssysteme, bereit zur Kooperation, die von den Mitgliedstaaten bei denen wir ja schon, wenn wir unsere eigenen des Warschauer Vertrages erst kürzlich wieder den Verhältnisse betrachten, sehr wohl die Rechts- europäischen Ländern angeboten worden ist. Die systeme und die Rechtswirklichkeit immer einander beiden Staaten müssen und werden lernen, einan gegenüberstellen, um zur richtigen Wertung zu kom- der zu ertragen, weil es sonst keinen Weg gibt, men. die Verhältnisse menschenfreundlicher, friedlicher (Zustimmung bei der CDU/CSU.) und sicherer zu machen. Das ist eine schwierige Wieviel eher ist das notwendig, wenn wir einen Aufgabe, aber wir müssen uns ihr stellen, wenn wir Vergleich zwischen den Verhältnissen in der Bun- sie ernst nehmen und es ernst meinen. desrepublik und in der DDR vornehmen. Bundesrepublik und DDR müssen und werden zu (Beifall bei der CDU/CSU.) einem Modus vivendi finden, weil die Zeit es ver- Wenn die Bundesregierung einen politischen Be- langt und weil keiner von ihnen so in sich selber' richt zur Lage der Nation erstattet, dann erwarten ruht, daß er diesem Verlangen widerstehen könnte. wir von ihr wertende Vergleiche. Dies ist zum zwei- Der Wille zum Modus vivendi ist noch nicht gleich- tenmal hintereinander unterblieben. Nötig wäre es bedeutend mit einer gemeinsamen Vorstellung von z. B. auch, den Nationbegriff der SED näher zu ana- seinem Inhalt. Um diesen Inhalt muß gerungen wer- lysieren, denn er ist ja doch von unmittelbarer Be- den. Das hat sich am Berlin-Abkommen bestätigt. deutung für eine Politik, die an der Einheit der Aber am Berlin-Abkommen hat sich auch erwiesen, Nation festhalten will. Daß dies auch möglich wäre, daß es auf allen Seiten die Bereitschaft gibt, ein ent- dafür haben wir einen sehr zündenden Beweis: Der spannteres Zusammenleben zu organisieren statt an Vorsitzende der Kommission der Bundesregierung den unüberbrückbaren Gegensätzen permanent zu zur Abfassung des Materialbandes zum Bericht zur kranken. Lage der Nation, Professor Ludz, hat im neuesten „Deutschland-Archiv" hierzu einen sehr interessan- (Beifall bei den Regierungsparteien.) ten Bericht gegeben, einen wesentlich interessan- teren Bericht als den, den die Bundesregierung ihm Diese Bereitschaft hat für Berlin eine Regelung zu- in dem Materialband zur Lage der Nation zu publi- stande gebracht, deren Inkrafttreten der Stadt reale zieren gestattete. Aussichten auf eine krisenfreiere und stetigere Ent- wicklung eröffnen wird, auf eine Entwicklung als Nach diesen Darlegungen von Ludz hat -- wir ein intaktes westliches Gemeinwesen, als eine offene wissen es — Honecker nun eindeutig vom Ausein- Gesellschaft, geprägt von Urbanität, geistiger Le- anderbrechen der früheren deutschen Nation in zwei bendigkeit und Liberalität nach innen wie nach au- Nationen gesprochen. Er führt dies auf die histori- ßen, fernab aller provinziellen Enge und Ängstlich- sche Entwicklung bei und nach der Reichsgründung keit. Hier liegt die Stärke Berlins, hier hat sie immer 1870/71 zurück, spricht vom fatalen Zusammen- gelegen. Diese Chance sollten wir mit Energie und schweißen durch Blut und Eisen, von den nationalen Phantasie nutzen. Katastrophen der Großbourgoisie und erklärt die 9838 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Dr. Freiherr von Weizsäcker Nation für eine gesellschaftliche Sache, nämlich für Jeder von uns fühlt sich als Deutscher auch dann, die Sache der Arbeiterklasse und mithin des Klas- wenn er sich in diesem Wettkampf noch nicht durch- senkampfes. Und das heißt für ihn heute: Die sozia- gesetzt hat. listische Nation ist in der DDR verwirklicht und muß gegen den äußeren Feind, gegen die Bundesrepublik Meine Damen und Herren, würden wir anders an- fangen, würden wir die Nation selbst danach be- als der bürgerlichen Nation, abgegrenzt werden. stimmen, ob wir unsere gesellschaftspolitischen Ziele Aber zugleich zerlaubt ihm seine Dialektik, zu er- schon verwirklicht haben, würden wir also als die klären, daß die Staatsgrenze nicht die Klassengrenze wahre Nation erst diejenige Demokratie ansehen, sei. Auch in der Bundesrepublik gebe es Werktätige, von der es etwa im Godesberger Programm der SPD Arbeiter, Bauern, Teile der Angestellten und des heißt, daß sie sich im Sozialismus erfüllt, würden Mittelstandes, der Jugend und der Intelligenz, die wir also meinen, daß das Gemeinwesen zu einem die historisch wertvolle Substanz der Klassenkampf- unerfüllten Dasein verdammt bleibt, solange sich nation darstellten, und diese müsse durch die DKP dieser Sozialismus noch nicht eingestellt hat, dann und andere radikale Gruppen zum Kampf gegen den hat das sehr schwerwiegende Folgen für die Lage Klassenfeind in der Bundesrepublik geführt werden. der Nation im geteilten Deutschland. Das ist eine der wesentlichen Basen für die Ein- (Beifall bei der CDU/CSU.) mischung in unsere Verhältnisse auf dem Boden des Nationbegriffs. Denn es besteht ein sehr empfindlicher Zusammen- (Beifall bei der CDU/CSU.) hang zwischen unserer innenpolitischen Ausein- andersetzung und der Lage der Nation. Auch hier Deshalb ist der Entschluß radikaler Elemente zum zeigen sich die großen Gefahren, wenn eine Regie- langen Marsch durch die Institutionen, also zur Er- rung beginnt, Deutschlandpolitik im Alleingang zu oberung von Schaltstellen an den Hochschulen, von betreiben. Denn wenn wir unsere hiesige gemein- Lehrerverbänden, von Erziehungsaufträgen, aber same Freiheit nur dazu benutzen, über den Inhalt auch zu dem Versuch zur Eroberung von Basis- der Nation und ihren Begriff einen Parteienstreit zu gruppen etwa in der SPD, für uns alle so gefährlich. veranstalten, dann brauchen wir uns gemeinsam Von daher verstehen wir sehr wohl das vitale, uns nicht mehr um die staatliche Einheit dieser Nation alle betreffende Interesse, welches die Führung der zu bemühen. SPD an sorgfältigen Abgrenzungsbeschlüssen gegen Unterwanderung durch linksradikale Elemente hat. (Beifall bei der CDU/CSU.) Aber, meine Damen und Herren, das genügt nicht. Der Gewinner einer solchen Phase aber wäre nur Vielmehr müssen wir daraus auch die Lehre ziehen, Honecker und sonst niemand. daß auch unter uns in der innenpolitischen Ausein- (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) andersetzung Bemühungen um Gemeinsamkeit im Doch ich möchte nun, meine Damen und Herren, Verständnis dessen, was den Inhalt der Nation aus- zur Deutschlandpolitik selbst kommen. Was wird macht, dringend notwendig sind. aus der Lage der Nation unter dem Einfluß der Ich meine, Nation ist ein Ingebriff von gemein- beiden Verträge? Das ist für mich die Kernfrage. samer Vergangenheit und Zukunft, von Sprache und Darüber möchte ich jetzt sprechen, und darauf will Kultur, von Bewußtsein und Wille, von Staat und ich mich auch beschränken. Gebiet. Mit allen Fehlern, mit allen Irrtümern des Zeitgeistes und doch mit dem gemeinsamen Willen Zwei Zielen galt die gemeinsame Deutschland- und Bewußtsein hat diesen unseren Nationbegriff politik dieses Hauses, nämlich erstens der Wieder- das Jahr 1871 geprägt. Von daher — und nur von herstellung der staatlichen Einheit und zweitens den daher — wissen wir heute, daß wir uns als Deutsche Bemühungen um Erleichterungen — vor allem um fühlen. Das ist bisher durch nichts anderes ersetzt. mehr Freiheiten — und schließlich um das Recht auf freie Selbstbestimmung für die Menschen im an- Leider aber haben wir im Jubiläumsjahr der deren Teil Deutschlands. Die Gemeinsamkeit dieser Reichsgründung, also im letzten Jahr, statt dessen Bemühungen war um so wichtiger, als wir uns alle von hoher und besonders hoher Stelle andere, zu- der Empfindlichkeit unserer deutschen Lage in der meist kritische Äußerungen zu dieser Nation gehört. internationalen Politik bewußt waren. Und um so Es war vorwiegend die Rede vom Widerstand weiter gefährlicher ist es eben, daß diese Gemeinsamkeit Teile der Gesellschaft gegen diese Nation, für die Lage der Nation heute praktisch in Frage (Beifall bei der CDU/CSU) gestellt ist, und zwar durch die Vertragspolitik der Bundesregierung. vom Riß zwischen Demokratie und Nation, von der Nation als dem Feld zur Erreichung gesellschafts- (Beifall bei der CDU/CSU.) politischer Ziele. Wie ist es dazu gekommen? Welche Wahlmög- Natürlich war sie unvollkommen. Natürlich gibt es lichkeiten fand die neue Regierung im Herbst 1969 in unserer Gesellschaft heute mehr Integration als denn vor? damals. Und auch nichts gegen gesellschaftspoliti- Nicht wenige, die die Linkskoalition öffentlich sche Ziele! Es ist die Aufgabe von uns, von den herbeigewünscht und herbeigeschrieben hatten, hat- Parteien, urn diese Ziele demokratisch zu wetteifern. ten dies mit der Hoffnung verbunden, eine Regie- Aber die Nation muß diesem Wettkampffeld über- rung Brandt werde die bisherige Offenhaltepolitik geordnet bleiben. nicht fortsetzen, sondern auf das Ziel der staat- (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) lichen Einheit verzichten, also der Anerkennung der Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9839

Dr. Freiherr von Weizsäcker DDR praktisch keine Schwierigkeiten mehr in den für verwenden möge". Name und Sache gehen also Weg legen. — Andere dagegen setzten auf Bei- auseinander. Kann man denn deutlicher, kann man behaltung der Offenhaltepolitik. schärfer die Doppeldeutigkeit einer Politik kenn- - Die Unsicherheit, welcher der beiden Wege zu zeichnen? wählen war, ging tief und geht wohl bis heute tief Ich habe nie erfahren, ob die Bundesregierung in die Reihen der neuen Koalitionsparteien hinein. öffentlich oder ob sie amtlich etwa jetzt bei dem Be- Ich sage das nicht als Vorwurf; nur meine ich, die such des Bundeskanzlers in Paris dieser Deutung neue Regierung habe vor allem die Aufgabe gehabt, entgegengetreten ist. Ich habe aber selbst seit der eine eindeutige Richtung anzugeben. Unterzeichnung der Verträge nicht nur Warschau und Moskau, sondern auch die drei westlichen Aber der entscheidende Einwand gegen den Weg, Hauptstädte besucht, und in jeder dieser Haupt- den diese Regierung nun deutschlandpolitisch tat- städte wurde mir die Bundesregierung unter ande- sächlich eingeschlagen hat, ist der — ich wiederhole rem gerade für das deutschlandpolitische Verhalten es —, daß sie den Versuch unternimmt, beide Wege gelobt, welches sinngemäß Präsident Pompidou in miteinander zu verbinden, die Vorteile beider Wege der eben genannten Äußerung angesprochen hat. für sich in Anspruch zu nehmen. Und das bisherige Resultat ist eine tief zweideutige Situation und (Beifall bei der CDU/CSU.) folglich eine gefährliche Ungewißheit darüber, wo- hin denn nun die Bundesregierung, ob gewollt oder Die Bundesregierung wird nicht müde, sich hier nicht, uns alle weiter führen wird. zu Hause auf dieses Lob des Auslandes zu beziehen, zugleich aber versichert sie vor der eigenen Öffent- (Beifall bei , der CDU/CSU.) lichkeit, daß für sie die Politik einer Anerkennung Auf der einen Seite versichert sie uns unver- außer Betracht bleibe. Daß dies formal gesehen zu- ändert, am Ziel der staatlichen Einheit Deutschlands trifft, glaube ich. Aber was hilft mir das, wenn sich im Wege freier Selbstbestimmung festzuhalten. dahinter ein Bedeutungswandel von 180 Grad voll- Nicht eine bloße Kulturnation — also Sprache, Ge- zieht? schichte und geistige Werte —, sondern die Nation (Beifall bei der CDU/CSU.) im politisch-staatlichen Sinne bliebe die Grundlage Die Form wird dann eben gleichgültig. So haben ihrer Deutschlandpolitik. George Pompidou und Golo Mann gesagt, und so Solche Äußerungen waren überdies am Anfang werden dann vielleicht noch andere sagen müssen. der Regierungszeit noch verhältnismäßig spärlich. Ich will zwei Beispiele nennen. Immer wieder ver- So wurden wir z. B. in der Debatte über die Lage der Nation im Jahre 1970 in diesem Hause noch auf- sichert die Bundesregierung, sie könne die DDR gar gefordert, die Frage der Einheit der Nation von der nicht anerkennen, denn das wäre eine Verfügung Frage der staatlichen Einheit säuberlich zu trennen. über Deutschland als Ganzes, und das stünde ihr nach den Viermächtevorrechten gar nicht zu. Ferner (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!) verweist sie darauf, daß es ihr erstmals wieder und Inzwischen aber — und auffällig in den letzten vor allem im Berlin-Abkommen gelungen sei, die Monaten — haben wir Versicherungen über das Viermächteverantwortung neu zu beleben. Damit staatliche Einheitsziel wiederholt gehört. Das hilft will sie doch offenbar vor der Öffentlichkeit den Ein- nicht nur bei der Mehrzahl der Wähler, die dies druck erwecken, als sei dies der Beweis für ihr täti- wünschen, und vorsorglich in Karlsruhe, sondern es ges Festhalten am Selbstbestimmungsrecht und am soll wohl auch gegen eigene Unsicherheit schützen. staatlichen Einheitsziel. Auf der anderen Seite hat aber die Bundesregie- Aber, meine Damen und Herren, die Viermächte rung mit ihrer Regierungserklärung, mit ihrer Ver- rechte sind doch etwas ganz anderes. Sie sind ein tragspolitik, mit den Moskauer Absichtserklärungen Überbleibsel vom Ende des zweiten Weltkrieges und und anderen amtlichen Texten die Deutschlandpoli- beruhen auf der Unfähigkeit der Sieger, sich ange- tik praktisch nachhaltig verändert. Sie glaubt zwar sichts der damaligen Gegensätze schon damals auf bei der neuen Marschrichtung den formellen Willens- eine endgültige Lösung der deutschen Frage zu eini- akt der Anerkennung der DDR vermeiden zu kön- gen. Ganz gewiß sind diese Vorrechte für uns in nen, zugleich aber — wir sprachen hier gestern schon Berlin wichtig, sie sagen aber gerade nichts darüber davon — beschreitet sie den Weg, auf dem praktisch aus, jedenfalls nichts Genaues, wie denn die Vier alle Merkmale der Anerkennung der DDR verwirk- Mächte gemeinsam zur Forderung der Deutschen licht werden. Golo Mann hatte 1970 gesagt, die Bun- nach Selbstbestimmung und freier Wiederherstellung desrepublik solle sich in erster Linie selbst anerken- ihrer Einheit stehen. nen, dann würden die anderen Anerkennungen von (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. selbst folgen, gleichgültig in welcher Form. Eine ver- Marx [Kaiserslautern] : So ist es!) blüffende Parallele zu dieser Formulierung findet sich in der hier gestern auch schon genannten Be Die Vier Mächte haben sich bei den Berlin-Verhand- wertung der Deutschlandpolitik der Bundesregie- lungen auf eine Wiederbelebung ihrer Vorrechte rung durch den französischen Staatspräsidenten nach verständigt, ohne aber damit etwas über Selbstbe- dem Krim-Besuch des Bundeskanzlers; denn Pompi- stimmung und Einheitsziel auszusagen. Meine Da- dou sagte ja bekanntlich, er sehe es nicht ungern, men und Herren, deshalb sollte der, dem es um daß die Bundesregierung auf eine Anerkennung der Selbstbestimmung und Einheitsziel geht, eben we- DDR zusteuere, „welchen Namen sie auch immer da niger auf die Viermächterechte und dafür mehr auf 9840 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Dr. Freiherr von Weizsäcker die Zusage unserer drei westlichen Verbündeten im Im übrigen wird der Versuch, am innerdeutschen Deutschland-Vertrag verweisen, Verhandlungstisch eine klarstellende Rechtsbasis für die doppelte UNO-Mitgliedschaft zu finden, (Beifall bei der CDU/CSU) schon aus formalen Gründen eine Quadratur des denn dort ist ausdrücklich die Unterstützung unserer Zirkels. Denn einerseits will die Bundesregierung Ziele zugesagt. Aber dieser Deutschland-Vertrag — der DDR ja dadurch ermöglichen, ein voll vor allem sein entscheidender Art. 7 —, ist durch souveränes Völkerrechtssubjekt zu werden, wenn die Politik der Bundesregierung durchaus nicht wie- diese nur bereit ist, von uns an Stelle eines Bot- derbelebt worden. Er gerät vielmehr durch ihre Ver- schafters einen Vertreter mit innerdeutschem Status träge und Absichtserklärungen in die ernste Gefahr zu akzeptieren. Zum anderen wird aber darauf ver- der Aushöhlung. wiesen, daß wir wegen der Vorrechte der Vier Mächte gar nicht in der Lage wären, den Völker- (Beifall bei der CDU/CSU.) rechtsstatus der Beziehungen der beiden deutschen Meine Damen und Herren, der Opposition begeg- Staaten zueinander festzulegen. Das alles wirkt wie net in einem solchen Zusammenhang nicht selten der die Bemühungen um ein gigantisches Kartenhaus. Vorwurf, sie solle doch zu einer solchen Gefahr der Fest steht nur dies: Wenn erst einmal beide deut- Aushöhlung deutscher Positionen nicht beitragen, schen Staaten Mitglieder der UNO sind, dann wer- indem sie öffentlich davon spreche. Ich meine, das ist den sie von allen Regierungen in der Welt und nicht ein ganz falsches Verständnis unserer Oppositions- zuletzt von unseren eigenen Verbündeten als voll- aufgabe. Es geht eben nicht, daß die Regierung im souveräne Völkerrechtssubjekte betrachtet und be- Alleingang ihre Vertragspolitik betreibt, mit der sie handelt w erden. Wer in der Welt, so frage ich, wird den praktischen Wert des Art. 7 des Deutschland- dann noch irgendeinen politisch relevanten Ge- Vertrages gefährdet — siehe die Äußerungen von danken darauf verwenden, was es bedeutet, wenn Pompidou —, daß sie die Opposition vorher nicht eine deutsche Politik in Bonn weiterhin aus Ver- konsultiert, dafür aber hinterher von ihr verlangt, fassungsgründen vom Ziel der staatlichen Einheit sie müsse aus nationaler Treuepflicht erklären, daß der Nation spricht? der Deutschland-Vertrag unverändert wirksam sei. (Beifall bei der CDU/CSU.) So geht es nicht! Gewiß, es wird niemanden stören, wenn wir Deut- (Beifall bei der CDU/CSU.) schen dann unsere Zusammengehörigkeit im Sinne Vielmehr müssen wir auf die uns im Ausland viel- einer bloßen Kulturnation betonen. Der Eintritt fach bestätigten Gefahrenmomente hinweisen, um zweier deutscher Staaten in die UNO aber wird ) vielleicht auf diesem Wege dazu beizutragen, daß praktisch der unwiderrufliche Weg zur Anerken- eben nicht nur die Viermächterechte, sondern vor nung der DDR sein. allem auch die Verantwortlichkeiten der drei Ver- Nun stimme ich mit unserem Kollegen Guttenberg bündeten neu- und wiederbelebt werden. Wir sind und anderen ganz darin überein, wenn sie sagen: für die intensiven Bemühungen dankbar, die die Es geht ja vor allen Dingen um die Freiheitsrechte. Drei Mächte in den mühsamen Berlin-Verhandlungen Bei der Aussicht auf einen brauchbaren Kompromiß auf sich genommen haben. Wir sind auch von dem ist auch über staatliche Einheit und Grenzen sehr persönlichen Einsatz beeindruckt, den die drei Bot- wohl zu reden. Aber bietet denn — so ist zu schafter und die Botschaftsräte in der ständigen fragen — die Politik der Bundesregierung eine Aus- Konsultationsgruppe mit dem Auswärtigen Amt we- sicht auf einen solchen Kompromiß? Wird sie mit gen Berlin geleistet haben. ihrem Plan der innerdeutschen Verhandlungen ein entsprechendes Miteinander erreichen? Wird es ihr (Beifall bei der CDU/CSU.) gelingen, die innerdeutschen Beziehungen in diesem Aber es ging dabei eben um Berlin. Wir werden Sinne generalzuregeln, so daß man über die bisher die Drei Mächte auch für die innerdeutschen Fort- genannten Bedenken hinwegsehen könnte? In die- schritte wohl bald noch bitter nötig brauchen. sem Kernstück der Vertragspolitik der Bundes- regierung liegen meine ernstesten Fragen und Mein zweiter Punkt betrifft die formelle Zusage Sorgen. der Bundesregierung, sich für die Mitgliedschaft Unverändert folgt die Bundesregierung der alten zweier deutscher Staaten in der UNO einzusetzen. Tutzinger Devise des Wandels durch Annäherung. Die Bundesregierung erklärte allerdings inzwischen, Ihr liegt der an sich bestechende Gedanke zugrunde, es sei ihr damit nicht so eilig, und außerdem brauche daß es doch die Sorge der SED vor unseren Ein- sie eine Rechtsbasis, welche den besonderen inner- wirkungsabsichten sei, die sie daran hindere, im deutschen Charakter der Beziehungen der beiden eigenen Machtbereich mehr Freiheiten zu gewähren. deutschen Staaten zueinander klarstelle. Was nun Man müsse deshalb der SED diese Sorgen nehmen. aber die Eile anbetrifft, so stellte der Bundeskanzler Man müsse sich glaubhaft zur Nichteinmischung am Anfang des Jahres in einem Interview in den verpflichten. Man müsse ihre Komplexe abbauen, Vereinigten Staaten fest, diese Frage hätten wir gar die Komplexe des Nichtanerkanntseins nämlich, nicht mehr allein in der Hand; sie käme vielmehr durch Freigabe der Anerkennung in der Welt. Man von außen auf uns zu. — Natürlich tut sie das jetzt, müsse dadurch ihre Fähigkeit und ihr eigenes Inter- nachdem unsere eigene Regierung und niemand esse dafür wecken, die erhofften Folgen für die sonst dieses Kind in die weite Welt gesetzt hat. Menschen in der DDR selbst zu veranlassen. Dann (Beifall bei der CDU/CSU.) kämen unsere eigenen Entspannungsbeiträge im Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9841

Dr. Freiherr von Weizsäcker allgemeinen Ost-West-Verhältnis hinzu, die doch daß ich ohne Freude darüber spreche. Wir wollen dann jede Propaganda gegen uns und auf die Dauer ja hier nicht wieder anfangen, uns gegenseitig man- auch jeden Sinn einer Abgrenzungspolitik gegen- gelnden Willen und mangelnde Eignung für das standslos machten. So sehe es heute die westliche gesamtdeutsche Geschäft vorzuwerfen. - und die neutrale Welt. So würden es langsam auch (Zurufe von der SPD.) Moskau und seine Verbündeten sehen. Und dann, so wird gefolgert, werde wohl oder übel auch die Auch wäre mir wohler, wenn hier mehr Einver- SED es sehen, zu lernen gezwungen sein. ständnis vorhanden und darum weniger öffentliche Erörterungen über die innerdeutsche Politik von- Das klingt alles ganz plausibel, und dennoch ist nöten wären. gerade hier das Kernstück nicht nur der unbewie- senen Spekulation für die Zukunft, sondern alle (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von bisherigen Anzeichen sprechen leider eine ganz der SPD.) gegenteilige Sprache. Aber angesichts des entschlossenen Alleingangs der (Beifall bei der CDU/CSU.) Regierung in der Ost- und Deutschlandpolitik vom Tage der Regierungserklärung an blieb uns ja gar Die SED hat nun wirklich ernst damit gemacht, keine andere Wahl als die der öffentlichen Ausein- die Bundesrepublik zum Ausland zu erklären, und andersetzung, und die nüchterne Analyse der Lage zwar Hand in Hand mit Datum und Sache des Mos- der SED zwingt uns — und zwingt uns gemein- kauer Vertrages. sam — zu der Feststellung, die ich getroffen habe. (Zustimmung bei der CDU/CSU.) Was folgt aus alledem? Es folgen in erster Linie Sie hat alle bisherigen Sondereinrichtungen und Konsequenzen für die des Westens im Sprachgebräuche, die sie im gesamtdeutschen Sinne ganzen. Da ich mich aber hier auf die Lage der noch hatte, auf Auslandsfunktionen um- und damit Nation beschränke, will ich in meinem Schlußteil abgestellt. Gleichzeitig und vor allem aber begann nur noch etwas über unseren üblichen politischen sie damit, ihre verschärfte und totale Abgrenzungs- Gesprächsrahmen hinaus zu dieser Lage der Nation politik gegen die Bundesrepublik im allgemeinen sagen. und gegen den Sozialdemokratismus im besonderen Bei allem Streit ist unter uns Politikern ja seit einzuleiten. Das geht uns alle an, vor allem solange Jahr und Tag die Sorge gemeinsam, wie wir denn die SPD unsere Regierung führt. fertig werden sollen mit einem Auseinanderfallen Nun verweisen Sozialdemokraten uns oft genug von hohen Ansprüchen in der Deutschlandpolitik darauf, dies sei doch nur ein Zeichen für die be- und dem Mangel an sichtbaren Fortschritten. Wir ginnende Wirkung ihrer Medizin. Es werde eben alle kennen die Ungeduld, den Unwillen, das Un- brenzlig für die alte bequeme SED-Linie, und das verständnis und schließlich als Schlimmstes die hätten wir von der CDU/CSU nicht fertiggebracht. Interesselosigkeit, die eine solche Lage gerade bei Meine Damen und Herren, ich spreche über dieses jungen Menschen, aber nicht nur bei ihnen, sondern Gebiet ganz ohne jede eigene Freude. Aber ich auch bei manchen nüchternen Berufspraktikern in fürchte, es ist gar kein Grund zu einem solchen unserer Industriegesellschaft mit ihren ganz anderen Stolz vorhanden. Ganz im Gegenteil! Problemen auslöst. (Zustimmung bei der CDU/CSU.) Wir alle kennen die Sorge, mit der Deutschland- Lenin hat gesagt, daß jede herrschende Klasse nur politik in einen luftleeren Raum zu geraten. Des- nach erbittertem Widerstand ihren Platz räume. Er halb halte ich es für gut und nötig, wenn wir uns meinte damit die Kapitalisten, aber seine Wahrheit hier im Bundestag bei der Erörterung der Lage der gilt vor allem für die Kommunisten und nicht zu- Nation auch mit den Gedanken auseinandersetzen, letzt für die SED. die oft außerhalb des aktiven politischen und Par- teieniebens unserer Mitglieder zur deutschen Frage (Beifall bei der CDU/CSU.) gepflogen werden. Wir haben keinen Grund, irgend- Wir sind uns hier ja alle darüber einig, daß wir einer Frage auszuweichen, der wir hier begegnen. uns für unsere Landsleute in der DDR etwas ande- res als ein ewiges SED-Regime wünschen. Dennoch Im politisch engagierten deutschen Geistesleben müssen wir der Tatsache ins Auge sehen, daß nicht gibt es, wie wir alle wissen, eine sehr lebhafte Aus- wir von außen eine Verwandlung der inneren Ver- einandersetzung über die Deutschlandpolitik, vor hältnisse drüben erreichen können, weder durch allem im Blick auf die deutsche Geschichte. Aus vie- containment noch durch roll back, aber erst recht len Beispielen möchte ich nur an Ulrich Scheuner nicht durch das, was man drüben nun einmal als erinnern. Er wies uns noch einmal in einem sehr die gefährlichste und die raffinierteste Form eines lesenswerten Beitrag darauf hin, daß ja die deut- Veränderungsversuchs von außen betrachtet, näm- schen Lande bis tief in das 19. Jahrhundert hinein lich den Weg des Wandels durch Annäherung der nur Zwischenfeld zwischen europäischen Nationen freiheitlichen Sozialdemokraten. waren. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war es den Deutschen gelungen, eine selbständige (Abg. Dr. Sieglerschmidt: Es muß nur wirk nationalstaatliche Mittelstellung zwischen Ost und sam sein!) West zu erreichen. Diese Position ist politisch in Denn niemand ist ungeeigneter, der SED ihre Sorgen zwei Weltkriegen von Grund auf erschüttert wor- zu nehmen. — Ich weiß, daß das alles eine überaus den. Gewonnen hat vor allem Rußland. Die Zone empfindliche Stelle bei uns berührt. Ich sagte schon, der Spaltung, die einst bei Polen lag, ist nach 9842 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Dr. Freiherr von Weizsäcker Westen verschoben. Wieder, so scheint es, sind die zusammen führt zu dem Ergebnis, daß eben heute deutschen Lande Zwischenfeld zwischen den Natio- keiner von uns eine präzise Antwort darauf geben nen, freilich anders als früher, nämlich untereinan- kann, wie sich die deutsche Frage langfristig ent- der geteilt durch die Gesellschafts- und Macht- wickeln wird. Die Zeiten für eine solche Antwort systeme, jedes der beiden in seinem System inte- sind dafür noch nicht reif. Solche Lagen gibt es in griert. der Geschichte öfters. Freilich verlangen sie von den Menschen auch das Schwerste, was es gibt, nämlich Könnte überhaupt eine der beiden Regierungen, eine Offenhaltepolitik unverfälscht durchzuhalten so wird dann gefragt, ihr Fundament erhalten, wenn und zu ertragen, auch dann, wenn keine Fortschritte sie die feste Anlehnung an ihre jeweilige Seite sichtbar werden. preisgäbe? Wenn das aber so ist, so wird weiter gefragt, liegt es dann nicht nahe, jeden Gedanken (Beifall bei der CDU/CSU.) an einen vorübergehenden Zustand zu verbannen Enttäuschung und Ungeduld sind nur allzu ver- und in Gottes Namen im westlichen Lager um so ständlich, aber sie sind schlechte Ratgeber. schneller zusammenzuwachsen, wie man sich über die Zonengrenze hinweg doch offenbar auseinander- (Beifall bei der CDU/CSU.) lebe? Geht es in einem Europa, so wird weiter ge- fragt, welches nach Stabilität und Entspannung sucht, Die Teilung, meine Damen und Herren, trennt das nicht weit eher darum, zu dieser Stabilität dadurch gemeinsame kulturelle Erbe, sie trennt gemeinsame beizutragen, daß wir die Teilung nun eben hinneh- Verantwortung für Vergangenheit und Zukunft, sie men, für deren Überwindung wir doch kein Mittel widerspricht dem heute lebendigen Bewußtsein. Die in greifbarer Nähe wissen, als immerfort den be- Zusammengehörigkeit ist eine politische, mensch- stehenden Zustand verändern zu wollen? Stören wir liche und geistige Realität, die uns alle betrifft und nicht diese Stabilität schon allein dadurch, daß wir die nicht abseitigen nationalistischen Gruppen zum uns Gedanken über die Deutschen in der DDR im Mißbrauch überlassen bleiben kann. Sinne der Einheit der Nation machen? Können wir (Beifall bei der CDU/CSU.) denn darüber hinwegsehen, daß die europäischen Völker je länger desto weniger den Wunsch haben, Aber es hängt eben ganz wesentlich von uns ab, in der Mitte eines im übrigen schwachen Zentral- ob dies auch eine Realität bleibt. Wir müssen uns europas einen neuen, voll souveränen deutschen selbst immer von neuem gewissenhaft darüber Re- Nationalstaat entstehen zu lassen mit 80 Millionen chenschaft ablegen, ob sie es denn noch ist; denn Menschen und mit der Summe der beiden in ihrem kein Grundgesetz bietet die Gewähr für ihren ewi- Bündnis jeweils zweitstärksten Wirtschaftskapazi- gen Fortbestand. Aber wir müssen vor allem auch täten? Diese Stimmung wuchs doch ganz unabhängig sehen, welchen Einfluß die Regierungspolitik auf davon, ob ein solcher neuer Staat für den Westen, diese Realität nimmt und nehmen kann. Den für den Osten oder für die Neutralität optieren schlimmsten Schaden jedenfalls bringen andauernde würde. Das alles war es, meine Damen und Herren, Unklarheiten. Wenn die Regierung Gründe dafür was Golo Mann und was andere dazu veranlaßte, sieht, von den bisherigen Zielen der Deutschland- nach einer Umkehr in der Deutschlandpolitik zu ru- politik abzuweichen, dann soll sie sie offen nennen fen. und demokratisch erörtern lassen.

Und dennoch, so meine ich, sind die Gegengründe (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) nach wie vor die gewichtigeren. Die Teilung Deutsch- Das Grundgesetz würde sie über kurz oder lang lands ist nicht organisch, sie bleibt künstlich. Sie ohnehin dazu nötigen. Will sie das aber nicht, will trennt zusammengehörige Menschen und Familien. sie vielmehr am Ziel der staatlichen Einheit in freier Diese Menschen können einfach nicht den grotes- Selbstbestimmung wirklich festhalten, dann lasse sie ken Verwandtschaftsthesen von Honecker zustim- nirgends, weder im In- noch im Ausland, weder in men, Verträgen noch in Absichtserklärungen, einen Zwei- (Beifall bei der CDU/CSU) fel daran aufkommen. Dann dulde sie keine ander- wenn er sagt, für die Freizügigkeit komme es auf die weitigen Interpretationen ihrer Politik, am aller- Verwandtschaft nicht des Blutes, sondern der ge- wenigsten bei unseren Verbündeten. Einen Mittel- sellschaftlichen Auffassungen an. weg, meine Damen und Herren, gibt es nicht. Es (Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört!) wäre der Weg der Zweideutigkeit und der Ungewiß- heit. Daher, Herr Minister Franke, wolle er die Grenze (Beifall bei der CDU/CSU.) nach Polen und zur CSSR ebenso offen halten, wie er sie zur Bundesrepublik geschlossen halten wolle. Ein solcher Weg aber kann unsere Unterstützung nicht finden. Denn wir wollen nicht dazu beitragen, (Beifall und weitere Zurufe von der CDU/ auf diese Weise die Lage der Nation, die empfind- CSU.) lich genug ist, weiter zu unterhöhlen. Das ist wider die Natur. Die Menschen hüben und (Langanhaltender lebhafter Beifall bei der drüben empfinden sich als Deutsche. Man kann die CDU/CSU.) Lage Deutschlands weder mit dem Gefühl natür- licher Vaterlandsliebe noch mit rationalen Erkennt- nissen der Machtverhältnisse jeweils für sich allein Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der lösen, denn beides gehört zusammen, und erst beides Abgeordnete Mattick. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9843

Mattick (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen und und einem Regierungsvertreter der DDR vorbereitet Herren! Gestatten Sie mir eine ganz persönliche werden sollte. Die nächsten Schritte, die wir hier Vorbemerkung. Gestern nachmittag war ich traurig gegangen sind, waren eine Automatik aus dieser oder böse darüber, daß ich infolge der Zeiteinteilung Entwicklung und aus der Erkenntnis, in welcher- nicht zu Worte gekommen bin. Ich war empört über Lage wir uns befinden. einiges, was sich hier zugetragen hat. Jetzt möchte ich nur eine Bitte aussprechen; die Zeit ist darüber Herr Dr. Schröder sagte: hinweggegangen. Ich bitte die Fraktion der CDU/ Wir sagen klipp und klar, daß, wenn wir CSU, die Rede des Herrn Stücklen noch einmal mit solche Verträge hätten schließen wollen, das ihm gemeinsam nachzulesen und sich die Frage vor- schon Jahre vorher möglich gewesen wäre. zulegen, ob es nicht sinnvoll ist, dazu hier heute wir sprechen aus unserer Beurteilung der oder morgen noch ein paar klärende Worte zu künftigen weltpolitischen Entwicklung unsere sagen. (Beifall bei der SPD.) Überzeugung aus, daß auch zu einem späteren Zeitpunkt ein solcher Vertragsabschluß nicht Denn wenn hier schon immer wieder Appelle an nur dieser Art, sondern besserer Art möglich uns gerichtet werden, mehr Gemeinsamkeit zu su- geworden wäre. chen, muß ich sagen, daß Herr Stücklen einen gro- ßen Beitrag dazu geleistet hat, daß die Spannungen Herr Dr. Schröder, Sie haben auf dem Parteitag zwischen uns und die Diffamierung untereinander der CDU 1965 folgendes gesagt: gestärkt worden sind. Im Zeichen des Kalten Krieges war die Wieder- (Beifall bei der SPD. — Abg. Stücklen: Ihre vereinigungspolitik eingebettet in das umfas- Anzeige in Baden-Wüttemberg hat mir ge- sende Anliegen der freien Welt, die Einfluß- reicht, Herr Mattick! — Weitere Zurufe von sphäre des Kommunismus in Europa zurückzu- der CDU/CSU.) drängen. Heute Aber, meine Damen und Herren, ich will darauf — so sagten Sie 1965 — jetzt nicht weiter eingehen. Ich wollte nur diese Bitte aussprechen. Wenn Sie die Rede gelesen ha- hat sich in der Welt das beherrschende und all- ben, können Sie sich überlegen, ob das gut ist. gemeine Interesse der Friedenserhaltung vor das Teilinteresse der Wiedervereingung Gestern hat Herr Dr. Schröder hier eine vielleicht Deutschlands geschoben. Es besteht zwar noch grundsätzliche Stellungnahme zur Politik der deut- eine Übereinstimmung im Ziel, aber es ist für schen Bundesregierung abgegeben. Ich glaube, es ist die deutsche Außenpolitik schwieriger gewor- notwendig, auf einige der von ihm aufgeworfenen den, den engen Zusammenhang der beiden Pro Fragen ernsthaft einzugehen. Herr Dr. Schröder bleme bis in die praktischen Auswirkungen hin- sagte: ein zu erhalten. Welche Folgen wird es haben, wenn beide Teile Deutschlands Mitglieder der Vereinten Na- Ich frage Sie, Herr Dr. Schröder: Warum haben Sie, tionen werden? ... Was wird sein, wenn unsere wenn Sie mit dieser Einstellung und dieser Einsicht Partner ... in Ost-Berlin Botschaften errichtet 1965 in der Lage gewesen wären, einen solchen haben? Vertrag zu bekommen, diesen dann nicht abge- schlossen? Die Entwicklung würde dann heute eine Ich frage Herrn Dr. Schröder mit Rücksicht auf seine andere sein! eigenen Einsichten, die er hier gestern und in frü- heren Zeiten schon entwickelt hat: (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Stücklen: Weil wir so einen Vertrag (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sehr ein drucksvoll entwickelt!) nicht unterzeichnen, weder damals noch heute! — Weitere Zurufe von der CDU/ Was haben Sie eigentlich für Vorstellungen, wie CSU.) lange z. B. die Franzosen — ich nenne nur ein Bei- -- Ich darf bitten, mich aussprechen zu lassen. spiel, um Zeit zu raffen — noch gewartet hätten, ihre Beziehungen mit der DDR ohne unsere Politik Meine Damen und Herren, bei der Rede des auszubauen? Jeder, der die französische Politik ge- Herrn Dr. Schröder fiel mir eines auf. Er hat hier genüber der DDR verfolgt hat, weiß, daß sie auf dem wahrscheinlich nicht ohne Absicht — das liegt wohl, Weg war, ohne uns und sehr weit an uns vorbei die wie wir ja aus der Vergangenheit wissen, wesent- Beziehungen zur DDR in einen Zusammenhang zu lich in seiner politischen Anschauung begründet — bringen, der für uns überhaupt keine Möglichkeit das Berlin-Problem aus der Betrachtung über die der Bewegung mit den Franzosen gemeinsam mehr Vertragspolitik völlig herausgerissen. gebracht hätte. Ich bitte Herrn Dr. Schröder, sich das zu überlegen. (Abg. Wehner: Sehr wahr!) Die zweite Bemerkung. Herr Dr. Schröder sagte: Dies ist meiner Ansicht nach bezeichnend, ohne Diese Regierung hat den Weg der Politik der zwei Vorwurf, einfach als Feststellung. Herr Dr. Schrö- Staaten in Deutschland erstmalig beschritten. Nun, der, wenn Sie nämlich von dein ausgingen, was Herr Dr. Schröder, ich darf daran erinnern, daß in einige Ihrer Kollegen hier so oft sagen, daß ihnen der Großen Koalition Herr Bundeskanzler Kiesinger Berlin so am Herzen liege und Berlin ein zentraler einen Brief an Herrn Stoph geschrieben hat, in dem Punkt in der Auseinandersetzung um die Außen- die erste Begegnung zwischen der Großen Koalition und Ostpolitik sein müsse, wäre es Ihnen nicht 9844 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Mattick unterlaufen, hier, ohne Berlin zu erwähnen, davon Interesse der Sowjetunion und die Gemeinsamkeit zu sprechen, daß es ohne Zustimmung zu den Ver- des Westens kann doch durch unsere Politik nur auf trägen oder Ratifikation kein Desaster für die Gegenseitigkeit verstärkt werden. Daß die Sowjet- deutsche Politik gibt. Ich komme darauf noch zu union, wie es Herr Barzel gefordert hat,- die Aner- sprechen. kennung der EWG ausspricht, ist ein Verlangen, (Beifall bei den Regierungsparteien. — das — entschuldigen Sie, wenn ich das sage — Abg. Schulte [Unna] : Das ist ein schwerer meiner Ansicht nach jeder politisch realen An- Vorwurf!) schauung entbehrt. Eine ganz andere Frage ist, ob wir nicht in der Lage sind, die Sowjetunion durch Herr Dr. Schröder, Sie haben dann Ihre Befürch- unsere Politik in der NATO und in der EWG an tungen ausgesprochen. Sie sagten: den Punkt zu bringen, wo sie auch mit der EWG verhandeln wird, weil sie Interesse an den wirt- Wir befürchten, daß die Ostpolitik langfristig schaftlichen Beziehungen hat. Mir sind Ihre Befürch- den Zusammenhalt des Westens, das empfind- tungen nicht klar, sie beruhen meiner Ansicht nach liche Machtgleichgewicht in Europa und damit auf einem anderen Fundament, von dem Sie hier unsere Sicherheit gefährdet. nicht gesprochen haben: im Grunde genommen die Immer wieder stellen wir fest, daß von seiten der ewige Sorge, daß der Westen keinen Zusammenhalt CDU Mißtrauen gegenüber dem Verhalten unserer hat, der Zusammenhalt des Ostens stärker ist, die Partner ausgesprochen wird; denn anders ist es doch Macht des Ostens stärker wird, die Macht des nicht zu beurteilen. Wenn richtig ist, wenn unbe- Westens nachläßt und damit eine Schwierigkeit streitbar ist, daß die Aussage von Präsident Nixon für uns eintritt. von Ihnen ernst genommen wird, daß die ameri- kanische Außenpolitik in Übereinstimmung mit der Herr Dr. Schröder, Sie müssen nur eines erkennen: deutschen Außen- und Ostpolitik ist, wenn Sie Wenn die Macht des Westens nachläßt, liegt es nicht ernst nehmen, was Pompidou in den letzten Tagen an der deutschen Außenpolitik. Die deutsche Außen- wieder erklärt hat, wenn Sie ernst nehmen, was politik und die deutsche Ostpolitik haben alle Vor- die englische Regierung zur deutschen Außen- und aussetzungen dafür geschaffen, daß der Zusammen- Ostpolitik erklärt hat, können Sie solche Bemer halt des Westens mit dieser Politik, getragen von kung und solche Befürchtung nicht aussprechen. dieser Politik, stärker geworden ist, als er in den Dies heißt also, Sie gehen davon aus, daß man in letzten Jahren vor dieser Politik gewesen ist, und der Politik keine Offenheit, sondern Tricks anwen- daß der Zusammenhalt heute fester getragen wird den muß, um unsere Verbündeten auf die Dauer von der Gemeinsamkeit, als es der Fall war, bevor zu halten. Dieses, Herr Dr. Schröder, wird nicht ge- diese Politik eingeleitet wurde. lingen. Hier ist gestern -- ich glaube, von Herrn Dr. (Beifall bei den Regierungsparteien. -- Zu Barzel — behauptet worden, daß jüngste Reden von rufe von der CDU/CSU.) Herrn Brosio, insbesondere auch auf der NATO- Sie sagen: Konferenz, deutlich machen, welche Skepsis der frü- here und der heutige Generalsekretär der UNO Wir befürchten, daß es auf die Dauer gesehen gegenüber dieser Politik haben. zu einer Machtverschiebung in Europa zugun- sten der Sowjetunion kommt. (Zurufe von der CDU/CSU: NATO! — Abg. Kiep: Sie bringen alles durcheinander!) Das ist die gleiche Bemerkung. Wieso soll es unter der Voraussetzung zu einer Machtverschiebung — Nein, nein, es ist auch gesagt worden, Herr kommen, daß erstmalig seit 1961 Tore zwischen bei- Brosio auf der NATO-Konferenz in Ottawa! den Teilen Deutschlands aufgestoßen werden, Ver- (Abg. Windelen: Wir haben von der UNO änderungen entstehen, die nicht uns belasten, son- gesprochen!) dern für uns mehr Bewegungsfreiheit mit sich bringen? Wo sind Verschiebungen der Grenzen zu- Nun will ich Ihnen eines sagen: Wenn Sie die ungunsten des Westens oder Machtverschiebungen beiden Reden des Herrn Luns und des Herrn Brosio sichtbar? Sie sprechen hier Befürchtungen aus, die von Ottawa nachlesen — mir fehlt die Zeit, hier auf keinerlei Fundament der heutigen Politik be- lange Zitate zu benutzen —, dann müßten Sie be- ruhen. merken, daß Herr Brosio als erstes festgestellt hat, (Beifall bei den Regierungsparteien.) daß die deutsche Außen- und Ostpolitik — ich for- Sie sagen, Herr Dr. Schröder: muliere jetzt kurz; ich kann Ihnen die Rede nachher vorlesen — Bestandteil der NATO-Politik ist und Wir befürchten, daß sie daß die NATO volles Vertrauen zur Bundesregie- — die Sowjetunion — rung und zu ihrer Ostpolitik hat und diese Politik als eine gemeinsame Politik der NATO mit der aus dieser veränderten Situation heraus dem Bundesregierung ansieht. Die Bedenken gegen die ihr äußerst unbequemen westeuropäischen Zu- Schwächung der NATO haben überhaupt nichts mit sammenschluß nach Kräften Steine in den Weg dieser Politik zu tun. Sie beziehen sich auf andere legen wird. Umstände, nämlich die innenpolitischen Schwierig- Wieso soll sie das nach den Vereinbarungen tun? keiten in den Vereinigten Staaten. Daraus ziehen Sie hätte es doch ohne diese Vereinbarungen und die beiden Herren ihre Schlußfolgerungen. Wenn ohne die Verträge durchaus auch tun können. Das Sie die Rede von Brosio auf der NATO-Konferenz Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9845

Mattick nachlesen, können Sie solche Behauptungen gar hatte. Dennoch haben Sie die Möglichkeiten, die nicht aufstellen. wir Sozialdemokraten damals wenigstens noch bis ins kleinste untersuchen wollten, beiseite geschoben Meine Damen und Herren, hier ist gestern der mit der festen Vorstellung: Das machen wir mit -der Versuch gemacht worden, mit Zitaten der Vergan- Macht; das geht viel besser, in einigen Jahren, in genheit die Sozialdemokratische Partei anzugreifen. kurzer Zeit. Ich verzichte hier heute im großen und ganzen auf (Zustimmung bei der SPD.) Zitate Ihrerseits, denn Sie wissen ganz genau: wenn man die Zitate einiger Ihrer leitenden Herren bringt, Es gibt dann im Jahre 1955 noch einmal einen sol- können Sie heute nur noch den Mantel der Näch- chen Ausspruch von Dr. Adenauer. stenliebe darüber decken, mit welchen Hoffnungen Ihre Politik im Jahre 1952 in bezug auf die deutsche Nun sage ich Ihnen: Die Folgen der Politik, die Befreiung Sie 1954/55 mit den Verträgen eingeleitet haben — mir würde viel daran liegen, noch über die Behand- (Sehr wahr! bei der SPD) lung Berlins durch Ihre Politik zu sprechen, aber und in bezug auf die Befreiung des gesamten euro- die Zeit ist zu knapp geworden —, tragen wir päischen Ostens eingeleitet wurde. Sie kennen die heute gemeinsam. Ich frage jetzt einmal hier in aller Aussagen, die Herr Dr. Adenauer damals gemacht Offenheit, ich frage auch die heutige Bundesregie- hat. rung, ob sie z. B. imstande ist, uns die Protokoll- (Abg. Kiep: Auch Schumacher!) unterlagen der Geheimgespräche vor den Pariser Verträgen vor Augen zu führen. Ich komme jetzt Aber nun will ich Ihnen eines sagen: Die Sozial- also einmal zurück auf Ihre immer wiederkehrende demokraten, die damals, in den Jahren bis 1954, Forderung, auch die Protokolle zu sehen. Ich kann gekämpft haben, sind davon ausgegangen — das mir nicht denken, daß die Westmächte 1954 bei der ist das Entscheidende für die Entwicklung, in der Unterschrift unter die Pariser Verträge der dama- wir uns heute befinden —, daß nach 1945 noch eine ligen Bundesregierung auch nur annähernde Ver- Politik möglich sei, die im Zuge der unmittelbaren sprechungen gemacht haben, über die Grenzen Nachkriegsentwicklung, bevor echte, endgültige, Deutschlands noch einmal zu verhandeln, um ernst- langfristige Fakten geschaffen wurden, die deutsche haft eine Verschiebung vorzunehmen. Ich gehe viel- Frage noch in Ordnung zu bringen vermöge. Das mehr davon aus, daß Sie den Vertriebenen damals waren die Reden, die damals von den Freunden ge- nicht das gesagt haben, was Sie gewußt haben. halten wurden, die Sie heute gerne zitieren: Die Vorstellung, daß unsere Politik gemeinsame deut- (Abg. Wehner: Leider wahr! — Zurufe von sche Politik werden kann, mit dem Ziel, die Nach- der CDU/CSU.) kriegszeit auszuschöpfen und die deutsche Einheit Das ist doch ausgeschlossen. Sie können doch der zu erhalten. Wir haben 1952 bis 1954 versucht, Sie englischen Regierung nicht soviel Infamie unter- zu veranlassen, neben der Westpolitik nicht alles stellen. beiseite zu schieben, was von der Sowjetunion aus ihrer damaligen schwachen Situation in dieser Zeit Churchill hat am 15. Dezember 1944 im Unterhaus an möglichen Angeboten kam. Das alles haben Sie folgendes erklärt. Dieses Zitat muß ich hier einmal beiseite geschoben mit dem trostreichen Wort von bekanntgeben. Ich lasse die Einleitung weg. Dr. Adenauer: Nein, meine Herren, jetzt nicht ver- Die Überführung von mehreren Millionen Men- handeln! schen aus dem Osten in den Westen oder Nor- (Abg. Wehner: Sehr wahr!) den müßte durchgeführt werden ebenso wie die Erst stark werden! Vertreibung der Deutschen. Denn das bedeutet der Vorschlag: die totale Vertreibung der Deut (Abg. Wehner: Sehr wahr!) schen aus dem Gebiet, das Polen im Westen und Dann geht es nicht nur um die Freiheit Deutsch- Norden erhalten soll. Denn Vertreibung ist die- lands, sondern um die des ganzen versklavten Ost- jenige Methode, die, soweit wir es sehen kön- europa. nen, am befriedigendsten und dauerhaftesten sein wird. Es wird keine Vermischung von Be- (Abg. Wehner: Leider wahr! Sehr wahr! — völkerung mehr geben, die endlose Schwierig- Beifall bei der SPD.) keiten verursachen könnte, wie es im Fall Elsaß- Lothringen geschehen ist. Es wird reiner Tisch Das wissen wir. Das war die Vorstellung. Das ist gemacht. Ich bin nicht beunruhigt durch die Aus- ein Zitat, mit dem ich nur sagen will: Mit dieser sicht auf Entflechtung von Bevölkerungen, nicht Vorstellung, mit dieser falschen Vorstellung, einmal durch diese umfangreichen Überführun- (Abg. Wehner: Katastrophal falsch!) gen, die unter modernen Bedingungen eher mög- lich sind als je zuvor. Ich sehe auch nicht, war- mit dieser Perspektive, die damals schon unreali- um es in Deutschland keinen Platz geben sollte stisch war denn die erste sowjetrussische Atom- für die deutsche Bevölkerung Ostpreußens und bombe war 1949 bereits in der Luft, die Wasser- der anderen Gebiete, die ich erwähnt habe. stoffbombe 1953 und 1957 der Sputnik; das war die Schließlich haben sie bereits 6 oder 7 Millionen Abrundung —, machten Sie Politik. Sie wußten also Deutsche in diesem schrecklichen Krieg verloren. -- und jeder hätte vorausschauen müssen und kön- nen —, daß eine solche Machtpolitik, wie sie (Abg. Haase [Kassel] : Was soll das, Herr Adenauer und Dulles vorhatten, keine Chance mehr Mattick?) 9846 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Mattick in den sie Europa zum zweitenmal in einer Gene- Entwicklung vorgestellt hätten, 1960, als wir schon ration ohne Zögern gestürzt haben. in einer ziemlich schweren Krise wa ren, hat die Das können Sie nachlesen im Protokoll des Unter- Sozialdemokratische Partei durch ihren damaligen hauses vom 15. Dezember 1944, die Erklärung von stellvertretenden Vorsitzenden und heutigen Frak- Churchill. tionsvorsitzenden Ihnen das An- gebot einer Bestandsaufnahme und des Versuchs, (Abg. Haase [Kassel]: Das ist doch im Krieg mit der Bestandsaufnahme zu einer gemeinsamen gewesen!) Politik zu kommen, gemacht. Sie sind damals — das Und Präsident Roosevelt — — dorf ich wohl so ausdrücken — mit Hohn über die- ses Angebot hinweggegangen. (Abg. Haase [Kassel] : Würden Sie Herrn Churchill aus dem Jahre 1955 zitieren!) Ich werde nie vergessen: da gab es unter anderem — Ja, ich kann mir vorstellen, daß Sie das vernös eine Antwort von Herrn von Guttenberg auf Herbert macht. Aber lassen Sie mich doch einmal reden! Wehner und . Er sagte damals: (Beifall bei den Regierungsparteien.) Und Herr Wehner hat auch mit seiner Formel von der Bestandsaufnahme im Grunde gleich- Präsident Roosevelt hat sich im November 1944 in falls eine Revision mindestens auch unserer seinem Brief zu den Grenzen bereit erklärt, bei der Politik erwartet. Nun, vielleicht stünde am Austreibung der Deutschen Hilfe zu leisten. Und Ende dann wollen Sie uns und den Vertriebenen einreden, die Westmächte hätten bei den Pariser Vertrags- — das können Sie sich für die jetzige Situation wirk- verhandlungen zugesagt, an dieser Grenze zu rüt- lich einmal zu Herzen nehmen — teln?! Die Geheimprotokolle möchte ich sehen. Es einer solchen gegenseitigen Anpassung die viel- gibt ja da sicher auch welche. gerühmte deutsche Eintracht. Aber ich fürchte, (Zurufe von der CDU/CSU: Aha, es gibt wir hätten dann die innerdeutsche Einigkeit um also welche!) den Preis der westlichen Gemeinschaft erkauft, jener Gemeinsamkeiten, die bisher die Bundes- Ich möchte sie sehen, wenn die alte Regierung sie republik und West-Berlin vor Moskaus Griff zurückgelassen hat — Dokumente der Vergangen- bewahrten. heit. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Meine Damen und Herren, Meine Damen und Herren, da ist ein Wendepunkt, — so sagte Herr von Guttenberg weiter — den wir diskutieren müssen. Dieser Wendepunkt ist die Überprüfung unserer Politik ist für uns schon älter. Aber die heutige Debatte macht deut- gleichbedeutend mit der Revision des Richtigen, lich, wie weit wir in der Einschätzung der politischen Entwicklung und der politischen Lage auseinander (Abg. Wehner: Hört! Hört!) sind. Sie leben im Grunde genommen — das muß ich gleichbedeutend mit der Abkehr vom Wege des Ihnen sagen — in der Vergangenheit einer Politik, Erfolges, die Sie durch Ihre eigene Verhaltensweise in Wirk- (Abg. Wehner: Hört! Hört!) lichkeit seit langem beendet haben, nämlich der Politik, als befänden wir uns noch in der Nachkriegs- gleichbedeutend mit dem Ende einer konse- periode, wo es darauf ankommt, Friedensvertrags- quenten Kontinuität verhandlungen zu erreichen, in denen alles noch ein- (Abg. Wehner: Hört! Hört!) mal von vorn beginnt. Ich sage Ihnen in aller Offen- heit, meine Damen und Herren: Dieser Zug ist durch und mit dem Anfang einer möglichen neuen Ihre Politik seit langem abgefahren. deutschen Isolierung. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Wehner: Gottähnlich war das!) Es wäre vielleicht ganz gut gewesen, wenn wir die Welche Arroganz! 14 Monate später zog die DDR Zeit gehabt hätten, uns, bevor wir in diese Debatte die Mauer gingen, einmal die internationale Lage anzusehen. (Abg. Wehner: Leider wahr!) Meine Damen und Herren, wenn Sie hier immer wie- und beendete den Traum von der gemeinsamen der davon ausgehen, daß Verhandlungen mit der Nation. Sowjetunion möglich werden, und wenn auf der (Beifall bei den Regierungsparteien.) anderen Seite Herr Dr. Weizsäcker gerade eben wie- der dargestellt hat, wie energisch die Sowjetunion Die Konsequenz, die Herr Strauß daraus zog, ihre Position vertreten wird, frage ich Sie, was Sie können Sie nachlesen in der „Zeit" in seinem Inter- für Vorstellungen haben, wie, wann und wo es ein- view vom Jahre 1966. mal eine Chance geben könnte, in der Zeit, in der von der deutschen Nation überhaupt noch gespro- Man kann auch nicht chen wird, der Begegnung der Nationen näherzu- — sagte er auf eine Frage — kommen. ein Problem 15 Jahre später noch genauso Jetzt haben wir folgenden Tatbestand. 1960, als sehen, wie man es 15 Jahre vorher gesehen das Chruschtschow-Ultimatum auf dem Tisch lag und hat, weil eben die Welt heuter schneller denn all das, was wir uns aus der Zeit vor 1955 noch an je in einem Veränderungsprozeß ist. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9847

Mattick Damit kam es zur Konsequenz. Die „Zeit" fragte: Mein Eindruck bleibt es, meine Damen und Herren: Sie haben die Formeln geprägt, roan müsse die Herr Kiesinger ist damals von seiner Fraktion im deutsche Frage europäisieren. Stich gelassen worden. (Abg. Wehner: Dafür ist er aber Ehren - „Ja", sagte Strauß. Die „Zeit" stellte dann noch eine vorsitzender! — Heiterkeit bei der SPD.) Zwischenfrage zum Münchener Abkommen und zu Atomwaffen. Da sagte Herr Strauß: Und nun sage ich: Wenn es um den Erhalt der Nation geht, dann ist meiner Ansicht nach die Be- Das hat mit der Europäisierung der deutschen gegnung der Menschen einer gespaltenen Nation Frage nur indirekt etwas zu tun. Ich verstehe das beste Bindeglied, das es für die Zeit, in der wir natürlich, was Sie meinen. Es geht aber um uns befinden, überhaupt geben kann. Denn dies das historische Modell. Und ich glaube nicht an müssen Sie doch sehen: Seitdem es die Mauer gibt, die Wiederherstellung eines deutschen Natio- gibt es im Grunde genommen keine Begegnung der nalstaates, auch nicht innerhalb der Grenzen Menschen einer Nation aus beiden Teilen Deutsch- der 4 Besatzungszonen — ich kann mir unter lands mehr. Das ist doch unbestreitbar. Die wenigen den gegebenen und vorausschaubaren Umstän- Versuche — Verwandtenbesuche aus Not — sind den und den möglichen Entwicklungen und Ent- keine Begegnungen. wicklungslinien nicht vorstellen, daß ein ge- samtdeutscher Nationalstaat wieder entsteht, sei Wenn man also über das nachdenkt, was jetzt er auch neutralisiert, aber ungebunden. alles hier geredet worden ist, über das nachdenkt, was Sie selbst zu der Entwicklung gesagt haben, Liebe Kolleginnen und Kollegen, da kann ich nur müssen wir uns über einen Punkt verständigen. Es sagen: Herr Strauß, Sie sind mir ein schöner Preuße. würde eine sehr lange Zeit dauern, es wird eine (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs sehr lange Zeit dauern, die wir gar nicht übersehen parteien.) können, bis sich die Nation wieder zu einem Staat zusammenfinden kann. Was ist die Schlußfolgerung, Nun muß ich Ihnen als letztes hierzu noch sagen: die ein Politiker daraus ziehen kann? Daß er Wege Eine Konsequenz zog dann im Jahre 1967 Herr Kie- und auch Umwege suchen muß, auf denen die Na- singer, der leider heute nicht hier ist; ich hätte ihn tion in der Zeit in Begegnung bleibt, in der die staat- gerne daran erinnert, liche Spaltung unvermeidbar besteht. (Abg. Wehner: Jedem das Seine!) (Beifall bei den Regierungsparteien.) weil er gestern so ganz anders sprach. Er sagte: Und diese Begegnung erreichen Sie doch nicht durch die Politik, die Sie hier vertreten haben, meine Wenn dem so ist, wenn die politischen Posi- Damen und Herren von der Opposition! Denn die tionen sich so hart gegenüberstehen, so müssen Forderung des Herrn Barzel mit seinem Stufen- wir uns ehrlich fragen, ob Bemühungen um eine plan und die Forderung der CSU mit ihrem Ver- friedliche Lösung überhaupt einen Sinn haben, trag sind doch in den luftleeren Raum gestellt, weil ob wir nicht, statt trügerische Hoffnungen zu jeder weiß: dafür, daß diese Forderungen so erfüllt wecken, warten müssen, bis der Geschichte etwas werden, gibt es keine Voraussetzungen. Ohne Rettendes einfällt, und uns bis dahin darauf be- diese Verträge keine Berlin-Vereinbarung, ohne schränken, das zu bewahren, was uns geblieben Berlin-Vereinbarung kein Fall der Mauer, und ohne ist, unsere eigene Freiheit, die Verweigerung Fall, Beseitigung oder auch nur Öffnung der Mauer der Anerkennung eines zweiten deutschen Staa- um ein kleines Stück auf lange Sicht keine Begeg- tes durch die freie Welt. nung der Nation. Dies ist die Politik, die Sie auch heute hier vertre- (Abg. Wehner: Sehr wahr!) ten haben. Herr Kiesinger allerdings zog damals eine Dies ist das eine. andere Konsequenz: Nun die zweite Bemerkung: Meine Damen und Eine solche rein defensive Politik würde, das ist Herren, ich sage so etwas an dieser Stelle beinahe meine feste Überzeugung und die Überzeugung ungern, weil es woanders anders ausgelegt wird. Sie der Regierung der Großen Koalition müssen sich doch über eines im klaren sein. Für den — aller miteinander, und da war Herr Strauß auch langen Marsch, den wir vor uns haben, bleibt ein dabei —, Zentralpunkt, und ich bedauere, daß Herr Schröder daran so vorbeigegangen ist. Es bleibt ein Zentral- von Jahr zu Jahr in größere Bedrängnis führen. punkt, und das ist Berlin. (Abg. Wehner: Hört! Hört!) (Beifall bei den Regierungsparteien. — Sie würde uns nicht nur keinen Schritt vorwärts- Abg. Wehner: Ja!) bringen, Und da muß ich nun eine zusätzliche Bemerkung (Abg. Wehner: Hört! Hört!) machen, die mir in der Öffentlichkeit beinahe schwer- sie könnte uns auch das gar nicht bewahren, fällt; die Gründe werden Sie verstehen. Wenn wir was sie bewahren will, uns die Vereinbarung, die wir über Berlin treffen konnten, die die Vier Mächte getroffen haben — (Abg. Wehner: Hört! Hört!) Nixon betrachtete sie als das Wichtigste der Deutsch- denn die Zeit wirkt nicht für uns. landpolitik der letzten 20 Jahre —, (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Wehner: Hört! Hört!) 9848 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Mattick vor Augen halten, dann erkennen wir, wir haben Ihnen. Berlin blieb bei den demokratischen Ent- das Fundament der deutschen Einheit in Zukunft, scheidungen vor der Tür, und zwar bis heute. Das West-Berlin, durch diese Viermächtevereinbarungen sind unsere Empfindungen, die wir in dem Moment in einem Ausmaß gesichert, in dem Berlin seit 1945 haben. nicht gesichert war. (Zurufe von der CDU, CSU.) (Beifall bei den Regierungsparteien.--- Abg. Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen nur, Wehner: Sehr wahr! Und Herr Schröder ist wenn die Tore jetzt nach den Bedingungen der Staatsmann mit dem Rücken nach Berlin!) Berlin-Vereinbarung aufgestoßen werden, entsteht Das erste Mal haben sich alle vier Siegermächte an für die nationale Position und für die Menschen im diese Vereinbarung gebunden und damit gleichzeitig geteilten Deutschland eine völlig neue Qualität der ihre gemeinsame Verpflichtung wieder aufgenom- Möglichkeiten, nationale Interessen gemeinsam zu men. Allein die Berliner Vereinbarung mit allem, entwickeln. was Sie damit im Zusammenhang sehen müssen, ist (Abg. Wehner: Sehr wahr!) wertvoll als Material, als Fundament für die Berlin- Darüber sollten Sie sich im klaren sein. Politik, wenn diese Vereinbarung nach der Ratifika- (Beifall bei den Regierungsparteien.) tion in Kraft gesetzt wird. (Abg. Wehner: Da muß man fragen, warum Meine Damen und Herren, das Ganze steht unter es der Herr Schröder nicht gemacht hat, dem Zeichen dier Friedenspolitik. Wir leiten eine wenn er sagt, er hätte das machen können!) Friedenspolitik unter Wahrung der nationalen Inter- essen als eine gemeinsame Sache der westlichen Herr Schröder hat zu Berlin nie ein solches Ver- — Bündnis- und Vertragspartner ein. Wir haben nichts hältnis gehabt. weggegeben, was wir besitzen, wir haben das Recht (Beifall bei den Regierungsparteien. — als formale Position nicht aufgegeben, aber das Pfui-Rufe von der CDU/CSU. — Abg. Dr. Trugbild wertloser Rechte nicht zum Leitbild unserer Marx [Kaiserslautern] : Weil das viel zu Politik gemacht. Ich zitiere Professor Morgenthau schädlich gewesen wäre! — Weitere Zurufe aus „Macht und Frieden" — Sie werden es ken-

von der CDU/CSU.) nen —: — Nein, nicht „Pfui", Herr Dr. Barzel, das paßt Die Realität echter Vorteile muß das Trugbild nicht. wertloser Rechte ersetzen. Die echte Alternative (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Das ist — so ist sein Schluß — sehr übel!) liegt nicht zwischen Rechtmäßigkeit und Un- — Nein, Sie dürfen nicht verkennen, daß Herr Dr. rechtmäßigkeit, sondern zwischen politischer Schröder damals, als wir das erste Mal mit der Bun- Weisheit und politischem Wahnwitz. desversammlung nach Berlin gehen wollten, im Ka- Meine Damen und Herren, ich messe den Ver- binett alle Widerstände aufgebaut hat, die er damals einbarungen über Berlin und den Verträgen noch aus als Minister dagegen aufbauen konnte. Er hatte einem anderen Grunde besondere Bedeutung bei. seine Überlegungen dazu. Gestern wurde hier davon berichtet — damit komme (Abg. Wehner: Leider sehr wahr! — Zurufe ich an den Abschluß meiner Betrachtungen —, daß, von der CDU/CSU.) wie Ihnen bekannt ist, zwischen der DDR, Polen und Er hatte zu Berlin ein anderes Verhältnis, als wir es der CSSR die Grenzen geöffnet wurden. Einige von von uns aus gesehen haben. Ihnen messen dem keine große Bedeutung bei, weil es Ihnen vielleicht nicht ganz in den Denkprozeß (Abg. Wehner: Ein unterkühltes!) paßt. Lassen Sie mich hier ein Zitat aus Warschau bringen. In einem Beitrag der Warschauer Wochen- Denken Sie doch einmal darüber nach, wenn Sie zeitung „Politika" vom 15. Januar 1972 heißt es: schon die Zwischenrufe machen: Als die Bundes- republik gegründet wurde und die Westmächte ihre Besondere Bedeutung hat die Tatsache, daß der Einsprüche in der Berlin-Frage geltend machten, Zyklus der Aufhebung der Grenzschlagbäume gab es zwei Überlegungen. Da hat Ernst Reuter ein- in unserem Bereich gerade vom polnisch-deut- mal gesagt, die Bundesrepublik, die Bundesregie- schen Vertrag ausging. Das kann als Beweis rung, der Bundestag müßten Berlin so behandeln, als dafür gewertet werden, daß der Prozeß der sei es zwölftes Land. Ich frage Sie jetzt einmal, die Liquidierung der psychologischen Barrieren und Sie darüber so national und patriotisch denken. Kön- Feindseligkeiten, die aus den Ereignissen der nen Sie sich vorstellen, daß eine französische Na- vergangenen Kriegszeit herrühren, abgeschlos- tionalversammlung unter der Voraussetzung, daß sen ist. Ein Symbol dafür war der Marsch der ihre Hauptstadt unter den gleichen Bedingungen ge- Polen, die in der Neujahrsnacht 1971/72 mit standen hätte, unter denen unsere Hauptstadt 1949 Sektflaschen zu den unbekannten Deutschen stand, nicht erklärt hätte: „Wir akzeptieren den Ein- über die Oderbrücken zogen. Die jetzt herge- spruch der Westmächte, aber hier geht kein Gesetz stellte Freiheit, die Westgrenze zu überschrei- heraus, bei dem wir wissen, daß mit den Stimmen ten, die faktische Öffnung der Grenze hat keinen unserer Hauptstadt eine andere Entscheidung ge- Präzedenzfall in den 20 Jahrhunderten polni- fallen wäre"? Können Sie sich solch eine National- scher Geschichte. Es ist das Gefühl einer Abend- versammlung vorstellen? Ich nicht, das sage ich dämmerung. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9849 Mattick Meine sehr verehrten Damen und Herren, diese friedigend. Wenn ich bisher überhaupt nicht nach Begegnung, die die Polen nicht als Begegnung mit Osten habe gehen dürfen und übermorgen vielleicht DDR-Bürgern allein verstehen, sondern als Begeg- mit Genehmigung dann doch einmal einen Be- nung mit Deutschen, such machen darf, dann ist das unbezweifelbar eine- Verbesserung, aber ich kann noch lange nicht be- (Abg. Wehner: Sehr wahr!) haupten, daß schon allein dadurch die Regelung wird sich fortsetzen in der Begegnung zwischen befriedigend sei. Bundesrepublikanern und Polen. Dort werden sich (Zurufe von der SPD.) auch Bundesrepublikaner und DDR-Bürger treffen. Gestern ist hier hervorgehoben worden, daß das Vielleicht wird noch eine Weile vergehen, bis Be- Zustandekommen der Berlin-Vereinbarung in sich gegnungen in der DDR in großem Umfang möglich bereits ein großer Erfolg sei. Das läßt sich doch sind. Aber die Tore sind aufgestoßen, und wir wer- aber nur dann behaupten, wenn der Inhalt dessen, den erleben, daß der Zug weiterfährt. Wenn Sie was zustande gekommen ist, auch wirklich befriedi- überhaupt die Idee haben, die Mauer und die gend ist. Da muß ich sagen: wenn uns noch vor Stacheldrähte, die Grenzpfähle zwischen Ost- und einem Jahr hier einer erklärt hätte: „In die Berlin- Westeuropa so zu lockern, daß die Herrschafts- Vereinbarung wird hineingeschrieben, daß in West- systeme untereinander zum offenen gesellschaft- Berlin ein Konsulat der Russen errichtet werden lichen Ringen kommen — das war ja doch immer soll", dann hätte mir Herr Mattik damals mit Ihr Anliegen —, dann müssen Sie doch einräumen, Sicherheit erklärt, das sei unannehmbar. daß mit diesen Verträgen und den Berlin-Verein- barungen Tore aufgestoßen worden sind, wobei (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf des heute am Anfang die Auswirkungen im Hinblick auf Abg. Wehner.) eine neue europäische Entwicklung noch gar nicht zu Die Auseinandersetzungen um Berlin dauern nun übersehen sind. schon über ein Vierteljahrhundert. Sie sind so hart- (Anhaltender lebhafter Beifall bei den Re näckig, weil der Kampf um den Besitz der Stadt ja gierungsparteien.) über weit mehr entscheidet als nur über das Schick- sal Berlins. Wer das weiß und in den 25 Jahren Vizepräsident Dr. Jaeger: Das Wort hat der aus nächster Nähe die Geschehnisse miterlebt hat, Abgeordnete Amrehn. der wird das Bemühen um eine befriedigende Berlin- Regelung nicht nur innerlich mit guten Wünschen begleiten, sondern auch größtes Verständnis für die Amrehn (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Da- ungeheuren Schwierigkeiten haben, die sich einer men und Herren! In der Argumentation sowohl der Regelung entgegenstellen, und er wird mit solchen Regierung als auch der Koalitionsparteien — so Maßstäben dieser Erfahrungen auch an das Ergebnis auch in den Worten von Herrn Kollegen Mattick — herangehen, wenn er es prüft. spielen die Berlin-Vereinbarungen eine zentrale Rolle. Das ist aus zwei Gründen begreiflich. Aber am Wege einer langen Strecke von 1945 an Erstens. Eine Entspannung in Mitteleuropa, die liegen doch auch eine Fülle von bitteren Ent- diesen Namen wirklich verdient, kann nicht an täuschungen, die uns lehren, daß gedruckte Buchsta- Berlin vorbeigehen. Das ist von der Regierung im- ben noch nicht für bare Münze zu nehmen und daß mer so erklärt worden, und damit ist die Oppo- Hoffnungen und Aussichten noch lange keine Wirk- sition völlig einverstanden. lichkeiten sind. Der zweite Grund ist folgender. Angesichts der (Beifall bei der CDU/CSU.) Unausgewogenheit der Verträge möchte die Re- Es trifft doch nicht zu, daß diese Berlin-Vereinba- gierung heute wenigstens schon einen Erfolg vor- rung die erste sei nach dem Jessup-Malik-Ab- weisen, der greifbar ist. Ich untersuche nicht, ob kommen. es zutrifft, daß es eine Berlin-Vereinbarung ohne die Verträge mit Moskau und Warschau nicht ge- (Abg. Wehner: Das war keine Vierer-Ab geben hätte. Dazu gibt es unter den Alliierten machung!) durchaus auch andere Auffassungen. hat es doch bereits eine Vierer-Vereinbarung, einen (Abg. Wehner: Herr Schröder hätte es ge Beschluß der Vier Mächte nach nicht weniger als schafft?!) vierwöchiger Außenministerkonferenz gegeben, in dem doch die Verbesserung und die Normalisierung Aber wenn schon die Regierung sich auf diesen der Verkehrsverbindungen nach Berlin und zwischen Erfolg selbst beruft, wenn sie das Verdienst dafür den Zonen, die Vereinfachung, Verbesserung und in Anspruch nimmt, die Berlin-Vereinbarung er- Normalisierung der Telefon- und Post- und sonsti- reicht zu haben, dann stellt sich allerdings auch die gen Verbindungen vereinbart worden sind. Aber Frage, ob das Entgegenkommen, die Konzessionen diese Vereinbarung ist nicht gehalten worden; erst und die Anerkennungen in den Verträgen um- danach wurden die Telefonverbindungen in Berlin gekehrt ein entsprechendes ausreichendes Ent- durchgeschnitten. Es hat doch auch jene große Ent- gegenkommen auch für die Berlin-Vereinbarung täuschung vom Juli 1955 gegeben, als wir wirklich ausgelöst haben, mit ganz großen Hoffnungen einer Viermächtever- (Beifall bei der CDU/CSU) einbarung entgegengesehen haben. Sie ist als eine ein Entgegenkommen, das uns wirklich guten Ge Gipfelvereinbarung in Genf zwischen den Staatsprä- wissens sagen ließe: diese Berlin-Regelung ist be sidenten und den Premierministern der damaligen 9850 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Amrehn Zeit zustande gekommen. Nach einer Geheimsitzung — Herr Kollege Mattick, seien Sie bitte nachsichtig der Regierungschefs Bulganin, Eisenhower, Anthony mit mir. Nicht daß ich jetzt Ihre Fragen nicht be- Eden und Edgar Faure ist 1955 eine Direktive an die antworten wollte — ich stehe gern zur Verfügung—, Außenminister gegeben worden, in der es heißt: aber Sie wissen, - Die Regierungschefs sind übereingekommen, (Abg. Wehner: Aber stören Sie meine daß die deutsche Frage und die Frage der Wie- Kreise nicht!) dervereinigung Deutschlands im Einklang mit wie eng unsere Zeit heute jeweils eingegrenzt ist den nationalen Interessen des deutschen Volkes und daß Zwischenfragen eine Ausweitung bedeu und dem Interesse der europäischen Sicherheit ten würden, die diese Zeitgrenze sprengen müßte. durch freie Wahlen gelöst werden sollen. (Zurufe von der SPD.) Hat uns das damals nicht einen ungeheuren Auftrieb gegeben? Seinerzeit hat schon einmal jemand ge- — Aber ich sage Ihnen: ich stehe gern zur Ver- sagt — so wie es gestern gesagt worden ist, Herr fügung und würde mich freuen, wenn wir auf diese Wehner —: Das ist ein Wendepunkt. Ich möchte Weise die Debatte erweitern und vertiefen könnten. Ihnen heute nicht die vier Reden verlesen, die da- Jedoch bitte ich umgekehrt darauf Rücksicht zu neh- mals zu dieser Vereinbarung von den vier Staats- men, daß ich von den vielen Punkten, die ich vorzu- chefs gehalten worden sind. tragen hätte, überhaupt nur ganz wenige heraus- greifen kann. (Sehr gut! und Beifall bei der CDU/CSU.) Edgar Faure hat damals gesagt: „Über dieses Über- einkommen hinaus wird der Geist dieser Konferenz Präsident von Hassel: Gestatten Sie dennoch eine nachhaltige Auswirkung auf die internationalen eine Zwischenfrage von der anderen Seite des Hau- Beziehungen und einen glücklichen Einfluß auf ihre ses, von Herrn Abgeordneten Borm? Zukunft haben." (Abg. Wehner: Und deshalb wollen Sie Amrehn (CDU/CSU) : Ich glaube, das, was ich jetzt die Verträge, durch die es anders wird, gegenüber der einen Seite erklärt habe, muß ich nun madig machen?) für alle Seiten gelten lassen. Wir haben das gern gehört, Herr Wehner. (Zurufe von der SPD.) (Abg. Wehner: Das waren Reden, jetzt sind Ich bitte um Nachsicht. es Verträge!) Bis zur Stunde hat sich überhaupt noch nichts ge- Wir haben immer unsere Hoffnungen da hineinge- ändert. Wir haben inzwischen die Erklärung über setzt. Aber wir bleiben skeptisch, solange Buch- die beiden deutschen Staaten abgegeben, wir haben staben nicht Wirklichkeit geworden sind. die Interzonenhandelskredite ungeheuer erweitert, (Beifall bei der CDU/CSU.) und wir haben die Zusicherung gegeben, die Auf- nahme in die UNO zu betreiben. Und das ist nun einmal wahr: die Skepsis in Berlin gegenüber den neuen Vereinbarungen ist Gestern hat hier ein Redner erklärt, die Pauscha- nicht nur etwa bei den Christlichen Demokraten lierung der Gebühren wäre, käme sie zustande, eine vorhanden, sondern in der ganzen Bevölkerung große Sache. Die Pauschalierung ist von uns vorge- — das beobachten Sie unverändert —, die nicht nommen worden. Wir haben die Jahreszahlung über- aufhört, auf Verbesserungen zu hoffen, aber, ob- nommen. Aber auf den Autobahnen hat sich daraus wohl sie weiter ihren Mann stehen wird, doch erst bis zur Stunde nicht die geringste Erleichterung hin- daran glaubt, wenn das, was versprochen ist, in sichtlich der Kontrollen oder eine schnellere Abferti- die Wirklichkeit umgesetzt wird. gung nur als Geste des guten Willens ergeben. (Abg. Fellermaier: Und Ihre Alternative (Zurufe von der CDU/CSU.) jetzt?) Daran muß man die Ergebnisse der Verhandlungen — Wie sieht es denn nun im Augenblick aus, Herr doch auch ein wenig messen. Kollege? Wenn nun jemand sagt, im Telefon- und Postver- (Abg. Fellermaier: Ihre Alternative! — Ge kehr habe sich aber etwas gebessert, dann muß ich genruf des Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : natürlich daran erinnern, daß wir erstens auch finan- Lesen Sie mal nach, was Herr Barzel gestern ziell eine ganze Menge dafür leisten gesagt hat!) (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sehr wahr! Bis zur Stunde hat sich auf den Wegen nach Berlin — Abg. Wohlrabe: 250 Millionen!) überhaupt nichts geändert. Seit fast 2 1 /2 Jahren haben wir Erklärungen abgegeben, die dem entge- und daß zweitens West-Berlin als Antwort darauf genkommen sollten, was Pankow als eine Verbes- zum Ausland erklärt worden ist. Heute muß man serung des Klimas erwartet hat und was von uns auf einen Brief nach Berlin eine Auslandsbrief- als eine Voraussetzung für die Gesprächsmöglich- marke kleben. keiten angenommen wurde. (Zurufe von der CDU/CSU: Unerhört!) (Abg. Mattick meldet sich zu einer Zwi Außerdem ist die Gebühr für ein Telefongespräch schenfrage.) von Ost-Berlin nach West-Berlin für die Dauer von Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9851 Amrehn sechs Minuten nach den Vereinbarungen von 60 Pf Dann weiß ich schon heute, daß das alles andere auf 4,60 DM erhöht worden. sind als Privilegien, von denen der Herr Bundes- (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Da reden minister für innerdeutsche Beziehungen in diesem die von Erleichterungen! — Zuruf von der Zusammenhang gesprochen hat. - CDU/CSU: Das sind die Realitäten!) Meine Damen und Herren, wenn die Verträge Meine Damen und Herren, das ist doch im Moment überhaupt einen Sinn haben sollen und wenn ihnen die Wirklichkeit. die Anerkennung der Realitäten zugrunde gelegt wird und wenn sie Entspannung bringen sollen, Nun ist gestern in Aussicht gestellt worden, daß dann müßte doch endlich in der Phase der Verhand- es bereits zu Ostern und zu Pfingsten gewisse Er- lungen und schon ganz und gar in der Zeit der leichterungen auf den Autobahnen und für Besucher parlamentarischen Behandlung dieser Verträge die geben soll. Wir freuen uns für die Menschen, die Rolle Berlins als Druckmittel ein Ende gefunden davon nach Jahren endlich wieder Gebrauch machen haben. können. Aber ich weigere mich, zuzugeben, daß es (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: sich hierbei um ein Zeichen des behaupteten guten Dann würden Sie sagen, das sei eine ver Willens oder um ein Zeichen der politischen Ent- suchte Beeinflussung, Herr Amrehn! Wie spannung handelt. Was wir erleben, ist doch nichts man's macht, ist's falsch!) anderes als ein willkürlicher, ja, ich sage, ein frivoler Umgang mit menschlichen Gefühlen zu poli- — Ich habe, Herr Wehner, nicht gezögert, unter tischen Zwecken. mehreren positiven Punkten die in den Texten zu (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) finden sind, u. a. hervorzuheben, es sei wirklich sehr beachtlich, daß die Sowjetunion sich am 3. Septem- Es ist der Versuch einer penetranten Einflußnahme ber vergangenen Jahres bereit erklärt hat, die Ber- auf den Entscheidungswillen dieses Parlaments, lin-Regelung zu unterschreiben, wenn die innerdeut- (erneuter Beifall bei der CDU/CSU — schen Vereinbarungen zustanden gekommen sind, Widerspruch bei der SPD) und mit der Unterschrift die Berlin-Regelung in Kraft zu setzen, ehe die Bundesregierung überhaupt und das, meine Damen und Herren, kann ich nicht die Ratifizierung in diesem Hause einleitet. Hierzu als Entspannungswillen bezeichnen. Was ist das für hat sich die Sowjetunion per Unterschrift verpflich- eine Entspannung, bei der uns für eine vorüber- tet. Sie begeht schon die erste Vertragsverletzung, gehende Zeit das Zuckerbrot der Erleichterung auf indem sie das nicht tut. den Zufahrtswegen hingehalten wird, während man für die Zeit danach schon wieder mit der Peitsche (Beifall bei der CDU/CSU.) des Rückfalls in die Unmenschlichkeit droht! Ich frage mich weiter: wieviel darf ich denn von (Beifall bei der CDU/CSU.) der künftigen Wirklichkeit einer gut geschriebenen Vereinbarung halten, wenn schon am Anfang die Was uns an Erleichterungen geboten werden soll, Vertragsverletzung steht? ist doch in Wahrheit nur die teilweise Milderung von Unrechtsmaßnahmen, die im Laufe der Jahre Das Zweite: Unsere Bundesregierung hat sich am über West-Berlin verhängt worden sind. 25. August in voller Kenntnis dieser Vereinbarun- gen vor dem deutschen Volk im Fernsehen und (Zuruf von der SPD: Dank Ihrer Politik!) durch Abdruck im Bulletin dazu verpflichtet, die Ich behaupte nicht, daß es kein Fortschritt wäre, Ratifizierung erst einzuleiten, wenn die Schlußakte wenn es der Politik gelänge, auch das abzubauen. unterschrieben ist. Die Schlußakte ist nicht unter- Aber ob daraus schon eine befriedigende Berlin- schrieben. Aber die Ratifizierung ist dennoch schon Regelung wird, eingeleitet. Der Bundeskanzler hat das gestern mit (Abg. Wehner: Das beobachten Sie aus der den Worten erklärt: Es ergibt sich aus der politi- Zuschauerloge!) schen Lage, daß die Ratifizierung eingeleitet wird, bevor die Berlin-Vereinbarung in Kraft tritt. Aber ist wieder eine ganz andere Frage. wo kann da unser Vertrauen noch bleiben, wenn so (Beifall bei der CDU/CSU.) gravierende Festlegungen schlicht übergangen wer- Meine Damen und Herren, lassen Sie es mich an den und heute nicht mehr gilt, was gestern gelten einem drastischen Beispiel zeigen. In der alliierten sollte? Vereinbarung steht, daß die Abfertigung auf den (Beifall bei der CDU/CSU.) Zufahrtswegen auf die „schnellste, einfachste und günstigste Weise" vor sich gehen soll, die der inter- Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine nationale Verkehr kennt. Ich leugne nicht, daß ich Zwischenfrage des Abgeordneten Mattick? darin eine wirklich vielversprechende und verhei- ßungsvolle Hoffnung erblickt habe. Wenn ich mir Amrehn (CDU/CSU) : Ich bitte, noch einmal auf nun aber die Ausfüllungsvereinbarungen ansehe, meine Bemerkungen verweisen zu dürfen, die ich stelle ich fest, daß dort wieder das Visum verankert vorhin gemacht habe. worden ist, daß es wieder das Fahndungsbuch und Meine Damen und Herren, mit dem, was hier ge- auch wieder die Schreibarbeiten gibt. Das hat doch schieht, wird ein ganz unmittelbarer Druck auf die mit der „schnellsten, einfachsten und günstigsten" Entscheidung dieses Parlaments ausgeübt, die Ver- Abfertigung überhaupt nichts zu tun. träge anzunehmen, bevor die Vergünstigungen der (Beifall bei der CDU/CSU.) Berlin-Vereinbarung in Kraft treten, und das ent- 9852 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Amrehn gegen verpfändeten Worten. Müßte nicht eigent- Sie, die dürften sich da nicht politisch betätigen! — lich das ganze Parlament sich dagegen wenden? Und glauben Sie mir: Den Sowjets ist es völlig Müßten wir nicht alle Einspruch erheben gegen die- gleichgültig, auf welche Weise sie ihren Fuß in die ses Verfahren? Aber wir erleben, daß statt dessen Tür bekommen können. - auch von amtlicher Seite dieser Druck der Sowjets (Zuruf des Abg. Dorn.) auf uns fortgesetzt wird, mitgemacht wird. — Ich habe das leider nicht verstanden. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Biehle: (Zurufe von der FDP und Gegenrufe von Erfüllungsgehilfen!) der CDU/CSU. — Abg. Dorn meldet sich Meine Damen und Herren, die Regelung sollte zu einer Zwischenfrage.) befriedigend sein. Wir haben es wahrhaftig niemals als die beste Regelung angesehen, daß Berlin ent- Nun noch einige Worte zu dem, was die Bundes- gegen dem, was es durch seine Vertreter im Parla- regierung in der Antwort an den Bundesrat erklärt mentarischen Rat wollte, nicht Bundesland im Voll- hat. (Abg. Dorn: Sie wollen also nicht hören, sinne hat werden können. Wir haben immer nur was ich gerufen habe!) die Motive unserer alliierten Freunde wegen der guten Gesinnung respektieren können, aus der sie In der Erklärung, die die Bundesregierung auf die ihre Vorbehalte erhoben haben. Einwendungen des Bundesrats gegeben hat, heißt

es, die Ausfüllung des Berlin-Abkommens gehe noch Gestern hat hier Herr Borm erklärt, durch die über den Rahmen dessen hinaus, was uns die Allier- neue Vereinbarung habe sich daran auch gar nichts ten dort bereitet hätten. Nichts kann falscher sein geändert. Das ist eben nicht richtig. Von nun an als diese Behauptung. Ich bin bereit, Ihnen an Hand hängt infolge des Berlin-Abkommens die Frage, von 20 Punkten nachzuweisen, daß das nicht zutrifft. ob Berlin volles Bundesland werden kann, nicht mehr allein von der Entscheidung der Westmächte Am allerwenigsten trifft das für das Visum zu. und ihrer Freiheit ab, zu sagen: Wir etwickeln Hier hat die innerdeutsche Ausfüllung des Rahmen- dieses Stück zum vollen Bundesland. abkommens etwas eingeführt, was gegen den allier

(Zurufe von der SPD.) ten Vertragstext ist. Es war doch der Regierende Bürgermeister Schütz, der mit uns gefordert hat, es Vielmehr haben wir diese Rechtslage an die Zu- dürfe nur Identitätskontrollen geben. In der Rah- stimmung der Sowjetunion gebunden. Da kann ich menvereinbarung steht ausdrücklich: In den Bussen nicht behaupten, daß dies ein Weg hin zur Selbst- darf nur die Identität geprüft werden. Trotzdem hat bestimmung der Berliner sei, — was Sie, Herr die innerdeutsche Seite zugestanden, daß in dem Mattick, in diesem Zusammenhang immer gefordert Bus mit 50 und mehr Passagieren wieder eine Sam- haben —, sondern diese Vereinbarung bringt uns melliste aufgestellt — „schnellste, günstigste und ein Stück weiter weg von der Selbstbestimmung der einfachste Abfertigung" — und ein Sammelvisum Deutschen, aus Berlin ein Land der Bundesrepublik erteilt werden muß. zu machen.

(Beifall bei der CDU/CSU.) Als Grundbedingung einer befriedigenden Berlin- Ich könnte mich mit einer solchen Regelung ver- Regelung ist aufgestellt worden, daß es keine Dis- söhnen lassen, wenn gleiches auch für den Ost- kriminierungen mehr geben dürfe. Der Regierende Bürgermeister Schütz hat erklärt, es dürfe insbe- sektor bestimmt worden wäre. sondere keinen Unterschied mehr geben für den (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) Besuch des Ostens zwischen den Westberlinern und

Aber hier ist doch eben die Ungleichheit. Darum den Westdeutschen. Wer heute von West-Berlin aus

behaupte ich, daß sich auch im Status in diesem nach Osten gehen will, der bedarf — außer bei

Umfang eine Veränderung ergeben hat, vor der Tagesbesuchen in Ost-Berlin ohne Übernachtung —

wir nicht die Augen verschließen dürfen. einer Genehmigung der Kommunalbehörde im Osten, um überhaupt einreisen zu dürfen. Selbst wenn er Ein zweites. Das Generalkonsulat ist eine so- nach Ost-Berlin geht, braucht er im Gegensatz zum wjetische Forderung gewesen, ohne die eine Berlin- Westdeutschen einen Berechtigungsschein, ein Vi-

Vereinbarung, wie der amerikanische Botschafter sum zur Ausreise und ein Visum zur Einreise. Das gesagt hat, nicht zustande gekommen wäre. Hier ist alles schlechter und überhaupt nicht mit dem ver-

kommen wir doch nicht an dem Tatbestand vorbei, gleichbar, was der Westbürger in Anspruch nehmen nachdem z. B. die SPD- und daß die Bundespräsenz, kann. Das ist im Ergebnis auch nicht befriedigend. die FDP-Fraktion seit zwei Jahren nicht mehr nach Wir waren einschließlich des Senats gar nicht Berlin gekommen sind, nicht nur faktisch, sondern damit einverstanden, daß es eine Kontingentierung auch schriftlich abgebaut wird und statt dessen die für die Besuche von Westberlinern gibt. Aus dem sowjetische Präsenz in West-Berlin erhöht wird. Grunde hatte der Regierende Bürgermeister die Ver- (Beifall bei der CDU/CSU.) einbarung nicht annehmen wollen; aber es ist bei

Ich weiß natürlich auch, daß in der Vereinbarung dieser Diskriminierung und Kontingentierung ge-

steht, das Generalkonsulat dürfe sich nicht politisch blieben.

betätigen. Kann man das dann „befriedigend" nennen? Ganz (Lachen in der Mitte.) zu schweigen jetzt von den vielen Möglichkeiten

Das tragen Sie einmal vor einer Berliner Versamm und Unmöglichkeiten der Mißbrauchsklausel, die in

lung von Menschen aller Schichten vor, und sagen den deutschen Regelungen gegenüber der Schwam- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9853 Amrehn migkeit der alliierten Vereinbarung noch zugunsten mit zehn Sachen gleichzeitig beschäftigt, macht der Ostbehörden verschärft worden ist! keine ordentlich. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der FDP.) Ich ziehe daraus für mich die Schlußfolgerung, daß- Jeder weiß, daß es am einzelnen Beamten hängen ich nur zum Inhalt des Moskauer Vertrages und zu wird, ob bei einem Durchreisenden die hohe Wahr- dem sprechen werde, was der verehrte Kollege scheinlichkeit einer Absicht des Mißbrauchs der Schröder dazu gesagt hat. Ich würde sagen, das ist Autobahn unterstellt wird. Das hängt nach wie vor schon ein abendfüllendes Stück, oder, wie es ein von der Beurteilung des einzelnen auf der Auto- Amerikaner sagen würde: That's a mouthful, wieder bahn ab. frei übersetzt: Da hat man schon genug zwischen Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine den Zähnen! Schlußbemerkung machen. Es wird natürlich immer (Heiterkeit bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. wieder die Frage gestellt: Wenn Sie die Verträge Marx [Kaiserslautern] : Haben Sie noch schon ablehnen wollen, können Sie es dann auch etwas von Machiavelli da? — Unruhe.) auf sich nehmen, die Berlin-Vereinbarung nicht in Ich darf beginnen, Herr Kollege Schröder, mit der Kraft treten zu lassen? Nun wäre es eine formale Erinnerung, daß wir uns seit 40 Jahren kennen — — Antwort, zu sagen: die Vierervereinbarung der gro- ßen Mächte, die an Berlin beteiligt sind, kann doch (Anhaltende Unruhe. — Glocke des Präsi nicht davon abhängig gemacht werden, ob eine bila- denten.) terale Vereinbarung in Deutschland zustande kommt. Einen Augenblick, Herr (Beifall bei der CDU/CSU.) Präsident von Hassel: Kollege! Darf ich Sie bitten, die Unterhaltungen in Aber lassen Sie es mich auch von der Sache her den Vorraum zu verlegen! Es stört hier. Insonder- beurteilen. Um mit einem abgewandelten Kennedy- heit haben, glaube ich, die Fernsehteilnehmer ein Wort zu sprechen: Ich kann mich doch nicht mit Recht darauf zu wissen, daß hier aufmerksam zuge- dem Apfel begnügen, wenn ich einen Obstgarten hört wird. Ich darf Sie bitten, herauszugehen und hingeben soll! die Unterhaltungen draußen zu führen. (Zuruf von der SPD: Wo haben sie den Bitte schön, Herr Abgeordneter! Obstgarten?) Das heißt doch: auch West-Berlin kann nicht mit Dr. Achenbach (FDP) : Herr Kollege Schröder, einem Vertrag gedient sein, der in der Welt drau- ich möchte mich gern mit Ihnen über das unterhalten, ßen zumeist als ein Teilungsvertrag verstanden was sie gestern vorgetragen haben. Zunächst möchte wird. Ein Schritt der deutschen Politik im ganzen ich mich damit einverstanden erklären, daß Sie ein- in die falsche Richtung kann auch für Berlin nicht gangs in Ihrer Rede betonten, diese Diskussion hier richtig sein. müsse sachlich geführt werden, jeder müsse der an- (Beifall bei der CDU/CSU.) deren Seite den guten Willen zubilligen; wir sollten unter der Voraussetzung sprechen, daß auf beiden Ein Vertrag, mit dem die Deutschen genötigt wer- Seiten Patrioten stünden, die unter den gegebenen den, ihr Recht auf Selbstbestimmung im Text zu Umständen das Beste für unser Land und Volk woll- verschweigen — und wenn dies auch nicht durch ten. Niemand sollte in dieser Diskussion verteufelt Interpretation anders dargestellt werden kann —, werden. Diese Kontroverse dürfe nicht zu einem kann allein mit einer Berlin-Regelung nicht gerecht- Glaubenskrieg werden oder ausarten. — Damit bin fertigt werden. Ein Vertrag, den wir für Deutsch- ich voll einverstanden. land nicht verantworten können, können wir auch nicht für Berlin verantworten. Auch die Berliner Ich hatte bei meiner letzten Intervention hier be- und alle Abgeordneten hier sind doch verpflichtet, reits betont, daß wir gut beraten wären, wenn wir das Gesamtinteresse ganz Deutschlands nach bester das Begriffspaar „kalte Krieger" und „Verzichts Überzeugung und nach innerstem Gewissen wahr- politiker" gemeinsam beerdigen würden. Sie haben zunehmen, notfalls auch um den Preis, daß die Ber- diesen Vorschlag angenommen, das finde ich gut so. lin-Vereinbarung vorerst nicht in Kraft treten sollte. Wir können gemeinsam der Welt mitteilen, daß es (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — hier in Bonn weder kalte Krieger noch Verzichtspoli- Abg. Wehner: Dann wollen Sie aber auch tiker, sondern vaterlandsliebende Abgeordnete gibt, keine Passagierscheine!) die für ihr Land und für die Welt den Frieden wol- len. Das wollen wir doch einmal gemeinsam fest- stellen! Präsident von Hassel: Das Wort hat der Abge- ordnete Dr. Achenbach. (Dr. Stark [Nürtingen] : Sagen Sie das ein mal der SPD in Baden-Württemberg!)

Dr. Achenbach (FDP) : Herr Präsident! Meine Nun haben Sie auch sonst noch etwas Vernünftiges sehr verehrten Damen und Herren! Der bisherige gesagt. Sie haben festgestellt, daß es nach wie vor Verlauf der Diskussion hat mich an ein französi- gemeinsame Ziele gibt: Festhalten am Selbstbestim- sches Sprichwort erinnert, welches da lautet: Qui mungsrecht für alle Deutschen, friedliche Beziehun- trop embrasse mal étreint, frei übersetzt: Wer sich gen und Verständigung, Zusammenarbeit auch mit 9854 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Dr. Achenbach den Staaten Osteuropas einschließlich der Sowjet- Der zweite Satz lautet: union und Verzicht auf Androhung und Anwendung IN DER ÜBERZEUGUNG, daß die friedliche Zu- von Gewalt! Voll einverstanden! Ich nehme an, Sie sammenarbeit zwischen den Staaten auf der sind auch noch einverstanden, wenn wir noch zwei Grundlage der Ziele und Grundsätze- der Charta Punkte hinzufügen. Wir sind doch alle hier bereit, der Vereinten Nationen den sehnlichen Wün- für unseren Staat, für diesen freiheitlichen Rechts- schen der Völker und den allgemeinen Inter- staat einzutreten und ihn zu verteidigen. Darüber essen des internationalen Friedens entspricht, hinaus wollen wir uns alle auch um Berlin kümmern. Also haben wir da ja dann schon einen ganz schönen Ich jedenfalls teile diese Überzeugung, und ich Katalog von Gemeinsamkeiten. nehme an, Sie teilen Sie auch, Herr Schröder. Da- gegen ist also auch nichts einzuwenden. Nun komme ich noch zu einem Schlußzitat, und da fängt allerdings langsam die Kritik an, Herr Dann kommt der dritte Absatz. Dort steht: Kollege Schröder. Sie haben auf der Seite 30 Ihrer IN WÜRDIGUNG der Tatsache, daß die früher Rede gesagt: von Ihnen verwirklichten vereinbarten Maßnah- Ich vertrete absolut den Standpunkt, daß wir men, insbesondere der Abschluß des Abkom- Deutschen keine Auslegung der Verträge zu mens vom 13. September 1955 unseren Ungunsten vornehmen sollten, also — das war ja der Bundeskanzler Adenauer — uns nicht einer Argumentationslinie der Gegen- seite bedienen dürfen. über die Aufnahme der diplomatischen Bezie- hungen, günstige Bedingungen für neue wich- Sehr richtig, Herr Kollege Schröder. Nun hätte ich tige Schritte zur Weiterentwicklung und Festi- ganz gern gesehen, daß man auch einmal von Ihrer gung ihrer gegenseitigen Beziehungen geschaf- Seite vorträgt, was in diesem Moskauer Vertrag fen haben, denn eigentlich drinsteht. Da dies nicht geschehen ist, möchte ich mich jetzt damit ein bißchen beschäf- Sie müssen doch zugeben: daß die jetzige Regierung tigen. Der Vertrag ist ja gar nicht so lang, so daß die damalige Regierung würdigt, ist doch nett von die Rede gar nicht so lang wird. Es ist vielleicht ihr. Außerdem stimmt das auch. auch ganz gut, daß die vielen Leute, die uns zuhören (Abg. Stücklen: „verwirklichten"! — Meh und die die Texte nicht vorliegen haben, verstehen rere Abgeordnete der CDU/CSU melden müssen, worüber wir uns eigentlich streiten. sich zu einer Zwischenfrage.) Wollen wir doch einmal sehen, was in dem Mos- — Lassen Sie mich doch doch erst einmal den Ver- kauer Vertrag steht, trag zu Ende bringen! Anschließend gerne, Herr Marx. (Abg. Stücklen: Und was steht nicht drin?) Dann kommt der vierte Punkt: um uns anschließend ein Urteil darüber bilden zu können, ob Ihre Befürchtungen, Herr Schröder, oder IN DEM WUNSCHE, in vertraglicher Form ihrer die Hoffnungen anderer berechtigt oder nicht berech- Entschlossenheit zur Verbesserung und Erweite- tigt sind. rung der Zusammenarbeit zwischen ihnen Aus- druck zu verleihen, einschließlich der wirt- (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Unterstellen schaftlichen Beziehungen sowie der wissen- Sie, daß Herr Schröder den Vertrag nicht schaftlichen, technischen und kulturellen Ver- gelesen hat?) bindungen, im Interesse beider Staaten, — Nein, ich finde nur: wenn er sagt, man sollte Ja, dagegen ist doch offenbar keiner, denn das steht keine Interpretation vornehmen, die uns schädigt, sogar in dem Plan der CSU. dann war es ein Versäumnis, daß er den Vertrag (Abg. Stücklen: Sicher, einverstanden!) anschließend nicht interpretiert hat. Da sind wir uns also auch schon wieder einig. Folg- (Beifall bei den Regierungsparteien.) lich werde ich doch wohl sagen können: Gegen die Das ist doch der ganze Witz. Diese Interpretation Präambel kann dieser Bundestag überhaupt nichts will ich jetzt einmal vornehmen und dann feststel- vorbingen. len, ob Herr Schröder mit meiner Interpretation (Beifall bei den Regierungsparteien. — übereinstimmt. Das ist doch normal. Widerspruch bei der CDU/CSU. --- Abg. Stücklen: Doch! „verwirklichten" !) Dieser Vertrag hat erst einmal eine Präambel. In dieser Präambel lautet der erste Satz: Da haben wir als einen Teil schon mal weg.

IN DEM BESTREBEN, zur Festigung des Frie- Nun kommen wir auf den Art. 1. Dessen Abs. 1 dens und der Sicherheit in Europa und in der lautet: Welt beizutragen, Die Bundesrepublik Deutschland und die Union Das wollen wir doch wohl alle? der Sozialistischen Sowjetrepubliken betrachten es als wichtiges Ziel ihrer Politik, den inter- (Zustimmung bei der CDU/CSU.) nationalen Frieden aufrechtzuerhalten und die Mit diesem Satz sind Sie also einverstanden. Entspannung zu erreichen. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9855

Dr. Achenbach Das wollen wir doch auch. Da gibt es also doch wohl läum als Anwalt gefeiert, Herr Stücklen — verstehe auch keine Meinungsverschiedenheit. ich ein bißchen was davon. Außerdem gibt es noch eine Erklärung von Herrn Gromyko. In Zukunft ist (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. also hier der Gewaltverzicht, und zwar in vollem Stücklen: Die Ursache der Spannungen zu Umfang, ausgesprochen. Davon beißt keine Maus- beseitigen!) einen Faden ab. — Ich spreche jetzt einmal von dem Vertrag. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Wenn Sie Das, Herr Stücklen, wollen Sie ja auch. Das wollte es vor Gericht so machten, würden Sie brot auch die Regierung Kiesinger. Das ist also nun er- los!) reicht. Wissen Sie, als die Regierung Kiesinger/ Gegen den Art. 1 Abs. 1, Herr Stücklen, haben Sie Brandt das damals den Russen vorschlug, da waren bestimmt nichts. diese nicht ohne weiteres bereit, dies in dieser Form zuzugestehen, sondern da haben sie Noten Nun kommt der Abs. 2. Ich kann Ihnen sagen, daß geschickt, auf die ich jetzt im Interesse der guten Herr Außenminister Scheel da ganz verdienstvoll Beziehungen nicht mehr eingehen will. Nun aber verhandelt hat. Sie, Herr Schröder, haben zwar ge- steht das klar im Vertrag drin: ausschließlich fried- meint, man hätte Sie nur als Statist eingeladen. liche Mittel. Der Gewaltverzicht ist klar und total. Wenn damit unterschwellig von Ihnen gemeint sein sollte, ich sei da nur als Statist gewesen und mein (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : So einfach ist Freund Karl Wienand ebenfalls, so muß ich Ihnen das alles nicht!) ehrlich sagen: Bei dem Selbstbewußtsein der Sieger- — Das ist ganz genau so einfach, wie ich es Ihnen länder gelingt es Ihnen nicht, mich mit Komplexen vortrage. zu versehen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Nun kommt der Art. 3. Da war ich bei den Ver- Ich bin ein freier Abgeordneter, war in Moskau frei handlungen ein bißchen dabei. Ich nehme nicht an, und habe dort meine Meinung gesagt. Hier und da daß ich da Geheimnisse verrate, Der Art. 3 enthält hat man sogar meinen Rat angenommen, habe ich einen ersten Satz, um den sogar ein bißchen ge- das Gefühl. kämpft worden ist. (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Mit wel- (Zurufe von der CDU/CSU: Ein bißchen!) cher Wirkung im Vertrag, Herr Achenbach?) Aber er steht ja nun da. Da heißt es: „In Überein- Sehen Sie, dieser zweite Absatz lautet so: stimmung mit den vorstehenden Zielen und Prinzi- Sie bekunden ihr Bestreben, die Normalisierung pien", nämlich mit dem vorstehenden Prinzip, daß der Lage in Europa und die Entwicklung fried- man keine Gewalt anwenden will und sich auch licher Beziehungen zwischen allen europäischen nicht mit Gewalt bedrohen will. Dieses Prinzip soll Staaten zu fördern, und gehen dabei von der in auch in bezug auf die Grenzen gelten. Ja, das leuch- diesem Raum bestehenden wirklichen Lage aus. tet mir nun wieder ein. Nun sind Sie, Herr Kollege Schröder — wir sind ja (Beifall bei den Regierungsparteien.) alte Juristen — mit den Gesetzen der Logik wohl- Denn wenn ich bei Grenzen Gewalt anwende, dann vertraut und werden mir sicher zustimmen, wenn ist das doch wesentlich gefährlicher, als wenn ich ich Ihnen sage: Wenn man die Normalisierung der sonstwo Gewalt anwende. Also, in Anwendung Lage in Europa fördern will und dabei von der be- dieses Gewaltverzichts erklären nun die beiden stehenden Lage ausgeht, dann folgt daraus, daß die Mächte, daß die Grenzen nicht angetastet werden Vertragspartner der Auffassung sind, daß die be- sollen, — mit Gewalt. Das ist die logisch zwingende stehende Lage in der Tat nicht sehr normal ist, Folge aus diesem Eingangssatz, den wir da nach (Abg. Dr. Stark. [Nürtingen] : Na, na, na!) langen Verhandlungen hineingenommen haben. Das und das ist sie auch nicht. Sie ist schizophren, sie ist ist dadurch gewährleistet. unfriedlich, und sie muß normalisiert und verbessert Nun, sehen Sie, Verhandlungen unter Fachleuten werden, und dafür sind beide Vertragsparteien. und Diplomaten führen manchmal zu nicht ganz (Beifall bei den Regierungsparteien.) einfachen Ergebnissen, sondern sind manchmal ein bißchen kompliziert. Damit hätte ich also, wie ich meine, den ersten Artikel über die Bühne gerollt. Und nun mache ich Sie darauf aufmerksam, daß Nun kommt also der zweite Artikel. unter diesem ersten Obersatz drei Gedankenstriche stehen. Das, was auf diese Gedankenstriche folgt, ist (Zuruf des Abg. Stücklen.) in Übereinkunft von den Verhandelnden dazu aus- -- Das dauert gar nicht mehr lange, Herr Stücklen. ersehen worden, Unterfälle dieses vorderen Satzes Der Art. 2 sagt also — ich will es jetzt sogar ein zu beschreiben. Art. 3 ist also ein Anwendungsfall bißchen verkürzen —, daß sich die beiden Staaten des Art. 2, mithin ein Anwendungsfall des Satzes, unter keinen Umständen mit Gewalt bedrohen wol daß man auf Gewalt verzichtet. Und dann wird in len und auch nicht Gewalt anwenden wollen. Das Art. 3 als Anwendungsfall eben besonders heraus- ist von einer absoluten Klarheit. Als Jurist — gestellt, daß die Grenzen nicht mit Gewalt angeta- schließlich habe ich neulich mein 25jähriges Jubi stet werden. 9856 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Dr. Achenbach Nun bestand das Bedürfnis, auch zu sagen, welche Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwi- Grenzen. Denn Sie müssen ja wissen, daß die Po- schenfrage des Abgeordneten Vogel? sitionen vorher anders waren. Es hat doch eine Zeit gegeben, wo der Partner auf unseren Vorschlag Dr. Achenbach (FDP) : Würden Sie mich das gesagt hat: Was heißt hier Gewaltverzicht? Das ha- eben zu Ende bringen lassen? Die Frage kann gern ben wir ja gar nicht nötig; das wollen wir auch gar gleich oder am Schluß gestellt werden. nicht. Wenn ihr das aber wollt, dann müßt ihr erst einmal alles anerkennen und auf alles mögliche ver- Dies wollen wir also nach wie vor. Nun kommt zichten. der weitere wichtige Satz hinzu: (Zustimmung bei den Regierungsparteien. Sie sind weiterhin darüber einig, daß die end- — Abg. Dr. Apel: Genauso war es! Sehr gültige Festlegung der Grenzen Deutschlands richtig! — Weitere Zurufe von der SPD: bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden So ist es gewesen!) muß. Und, meine Damen und Herren, das ist geschehen! Und sehen Sie, eben das haben wir nicht getan, da- mit das klar ist! (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Es liegt also ein Modus vivendi vor. Nun kommt noch der Art. 4 hinzu, und hier, Herr So, Herr Kollege Schröder, nun habe ich Ihnen Kollege Schröder, appelliere ich wieder an Ihren auf Grund meiner jetzt nicht politischen, sondern juristischen Sachverstand und darf Ihnen noch er- juristischen Erkenntnisse, die ich früher — wie Sie gänzend dazu mitteilen, daß bei der Abfassung des — hier auf der Universität Bonn und sonstwo er- Art. 4 in ganz besonderer Weise an die Pariser worben habe, dargestellt, wie dieser Vertrag auszu- Verträge gedacht und über sie gesprochen wurde, legen ist. und zwar in erster Linie über Art. 7 des Vertrages (Zustimmung des Abg. Wehner.) zwischen uns und den drei Westmächten. — Art. 4 Und ich muß Ihnen ganz ehrlich sagen, diese Aus- des Moskauer Vertrages lautet: legung ist richtig, Dieser Vertrag zwischen der Bundesrepublik (Zuruf von der CDU/CSU: Sie haben auch Deutschland und der Union der Sozialistischen schon Prozesse verloren!) Sowjetrepubliken berührt nicht die von ihnen früher abgeschlossenen zweiseitigen und mehr- und bei dieser Auslegung verstehe ich überhaupt seitigen Verträge und Vereinbarungen. nicht, wie jemand sagen kann, wir hätten auch nur das Geringste verschenkt oder auf das Geringste Da haben wir also in erster Linie an diesen Pa- verzichtet. Das ist eben nicht der Fall! riser Vertrag, unseren Vertrag mit den Westmäch- (Beifall bei den Regierungsparteien.) ten, gedacht, und zwar, wie gesagt, an Art. 7, dessen erster Satz so lautet: Ich werde Ihnen sogar sagen, Herr Kollege Schrö- der, daß ich in Diskussionen in Moskau gelegentlich Die Unterzeichnerstaaten gemeint habe: Wissen Sie, eigentlich muß ich ja — also die Vereinigten Staaten, England, Frank- sagen, seit Beendigung der Feindseligkeiten sind reich und wir — 25 Jahre ins Land gegangen, und wir haben immer sind darüber einig, daß ein wesentliches Ziel noch keinen Friedensvertrag geschlossen. Das wird ihrer gemeinsamen Politik eine zwischen doch nun verdammt Zeit. Wir könnten uns ja auch Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern überlegen, ob wir nicht schon anfangen sollten, über frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung einen richtigen Friedensvertrag zu sprechen. Aber für ganz Deutschland ist, welche die Grundlage vielleicht ist es richtig, nachdem man sich 25 Jahre für einen dauerhaften Frieden bilden soll. lang wechselseitig nur beschimpft hat — die einen sagten, das sind nichts anderes als bösartige Welt- Und ich darf Ihnen ganz ehrlich sagen: auf dem revolutionäre, und die anderen sagten, das sind Standpunkt dieses Artikels stehe ich noch heute. nichts anderes als bösartige monopolistische Kapita- (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. listen —, daß man zunächst eine erste Etappe, einen Dr. Stark [Nürtingen]: Ja, ja!) solchen Modus vivendi braucht, um eine Grundlage zu bekommen, um vernünftig miteinander reden zu Ich bin darüber erfreut, daß sich die Westmächte hier können. Und darum geht es allein, Herr Schröder! dazu verpflichtet haben, mit uns einen Friedensver- trag zu schließen, der frei ausgehandelt werden soll Sie zitieren auch jenes Wort, daß den Verbünde- und der den Frieden dauerhaft sichert. ten nicht mehr einfällt als den Deutschen selbst. Ich glaube, Herr Schröder, das habe ich selbst vor zehn (Zustimmung des Abg. Wehner.) Jahren erfunden. Ich habe damals im Auswärtigen Nun wissen Sie, ein Frieden wird nicht dauerhaft Ausschuß — ich habe die Ehre, ihm seit 1957 anzu- gesichert, wenn man einen Vertrag schließt unter gehören — der Bundesregierung gesagt, daß es dem Motto: du hast den Krieg verloren, also mußt jetzt diesen Art. 7 gibt. Nun, meine ich, müssen wir du ... — Vielmehr muß man den Friedensvertrag uns selbst etwas einfallen lassen, was die deutsche unter dieser Fragestellung aushandeln: wie muß der Sache weiterbringt, und müssen davon unsere Ver- Friede aussehen, damit er im Interesse aller Betei- bündeten überzeugen und natürlich gleichzeitig auch ligten auf die Dauer gesichert ist? ihren Interessen Rechnung tragen. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Deuts cher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9857 Dr. Achenbach Man soll sich nicht selbst zitieren — ich zitiere die Ehre und das wohlverstandene nationale überhaupt nicht gerne —, Interesse jedes Bündnispartners. (Abg. Dr. Wörner: Das haben wir gemerkt!) Wenn Herr von Weizsäcker eben plötzlich gemeint - aber diesmal will ich es doch tun. Ich habe im hat, Herr Pompidou würde nicht mehr dafür ein- Jahre 1959 gerade dazu etwas gesagt, und ich treten, muß ich den eigentlich in Schutz nehmen. meine, es paßt sehr gut auf die heutige Zeit. Es han- Ich habe keinen Anlaß, daran zu zweifeln, daß die delte sich damals um eine Große Anfrage der Freien Franzosen zu diesem Vertrag stehen Demokraten an die Regierung. Da waren Sie noch (Beifall bei den Regierungsparteien) nicht Außenminister, Herr Schröder; das war noch und daß sie im Rahmen des Bündnisses auch zu der Herr von Brentano. Ich habe damals gesagt: für ihrem Wort stehen, für unsere Belange einzutreten. Sie, die Christlichen Demokraten, wie für uns, die Freien Demokraten, Dann habe ich, an den Bundeskanzler gewandt, ist das Bündnis mit den angelsächsischen Staa- etwas gesagt, das im Grunde der Kern ist, Herr ten ebenso wie das mit Frankreich der Eck- Schröder: pfeiler der deutschen Außenpolitik. Nun, Herr Bundeskanzler, bei Fortdauer des Das trifft heute noch zu. Das wird auch, wie ich kalten Krieges, in dem die Sowjets in den annehme, nach wie vor vom ganzen Hause unter- Amerikanern ausschließlich angriffslüsterne strichen. Monopolkapitalisten, die Amerikaner die So- (Beifall bei den Regierungsparteien.) wjets ausschließlich als angriffslüsterne Welt- revolutionäre sahen, konnte das Lebensinter- Wir wollen dieses Bündnis fortsetzen. esse des deutschen Volkes, die Überwindung Im übrigen können wir das auch, denn ich entsinne seiner Spaltung, von unseren westlichen Bünd- mich, mit eigenen Ohren gehört zu haben, daß Herr nispartnern begreiflicherweise nicht genügend Gromyko vernünftiger- und klugerweise sagte, als wahrgenommen werden, weil der kalte Krieg es um eine Wende in den Beziehungen ging: Aber par excellence der Zustand ist, der den Status selbstverständlich wollen wir Sie nicht Ihren Freun- quo wiederum begreiflicherweise immer fester den abspenstig machen, zementiert, weil das alles überschattende Miß- (Lachen bei der CDU/CSU) trauen jede Seite veranlaßt, fest auf den inne gehabten Positionen zu verharren und keine und wir hoffen, daß Sie uns unsere Freunde auch nicht abspenstig machen. Veränderungen zuzulassen, aus Furcht, sie könnten die Positionen der einen Seite auf Ko- (Lachen und Zurufe bei der CDU/CSU.) sten der anderen verbessern. — Lachen Sie nicht so! Es ist in der Politik sehr Das ist doch selbstverständlich so. Wenn man aber wichtig, daß man die Partner zunächst einmal beim aus diesem Circulus vitiosus herauskommen will, Wort nimmt. muß man schon ein bißchen Mumm haben und we- (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu nigstens miteinander sprechen wollen. Herr Schrö- rufe von der CDU/CSU.) der, etwas hat mich betroffen gemacht. Sie haben in der „Zeit" einen großen Artikel geschrieben, im Und ich habe damals weiter gesagt: Ton sehr nett und klug, wie Sie ja sind. Dem, was Das bedeutet, daß wir verpflichtet sind, für Sie dort unter Ziffer IX sagen, kann ich aber gar außenpolitische Initiativen, die wir im Inter- nicht folgen. Es heißt dort im letzten Absatz: esse unseres Landes für richtig halten, unter So ist das Nein zu den Verträgen nicht nur Einsatz all unserer Überzeugungskraft das Ver- eine außenpolitische Aussage, sondern es unter- ständnis und die Zustimmung unserer großen streicht auch eine notwendige innenpolitische Verbündeten zu erlangen, und daß wir in der Haltung. Tat, Herr Bundesaußenminister, Ich weiß, daß dieser letztgenannte Gesichtspunkt in — das war Herr von Brentano — der bisherigen Debatte zu kurz gekommen ist. Es bei allem, was wir tun, auch die berechtigten wäre aber schädlich, die Zusammenhänge nicht deut- Interessen unserer Verbündeten berücksichtigen lich und plastisch zu sehen. müssen. (Demonstrativer Beifall bei der CDU/CSU.) Ich habe dann noch hinzugefügt: Herr Schröder, wir haben uns gemeinsam gegen Was wir hier klar und unmißverständlich für diese etwas miesen Versuche — ich sage es so, denn uns aussprechen, gilt umgekehrt aber ebenso ich bin ja ein freier Abgeordneter — des Herrn für die Politik unserer Verbündeten im Ver- Honecker gewandt, sich abzukapseln. Aber besteht hältnis zu uns. In dem großen westlichen Ver- nicht der Verdacht, daß Sie dazu neigen, daß wir teidigungsbündnis freier und gleicher Staaten uns abkapseln? Das sollten wir nicht tun. müssen auch unsere Verbündeten bei der Aus- arbeitung der gemeinsamen Außenpolitik der (Beifall bei den Regierungsparteien.) Allianz die Lebensinteressen des deutschen Darum ging es ja immer in der Diskussion zwischen Volkes berücksichtigen, und so wie wir für ihre, uns in den ganzen Jahren. Ich bestreite nicht die müssen sie für unsere Belange eintreten. Das Legitimität der Überlegung, ob der Zeitpunkt rich- erfordert die Achtung vor dem gegebenen Wort, tig oder falsch ist. Ich stelle nur fest, daß Sie in all 9858 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Dr. Achenbach den langen Jahren immer der Meinung waren, der Herr von Weizsäcker sagt —: ich bin der festen Zeitpunkt sei noch nicht gekommen oder er sei Überzeugung, daß diese Regierung, die ich unter- falsch. stütze — für mich kann ich das ganz verbindlich - (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. sagen, aber für die anderen sicher auch; das wird Wehner: Ja eben!) mir bestimmt bestätigen —, selbst- verständlich für die staatliche Einheit Deutschlands Darüber können wir ja sehr freundschaftlich ver- ist. Ich habe den Kollegen in Moskau unwiderspro- schiedener Meinung sein. Wir sind eben der Mei- chen sagen können, nung, daß der richtige Zeitpunkt gekommen ist, wenn eine Weltmacht auf uns zukommt und sagt: Wir (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Welchen Kol möchten ganz gern eine Wende in den Beziehungen, legen?) (Zustimmung bei den Regierungsparteien daß, wenn wir schon von Realitäten sprächen, sie ja — Widerspruch bei der CDU/CSU) wohl zugeben müßten, daß die Deutschen ihr Land nicht selber gespalten hätten, sondern daß andere und wenn sie gewillt ist, einen Vertrag zu unter- das für sie besorgt hätten; schreiben, in dem wir sage und schreibe überhaupt nichts aufgeben. Und von dieser Interpretation her, (Beifall bei den Regierungsparteien — Zu von der berechtigten Aussage her, daß man den Ver- rufe von der CDU/CSU.) trag nicht anders interpretieren soll, wenn man und nun seien wir zwar keine Weltmacht, auch nicht nicht den deutschen Interessen schaden will eine Großmacht, aber wir hätten doch ein bißchen (Beifall bei den Regierungsparteien — Abg. Selbstachtung, und das gefalle uns nicht, deshalb Wehner: Sehr wahr!) wollten wir die deutsche Einheit wieder haben und mit ihnen darüber sprechen. Deshalb hat Walter — daß meine Interpretation juristisch einwandfrei Scheel auch diesen Brief geschrieben, und sie haben ist, wollen Sie doch hoffentlich nicht bestreiten — — ihn akzeptiert. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwi- schenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Schulze- Nun wären wir alle gut beraten — das sage ich Vorberg? Ihnen in der heutigen Zeit —, (Zurufe von der CDU/CSU) Dr. Achenbach (FDP) : Herr Schulze-Vorberg, wenn wir diesen Modus vivendi nicht ansähen als lassen Sie mich zu Ende reden; nachher gern. Ich bin etwas, was für zehn, zwanzig Jahre dauern soll, — gerade gut im Zug! nein, das soll die Grundlage schaffen, um auf ihr Auf der Basis dieser Interpretation des Moskauer von diesem Modus vivendi aus zu einem frei aus- Vertrages und nach der Lektüre des Textes — die gehandelten Friedensvertrag zu kommen, der die Leute draußen müssen ja auch wissen, worum es Zukunft Europas auf Dauer sichert. Das ist das Ziel, geht, und bisher wußten sie es gar nicht so genau; das ich jedenfalls vertrete. Ich hoffe, daß da die meisten Leute derselben Meinung sind. Ich bin (Beifall bei den Regierungsparteien) überzeugt, Walter Scheel vertritt dieses Ziel auch. sie hatten zwar den Text früher einmal in der Zei- So, nun habe ich das Gefühl, ich rede schon ein tung gelesen, aber Zeitungen pflegt man ja nicht bißchen arg lang. aufzuheben, und man hat sie auch nicht ständig vor sich liegen — frage ich mich nun, ob diese Kategorie (Zurufe von der CDU/CSU.) der Befürchtungen, die Sie aussprechen, richtig ist. — Daß Sie der Meinung sind, ist ja klar. — Der Was die Befürchtung angeht, daß unsere westlichen Kollege Strauß spricht doch fließend Latein, soweit Verbündeten nicht mehr zum Vertrag stehen, so muß ich weiß. Er wird sich erinnern — er hat es sicher ich die westlichen Verbündeten in Schutz nehmen. einigen Kindern beigebracht; ich nehme es an, Herr Kollege Strauß —, da gibt es den berühmten Satz: (Beifall bei den Regierungsparteien.) „Dum spiro spero" — „Solange ich atme, hoffe ich." Wenn dem so wäre, taugte das ganze Bündnis nichts. (Lachen und Zurufe bei der CDU/CSU.) Wir stehen treu zum Bündnis — das haben wir auch immer gesagt —; infolgedessen stehen die an- Das schließt nicht aus, daß ich gleichzeitig sehr deren auch treu dazu. Sonst hat die ganze Sache wachsam bin. doch keinen Sinn. (Abg. Dr. Barzel: Sperare contra spem! — Es geht doch in erster Linie um folgendes. In die- Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) sem Vertrag haben wir das Versprechen der West- Nun gibt es zwei Haltungen. Der eine sagt: „Solange mächte in bezug auf einen frei ausgehandelten Frie- ich atme, hoffe ich, bin aber dabei wachsam, damit densvertrag. Vom Osten hatten wir das bisher noch ich nicht betuppt werde", und der andere sagt: nicht, vielleicht auch ein ganz kleines bißchen aus „Solange ich atme, habe ich Befürchtungen" — auch eigener Schuld, denn wir sind ja auf die Vorschläge, wenn es staatsmännische sind. die von östlicher Seite gemacht wurden, nicht echt (Beifall und Heiterkeit bei den Regierungs eingegangen, weil wir meinten, der richtige Moment parteien.) wäre noch nicht gekommen. Jetzt haben wir nichts anderes als einen Modus vivendi. Aber eines möchte Da muß man nun die Wahl treffen. Ich sage Ihnen ich ganz klar sagen — auch im Hinblick auf das, was ehrlich: ich bin dafür, es bei dem alten lateinischen Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9859

Dr. Achenbach Satz zu belassen und, was die Befürchtungen angeht, Nachweise dafür, daß die abendliche Lachstunde in sie natürlich sehr wachsam zu prüfen, aber erstens der sowjetischen Botschaft um zweieinhalb Minuten sie nicht zu beschreien und zweitens genau aufzu- verlängert wird. passen. Meine Damen und Herren, die Fraktion der CDU/- CSU hat am 14. Oktober des vergangenen Jahres Lassen Sie mich deshalb jetzt schließen, weil ich ihre Große Anfrage zur Deutschland- und Außen- auch müde werde, ehrlich gesagt; denn ich gehöre politik eingebracht. Sie sagte dort in der Begrün- ja, wie Sie wisen, mit Ihnen, Herr Schröder, zu der dung: Minderheit in diesem Hause, die älter als 60 Jahre Die Außenpolitik der Bundesregierung, insbe- ist. Ein beklagenswerter Zustand! sondere die Verträge von Moskau und War- (Heiterkeit.) schab und die Krimreise des Bundeskanzlers Deshalb hat es mich so gefreut, daß Sie gestern haben erhebliche Unklarheiten hervorgerufen einen solchen Beifall bekamen; denn in unserem und Anlaß zu schwerwiegenden Bedenken ge- Alter freut man sich, wenn die Leute nett zu einem geben. sind. Unsere Befürchtungen und Sorgen haben sich seit- (Große Heiterkeit und Beifall bei den Re her nicht verringert, im Gegenteil, sie sind -- im gierungsparteien.) Zusammenhang mit den vielen zusätzlich abgegebe- Zum Schluß möchte ich aber noch begründen, nen Erklärungen, Erläuterungen und Interpreta- warum ich für diesen Satz bin, daß man hoffen soll tionen — gewachsen; sie haben sich erhärtet. Wer und hoffen muß und beharrlich sein muß wie Wil- einmal genau nachliest, was auch in dieser Debatte helm der Schweiger, der ja aus den Siegerländer hier von seiten der Regierung gesagt worden ist, Wäldern kommt. Ich habe einmal von diesem Platz dem wird deutlich, wie sehr sich die Widersprüche aus — da haben Sie ein bißchen gelacht, das ist ja potenzieren, und zwar einmal die Widersprüche von schon zehn Jahre her, ich hoffe, Sie lachen heute der Regierung selbst und zum anderen dort, wo sie nicht den schönen Vers zitiert, der lautet: die Texte erläutert und wo ihre kommunistischen Partner die gleichen Texte und die gleichen Begriffe Drum mutig drein und nimmer bleich, ganz anders erläutern. denn Gott ist allenthalben, die Freiheit und das Himmelreich Unser erster Vorwurf an den Bundeskanzler — er gewinnen keine Halben. is nicht da, doch soll diese Rede eine Auseinander- setzung mit ihm und seiner Politik sein — ist, daß So ist es. er die Kontinuität der deutschen Politik durchbro- (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar- chen hat, daß seine Behauptung von den „beiden teien.) Staaten auf deutschem Boden" die bisherige Deutsch- landpolitik, die bisherige Ostpolitik aus den Angeln Präsident von Hassel: Das Wort hat der Abge- gehoben hat. (Beifall bei der CDU/CSU.) ordnete Dr. Marx. Damals ist mit der Regierungserklärung am 28. Ok- tober die Wende der deutschen Politik markiert Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) : Herr Prä- worden. Seither läuft der Kurs unserer Politik in sident! Meine Damen und Herren! Herr Außenmi- eine andere Richtung. nister, Sie haben eben Ihrem Fraktionskollegen glückwünschend die Hand geschüttelt. Der Bundeskanzler sagt, sie laufe auf den Frie- (Zuruf von der SPD: Wo denn?) den zu. Ich antworte: der Kurs der deutschen Politik läuft seit Ende des zweiten Weltkrieges auf Frieden — Hier, als Herr Achenbach eben dieses Pult ver- und Freiheit zu. ließ. Aber ich glaube, Herr Kollege Achenbach, (Beifall bei der CDU/CSU.) ich muß sagen, daß ich bei den vielen hundert Dis- kussionen über dieses so ernste und uns alle so — Sie, Herr Bundeskanzler, sagen, es sei Ihr bedrückende Thema selten eine Rede gehört habe, Wunsch, so wie es Adenauer im Westen gelungen (Zurufe von den Regierungsparteien) ist, jetzt mit dem Osten Ausgleich zu finden. Da ant- worten wir: dies ist unser gemeinsamer Wille. Aber die sich auszeichnete durch ein so hohes Maß an Ausgleich setzt voraus, daß beide Seiten ausgleichen Leichtfertigkeit und — entschuldigen Sie bitte — wollen, daß beide Seiten aufeinander zugehen wol- (Pfui-Rufe und Unruhe bei der SPD. — Bei len. Seit 1969 hat allerdings diese Bundesregierung fall bei der CDU/CSU.) begonnen, jene sowjetischen Forderungen Stück um Stück zu akzeptieren, durch die die Sowjet- Was Herr Kollege Achenbach hier zu weiten Tei- union ihre Art von Frieden ansteuert. len — indem er den Text, wie er sagte, interpre- tierte — vorgetragen hat, läßt mich erst begreifen, Ausgleich mit den Staaten des Ostens ist möglich warum der Text dieses Vertrages so ist, wie er ist, — davon sind wir überzeugt —, wenn zwischen wenn er in Moskau beraten hat. ihnen und uns auf der Basis der Menschenrechte — ich wiederhole: auf der Basis der Menschenrechte — (Beifall bei der CDU/CSU.) Vereinbarungen getroffen werden, bei denen Dauer- Herr Kollege Achenbach, man könnte hinzufügen: haftigkeit und friedliches Zusammenwirken die not- Vielleicht bekommen Sie dann auch noch einige wendig zu leistenden Opfer bald vergessen machen. 9860 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Dr. Marx (Kaiserslautern) Noch zur Zeit der Großen Koalition hat die So- Des Bundeskanzlers Emissär wurde nach Moskau wjetunion unsere auf Selbstbestimmung, Freiheit geschickt, ohne daß er eingehende, klare Weisun- und Wiedervereinigung ausgerichtete friedliche gen des verantwortlichen Kabinetts Politik wider besseres Wissen als „aggressiv" be- (Abg. Dr. Barzel: Hört! Hört!) zeichnet. Der Bundeskanzler rühmt sich heute, daß solche Diffamierungen seit seiner Moskauer Unter- über den Inhalt seiner Gespräche und Verhandlun- schrift weggefallen seien. Wir müssen ihn fragen, gen erhalten hatte. Jedenfalls ist diesem Hause, sei- ob er bedacht hat: Warum wohl? Die kommunisti- nen Ausschüssen und der Bevölkerung dieses Lan- schen Partner haben die Verträge als einen Sieg der des nichts davon gesagt worden. konsequenten Politik des sozialistischen Lagers be- (Zuruf von der CDU/CSU: Genauso ist es zeichnet. Sie haben darüber gespottet, daß man, wie leider!) sie sagen, „an den Ufern des Rheins" begonnen habe, „realistisch" zu sein, daß man die „aggressive" Die Experten des Auswärtigen Amtes waren weder Forderung — die „aggressive" Forderung! — nach gefragt noch unterrichtet, ja sogar die Mitglieder Selbstbestimmung, Freiheit, Menschenrecht und Ihres Kabinetts, Herr Bundeskanzler, wußten oft nur Wiedervereinigung aufgegeben habe. So versteht schemenhaft, was in ihrem eigenen Namen in man in der Sowjetunion die Verträge, und ich be- Moskau diskutiert wurde. daure, daß der Bundeskanzler gestern in seiner Er- (Abg. Dr. Barzel: Sie wissen es ja bis heute klärung einen Satz — neben anderen, aber diesen nicht!) zitiere ich — vorgetragen hat, der diese Interpreta- tion zu stützen scheint. Er sagte nämlich: — Es mag sein, Herr Barzel, daß es einige bis heute nicht wissen, und ich habe auch aus der Interpreta- Unser friedliches Streben nach deutscher Ein- tionsrede des Kollegen Achenbach — wenn ich das heit und europäischer Einigung wird durch diese mit einem etwas lustigen Unterton sagen darf — den Verträge dem Vorwurf der Friedensstörung Eindruck gewonnen, daß auch einer, der in Moskau entzogen. dabei war, nicht genau weiß, was dort ausgehandelt Mit anderen Worten: man glaubt nicht, daß wir alle worden ist. von einem Streben nach Frieden und Freiheit er- (Beifall bei der CDU/CSU.) füllt sind, sondern man nimmt an, daß man Verträge Als dann jener Vertragsentwurf ans Tageslicht dieser Art braucht, damit die andere Seite gnädig kam, den man Bahr-Papier zu nennen sich ange- bereit ist, uns zu glauben. wöhnt hat, war es für substantielle Änderungen zu (Beifall bei der CDU/CSU.) spät. Die sowjetische Konzeption hatte sich durch- gesetzt. Die Möglichkeiten für Sie, Herr Außen- Meine Damen und Herren, wir sagen Ihnen, was minister — geben Sie es doch zu —, waren gering, Zeitwahl, Ansatz und Durchführung dieser Art von Ihr Spielraum war allzu eng. Aber das entsprach Ostpolitik anlangt, daß sie auf einer verfehlten Ein- und entspricht auch heute noch den wahren Macht- schätzung des Gegners beruht, daß sie leichtfertig, verhältnissen in dieser Regierung, wo der Staats- daß sie abenteuerlich ist und daher von uns als un- sekretär des Kanzleramts, einzig gestützt auf das verantwortlich angesehen wird. Vertrauen seines Bundeskanzlers, die Dinge fertig macht und der Außenminister nur noch zu einer ge- (Abg. Mattick: Anmaßung!) wissen kosmetischen Behandlung aufgerufen wird. Wir sagen, daß damit die Erfüllung der sowjetischen (Beifall bei der CDU/CSU.) Wünsche, ihre Hegemonie über Europa zu stärken, erleichtert wird, und wir sehen auch die ersten Aus- Es ist auch ein einmaliger Vorgang in der moder- wirkungen, nämlich Angst, Unsicherheit und enorm nen Diplomatie, daß derjenige, der eine so weittra- gesteigerte kommunistische Aktivität im eigenen gende und verschlungene Politik erfunden und er- Land. dacht hat, über diese Politik als Diplomat selbst (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) verhandelt. Die notwendige Distanz zwischen der politischen Zentrale und dem Unterhändler gibt es Deshalb bekämpfen wir diese Politik. Ich füge hinzu: nicht mehr. war alles in einer Person. wir sind auch mißtrauisch, weil die Bundesregierung (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.) draußen und drinnen zu vielen Vorgängen, die diese Politik begleiten, nicht immer die Wahrheit gesagt Er war bei seiner und bei dieser Regierung politi- hat. schen Existenz dazu verdammt, das, was diese Re- (Beifall bei der CDU/CSU.) gierung „Erfolg" nennt, zu haben, ein Ergebnis aus- zuhandeln, und zwar rasch. Wir sind mißtrauisch, Herr Bundesaußenminister — ich spreche Sie jetzt einmal stellvertretend für (Zuruf von der SPD: Kommen Sie doch mal die ganze Regierung an —, weil für Sie oft das heute zum Thema!) Gesagte schon morgen nicht mehr gilt und weil Sie — Ich merke, daß es einigen, die dazwischenrufen, mit einem ärgerlichen Schulterzucken das abtun, was nicht paßt, daß man einmal die Methode, die hier Sie gestern noch feierlich in Ihren eigenen Fest- angewandt wurde, öffentlich und deutlich darlegt. reden verkündet haben. Aber daran kann uns niemand hindern. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9861

Dr. Marx (Kaiserslautern) Meine Damen und Herren, hören Sie bitte genau Dr. Marx (Kaiserslautern) (CDU/CSU) : Herr Kol- zu! Ich sage: da Egon Bahr dieses undurchsichtige lege Looft, ich glaube, daß das, was Sie in Ihrer Spiel selbst konzipiert hat, konnte er, als es ab- Frage ausdrücken, mit Ja beantwortet werden kann. geschlossen war, seine Absichten dem schließlich Das hat auch gestern schon hier in der Diskussion- erreichten Ergebnis anpassen. Er hüllte sich bei den eine Rolle gespielt. Es ist auch ganz schlüssig. Wenn Gesprächen in Moskau und auch hier in den Mantel ich z. B. sage des Geheimnisträgers, so, als ob es nicht um die (Zuruf von der SPD) wichtigsten, um die vitalsten Dinge unseres Volkes — ich gebe jetzt Antwort auf eine Frage —, daß ginge. Ich füge hinzu, daß man in den Zentralkomi- diese Regierung und jede andere Bundesregierung tees kommunistischer Parteien, ja, sogar in der Deut- hinsichtlich einer Feststellung der Oder-Neiße-Linie schen Kommunistischen Partei, alsbald besser über als polnischer Westgrenze gebunden seien und daß Egon Bahrs Geheimgespräche Bescheid wußte als bei dies erst verändert wird, wenn wir einen gesamt- den demokratisch gewählten Abgeordneten des deutschen Souverän haben, dann möchte ich den- Deutschen Bundestages. jenigen Polen sehen, der daraus für sich noch das (Beifall bei der CDU/CSU.) Politische vernünftig, gerecht ableitet, er solle da- für sorgen, daß es diesen gesamtdeutschen Souverän Dies kann niemand bestreiten, meine Damen und gibt. Herren. Dies weiß auch die Regierung, und sie soll (Abg. Looft meldet sich zu einer weiteren wissen, daß wir dies mit ihr als eine unerhöhrte Zwischenfrage.) Zumutung und Peinlichkeit empfinden. — Verzeihung, ich würde gern weitermachen, da (Beifall bei der CDU/CSU.) die Zeit eilt.

Die Vertreter der Regierung gaben einen ganzen Meine Damen und Herren, ich benutze die Gele- Schwall von halbwahren und unwahren Erläute- genheit gern, mich zu wiederholen, und ich hoffe rungen zu Inhalt und Bedeutung des Bahr-Papiers. sehr, daß das in Ihrem Gedächtnis bleibt. Ich sprach Sie nannten es einmal Gedankenskizze, mal Ge- von dem Bahr-Papier und ich sage: aus dem Gromy- sprächsnotiz, mal Protokollnotiz, mal Ergebnisproto- ko-Papier wurde das Bahr-Papier, aus dem Bahr-Pa- koll, mal Leitsätze, und sie sagten der Öffentlichkeit pier wurde der deutsch-sowjetische Vertrag und und dem Deutschen Bundestag — ich zitiere Sie, die Absichtserklärungen. Dieser Vertrag trägt also Herr Bundesaußenminister —, daß es „auf gar kei- die Handschrift der anderen Seite. Bis in den Wort- nen Fall Grundlage von vertraglichen Vereinbarun- laut, bis in die einzelnen Halbsätze hinein finden gen" sein könne. So Walter Scheel am 2. Juli 1970 wir — von Ihnen, Herr Bundeskanzler, und von im ZDF. Ihnen, Herr Außenminister, paraphiert — viele (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) jener Forderungen, die seit den Gipfelkonferenzen der kommunistischen Parteichefs in Bukarest 1966, Und doch, meine Damen und Herren, das Bahr- in Karlsbad April 1967 und dann -- nach der heim- Papier war nichts anderes, es ist nichts anderes als tückischen Okkupation der CSSR — im Frühjahr der Abklatsch jenes Gromyko-Papiers, das — Herr 1969 in Budapest als Forderungen an die Bundes- Bundesaußenminister, das werden Sie nicht bestrei- republik Deutschland formuliert worden sind. Die ten können; wenn Sie es wollen, sagen Sie es die- Bundesregierung, jedenfalls in ihr diejenigen, die sem Hause — im März 1970 durch Gromyko in die den Text kannten, hatten damals, als diese Erklä- Verhandlungen eingeführt wurde, und zwar als rungen im Ostblock vorgetragen wurden, gesagt, deren Version der vorhergehenden Besprechung. dies sei alles nicht akzeptabel. Jetzt ist es akzep- tiert, und die gleichen Leute nennen es einen Erfolg. Präsident von Hassel: Gestatten Sie eine Zwi- Ich muß auch sagen — ich wende mich wieder an schenfrage des Abgeordneten Looft? den Bundeskanzler —, daß mit enormen Steuer- geldern viele hundert Tonnen Papier bedruckt wor- den sind, um dem deutschen Volk die Erfolge von (CDU/CSU) : Herr Abgeordneter, ich er- Looft Moskau zu verkaufen. Aber die Schönschreiber der laube mir eine Frage. Hat nicht der FDP-Bundes Bundesregierung haben an der harten Wahrheit vor- vorsitzende und jetzige Bundesaußenminister Scheel beigeschrieben. Ihr und Ihrer Abgesandten „großer gestern erklärt, daß auf Grund der Verträge von Erfolg" bestand nämlich darin, die geforderten poli- der Bundesrepublik für die Dauer ihrer Existenz das tischen Gebühren der anderen Seite Stück um Stück Gebiet östlich der Oder-Neiße-Linie als polnisches zahlen zu müssen. Dafür trägt die Bundesregierung Staatsgebiet anzusehen sei, und hat er nicht gleich- die alleinige Verantwortung. zeitig erklärt, daß nur ein gesamtdeutscher Souve- rän frei sei, erneut über die Ostgrenzen zu sprechen Natürlich haben wir immer wieder gehört, daß und friedensvertragliche Regelungen darüber zu die Regierung sagt, der Vertrag sei ausgewogen, treffen? Werden nicht durch die Verträge und durch beide Seiten hätten gegeben. Aber diese Regierung die angeführten Erklärungen des deutschen Außen- hat bei sehr vielem Wortgeklingel immer unpräzise ministers die Sowjetunion und Polen geradezu ver- auf die Frage geantwortet, was die Sowjets nun anlaßt, der Wiedervereinigung Deutschlands und eigentlich an substantiellen Leistungen in dem der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes deutsch-sowjetischen Vertrag erbracht hätten. Ich des gesamtdeutschen Souveräns entgegenzuwirken sage Ihnen: Ich stelle diese Frage hier erneut, und und beides auf alle Zeiten zu verhindern? wir hoffen, daß die Regierung antwortet, aber nicht 9862 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Dr. Marx (Kaiserslautern) wie im Bundesrat, wo Sie, Herr Außenminister, die wickelt, sondern der Herr Bundeskanzler ist eher einzelnen, ganz hochgeschraubten, extremen sowje- bei frühen eigenen politischen Einsichten und Be- tischen Forderungen genannt haben. Es ist nicht Poli- kundungen, die hier vorliegen, geblieben. Ich sage: tik, damit zufrieden zu sein, daß ein anderer seine eine gewisse politische, nicht besonders durchformte- hochgeschraubten Forderungen ein wenig mäßigt, Ideologie, die aus Willy Brandts Artikeln und und sich dann vor den Bundestag zu stellen und zu Büchern der 30er, ja sogar noch der 40er Jahre, sagen: Seht her, das ist unser Erfolg! spricht, kehrt heute wieder in seine Gedanken ein. Wer sich mit den voluminösen Büchern und Samm- (Beifall bei der CDU/CSU.) lungen beschäftigt, die in den letzten Monaten mit Es gibt trotz der hilflosen Gebärde — viel- enormen Einsätzen staatlicher Gelder erschienen leicht kann ich Ihnen aufhelfen, Herr Außenmini- sind — wir hören gerade, daß ein neuer großer ster — eine Fülle von Widersprüchen, die Sie produ- Geldeinsatz von weit über 1 Million DM dafür ge- ziert haben. So sagt z. B. der Bundeskanzler, er be- leistet werden soll —, findet dort Gedanken, Inter- treibe eine Politik der Kontinuität. Herr Schröder views und Reden des Bundeskanzlers zusammen- hat gestern aber im einzelnen gesagt, was dazu gestellt. Lesen Sie das einmal nach, meine Damen auszuführen notwendig war. Aber Sie selbst ver- und Herren! Es gibt da manch Erstaunliches, und wenden doch gern die Formel von der Sackgasse. Sie werden auch auf kaum Faßbares stoßen. Da gibt Was denn nun? Einigen Sie sich doch in der Regie- es z. B. Zitate, die gibt es gar nicht mehr. Dann gibt rung! Kontinuität oder Sackgasse? Das müssen Sie es andere, die lasen sich früher anders. Ich muß sagen, wenn Sie über uns urteilen. schon sagen, der spätere Historiker, nämlich die- (Beifall bei der CDU/CSU.) jenigen, die nach der Maxime des Leopold von Ranke, handeln, zu „erzählen, wie es gewesen ist", Einerseits haben Ihre Propagandisten die Formel werden mit dem, was der Bundeskanzler wirklich erfunden — ich sage: die Primitivformel —: 20 Jahre in verschiedenen Zeiten gesagt hat und was er nichts getan! Andererseits urteilen Sie damit eine wirklich gemeint hat, ihre liebe Not haben. Politik ab, von der Sie heute sagen, sie sei die Basis (Beifall bei der CDU/CSU.) Ihrer eigenen Ostpolitik. Einerseits verkünden Sie urbi et orbi, es gebe kei- Sie müssen jedenfalls die strenge Methode klassi- nen Dissens, d. h. keinen Widerspruch, keine entge- scher Quellenkritik anwenden. Ich sage das als gengesetzte Auslegung in den wichtigsten Vertrags- einen Beitrag aus der Geschichtswissenschaft, da der Bundeskanzler uns gestern einen unvergeß- bestimmungen. Andererseits warnen Sie die Oppo- lichen Beitrag aus der Disziplin der Germanistik sition, sie solle sich unter keinen Umständen die hier vorgetragen hat. sowjetische oder polnische Interpretation zu eigen machen, weil das gegen die nationalen Belange ver- (Heiterkeit bei der CDU/CSU.) stoße. Also was denn? Gibt es den Dissens oder Meine Damen und Herren, vielleicht wird man- nicht? cher sagen, daß Opportunismus den Politiker aus- (Abg. Stücklen: So ist es!) zeichne oder Wetterwendischkeit oder ganz einfach Einerseits werden diejenigen als übelwollend ver- Schlauheit. Ich meinerseits wehre mich dagegen. leumdet und diffamiert, die nach subtiler Lektüre (Abg. Matthöfer: Einige Herren haben ihre der amtlichen sowjetischen Zeitungen fürchten, die Argumente seit 1936 nicht geändert!) Grenzfragen seien nicht mehr offen. Andererseits sagen Sie, Herr Außenminister — und zwar dann, — Herr Matthöfer, vielleicht gilt das für Sie! Ich Herr Kollege Scheel, wenn Sie so farbig die „gro- bin nicht entschieden; denken Sie darüber nach! Für ßen Erfolge" Ihrer Westpolitik schildern —, im mich und für viele auf allen Seiten dieses Hauses Westen gehe es nur deshalb voran, weil man keine ist Politik nicht fingerfertige Anpassung an die ungelösten Grenzprobleme mehr habe. Ja, was denn Macht, nicht taktische Routine und nicht behendes nun? Gibt es jetzt noch offene Grenzen, oder sind Managertum. das gelöste Grenzprobleme? Auch darauf erwarten (Zuruf des Abg. Matthöfer.) wir eine Antwort. Den wirklichen Politiker und den Staatsmann Einerseits verwenden Sie das bezeichnende Argu- (Abg. Dr. Eppler: Das sind Sie!) ment, es sei vor allem der Viermächtevorbehalt, der es uns unmöglich mache, die DDR völkerrecht- zeichnet aus, Herr Eppler, die Fähigkeit, konsequent lich anzuerkennen. Andererseits erklärt diese Re- und in seinen Aussagen verläßlich zu sein. gierung, sie erkenne trotz des Viermächtevorbehalts (Beifall bei der CDU/CSU.) die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens an. Auch hier wieder die Frage: was gilt eigentlich, Der Bundeskanzler hat einmal in einem Fernseh- was sind eigentlich die Prinzipien nach denen Sie interview erklärt — ich zitiere „Falls ich zum Bun- diese Politik machen? deskanzler gewählt werden sollte, wird es auf dem Gebiete der Außenpolitik zu keinen grundsätzlichen (Beifall bei der CDU/CSU.) Änderungen kommen." Zwei Jahre ist Man muß dem Bundeskanzler und denjenigen, die Bundeskanzler, und wie sehr hat sich entgegen die- dafür Verantwortung tragen, sagen, daß sie die ser Aussage die Szenerie der Außenpolitik gewan- deutsche Politik auf die Schaukel gesetzt haben. Sie delt. haben, Herr Bundeskanzler, nicht Adenauer, nicht (Abg. Dr. Apel Aber nur zu unserem Erhard, nicht Kiesinger fortgesetzt oder weiterent Vorteil!) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9863

Dr. Marx (Kaiserslautern) Manches, Herr Apel, auf das Sie heute stolz sind, Dasselbe geschah noch einmal auf der Krim, wo man haben Sie früher verabscheut. Manches, was Sie durch die Art und Weise der Einladung und durch heute unterschreiben und uns, der Fraktion der die Befolgung der Einladung, in der Ortswahl und im CDU/CSU zu akzeptieren zumuten, Kommuniqué mit Leonid Breschnew deutlich machte,- (Abg. Dr. Apel: Was Sie uns unterstellen, wie sehr sich dieses Land bereits im Sog sowjeti- Herr Marx!) scher Politik befindet. (Zuruf des Abg. Dr. Apel.) haben Sie selbst vor wenigen Jahren noch als ver- werflich bezeichnet. Ich füge hinzu, daß sich da sehr deutlich dargestellt (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Apel: hat, Herr Apel, wie sehr diese Ostpolitik zu einem Eine Aneinanderreihung von Unterstellun Instrument der sowjetischen Westpolitik geworden gen!) ist. (Beifall hei der CDU/CSU.) Meine Damen und Herren, ich erinnere aus der un- erhörten Vielzahl von Zitaten, die es gibt, daran, daß Herr Bundesaußenminister, vor der Bundestags- der Bundeskanzler einmal in West-Berlin am wahl exakt — — 23. März 1962 auf die Frage einer Schülerin sagte: (Zuruf des Bundesministers Scheel.) „Herr Gomulka hat im vergangenen Herbst der Er- richtung der Mauer zugestimmt. Warum sollten wir Der Bundesaußenminister zuckt mit den Schultern. ihm als Quittung dafür den Verzicht auf Ostdeutsch- Ich komme auf das Schulterzucken noch zurück. land anbieten?" Der Bundeskanzler und Sie alle ha- (Abg. Dr. Apel: Das sind üble Unterstel ben sich doch viele Jahre hindurch mit guten Grün- lungen!) den geweigert, auf die politischen Vorstellungen der Sowjets einzugehen. Als es hier um die Grund- Im übrigen kenne ich eigentlich nicht Zwischenrufe von der fragen ging, waren wir doch alle einig. Heute aber Regierungsbank, normalerweise erfolgt es aus dem Plenum des Bundestages. kommen Sie und sagen: Dies alles war eine sterile Politik. Sie weisen mit den Fingern auf uns und (Beifall bei der CDU/CSU.) möchten gerne, daß Ihre eigenen Darlegungen von Aber bitte, Herr Bundesaußenminister, antworten damals unter den Tisch fallen, daß nicht darüber Sie doch! Ich sage: Vor der Bundestagswahl geredet wird. am 7. Februar 1969 — haben Sie in der Zeitschrift (Beifall bei der CDU/CSU.) „publik" erklärt — ich zitiere —: Meine Damen und Herren, das ist genauso wie bei Wir haben mit Polen -- das zeigt schon ein denjenigen, die nach der Bundestagswahl den Ein- Blick auf die Landkarte — gar keine Grenze ... druck erwecken, sie hätten vor den Bundestagswah- len immer schon das gleiche gesagt, was sie jetzt (Bundesminister Scheel: So ist es!) sagen, und sie hätten damals der Bevölkerung ange- Wir können naturgemäß mit Polen nicht über kündigt, was sie jetzt tun. eine Grenze reden, ... — —

Die Sozialdemokraten und wir — es ist gestern Sie haben doch eben gesagt: So ist es! Warum schon einmal zitiert worden haben am 26. Sep- sagen Sie jetzt nicht: So ist es!? tember 1968 hier in diesem Saale in einer Erklärung (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf des formuliert: Bundesministers Scheel.) Die Anerkennung des anderen Teils Deutsch- lands als ... zweiter souveräner Staat deutscher Ich zitiere weiter: Nation kommt nicht in Betracht. ... die die DDR — und nicht die Bundesrepublik Der Bundeskanzler selbst hat — vor welch lange zu- — mit Polen hat. rückliegender Zeit, könnte man jetzt sagen, nämlich Anfang der 60er Jahre — gesagt -- wörtlich —: Sie fügten hinzu: Wir müssen uns davor hüten, in der Bundes Über die Oder-Neiße-Linie kann nur dann gere- republik in Gedanken die Zweistaatentheorie zu det werden, wenn Friedensverhandlungen an- vollziehen, die uns die Sowjets einreden wollen. stehen .. . (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) Nach der Wahl stellt der gleiche Bundeskanzler in An einer späteren Stelle sagen Sie: seiner ersten Regierungserklärung — man muß Es wäre höchst unlogisch, ... — — auch hinzufügen: ohne Konsultierung der Verbünde- ten -- fest, es gebe zwei Staaten auf deutschem Ich gebe zu, Sie haben einmal einen Zwischenruf Boden. Im Kasseler Gespräch mit Willi Stoph ist das, gemacht, wo Sie sagten, die Politik sei unlogisch! was man die Souveränität der DDR nennt, bestä- Sie sagten: tigt worden. Ebenso hat Egon Bahr dies in den ominösen Absichtserklärungen getan, und jeder, der Es wäre höchst unlogisch, wenn jemand, der den Moskauer Vertrag liest und darüber spricht, den Alleinvertretungsanspruch ablehnt, schon sollte natürlich --- das gilt auch für Herrn Achen- vorher über eine Grenze sprechen würde. bach — die Absichtserklärungen, die interessanter- (Bundesminister Scheel: Das ist richtig! — weise jetzt nicht mit vorgelegt worden sind, lesen. Lachen bei der CDU/CSU.) 9864 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Dr. Marx (Kaiserslautern) Nach der Wahl haben Sie — sowohl gestern im Jedes demokratisch gewählte Parlament wird Bundestag als auch vor einigen Tagen im Bundesrat eine solche Zumutung mit erdrückender Mehr- — erklärt — ich zitiere —: heit ablehnen. - Für die Vertragsparteien reichte jedoch die (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Übereinstimmung über die im Vertrag nieder- gelegte Feststellung, daß nämlich die Oder- Meine Kollegen von der SPD, Sie haben im Jahre Neiße-Linie die polnische Westgrenze bildet, 1968, sozusagen zum Auftakt des Wahlkampfes, Ihre aus. „sozialdemokratischen Perspektiven" formuliert. Dort sagten Sie: Sie haben hinzugefügt, was ich vorhin schon einmal Wir wissen uns verpflichtet, für die Selbstbe- andeutete, daß dies jede künftige Bundesregierung stimmung der Deutschen in der DDR einzutre- bindet. ten. (Bundesminister Scheel: Ja!) Nach der Bundestagwahl wird in den von beiden Der Herr Bundeskanzler hat vor der Bundestags- Seiten paraphierten deutsch-sowjetischen Absichts- wahl, und zwar in seinem Buch „Koexistenz — erklärungen folgenschwer festgestellt, daß die Be- Zwang zum Wagnis", gesagt — auch hier zitiere ziehungen — ich zitiere — ich zwischen beiden Staaten Deutschlands ... auf (Zuruf des Bundesministers Scheel.) der Grundlage der vollen Gleichberechtigung, der Nichtdiskriminierung, der Achtung der Un- Es ist unsinnig ..., abhängigkeit und der Selbständigkeit zu gestal- — sagt der Bundeskanzler — ten ausgerechnet von der Bundesrepublik zu er- seien. Warum, so frage ich, hat der Bundeskanzler warten, daß sie die Oder-Neiße-Linie aner- dieses Landes nach den Wahlen eine andere Politik kennen soll ... betrieben, als er es vor den Wahlen mit seinen (Beifall bei der CDU/CSU. — Bundesmi Freunden der Bevölkerung dieses Landes verspro- nister Scheel: Ja natürlich!) chen hat? (Beifall bei der CDU/CSU.) Das würde doch bedeuten, daß sie die Grenze Wer hat sich geändert? Was hat sich verändert? Die zwischen anderen Staaten anerkennen soll, also sowjetische Politik? Das Politbüro der SED? Oder etwa wie die Grenze zwischen Österreich und hat sich der Bundeskanzler geändert? Italien oder die zwischen Norwegen und Schwe- den ... (Zuruf von der SPD: Die Zeiten!)

Nach der Bundestagswahl hat der Bundeskanzler im Meine Damen und Herren, wie können Sie, so deutsch-sowjetischen Vertrag — ich sage: als dem frage ich mich, für eine Politik, die gegen Ihre eige- übergeordneten, dem bevorrechtigten, dem völker- nen Erklärungen gemacht worden ist, die Sie gegen rechtlich verbindlichen Vertrag — die Festellung ge- uns und ohne uns gemacht haben, von uns Zustim- troffen, daß die Oder-Neiße-Linie die Westgrenze mung verlangen? der Volksrepublik Polen bildet. Er hat dann ge- Und was, so fragen wir, ist eigentlich mit dem sagt, daß alle Grenzen in Europa — hier hatte er Gewaltverzicht mitten in Deutschland und in Berlin? sich gerade noch dagegen gewehrt, die Grenzen an- Egon Bahr hat erklärt, daß in Moskau über Berlin derer Leute anzuerkennen — heute und künftig un- nicht verhandelt werden konnte. Der Bundesaußen- verletzlich, unerschütterlich seien. minister sagte auf Seite 10 der uns gestern zuge- (Bundesminster Scheel: Ja und? — Abg. Dr. leiteten Rede: Eppler: Sind Sie anderer Meinung?) Außerdem ist auch Berlin in den Gewaltverzicht durch die Verpflichtung beider Partner einbe- Diesen Vertrag legen Sie uns, meine Damen und zogen, sich in Fragen, die die Sicherheit in Herren, heute vor. Sie verlangen von uns eine Zu- Europa berühren, der Drohung mit Gewalt oder stimmung. Wir aber erinnern Sie an den Satz eines der Anwendung von Gewalt zu enthalten. Mannes — ich spreche jetzt zu den Kollegen der SPD —, dessen Bild in Ihrem Fraktionszimmer Also, Egon Bahr hat gesagt: In Moskau konnte über hängt. Kurt Schumacher hat am 9. Oktober 1951 in Berlin nicht verhandelt werden; Gewaltverzicht für Hamburg erklärt — ich zitiere —: Berlin hätte daher in einem eigenen Vertrag zwischen den Vier Mächten ausgehandelt werden müssen. Und dies sei geschehen. Die Anerkennung — es kann sein, daß das einigen nicht paßt; ich Nehmen wir aber einmal das Viermächteabkom- merke es, ich höre es; trotzdem zitiere ich ihn — men zur Hand und prüfen dort in Abschnitt I 2 nach! Dort steht wörtlich — ich zitiere —: der Oder-Neiße-Linie wird nicht vorgenommen werden. Unter Berücksichtigung ihrer Verpflichtungen nach der Charta der Vereinten Nationen stim- Und Kurt Schumacher fügte hinzu und ich würde men die vier Regierungen darin überein, daß hoffen, daß es seinen Freunden in den Ohren in diesem Gebiet keine Anwendung oder An- klingt —: drohung von Gewalt erfolgt odere daß Streitig- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9865 Dr. Marx (Kaiserslautern) keiten ausschließlich mit. friedlichen Mitteln ben hat, abhebt. — eine Zweideutigkeit, Herr Bun- beizulegen sind. desaußenminister. Sie sagen, wenn man den Satz Ich gebe zu, wir, die CDU/CSU, glaubten damals für genau liest: Es könnte sein, daß es einen Dissens einen Augenblick, es sei tatsächlich gelungen, gibt; aber der ist nicht so, daß wir noch einmal neu.- Schießbefehl und Minenfelder in Berlin wegzuräu- verhandeln. — Darum geht es eigentlich und ging es men. Aber wir wurden dann schmerzlich — Herr gestern in der Frage von Herrn Schröder, als er das Gromyko sagt, es sei schmerzlich —, w i r wurden Thema der Zeitwahl und der Verhandlungsmethode schmerzlich eines Schlechtern belehrt, nämlich, daß ansprach. Sie haben eine Methode gewählt, die der dies nicht bedeutet Gewaltverzicht in Berlin, son- anderen Seite die Möglichkeit bietet, mit Hände- dern daß dies bedeutet, die vier vertragschließenden reiben zu sagen: Türen zu! Mit uns, mit dieser Re- Parteien hätten untereinander und für sich auf Ge- gierung darüber jetzt nicht mehr. Das ist das eigent- waltanwendung in Berlin verzichtet. Und es heißt lich Schlimme, das ist das eigentlich schwerwiegende dort nicht: Berlin, es heißt: in dem betreffenden Versäumnis, das ist diese schlecht angelegte und Gebiet. durchgeführte Diplomatie. (Beifall bei der CDU/CSU.) Das alles, meine Damen und Herren, bedeutet, wenn man die Augen vor den wirklichen Proportio- Meine Damen und Herren, es wird an vielen Stel- nen all der vielen Vereinbarungen, Verträge, Ab- len gesagt: „kein Dissens" ; an anderen wird gesagt, kommen, Abreden und Nebenabreden nicht ver- es sei doch „alles völlig klar". Der Bundesaußen- schließen will, minister sagt im Bundesrat — und er tut es in der (Abg. Sieglerschmidt: Sie verschließen die Form des Ausrufes —: Wo steht denn das? Insoweit Augen vor der Wirklichkeit!) erkenne ich durchaus die Verwandtschaft zwischen Herrn Außenminister Scheel und Herrn Achenbach. daß ein tatsächlicher, für uns abstrakter Gewaltver- Er guckt nur auf einen sehr positivistisch und sehr zicht fixiert wird, in den die Erfüllung der sowjeti- oberflächlich verstandenen Text des Vertrages. Es schen Forderungen eingekleidet ist, daß aber der wird aber dann an anderen Stellen auch eingeräumt, konkrete, uns, Herr Metzger, unmittelbar betref- es könne ja auch Mehrdeutigkeit in entscheidenden fende Gewaltverzicht, nämlich der hier mitten in Begriffen geben, und dann wird gesagt: Na gut, die Deutschland, nicht erreicht worden ist. Ich sage Kommunisten haben es eben so an sich, daß sie bei Ihnen: Gewaltverzicht trotz Gewaltanwendung in vielen Dingen das Gegenteil verstehen. Entscheidend unserem eigenen Lande, das ist unerträglich. sei, daß die Anwendung der Begriffe auf der eigenen (Beifall bei der CDU/CSU.) Seite „gut abgesichert" sei. Meine Damen und Herren, man kann sagen: wir Diese Beruhigung ist oberflächlich. Herr Bundes- haben Gewaltverzicht mit der Sowjetunion. Ich muß außenminister, sie wird der Tatsache nicht gerecht, sagen, jeder weiß, daß, wenn an der Zonengrenze daß die sowjetische Seite über jenes Übermaß an oder an der Sektorengrenze geschossen wird, dies Macht verfügt, das sie, wann immer sie will, wann nicht ohne Duldung und Billigung der Sowjetunion immer sie es im Kalkül ihrer Politik haben will, geschieht. (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Sehr gut!) (Beifall bei der CDU/CSU.) ihrer Interpretation Nachdruck verschafft, das sie Ich wiederhole, was Herr Barzel gestern sagte: in die Lage versetzt, sie durchzusetzen. Wer sich dieses Vertragswerk ansieht, kommt zu dem Ergebnis: die sowjetischen Interessen sind ge- Es ist für mich mehr als fraglich, ob unsere Bünd- regelt, die deutschen sind im Nebel der Erwartun- nispartner ihre Verpflichtungen auch auf Verträge gen und Hoffnungen untergetaucht, — die deutschen, ausdehnen, die sie nicht unterzeichnet und deren Herr Kollege Franke, soweit man dieses Wort so gefährliche Mehrdeutigkeit sie nicht zu vertreten noch anwenden kann. haben. — Das ist meine im Ton der Sorge und der Befürchtung vorgetragene Antwort, Herr Bundes- In unserer Großen Anfrage, meine Damen und außenminister, auf Ihre Mitteilung, dies alles müsse Herren, haben wir auf die sehr ernste Situation auf- nur eben „gut abgesichert" sein. merksam gemacht, die sich aus dem ganz unter- Wir fragen danach, wie die Sowjetunion die Ver- schiedlichen Verständnis der Verträge in Moskau träge versteht und wie die Sowjetunion sie auslegen und in Bonn ergibt. Die Bundesregierung hat zu- will. Wir fragen nicht deshalb — auch dies ist eine nächst abgestritten, daß es einen Dissens, einen Antwort, Herr Kollege Achenbach —, weil wir die Widerspruch gebe. In der Antwort auf unsere Große Vorstellungen der Sowjetunion übernehmen möch- Anfrage sagt sie — ich zitiere —: ten; dies ganz gewiß nicht. Aber die Fraktion der Über die Auslegung der Verträge . . . besteht CDU/CSU empfindet es als ihre erstrangige Pflicht, zwischen den Vertragspartnern kein Dissens, als ihre politische Pflicht, sich darum zu kümmern, der die Bundesregierung veranlassen könnte, in was der Verhandlungs- und Vertragspartner sagt, erneute Verhandlungen . . . einzutreten. welches besondere Interesse eigentlich die große Was soll dieser Satz? Entweder kein Dissens, dann Sowjetmacht an diesem Vertrag hat und wie sie ihn ist das objektiv falsch; oder es ist — wenn ich nicht in ihre ideologische und imperialistische Politik ein- „Irreführung" sagen will, so deshalb, weil sich die ordnet. Antwort auf die Große Anfrage im Ton wohltuend Mir scheint oft — und das ist an diesem Tage noch von früheren Antworten, die die Regierung gege einmal deutlicher geworden —, daß wir in der CDU/ 9866 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Dr. Marx (Kaiserslautern) CSU die Politik der Sowjetunion ernster nehmen als bei dieser Debatte vor diesem Hause erklärte, daß die Regierung. Wir hören nämlich genau zu, was die durch diesen Vertrag die Demarkationslinie nicht als Verantwortlichen in Moskau sagen, weil wir wis- Grenze mitten durch Deutschland völkerrechtlich bin- sen — — dend akzeptiert worden ist, wenn er erklärte,- daß er das Recht auf Selbstbestimmung auch für die (Lachen bei den Regierungsparteien — Zu 17 Millionen drüben zu fordern nicht aufhören wird, ruf des Abg. Mattick) daß er nicht bereit ist, die Hand für die Aufnahme — Herr Mattick, Sie haben vielleicht die Rede von der totalitären DDR in die UN zu leihen, wenn in Herrn Brosio vor der Deutschen Gesellschaft für diesem Staate DDR nicht die Menschenrechte herge- Auswärtige Politik gehört, in der er an ein Gespräch stellt werden. mit Herrn Togliatti erinnerte, bevor er Botschafter in (Beifall bei der CDU/CSU.) Moskau wurde. Und es wäre gut, wenn der Bundeskanzler hier (Erneuter Zuruf des Abg. Mattick.) erklärte, daß die von den Sowjets so sehr geschätz- Und er hat gesagt: Herr Togliatti hat mir damals ten Rechtstitel für uns nicht ein juristischer Schnick- erklärt: Hören Sie und lesen Sie immer genau, was schnack sind, die kommunistischen Genossen in Moskau sagen, (Zuruf von der CDU/CSU: Ja!) denn wir Kommunisten sagen offen und klar unsere wenn er endlich begreifen würde, daß Rechtstitel ein Meinung. — Deshalb habe ich das hier eingeführt. wichtiger Teil politischer und moralischer Macht Meine Damen und Herren, wir sind nicht bereit, sind. einen Vertrag zu unterschreiben und zugleich mit (Beifall bei der CDU/CSU.) nervös suchenden Fingern danach zu suchen, wie Es wäre gut, wenn hier erklärt würde, daß das man ihn umgehen könne. Dieser Vertrag ist wie je- Grundgesetz uns alle verbindlich auffordert, stell- der Vertrag für uns eine sehr ernste Sache. Deshalb vertretend für alle Deutschen zu handeln, daß die- möchten wir vorher wissen, was er enthält, möchten ses Grundgesetz uns verpflichtet, die Menschen drü- vorher die Verpflichtungen der Regierung kennen. ben — ich bediene mich nicht meiner Vokabel, son- (Beifall bei der CDU/CSU.) dern der Worte derer, die ich jetzt anspreche — Wir legen großen Wert darauf, Verträge, ihren In- nicht „abzuschreiben", und daß sie nicht der so- halt, ihre Begleitumstände und ihre Konsequenzen genannten Souveränität jener Leute überantwortet genau zu verstehen, und deshalb -- nicht weil wir, werden, die der Bundeskanzler selbst vor nicht all- wie Sie, Herr Außenminister, im Bundesrat gesagt zu langer Zeit — ich zitiere — „Kerkermeister un- haben, monoman Fragen stellen wollten —, weil wir seres Volkes" und „blutbesudelte Schergen" genannt dies wissen wollen und weil Sie auf die meisten hat. Fragen bisher keine wirkliche Antwort gegeben ha- (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) ben, sind wir so hartnäckig mit unseren Fragen. Wenn der Bundeskanzler dies alles sagt und Dabei ist es — und das ist vorhin auch angeklun- wenn er es so meint und seine Politik darauf auf- gen — eine der wichtigsten und vordringlichsten baut, kann er mithelfen — es ist doch so —, die Fragen: Handelt es sich um einen Modus vivendi, tiefe Kluft, die diese seine Politik in diesem Hause also um eine Abmachung auf eine überschaubare und draußen im Volke aufgerissen hat — Herr Zeit, um eine vorläufige Regelung, oder handelt es Wehner, ich bediene mich eines Wortes von sich um etwas Endgültiges? In zahllosen Erklärun- Ihnen —, wieder zuzuschütten. gen haben die amtlichen Organe der kommunisti- Herr Bundeskanzler und Herr Bundesaußenmini- schen Parteien des Ostblocks festgestellt, jetzt sei ster, Sie müssen hier und heute oder morgen der Schlußstrich gezogen, die Sache sei endgültig. Der Bundeskanzler selbst hat das Bild von dem (Zuruf von der FDP) Blatt gebraucht, das im Buch der Geschichte neu auf- — ja, es ist schon nötig —, um aus den tausend ge- geschlagen worden sei. Und doch haben er und sein gensätzlichen Deutungen heraus die Problematik zu Außenminister erklärt, alle wichtigen Fragen seien klären, sagen, was eigentlich mit dem „Brief zur weiterhin offen, z. B. die Festlegung der Ostgrenze deutschen Einheit" ist. Dieser Brief, dem die Bundes- — denn dies sei ja nur eine Beschreibung — oder regierung in ihrer Argumentation eine zentrale oder die Wiedervereinigung. prinzipielle Bedeutung zumißt, wurde nach der Un- terzeichnung in Moskau vom Außenminister an sei- Der Bundeskanzler hat gesagt, er habe in Moskau nen sowjetischen Kollegen, Herrn Gromyko, gerich- das Selbstbestimmungsrecht gefordert und die völ- tet. Es ist ein einseitiger Brief. Die Sowjets weiger- kerrechtliche Anerkennung der DDR verweigert; ten sich, seinen im Vergleich zu dem, was man hier Moskau wisse das alles und habe es akzeptiert. zitiert hat, nämlich den Adenauer-Brief, ohnehin Aber dann frage ich: warum steht von all dem in dünnen Inhalt in den Vertrag aufzunehmen. diesen Verträgen kein einziges Wort? Ich darf mich noch einmal der Großen Anfrage (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) zuwenden, Herr Bundesaußenminister. Da haben Sie Es wäre gut, meine Damen und Herren, wenn auf auf unsere Frage 1 und 1 a eine Antwort gegeben. diese entscheidenden Fragen vor dem Deutschen Ich nehme an, es ist eine Summe von Druckfehlern. Bundestag klar und nicht doppelbödig geantwortet Ich kann nicht annehmen, daß Sie dies absichtlich so würde. Es wäre gut, wenn der Herr Bundeskanzler gemacht haben, denn Sie sagen in dieser Antwort: Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9867

Dr. Marx (Kaiserslautern) Der sowjetischen Regierung ist die Auffassung Diese Frage ist die nächste, Herr Kollege Stück- der Bundesregierung bekannt, daß das deut- len. -- Wenn es so war, wie Sie gestern und in den sche Volk ein unveräußerliches Recht auf Selbst- Tagen vorher gesagt haben, warum war es so bestimmung besitzt ... schwer, ihn in den Vertrag aufzunehmen, und- wie Von diesem Recht steht im Briefe nichts. lautete die Argumentation Ihres sowjetischen Part- ners, die die Aufnahme in den Vertrag verhinderte? (Abg. Dr. Barzel: Hört! Hört!) Wir möchten auch gern wissen: Ist dieser Brief Da sagen Sie, daß dieser Vertrag nicht in Wider- — Sie legen ihn uns hier als Teil des Vertrags- spruch zum politischen Ziel steht. Dies ist in der werkes vor — eigentlich in der Sowjetunion ver- Tat ein gravierender Unterschied. öffentlicht worden? Herr Bundesaußenminister, war, (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf des als die sowjetische Regierung das Vertragswerk vor Abg. Sieglerschmidt.) wenigen Tagen dem Präsidium des Obersten So- Im übrigen oder notabene, Herr Sieglerschmidt, an wjets zur Ratifikation zugeleitet hat, dieser Brief der Behandlung dieses Briefes durch die Sowjets zur deutschen Einheit mit dabei? Bitte sagen Sie kann man sehen, was eine konsequente sowjetische uns „ja" oder „nein". Politik ist, durch die Moskau seine eigenen Inter- (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) essen schützt und die unseren, ich würde sagen, in etwas Unverbindliches verweist. Falls er — ich sage das vorbeugend nicht dabei- gewesen sein sollte, schiebe ich sofort die Frage In den Zeitungen hat es gestern Mitteilungen ge- nach: Warum haben Sie dann nicht dagegen pro- geben, wozu ich gerne etwas wüßte: Ist es wahr, testiert? Herr Bundesaußenminister, daß der sowjetische Außenminister bei Ihren Gesprächen, als Sie auf (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Strauß: das Thema der deutschen Selbstbestimmung zu spre- Ist er jetzt bereit, es zu verlangen, wenn chen kamen, gesagt hat, jetzt höre er mal weg? es nicht so ist?) (Abg. Dr. Barzel: Hört! Hört! — Zuruf des Was in aller Welt will diese Bundesregierung mit Abg. Mattick.) einem Brief, den die eine Seite als Vertragswerk versteht, die andere nicht, von dem die Bundesregie- — Das war nicht die Bild-Zeitung. Es könnte aber rung sagt, er sei sehr wichtig, von dem sowjetische durch eine klare Erklärung des Bundesaußenmini- Diplomaten einer Reihe von Kollegen in diesem sters deutlich gemacht werden, ob dies so war und, Hause — auch mir gesagt haben, sie kennten ihn wenn es so war, wie er darauf geantwortet hat. gar nicht; im sowjetischen Außenamt gingen täglich (Beifall bei der CDU/CSU.) Tausende von Briefen ein, man könne nicht jeden lesen. Meine Damen und Herren, was diesen Brief an- (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Das ist solide langt, so wünscht die Fraktion der CDU/CSU, Herr Außenpolitik! — Weiterer Zuruf von der Bundesaußenminister, daß Sie auf folgende Fragen CDU/CSU: Unerhört!) klare Antworten geben, weil das für uns alles noch sehr unklar ist: Meine Damen und Herren, wie eigentlich will man — hier paßt das Wort — zu einer solchen Art 1. Hat die Sowjetunion in der Sache — ich sage: von Manipulation schweigen? Die Bundesregierung in der Sache, weil wir den Verbalismus, der hier sagt, es gebe keinen Dissens. Ich sage Ihnen: der getrieben wird, langsam satt haben — das Recht entscheidende Dissens liegt offenbar schon in der aller Deutschen auf Selbstbestimmung anerkannt? Frage, was eigentlich zum Vertragswerk gehört, Wenn ja, wo und durch wen? was in Moskau und was in Bonn zur Ratifikation 2. Wir möchten wissen, ob sie den Brief zur vorgelegt werden soll. Sie werden doch zugeben deutschen Einheit und Selbstbestimmung angenom- — und ich bitte Sie zuzustimmen, Herr Außenmini- men oder ob sie ihn nur empfangen hat. ster —: Dies ist unerträglich für jeden frei gewähl- 3. Wir möchten wissen: Wer hat seinen Empfang ten Abgeordneten, der hier seine Pflicht zu erfül- bestätigt? Da gibt es verschiedene Versionen. War len hat. dies der Chef des Archivs im sowjetischen Auswär- (Anhaltender lebhafter Beifall bei der tigen Amt oder wer anders? Und warum eigentlich, CDU/CSU.) Herr Bundesaußenminister — Sie haben diesen Brief, wie Sie gestern diesem Hause vorgelesen Meine Damen und Herren, ich wäre dankbar, wenn haben, an den Außenminister der UdSSR addressiert der Bundeskanzler bei Gelegenheit — wenn es geht, — hat nicht der Adressat des Briefes den Brief be- noch in dieser Debatte — erklärte, antwortet? (Abg. Franke [Osnabrück]:: Und dieser De (Beifall bei der CDU/CSU.) batte beiwohnen würde!) Der Inhalt dieses Briefes, Selbstbestimmung für alle was der folgende Satz auf Seite 2 seiner gestrigen Deutschen, ist uns wichtig genug, daß der so- Darlegungen bedeutet — ich zitiere —: wjetische Außenminister zumindest bestätigt, er Das in der Charta der Vereinten Nationen habe ihn zur Kenntnis genommen und ihm nicht niedergelegte Recht auf Selbstbestimmung muß widersprochen. im geschichtlichen Prozeß auch den Deutschen (Abg. Stücklen: Warum nicht im Vertrag?) zustehen. 9868 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Dr. Marx (Kaiserslautern) Ich frage: Was glaubt eigentlich der Bundeskanzler wissermaßen souveräne Staaten auf deutschem dieses Landes diesem Bundestag und der Bevölke- Boden ihre anerkannte Existenz beginnen. ... rung in einem solchen unerhörten Satz zumuten - zu können? Der Bundeskanzler fährt fort: (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) Die Forderung nach Wiedervereinigung wird zum Revanchismus erklärt werden. Und wir Meine Freunde, das Selbstbestimmungsrecht steht werden, wenn wir unsere Landsleute nicht ver- uns nicht im Laufe eines geschichtlichen Prozesses raten wollen, jedenfalls Revisionisten sein zu, sondern es steht jedem von uns zu, auch denen, müssen. die jetzt drüben in der DDR zuhören. (Anhaltender lebhafter Beifall und Bravo- Der Bundeskanzler fährt fort: Rufe bei der CDU/CSU. — Zurufe von der Ich sage es in allem Ernst: das Schicksal der SPD: Wie haben Sie es denn durchgesetzt! Demokratie in Deutschland hängt davon ab, daß — Großmäulerei! — Abg. Mattick: Damals die Demokraten in dieser Situation nicht ver- habt ihr uns in Berlin hängenlassen! — sagen. Weitere Zurufe von der SPD und Gegen- (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von rufe von der CDU/CSU. — Große Unruhe.) der SPD.) Meine Damen und Herren, es gibt noch eine wei- Nach diesen, wie ich glaube, sehr ernsten Worten tere Frage, die zu stellen mich niemand hindern hat der Bundeskanzler hinzugefügt — — kann: Was bedeuten eigentlich die Absichtserklä- rungen, d. h. die Punkte 5 bis 10 des Bahr-Papiers? (Zurufe des Abg. Mattick.) Die Bundesregierung sagt, sie seien nicht Teil des — Sie sollten nicht den Versuch machen, zu stören, Vertragswerkes. Ich habe hier die Broschüre des wenn ich vorlesen will, was der Bundeskanzler, Ihr Presse- und Informationsamtes der Bundesregie- Parteivorsitzender, früher gesagt hat; es sei denn, rung. Unter „I. Das Vertragswerk" steht dort „Bahr- es ist Ihnen peinlich. Papier". Frage an die Regierung: Ist das Bahr- Papier nun ein Teil des Vertragswerkes, ja oder (Beifall bei der CDU/CSU.) nein? Ich zitiere weiter. Er sagte: (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf des Abg. Mattick.) Bei dem heutigen Vorstoß der Sowjetunion geht es ... darum, daß dem deutschen Volk und — Herr Mattick, Sie haben Ihre Redezeit bereits damit einem Verbündeten des Westens mora- I konsumiert. lisch das Kreuz gebrochen werden soll. Ein der- Herr Bundesaußenminister, ich möchte wissen, ob artiges Teilungsdiktat diese Absichtserklärungen für Sie die „vereinbarte (Abg. Dr. Eppler: Das war die Berlin- Grundlage des künftigen politischen Handelns" und Krise!) ob sie auf Treu und Glauben zu betrachten sind und, wenn ja, was dies dann in Ihrer Darlegung ist für Deutschland unannehmbar. Wir können bedeutet. Uns ist das alles nicht klar. Niemals ist und dürfen uns damit auch nicht abfinden. klar gesagt worden, wie man diese Absichtserklä- Der Bundeskanzler schließt diesen Teil, den ich rungen anwendet. Wir möchten daher die Bundes- vorlese: regierung bitten, uns — wenn es für sie klar ist — die zusätzliche Antwort zu geben, wie die Sowjet- Man kann einem Volk, union diese Absichtserklärungen, die ja beide Sei- (Zuruf von der SPD: Herr Marx, wie ten gegenseitig ausgetauscht haben und in denen lange wollen Sie noch zitieren?) ja auch für das Schicksal unseres Landes entschei- dende Festlegungen getroffen worden sind, eigent- wie wir es in den letzten Jahren erlebt haben, lich versteht. Also: Gibt es in dieser Frage, Herr eine Teilung auferlegen, man kann es aber nicht Bundesaußenminister, auch einen Dissens oder gibt auch dazu bringen, sie zu akzeptieren ... es Übereinstimmung? Wenn ja, wie sieht das aus? (Beifall bei der CDU/CSU.)

Der Herr Bundeskanzler hat in früheren Jahren Der Satz geht noch weiter. Er heißt dann: — es ist jetzt zehn Jahre her — in einem sehr be- . . . sich mit ihr abzufinden und sie zu unter- Stoßrichtung der sowje- eindruckenden Aufsatz die schreiben. tischen Politik gekennzeichnet. Er sagte, sie richte sich gegen Deutschland. Und dann heißt es: (Abg. Dr. Barzel: Aha!) Das Ergebnis würde nicht dem Frieden dienen. Und der Bundeskanzler fügte dann hinzu — ich (Hört! Hört! und lebhafter Beifall bei der zitiere den jetzigen Bundeskanzler —: CDU/CSU.) ... die Sowjetunion hat den groß angelegten So weit Willy Brandt. Versuch begonnen, die Nachkriegsphase zu be- enden, den heutigen Zustand völkerrechtlich zu Am Ende — Herr Präsident, in zwei Minuten! — zementieren und in aller Form ein neues Blatt noch folgendes. der Geschichte aufzuschlagen, in dem zwei ge (Zurufe von der SPD.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9869

Dr. Marx (Kaiserslautern) Kaum jemand hat die heutige Politik, die uns als Für die CDU/CSU haben sich die Kategorien des eine Friedenspolitik verkauft wird, Rechts und der Freiheit, der Wahrheit und des Frie- dens nicht verändert. (Zuruf von der SPD: Ist es auch!) - (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Er klarer und eindeutiger als Hindernis für den Frie- regte Zurufe von der SPD.) den bezeichnet und abgeurteilt als in den eben zitier- ten Sätzen der heutige Bundeskanzler selbst. Meine Damen und Herren, in allem Ernst: (Sehr richtig! bei der CDU/CSU. — Zurufe (Zurufe von der SPD: Aufhören!) von der SPD.) bei dieser Debatte, die wir hier führen, wo es um die entscheidensten Fragen geht, sage ich noch ein- Niemand hat deutlicher und, ich sage auch, er- mal, daß sich die Kategorien des Rechts, der Freiheit, greifender und bewegender die politische und die der Wahrheit und des Friedens für uns nicht ver- moralische Szenerie beschrieben als einer der damals ändert haben, daß wir an diesen Kategorien diese so beherzten, kühnen und tapferen Männer an der Verträge messen und daß sie vor diesen Kategorien Spitze der Sozialdemokratischen Partei. und unserer politischen Verantwortung nicht be- (Zurufe, Pfui-Rufe und beginnende Unruhe stehen können. bei der SPD.) (Lang anhaltender lebhafter Beifall bei der Auch dieses Zitat werde ich Ihnen nicht ersparen. CDU/CSU. — Zurufe von der SPD. — Abg. Es lautet: Wehner: Sportpalast!) Immer gibt es die Menschen, die in einer kriti- schen Stunde anfangen, davon zu reden, man Präsident von Hassel: Meine Damen und Her- müsse sich mit den Realitäten, mit den Tat- ren, bei der Zeiteinteilung für die heutige Debatte sachen, mit den Dingen und mit den Verhält- sind wir — — nissen abfinden. (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU. — (Anhaltende Unruhe bei der SPD.) Abg. Wehner: Hier fehlt nur noch die Frage: Wollt ihr den totalen Krieg?! — Ge- Dieses Zitat geht weiter: genrufe von der CDU/CSU. — Abg. Weh- Auch dafür haben wir Deutsche bittere Erfah- ner: Nur noch diese Frage, diese Sport rungen genug gesammelt. Mit den realen Ver- palast-Frage! — Glocke des Präsidenten.) hältnissen fanden sich alle diejenigen ab, die — Darf ich bitten, daß wir jetzt in Ruhe noch den 1933 sich dazu entschlossen, ihren Frieden mit letzten Redner der Vormittagsrunde anhören, für den Hitler zu machen. Immer wollte man Schlimme- lediglich zehn Minuten beantragt sind. Wir sind da- res verhüten. Am Ende lag Deutschland in von ausgegangen, daß wir noch diesen Redner Trümmern. ... Auch heute kann Deutschland hören, damit wir zu einem gewissen Abschluß kom- nur leben, wenn es lernt, für seine Freiheit, für men. sein Recht und für seine Selbstbehauptung zu Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heyen. kämpfen. Der dies sagte, war Ernt Reuter. Heyen (SPD) : Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube nicht, daß wir auf diesen Marxis- (Bravo-Rufe und Beifall bei der CDU/CSU. mus Kaiserslauterner Prägung, der hier eben gebo- -- Zurufe von der SPD.) ten wurde, eingehen sollten. Aber hier ist Ernst Er war früher Kommunist, dann Sozialdemokrat, Re- Reuter genannt worden, und da muß man sagen, gierender Bürgermeister von Berlin; er war ein De- daß Ernst Reuter zu seinen Lebzeiten bei Ihrer Re- mokrat, für den Wahrheit, Frieden und Freiheit über gierung der CDU/CSU für Berlin betteln gehen alles gingen. mußte. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar Abg. Wehner: Wenn er tot ist, halten Sie teien.) ihn gut!) Aber sozialdemokratische Führer sind offenbar im- — Herr Kollege Wehner, auf diesen Zwischen- mer dann gut, wenn sie nicht mehr leben. Zu seinen ruf — Lebzeiten haben Sie Schumacher bekämpft, haben Sie seine Politik bekämpft, und zu Lebzeiten von (Abg. Wehner: Ich bin nicht Ihr Kollege!) Ernst Reuter haben Sie ihm und Berlin die größten -- Das mag sein; das ist dann aber auch ein Stück Schwierigkeiten gemacht. meiner eigenen Entscheidung. (Beifall bei der SPD. — Abg. Wehner: (Abg. Wehner: Sehr gut!) Sehr wahr! — Zurufe von der CDU/CSU.) Das müßten Sie, Herr Amrehn, am besten wissen, Herr Wehner, wir haben Ernst Reuter damals zuge- und auf Ihre Ausführungen will ich jetzt eingehen. stimmt. (Zurufe von der SPD.) Schon 1963, als wir die erste Passierscheinrege- lung unterschrieben haben, haben Sie gesagt: Dies Wir stimmen ihm heute zu. ist ein falscher Schritt in die falsche Richtung, und (Abg. Wehner: Seitdem er tot ist!) dies ist der Anfang vom Ende West-Berlins. Das 9870 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Heyen haben Sie heute in bezug auf das Viermächte Viermächteabkommen ist ein großer Schritt nach abkommen von Berlin wiederholt. 1969, um auf die vorn für Berlin und die Berliner. Passierscheinregelung zurückzukommen, war Kie- (Beifall bei den Regierungsparteien.)- singer bereit, für eine solche Regelung die Bundes- versammlung nicht in Berlin stattfinden zu lassen. So war es ja auch schon einmal. Als es darum ging, für eine Passierscheinregelung die Bundesversamm- (Abg. Fellermaier: Hört! Hört!) lung aufzugeben, sagte Herr Dr. Kiesinger als Bun- Das sind die Preise und das sind die Zeitpunkte, deskanzler: Uns kommt es nicht darauf an, bloße Herr Schröder. Sie wären bereit gewesen, sich die Rechtstitel zu verteidigen, uns kommt es darauf an, Bundespräsenz ohne ein Abkommen Stückchen für etwas für die Menschen zu tun. Stückchen „herausbrechen" zu lassen. Dies muß ein- (Abg. Wehner: Sehr wahr!) mal ganz deutlich gesagt werden. Diese Politik haben wir konsequent fortgesetzt. (Abg. Dr. Barzel: Gar nicht wahr!) (Abg. Fellermaier: Sehr wahr!) Herr Amrehn, bevor ich mich mit Ihren Thesen auseinandersetze, noch ein kurzes Wort zum Gene- Herr Barzel , ich habe in der „Welt" einen ralkonsulat. Während der Verhandlungen, während sehr guten Beitrag von Ihnen gelesen, wo Sie, auf- des schweren Ringens um Verbesserungen, die Sie bauend auf dem Viermächteabkommen, bereits heute wieder in Frage gestellt haben, hat Herr Lum- Vorschläge über die Zukunft Berlins machen. Sie mer, Ihr jetziger Fraktionsvorsitzender im Berliner beziehen sich dabei auf die Anlage IV a) und stellen Abgeordnetenhaus, Herrn Abrassimow einen Brief die Frage, warum internationale Institutionen und geschrieben, in dem er anbot, für die Schließung zentrale Stellen nicht auch in West-Berlin ihren des Spandauer Gefängnisses — das war sein Preis — Sitz haben sollten. Sie lehnen dieses Abkommen ab, sowjetische Präsenz in West-Berlin zuzulassen. bauen aber gleichzeitig ihre Zukunftsperspektiven auf. Dies ist unredlich. (Hört! Hört! bei der SPD.) (Beifall bei der SPD.) Das ist das zweite Stück, das man — ohne Abkom- men und ohne Sicherheit — für einen Gefangenen, Sie sagen weiter, daß die Bindungen zwischen den für ein Gefängnis in Spandau preisgeben wollte. Westsektoren Berlins und der Bundesrepublik auf- Dies zunächst einmal zum Generalkonsulat und zu rechterhalten und weiterentwickelt werden können. den Passierscheinen. Das ist richtig, das steht in dem Abkommen. Sie sagen ferner, dies sollten wir nutzen. Aber wenn Ich habe in der Debatte den Eindruck gewon- wir dieses Abkommen weiterentwickeln wollen, nen — das gilt sowohl für den Beitrag von Herrn müssen wir es zunächst einmal haben. Das ist das Barzel als auch für die Beiträge von Herrn Schröder, Wichtigste. Sie begehen praktisch politische Zech- Herrn Kiesinger und Herrn Amrehn — , daß die prellerei, wenn Sie einerseits von diesem Abkom- CDU die Stadt Berlin und ihr Schicksal immer nur men profitieren wollen und auf der anderen Seite so behandelt, wie es gerade in ihr parteipolitisches nein dazu sagen. Wer zum Viermächteabkommen Konzept paßt. ja sagt, der muß auch zur Ostpolitik dieser Regie- (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. rung ja sagen. Und wer ja sagt zur Sicherheit und Wohlrabe: Das ist doch kein Wahlkampf Lebensfähigkeit Berlins, der muß auch zu den Ver- hier! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) trägen ja sagen. Wer, verehrter Herr Barzel, sich Ge- Herr Barzel bestreitet den Zusammenhang zwischen danken über die Zukunft der Stadt macht, der muß dem Berlin-Abkommen und den Verträgen. Herr — das ist das Wichtigste — auch zu der Politik der Schröder — dadurch kam erst eine gewisse Logik Westmächte ja sagen, die West-Berlins Sicherheit in seine Ausführungen — erwähnte Berlin über- garantieren und dieses Abkommen abgeschlossen haupt nicht. haben. Dieses Ja wollen wir heute von Ihnen hören. Sonst ist alles als ein Nein zu Berlin zu werten. (Abg. Wehner: Sehr wahr! Nicht zum erstenmal!) (Abg. Dr. Barzel: Stimmt doch gar nicht!) — Ja, das kennen wir von Herrn Schröder — dar- Niemand wird bestreiten können, daß dieses Vier- auf komme ich noch zu sprechen — schon aus den mächteabkommen und die Verhandlungen über Ber- 50er Jahren. Er war der dienstälteste Bundesmini- lin erst durch diese Politik in Gang gekommen sind. ster. Wenn er nun befürchtet, daß Bundesschilder Niemand wird bestreiten können, daß erst durch die in Berlin abmontiert würden, sollten wir uns doch Unterschrift in Moskau der Vertrag seinen Umfang einmal daran erinnern, daß diese Bundesschilder der und seine Prägung bekommen hat. Auch dies muß damaligen Regierung und ihrem Innenminister Stück deutlich festgestellt werden. für Stück abgerungen werden mußten. Das ist in den (Beifall bei der SPD.) Akten nachzulesen. Wer meint, dieses Viermächteabkommen ohne eine Herr Kiesinger sagt: Dies ist eine erfreuliche solche Unterschrift zu bekommen, der gibt sich Illu- Sache, das Viermächteabkommen ist gut, und wir sionen hin. wollen auch nicht daran herummäkeln. Herr Am- rehn aber stellt — damit ist er ein guter Bekannter (Abg. Dr. Stark [Nürtingen]: Früher hörte geblieben — das Ganze wieder voll in Frage. Das man es vom Herrn Außenminister anders! ist, glaube ich, eine unredliche Politik. Es stünde der — Abg. Wohlrabe: Lies mal nach, was die CDU/CSU besser an, wenn sie hier klar sagte: Das Russen selbst gesagt haben!) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9871 Heyen — Wir haben immer den Zusammenhang zwischen alle abhaken, wenn Sie redlich sind und wenn Sie dem Viermächteabkommen und den Verträgen ehrlich vor sich selbst sind. deutlich gemacht. (Beifall bei der SPD. — Widerspruch des - (Abg. Wehner: Sehr wahr!) Abg. Dr. Barzel.) Schade, daß Herr Strauß nicht mehr da ist. — Ich kann sie verlesen, ich habe sie bei mir. Aber (Widerspruch bei der CDU/CSU.) ich möchte meine Zeit nicht überziehen. Diesen Punkt können wir jedenfalls abhaken. — Entschuldigung! Ich dachte, Sie seien etwas näher zur CDU gerückt. Ich hatte Sie da vermutet. Herr Es sind noch mehr Kriterien hineingekommen — Strauß, Sie haben kürzlich beklagend gesagt: Es ist mein Kollege Wehner hat das erwähnt —: aus für mich unsagbar beschämend, daß der große Red- humanitären, aus familiären, aus religiösen, aus kul- ner vom 13. August 1961 zehn Jahre später nicht turellen, aus kommerziellen Gründen und als Tou- mehr wahr haben will, was er gesagt hat. Mein risten. Insofern könnten Sie, Herr Barzel, wenn Sie Gott, dies war eine große Rede, und ich war damals keine Verwandten drüben haben, auch als Tourist stolz darauf, einen solchen Regierenden Bürger- in die DDR gehen. Ich würde mich freuen, Sie unter meister zu haben. Dies war eine sehr große Rede den Linden begrüßen zu können. Zweitens wurde in einer Zeit der Bedrängnis, als übrigens Ihr Bun- gesagt, daß West-Berlins gewachsene Bindungen deskanzler nicht anwesend war, nicht erschienen zum Bund — das stimmt wörtlich mit dem überein, war. In der Stunde der größten Not dieser Stadt was auch Herr Barzel in seinen acht Punkten ge- machte Konrad Adenauer Wahlkampf. sagt hat —, seine Zugehörigkeit vor allem zur Wirt- schafts-, Finanz- und Rechtsordnung der Bundesrepu- (Beifall bei den Regierungsparteien.) blik Deutschland sowie die Außenvertretung durch den Bund auch von der Sowjetunion und ihren Ver- Das muß man doch ganz deutlich sagen. Das haben bündeten anerkannt werden. Auch dieser Punkt wir zum zehnten Jahrestag der Mauer wieder ein- kann abgehakt werden. Wer mir — auch von Ihnen mal deutlich gemacht. Das ist Ihnen peinlich. Das — vor zwei Jahren gesagt hätte, wir könnten z. B. wollen Sie verdrängen. Aber ein Bundeskanzler die Außenvertretung durchsetzen, dem hätte ich ge- gehört in der Zeit, wo die Stadt Berlin am meisten sagt: Du machst dir große Illusionen, dies ist nicht bedroht ist, in diese Stadt. Adenauer mehr zu erreichen. Das hätten uns unsere westlichen (Abg. Dr. Barzel: Ehrenbürger!) Freunde auch gesagt. Wir haben es erreicht. Wir haben ein Stück hinzugewonnen, was durch Nicht- hat damals Wahlkampf gemacht gegen diesen Re- Politik aufgegeben worden war. gierenden Bürgermeister, der diese große Rede, Herr Strauß, gehalten hat. (Beifall bei den Regierungsparteien.)

(Abg. Dr. Stark [Nürtingen] meldet sich zu Drittens haben wir einen Zugang zu Lande von einer Zwischenfrage.) und nach Berlin bekommen, auf dem sich jede Per- son unbehindert bewegen kann und jede Ware un- — Ich habe keine Angst vor Zwischenfragen, aber behindert befördert wird. Selbstverständlich müssen ich möchte jetzt meine Rede zu Ende bringen. wir sehen, durch welches Territorium wir fahren. (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Warum ist Wer in dieser Diskussion, Herr Amrehn, die DDR Adenauer Ehrenbürger von Berlin gewor mit der Schweiz oder Holland vergleicht, macht sich den?) einer Verniedlichung des Ostberliner Regimes schul- dig. Denn dieses ist ein Verhandlungspartner, dem - Adenauer ist Ehrenbürger von Berlin geworden, wir die Dinge abtrotzen mußten, und das ist uns weil die Berliner nicht so engstirnig sind, wie gelungen. manche andere. (Zuruf von der CDU/CSU: Ich dachte, die (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Vier Mächte haben die Verhandlungen ge- Wohlrabe: Engstirnig sind wir in Berlin führt!) nicht, das ist richtig!) --- Gemeinsam mit uns! — Da sitzt Herr Wohlrabe. Sie waren damals glaube (Zuruf von der SPD: In jeder Phase!) ich noch Abgeordneter im Abgeordnetenhaus und haben dort gleich gut qualifizierte Zwischenrufe — Wir sind da in jeder Phase und in jeder Frage gemacht wie hier. mit den Westmächten einig gewesen.

Die CDU und die SPD, oder umgekehrt, im Ber- Aber ich möchte als Berliner und gerade weil ich liner Abgeordnetenhaus haben gemeinsam beschlos- das besonders deutlich sehe und es auch als einen sen, was sie unter einer befriedigenden Berlin-Re- ganz großen Schritt nach vorn ansehe, diese 30-Tage- gelung verstehen. Sie haben damals gesagt: erstens, Besuchszeit ganz klar als einen der größten Erfolge daß die Westberliner in den Ostteil der Stadt gehen dieser Regelung neben den grundsätzlichen Rege- und daß sie ihre Verwandten und Freunde in der lungen hervorheben. 30 Tage Bresche in die Mauer DDR besuchen können. Wir haben diese Kriterien schlagen ist mehr als 20 Jahre warten und auf einstimmig beschlossen. Herr Barzel, ich könnte auch Rechtstiteln beharren! Ihre acht Punkte hier aufführen und Sie müßten sie (Beifall bei der SPD.) 9872 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Heyen 30 Tage Potsdam, Eberswalde, Nauen, Fürstenwalde und Bewegungssystems behindert sind. Die von — das liegt um Berlin herum; vielleicht haben es Ihnen genannten mongoloiden Kinder sind nach den einige Kollegen vergessen —, Teltow, Klein-Mach- geltenden Vorschriften nicht in diesen Kreis einbe- now, Neuruppin und Werder, aber auch Erfurt, zogen. Ich habe jedoch Verständnis dafür, wenn es Magdeburg, Wittenberg, Dresden und Frankfurt als soziale Härte empfunden wird, daß diese Perso- an der Oder sind mehr und sind viel mehr als das nengruppe in das Gesetz über die unentgeltliche ständige Reden von den Brüdern und Schwestern! Beförderung von Kriegs- und Wehrdienstbeschädig- Nur so können die Brüder und Schwestern wieder ten sowie von anderen Behinderten im Nahverkehr zueinander kommen. Was nützt es uns, von den vom 27. August 1965 nicht aufgenommen worden Brüdern — manchmal scheinheilig — in der Zone ist. Wie ich auf eine entsprechende Anfrage des Ab- oder in der sogenannten DDR, wie sie sagen, zu geordneten Pawelczyk in der Fragestunde des Deut- sprechen, wenn wir sie nicht besuchen können! schen Bundestages am 13./15. Oktober 1971 bereits erklärt habe, erwägt die Bundesregierung, bei der Ich verstehe, daß die Berliner Bevölkerung im vorgesehenen Novellierung des vorgenannten Ge- Moment und solange dieses Abkommen noch nicht setzes eine Erweiterung des begünstigten Personen- in Kraft ist, skeptisch ist. Wir müssen das verstehen, kreises vorzuschlagen. weil wir in Berlin zuviel erlebt haben. Aber wenn dieses Abkommen in Kraft ist, dann haben wir für

diese Menschen mehr getan als Sie mit Ihrer Politik Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: der Proklamationen. Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Cramer. Deshalb möchte ich, Herr Marx, eben nicht mit Zitaten von Konrad Adenauer oder anderen enden, Cramer (SPD) : Herr Staatssekretär, ist Ihnen be- sondern sagen: Wir haben ein Stück mehr Einheit kannt, daß es jetzt schon in den einzelnen Ländern erreicht, und dies ist — das haben Sie vergessen, verschiedenartig gehandhabt wird, z. B. Berlin Fahrt- Herr Schröder—mehr als Rechtstitel und Ansprüche. freiheit für den Betroffenen und für eine Begleit- person gewährt, während Bayern nur die Freiheit (Beifall bei den Regierungsparteien.) der Fahrt selbst gewährt.

Präsident von Hassel: Wir treten in die Mit- Parlamentarischer Staatssekretär beim tagspause ein. Rohde, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Ich unterbreche die Sitzung bis 14 Uhr zum Aufruf Kollege, dieser Sachverhalt ist Gegenstand der vor- der Fragestunde. Um 15 Uhr wird die Aussprache bereitenden Gespräche, die wir über das von mir fortgesetzt. genannte Vorhaben auch mit den Vertretern der Länder führen. (Unterbrechung von 13.20 bis 14.00 Uhr,)

Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Cra- Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sit- mer. zung ist wieder eröffnet.

Wir treten in die Cramer (SPD) : Können Sie mir sagen, Herr Staatssekretär, wann ungefähr mit einer Besetz- Fragestunde , lichen Neuregelung zu rechnen ist? — Drucksache VI/3165 — ein und fahren mit dem Geschäftsbereich des Bun- Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim desministers für Arbeit und Sozialordnung fort. Zur Bundesminster für Arbeit und Sozialordnung: Herr Beantwortung der Fragen steht der Parlamenta- Kollege, wir sind darum bemüht, die Vorarbeiten rische Staatssekretär Rohde zur Verfügung. beschleunigt zum Abschluß zu bringen. Einen präzi- sen Zeitpunkt für die Vorlage des Entwurfs kann ich Ich rufe die Frage 86 des Herrn Abgeordneten allerdings noch nicht nennen, da vorab vor allem Cramer auf: die finanziellen Auswirkungen zu Lasten des Bun- Trifft es zu, daß mongoloide Kinder keinen Anspruch auf Schwer- des und der Länder geklärt werden müssen. beschädigtenausweise zur kostenlosen Benutzung von Nahver- kehrsmitteln haben, weil sie nach dem Bundessozialhilfegesetz nicht als „körparbehindert" gelten? Bitte, Herr Staatssekretär! Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Meine Damen und Herren, ich rufe die Frage 87 des Herrn Abgeordneten Vogt auf: Parlamentarischer Staatssekretär beim Rohde, Treffen Pressemeldungen zu, wonach die Bundesregierung nicht Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr mehr beabsichtigt, noch in dieser Legislaturperiode den Vermö- Kollege Cramer, nach geltendem Recht steht Behin- gensbildungsbericht vorzulegen? derten unter den sonstigen gesetzlichen Vorausset- zungen ein Anspruch auf unentgeltliche Beförderung Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim im Nahverkehr nur zu, wenn sie körperbehindert Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr im Sinne des § 39 Abs. 1 des Bundessozialhilfegeset- Präsident, mit Einverständnis des Fragestellers zes sind. Das sind Personen, die in ihrer Bewegungs- würde ich beide Fragen gern im Zusammenhang fähigkeit durch eine Beeinträchtigung ihres Stütz- beantworten. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9873

Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: schon darauf hingewiesen, daß dieser Bericht im Zu

Der Herr Kollege Vogt ist einverstanden. Dann rufe sammenhang mit dem Kabinettbeschluß vom 11. Juni ich auch die Frage 88 des Abgeordneten Vogt auf: 1971 und den darauf eingeleiteten Arbeiten steht. Wann wird die Bundesregierung den Sparförderungsbericht - fertigstellen und veröffentlichen? Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Bitte Herr Staatssekretär! Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.

Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Vogt (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, ist es Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr richtig — ich frage jetzt mit Bezug auf den Sparför- Kollege Vogt, es gibt keinen Beschluß der Bundes- derungsbericht — daß die Urteile über die gesell- regierung, der besagt, daß in dieser Legislaturpe- schaftspolitische Bedeutung der sozialen Privatisie- riode kein Bericht über die Vermögenspolitik vor- rung in einem ersten Entwurf für den Sparförde- gelegt wird. Allerdings ist wiederholt darauf hinge- rungsbericht inzwischen korrigiert worden sind? wiesen worden, daß dieser Bericht nicht nur eine Bestandsaufnahme sein, sondern auch Grundsätze Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim für die Weiterentwicklung der Vermögenspolitik Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr enthalten soll. Im Zusammenhang mit den Eckwer- Kollege, den Inhalt des Sparförderungsberichts wer- ten der Steuerreform hat die Bundesregierung einen den wir in diesem Hohen Hause in allen Einzelhei- Kabinettbeschluß zur Vermögenspolitik gefaßt. Die ten erörtern können. Dann werden sicher auch die Beratungen über die Konkretisierung dieses Kabi- gesellschaftspolitischen Leitlinien erörtert werden. nettbeschlusses im einzelnen, mit denen die Fertig- Die von Ihnen genannte Frage, unter welchen Ge- stellung des Vermögensberichtes verbunden ist, sind noch nicht abgeschlossen. sichtspunkten eine Beurteilung vorzunehmen ist, wird sicherlich in der Debatte eine Rolle spielen. Im übrigen darf ich darauf hinweisen, daß die Bundesregierung diesem Hohen Hause über Ver- Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: mögensbildung und Sparförderung wiederholt be- Eine letzte Zusatzfrage. richtet hat, insbesondere auf Kleine Anfragen der Regierungsparteien und der Opposition. Damit Vogt (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, darf ich komme ich zu Ihrer zweiten Frage: Der von Ihnen noch einmal fragen, ob zwischen einer ersten Fas- genannte Sparförderungsbericht ist von der Bundes- sung des Sparförderungsberichts und der jetzt fer- regierung fertiggestellt, dem Deutschen Bundestag tiggestellten Fassung in der Frage der gesellschafts- gestern zugeleitet worden und wird den Damen politischen Bedeutung der sozialen Privatisierung und Herren dieses Hohen Hauses alsbald vorliegen. Unterschiede bestehen. Mit dem Sparförderungsbericht wird bereits ein wichtiger Bereich der Gesamtberichterstattung vor- gezogen. Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, lassen Sie mich darauf eine allgemeine Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Antwort geben. Was in Zeitungen oder an anderer Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Vogt. Stelle im Hinblick auf unterschiedliche Gesetz- oder Berichtsentwürfe als erste Fassung bezeichnet wird, Vogt (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, darf ich sind zumeist erste Referentenentwürfe, die Gegen- davon ausgehen daß der inzwischen fertiggestellte stand von Besprechungen mit Verbänden, mit den und uns gestern zugestellte Sparförderungsbericht Ländern und anderen beteiligten Stellen sind. Die kein Ersatz für den vielfach angekündigten Ver- Ergebnisse solcher Besprechungen werden natürlich mögensbildungsbericht sein wird? in der endgültigen Fassung eines Gesetzentwurfs, eines Berichts oder einer sonstigen Vorlage mitbe- Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim rücksichtigt, wenn das aus dem Gesichtswinkel der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Bundesregierung als sachlich geboten erscheint. Kollege, er ist in dem Sinne kein Ersatz, aber er beinhaltet Fragen, die mit dem Thema Sparförde- Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: rung und Vermögenspolitik, wie Sie wissen, in Herr Abgeordneter Weigl hat um schriftliche Beant- einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. wortung der Fragen 89 und 90 gebeten. Die Ant- worten werden in der Anlage abgedruckt.

Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Vogt. Ich rufe die Frage 91 des Herrn Abgeordneten Varelmann auf: Trifft es zu, daß die Ländesversicherungsanstalten auf Veran- Vogt (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, können lassung des Bundesversicherungsamtes die Leistungen für Zahn- Sie mir in etwa sagen, wann mit dem Vermögens- ersatz einschränken, und wenn ja, in weichem Umfang? bildungsbericht zu rechnen ist? Herr Staatssekretär!

Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Rohde, Parlamentarischer Staatssekre tär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, ich habe in meiner einleitenden Antwort Präsident, da auch hier die Fragen in einem Zusam- 9874 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Parlamentarischer Staatssekretär Rohde menhang stehen, möchte ich sie auch gemeinsam be- reich eine Demontage der sozialen Leistungen an- antworten. steht? - Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Der Fragesteller ist einverstanden. Ich rufe also noch Herr Staatssekretär! die Frage 92 des Abgeordneten Varelmann auf: Ist vorstehende Minderung der Leistungen bejahendenfalls mit Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim der guten Entwicklung der Beitragseinnahmen in der Renten- versicherung in Einklang zu bringen? Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Kollege, ob der LVA Oldenburg-Bremen nur die Herr Staatssekretär, bitte! Möglichkeit der Einschränkung von Leistungen für Zahnersatz zur Verfügung steht, kann ich nicht Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim übersehen und auch nicht beurteilen, weil das Sache Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr der Selbstverwaltung ist. Soweit es die Bemes- Kollege Varelmann, es trifft nicht zu, daß das Bun- sungs-Verordnung betrifft, geht diese zurück auf desversicherungsamt die bundesunmittelbaren Trä- das Dritte Rentenversicherungs-Änderungsgesetz, ger der Rentenversicherung veranlaßt hat, die Lei- das seinerzeit, und zwar auch mit Ihrer Zustim- stungen für Zahnersatz einzuschränken. Hierzu be- mung, beschlossen worden ist, um langfristig die steht auch nach geltendem Recht keine Handhabe; Finanzierung für alle Träger der Rentenversiche- denn es handelt sich bei den Zuschüssen für Zahn- rung sicherzustellen. Das aber kann man keinesfalls ersatz um zusätzliche Leistungen, die die Träger der als eine Demontage sozialer Leistungen bezeichnen. Rentenversicherung nach § 1305 der Reichsversiche- Vielmehr war dieses Gesetz — darin würde ich rungsordnung erbringen können und über deren auch mit Herrn Katzer einer Meinung sein — dar- Gewährung die Selbstverwaltungsorgane der Ver- auf angelegt, die finanzielle Solidität der Renten- sicherungsträger zu entscheiden haben. versicherung in den siebziger Jahren und darüber Ihrer Anfrage liegt offenbar die Beanstandung hinaus zu sichern. eines Haushaltsansatzes der LVA Oldenburg-Bremen durch das Bundesversicherungsamt zugrunde. Hier- Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: bei geht es um folgendes. Seit dem Inkrafttreten des Eine weitere Zusatzfrage. Dritten Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes be- stimmt der Bundesminister für Arbeit und Sozialord- Varelmann (CDU/CSU) : Seit dem Erlaß dieser nung nach Anhörung des Verbandes Deutscher Ren- Bemessungs-Verordnung haben sich aber die Fi- tenversicherungsträger durch Rechtsverordnung mit nanzverhältnisse der Rentenversicherung wesentlich Zustimmung des Bundesrates den Gesamtbetrag und geändert. Wäre es deswegen nicht angebracht, daß die Anteile der einzelnen Träger der Rentenversiche- sich das Bundesarbeitsministerium um eine Auf- rung der Arbeiter an diesem Betrag, die für Maß- hebung bemüht, damit die Leistungen erbracht wer- nahmen zur Rehabilitation und für Verwaltungs- den können? und Verfahrenskosten zur Verfügung stehen. Die LVA Oldenburg-Bremen hat den auf sie nach der 3. Bemessungs-Verordnung vom 26. Oktober 1971 Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim bestimmten Anteil überschritten. In welcher Weise Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr der von der Aufsichtsbehörde vorgenommenen Be- Kollege, ich habe den Eindruck, daß bei vielen Be- anstandung Rechnung getragen wird, insbesondere teiligten Bedenken bestehen würden, jetzt schon wie der der LVA nach der Bemessungs-Verordnung wieder in die Finanzzusammenhänge des erst vor zur Verfügung stehende Betrag verwendet wird, bei zwei oder drei Jahren verabschiedeten Gesetzes dessen Bemessung im übrigen die künftige Entwick- einzugreifen. Die Gesamtentwicklung der Finanzen lung der Beitragseinnahmen in der Rentenversiche- der Rentenversicherung ist nach 1969 nicht schlech- rung der Arbeiter bereits berücksichtigt worden ist, ter, sondern, wie Sie spätestens aus der Tages- ist Sache der Selbstverwaltung. Das Bundesversiche- presse, aber auch aus den Unterlagen wissen, die rungsamt hat hierauf keinen Einfluß. das Arbeitsministerium herausgibt, wesentlich bes- ser geworden. Das ist auch Gegenstand der Dis- kussionen über die Fortentwicklung der Renten- Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: versicherung. Zusatzfrage, Herr Abgeordneter. Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Varelmann (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, so- Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kollege. weit ich unterrichtet bin, liegen die Forderungen auf Einschränkung der Ausgaben nicht nur bei der Lan- desversicherungsanstalt Oldenburg-Bremen vor, Varelmann (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, sondern auch bei anderen Landesversicherungs- welche Schritte würde das Bundesministerium für anstalten. Die Möglichkeiten der Einschränkung der Arbeit und Sozialordnung einleiten, wenn die Ausgaben sind nur sehr gering. In den Kreisen der Selbstverwaltung diese Einschränkung der Aus- Selbstverwaltung der LVA Oldenburg-Bremen steht gaben ablehnte? man unter dem Eindruck, daß nur noch bei den Bei- hilfen für Zahnersatz ein Spielraum in den Ausgaben Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim gegeben ist. Ist es nicht bedauerlich, daß in der ge- Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr genwärtigen Zeit der Hochkonjunktur in diesem Be Kollege, wir haben — das darf ich jetzt zur Sache Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9875

Parlamentarischer Staatssekretär Rohde im allgemeinen sagen — vor einiger Zeit mit den fassung, daß Presse, Rundfunk und Fernsehen sehr Trägern der Rentenversicherung über die Fragen wohl die Bevölkerung ausreichend und korrekt über des Zahnersatzes gesprochen. Wir waren darin die europäische Integration unterrichtet haben. Un- einig, daß wir zunächst die Stellungnahme der Sach- sere Anzeige sollte lediglich noch einmal unter-- verständigenkommission zur Weiterentwicklung der streichen, für wie wichtig die Bundesregierung den sozialen Krankenversicherung abwarten wollen, die Vorgang der Erweiterung der Europäischen Gemein- ihrerseits auch die Frage der Leistungen der Kran- schaft hält. Sie sollte darüber hinaus dartun, daß die kenversicherung auf dem Gebiet des Zahnersatzes Europapolitik gegenüber der Ost- und Westpolitik behandelt. Ich darf also unterstreichen, daß das keineswegs in den Hintergrund getreten ist. eigentliche Problem, nämlich die Gewährung von Leistungen bei Zahnersatz, Gegenstand der Bera- Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: tung der Sachverständigenkommission ist, in der Eine Zusatzfrage. alle Beteiligten — Krankenkassen, Arbeitgeber, Ge- werkschaften usw. — vertreten sind. Ott (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, sind Sie in der Lage, mir zu sagen, wie hoch die Aufwendungen Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: dafür waren, daß diese Anzeigenaktion durchgeführt Eine letzte Zusatzfrage. werden konnte?

Varelmann (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, Ahlers, Staatssekretär, Chef des Presse- und ist dem Bundesministerium bekanntgeworden, daß Informationsamtes der Bundesregierung: Ja, Herr in Kreisen der Selbstverwaltung das Verlangen des Abgeordneter, 157 000 DM. Bundesversicherungsamts wesentliches Unbehagen ausgelöst hat? Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Eine weitere Zusatzfrage. Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Herr Ott (CDU/CSU): Herr Staatssekretär, können Sie Kollege, ich habe einleitend darauf hingewiesen, daß mir den Unterschied erklären, der zwischen dieser das Bundesversicherungsamt nicht mit dem Blick auf Art von in steigendem Maße betriebenen Propa- eine ganz bestimmte Leistung interveniert, sondern ganda der Bundesregierung und der Art von Propa- daß das Bundesversicherungsamt darauf zu achten ganda, die das frühere Reichspropagandaministe- hat, daß bei den Leistungen insgesamt, die ich hier rium entwickelt hat, besteht? genannt habe — um welche Art es sich auch im ein- zelnen handelt — die Grundsätze des Dritten Ren- tenversicherungs-Änderungsgesetzes beachtet wer- Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: den. Herr Kollege Ott. Bitte stellen Sie Ihre Zusatzfragen nicht in wertender Form, sondern als Sachzusatz- frage. Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Meine Damen und Herren, damit sind die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Ott (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, da Sie vor Arbeit und Sozialordnung beantwortet. Herr Staats- her erklärt haben, daß die öffentlichen Publikations- sekretär, ich danke Ihnen. mittel ihre Pflicht vollauf erfüllen, halten Sie die Be- völkerung für so wenig informiert, daß Sie glauben, Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundeskanzlers daß hier eine zusätzliche Propaganda der Regierung und des Bundeskanzleramtes auf. für ihre Verdienste notwendig ist?

Der Herr Abgeordnete Dr. Schulze-Vorberg hat um schriftliche Beantwortung der von ihm einge- Ahlers, Staatssekretär, Chef des Presse- und reichten Frage, der Frage 117, gebeten. Die Antwort Informationsamtes der Bundesregierung: Herr Ab- wird als Anlage abgedruckt. geordneter, erst einmal handelt es sich ja bei der Europapolitik sicher nicht um ein alleiniges Ver- Ich rufe die Frage 118 des Herrn Abgeordneten dienst der Regierung, Ott auf: (Sehr richtig! bei der CDU/CSU) Muß aus der Anzeigenaktion der Bundesregierung Ende Januar 1972 über die Erweiterung der EWG geschlossen werden, daß die sondern wir alle hier sind uns ja darüber klar, daß Bundesregierung der Auffassung ist, Presse, Rundfunk und Fern- sehen hätten die Bevölkerung bis dahin unzureichend, falsch oder die Europapolitik eine gemeinsame Angelegenheit tendenziös einseitig über die europäische Integration unterrichtet? ist. Zur Beantwortung steht Herr Staatssekretär Zum zweiten ist das Problem — ich lasse einmal, Ahlers zur Verfügung. Herr Staatssekretär! wenn Sie erlauben, eine Auseinandersetzung über den Begriff der Propaganda beiseite — jeder Wer- Ahlers, Staatssekretär, Chef des Presse- und bung, ob politischer oder kommerzieller Art, nicht Informationsamtes der Bundesregierung: Herr Ab- der mangelnde Informationsstand der Bevölkerung, geordneter, ich möchte Ihre Frage wie folgt beant- sondern die Tatsache, daß wir alle zusammen alles worten. Es wäre falsch, Herr Abgeordneter, einen ' sehr schnell vergessen. Es ist daher notwendig, die derartigen Schluß zu ziehen, wie er in Ihrer Frage Bevölkerung immer wieder an Sachverhalte und nahegelegt wird. Die Bundesregierung ist der Auf Vorgänge zu erinnern, wie es ja auch die Werbung 9876 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Staatssekretär Ahlers nötig hat, für jedes Produkt das Interesse der Be- Geschäftsbereich des Herrn Bundeskanzlers und des völkerung ständig neu zu finden. Das ist ein allge- Bundeskanzleramtes beantwortet. Ich danke Ihnen. meiner Zustand, der sicher nicht auf die politische Werbung beschränkt ist und der gar nichts damit zu Wir kommen zum Geschäftsbereich des- Bundes- tun hat, daß man etwa den Informationswillen oder ministers des Innern. Zur Beantwortung der Fragen den Informationsstand der Bevölkerung zu gering steht Herr Bundesminister Genscher zur Verfügung. bemißt. Ich rufe zuerst die vom Abgeordneten Engholm eingebrachte Frage 37 auf: Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Trifft es zu, daß im Gegensatz zu anderen uniformierten Ein- Herr Abgeordneter Jahn, Sie hatten sich zu einer heiten wie Bundeswehr, Polizei und Zoll der Bundesgrenzschutz Zusatzfrage gemeldet. Bitte! eine gewisse Haarlänge vorschreibt und disziplinarisch gegen Beamte vorgeht, die sich dieser Vorschrift nicht beugen, und ist dies nach Meinung der Bundesregierung mit dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit vereinbar? Dr. Jahn (Braunschweig) (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, niemand bestreitet der Bundesregie- rung das Recht, sich auch publizistisch für die Er- Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- weiterung der EWG und für die politische Union geordneter, für den Bundesgrenzschutz ist die Frage einzusetzen. Aber sind Sie nicht der Meinung, daß der Haartracht weder ein modisches Problem noch sich die Bundesregierung in diesen Inseraten mehr eine Frage der Geschmacksorientierung noch gar der als übernommen hat, wenn sie den Wandel der Ideologie. Es geht vielmehr allein darum, die aus französischen Europapolitik durch den Nachfolger den dienstlichen Erfordernissen gebotenen Konse- de Gaulles, den Präsidenten Pompidou, der die Vor- quenzen zu ziehen. Dabei ist es selbstverständlich, aussetzungen für die Erweiterungsverhandlungen daß die Beamten des Bundesgrenzschutzes dieselben war, und das Ergebnis, das Sie in Ihren Inseraten Rechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wie feiern, allein auf ihr Konto schreibt, wobei Sie doch jeder andere Staatsbürger haben. eben gesagt haben, daß Sie den Erfolg der Europa- Es ist übrigens nicht richtig, daß eine gewisse politik allen in diesem Hause vertretenen Parteien Haarlänge vorgeschrieben ist. Die Angehörigen des zuschreiben? Bundesgrenzschutzes sind lediglich gehalten, den Erfordernissen des Dienstes und auch ihrer eigenen Ahlers, Staatssekretär, Chef des Presse- und Sicherheit Rechnung zu tragen. — Es kann auch Informationsamtes der Bundesregierung: Natürlich, nicht, wie in der Frage geschehen, verallgemeinernd Herr Abgeordneter, und ich bleibe auch bei dem, gesagt werden, daß z. B. bei der Polizei nicht auch was ich gesagt habe. Aber wenn , die Bundesregie- ähnliche Erfordernisse gesehen werden. rung wirbt — was, wie Sie ja auch eben gesagt haben, ihr gutes Recht ist —, wirbt sie natürlich für sich und nicht auch für alle anderen. Selbstver- Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: ständlich stimme ich Ihnen zu, daß der Wechsel auf Eine Zusatzfrage. der europäischen Bühne, den Sie angesprochen haben, die Grundvoraussetzung für den Erfolg die- Engholm (SPD) : Herr Minister, würden Sie dis- ser Erweiterungspolitik war. ziplinarische Maßnahmen, etwa auch in Form von sehr empfindlichen Geldbußen, auch dann für ange-

Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: bracht halten, wenn sich der in diesem Fall von mir Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Damm. mittelbar angesprochene Beamte des Bundesgrenz- schutzes in Lübeck freiwillig bereit erklärt hat, wäh- Damm (CDU/CSU) : Herr Staatssekretär, sind rend des Dienstes seine mäßig langen Haare mit einer Perücke zu verdecken? nicht, wenn es sich, wie Sie in Ihrer ersten Antwort gesagt haben, lediglich darum handelte, gewisser- maßen einen Strich unter etwas, was schon allge- Genscher, Bundesminister des Innern: Ich mein bekannt ist, zu ziehen, damit es noch hervor- glaube, daß das ein klassischer Fall einer Ermessens- gehoben wird, 157 000 DM, eine ganze Menge Geld entscheidung ist. Ich meine, daß ein solcher Fall und doch wohl etwas zuviel für eine solche Unter- nicht unbedingt bestraft und schon gar nicht mit streichung, also kaum mit einer sorgfältigen Haus- einer empfindlichen Geldstrafe belegt werden sollte. haltsführung zu vereinbaren? Dabei gehen allerdings sicher die Meinungen dar- über, was als empfindlich zu betrachten ist, ausein- Ahlers, Staatssekretär, Chef des Presse- und ander. Informationsamtes der Bundesregierung: Im Gegen- teil, Herr Abgeordneter, angesichts der Anzeigen- Engholm (SPD) : Herr Minister, darf ich mir, da kosten ist es, wenn eine Anzeigenaktion nur es sich bei diesem Soldaten um einen Beamten han- 157 000 DM kostet, eine ungewöhnlich sparsame delt, dessen Haarlänge etwa der meinen gleich ist, Verwendung von Haushaltsmitteln. die Frage erlauben: Würden Sie mich auf Grund (Beifall bei den Regierungsparteien.) meiner Haarlänge als BGS-inkonform betrachten? (Zurufe von der CDU/CSU: Sie ist aber

Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: hübsch! — Er muß sich einmal herumdre Herr Staatssekretär, damit sind die Fragen aus dem hen!) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9877

Vizepräsident Dr. Schmitt-Vockenhausen: Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Herr Abgeordneter, hier findet der amtierende Prä- Ich habe das von mir aus schon miteinander ver- sident ein Haar in der Suppe. Die Frage steht nicht bunden. Die Fragesteller haben auch keine Beden- mehr in dem erforderlichen unmittelbaren Zusam- ken. menhang. Aber der Herr Minister kann natürlich dazu noch etwas sagen. Genscher, Bundesminister des Innern: Die Kom- munistische Partei Italiens betätigt sich schon seit zehn Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Sie Genscher, Bundesminister des Innern: Gleich- verfügt seit 1968 über einen eigenen Parteiapparat, wohl, Herr Präsident, hätte ich gern noch zum Aus- den sie in den folgenden Jahren angesichts der stei- druck gebracht, daß es sicher zumindest für den genden Zahl der Gastarbeiter immer weiter ausge- BGS ein Gewinn wäre, wenn Sie, Herr Abgeordne- baut hat. Die amtlichen Erkenntnisse über die Tätig- ter, dort möglicherweise eine Reserveübung ablei- keit der KPI in der Bundesrepublik sind allerdings steten. lückenhaft. Bis 1970 gab es keine gezielte Beobach- (Heiterkeit und Beifall.) tung in dieser Richtung. Wegen der Zunahme poli- tischer Aktivitäten von Ausländern in der Bundes-

Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: republik Deutschland habe ich im Februar 1970 die Herr Abgeordneter, wir sind mit dem Haarwuchs Anweisung gegeben, im Rahmen der bestehenden noch nicht am Ende. Sie hatten noch eine zweite gesetzlichen Möglichkeiten politisch extreme Aus- Frage gestellt, die Frage 38: ländergruppen gezielt zu beobachten. Für die Zeit Ist der Bundesregierung weiterhin bekannt, aus welchen Grün- vor 1970 liegen daher nur Randerkenntnisse vor. den der Bundesgrenzschutz seinen Beamten in solchen Fällen Diese besagen, daß die Kommunistische Partei Ita- keine Haarnetze zur Verfügung stellt und warum er mit drako- nischen Maßnahmen gegen Beamte mit langen Haaren vorgeht? liens bis 1970 Stützpunkte im Raum Stuttgart, Düs- Bitte, Herr Minister! seldorf, Köln, Saarbrücken und München gebildet hatte. Der Parteiapparat gliederte sich in National- komitees, Landeskomitees, Bezirkskomitees, Kreis- Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- komitees sowie in KPI-Zellen und -Betriebsgruppen. geordneter, Haarnetze werden beim BGS nicht aus- So gab es beispielsweise Betriebsgruppen bei Bosch gegeben, weil sie unter den Erfordernissen des BGS und Mercedes-Benz in Stuttgart, bei MAN in Mün- als nicht geeignet erscheinen. Von drakonischen chen und bei der Firma Ford in Köln. Maßnahmen gegen Beamte mit, wie es in Ihrer Im September 1971 beschloß die KPI nach den vor- Frage heißt, langen Haaren, ist mir nichts bekannt. liegenden Erkenntnissen, ihre Parteistruktur und Ich werde aber gern jedem von Ihnen aufgezeigten den Parteiapparat in der Bundesrepublik neu zu Einzelfall nachgehen. ordnen. Dementsprechend wurden am 30. Januar (Abg. Brück [Köln] : Stellen Sie ein paar 1972 in Stuttgart und am 6. Februar 1972 in Köln Friseure mehr zur Verfügung!) Gebietsföderationen Süd und Nord gegründet. Die KPI verfolgt dabei das Ziel, ihre Arbeit in der Bun- desrepublik effektiver und intensiver zu gestalten. Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Keine weiteren Fragen zu diesem sicher sehr inter- An der bereits geschilderten Parteistruktur wird essanten Thema. offensichtlich festgehalten. Die KPI nennt für die Arbeit in der Bundesrepu- Die Fragen 39 und 40 des Abgeorneten Dr. blik Deutschland im wesentlichen folgende Ziele: Schmitt-Vockenhausen werden auf Wunsch des Fra- Mitgliederwerbung und Vorbereitung der Mitglie- gestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten der für den Kampf für den Kommunismus in Italien werden als Anlagen abgedruckt. nach ihrer Rückkehr, soziale Betreuung der italieni- Ich rufe die Frage 41 des Abgeordneten Dr. schen Arbeitnehmer, Gleichstellung mit deutschen Schneider (Nürnberg) und die Frage 42 des Abge- Arbeitnehmern, Verbesserung der Lohn-, Schul- und ordneten Niegel gemeinsam auf, weil diese Fragen Berufsausbildungsverhältnisse. in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen. Ich Die Arbeit der KPI geschieht im wesentlichen auf nehme an, die Fragesteller sind damit einverstan- zwei Ebenen, und zwar durch die Parteiorganisa- den: tion und durch die im März 1970 gegründete Be- Was gedenkt die Bundesregierung gegen die Absicht der Kom- munistischen Partei Italiens zu unternehmen, in der Bundes- treuungsorganisation, genannt „Italienischer Ver- republik Deutschland Betreuungsstellen für italienische Gast- band der Auswanderer und ihrer Familien" (FILEF). arbeiter einzurichten? Die FILEF hat derzeit 22 Zweigstellen in der Bun- Welche Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung gegen die Errichtung von Regionalsektionen der Kommunistischen Partei desrepublik. Sie gibt in ihrer Satzung kulturelle, Italiens in Stuttgart für Süddeutschland und in Köln für Nord- sportliche und soziale Ziele an und wird von KPI- deutschland, und welche Folgerungen zieht die Bundesregierung aus der angekündigten Zusammenarbeit der Kommunistischen Funktionären geleitet. Angestrebt wird eine mög- Partei Italiens (PCI) mit der Deutschen Kommunistischen Partei, der Sozialistischen Arbeiterjugend (SDAJ) sowie des Studenten- lichst große Mitgliedschaft italienischer Arbeitneh- bunds Spartakus? mer mit dem Ziel, eine starke Basis für Verhand- Bitte, Herr Minister! lungen mit den deutschen Gewerkschaften und an- deren gesellschaftlichen und politischen Institutionen Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Prä- zu haben. sident, ich bitte, hier ausnahmsweise wegen der Über die Betreuung ihrer Landsleute in der Bun- Komplexität sehr ausführlich antworten zu dürfen. desrepublik hinaus versucht die KPI mit Hilfe die- 9878 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Bundesminister Genscher ser Organisation die italienischen Arbeitnehmer in Soweit bekannt ist, haben Ausschreitungen oder ihrem Sinne zu beeinflussen und Mitglieder für die gewaltsame Aktionen italienischer Kommunisten im Partei zu werben. Hauptzweck der Gründung war, Bundesgebiet bisher nicht stattgefunden. Die ita- einen Einfluß über den Kreis der Parteimitglieder lienische KP hat ihre Mitglieder ausdrücklich- ange- hinaus zu gewinnen. wiesen, ihre Tätigkeit nur im Rahmen der Gesetze auszuüben. Daran haben sie sich nach den mir vor- Was nun die Zusammenarbeit mit der DKP, der liegenden Feststellungen bisher auch gehalten. Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend sowie dem Meine Herren Kollegen, was Ihre Fragen anbe- sozialistischen Studentenbund Spartakus angeht, so langt, welche Maßnahmen die Bundesregierung zu ist folgendes festzustellen. Die Beziehungen zur ergreifen beabsichtigt, so sind die Bestimmungen des DKP und ihren Jugendorganisationen leiden bisher Ausländerrechts und des Vereinsrechts zu prüfen. unter den unterschiedlichen ideologischen Auffas- Wie Sie sicherlich wissen, hat die Stadt Frankfurt sungen. Die KPI versucht, eine gewisse Eigenstän- am Main im November vorigen Jahres gemäß § 6 digkeit zu wahren, während in den Augen der KPI Abs. 2 des Ausländergesetzes vier Funktionären der die DKP vorbehaltlos die Linie der KPdSU vertritt. rechtsextremen italienischen Partei MSI jegliche Wie bekannt wurde, trafen sich in jüngster Zeit politische Tätigkeit untersagt, die darauf abzielt, für Funktionäre der KPI und der DKP, um die Zusam- die MSI zu werben oder sonstwie im Bereich der menarbeit zu verbessern. Den Funktionären der KPI Bundesrepublik Deutschland für diese Vereinigung soll dabei die volle Unterstützung der DKP zuge- öffentlich tätig zu werden. Auslösendes Moment sagt worden sein. Auf Betriebsebene bestehen be- war die Absicht, in Frankfurt ein Büro zu eröffnen. reits Kontakte, z. B. bei der Herausgabe von Be- Das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main hat den triebszeitungen der DKP mit Texten in italienischer Antrag auf Aufhebung der sofortigen Vollziehung Sprache. dieser Verbotsverfügung zurückgewiesen und die Eine dritte Ebene der Partei der KPI in unserem Untersagungsgründe in diesem Verfahren als gege- Lande stellen die sogenannten „Betreuungsbüros" ben angesehen. der italienischen Gewerkschaft CGIL, z. B. das „Na- Für ausländerrechtliche Maßnahmen gegen die tionale Verbandsfürsorgeinstitut" (INCA), dar. Die KPI oder ihre Hilforganisationen wären auch hier CGIL ist eine kommunistisch beeinflußte Gewerk- die Ausländerbehörden am Sitz des jeweiligen Bü- schaft. Die „INCA"-Büros beraten und unterstützen ros, also im Falle der KPI etwa in Stuttgart oder die italienischen Arbeitnehmer kostenlos in sozialen Köln, zuständig. Fragen. Das erste INCA-Büro wurde 1961 in Heidel- Eventuelle vereinsrechtliche Maßnahmen beur- berg eingerichtet. Es folgten 1963 Büros in Mün- teilen sich nach Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes und chen, Bayreuth und Köln, 1964 in Bremen und Han- § 14 und 15 des Vereinsgesetzes. Mit der Frage, ob nover, 1965 in Stuttgart und 1966 in Düsseldorf. Die und inwieweit gegen die Tätigkeit der KPI in der Mitarbeiter der Büros sind hauptamtlich tätig. Sie Bundesrepublik Deutschland mit ausländer- oder ver- versuchen, im Rahmen der Betreuung die Hilfe- einsrechtlichen Mitteln vorgegangen werden kann, suchenden auch in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die wird sich morgen die Innenministerkonferenz befas- italienische Regierung gewährt den von ihr aner- sen. Sie werden Verständnis dafür haben, daß ich kannten Betreuungsorganisationen einen Beitrag zu den Beratungen dort nicht vorgreifen möchte. den durch die soziale Betreuung der italienischen Gastarbeiter in der Bundesrepublik Deutschland ent- stehenden Kosten. Die Organisationen müssen am Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Ende jeden Jahres einen detaillierten Bericht über Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Dr. Schneider ihre Betreuungsarbeit vorlegen. Die von der kom- (Nürnberg). munistisch beeinflußten Gewerkschaft CGIL ge- schaffene Betreuungsorganisation INCA ist seit Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) : Herr ihrem Bestehen von der italienischen Regierung an- Bundesminister, teilen Sie die Auffassung, daß erkannt und erhält für ihre Betreuungstätigkeit in außer sicherheitsrechtlichen und politischen Erwä- der Bundesrepublik Deutschland in der genannten gungen die zunehmende Betätigung ausländischer Weise vom italienischen Staat finanzielle Unter- Parteien auch unter anderen Gesichtspunkten von stützung. Die von der KPI aufgebaute Betreuungs- Bedeutung ist, wenn die Ausländer sich wachsend organisation FILEF wurde seitens der italienischen und mit immer verbesserten Organisationen in die Regierung zunächst als private Vereinigung von inneren Angelegenheiten des Gastlandes einmischen italienischen Gastarbeitern angesehen und erhielt oder es zum Austragungsort von politischen Span- keinerlei staatliche Finanzhilfe, wie eine solche auch nungen und Streitigkeiten machen, die ihren Ur der Parteiorganisation der KPI in der Bundesrepu- sprung in anderen Ländern und in anderen Gesell- blik Deutschland nicht gewährt wird. Erst vor unge- schaftssystemen haben? fähr zwei Monaten hat die italienische Regierung auch die FILEF, also die Betreuungsorganisation der Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- KPI, als Betreuungsorganisation anerkannt. Sie wird geordneter, die Bundesregierung hat nie einen Zwei- dieser bei einem entsprechenden Nachweis ihrer Be- fel darüber gelassen, daß sie es nicht zulassen wird, treuungstätigkeit in gleicher Weise wie den anderen daß innenpolitische Streitigkeiten anderer Länder anerkannten Betreuungsorganisationen einen Bei- auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland trag zu den entstandenen Kosten gewähren. übertragen und hier ausgetragen werden. Eine an- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9879 Bundesminister Genscher dere Sache ist es, wenn es sich um die Wahrneh- weil -- wenn Sie meiner ersten Antwort aufmerk- mung von Interessen hier arbeitender Gastarbeiter sam zugehört hätten, müßten Sie das wissen ---- die handelt. Ich glaube, wir müssen uns dem sehr kom- Tätigkeit der Kommunistischen Partei Italiens viele plexen, auch gesellschaftspolitischen Problem stel- Jahre vor dem von Ihnen genannten Zusammen-- len, das darin besteht, daß wir in unserem Land eine treffen aufgenommen worden ist. sehr große Zahl ausländischer Gastarbeiter haben, Herr Abgeordneter, drittens hätte ich es begrüßt, die an dem Produktivitätsfortschritt und dem Wohl- wenn Sie diese Fragestunde zum Anlaß genommen stand in unserem Lande mitwirken. Daraus ergeben hätten, lieber noch einmal den mit diesem Thema im sich auch gesellschaftliche Probleme, die sicher noch Zusammenhang stehenden Komplex aufzugreifen, nicht in dem erforderlichen Maß gelöst sind, wie es da Sie zwar in einer Presseerklärung, nicht aber im eigentlich der Fall sein sollte. Deutschen Bundestag die Behauptung — ich betone: die unzutreffende Behauptung — aufgestellt haben, Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Sie seien hier von der Bundesregierung falsch unter- Eine weitere Zusatzfrage. richtet worden.

Dr. Schneider (Nürnberg) (CDU/CSU) : Herr Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Bundesminister, haben Sie Anhaltspunkte für die Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Annahme, daß die Gründung der KPI-Zweigstellen Niegel. und der Betreuungsorganisationen und ihre Zusam- menarbeit mit der DKP im Rahmen der von Ihnen Niegel (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, halten im Verfassungsschutzbericht 1969/70 dargestellten Sie die Voraussetzungen für Verbotsmaßnahmen Strategie des proletarischen Internationalismus liegt, gegen diese Zweigstellen oder Sektionen der KPI der auf eine sozialistische Umwälzung der derzeiti- in der Bundesrepublik nicht ebenso für gegeben, wie gen Verhältnisse auch in der Bundesrepublik Sie die von Ihnen vorhin angezogenen Verbotsmaß- Deutschland abzielt? nahmen gegen die rechtsextremistische MSI in Frankfurt für geboten halten? Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- geordneter, es ist bekannt, daß es eine Reihe ge- Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- meinsamer Ziele der kommunistischen Parteien in geordneter, ich hatte bereits zum Ausdruck gebracht, allen Ländern gibt. Ich habe bei der Feststellung, daß für die Anordnung der ausländerrechtlichen daß die Kommunistische Partei Italiens ihren Mit Maßnahmen die dort zuständigen Behörden verant- gliedern in der Bundesrepublik die Weisung gege- wortlich sind. Ich gehe davon aus, daß die Behörden, ben hat, sich streng nach den Gesetzen unseres Lan- die ausländerrechtlich die Verantwortung in den des zu richten, auch diesen Tatbestand mit im Auge Städten tragen, in denen die Kommunistische Partei gehabt. Gegenteiliges hat bisher nicht festgestellt Italiens Zweigstellen unterhält, den Sachverhalt mit werden können. der gleichen Gewissenhaftigkeit prüfen, wie das in einem anderen Fall in Frankfurt geschehen ist.

Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Niegel. Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Brück. Niegel (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, wäre es möglich, daß in den Besprechungen der Vertreter Brück (Köln) (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, der Sozialdemokratischen Partei im Jahre 1968 -- eingangs Ihrer Ausführungen haben Sie dargelegt, diese Besprechungen waren schon einmal Gegen- daß Sie der morgigen Beratung nicht vorgreifen stand der Fragestunde; sowohl Sie als auch Herr wollten. Sind Sie denn für Ihre Person bereit, das Ehmke hatten sich innerhalb weniger Wochen hier Ausländergesetz, insbesondere den § 6 des Gesetzes, mit diesem Thema zu befassen; Herr Ehmke sagte in die morgigen Beratungen sehr eingehend einzu- seinerzeit, die Besprechungen seien deswegen durch- beziehen, nachdem gewisse Erfahrungen gemacht geführt worden, um die Haltung der Kommunisti- worden sind? schen Partei Italiens zu eruieren — seitens der jetzi- gen Regierungsmitglieder Franke und Staatssekretär Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- Bahr bestimmte Zusagen im Hinblick auf die Tätig- geordneter, ich werde alle gültigen Bestimmungen keit der KPI in Deutschland gemacht worden sind? in die morgigen Beratungen einführen. Ich gehe da- von aus, daß auch meine Kollegen aus den Ländern Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- das tun werden. geordneter, ich habe erstens nicht die Aufgabe, als Mitglied der Bundesregierung Fragen zu behandeln, Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: die allein in die Zuständigkeit von Parteien, und Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Matt- zwar demokratischen Parteien in der Bundesrepublik höfer. Deutschland, fallen. Zweitens kann ich mir nicht vorstellen, daß die Matthöfer (SPD) : Herr Minister, meinen Sie von Ihnen genannten Persönlichkeiten derartige nicht auch, daß es besser wäre, anstatt mit poli- Zusicherungen gegeben haben, schon deshalb nicht, zeilichen Verbotsmaßnahmen gegen solche Tenden- 9880 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Matthöfer zen vorzugehen, gewissermaßen positiven Verfas- Jahre 1970 die Tätigkeit der Kommunistischen Partei sungsschutz zu betreiben, indem man die ausländi- Italiens besonders intensiv geworden sei, sondern s chen Arbeiter stärker als bisher über unsere ich habe gesagt, die Erkenntnisse aus der Zeit vor demokratischen Institutionen und über die Arbeits- 1970 seien deshalb lückenhaft, weil damals, also vor weise unserer demokratischen Parteien und Ge- 1970, die nach Auffassung der jetzigen Bundesregie- werkschaften aufklärt? rung gebotene Aufmerksamkeit diesen Aktivitäten (Abg. Brück [Köln] : Die DKP!) nicht geschenkt worden ist. Erst ein Erlaß aus dem Jahre 1970 hat dafür die Veranlassung geboten. Des- halb sind die Erkenntnisse seit dieser Zeit größer, in- Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- tensiver und weniger lückenhaft, was aber keines- geordneter, ich hatte, glaube ich, schon in einer falls den Schluß zuläßt, daß etwa erst in diesem früheren Antwort gesagt, daß das gesellschafts- Zeitpunkt eine intensive Tätigkeit aufgenommen politische Problem der Integration , dazu gehört worden wäre. auch die Aufklärung über die inneren Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland — ohne Zweifel Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: noch nicht befriedigend gelöst ist. Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Milt- ner. Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten von Dr. Miltner (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, Thadden. sind Sie mit mir der Meinung, daß nunmehr durch die zahlenmäßige Verstärkung der KPI-Zweigstellen von Thadden (CDU/CSU) : Herr Minister, kön- in der Bundesrepublik und die verstärkte Aktivität nen Sie uns eine Angabe darüber machen, wie sich dieser Zweigstellen eine neue tatsächliche und recht- die Intensität der Arbeit der KPI auf deutschem liche Situation gegeben ist? Und teilen Sie damit Boden zur Intensität der Arbeit rechtsradikaler, auch die Auffassung Ihres Parteifreundes Weyer, also neofaschistischer Gruppen aus Italien verhält? der diesen Zustand charakterisiert hat und daran Maßnahmen geknüpft haben möchte? Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- geordneter, ohne Zweifel ist die Organisationsdichte Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- der Kommunistischen Partei Italiens stärker. geordneter, die Rechtssituation hat sich nicht ver- ändert, weil ja auch keine neuen Gesetze in diesem Bereich ergangen sind. Die tatsächliche Situation ist Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: in der Tat in der Entwicklung. Das ist auch der An- Eine Zusatzfrage des Hern Abgeordneten Becher. laß dafür, daß sich die Innenministerkonferenz mor- gen mit dieser Frage befaßt. Dr. Becher (Pullach) (CDU/CSU) : Herr Minister, habe ich Sie recht verstanden, als Sie vorhin sagten, Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: daß sich die Organisationen der KPI insbesondere Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lenz. seit 1970 stark verbreitet hätten? Und darf man da nicht doch annehmen, daß bei den im Jahre 1967 Dr. Lenz (Bergstraße) (CDU/CSU) : Herr Bundes- geführten Geheimgesprächen zwischen Vertretern minister, gibt es eigentlich auch Betreuungsorgani- der KPI und der Sozialdemokratischen Partei, bei sationen italienischer Arbeiter, die dem MSI nahe- denen — den vorliegenden Quellen nach — die stehen, und werden auch sie vom italienischen Staat Wiederzulassung der KPD zugesagt worden sein unterstützt? soll, auch die Zulassung einer intensiven Tätigkeit der KPI zugestanden worden sein kann? Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- geordneter, ich kann diese Frage im Augenblick Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- nicht beantworten, aber die Tatsache, daß der italie- geodneter, ich glaube, daß man zunächst einmal den nische Staat die kommunistische Betreuungsorgani- Komplex Deutsche Kommunistische Partei und KPI, sation unterstützt, scheint mir zu zeigen, daß dabei was die Betätigungsmöglichkeiten angeht, streng parteipolitische Unterschiede nicht gemacht werden. trennen muß. Die Deutsche Kommunistische Partei Aber bitte, das ist nur eine Annahme. Ich will gern hat ihre Tätigkeit bekanntlich im Jahre 1968 auf- auch dieser Frage nachgehen. genommen. Einer Zulassung, wie Sie meinen, be- durfte es dazu nicht. Wohl aber ist richtig, daß die Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: damalige Bundesregierung, die Regierung Kiesinger, Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Vogel. und auch der Bundesminister des Innern keine Ver- anlassung gesehen haben, Maßnahmen gegen die Vogel (CDU/CSU) : Herr Minister, nachdem Sie Aufnahme der Tätigkeit der Deutschen Kommuni- zur tatsächlichen Seite zu erkennen gegeben haben, stischen Partei zu ergreifen. Es sind, wie Sie wissen, daß der Sachverhalt weitgehend von Ihrem Hause solche Maßnahmen jedenfalls nicht ergriffen worden. erforscht und aufgeklärt ist, und nachdem insoweit Was nun die Tätigkeit der Kommunistischen Par- eine ausreichende tatsächliche Beurteilungsgrund- tei Italiens angeht, so scheint mir schon der Aus- lage für die rechtliche Beurteilung besteht, wenn ich gangspunkt Ihrer Frage auf einem Mißverständnis davon ausgehe, daß Sie als Bundesinnenminister in- zu beruhen. Ich habe nicht gesagt, daß seit dem soweit zuständig sind, möchte ich Sie fragen: Sind Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9881 Vogel Sie als der zuständige Minister nicht doch in der — und die Bundesrepublik Deutschland hat sich da- Lage, dem Hause Ihre rechtliche Würdigung des ge- zu bekannt — bestimmte Auszeichnungen verleiht. gebenen Sachverhalts mitzuteilen, auch angesichts besteht kein Grund, sie zu verschweigen. Niemand der Tatsache, daß sich die Länderinnenminister mor- ist verpflichtet, diese Fragen zu beantworten. gen mit diesem Komplex beschäftigen werden? Büchner (Speyer) (SPD) : Herr Bundesminister, Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- mir liegt hier ein Personalbogen der Oberfinanz- geordneter, ich hatte versucht, darzulegen, daß der direktion Münster für Verwaltungsangestellte vor, Bundesinnenminister zwar für vereinsrechtliche in dem unter anderem auch nach Olympia-Ehren- Maßnahmen, nicht aber für andere zuständig ist. zeichen gefragt wird. Da Sie nun auch für den Sport Die Bundesregierung legt Wert darauf, daß alle verantwortlich sind, möchte ich Sie fragen: Sind Sie Maßnahmen, die in diesem Bereich getroffen wer- mit mir nicht der Meinung, daß, wenn eine solche den, in einer absoluten Abstimmung mit den Bun- Qualifikation nur irgendwie Voraussetzung wäre, desländern stattfinden. Ich glaube, daß jeder, der um Beamter oder Angestellter im öffentlichen Dienst die Struktur der Bundesrepublik Deutschland werden zu können, nach den Olympischen Spielen in kennt, insbesondere auch die zwischen Bund und Sapporo und wohl auch nach denen in München die Ländern verteilte und geteilte Verantwortung für Personalknappheit im öffentlichen Dienst dadurch die öffentliche Sicherheit, Verständnis dafür haben vielleicht noch entsprechend verstärkt werden wird, wenn die Bundesregierung über Maßnahmen würde? von solch schwerwiegender und tiefgreifender Art nur in voller Übereinstimmung mit den Bundes- Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- ländern entscheidet. Das ist der Grund, warum ich geordneter, diese Ihre Meinung muß ich in der Tat die morgige Sitzung der Innenminister nicht präju- schon aus eigennützigen Gründen teilen, weil auch dizieren möchte. mir auf diese Weise der Weg in den öffentlichen Dienst verschlossen wäre. Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: (Heiterkeit.) Wir kommen zur Frage 43 des Herrn Abgeord- neten Wagner (Günzburg). Hier hat der Fragesteller um schriftliche Beantwortung gebeten. Die Antwort Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: wird als Anlage abgedruckt. Ich rufe die Frage 45 des Herrn Abgeordneten Offer- geld auf: Ich rufe die Frage 44 des Herrn Abgeordneten Welche Erkenntnisse über die Wirkungen von Naßkühl- Büchner auf: türmen auf Klima und Luft liegen bisher vor, und ist die Bun- desregierung bereit, gemeinsam mit der Schweiz die voraussicht- Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, daß Personal- lichen Auswirkungen der Kühlsysteme der geplanten Kernkraft- bogen, die im öffentlichen Dienst verwendet werden, eine Rubrik werke Kaiseraugst und Leibstadt zu prüfen? „Orden und Ehrenzeichen" enthalten, und wird die Bundesregie- rung veranlassen, daß diese Rubrik in Zukunft nicht mehr in Bitte, Herr Minister! Personalbogen erscheint? Bitte, Herr Bundesminister! Genscher, Bundesminister des Innern: Die Bun- desregierung ist der Auffassung, daß die möglichen Genscher, Bundesminister des Innern: Die Frage regionalen klimatischen Auswirkungen des Betriebes nach Orden und Ehrenzeichen, Herr Abgeordneter, von Naßkühltürmen großer Kernkraftwerke erheb- ist nicht allgemein in den Personalbogen der Bundes- liche Bedeutung haben. Die Wirkung von Naßkühl- behörden enthalten. Die Angabe von Orden und türmen auf Klima und Luft ist grundsätzlich bekannt, Ehrenzeichen wie auch von Titeln kann natürlich von jedoch sind die Folgen weitgehend von den ört- Bedeutung sein, wenn sich damit das Persönlich- lichen meteorologischen Gegebenheiten abhängig. keitsbild des Bewerbers in Beziehung zu seinem Im Einzelfall kann daher nur ein sachverständiges Werdegang oder zu der vorgesehenen beruflichen Gutachten Aufschluß über die Auswirkungen geben. Verwendung abrundet. Ich meine, man sollte es der Beurteilung des jeweils für die Personalverwaltung Von schweizerischer Seite ist ein Gutachten in An- verantwortlichen Ressorts überlassen, ob es der- griff genommen worden, das die hier gestellten artige Angaben zu den Eignungs- und Leistungs- Fragen im Zusammenhang mit dem geplanten merkmalen in Beziehung setzen will. Schweizer Kernkraftwerk mit Naßkühltürmen in Kaiseraugst behandeln wird. Die Fertigstellung des Gutachtens wird für April erwartet. Die Bundes- Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: regierung wird bilaterale Kontakte mit schweize- Eine Zusatzfrage. rischen Bundesbehörden aufnehmen, um zu versu- chen, Unterlagen über die genannten und geplanten Büchner (Speyer) (SPD) : Herr Bundesminister, Kernkraftwerke zu erhalten. Dabei ist zu prüfen, ob sind Sie in der Lage, konkrete Beispiele zu geben, das begonnene Schweizer Gutachten auch auf Leib- wie der Besitz von Orden und Ehrenzeichen für die stadt übertragbare Ergebnisse liefern wird oder fachliche Qualifikation von Beamten und Angestell- ob ein gesondertes Gutachten erforderlich ist. Eine ten im öffentlichen Dienst relevant werden könnte? deutsche Stellungnahme kann erst nach Vorliegen des Gutachtens abgegeben werden. Jedenfalls wird Genscher, Bundesminister des Innern: Ich würde die Bundesregierung bei wesentlicher Beeinträchti- nicht sagen: „für die fachliche Qualifikation". Aber, gung deutscher Interessen entsprechende Schritte Herr Abgeordneter, wenn ein demokratischer Staat einleiten. 9882 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Gebietshoheit und des Asylrechts der Bundesrepublik Deutschland ( 0 Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: zu reagieren? Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Offergeld. Herr Minister!

Offergeld (SPD) : Herr Bundesminister, sicherlich teilen Sie die Auffassung der Ministerkonferenz für Genscher, Bundesminister des Innern: Im Ein- Raumordnung, wonach dem Standort von Kernkraft- vernehmen mit dem Auswärtigen Amt beantworte werken große Bedeutung für die Raumordnung und ich die Frage wie folgt: Nach den Feststellungen des Landesplanung zukommt. Kann ich davon ausgehen, Bundesgrenzschutzes hat sich in der Nacht vom daß Sie mit mir darin übereinstimmen, daß es für 1. zum 2. Februar 1972 an der deutschtschecho- die Interessen beider Seiten schädlich sein könnte, slowakischen Grenze folgendes ereignet. Gegen wenn in der Nordostschweiz, also zur deutschen 22.30 Uhr beobachtete eine Streife des Zollgrenz- Grenze hin, in erheblicher Massierung Standorte dienstes, daß von einem tschechoslowakischen Be- von Kernkraftwerken festgelegt würden, ohne daß obachtungsturm an der erwähnten Stelle Leucht- das vorher mit uns abgestimmt würde? kugeln abgeschossen wurden. Unmittelbar darauf riegelten tschechoslowakische Grenzsicherungskräfte die Grenze mit Doppelposten im Abstand von etwa Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- 50 Metern ab. Die Streife des Zollgrenzdienstes und geordneter, mit den Grundsätzen der Raumord- eine von ihr verständigte Streife des Bundesgrenz- nungsministerkonferenz stimme ich in vollem Um- schutzes erreichten gegen 22.45 Uhr das fragliche fang überein. Die Frage, ob das auch in dem von Gebiet an der Grenze, konnten aber zunächst keine Ihnen angegebenen Fall zutrifft, ist ja gerade Ge- weiteren Feststellungen treffen. genstand der Prüfung. Aber ich bin der Meinung, daß es unseren gutnachbarlichen Beziehungen eben- Beim Absuchen der Grenze wurden am 2. Februar so wie der Notwendigkeit einer europäischen Raum- 1972 gegen 1.00 Uhr am Ufer der Röslau, die in die- ordnungspolitik entspricht, wenn die Festlegung der sem Abschnitt die Grenze bildet, Spuren gefunden, Standorte keinesfalls ohne Abstimmung geschieht. die vermuten lassen, daß eine Person versucht hat, sich mit den Händen am angeböschten Ufer hochzu- ziehen und daß sie sich dabei leicht verletzt hatte. Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Eine weitere Zusatzfrage. Spuren, die darauf schließen ließen, daß tschecho- slowakische Grenzsoldaten den Bach oder anderes Bundesgebiet betreten hatten, konnten indessen (SPD) : Herr Minister, darf ich auf Offergeld nicht entdeckt werden. Nach dem festgestellten Grund Ihrer Antwort auf meine Frage davon aus- Sachverhalt spricht zwar einiges für die Vermutung, gehen, daß eine solche Abstimmung — Sie haben daß die tschechoslowakischen Grenzsicherungs- gesagt, Sie bemühten sich um Unterlagen — bisher organe bei diesem Vorgang einen Fluchtversuch nicht erfolgt ist, obwohl die Planungen für diese vereitelt haben. Die getroffenen Feststellungen rei- Kraftwerkbauten in der Schweiz schon nahezu ab- chen jedoch für den Nachweis einer Grenzverlet- geschlossen sind, wenn man Pressemeldungen glau- zung durch die Grenzwachen der Tschechoslowakei ben darf? nicht aus. Genscher, Bundesminister des Innern: Ja, jeden- falls nicht eine Abstimmung mit einer abschließen- Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: den Meinungsbildung. Zusatzfrage, Herr Abgeordneter.

Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Schlee (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, würden Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Josten. die Feststellungen auch dann nicht für den Nachweis einer Grenzverletzung ausreichen, wenn die Ergeb- Josten (CDU/CSU) : Herr Minister, wären Sie be- nisse zeigten, daß man von tschechoslowakischer reit, die genauen Prüfungsergebnisse über die Wir- Seite mit Waffengewalt den Flüchtlinge zur Rück- kungen von Naßkühltürmen auf Luft und Wasser, kehr gezwungen hat? von denen Sie vorhin sprachen, jeweils den ört- lichen Behörden dort zur Verfügung zu stellen, wo, Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- wie z. B. in Bad Breisig oder im Raum Weißenthurm geordneter, wenn das bewiesen werden könnte, am Rhein, Kernkraftwerke geplant werden? wäre das etwas anderes.

Genscher, Bundesminister des Innern: Jawohl. Schlee (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, da es sich hierbei nicht um den ersten Fall dieser Art Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: handelt, frage ich Sie: Ist die Bundesregierung nicht Ich rufe die Frage 46 des Herrn Abgeordneten Schlee der Meinung, daß derartige Vorkommnisse, auch auf: wenn sie nicht genau festgestellt werden können, in Wie gedenkt die Bundesregierung auf die laut Bekanntgabe des bayerischen Staatsministeriums des Innern, nach der tschecho- der dortigen Grenzbevölkerung ein Gefühl der slowakische Sicherheitsorgane sich in der Nacht zum Mittwoch, Unruhe, der Unsicherheit und der Bedrohung her- dem 2. Februar 1972 wiederum durch Festnahme oder Bedrohung mit Schußwaffen eines Flüchtlings bemächtigt haben, der sich vorrufen müssen, wenn darauf nicht entschieden bereits auf dem deutschen Ufer der Röslau bei Schirnding/ Mühlbach (Gemeinde Fischern) befand, neuerliche Verletzung der reagiert wird? Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9883

Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- gedacht und geplant ist, und der Arbeitsgemein- geordneter, das ruft nicht nur bei dieser Grenzbevöl- schaft für Umweltfragen e. V. irgendeine Überein- kerung Beunruhigung hervor, sondern überall und stimmung und ein Zusammenhang? vor allem dort, wo die Bevölkerung mit diesen Pro- blemen in besonderem Maße konfrontiert ist. Ich Genscher, Bundesminister des Innern: Wir den- glaube aber, daß die Wirksamkeit unserer Proteste den auch an diese Arbeitsgemeinschaft. in den Fällen, in denen wir genaue Unterlagen haben, herabgemindert würde, wenn wir uns auf den Pfad von Vermutungen begäben, auch wenn Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: diese Vermutungen ein gewisses Maß an Wahr- Eine weitere Zusatzfrage. scheinlichkeit haben. Es sollte Ihnen bekannt sein, Herr Abgeordneter, daß die Bundesregierung in Müller (Mülheim) (SPD) : Halten Sie im Sinne jedem Fall einer Grenzverletzung, wo immer sie meiner ersten Frage die Zusammensetzung dieses stattfindet, mit aller Energie protestiert, übrigens Kreises für so abgewogen — ich meine die Beteili- nicht, wie früher, durch untergeordnete Stellen, son- gung aller —, daß er den Gesichtspunkten gerecht dern als Bundesregierung. Als Mitglied der Bun- werden kann, von denen Sie vorhin gesprochen ha- desregierung tue ich das. ben?

Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Genscher, Bundesminister des Innern: Wenn das Eine Zusatzfrage. so wäre und nichts mehr zu wünschen übrigbliebe, brauchten wir dieses neue Gremium nicht zu schaf- Dr. Wittmann (München) (CDU/CSU) : Hat man fen. sich in diesem speziellen Fall bei den tschechoslowa- kischen Grenzbehörden um Aufklärung bemüht, da Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: die Spurensicherung, von der Sie hier berichtet ha- Ich rufe die Frage 48 des Herrn Abgeordneten Mül- ben, darauf hindeutet, daß etwas geschehen ist? ler (Mülheim) auf: Welche Vorbereitungen sind bisher getroffen worden, damit Bundesminister des Innern: Ja, Herr das Umweltforum möglichst bald mit seiner Arbeit beginnen Genscher, kann? Abgeordneter, das ist geschehen. Der Grenzbeauf- tragte der bayerischen Grenzpolizei in Furth im Genscher, Bundesminister des Innern: Wie ich Wald hat den Vorfall bei einer aus anderem Anlaß schon gesagt habe, wird das Umweltforum keine abgehaltenen Besprechung mit Offizieren der tsche- Veranstaltung der Bundesregierung sein. Wir hof- choslowakischen Paßkontrolle in Mühlbach zur Spra- fen, daß wir dem Hohen Hause in Kürze ausführlich che gebracht. Auch dabei konnten keine weiteren Er- über die Beteiligung berichten können. Wir sind da kenntnisse gewonnen werden. noch in Gesprächen mit verschiedenen Partnern.

Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Ich rufe die Frage 47 des Herrn Abgeordneten Mül- Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: ler (Mülheim) auf: Zu einer Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller. Welche Zielsetzung verfolgt die Bundesregierung mit dem von ihr in ihrem Umweltprogramm angekündigten Umweltforum, und welche Organisationen und Gruppen sollen in dem Forum ver- Müller (Mülheim) (SPD) : Herr Minister, darf man treten sein? davon ausgehen, daß zumindest das, was ich vorhin Herr Minister! bereits habe anklingen lassen, gesichert sein wird, daß es in dem vorhin genannten Verein auch eine abgewogene personelle Zusammensetzung des Genscher, Bundesminister des Innern: Das Um- Hauptausschusses gibt, wobei alle Interessen be- weltforum ist als eine gemeinsame Veranstaltung für rücksichtigt sind? Es darf nicht etwa so aussehen, alle an Umweltproblemen Beteiligten gedacht, d. h. daß Industrie, Technik und Wissenschaft dominie- für die Verursacher, für Gesetzgebung und Verwal- ren, während die eigentlichen Betroffenen, die zum tung in allen Bereichen, für den theoretischen und Teil auch Verursacher sind, dabei zu kurz kommen. praktischen Sachverstand, für Vertreter der Medien, insbesondere aber für die von Umweltbelastungen berührten Bürger. Eine solche Zusammenführung Genscher, Bundesminister des Innern: Ja, Herr von Energien und von Aktivitäten außerhalb der Abgeordneter. Dabei sind natürlich nicht nur die Verwaltung und die Aufnahme von Kritik und An- Verursacher betroffen. Ich finde, Betroffene sind regungen aus der Bevölkerung hat sich ja bereits vielmehr diejenigen, die nicht Verursacher sind. bei der Erarbeitung des Umweltprogramms der Bun- desregierung außerordentlich bewährt. Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Zu einer Zusatzfrage Herr Abgeordneter Jahn.

Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Müller. Dr. Jahn (Braunschweig) (CDU/CSU) : Herr Mini- ster, ist daran gedacht, dieses Umweltforum auch Müller (Mülheim) (SPD) : Herr Minister, besteht für Interessengruppen aus dem EWG-Bereich zu zwischen diesem Forum, das nach Ihren Worten ja öffnen? Sie wissen, daß die Harmonisierungsfragen wohl als eine ständige Einrichtung für den Dialog hier eine große Rolle spielen. 9884 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- Dr. Häfele (CDU/CSU) : Herr Minister, denkt die geordneter, Sie wissen, daß ich sehr dafür eintrete, Bundesregierung daran, für den Fall, daß sie die eine internationale Zusammenarbeit zu fördern. Kompetenz für den Landschaftsschutz erhält, Bewirt- Aber ich würde es schon als einen großen Fortschritt schaftungszuschüsse einzuführen? ansehen, wenn wir ein sehr differenziertes, unab- hängiges Forum dieser Art für unseren Bereich Ertl, Bundesminister für Ernährung, Landwirt- schaffen könnten. Was Sie anregen, kann dann schaft und Forsten: Für ein noch nicht gelöstes Pro- sicher ein nächster Schritt sein. blem kann ich jetzt natürlich keine verbindliche Er- klärung abgeben. Herr Kollege, das werden Sie von mir nicht verlangen können. Hier ist ja zunächst Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Die Frage 49 des Abgeordneten Pieroth wird auf das Hohe Haus gefragt; denn das muß das Hohe Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Haus entscheiden. Aber ich will einmal versuchen, Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Ihnen hier so präzise wie möglich zu antworten: 1. Das Problem der Sozialbrache ist sicherlich ein Damit sind die Fragen aus diesem Geschäftsbe- Problem, das auch im Bereich der Gemeinschafts- reich beantwortet. Ich danke Ihnen, Herr Minister. aufgabe Agrarstruktur zur Diskussion steht. Dies- Wir kommen zu den Fragen aus dem Geschäfts- bezüglich führen wir Verhandlungen mit den Län- bereich des Bundesministers für Ernährung, Land- dern. wirtschaft und Forsten. Zur Beantwortung steht der 2. Selbstverständlich muß sich der Bund, sollte die Herr Bundesminister Ertl zur Verfügung. konkurrierende Gesetzgebung kommen, auf Grund dieser Tatsache und der sich daraus möglicherweise Zuerst rufe ich die Fragen 79 und 80 des Abge- ableitenden legislativen Verpflichtung auch Gedan- ordneten Dr. Häfele auf: ken darüber machen, wie er zur Lösung des Pro- Welche konkreten Vorstellungen hat die Bundesregierung in blems beitragen kann. der Frage der Einführung von Bewirtschaftungszuschüssen in landwirtschaftlichen Problemgebieten?

Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß solche Bewirt- Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: schaftungszuschüsse rasch kommen müssen, um zu verhindern, daß infolge übermäßiger Abwanderung aus der Landwirtschaft Eine weitere Zusatzfrage. wertvolle Landschaften veröden? Dr. Häfele (CDU/CSU) : Hat die Bundesregierung Ertl, Bundesminister für Ernährung, Landwirt- schon Vorstellungen, welche Kosten entstünden, schaft und Forsten: 1. Im Rahmen der Agrarstruk- wenn solche Bewirtschaftungszuschüsse eingeführt turpolitik werden verschiedene Hilfen für die Land- würden? wirtschaft gewährt. Soweit sie die Landschaftspflege berühren, hat der Bund keine Kompetenz. Ertl, Bundesminister für Ernährung, Landwirt- 2. Die Landschaftspflege ist bis zur Lösung der schaft und Forsten: Herr Kollege Häfele, Sie brin- Frage, ob sie in die konkurrierende Gesetzgebung gen mich hierbei auf einen ganz schwierigen Pfad. genommen werden soll oder nicht, ausschließliche Aber ich will Ihnen hier einmal folgendes sagen: Ländersache. Ich lasse in meinem Haus, weil ich diese positiven Erfahrungen mit dem Einkommensausgleich für die 3. Für begrenzte Gebiete stehen Einkommenshil- Almwirtschaft und Hutungen gesammelt habe, ge- fen zur Diskussion, in Brüssel, aber auch hier in der rade ermitteln, welche Kosten entstehen, wenn man Bundesrepublik. Es ist sehr schwierig, hierfür die diese Hilfen langfristig fortsetzen könnte. Das soll Kriterien zu finden. Diese Hilfen sind sicherlich nicht heißen, daß ein Beschluß über die Fortsetzung nicht geeignet, das Problem der Sozialbrache zu dieser Hilfen gefaßt wurde. Aber ich lasse es we- lösen. nigstens untersuchen. 4. Weil der Bundesregierung die Schwierigkeiten insbesondere für Grünland- und Futterbaubetriebe Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: bekannt sind, hat sie sich ganz besonders bemüht, Eine weitere Zusatzfrage. Aber, Herr Kollege, ich im Rahmen des Einkommensausgleichs, der für die muß Sie darauf aufmerksam machen, daß mit jeder Verluste durch die D-Mark-Aufwertung gewährt weiteren Zusatzfrage die Chance des Kollegen wird, vor allem die Grünland- und Futterbaube- Höcherl schwindet, daß seine Frage aus diesem Ge- triebe zu berücksichtigen. Das galt auch für die im schäftsbereich noch beantwortet wird. letzten Jahr zusätzlich gewährte Liquiditätshilfe. Ich kann Ihnen aus meinem Bereich versichern, daß Dr. Häfele (CDU/CSU) : Es ist meine letzte Zu- diese Hilfen sehr nützliche Wirkungen gezeigt ha- satzfrage. Herr Bundesminister, teilen Sie meine ben. So konnte im bayerischen Bereich festgestellt Meinung, daß hier Eile geboten ist, bald eine Ent- werden — ähnliche Berichte habe ich auch aus dem scheidung herbeizuführen? Schwarzwald —, daß beispielsweise seit langem nicht mehr bestoßene Almen wieder neu bestoßen wurden. Ertl, Bundesminister für Ernährung, Landwirt- schaft und Forsten: Herr Kollege Häfele, ich teile Ihre Meinung. Ich teile sogar Ihre Meinung, daß

Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: bezüglich der konkurrierenden Gesetzgebung Eile Zusatzfrage. geboten ist. Ich kann Sie als Kollegen der bedeu- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9885

Bundesminister Ertl tenden CDU/CSU-Fraktion nur bitten, dem Bundes- Höcherl (CDU/CSU) : Ich will nicht von dem Ge- minister zu helfen. heimblatt, dem Bulletin der Bundesregierung, spre- chen, das nicht jeder liest, aber eine Frage: Sie halten also die Preisentwicklung in der Bundes- Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Ich rufe die Frage 81 des Abgeordneten Höcherl auf: republik nicht für inflationär, sondern glauben, daß sie sich im Rahmen einer ganz ordentlichen Stabi- Trifft es zu, daß Bundesminister Ertl in der Agrardebatte der Beratenden Versammlung in Straßburg die Inflationsentwicklung litätsentwicklung halte? in der Bundesrepublik Deutschland zugestanden hat, und was ge- denkt die Bundesregierung zu tun, um diese Entwicklung einzu- dämmen? Ertl, Bundesminister für Ernährung, Landwirt- schaft und Forsten: Herr Kollege Höcherl, ich will Ertl, Bundesminister für Ernährung, Landwirt- Ihnen die Frage sehr gern beantworten. Ich halte schaft und Forsten: Herr Kollege Höcherl, ich habe die Preisentwicklung für nicht gut, und ich bin der keine solche Aussage gemacht, wie Sie es in Ihrer Meinung, die Bundesregierung hat gut daran getan, Frage darstellen. Aber ich will Ihnen hier einmal durch Konjunkturdämpfungsmaßnahmen dazu beizu- mitteilen, was ich gesagt habe. Ich habe in einer tragen, daß sich die Preise wieder normalisieren, Rede vor dem Europarat im Zusammenhang mit der wie zur Zeit alle Wirtschaftsredaktionen und alle Fortentwicklung der europäischen Agrarpolitik fol- Fachleute bestätigen. gendes ausgeführt — jetzt zitiere ich wörtlich, des- halb muß ich es ablesen, da man sich ja nicht alles (Abg. Höcherl: Aber ohne Erfolg!) merken kann —: „Die Agrarpreiserhöhung muß, solange es keine besseren Alternativen gibt" — Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: das führt übrigens auf die vorhergehende Frage zu- Damit sind wir am Ende der Fragestunde. rück, nämlich zur europäischen Regional- und Strukturpolitik —, „so gestaltet werden, daß sie Wir treten wieder in die Beratung der Punkte 2 nicht hinter den Inflationsraten zurückbleibt." Das bis 6 der Tagesordnung ein. Das Wort hat Herr gilt für die EWG-Agrarpolitik. Damit wird also Bundesminister Ehmke. nicht, wie Sie glaubten, eine Inflationspolitik der Bundesrepublik unterstellt, sondern ich habe allge- Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- mein festgestellt, daß das meine Auffassung für gaben: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! eine Normierung bzw. für eine Fixierung von In diesem Hause bestand und besteht Einigkeit dar- Agrarpreisfestsetzungsdaten ist. über, daß das Haus vor einer der wichtigsten Ent- Ich muß noch den zweiten Teil beantworten: Die scheidungen steht, die es in seiner Geschichte zu Maßnahmen der Bundesregierung zur Konjunktur- treffen hat. Gemessen an dieser Bedeutung ist mir dämpfung darf ich bei einem so versierten Kollegen aufgefallen, daß in den Beiträgen der Opposition wie dem Kollegen Höcherl als bekannt vorausset- eigentlich wenig von dem geschichtlichen Atem zu zen. Sie greifen im Augenblick offensichtlich so, spüren ist, der diese Frage begleitet. daß ein so bedeutender Verband, wie es der DIHT, (Abg. Dr. Klepsch: Jetzt kommt er!) wie Sie wissen, ist — ich bin gar nicht seiner Mei- nung —, vor kurzem z. B. gefordert hat, den Kon- Das gilt auch für die Rede von Herrn Kollegen junkturzuschlag sofort zurückzuzahlen. Schröder, so sehr ich deren meisterhafte Form be- wundert habe; denn diese Rede hat sich ja zur Sub- stanz, nicht nur zu Berlin, sondern zur Substanz der Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Eine Zusatzfrage. Verträge überhaupt nicht geäußert, sondern sich auf verfahrensmäßige und methodologische Bemerkun- gen beschränkt. Sie war darin allerdings weit quali- Höcherl (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, fizierter als die ausgewählten Erzählungen von warum haben Sie der Pressemeldung nicht wider- sprochen, wenn Sie jetzt behaupten, Sie hätten das Herrn Kollegen Marx. überhaupt nicht auf Deutschland bezogen, sondern Herr Kollege Marx, die Rede, die Sie hier gehalten es wären die fünf schlechten Partner, die inflationäre haben, war eine Rede, die in Weimar manche Politik machten, während der chemisch reinen Preis- Deutschnationale gehalten haben. politik der Bundesregierung so etwas natürlich über- (Beifall bei der SPD.) haupt nicht passieren könne. Ich sage manche Deutschnationale, weil zu sagen alle Deutschnationalen den Deutschnationalen der Ertl, Bundesminister für Ernährung, Landwirt- Weimarer Republik Unrecht tun würde. schaft und Forsten: Herr Kollege Höcherl, ich brauchte gar nicht zu dementieren, weil jeder Mensch (Beifall bei der SPD.) und damit auch jeder Journalist das Bulletin der Auf die Rolle der Deutschnationalen in Weimar Bundesregierung lesen kann. Dort ist das wortwört- komme ich noch zurück. lich veröffentlicht. Ich kann mir nicht die Mühe machen, dann auch noch für Falschleser Dementis (Zurufe von der CDU/CSU.) zu erlassen. Die Rede ist in vollem Wortlaut ver- Ich war eigentlich der Meinung, Herr Kollege Bar- öffentlicht. zel, wir könnten uns und diese Debatte selbst inso- fern nicht geschichtslos betrachten, als wir darin über-

Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: einstimmen könnten, daß heute hier in diesem Hause Eine letzte Zusatzfrage. nicht mehr das gesagt werden kann, was Herr Kol- 9886 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Bundesminister Dr. Ehmke lege von Merkatz am 19. März 1953 hier gesagt hat: Aber gerade weil wir trotz der uns aufgezwun- bei der Frage der Wiedervereinigung gehe es — genen staatlichen Teilung an der durch die Jahr- Zitat — hunderte gewachsenen nationalen Einheit festhalten wollen, sind wir uns doch auch, Herr Kollege von nicht um einen im Wege des Verhandelns und Weizsäcker, sicher darin einig, daß man aus der des Brückenbaus zu schaffenden Ausgleich, son- Geschichte dieser Nation nicht beliebig aussteigen dern um die Befreiung der besetzten deutschen kann. Ich muß sagen, ich habe mit Erstaunen ge- Gebiete. hört, daß Sie die Geschichte und die Bedeutung der Ich glaube, davon, daß diese Töne vorbei sind, kön- deutschen Nation im wesentlichen auf das Jahr 1871 nen wir und sollten wir gemeinsam ausgehen, und reduzieren wollen, und das in einer Zeit der ab- nicht von den Tönen, die wir damals gehört haben nehmenden Bedeutung des Nationalstaates und sei- und die wir zum Teil heute wieder hören. ner Souveränität. Ich möchte vielmehr bei aller notwendigen Aus- (Zurufe von der CDU/CSU.) einandersetzung festhalten, Herr Kollege Barzel, daß Ich habe auch mit Interesse vernommen, daß die Sie — und das war in dieser Form neu — gestern Bemerkungen des Bundeskanzlers über die Bemü- mit der Bundesregierung darin übereingestimmt hungen in beiden Teilen Deutschlands um das Erbe haben, daß die Lösung der deutschen Frage ein ge- der klassischen deutschen Literatur bei Herrn Marx schichtlicher Prozeß sei, dessen einzelne Stationen offenbar nur Unverständnis hervorrufen können; ich man heute noch nicht absehen könne. muß allerdings hinzufügen: ich hatte es nicht anders (Abg. Dr. Barzel: Der Satz geht weiter, erwartet. Herr Kollege Ehmke!) (Beifall bei der SPD.) — Vielleicht können Sie es ergänzen; ich habe es Meine Damen und Herren von der Opposition, nicht hier. bei der Politik, die diesen Ostverträgen zugrunde (Abg. Dr. Barzel: Für den man aber heute liegt, bei der Friedenspolitik, bei der Entspannung nicht den Weg verbauen dürfte durch auch gegenüber unseren osteuropäischen Nachbarn Zementieren, was die Bundesregierung mit und bei dem Ausgehen vom territorialen Status quo, ihrer Politik tue!) auch bei der Erstreckung des Gewaltverzichts auf diese Frage muß man doch diese historische Dimen- — In dieser Zielsetzung sind wir einig; in Ihrer Be- sion sehen. Ich habe, offen gestanden, Herrn Kol- hauptung sind wir nicht einig. Darauf gehe ich noch legen Schröder gestern nicht verstanden, als er von ein. den sogenannten Ergebnissen des zweiten Weltkrie- Aber, Herr Kollege Barzel, ich wollte hier noch ges sprach, denn diese Ergebnisse sind doch wohl einmal mehr Gemeinsamkeiten festhalten. Ich real genug. glaube, wir sind uns auch darin einig: Herr Kollege Barzel, wenn Sie gestern die berech- (Abg. Frau Kalinke meldet sich zu einer tigte Frage aufgeworfen haben, wer denn heute den Zwischenfrage.) Frieden in Europa störe, so fürchte ich, daß, so be- rechtigt die Frage ist, diese geschichtliche Dimen- sion in ihr fehlt. Denn sehen Sie: die Frage von Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Krieg und Frieden in Europa, insbesondere zwischen Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage? unserem Volk und den osteuropäischen Völkern, ist eine Frage, die viel älter und sehr viel geschichts- trächtiger ist als die Frage, mit der wir es heute zu Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- tun haben, nämlich die sie überdeckende Frage der gaben: Nein. Herr Kollege Barzel hat mir gestern Auseinandersetzung zwischen parlamentarischer keine gestattet, und ich möchte heute genauso ver- Demokratie und Kommunismus. Da hat es noch ganz fahren. andere Faktoren gegeben. In meiner Heimat z. B. (Abg. Frau Kalinke: Ich bedaure das sehr, war es einer der wesentlichen Gründe für die Härte Herr Kollege!) der Grenze, daß sich die nationale Grenze fast Ich darf davon ausgehen, Herr Kollege Barzel, völlig deckte mit der konfessionellen Grenze. Das daß wir uns auch darin einig sind, daß es heute nicht sollte gerade Ihnen doch zu denken geben. darum geht, die deutsche Einheit zu erreichen oder Ich habe für mich als Danziger aus der wechsel- aufzugeben. Um diesen Prozeß in die Zukunft hin- vollen Geschichte des Miteinanders und Gegeneinan- ein im Sinne unserer Interessen zu gestalten, Herr ders und schließlich des blanken Hasses, der Ver- Kollege Barzel — auch darin werden wir uns einig nichtung und der Vertreibung den Schluß gezogen, sein —, muß man doch den unheilvollen geschicht- daß wir nicht mit dem Blick in die Vergangenheit lichen Prozeß mit im Auge behalten, der zur Teilung und auch nicht mit dem Blick auf uns geschehenes unseres Vaterlandes geführt hat. Dieser Prozeß, Unrecht -- denn auch das hat es gegeben — in Bit- meine Damen und Herren, hatte mit dem Links- terkeit verharren dürfen, sondern daß im Interesse radikalismus, der in dieser Debatte so oft erwähnt unserer Kinder, der deutschen Kinder wie der pol- worden ist, nichts zu tun, er war das Werk des nischen Kinder, endlich Schluß sein muß mit alten Rechtsradikalismus in Deutschland und seiner Rechnungen; und zwar keineswegs nur darum, deutschnationalen Mitläufer. weil — so lautet ja bei manchem die Begründung (Beifall bei der SPD.) — heute die modernen Massenvernichtungswaffen Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9887

Bundesminister Dr. Ehmke einen Krieg zum gemeinsamen Selbstmord machen künftigen Politik. Herr Kollege Barzel, ich muß sa- würden. In dieser Haltung weiß ich mich einig mit gen, ich kann es nicht verstehen — aber vielleicht der ganz überwiegenden Mehrheit unserer Vertrie- können Sie es mir erklären —, wenn Sie sagen, die- benen. Ich akzeptiere also als jemand, der seine ses Ausgehen von den bestehenden Grenzen sei- ein Heimat im Osten verloren hat, nicht nur die Frie- Ausflug in „Großmannssucht". denspolitik der Bundesregierung, sondern als deren (Abg. Dr. Barzel: Aller Grenzen überall konkreten Bestandteil auch das Ausgehen vom ter- in Europa!) ritorialen Status quo für die weitere Politik. — Ja, Herr Kollege Barzel, ich fürchte, das einen Wir alle wissen: die alte Ordnung ist von Hitler Ausflug in Großmannssucht zu nennen verrät einen und seinem Wahnsinn zerstört worden. mangelnden Sinn nicht nur für die geschichtlichen, (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Von Hitler sondern auch für die psychologischen und politischen und Stalin!) Dimensionen dieser Frage. Wir meinen, daß es eine solidere Ordnung für den (Beifall bei der SPD.) Frieden in Europa geben kann und geben muß, als Herr Kollege Schröder, Sie haben völlig recht: die sie heute besteht. Aber für eine gemeinsame euro- Vorwegnahme eines Friedensvertrages — darin sind päische Politik in dieser Richtung gehen wir von wir uns völlig einig — wäre uns auch rechtlich gar dem aus, was ist. nicht möglich gewesen. Wir stimmen darin völlig Herr Kollege Marx, um noch einmal auf Sie zu- überein. Nur, Herr Kollege Schröder, die Tatsache, rückzukommen: Sie haben heute eine frühere Rede daß das so ist, schmälert doch nicht das Verdienst des Bundeskanzlers zitiert und dann gesagt, er sei unseres Außenministers, mit Polen einen Vertrag von dieser Rede abgewichen. Ich bin der Meinung, abgeschlossen zu haben, der den deutschen Rechts- gegebenheiten Rechnung trägt. auch für unsere Zuschauer und Zuhörer draußen im Lande ist es doch wichtig, einmal an einem Beispiel (Zuruf von der CDU/CSU: Wo denn?) zu zeigen, wie hier von der Opposition mit dem Schließlich sind ja die Polen nicht an unser Grund- Wort des Kanzlers dieses Staates umgegangen wird. gesetz gebunden, und das glei che gilt für den Mos- Der Bundeskanzler hat gerade gestern gesagt — kauer Vertrag und ,die sowjetische Führung. gestern —: Doch lassen Sie mich bei diesem Grundsatz ver- Mir wird vorgehalten — so erst kürzlich, ich weilen, denn, Herr Kollege Barzel — und da hätte glaube in der vergangenen Woche, von dem ich gern eine Antwort von Ihnen —, ich bin mir nach Kollegen Strauß —, ich hätte 1962 gesagt, man der bisherigen Debatte nicht klar über die Stellung könne einem Volk zwar die Teilung auferlegen, der Opposition zu der Frage des Erstreckens des aber nicht verlangen, daß sie von diesem akzep- Gewaltverzichts auf den bestehenden territorialen tiert und unterschrieben werde. Status quo und des Ausgehens von diesem Status Also der gleiche Vorwurf, den Herr Marx heute quo für die weitere Politik. hier in großen Tönen wiederholt. Der Kanzler hat (Abg. Dr. Barzel: Können Sie die Frage gestern gesagt: Bei dieser Meinung beibe i ch. Heute präzisieren, Herr Ehmke?) unterstellt man ihm hier in schamloser Weise das Gegenteil. — Ja, ich komme noch dazu. (Zurufe von der CDU/CSU: Unverschämt- Herr Kollege Schröder hat gestern dankenswer- heit! — Schamlos sind Sie!) terweise hervorgehoben, welche Gemeinsamkeiten noch zwischen uns bestehen. Er hat das im einzelnen Der Kanzler hat gestern gesagt — ich darf zitie- aufgezählt, aber, Herr Kollege Schröder, der Grund- ren —: satz, daß sich der Gewaltverzicht auf den territo- Ich weise es auch heute als unzumutbar zurück, erstreckt, der Grundsatz des Aus- nachträglich die Zustimmung zur Teilung rialen Status quo gehens vom territorialen Status quo fehlt bei Ihnen Deutschlands zu geben. Dies wäre ein Verstoß unter den Gemeinsamkeiten. gegen unsere Würde, gegen unsere Geschichte, gegen unsere Interessen. Niemand kann das von Sie dagegen, Herr Kollege Barzel, haben erklärt, uns verlangen. die Verträge von Moskau und Warschau — also offenbar auch der zu ihnen gehörende Grundsatz des (Beifall bei den Regierungsparteien.) Ausgehens vom territorialen Status quo — könnten Ich wäre dankbar, Herr Marx, wenn Sie das wenig- für die CDU zustimmungsfähig werden, wenn drei stens jetzt zur Kenntnis nähmen. Bedingungen erfüllt seien, auf die ich nachher noch im einzelnen eingehe: EWG, Selbstbestimmungs- Herr Kollege Barzel, Gewaltverzicht in bezug auf recht, Freizügigkeit. die in Europa besthenden Grenzen einschließlich der Grenze zwischen der Bundesrepublik Deuts chland Wenn das so ist — und mir liegt hier wirklich an und der DDR und dann — neben dem allgemeinen einer Klarstellung, Herr Kollege Barzel —, dann ist

Gewaltverzicht — die Hinnahme der Oder-Neiße- es doch offenbar so: das Nein der Opposition zu die- Grenze als Westgrenze Polens durch die Bundes- sen Verträgen bezieht sich gar nicht auf deren Kern- republik ohne Vorgriff auf den Friedensvertrag eines bereich, jedenfalls nicht auf das Ausgehen der deut- gesamtdeutschen Souveräns, sind zwei der wichtig- schen Politik vom territorialen Status quo. Diese sten Bestandteile dieses Vertrages und unserer zu Frage ist eminent wi chtig, und ich bin der Meinung, 9888 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Bundesminister Dr. Ehmke die Opposition sollte Verständnis haben für unsere wie vorwerfbar, oder Sie dürften hier deswegen Bitte, von ihr in diesem Punkte die Klarheit zu Belehrungen erteilen, wenn sich der Fraktions- bekommen, die Herr Kollege Schröder gestern in führer der SPD für diese deutsche Politik auf die diesen Fragen mit Recht auch von der Regierung völlige Übereinstimmung mit unseren Hauptver-- gefordert hat. bündeten beruft. Das ist doch eine der wesentlichen Ich bin der Meinung, diese Klarheit ist aus einer Voraussetzungen für jede deutsche Politik! Reihe von Gründen erforderlich. Herr Kollege Bar- (Abg. Dr. Barzel: Aber das stimmt doch so zel, sie ist erforderlich einmal gegenüber unseren gar nicht!) westlichen Alliierten, die wissen müssen, ob audi — Dann habe ich Sie immer noch nicht verstanden, bei einem wie immer begründeten Nein die Oppo- aber die Sache ist nicht klargestellt, Herr Barzel. sition diesen realistischen Ausgangspunkt und An- Ich bitte Sie, dann noch einmal zu sagen, was damit satzpunkt der Ostpolitik dieser Bundesregierung gemeint war. akzeptiert oder nicht. (Abg. Dr. Barzel: Wir werden das klar- (Beifall bei den Regierungsparteien.) stellen!) Und wir sollten doch die Frage der Zustimmung Klarheit darüber, wie es die CDU denn eigentlich unserer Verbündeten zur deutschen Politik nicht so mit dieser territorialen Frage hält, ist zweitens er- herunterspielen, wie das zum Teil getan worden ist. forderlich 'gegenüber unseren Vertragspartnern, Herr Kollege Schröder, ich muß sagen, daß Sie und zwar nicht nur hinsichtlich der Frage, vor der gestern gemeint haben, dies sei eine Politik, die Sie ja bald stehen werden — denn die Verträge die westliche Einheit schwäche, das war eine wenig werden in Kraft treten —, wie Sie sich nach Inkraft- solide Äußerung, denn Sie können sich doch jeden treten der Verträge verhalten. Tag vom Gegenteil überzeugen. (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Immer wieder (Abg. Dr. Schröder [Düsseldorf]: Sie werden diese Hoffnungen für die Zukunft!) es nodi einmal erleben!) Drittens ist diese Klarstellung erforderlich gegen- — Herr Kollege Schröder, Sie weichen doch sonst über den Wählern, und zwar vor allem gegenüber nicht gern in die Zukunft aus. Halten Sie sich doch den Vertriebenen, die dieser Debatte doch mit be- nun auch hier einmal an Tatsachen. Sie können sich sonderem Interesse zuhören werden. jeden Tag von der wachsenden Einheit überzeugen. Verehrte Kollegen von der Opposition, es wäre (Beifall bei den Regierungsparteien.) nach meiner Meinung verhängnisvoll für die wei- Herr Kollege Barzel, ich muß leider noch einmal tere innenpolitische Auseinandersetzung, wenn Sie 1 auf Ihre gestrige Auseinandersetzung mit dem etwa wegen der in dieser Beziehung in Ihren Rei- Kollegen Wehner zurückkommen. Zunächst einmal hen bestehender Meinungsverschiedenheiten — die muß ich betonen, der Herr Kollege Wehner hatte kann ich sehr gut verstehen, nicht das gesagt, was Sie behauptet haben, sondern (Lachen bei der CDU/CSU) er hatte das Kommuniqué über die Gespräche zwi- schen dem Bundeskanzler und dem amerikanischen Herr Kollege Hupka und ich sind hier auch ver- Präsidenten dahin zusammengefaßt, daß zwischen schiedener Meinung — durch ein allgemeines Nein beiden Regierungen völlige Übereinkunft bestehe. die Frage offenlassen oder verschleiern, wie die Union dazu steht, bei der weiteren deutschen Poli- (Abg. Dr. Barzel: Nein, das Zitat lautet tik vom bestehenden territorialen Status quo aus- anders!) zugehen, ob sie das akzeptiert oder nicht. Für die — So hat er das zusammengefaßt. Und Sie haben Menschen draußen, meine Herren, ist das eine der gemeint, er habe gesagt, das stünde gewissermaßen wesentlichsten Fragen, mehr als die juristischen als Satz in dem Kommuniqué. Das hat er gar nicht Auslegungsfragen, die hier zum Teil behandelt behauptet. Dies ist die Quintessenz des Kommuni- werden. qués. Das hat der amerikanische Präsident an ande- (Beifall bei den Regierungsparteien.) rer Stelle selbst gesagt. Das gilt besonders für meine vertriebenen Lands- (Erneuter Zuruf des Abg. Dr. Barzel.) leute. Für die steht ja audi der Polen-Vertrag im Vordergrund und nicht der Moskauer Vertrag, wäh- — Das hat er, Herr Kollege Barzel, an anderer Stelle rend es bei Ihnen genau umgekehrt ist. selbst gesagt, und nun kann man es doch nicht so trennen, daß man sagt: der amerikanische Präsident Ich möchte da nicht mißverstanden werden. Ich hat recht, wenn er es sagt, aber wenn Wehner es meine nicht die Frage, wie sich die CDU/CSU nach zitiert, ist es falsch. — So kann man hier weder mit der Ratifizierung der Verträge verhalten werden. uns noch mit unseren Verbündeten draußen um- Denn daß sie dann die Verträge respektieren, ist gehen. in einem demokratischen Verfassungsstaat eine (Beifall bei den Regierungsparteien. — Selbstverständlichkeit. Darüber braucht man nicht Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Dafür brauchen zu reden. Die Frage ist vielmehr, wie sie sich poli- wir von Ihnen keine Belehrung!) tisch einstellen werden und ob sie gerade diesen zentralen Grundsatz akzeptieren werden. Ich danke für die Klarstellung, die Sie gestern (Zuruf von der CDU/CSU.) gegeben haben, aber ich kann mi di nach wie vor nicht mit der Vorstellung befreunden, es sei irgend Darüber muß der Wähler Klarheit haben. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9889 Bundesminister Dr. Ehmke Sie sehen, daß ich den Wähler als mündigen Nun bin ich doch sicher, meine Herren von der Wahlbürger ernster nehme, als das gestern Herr Opposition, daß wir uns auch heute noch alle darin Kollege Kiesinger getan hat, der dem Wähler einen einig sind, daß nach dem Zusammenbruch des Nazi- beschränkten Tageshorizont bescheinigt hat, übri- Regimes die gemeinsame Aufgabe der Demokraten- gens eine Bemerkung, die mir manche seiner Äuße- darin bestand und besteht, gegenüber dieser gren- rungen im baden-württembergischen Wahlkampf zenlose Machtanbetung und diesem grenzenlosen erst recht verständlich macht, Machtmißbrauch, gegenüber diesem völligen Ver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lust an Realitätssinn wieder Maß und Mitte in der Politik unseres Volkes zu finden. einschließlich eines — entschuldigen Sie — ebenso banalen wie schlimmen Mißbrauchs eines Bibel- (Beifall bei der SPD.) wortes. Gestatten Sie mir dazu ein persönliches Wort. (Zurufe von der CDU/CSU.) Wenn ich und viele meiner Generation in der Frage — Sie wissen, worum es geht. der Ostpolitik so entschieden auf der Seite von (Zuruf des Abg. Dr. Lenz [Bergstraße].) Willy Brandt stehen, so ist das weit über Partei- politik hinaus — Ich könnte es anders ausdrücken, dann hätte ich Blasphemie gesagt, aber das habe ich nicht getan, (Zuruf des Abg. Dr. Lenz [Bergstraße]) Herr Lenz. ein Stück unseres Bewußtseins, dadurch an der Er- (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Was halten füllung des Auftrags mitzuarbeiten, den, so meine Sie von den „Friedensanzeigen"?) ich jedenfalls, die Geschichte unseres Volkes ge- rade unserer Generation gestellt hat. Denn, meine Doch zurück zu den wichtigen Dingen. Klarheit ist Damen und Herren von der Opposition, zu behaup- auch für die Einschätzung der deutschen Politik er- ten, 25 Jahre nach dem Zusammenbruch, nach dem forderlich. Wenn ich deutsche Politik sage, meine Ende des Hitler-Krieges, sei noch alles offen und mit ich die Politik der Opposition und der Regierung in diesen Verträgen würde nun unter anderem etwa dieser Frage. Herr Barzel, darf ich mich auch hier das Land jenseits der Oder und Neiße fortgegeben wieder an Sie wenden. Auch Sie sind aus der kal- oder preisgegeben, ist juristisch unrichtig und ist ten Heimat, und wir gehören beide zu einer Gene- politisch bar jeden Realitätssinns. ration. (Beifall bei der SPD. — Zurufe von der (Abg. Dr. Barzel: Man kann aber die CDU/CSU.) Kaschuben nicht mit den anderen ver wechseln!) Das heißt, entweder den Kopf in den Sand zu stek- — Einverstanden! — Für die Einschätzung der deut- ken oder aber, noch schlimmer, Heuchelei zu betrei- schen Politik draußen, Herr Barzel — und da stim- ben. men wir sicher überein —, ist es eine zentrale (Beifall bei der SPD. — Abg. Kiep: Das Frage, wieviel Realitätssinn die deutsche Politik heißt aber Absage an die Kontinuität!) aufbringt und wieviel Realitätssinn man uns drau- — Ich komme noch zur Kontinuität! Ich wäre da- ßen zutraut. Das kommt nicht von ungefähr. Man- her dankbar, deutlich die Meinung der Union und gelnder Realitätssinn ist ja oft eines der negativen der Opposition zu hören zu dieser Frage des Aus- Kennzeichen deutscher Politik gewesen, nicht erst gehens vom territorialen Status quo. Sie ist in den im Wilhelminismus. wesentlichen Stellungnahmen bisher offengeblieben. (Sehr gut! bei der SPD.) (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Seit wann Wir sollten uns diese längerfristige Tendenz nicht fragt die Regierung?) durch die Greuel des Nationalsozialismus, die dann — Beide fragen in der Demokratie! Sie sollten noch ganz andere Probleme aufgeworfen haben, ver- nicht dieses obrigkeitsstaatliche Verhältnis zur Re- decken lassen. gierung haben, daß sie immer nur antwortet, son- Mein verehrter Lehrer Rudolf Smend, einer unse- dern die Demokratie ist ein Dialog zwischen beiden rer großen konservativen Köpfe — konservativ im Seiten dieses Hauses. guten Sinne des Wortes verstanden —, hat in der (Beifall bei der SPD. — Zuruf von der CDU/ Auseinandersetzung der Weimarer Zeit einmal ge- CSU: Geben Sie doch endlich einmal Ant sagt, unser Volk schwanke in unglücklicher Weise wort!) zwischen Staatsverneinung und Staatsvergötzung, zwischen Machtenthaltung und Machtanbetung hin Schließlich ist diese fehlende Klarheit auch wich- und her. Dies hängt nicht unbedingt mit negativen tig für die Frage der Ernsthaftigkeit unseres Frie- Zügen unseres Volkscharakters zusammen, wie ja denswillens und Ihres Friedenswillens. Niemand, auch oft bei einer Einzelperson Licht- und Schatten- Herr Kollege Barzel, bestreitet der Opposition, daß seiten eng beieinander liegen. Ich glaube vielmehr, auch sie den Frieden will. Das ist aber gar nicht die es hängt mit sehr positiven Seiten unserer Entwick- Frage. lung zusammen, mit den Zügen unserer Entwicklung, (Widerspruch bei der CDU/CSU. —Abg. die uns einmal den Beinamen des Volks der Dichter Kiep: Das ist doch nicht wahr! — Abg. und Denker eingetragen haben — lang ist es her —, Stücklen: Ihre Anzeigen in Baden-Württem- mit den Zügen einer Geschichte, die man einmal die berg! — Abgeordnete der CDU/CSU halten Geschichte einer „verspäteten Nation" genannt hat. eine Wahlkampfanzeige der SPD hoch.) 9890 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Bundesminister Dr. Ehmke — Könnten Sie einmal ruhig zuhören? Ich komme ja sieren. Wir müssen für die anderen, die — wie dazu! Ich komme zu allem! Ich versuche doch meiner- z. B. die DDR - seits hier wirklich, zu einer Diskussion zu kommen. - so Simpfendörfer - (Abg. Dr. Stark [Nürtingen] : Vergessen Sie noch ein Brett vor dem Kopf haben, mitdenken es nicht! — Zuruf von der SPD: Das wollen und mithandeln, und genau das tut Brandt. die doch gar nicht) So weit Simpfendörfer! Für uns ist es beruhigend — Vielleicht wollen sie es doch! Ich gehe jedenfalls zu sehen, daß sich die Stimme der Vernunft doch einmal davon aus. Die Frage, Herr Kollege Stück- auch in Ihren Reihen noch Platz schaffen kann. len, ist nicht die, ob Sie allgemein und abstrakt für den Frieden sind, sondern die Frage ist, ob Sie wie (Lachen bei der CDU/CSU.) wir bereit sind, das von unserer Seite Notwendige Meine Damen und Herren, ich sage es noch ein- heute für den Frieden zu tun. Das ist die Frage! mal: Meine dringende Bitte aus allen diesen Grün- (Beifall bei der SPD.) den ist, uns zu sagen, wie die Haltung der Oppo- sition zu dieser Frage ist. Sagen Sie auch nein zum Für den Frieden zu sein, ist doch sehr einfach, eben- Grundsatz des Ausgehens vom territorialen Status so gut, wie gegen die Sünde zu sein. Die konkrete oder liegt das Nein auf anderen Gebieten? Sie Frage ist: Sind wir bereit, das in unserer Macht quo, haben ja eine etwas schwierige Fahrt in der Begrün- Liegende und Notwendige zu tun, auch dann, wenn dung Ihres Neins hinter sich. Die Begründung hat es schmerzlich ist? Diese Frage, Richard Stücklen, oft gewechselt. Das spricht nicht für die innere sollten wir nicht immer überdecken mit dieser all- Stärke Ihres Neins. Sie haben einmal gesagt, eine gemeinen Frage nach der Friedenspolitik. befriedigende Berlin-Regelung wäre der Testfall. (Abg. Stücklen: In dieser Wahlkampf (Widerspruch bei der CDU/CSU.) anzeige steht es doch!) Als sie dann erreicht war, haben Sie gesamtdeutsche Es ist doch nicht so, daß man sagt — wie es hier zum Teil getan wird —: Jeder einigermaßen konser- Fragen in den Vordergrund gestellt. Dann haben vative Mensch muß zu dem Ergebnis kommen, diese Sie die heutigen drei Punkte nachgeschoben. Verträge seien gar nicht zu verantworten, und wel- Ich wende mich jetzt diesen drei Punkten zu, die che starken Vokabeln Sie alle gewählt haben. Herr Kollege Barzel gestern genannt hat. Er sagte: (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Was das mit Bei Erfüllung dieser Punkte — ich sage noch einmal: stark zu tun hat, ist unklar!) Sie liegen nicht im Kernbereich der Verträge, nicht im Bereich der territorialen Fragen —, könnten die Sehen Sie, Klaus Mehnert ist sicherlich ein sehr Verträge — mit gewissen Änderungen, wie Herr konservativer Mann, und sicherlich ein Mann, der Barzel wohl meint — für die Opposition „zustim- mehr Sachverstand in Ostfragen hat als viele von mungsfähig" werden. — Dies nehme ich nicht als uns hier im Hause. Er hat gesagt: Das Ergebnis die- eine nur verbale Pflichtübung Ihrerseits, Herr Kol- ser Verhandlungen ist ein Optimum minus zehn. Er lege Barzel. Ich will einmal auszuloten versuchen, hat Ihnen geraten — aber darüber haben Sie offen- was in den drei Punkten steckt. bar noch nicht diskutiert —, es sei wohl das Rich- tige, die Abstimmung in dieser Frage, die auch eine Sie haben gesagt, das erste wäre eine positivere Gewissensfrage ist, freizugeben, so wie wir das tun. Einstellung der Sowjetunion zur Europäischen Ge- (Lachen bei der CDU/CSU. — Beifall bei der meinschaft. Dazu ist in der Debatte das Wichtigste SPD. — Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. schon gesagt worden. Dies ist kein Gegenstand des Dr. Kraske: Gilt das auch im Auswärtigen Vertrages, Herr Kollege Barzel. Sie wissen, daß wir Ausschuß? Unruhe.) eine Interpretation der sowjetischen Seite haben, die ausdrücklich klarstellt, Ich wäre dankbar zu hören — — Verehrte Damen und Herren, ich verstehe Ihre Unruhe, aber die ist (Abg. Dr. Barzel: Das ist ja nicht das leicht zu beseitigen, indem Sie mir eine einfache Thema!) Antwort auf eine einfache Frage geben. Ihr Partei- daß die Vertragsformel über die Unverletztlichkeit freund Simpfendörfer, meine Damen und Herren, Ihr der Grenzen einer Teilnahme der Bundesrepublik guter, alter Parteifreund Simpfendörfer an dem politischen Zusammenschluß Europas nicht (Lachen bei der CDU/CSU) entgegensteht. Im übrigen ist es so, daß die EWG nicht der Anerkennung der Sowjetunion bedarf. Es hat zur Frage des Friedenswillens etwas sehr Rich- ist vielmehr umgekehrt, so, daß die Sowjetunion tiges gesagt. diese EWG als eine der Realitäten, die wir alle zu (Unruhe.) respektieren haben, zu respektieren haben wird. Ich -- Sie sollten doch noch wenigstens die Zitate Ihrer glaube, man kann hier ohne große Gefahr die Vor- eigenen Veteranen anhören, Herr Kollege! Er hat aussage wagen, daß sie das tun wird. Herr Kollege gesagt, er unterstelle auch Herrn Kollegen Barzel Barzel, die Europapolitik dieser Regierung macht je- und Herrn Strauß, daß sie den Frieden wollten, aber denfalls genauso gute Fortschritte wie die Ostpolitik er fährt dann fort: dieser Regierung, so daß ihr erster Punkt, von mir aus gesehen, neben der Sache liegt. Aber das Wollen genügt schon lange nicht mehr. Unsere Politik muß den Frieden aktiv organi (Beifall bei der SPD.) Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9891

Bundesminister Dr. Ehmke Der zweite Punkt ist die Frage der Aufnahme, wie Form es leben will. Es braucht nicht die alte Form Sie es nennen, des Selbstbestimmungsrechts in das des Nationalstaates zu sein. Sie nicken mir zu. Vertragswerk. (Abg. Dr. Barzel: Ich habe Ihnen nicht zuge - (Abg. Dr. Barzel: Was heißt: Wie Sie es nickt!) nennen?) — Diese Herren der CDU nicken mir zu. Wenn Sie — Ich will es Ihnen sagen, Herr Kollege Barzel. Es anderer Meinung sind, liegt der Dissens bei Ihnen, ist ganz friedlich gemeint. Ich meine, daß diese For- jedenfalls nicht zwischen mir und den Herren, die derung erfüllt ist, und ich möchte das auch begrün- mir eben zugenickt haben. Lassen Sie uns das doch den. mal in Ruhe diskutieren. Es ist doch nicht so, als ob (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Da sind wir dies alle wissen. — Ja, weil Sie gleich abwiegeln, aber gespannt!) wenn da einer zustimmt. — Es freut mich, Herr Lenz, daß selbst Sie dann zu- Nun kommt die Frage: Herr Kollege Barzel, wie hören. Ich glaube, wir müssen uns zunächst einmal war das mit dem Briefwechsel Adenauer/Bulganin über folgendes einig werden. Herrn von Weizsäcker von 1955? Diesen Punkt möchte ich aufklären, auf- glaubte ich heute so verstehen zu müssen, daß wir zuklären versuchen, und zwar darum, Herr Kollege mit der Wiedervereinigung die Wiederherstellung Barzel, weil ich doch hoffe, daß Sie Ihre Behauptung des alten Nationalstaates meinen. Ich meine das von gestern dann zurücknehmen können, der Mos- nicht. Herr Kollege Strauß, ich habe es immer als kauer Vertrag beende die Verpflichtungen, die sich eines Ihrer Verdienste — Ihrer wenigen Verdienste aus diesem Briefwechsel ergeben. in meinen Augen — angesehen, daß Sie frühzeitig Lassen Sie mich aber zunächst einmal etwas zu auf diesen Punkt hingewiesen haben, wobei ich e s dem Inhalt des Briefwechsels sagen. Der Briefwech- dahingestellt sein lasse, ob es Ihr Bayerntum oder sel Adenauer/Bulganin war ja eigentlich der Ver- Ihr Katholizismus war, der Sie vor Verengung der trag von damals, und dann gab es noch einen ein- nationalen — — seitigen Brief von Adenauer, der Vorbehalte ent- (Pfui-Rufe von der CDU/CSU.) hielt. Nun, in diesem Briefwechsel, in diesem beider- seitigen Brief vom 13. September kommt weder das — Entschuldigen Sie! Schreien Sie doch nicht „pfui", Wort „Selbstbestimmungsrecht" vor, auf das Sie ja bevor ich mein Kompliment zu Ende gesprochen so großen Wert legen; es kommt da gar nicht drin habe. vor, Herr Kollege Barzel, wenn Sie's bitte mal nach- (Zurufe von der CDU/CSU: Unverschämt lesen. Es kommt auch nicht das Wort „Friedensver- heit!) trag" vor, und von Viermächteverantwortung ist — Sie schreien hier „Unverschämtheit", ohne zuzu- schon gar nicht die Rede. Der Vorbehalt für den hören. So ist das in der ganzen Diskussion. Sie kön- Friedensvertrag und für den Rechtsstandpunkt stand nen nicht mehr zuhören. 1955 — wie heute — in dem einseitigen Brief Ade- nauers. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Hört! Hört! bei der SPD.)

Ich sage es noch einmal: Ich habe es immer als ein Lesen Sie es bitte genau nach! Unser Brief zur deut- Verdienst — das ist nicht ironisch gemeint von schen Einheit geht im Gegensatz zu dem, was Herr Herrn Kollegen Strauß angesehen, daß er in der Kollege Marx hier behauptet hat, inhaltlich weit Debatte frühzeitig darauf hingewiesen, daß , es sehr über den Briefwechsel hinaus. ungeschichtlich wäre, die deutsche Frage nur als (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu Frage dier Rückkehr zu einem deutschen National- ruf des Abg. Dr. Barzel.) staat zu verstehen. Ich habe hinzugefügt, daß ich es --- Also schön, Herr Kollege Barzel, Herr Kollege dahingestellt sein lasse — und diese Bemerkung Marx, ich bitte um Entschuldigung, weil das Zeit war absolut positiv gemeint —, ob es mehr die kostet — sie schütteln den Kopf —: ich lese das bayerische oder die katholische Komponente in sei- jetzt mal vor. Wir haben Texte in diesem Buch, nem Denken ist, die ihn davor bewahrt hat, das zu tun, was Herr von Weizsäcker heute getan hat, näm- (Beifall bei der SPD) lich die Frage dieser Nation allein mit dem Jahre es ist Seite 109, Entschuldigung, Seite 110, da heißt 1871 zu verbinden. es: (Beifall bei den Regierungsparteien.) Die Bundesregierung geht hierbei davon aus, -- bei der Aufnahme von diplomatischen Beziehun- Nun sagen Sie mir, was dagegen zu sagen sein soll, gen es sei denn, Sie hätten etwas gegen die Bayern oder gegen die Katholiken. daß die Herstellung und Entwicklung normaler Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Wir sind uns also einig: Man darf die Frage des Deutschland und der Sowjetunion zur Lösung Selbstbestimmungsrechtes nicht so beschränken. der ungeklärten Fragen, die das ganze Deutsch- Herr Kollege Barzel, ich nehme an, wir sind uns land betreffen, beitragen wird. darüber einig. Wir sind der Meinung, — es gibt auch Äußerungen von Konrad Adenauer aus früherer (Zuruf von der CDU/CSU.) Zeit hierzu —: Selbstbestimmungsrecht heißt: Dieses — Das ist der Ausdruck einer Hoffnung, verehrter Volk soll selbst frei entscheiden können, in welcher Herr Kollege, der Ausdruck einer Hoffnung, daß die 9892 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Bundesminister Dr. Ehmke ) Aufnahme diplomatischer Beziehungen genauso, wie Sie haben hier etwas behauptet, was nicht stimmt, wir es von diesem Vertrag erhoffen, beitragen und bei dem Punkt bleibe ich jetzt. wird zu einer Lösung auch der deutschen Frage, (Beifall bei der SPD.) wobei die sowjetischen und die deutschen Vorstel- lungen über die Art der Lösung dieser Frage damals Das machen wir seit Monaten, daß in Ausschüssen so unterschiedlich waren, wie sie es heute sind. und in Diskussionen Punkt um Punkt ihrer Behaup- tungen widerlegt wird, und dann kommt man in die Der eigentliche Rechtsvorbehalt steht auch in die- nächste Runde, und alles hat gar nichts genützt; sem Buch, er ist auf den Seiten 110 und 111 zu die alten Kamellen kommen wieder. Diesen Punkt finden, in dem einseitigen Brief von Herrn Bundes- möchte ich jetzt klären. kanzler Adenauer. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Lesen Sie den Dr. Lenz [Bergstraße] : Das liegt daran, daß Brief zu Ende! Lesen Sie ihn richtig vor!) Sie die Sache immer nur halb vorlesen!) — Ich habe ihn ja gelesen. Also in diesem Brief zur deutschen Einheit kommt das Wort „Selbstbestimmung" vor. Jetzt sagen Sie: Nun gibt es eine zweite Geschichte — — Warum war das ein einseitiger Brief und warum ist (Weitere Zurufe von der CDU/CSU.) er nicht richtig angenommen worden? — Herr Kol- lege Marx, dieser Brief unterscheidet sich von dem — Also lesen Sie bitte nach! Ich brauche es Ihnen einseitigen Brief, den seinerzeit Konrad Adenauer nicht — — Alles, was der verehrte Kollege Marx übergeben ließ — unter sehr merkwürdigen Begleit- hierzu gesagt hat, ist grundfalsch. Herr Marx, ich umständen, wie Sie wissen — dadurch, würde mich wirklich wundern, daß Sie nicht in der Lage sind, das für sich selbst auseinanderzunehmen. (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Klären Sie mal Ihre merkwürdigen Begleitumstände!) (Beifall bei der SPD. — Abg. Dorn: Das weiß er auch! — Zurufe von der CDU/CSU.) daß er von der Sowjetunion vorbehaltlos entgegen- genommen worden ist. Zunächst haben wir also diesen Briefwechsel, über den ich gerade gesprochen habe. Dann haben wir (Zurufe von der CDU/CSU.) den einseitigen Vorbehalt. Herr Kollege Barzel, die- Der Brief Adenauers ist nicht vorbehaltlos entgegen- ser Briefwechsel, von dem Sie behaupten, die Ver- genommen worden. Vielmehr hat die sowjetische pflichtung daraus — — Regierung seinerzeit zwei Tage nach diesem Brief (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Den Sie nicht in einer autorisierten TASS-Erklärung festgestellt, vorgelesen haben!) daß die Frage der Grenzen Deutschlands bereits durch Potsdam gelöst sei. Das war 1955. Die Rege- — Herr Lenz, auch Sie sollten zuhören können. Ich lung, die wir jetzt haben, nimmt erstens einmal das, wäre wirklich dankbar dafür. — Gut, dann lassen was damals erreicht wurde, in den Vertrag auf und Sie es. — Herr Kollege Barzel, auf die Verpflich- geht zweitens noch über den damaligen Vertrag hin- tung aus diesem Briefwechsel, von der Sie sagen, aus. sie werde durch den Moskauer Vertrag „beendet", nimmt der Moskauer Vertrag in dreierlei Form Be- zug — erstens durch die Präambel, zweitens durch Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: Art. 4, der besagt, daß die bestehenden vertrag- Entschuldigung, Herr Bundesminister Ehmke, Frau lichen Verpflichtungen nicht berührt werden, und Abgeordnete Kalinke wollte sich noch einmal verge- drittens dadurch, daß Art. 2 sich auf die Grundsätze wissern, ob Ihre Ablehnung von Zwischenfra- gen — — der UNO-Satzung beruft, zu der das Selbstbestim- mungsrecht gehört. Dreimal genäht! Und dann noch der Brief zur deutschen Einheit, in dem nun im Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- Gegensatz zum Briefwechsel Adenauer/Bulganin gaben: Meine Ablehnung bleibt nach wie vor be- diesmal drinsteht: „... in dem das deutsche Volk stehen. in freier Selbstbestimmung seine Einheit (Beifall bei der SPD.) wiedererlangt". Herr Kollege Marx, Sie haben dann hier — auch Herr Kollege Marx, daß hier von politischen wieder mit ganz düsteren Unterstellungen — gesagt: Zielen und nicht von Rechten die Rede ist, das ist Ja, nun erklären Sie uns doch einmal, ob das eigent- sehr leicht zu erklären. lich zum Vertrag gehört und was das bedeutet. Nun, Herr Kollege Marx, inzwischen haben Sie sich ja in (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Ich habe die juristische Problematik eingearbeitet. Der ein- zwei verschiedene Texte hier zitiert!) seitige Brief Adenauers von 1955 wie der einseitige -- Und ich will Ihnen erklären, warum es gerade Brief der Bundesregierung von 1970 gehören im hier ging, — — Sinne der Wiener Vertragskonvention zu dem, was man den „Kontext" des Vertrages nennt. Wenn Sie (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Sagen Sie, da Sorgen haben, so darf ich Ihnen jetzt zitieren, warum in der Antwort auf die Große An- was Bundeskanzler Adenauer 1955, als er aus Mos- frage das Falsche steht!) kau zurückkam, in diesem Hause gesagt hat. Damals -- Entschuldigen Sie, lassen Sie doch jetzt die Große hat natürlich die damalige Opposition gefragt: Anfrage, bleiben Sie doch einmal bei einem Punkt! Warum war das denn einseitig, und wie ist das dann Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9893

Bundesminister Dr. Ehmke gegangen? Darauf hat Adenauer etwas gesagt, was Sie haben der Bundesregierung den Vorwurf ge- ich hier nicht nur zu Ihrem Vergnügen vorlesen macht — wir haben uns schon darüber geeinigt, daß will, sondern ich will es mir auch voll zu eigen Sie Punkt 5 der Erklärung der Bundesregierung vom machen. Sie finden es auf Seite 112 dieser vorzüg- 6. Juni 1970 meinten —, sie habe früher gesagt,- lichen Broschüre. Adenauer sagte damals: zuerst komme die Regelung des innerdeutschen Ver- Bei den Vorbehalten handelt es sich um eine hältnisses, und dann kämen die Ostverträge. Herr deutsche Rechtsverwahrung. Für solche ist eine Kollege Barzel, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie einseitige Erklärung der Bundesregierung aus- sich durch nochmaliges Lesen des Punktes 5 davon reichend. Diese Erklärung muß nur der anderen überzeugen würden, daß das Kabinett das keines- Seite zugegangen sein. Dies ist geschehen, und wegs gesagt hat. — Nein? — Dann muß ich es vor- die deutschen Vorbehalte sind damit völker- lesen. Das Kabinett hat gesagt — ich darf das mit rechtlich wirksam geworden. Die Erklärung freundlicher Erlaubnis des Herrn Präsidenten zitie- muß nicht etwa, ren — : Die Bundesregierung geht davon aus, daß die — so Adenauer, Herr Kollege Marx — von ihr erstrebten Abkommen mit der Sowjet- um völkerrechtlich wirksam zu sein, von der union, mit Polen und anderen Staaten des Gegenseite angenommen werden. Warschauer Paktes, insbesondere die Rege- lung der Beziehungen zur DDR auf der Grund- Ich freue mich, daß sich die Bundesregierung bei lage der von ihr in Kassel vorgelegten 20 ihrer Interpretation der Verträge auf die bei Ihnen Punkte, zur Herstellung und Entwicklung nor- unbestrittene Autorität dieses Bundeskanzlers be- maler Beziehungen führen und betrachtet diese rufen kann. Politik für ein besseres Zusammenleben der (Beifall bei den Regierungsparteien. — Völker, zur Sicherung des Friedens in Europa Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Damals hat als eine Einheit. Bulganin den Brief angenommen! Wer hat Dies tun wir nach wie vor. Die einzige Folgerung, die ihn jetzt angenommen?) Sie ziehen könnten — und die wäre völlig richtig —, Herr Marx, ich stelle fest: was Sie über den In- wäre die, daß die Ratifizierung der Ostverträge, des halt des Briefwechsels und der einseitigen Vorbe- Moskauer und des Warschauer Vertrags, natürlich halte gesagt haben, war unrichtig. Was Sie über die nicht das Ende der Friedenspolitik dieser Regierung damalige Aufteilung der Dinge gesagt haben, war darstellt. unrichtig, und was Sie über die juristische Wertung (Beifall bei den Regierungsparteien.) gesagt haben, war auch unrichtig. Darin stimmen Es müssen z. B. Verträge mit Prag und mit Ost-Ber- wir mit dem früheren Bundeskanzler überein. Ich lin noch hinzukommen. habe schon gesagt, Herr Kollege Marx, daß heute wie damals die Vorstellungen, wie die deutsche Ein- Aber zunächst zur Sache, Herr Kollege Barzel. heit denn verwirklicht werden könnte, in Moskau Auch hier ist mir nicht klargeworden, was Ihre Posi- und in Bonn unterschiedlich sind. Das ist nichts tion ist. Ich wäre im Interesse auch der Klarheit drau- Neues. Aber wie damals ging es 1970 darum, die ßen dankbar, wenn wir endlich einmal ein Stück Frage juristisch offenzuhalten und gleichzeitig den weiterkämen und sie nicht immer wieder die alten Versuch zu machen, den Weg zu Verhandlungen Argumente brächten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn über eine Friedensordnung in Europa zu eröffnen, Sie mir helfen könnten, mehr Klarheit zu gewinnen. in deren Rahmen allein — darin stimmen wir, Sie sagen: stufenweise Freizügigkeit. Nun nehme glaube ich, überein — die deutsche Frage gelöst ich an, Herr Kollege Barzel, daß Sie mit Freizügig- werden kann. keit die Ausweitung des freien Verkehrs von Per- (Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : Herr sonen und Gütern meinen, wie wir sie etwa für Ehmke, welchen Wert hat der Brief an die Berlin in einem ersten Schritt erreicht haben. Meine Sowjetunion?) Damen und Herren, ich möchte in unserem und im Also, Herr Kollege Barzel, auch hinsichtlich Ihres Interesse Berlins dringend davor warnen, diesen zweiten Vorbehalts muß ich Fehlanzeige feststellen. großen Erfolg für Berlin aus taktischen oder sonsti- gen Gründen zu verkleinern. Ich komme jetzt zum dritten Vorbehalt, den Sie gemacht haben. Er heißt: es müßte die verbindlich (Beifall bei den Regierungsparteien.) vereinbarte Absicht hinzukommen, in Deutschland Ich mache kein Hehl daraus, Herr Kollege Schröder: Freizügigkeit stufenweise herzustellen. Herr Kol- auch mich hat es geschmerzt, daß die Berlin-Regelung lege Barzel, ich nehme an, ich kann in Übereinstim- in Ihrer Rede nicht vorkam. mung mit Ihnen ergänzen, daß Sie bei „verbindlich vereinbart" meinen: „mit der DDR vereinbart". Herr Kollege Barzel, ich frage mich angesichts der Ausführungen auf den Manuskriptseiten 5 und 8 (Abg. Dr. Barzel: Das ist eine Unter Ihrer Rede, ob Sie mit Freizügigkeit nicht mehr mei- stellung!) nen. Dort sagen Sie, Sie wollten — offenbar meinen — Dann bitte ich, klarzustellen, ob Sie meinen, wir Sie, im Gegensatz zur Bundesregierung — nicht nur sollten das mit Moskau aushandeln. Für mich ist Gewaltverzicht, sondern Gewaltverzicht und Men- das eine Frage — ich stelle es meinerseits klar — schenrechte, und Sie fügen noch hinzu: Menschen- der Verhandlungen mit der DDR. Vielleicht sind rechte und deren soziale Basis. Herr Barzel, ich Sie so gut und sagen uns noch, was Sie meinen. I möchte hier Klarheit haben. Soll das heißen, daß Sie 9894 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Bundesminister Dr. Ehmke zu der Forderung zurückkehren, daß die DDR zuerst — Aber nein! Wen Sie keine Hoheitsrechte dort in ihr System ändern müsse, bevor man mit ihr Ver- Anspruch nehmen, wer soll sie dann haben? Wir träge schließen könne? wollen doch hier nicht neue Phänomene begründen. - (Abg. Dr. Barzel: Wo steht denn das?) (Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Stark [Nürtingen]: Das war nicht sau — Ich frage Sie ja, weil das mehr ist als Freizügig- ber argumentiert!) keit. Ich will nur Klarheit. Meinen Sie, daß sich das — Das liegt aber daran, daß Ihre Argumentation System ändern muß, vielleicht sogar noch bevor wir unklar ist. die Ostverträge ratifiziert haben? Das kann eigent- (Abg. Dr. Gradl meldet sich zu einer lich nicht gut sein, denn eine solche Politik haben Zwischenfrage.) wir ja lange genug gemacht, und zwar ohne jeden Erfolg. — Frau Kollegin Kalinke, entschuldigen Sie — ich habe Herrn Gradl persönlich zitiert —, daß ich eine Ich glaube auch nicht, Herr Kollege Barzel, daß Ausnahme von meinem Nein mache. Herr Kollege Sie das meinen, denn Sie haben in Ihrer Rede Gradl! gleichzeitig gesagt, daß Sie die Realität der DDR und die wirkliche Lage anerkennen, und Sie haben Vizepräsident Dr. Schmitt -Vockenhausen: hinzugefügt — und das ist eine der wichtigsten — Herr Abgeordneter Gradl! (Abg. Dr. Barzel: Ich habe nicht gesagt, daß ich das anerkenne!) Dr. Gradl (CDU/CSU) : Nur eine Klarstellung, Herr Kollege Ehmke: In der Tat spielte dieser — Entschuldigen Sie, ein falsches Wort! Sie haben Punkt 5 der 20 Punkte an dem Tage, ehe der Bun- gesagt, daß Sie die Realität der DDR und die wirk- Stoph hatte, in unserer Unterhaltung eine Rolle. liche Lage sehen. deskanzler in Kassel seine Begegnung mit Herrn Aber wir haben es aus einem ganz anderen Grunde (Abg. Dr. Barzel: Aber sie nicht aner- beanstandet, und Sie haben damals zugestimmt. So kenne!) wie er formuliert war, mußte er den Eindruck er- wecken, als ob mit der Aussage der Ziffer 5 auch — Gut, Augenblick, ich komme gleich zu dem gedeckt würde, was auf der anderen Seite an der Punkt! Das ist einer der wichtigsten Punkte Ihrer Mauer und ansonsten geschieht. Sie haben damals Rede. Ich halte ihn für weitere Auseinandersetzun- zugestimmt, und der Herr Bundeskanzler hat das gen fest. nach seiner Rückkehr hier in seinem ersten Bericht (Zuruf des Abg. Dr. Barzel.) klargestellt. — Nein, Herr Kollege Barzel, das war ein Ver- sprecher. Ich versuche, jetzt wirklich dahinterzu- Dr. Ehmke, Bundesminister für besondere Auf- kommen, was Sie eigentlich meinen; das ist mir gaben: Herr Kollege Gradl, ich bestätige Ihnen das. nämlich auch in diesem Punkt nicht klar. Sie sagen: Wir sind uns doppelt einig. Weder die Regierung Wir, die Opposition, wollen im anderen Teil noch die Opposition meint, daß mit dieser Formu- Deutschlands keine Hoheitsrechte in Anspruch neh- lierung hingenommen werden soll, was dort ge- men. Herr Kollege Barzel, dies ist sehr wichtig. Das schieht, daß es im Sinne von Billigung anerkannt heißt, nunmehr stimmen Opposition und Regierung werden soll. Aber wir sind uns beide einig: wir wol- darin überein, daß wir zwar die innere Staatsgewalt len dort keine Hoheitsrechte in Anspruch nehmen. der DDR in ihrem System und in ihrer Form nicht (Abg. Kiep: Wie können Sie dann diese billigen, daß wir sie aber hinnehmen und uns keine Frage stellen? — Abg. Dr. Barzel: Diese Hoheitsrechte dort anmaßen. Das ist eine wichtige Interpretation kann ich nicht bestätigen!) Erklärung von seiten der Opposition. — Gut, Herr Kollege Barzel, dann wäre ich dankbar, (Beifall bei den Regierungsparteien. — wenn Sie nachher sagten, was Sie meinen. — Wenn Abg. Dr. Barzel: Das haben wir doch nie das so ist, Herr Kollege Barzel, dann gibt es für uns getan, Herr Ehmke!) keinen Zugriff auf den einzelnen Menschen drüben, und die beste Berufung und bestgemeinte Berufung — Gut, für mich war das eine wesentliche Klarstel- auf Menschenrechte muß eine leere Geste bleiben. lung. Wenn es so ist, daß wir drüben keine Hoheitsrechte (Abg. Dr. Barzel: Das hat doch keine frühere in Anspruch nehmen — ausüben können wir sie so- Regierung getan oder beansprucht!) wieso nicht —, dann heißt, etwas für die Menschen drüben zu tun - nicht die Menschen an sich, die — Aber, Herr Kollege Barzel, Sie selbst haben mir konkreten Menschen, die dort heute leben, so wie einmal vorgehalten — ich glaube, Sie waren es; ich wir im Berlin-Vertrag etwas für die heutigen Ber- will es nicht beschwören, es kann auch Herr Kolle- liner getan haben —, mit der DDR zu reden und zu ge Gradl gewesen sein —, daß wir in den Kasseler verhandeln trotz ihrer von uns allen abgelehnten Punkten gesagt haben: Wir respektieren die inne- Gesellschaftsordnung, und zwar auch über den ren Hoheitsrechte der DDR. Schießbefehl. (Abg. Dr. Barzel: Das ist doch etwas ganz Herr Kollege von Weizsäcker und Herr Kollege anderes!) Marx, wir sollten diese Frage, daß wir in der bitte- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9895

Bundesminister Dr. Ehmke ren Situation sind, auf dem eigenen Boden unseres aus herunterzuspielen. Wir sollten über alles froh Volkes mit einem solchen System um mehr Mensch- sein, was wir für die Menschen im geteilten lichkeit ringen zu müssen, doch nicht dauernd mit Deutschland erreichen. - der Unterstellung belasten: Wer jetzt verhandelt, (Beifall bei den Regierungsparteien.) verhält sich im Grunde in irgendeiner politischen Nähe zu diesem Regime. Gestern klang es an. Ri- Herr Kollege Barzel hat nämlich völlig recht: die chard Stücklen — — Frage der deutschen Einheit ist ein langer histori- (Lebhafter Beifall bei den Regierungs scher Prozeß, den keiner von uns heute übersieht. parteien.) (Abg. Dr. Barzel: Der geht weiter!) Wir sollten es damit nicht belasten. Richard — Er geht weiter und geht auch von uns weiter. Stücklen hat jedenfalls noch nicht erklärt, was der (Abg. Dr. Barzel: Der Satz geht weiter!) Vergleich mit der Emigration des Bundeskanzlers in der Nazizeit eigentlich sollte. — Gut, das habe ich schon gesagt. Akzeptiert! — Mir kommt es auf das Wort „Prozeß" an. Wir sind uns (Abg. Stücklen: Lesen Sie es doch endlich einig, die Frage der deutsche Einheit ist nicht ein mal nach!) Geschäft oder gar ein Tagesgeschäft, das man mor- Ich sage Ihnen eins, Herr von Weizsäcker: zu war- gen abschließen könnte. Darum kann man nur ten mit Verhandlungen und mit dem, was wir tun schrittweise vorgehen, wie wir es tun, wenn man wollen unter dem Stichwort Freizügigkeit, in der für die Menschen drüben etwas erreichen will. Meinung: erst Änderung des Systems — Herr Marx ist da schon sehr viel weitergegangen, aber Die Frage, die bleibt, Herr Kollege Barzel, ist ich halte mich an Sie, Herr Kollege Barzel —, das dann die Frage der Reihenfolge. Wir sagen: jetzt hieße, die Pflicht zu verletzen, die wir den Men- erst die Verträge, dann weitere Schritte mit der schen drüben gegenüber haben. DDR. Sie sind der Meinung, wie Sie es schon bei Berlin in bezug auf die Unterschrift waren: jetzt (Beifall bei der SPD.) erst noch weitere Verhandlungen mit der DDR und Herr Kollege von Weizsäcker, Ihre — entschuldi- dann erst die Ratifizierung der Verträge. Ich möchte gen Sie — schneidige, sich realistisch gebende, in einmal wissen, Herr Kollege Barzel, worauf Sie Wirklichkeit aber resignierte Durchhalteparole ist eigentlich Ihre Meinung gründen, die Ablehnung eine Parole auf Kosten der Menschen drüben. des Moskauer und des Warschauer Vertrages, in deren Gesamtkontext die erste Einigung der Groß- (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar mächte über Berlin und unsere Berlin-Vereinbarung teien. — Abg. Dr. Marx [Kaiserslautern] : mit der DDR möglich geworden sind, würde weiter- Unglaublich! — Weiterer Widerspruch bei der CDU/CSU.) helfen, die Chancen, weiterzukommen, würden ver- bessert, wenn man diese Verträge nicht ratifizierte. Wenn wir für die Menschen drüben etwas tun wol- Herr Kollege Barzel, gerade wenn die DDR so stur len — — Das ist die bittere Erfahrung einer lang- ist, wie Sie meinen und wie sie zum großen Teil jährigen und gescheiterten Politik, einer Politik, in ist — wir sehen es ja —, dann dürfen wir doch von der wir lange Strecken zusammen gegangen sind. unserer Seite auf keinen Fall eine Politik treiben, Das heißt, nichts zu erreichen für die Menschen in der wir die Regierung in Ost-Berlin zum Herrn drüben. Herr Kollege Schröder, Sie haben gestern der Entscheidung über den Vertrag von Moskau gesagt, diese Verträge hätten Sie jederzeit haben und den Vertrag von Warschau machen. können — offenbar also einschließlich auch der Berlin-Vereinbarung —, Sie hätten sie aber gar nicht (Beifall bei den Regierungsparteien.) haben wollen. Das war makabrer, als Ihnen viel- Im übrigen, Herr Kollege Barzel, haben wir beide leicht bewußt gewesen ist. — auch persönlich — in der Frage der Reihenfolge (Beifall bei den Regierungsparteien.) schon eine Erfahrung. Ich entsinne mich an ein sehr langes und sachliches Gespräch über die Frage: Soll Meine verehrten Herren von der Opposition, die die Bundesregierung den Moskauer Vertrag unter- Regierung muß sich natürlich der Frage stellen — schreiben, oder soll sie erst versuchen, eine Berlin- darin haben Sie völlig recht; wir tun das auch —: Regelung zu bekommen, und erst dann unterschrei- Wenn das so ist, die Meinung der Bundesregierung ben? Unsere Meinung war die: wir kommen gar einmal unterstellt, sind dann die Verträge, die ihr nicht zu einer Berlin-Regelung, wenn wir nicht un- unterzeichnet habt und zur Ratifizierung bringt, terschreiben. Ihre Meinung war anders. Wir haben wirklich ein Weg, in der Frage der Freizügigkeit recht behalten, wobei es uns freut — auch Sie freut der Menschen im geteilten Deutschland weiterzu- es sicher —, daß wir die Berlin-Regelung erreicht kommen? Natürlich müssen wir diese Frage beant- haben. Das heißt nicht, daß wir auch diesmal recht worten. Ich sage Ihnen: es ist der einzige Weg, den behalten müssen. Aber ich bin der Meinung, auch ich sehe. Auf Ihre sogenannten Alternativen komme hier sehen wir die Reihenfolge richtig. ich noch. Ich sage noch einmal auch in dieser Bezie- hung: man sollte den Erfolg, den wir in Berlin er- In allen drei zusätzlichen Punkten, Herr Kollege reicht haben, nicht bagatellisieren. Ich halte es Barzel, die — ich sage es noch einmal — nicht die übrigens politisch auch für falsch, die Geste, die, aus für unsere Menschen draußen zentrale Frage des welchen Gründen immer, die DDR mit dem Vor- territorialen Status quo berühren, ist Ihr Nein nicht ziehen der Besuchsregelung gemacht hat, von uns begründet. 9896 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Bundesminister Dr. Ehmke Aber, Herr Kollege Barzel, ist es überhaupt ein Das sage ich Ihnen hier ganz offen, Herr Kollege Nein? Sie haben die Frage, was Sie zu den Verträ- Barzel: an der Kontinuität dieser Erfolglosigkeit ist gen sagen werden — ja oder nein oder gar nichts —, diese Bundesregierung nicht interessiert; - lange offengehalten. Sie haben gesagt — ich fand (Beifall bei den Regierungsparteien) das auch richtig —: wir wollen erst einmal sehen und uns dann ein Bild machen. Sie haben dann ge- denn das hieße ja, sich zum Gefangenen der hirn- sagt: wir wollen einmal sehen, was in Berlin her- rissigen Parole zu machen, deutsch sein heiße, eine auskommt. Als das kam, haben Sie andere Dinge Sache um ihrer selbst willen zu tun. Ihre Hoffnung, nachgeschoben. Sie haben dann allerdings neulich nach einer Ablehnung der Verträge bessere Verträge gesagt — ich glaube, in einer Äußerung Ihres Prä- aushandeln zu können, ist doch angesichts unserer sidiums —, Sie würden gegen die Verträge stimmen, geschichtlichen Erfahrung und der Beurteilung der noch vor der Debatte offenbar, noch vor den Aus- heutigen politischen Situation eitel. Dagegen, Herr schußsitzungen und natürlich alle ganz geschlossen: Kollege Schröder, zeigt unsere Politik erste Erfolge nein. Nun ist es offenbar doch wieder offen. Denn wie in Berlin. Vor zwei Jahren hat doch noch keiner wenn ich Sie recht verstanden habe, Herr Kollege geglaubt, daß man ein solches Berlin-Abkommen Barzel, haben Sie gestern nicht nein gesagt, sondern bekommen kann — seien wir doch ehrlich! Sie haben gesagt: so nicht und jetzt nicht. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Da frage ich nun, Herr Kollege Barzel: Was ist die Dagegen eröffnet unsere Politik wirklich Perspek- Alternative? Ich sehe als einziges, was hier ernst- tiven. haft als Alternative angeboten wird, die Ablehnung, (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Und was für das Nein. Nun sagen Herr Kollege Kiesinger und welche!) Herr Kollege Schröder: Regt euch nicht auf, das Le- Ja, Sie haben recht, Herr Kollege Schröder, auch wir ben geht auch dann weiter. Das ist richtig, meine verbinden mit dieser Politik Hoffnung, bei aller Herren, aber die Frage ist: wie? Mit dem gleichen Nüchternheit in der Abwägung der natürlichen auch Stillstand wie gehabt, nur durch Durchhalteparolen mit dieser Politik verbundenen Risiken. Es ist doch veredelt, oder wie? Sie glauben doch nicht, daß Sie gar nicht bestritten, daß es da auch Risiken gibt. mit der Ablehnung dieser Verträge, die — ich sage Aber, Herr Kollege Schröder, eine Politik ohne Hoff- es noch einmal — die Vorbedingung zur ersten Eini- nung wäre eine unmenschliche Politik, die nur ent- gung der Großmächte in Mitteleuropa gewesen sind, weder in Resignation oder in Zynismus enden könnte. den Schießbefehl wegbekommen oder den Menschen im anderen Teil Deutschlands helfen. Das glauben (Beifall bei den Regierungsparteien.) Sie doch nicht im Ernst! Wir versuchen im Gestrüpp der Nachkriegszeit und einer gescheiterten Politik früherer Regierungen (Beifall bei den Regierungsparteien.) — so gut diese Politik auch gemeint war, das ist doch Die Frage, vor der wir bei der Interpretation Ihrer kein moralisches Urteil —, der politischen Vernunft Politik stehen, ist die: sagen Sie nur , ein formales, in unserem Lande und in Europa einen Weg zu bah- mit Nebenpunkten begründetes Nein, um die Re- nen. Ihnen ist dieser Weg offenbar zu beschwerlich gierung die Verantwortung allein tragen zu lassen? oder zu ungewiß. Sie wollen — Herr von Weiz- Oder ist Ihr Nein getragen von der Hoffnung — ja, säcker hat das heute geradezu klassisch formuliert: Herr Kollege Schröder, die CDU hat keineswegs nur, stillhalten, durchhalten, warten. Sagen Sie: warten, wie Sie meinten, Befürchtungen, sie hat auch Hoff- worauf eigentlich? Offenbar darauf, daß die Ge- nungen —, Sie würden nach einer Ablehnung dieser schichte mehr Phantasie haben möge, als Sie gehabt Verträge bessere Verträge aushandeln? Ich habe haben, als Sie die Regierung geführt haben. mich schon dazu geäußert, was ich von Ihrer Bemer- (Beifall bei den Regierungsparteien.) kung halte, Sie hätten die gleichen Verträge haben Ich will hier nicht sagen, was ich von dieser Poli- können. tik des Wartens, solide und edel natürlich, halte, Herr Kollege Schröder, ich sage Ihnen noch mehr. aber ich will Ihnen ein Wort unseres Dichters Früher einmal, z. B. 1952, hätten Sie vielleicht noch Emanuel Geibel zurufen, das er geradezu für Sie, viel bessere Verträge haben können, meine Damen und Herren von der Opposition, ge- schrieben haben könnte. Es heißt: (Beifall bei den Regierungsparteien) Die Zeit zum Handeln jedesmal verpassen, als irgendeine deutsche Regierung sie heute bekom- nennt Ihr die Dinge sich entwickeln lassen! men kann. Aber damals hat es Ihre Regierung nicht (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs einmal versucht. Seit dieser Zeit hat die von Ihnen parteien.) geführte Regierung in der Deutschlandfrage zu unser aller Schmerz nichts, aber auch nichts bewegt; die Und Geibel fährt fort: Spaltung Deutschlands ist tiefer geworden. Ich weiß Was hat sich denn entwickelt, sagt mir an, nicht, Herr Kollege Schröder, ob Sie diese Politik in was man zur rechten Stunde nicht getan? Ihrem Sinne als solide ansehen; erfolgreich war Meine Damen und Herren der Opposition, dies, diese Politik jedenfalls nicht, und den Menschen im das Richtige zur rechten Stunde tun, ist nicht nur anderen Teil Deutschlands hat sie ganz sicher auch eine Frage des Friedens in Europa und der Chance, nicht geholfen. die weitere Vertiefung der Spaltung Deutschlands (Beifall bei den Regierungsparteien.) zu verhindern und die Spaltung dann langsam ab- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9897

Bundesminister Dr. Ehmke zubauen, es ist auch eine Frage der Entscheidungs- Meine Damen und Herren, das ist die Redlichkeit fähigkeit und damit der Glaubwürdigkeit unserer und Verantwortlichkeit, mit der hier von der Koali- parlamentarischen Demokratie. tion diskutiert und argumentiert wird! Ich werde (Oh-Rufe von der CDU/CSU.) mich diesem Stil nicht anschließen. - Einer der intellektuellen Gegner der parlamen- (Beifall bei der CDU/CSU. — Zuruf von tarischen Demokratie in Weimar, Carl Schmitt, hat der SPD: Dann müssen Sie anders reden einmal gesagt, die parlamentarische Demokratie sei als Herr Marx!) die Regierungsform, die auf den Ruf „Christus oder Barabbas?" mit einem Vertagungsantrag antworte. Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine Glücklicherweise haben wir hier nicht über die Zwischenfrage? Frage Christus oder Barabbas zu entscheiden, (Abg. Wehner: Sehr wahr!) Windelen (CDU/CSU): Nein, ich gestatte jetzt keine Zwischenfrage. Ich möchte zunächst auf das aber die Frage, über die wir zu entscheiden haben, eingehen, was noch zu beantworten bleibt. wiegt schwer genug, und sie duldet keine Vertagung. Der Kollege Minister Ehmke hat, statt sich für Darum können wir auf die halb abwiegelnde, halb diese Entgleisung des Abgeordneten Wehner zu aufschiebende Parole des Herrn Kollegen Barzel entschuldigen, dem Kollegen Marx unterstellt, hier „so nicht" und „jetzt nicht" nur antworten: so und seien deutschnationale Töne aufgeklungen. jetzt! (Anhaltender lebhafter Beifall bei den Re (Zuruf von der SPD: Was denn sonst!) gierungsparteien.) Deutschnationale Töne, wenn in diesem Hause von den Kategorien des Rechtes, der Freiheit, der Wahr- heit und des Friedens gesprochen wird, meine Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der Damen und Herren! Abgeordnete Windelen. (Beifall bei der CDU/CSU.)

Windelen (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine Nun, das entspricht genau dem Tenor einer Ver- sehr verehrten Damen! Meine Herren! Der Kollege öffentlichung des SPD-Pressedienstes vom heutigen Minister Ehmke hat damit begonnen, sich auf die Tage, der das Ergebnis einer dreitägigen Bundes- gestrige Debatte, die Kontroverse zwischen den Kol- tagsdebatte schon vorwegnimmt und der folgendes legen Barzel und Ehmke, zu beziehen und einiges dazu schreibt: Klarstellende dazu zu sagen. Wir hätten es begrüßt Sie beschwören die Erinnerung an die Weimarer und gewünscht, wenn er gleichzeitig einiges zu der Republik herauf. Damals stemmten sich die Kontroverse zwischen dem Kollegen Dr. Marx und Deutschnationalen und ihre radikalen Rechts- dem Kollegen Wehner von heute vormittag gesagt anleger dagegen, die Konsequenzen des ver- hätte. Ich meine, es nützt nichts, wenn wir hier von lorenen Ersten Weltkrieges zur Kenntnis zu Zeit zu Zeit Lippenbekenntnisse ablegen, daß wir nehmen. Männer wie Fritz Ebert wurden zu uns gegenseitig den guten Willen nicht bestreiten, Tode gehetzt, und andere wie Erzberger und aber das Gegenteil von dem hier praktizieren. Rathenau fielen Mörderkugeln zum Opfer. Ver- blendete sahen in diesen Männern, die ein Ich fürchte, daß einiges von dem, was heute vor- schweres Erbe angetreten hatten, Verräter und mittag hier gesagt wurde, untergegangen ist. Ich Verzichtspolitiker. Nähert sich nicht ein Vor- darf es deswegen in der Hoffnung, daß vielleicht wurf der Unionsparteien, die deutschen In- doch noch ein klärendes Wort kommt, wiederholen. teressen wären von dieser Bundesregierung Der Kollege Dr. Marx hat am Ende seiner Rede nicht kraftvoll genug, ja, sogar schlapp ver- auf ein Zitat von Ernst Reuter Bezug genommen treten worden, nicht an die Denkkategorien der und hat sich zu diesem Zitat bekannt. Darauf kam es, Deutschnationalen unseligen Angedenkens? wie das unkorrigierte Protokoll verzeichnet, zu Meine Damen und Herren, ich weise diesen Ver- Tumulten, zu Zurufen „Aufhören"! usw. Der Kollege gleich mit Nachdruck und mit Empörung zurück. Marx hat dann seine Ausführungen zusammenge- faßt, indem er sagte, die entscheidenden Fragen, um (Beifall bei der CDU/CSU.) die es bei uns und bei ihm gehe, seien die Kate- Hier wird doch berechtigte und notwendige Kritik gorien des Rechts, der Freiheit, der Wahrheit und mit nationaler Hetze gleichgesetzt und diffamiert. des Friedens, die sich für uns nicht verändert ha- Auf diesen Boden sollten sich Demokraten nicht ben, daß wir an diesen Kategorien die Verträge begeben. messen und daß sie vor diesen Kategorien un- serer politischen Verantwortung nicht bestehen kön- (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. nen. Darauf kam der Zuruf des Kollegen Wehner: Stark [Nürtingen] : Sie haben ja mehr Demo „Sportpalast!" — „Anhaltender Beifall der CDU/ kratie versprochen!) CSU", so verzeichnet es das Protokoll, und dann Lassen Sie mich Weniges zu Ausführungen von folgt der Zuruf des Abgeordneten Wehner: „Hier Minister Ehmke sagen, mit denen er versuchte, von fehlt nur noch die Frage: Wollt Ihr den totalen den Prämissen der Politik, die diese Regierung Krieg?" selbst gesetzt hat und die in vielen Zeugnissen (Zuruf von der SPD: Jawohl! Genau!) niedergelegt worden sind, nun wieder abzurücken. 9898 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Windelen Minister Ehmke hat bestritten, daß es einen Zu- Ich glaube, meine Damen und Herren, noch klarer, sammenhang, ja, sogar ein Junktim zwischen der noch eindeutiger kann man das wohl nicht aus- Lösung der innerdeutschen Fragen und diesen Ver- drücken. trägen gegeben habe. Er folgt damit eigentlich nur (Beifall bei der CDU/CSU.) - der Feststellung, die Kollege Wehner schon vor längerer Zeit getroffen hat: Wer dies tue, gebe Minister Ehmke ist auf den Briefwechsel anläß- Herrn Ulbricht nur ein Vetorecht in die Hand. lich der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion Nun, meine Damen und Herren, wie sehen denn im Jahre 1955 zurückgekommen. Und er glaubte, die Fakten aus, von denen Herr Ehmke und die daß es einen Qualitätsunterschied gebe, und zwar Bundesregierung jetzt offenbar wieder abrücken zu Lasten jenes Briefwechsels der ein Brief- möchten? Herr Bundeskanzler, es waren doch Sie wechsel war — gegenüber dem einseitigen „Brief er ist nicht mehr da, aber er wird es sicher nach- zur deutschen Einheit". Der wesentliche Unterschied lesen —, der am 14. Januar 1970 das war der erste liegt wohl vor allem darin, daß es sich damals bei Bericht zur Lage der Nation — ausgeführt hat, daß den ersten Briefen um einen Bleichlautenden und die DDR den Nachholbedarf an wechselseitigem Aus- zweiseitigen Briefwechsel handelte. Zum zweiten tausch wie an Zusammenarbeit erfüllen müsse, be- haben Sie, Herr Minister Ehmke, diesen Brief nicht vor es ganz zu Ende zitiert, und ich darf das deswegen (Abg. Dr. Barzel: Bevor!) nachholen. Der ganze Passus heißt: zu engeren Beziehungen komme. Die Bundesregierung geht hierbei davon aus, daß die Herstellung und Entwicklung normaler (Beifall bei der CDU/CSU.) Beziehungen zwischen der Bundesrepublik In der gleichen Rede am gleichen 14. Januar 1970: Deutschland und der Sowjetunion zur Lösung daß die Bundesregierung nur dann über vieles mit der ungeklärten Fragen sich reden lassen werde, wenn dabei gleichzeitig — (Zurufe von der CDU/CSU: Wo ist er über nicht nachher in einem geschichtlichen Prozeß, son- haupt? — Abg. Dr. Barzel: Wenn der Kanz dern gleichzeitig — auch Erleichterungen für die ler nicht da ist, verstehen wir das — er ist Menschen im geteilten Deutschland herauskämen. krank ; aber wenn Herr Ehmke nicht hier ist, verstehen wir es nicht! — Abg. Am 28. Januar 1971 sagte wieder der Bundes- von Thadden: Herr Ehmke ist müde! — kanzler, daß die Entspannung Deutschland nicht Weitere Zurufe des Abg. Stücklen und des ausklammern dürfe, und es gehöre zur Normali- Abg. Katzer.) sierung, daß die Menschen hüben und drüben etwas davon hätten. — Nun, meine Damen und Herren, ich gebe es dann eben zu Protokoll. Ich glaube, daß dies zu wissen Oder der Herr Bundesaußenminister — er ist ja für unser Volk wichtiger ist als für Herrn Ehmke, noch da — in der Antwort auf eine Anfrage der der es ja ohnehin weiß, es aber nicht wahrhaben CDU/CSU-Fraktion in der Fragestunde am 27. Mai will. 1970: (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) ... wir haben mehrfach deutlich gemacht, daß Verhandlungen mit der Sowjetunion und Ver- Ich darf also zu Ende führen: tragsabschlüsse mit , der Sowjetunion, Vertrags- ... zur Lösung der ungeklärten Fragen, die das abschlüsse mit Polen, Vertragsabschlüsse auch ganze Deutschland betreffen, beitragen wird und mit der DDR und daß die Regelung der Fragen, damit auch zur Lösung des gesamten nationalen die mit Berlin zusammenhängen, ein einheit- Hauptproblems des deutschen Volkes — der liches politisches Ganzes bilden. Nur wenn alle Wiederherstellung der Einheit eines deutschen Fragen zu unserer Zufriedenheit geregelt sind, demokratischen Staates verhelfen wird. können sie politisch wirksam werden. Das ist unsere Meinung, und ich glaube, da stimmen (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) wir hier im ganzen Hause überein. Das, meine Damen und Herren, ist der entschei- Nun, meine Damen und Herren, wir stimmten dende Passus: zur „Wiederherstellung der Einheit darin im ganzen Hause überein. Jetzt soll das alles eines deutschen demokratischen Staates", nicht nur nicht mehr wahr sein. zur Wahrung der Einheit der Nation in ihrer kultu- rellen Bindung. (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Arndt [Hamburg] : Doch!) (Abg. von Thadden: Sehr gut!) In der Bestätigung des sowjetischen Ministerpräsi- Herr Dr. Barzel fragte damals, weil er nicht ganz denten ist der gleiche Wortlaut enthalten. Darüber sicher war, noch einmal nach, und, Herr Außen- bestand also offensichtlich damals Einvernehmen. minister, Sie erklärten dann: Ich darf noch einmal erläutern. Meine Antwort, Minister Ehmke hat bedauert, daß in der bisheri- Kollege Barzel, war die, daß die Probleme, die gen Diskussion die historischen Dimensionen ge- ich eben genannt habe, in einem engen Sach- fehlt haben. zusammenhang stehen. In Kraft gesetzt werden kann das eine nur, wenn das andere geregelt Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine ist. Zwischenfrage von Herrn Moersch? Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9899

Windelen (CDU/CSU) : Bitte, Herr Moersch! sen Dingen wirbt. Nun, ich bin davon überzeugt, es wird für Sie keine Werbung werden, meine Damen Moersch (FDP) : Herr Kollege Windelen, viel- und Herren. leicht ist es möglich, daß Sie einen der Zeugen, die - (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von dabei waren — der amtierende Präsident ist aller- der SPD.) dings gerade nicht in der Lage, dieser Zeuge zu sein —, fragen, warum denn damals ein zweiter Lassen Sie mich zum eigentlichen Gegenstand, zu Brief an die Sowjetunion geschickt werden mußte, dem ich hier sprechen wollte, übergehen, zum ob es denn nicht so war — ich bitte Sie, das zu über- deutsch-polnischen Vertrag. Der Herr Bundeskanz- legen , daß gerade der Doppelsinn des Wortes, ler hat am 7. Dezember 1970 in Warschau einen das Sie eben zitiert haben, dazu geführt hat, daß Vertrag unterschrieben, der in seinem Kern fest- Bundeskanzler Adenauer das noch einmal klarstel- stellt, daß die Oder-Neiße-Linie die westliche len wollte, daß er „deutscher demokratischer Staat" Staatsgrenze der Volksrepublik Polen bildet. Meine nicht im Sinne der DDR verstanden wissen wollte? Damen und Herren, nach Wirksamwerden dieses Vertrages werden Ostpreußen, Hinterpommern, Ost- Windelen (CDU/CSU) : Herr Kollege Moersch, brandenburg, Oberschlesien und Schlesien im Ge- Ihre Frage gibt mir Anlaß zu einer ganz anderen gensatz zur bisherigen Rechtsprechung der ober- Feststellung, vor allem zu der, daß verbal gleiche sten Gerichte nicht mehr als Inland, sondern als Aussagen dieser Regierung und früherer Regierun- Hoheitsgebiet eines anderen Staates angesehen wer- gen inhaltlich etwas völlig anderes darstellen, den müssen. Der Bundesaußenminister hat gestern erklärt, daß die Oder-Neiße-Gebiete nunmehr als (Beifall bei der CDU/CSU) polnisches Staatsgebiet, also als Ausland, zu be- weil diese Bundesregierung ja die gemeinsame trachten sind. Meine Damen und Herren, für eine Rechtsauffassung durch die Anerkennung eines zwei- so weitreichende Entscheidung hatte die Bundes- ten deutschen Staates und die Feststellung, daß sich regierung, hatte der Bundeskanzler weder einen Deutschland nunmehr in seinen tatsächlichen Gren- Auftrag noch hat er dafür eine überzeugende Mehr- zen von 1970 verstünde, inzwischen verlassen hat. heit. Das, meine Damen und Herren, ist der entschei- (Beifall bei der CDU/CSU.) dende Unterschied. Deswegen sind selbst verbal Diese Entscheidung über ein Viertel Deutschlands gleiche Aussagen dieser Regierung von einer völlig hängt vielleicht von einer einzigen Stimme ab. Die anderen rechtlichen, nämlich minderen Qualität als Moskauer Zeitung „Neue Zeit" spricht davon, daß Aussagen früherer Regierungen. schon ein schlichter Zufall die Entscheidung gefähr (Beifall bei der CDU/CSU.) den könnte. Ein Letztes in Erwiderung auf das, was Minister (Abg. Wüster: Wie bei der Adenauer Ehmke hier gefragt hat. Wie alle Ihre Redner hier Wahl!) haben Sie uns nach unserer Alte ative gefragt. rn — Das vergleiche ich nicht mit der Wahl eines Bun- Nun, meine Damen und Herren, Ihnen liegt, und auf deskanzlers, meine Damen und Herren! der Tagesordnung verzeichnet, der Antrag der Frak- tion der CDU/CSU betr. Beziehungen der Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU.) republik Deutschland und der Volksrepublik Polen Wir hatten Ihnen zu einem sehr frühen Zeitpunkt zur Beratung und Beschlußfassung vor. Das ist un- vertraulich eine gemeinsame Polen-Politik angebo- sere Antwort und unsere Alternative zur Lösung ten. Die Bundesregierung und der Bundeskanzler dieses Problems. Darin heißt es — und das war die glaubten auf eine breite Basis in dieser so schwieri- entscheidende Frage von Minister Ehmke , ein gen Frage verzichten zu können. Das war, wie sich solcher Vertrag solle ausgehend von der Oder- heute in aller Deutlichkeit zeigt, eine verhängnis- Neiße-Linie und vorbehaltlich der friedensvertrag- volle Entscheidung, verhängnisvoll nicht für uns, lichen Regelung für ganz Deutschland auf der Grund- verhängnisvoll vor allem für die künftigen deutsch- lage des Selbstbestimmungsrechts einen Modus vi- polnischen Beziehungen. Sie mögen zwar sagen — vendi schaffen. Darum also geht es uns. Einen Ver- das ist in diesem Hause mehr als einmal gesagt trag — und Sie sagen ja, dieser Vertrag sei nur ein worden —: Mehrheit ist Mehrheit! Aber, meine Modus vivendi, ohne daß Sie in der Lage sind, die- Damen und Herren, hier geht es doch um weit mehr! sen Nachweis zu führen —, der diesen Vorausset- Hier geht es doch um die Glaubwürdigkeit und um zungen entspräche, könnten wir unterstützen. Das die Tragfähigkeit unserer Entscheidung gegenüber also ist unsere Alternative. der Geschichte und gegenüber dem polnischen Volk. Herr Ehmke hat Kollegen Kiesinger vorgeworfen, Herr Bundeskanzler, für diese Politik hatten Sie er habe im Wahlkampf von Baden-Württemberg, keinen Auftrag! Im Gegenteil, Ihre Partei hatte der hier offenbar für einige Leute eine sehr große noch wenige Tage vor der 'Bundestagswahl alle Ver- Rolle spielt, was ich verstehe, die Bibel mißbraucht. mutungen über einen beabsichtigten Kurswechsel Ich frage mich, wo Herr Minister Ehmke den trauri- mit scharfen Worten zurückgewiesen. gen Mut hernimmt, anderen den Mißbrauch der Bibel (Abg. Dr. Barzel: Sehr wahr!) (Beifall bei der CDU/CSU) Noch sechs Tage vor der Wahl wurde im Namen oder christlicher Überzeugungen vorzuwerfen, wo des Parteivorstandes der SPD auf zweifelnde Fra doch seine Partei im Wahlkampf immer noch mit die- gen festgestellt, die Behauptung, daß die SPD die 9900 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Windelen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie fordere, sei eine sagen, es gebe keine Alternative mehr, muß ich doch Diffamierung, fragen: Hat uns etwa diese Politik dahin gebracht, daß wir jetzt auf einmal keine Alternative mehr (Abg. Dr. Barzel: Hört! Hört!) haben? Davon muß man doch ausgehen. - eine böswillige Verleumdung; (Beifall bei der CDU/CSU.) (Hört! Hört! bei , der CDU/CSU) Der Herr Bundeskanzler hat es für richtig gehal- sie müsse auffordern, diese Behauptung zurückzu- ten, deutsch-polnische Grenzfragen nicht zwischen nehmen, da sie wissentlich falsch sei. Heute wissen Deutschen und Polen, sondern zunächst zwischen wir, daß diese Behauptung zutreffend war. Es ist Deutschen und Russen zu regeln. Meine Damen und deswegen sicher richtig, wenn man unterstellt, daß Herren, das entspricht einer unheilvollen Tradition, die schmale Mehrheit, über die diese Regierung die in Polen unvergessen ist. noch verfügt, nur mit der Versicherung erreicht wer- den konnte, (Abg. von Thadden: Sehr richtig!) (Abg. Haase [Kassel]; Mit der Täuschung!) Vor genau 200 Jahren wurde die erste polnische Teilung zwischen Österreich, Preußen und Rußland daß die damals noch gemeinsame, wenigstens ver- besiegelt. Exilpolnische Zeitungen wissen zu berich- bal noch gemeinsame Ostpolitik — so hieß es doch ten: in eben jenem Katharinensaal des Kreml, in — kontinuierlich weiterentwickelt werde. dem später der Bundeskanzler und der Bundes- (Zurufe von der CDU/CSU: Ja! Ja! und außenminister und vor Ihnen, Herr Bundesaußen- Hört! Hört!) minister, Herr Ribbentrop einen Vertrag über pol- Dieser Vertrag aber, das gilt es hier festzustellen, nische Grenzen unterzeichneten. Doch das ist lei- zerbricht diese Gemeinsamkeit. Wenn Sie das, was der nicht der einzige Zusammenhang zwischen den Sie jetzt machen, vor der Wahl gesagt hätten, dann Verträgen von 1939 und dem von 1970. sähen, dessen bin ich gewiß, die Mehrheiten in die- (Abg. Petersen: Gromyko!) sem Hause ganz anders aus. Herr Bundeskanzler, Sie haben — so wenigstens (Beifall bei der CDU/CSU.) sehen es die Völker des Ostens — in Moskau alle Warum steht der Bundeskanzler, warum steht die heutigen Grenzen in Europa als unerschütterlich und Bundesregierung nicht mehr zu den feierlichen, teil- unveränderlich bestätigt — und damit auch jene weise geradezu pathetischen Erklärungen zur Oder- polnisch-sowjetische Grenze des Hitler-Stalin-Pak- Neiße-Linie früherer Jahre? Es sind einige zitiert tes, die die Polen Wilna und Lemberg kostete. worden. Ich könnte seitenlang weiter zitieren; das (Abg. Haase [Kassel] : Die russische Aggres würde uns hier nicht weiterführen und würde auch sion nach Polen — Litauen, Estland, Lett nichts ändern. land!) Aber, meine Damen und Herren, ich frage Sie: — Ja, natürlich, noch einiges mehr. Ich spreche hier Was hat sich denn seit 1969, seit dem Wahltag also, über das deutsch-polnische Verhältnis. Sie wissen, geändert, wenn es sechs Tage vorher noch hieß, es was das für jeden national- und geschichtsbewußten sei eine Verleumdung und Diffamierung, zu behaup- Polen auch heute noch bedeutet. Unter solchen Be- ten, die Oder-Neiße-Linie solle anerkannt werden? gleitumständen ist die Hoffnung auf einen deutsch- Wir hören dann immer, daß es zu dieser Ostpolitik polnischen Ausgleich nicht sehr wahrscheinlich. — das ist ja auch jetzt wieder gesagt worden — Der Herr Bundeskanzler hat den Warschauer Ver- keine Alternative gebe, und deswegen, deswegen trag zum Bestandteil des übergeordneten Moskauer sei sie richtig. Ich verstehe das nicht. Der Bundes- Vertrages, des Generalvertrages gemacht. kanzler hat doch selbst als Außenminister der Gro- ßen Koalition diese Alternative wenigstens verbal (Abg. Dr. Barzel: Ganz genau!) oder, wie Herbert Wehner gestern sagte, unter der Die in Moskau paraphierte Absichtserklärung unter- Zucht des Kabinetts vertreten. Herr Kollege Weh- streicht das ganz eindeutig, denn sie spricht von ner, Sie haben diese Broschüre unter eigener Ver- einem einheitlichen Ganzen aller Verträge. antwortung herausgegeben, die Dr. Kiesinger ge- (Abg. Dr. Arndt [Hamburg] : Aber nicht von stern zitiert hat, nicht unter Zucht des Kabinetts; Sie der Über- und Unterordnung!) hätten sie nicht herauszugeben brauchen. Ich habe Ihnen eben die Interpretation des Bun- (Abg. Dr. Arndt [Hamburg] : Dann lesen Sie — desaußenministers gebracht, wie er dieses einheit- die Geschäftsordnung der Bundesregierung!) liche Ganze versteht oder mindestens verstand. — Nein, Herr Kollege Arndt: Jeder Minister führt — das sollten Sie wissen sein Ressort selbstver Sie wissen, daß selbst kommunistische Politiker antwortlich. Publikationen konnte selbstverständ- darum ringen, die zuletzt in der CSSR blutig be- lich der gesamtdeutsche Minister, den es damals stätigte Brechnew-Doktrin von der begrenzten Sou- noch gab, in eigener Verantwortung herausgeben. veränität sozialistischer Staaten abzuschwächen. Der Sie zweifeln daran? Dann lesen Sie die Geschäfts- Herr Bundeskanzler hat mit der Regelung der ordnung der Bundesregierung. Niemand hatte Sie deutsch-polnischen Grenzfragen über die Köpfe der also dazu gezwungen. Es gab damals — wenigstens Polen hinweg diese Doktrin de facto hingenom- verbal — noch eine gemeinsame Politik und eine men und bestätigt. Wie können wir glauben, das Alternative. Wenn Sie jetzt seit Herbst 1969 trage zur Ausöhnung bei? Auch hier war der Bun- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9901

Windelen deskanzler gewarnt. Auch hier hat er sich über diese Auschwitz, Lamsdorf und Katyn stehen für viele. Warnungen hinweggesetzt. Sie stehen für eine europäische Tragödie ohneglei- (Abg. Matthöfer: Unsinn!) chen, die sich nie wiederholen darf. — Das ist kein Unsinn. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Abg. Matthöfer: Natürlich!) Wer aber Aussöhnung anstrebt, der muß die ganze Wahrheit sagen und die ganze Wahrheit ertragen Darüber wird, wenn einmal die Dokumente zugäng- können. lich sind, auch die Öffentlichkeit mehr erfahren. Nun kann es natürlich sein, daß man mir entge- (Beifall bei der CDU/CSU.) genhält, ich verwechsele Ursache mit Wirkung. Nein, Was die Polen selbst, soweit sie sich frei äußern meine Damen und Herren! Kollege Wehner hat können, zu dieser Politik sagen, kann man täglich gestern völlig zu Recht gesagt: in der Geschichte der polnischen Exilpresse entnehmen. So schreibt gibt es keine Stunde Null. Deswegen fängt eben z. B. „Narodowicz" am 13. August 1970, der Mos- auch die deutsch-polnische Geschichte nicht mit dem kauer Vertrag erwecke schmerzliche Erinnerungen Überfall Hitlers und Stalins auf Polen an. Wenn an den sowjetisch-deutschen Vertrag direkt vor dem man schon über Ursachen und Wirkungen spre- letzten Krieg, oder die angesehene Pariser „Kultura" chen will, dann muß man auch jene Ursachen und im November 1970 — wörtliches Zitat —: Wirkungen mit bedenken, die nach dem ersten Obwohl es natürlich gewesen wäre, daß die Weltkrieg das Verhältnis zwischen Deutschen und Garantien der Unantastbarkeit der Westgrenzen Polen unheilvoll vergifteten. Volksabstimmungen, Polens vor allem in Warschau deponiert wür- an die man sich nicht hielt, willkürlich gezogene den, hat Brandt diese Garantien an Moskau Grenzen auf Landkarten, die Frieden schaffen soll- überwiesen. Das Ergebnis dieser Operation: wie ten, Versuche auch damals schon —, das Selbst- früher der Gehorsam gegenüber der UdSSR mit bestimmungsrecht durch Gewalt zu ersetzen, eine der Gefahr der deutschen Revanchisten moti- nationalistische Minderheitenpolitik, die natürlich viert wurde, so wird er jetzt mit der Tatsache nationalistische Gegenreaktionen auslöste, — das begründet, daß die Garantien in der Hand der alles gehört mit zu dieser Vorgeschichte. sowjetischen Regierung liegen. Herr Kollege Wehner hat gestern vor unbilligen Das waren nur zwei Stimmen aus der Fülle ähnlicher Vergleichen gewarnt, vor allem vor einem Vergleich Kommentare. mit Versailles. Ich glaube, er hat recht. Man kann hier keine unmittelbaren Vergleiche ziehen. Aber Der Herr Bundeskanzler und viele mit ihm, die man sollte wenigstens aus Fehlern lernen dürfen. das harte Los der Emigration geteilt haben, werden Schließlich war es Theodor Heuss, der schon 1932 die Bedeutung derartiger Meinungsäußerungen be- sagte: „Die Geburtsstätte der nationalsozialistischen sonders zu würdigen wissen. Auch jene waren mit Bewegung ist nicht München, sondern Versailles." dem Herrn Bundeskanzler damals vor einer Diktatur geflohen. Sie haben auf ihre Weise damals auch (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) als Emigranten gegen die Gewaltherrschaft in ihrem Herr Bundesaußenminister, es war Ihr Vorgänger im Heimatland gekämpft, genauso wie es Polen heute Amt des Vorsitzenden der FDP, , der im freien Westen versuchen. 1950 bestätigte, daß der Aufstieg Hitlers weitgehend eine Folge des Versailler Vertrages gewesen sei. Ich bin überzeugt, in diesem Haus gibt es nieman- Insoweit gehört dieses Problem mit in unsere Be- den, der nicht Verständigung, der nicht Aussöhnung trachtung, mit dem polnischen Volk will. Aber bisher waren (Beifall bei der CDU/CSU) wir uns doch, meine ich, darüber einig, daß wir unseren Frieden mit dem polnischen Volk suchten eben weil die Geschichte keine Stunde Null kennt. und nicht mit denen, die es unterdrücken. Heute stehen wir vor der Frage, ob wir diesmal (Beifall bei der CDU/CSU.) ohne Zwang eine ähnliche Lage — das Selbstbestim- Wir alle wissen um die Opfer von Auschwitz, und mungsrecht ignorieren, Striche auf Landkarten ma- wir schämen uns dessen, was dort im Namen von chen und Menschen aussiedeln oder vertreiben — Deutschen geschehen ist. Wir wissen aber auch, was hinnehmen wollen. Ich meine, die Erfahrungen der später mit den Überlebenden von Auschwitz geschah Vergangenheit sollten uns schrecken. Recht muß und was heute noch mit ihnen in Polen geschieht. Recht bleiben. Wer aus Unrecht Recht werden läßt, Wir wünschten, daß auch dazu ein Wort gesagt wor- der schafft böse Beispiele für die Zukunft, den wäre. Wir hoffen, daß der Herr Bundeskanzler (Beifall bei der CDU/CSU) demnächst bei seinem Besuch in Israel dazu ein Wort auf die sich dann auch andere berufen können — sagen wird. nein: inzwischen ja schon berufen. Denken Sie an Aber noch etwas anderes gehört zur ganzen Wahr- Israel oder an Irland. Wann je in der Geschichte heit. Es gab nicht nur die Verbrechen von Auschwitz, hat das Ziehen von Strichen auf Landkarten und das es gab nicht nur Verbrechen von Deutschen, son- Wegschaffen von Menschen Frieden, Entspannung dern es gab auch Verbrechen an Deutschen. Es gab und Versöhnung gebracht? Betrachten wir doch alle auch Lamsdorf, wo Polen Schreckliches an Deutschen Brand- und Krisenherde, die die Politiker heute be- taten, und es gab auch Katyn, wo Stalin Tausende schäftigen! Sie sind alle die Folge von ungelösten von polnischen Offizieren ermorden ließ. Die Namen Problemen, von Problemen, die man nur auf die 9902 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Windelen nächste Generation verschoben hat, statt sie in Ge- der Polen war: „Für eure und unsere Freiheit". duld einer Lösung des Ausgleichs zuzuführen. Meine Damen und Herren, es stünde uns wohl an, (Zustimmung bei der CDU/CSU.) dieses Wort genau zu bedenken und zu prüfen,- was heute damit gemeint ist: „Für eure und unsere Frei- Nachdem wir diese geschichtlichen Erfahrungen heit." haben, ist es uns, glaube ich, nicht mehr erlaubt, (Beifall bei der CDU/CSU.) die Probleme von heute wieder einmal auf die nächste Generation zu verschieben, weil wir nicht Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine die Kraft und nicht die Geduld haben, Zwischenfrage des Abgeordneten Sieglerschmidt? (Zurufe von der SPD) eine Lösung des echten Ausgleichs zu schaffen, Windelen (CDU/CSU): Bitte! (Beifall bei der CDU/CSU — Abg. Dr. Arndt [Hamburg] : Warum stimmen Sie Sieglerschmidt (SPD) : Herr Kollege Windelen, dann nicht zu?) stimmen Sie mit den Vorstellungen der polnischen Bischöfe, mit denen Sie sich hier so solidarisiert ha- nicht nur — das geschieht doch mit diesen Ver- ben, auch hinsichtlich der polnischen Westgrenze trägen — eine Sanktionierung von Gewalt und An- überein? nektion. Ein Frieden, der nicht auf dem Recht, son- dern auf dem Unrecht beruht, kann nach unseren geschichtlichen Erfahrungen nicht von Dauer sein, Windelen (CDU/CSU) : Herr Kollege Siegler- und die bloße Aufrechnung von Schuld hilft uns be- schmidt, ich habe Ihnen vorhin schon die Antwort stimmt nicht weiter. auf die Frage nach unserer Alternative gegeben. Die deutschen Vertriebenen haben auf diese Botschaft (Zustimmung bei der CDU/CSU.) der polnischen Bischöfe positiv reagiert, und sie Schuld gibt es auf beiden Seiten, wenn auch das waren zu Gesprächen auf dieser Ebene bereit. Das Ausmaß unterschiedlich ist und wir den geringsten ist auch meine Antwort. Anlaß haben, unseren Teil von Schuld zu verklei- (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wisch nern oder zu bagatellisieren. Aber Aussöhnung newski: Das war keine Antwort!) kann es doch nur dann geben, wenn alle Beteiligten ihr Maß an Schuld erkennen — Herr Kollege Wischnewski, ich muß meine Ant- wort an die Mehrheit dieses Hauses richten. Wenn (Beifall bei der CDU/CSU) einzelne sie nicht verstehen, bin ich bereit, sie ein- I und wenn alle Beteiligten zu einem Neubeginn be- zeln zu informieren. reit sind. Auch dazu hätten wir vom Herrn Bundes- (Beifall bei der CDU/CSU.) kanzler ein offenes Wort erwartet. Vielleicht kommt es noch. Die polnischen Bischöfe, an ihrer Spitze Ich meine, daß die Forderung der polnischen Kardinal Wyszyinski, wagten dies, obschon sie Bischöfe, nicht nur für die eigene, sondern auch für wußten, wie die polnische Regierung reagieren die Freiheit der anderen einzutreten, nicht nur eine würde. Sie schrieben in ihrer Botschaft an die deut- Forderung von Christen, sondern auch eine Forde- schen Bischöfe im Jahre 1965 wörtlich: rung von Demokraten sein müßte. Die polnische Westgrenze an Oder und Neiße (Beifall bei der CDU/CSU.) ist, wie wir wohl verstehen, für Deutschland Es ist vor allem eine Mahnung an uns, die wir diese eine äußerst bittere Frucht des letzten Massen- Freiheit noch haben. vernichtungskrieges zusammen mit dem Leid Die Warschauer Regierung erklärte zur Bischofs- von Millionen von Flüchtlingen und vertrie- botschaft, es gehe nicht um Vergebung und Ver- ben Deutschen. söhnung, sondern es gehe — so wörtlich — um die Sie erwähnten dann die Vertreibung auch der Polen wiedergewonnenen polnischen Westgebiete. Die Ab- aus den polnischen Ostgebieten, und sie schlossen sicht ist klar. Wenn es sich nur um wiedergewon- mit dem bewegenden Satz von der gegenseitigen nene polnische Gebiete handelt, dann wäre ein deut- Vergebung: scher Verzicht kein Opfer und könnte nicht zum gewähren Vergebung und bitten um Verge- Ausgleich führen. Es wäre dann zusammen mit der bung." Vertreibung nur die Wiedergutmachung eines histo- rischen Unrechts, mehr nicht. Ich will mich hier mit Die scharfe Reaktion der Warschauer Regierung dieser These nicht auseinandersetzen. Sie ist histo- formulierte der damalige Ministerpräsident Cyran- risch falsch, unhaltbar, auch für ernsthafte polnische kiewicz: eine solche Bitte um Vergebung, so sagt Historiker kein Gegenstand der Auseinanderset- er, sei für das polnische Volk beleidigend und für zung. Ich habe diese Aussagen hier erwähnen müs- seine Würde erniedrigend; das polnische Volk habe sen, weil an ihnen der unüberbrückbare Gegensatz nicht um Vergebung zu bitten. zwischen der Auffassung der polnischen Regierung und der Auffassung der polnischen Bischöfe ganz Noch bedeutungsvoller ist ein anderer Satz in derselben polnischen Bischofsbotschaft. Darin wird deutlich wird. uns Deutschen — ganz bestimmt nicht ohne Absicht Man wird sagen: Die polnischen Bischöfe haben — mitgeteilt, daß in allen Freiheitskämpfen wäh- wohl kaum eine Legitimation. Meine Damen und rend der polnischen Unterdrückungszeit die Devise Herren, jeder Kenner Polens und der polnischen Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9903 Windelen Geschichte weiß, daß die katholische Kirche und die auch heute noch die Interpretation des Warschauer Bischöfe in Polen mit weit größerem Recht für das Vertrages. So wird man nicht Verständigung, so polnische Volk sprechen können als die derzeitige kann man nicht Aussöhnung zwischen Deutschen und polnische Regierung. Polen schaffen. Eine solche Polenpolitik ist deswe- gen zwiespältig und fragwürdig. Sie täuscht ent- (Beifall bei der CDU/CSU.) weder die Polen oder die Deutschen. Es ist eine Ministerpräsident Cyrankiewicz, Parteichef Go- Politik, die eher den Keim zu neuen Konflikten mulka und Außenminister Jedrychowski wurden legt, statt endlich alte Konflikte zu beseitigen. trotz des Warschauer Vertrages ihrer Posten ent- (Beifall bei der CDU/CSU.) hoben. Wenige Tage nach ihrem größten Triumph Das, meine Damen und Herren, ist genau keine brach ein Aufstand polnischer Arbeiter aus, ein Auf- Politik, die den Frieden sicherer macht. stand, von dem der „Spiegel" unter der Überschrift berichtete: „Die Volksregierung mordet ihr Volk." Der Herr Bundeskanzler sagt — und der Herr Die wirtschaftlichen Sorgen in Polen waren also weit Außenminister hat es bestätigt , eine gesamt- größer für die Menschen dort als die Befriedigung deutsche Regierung sei an diesen Vertrag nicht ge- über die Granzgarantie des Warschauer Vertrages. bunden. Damit steht doch fest: Wenn ein wiederver- Ich meine, auch das sollte uns zu denken geben. einigtes Deutschland mit einer gesamtdeutschen Regierung die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie Nun, meine Damen und Herren, zur Auslegung in Frage stellen kann, dann wird selbst ein freies des Grenzartikels des Warschauer Vertrages. Der Polen diese Wiedervereinigung zu verhindern Herr Bundeskanzler hat uns hier und an anderer suchen. Damit aber würde das deutsch-polnische Stelle wohl mit Blick auf Karlsruhe erklärt, es handle Verhältnis erneut belastet. Deswegen ist der War- sich bei der Grenzanerkennung um einen Modus schauer Vertrag weit mehr als ein Grenzvertrag. Er vivendi. Aber in aller Welt wird der Eindruck er- ist zugleich auch ein Vertrag zur Erschwerung der weckt — das ist hier im Laufe der Debatte oft genug deutschen Wiedervereinigung. betont worden —, wir meinten in Wirklichkeit doch Anerkennung. Mit Blick auf Polen spricht der Bun- (Beifall bei der CDU/CSU.) deskanzler wieder von Anerkennung. Aber er läßt Auch das gilt es in aller Deutlichkeit zu erkennen, sich den Rückweg offen, es sei in Wirklichkeit doch wenn man zu diesem Vertrag votieren soll. ein Modus vivendi gemeint. Genau das ist es, meine Damen und Herren, was wir eine zwiespältige und Der Herr Bundeskanzler sagt immer, er möchte unglaubwürdige Politik nennen, die besonders bei den Frieden sicherer machen. Aber hier muß man den Polen Mißtrauen und Zweifel auslösen muß. doch fragen, meine Damen und Herren: Wer stört (Beifall bei der CDU/CSU.) denn eigentlich den Frieden? Das sind doch nicht wir, die wir längst auf Gewalt und auf Drohung mit Der Herr Bundeskanzler hat vor seiner Unter- Gewalt verzichtet haben. Das sind doch nicht wir, schrift gewußt — und die Polen haben es immer wie- die wir uns nur auf das in der UNO-Charta ver- der mit Nachdruck betont —, daß in den Augen briefte Recht berufen. Den Frieden gefährdet doch, Warschaus die Teilung Deutschlands damit endgültig wer die Weltherrschaft mit allen Mitteln anstrebt besiegelt sei. Dennoch ist unterzeichnet worden und und das jeden Monat und jede Woche erneut offen erklärt worden, der Friedensvertragsvorbehalt sei ankündigt. selbstverständlich gewahrt und der Vertrag be- (Beifall bei der CDU/CSU.) inhalte keine endgültige Grenzanerkennung. Eine Man braucht doch nur nachzulesen, was Herr solche Politik kann weder den inneren noch den Breschnew sagt und was das „Neue Deutschland" äußeren Frieden sicherer machen. Die Polen be- täglich schreibt, meine Damen und Herren. fürchten natürlich, wir meinten es nicht ehrlich. Bei den Vertriebenen umgekehrt wird ein Funken und Mit welchem Recht verlangt eigentlich Moskau

, ein Rest von Hoffnung genährt, von der doch jeder von uns, daß wir sein gewaltsam gebildetes Impe- weiß, daß sie bei Fortsetzung dieser Politik völlig rium nunmehr als unabänderlich garantieren? Das unrealistisch wäre. wäre doch nichts anderes als eine späte Rechtferti- gung auch der Eroberungspolitik Hitlers, der 1939 Warum sagt man nicht offen, was das politische gemeinsam mit Stalin Polen überfiel und damit Ziel in Wirklichkeit ist? Nur mit Rücksicht auf Karls- Recht durch Macht ersetzte. ruhe? Warum werden Spekulationen weiter Tür und (Beifall bei der CDU/CSU.) Tor geöffnet? Jeder kennt doch die vielen ableh- nenden Äußerungen des Bundeskanzlers und vie- Der Bundeskanzler hat selber auf diesen unleug- ler Kabinettsmitglieder zur Anerkennung der Oder- baren Zusammenhang in einem Aufsatz vom Neiße-Linie noch vor wenigen Jahren. Sie sind doch 22. Januar 1940 hingewiesen. Er schrieb damals: noch gar nicht so alt. Manche wissen, daß der Herr Bundeskanzler dennoch gleichzeitig im Ausland Die Sowjetunion hat hinter dem Schleier einer ganz anderes sprach und eben jene Anerkennung, Friedenspolitik mitgeholfen, den großen Krieg die er im Innern so hart ablehnte, im Ausland in in Gang zu setzen. Aussicht stellte. (Abg. Haase [Kassel] : Sehr richtig!) Meine Damen und Herren, was damals unverein- Durch diese Politik ist die Sowjetunion ein bar nebeneinander stand, das kennzeichnet leider Bundesgenosse des Nazismus geworden. 9904 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24 Februar 1972

Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine falls eine Episode dar. Was also erst Realität Zwischenfrage des Abgeordneten Schlaga? ausmacht, ist das Akzeptieren und Anerkennen. ... Nur so besteht z. B. die Hoffnung,- daß das Grauenhafte, das mit dem Wort Auschwitz ver- Schlaga (SPD) : Herr Windelen, Sie erwähnten bunden ist, gleichsam eingemauert wird, nach- jetzt zum wiederholten Mal die Beteiligung der dem die Menschheit deutlich genug gezeigt hat, Sowjetunion oder, besser gesagt, Stalins an der daß sie so etwas nicht akzeptiert. Okkupation Polens im Jahre 1939. Sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß wir diese Dinge, obwohl sie Er fährt dann fort: „Grenzveränderungen hat es in seinerzeit im Namen des deutschen Volkes gesche- der Menschheitsgeschichte immer gegeben und wird hen sind, überhaupt nicht zu vertreten haben, auch es auch in Zukunft geben. Bis 1939 aber waren nicht im Sinne der Identitätstheorie? Und halten Sie solche Grenzverlegungen nicht mit entsprechenden es nicht wirklich für ein bißchen armselig und mora- Transplantationen der Bevölkerung verbunden." lisch und politisch unzulässig, die Schandtaten, die Hier liegt der eigentliche Bruch mit dem christlich seinerzeit begangen worden sind, dadurch relativie- abendländischen Denken, also nicht in der Oder- ren oder verniedlichen zu wollen, daß man ständig Neiße-Linie, sondern darin, daß man die Menschen auf Komplicen verweist? wie Kühe von einer Weide auf die andere treibt. (Beifall bei der CDU/CSU.) Windelen (CDU/CSU) : Herr Kollege Schlaga, Diese Realität ist es, mit der sich Menschen nicht wenn Sie mir zugehört hätten, hätten Sie diese abfinden können und nicht abfinden dürfen. Unter Frage nicht zu stellen brauchen. dem Vorzeichen des Kommunismus, meine Damen (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von und Herren, können wir den Warschauer Vertrag der SPD: Anmaßung!) nicht als Beitrag zum Frieden ansehen. Er dient lediglich dazu, den gewaltsamen Vormarsch des — Lesen Sie doch das Protokoll nach! Das ist keine Kommunismus bis an die Elbe nachträglich zu Anmaßung! Meine Damen und Herren, es hat doch sanktionieren und festzuschreiben. wirklich keinen Sinn, hier dauernd zu sprechen und sehen zu müssen, daß all die Erklärungen„ die man Weshalb nach Auffassung von Honecker der Frie- hier abgibt, noch in der gleichen Rede wieder in den durch die Ostverträge sicherer wird, das sagte Frage gestellt werden. Es hat doch keinen Sinn, so der SED-Chef am 6. Januar dieses Jahres. Er sagte: zu diskutieren. „Der Frieden ist also sicherer geworden, weil der Sozialismus an Stärke gewonnen hat. Mit einem Das zweite: Setzen Sie sich doch mit Ihrem Bun- Wort, das internationale Kräfteverhältnis hat sich deskanzler selber auseinander, der diesen Satz, den weiter zu unseren Gunsten verändert." Meine Da- ich wiederholen möchte, im Jahre 1940 völlig zu- men und Herren, wir befürchten, genauso wird es treffend geschrieben hat. Es ist Willy Brandt, nicht sein. Der Kommunismus wird mit den Ostverträgen , der schrieb: noch eine Handhabe bekommen, daß diese Art von Die Sowjetunion hat hinter dem Schleier einer Frieden künftig für ihn noch sicherer werden könnte. Friedenspolitik mitgeholfen, den großen Krieg Das aber liegt weder im Interesse der Polen noch im in Gang zu setzen. Durch diese Politik ist die Interesse der Deutschen. -- Ich möchte eigentlich Sowjetunion ein Bundesgenosse des Nazismus jetzt zum Ende kommen, auch im Interesse der Zeit- geworden. ökonomie Dies und nichts anderes wollte ich hier festgestellt Der Bundeskanzler hat sich in der Emigration bit- haben, ter beklagt, daß die schwächliche Politik der West- (Beifall bei der CDU/CSU. Abg. Rawe: mächte eine der entscheidenden Ursachen dafür ist, Wohlgemerkt, Willy Brandt!) daß es heute in Deutschland keine aktive politische Opposition gibt. Das ist sicher völlig richtig. Aber Nun, meine Damen und Herren, sagt man uns muß er diesen Satz nicht heute auch gegen seine immer — und das war ja auch wesentlicher Inhalt Politik gelten lassen? der Ausführungen von Minister Ehmke vorhin —, hier gehe es um Realitäten. Nun, Hitler war genau- (Beifall bei der CDU/CSU.) so eine Realität, wie es Stalin war und wie es Die Politik des Nachgebens kann doch nur einer Breschnew heute ist. Hätten wir uns und, so frage Festigung der Einparteienherrschaft jenseits des ich Sie, hätte sich die freie Welt denn auch mit Hit- Eisernen Vorhangs dienen, und sie muß doch jede ler abfinden sollen? freiheitliche Regung, jede Opposition jenseits des Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang zitie- Eisernen Vorhangs zutiefst entmutigen. Können wir ren, was der Erlanger Ordinarius und Schweizer das wollen, meine Damen und Herren? Staatsbürger Professor Ernst Heuss schon 1965 im Ich war, Herr Kollege Mattick, sehr bestürzt über Zusammenhang mit der evangelischen Denkschrift Ihren Beitrag und das Zitat, das Sie kürzlich schon zum Thema „Relitäten" sagte: einmal in einem gemeinsamen Podiumsgespräch Damit nämlich etwas zur vollen Realität wer- gebracht haben, das Zitat von Winston Churchill den kann, muß es vor allem von den Mit- aus dem Kriegsjahr 1944, ein Zitat des Kriegs- menschen akzeptiert werden. Wird es das nicht, premiers Churchill zur Stützung Ihrer These, hier in dann hat das Geschaffene keine Chance, eigent- diesem Saal und zu dieser Politik. Ich möchte es liche Realität zu werden, sondern stellt besten- wenigstens durch ein Zitat des gleichen Churchill Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9905 Windelen ergänzen dürfen, aus einer Zeit, als es darum ging, Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine zum Frieden zu kommen und nicht mehr Krieg zu Zwischenfrage des Abgeordneten Wehner? führen. Er erklärte am 16. August im britischen - Unterhaus folgendes wörtlich: Windelen (CDU/CSU) : Bitte schön! Ich muß meine Meinung zu Protokoll bringen, daß die provisorische Westgrenze, die Polen Wehner (SPD) : Würden Sie, verehrter Herr Kol- zugebilligt worden ist und die ein Viertel des lege Windelen, mir sagen, ob Sie die Auffassung, pflügbaren Landes von Deutschland in sich die ich im folgenden zitiere, auch als die Ihre an- schließt, keine gute Vorbedeutung für die Zu- sehen? Sie beginnt mit der Feststellung: kunft Europas hat. Ich möchte einige Friedensaufgaben nennen, (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) die mir innerhalb der katholischen Kirche der Hier ist, glaube ich, ein Fehler gemacht worden, Bundesrepublik besonders dringlich zu sein wobei die provisorische polnische Regierung scheinen: weit über das hinausging, was Notwendigkeit 1. An die erste Stelle gehört zweifellos, und und Gleichwertigkeit erfordern. zwar auf viele Jahre hinaus, die Verständi- gung und Versöhnung mit Polen. Wie immer Meine Damen und Herren, ich weiß wirklich nicht, man zu dem Vertrag stehen mag, über den ge- ob es für einen deutschen verantwortlichen Politiker genwärtig verhandelt wird, — diese Aufgabe ist vertretbar ist, zur Stützung seiner Politik auf extrem und bleibt gestellt. Ich freue mich in diesem Zu- negative Äußerungen ausländischer Staatsmänner sammenhang, daß aus dem Kreis der polnischen zurückzugreifen, die während des Krieges gemacht katholischen ZNAK-Gruppe eine Einladung an wurden, und die positiveren Äußerungen im Zu- das Präsidium von Pax Christi zu einem Besuch sammenhang mit der Friedensregelung hier zu un- in Polen ergangen ist, und möchte an dieser terschlagen. Stelle herzlich dafür danken. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Zurufe von der CDU/CSU.) Wenn es um den Frieden geht, dann bekenne ich — Da Sie sich so freuen: Das sind Worte von Kar- mich zu dem Kommentar der hier schon einmal zi- dinal Döpfner — wörtlich zitiert. Ich wollte, weil tierten exilpolnischen Zeitung „Narodowiec" vom sich Herr Windelen jetzt — wozu ich ihm das Recht 17. Dezember 1970. Die Zeitung schrieb zum Auf- nicht bestreite — auf ein polnisches Emigrationsblatt stand in Polen kurz nach Unterzeichnung des War- berief, nur fragen, wie er sich zu dieser Auffassung schauer Vertrages wörtlich folgendes. von Julius Kardinal Döpfner stellt. (Abg. Corterier: Sie bringen hier bloß immer Zitate!) Windelen (CDU/CSU) : Ich glaube, daß es auf — Sagen Sie das doch bitte Ihren Freunden, die hier dieser Grundlage keine Schwierigkeiten und keine lange Passagen mit Zitaten bestritten haben! Und Probleme gibt, zu einer Verständigung zu kommen. das zweite: Ich glaube, in diesem Hause sollte jeder Herr Kollege Wehner, wenn Sie sich ebenfalls — frei sein, das zu sagen, was er für richtig hält, und und davon muß ich doch ausgehen, wenn Sie das nicht das, was Sie für richtig halten. hier zitieren — mit dieser Auffassung identifizieren, dann jedenfalls sollten wir uns in der Polenfrage auf (Beifall bei der CDU/CSU.) eine gemeinsame Linie einigen können. Diese Zeitung schrieb: (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Gut an dieser großen Tragödie Schäfer [Tübingen]:: Sie sind doch dazu ein — des Aufstandes in Polen — geladen!) ist, daß sie Polen, ... Europa und die Welt Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die daran erinnert, daß ein solcher Friede dem CDU/CSU-Fraktion hat am 4. Dezember 1970 ein- europäischen Kontinent keine Sicherheit brin- stimmig einen Entschließungsantrag eingebracht, der gen würde. Es muß all denen unangenehm auf- unsere Alternative zum Warschauer Vertrag deut- fallen, die im Westen bereit sind, die Unfreiheit lich macht. Er geht von den Grundpositionen aus, halb Europas zu billigen, um auf der anderen die bis vor wenigen Jahren noch von allen Frak- Seite Ruhe und Sicherheit zu haben. Es zeigt tionen im Deutschen Bundestag gemeinsam vertre- sich, daß die Sicherheit ganz Europas sehr eng ten wurden. Die Diskussion und Abstimmung dar- damit verbunden ist, ob ganz Europa frei ist über werden zeigen, wieviel von dieser Gemeinsam- oder nicht, ... weil sie nicht vom Schicksal und keit noch verblieben ist. Wir sind überzeugt, daß den Verkehrsmöglichkeiten einer Million Ein- eine Politik auf der Grundlage dieser Entschließung wohner von halb Berlin abhängt, sondern von dem inneren und äußeren Frieden dienen würde. der Freiheit von 100 Millionen Europäern aus (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU.) dem östlichen Teil dieses Kontinents. Das, meine Damen und Herren, ist auch unsere Mei- Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der nung. Deswegen lehnen wir Verträge ab, die weder Bundesminister des Innern. Frieden noch Aussöhnung bringen, die Unrecht und Gewaltherrschaft sanktionieren und den Menschen Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Prä- drüben nichts, aber auch gar nichts bringen. sident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege 9906 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Bundesminister Genscher Windelen hat im Verlaufe seiner Rede die Forde- ihnen auch das moralische Recht gibt, von jeder rung an uns alle erhoben, die ganze Wahrheit zu Fraktion des Deutschen Bundestages zu erfahren, ob sagen und auch die ganze Wahrheit ertragen zu sie jetzt oder in Zukunft eine reale Chance dafür können. Ich glaube, daß kein Thema für diesen Ap- sieht, daß diese Gebiete jemals zu Deutschland zu- pell besser geeignet ist als das Verhältnis des deut- rückkommen. Ich glaube, daß das ein Gebot der Ehr- schen zum polnischen Volk. Der Kollege Windelen lichkeit ist, und ich will diese Frage für mich an wird sich mit dem, was er hier ausgeführt hat, an dieser Stelle beantworten. Meine Damen und Her- dieser von ihm aufgestellten Regel messen lassen ren, sowenig es in den Jahren seit 1945 vergange- müssen. nen Regierungen, solchen, an denen wir beteiligt waren, und solchen, zu denen wir in Opposition Herr Kollege Windelen, Sie haben gesagt, daß standen, möglich war, diese Gebiete zu Deutschland diese Verträge das Unrecht und die Gewaltherr- zurückzubringen, so wenig wird es auch künftigen schaft sanktionieren, was doch wohl heißen soll, Regierungen möglich sein. Das gehört bei einer Dis- daß sie die Gewaltherrschaft in Polen sanktionieren, kussion über die Lage der Nation mit dazu, wenn weil dort eine kommunistische Regierung die Ver- man sagt: Wir wollen die ganze Wahrheit sagen, antwortung trägt. Wenn das so ist, dann müssen Sie und wir wollen auch die ganze Wahrheit ertragen fairerweise sagen, daß Sie auf Ostpolitik mit allen können. So gesehen ist nichts verschenkt, und so kommunistischen Staaten so lange verzichten wol- gesehen ist auch nichts vergeben worden. len, wie dort kommunistische Regierungen sind. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zur ganzen Wahrheit, meine Damen und Herren, Abg. Konrad: Und auf Fernostpolitik!) gehört auch etwas anderes. Herr Kollege Windelen hat davon gesprochen, daß wir den Frieden mit dem Ich finde auch, daß es ein unzulässiger Vergleich polnischen Volk suchen. Ich denke, das können wir war, ein Verhältnis zwischen den Verhandlungen alle für uns in Anspruch nehmen. Ich denke, ich kann des Außenministers des „Dritten Reiches" Ribben- hier auch feststellen, daß es uns allen lieber wäre, trop und den Verhandlungen herzustellen, die der wenn wir diese Verhandlungen mit einer demokra- Außenminister des demokratischen Nachkriegsstaa- tischen Regierung in Polen hätten führen können. tes Bundesrepublik Deutschland geführt hat. Aber in einem Punkte, meine Damen und Herren, (Beifall bei den Regierungsparteien.) wollen wir auch jede Illusion fallenlassen: Im pol- Jene Verhandlungen, meine Damen und Herren, nischen Volk wie in anderen Völkern, die unter waren ein Meilenstein auf dem Weg, der dazu kommunistischer Regierung leben müssen, gibt es führte, daß Millionen deutscher Menschen am Ende Menschen, die sich zu dieser Regierung bekennen, ) dieses Krieges ihre Heimat verloren haben, und — wie wir meinen — viel mehr Menschen, die in Opposition zu dieser kommunistischen Regierung (Beifall bei den Regierungsparteien) stehen. Aber in einer Frage sind sich alle Polen und die Verhandlungen, die der heutige Außenmi- einig: sie sind sich darin einig, daß sie nicht bereit nister geführt hat, sollen die Voraussetzungen dafür sind, diese Gebiete wieder aufzugeben. schaffen, daß sich so etwas in Europa nicht mehr (Zustimmung bei Abgeordneten der SPD wiederholt. und der FDP. — Abg. Wehner: Sehr wahr!) (Beifall bei den Regierungsparteien.) Das wissen wir aus den Erklärungen nicht nur der Meine sehr geehrten Damen und Herren, mir Exilpolitiker, die ja auch zitiert worden sind; wir scheint, daß in dieser Debatte, die ja auch die Lage wissen es nicht nur z. B. von den Verantwortlichen der Nation behandeln soll, zuwenig für die Menschen der katholischen Kirche in Polen; wir wissen es auch gesagt worden ist, die eigentlich diesen Krieg zwei- aus den Erklärungen nichtkommunistischer Politi- mal verloren haben, nämlich für jene, die für die- ker, die sich unmittelbar nach Kriegsende oder auch sen Krieg mit dem Verlust ihrer Heimat bezahlen in den letzten Kriegsjahren dazu in Freiheit haben mußten, für jene, die etwas bewirkt haben, was viel äußern können. mehr als das andere, worauf wir auch stolz sind, die Bezeichnung „deutsches Wunder" verdient, das Ich glaube also, daß es nicht die ganze Realität, deutsche Wunder nämlich, das darin bestand, daß nicht die ganze Not der Nation, die sich in diesem in einem Land, zerbombt, ausgehungert und mit Verlust der Heimat für Millionen unserer Mitbür- Millionen von Flüchtlingen überflutet, nicht ein ger widerspiegelt, erschöpft, wenn man nur sagt: neuer Nationalismus entstand, sondern daß die Ver- es gibt draußen unter unseren Verbündeten nicht triebenen und die Flüchtlinge mit an die Arbeit ge- einen einzigen, der diese Ansprüche unterstützen gangen sind und dieses demokratische Deutschland würde; nein, es gehört auch dazu, zu sagen, daß aufgebaut haben. es — doch ganz unabhängig davon, wie Polen re- (Beifall bei den Regierungsparteien.) giert wird und regiert sein wird — darüber keine Meinungsverschiedenheit gibt. Ich sage das hier, weil manchmal mit einer gewissen Leichtigkeit auch über das hinweggegangen wird, was diese Menschen bewegt und was sie bewegen Vizepräsident Dr. Schmid: Gestatten Sie eine wird, gerade angesichts einer Debatte über das Ver- Zwischenfrage? hältnis zwischen der Bundesrepublik und Polen. Nur finde ich, daß diese staatspolitische Leistung Genscher, Bundesminister des Innern: Bitte und Haltung, die die Vertriebenen gezeigt haben, schön! Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9907

Petersen (CDU/CSU) : Herr Minister Genscher, schau am 7. Dezember 1970 gesagt. Ich kann mir würden Sie mir vielleicht helfen: Wie würden Sie keinen Ort in Europa denken, wo er deutlicher, eine Frage beantworten, die von Menschen, die glaubwürdiger und eindrucksvoller das hätte sagen heute in Polen leben, wiederholt an mich gestellt können, was wir zur Rechtsfrage zu sagen haben.- wurde, .die Frage, was eigentlich Oder und Neiße (Beifall bei den Regierungsparteien.) zu suchen hätten in einem Vertrag, der von der Bundesrepublik Deutschland mit der Sowjetunion Nein, meine Damen und Herren, hier wird nicht in Moskau abgeschlossen worden ist? das Recht verleugnet, und hier ist auch das nicht angebracht, was Herr Kollege Marx heute morgen in einer sehr indirekten Form, die der Klarstellung Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Ab- bedarf — vielleicht war sie auch sehr direkt —, zum geordneter, ich will Ihnen dazu auch ein Wort sagen, Ausdruck gebracht hat. Er hatte Ernst Reuter zitiert. weil dies ja auch in der Kritik des Kollegen Win- Ich wiederhole das Zitat: delen angeklungen ist. Ich wundere mich eigent- lich, daß diese Frage und auch die Kritik aus Ihren Auch heute kann Deutschland nur leben, wenn Reihen kommt. Denn ich habe über viele Jahre, in es lernt, für seine Freiheit, für sein Recht und denen meine Partei dafür eingetreten war, man solle für seine Selbstbehauptung zu kämpfen. z. B. Verhandlungen mit Ost-Berlin suchen, man Dann hat er ein Stück weiter gesagt, für die CDU/ solle versuchen, Kontakte mit Warschau aufzu- CSU hätten sich die Kategorien des Rechts und der nehmen, gerade aus Ihrem Lager immer gehört, das Freiheit, der Wahrheit und des Friedens nicht ver- sei alles ganz unsinnig; nicht mit Schmidtchen ändert. Meine Damen und Herren, hätte es dem Kol- müsse man reden, sondern mit Schmidt, und das legen Marx nicht gut angestanden, das als eine ge- sei Moskau. meinsame Haltung aller Fraktionen des Bundestages (Zustimmung bei Abgeordneten der zu sagen, oder sollte das heißen, daß es hier welche Regierungsparteien.) gibt, für die das nicht mehr gilt? Wir möchten für die Bundesregierung und für die sie tragenden Fraktio- Aber ich will mir diese Argumentation nicht zu nen in Anspruch nehmen, daß die Kategorien des eigen machen. Nur wundert es mich, daß die Frage Rechts, der Freiheit, der Wahrheit und des Friedens, von Ihnen so gestellt wird. Dem Vertrag mit der gegründet auf das Grundgesetz dieses freiheitlichen Sowjetunion lag der politische Wille zugrunde, daß Staates, unverändert gelten und daß das auch die wir einen Beitrag zum Frieden in Europa leisten Grundlage dieser Politik ist, die heute hier zur wollen, indem wir die Grenzen in Europa nicht in Diskussion steht. Frage stellen, indem wir auf diese Weise einen Punkt, der doch in der Vergangenheit durch Auf- (Beifall bei den Regierungsparteien.) rechnung und Gegenaufrechnung immer wieder Ur- sache von Konflikten gewesen ist, aus dem Wege Meine sehr verehrten Damen und Herren, von räumen. Und es wäre eine Illusion gewesen, über uns sind Alternativen gefordert worden, und einige Grenzen in Europa und über ihr Nichtinfragestellen Redner haben natürlich mit Recht auch eingewandt, mit der Sowjetunion eine Vereinbarung abschließen daß es nicht immer Aufgabe der Opposition sei, zu wollen und dabei jene uns Deutsche doch bis ins Alternativen aufzuzeigen. Auf der anderen Seite Innerste berührende Frage aus einem solchen Ab- sind auch Vertragsentwürfe als Alternativen ge- kommen auszuklammern. Das allein ist der Grund nannt worden. Ich finde nur, daß eine Opposition dafür. eines nicht darf: sie kann nicht sagen, daß eigentlich (Abg. Dr. Lenz [Bergstraße] : Aber ganz gar nichts geht, also auch nichts anderes geht. Da logisch war das nicht!) nehme ich Bezug auf das, was der Kollege Windelen gesagt hat, was doch heißen soll, daß man am Ende Nun hat der Kollege Windelen an die Adresse mit kommunistischen Staaten zu solchen vertrag- des Bundeskanzlers die Kritik gerichtet oder die lichen Vereinbarungen nicht kommen kann, weil Frage gestellt, wann er denn etwas sagen wolle zu man sonst das Unrecht sanktioniert. Ich muß auf zu den Fragen des Rechts, zu dem Unrecht, das in etwas Bezug nehmen, was der Kollege Schröder ge- diesem Bereich geschehen sei. Herr Kollege Win- schrieben hat und was der Kollege Achenbach heute delen, ich will für alle, die es vergessen haben, schon zitierte. Kollege Schröder hat geschrieben: hier etwas wiederholen, was der Bundeskanzler vor einiger Zeit gesagt hat: So ist das Nein zu den Verträgen nicht nur eine außenpolitische Aussage, sondern es unter- Unsere polnischen Gesprächspartner wissen, streicht auch eine notwendige innenpolitische was ich Ihnen zu Hause Haltung. — das war an die Bürger in unserem Lande gerich- Meine Damen und Herren, ist das nicht eine Selbst- tet — blockade in der Außenpolitik? Muß man nicht viel- auch noch einmal in aller Klarheit sagen möchte. mehr wissen, daß es gerade für demokratisch ver- Dieser Vertrag bedeutet nicht, daß wir Unrecht. faßte Staaten eine Notwendigkeit ist, deutlich zwi- anerkennen oder rechtfertigen. Er bedeutet schen Innen- und Außenpolitik zu scheiden? Das ist nicht, daß wir Vertreibungen nachträglich legi- doch die Grundlage dafür, daß die Bundesregierung timieren. bei einer klaren Absage an den Kommunismus im Meine Damen und Herren, das hat er nicht irgendwo Inneren bereit ist, auch mit kommunistisch regierten gesagt, auch nicht in einer Wahlversammlung, son Staaten in der Welt, wie sie ist, vertragliche Rege- dern er hat es in einer Fernsehansprache aus War- lungen anzustreben. Das scheint ja auch die Meinung 9908 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172, Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Bundesminister Genscher der CSU zu sein, denn wie anders könnte ich es ver- kussion, und sei es auch nur außerhalb des Parla- stehen, daß sie einen Vertragsentwurf vorgelegt ments durch Presseerklärungen und in anderer Wei- hat, der doch wohl nicht für die Zeit gedacht ist, in se, ein Beamter, der sich nicht dagegen- wehren der in der Sowjetunion die Kommunisten nicht mehr kann, einbezogen wird. das Sagen haben. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Beifall bei Abgeordneten der Regierungs Deshalb möchte ich diesem Beamten seine unbe- parteien.) dingte Qualifikation und Loyalität bestätigen. Er Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir ha- hat sie in besonderem Maße bekräftigt, meine sehr ben in dieser Debatte einen großen Komplex noch geehrten Damen und Herren, in einer bestimmten nicht erörtert. Vielleicht wird er in den Ausschüssen Situation, als man an ihn —wie ich feststelle, nicht erörtert. Es spricht eine Menge dafür, dieses Thema aus diesem Hause, aber von anderer Seite — heran- auf die zweite Lesung zu vertagen. Es ist ein Gebiet, trat, um ihn zu veranlassen, geheime Papiere des das aber doch von eminenter Bedeutung ist, vor Innenministeriums auszuhändigen. allen Dingen nach der vorangegangenen Diskussion (Hört! Hört! bei der SPD. — Abg. Apel: in der Öffentlichkeit. Ich meine die Fragestellung, Das sind Methoden! Da kann man sich nur in welchem Verhältnis denn diese Politik der Bun- wundern! — Abg. Dr. Barzel meldet sich desregierung zu unserer Verfassung steht. Herr Kol- zu einer Zwischenfrage.) lege Schröder hat eigentlich schon in seiner gestri- — Ich stelle fest: Nicht aus diesem Hause! gen Rede die Verfassungskonformität dieser Politik attestiert, weil er nämlich sagte, weiter hätte ja die (Zurufe von der CDU/CSU.) Regierung nicht zurückweichen können, dann wäre — Ich habe gesagt: Nicht aus diesem Hause! Keine sie an die Grenzen des Grundgesetzes gestoßen, was Fraktion dieses Hauses! Deutlicher kann ich das doch wohl nur heißen kann, daß sich diese Verträge nicht sagen! jedenfalls im Rahmen des Grundgesetzes bewegen. Ich denke, daß das eine wichtige Feststellung ist. Wir werden wie im Bundesrat auch in den Aus- Vizpräsident Dr. Schmid: Herr Minister, ge- schüssen des Bundestages über diese tiefgehenden statten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten verfassungsrechtlichen Fragen eingehend zu spre- Barzel? chen haben. Dabei werden Sie alle Fragen und alle Argumente beantwortet bekommen, und da braucht Dr. Barzel (CDU/CSU) : Kollege Genscher, wür- auch niemand Sorge zu haben, daß Expertisen unter- den Sie dann sagen, ob es eine der in diesem Haus schlagen werden, wie das irgendwelche Leute be- vertretenen Parteien war? haupten. (Zuruf des Abg. Lemmrich.) Genscher, Bundesminister des Innern: Nein! — Ja, das haben Sie eben gesagt! Sehen Sie: Das ist typisch für Sie! Jetzt kann ich Ihnen etwas sagen, Dr. Barzel (CDU/CSU): Danke! mein verehrter Herr Kollege. In Übereinstimmung mit dem Beamten, von dem behauptet wird, daß er ein Rechtsgutachten erstellt habe, das die Ver- Genscher, Bundesminister ides Innern: Das war fassungswidrigkeit der Verträge feststelle, kann doch deutlich! ich sagen: Jeder sagt die Unwahrheit, der das be- Meine sehr geehrten Damen und Herren, mir hauptet! scheint, daß das Grundgesetz für die Bundesrepu- (Abg. Wehner und andere Abgeordnete blik Deutschland für diese Verträge und für diese der SPD: Hört! Hört!) Verhandlungen sehr viel hergibt. Wir sollten uns in jeder Phase unserer Beratungen an das erinnern, Dieser Beamte hat aber etwas anderes getan, und was die Präambel des Grundgesetzes sagt: das ist seine Pflicht: Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott (Abg. Lemmrich: Das haben Sie völlig und den Menschen, falsch verstanden! Das passiert ja öfter einmal!) von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichbe- Er hat nämlich in verschiedenen Phasen dieser Ver- rechtigtes Glied in einem vereinten Europa handlungen immer wieder auf die Grenzen, die die dem Frieden der Welt zu dienen .. . Verfassung uns setzt, hingewiesen. Er hat darauf hingewiesen, wie diese oder jene Regelung und Was nämlich diese Verfassung über viele andere Formulierung bei einer Anrufung des Verfassungs- erhöht, ist, daß sie diese drei Postulate aufstellt: gerichts auch ein Risiko bedeuten könnte. Das ist Gleichberechtigtes Glied in Europa zu werden, dem die Aufgabe der Verfassungsjuristen in einer Demo- Frieden zu dienen und die Einheit der Nation, meine kratie. Die Bundesregierung hat das nicht nur zur Damen und Herren, Kenntnis genommen. Sie hat das gewürdigt und (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Zu wahren!) hat sogar in einer Reihe von Fragen nach den Lösungsvorschlägen dieses Beamten gehandelt. zu wahren. — Herr Kollege Kiesinger, ich stimme Ihnen voll zu, obwohl ich manchmal das Gefühl Aber lassen Sie mich ein Wort mehr sagen. Ich habe, 'daß die Rede, die der Kollege von Weizsäcker finde es nicht sehr fair, wenn in eine solche Dis heute morgen zur Einheit der Nation gehalten hat, Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9909

Bundesminister Genscher sich an die Adresse des Kollegen von Guttenberg zu dienen. Dazu haben wir mit diesem Vertrag einen gewandt hat, der bekanntlich gesagt hat, man sei Beitrag geleistet. Wir gehen davon aus — hier bereit, auch die staatliche Einheit zur Diskussion brauche ich nicht nur auf das Berlin-Abkommen hin- zu stellen. Die Bundesregierung nimmt für sich in zuweisen —, daß diese Politik uns auch in den an- Anspruch, daß sie in keiner Phase der Verhand- deren Fragen weiterführen wird. Alle diejenigen, lungen bereit gewesen ist, die staatliche Einheit der die uns auf die Grenzen des Grundgesetzes hinwei- Nation zur Diskussion zu stellen. sen, haben recht. Dieses Grundgesetz setzt Grenzen (Beifall bei den Regierungsparteien.) für die Politik jeder demokratischen Regierung. Aber dieses Grundgesetz setzt nicht nur Grenzen. Die Prä- Wenn Sie, Herr Kollege Czaja, dazu zweifelnd mit ambel gibt auch Pflichten auf, zu handeln. Meine dem Kopf schütteln, dann will ich Ihnen vorlesen, Damen und Herren, ich möchte nicht einer Regie- welchen Brief der Außenminister am 12. August rung angehören, die sich einmal sagen lassen muß, 1970 an den sowjetischen Außenminister gerichtet sie habe, als es zu handeln galt, vor dieser verfas- hat: sungsrechtlichen Pflicht versagt. Im Zusammenhang mit der heutigen Unterzeich- nung des Vertrages zwischen der Bundesrepu- (Beifall bei den Regierungsparteien.) blik Deutschland und der Union der Sozialisti- schen Sowjetrepubliken beehrt sich die Regie- Vizepräsident Dr. Schmid: Das Wort hat der rung der Bundesrepublik Deutschland, festzu- Abgeordnete Strauß. stellen, daß dieser Vertrag nicht im Wider- spruch zu dem Ziel der Bundesrepublik Deutsch- Strauß (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine sehr land steht, auf einen Zustand des Friedens in verehrten Damen und Herren! Es wäre eine nicht Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk ganz reizlose, aber trotzdem undankbare Aufgabe, in freier Selbstbestimmung seine Einheit wie- auf alles zu antworten, was der Bundeskanzleramts- dererlangt. minister, , hier in seiner ausführlichen Meine Damen und Herren, dieses Bekenntnis der Rede vorgebracht hat. Er hat aber leider das, was er frei gewählten deutschen Regierung sollte niemand hätte tun sollen, nicht getan. Er hat leider die Fra- in seiner Ernsthaftigkeit in Zweifel stellen. gen nicht ganz klar und deutlich beantwortet, die (Beifall bei den Regierungsparteien.) heute morgen von meinem Kollegen Werner Marx gestellt worden sind. Vizepräsident Dr. Schmid: Eine Zwischenfrage (Beifall bei der CDU/CSU.) des Herrn Abgeordneten Czaja. Selbtsverständlich ist es das Recht eines Mitglieds der Regierung, hier in die Debatte einzugreifen — Dr. Czaja (CDU/CSU) : Herr Bundesminister, auch polemisch und aggressiv einzugreifen. Dieses können Sie mir die Tatsache widerlegen, daß in kei- Recht bestreite ich in keiner Weise. Es würde aber nem Interview des Herrn Bundeskanzlers seit dem dem Zweck der Debatte, nämlich über Fragen, in 12. Oktober letzten Jahres mehr der Begriff „Einheit denen Unklarheit herrscht, verbindliche Auskunft zu und Freiheit Deutschlands", sondern immer nur der erhalten, wesentlich besser gedient haben, wenn Begriff „nationale Einheit" wiederkehrt? Können Sie hier die sehr klar und präzis gestellten Fragen des mir bestätigen, daß Herr Staatssekretär Frank in Kollegen Marx ebenso klar und präzis beantwortet dem uns zugesandten Buch ebenfalls nur noch von worden wären. der nationalen Einheit, aber nicht mehr von der Ein- (Beifall bei der CDU/CSU.) heit Deutschlands spricht? Können Sie schließlich drittens bestätigen, daß im Brief zur deutschen Ein- Das wäre nämlich ein Stück mehr Demokratie ge- heit das Wort „Deutschland" nicht vorkommt? wesen, gerade in einer Sitzung des Bundestages, an der — das ist selten genug — die Öffentlichkeit unmittelbar teilnehmen kann. Genscher, Bundesminister des Innern: Herr Kol- lege Czaja, ich kann Ihnen nicht zu allen Reden et- Der Kollege Ehmke hat sich in Geschichtsdeutung was sagen, die alle Politiker, auch der Bundeskanz- und Geschichtsauslegung ergangen. Er sagte, der ler, gehalten haben. Ich meine den Begriff, dessen Rechtsradikalismus habe Deutschland gespalten. Der Verwendung Sie hier bestreiten, noch in den letzten Rechtsradikalismus hat Deutschland zerstört, aber Tagen von ihm gehört zu haben. Ich frage mich aber, kommunistischer Linksradikalismus und kommu- was jemanden in diesem Hause veranlassen kann, nistisches Weltmachtstreben haben Deutschland nach in Zweifel zu ziehen, daß dann, wenn der Begriff der Zerstörung geteilt. „nationale Einheit" verwendet wird, auch die staat- (Beifall bei der CDU/CSU.) liche Einheit gemeint sei. Ich wäre der letzte, der hier den Rechtsradikalismus (Beifall bei den Regierungsparteien. — von seiner Rolle als Totengräber der deutschen Na- Abg. Dr. Czaja: Das Grundgesetz, Herr tion freisprechen würde. Bundesminister!) Aber — ich darf gerade hier die Kollegen aus Ber- Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese lin daran erinnern — was hat sich denn damals in drei Postulate aus der Präambel des Grundgesetzes jenen Jahren in Berlin vollzogen? Sitzt denn nicht stehen gleichwertig nebeneinander. Sie unterliegen heute — ich sage beinahe: leider, weil er zu uns keinem Zielkonflikt. Wir sind gehalten, dem Frieden überwechseln mußte — in unseren Reihen ein Kol- 9910 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Strauß lege, der lange Jahre ihrer Fraktion angehört hat, tiv auszuweichen, wenn das eine sich nicht nach der seinerzeit die Volksabstimmung als Gehilfe Dr. weisbar aufrechterhalten läßt; Schumachers gegen die Machtergreifungsversuche (Beifall bei der CDU/CSU) - der SED in Berlin organisiert hat? wenn nicht Versöhnung mit den Völkern, dann (Oh-Rufe von der SPD. — Abg. Corterier: Frieden; wenn keine humanitären Erleichterungen, Jetzt spricht der letzte Preuße!) dann jedenfalls realistische Anpassung, oder umge- — Notfalls ja, Herr Kollege. kehrt. In Wirklichkeit geht es darum, daß alle diese Motive zusammen in angemessener Weise zum Zuge Bei dieser Debatte geht es um die Deutung der kommen, sich aber nicht als gegenseitiges Alibi die- Verträge im Koordinatensystem der Geographie und nen dürfen. im Koordinatensystem der Geschichte. Wir haben mannigfache Argumente, mannigfache Rechtfertigun- Bezeichnend ist das Schweigen oder Ausweichen gen für diese Verträge gehört. Die Argumente reich- des Bundeskanzlers zu einigen hier immer wieder ten vom Erhabenen bis zum Lächerlichen, sie reich- gestellten Fragen. Zum Beispiel: Warum ist das Be- ten vom Ernsten bis zum Gefährlichen. Meistens ist, kenntnis zum Selbstbestimmungsrecht, das wir auch wie bekannt, nur ein kleiner Schritt zwischen bei- für unsere Nation — ich sage ausdrücklich: auch für den. unsere Nation — wie für alle Nationen fordern und vertreten, nicht in den Vertragstext, wenigstens als Wir haben eine moralische Begründung gehört, einseitige deutsche Erklärung, aufgenommen wor- und man soll diese Begründung da ernst nehmen, den? wo sie angebracht ist. Wer den Krieg begonnen, wer (Beifall bei der CDU/CSU.) den Krieg verloren hat, der muß Buße für das Un- recht zahlen, der muß den Preis der Niederlage er- Ich könnte es ironisch sagen: Wenn das, was der legen, der muß die Kosten der Versöhnung auf sich andere Vertragspartner anders auslegen will wie nehmen. Ich komme darauf noch zurück. er es seit Monaten mit wachsender Lautstärke und Heftigkeit tut —, nur durch Briefe außerhalb der Wir haben eine humanitäre Begründung gehört: Verträge erklärt werden kann, würde es ja in Zu- man müsse etwas für die Menschen tun, man müsse kunft genügen, bei Verträgen zu schreiben: Der ihr Los verbessern. Ich glaube, der Vertragspartner Inhalt des Vertrages wird durch die außerhalb des hört das nicht gern, weil er der Meinung ist, daß bei Vertragswerks laufenden Briefe geregelt, und im ihm die Menschen besser aufgehoben seien als bei übrigen werden die Ratifikationsurkunden ausge- uns, weshalb er sie vor der Versuchung bewahren tauscht. müsse, sich aus dem besseren Schicksal in das (Heiterkeit bei der CDU/CSU. — Zurufe schlechtere zu begeben. von der SPD.) Wir haben das Friedensmotiv gehört — mit Ich stelle aber eine andere Frage, Herr Bundes- einem Ausdruck, über dessen Sinn man noch ein- kanzler: Wo wird denn die Erkenntnis ausgespro- mal nachdenken sollte, bevor man ihn immer wie- chen — ich weiß, sie ist nicht bequem und nicht der in den Mund nimmt —, nämlich: den Frieden gefällig —, daß Koexistenz und Entspannung — für sicherer zu machen. Hier scheint das Bessere der uns hohe Werte beim Vertragspartner auch heute Feind des Guten zu sein. Es würde uns genügen, noch Intsrumente zur Durchsetzung seiner Interes- daß der Frieden sicher ist. sen und Mittel des ideologischen Kampfes ebenso (Beifall bei der CDU/CSU.) wie Waffen imperialistischer Politik sind? Ich glaube, es stünde uns gut an, bei der jederzeit be- Er war in den letzten 25 Jahren, vor allen Dingen in kundeten Bereitschaft zu einem echten Gewaltver- den Jahren seit der Gründung der Bundesrepublik, zicht und zur friedlichen Zusammenarbeit in der gesichert. Ich möchte hier gar nicht auf die be- Öffentlichkeit auch zu bekunden, daß wir uns über kannte Thematik zurückkommen, wodurch der Wesen und Hintergründe der Politik der anderen Friede gesichert war; ich werde es heute noch in Seite keinerlei Täuschungen hingeben. wenigen Worten sagen müssen. Den Frieden sicher zu machen, ist ein edles Motiv. Die Frage ist nur, (Beifall bei der CDU/CSU.) ob das hier geschieht. Wo bleibt die offene Aussage, was denn die Schließlich gibt es noch die ewig bequeme politi- Ursachen der Spannung sind? Man soll doch einmal sche Rechtfertigung, man müsse die Realitäten an- in aller Offenheit auf den Tisch legen, was man auf erkennen, d. h. sich an den Gegebenheiten orientie- unserer Seite für die Ursachen der Spannung hält. ren, wobei „Gegebenheiten" mit „Machtverhältnis- Was ist denn eigentlich die Ratio, was ist denn sen" gleichzusetzen sind. Das eine, den Frieden der Sinn dieser Verträge? Was sind die hinter ihnen sicher machen, reicht in den Bereich des Friedens- liegenden und ihnen zu Grunde liegenden Gedan- preises hinein. Das andere, sich an den Realitäten kengänge, wenn man einmal von der Oberfläche orientieren, reicht in den Bereich des Bismarckischen in die Tiefe geht? hinein. Schließlich: was ist die Einordnung dieser Ver Alle diese Motive -- ich sage das ausdrücklich — träge in den geschichtlichen Ablauf und in die Ereig- lassen sich anführen und sind gerechtfertigt. Aber nisse der Weltpolitik 1972? darum geht es nicht, jedenfalls nicht in dieser Form. Es ist nämlich ein Zeichen schwacher Position oder Zu diesen oft wechselweise verwandten Motiven schlechten Gewissens, jeweils auf ein anderes Mo — wie oben geschildert — und zu den soeben ge- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9911 Strauß stellten Fragen gilt es im Zusammenhang mit den Verträge mit kommunistischen Regierungen ge- Verträgen in aller Kühle und Objektivität einige schlossen und werden es auch in Zukunft tun, Feststellungen zu treffen. (Beifall bei der CDU/CSU) Versöhnung und Frieden sind Herzensanliegen und zwar Verträge, die der Regelung konkret um- unseres Volkes, der heutigen Generation, der nach- schriebener Fragen dienen, Verträge, die selbstver- wachsenden Generation und der kommenden Ge- ständlich dem Verzicht auf Androhung und Anwen- nerationen. Darüber ist von unserer Seite alles be- dung von Gewalt auf der Basis der Gegenseitigkeit kundet und alles getan worden, um Aussage und dienen. Wirklichkeit zu identifizieren. Die vorliegenden Verträge festigen die Herrschaft Der Bundeskanzler spricht in seiner Rede vom der Sowjetunion über den militärischen Bereich hin- zweiten Weltkrieg und seiner Vorgeschichte. Der aus. Sie festigen den Herrschaftsstand der Sowjet- Außenminister beschwört — sicherlich mit Recht — union auch im politisch-psychologischen Bereich. Sie die Schrecken des ,dritten Weltkrieges als mögliche Folge der Ablehnung der Verträge — das nicht dienen darum dem Ausgleich mit den Machthabern, mehr mit Recht — und bezeichnet die Verträge als nicht der Versöhnung mit den Völkern. die einzig mögliche Friedenspolitik. Hier geht es (Beifall bei der CDU/CSU.) aber nicht darum, alte Klischees aufzuwärmen oder neue Klischees zu drucken. Es geht um den histori- Ich gehöre nicht ins Land „Utopia" und huldige schen Tatbestand und um die Schlußfolgerungen, die nicht etwa der Vorstellung, daß im Falle einer Frie- ebenso politisch vernünftig wie moralisch vertretbar denskonferenz, an der ein deutscher Staat, vertreten sein müssen. durch eine legitimierte deutsche Regierung, als gleichberechtigter Partner teilnehmen kann, die an- Nach dem, was von deutscher Seite geschehen ist deren uns fragen werden, wo wir die deutsche Ost- zur Vernichtung des Selbstbestimmungsrechts, in grenze haben wollen, um dann gefälligst unsere Zwischeneuropa, in dem Raum zwischen der dama- Wünsche in Erfüllung gehen zu lassen. Zu diesen ligen Sowjetunion und dem damaligen Deutschen Utopisten gehören wir nicht. Aber die Frage der Reiche, und nach dem, was geschehen ist zur Unter- Versöhnung mit den Polen, mit unseren polnischen drückung der menschlichen Freiheit in diesem Be- Nachbarn, an der uns sehr liegt, reicht tiefer als reiche, muß jede deutsche Politik ihre Rechtferti- die Frage der auf der Oberfläche liegenden Unter- gung legitimieren durch ihren Beitrag zur Wieder- stützung ihrer gegenwärtigen Machthaber, die die herstellung des Selbstbestimmungsrechts der Na- Anerkennung und wirtschaftliche Unterstützung als tionen und der Freiheit der Menschen in diesem Be- Mittel zur Stärkung ihres Systems haben wollen. reiche, Darin liegt der Unterschied. (Beifall bei der CDU/CSU) auch wenn diese Politik unbequem und in den (Beifall bei der CDU/CSU.) Augen der Bundesgenossen nicht immer und nicht Ist die Bundesregierung der Meinung, daß die unbedingt gefällig ist, auch wenn sie von seiten der Anerkennung des sowjetischen Besitzstandes über kommunistischen Diktatoren als „aggressiv" ver- kurz oder lang zu mehr Freiheit für die Menschen schrien wird, und daran scheiden sich eben die Gei- und mehr Selbstbestimmungsrecht für die Nationen ster. Deshalb stellen wir die Frage: Dienen diese führen wird? Das ist doch die Frage, die als ein Verträge der Versöhnung, dem Selbstbestimmungs- Motiv immer mit diesen Verträgen verbunden wird. recht, der Freiheit? Der Bundeskanzler mußte in seiner Rede — und es Ich sage das hier nicht als rhetorische Floskel, war klug von ihm, es zu sagen — verschämt zu- etwa nur um nein zu sagen, weil die Regierung ja geben: In Ost-Berlin hat man es für erforderlich sagt, oder umgekehrt. Ich sage aus meiner tiefsten gehalten, sich von uns in der Bundesrepublik poli- inneren Überzeugung heraus — und darüber sollte tisch und ideologisch noch schärfer abzugrenzen. man nicht lachen, Herr Kollege —, daß diese Ver- Man konnte ihn nur so verstehen: nach der Unter- träge weder der Versöhnung noch dem Selbstbestim- schrift unter die Verträge noch schärfer abzugren- mungsrecht der Nationen noch der Freiheit des Indi- zen. Er verbindet damit die durch nichts begründete viduums dienen. Hoffnung, daß es die Machthaber der DDR in der weiteren Entwicklung, wie er sagt, doch für möglich (Beifall bei der CDU/CSU.) halten, einem Abbau der physischen Schranken zwi- Wer sich auf die Verbrechen der Machthaber des schen den Menschen weniger furchtsam zu begeg- Dritten Reiches auch an Deutschland und an anderen nen. Ich finde das Motiv rührend, daß wir — Ul- beruft, kann Verträge mit kommunistischen Regie- bricht ist gegangen — die Herren Honecker und rungen nicht automatisch als Akte der Versöhnung Stoph, die offensichtlich etwas verstört und ver- mit den von ihnen beherrschten Völkern in An- schreckt sind, nunmehr allmählich von ihren Furcht- spruch nehmen. komplexen befreien sollten. Aber wie ist denn die Wirklichkeit? Nach der Unterschrift unter die Ver- Mit diesem Satz möchte ich allerdings einen wei- träge ist die Wache an der Demarkationslinie ver- teren Satz verbinden. Es ist ein törichtes Gerede, schärft worden. Es sind neue Minenfelder angelegt dann die Frage zu stellen: Also wollt ihr überhaupt worden, es sind neue Stacheldrahtsperren errichtet nicht verhandeln und keine Verträge schließen? worden, es sind neuerdings sogar unübersteigbare Selbstverständlich haben CDU/CSU-Regierungen Betonhindernisse angelegt worden. 9912 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Strauß Herr von Schnitzler ist sicherlich nicht der Gestal- ich zitiere wörtlich -- ter der staatlichen Politik auf der anderen Seite, der westlichen Kommunisten und Sozialdemo- aber er ist ihr zuverlässiger Interpret. Und was er kraten, von denen man im Sinne der sozialisti- - in der berüchtigten Fernsehsendung von sich ge- schen Solidarität Hilfe erwartete. Aber auch von geben hat, hat er mit größter Offenheit und mit Linksintellektuellen und verschiedenen Institu- allerhöchster Rückendeckung gesagt. Hier in diesem tionen, die sich zum Protest eignen würden, hat Hause war die Rede, mit vielen bewegten Worten man mehr erwartet. In diesen osteuropäischen ausgesprochen, von dem Fortschritt, der in der Kreisen wächst eine Verachtung gegenüber dem Liberalisierung im Reiseverkehr zwischen der DDR, satten und selbstzufriedenen Westen. Polen und der Tschechoslowakei eingetreten sei. Wird diese Verachtung durch diese Verträge abge- Vor einigen Tagen hat Herr Stefanowicz in Radio baut werden? Die Frage möge jeder selbst stellen Warschau darauf hingewiesen, daß es 22 Jahre nach und nach Maßgabe der Umstände für sich selbst be- Abschluß des Görlitzer Abkommens gedauert habe, antworten. bis diese Erleichterungen im Reiseverkehr einge- treten seien. Die Annäherung der Menschen, sagte Darf ich eine andere Frage stellen, nicht an die er, sei ein langwieriger Prozeß. Auch die Bundes- Regierung, eine Frage an uns alle: Warum lobt die republik müsse diesen Prozeß für eine Reihe von Sowjetunion die Politik Brandts und denunziert die Jahren glaubhaft und erfolgreich durchführen, wenn Politik Kiesingers als aggressiv, wenn die Politik sie in den Genuß des gleichen Vorteils kommen Brandts die kontinuierliche Weiterentwicklung der wolle. Aber — so hat Herr von Schnitzler allen, die Politik Kiesingers ist? es hören wollten, auch wenn sie es nicht gern hören (Beifall bei der CDU/CSU.) wollten, unmißverständlich dargelegt — zwischen Warum war die eine aggressiv — Sie kennen sie so der Bundesrepublik und der DDR sei und bleibe genau, daß wir sie hier nicht im einzelnen zu erör- eine Grenze besonderer Art, eine Grenze zwischen tern brauchen —, und warum wird die andere mit zwei ganz verschiedenen Welten, und an der Grenze einem lobenden Prädikat bedacht? Hier liegt die sei der freie Reiseverkehr unmöglich. Darum sei die Grenze, wo die Gemeinsamkeit von der heutigen Liberalisierung an den Grenzen zwischen Angehöri- Bundesregierung und den sie tragenden politischen gen des sozialistischen Lagers und die Liberalisie- Kräften leider verlassen worden ist. rung an der deutschen Demarkationslinie leider et- was Grundverschiedenes, total anderes. (Beifall bei der CDU/CSU.) (Beifall bei der CDU/CSU.) Die Sowjetunion zieht aber auch insgesamt die Die Schlußfolgerung, die man daraus ziehen konnte, Zügel innerhalb ihres Machtbereiches straffer. Kon kann nur heißen: Erst wenn gesellschaftliche Um- takt und Zusammenarbeit nach außen als Gegen- wandlung eintritt, besteht Aussicht, zu einer norma- leistung für die Anerkennung des sowjetischen len Grenze zu kommen, besteht Aussicht, zu Reise- Besitzstandes werden verbunden mit verschärfter erleichterungen wie jetzt zwischen den drei Mit- Unterdrückung im Innern. Das ist kein Widerspruch, gliedstaaten des sozialistischen Lagers zu kommen. wie manche glauben, sondern das ist in sich für die sowjetische Machtdoktrin logisch und konsequent. Hand in Hand damit geht eine Verschärfung des Den Einwohnern des Machtbereichs der Breschnew Kurses jetzt in diesen Monaten und Wochen. Ich Doktrin wird somit doppelt vor Augen geführt, daß rede nicht von der Zeit Stalins, ich rede nicht von die Außenwelt Selbstbestimmungsrecht und Frei- der Zeit vor den Verträgen, nein, jetzt in diesen heit für sie abgeschrieben hat und gleichzeitig der Monaten und Wochen. Es ist eine Verschärfung des Druck der Herrschaft im Innern verschärft wird. Kurses in allen Staaten des Warschauer Paktes ge- Gerade angesichts dieser Vorgeschichte muß jede genüber nichtkonformistischen Kräften. Diese Ver- deutsche Ostpolitik daraufhin geprüft werden, ob sie schärfung ist in vollem Gange. Wir lesen von Be- geeignet ist, das Unrecht wiedergutzumachen, das richten über eine Generaloffensive der Polizei und deutsche Politik am Selbstbestimmungsrecht der der Justiz in der Sowjetunion gegen die Liberali- Völker und an der Freiheit der Menschen begangen sierungstendenzen und ihre Träger. Siehe Schrift- hat. Politik der Verträge allein ist nicht Versöhnung stellerprozesse und die Urteile dabei, die Verhaf- mit den Völkern, sondern Befriedigung der Wünsche tungswelle in der Ukraine, ähnliche Aktionen in den ihrer kommunistischen Regime nach ungestörter baltischen Republiken, im Kaukasus und in Zentral- Herrschaftsausübung, asien, Aktionen ähnlicher Art in der Tschechoslowa- kei, in Polen, sogar in Rumänien. (Beifall bei der CDU/CSU) ungestört auf Grund politischer Besitzstandsgarantie In der „Neuen Zürcher Zeitung" vom 4. Februar und erleichtert durch. wirtschaftliche Ergänzung von dieses Jahres liest man am Ende eines Berichts nach seiten der kapitalistischen Außenwelt. der Zwischenüberschrift „Enttäuschung über den Westen": Es ist und bleibt ein Mysterium der Bundesregie- Unter den Oppositionellen, die von diesen rung — nicht ein Minsterium, sondern ein Myste- Repressalien betroffen werden, herrscht, wie rium , wie bei diesem unbestreitbaren Sachver- man aus einigen zuverlässigen Berichten ver- halt ihre Erwartungen, Vorstellungen und Hoffnun- nimmt, große Enttäuschung über die Passivität gen, mit denen sie diese Verträge begründet, in Er- des Westens, vor allem füllung gehen sollen. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9913

Strauß Von Nutzen und Bedeutung ist es aber, zu wissen, Und wie steht es mit den 40 000 Anträgen von Men- was man bei unseren östlichen Nachbarn über diese schen in der Sowjetunion, die auf Übersiedlung Bundesregierung und ihre Ostpolitik im Volk denkt. nach Deutschland warten? Wie steht es mit den Ein knappes Jahr nach Unterzeichnung des deutsch- 250 Härtefällen, die Sie, Herr Bundesaußenminister,- sowjetischen Vertrages, nämlich im Juni 1971, wurde dem sowjetischen Außenminister Gromyko persön- von offizieller tschechoslowakischer Seite eine Um- lich vorgetragen haben? Die Menschen müssen zäh- frage durchgeführt. Ihr Ergebnis ist aus verständ- len bei der Ostpolitik, wenn sie so motiviert wird, lichen Gründen nicht veröffentlicht worden. wie es hier geschieht. Bei den Antworten auf die Frage „Welche Na- (Beifall bei der CDU/CSU.) tionen sind Ihnen am umsympathischsten?" rangier- Aber wo bleiben die Menschen bei Verträgen, wenn ten die Sowjetunion mit 74 % an erster, Polen an der größere und stärkere Vertragspartner als Ge- zweiter und Ost-Berlin an dritter Stelle. Bei den schäftsgundlage die Anerkennung der Breschnew Antworten auf die Frage , ; Welche Nationen sind Doktrin durch den Kleineren und Schwächeren zur Ihnen am sympathischsten?" dagegen lag die Bun- Voraussetzung macht? desrepublik Deutschland mit 25% an erster Stelle vor den Vereinigten Staaten und Frankreich. Die (Beifall bei der CDU/CSU.) Umfrage wurde bei 1600 Personen durchgeführt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich Auf die Frage „Sind Sie mit der derzeitigen Poli- möchte auch denjenigen, die gerne in emotionalen tik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Kategorien denken sozialistischen Staaten einverstanden?" antworteten (Lachen bei der SPD) lediglich 16 % mit Ja, dagegen 31 % mit einem glat- — ich kann laut und temperamentvoll reden, aber ich ten Nein, und 53% machten Vorbehalte, denke sehr, sehr kühl —, (Hört! Hört! bei der CDU/CSU) (erneutes Lachen) d. h. nur 16 % der tschechoslowakischen Bevölke- die Bitte ans Herz legen, zu verstehen, daß man bei rung billigen die derzeitige Ostpolitik ohne Vorbe- einer Würdigung des zeitlichen Ablaufes der deut- halte, während 84 °/o ihr ablehnend oder mit Vor- schen Ostpolitik die Vergangenheit und die Gegen- behalten gegenüberstehen. wart miteinbeziehen muß, ohne daß moralische (Unruhe.) Identifizierungen zwischen den Verhandlungspart- Hier wird erschreckend deutlich, daß diese Ost- nern auf deutscher Seite damals und auf deutscher politik das Gegenteil von dem bewirkt, was sie Seite heute damit gemeint sind. Wenn wir das nicht vorgibt, sie bewirkt nämlich keine Versöhnung. mehr können, können wir nicht mehr historisch Versöhnt werden nur die Machthaber im Kreml und diskutieren und uns historisch auseinandersetzen. ihre Satrapen. Die Völker unserer östlichen Nach- (Beifall bei der CDU/CSU.) barn aber werden enttäuscht. Ich meine damit zwei Ereignisse in der Vorge- (Beifall bei der CDU/CSU. — Vorsitz: schichte des zweiten Weltkrieges. Churchill sagte Vizepräsident Frau Funcke.) am 28. Februar 1938 im Unterhaus in einer Grund- satzdebatte auf die Frage, wie ein demokratischer Vizepräsident Frau Funcke: Gestatten Sie Staat gegenüber einer totalitären Macht Politik ma- eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Leicht? chen soll: Die Regierung hat eine neue Politik eingeleitet. Leicht (CDU/CSU) : Sind Sie meiner Meinung, daß Die alte Politik beruhte auf dem Bemühen, in es im Hinblick darauf, daß die deutsche Öffentlich- Europa die Herrschaft des Rechtes aufzurichten, keit draußen an den Fernsehapparaten sitzt, ganz um so den Frieden zu begründen. Die neue gut wäre, wenn die linke Seite dieses Hauses, da Politik lebt aus der Hoffnung, durch weitge- man sich draußen dauernd mit Ihnen auseinander- hende Zugeständnisse zur Entspannung und so setzt und Sie beschimpft, sich wenigstens einmal zum Frieden zu gelangen. die Argumente anhören würde? Das war im Februar 1938, vor dem Münchener Ab- (Beifall bei der CDU/CSU.) kommen. Der Bundeskanzler hat mit Befriedigung darauf Strauß (CDU/CSU) : Die Bevölkerung kann aus hingewiesen, daß der Abbau des Feindbildes gegen- dem Verhalten der Regierungsparteien in diesem über der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist. Ich Hause den Grad der Ernsthaftigkeit und des Ver- muß ihm leider 'entgegenhalten: das ist eine halbe antwortungsbewußtseins ablesen, mit dem die Re- Wahrheit. Gerade in den letzten Tagen sind wieder den eines Sprechers der Opposition hier behandelt heftige Presseangriffe aus den Moskauer Lautspre- werden. chern gegen die Deutschen in der Bundesrepublik (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) zu vernehmen, so in der „Komsomlskaja Prawda" Diese Ostpolitik hat für die Menschen nichts er- vom 20. Februar. Ohne Zweifel hat sich die Art der bracht, nichts für die Landsleute hinter Mauer und Angriffe geändert und ist im allgemeinen der Ton Stacheldraht, nichts als Enttäuschungen für die Völ- etwas gedämpfter. Die Bundesregierung, heißt es, ker Osteuropas, nicht die erhofften Erleichterungen sei zwar auf dem rechten Wege, schreite aber nicht für die aussiedlungswilligen Deutschen in Polen. schnell genug voran. — Früher war 9914 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Strauß ein Offizier, der in der Nazi-Wehrmacht gedient hat. Hegel behauptete in seinen Vorlesungen über die Heute heißt es erfreulicherweise von Walter Scheel, Philosophie der Geschichte, die geschichtliche Erfah- er sei Flieger in der Wehrmacht gewesen. rung lehre, daß Völker und Regierungen niemals (Heiterkeit bei der CDU/CSU.) aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen wären, gehandelt hätten. Die Das neue Deutschlandbild ist ohne Zweifel von Bundesregierung scheint sich sehr zu bemühen, dem Wunsch geprägt, die Bundesrepublik von einem Hegels abfällige, pessimistische Beurteilung zu recht- früheren außenpolitischen Widerpart zu einem fertigen. Die vorliegenden Verträge sind nämlich potentiellen Freund und Helfer umzufunktionieren. nicht eine Bewältigung der Vergangenheit, sondern Gleichzeitig wird die Gesellschaft in ihrer Struktur eher eine Flucht vor ihren Lehren. Eine noch so angegriffen und in zwei Lager geteilt, in die guten idealistische Begründung, mit Ermahnungen und Be- und in die schlechten Deutschen. Die guten Deutschen schwörungen wiederholt, rechtfertigt bei denen, sind die geschätzten Helfer ihrer politischen Stra- die politisch zu urteilen und zu handeln haben, nicht tegie; andere sagten auch, die nützlichen Idioten. die aus den Verträgen hervorleuchtende Geschichts- Die schlechten Deutschen sind die Gegner der Ver- fremdheit. Hier ist kein Kompromiß erreicht, aber träge, die angeblich nicht die Realitäten wahrnehmen der Versuch unternommen worden, sich das Wohl- und sie zur Leitlinie ihrer politischen Einstellung wollen der anderen Seite durch Konzessionen zu machen lassen wollen. erkaufen in der Hoffnung, daß guter Wille mit gutem Willen belohnt werden würde. Es hat keinen Sinn, die Dinge in diesem Hause (Beifall bei der CDU/CSU.) zu beschönigen. Darum muß ich folgendes sagen — ich würde gern das Gegenteil sagen, weil ich dem Diese Verhandlungsmaxime war richtig gegen- Gegenteil über 20 Jahre als Parlamentarier und über dem Westen, weil sich dort Partner mit glei- Minister in diesem Hause gedient habe: leider hat chem moralischem Violinschlüssel, obwohl ehe- die Bundesregierung durch den Bruch der Gemein- malige Kriegsgegner, gegenübersaßen. Diese Ver- samkeit den Politstrategen im Kreml geholfen, die handlungsmaxime ist falsch gegenüber Diktaturen, Spaltung der demokratischen Parteien in der Bun- vor allen Dingen Diktaturen mit expansiver Ideo- desrepublik einzuleiten. logie. (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU.) (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) Breschnew hat auf dem 24. Parteitag in Moskau Die Architekten der Verträge sagen: diese Ver- träge werden den sicherer machen. Glaub- als Folge dieser Verträge eine Polarisierung der Frieden haft ist die Absicht der Befürworter. Auch hier be- politischen Kräfte in der Bundesrepublik angekün- digt; Einheit und Macht im eigenen Bereich und zweifle ich keine Sekunde ihre Absicht und habe Spaltung im Lager des Vertragspartners. Das ist das unzählige Male auch in der Öffentlichkeit ge- sagt. Glaubhaft ist sogar die Beteuerung der Ver- eine in sich logische und geschlossene Politik: Unter- tragspartner auf der anderen Seite, daß sie den drückung zu Hause, Entspannung gegen Besitz- militärischen Frieden wollen. standsanerkennung, Spaltung der nicht kommunisti- schen Welt, besonders im eigenen Vorfeld. Ich be- George Ball hat vor einigen Tagen in Zürich eine haupte nicht, daß die Bundesregierung das gewollt bemerkenswerte Rede gehalten, die Winston-Chur- hat, wie ich ausdrücklich sage. Dafür halte ich sie für chill-Gedenkrede. Er hat Dinge gesagt, die von uns zu klug. Aber falsche Lagebeurteilung, Ungeduld, keiner sagen könnte, die auch in diesem Hause nicht selbstgesetzter Erfolgszwang, euphorische Chancen- gesagt werden könnten, ohne daß der eine oder an- beurteilung haben sie zu einem Gehilfen dieser dere sich beleidigt und entrüstet gegen diese Äuße- Spaltungspolitik werden lassen. rungen zur Wehr setzen würde. Er sagte, die sowje- (Beifall bei der CDU/CSU.) tische Führung wolle nicht in brutaler militärischer Machtentfaltung nach Westeuropa losmarschieren, Golo Mann meinte, Brandt betreibe eine realistische um nicht Amerika herauszufordern, langsame Infil- Politik wie Bismarck. Er hat dann das Kompliment, tration und psychologische Umgarnung des Gegners weil es ihm zu gefährlich und unheimlich erschien, heiße vielmehr im Moment ihre Devise. wieder etwas abgeschwächt. Ist denn diese Behauptung nicht durch gewisse Aber ich glaube, in einem Punkt dürfen wir hier Vorgänge im Innern unseres Landes, die man nicht auch Bismarck wieder einmal strapazieren, mit einem verharmlosen sollte, täglich gerechtfertigt? berühmt gewordenen Wort: (Beifall bei der CDU/CSU.) Wir müssen uns in dem europäischen Karten- spiel die Hinterhand wahren und dürfen uns Was ist Friedenspolitik in unserer Zeit? — Las- durch keine Ungeduld, keine Gefälligkeit auf sen Sie es mich in vier Punkten sagen: Kosten des Landes, keine Eitelkeit oder be- Erstens Erhaltung und Stärkung des atlantischen freundete Provokation vor der Zeit aus dem Bündnisses, abwartenden Stadium in das handelnde drängen zweitens politische und militärische Einheit der lassen. Westeuropäer auf der Grundlage freiwilligen Zu- Wenn doch Brandt insoweit wenigstens Bismarck sammenschlusses, geworden wäre! drittens Gewaltverzicht gegenüber dem Osten, (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU.) aber nicht politische Besitzstandsgarantie, Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9915 Strauß viertens Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf einen großen Teil bezahlt. Aber das Recht auf wirtschaftlichem, wissenschaftlichem und techni- Selbstbestimmung der Nation und Freiheit der Men- schem Gebiet. schen ist und darf nie ein Teil des Kaufpreises sein. Das ist Friedenspolitik in unserer Zeit, und alle (Beifall bei der CDU/CSU.) vier Punkte gehören zusammen. Ich muß hier noch eine andere Frage stellen, die (Beifall bei der CDU/CSU.) gerade den vorher aufgezeigten Unterschied hin- Die Probleme des Friedens sind heute nicht anders, sichtlich der Wertung klarmachen soll. Bei uns hat als sie je in der Geschichte waren. Nur die Fol- die deutsche Politik im Jahre 1945 einen moralischen gen eines Scheiterns der Friedenspolitik sind heute Neubau vollzogen, der sich, ohne von der Tradition schrecklicher, als sie jemals in der Geschichte hät- der deutschen Geschichte, von der wir uns im Guten ten sein können. und im Schlechten nicht einfach davondrücken kön- nen, abzufallen, nach grundlegend neuen Zielpunk- Zwei Beispiele aus der von uns erlebten Zeit- ten orientiert hat: Schluß mit dem Denken in natio- geschichte: Heute steht die Forderung nach Ungül- nalistischen Hegemonievorstellungen, eine Absage tigkeitserklärung des Münchner Abkommens ex an die Ersatzreligion des Nationalismus, die An- tune auf der Liste der sowjetischen Bedingungen für prangerung des Nationalismus als des Totengräbers dauerhafte Entspannung. Altere Zeitgenossen kön- der europäischen Freiheit und unseres Selbstbestim- nen sich erinnern, jüngere können es nachlesen: Sei- mungsrechtes, die Bereitschaft zum Souveränitäts- nerzeit herrschte nach der Unterzeichnung des Mün- verzicht und die Entschlossenheit zum Eintritt in chener Abkommens große Freude und gewaltiger eine europäische Staatengemeinschaft unter Über- Jubel; denn nun ist der Friede für lange Zeit ge- windung des nationalstaatlichen Prinzips, — damit sichert, sind wir hier in diesem Hause angetreten. Ich sehe (Beifall bei der CDU/CSU.) hier meinen Freund , ich sehe in Deutschland, in Italien, bei den Diktatoren und auch Sie, Herbert Wehner, und ich sehe noch man- bei den Völkern, aber auch in Frankreich und in che aus der ersten Stunde, die noch hier sitzen. Das England. war der Neubau der deutschen Politik, gleichgültig in welchem Lager wir damals zu diesem Neubau an- Daladier erwartete, bei Rückkehr in Paris aus- getreten sind. gepfiffen und niedergeschlagen zu werden. Er wurde von einer jubelnden Menge empfangen und sagte: Warum stelle ich diese Frage? Man wird sagen: „Ich komme aus Deutschland, wo die Verhandlungen Das bestreitet doch niemand. Man wird den Sinn selbstverständlich schwierig waren; ich kehre mit der der Frage ermessen, wenn ich eine zweite Frage tiefen Überzeugung heim, daß das unterzeichnete stelle: Hat derselbe Neubau auch bei unserem Ver- Abkommen unumgänglich nötig war, um den Frie- handlungspartner nach dem zweiten Weltkrieg statt- den in Europa aufrechtzuerhalten." gefunden? Wir haben unsere hegemoniale, imperia- listische Tradition endgültig begraben. In der So- Léon Blum schrieb damals Léon Blum —!: „Man wjetunion sind ungebrochene Machtpolitik und un- kann wieder an seine Arbeit gehen, man kann wie- geschmälerte Machttradition auch heute noch ver- der ruhig schlafen, man kann die Schönheit der bindliche Maximen ihrer Politik. herbstlichen Sonne genießen." (Beifall bei der CDU/CSU.) Chamberlain brachte das Münchener Abkommen vor das Unterhaus mit dem Antrag auf Billigung. Ich habe vom zweiten Beispiel in unserer Zeit Er stand noch unter dem Eindruck des riesigen Ju- gesprochen, und mich hat das damals tief erschüt- bels einer unübersehbaren Masse auf dem Londoner tert. Der Hitler-Stalin-Pakt wurde mit der Formu- Flughafen. Das Unterhaus billigte das Abkommen lierung eingeleitet: mit 369 gegen 150 Stimmen. Die Labour Party Die deutsche Reichsregierung und die Regie- stimmte damals, im Herbst 1938, geschlossen gegen rung der UdSSR, beide geleitet von dem das Abkommen, obwohl ihr Vorsitzender, Lansbury, Wunsch, die Sache des Friedens zwischen zwei Jahre vorher als überzeugter Pazifist nach Deutschland und der UdSSR zu festigen, und Rückkehr von Hitler ihn als Mann der ehrlichen ausgehend von den grundlegenden Bestimmun- Friedensüberzeugung öffentlich herausgestellt hatte. gen des Neutralitätsvertrages, der im April 1926 zwischen Deutschland und der Sowjet- Erschütternd ist die Rede Churchills, heute noch union geschlossen wurde, sind zu nachstehen- nachzulesen, in deren Mittelpunkt eine Wertung den Vereinbarungen gelangt .. stand: gewogen und zu leicht befunden. Das ist die Wertung, die ich diesen Verträgen und ihren Archi- Meine sehr verehrten Damen und Herren, es war tekten als politische Aussage hier ebenfalls zu- nicht allein die Torheit Hitlers oder die Schurkerei schreibe. Stalins; es war ein geschichtlicher Ablauf mit ver- (Beifall bei der CDU/CSU.) hängnisvoller Verkettung von Ursache und Wir- kung, die wieder neue Ursachen und mit den neuen Die Frage ist: Hat München den Frieden gebracht, Ursachen wieder neue Wirkungen geschaffen haben. wie sich die begeisterten Zeitgenossen damals er- hofften, oder hat München den Krieg näher ge- Wir stehen heute in der zweiten und dritten Le- bracht? Die geschichtliche Wahrheit gilt auch für den sung der vorliegenden Verträge vor einer histori- Besiegten. Wir wissen, daß ein verschuldeter und schen Entscheidung. Wenn man sich die Konsequenz verlorener Krieg bezahlt werden muß. Wir haben der Zusammenhänge frei von Gefühlserregungen, 9916 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Strauß frei von Hoffnungen, frei von optimistischen Über- der Opportunität den Schleier des Vergessens legungen oder pessimistischem Zwangsdenken vor über eine ganze Ara bolschewistischer Expan- Augen hält, dann überkommen einen beklemmende sionspolitik zu breiten wünscht Erinnerungen. (Beifall bei der CDU/CSU) - Heute heißt der Hitler-Stalin-Pakt der „Teufels- oder, schlimmer noch, die Ereignisse selbst zu pakt". Damals sagte man „genialer Schachzug des verfälschen sucht. Erst wenn die Wurzeln der Führers" auf der einen Seite, „Meisterstück Stalins" Konflikte klargelegt sind, kann die politische auf der anderen Seite. In Wirklichkeit handelte es Arbeit beginnen. sich nicht um einen Nichtangriffsvertrag, sondern um einen Vertrag zur Teilung Polens Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich brauche die lange Liste der brutalen Aktionen in (Zurufe von der CDU/CSU: Jawohl!) der Fortsetzung dieser Machttradition nach dem und zur Aufteilung des Gebietes zwischen Rußland Zweiten Weltkrieg hier im einzelnen nicht vorzu- und Deutschland in Interessensphären mit der bei- tragen. Aber sind diese Ereignisse schon so unbe- derseits vorhandenen Absicht, dort das Selbstbe- deutend, schon so nebensächlich, schon so lächerlich stimmungsrecht der Nationen und die Freiheit der geworden, daß sie mit der Gleichgültigkeit und Un- Menschen zu unterdrücken. interessiertheit behandelt werden können, wie wir (Sehr richtig! bei der CDU/CSU.) sie heute weitgehend auch in diesem Hohen Hause antreffen? Das ist in unserer Lebenszeit, in der noch frischen (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Dr. Vergangenheit abgeschlossen worden, und darum Stark [Nürtingen] : Das ist organisiert, Herr heute die Frage: Hat sich die sowjetrussische Politik Strauß!) so von Stalin abgewandt, wie sich die Politik der Bundesrepublik von Hitler abgewandt hat? Diese Wie ist die Rolle der Sowjetunion bei den jüng- Frage muß man auch heute noch stellen dürfen. sten Vorgängen auf dem indischen Subkontinent (Beifall bei der CDU/CSU.) gewesen, die Rolle im Nahostkonflikt? Und viel- leicht kann sich der Herr Verteidigungsminister da- Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist zu äußern: Wie waren Anlage, Durchführung und beklemmend, wenn man die Zeugnisse der damali- Ergebnis der letzten Manöver in Jugoslawien? Wel- gen Zeit noch einmal nachliest, wie ich es in Vor- che Lage wurde hier zugrunde gelegt? Bestimmt bereitung dieser Debatte tun mußte, wenn man nicht die Sicherung gegen eine Aggression oder liest, daß Stalin am 25. Oktober die Weigerung der Invasion von seiten der Bundeswehr. Westmächte, Frieden zu schließen, scharf angegrif- fen hat, indem er sagte, sie seien die eigentlichen Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Aggressoren, und das nicht erst jetzt; schon der Würdigung der vorliegenden Verträge ist besorgnis- Kriegsausbruch gehe auf ihr Konto, denn Hitler erregend, aber sie ist nicht ausreichend, denn diese habe ja den Frieden gewollt. Das Telegramm Sta- Verträge sind ein Baustein im Gebäude der sowjeti- lins an Hitler lautete: „Unsere Freundschaft ist mit schen Weststrategie, auch wenn das als neue deut- Blut besiegelt". Der „Erfolgsbericht" Molotows am sche Ostpolitik bei uns ausgelegt wird. 31. Oktober 1939 war gerechtfertigt: um 196 000 (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU.) Quadratkilometer und 13 Millionen Menschen war die Sowjetunion gewachsen; 737 Tote und 1862 Die Unterschrift der Bundesrepublik Deutschland Verwundete wurden angegeben. Die Grenze zwi- unter den Besitzstand ist nur Vorläufer. Das nächste schen Stalins und Hitlers Machtbereich in Polen ent- Ziel ist die Europäische Sicherheitskonferenz, die spricht auch noch dem heutigen Grenzverlauf. von der Sowjetunion mit größtem Nachdruck be- trieben, von ihrer staatlichen Propaganda wie von Der Historiker Fabry hat in seinem Buch „Die der gleichgeschalteten Propaganda der Verbündeten Sowjetunion und das Dritte Reich" Hitlers Rassen mit größter Lautstärke propagiert wird, eine Sicher- wahn und Amoralität angeprangert, und dann heitskonferenz, für die auch unser Bundeskanzler schreibt er etwas, was ich lieber wörtlich zitiere: Förderung und beschleunigte Durchführung sowohl Über dem gerät allerdings in Vergessenheit, in den Zusatzpapieren zum Vertrag wie beim Tref- daß Stalin während des Zweiten Weltkrieges fen in Oreanda zugesagt hat. Die Europäische vor Hitlers Überfall eine Aggressionspolitik Sicherheitskonferenz ist der nächste Schritt auf die- getrieben hat, die der Hitlers nicht nachstand. sem Wege der sowjetischen Weststrategie. Das Er- Die Neigung, darüber hinwegzusehen, wächst gebnis soll eine europäische Friedensordnung wer- in dem gleichen Maße, in dem die Bundesregie- den, Anerkennung des sowjetischen Besitzstandes rung sich aufrichtig darum bemüht, mit der So- durch alle Konferenzpartner nach dem Muster des wjetunion und den anderen Völkern im Osten Moskauer Vertrags, militärische und politisch-psy- zu einem Ausgleich zu kommen, der die Gegen- chologische Totalkontrolle über den eigenen Macht- sätze zugunsten einer Zusammenarbeit beseiti- bereich, Nutzung der wirtschaftlichen Möglichkeiten gen soll. So verständlich es auch ist, daß man der einzelnen europäischen Partner, Verhinderung kein Interesse daran haben kann, die Außen- der westeuropäischen Einigung durch die trüge- politik der Sowjetunion allzu kritisch zu durch- rische Alernative: „Wollt ihr großeuropäische Zu- leuchten: nichts wäre für eine echte Aussöh- sammenarbeit oder westeuropäische Blockbildung?", nung zwischen den Völkern gefährlicher als politisch-psychologische Hilfestellung für den Ab- eine Geschichtsbetrachtung, die aus Gründen zug der amerikanischen Truppen und Rückenfreiheit Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9917

Strauß für eine Konzentration gegenüber China bei gleich- läuft, die westeuropäischen Einigungsbestrebungen zeitiger Ausdehnung des eigenen Einflusses in Rich- rechtzeitig zu unterlaufen. tung Westen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ohne - Man sollte sich doch einmal die einzelnen Ele- Zweifel können wir heute bereits aus einer Vielfalt mente und Ziele dieser Politik, die in sich logisch politischer Äußerungen von maßgeblichen Staatsmän- und geschlossen ist und in der die Ostverträge nur nern, von offiziellen Propagandafunktionären und die Rolle eines Vorläusers oder Büchsenöffners für ihren Hilfsorganen diese Alternative vernehmen. weitere Schritte spielen, in aller Offenheit bei uns Diese Alternative kommt auf uns zu. Gerade deshalb klarmachen und erst danach das Urteil bilden, ob bedaure ich so sehr, daß der Herr Bundeskanzler ein Ja oder Nein zu diesen Verträgen gerechtfertigt auf die von seinem Vorgänger in diesem Hause hier ist. mehrmals gestellte Frage nach der Priorität sich (Beifall bei der CDU/CSU.) einer klaren Festlegung entzogen hat. (Beifall bei der CDU/CSU.) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte aus Zeitmangel nicht auf das hier oft ver- Ich frage das auch deshalb, Herr Bundeskanzler, weil wandte Argument zurückkommen, daß die West- aus Ihrem Munde Äußerungen gekommen sind, die mächte zustimmten. Erstens ist es zwischen verbün- zu dieser Frage nicht nur Anlaß geben, die geradezu deten Regierungen nicht üblich, sich offen zu kriti- zu dieser Frage zwingen. Was verstehen Sie unter sieren, zweitens haben die Westmächte gar kein „Friedenspakt" oder „Friedensbund" in diesem Zu- Interesse daran, sich zu beklagen, wenn ihnen die sammenhang, wenn Sie davon sprechen, daß die Deutschen Pflichten von den Schultern nehmen, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu keiner sie sich ursprünglich von den Deutschen haben auf- neuen Blockbildung führen darf, sondern daß sie laden lassen, ein Ordnungselement in einem größeren europä- (Beifall bei der CDU/CSU) ischen Friedensbund oder Friedenspakt darstellen soll? und drittens gibt es eine vordergründige Zustim- (Hört! Hört! bei der CDU/CSU.) mung und dahinter eine Schwelle, und hinter der Schwelle beginnt die Sorge und die Kritik, nämlich Hier wollen wir wissen: Was ist mit diesem Frie- dort, wo die Furcht beginnt, daß diese Ostpolitik densbund und mit diesem Friedenspakt gemeint? eigenständig werden könnte. Die Bundesregierung Denn die Politik der westeuropäischen Einigung und hat nach ihren mißglückten Ansätzen siehe die die von der Sowjetunion angestrebte Politik der Brandt-Reise nach Oreanda — alles getan, um diese paneuropäischen Zusammenarbeit, d. h. Erhaltung aufkeimende Furcht wieder zu zerstreuen. Daß sie der westeuropäischen Kleinstaaterei, sind auf die aber angesichts der europäischen Vorgeschichte, Dauer der Zeit miteinander unvereinbar. auch angesichts der Vorgeschichte dieses Jahrhun- (Beifall bei der CDU/CSU.) derts im Keime, latent immer vorhanden ist, wird wohl niemand bestreiten. So ist auch die Haltung Eines Tages kommt die Stunde der Wahrheit! unserer Bundesgenossen zur Sicherheitskonferenz (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU.) sehr, sehr verschieden. Die Anmerikaner: ja, wenn Es kommt die Stunde der Wahrheit, wo man sich für die Europäer sie unbedingt wollen; die Briten: erst das eine oder für das andere entscheiden muß. nach gründlicher Vorbereitung und lieber nicht so früh; und die Franzosen verbinden mit ihr auch ihre In diesem Zusammenhang stellt sich die letzte eigenen Vorstellungen. Meine sehr verehrten Da- Frage, die hier zunächst zu behandeln ist. Die Ver- men und Herren, was uns in dieser Sicherheitskon- träge entsprechen einer Politik, die von gestern ferenz nicht unterlaufen darf — darum sagen wir es stammt und aus der Lage und Sicht von vorgestern heute —, ist, daß die Europäer diese Gefahr zieht begründet wird; ich begründe auch, warum. Die sicher herauf — zum Zwecke der Spaltung vor die- Verträge entsprechen einer politischen Philosophie, selbe Alternative gestellt werden, wie wir hier mit die sich einerseits an das Machtzentrum Washington diesen Verträgen vor eine Alternative gestellt anlehnt, solange man glaubt, es nicht entbehren zu werden, daß Anhänger der Verträge als Freunde können, und andererseits auf das Machtzentrum der Friedenpolitik und Gegner der Verträge als Moskau starrt, dessen Besitzstand und dessen poli- Gegner der Friedenspolitik diffamiert werden. tische Zielsetzungen man als mehr oder minder le- (Beifall bei der CDU/CSU.) gitim in das Kalkül einsetzt. Die Welt von heute ist nicht mehr bipolar. Sie ist bereits seit geraumer Diese Europäische Sicherheitskonferenz darf nicht Zeit auf dem Wege zu einer multipolaren Konstella- zu der Alternative führen, daß man uns großeuro- tion, d. h. zu einem Machtfeld, das von mehreren päische Zusammenarbeit als Friedenspolitik anbie- Zentren bestimmt wird. Ich denke dabei nicht an die tet und demgegenüber westeuropäische Integration früheren Vorstellungen des einen oder anderen als friedensstörende Blockbildung, die Kriegsrisiko europäischen Landes, mit seiner mittelstaatlichen und Spannung von neuem hervorrufe und die Rück- Dimension sich zwischen Washington und Moskau kehr in den kalten Krieg bedeute. schieben zu können. (Beifall bei der CDU/CSU.) Nun höre ich schon das, was Herrn Barzel vor Ich sage das hier und rechtzeitig, weil die Architek und während seiner Rede höhnisch, hämisch entge- tur dieser Sicherheitskonferenz und die Architektur gengeklungen ist. Ich sage es noch in der harmlose- der europäischen Friedensordnung darauf hinaus- sten Form: Warum denn in die Ferne schweifen, 9918 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Strauß wenn das Gute liegt so nah? Was hier als Erwide- eine aggressive Politik in den Bereich des Mögli- rung auf Herrn Barzels Vorschlag immer wieder chen treten kann. Auch das ist in das Gesamtkalkül gesagt worden ist, ist eine plumpe und naive Ver- unserer Überlegungen einzubeziehen. zerrung unserer Vorstellungen auf diesem Gebiet. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich (Beifall bei der CDU/CSU.) komme nun zum Schluß. Diese Verträge dienen Niemand glaubt oder denkt daran, Moskau und nicht der Versöhnung mit den Völkern, sondern der China gegeneinander von Deutschland her ausspie- Befriedigung der Wünsche ihrer Machthaber. len zu können, mit dem chinesischen Prügel den rus- Zweitens. Sie bieten keine humanitären Erleich- sischen Bären kompromißbereit zu machen, und — terungen, sondern bringen zunächst eine Verschär- jetzt kommt das erste harte Wort bei dieser Rede — fung der Unterdrückung. ähnlicher Blödsinn; anders kann ich das nicht be- zeichnen, was man uns hier unterstellt. Drittens. Die Verträge dienen nicht der Entspan- nung, wenn man unter „Entspannung" die Beseiti- (Beifall bei der CDU/CSU.) gung der Spannungsursachen versteht. Aber es ist legitim, in den großen Epochen der geschichtlichen Abläufe und in den Weiten der Viertens. Die Verträge bedeuten eine Festigung großen geographischen Zusammenhänge zu denken. des sowjetischen Besitzstandes. Keine Fernostpolitik als Ersatz für Ostpolitik oder Fünftens. Diese Verträge sind auch eine Ermuti- als Ausrede für fehlende Ostpolitik, wohl aber Über- gung für die Linksradikalen, die diese Politik seit legungen, daß der große Nachbar an der anderen 20 Jahren in unserem Lande gefordert haben. Grenze unseres großen Partners im Hinblick auf das gesamte Spiel der Kräfte auch in unserem Kalkül (Beifall bei der CDU/CSU.) seinen Platz haben muß! Sechstens. Diese Verträge stehen nicht für sich (Beifall bei der CDU/CSU.) allein da. Sie sind Bausteine einer sowjetischen Weststrategie. In das Kalkül dieser multipolaren Konstellation ist nicht nur das große Dreieck „Washington, Mos- Siebtens. Die europäische Friedensordnung so- kau und Peking" einzusetzen. Auch der vierte wjetischer Vorstellung steht in unauflöslichem Ge- Schwerpunkt ist einzusetzen, der als Folge der gensatz zur Bildung einer westeuropäischen politi- amerikanischen Annäherung an Peking auf den schen Gemeinschaft. Plan gerufen worden ist: das ist Tokio und die große japanische Wirtschaftsmacht. Achtens. Diese Verträge sollen nach der Vorstel- lung der Sowjets die Bundesrepublik Deutschland Als fünftes steht zur Diskussion: Japan wird stärker in ihr Machtsystem und dessen Zielsetzun- kommen, und Europa muß kommen. Das ist der gen einbinden. fünfte Schwerpunkt in einer multipolaren Konstel- lation. Darauf muß jede deutsche Ostpolitik in ihrem Neuntens. Diese Verträge sollen verhindern, daß Kalkül auch heute schon abgestellt sein. sich die Entwicklung vom Dreieck zum Fünfeck in der Weltpolitik weiter vollzieht. Diese Verträge (Beifall bei der CDU/CSU.) machen nicht den Frieden sicherer, sondern sie Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit sichern den Sowjets die Rückenfreiheit in der glo- schließt sich der Ring dieser Überlegungen. Es er- balen Konstellation, von der ich in der Kürze der gibt sich mit einer geradezu plastischen Greifbar- Zeit nur kurz sprechen konnte. keit, warum die Sowjetunion sich als nächstes Ziel in ihrer Westpolitik, in ihrer Weststrategie die Nach diesen Kriterien ist das Ja oder Nein zu Erhaltung der westeuropäischen Kleinstaaterei an diesen Verträgen zu ermessen. Ich komme zu fol- ihrer Westgrenze unter dem Vorwand paneuro- gender Schlußfolgerung: Das Ja ist ein Übel, und das päischer Zusammenarbeit gesetzt hat. Ein großer Nein bringt neue schwere Belastungen und Auf- Nachbar sind die USA, ein zweiter ist die Volks- gaben mit sich. Wenn ich aber zwischen dem Ja und republik China. Tokio ordnet seine Politik neu. dem Nein zu wählen habe, entscheide ich mich für Aber an der Westflanke muß der bisherige Zustand das Nein als das kleinere Übel. Die Bundesregierung der europäischen Kleinstaaterei bewahrt werden, hat uns und die deutsche Politik in diese Lage damit bei gesicherter Rückendeckung die Konzen- manövriert. tration der Aufmerksamkeit auf die Vorgänge an (Erneuter Beifall bei der CDU/CSU.) der Ostgrenze dieses Bereiches erfolgen kann. Es war George Ball, der sagte — ich sage es in seinen Ein Ja zu diesen Verträgen bedeutet einen Bruch- Worten , daß wir mit der Möglichkeit rechnen punkt auf der Straße ins Unheil. Außenpolitische müssen, daß diese Politik der Rückendeckung gegen- Fehler werden in dem Zeitpunkt, in dem sie began- über dem Westen auch den Zweck verfolgt, die gen werden, nie erkannt. Sie werden oft erst nach Voraussetzungen zu schaffen, um mit konventio- Ablauf einer Generation oder eines halben Jahrhun- nellen Waffen die nuklearen Raketeneinrichtungen derts rückwirkend als Bruchpunkt auf der Straße der Chinesen als potentielle Bedrohung auszuschal- zum Unheil erkannt. Meine politischen Freunde und ten. Hier stellt sich für uns — ich sage dies nicht in ich sind der Überzeugung, daß diese Verträge in einer phantasievollen, weitschweifenden Betrach- der vorliegenden Fassung, die über den militäri- tungsweise — die Frage, ob diese Rückendeckung schen Gewaltverzicht und die Bereitschaft zur Zu- in Europa gewährt werden kann, damit anderswo sammenarbeit hinausgeht, einen Bruchpunkt in der Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9919 Strauß deutschen Nachkriegsgeschichte bedeuten auf einer ausdrücklich die Gemeinsamkeit der Ziele vorweg. Straße, an deren Ende nur Unheil stehen kann. Sodann wurde diese Rede den Forderungen nach (Langanhaltender lebhafter Beifall bei der nüchterner Sachlichkeit und nach Verzicht auf gegen- - CDU/CSU.) seitige Verteufelung — Forderungen, die beide Dr. Schröder selbst aufgestellt hatte — voll gerecht. Zur Frage der beiden Verträge war sie gewiß eine Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der Klasse besser als alle anderen Reden, die die Oppo- Bundesminister der Verteidigung. sition bis zur gegenwärtigen Stunde in diesem Hause gehalten hat. Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: (Beifall bei der SPD.) (mit lebhaftem Beifall der SPD begrüßt) Trotzdem, meine Damen und Herren, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Hauch von Vilshofen, den wir eben erlebt ha- (Zurufe von der CDU/CSU) ben — trotzdem oder gerade deswegen bedarf diese Rede (Heiterkeit und Beifall bei der SPD. — Zu einer sehr sorgfältigen Kritik. Denn Herr Kollege ruf von der CDU/CSU: Das ist eine Un Schröder hat sich in seiner Rede nach meinem Urteil verschämtheit!) dreier schwerwiegender Versäumnisse schuldig ge- macht. — Ich habe wirklich nicht die Absicht, zu polemi- (Zurufe von der CDU/CSU.) sieren, und verstehe nicht, daß Sie bei dem Wort „Vilshofen" in Feindschaft geraten können. Das erste Versäumnis: Das entscheidende Pro- blem Berlins und seine weitgehende qualitative (Beifall bei der SPD. — Abg. Wehner: Hat Veränderung im Zuge des deutsch-sowjetischen sozialdemokratischen Bürgermeister!) Vertrages wurden in dieser Rede völlig verschwie- Wie dem auch sei, meine Damen und Herren, min- gen. destens die letzte Rede hat gezeigt, wie viele andere Zweitens. Die eigene Lagebeurteilung, von der vorher auch, daß die Debatte hüben und drüben Herr Kollege Schröder in seinen Darlegungen mehr- offensichtlich nicht so sehr den Zweck hat, das Haus fach ausdrücklich ausging, wurde hier auch nicht an- zu überzeugen, sondern den Zweck, die eigenen deutungsweise dargelegt. Motive für die Öffentlichkeit klarzustellen. Fragen, die gestellt werden, werden von Fragenden gestellt, Drittens. Von dem deutsch-polnischen Vertrag war die im Grunde auf die Antworten nicht warten, um überhaupt nicht die Rede. Nach meinem Urteil ent- ihre eigene Meinungsbildung daran zu orientieren, hielt seine Rede auch ansonsten mehrere Irrtümer. sondern es sind rhetorische Fragen, wie wir sie eben Infolge all dessen kam der Kollege Schröder zu vielfach erlebt haben. einem Schlußurteil, das ich für fundamental falsch (Zunehmende Unruhe bei der CDU/CSU.) halte. Nun möge mir der Herr Kollege Strauß ver- Mir scheint, daß dies , ein notwendiger Vorgang zeihen, daß ich heute abend seine Darlegungen über ist — die Moral des Neubaus in Europa nicht einbeziehen (Anhaltende Unruhe bei der CDU/CSU.) will. Ich möchte mich statt dessen im wesentlichen auf die Ausführungen des Kollegen Schröder bezie- — Wenn das Volksgemurmel sich so fortsetzt, ist hen und auf sie antworten. Ich tue das mit dem Ge- allerdings der Ausdruck „Vilshofen" vollständig ge- fühl des Respektes für einen bedeutenden Gegner rechtfertigt. jener Politik, die meine Kollegen und ich für rich- (Beifall bei der SPD.) tig halten. Ich werde zugleich den großen sicher- heitspolitischen Fortschritt darstellen, den das Ver- Vizepräsident Frau Funcke: Herr Bundes- tragswerk für Berlin, für uns, für Europa und auch minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn für die Amerikaner darstellt. Beide Zwecke ver- Abgeordneten Gallus? langen, daß man den Zusammenhang herstellt. In ihrer Regierungserklärung vom Oktober 1969 Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Ich hat die Bundesregierung den folgenden sicherheits- möchte heute gerne auf Zwischenfragen verzichten. politischen Maßstab formuliert: Mir scheint, daß die Klarstellung der eigenen Mo- Welche der beiden Seiten der Sicherheitspoli- tive der Öffentlichkeit gegenüber ein notwendiger tik wir auch betrachten, ob es sich um unseren Vorgang für alle Beteiligten ist, an dem ich mich ernsten und nachhaltigen Versuch zur gleich- beteiligen möchte hinsichtlich der Sicherheit Berlins, zeitigen und gleichwertigen Rüstungsbegren- der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und zung und Rüstungskontrolle handelt oder um der Sicherheit Europas. Alle diese Sicherheiten wer- die Gewährleistung ausreichender Verteidigung den nach meiner Überzeugung durch die zu ratifizie- der Bundesrepublik Deutschland: unter beiden renden Verträge verbessert, wenn auch Herr Kol- Aspekten begreift die Bundesregierung ihre lege Schröder sie in seiner gestrigen Rede angeblich Sicherheitspolitik als Politik des Gleichgewichts beeinträchtigt sah. und der Friedenssicherung. Und ebenso ver- Diese sorgfältig vorbereitete Rede des Kollegen steht sie unter beiden Aspekten die äußere Schröder war mir in mehrfacher Hinsicht bemerkens- Sicherheit unseres Staates als eine Funktion des wert. Zunächst stellte sie, wofür man danken muß, Bündnisses, dem wir angehören und als dessen 9920 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Bundesminister Schmidt Teil wir zum Gleichgewicht der Kräfte zwischen Der dritte Punkt des Hintergrunds. Mit der Ver- West und Ost beitragen. abschiedung des Harmel-Berichts hatte die atlantische Ich nehme an, daß dieser Maßstab zwischen der Op- Allianz ein Signal für einen neuen Abschnitt der position und den Koalitionsparteien nicht kontrovers Entwicklung des Bündnisses gesetzt. Dem Grund- element wurde das zweite Grund- ist: Er definiert Sicherheit so, wie es auch die Regie- Verteidigung element Entspannung hinzugefügt. Die durch ge- rungserklärung der Großen Koalition am 13. De- meinsame Verteidigungsanstrengungen gewonnene zember 1966 tat. Es hieß dort: Sicherheit sollte von nun an, mehr als 20 Jahre nach Der Wille zum Frieden und zur Verständigung dem zweiten Weltkrieg, die Grundlage für den Ver- der Völker ist das erste Wort und das Grund- such der Verständigung mit Osteuropa werden; Ent- legende der Außenpolitik dieser Regierung. spannung und Ausgleich also auf der Basis des Wie gesagt: das war Dezember 1966. Gleichgewichts und ohne Sicherheitsrisiko für die Beteiligten. Dies war der Rahmen, den die gegen- Nun, vor welchem weltpolitischen Hintergrund ist wärtige Bundesregierung vorfand, als sie 1969 die dieser Maßstab gesetzt worden? Verantwortung übernahm.

Erstens. Die thermonuklearen Waffen, mit denen Den Rahmen zu erkennen, genügte aber nicht. Die die Supermächte einander vernichten können, hatten Kenntnis der weltpolitischen Umweltbedingungen muß für unser Land nutzlos bleiben, wenn der Ver- diese Mächte bereits gezwungen, ihrer Gegnerschaft Schranken zu setzen. Zwar bestehen fundamentale such unterbleibt, die spezifisch deutsche Situation in diesem Rahmen zu sehen, und zwar mit all ihren Gegensätze der Interessen und der Ideologien fort, doch war aus der unversöhnlichen Konfrontation Faktoren, die häufig genug im Gegensatz und in doch schon eine Art von Konflikt unter Kontrolle Konkurrenz zueinander stehen. geworden, der eine Zusammenarbeit der beiden Ich habe kurz nach Bildung der Großen Koalition Weltmächte auf Teilgebieten nicht mehr ausschloß. — es war, glaube ich, im Februar 1967 — in einem Beide Supermächte waren sich klargeworden, daß Vortrag in Hamburg gesagt, eine der Hauptaufgaben ihre Interessen sich dort treffen, wo es darum geht, der Großen Koalition liege in der Nutzung ihrer Zwangsläufigkeiten von Zusammenprall, Zwangs- breiten innenpolitischen Basis für die Herstellung läufigkeiten von Eskalation und gegenseitiger Ver- einer größeren Realitätsbereitschaft in der öffent- nichtung zu vermeiden. Konkret: Präsident Nixon lichen Meinung unseres Volkes hinsichtlich der hatte als wichtigstes Ziel bei seinem Regierungs- Deutschland- und Außenpolitik, und ich habe hinzu- antritt den Übergang von der Konfrontation zur gefügt, „wenn es der Großen Koalition nicht gelin- Kooperation verkündet. Die Aufnahme der Ver- gen sollte, unbrauchbar gewordene, ausgefahrene ) handlungen über die Begrenzung nuklear-strategi- Gleise zu verlassen und neue Wege zu finden, so scher Waffen — in den Zeitungen meist „SALT" würde die Große Koalition ihre geschichtliche Legi- genannt — erfolgte unmittelbar anschließend. timation verfehlen". Tatsächlich hat die Große Koa- lition einige neue Wege beschritten, tatsächlich ist Zweitens. Zur selben Zeit, da die beiden Super- die Realitätsbereitschaft gestiegen. Aber, Herr Dr. mächte Konfrontation zu vermeiden wünschten und Kiesinger, Ihre Realitätsbereitschaft und diejenige die Suche nach Feldern der Zusammenarbeit begann, der CSU sind am Ende schließlich kleiner gewesen wurde auch die Tendenz erkennbar, daß die bis- als am Anfang. herige Bipolarität, von der Herr Strauß soeben (Beifall bei der SPD.) sprach, durch ein neues Gleichgewicht mit mehreren Pfeilern abgelöst werden konnte. In der kommunisti- — Herr Kiesinger schüttelt den Kopf. Ich darf ihn schen Welt war die frühere Einheit im Glauben zer- mit einem Seitenblick auf die Hallstein-Doktrin dar- brochen. Der Bruch zwischen Moskau und Peking an erinnern, daß er am Anfang bereit war, diplo- hat die Vorstellung von der Einheit des Weltkom- matische Beziehungen zu Bukarest und zu Belgrad munismus, von der Einheitlichkeit seines Vorgehens aufzunehmen, und daß er am Ende meinte, die Re- ad absurdum geführt. Das Hegemoniebedürfnis der gierung solle lieber platzen, als die Beziehungen Sowjetunion hatte sich in einer brutalen Invasion zu dem kleinen südostasiatischen Staat Kambodscha in der Tschechoslowakei geäußert. Aber das west- nicht abzubrechen. liche Verlangen nach einem Europa, das mehr ist (Beifall bei der SPD.) als nur Westeuropa, konnte damit ebensowenig auf 1967 hat der damalige Bundeskanzler Kiesinger das die Dauer erstickt werden wie das Verlangen in gestern schon von Herbert Wehner zitierte Wort ganz Osteuropa, auch in der Sowjetunion, nach mehr von der „kritischen Größenordnung Deutschlands" Berührung mit dem Westen. Wer Entspannung in gesagt, das durchaus richtig ist. Die Passage endete Europa will, der muß Zusammenarbeit suchen, und damals mit dem Satz: „Man kann das Zusammen- zwar ohne neue Unsicherheiten ins Spiel zu bringen. wachsen der getrennten Teile Deutschlands nur Ich habe die Darlegungen von Herrn Strauß über eingebettet sehen in den Prozeß der Überwindung China soeben vielleicht nicht ganz verstanden. Aber des Ost-West-Konflikts in Europa." Ich stimme dem ich wiederhole für diejenigen, die meinen, der Basis zu; das war damals richtig, und es ist auch heute der Ostpolitik müsse der Faktor China hinzugefügt noch richtig. Die erste Konsequenz aus diesem Satz, werden: Wer Entspannung in Europa will, muß Zu- Herr Dr. Kiesinger, ist die, daß wir diesen von sammenarbeit suchen, ohne neue Unsicherheitsfak- Ihnen genannten Prozeß der Überwindung des Ost- toren ins Spiel zu bringen. West-Konflikts einmal realistisch betrachten. Es ist (Beifall bei den Regierungsparteien.) ja nicht nur ein Prozeß, der uns betrifft, sondern Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9921

Bundesminister Schmidt es ist ein Prozeß, der von vielen gemeinsam beein- der Regierung hier in Bonn beigetragen. Heute wis- flußt wird. sen wir, daß NATO und EWG den westlichen Teil Nun einige Tatsachen zu dem sich tatsächlich ab- Europas von sowjetischer Dominanz in kritischen spielenden Prozeß. Zeiten haben freihalten können, daß sie aber mit ihrer bis spät in die 60er Jahre verfolgten starren Erstens. Für die Vereinigten Staaten wie für die politischen Strategie nicht der Vereinigung Euro- Sowjetunion wie für unsere Nachbarn in Ost und pas und unseres Landes haben dienen können. Sie West sind die aus der andauernden Teilung Deutsch- werden das auch in Zukunft kaum tun können, und lands erwachsenden Problemen die hauptsächliche erst recht nicht wird ohne unsere eigene Initiative Ursache für die Sorge um den Frieden in Europa. etwas bewegt. Herr Dr. Schröder hat in einer Rede, Diese Probleme sind einerseits Folgen des von Hitler auf die mein Freund Kurt Mattick heute morgen total geführten und total verlorenen Krieges, sie schon zurückkam, vor dem CDU-Parteitag schon sind andererseits Folgen der sich von 1945 an erge- 1965 in Düsseldorf — ich komme noch mal auf die benden Konfrontation der Siegermächte. Rede zurück — öffentlich daran gezweifelt, daß die Zweitens. Gerade wir Deutschen müssen aber Zeit für uns arbeite. auch einer anderen Erkenntnis ins Auge sehen. Die Sechstens. Je mehr aber wir in Bonn uns selbst Nachbarn Deutschlands in Ost und West sind weit in unserer Außenpolitik bewegen, desto mehr könn- eher geneigt, sich mit der Teilung Deutschlands ab- ten unsere Nachbarn in Ost und West in Besorgnis zufinden, als zuzulassen, daß derjenige Teil Deutsch- geraten, nämlich dann, wenn wir versuchen wollten, lands, mit dem sie durch ein Bündnis verknüpft uns allein zu bewegen. Deshalb unternehmen wir zu sind, in den Bereich des anderen Bündnisses hin- keinem Zeitpunkt dieses Prozesses einen isolierten überwechselt. Kollege von Weizsäcker hat von die- Schritt, sondern diese Regierung achtet sehr sorg- sen Problemen gesprochen. Alle unsere Nachbarn fältig darauf, daß ihre Bewegung eingebettet bleibt halten zwar den jetzigen Zustand für nicht normal in das Gesamtvorhaben der Partner unseres Bünd- und womöglich für eine Bedrohung des Friedens nisses. Die Beweise für diese Gemeinsamkeit, und ihrer Sicherheit, aber ein vereinigtes Deutsch- welche die Oppositionsredner nicht sehen wollen, land und vor allem der Prozeß bis hin zu einem ver- liegen dokumentarisch in einer ganzen Kette von einigten Deutschland erscheint den meisten unserer Ministerratsbeschlüssen der Allianz öffentlich vor. Nachbarn noch gefährlicher, weil er das Gleichge- Diese Kommuniqués des Minsterrats der Allianz wicht der Macht in Europa und damit den Frieden über zwei, drei Jahre beschreiben den wichtigsten gefährden könnte. Siehe Dr. Kiesingers Wort über Teil — ich benutze noch einmal Dr. Kiesingers das kritische Gewicht oder die kritische Größe. Worte — „des Prozesses der Überwindung des Ost- Drittens. Gleichwohl fühlen viele unserer Nach- West-Konfliktes". Unsere Politik verwirklicht sich barn auch die historische Anomalie der Trennung im Rahmen der Möglichkeiten, die hier gegeben Deutschlands und mehr noch der Teilung Europas sind, im Rahmen der Wandlungen der internationa- insgesamt. Manche wären möglicherweise bereit, len Beziehungen überhaupt. dann an einer Vereinigung Europas und damit Deutschlands mitzuwirken, wenn sie eine Art Ga- Präsident Nixons Schlagwort heute vor drei Jah- rantie dafür hätten, daß der zu diesem Ziel hinfüh- ren „from confrontation to negotiation" bezeichnet rende Prozeß unter Kontrolle gehalten und daß eine Epoche, die die ganze Welt umfaßt, die zugleich seine Risiken eingegrenzt und kalkulierbar gemacht auch unserem Land ermöglich hat, unseren außen- werden können. politischen Spielraum zu erweitern und voll auszu- nutzen. Viertens. In der Bundesrepublik Deutschland hat es lange gedauert, ehe klar wurde, daß die beiden Die Erkenntnis der Lage unseres Landes, wie sie Teile der Nation nur dann wieder zueinander kom- wirklich ist, hat gewiß deutsche Außen- und Sicher- men können, wenn auch Europa wieder zusammen- heitspolitik nicht leichter gemacht. Kollege Schröder wächst. Vielen in unserem Lande fällt es heute hat darauf 1965 in dieser Parteitagsrede schon hin- noch schwer, zu begreifen, daß dies keineswegs von gewiesen. Damals sagte er: den Deutschen allein bewirkt werden kann, sondern Im Zeichen des kalten Krieges war die Wieder- daß ein Zusammenwachsen in Europa nur möglich vereinigungspolitik eingebettet in das umfas- ist, wenn beide Weltmächte u n d die ost- und sende Anliegen der freien Welt, die Einfluß- westeuropäischen Staaten u n d das deutsche Volk in seinen beiden Teilen dies wollen. Mit anderen sphäre des Kommunismus in Europa zurückzu- drängen. Heute hat sich in der Welt das be- Worten und verkürzt ausgedrückt.: eine Wiederher- stellung der Identität Europas ist nur möglich, wenn herrschende und allgemeine Interesse der Frie- dies auch von Moskau, auch von Warschau, auch denserhaltung vor das Teilinteresse der Wie- von Ost-Berlin gewollt wird. dervereinigung Deutschlands geschoben. Es be- steht zwar noch eine Übereinstimmung im Ziel, Fünftens. Die Kontinuität des westlichen Vertei- aber es ist für die deutsche Außenpolitik digungsbündnisses, die Solidarität der europäischen schwieriger geworden. mit den nordamerikanischen Partnern waren und bleiben Grundlage unserer Politik innerhalb dieses Ich habe damals, 1965, diese Rede für bedeutsam Prozesses. Eine manchmal aufgetretene Überbeto- gehalten. Sie war ein Schritt auf Ihrem Wege, meine nung unserer Sicherheit hat allerdings in manchen Damen und Herren, zur sogenannten Friedensnote Phasen der Nachkriegspolitik zur Unbeweglichkeit mit dem Gewaltverzichtsangebot im Frühjahr 1966. 9922 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Bundesminister Schmidt Die Rede enthielt übrigens auch die richtige Fest- interpretieren wollte, wie das einige — ich er stellung, es stelle sich immer wieder neu die schwie- innere mich genau — vor zehn Jahren gegenüber rige Frage, wie wir unsere Deutschlandpolitik am dem Godesberger Programm der Sozialdemokra- besten in den ganzen Zusammenhang der allgemei- tischen Partei gemacht haben. - nen Ost-West-Beziehungen einfügen können. Diese (Beifall bei der SPD.) Frage stellt sich auch heute und morgen und über- morgen — da stimme ich Ihnen zu — immer wieder Es ist eine sehr gefährliche Sache, wenn man den neu. Wenn sich insgesamt die Beziehungen zwischen ernsten Willen eines anderen in eine taktische Wen- Ost und West ändern, ändern sich damit auch Rah- dung umfälscht. men und Lage unserer Ostpolitik. Deutschland und Frieden, meine Damen und Her- Übrigens haben Sie, Herr Kollege Schröder — ren, werden heute wieder in einem Atemzug ge- auch das will ich nachtragen —, schon in jener Rede, nannt. Die Geschichte erlaubt nicht, diesen Sachver- wenn auch sehr verklausuliert, festgestellt, daß die halt eine Selbstverständlichkeit zu nennen, genau Alleinvertretungsposition à la longue nicht haltbar sowenig — auch das will ich deutlich sagen — wie es sein würde. Ich sage das, weil Sie gestern die von etwa erlaubt wäre, dies als Verdienst allein un- Ihnen festgestellte Diskontinuität so hervorgeho- serer Bundesregierung zu bezeichnen. Der Frieden ben haben. Sie selber haben heute vor sieben Jah- nach Westen ohne den Frieden nach Osten bleibt ren Diskontinuitäten vorausgesehen, ein unvollständiger Frieden, ein gefährdeter Frie- den. Hier liegt die Aufgabe, deren Erfüllung wir (Beifall bei den Regierungsparteien) allerdings nähergekommen sind als jede Regierung — wenn es wirklich Diskontinuitäten sind! Wenn vorher. es sich nicht um einen kontinuierlichen Wandel der Position entsprechend der jeweils sich wandelnden Künftige Historiker mögen darüber befinden, wa- Gesamtlage der Beziehungen zwischen Ost und rum die CDU/CSU so viel länger braucht, dies zu West handeln würde! begreifen, als die Umwelt, in der wir leben. Mit „Umwelt" meine ich nicht nur die Bürger dieses (Beifall bei den Regierungsparteien.) Landes, nicht nur unsere Nachbarn. Ich hatte im Herbst Gelegenheit, festzustellen, daß einem auch Diese Bundesregierung hat 1969 aus der vorge- in Japan, Australien, Neuseeland eine ungewöhn- fundenen, nicht von ihr geschaffenen, sondern hi- lich herzliche Zustimmung zu dieser Versöhnungs- storisch gewachsenen Situation die Konsequenzen politik entgegengebracht wird. gezogen, und zwar von der Lage aus, die sie 1969 antraf. Dabei war und bleibt das Gleichgewichts- (Beifall bei den Regierungsparteien.) prinzip der oberste Leitsatz unserer Außen- und Wie aber immer die Urteile anderer lauten mögen, Sicherheitspolitik. Er prägt die Haltung der Bundes- unsere Pflicht ist es, heute unsere Ziele, unsere regierung zum nordatlantischen Bündnis, zu den Motive, unsere Kalkulationen offenzulegen, um großen Nuklearmächten, zu dem notwendigen Ver- jedermann draußen ein fundiertes Urteil zu ermög- such, Sicherheit bei geringerer Rüstung zu erhalten. lichen. Ein solches Urteil wird sich an der tatsäch- Er prägt aber auch unsere Haltung bei dem Versuch lichen Entwicklung orientieren müssen, die wir der Bundesregierung, Verständnis und Ausgleich einerseits als Mitglied des atlantischen Bündnisses mit der Sowjetunion, mit den Völkern des euro- und der Europäischen Gemeinschaften mit bewirkt päischen Ostens zu erreichen. haben und die andererseits von diesen politischen Für diese Politik muß gelten: Wer seine eigene Zusammenschlüssen aus auf uns zurückgewirkt hat. Politik unter den Schutz des Gleichgewichts stellt, Was also hat sich seit 1969 in Europa geändert? darf nicht versuchen, andere aus diesem Gleichge- Wir haben uns daran gewähnt, darauf zu verweisen, wicht herauszubrechen. daß die atlantische Allianz in Verteidigung und (Beifall bei den Regierungsparteien.) Entspannung die beiden Grundelemente ihrer politi- schen Strategie sehe. Mir scheint, der entscheidende Das heißt für unsere Entspannungspolitik gegen Wandel des Atlantischen Bündnisses seit 1969 liegt über dem Westen wie dem Osten ganz konkret: darin, daß das Bündnis diesen Grundsatz, Verteidi- 1. Es kann im osteuropäischen Bereich nichts We- gung plus Entspannung, nicht nur verkündet, son- sentliches ohne die Mitwirkung Moskaus geschehen. dern ihn tatsächlich mit politischem Leben erfüllt So ist die Lage heute. und auf seiner Basis vielfältige politische Initiativen in Gang gesetzt hat. So haben sich zum einen die 2. Die Regierungen in Warschau, Ost-Berlin, Prag Partner in der „Studie über die Verteidigungspro- und in anderen osteuropäischen Hauptstädten ha- bleme der Allianz in den 70er Jahren" geeinigt, am ben gleichwohl eigene Interessen, eigenen Willen, militärstrategischen Konzept der flexiblen Reak- eigenes Gewicht. tion und am Prinzip der Vorne-Verteidigung fest- 3. Es wäre jedoch töricht und gefährlich, Keile zuhalten, also an zwei Grundprinzipien, die gerade zwischen die Staaten des Paktes treiben zu wollen, für uns wichtig sind. Sie haben es übernommen, gefährlich nicht nur für uns, sondern für den Frie- Schwächen des Verteidigungssystems zu beseitigen den überhaupt. Es wäre genauso töricht und für und dabei nicht nur die bisher gültigen Grundsätze Entspannung und Zusammenarbeit gleichermaßen fortzuschreiben, sondern auch ein neues Programm gefährlich, wenn jemand unseren Willen zum fried- für die künftige Arbeit zu entwickeln, aber anderer- lichen Miteinander als ein bloß taktisches Manöver seits hat das Bündnis 1970 und 1971 den Zusammen- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9923 Bundesminister Schmidt hang zwischen Verteidigung und Entspannung tat- hatten 1965 in der schon zitierten Rede vor dem sächlich praktiziert. Parteitag der CDU öffentlich ausgesprochen, daß (Beifall bei den Regierungsparteien.) Sie sich immer Mühe geben müßten, die drei Mächte zu solchen Erklärungen zu bringen. Sie wissen doch- Die sehr konkreten Beschlüsse des NATO-Rats von selbst auch aus der Erinnerung, Herr Schröder, daß Rom, Brüssel, Lissabon und nochmals Brüssel sind damals diese Erklärung nicht dem innersten Willen Beleg und Beweis: das ganze Bündnis mit all sei- und heiligsten Interesse der Beteiligten entsprach. nen Teilnehmerstaaten hat am Zustandekommen und am erfolgreichen Abschluß der Viermächtever- (Abg. Dr. Schröder: Aber heute doch? — handlungen über Berlin mitgewirkt. Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Sie wi dersprechen sich ja!) (Beifall bei den Regierungsparteien.) -- Nein, ich glaube nicht, daß darin ein Widerspruch Da muß man die Kommuniqués lesen, um das be- liegt. Die sind etwas losgeworden, was ihnen lästig stätigt zu finden. Das ganze Bündnis hat daran mit- war; das ist richtig. Aber, Herr Schröder, Sie haben gewirkt, daß die Voraussetzung für ein solches Ab- nie im Grunde glauben können, daß die auf Grund kommen geschaffen werden konnte, nämlich der ihrer Erklärung jemals eine deutsche Wiederver- Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland einigungsinitiative ergreifen könnten. Das hat nie- und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. mand geglaubt, weder in Bonn noch anderswo. - Wer den Vorwurf erhebt, daß die Entspannungs (Beifall bei den Regierungsparteien.) und Vertragspolitik der Bundesregierung den Zu- sammenhalt des Westens gefährde und die Funk- tionstüchtigkeit des Bündnisses beeinträchtige, der Vizepräsident Frau Funcke: Gestatten Sie muß wissen, daß er sich selbst zu allen Regierungen eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Bar- in Gegensatz setzt — ich betone: allen — der im zel? westlichen Bündnis verbündeten Staaten. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Herrn Kollegen Barzel will ich gern eine Zwischen- Herr Dr. Schröder, Sie sind ein bißchen außer Kon- frage gestatten. takt geraten mit der politischen Entwicklung in den uns verbündeten Ländern. Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Kollege Schmidt, (Beifall bei den Regierungsparteien.) würden Sie dem Hause sagen, was die Alliierten Wenn Sie Ihre gestrige Rede statt hier in Bonn in losgeworden sind, worüber sie, wie Sie soeben sag- der Ministerratstagung des Atlantischen Bündnisses ten, Freude empfinden? gehalten hätten, wäre nicht nur augenblicks eine tiefe Konsternation eingetreten, sondern der Prozeß Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Ich der Isolierung Deutschlands innerhalb dieses Bünd- bin nicht ganz sicher, ob es meine Sache ist, zu inter- nisses hätte am gleichen Abend seinen Anfang ge- pretieren, was Herr Schröder gemeint hat. Ich denke, nommen. er hat gemeint, sie wären die Last losgeworden, alle zwei Jahre eine große Erklärung über die erstrebte (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar Wiedervereinigung Deutschlands abzugeben. Daß teien. — Abg. Lemmrich: Vielleicht lesen sie vertraglich daran gebunden sind, ist eine ganz Sie die Debatte des Europarats vom letz andere Sache. Sie waren es leid, dauernd Bekennt- tenmal nach! — Zurufe von der CDU/CSU: nisse abgeben zu müssen zu einer Sache, für die sie Der Zweck heiligt die Mittel!) aktuell und für die jeweilige Gegenwart überhaupt — Vielleicht sind Sie so liebenswürdig, genauso wie keine Realisationschance sahen. wir gestern die — ich wiederhole — bemerkenswer- (Beifall bei den Regierungsparteien.) ten Darlegungen des Kollegen Schröder angehört haben, meinen Versuch einer Antwort entgegenzu- Das Atlantische Bündnis heute ist politisch als nehmen. Bündnis, als Gesamtheit sehr tätig. Da sind die Bemühungen um Rüstungsbegrenzung, Rüstungs- Ich möchte Ihnen sagen, Herr Dr. Schröder, Sie verminderung und -kontrolle, z. B. die Verhand- durften sich — nach meinem Urteil — auch nicht lungen zwischen den beiden Supermächten über die in die Ausflucht retten, unserer Partner hätten diese Begrenzung der strategischen Waffen — SALT —, Erklärung bloß abgegeben, weil sie — das hat Herr da sind die Bemühungen des westlichen Bündnisses Strauß nachher wiederholt — eine lästige Verant- zu Verhandlungen mit der Sowjetunion und den wortung loswerden wollten, weil sie nicht deutscher übrigen Staaten des Warschauer Paktes über beider- als die Deutschen selbst sein wollten. seitige und ausgewogene Truppenverminderungen, (Zurufe von der CDU/CSU: Was ist daran in den Zeitungen meist mit den vier Buchstaben falsch? — Das ist aber so!) MBFR bezeichnet. — Wer zu dieser Argumentation greift, impliziert Natürlich ist SALT primär eine Sache der beiden ungewollt, daß unsere nationalen Interessen im be- Supermächte, aber der Verhandlungserfolg müßte wußten Widerspruch zu den Interessen der Partner ganz fraglich werden, käme es etwa inzwischen stünden. zu einer neuen tiefen Berlin-Krise. Sie haben in dem Zusammenhang gestern eine Die Bemühungen um MBFR entsprechen dem Drei-Mächte-Erklärung von 1964 zitiert, aber Sie gleichen Wandel. Durch rüstungsbegrenzende sta- 9924 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Bundesminister Schmidt bilisierende Vereinbarungen in Europa soll eine der USA, verursacht bzw. ob sie politische Kräfte für alle Partner gleich verläßliche, weniger auf- geweckt hätten, die sich vor allen Dingen im ameri- wendige Sicherheitsstruktur in Europa erreicht wer- kanischen Senat für eine einseitige Verminderung den. MBFR wird zu einer Schlüsselfrage zukünfti- des amerikanischen Engagements hier in- Europa ger Entspannungspolitik werden. Man kann dabei stark machen. nicht mit schnellen Ergebnissen rechnen — noch Ich denke, wir alle hier und innerhalb dies Bünd- viel weniger schnell als bei SALT. Gleichwohl hat nisses stimmen darin überein, daß unsere Entspan- das MBFR-Projekt bereits heute einige Zwischen- nungspolitik unsere Sicherheitspolitik ergänzen, ergebnisse gezeitigt. Auch das war nur möglich nicht aber unseren Verteidigungsbeitrag ersetzen im Zusammenhang mit der deutschen Vertragspo- kann oder soll. Nur für den Herrn Ministerpräsi- litik. Die kontinuierliche Beharrlichkeit nämlich denten Filbinger, dessen Bundesratsrede ich gestern seit dem sogenannten Signal von Reykjavik 1968 gelesen habe, weise ich darauf hin, daß es lange, hat es schließlich vermocht, ein allmählich entste- bevor deutsch-sowjetische Verhandlungen in Be- hendes Interesse der Sowjetunion und anderer in- tracht gezogen wurden, lange vorher jenen Trend teressierter Staaten herbeizuführen. gegeben hat, der seit der Mitte der fünfziger Jahre mit dem Namen des Senators Mansfield verbunden Vizepräsident Frau Funcke: Herr Bundes- ist. Wir haben es immer wieder mit entsprechenden minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Resolutionen im amerikanischen Kongreß zu tun ge- Abgeordneten Kliesing? habt. Tatsache ist, daß keine amerikanische Regie- rung darauf eingegangen ist. Herr Filbinger soll sich Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Herr ein bißchen besser in der Außenpolitik umsehen, ehe Kliesing ist ein alter Freund, also bitte! er darüber spricht. Die jüngste außenpolitische Bot- schaft Präsident Nixons an den amerikanischen Kon- Dr. Kliesing (Honnef) (CDU/CSU) : Herr Schmidt, greß hat dies abermals überzeugend bestätigt. Auch wenn Sie MBFR für eine Schlüsselfrage der künfti- in der gemeinsamen deutsch-amerikanischen Erklä- gen Entspannung halten, wie werten Sie dann die rung nach der Begegnung zwischen Präsident Nixon Entspannungsbereitschaft der Sowjetunion ange- und Bundeskanzler Brandt in diesem Winter in Key sichts der Tatsache, daß sie bisher noch nicht rea- Biscayne hieß es wörtlich ich darf zitieren —: giert hat auf den Wunsch 14 europäischer und nord- Der Präsident wiederholte, daß die amerika- amerikanischer Staaten — darunter auch der Bun- nischen Verpflichtungen in Europa unverändert desrepublik —, zu vorbereitenden Gesprächen über weiter gelten und daß insbesondere keine Ver- MBFR den früheren Generalsekretär Brosio zu em- minderung der amerikanischen Truppenstärke pfangen, sich im Gegenteil bisher hartnäckig ge in Europa erfolgen wird. weigert hat, überhaupt in vorbereitende Gespräche darüber einzutreten? Wenn Präsident Nixon heute erneut zusichern kann, (Beifall bei der CDU/CSU.) daß die amerikanischen Truppen in Europa nicht ein- seitig abgebaut werden, sondern nur im Rahmen beiderseitiger Verringerung, dann wird deutlich, daß Bundesminister der Verteidigung: Es Schmidt, unsere Bereitschaft zum Realismus, daß die Ver- gibt dazu nur Vermutungen. Ich würde zwei Ver- träge von Warschau und Moskau und die Bemühung mutungen für zulässig halten. um beiderseitige, ausgewogene Truppenverringe- Erstens könnte ich mir denken, daß sich die rung keineswegs einseitige amerikanische Verringe- Sowjetunion zu dem Zeitpunkt noch nicht völlige rungen verursachen, wie Ministerpräsident Filbinger Klarheit über die Details ihrer Interessen bei MBFR vor ein paar Tagen im Bundesrat und andeutungs- verschafft hatte. Das würde dann noch kommen. weise auch Herr Kollege Schröder gestern abend hier Es wäre also ein vorübergehender Zustand. gemeint haben. Vielmehr hat diese unsere Politik Zweitens würde mir die Vermutung zulässig er- die Entscheidung bewirkt, daß das schon mehr als scheinen, daß die Sowjetunion, z. B. mit Rücksicht 25 Jahre — das ist eine sehr lange Zeit — an- auf Frankreich, aber auch mit Rücksicht auf eigene dauernde amerikanische Engagement erst dann ver- Verbündete, Wert darauf legte, nicht den Eindruck ändert werden soll, wenn Gewißheit der Gegen- von Verhandlungen zuzulassen, die zwischen Pakt seitigkeit besteht. und Pakt geführt würden. (Beifall bei den Regierungsparteien.) Das sind beides denkbare Erklärungen. Im übri- Natürlich wären meine Ausführungen über die gen kann ich hier nicht Auskünfte für die sowjeti- Entwicklung und Wandlung im Bündnis unvollstän- sche Regierung geben, Herr Kliesing. Im Zusammen- dig, wenn ich nicht auch auf sehr bedeutende quali- hang mit MBFR würde ich ganz gerne die persön- tative Veränderungen hier in Westeuropa hinwiese. liche Bemerkung machen dürfen für diejenigen, die Ich kann aber auf den Ausbau und die Erweiterung schon 1959 hier in diesem Bundestag saßen, daß ich der Europäischen Gemeinschaften nicht eingehen. ganz stolz bin auf die Fortschritte, die wir darin Klar ist jedoch, daß die politische Konsolidierung erreicht haben. Europas sicherheitspolitisch sehr bedeutsam werden In Verbindung damit muß man auf die Frage ein- kann. Das gilt um so mehr, als die Herausbildung gehen, ob Bemühungen um Rüstungsbegrenzung, ob einer westeuropäischen Verteidigungsidentität in unsere Vertragspolitik mit dem Osten einseitige, der Eurogroup immer sichtbarer wird, in der sich die voreilige Truppenabzüge des Westens, vor allem europäischen NATO-Mitglieder — freilich mit der Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9925 Bundesminister Schmidt Ausnahme Frankeichs — einstweilen ein Forum ge- so weiß jede Regierung innerhalb des nordatlan- schaffen haben, in dem sie ihre Verteidigungspolitik tischen Bündnisses, daß dies — um es sehr milde im Rahmen des Bündnisses miteinander abstimmen auszudrücken — ein Irrtum ist. und koordinieren. So kam es zum Verstärkungspro- (Abg. Wienand: Das ist aber wirklich sehr - gramm, und so kam es Ende dieses Jahre zu einem milde! — Weitere Zurufe von der SPD: Euro-Weißbuch. Hier bleibt auch noch einiges zu Sehr richtig! — Sehr gut!) tun, gewiß. Aber man kann nicht übersehen, daß es gelungen ist, im Rahmen von Verteidigung und Ent- Herr Schröder kann nicht im Ernst leugnen wollen, spannung in Westeuropa etwas zu entwickeln, was daß er als Außenminister schon sehr stolz gewesen seit dem Scheitern der EVG-Verträge niemand sonst wäre, wenn er Bruchteile des jetzigen Berlin-Ab- fertiggebracht hat. kommens hätte erreichen können. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar teien.) Ich habe so ausführlich über die Wandlung im Bündnis sprechen mögen, weil ich jetzt gern auf den Ich erinnere mich sehr genau, was der Kanzler der entscheidenden sicherheitspolitischen Aspekt der Großen Koalition endgültig im Tauschwege dafür beiden Verträge kommen will. Die Verträge haben hinzugeben bereit war, daß ein einziges Mal Pas- dem zentralen Problem der europäischen Sicherheit, sierscheine sollten ausgegeben werden. nämlich der deutschen Frage, eine neue Qualität ge- (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Nicht endgültig! geben. Sie haben es ermöglicht, eine die Abwesen- Niemals! Das ist ganz falsch!) heit von Drohung und Gewalt garantierende Rege- — lung für den gefährlichsten Krisenherd der letzten Herr Kiesinger, ich bin gewiß niemand, der wis- 25 Jahre zu finden, für Berlin. sentlich die Unwahrheit sagt. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Zuruf von der Mitte: Aber leichtfertig! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Nicht Mein Freund Kurt Mattick hat heute morgen sehr endgültig, einmal! — Einmal!) überzeugend dargetan, was das bedeutet. Ich will es hier nur von der sicherheitspolitischen Seite be- — Wie bitte? leuchten. Die Blockade Berlins am Ende der vier- (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Einmal!) ziger Jahre, die Berlin-Krise von 1958 bis 1962 mit — Nein, nein, verehrter Herr Kollege Kiesinger, Sie dem Bau der Mauer, mit der Ratlosigkeit der dama- haben damals gesagt, die Wahl des Bundespräsiden- ligen Bonner Bundesregierung und ihrem Aufruf, ten könne reihum in sämtlichen deutschen Landes- Ruhe sei die richtige Antwort, mit dem Aufmarsch hauptstädten durchgeführt werden, und dann würde amerikanischer Streitkräfte über den Atlantik her- sie nach 50 Jahren wieder nach Berlin kommen. Ich über nach Deutschland, die zahlreichen Zwischen- kann mich genau erinnern. fälle auf den Zugangswegen zu Lande und in der Luft, die Panzerkonfrontation an der Sektorengrenze (Zustimmung bei Abgeordneten der Regie im Oktober 1961, alles dies wird nicht wiederkom- rungsparteien. — Abg. Dr. h. c. Kiesinger: men, Falsch! Einfach nicht wahr!) (Beifall bei den Regierungsparteien) — Ich kritisiere das ja nicht. alles dies wird nicht wiederkehren. (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Aber es ist auch Ich will mir nicht die Zeitbestimmung des fran- nicht wahr! — Abg. Wehner: Hört! Hört!) zösischen Botschafters in Bonn zu eigen machen, der — Herr Kiesinger, es ist wahr. gesagt hat: 20 Jahre lang wird davon nichts wieder- (Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Nein, es ist nicht kehren, vielleicht wird es länger sein. Jedenfalls: wahr!) in der Zukunft, die wir überblicken können, können wir sicher sein, daß es nicht wiederkehrt, wenn — Doch, es ist wahr! Und das im Tausch für einmal dieses Haus den Vertrag ratifiziert, der der Sache Passierscheine! Ich kritisiere das ja nicht, ich hebe zugrunde liegt. es nur hervor, um Ihnen zu zeigen, wie ungerecht Sie sind, wenn Sie das ganze Paket des jetzigen (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar Berlin-Abkommens heute so kleinschreiben. teien.) (Starker Beifall bei den Regierungsparteien. Unter dem Aspekt der Sicherheit auf dem ganzen — Abg. Rawe: Das ist einfach die Unwahr Erdball ist die Befriedung des Krisenherds zwi- heit! — Abg. Dr. h. c. Kiesinger: Na, das schen den beiden Supermächten, die Befriedung wird sich ja zeigen!) Berlins durch das Viermächteabkommen des an er- ster Stelle zu nennende Ergebnis unserer Ostpoli- — Herr Kiesinger wird sich sicherlich bemühen, zu tik. zeigen, daß ich die Unwahrheit sprach. Ich bin ganz (Erneuter Beifall bei den Regierungspar gewiß, daß das — — teien.) (Abg. Rawe: Das war eindeutig falsch, und Wenn Sie, Herr Kollege Schröder, gestern ge- das wissen Sie!) meint haben, die CDU hätte dieses Verhandlungs- — Ich war ja dabei, lieber Freund, Sie aber nicht. ergebnis schon längst haben können, (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs (Abg. Wehner: Ja, natürlich!) parteien.) 9926 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Bundesminister Schmidt Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie dem Kreß- der von Ihnen verfolgten Politik des Liegenlassens bronner Kränzchen nicht angehört. täuschen kann. (Abg. Dr. Barzel: Aber ich kann nicht be Die Folgen würden sein: Einbuße des gewonne- - stätigen, was Sie hier behaupten! — Wei nen Handlungspielraums der Bundesrepublik und tere Zurufe von der CDU/CSU.) Verlust der Chance für eine Vertragspolitik in Rich- tung Osten auf sehr lange Zeit, sodann eine Krise — Ich will heute abend nicht polemisieren. im Bündnis und in Westeuropa mit Auswirkung auf (Erneute Zurufe von der CDU/CSU.) die politische Funktionstüchtigkeit des Bündnisses, Auswirkungen auf die Beziehungen besonders zu — Ich will nicht polemisieren! den Vereinigten Staaten von Amerika, für die un- sere Verträge und für die insbesondere auch das Ich möchte als zweites Ergebnis feststellen, daß Berlin-Abkommen wichtige Elemente ihrer eigenen das Bündnis zwischen den Vereinigten Staaten und außenpolitischen Strategie sind. Ich glaube, das hat Westeuropa heute, 1972, fester ist als zuvor und Herr Dr. Barzel in Washington auch gespürt, denn insbesondere sehr viel fester als im Frühjahr und als er zurückkam, sagte er nur, er hätte Gott sei im Sommer und im Herbst 1966, ehe wir anfingen, Dank keine Pression empfunden, die Verträge rati- diese Politik mit zu beeinflussen. fizieren zu sollen. Im übrigen hat er sehr gut ver- (Beifall bei den Regierungsparteien.) standen, daß die Leute im Weißen Haus sehr wohl dafür sind, daß Deutschland die Verträge ratifiziert. Drittens. Es haben sich in Europa stabile Ele- (Beifall bei den Regierungsparteien.) mente der Integration herausgebildet. Man muß in solchem Falle eintretende Belastun- hat den Viertens. Die Bundesrepublik Deutschland gen natürlich vor allem auch vor dem Hintergrund gewonnen, der für unsere eige- Handlungspielraum der Schutzmachtfunktionen der drei Westmächte für nen Interessen notwendig ist und dessen Ausnut- Berlin sehen, man muß die Einbuße sehen, die wir zung dem ganzen Bündnis nützt. Die Gewinnung an Glaubwürdigkeit als Bündnispartner erleiden dieses Handlungsspielraums war nur möglich, weil würden, möglicherweise mit Konsequenzen für die die ganze internationale Politik — oder, wie Herr beginnende engere politische Zusammenarbeit in Kiesinger es nannte, der Prozeß der Entspannung der EWG, und man muß sehen, daß es eine Torpe- zwischen Ost und West in Bewegung geraten dierung des gemeinsamen Grundsatzes der Allianz war und weil wir den uns angemessenen Platz darin wäre, Verteidigung und Entspannung zugleich zu eingenommen haben. betreiben. Die Folge wäre auch eine tiefe Ver- trauenskrise im Verhältnis zur Sowjetunion, die Fünftens. Das Engagement der Vereinigten Staa- doch in diese Verträge sehr viel Prestige und auch ten in Europa bedeutet nicht mehr länger nur die Fortdauer und Erfüllung der durch Kriegseintritt sehr deutliche Positionsopfer hineingesteckt hat, und -ausgang übernommenen Pflichten, sondern die- (Beifall bei den Regierungsparteien.) ses Engagement wird heute durch das Ziel der Her- stellung einer stabilen europäischen Friedensord- und damit die Gefahr der Auslösung einer aktuel- len Berlin-Krise. Ganz sicher träte auch die Konse- nung motiviert. quenz ein, daß die ausgehandelten Verbesserungen Sechstens. Das Gleichgewicht der in Europa wirk- für die Menschen in Berlin in keiner Weise verwirk- samen, auf Europa von außen wirkenden Kräfte ist licht würden, ganz gewiß auch eine verminderte Be- durch die Verträge um das Element des vereinbar- reitschaft , der Westmächte, bei künftigen Arrange- ten Gewaltverzichts stabiler geworden, wobei für ments mit der Sowjetunion auch eine Verbindung uns gewiß der Gewaltverzicht der Sowjetunion un- mit den Interessen der Bundesrepublik einzugehen. endlich gewichtiger ist als der Gewaltverzicht, den Ich will nicht sprechen von der psychologischen wir ausgesprochen haben. Krise, die man in Berlin auslösen würde, aber ich will doch sagen, daß eine Verwerfung dieser Ver- (Beifall bei den Regierungsparteien.) träge in diesem Haus zu schwerwiegenden Auswir- Siebentens. Die deutsche Frage ist in dem Maße kungen im Verhältnis zu unseren Nachbarn, zu einer Lösung nähergekommen, wie durch die ge- einer Einbuße des von uns mühsam angesammelten schlossenen und durch die noch zu schließenden Vertrauenskapitals, Verträge Unsicherheit in Europa vermindert wird. (Lachen bei der CDU/CSU)

Herr Dr. Schröder hat gestern gesagt, eine Nicht- zu einer Stärkung aller Vertragsgegner in der DDR ratifizierung der Verträge sei keineswegs ein und in der Sowjetunion, zu einem Ende der Ver- Desaster, sondern lediglich ein Desaster für die handlungen mit der DDR und schließlich zu einer Bundesregierung. Entmutigung aller auf die Verständigung hinarbei- tenden Kräfte in Europa führen müßte. (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist richtig!) Ich gehe davon aus, bin überzeugt, daß die Ver- Dr. Schröder hat gesagt, deutsche Außen- und träge mit der verfassungsrechtlich gebotenen Mehr- Sicherheitspolitik würde durch die Verträge schwie- heit dieses Hauses ratifiziert werden. Trotzdem be- riger. Das möge seine Meinung bleiben. Ich denke darf Ihre Behauptung, Herr Kollege Schröder, des aber, jeder Unbefangene kann einsehen, daß deut- Gegenbeweises, damit sich niemand über das Risiko sche Außen- und Sicherheitspolitik durch die Ableh- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9927

Bundesminister Schmidt nung der Verträge, wie ich eben gezeigt habe, un- die Wirkung solchen Verhaltens auf eine Welt- endlich schwieriger würde. macht. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar teien.) - Aber die Verträge werden ja nicht abgelehnt. Dritter Punkt: Wer meint, man müsse mit der (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar Normalisierung in Richtung Osten noch ein paar teien.) Jahre warten, noch ein bißchen warten, bis die Ge- Ich bin ganz sicher, daß die Regierungskoalition legenheit günstiger sei — — allein für den deutsch-sowjetischen Vertrag aus- (Abg. Lemmrich: Was ist denn eine Norma reicht. Wir brauchen Ihre Mahnung nicht, daß wir lisierung? — Weitere Zurufe von der uns unsere Mehrheit selbst suchen müssen. CDU/CSU: Wo haben Sie das her? — Das (Beifall bei den Regierungsparteien.) sind doch die Pappkameraden!) Allerdings wäre ich betroffen wenn ich das hin- — Lassen Sie mich den Satz zu Ende führen! Wer zufügen darf —, wenn die CDU/CSU verkennen meint, man müsse noch ein paar Jahre warten — so sollte, daß der deutsch-polnische Vertrag, der kaum habe ich Sie alle doch verstehen müssen sicherheitspolitische, nicht nur außenpolitische (Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. Dr. Aspekte hat, vielmehr einer moralischen Notwen- Apel: Genauso war es! „Liegenlassen", digkeit entspringt. würde Herr Barzel sagen! — Abg. Wehner: (Beifall bei den Regierungsparteien.) Faulen lassen!)

Herr Kollege Schröder und die Opposition insge- — Der Führer der Opposition hat gesagt, man solle samt haben die Hoffnung ins Feld geführt: Wenn die Verträge liegenlassen. Was bedeutet das denn man länger gewartet hätte, wären bessere Verträge anderes als Warten? möglich geworden. Niemand hat dargetan, wie das (Lebhafter Beifall bei den Regierungs hätte gehen sollen. Dr. Schröder hat das Stichwort parteien.) China genannt, es ist auch bei Herrn Strauß wie- der vorgekommen, aber ein richtiger Kommentar Ich will Ihnen dazu drittens nur sagen: Je länger war dazu nicht zu vernehmen. Wenn man das von man wartete, desto tiefer würde für manche — für der Opposition in Ausführlichkeit hätte kommen- manche sogar um so selbstverständlicher — die Tat- tieren sollen, Herr Dr. Barzel, dann hätte die in den sache der Spaltung. letzten Tagen von der Opposition öffentlich aus- (Beifall bei den Regierungsparteien. — gesprochene Hoffnung auf eine bedeutende Zu- Abg. Wehner: Sehr wahr! — Abg. Dr. Wör nahme des sowjetischen-chinesischen Konflikts hier ner meldet sich zu einer Zwischenfrage.) ausgesprochen werden müssen. Das haben Sie vor- sichtigerweise vermieden. Herr Strauß hat sogar so — Bitte nicht, Herr Wörner! getan, als ob das -- — Nun muß ich doch noch einmal eine Fußnote ma- (Abg. Kiep: Wo ist denn das ausgesprochen chen zu der Bundesratsrede vom Herrn Ministerprä- worden?) sidenten F i l b i n g e r. Herr Dr. Schröder hatte --- Ja, ja, Sie haben es eben nicht ausgesprochen! gerade rechtzeitig in seinem „Zeit"-Artikel vom Sie haben sehr versteckt und doch sehr deutlich 4. Februar den CDU-Ministerpräsidenten für die argumentiert. Bundesratssitzung am 9. Februar die vertretbaren Argumente der Opposition gegeben. Ministerpräsi- (Beifall bei den Regierungsparteien. — dent Kohl ist bei der Wiedergabe ein bißchen wei- Abg. Wehner: Sehr wahr!) tergegangen als der Kollege Schröder. Aber Herr Ich möchte dazu drei Sätze sagen. Niemand kann Ministerpräsident Filbinger hat Sie, Herr Kollege von einem den Frieden bedrohenden Konflikt zwi- Schröder, offensichtlich nur teilweise verstanden. schen den beiden kommunistischen Weltmächten (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.) einen Vorteil erwarten. Im Gegenteil! Ich denke dabei gar nicht an Herrn Filbingers er- (Lebhafter, langanhaltender Beifall bei den staunliche Formulierung, die Sowjetubnion habe zu Regierungsparteien. — Abg. Rawe: Genau Lasten der NATO in letzter Zeit ihr Militärpotential das hat Strauß gesagt! — Weitere Zurufe erhöht, sondern ich denke an den in klarem Gegen- von der CDU/CSU. — Abg. Rösing: Wer satz zu Ihren Ausführungen von gestern abend, hat denn so etwas behauptet? — Abg. Dr. Herr Kollege Schröder — und im klaren Gegensatz Stark [Nürtingen] : Unterstellungen!) auch, wie ich denke, zu Herrn Barzel — gesproche- Im Gegenteil: Dieses Risiko für die ganze Welt nen Satz — er steht im Protokoll des Bundesrats —: wäre unabsehbar! Die Alternative zur Ostpolitik der Bundesregierung bestehe nicht im Abwarten. Worin sie aber nun (Abg. Lemmrich: Das wissen wir doch allein!) wirklich bestehen sollte, das hat naturgemäß der Zweiter Punkt: Wer der Sowjetunion sagt, er Ministerpräsident von Baden-Württemberg nicht zu werde erst dann mit ihr verhandeln, wenn sie von sagen gewußt. dritter Seite unter stärkerem Druck stehe, verkennt (Heiterkeit bei den Regierungsparteien.) 9928 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Bundesminister S chmidt Aber auch die Opposition insgesamt hat in diesen notwendigen Beitrag leisten. Entspannung macht beiden Tagen eine Alternative zur Sache vollständig Verteidigung und Soldaten nicht überflüssig, son- vermissen lassen. dern sie setzt sie voraus. (Lebhafter Beifall bei den Regierungs (Beifall bei den Regierungsparteien.)- parteien.) In diesem Zusammenhang hat der Oppositions- Herr Kollege Strauß kann ja wohl seinen einseitigen führer bezweifelt, daß wir diese Notwendigkeit, Vertragsentwurf nicht ernst gemeint haben als Al- von der ich eben sprach, überhaupt noch aussprä- ternative. chen. Herr Dr. Barzel, Sie haben unrecht. Ich brauche (Beifall bei den Regierungsparteien.) Sie z. B. nur auf das Weißbuch des Jahres 1931/72 Er müßte uns denn sagen, wann und mit wem er „Zur Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und diesen Vertrag aushandeln wollte. zur Entwicklung der Bundeswehr" hinzuweisen, in dem Sie — in zigtausendfacher Auflage — die fol- Natürlich, Herr Strauß, sind die Verträge und das genden Sätze finden: Berlin-Abkommen keine idealen Dokumente. Es wäre töricht, Entspannung zu wollen und zu- (Zuruf von der CDU/CSU: Das kann man gleich den militärischen Schutz der eigenen Exi- wohl sagen!) stenz zu vernachlässigen. Darum ist das Gleich- Sie sind ein Kompromiß. Man mag mit Recht an der gewichtsprinzip auch künftig oberster Leitsatz einen oder anderen Stelle etwas mehr oder etwas der Sicherheitspolitik. Es bestimmt unsere An- anderes wünschen. Aber jedermann kann ganz si- strengungen und die unserer Verbündeten, eine cher sein: In umgekehrter Weise empfindet Herr ausreichende eigene Stärke aufrechtzuerhalten, Honecker das mindestens ebenso. zumal die Sowjetunion und deren Verbündete ihren Militärapparat weiter vergrößern. (Beifall bei der SPD. — Abg. Lemmrich: Deswegen begrüßt er das ja auch immer Ich will Ihnen das restliche Zitat ersparen. Sie haben so!) wirklich unrecht, wenn Sie den Eindruck verbreiten, diese Bundesregierung wisse nicht, daß ihre Ost- Wir Deutsche müssen wissen: Wer den Frieden mit politik das Fundament der gemeinsamen Sicherheit seinen Nachbarn will, der muß zum Kompromiß im Westen braucht. bereit sein. (Lebhafter Beifall bei den Regierungs Was die nähere Zukunft angeht, so erscheint mir parteien.) wichtig, daß Zusammenarbeit, daß mehr Zusammen- arbeit in Europa nur möglich ist, wenn der Zusam- Eine letzte Bemerkung zu Ihnen, verehrter Kol- menhang zwischen der erwünschten Zusammenarbeit lege Schröder. Ich denke, es ist dankenswert, daß und der Sicherheit ebenso wie mit dem gegenseiti- Sie gestern die Bindung der Bundesregierung an die gen Vertrauen klar gesehen wird. Das Projekt einer Verfassungsmäßigkeit der von ihr ausgehandelten Konferenz über die Sicherheit und Zusammenarbeit Verträge ausdrücklich betont haben, nachdem aus in Europa wird eine wichtige Rolle spielen. Eine anderer Himmelsrichtung auch schon ganz andere Konferenz über die Sicherheit und die Zusammen- Töne hörbar geworden waren. arbeit ist sinnvoll, wenn auf ihr wirklich über das Zum Abschluß möchte ich ein paar Worte über verhandelt wird, was der Name dieser Konferenz die vor uns liegende Zeit sagen. Niemand kann aussagt und anspricht. Das notwendige Vertrauen heute sagen, wie sich die Entspannungspolitik in kann nur dann zustande kommen, wenn zwischen allen ihren Einzelheiten demnächst weiterentwickelt. Ost und West eine einvernehmliche Verständigung Entscheidend ist, daß wir Deutsche uns an den Vor- über die Lage in Europa erreicht und gemeinsame aussetzungen für eine realistische und mit Gelassen- Prinzipien verabredet und vereinbart werden, auf heit verfolgte Entspannungspolitik orientieren. Die denen die europäische Sicherheit beruhen soll. Des- erste Voraussetzung ist, daß unsere innere demo- halb wird sich eine solche Konferenz, die durch das kratische Ordnung in der Bundesrepublik festgefügt Inkrafttreten der Verträge und durch das Inkraft- bleibt, damit wir als außenpolitischer Partner Ge- treten des Viermächteabkommens möglich wird, wicht behalten. auch mit den politischen Grundprinzipien von Trup- penverminderungen beschäftigen müssen. Erst eine (Beifall bei den Regierungsparteien und Ab solche Verständigung wird es möglich machen, all- geordneten der CDU/CSU.) gemeine politische Regeln für die Zusammenarbeit Die zweite Voraussetzung ist, daß unsere Außen- zwischen West- und Osteuropa zu entwickeln. politik und unsere Sicherheitspolitik so wie bisher mit Washington, mit Paris, mit London, mit all un- Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen. seren Verbündeten abgestimmt wird und abgestimmt Im Kern unserer Friedens- und damit unserer Sicher- bleibt. heitspolitik stehen das Streben nach Gleichgewicht (Beifall bei den Regierungsparteien.) und das Streben nach Beseitigung von Konflikt- und Krisenherden. Die dritte Voraussetzung ist, daß die Allianz weiterhin gemeinsam die Sicherheit Europas, die (Beifall bei den Regierungsparteien.) Sicherheit der Bundesrepublik, die Sicherheit West- Ich sage Ihnen, der deutsch-sowjetische Vertrag und Berlins gewährleistet und daß das Kräftegleichge- auch der deutsch-polnische Vertrag verändern in wicht in Europa aufrechterhalten bleibt. Das gelingt keiner Weise die politische, die rechtliche, die nur, wenn wir auf unserer Seite dazu wie bisher den militärische oder gar die wirtschaftspolitische Grund- Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9929 Bundesminister Schmidt lage unserer Sicherheit. Aber diese Verträge besei- zu arbeiten, in der ein Atomkrieg nicht einmal tigen Unsicherheit und Verdächte, sie verringern die denkbar, viel weniger möglich gewesen wäre. Gefahr von Krisen. (Beifall bei den Regierungsparteien. — An - (Lebhafter Beifall bei den Regierungs haltende Unruhe bei der CDU/CSU.) parteien. — Unruhe bei der CDU/CSU. — Wortmeldung des Abg. Dr. Barzel.) Was aber wirklich bei Bismarck steht — ich sage das ohne jede Wertung, weil man jeden Staatsmann aus seiner Zeit heraus zu verstehen und als ge- Herr Bundes- Vizepräsident Frau Funcke: schichtliche Tatsache hinzunehmen hat —, das minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des möchte ich Ihnen jetzt noch einmal im Original vor- Herrn Abgeordneten Barzel? tragen, damit man klar sieht, auf welchen Zitaten hier politische Positionen aufgebaut worden sind, Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Positionen, die im Grunde nicht mehr rational dar- Nein; danke, nein. — Das Viermächteabkommen gelegt werden und begründet werden können. über Berlin wird aus dem bisherigen Krisenherd Ber- (Beifall bei den Regierungsparteien.) lin einen sicheren Ort machen. (Lebhafter Beifall bei der SPD. — Zurufe Unter dem Stichwort „Frieden" steht dort tatsäch- von der CDU/CSU.) lich — ich zitiere —: Unser Interesse ist, den Frieden zu erhalten, Ich bitte Sie, sich in den Vereinigten Staaten von während unsere kontinentalen Nachbarn ohne Amerika und in Washington davon zu überzeugen, Ausnahme Wünsche haben, geheime oder amt- was für eine Erleichterung das auch für unsere Bündnispartner ist. lich bekannte, die nur durch Krieg zu erfüllen sind. Dementsprechend müssen wir unsere Po- (Beifall bei den Regierungsparteien.) litik einrichten, d. h. den Krieg nach Möglich- Unsere Vertragspolitik ist organischer Bestandteil keit hindern oder einschränken, uns im euro- der sicherheitspolitischen Konzeption des gesamten päischen Kartenspiel die Hinterhand wahren westlichen Bündnisses. Die Verträge dienen unserer und uns durch keine Ungeduld, keine Gefällig- Sicherheit und der Sicherheit unserer Nachbarn; sie keit auf Kosten des Landes, keine Eitelkeit entspringen unserem festen Willen zu guter Nach- oder befreundete Provokation vor der Zeit aus barschaft und zum Frieden. Ohne beide Verträge, dem abwartenden Stadium in das handelnde ohne das Viermächteabkommen über Berlin, das als drängen lassen. ihre erste und existentiell wichtige Frucht zur De- Das ist das Zitat. Nun geht es unter dem Stichwort batte dazugehört, ohne dieses Vertragswerk wer- „Erhaltung des Friedens" weiter, Herr Strauß. den die Interessen der Deutschen schweren Schaden (Anhaltende Unruhe bei der CDU/CSU.) nehmen. Mit diesen Verträgen — dieser Überzeu- gung ist mit uns die große Mehrheit unseres Vol- — Ich sehe ein, daß es sehr schwierig ist, diese Er- kes — dienen wir dem Frieden. regung zu dämpfen. (Lebhafter, langanhaltender Beifall bei den Regierungsparteien. — Abg. Dr. Apel: Vizepräsident Frau Funcke: Ich bitte Platz zu Bravo! Bravo! — Wortmeldung des Abg. nehmen. Dr. Barzel.)

Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen: Aber ich werde Parlamentarische Staatssekretär Moersch. diese Darlegung machen, weil ich es für notwendig (Lebhafte Zurufe von der CDU/CSU. — halte, auch die Zuhörer von den Realitäten zu unter- Abg. Haase [Kassel]: Unglaublich! — Ab- richten, um die es sich heute hier handelt, und nicht geordnete der CDU/CSU verlassen den von den Visionen. Saal. -- Anhaltende Unruhe in der Mitte.) (Beifall bei den Regierungsparteien.)

Ich darf dem Historiker Strauß sagen, wie es bei Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bismarck heißt: Bundesminster des Auswärtigen: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Strauß hat Das Ziel dieser Gesamtpolitik ist vorläufig die bei seiner langen Darlegung geschichtlicher und Erhaltung des Friedens, wenigstens bis zu dem weltpolitischer Zusammenhänge einen Hinweis auf Seiner Majestät bekannten Zeitpunkte, wo wir Bismarck gebracht, der der Ergänzung bedarf. Er hat unsere Vorbereitungen in Gewehr und Munition erklärt: Man darf nicht vor der Zeit handeln. Herr zum Abschluß gebracht haben werden, womög- Strauß, ich nehme an, daß Sie den ganzen Zusam- lich sogar bis zu dem Zeitpunkt, wo Englands menhang des Zitats gekannt haben. Ich möchte, be- jetzige relative Wehrlosigkeit aufgehört haben vor ich ihn hier vortrage, noch einmal klarlegen, und auf Englands Mitwirkung bei eintretenden daß es wohl nicht zulässig ist, und zwar in Ihrem Krisen mehr als bisher zu rechnen sein wird ... eigenen Interesse, Herr Strauß, nicht zulässig sein Meine Damen und Herren, das hat Bismarck in kann, mit Zitaten über den Frieden aus einer Zeit diesem Zusammenhang gesagt, und ich frage mich 9930 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Parlamentarischer Staatssekretär Moersch wirklich, wer eigentlich heute Politik von 1972 mit Sicherheit gewinnt man nicht durch solche frommen (I Zitaten von 1868 begründen will. Sprüche, sondern durch eine vernünftige Politik. (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Erneuter Beifall bei den Regierungspar- teien. — Zurufe von der CDU/CSU.) Wir haben die Aufgabe, Bismarck gegen Franz Josef Strauß in Schutz zu nehmen. Daß sich gerade in dieser Zeit damals die Krisen verschärft haben, nicht zuletzt in und um Berlin, muß (Heiterkeit und Beifall bei den man, glaube ich, mit in Betracht ziehen, wenn man Regierungsparteien.) dem deutschen Volk heute empfehlen will, eine Aber lassen Sie mich noch zu den Fragen, die Politik des Abwartens zu machen oder auf Politik hier gestellt worden sind, einige Anmerkungen ma- zu verzichten. chen. Die Debatte hat jedenfalls deutlich gemacht, (Beifall bei den Regierungsparteien.) daß es der Opposition möglich ist, eine Vielzahl von Argumenten gegen diese Verträge und gegen die Von der Gesinnung, die aus diesen Reden ge- Politik dieser Bundesregierung ins Feld zu führen. sprochen hat, unterscheidet sich in der Tat das, was Aber die einzelnen Sprecher der Opposition heben Herr Dr. Schröder hier vorgetragen hat. sich mit ihren Argumenten gegenseitig in ihrer Wir- (Unruhe bei der CDU/CSU.) kung auf. (Beifall bei den Regierungsparteien.) ---- Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie können Störungsversuche machen, solange Sie Gerade nach der Rede von Herrn Strauß und übri- wollen; ich stehe hier am Lautsprecher und kann in gens auch nach der Rede von Herrn Stücklen und jedem Fall lauter sprechen. Herrn Marx muß man wohl ein ganz ernstes Wort (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu über das Politikverständnis sagen, das hinter diesen rufe von der CDU/CSU.) Reden steht. Ich glaube, daß man das — gerade we- gen der Lautstärke ist es sehr bemerkenswert gewe- Ich möchte ein paar Worte zu der Position von sen — in der Feststellung zusammenfassen kann, Dr. Schröder sagen. daß eigentlich Politik für Deutsche eine höchst ge- fährliche Sache ist, und das bedeutet im Grunde das (Abg. Rawe: Wir machen es doch nicht so Angebot, künftig auf deutsche Politik überhaupt zu wie die SPD!) verzichten. Herr Dr. Schröder hat im Gegensatz zu den Spre- (Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind ein chern der CSU in seiner bemerkenswerten Rede ein Witzbold! — Weitere Zurufe von der CDU/ erfolgreiches politisches Agieren durchaus für mög- CSU.) lich gehalten. Das unterscheidet ihn wesentlich von Hinter den aggressiven Wendungen, die hier ge- seinen Kollegen. Ich werde nachher bei einem an- braucht worden sind, hinter dieser Verwechslung deren Punkt dem noch etwas hinzufügen müssen, von Demokratie und Antikommunismus, die sehr was der Kollege Schmidt soeben schon unter Hin- oft erfolgt ist und sich wie ein roter Faden durch weis auf die Rede von Herrn Dr. Schröder im Jahre diese Reden gezogen hat, 1965 zur DDR gesagt hat. (Beifall bei den Regierungsparteien) Aber ich glaube, es gibt einen weiteren Punkt, der die Szenerie erhellt und uns klargemacht hat, warum hinter all dem steckt etwas ganz anderes, nämlich es so schwer ist, eine gemeinsame Sprache und eine ein Stück abendländischer Fatalismus, gemeinsame Argumentation mit den leitenden Her- (erneuter Beifall bei den Regierungsparteien) ren der Opposition zu finden. Dieser Punkt ist mei- ner Ansicht nach in einer Zwischenfrage von Herrn und dieser abendländische Fatalismus soll durch Kollegen Dr. Kiesinger gestern deutlich geworden. aggressive Redewendungen überdeckt werden. Hier Der Kollege Kiesinger hat nämlich in einer Zwi- gilt der Satz, daß man darauf vertraut, daß sich die schenfrage an den Bundeskanzler ein Verständnis Ängstlichen um den Angstmacher scharen, daß aber von Außenpolitik und Demokratie entwickelt, das die Angstmacher selber laut reden, weil sie eben im nachhinein manches Zaudern während der Zeit ihrer Sache nicht sicher sind. Das ist wohl der erklärt, in der er selbst Bundeskanzler war. Er hat da- Kern des Problems. bei — deswegen muß ich das hier sagen eine An- (Beifall bei den Regierungsparteien.) sicht über wichtige westliche Verbündete verbreitet, die den Tatsachen eindeutig widerspricht. Er hat ge- In solchen Reden ist nichts anderes entwickelt wor- sagt, es sei im Westen doch wohl so, daß man einer den als das, was man aus der Vergangenheit kennt, bestimmten Politik von Regierungsseite heute zu- nämlich ein für die Freiheit verhängnisvolles stimmen müsse oder auch zustimmen wolle und Maginot-Denken. Dieses Maginot-Denken hat sich in werde, weil gewisse Volksstimmungen das nun ein- diesem Lande einmal in dem Spruch niedergeschla- mal erforderten. Das heißt doch mit anderen Worten, gen: „Keine Experimente!" Meine Damen und Her- er bezichtigt die Regierungen unserer Verbündeten, ren, es war das größte Experiment, das für das sie handelten sozusagen wider die Interessen des deutsche Volk je unternommen worden ist, diese gesamten Westens, weil sie bestimmten Leuten in Gesinnung zu produzieren. ihren Parlamenten, die die Volksstimmung verkör- (Beifall bei den Regierungsparteien.) pern, in unzulässiger Weise nachgäben. Das ist ein Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9931

Parlamentarischer Staatssekretär Moersch schwerer Vorwurf gegen unsere Verbündeten, der dieser Staaten, mit denen wir bessere Beziehungen in dieser Darlegung des Kollegen Kiesinger steckt. haben wollten, es nicht zulassen würden, das Pro- blem DDR einfach auszuklammern. Zwei Jahre spä- (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu- ter haben Sie in Ihrer Rede 'in Düsseldorf auch die- rufe von der CDU/CSU.) sen Hinweis, meiner Ansicht nach in einer sehr Er ist deswegen so schwerwiegend, weil er über- realistischen Weise, allerdings in einer Formulie- haupt nicht stimmt, denn das genaue Gegenteil ist rung, die nicht ohne weiteres für alle verständlich richtig. Der amerikanische Präsident hat gegen eine war — das sollte sie wohl damals auch nicht —, wie- weitverbreitete Volksstimmung die Präsenz der deraufgenommen. Diese Politik haben Sie aber amerikanischen Truppen in Europa jahrelang bestä- nachher nicht mehr durchsetzen können. Ich wun- tigt und gegen heftigste Attacken in seinem eigenen dere mich heute, daß Sie in Ihrer Rede von dieser Kongreß durchgehalten. Dafür müssen wir ihm dan- Position, die sich schon 1965 angedeutet hatte, näm- ken, und wir sollten ihn nicht unfair angreifen. lich von einer realistischen Einstellung zur Tatsache (Beifall bei den Regierungsparteien.) des Bestehens der DDR, wieder abgegangen sind. Das scheint mir eine Art Rückmarsch und nicht eine Zweiter Punkt. Premierminister Heath hat einer Vorwärtsentwicklung zu sein. zweifellos weitverbreiteten Volksstimmung nicht nachgegeben, sondern er hat das getan, was den Aber es ist noch ein anderer Punkt dabei — des- außenpolitischen Interessen Großbritanniens ent- wegen muß man das erwähnen —, der zu dieser sprach: er hat den Beitritt Großbritanniens zur Euro- veränderten Stellung der DDR gerade in diesen päischen Gemeinschaft gegen die anfängliche Volks- Jahren geführt hat, in denen Sie, Herr Dr. Schröder, stimmung durchgesetzt, und dafür sind wir ihm zu Außenminister waren. Das ist der Punkt, der von Dank verpflichtet. Ihren Freunden nach Al-fresco-Art mit dem Stich- (Beifall bei den Regierungsparteien.) wort „Fernostpolitik" umschrieben wird. Was ist denn wirklich an Einflüssen aus diesem Bereich auf Meine Damen und Herren, ich hatte 1966/67 die die deutsche Politik wirksam geworden? Doch fest- Hoffnung, daß es mit der Gründung der Großen stellbar nur eines: In dem ideologischen Wettbe- Koalition möglich sein werde, etwas konsequent werb und Streit zwischen der Sowjetunion und der durchzuführen, was sich außenpolitisch mit dem Volksrepublik China um die Führungsposition in Jahre 1961 angebahnt hatte; denn 1961 hatte die der kommunistischen Welt hat der Stellenwert der Koalition von CDU und FDP bei der Regierungs- damals sehr umworbenen DDR erheblich zugenom- bildung durch die Berufung von Dr. Schröder zum men, und die Chance, man könne sozusagen ohne Außenminister den ersten Schritt zu einer aktiven die DDR in einem Gespräch und in Verhandlungen Ostpolitik getan. Das ist ihr Verdienst, und das mit Moskau ganz bestimmte bilaterale Probleme kann gar nicht geschmälert werden. und deutsche Probleme lösen oder ihre Lösung in (Abg. Stücklen: Das „Verdienst" der FDP!) die Wege leiten, ist gerade wegen des ideologischen Konflikts oder des Wettbewerbs zwischen diesen - Herr Stücklen, ich würde Ihnen empfehlen: wenn beiden Führungsmächten dort immer geringer ge- Sie Zwischenrufe machen, sollten Sie das etwas geistvoller tun. Dann könnte man besser darauf ant- worden. Das ist die wirkliche Beziehung der China- politik zur deutschen Politik, eine ganz andere Be- worten. ziehung, als sie hier an Stammtischen meistens dar- (Beifall bei den Regierungsparteien. — geboten wird. Abg. Wehner: Sie können doch nicht alles zur gleichen Zeit haben, Herr Moersch! (Beifall bei den Regierungsparteien.) Stimulans und geistreich, nein!) Ich möchte hinzufügen, daß es gerade nach der — Das ist auch wieder wahr. tschechischen Krise in allen Lagern die Frage ge- Ich komme gleich noch auf ein Thema, das Sie geben hat, ob man diese Politik der Öffnung nach alle in diesem Zusammenhang heute sehr bewegt Osten fortsetzen könne und weiter den Versuch hat, auf China. Wir sind doch alle Irrtümern unter- machen könne, einen Ausgleich zu schaffen. Die legen gewesen, was unsere Möglichkeiten in der Frage ist hier im Bundestag damals von den jetzigen Ostpolitik betrifft. Ich erinnere mich sehr wohl — Koalitionspartnern, wie Sie wissen, verschieden Herr Dr. Schröder, Sie werden sich vielleicht auch beantwortet worden. Aber im Gegensatz zur CDU daran erinnern , daß wir etwa vor neun Jahren haben die Sozialdemokraten daraus relativ rasch die in einer Sitzung der FDP-Fraktion ein Gespräch hat- Lehre gezogen, daß es sich bei der Beurteilung im ten, an dem sich auch mein Freund Schollwer und Jahre 1968, was die künftige Ostpolitik und das Thomas Dehler beteiligt haben und in dem Sie Ihre Verhältnis zur DDR betrifft, um eine Fehlbeurtei- Politik zur Gründung der Handelsmission darleg- lung gehandelt hat. Deshalb hat diese Bundesregie- ten. Nach langen Diskussionen haben wir Ihnen ent- rung Brandt-Scheel in ihrer Regierungserklärung gegnet, wir fürchteten, daß diese Politik nicht kon- von den beiden Staaten in Deutschland gesprochen, sequent genug betrieben sei oder betrieben werden um deutlich zu machen, daß diese Fehleinschätzung könne, weil in Ihrem Konzept der Faktor DDR ge- der Lage den deutschen Interessen auf die Dauer fehlt hat. Ich bestreite nicht, daß es damals dafür keineswegs dienen kann, sondern für die Menschen Überlegungen gab, diesen Faktor DDR auszulassen. in Deutschland insgesamt nur Schaden anrichten Aber eines haben wir Ihnen damals schon gesagt: kann. daß aller Wahrscheinlichkeit nach die Interessen (Beifall bei den Regierungsparteien.) 9932 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Parlamentarischer Staatssekretär Moersch Herr Dr. Schröder, wenn man von der Kontinuität kommt, das sei eine alte FDP-Platte, dann muß der Deutschlandpolitik in der Bundesrepublik ich sagen — — Deutschland spricht, dann muß ich Sie als Sprecher (Zurufe von der CDU/CSU: Das wurde nicht der CDU in diesem Zusammenhang fragen, welche gesagt! — Ein Altliberaler! — Weitere- Zu Kontinuität Sie selbst für die CDU dabei im Auge rufe von der Mitte.) hatten. Hatten Sie die Kontinuität der Politik Kon- rad Adenauers Anfang der 50er Jahre oder die Kon- — Wissen Sie, wir kennen es sehr wohl von Ihnen, tinuität der Politik Jakob Kaisers im Auge? Das ist daß tote Liberale für Sie gute Liberale sind. Als ja wohl ein bedeutender Unterschied gewesen. Oder Reinhold Maier noch lebte, haben Ihre Freunde ihn ist etwa das gemeint gewesen — auch das muß an einen Linksextremisten in diesem Land genannt, dieser Stelle gesagt werden — was Heinrich von Herr Dr. Jenninger; das will ich Ihnen hier mal Brentano, übrigens zusammen mit meinem Freund sagen. Thomas Dehler, im Jahre 1955 bei der Aufnahme (Beifall bei den Regierungsparteien.) diplomatischer Beziehungen in Moskau zum Aus- Diese Überlegungen sind heute so neu und so gut druck gebracht hat? Er war — und Professor Schmid und so beherzigenswert wie damals. Aber sie haben mag es uns hier als Zeuge noch einmal deutlich ja, wie gesagt, überhaupt keine Wirkung auf be- machen — sehr skeptisch, ob die Aufnahme diplo- stimmte Mitglieder der Opposition gehabt, wie matischer Beziehungen und der Briefwechsel mit wir in diesen beiden Tagen gehört haben. Bulganin darüber nicht am Ende die Zementierung Denn Pfleiderer hat damals gesagt — ich muß es eines Zustandes bedeuteten, den man ja gerade mit dieser Politik überwinden wollte. Er hat jedenfalls hier einmal zitieren —: lange davor gewarnt, weil er sagte: Man sollte nicht Wer im Prozeß der westöstlichen Auseinander- ohne eine eindeutige Festlegung über die Verwirk- setzung jenseits des guten oder bösen Willens lichung des Selbstbestimmungsrechts für die Deut- und jenseits der Beweggründe des politischen schen diese Beziehungen aufnehmen, sondern lieber Tuns ein Sicherheitsbedürfnis nicht auch der das Risiko in Kauf nehmen, diese Kriegsgefangenen Sowjetunion anerkennt, weicht der Wirklich- jetzt in Moskau nicht zu bekommen. So Heinrich keit aus und wird zu keinem Erfolg gelangen. von Brentano und so Thomas Dehler in Moskau in Für das sowjetische Sicherheitsbedürfnis ist die langen, schwierigen und schrecklichen Gesprächen Haltung Deutschlands von ausschlaggebender für die Betroffenen; denn diese Alternative ist eine Bedeutung. Das sowjetische Sicherheitsbedürf- ungeheuerliche Alternative für alle Beteiligten ge- nis ist somit ein Aktivposten in der deutschen wesen. Politik. Ich wünschte, Herr Strauß hätte das jemals in Schließlich hat sich unter dem Eindruck dieser seinem Leben verstanden, was das hier heißt und menschlichen Probleme das scharfe politische Kalkül was Pfleiderer schon vor 20 Jahren gesagt hat. eines nicht durchsetzen kön- nen. Er selbst hat nachgegeben wie alle anderen. (Beifall bei den Regierungsparteien. — Zu Dafür gibt es verständliche Gründe; das darf also ruf des Abg. Stücklen und weitere Zurufe kein Vorwurf sein. Aber es zeigt doch, daß die Mit- von der CDU/CSU.) glieder der CDU, die heute von der Kontinuität die- Meine Damen und Herren, Dr. -Schröder hat ser Deutschlandpolitik sprechen, gebeten werden einen Satz gesagt, den ich hier zum Schluß noch ein- müssen, genau zu sagen, bei wem sie in dieser mal aufgreifen möchte. Er hat gesagt, man brauche Kontinuität heute anknüpfen wollen, welches ihre Mut, Festigkeit und Entschlossenheit für eine solche Ausgangspositionen sind und ob es nicht redlich ist, Politik. Das ist eine sehr zutreffende Umschreibung zu sagen, daß im Jahre 1955 schon etwas geschehen auch für das, was uns jetzt in der politischen Ent- ist, was mit diesen Verträgen heute beschrieben wicklung bevorsteht; denn diese Verträge sind ja wird, aber durch sie überhaupt nicht mehr hätte ge- am Ende noch nicht der Inhalt dieser Politik, son- ändert werden können. Das ist doch die Realität, dern sie sollen einen Ausgangspunkt für eine ver- vor der wir stehen. nünftige Politik, eine Politik der Entspannung und (Beifall bei den Regierungsparteien.) der Zusammenarbeit, darstellen. Wenn hier von dem Sprecher der CSU die unge- Ich will jetzt über die falschen Erwartungen für heurlichen Bedrohungen, die von einer Sicherheits- die deutsche Frage beim Abschluß der Westverträge konferenz in Europa ausgehen, an die Wand gemalt nichts weiter sagen. Das würde die Zeit sicherlich zu worden sind, dann ist das eigentlich nur durch sehr in Anspruch nehmen. Aber ich will doch noch zwei Dinge zu erklären, erstens durch eine all- einen Hinweis geben, der gerade für mich als Freien gemeine Nichtinformiertheit über die westliche Demokraten von großer Bedeutung ist. Der Hinweis Zusammenarbeit und ihr Funktionieren und die stellt eine Art Kontrast dar zu der Tonlage und dem Vorstellung des Westens, und zweitens dadurch, Inhalt dessen, was der Vorsitzende der CSU gesagt daß sich offensichtlich Herr Strauß nicht denken hat. Karl Georg Pfleiderer hat im Bundestag wieder- kann, daß die Bundesregierung und ihre Verbünde- holt, zuerst im Jahre 1952 davor gewarnt, die öst- ten sehr wohl diese Sicherheitskonferenz sorgfältig lichen Staaten, auch die kommunistisch regierten vorbereiten. Staaten, einfach zu ignorieren. Er hat vor dieser Fehleinschätzung der politischen Lage eines Landes Vizepräsident Frau Funcke: Herr Staatssekre- mitten in Europa gewarnt. Wenn hier der Zuruf tär, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9933

Moersch, Parlamentarischer Staatssekretär beim könne neue Kommandozentralen bilden. Wer den Bundesminister des Auswärtigen: Nein, ich möchte Wettbewerb mit Staaten und Ordnungen aufnimmt, das nicht tun, ich möchte das eben zu Ende bringen. die obrigkeitsstaatlich konstruiert sind, der wird Gestatten Sie das bitte! das mit obrigkeitsstaatlichen Methoden auf die- Dauer nicht erfolgreich tun können, der wird die Ich möchte hier ausdrücklich darauf hinweisen, daß Freiheit zur Richtschnur seines Handelns machen der Ablauf einer Sicherheitskonferenz ja nicht darin müssen. bestehen wird und auch nicht bestehen kann, daß hier der Westen sich an einen Verhandlungstisch (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar begibt und staunend zur Kenntnis nimmt, was die teien.) andere Seite sich ausgedacht hat, sondern daß selbst- verständlich bei einer solchen Konferenz der ge- Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der samte Westen und alle unsere befreundeten Staaten Abgeordnete Barzel. sorgfältig ihre Vorstellungen von europäischer Zusammenarbeit und Sicherheit vorher miteinander (Beifall bei der CDU/CSU. — Abg. Wehner: besprochen haben und daß sie das zum Thema und Aber das Fernsehen ist doch aus!) zum Vorschlag dieser Konferenz machen werden. Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder wird Dr. Barzel (CDU/CSU) : Herr Präsident! Meine diese Konferenz ein Ergebnis haben, das wir als Damen und meine Herren! Die Antwort auf ver- Kompromiß mit gutem Gewissen akzeptieren kön- schiedene Dinge des Tages wird sicher morgen im nen, oder sie wird kein Ergebnis haben — das wäre Laufe des Tages noch einmal auch für die Opposi- dann das Ende dieser Konferenz. Aber daß man sich tion möglich sein. Ich möchte gerne jetzt nur das schon deswegen, weil man offensichtlich den poli- Wenige sagen, wofür ich zwischendurch ums Wort tischen Kontrahenten für grundlegend überlegen gebeten hatte. hält — wie Herr Strauß es hier dargestellt hat —, überhaupt nicht an den Konferenztisch begibt, ist Zunächst, meine Damen und Herren, trotz allem, das — das sage ich noch einmal — Verzicht auf was anschließend zu sagen sein wird, freut sich, Politik, das ist abendländischer Fatalismus, auch glaube ich, das ganze Haus, daß der Kollege Helmut wenn er sich in starken Worten verbirgt. Schmidt wieder gesund ist und daß er eine solche Rede — (Beifall bei den Regierungsparteien.) (Allgemeiner Beifall.) Ich möchte nicht versäumen, darauf hinzuweisen, Es war sicherlich eine Rede, wie wir sie von ihm was hier noch einmal gesagt hat, kennen. Die letzte Rede gleicher temperamentvoller daß es darum geht, die Demokratie bei uns zu stär- Engagements, an die ich mich erinnere, die er hier ken, von dieser Stelle gehalten hat, ist einige Jahre her. (Zuruf von der CDU/CSU: Stärken Sie sie Er hat damals mit demselben Engagement und mit einmal!) derselben Gekonntheit, die ihm hier in diesem um diesem Wettbewerb, der jetzt beginnt und be- Hause keiner nachmacht, folgendes gesagt. ginnen wird, gewachsen zu sein. Das ist eine Frage (Zurufe.) des Selbstvertrauens und des Demokratieverständ- — Nein, das muß man doch anerkennen, meine Da- nisses in diesem Lande. men und meine Herren! (Abg. Wörner: Nein, des demokratischen (Beifall bei der SPD.) Handelns!) Er hat damals in der gleichen Form, die ich soeben Wenn ich aber dagegen sehe, wie in einem dieser hier mit Ihrer Billigung gelobt habe, eine Rede ge- Bundesländer heute geglaubt wird, daß man die halten mit dem gleichen Engagement, am 22. März Kommandogewalt des Staates oder der dortigen 1958, eine Rede, die er selber auch vor kurzem noch Staats- und Regierungspartei durch eine Verände- für so wichtig und bedeutend hielt, daß er sie in sei- rung des Rundfunkgesetzes stärken muß, dann aller- nem eigenen Buch auch herausgab. Damals hat er dings wird mir angst vor einem Wettbewerb, geredet anläßlich der Frage der atomaren Bewaff- (lebhafter Beifall bei den Regierungspar nung der Bundeswehr. Es ist 14 Jahre her. Er hat teien — Lachen und Widerspruch bei der da gesagt — ich zitiere mit Genehmigung der Frau CDU/CSU) Präsidentin —: den wir in Freiheit bestehen wollen, den wir in Wir sagen dem deutschen Volke in voller, ern- Freiheit bestehen können und bestehen müssen. ster Überzeugung, daß der Entschluß, die beiden Meine Damen und Herren, das, was sich jetzt an Teile unseres Vaterlandes mit atomaren Bom- Politik für die 70er und 80er Jahre entwickelt, er- ben gegeneinander zu bewaffnen, in der Ge- fordert in diesem Lande keine Antikommunisten, schichte einmal genauso schwerwiegend und sondern Demokraten, überzeugte, standhafte Demo- verhängnisvoll angesehen werden wird, wie es kraten. damals das Ermächtigungsgesetz für Hitler war. (Beifall bei den Regierungsparteien. — (Beifall bei der SPD.) Lachen und Zurufe bei der CDU/CSU.) — Meine Damen und Herren, worüber klatschen Wir brauchen keine Politiker, die Schwierigkeiten Sie denn jetzt? Haben Sie denn etwa seit dem Be dadurch ausweichen wollen, daß sie glauben, man schluß über die atomare Bewaffnung, gegen die Sie 9934 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 Dr. Barzel so zu Felde gezogen sind, das erlebt? War das ein Positionen, um die sie bisher gekämpft hat, nun mit „Ermächtigungsgesetz"? Hat das zu „Hitler" ge- deutscher Unterschrift bestätigt werden. Das ist die führt? Oder haben wir nicht 14 Jahre des Friedens militärpolitische Frage, auf die wir hier von Ihnen und der Demokratie erlebt? Verwaltet nicht dieser eine Antwort erwartet hätten; -- wir -haben sie Minister heute das, was er damals hier bekämpft leider nicht bekommen. hat? (Beifall bei der CDU/CSU.) (Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von der SPD. — Abg. Wehner: Eine Lachbombe!) Vizepräsident Frau Funcke: Das Wort hat der Bundesminister Schmidt. Von demselben ernsthaften Gehalt in der Sache ist das, was der Kollege Schmidt hier soeben gesagt Schmidt, Bundesminister der Verteidigung: Frau hat. Mit einer Ausnahme: Er hat eingeräumt — was Präsidentin, ich habe Ihnen versprochen, mit sehr der Bundeskanzler bestreitet —, daß die West- wenigen Sätzen auszukommen. Meine Damen und mächte sich gefreut haben, durch dieses Vertrags- Herren, daran muß ich mich also halten. werk „etwas losgeworden" zu sein. Also kann der Bundeskanzler nicht recht haben, wenn er sagt, die- Wenn der Oppositionsführer Herrn Honecker zum ses Vertragswerk gebe nichts weg. Kronzeugen für die Lagebeurteilung macht, möchte ich ihn daran erinnern, daß Herr Honecker z. B. die (Beifall bei der CDU/CSU.) CDU für eine kriegshetzerische Partei erklärt hat. Das ist hier bestätigt, und für dieses Wort, meine Das würde ich genausowenig wichtig nehmen. Damen und Herren, auf das wir morgen im einzel- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD. — Zu nen zurückkommen werden, danke ich. rufe von der CDU/CSU.) Dritter Punkt: Herr Kollege Schmidt, Sie haben Herr Honecker ist sicherlich nicht in einer einfachen in dem Zusammenhang von den USA und von Ber- Lage. lin gesprochen. Meine Damen und Herren, Sie soll- (Weitere Zurufe von der CDU/CSU. — Abg. ten hier doch einräumen — weil dies die Position Dr. Schulze-Vorberg: Beifall bei der SPD.) in Washington ist —, daß das Abkommen über -- Der Beifall bei der SPD, lieber Kollege Herr wie wir gestern sagten, aus der Sicht der Berlin, Schulze-Vorberg, war durchaus gerechtfertigt, weil USA eine Sache der Vier Mächte ist und daß da- es sich um eine sehr witzige Replik gehandelt hat. von getrennt separat — die Verträge zu sehen seien, über die hier abgestimmt wird. Das ist die (Heiterkeit und Beifall bei den Regierungs Position in Washington und keine andere. Sie wer- parteien.) den kein Dokument beibringen, das Ihnen das Ge- Aber ich möchte mich bei Ihnen, Herr Dr. Barzel, genteil sagt. für die liebenswürdigen Komplimente am Anfang bedanken. Außerdem habe ich natürlich Verständ- (Bundeskanzler Brandt: Dutzende Doku nis, daß Sie die Bilanz des heutigen Abends nach mente!) Herrn Strauß ein bißchen aufbessern wollten. Das sollte auch der Herr Bundesminister der Ver- (Heiterkeit bei der SPD.) teidigung hier nicht anbringen. Was Sie aus jenem Buch zitieren oder aus jener Vierter Punkt: Herr Kollege Schmidt, ich hätte es Rede, die ich natürlich habe wieder abdrucken las- begrüßt, wenn Sie bei dieser Debatte in einer solch sen, weil ich zu den Sachen stehe, die ich hier im langen Rede die „Lage der Nation" auch unter dem Bundestag gesagte habe, ist aus meiner heutigen verteidigungspolitischen Aspekt erörtert hätten. Ich Sicht für die damalige Situation absolut angemessen hätte es begrüßt, wenn Sie — vielleicht werden Sie und richtig gewesen. Vielleicht war das Wort vom Gelegenheit haben, das morgen noch zu tun — doch Ermächtigungsgesetz ein bißchen scharf. Nur, Sie etwas gesagt hätten zu einer Frage, die uns bewegt übersehen bei Ihrer Replik, Herr Barzel, daß wir und die wir aufgeworfen haben, nämlich zu der Er- nach dem Jahre 1958 tatsächlich nicht nuklear be klärung von Herrn Honecker, aus der ich -- der waffnet worden sind. Zeit wegen — nur einen Satz zitiere: (Lebhafter Beifall bei den Regierungspar Der Frieden ist also sicherer geworden, weil teien. -- Anhaltende Zurufe von der CDU/ der Sozialismus an Stärke gewonnen hat. Mit CSU.) einem Wort: Das internationale Kräfteverhält- Ich habe nun jene Rede nicht vor mir liegen. Ich nis hat sich weiter zu unseren Gunsten verän- kann nicht aus dem Gedächtnis sagen, in welchem dert. Zusammenhang das alles steht, was Herr Barzel So der Satz von Honecker. zitiert hat. Aber ich erinnere eines gewiß. Der Schluß dieser Rede, Herr Barzel, lautete: Legen Sie (Lachen bei der SPD. -- Zuruf von der SPD: endlich ihren deutschnationalen Größenwahn ab. Was er Honecker alles glaubt!) (Lebhafter Beifall bei den Regierungsparteien.) Zu dieser Behauptung, Herr Kollege Schmidt, die doch hier eine Rolle spielt, hätten Sie das Wort nehmen sollen. Sie hätten dartun sollen, wie sich Vizepräsident Frau Funcke: Darf ich fragen, dieser Vertrag im militärischen Kräftegewicht aus- ob es kurz ist? --- Dann will ich Ihnen noch das wirkt, welche Kraft dieses Vertragswerk im politi- Wort geben. schen Bereich für die Sowjetunion frei macht, weil Das Wort hat Herr Wörner. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9935

Dr. Wörner (CDU/CSU) : Frau Präsidentin! Meine spannung in Deutschland wirklich sein kann und sehr verehrten Damen und Herren! Mit aller wort- sein wird. reichen Erklärung, Herr Bundesverteidigungsmini- (Sehr wahr! bei der CDU/CSU.) ster, räumen Sie eine grundlegende Tatsache nicht Wenn dieser Mann Ihnen sagt: Unser Feindbild- aus: daß Sie die Position, die Sie jetzt selber zur stimmt, und wenn dieser Mann in der gleichen Rede Grundlage Ihrer Politik erklären, die Einbettung jeden Versuch einer Annäherung scharf zurück- der Bundesrepublik Deutschland in das westliche weist, dann begründet das unsere Zweifel, die Sie Bündnis und die militärischen Akte, die daraus folg- heute wegzuwischen versuchten, ob Ihre Politik zu ten und die standen 1958 zur Diskussion —, ab- mehr Freiheit und mehr Menschlichkeit in Deutsch- gelehnt haben und damit in Gegensatz zu Ihrer jet- land führt, weil es dieser Machthaber eben nicht zigen Erklärung stehen. will. (Beifall bei der CDU/CSU. — Zurufe von (Beifall bei der CDU/CSU.) der SPD.) Meine Damen Das zweite die Zeit verbietet mir, näher darauf Vizepräsident Frau Funcke: und Herren, wir stehen für heute am Ende. Ich be- einzugehen —: rufe das Haus für morgen, Freitag, 9.00 Uhr, zur (Abg. Wehner: Sehr gut!) Fortsetzung der Beratung ein. Sie haben sich über das Zitat Honeckers lustig ge Die Sitzung ist geschlossen. macht. Nur, eines haben Sie dabei unterschlagen: daß eben jener Mann darüber befindet, was Ent (Schluß der Sitzung: 20.16 Uhr.)

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Anlagen zum Stenographischen Bericht

Anlage 1 zusätzliche Mittel in erheblichem Ausmaß (ca. 2,5 Mio DM) zur Verfügung gestellt werden. Diese zu- Liste der beurlaubten Abgeordneten sätzliche Förderung wird 1972 fortgesetzt und findet auch in der Finanzplanung Berücksichtigung. Abgeordnete(r) beurlaubt bis einschließlich Bals *** 25. 2. Bredl 4. 3. Dasch 3.3. Anlage 3 Dr. Dittrich 25. 2. Schriftliche Antwort Draeger *** 25. 2. Freiherr von und zu Guttenberg 4. 3. des Bundesministers Genscher vom 24. Februar 1972 Frau Dr. Henze 18. 3. auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Wagner Kahn-Ackermann *** 26. 2. (Günzburg) (CDU/CSU) (Drucksache VI/3165 Frage Lautenschlager * 24. 2. A 43) : Lenze (Attendorn) *** 25. 2. In welcher Weise gedenkt die Bundesregierung der durch Lücker (München) * 24. 2. Bundesinnenminister Genscher wiederholt erteilten Absage an Mertes 25. 2. politische Extremisten im öffentlichen Dienst Rechnung zu tragen? Pöhler *** 25. 2. Der Bundeskanzler und die Regierungschefs der Richarts 25. 2. Länder haben bei ihrer Konferenz in Bonn am 28. Ja- Rinderspacher *** 25. 2. nuar 1972 eine gemeinsame Erklärung darüber ab- Schulte (Schwäbisch-Gmünd) 25. 2. Dr. Seume 25. 2. gegeben, welche Maßnahmen nach dem geltenden Recht zu treffen sind.

* Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen des Euro- Nach den dort formulierten Grundsätzen werden päischen Parlaments die Bundesbehörden verfahren. *** Für die Teilnahme an Ausschußsitzungen der Ver- sammlung der Westeuropäischen Union

Anlage 4 Schriftliche Antwort Anlage 2 des Bundesminister Genscher vom 24. Februar 1972 Schriftliche Antwort auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Pieroth (CDU/CSU) (Drucksache VI/3165 Frage A 49) : des Parlamentarischen Staatssekretärs Westphal Hat die Bundesregierung einen Überblick über die Zahl der vom 22. Februar 1972 auf die Mündlichen Fragen der unbearbeiteten Anträge bei den Ausgleichsämtern, insbesondere auch über Altersstruktur der wartenden Antragsteller? Abgeordneten Frau Brauksiepe (CDU/CSU) (Druck- sache VI/3165 Fragen A 4 und 5) : Von den 7 103 372 Anträgen auf Feststellung von Hält die Bundesregierung - in Anbetracht der Tatsache, daß Vertreibungsschäden, Kriegsschäden und Ostschä- in deutschen Jugendherbergen im Jahre 1971 eine Gesamtzahl von den nach dem Feststellungsgesetz waren Ende 1971 fast 9 Millionen Übernachtungen erreicht wurde, darunter etwa eine Million Übernachtungen junger Ausländer - die Arbeit des 308 234 Anträge (= 4,31 v. H.) noch nicht abschlie- Deutschen Jugendherbergwerks für eine vorrangig zu fördernde Aufgabe der Jugendarbeit, insbesondere im Hinblick auf die viel- ßend bearbeitet. Im Zuerkennungsverfahren waren fältige und nachhaltige Gelegenheit internationaler Begegnungen? 69 174 Fälle (= 1,3 v. H.) noch nicht abgeschlossen. Ist sie bereit und sieht sie eine Möglichkeit, den Bundes- jugendplan dahin gehend zu überprüfen und die Arbeit des Von den 4 255 301 zuerkannten Ansprüchen auf Jugendherbergwerks wirksamer als bisher finanziell zu unter- Hauptentschädigung waren 161 587 (= 3,9 v. H.) stützen? noch nicht erfüllt. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß die In 597 961 Fällen konnten die zuerkannten Haupt- Arbeit des Deutschen Jugendherbergwerkes eine entschädigungsansprüche nicht oder nur teilweise besonders förderungswürdige Aufgabe der Jugend- erfüllt werden, weil die Erfüllung wegen noch lau- arbeit darstellt. Dies wird durch die Tatsache belegt, fender Kriegsschadenrente oder aus sonstigen ge- daß die Förderung sowohl des Baues von Jugend- setzlichen Gründen gesperrt ist. herbergen als auch der Jugendarbeit in den Jugend- Ein höherer Bearbeitungsrückstand ergibt sich bei herbergen in den vergangenen Jahren beträchtlich den Anträgen auf Feststellung von Vermögensschä- verstärkt worden ist. den in Mitteldeutschland und im Gebiet von Berlin Die Bundesregierung ist bereit, das Deutsche Ju- (Ost) nach dem Beweissicherungs- und Feststel- gendherbergwerk bei dem Ausbau des Jugend- lungsgesetz (BFG) vom 22. Mai 1965. herbergnetzes weiterhin nachhaltig zu unterstützen. Hier sind bis zum 31. Dezember 1971 insgesamt Dafür wurden bisher alljährlich 2,8 Mio DM zur 384 079 Feststellungsanträge Verfügung gestellt, wozu Ländermittel in zumindest gleicher Höhe kamen. Bereits im vergangenen Haus- eingereicht worden, von denen bis dahin haltsjahr konnten im Rahmen des Zonenrandförde- 264 434 Anträge (= 69,1 v. H.) rungsgesetzes dem Deutschen Jugendherbergwerk noch in Bearbeitung waren. 9938 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

Von den 81 637 im Feststellungsverfahren positiv Ermittlungsverfahren gegen Monika Berberich zum erledigten Anträgen sind 25 777 Fälle (= 31 v. H.) Gegenstand seiner Tätigkeit gemacht hat, irgend- im Zuerkennungsverfahren noch unerledigt. welche Maßnahmen zu ergreifen. Dies ist schon des- wegen nicht erforderlich, weil die Bundesanwalt- Von den zuerkannten Ansprüchen auf Hauptent- schädigung waren 35 156 voll erfüllt. 20 481 Ansprü- schaft am 18. Februar 1972 den Generalsekretär von Amnesty International auf dessen Wunsch ausführ- che konnten nicht oder nur teilweise erfüllt wer- den, weil wegen der Gewährung laufender Beihilfe lich über den bisherigen Verlauf des Verfahrens oder aus sonstigen gesetzlichen Gründen eine Aus- informiert und dabei insbesondere auch die Gründe für die Dauer der Untersuchungshaft erörtert hat. zahlung nicht möglich war. Der Generalsekretär von Amnesty-International hat Einen Überblick über die Altersstruktur der war- aufgrund dieser Informationen am gleichen Tage in tenden Antragsteller hat die Bundesregierung nicht. Karlsruhe auf einer Pressekonferenz im Namen sei- ner Organisation erklärt, daß Beanstandungen ge- gen die bisherige Behandlung des Verfahrens nicht zu erheben seien. Inzwischen hat die Bundesanwalt- Anlage 5 schaft das Verfahren an die Strafverfolgungsbehör- den Berlin abgegeben. Schriftliche Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Bayerl vom 24. Februar 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten Lenzer (CDU/CSU) (Drucksache Anlage 7 VI/3165 Frage A 50) : Wie beurteilt die Bundesregierung ein einheitliches Urheber- Schriftliche Antwort recht für EDV-Programme, und was hat sie in dieser Hinsicht bisher unternommen? des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Bayerl Die Frage des Schutzes der EDV-Programme wird vom 24. Februar 1972 auf die Mündliche Frage des zur Zeit von der Weltorganisation für geistiges Abgeordneten Wagner (Günzburg) (CDU/CSU) Eigentum im Auftrage der Vereinten Nationen un- (Drucksache V1/3165 Frage A 55) : tersucht. Dabei wird insbesondere auch geprüft, ob Ist der Bundesregierung bekannt, daß Kinder und Heranwach- für EDV-Programme ein Schutz durch das Urheber- sende schweren psychischen Belastungen ausgesetzt sind, wenn sie in dem Strafverfahren wegen eines an ihnen begangenen recht, durch Patente oder Gebrauchsmuster oder Sittlichkeitsdeliktes mehrmals als Zeugen vernommen werden, aufgrund der Vorschriften gegen den unlauteren und ist sie bereit, durch eine Gesetzesinitiative sicherzustellen, daß von weiteren Zeugeneinvernahmen bei späteren Beweisauf- Wettbewerb ausreichend und angemessen ist oder nahmen dann abzusehen ist, wenn bereits eine gerichtlich proto- ob es zweckmäßig erscheint, ein neues Schutzrecht kollierte Aussage vorliegt? für EDV-Programme zu schaffen. Die Bundesregie- rung hält es für angebracht, zunächst das Ergebnis Ich darf mir vorweg den Hinweis erlauben, daß dieser Untersuchung abzuwarten, da angesichts der das von Ihnen angeschnittene Problem bereits Ge- internationalen Bedeutung des Problems des Schut- genstand von Erörterungen des Sonderausschusses zes der EDV-Programme eine Rechtsangleichung für die Strafrechtsreform ist. Anläßlich der Beratun- sehr erwünscht ist. gen über das 4. Strafrechtsreformgesetz hat der Son- derausschuß hierzu eine an den Bundesminister der Sofortige Maßnahmen auf nationaler Ebene sind Justiz gerichtete Entschließung gefaßt und den Bun- nach Auffassung der Bundesregierung nicht erfor- desminister der Justiz gebeten, zu dem in der Ent- derlich. EDV-Programme genießen, soweit sie per- schließung enthaltenen Fragenkatalog Stellung zu sönliche geistige Schöpfungen sind, den Schutz nach nehmen. dem Urheberrechtsgesetz. Im übrigen greift ergän- zend der Schutz des Gesetzes gegen den unlauteren Mein Haus hat über die Landesjustizverwaltungen Wettbewerb ein, wenn EDV-Programme von Dritten die gerichtliche und staatsanwaltliche Praxis zu die- in unlauterer Weise ausgenutzt werden. sen Fragen gehört und entsprechende gesetzliche Regelungen ausländischer Staaten überprüft. Das Ergebnis der Auswertung des umfangreichen Mate- rials wird in diesen Tagen dem Sonderausschuß zu- geleitet werden. Anlage 6 Aufgrund des meinem Hause vorliegenden Mate- Schriftliche Antwort rials wird davon auszugehen sein, daß unter Psycho- logen und bei der gerichtlichen und staatsanwalt- des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. Bayerl vom 24. Februar 1972 auf die Mündliche Frage des schaftlichen Praxis weitgehend Übereinstimmung darüber besteht, daß Kinder und Heranwachsende Abgeordneten Zander (SPD) (Drucksache VI/3165 psychischen Belastungen ausgesetzt sein können, Frage A 53) : wenn sie in dem nachfolgenden Strafverfahren Welche Konsequenzen gedenkt die Bundesregierung aus der Tatsache zu ziehen, daß die zur Hilfe für politische Häftlinge ge- wegen eines an ihnen begangenen Sittlichkeits- gründete Organisation Amnesty International den Fall Monika delikts als Zeugen vernommen werden. Dabei birgt Berberich aufgreifen will? insbesondere die wiederholte Vernehmung des kind- Die Bundesregierung sieht keinen Anlaß, auf- lichen oder jugendlichen Zeugen die Gefahr eines grund der Tatsache, daß Amnesty International das schädigenden Einflusses in sich. Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972 9939

Um diese Gefahr auszuschließen, wäre an sich gen. Lediglich solche Abnehmer haben Lieferein- eine Regelung erstrebenswert, die im Prinzip nur schränkungen hinnehmen müssen, bei denen Liefer- eine richterliche Vernehmung des kindlichen oder unterbrechungen vertraglich zulässig sind. jugendlichen Zeugen zuläßt und als Regelfall die Die Bundesregierung betrachtet gerade die nie-- Verlesung dieser Vernehmungsniederschrift in der derländischen Erdgasvorkommen als eine sehr Hauptverhandlung vorsieht. Eine entsprechende Re- sichere Energiequelle für den deutschen Energie- gelung erscheint allerdings nicht unproblematisch. markt. Sie wird in dieser Auffassung dadurch noch Sie wird von der gerichtlichen Praxis einhellig ab- bestärkt, daß die niederländische Regierung unver- gelehnt. Eine entsprechende gesetzliche Bestimmung züglich Sicherheitsmaßnahmen beschlossen hat, um würde einen tiefgreifenden Eingriff in die Struktur auch außergewöhnliche Vorkommnisse wie Spreng- des Strafprozesses bedeuten, da damit der Grund- stoffanschläge für die Zukunft zu verhindern. satz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme durch- brochen würde. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit Wirksamster Schutz auch gegen solche Versor- der Beweisaufnahme zählt aber zu den wichtigsten gungsstörungen ist im übrigen nach Auffassung der Prinzipien unseres Strafverfahrensrechts. Er gewähr- Bundesregierung eine Politik der Diversifikation leistet, daß das erkennende Gericht von den zur Re- der Bezugsquellen sowie der weitere Ausbau des konstruierung des Sachverhalts benutzten Beweis- Erdgas-Verbundsystems, das wechselseitige Aushil- mitteln in unmittelbar eigener sinnlicher Wahrneh- fen der Verbundpartner, auch über die Staatsgrenzen mung Kenntnis erlangt. Dies ist gerade von beson- hinweg, ermöglicht. Die Versorgungssicherheit der derer Bedeutung in Strafverfahren wegen Sittlich- Verbundpartner wird um so größer, je mehr Erdgas- keitsdelikten, in denen kindliche oder jugendliche quellen und Erdgasspeicher in dieses System einge- Opfer oft als einzige Zeugen, zumindest aber als bunden werden. Die Bundesregierung ermutigt alle Hauptbelastungszeugen auftreten. Bemühungen, die auf die Erschließung neuer Liefer- quellen, auf die Anlage von Erdgasspeichern und auf Es muß auch darauf hingewiesen werden, daß dem den Ausbau eines umfassenden europäischen Erd- berechtigten Wunsch nach besonderem Schutz kind- gas-Verbundsystems gerichtet sind. Dies ist ein licher und jugendlicher Zeugen vor schädlichen Ne- Weg, auf dem die deutsche Gaswirtschaft schon ein benwirkungen des Strafverfahrens die rechtsstaat- gutes Stück vorangekommen ist. liche gegründete Forderung nach unbeschränkter Für den Fall gleichwohl eintretender Versorgungs- Verteidigung des Angeklagten gegenübersteht. störungen liegen schließlich bei den einzelnen Fern- Diese Antinomie dürfte nicht ohne eine schwer zu gasgesellschaften bis ins einzelne ausgearbeitete Ab- vertretende Beschränkung des Rechts der Verteidi- schaltpläne vor, um nach Maßgabe der geringsten gung aufgelöst werden können. Beeinträchtigung die Auswirkungen einer solchen Die Bundesregierung wird jedoch im Rahmen der Störung in möglichst engen Grenzen zu halten. Dabei bereits in Angriff genommenen Reform des Strafver- wird der Versorgung der Kommunen und damit der fahrensrechts mit Vorrang auf eine gesetzliche Re- privaten Haushalte sowie der Belieferung der Ab- gelung hinwirken, die der besonderen psychischen nehmer, die nicht auf andere Energiearten aus- Situation des kindlichen und jugendlichen Opfers weichen können, Vorrang eingeräumt. von Sittlichkeitsdelikten im anschließenden Straf- verfahren gerecht wird. Welcher gesetzgeberischen Lösung angesichts der hier nur kurz aufgezeigten Schwierigkeiten der Vorzug zu geben ist, bedarf noch weiterer eingehender Überlegungen. Anlage 9 Schriftliche Antwort

des Parlamentarischen Staatssekretärs Rohde vom 23. Februar 1972 auf die Mündlichen Fragen des Anlage 8 Abgeordneten Weigl (CDU/CSU) (Drucksache VI/3165 Fragen A 89 und 90) : Schriftliche Antwort Wird die Bundesregierung Landwirten, die sich bei der Ein- führung der Altershilfe für die Landwirtschaft von den Beitrags- des Staatssekretärs Dr. Rohwedder vom 23. Februar zahlungen befreien ließen, eine Nachversicherungsmoglichkeit 1972 auf die Mündlichen Fragen des Abgeordneten einräumen? Kater (SPD) (Drucksache VI/3165 Fragen A 58 und 59) : Wie groß ist der oben angesprochene Personenkreis? Welche Auswirkungen hatten nach Auffassung der Bundes- Bei der vorgesehenen Novellierung der Alters- regierung die Folgen der Sprengstoffexplosionen in den Kom- pressoranlagen der Niederländischen Gasunion in Ravenstein hilfe für Landwirte wird die Bundesregierung auch und Ommen auf die Belieferung der Abnehmer von Erdgas in der Bundesrepublik Deutschland? die Möglichkeiten für einen Verzicht auf die Befrei- Was hat die Bundesregierung getan bzw. was gedenkt sie zu ung von der Beitragspflicht und die damit verbun- veranlassen, um Vorsorge für den Fall des Entstehens von in dene Frage der Nachentrichtung von Beiträgen prü- den Niederlanden verursachten Versorgungsschwierigkeiten für die Abnehmer von Erdgas in der Bundesrepublik Deutschland zu fen. Dabei ist jedoch eine differenzierte Betrachtung treffen? erforderlich, da es sich um unterschiedliche Befrei- Die Sprengstoffexplosionen in den Kompressor ungstatbestände mit entsprechend unterschiedlichen anlagen der Niederländischen Gas-Union hatten auf Motivationen handelt. die Belieferung der Letztabnehmer von Erdgas in der Und zwar sind diejenigen Personen, die sich bei Bundesrepublik keine nennenswerten Auswirkun Einführung der Altershilfe für Landwirte im Jahre 9940 Deutscher Bundestag — 6. Wahlperiode — 172. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. Februar 1972

1957 auf Grund eines privatrechtlichen Versiche- Bundesministers "Hinsichtlich der Pressekonzentration - muß man sich klarmachen, daß ein Teil des Konzentrationsvorgangs allein rungsvertrages haben befreien lassen, von jenen aus betriebswirtschaftlichen Gründen notwendig ist und daß die Zusammenlegung oft zu einem besseren Niveau der Zeitungen Personen zu unterscheiden, die wegen einer ander- führt. Man muß auch lokale Zeitungsmonopole durch den Ausbau weitigen gesetzlichen Versicherung oder Versor- regionaler Rundfunk- und Fernsehsender auszugleichen suchen. Dennoch ist der Gedanke einer als öffentlich-rechtliche Körper- gung befreit worden sind. Im ersten Fall ist zu schaft organisierten Zeitung ein interessantes theoretis ches Mo- dell, wenn wir nämlich unterstellen, daß es am Ende des Kon- prüfen, ob die Voraussetzungen, unter denen der zentrationsprozesses nur noch eine Zeitung mit einer absoluten Entschluß zur Befreiung seinerzeit gefaßt worden Monopolstellung geben könnte. Wir sollten es aber auf keinen Fall zu einer solchen Situation kommen lassen, in der die Frage ist, nicht so verändert sind, daß eine Korrektur der verneint werden muß, ob Zeitungen überhaupt noch auf privater damaligen Entscheidung ermöglicht werden sollte. Basis gemacht werden dürfen."? Im zweiten Fall haben die Versicherungs- und Ver- sorgungsansprüche an der allgemeinen Fortentwick- In dem von Ihnen zitierten Interview habe ich lung teilgenommen, so daß er sich in einem anderen ausgeführt, daß ein Teil der Konzentrationsbewe- Licht darstellt. gung in der Presse auf betriebswirtschaftliche Zwän- ge zurückzuführen ist. Es handelt sich hierbei um Soweit es die Zahlen angeht, möchte ich folgen- eine Feststellung, die schon im Schlußbericht der des anmerken: Nach der Quartalstatistik der land- Pressekommission vom 22. Mai 1968 dargelegt ist. wirtschaftlichen Alterskassen (Stichtag 31. Dezember Ein gewisses Maß von Konzentration kann aber 1971), die vom Gesamtverband der landwirtschaft- durchaus dem Informationsinteresse des Bürgers lichen Alterskassen herausgegeben wird, beträgt die dienen, soweit nämlich leistungsschwache und über- Zahl der beitragsbefreiten Landwirte insgesamt alterte Pressebetriebe durch leistungsstarke und 60 422. rationell arbeitende Betriebe ersetzt werden, die Die Zahl derjenigen, die auf Grund eines privat- eine zuverlässigere und vielseitigere Information rechtlichen Versicherungsvertrages befreit worden bieten können. Hiervon ausgehend habe ich wei- sind, dürfte bei 2 500 liegen. ter die Auffassung vertreten, daß der Pressekonzen- tration dann entgegengewirkt werden muß, wenn eine ausreichende Meinungsvielfalt in der Presse nicht mehr gewährleistet ist. Diese Auffassung deckt sich nicht nur mit der der Bundesregierung; Anlage 10 ich gehe sogar davon aus, daß auch Sie ihr zustim- men. Schriftliche Antwort Falls es einmal dazu kommen sollte, daß die Viel- des Bundesministers Dr. Ehmke vom 24. Februar falt der Presse aufgrund der wirts chaftlichen Kon- 1972 auf die Mündliche Frage des Abgeordneten zentration Meinungsmonopolen wei chen müßte, Dr. Schulze-Vorberg (CDU/CSU) (Drucksache VI/3165 dann stünde als Ausweg zur Erhaltung der Mei- Frage A 117) : nungsvielfalt das Denkmodell einer als öffentlich- Entsprechen die Auffassungen, die Bundesminister Ehmke in rechtlichen Körperschaft organisierten Zeitung zur einem Interview mit dem Bonner „General-Anzeiger" vom 7. Ja- nuar 1972 — auch nachgedruckt im Bulletin vom 8. Januar 1972 — Debatte. Diese Frage, die mir in jenem Interview zu den Problemen der Massenmedien darlegte, den in den zu- gestellt wurde, ist heute nicht akut, und ich hoffe, ständigen Bundesministerien entwickelten Vorstellungen, und teilt die Bundesregierung insbesondere die Behauptungen des daß sie nie akut wird.